Kritische Gesamtausgabe: Band 12 Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht 9783110430028, 9783110437980

This edition is the 12th volume in the lecture series of the Complete Critical Edition of Schleiermacher’s works. It pre

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Kritische Gesamtausgabe: Band 12 Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht
 9783110430028, 9783110437980

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung der Herausgeber
Einleitung der Bandherausgeberinnen und Bandherausgeber
Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht (1810–1814)
Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1813/14
Gedanken zur Pädagogik im Winter 1813/14
Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1820/21
Gedanken zur Pädagogik im Winter 1820/21
Vorlesungen über die Pädagogik im Sommer 1826
Schluss der Vorlesungen über die Pädagogik im Sommer 1826
Anhang
Verzeichnisse
Register

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe II. Abt. Band 12

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe herausgegeben von Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Notger Slenczka

Zweite Abteilung Vorlesungen Band 12

De Gruyter

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht Herausgegeben von Jens Beljan, Christiane Ehrhardt, Dorothea Meier, Wolfgang Virmond und Michael Winkler

De Gruyter

ISBN 978-3-11-043798-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043002-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Mörlenbach ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Einleitung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

I. Die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe . . . . . II. Die Abteilung II (Vorlesungen) . . . . . . . . . . . . . . III. Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII VII

Einleitung der Bandherausgeberinnen und Bandherausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX XVII

I. Historische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII 1. Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht (1810–1814) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XX 2. Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1813/14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LV 3. Gedanken zur Pädagogik im Winter 1813/14 . . . LXI 4. Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1820/21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXII 5. Gedanken zur Pädagogik im Winter 1820/21 . . . LXXVI 6. Vorlesungen über die Pädagogik im Sommer 1826 LXXVIII II. Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXXIX 1. Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht (1810–1814) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXXIX 2. Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1813/14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XCI 3. Gedanken zur Pädagogik im Winter 1813/14 . . . XCIII 4. Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1820/21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XCIV 5. Gedanken zur Pädagogik im Winter 1820/21 . . . CI 6. Vorlesungen über die Pädagogik im Sommer 1826 CIV

VI

Inhaltsverzeichnis

Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht (1810–1814) Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1813/14 . . . Gedanken zur Pädagogik im Winter 1813/14 . . . . . . . . Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1820/21 . . . Gedanken zur Pädagogik im Winter 1820/21 . . . . . . . . Vorlesungen über die Pädagogik im Sommer 1826 . . . . Schluss der Vorlesungen über die Pädagogik im Sommer 1826 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

1 257 325 343 539 543

.

859

. . . . . . .

887

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editorische Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

897 899 900

Anhang Analyse der Schreibmaterialien Schleiermachers Verzeichnisse

Register Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

918

Einleitung der Herausgeber I. Die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe Die Kritische Gesamtausgabe (KGA) der Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels Schleiermachers ist in die folgenden fünf Abteilungen gegliedert: I. II. III. IV. V.

Schriften und Entwürfe Vorlesungen Predigten Übersetzungen Briefwechsel und biographische Dokumente.

Die Gliederung richtet sich nach den literarischen Gattungen in Schleiermachers Werk, wobei den einzelnen Abteilungen jeweils auch der handschriftliche Nachlass zugewiesen wird. Der Aufbau der Abteilungen orientiert sich am chronologischen Prinzip.

II. Die Abteilung II (Vorlesungen) Die II. Abteilung dokumentiert Schleiermachers Vorlesungstätigkeit nach seinen handschriftlichen Materialien und nach Vorlesungsnachschriften. Schleiermacher hat in seiner beinahe drei Jahrzehnte währenden Lehrtätigkeit in der Theologischen Fakultät, abgesehen vom Alten Testament, über nahezu alle theologischen Disziplinen Vorlesungen gehalten. Als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin hatte er überdies das Recht, auch in der Philosophischen Fakultät Vorlesungen zu halten. Davon hat er extensiven Gebrauch gemacht. In jedem Semester hat Schleiermacher mindestens zwei Vorlesungen gehalten, oft sogar drei (eine neutestamentlich-exegetische, eine weitere theologische und eine philosophische). Ein Verzeichnis seiner Vorlesungen findet sich in dem von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond bearbeiteten Band „Schleiermachers Briefwechsel (Vplerzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen“ (SchleiermacherArchiv Bd. 11, Berlin und New York 1992, S. 293–330).

VIII

Einleitung der Herausgeber

Angesichts der umfänglichen Materialien ist eine restriktive Berücksichtigung der Vorlesungsnachschriften unumgänglich. Für die Edition der Vorlesungen gelten folgende Richtlinien: 1.

2. 3.

4.

Jede von Schleiermacher in seinen Vorlesungen behandelte Disziplin wird in einem Band – eventuell mit Teilbänden – vorrangig durch seine eigenen Manuskripte kritisch ediert. Die Manuskripte Schleiermachers werden im ersten Teil in chronologischer Ordnung kritisch ediert. Die Vorlesungsnachschriften werden, wenn ihre Qualität es erlaubt, dort in die Edition einbezogen und unter vereinfachten Editionsregeln in einem zweiten Teil ediert, wo eigene Manuskripte Schleiermachers entweder fehlen oder wo seine Manuskripte als nicht ausreichend zu beurteilen sind. Nachschriften eines mehrfach gehaltenen Kollegs aus verschiedenen Jahren werden nur dann eigens berücksichtigt, wenn es darum geht, eine bedeutsame Entwicklung zu dokumentieren. Auch die Nachschriften werden chronologisch angeordnet. Die abgrenzende Gruppierung der Manuskripte Schleiermachers und der Nachschriften von fremder Hand in zwei Teilen des Bandes kann bei besonderen Sachlagen aufgegeben werden; die zu edierenden Texte werden dann fortlaufend chronologisch angeordnet.

Für die chronologische Anordnung der Vorlesungsdisziplinen ist dasjenige Semester maßgebend, in dem Schleiermacher die jeweilige Vorlesung zum ersten Mal gehalten hat. In den beiden Fällen, in denen er im selben Semester mit zwei bzw. drei Vorlesungen begonnen hat (Wintersemester 1804/05 und Sommersemester 1806), werden zuerst die allgemeiner und dann die spezieller ausgerichteten Vorlesungen geboten. Dementsprechend ergibt sich für die Abteilung „Vorlesungen“ folgende Gliederung: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen phie (1807)

über die Philosophische Sittenlehre (1804/05) über die Theologische Enzyklopädie (1804/05) über die Christliche Glaubenslehre (1804/05) zur Hermeneutik und Kritik (1805) über die Christliche Sittenlehre (1806) über die Kirchengeschichte (1806) über die Geschichte der griechischen Philoso-

III. Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)

8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

IX

Vorlesungen über die Lehre vom Staat (1808/09) Vorlesungen über die Geschichte der christlichen Philosophie (1810) Vorlesungen über die Dialektik (1811) Vorlesungen über die Praktische Theologie (1812) Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht (1813) Vorlesungen über die Psychologie (1818) Vorlesungen über die Ästhetik (1819) Vorlesungen über das Leben Jesu (1819/20) Vorlesungen über die Kirchliche Geographie und Statistik (1827) Vorlesungen über die Einleitung in das Neue Testament (1829).

Die exegetischen Vorlesungen Schleiermachers werden aus pragmatischen Gründen an den Schluss der Abteilung gestellt, weil dazu sehr umfängliche Manuskripte Schleiermachers im Nachlass erhalten sind. Die Quantität und Qualität dieser Materialien stellen eine editorische Erschließung vor spezifische Probleme. Geplant ist, die Bandeinteilung an dem bei Schleiermacher erkennbaren Kurs über sechs Semester zu orientieren: 18. Vorlesungen über die Schriften des Lukas (Evangelium und Apostelgeschichte) 19. Vorlesungen über die Briefe des Apostels Paulus A 20. Vorlesungen über die Briefe des Apostels Paulus B 21. Vorlesungen über die Katholischen Briefe und den Brief an die Hebräer 22. Vorlesungen über das Evangelium des Johannes 23. Vorlesungen über das Evangelium des Matthäus.

III. Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen) Die folgenden Grundsätze schließen sich an die für die I. Abteilung in der Fassung von KGA I/1 und für die V. Abteilung in der Fassung von KGA V/1 niedergelegten an, tragen aber den Besonderheiten der Vorlesungsedition Rechnung.

X

Einleitung der Herausgeber

1. Historische Einführung und Editorischer Bericht Den Bänden der II. Abteilung wird jeweils eine Einleitung des Bandherausgebers vorangestellt, die eine Historische Einführung und einen Editorischen Bericht umfasst. Die Historische Einführung gibt Auskunft über die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der jeweiligen Vorlesung. Gegebenenfalls wird über die Rezeption durch die Zeitgenossen berichtet. Der Editorische Bericht beschreibt die Materiallage und erläutert das editorische Verfahren.

2. Textgestaltung und textkritischer Apparat Die Bände der II. Abteilung umfassen (A) sämtliche Vorlesungsmanuskripte Schleiermachers (B) dort, wo es zu deren Verständnis nötig ist oder wo andere Gründe es nahelegen, auch ausgewählte Vorlesungsnachschriften und ferner, falls keine solchen Primärquellen mehr vorhanden sind, (C) auch Texte, die nur noch sekundär, etwa im Druck der „Sämmtlichen Werke“, vorliegen. Für die E d i t i o n al l e r d r e i So r t e n v on Text zeug en gelten folgende Prinzipien: a)

S c h r e i b w e i s e u n d Z e i c h e nsetzung des zu edierenden Textzeugen werden grundsätzlich beibehalten. Dies gilt auch für Schwankungen in der Schreibweise, bei denen es häufig eine Ermessensfrage darstellt, ob eine irrtümliche Schreibweise vorliegt. Hingegen werden Verschiedenheiten in der Verwendung von Zeichen (z. B. für Abkürzungen und Auslassungen), soweit sie willkürlich und sachlich ohne Bedeutung sind, stillschweigend vereinheitlicht. Die von Schleiermacher für Randnotizen gebrauchten Verweiszeichen (Ziffern, Sterne, Kreuze etc.) werden einheitlich durch Ziffern wiedergegeben, sofern diese Randnotizen hier als Fußnoten wiedergegeben werden. b) Of f e n k u n d i ge Sc h r e i b f e h ler oder Versehen werden im Text korrigiert. Im Apparat wird – ohne weitere Angabe – die Schreibweise des Originals angeführt.

III. Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)

c)

XI

Wo der Zustand des Textes eine Konjekt ur notwendig macht, wird diese im Text durchgeführt und im Apparat nachgewiesen; in Zweifelsfällen wird die Konjektur mit der Angabe „Kj“ nur im Apparat vorgeschlagen. Wo bereits Konjekturen eines früheren Herausgebers vorliegen, werden diese unter Nennung des jeweiligen Urhebers und der Seitenzahl seiner Ausgabe oder Schrift im Apparat mitgeteilt. Wird eine solche Konjektur in den Text übernommen, so wird dies ebenfalls im Apparat nachgewiesen.

Über diese gemeinsamen Prinzipien hinaus wird für die drei unterschiedlichen Textsorten (Manuskripte Schleiermachers, Vorlesungsnachschriften und sekundäre Überlieferung) das im Folgenden beschriebene abgestufte Editionsverfahren angewandt. (A) Manuskripte Schleiermachers d) Es wird die l e t z t gü l t i ge Te x t g esta lt des Manuskripts wiedergegeben. Alle Belege für den Entstehungsprozess (wie Streichungen, Korrekturen, Umstellungen) werden im textkritischen Apparat – nach Möglichkeit gebündelt – mitgeteilt. e) Zu s ä t z e zum ursprünglichen Text, die Schleiermacher eindeutig einverwiesen hat, werden in den laufenden Text eingefügt. Sie werden mit der Formel „mit Einfügungszeichen“ und mit Angabe des ursprünglichen Ortes im Manuskript im textkritischen Apparat nachgewiesen. Ist ein Zusatz von Schleiermacher nicht eingewiesen, aber seine eindeutige Einordnung in den Grundtext durch Sinn oder Position möglich, so wird im textkritischen Apparat nur der Ort angegeben. Zusätze, die sich nicht eindeutig in den Grundtext einfügen lassen, werden auf den jeweiligen Seiten – vom übrigen Text deutlich abgesetzt – unter Angabe des Ortes im Manuskript wiedergegeben. f) Bei Ab b r e vi at u r e n (Abkürzungen, Kontraktionen, Kürzeln), deren Sinn eindeutig ist, werden unter Weglassung eines evtl. vorhandenen Abkürzungszeichens (Punkt, Abkürzungsschleife usw.) die fehlenden Buchstaben im Text kursiv ergänzt. Chiffren für Wörter (z. B. Θ für Gott) werden ebenfalls im Text kursiv aufgelöst und im Abkürzungsverzeichnis

XII

Einleitung der Herausgeber

zusammengestellt. Abbreviaturen und Chiffren, deren Auflösung unsicher ist, werden im Text belassen; für sie wird ggf. im textkritischen Apparat ein Vorschlag mit der Formel „Abk. wohl für …“ gemacht. Zur Zeit Schleiermachers geläufige Abkürzungen werden nicht aufgelöst. Soweit sie heute nicht mehr geläufig sind, werden sie im Abkürzungsverzeichnis mit ihren Auflösungen zusammengestellt. Die durch Überstreichung bezeichnete Verdoppelung von m und n wird stillschweigend ausgeschrieben. In allen Fällen, wo (z. B. bei nicht ausgeformten Buchstaben, auch bei der verkürzten Endsilbe -en) aufgrund der Flüchtigkeit der Schrift nicht eindeutig ein Schreibversehen oder eine gewollte Abkürzung zu erkennen ist, wird das betreffende Wort ohne weitere Kennzeichnung in der üblichen Schreibweise vollständig wiedergegeben. g) F e h l e n d e W ö r t e r u n d Z e i chen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden in eindeutigen Fällen kursiv in eckigen Klammern ergänzt. In Zweifelsfällen wird im Apparat mit der Formel „zu ergänzen wohl“ ein Vorschlag gemacht. Im Text gelassene Lücken werden im textkritischen Apparat durch den Hinweis (lacuna) gekennzeichnet. Sofern das Zeilenende bzw. das Ende eines Absatzes eindeutig den Punkt am Satzende vertritt, wird dieser stillschweigend ergänzt. Ferner werden fehlende Umlautzeichen in eindeutigen Fällen stillschweigend ergänzt; fehlende diakritische Zeichen (wie Akzente, Spiritus-Zeichen) in fremdsprachigen Texten werden hingegen nicht ergänzt. h) Sind im Manuskript U ms t e l l u ng en von benachbarten Wörtern oder Satzteilen vorgenommen worden, so wird im Apparat mit der Formel „umgestellt aus“ die Vorstufe angegeben. Bei Umstellungen von Sätzen oder Satzteilen über einen größeren Zwischenraum wird der ursprüngliche Ort unter Verwendung der Formel „mit Umstellungszeichen“ angegeben. i) S t r e i c h u n ge n . Sind im Manuskript Wörter, Buchstaben oder Zeichen gestrichen worden, so wird das Gestrichene im Apparat in Winkelklammern unter Angabe des Ortes im Manuskript mitgeteilt. Wurden Streichungen vorgenommen, aber nicht vollständig durchgeführt, so werden die versehentlich nicht gestrichenen Partien in doppelte Winkelklammern eingeschlossen.

III. Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)

XIII

j)

Ko r r e k t u r e n Schleiermachers an Wörtern, Wortteilen oder Zeichen werden durch die Formel „korr. aus“ angezeigt (Beispiel: klein] korr. aus mein). k) U n s i c h e r e L e s ar t e n werden in unvollständige eckige Klammern (Beispiel: PnochS) eingeschlossen. Gegebenenfalls wird eine mögliche andere Lesart mit der Formel „oder“ (Beispiel: PauchS oder PnochS ) vorgeschlagen. Bei unsicheren Lesarten, zu denen frühere Texteditionen eine abweichende, ebenfalls erwägenswerte Lesart bieten, wird diese unter Nennung des jeweiligen Herausgebers und der Seitenzahl seiner Ausgabe oder Schrift mitgeteilt. Nicht entzifferte Wörter werden durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet; bei zwei oder mehr unleserlichen Wörtern wird dieses Zeichen doppelt gesetzt und eine genauere Beschreibung im textkritischen Apparat gegeben. l) Liegen bei einer Handschriftenstelle mehrere deutlich unterscheidbare E n t s t e h u n gs s t u f e n vor, so können diese, wo es die Klarheit erfordert, im textkritischen Apparat nacheinander jeweils für sich nachgewiesen werden. Keine eigene Mitteilung erfolgt, wenn beim Übergang aus der früheren in die spätere Stufe ein Wort gestrichen oder korrigiert worden ist; dieses ergibt sich aus dem Vergleich der Stufen. m) Ü b e r l i e f e r u n gs l ü c k e n . Ist ein Manuskript nur bruchstückhaft überliefert, so wird der Überlieferungsverlust innerhalb eines Absatzes durch ein in kursive eckige Klammern eingeschlossenes Spatium gekennzeichnet. Ein umfangreicherer Überlieferungsverlust wird durch ein in kursive eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet, das auf einer gesonderten Zeile wie ein Absatz eingerückt wird. Eine Beschreibung erfolgt im textkritischen Apparat. (B) Vorlesungsnachschriften Die Edition der Vorlesungsnachschriften erfolgt nach einem vereinfachten Verfahren. Diese Vereinfachungen betreffen die im Vorstehenden unter den Buchstaben d), e), h), i), j) und l) genannten Editionsregeln. Die unter den Buchstaben f), g), k) und m) genannten Grundsätze gelten unverändert.

XIV

Einleitung der Herausgeber

n) Bei der Edition von Vorlesungsnachschriften wird in der Regel lediglich die l e t z t gü l t i ge Textg esta lt wiedergegeben, jedoch o h n e N ac h w e i s d e s Ma nuskript bef undes – d. i. von Streichungen, Zusätzen, Verbesserungen, Umstellungen und Entstehungsstufen – im Apparat. Abweichend hiervon werden längere Randbemerkungen zu Vorlesungsnachschriften, die den Charakter von eigenständigen Textpartien haben, als Fußnoten mitgeteilt, da es sich bei ihnen um spätere Ergänzungen des Nachschreibers handeln kann. o) Existieren zu einer Vorlesung mehrere Nachschriften, so wird die beste als L e i t t e x t ediert. Die als Leittext gewählte Nachschrift wird in der Regel vollständig geboten. Wo Vorlesungsnachschriften über Schleiermachers Manuskripte hinaus keine wesentlichen Aufschlüsse enthalten, ist es auch möglich, sie nur ausschnittweise abzudrucken. Bietet die als Leittext gewählte Nachschrift an einer Stelle einen offenkundig fehlerhaften Text, so wird nach Möglichkeit der richtige Text aus einer anderen Nachschrift übernommen, die Abweichung aber im Apparat dokumentiert. Ist die als Leittext gewählte Nachschrift unvollständig, wird sie aus einer vollständigeren ergänzt, mit entsprechendem Nachweis im Apparat. Weist auch diese offenkundige Fehler auf, wird, sofern weitere Vorlesungsnachschriften vorhanden sind, verfahren wie im vorigen Satz beschrieben. (C) Sekundäre Überlieferung p) Sofern Überlieferungsverluste gegenüber früheren Editionen eingetreten sind, können die entsprechenden Texte als sekundäre Überlieferung in ihrer ursprünglichen Gestalt unverändert unter Hinzufügung eines Sachapparats dargeboten werden.

3. Sachapparat Der Sachapparat gibt die für das Textverständnis notwendigen Erläuterungen.

III. Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)

XV

a)

Zi t a t e u n d Ve r w e i s e werden im Apparat nachgewiesen. Dabei wird, soweit möglich und sinnvoll, sowohl die von Schleiermacher benutzte Ausgabe als auch eine heute maßgebliche Ausgabe angeführt. Das gilt auch für Verweisungen Schleiermachers auf eigene Werke. Bei Zitaten werden sinnverändernde Abweichungen von den Quellen vermerkt. b) Zu An s p i e l u n ge n Schleiermachers werden Nachweise oder Erläuterungen nur dann gegeben, wenn die Anspielung als solche deutlich, der fragliche Sachverhalt eng umgrenzt und eine Erläuterung zum Verständnis des Textes nötig ist.

4. Verzeichnisse und Register a) Jeder Band erhält ein A b k ü r z u n gsv erzeichnis, das sämtliche Zeichen und Abkürzungen auflöst, die von den Autoren oder vom Bandherausgeber benutzt worden sind, soweit die Auflösung nicht in den Apparaten oder im Literaturverzeichnis erfolgt. b) Jeder Band erhält ein L i t e r at u r v erzeichnis, in dem die Schriften aufgeführt werden, die in den Texten sowie in den Apparaten und in der Einleitung des Bandherausgebers genannt sind. Bei denjenigen Werken, die im Katalog der Bibliothek Schleiermachers (s. Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, in: KGA I/15, 2005, S. 637–912) verzeichnet sind, wird nach dem Titel in eckigen Klammern das Kürzel SB mit der jeweiligen Katalognummer hinzugefügt. c) Jeder Band erhält ein N ame n r e gist er, das alle im Band genannten historischen Personen erfasst. d) Ein Register der B i b e l s t e l l e n erhalten diejenigen Bände, bei denen es sinnvoll ist.

5. Druckgestaltung a) S a t z s p i e ge l . Es werden untereinander angeordnet: Text des Originals ggf. mit Fußnoten, textkritischer Apparat, Sachapparat.

XVI

Einleitung der Herausgeber

b) S c h r i f t ar t e n . Der Text des Originals wird einheitlich in recte stehender Antiqua wiedergegeben. Hochgestellte Endungen (z. B. bei Ordnungszahlen) werden nivelliert, graphische Varianten von Zeichen (wie doppelte Bindestriche, verschiedene Formen von Abkürzungszeichen oder Klammern) werden stillschweigend vereinheitlicht. Ergänzungen nicht ausgeschriebener Wörter im Text sowie Herausgeberrede werden kursiv gesetzt. c) H e r vo r h e b u n ge n in Schleiermachers Manuskripten (vorwiegend durch Unterstreichung) werden einheitlich durch S p e r r u n g kenntlich gemacht. Hervorhebungen in den Vorlesungsnachschriften bleiben unberücksichtigt, soweit sie der Lesbarkeit nicht förderlich sind. d) Die Se i t e n z äh l u n g d e s O r ig ina ls wird auf dem Außenrand angegeben. Stammt die Zählung nicht vom Autor, so wird sie kursiv gesetzt. Der Seitenwechsel des zugrundeliegenden Textzeugen wird im Text durch einen senkrechten Strich (|) wiedergegeben. Wo die Angabe des Zeilenbruchs sinnvoll erscheint, erfolgt sie durch einen Schrägstrich (/) im Text. e) Sofern ein Text bereits in den S ä m m t lichen Werken erschienen ist, wird die Paginierung kursiv am Außenrand mitgeteilt, jedoch ohne Seitentrennungsstrich. f) B e z i e h u n g d e r A p p ar at e auf den Text . Sie erfolgt beim textkritischen Apparat durch Zeilenangabe mit Lemma. Kommt in einer Zeile das gleiche Bezugswort mehrfach vor, wird ein zusätzliches Bezugswort angeführt. Die Bezugswörter werden durch das Lemmazeichen von der folgenden Mitteilung abgegrenzt. Der Sachapparat wird durch Zeilenangabe auf die jeweilige Bezugsstelle bezogen. g) Sofern in einem Band sowohl Manuskripte Schleiermachers als auch eine Nachschrift aus demselben Kolleg veröffentlicht werden, wird der Zusammenhang zwischen ihnen möglichst durch ein Ve r w e i s u n gs s ys t e m hergestellt, etwa durch die Angabe der Daten oder durch die Bezeichnung der Vorlesungsstunden am Seitenrand. Sofern solche Angaben in den edierten Quellen enthalten sind, werden sie recte wiedergegeben; sofern sie aus anderen Quellen ergänzt sind, werden sie kursiv gesetzt. Im Namen der Herausgeber Günter Meckenstock

Einleitung der Bandherausgeberinnen und Bandherausgeber Der vorliegende Band „Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht“ enthält Aussagen Schleiermachers zur Pädagogik aus den Jahren 1810 bis 1826. Der Band beinhaltet Schriften aus dem Kontext der preußischen Schulreform, die Vorlesungen zur Pädagogik von 1813/14, 1820/21 und 1826 sowie Gedanken zur Pädagogik, die den Vorlesungen von 1813/14 und 1820/21 zuzuordnen sind. Im Rahmen seines Direktorats bei der „Wissenschaftlichen Deputation“ in Berlin und als Mitglied der „Sektion für den öffentlichen Unterricht“ beim Ministerium des Inneren verfasste Schleiermacher eine Reihe von erziehungstheoretisch bedeutsamen Voten, die als Manuskripte erhalten sind und hier größtenteils zum ersten Mal veröffentlicht oder (einige wenige bereits edierte) erstmalig in textkritischer Gestalt geboten werden. Für die Pädagogik-Vorlesungen hat sich eine neue Forschungslage ergeben, weil bislang unbekannte Quellentexte jetzt zugänglich sind. Durch die veränderte Quellenlage werden die Vorlesungen von 1820/21 und 1826 nicht länger durch Textkompilationen, sondern hier erstmalig als e i n zusammenhängender Text auf der Grundlage jeweils einer studentischen Aufzeichnung von Schleiermachers Vorlesung präsentiert.

I. Historische Einführung Schleiermachers Überlegungen zu Unterricht und Erziehung, die seinen amtlichen Voten und seinen Vorlesungen zu entnehmen sind, markieren den Beginn eines modernen, ausdrücklich wissenschaftlich interessierten Nachdenkens über die Pädagogik und entwerfen zugleich einen ganz eigenen methodischen und sachlichen Zugang, der die Pädagogik endgültig von der Theologie und der Philosophie löst.1 Sie 1

Vgl. Sünkel, Wolfgang: Schleiermachers Begründung der Pädagogik als Wissenschaft, Düsseldorf 1964

XVIII

Einleitung der Bandherausgebenden

wird nun als eine historisch und sozial interessierte Wissenschaft begründet, die in ihrer Systematik von den Spannungen ausgeht, welche sich der Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft stellen und von dieser bewältigt werden müssen. In formaler Hinsicht war es die Mitgliedschaft in der Philosophischen Klasse der Akademie der Wissenschaften, die Schleiermacher ab dem Jahr 1810 dazu berechtigte, an der neu gegründeten Berliner Universität auch philosophische Kollegs anzubieten. In diesem Rahmen trug er drei Mal die Pädagogik vor: im Winter 1813/14, Winter 1820/21 und Sommer 1826. Ein persönliches Interesse an Fragen der Erziehung und Bildung spiegelt sich schon früh in Schleiermachers Briefwechseln mit seiner Schwester Charlotte und mit Henriette von Willich, seiner späteren Frau. „Es ist freilich mit dem Erziehen eine eigne Sache“, schrieb er 1798 an Charlotte, „ob ich Talent dazu habe weiß ich nicht; meine Schlobittensche Erfahrung reicht nicht hin die Frage zu entscheiden, aber Erfahrung habe ich genug und mache täglich mehr und Lust auch, und es ist mir wirklich bisweilen bange danach daß ich nichts zu erziehn habe.“2 Mit den Grundsätzen des Unterrichts setzte sich Schleiermacher in einem Brief an Henriette von Willich am 25. Januar 1809 auseinander: „Die Hauptgrundsäze über die du gewiß mit mir einig bist sind die daß man überall von dem einfachsten anfange, nicht eher als bis dies ganz gefaßt ist weiter gehe und dann immer regelmäßig langsam Schritt vor Schritt, aber so daß soviel als möglich eigne Selbstthätigkeit der Kinder dabei sei.“3 Nach detaillierten Anweisungen zum Leseunterricht fasste Schleiermacher zusammen: „Dies ist so der erste Cursus, der bloß einzelne Silben betrift, und weiter will ich meinen Unterricht diesmal auch nicht ausdehnen, weil er dich mehr langweilen möchte als die Ausführung die Kinder langweilen wird. Denn diese werden gewiß sehr unterhalten sein weil sie wirklich immer fortschreiten und sich in dem was sie einmal hinter sich haben sicher wissen. Du mußt sie nur recht thätig sein lassen und mit ihnen thätig sein, mußt die Uebungen nicht zu lange währen lassen aber so 2

3

An Ch. Schleiermacher, 2.8.1798 (Kritische Gesamtausgabe, Berlin/New York 1980 ff., hier KGA V/2, Nr. 496, 145–149); vgl. auch an Ch. Schleiermacher, 27.12.1799 (KGA V/3, Nr. 757, 168–196). An H. von Willich vgl. u. a. die Briefe vom 13.6.1805 (KGA V/8, Nr. 1979, 25–43), 17.12.1807 (KGA V/9, Nr. 2592, 25–45), 22.12.1808 (KGA V/10, Nr. 3002, 181–207) KGA V/11, Nr. 3045, 124–128

Historische Einführung

XIX

lange sie währen auch keine Unterbrechung und Abschweifung auf etwas anderes gestatten.“4 Neben den praktischen Erfahrungen, die er als Hauslehrer in Schlobitten, im Schulunterricht während seiner Ausbildung im Gedikeschen Seminar5, im Unterricht im Waisenhaus und über viele Jahre im Konfirmandenunterricht gewinnen konnte, steht die zunehmend wissenschaftliche Erarbeitung des Feldes der Pädagogik. Die frühen Meilensteine auf dem Weg zur Entwicklung einer eigenen Theorie der Erziehung sind nicht nur in Schleiermachers Reden „Über die Religion“ (KGA I/2 und I/12) und in seinen „Monologen“ (KGA I/3 und I/12) zu finden, mit denen er die Anschauung des Universums („Über die Religion“) und die Selbstanschauung („Monologen“) als unterschiedliche Aspekte von Bildung gegenüberstellte, sondern auch in seiner Rezension (KGA I/5) der Schrift „Ideen über Nationalerziehung“ von Johann Friedrich Zöllner (1753–1804), dessen in der Tradition der Pädagogik der Aufklärung formulierten Erziehungsbegriff er kritisierte. Die Ende des Jahres 1804 in Halle erarbeitete Rezension eröffnete die Rubrik „Pädagogik“ der „Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung“. Sie ist Bestandteil einer von Schleiermacher ursprünglich geplanten, umfangreichen Sammelrezension, für die er sich mit weiteren pädagogischen Schriften beschäftigte, mit der Schwarzschen Erziehungslehre, mit Wagners Erziehungskunst und mit Johannsens „Ueber das Bedürfniß und die Möglichkeit einer Wissenschaft der Pädagogik“.6 Schleiermachers Rezensionen zu Campes „Historischem Bilderbüchlein“7, zu Schelling8 und zu Zöllners 4 5

6

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KGA V/11, Nr. 3045, 154–162 Vgl. die Reflexion des Gymnasialunterrichts und seiner methodischen Erfordernisse in „Über den Geschichtsunterricht“, die während der Ausbildung bei Gedike in den letzten Monaten des Jahres 1793 entstand (KGA I/1, S. 487–497, S. LXIX–LXXII) Schwarz, Friedrich Heinrich Christian: Erziehungslehre, Bd. 1–2, Leipzig 1802– 1804, hier Bd. 1: Die Bestimmung des Menschen. In Briefen an erziehende Frauen, Leipzig 1802 [SB 1791]; Wagner, Johann Jakob: Philosophie der Erziehungskunst, Leipzig 1803 [SB 2095]; Johannsen, Friedrich: Ueber das Bedürfniß und die Möglichkeit einer Wissenschaft der Pädagogik, Jena 1803 [SB 995]. Zu den Entstehungszusammenhängen von Schleiermachers Zöllner-Rezension vgl. KGA I/5, S. XXVIII–XXXVII Schleiermacher veröffentlichte (anonym) seine erste pädagogische Rezension im November 1801: Rezension von Joachim Heinrich Campe: Historisches Bilderbüchlein oder die allgemeine Weltgeschichte in Bildern und Versen (KGA I/3, S. 431–448). Schleiermachers „Rezension von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“ ist seine erste Besprechung, die in der „Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung“ (1804) erschien (KGA I/4, S. 461–484).

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Einleitung der Bandherausgebenden

„Ideen“ machten ihn als pädagogisch interessierten Autor und Kritiker bekannt. Schleiermacher gewann durch seine Auseinandersetzung mit der Zöllnerschen „Nationalerziehung“ einen Einblick in die preußischen Reformpläne im Hinblick auf die Umgestaltung des Schulwesens. Die Aufgabe, den „Schulverbesserungsplan“9, so des Rezensenten Bezeichnung, im amtlichen Auftrag weiterzuführen, nahm Schleiermacher 1810, gut fünf Jahre nach seiner Arbeit an der Rezension, schließlich selber in die Hand. Dabei konnte er auf seine Bestimmung von Schule zurückgreifen, die er 1808 in den „Gelegentlichen Gedanken über Universitäten“ (KGA I/6) in Abgrenzung von Universität und Akademie entwickelt hatte. Der unter seiner Leitung von der Berliner Wissenschaftlichen Deputation entworfene Lehrplan vom September 1810 wird hier erstmals mitgeteilt. In der Forschung konnte bisher kein Zusammenhang gesehen werden zwischen Schleiermachers Rezensionen der Jahre 1801–1805 und seinen Entwürfen für die preußische Reform, die wiederum Eckpfeiler für seine großen Vorlesungen sind. Die Verbindungslinien und systematischen Bezüge können nun mit den hier neu edierten Texten in den Blick genommen werden.

1. Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht „Komme ich noch irgend, wenn auch nur vorübergehend in eine Thätigkeit für den Staat hinein, dann weiß ich mir wirklich nichts mehr zu wünschen“, schrieb Schleiermacher Weihnachten 1808 an Henriette von Willich, seine damalige Verlobte, und er fuhr fort: „Wissenschaft und Kirche, Staat und Hauswesen – weiter giebt es nichts für den Menschen auf der Welt, und ich gehörte unter die wenigen Glüklichen die alles genossen hätten.“10 Mit Beginn des Jahres 1810 ging der Wunsch in Erfüllung. Schleiermacher wurde in die staatlichen Unterrichtsbehörden berufen. Er war zu diesem Zeitpunkt 41 Jahre alt, seit einem guten halben Jahr verheiratet und im Pfarramt an der Berliner Dreifaltigkeitskirche tätig. Noch bevor die Berliner Universität ihre Pforten öffnete, hielt er öffentliche Vorlesungen. Darin entfaltete er zum Beispiel die in Halle 9 10

KGA I/5, S. 5 KGA V/10, Nr. 3008, 146–150

Historische Einführung

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begonnene Hermeneutik, stellte die christliche Glaubenslehre dar und „die aus meiner Ethik sich entwikkelnde Lehre vom Staat“11. Als Mitglied der Einrichtungskommission der Universität war er mit der konzeptionellen und organisatorischen Neugründung der Berliner Universität befasst. Im Frühling des Jahres 1810 wurde er als ordentliches Mitglied in die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin aufgenommen. a. Mitgliedschaft in Deputation und Sektion Im Februar wurde Schleiermacher als Mitglied in die von den preußischen Verwaltungsbehörden neu eingerichtete „Wissenschaftliche Deputation“ berufen, deren Auftrag die Umgestaltung des öffentlichen Schulwesens war. Schleiermacher schrieb, dass er es sich „zur Ehre rechne“, die ihm angetragene Stelle für das laufende Jahr 1810 anzunehmen.12 Die amtlichen „Geschäfte“ der neu geschaffenen Wissenschaftlichen Deputation, die ihren „Hauptsitz“ in Berlin haben sollte, bestanden „in Prüfungen erst angehender oder wirklich anzustellender Lehrer, in Bearbeitung von Unterrichts-Plänen, in Revisionen von Lehr- und Erziehungs-Anstalten, in Ausrichtung anderer mit dem gelehrten Unterrichtswesen in Verbindung stehender Aufträge der Section des öffentlichen Unterrichts auch in freiwilligen Vorschlägen zur Verbesserung desselben“.13 Am 26. März 1810 übertrug Wilhelm von Humboldt, der sich seit seiner Leitung der Unterrichtsabteilung als Chef der Sektion für den Kultus und öffentlichen Unterricht um eine Einbeziehung Schleiermachers in die Reformgremien bemühte14, Schleiermacher – zu11 12 13 14

Schleiermacher an einen Halle’schen Schüler (J.K.H. Schulze), Berlin, 26.2.1810, KGA V/11, Nr. 3402, 45–46 Vgl. Votum Nr. 1, unten S. 3 Anhang zu Votum Nr. 1, unten S. 4 Vgl. den Brief Wilhelm von Humboldts an Schleiermacher aus Königsberg am 17. Juli 1809: „Ihre beinah sich regende Lust nach Königsberg zu kommen, erschrekte mich, und ich eilte also, wenigstens an meinem Theile beizutragen, Ihre Lage in Berlin mehr zu sichern. Wie denn diese [irdischen] Dinge hier immer etwas langsam gehen, so bin ich erst jetzt damit zu Stande gekommen, und Sie wissen vielleicht schon durch Dohna, daß Ihnen der König, auf den Antrag der Section, 500 r. Wartegeld, bis Sie Gehalt von der Berliner Universität haben können, ertheilt hat. Da ich die CabinetsOrdre, die nun erst Gott weiß! welche Wege macht, noch nicht in Händen habe, bitte ich Sie, noch nicht davon zu reden. Andre 500 r. hoffe ich Ihnen in wenigen Wochen als Mitglied der Wissenschaftlichen Deputation zu

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Einleitung der Bandherausgebenden

nächst interimistisch – das Direktorat der „Wissenschaftlichen Deputation für den öffentlichen Unterricht“.15 Im Interesse an einer Verzahnung der Arbeit zwischen Sektion und Deputation schrieb Humboldt an Schleiermacher: „Da der unterzeichnete SectionsChef sich ein Vergnügen daraus machen wird, den Zusammenkünften der Deputation, so oft es seine Zeit erlaubt, beizuwohnen, so schlägt er Ewr. Hochwürden vor, zu denselben den Montag Nachmittag um 4 Uhr zu wählen […]. Der VersammlungsOrt wird das SessionsZimmer der Section im UniversitätsGebäude sein.“16 Am 26. April 1810 wurde Schleiermacher dann definitiv zum ersten Direktor der Berliner Wissenschaftlichen Deputation für den öffentlichen Unterricht ernannt.17 Mit der Übernahme dieses Direktorats in der Deputation war offensichtlich auch der Beginn von Schleiermachers Mitarbeit in der Sektion verbunden, zunächst formlos, dann auch förmlich. Wilhelm von Humboldt hatte Schleiermacher im Auftrag der Sektion am 5. Mai 1810 dazu eingeladen, an den Sektionssitzungen teilzunehmen; Humboldts Brief endet folgendermaßen: „(…) und ladet den Herrn Dr. Schleiermacher als nunmehrigen Direktor hiermit ein, die ordentlichen Konferenzen der unterzeichneten Sektion, welche alle Sonnabends Vormittags von 8 Uhr an gehalten werden beizuwohnen.“18 In seinem Tageskalender hielt Schleiermacher am Samstag 19. Mai 1810 fest: „Der Sitzung in der Session zum ersten Mal beigewohnt“. Am Montag 14. Mai hatte er bereits notiert: „NachMittag Session, langes Examen“. Am Montag 21. Mai hieß es: „NachMittag Session ausgefallen“ und am Samstag 26. Mai: „Session 8–11“.19 Zwei Wo-

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schaffen und so ist denn von mir, was jetzt möglich war geschehen.“ KGA V/11, Nr. 3295, 4–15 Vgl. Votum Nr. 2, unten S. 6–7 und Schleiermachers Tageskalender, Eintrag vom 26. März 1810: „Besuch bei Humboldt wegen Deputation“. Am Donnerstag 22. März hatte er eingetragen: „Humboldt hier wegen der Deputation“, am Samstag 24. März: „Vergebens bei Humboldt“ und am Samstag 31. März notierte er: „Vergeblicher Besuch bei […] Humboldt“, Schleiermacher Nachlass Nr. 439 (Archiv der BBAW) Votum Nr. 2, unten S. 6 Vgl. Votum Nr. 12, unten S. 38 Votum Nr. 12, unten S. 38–39. Vgl. auch den Anhang zu Votum Nr. 2, unten S. 16: „Um aber auch dem Direktor der HauptDeputation in Berlin das gehörige Ansehen und Gewicht zu verleihen, und beide Behörden in so enge wechselseitige Verbindung als möglich zu setzen, ist der jedesmalige Direktor, so lange seine Funktion dauert, allemal Mitglied der Sektion, wohnt ihren Sitzungen bei, und nimmt an allen ihren Berathschlagungen mit völlig gleichem Recht mit den Staatsräthen, mit welchen er lediglich nach der Anciennetät rangirt, Theil.“ Schleiermacher Nachlass Nr. 439 (Archiv der BBAW)

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chen später, am Samstag 9. Juni 1810, entwarf er für die Sektion das Antwortschreiben an die Königsberger Wissenschaftliche Deputation, das hier als amtliches Votum Nr. 17 publiziert wird. Zu diesem Zeitpunkt war er noch nicht „ordentliches“ Mitglied der Sektion. Das Votum belegt, dass Schleiermacher vor seiner ordentlichen Mitgliedschaft nicht nur ‚passiv‘ an den Sitzungen der Sektion teilnahm, sondern für diese auch tätig wurde. Am 22. Juni 1810, am Tag vor seiner endgültigen Amtsniederlegung, trug Wilhelm von Humboldt dem König an, dass dieser Schleiermacher ab dem 1. Juli 1810 zum Mitglied der Unterrichtsabteilung der Sektion ernennen möge. Der König gab diesem Gesuch am 6. Juli 1810 per Kabinettsorder statt und übertrug Schleiermacher zum 1. Juli 1810 die Stelle.20 Die in der bisherigen Literatur durchweg geäußerte Angabe, Schleiermacher habe dieses Amt zum 1. September übernommen, ist falsch. Neben der Kabinettsorder spricht gegen diese Annahme, dass Schleiermacher zum Beispiel am 29. Juli 1810 seine „bei der Section des öffentlichen Unterrichts schon übernommenen Geschäfte“ anführte.21 Auch aus Schleiermachers Schreiben vom 3. August 1810, mit dem er gegenüber dem Sektionschef die benachteiligende Berechnungsweise seiner Vergütungen kritisierte, geht hervor, dass Schleiermacher bereits Mitglied in der Sektion für den öffentlichen Unterricht war.22 20

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Vgl. Der König an Graf Dohna, Berlin, 6. Juli 1810: „[…] will ich diese Stelle dem dazu von dem jetzigen Staatsminister Freiherr von Humboldt und Staatsrat Nicolovius Mir unterm 22. v. M. vorgeschlagenen Professor und Prediger Schleiermacher um so lieber erteilen, da gerade er sich dazu so vorzüglich eignet. Ich bewillige demselben in dieser neuen Qualität das in Antrag gebrachte Jahrgehalt von 2000 Rtlrn. vom 1. Juli c. ab, genehmige auch, daß er für dieses Jahr, und wenn es erforderlich sein sollte, auch im künftigen Jahre das Direktorat der wissenschaftlichen Deputation beibehalten und zu seiner Erleichterung in dem fortzuführenden Predigeramte sich für die kleinen Amtsverrichtungen durch einen ordinierten Kandidaten vertreten lassen kann. Hiernach habt Ihr überall das weiter Nötige zu verfügen und ich bin Euer wohlgeneigter König. Friedrich Wilhelm.“ Veröffentlicht in: Lenz, Max: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1–4, Halle 1910, hier Bd. 4: Urkunden, Akten und Briefe, Halle 1910, S. 118. Vgl. dort auch den dieser Kabinettsorder vorausgehenden Brief Humboldts vom 22. Juni 1810 an den König, S. 116–117 und Graf Dohna an das Departement (Nicolovius), Berlin, 13. Juli 1810, ebd. Vgl. Schleiermachers Bitte um Unterstützung in seinem Pfarramt vom 29. Juli 1810; veröffentlicht in: Bauer, Johannes: Schleiermachers Konfirmandenunterricht, Langensalza 1909, S. 4–6 Vgl. Votum Nr. 30, unten S. 102: „Des Königs Majestät haben mich als ordentliches Mitglied der Section des öffentlichen Unterrichts anzustellen geruht, und mir i n d i e s e r n eu en Q u a l i t ä t ein Jahrgehalt von 2000 Rth ausgesezt.“

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Einleitung der Bandherausgebenden

Eigentlich hatte Schleiermacher gehofft, auch in die Kultusabteilung berufen zu werden.23 Doch es blieb bei der einmal von Wilhelm von Humboldt angebahnten Mitgliedschaft in der Unterrichtsabteilung. Während Schleiermacher gewollt und ordnungsgemäß24 mit Ende des Jahres 1810 aus dem Direktorat der Berliner Wissenschaftlichen Deputation ausschied, verhielt es sich mit seinem Amtsende in der Sektion für den öffentlichen Unterricht anders. Das Innenministerium war unter der Amtsführung Kaspar Friedrich von Schuckmanns (1755–1834) zu der von Wilhelm von Humboldt so sehr befürchteten „Zwischeninstanz“ zwischen dem König und der Sektion geworden.25 Bereits in seinem Entlassungsgesuch Ende April 1810 hatte Humboldt vorausgesehen, dass sich die Sektion für den Kultus und öffentlichen Unterricht zu einer vom Innenminister abhängigen Staatsbehörde entwickelte.26 Unter diesen Bedingun-

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Vgl. Schleiermachers Brief an Gaß vom 1. September 1810, KGA V/11, Nr. 3504, 23–37, besonders 28–30, und an Brinckmann vom 4. Juli 1812, in: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen [= Briefe], Bd. 1–4, edd. L. Jonas/W. Dilthey, 2. Aufl., Berlin 1860–1863, hier Bd. 4: Schleiermachers Briefe an Brinckmann. Briefwechsel mit seinen Freunden von seiner Uebersiedlung nach Halle bis zu seinem Tode, 1863, S. 186 Die Direktoren wurden für jeweils ein Jahr bestimmt. Zwar gab es die Möglichkeit der Verlängerung, doch Schleiermacher hatte daran kein Interesse. Vgl. Votum Nr. 30, unten S. 102: „es ist ferner darauf gerechnet, daß ich, sobald es sich thun läßt, auch das Directorat der wissenschaftlichen Deputation abgebe, was auch mit meiner eignen Ueberzeugung übereinstimmt.“ Vgl. Wilhelm von Humboldt an den König, Berlin, 25. Mai 1810, in: Humboldt, Wilhelm von: Gesammelte Schriften, Bd. 1–17, Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin/Leipzig 1903–1936, hier Bd. 16, Vierte Abteilung: Politische Briefe, Bd. 1: 1802–1813, ed. W. Richter, 1935, S. 275 Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Entlassungsgesuch, in: Ders: Werke in fünf Bänden, edd. A. Flitner/K. Giel, Darmstadt 2002, hier Bd. 4: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, S. 247–254. Humboldt begründete hier seinen Wunsch nach Entlassung damit, dass die Erziehungsreform nicht als Teil der Politik des Innenministers betrieben werden könne. Vgl. auch Humboldts kritische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Minister zu den Sektionschefs in seinem Generalverwaltungsbericht der Sektion, Juli 1809; in: ebd., S. 64–76, besonders S. 70–76. Humboldt hatte von Beginn seiner Sektionstätigkeit an immer wieder die erwähnte Verordnung vom 24. November 1808 eingeklagt, die – im Sinne Steins – einen Staatsrat als höchstes Leitungsgremium vorgesehen hatte, in welchem die Sektionschefs stimmberechtigt und dadurch dem Minister gleichgestellt waren. Dies wurde so nicht praktiziert. Das Publikandum vom 16. Dezember 1810 suspendierte diesen ursprünglich vorgesehenen Staatsrat. Die Schwierigkeiten kulminierten, als der König im April 1810 eine Order unterzeichnete, die den Staatsrat nur als vorläufiges Beratungsorgan ohne Entscheidungsbefugnisse installierte, ohne die Position des Sektionschefs und ihr Verhältnis zu den Ministern zu verändern. Schon im Oktober

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gen stieß auch Schleiermachers Engagement für die Erziehungsreform in der Unterrichtsabteilung dieser Behörde an Grenzen. Das Ende seiner amtlichen Tätigkeit für die preußische Schulreform wurde durch den Innenminister provoziert. Schleiermacher war im Oktober 1814 in das Amt des Sekretars der philosophischen Klasse der Berliner Akademie der Wissenschaften gewählt worden, deren Mitglied er seit Frühjahr 1810 war. „Eine solche Wahl wird dann dem Minister angezeigt, der sie dem König zur Bestätigung vorträgt“, erläuterte Schleiermacher den Vorgang.27 Der Minister trug diese Wahl aber nicht dem König zur Bestätigung vor, sondern sprach sich „wegen allzu großer Beschäftigung des Hrn. Schleiermacher, namentlich in der Abtheilung des Cultus und öffentlichen Unterrichts“ dagegen aus.28 Die Akademie bestand jedoch auf ihrer Wahl. Schleiermacher erläuterte weiter, dass daraufhin der Minister dem König berichtete, „bei den vermehrten Geschäften des Departments müsse er die ganze Thätigkeit aller Mitglieder in Anspruch nehmen, und dadurch würde meine Wirksamkeit bei der Universität und bei der Akademie zu sehr leiden. Er bäte also, daß der König mich von den Geschäften im Ministerio dispensiren möchte, und das ist denn geschehen, und er hat es mir in dem allerverbindlichsten Schreiben bekannt gemacht, und sich ausdrücklich vorbehalten in allen wissenschaftlichen Dingen mich noch ferner schriftlich und

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1809 hatte Wilhelm von Humboldt an Caroline von Humboldt geschrieben: „Wie die Dinge im Innern jetzt sind, können sie schlechterdings nicht bleiben. Es muß eins von den Dreien entstehen: es muß, was jetzt gar nicht existiert, ein Staatsrat oder eine gemeinschaftliche Beratung der Ministerien zustande kommen; oder ich muß mit meinem Departement Minister werden; oder ich muß ins Auswärtige Departement zurückkehren.“ Wilhelm von Humboldt an Caroline von Humboldt, Königsberg, 10. Oktober 1809, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Bd. 1–7, ed. A. v. Sydow, Berlin 1906–1916, hier Bd. 3: Weltbürgertum und preußischer Staatsdienst. Briefe aus Rom und Berlin-Königsberg 1808–1810, 1909, S. 252–253. Zur Diskussion um das Ausscheiden Humboldts aus der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht seien exemplarisch zwei Interpretationsrichtungen genannt: Während Menze politische Gründe für ausschlaggebend erklärt (Menze, Clemens: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover u. a. 1975, besonders S. 337–347), hebt Benner staats- und bildungstheoretische Aspekte bei Humboldt hervor, die unvereinbar mit dessen Engagement für die preußische Erziehungsreform in einer vom Innenminister abhängigen Staatsbehörde waren (Benner, Dietrich: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, 3. Aufl., Weinheim/München 2003). Vgl. Schleiermachers Brief an Blanc, Berlin, d. 4. April 1815, Briefe 4, S. 205 Vgl. BBAW II–III, 18, Bl. 50r

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Einleitung der Bandherausgebenden

mündlich zu Rathe zu ziehen.“29 Der genaue Zeitpunkt dieser Dispensierung Schleiermachers aus der Unterrichtsabteilung konnte bisher nicht bestimmt werden. Die widersprüchlichen Datierungen, die dennoch in der Literatur zu Schleiermachers Tätigkeit in der Unterrichtsabteilung vorgenommen wurden, sind aufgrund der gegenwärtigen Quellenlage fraglich. Diese gebietet Zurückhaltung – auch gegenüber Wertungen und Interpretationen: Ein „Rücktritt“ Schleiermachers unter dem Vorwand der „Arbeitsüberlastung“ konnte bisher nicht belegt werden.30 Gegenwärtig bieten hauptsächlich die wenigen Briefe Schleiermachers aus dieser Zeit ein Zeugnis über die Umstände seines Dienstendes in der preußischen Unterrichtsbehörde. Schleiermacher selber sprach davon, dass sich seine Amtsverhältnisse „am Ende des Winters“ geändert hätten.31 Gemeint ist der Winter 1814/1815. Am 6. März und 4. April 1815 schrieb er bereits im Rückblick von seiner amtlichen Tätigkeit für die Schulreform.32 Eine Bestätigung seiner 29 30

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Brief an Blanc, Berlin, d. 4. April 1815, Briefe 4, S. 206 Diese Sicht von Weniger/Schulze (vgl. Schleiermacher, Friedrich: Pädagogische Schriften, Bd. 1–2, Düsseldorf/München 1957, hier Bd. 2: Pädagogische Abhandlungen und Zeugnisse, S. 233), hat die weitere Literatur geprägt. Vgl. Lohmann, Ingrid: Lehrplan und Allgemeinbildung in Preußen. Eine Fallstudie zur Lehrplantheorie F.E.D. Schleiermachers, Frankfurt/M./Bern/New York 1984, S. 9; Brachmann, Jens: Kommentar, in: Schleiermacher, Friedrich: Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe [= Winkler/Brachmann], Bd. 1–2, edd. M. Winkler/ J. Brachmann, Frankfurt/M. 2000, hier Bd. 1, S. 418–419; Wolfes, Matthias: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Teil I und Teil II, Berlin/New York 2004 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 85/I, 85/II), hier Teil I, S. 273. Aufgrund seiner Recherchen für Schleiermachers Akademietätigkeit kommt M. Rössler mit seiner Datierung des Dienstendes in der Unterrichtsbehörde Schleiermachers eigenen brieflichen Aussagen am nächsten („Eine Bestätigung der Wahl [zum Sekretar der philosophischen Klasse, C. E.] erfolgte erst zu Beginn des Jahres 1815, nachdem Schleiermacher von seinen Ämtern im Ministerium des Inneren und seiner Beteiligung an der Reform des Schulwesens zurückgetreten war.“) Vgl. Einleitung des Bandherausgebers in KGA I/11, S. XIV. Rösslers Einschätzung, dass Schleiermacher „zurückgetreten war“ ist ohne Quellenbeleg. Vgl. Schleiermachers Brief an August Twesten, Berlin, d. 5t. Juli 1815; Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Sein Wirken. Familien- und Freundesbriefe 1804 bis 1834. In neuer Form und mit einer Einleitung und Anmerkungen [= Briefe ed. Meisner], ed. H. Meisner, Stuttgart/Gotha 1923, S. 222 Vgl. Schleiermacher an den Grafen Alexander zu Dohna, Berlin, den 6. März 1815: „[…] und so bin ich aus dem Departement, in welches Sie mich gesetzt haben, wieder herausgetreten“, Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, edd. L. Jonas/ W. Dilthey, Bd. 2: Von Schleiermachers Anstellung in Halle, – October 1804 – bis an sein Lebensende – den 12. Februar 1834, 2. Aufl., Berlin 1860, S. 313 und

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Wahl zum Sekretar der philosophischen Klasse der Akademie erfolgte per Kabinettsorder vom 26. Januar 181533 – wahrscheinlich unter der Voraussetzung, dass Schleiermacher schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Mitglied im Unterrichtsdepartement war. In dem oben zitierten Brief an Blanc erklärte Schleiermacher zu seinem Ausscheiden, dass er „keinen Antheil“ an dem von Schuckmann unternommenen Verfahren habe und dass ihm daher letztlich der „Tausch“ in die Akademie „recht lieb“ sei, zumal er sich von der Entbindung von seinen Amtsgeschäften in der Unterrichtsabteilung einen Zeitgewinn für seine wissenschaftlichen Arbeiten versprach.34 Zwar hielt sich Schleiermacher bei seiner Beschreibung von Schuckmanns Vorgehen höflich zurück,35 dennoch räumte er ein, dass ihn die „Unannehmlichkeiten“ auch gesundheitlich sehr angegriffen hatten.36 b. Schleiermachers Projekte in der Deputation und Sektion Während seiner rund viereinhalbjährigen amtlichen Tätigkeit für den öffentlichen Unterricht war Schleiermacher insbesondere im Jahr 1810 intensiv gefordert. Vor allem im Juni des Jahres 1810 entstanden zahlreiche Voten. In seinen Tageskalender trug Schleiermacher den Juni über Folgendes ein: am Freitag 1. Juni: „Mittag bei Dohna mit Humboldt“, am Samstag 2. Juni: „Session”, am Montag 4. Juni: „NachMittag Conferenz der Deputation“, am Samstag 9. Juni: „Session“, am Samstag 16. Juni: „VorMittag Session“, am Sonntag

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Schleiermacher an Blanc, Berlin, d. 4. April 1815: „[…] mein Austreten aus dem Departement ist allerdings nicht freiwillig gewesen […]“. Briefe 4, S. 205 Vgl. den von Schuckmann unterschriebenen Brief vom 12. Februar 1815, BBAW II–III, 18, Bl. 73r Vgl. Briefe 4, S. 206. Auch die Formulierung: „Die Sache ist mir, d a i c h k e i n e n An th e i l d a r a n h a b e [Hervorh. C. E.], recht lieb“, spricht im Kontext dieses Briefes, mit dem Schleiermacher d a s Ve rf a h re n erläutert, dagegen, dass er selber aktiv geworden und etwa zurückgetreten sei. „Lieber Freund, mein Austreten aus dem Departement ist allerdings nicht freiwillig gewesen, aber auch ohne bestimmten Zusammenhang mit dem was Sie meine Händel mit Schuckmann nennen. Ich weiß überhaupt von keinen Händeln, auch hat er sich gegen mich nichts merken lassen; ich habe nur gehört, dass er hinter dem Rücken gewaltig auf mich geschimpft hat, […].“ Briefe 4, S. 205. In seinem Brief an Blanc vom 27. Dezember 1814 schildert Schleiermacher, dass Schuckmann ihn „tüchtig verläumdet“ habe; vgl. ebd., S. 201–203. Vgl. Schleiermacher an den Grafen Alexander zu Dohna, Berlin, den 6. März 1815, Briefe 2, S. 313 und an seine Schwester Charlotte am 23. Januar 1815, Briefe ed. Meisner, S. 216

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Einleitung der Bandherausgebenden

17. Juni: „Dekret über die Prüfungsarbeiten“, am Montag 18. Juni: „Mittag bei Dohna mit Humboldt […] NachMittag DeputationsConferenz“, am Mittwoch 20. Juni: „VorMittag Conferenz bei Uhden“, am Montag 25. Juni: „VorMittag zu Dohna gerufen. Dann bei ihm gegessen. NachMittag Session der Deputation“, am Mittwoch 27. Juni: „Conferenz“ und am Samstag 30. Juni: „Session“.37 Die „Conferenz bei Uhden“ wird im Kontext der innerhalb der Sektion angesiedelten Einrichtungskommission der Universität stattgefunden haben, ein Arbeitsfeld, das sich für Schleiermacher intensivierte, seit er Mitglied der Sektion war. Er übernahm während der dienstlichen Abwesenheit Johann Daniel Wilhelm Otto Uhdens (1763–1835) als dessen Stellvertreter den Vorsitz der Einrichtungskommission.38 Zugleich leitete er die Lehrplanarbeiten in der Wissenschaftlichen Deputation und orientierte sich in seinem erweiterten Aufgabenfeld in der Unterrichtsabteilung.39 Die Kalendereintragun37 38 39

Schleiermacher Nachlass Nr. 439 (Archiv der BBAW) Zu Schleiermachers Engagement für die Gründung der Berliner Universität vgl. Lenz (1910), Bd. 1: Gründung und Ausbau, besonders S. 211 und S. 220–227 Schleiermachers Beitrag zur preußischen Erziehungsreform wurde zuerst von Paul Schwartz gewürdigt: Die Gründung der Universität Berlin und der Anfang der Reform der höheren Schulen im Jahre 1810, in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 20, Berlin 1910, S. 151–208. Schwartz beschränkte sich auf die Anfangszeit der Schulreform, während Kade, Franz: Schleiermachers Anteil an der Entwicklung des preußischen Bildungswesens von 1808– 1818, Leipzig 1925, einen umfassenden Überblick über Schleiermachers Projekte für die preußischen Staatsbehörden auf der Grundlage von Archivmaterialien gab. Nach P. Schwartz, (der die Dokumente sichtete, aber zumeist inhaltlich und nicht wortgetreu wiedergab), war F. Kade derjenige, der zum ersten Mal einige amtliche Schriften Schleiermachers aus dem Kontext der Erziehungsreform edierte. Auf seiner Edition basieren die weiteren Publikationen dieser Texte Schleiermachers in: Weniger/Schulze (1957), Bd. 1 und überwiegend auch in Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1. Bei der Sichtung des Forschungsstandes fällt auf, dass der Hauptanteil der Literatur aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert stammt. Dabei bilden die Untersuchungen zu Wilhelm von Humboldt den Schwerpunkt, in denen auch auf die Berliner Wissenschaftliche Deputation unter der Leitung Schleiermachers eingegangen wurde; vgl. Gebhardt, Bruno: Humboldt als Staatsmann, Bd. 1–2, Stuttgart 1896–1899, hier Bd. 1: Bis zum Ausgang des Prager Kongresses, Stuttgart 1896 und Spranger, Eduard: Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910. Die Lehrplanarbeit der Berliner Wissenschaftlichen Deputation fand ebenso Berücksichtigung in Arbeiten zu Süvern (Dilthey, Wilhelm: Süvern, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 37, Leipzig 1894, S. 206–245) und Bernhardi (Horstmann, Wilhelm: August Ferdinand Bernhardi (1769–1820) als Pädagoge. Ein Beitrag zur Pädagogik der Reformzeit, Leipzig 1926). Eigens auf Schleiermachers Anteil gingen in einem kurzen Überblick ein: Heubaum, Alfred: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, in: Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, ed. W. Rein, Bd. 7, 2. Aufl., Langensalza 1908, S. 675– 724 und Vierhaus, Rudolf: Friedrich Daniel Schleiermacher, in: Berlinische Lebens-

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gen zeugen von Aktivitäten für die verschiedenen Gremien des preußischen Staats, die sich in inhaltlicher Hinsicht überschnitten und miteinander verbunden waren. Eine Grenzbestimmung zwischen Universität und Schule hatte Schleiermacher bereits in seinen „Gelegentlichen Gedanken über Universitäten“ vorgenommen.40 Auf dieser theoretischen Grundlage konnte er auf der einen Seite Entwürfe für universitäres Lehren und Lernen erstellen (beispielsweise eine Konzeption für die theologische Fakultät) und auf der anderen Seite Bildungsstandards reflektieren, die ein Schüler mit dem Abschluss des Gymnasiums erreicht haben sollte. Die Wissenschaftliche Deputation führte eine von Schleiermacher strukturierte Diskussion über Zielsetzungen, Sinn und Zweck von Abschlussprüfungen der höheren Schule und entwarf dabei eine neue Abiturordnung. Schleiermacher steuerte diesen Diskussionsprozess – ähnlich wie bei der Lehrplanarbeit – zunächst durch vier von ihm aufgeworfene Fragen zum Schulabschluss, die alle Deputationsmitglieder schriftlich zu beantworten hatten.41 Dann sorgte er dafür,

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bilder, Bd. 3: Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, edd. W. Treue/K. Gründer, Berlin 1987 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 60), S. 77–88. Den Schwerpunkt auf Schleiermachers Entwürfe zum Religionsunterricht legten: Prenzler, Wilhelm: Schleiermacher und der Religionsunterricht in den preußischen Gymnasien, Erlangen 1909 und Wißmann, Erwin: Religionspädagogik bei Schleiermacher, Gießen 1934 (Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus, Heft 15). Rolle, Hermann: Schleiermachers Didaktik der gelehrten Schule. Im Zusammenhange seines philosophischen Systems dargestellt, Berlin 1913, ist die einzige Studie, die Schleiermachers Schulkonzeption in den Zusammenhang seines „philosophischen Systems“ stellte. Hervorzuheben ist die Dissertation von Lohmann (1984), die Schleiermachers Anteil am Lehrplan auf der Grundlage umfänglicher Archivstudien beschrieb und zudem kritisch Menze (1975), überwand. Alle Untersuchungen zum Lehrplan konzentrieren sich auf dessen zweite Fassung vom Mai 1811 – auf die Zeit, in der Schleiermacher nicht mehr persönlich in der Deputation mitwirkte. In der jüngeren Literatur wurde ein Überblick über Schleiermachers Beitrag zur preußischen Reform unter politischen Gesichtspunkten erstellt von Wolfes (2004), Teil I, S. 264–285. Insbesondere bei M. Winkler und J. Brachmann ist die Aufmerksamkeit auf Schleiermachers frühe pädagogische Theorieentwicklung – einschließlich seiner Zeit in den Unterrichtsbehörden – gerichtet: Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1 und Winkler, Michael: Schleiermachers Beitrag zur preußischen Erziehungsreform, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, Schleiermacher-Archiv, Bd. 22, edd. A. Arndt/U. Barth/W. Gräb, Berlin/New York 2008, S. 497–516. Vgl. Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn, KGA I/6, besonders S. 30–42 Vgl. Schleiermachers Manuskript GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 11, Bl. 1r, unten S. 179 (Votum Nr. 35)

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Einleitung der Bandherausgebenden

dass sich in der Deputation jeder mit der Meinung des anderen auseinandersetzte und verfasste daraufhin am 10. Dezember 1810 ein abschließendes Gutachten über die Schulabschlussprüfungen mit dem Schwerpunkt der Abiturprüfungen.42 Die am 18. Juli 1812 vom König unterzeichnete Prüfungsordnung basiert auf Schleiermachers Gutachten. Dass sich die Deputation unter Schleiermachers Leitung erst nach Beendigung ihres Lehrplanentwurfs im Winter 1810 (November und Dezember) mit den Abiturfragen befasste, war systematisch begründet: Schleiermacher erklärte in seinem Gutachten zu den Schulabschlussprüfungen, dass deren Stufung und unterschiedliche Leistungsanforderungen aus den Grundätzen des Lehrplans hergeleitet seien. Der erarbeitete Lehrplanentwurf vom September 1810 diente demnach weiteren schulreformerischen Projekten als Grundlage. Zu Schleiermachers Aufgaben in der Unterrichtsabteilung der Sektion gehörte es, das Seminar für gelehrte Schulen in Berlin einer Revision zu unterziehen. Auch nach Auffassung der Wissenschaftlichen Deputation stand und fiel die geplante Lehrplanreform mit der Qualität der Lehrerausbildung. Hier überkreuzten sich die Tätigkeitsfelder der Unterrichtsabteilung und der Deputation. Beide Institutionen arbeiteten eng zusammen, indem Schleiermacher mit Spalding gemeinsam das Ausbildungsinstitut visitierte. Ihr Visitationsbericht ging zur Bearbeitung zwischen Departement und Deputation hin und her und wurde schließlich im April 1812 in eine Instruktion für die neue Lehrerbildung gefasst.43 42

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Vgl. das „Gutachten der wissenschaftlichen Deputation zu Berlin über die Abiturientenprüfungen“ von Schleiermachers Hand GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 11, Bl. 14r–17r, unten S. 200–205 (Votum Nr. 40). Dieses Gutachten wurde zuerst veröffentlicht bei Schwartz (1910), dann mit Auslassungen bei Kade (1925) und schließlich bei Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1, ohne alle Anlagen. Die in der Gutachtenanlage beigefügten umfangreichen Zeugnismuster (für ein Zeugnis der Reife und für ein Zeugnis der Unreife) und Kriterien für die Notenfindung geben Aufschluss über die Erziehungsziele der Deputation. Vgl. z. B die Diskussion zwischen Bernhardi und Spalding über die Beurteilung des Moralischen, bei der Spalding zu bedenken gab, „[…] ob eine zu genaue Schilderung des Moralischen in einem jungen Menschen nicht a.) eine nicht allgemein zu hoffende Scharfsichtigkeit bei den beurtheilenden Schullehrern vorausseze? b.) dennoch den größten Misgriffen ausgesezt bleibe? Ob der Jüngling g u t m ü t h i g und g e s e z t sei, kann leicht beobachtet werden, und das scheint mir genug für das moralische Urtheil.“ GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 11, Bl. 10r (Anhang 2 zu Votum Nr. 35, unten S. 182) GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 23, Bl. 44r–48r und 49r–60v

Historische Einführung

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In sachlichem Zusammenhang hiermit standen vielfältige Aktivitäten der Berliner Wissenschaftlichen Deputation zur Überprüfung der Lehrbefähigung für die höheren Schulen. Die neue gelehrte Schule verlangte neue Lehrer und eine dementsprechende Verständigung der Verantwortlichen in den Schulbehörden über die sich wandelnde Rolle und das Berufsbild des Lehrers. Der Gymnasiallehrerberuf schied sich jetzt vom Theologenstand, aus dem die Latein- und Gelehrtenschulen bis dahin ihren Berufsnachwuchs bezogen hatten, und entwickelte sich zu einem eigenständigen, akademisch gebildeten Berufsstand. Die Wissenschaftliche Deputation förderte die Verselbstständigung der Lehrertätigkeit. Schleiermacher hatte in praktischer wie in theoretischer Hinsicht mit den neuen Lehrerexamina zu tun. Seit Anbeginn seiner Leitung in der Wissenschaftlichen Deputation war er zum einen viel mit der Durchführung der Prüfungen von Lehramtskandidaten beschäftigt, wie sein Jahresbericht zu erkennen gibt.44 Die korrigierten, umfänglichen Klausuren der Anwärter, Mitschriften der mündlichen Prüfungen und protokollierten Ergebnisse der demonstrierten Unterrichtsstunden füllen die Archivakten. Die Deputation arbeitete als selbstständige Prüfungsbehörde. Schleiermacher führte den Prüfungsvorsitz.45 44 45

Vgl. Schleiermachers Jahresbericht vom 17. Dezember 1810, GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 2, Bl. 2r–3r, unten S. 212–215 (Votum Nr. 41) Der erste Prüfling, der sich dem neuen umfassenden Prüfungsverfahren bei der Berliner Wissenschaftlichen Deputation unterziehen musste, war der damals 32jährige ‚Turnvater‘ Jahn, der bereits seit einigen Monaten als Privatgelehrter am Friedrichswerderschen Gymnasium unterrichtete und dem Humboldt schnell die Stelle des zweiten Oberlehrers am Collegium Fridericianum übertragen wollte. Für die Anfertigung von schriftlichen Arbeiten blieb daher keine Zeit, doch musste Jahn Lehrproben im Deutschunterricht in einer unteren Klasse und im Geschichtsunterricht einer höheren Klasse halten und wurde im Anschluss daran unter Schleiermachers Vorsitz mündlich geprüft: von Woltmann in Geschichte, von Spalding in Deutsch, Latein und Griechisch, von Bernhardi in Pädagogik und Methodik. Jahn, der sich bei Humboldt sogar um eine Universitätsprofessur beworben hatte, fiel durch. Der von Schleiermacher unterzeichnete, mehrere Seiten umfassende Prüfungsbericht der Wissenschaftlichen Deputation bringt zum Ausdruck, dass die Prüfungskommission großen Wert auf didaktisch-methodische und pädagogische Kompetenzen legte: „[I]n Hinsicht der Disciplin der untersten Klaßen, ist es ihm dagegen nicht gelungen, in den Stunden, welche ihm auf dem Friedrichs Gymnasio anvertraut waren, die wünschenswerthe Ruhe und Ordnung zu erhalten; es sind zwar keine groben Exceße vorgefallen, allein es herrschte weder Stille noch Aufmerksamkeit in den Stunden, welches offenbar an seiner Methode im Vortrag lag; denn b) zuvörderst beschäftigte er sich größtentheils nur mit einzelnen Schülern, anstatt die Rede an die ganze Klaße zu richten, und den Einzelnen zum Repräsentanten derselben zu machen; sodann aber war kein wahrer Fortschritt in dem Vortrage selbst sichtbar sondern er drehete sich in einem engen Kreise herum.“ GStA PK, I. HA,

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Einleitung der Bandherausgebenden

Zum anderen widmete er sich den Vorschlägen für eine einheitliche Lehrerprüfungsordnung und deren erziehungstheoretischer Begründung in einem Begutachtungsverfahren zwischen Deputation und Sektion. Nach Durchsicht sämtlicher Voten aus beiden Gremien verfasste Schleiermacher am 27. April 1810 seine Stellungnahme zum Examen pro licentia docendi.46 Dieses Votum bot die Grundlage für das am 12. Juli 1810 erlassene „Edict wegen einzuführender allgemeiner Prüfung der Schulamts-Candidaten“.47 Vor allem angesichts der noch immer bestehenden Patronatsrechte hielt es Schleiermacher für unerlässlich, verbindliche und vergleichbare Prüfungen für diejenigen anzuordnen, die an einer öffentlichen Schule unterrichten wollten. Bis auf den Elementarschulbereich sollten alle Lehrerprüfungen in die Zuständigkeit der Wissenschaftlichen Deputation gehören, die auch die Zeugnisse auszustellen hatte. Schleiermacher schlug die Einteilung der Prüfungen nach zwei Qualifikationsstufen vor und prägte dabei die Bezeichnung „Unterlehrer“ (Lehrbefähigung für die unteren Klassen) und „Oberlehrer“ (Lehrbefähigung für die höheren Klassen). Die zukünftigen Schuldirektoren mussten ein Kolloquium vor der Wissenschaftlichen Deputation ablegen. Die Beschäftigung mit dem Elementarschulwesen und dessen Lehrerbildung gehörte zu Schleiermachers Aufgabengebiet in der Unterrichtsabteilung der Sektion. Im Rahmen seines Votums zu Süverns Gesamtinstruktion äußerte er sich detailliert zur Konzeption der Elementarschule.48 Gegen Ende des Jahres 1811 übernahm er an Süverns Stelle das Ressort der Seminarangelegenheiten der Kurmark. Als am 15. November 1811 Ludwig Natorp dem Unterrichtsdepartement seine Überlegungen über eine Reform des kurmärkischen Elementarschullehrerseminars unterbreitete, antwortete ihm Schleiermacher im

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Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 7r–8r (Anhang zu Votum Nr. 8, unten S. 29). Der Prüfungsbericht wurde zuerst bei Schwartz (1910), abgedruckt. Weitere Dokumente zu dieser Prüfung: GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 1r–9r Die Voten sind zu finden: GStA PK, I. HA Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. Z, Nr. 1, Bd. 1. Darin Schleiermachers Stellungnahme Bl. 27v–29r, unten S. 32–34 (Votum Nr. 10). Vgl. den von Schleiermacher unterzeichneten Bericht der Deputation vom 30. April 1810 zu den Prüfungsfragen in derselben Akte des Staatsarchivs Bl. 30r– 32r, unten S. 35–37 (Votum Nr. 11) Das Edikt ist in derselben Akte des Staatsarchivs zu finden: GStA PK, I. HA Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. Z, Nr. 1, Bd. 1, Bl. 50r–53v Vgl. Votum Nr. 46, unten S. 234–255

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Namen des Departements kritisch und beauftragte ihn, „einen genauen Entwurf zur künftigen Einrichtung des Seminarii einzureichen welcher die angedeuteten Schwierigkeiten beseitigt“49. Diesen Entwurf übersandte Natorp – mehrfach angemahnt – am 27. September 1812 direkt an Schleiermacher, der zu diesem Seminarentwurf schließlich eine umfangreiche Kritik verfasste50 und sich dennoch weiterhin für das „Landschullehrerseminarium“ in der Kurmark und für dessen Gebäude einsetzte.51 Mit der Selbstverwaltung des Schulwesens und der Einrichtung städtischer Schulaufsichtsbehörden war Schleiermacher ebenfalls im Rahmen seiner Tätigkeit für die Sektion befasst. Er wurde gebeten, zu dem Entwurf einer Instruktion für die städtischen Schulkommissionen Stellung zu nehmen. Sein Votum trägt das Datum vom 17. November 1810.52 Schleiermacher setzte sich damit für die Beteiligung der Bürger und der Stadtvertreter an Schulfragen ein. Die Auseinandersetzung mit den Patronatsrechten und das Bemühen um eine Trennung von staatlicher und kirchlicher Verantwortung bei der Erziehung durchziehen Schleiermachers amtliche Tätigkeit für die Wissenschaftliche Deputation und die Unterrichtsabteilung der Sektion als roter Faden. Er war daran interessiert, im Bereich des Schulwesens Selbstverwaltungsstrukturen zu schaffen. Dieses Interesse artikuliert bereits der erste Lehrplanentwurf der Berliner Wissenschaftlichen Deputation vom September 1810. Mit den Grundsätzen des Lehrplans und den daraus entwickelten Konzeptionen für die einzelnen Schulfächer hatte die Wissenschaftliche Depu49

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GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Sekt. 15 bb, Nr. 1, Bd. 1. (Keine Blattzählung in dieser Akte). Dieses Dokument spiegelt die kontrovers geführte Diskussion über eine Umgestaltung der Zellerschen Normalinstitute in Lehrerbildungseinrichtungen. Vgl. das von Schleiermacher und Süvern unterzeichnete Dokument, das nicht von Schleiermachers Hand stammt: GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Sekt. 15 bb, Nr. 1, Bd. 1 (keine Blattzählung in dieser Akte), publiziert von Kade (1925) und Winkler/ Brachmann (2000), Bd. 1 (bei letzteren ohne Kennzeichnung der Einschübe und Veränderungen Süverns). Schleiermachers eigenhändige umfangreiche vorbereitende Notizen auf drei doppelseitig beschriebenen Blättern sind bisher nicht veröffentlicht (hier als Votum Nr. 45, unten S. 227–233). Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Sekt. 15 bb, Nr. 1, Bd. 1. Mundum, in: GStA PK, I. HA, Rep. 74, L. V. Brandenburg, Nr. 9, Bl. 11r–12r GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd. 1, Bl. 166v–167v (Votum Nr. 34, unten S. 176–178). In veränderter Rechtschreibung und Zeichensetzung ediert von Kade (1925) und Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1 (bei letzteren ohne Süverns Randbemerkungen)

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Einleitung der Bandherausgebenden

tation eine Grundlage geschaffen, auf die sich alle Reflexion und Handlung in den weiteren erziehungsreformerischen Projekten der Sektion und Deputation beziehen konnten. Daher galt Schleiermacher der Entwurf für einen Lehrplan der gelehrten Schule als das „bedeutendste Geschäft“ der Berliner Wissenschaftlichen Deputation, wie er in seinem Jahresbericht vom 17. Dezember 1810 schrieb.53 Sowohl dieser einzige Bericht Schleiermachers über die Arbeit der Deputation unter seiner Leitung als auch dieser erste Lehrplanentwurf werden hier erstmals veröffentlicht. Die Tätigkeit für die Wissenschaftliche Deputation nahm nicht wenig Raum in Schleiermachers Leben um 1810 ein, sodass er zwischenzeitlich zu dem Ergebnis kam: „[D]er Lehrplan hat mir alle Zeit genommen […]“54. Zum Ausklang des Jahres 1810, das Schleiermacher so intensiv der Schulreform gewidmet hatte, schrieb er seinem Freund Joachim Christian Gaß (Mitglied der Breslauer Wissenschaftlichen Deputation) zum vollendeten ersten Lehrplanentwurf: „Ich gehe mit dem Gedanken um meinen Plan drukken zu lassen aber mit Erläuterungen wodurch sich alles begründet; noch kann ich nur nicht dazu kommen.“55 Zu den beabsichtigten Erläuterungen kam Schleiermacher wohl nicht mehr, doch sein Gedanke, „meinen Plan“ drucken zu lassen, ließ sich – gut zweihundert Jahre später – realisieren56. c. Die Berliner Wissenschaftliche Deputation für den öffentlichen Unterricht Zum Verständnis der Arbeitsstrukturen, in die Schleiermacher mit seiner amtlichen Tätigkeit gestellt war, sei daran erinnert, dass die Regierungsorganisation Preußens im Zuge der Reformbemühungen des Freiherrn Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein (1757–1831) eine Umgestaltung erfuhr. Einheitlich für alle Provinzen wurden die fünf Ministerien des Inneren, der Finanzen, der Justiz, des Auswärti53 54

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Vgl. Votum Nr. 41, unten S. 214 Brief an J. Chr. Gaß vom 1. September 1810: „Nun verreise ich und habe hernach bis zur Eröfnung der Universität nur drei Wochen übrig und alle Hände voll zu thun; wie das werden wird, sehe ich noch nicht ab. Die Encyclopädie ist auch noch nicht geschrieben; der Lehrplan hat mir alle Zeit genommen und wird noch mit Noth zur lezten Sizung fertig. Sie werden doch nicht glauben, daß ich faul gewesen bin; ich kann es mir wenigstens nicht nachsagen.“ KGA V/11, Nr. 3504, 49–55 Brief an J. Chr. Gaß vom 31. Dezember 1810, KGA V/11, Nr. 3556, 68–71 Votum Nr. 32, unten S. 108–173

Historische Einführung

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gen und des Krieges als Fachressorts etabliert. Durch die „Verordnung die veränderte Verfassung der obersten Verwaltungs-Behörden in der Preußischen Monarchie betreffend“ vom 24. November 1808, die im Publikandum vom 16. Dezember 1808 in abgewandelter Form zum Gesetz erklärt wurde, war nach den Plänen des aus dem Amt scheidenden Stein auch die Verwaltung der Schulangelegenheiten neu geregelt worden. Für diese sollte die neu eröffnete „Sektion für den Kultus und öffentlichen Unterricht“ als Unterabteilung des Innenministeriums zuständig sein. Die Einrichtung einer solchen Sektion ist vor dem Hintergrund der bereits 1794 im Preußischen Landrecht formulierten Auffassung zu sehen: „§1 Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen des Staats, welche den Unterricht der Jugend in nützlichen Kenntnissen und Wissenschaften zur Absicht haben. […] §9 Alle öffentlichen Schulen und Erziehungsanstalten stehen unter der Aufsicht des Staats, und müssen sich den Prüfungen und Visitationen desselben zu allen Zeiten unterwerfen.“57 Die Idee, eine „Wissenschaftliche Deputation für den öffentlichen Unterricht“ ins Leben zu rufen, die die Verwaltungsarbeit der Sektion ergänzen sollte, geht auf die von Stein geplanten Reformmaßnahmen zurück.58 Sie bringt das Bestreben zum Ausdruck, die Kluft zwischen 57

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Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (Textausgabe). Mit einer Einführung von Hans Hattenhauer und einer Bibliographie von Günther Bernert, Zweyter Teil, Zwölfter Titel, Von niedern und höhern Schulen, Frankfurt/M./ Berlin 1970, S. 584–585 Stein äußerte sich am 23. November 1807 zu Grundsätzen für die neuen Organisationspläne und regte dabei die Einrichtung wissenschaftlicher und technischer Deputationen an: „Der dritte Hauptgesichtspunkt, von welchem ich ausgehen zu müssen glaubte, war, die Nachteile zu vermeiden, welche für verschiedene Geschäftszweige unfehlbar entspringen, wenn sie ausschließlich bloß eigentlichen Geschäftsmännern überlassen bleiben. […] Diesem Nachteil läßt sich nur durch die Beiziehung wissenschaftlicher und technischer Männer aus allen Ständen als Ratgeber der Geschäftsmänner in diesen Geschäftszweigen vorbeugen. […] In dem Organisationsplan sind daher, um die Vorteile einer wissenschaftlichen und kunstverständigen Beratung mit denen eines kraftvollen und geregelten Geschäftsbetriebes zu vereinigen, für alle Departements, bei welchen es auf vorzügliche wissenschaftliche oder technische Kenntnisse ankommt, wissenschaftliche und technische Deputationen vorgeschlagen, welche aus Geschäftsmännern sowohl als Gelehrten, Künstlern pp. bestehen, in welchen die wissenschaftlichen und Grundsätze, nach dem neuesten Zustand der Wissenschaft und Kunst in der Anwendbarkeit durch eine genaue Übersicht des Zustandes der Dinge geprüft, für die Administration des Departements und neue Gesetze, Vorschriften und Betriebspläne angegeben werden. Es wird von dieser Einrichtung unfehlbarer Gewinn für die Geschäftsmänner entstehen, daß sie in solcher Berührung mit dem Wissenschaftlichen nicht so sehr zurückbleiben und nicht so frühzeitig im Geschäftsleben veralten, und auch die Wissenschaften und Künste werden des Vorteils teilhaftig, von der Anwendung vieler

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Einleitung der Bandherausgebenden

Staatsbehörden und Bürgern durch die Beteiligung der Bürger an der Verwaltung zu überwinden – eine Zurückweisung der alleinigen Rechte ständisch-feudaler Gruppen. Steins Anregungen schlugen sich in der Verordnung vom 24. November 1808 nieder, welche die Einrichtung einer Wissenschaftlichen Deputation vorsah. Das Publikandum vom 16. Dezember 1808 bestimmte dazu: „Sie tritt an die Stelle des Ober-Schulkollegiums und hat zum Zweck, für den öffentlichen Unterricht zu leisten, was die technische[n] Deputationen für andere Zweige der Staatsverwaltung leisten sollen. Die vorzüglichsten Männer in allen Fächern, welche auf den öffentlichen Unterricht Einfluß haben, werden zu Mitgliedern der Deputation erwählt, selbst wenn sie abwesend sind. Sie ist Examinationsbehörde für höhere Schulbediente. Ihre übrige Einrichtung wird durch eine besondere Verordnung bestimmt werden.“59 Wissenschaftliche Deputationen sollten in Berlin bei der Sektion und in Königsberg und Breslau bei den Provinzialregierungen eingerichtet werden.60 Die Gründung der Deputationen zog sich bis in das

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Dinge im Großen eine anschauliche Kenntnis und lebendigere Übersicht zu bekommen und die zu weiteren Fortschritten erforderlichen Materialien zu erhalten.“ Stein, Karl vom und zum: Briefe und amtliche Schriften, Bd. 1–10, ed. W. Hubatsch, Stuttgart 1957–1974, hier Bd. II/2, ed. P. G. Thielen, 1960, S. 503–504. Zum Verständnis dieser Vorschläge im Kontext von Steins Reformprogramm vgl. Steins Nassauer Denkschrift (Bd. II/1, 1960, S. 380–398) und Steins Entwurf einer Proklamation an sämtliche Bewohner des preußischen Staates vom 21. Oktober 1808 (Bd. II/2, S. 902–905). Publikandum, betreffend die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden der Preußischen Monarchie, in Beziehung auf die innere Landes- und Finanzverwaltung, vom 16. Dezember 1808, in: Sammlung der für die Königlichen Preußischen Staaten erschienenen Gesetze und Verordnungen von 1806 bis zum 27sten Oktober 1810 mit Ausschluß der in der ersten Abtheilung des zwölften Bandes der Myliusschen Edikten-Sammlung schon enthaltenen Verordnungen aus dem Jahre 1806. Als Anhang zu der seit dem Jahre 1810 edirten Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten [= Gesetz-Sammlung], Berlin 1822, S. 366 sowie Freiherr vom Stein (1960), Teil II/2, S. 1003 Gesetzlich verankert wurde die Einrichtung der beiden weiteren Wissenschaftlichen Deputationen erst in der „Verordnung über die veränderte Verfassung aller obersten Staatsbehörden in der Preußischen Monarchie“ vom 27. Oktober 1810; vgl. Gesetz-Sammlung, S. 3–23, besonders S. 14. Doch bereits ein Jahr zuvor wurde die Gründung von Deputationen in Königsberg und Breslau angestrebt. Diese erreichten allerdings nicht die Bedeutung der Berliner Deputation. Dies lag auch an der Anbindung dieser Deputationen an die Provinzialregierungen. Denn anders als die Berliner Wissenschaftliche Deputation waren die Deputationen in Königsberg und Breslau den geistlichen und Schuldeputationen bzw. den Regierungspräsidenten bei den jeweiligen Provinzialregierungen unterstellt, der Sektion jedoch zur regelmäßigen Rechenschaft über ihre Tätigkeit verpflichtet. Während die Berliner Deputation schon in den konzeptionellen Entwürfen als die ‚Hauptdeputation‘ definiert und

Historische Einführung

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Jahr 1810 hinein, nachdem die höchsten Staatsbehörden von Königsberg nach Berlin übergesiedelt waren. Wilhelm von Humboldt hatte Ideen zu einer Instruktion für die Wissenschaftliche Deputation entwickelt und am 7.11.1809 einen entsprechenden Antrag beim König Friedrich Wilhelm III. gestellt, worauf am 25.2.1810 eine vorläufige Instruktion erlassen wurde, die bis zur Aufhebung der Wissenschaftlichen Deputationen im Jahre 1816 in Kraft war. In der Anlage zu seinem Schreiben, mit welchem er Schleiermacher am 26. März 1810 dazu aufforderte, zunächst die interimistische Leitung der Berliner Wissenschaftlichen Deputation zu übernehmen, übersandte Humboldt diese vorläufige Instruktion für die Wissenschaftliche Deputation, die in der Folge die satzungsgemäße Grundlage ihrer Tätigkeit war und von Schleiermacher an die ordentlichen Mitglieder weitergereicht wurde.61 Die vorläufige Instruktion bestimmte als Aufgabe der Deputation, „der Sektion des öffentlichen Unterrichts für ihre auf Förderung der Wissenschaft, der Erziehung und des Unterrichts gerichteten Zwecke behülflich zu seyn“62. Das hieß, dass die Deputation Erziehungssysteme und Unterrichtsmethoden zu beurteilen und weiterzuentwickeln hatte. Sie musste Lehrbücher auswählen und neue konzipieren. Sie beurteilte Anfragen, Schriften, Pläne, welche bei der Sektion eingesandt wurden. Sie gab Empfehlungen für Stellenbesetzungen in Schule und Universität. Sie stellte Prüfungsordnungen auf und führte Prüfungen durch mit allen, die in der Schule tätig sein wollten. Nicht zuletzt bestand ihre Aufgabe in der „Entwerfung neuer Einrichtungspläne für wissenschaftliche und Bildungsanstalten“63.

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dabei in ihrer Rolle eines kritischen Gegenübers an die Sektion gewiesen wurde, hießen die übrigen Deputationen „Auswärtige Zweige der wissenschaftlichen Deputation“. Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einer Instruktion für die wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts, in: Ders.: Werke, Bd. 4, S. 209. Die intendierte Kommunikation der Deputationen untereinander gelang nicht zufriedenstellend; in Fragen der Lehrplanentwicklung gab es zum Teil divergierende Vorstellungen, die nicht miteinander in Einklang gebracht werden konnten. Weder die Vorschläge der Breslauer Deputation, noch der maßgeblich von Herbart erarbeitete Lehrplanentwurf der Königsberger Deputation fanden Berücksichtigung (letzterer wurde erstmals abgedruckt in: Herbart, Johann Friedrich: Pädagogische Schriften, Bd. 1–3, ed. W. Asmus, Düsseldorf/München 1964–1965, hier Bd. 3: Pädagogisch-didaktische Schriften, 1965, S. 43–54). Vgl. Anhang zu Votum Nr. 2, unten S. 8–17 Ebd., S. 8 Ebd., S. 10

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Einleitung der Bandherausgebenden

Für die Aufgabenteilung zwischen Sektion und Deputation galt, dass die Deputation nicht mit routinemäßigen Verwaltungsarbeiten belastet werden sollte, damit sie sich mit Fragen beschäftigen konnte, für die wissenschaftlicher Sachverstand erforderlich war. Die Deputation sollte keine „Geschäftsbehörde“ sein. Während sie mit der wissenschaftlichen Erörterung zu tun hatte, konnte sich die Sektion auf die praktische Durchführung konzentrieren. In die Deputation wurden Gelehrte berufen, damit sie auf der einen Seite ihr Wissen und ihre Erfahrungen in die Verwaltungspraxis einbringen konnten und damit auf der anderen Seite die Verwaltung kein von den wissenschaftlichen Erkenntnissen abgehobenes Eigenleben führte. Aufgabe des Leiters der Deputation war es, Ideen und Vorschläge der Deputation in Kooperation mit den Mitgliedern der Sektion auf die Möglichkeit der Überführung in Verwaltungsgrundsätze zu überprüfen und in diesen Erwägungen die Position der Wissenschaft zu vertreten. Er stellte also, selbst Gelehrter, das Bindeglied zwischen den Gelehrten der Deputation und den Verwaltungsexperten der Sektion dar. „Die Deputationen“, schrieb Humboldt am 30. Januar 1810 an F. A. Wolf, „sind bei uns eine Verbindung der gelehrten mit der Geschäftsthätigkeit, oder vielmehr eine Annäherung beider gegen einander, ein Mittel zu verhüten, daß nicht eine eigentliche Kluft sie trenne“.64 d. Die Mitglieder der Berliner Wissenschaftlichen Deputation Die Wissenschaftliche Deputation in Berlin setzte sich aus ordentlichen, außerordentlichen und korrespondierenden Mitgliedern zusammen. Dieselbe Kabinettsorder vom 26. April 1810, die Schleiermacher offiziell zum Direktor berief, vervollständigte die Zusammensetzung der Deputation. Sie bestand im Jahr 1810 aus Schleiermacher als Direktor und folgenden weiteren ordentlichen Mitgliedern: dem Naturwissenschaftler Paul Erman (1764–1851), dem Mathematiker Johann Georg Tralles (1763–1822), dem Philologen Georg Ludwig Spalding (1762–1811) und dem Historiker Johann Gottfried Woltmann 64

Wilhelm von Humboldt an Wolf, Berlin, 30. Januar 1810, in: Humboldt: Gesammelte Schriften, Bd. 16, Abt. 4, Bd. 1, S. 257. Zuerst hatte Humboldt den Philologen und Altertumswissenschaftler Friedrich August Wolf (1759–1824) zum Direktor der Wissenschaftlichen Deputation vorgeschlagen. Dieser hatte jedoch seine ursprüngliche Bereitschaft am 19. März 1810 zurückgezogen.

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XXXIX

(1778–1822). August Ferdinand Bernhardi (1769–1820), Schulleiter des Friedrichswerderschen Gymnasiums in Berlin, kam als geübter praktischer Pädagoge hinzu. Zu außerordentlichen Mitgliedern ernannte die Order: „a) den Herrn StaatsRath und Ritter Karsten für Mineralogie, b) den Herrn Professor und Ritter Wildenow für Botanik, c) den Herrn MedizinalRath Klaproth für Chemie, d) den Herrn Professor Ideler für Kosmographie, e) den Herrn Hofrath Hirt für Archäologie“. Als korrespondierende Mitglieder wurden „die Herrn Professoren Schneider und Bredow zu Frankfurt und de[r] Herr Schulrath Bartholdi zu Stettin“ bestätigt.65 Diese Benennung der Mitglieder basierte auf Personalvorschlägen, die Humboldt im November 1809 dem König unterbreitet hatte. Kriterium für die Auswahl der Personen war deren Bezug zu allgemeiner Bildung. In Frage kamen Gelehrte, die solche Fächer vertraten, „welche wegen ihrer Beziehung auf allgemeine Bildung und den allgemeinen Schulunterricht“ für die Sektion von besonderem Interesse waren.66 Sie sollten die „formelle“ Wissenschaft repräsentieren oder, wie Humboldt an Wolf schrieb, „philosophischen Geist“ erwarten lassen.67 Ordentliche Mitglieder konnten nicht Gelehrte aus jenen „schrecklichen“ Wissenschaften wie „Chemie, Botanik cet.“ werden.68 In der vorläufigen Instruktion heißt es: „Zu ordentlichen Mitgliedern wählt die Sektion ausschließend Männer, die sich den allgemeinen Wissenschaften, namentlich den philosophischen, historischen und philologischen Studien, der reinen Mathematik und der allgemeinen Naturwissenschaft widmen“.69 Die ordentlichen Mitglieder und der Direktor wurden jeweils für ein Jahr benannt. Die Stellen bei der Deputation waren mit keiner festen Besoldung verbunden. Allerdings gab es eine jährliche Aufwandsentschädigung, die für die ordentlichen Mitglieder der Berliner Wissenschaftlichen Deputation einschließlich des Direktors je vier65 66

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Votum Nr. 12, unten S. 38 Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Antrag an den König (7. November 1809), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10, 2. Abt.: Politische Denkschriften, Bd. 1: 1802–1810, ed. B. Gebhardt, Berlin 1903, S. 192 Wilhelm von Humboldt an Wolf, Königsberg, den 31. Julius, 1809, in: Humboldt: Gesammelte Schriften, Bd. 16, 4. Abt., Bd. 1, S. 189 Vgl. Wilhelm von Humboldt an Wolf, Königsberg 14. Jul[ius] 1809, in: Humboldt: Gesammelte Schriften, Bd. 16, 4. Abt., Bd. 1, S. 174 Anhang zu Votum Nr. 2, unten S. 9

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Einleitung der Bandherausgebenden

hundert Taler betrug.70 An einen jährlichen Wechsel war gedacht, damit die Tätigkeit in der Deputation „nicht gewissermaßen zu einer Versorgungs-Anstalt herabsinke“71. Man konnte aber auch im Amt bestätigt werden und länger verbleiben; ehemalige ordentliche wurden zu außerordentlichen Mitgliedern, die in Einzelfällen wieder zu Rate gezogen werden konnten. Der Wechsel der Mitglieder war als vorbeugende Maßnahme gegen „Routine und Geschäftsgewohnheit“ zu verstehen.72 e. Der Lehrplan Ihre ersten Arbeitsaufträge erhielt die Deputation von Wilhelm von Humboldt. Mit einem Schreiben der Sektion vom 21. Mai 1810, das von Humboldt unterzeichnet ist, wurde die Deputation dazu aufgefordert, sich der Ausarbeitung „eines allgemeinen Schulplans für die gelehrten Schulen des Staats, und eines daran sich schließenden neuen Reglements für die Abiturienten-Prüfungen“ zu widmen.73 In diese Arbeit sollte der Hinweis des Direktors des Friedrichswerderschen Gymnasiums, Bernhardi, mit einbezogen werden, dass es in der Berliner Schule keine einheitliche Regelung für eine verpflichtende Teilnahme der Schüler am Griechischunterricht gebe. In seiner Eingabe vom 13. Mai 1810 an die Sektion hatte Bernhardi erläutert, dass dem entgegengewirkt werden müsse, dass es „theils von der subjectiven Ansicht der Direktoren, oder den oft unverständigen Wünschen weichlicher und unwissender Eltern, oder gar von dem Begehren träger Schüler abhängig“ sei, ob sie am Griechischunterricht teilnähmen.74 Bernhardis Anregung zum Dispensationsverbot von einem einzelnen Unterrichtsfach führte die Wissenschaftliche Deputation in die Auseinandersetzung um die Verbindlichkeit der Unterrichtsfächer und die Anzahl der darin jeweils zu belegenden Schulstunden. Die Diskussion über einen festzulegenden Fächerkanon war damit eröffnet. Das „Originalvorstellen“ des Direktors Bernhardi fügte Humboldt seinem Arbeitsauftrag an die Deputation in der Anlage mit der Bitte bei, die darin 70 71 72 73 74

Vgl. ebd. Wilhelm von Humboldt an Altenstein, Königsberg, den 28. October 1809, in: Humboldt: Gesammelte Schriften, Bd. 10, 2. Abt., Bd. 1, S. 188 Ebd., S. 189 Votum Nr. 13, unten S. 40 Anhang 1 zu Votum Nr. 13, unten S. 42

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angesprochenen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Ebenso erhielt die Deputation in „5 Volumina Ackten die Arbeiten des aufgelöseten OberSchulCollegii“ zur Durchsicht.75 Für die Konzeption von Abiturvorschriften konnte auf die Vorarbeiten des aufgelösten Oberschulkollegiums zurückgegriffen werden, nicht aber für die Lehrplanarbeit. Schleiermacher begann in den ersten Junitagen 1810 damit, den Deputationsmitgliedern Aufgaben zur Vorbereitung des Lehrplans zu stellen. Er bat zunächst das korrespondierende Mitglied, den Stettiner Schulrat und Professor am dortigen Gymnasium Georg Wilhelm Bartholdy (1765–1815), um ein Gutachten „über den Umfang die Folge und die Methode des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts“76. Dass die Deputation sich fürs Erste um Mathematik und Naturwissenschaften kümmerte, zeugt von der Bedeutung, die diesem Lernbereich in der neuen gelehrten Schule – im Unterschied zur herkömmlichen Lateinschule – beigemessen wurde. Sodann wandte Schleiermacher sich an das außerordentliche Mitglied, den Spezialisten für wissenschaftliche Botanik und Direktor des Berliner Botanischen Gartens, Karl Ludwig Willdenow (1765–1812). Diesem übermittelte er die Auffassung der Deputation, dass die Kenntnis der Natur zu den notwendigen Lehrgegenständen gehöre und dass „die Naturlehre nur auf den oberen Klassen gelehrter Schulen könne vorgetragen werden, der Unterricht in der Naturgeschichte aber jenem vorangehen müsse“. Willdenow wurde dazu aufgefordert, seine Ansicht darüber zu äußern, „wie jener Unterricht einzurichten und zu vertheilen ingleichen ob und wie vielleicht schon die Elementar Uebungen im Zeichnen dazu zu benuzen sein möchten“77. Von den ordentlichen Mitgliedern der Deputation verlangte Schleiermacher am 6. Juni schriftliche Voten über vier Fragen. Sie betrafen den Religionsunterricht, die Auswahl der neuen Sprachen, die Verbindlichkeit u. a. der Aussprache der alten Sprachen und die Struktur des Lehrzyklus‘.78 Insbesondere diese von Schleiermacher formulierten Fragen, mit denen er die ordentlichen Mitglieder der Deputation in der Vorbereitungsphase des Lehrplans befasste, zeigen, dass er die Leitung des Gremiums nicht in erster Linie verwaltungstechnisch und unter organisatorischen Gesichtspunkten wahrnahm, 75 76 77 78

Votum Nr. 13, unten S. 41 Votum Nr. 14, unten S. 46 Votum Nr. 16, unten S. 49 Vgl. Votum Nr. 15, unten S. 47–48

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sondern dass er inhaltlich die Weichen für den zukünftigen Lehrplan stellte. Er verteilte die Arbeit nicht einfach nach Fachrichtungen, sodass sich etwa jeder sogleich an die Ausarbeitung seines speziellen Gebietes für den Lehrplan begeben hätte, sondern regte zuerst einmal die Auseinandersetzung aller mit grundsätzlichen Fragen zur Schule an. Er beförderte einen gemeinsamen Meinungsfindungsprozess. Jeder – auch der Direktor – musste darin erst einmal Position beziehen, bevor er in den Austausch mit den anderen Mitgliedern trat. Schleiermacher beantwortete die von ihm aufgeworfenen vier Fragen, mit denen er die Lehrplanarbeit der Deputation in Gang setzte, auch selbst.79 Mit seiner Antwort auf seine erste Frage: „Soll in den Lehrplan für gelehrte Schulen ein eigner Religionsunterricht aufgenommen werden oder nicht?“ legte er den Grundstein für eine Neukonzeption des Religionsunterrichts. Er hatte es zudem übernommen, den Deutschunterricht zu entwerfen, wobei er ausführte, dass der Unterricht in der deutschen Sprache nicht nur als Sprachunterricht zu betrachten sei, „sondern weil die Muttersprache das unmittelbare Organ des Verstandes ist und das allgemeine der Fantasie so flüchtet sich vorzüglich in diesen Unterricht alles was für die freie formelle Bildung des Geistes auf Schulen geschehen kann“80. Schleiermachers Überlegungen zum Deutschunterricht wurden nicht nur in den besonderen Teil des Lehrplans (bei der Konzeption der einzelnen Fächer) aufgenommen, sondern finden sich auch im allgemeinen Teil des Lehrplanentwurfs der Deputation wieder. Der Entwurf zum Deutschunterricht brachte zum Ausdruck, dass zwischen den Schulfächern eine Beziehung bestehe, die durch die deutsche Sprache hergestellt und reflektiert werden könne. Gerade wenn die neue gelehrte Schule ihre Zöglinge nicht einseitig auf einen ganz bestimmten Stand oder Beruf hin vorbereiten, sondern allgemeine Menschenbildung bieten wollte, so war Schleiermacher zufolge die deutsche Sprache viel eher als die alten Sprachen dazu geeignet, als Zeichensystem zu dienen,81 das gleichermaßen von einem künftigen Wissenschaftler wie auch von einem 79 80 81

Votum Nr. 18, unten S. 55–58 Votum Nr. 22, unten S. 79 Vgl. Schleiermachers Ausarbeitungen für seinen Unterricht in Schlobitten im Hause Dohna über den Zeichencharakter der Sprache und den Zusammenhang von Sprechen und Denken. Eine mit Hilfe des Erziehers erworbene „Kenntniß des Styls“ kann dem Zögling gleichsam das Handwerkszeug dafür mitgeben, dass er die „rechten Zeichen“ für dasjenige findet, was er bezeichnen will, um sich anderen mitzuteilen. Über den Stil (1790/91), KGA I/1, S. 363–390.

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künftigen Handwerker reflexiv auf die Gegenstände des Wissens bezogen werden könnte. Der Deutschunterricht richtete sich nicht nur auf das, was im späteren Leben der Schüler relevant bleiben würde, sondern er konnte auch an das anknüpfen, was alle – ungeachtet spezieller Voraussetzungen – schon mitbrachten. Im Deutschunterricht sollten die freie Rede geübt und „die Elemente der Darstellung in den verschiedenen Gattungen der ungebundenen Rede“ veranschaulicht werden, damit die Heranwachsenden ein Instrumentarium dafür erhielten, sich im öffentlichen Leben zu artikulieren.82 So wie Schleiermacher eigene Entwürfe zum Religionsunterricht und zum Deutschunterricht in die Lehrplanarbeit einbrachte, so trugen die anderen Deputationsmitglieder Entwürfe zu den übrigen Fächern bei. Bernhardi beschäftigte sich mit den fremden Sprachen: mit Latein, mit der Klassenaufteilung des Pensums im Französischunterricht und mit einem umfassenden Plan für den Griechischunterricht.83 Erman entwarf ein Gutachten mit dem Titel: „In welchem Geiste wäre der Unterricht in der französischen Sprache auf gelehrten Schulen zu ertheilen.“84 Zudem trafen die von Schleiermacher eingeforderten Voten ein: Bartholdy hatte sich Schleiermachers Aufgabenstellung entsprechend ausführlich über „Stufenfolge, Methode und Umfang des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts gelehrter Schulen“ geäußert.85 Auch Willdenow kam Schleiermachers Bitte nach und übersandte seine Einschätzung zur Naturgeschichte.86 Diese Einschätzung trug Erman auf Wunsch von Schleiermacher auf der Deputationssitzung am 25. Juni 1810 vor und verfasste schließlich eine Stellungnahme zu Willdenows Vorlage und ein Gutachten zur Naturlehre.87 Tralles begründete den Stellenwert des Mathematikunterrichts und entwarf einen Kursus von Sexta bis Prima.88 Das korrespondierende Mitglied Schneider aus Frankfurt an der Oder setzte sich mit den „physischen Wißenschaften in den Schulen“ auseinander, und es gab eine Stellungnahme zu der Frage: „Würde es zwekmäßig seyn, die griechischen Stunden auf unserem Gymnasium auf Unkosten der 82 83 84 85 86 87 88

Vgl. Votum Nr. 22, unten S. 81 GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 45r–46v (Latein) und Bl. 47r– 47v (Französisch) und Bl. 48r–52v (Griechisch) GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 53r–54r GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 81r–89r GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 69r–70r GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 71r–74r GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 58r–68v

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Einleitung der Bandherausgebenden

physikalischen zu vermehren?“89 Woltmann äußerte sich zu den Aufgaben des historischen Unterrichts und entwarf sein Gutachten „Ueber den Unterricht in der Geschichte und Geographie“90. Zu den Vorarbeiten für den Lehrplan zählt noch die schriftliche Auseinandersetzung der ordentlichen Deputationsmitglieder in den ersten Julitagen 1810 mit vier weiteren Fragen: Zur Debatte stand, ob die „Singechöre“ beibehalten oder aufgelöst werden sollten, ob überhaupt Musikunterricht zu erteilen sei, ob Gymnastik in die Stundentafel aufgenommen werden sollte und welche Rolle in diesem Zusammenhang das Tanzen, Fechten und Exerzieren spiele. Der vierte Punkt betraf die Frage: „Soll das Verhältniß des Direktors zu seinen Lehrern nicht gesezmäßig verfaßt werden?“91 Ferner stellte die Deputation einen Plan für eine erstmalig einheitliche Regelung der Schulferien in Berlin auf, die mit dem Rhythmus der Universitätssemester harmonieren sollten. Es waren zwei Wochen Ferien zu Ostern, zwei während der „Hundstage“, zwei zu Michaelis und zwei Wochen zu Weihnachten vorgesehen.92 Nachdem die Vorarbeiten für den Lehrplan beendet waren, stellte Bernhardi auf der Basis sämtlicher Gutachten und der bei den Besprechungen gefassten Beschlüsse und verabredeten Grundlinien zunächst eine vorläufige „Uebersicht dessen[,] was in jeder der drei angenommenen Bildungsstuffen geleistet wird“93, zusammen. Diese Übersicht wurde unter den Deputationsmitgliedern in Umlauf gebracht um festzustellen, „ob der Sinn der Herren getroffen [sei]“. Änderungswünsche sollten binnen vierundzwanzig Stunden eingearbeitet werden.94 Der zu einem Ganzen zusammengestellte erste Lehrplanentwurf, der die verschiedenen Einzel-Voten und die von der Wissenschaftlichen Deputation zur Gestalt der neuen gelehrten Schule getroffenen Verabredungen aufnimmt, trägt das Datum vom 3. September 1810. Schleiermachers Tageskalender ist zu entnehmen, dass die Deputation an diesem Tag ihre Sitzung abhielt, an der er teilnahm. Sein Eintrag vom Montag, dem 3. September 1810 lautet: „VortragsSache. […] Conferenz bei Uhden. Conferenz bei Dohna. Mittag bei Dohna. Wissenschaftliche Deputation. […] Abreise“95. 89 90 91 92 93 94 95

GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 75r–76v und Bl. 77r–80v GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 90r–94r GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 35r GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 102r–102v GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 96r–98r Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 95v Schleiermacher Nachlass Nr. 439 (Archiv der BBAW)

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Noch am selben Tag reiste er aus Berlin ab und traf am Abend des 5. September in Dresden ein. Dort hielt er sich gut zwei Wochen auf – unterbrochen von einem Tagesausflug nach Pillnitz und einer zweitägigen Reise nach Schandau, von der er am 20. abends nach Dresden zurückkehrte. Den letzten Eintrag in seinen Tageskalender des Jahres 1810 nahm Schleiermacher am 21. September vor. An diesem Tag weilte er noch in Dresden: „Vormittag Kupferstiche. […]“96. Am selben Tag – am 21. September 1810 – übergab Bernhardi in Berlin „dem Auftrage des abwesenden Doktor und Professor Schleiermacher gemäß […] gehorsamst“ der Sektion für den öffentlichen Unterricht beim Innenministerium den vollständigen ersten Lehrplanentwurf.97 Schleiermacher war also während der Zusammenstellung des Lehrplans nicht persönlich anwesend. Dennoch hatte er mit einem kurzen Text zur Redaktion des Lehrplans einen Vorschlag zur Struktur des Plans hinterlassen, nach dem dieser redigiert wurde.98 Der bei der Sektion eingereichte Entwurf stammt aus der Feder eines unbekannten Schreibers mit Korrekturen von Bernhardis Hand. Nachdem der Lehrplanentwurf von der Sektion in Empfang genommen worden war, reichte ihn Johann Wilhelm Süvern (1775– 1829), Staatsrat in der Unterrichtsabteilung der Sektion, zunächst zur Begutachtung an die Breslauer Wissenschaftliche Deputation weiter und verfasste schließlich am 30. Januar 1811 ein Promemoria, in welchem er die für die Schulreform maßgebenden Pläne und Ziele noch einmal ausführlich in Erinnerung rief.99 Er sprach der Berliner Depu96

97 98 99

Ebd. Nur eine Abrechnung datiert die Rückreise nach Berlin auf den 25. September 1810. Nach dem 1.7.1810 hatte Schleiermacher seinen Kalender nicht mehr weitergeführt. Ausnahmsweise trug er die Dresdener Reise vom 3.9. bis 25.9. ein (letzter Eintrag 21.9.). Für den Rest des Jahres 1810 gibt es keine Eintragungen. Schleiermacher sehnte sich nach „Ausspannung“, die er sich von der Reise nach Dresden versprach, wie er am 1. September – „fast schon mit dem einen Fuß im Wagen denn Uebermorgen Abend sezen wir uns wirklich ein,“ – an Gaß schrieb (KGA V/11, Nr. 3504, 2–3, 36). Die Tagebucheintragungen von der Dresdener Reise berichten u. a. von mehrfachen Besichtigungen der Gemäldegalerie und der Antikensammlung, von Spaziergängen und geselligem Verkehr (z. B. von Besuchen bei Johanna Schopenhauer und C. D. Friedrich (am 12.9.)). Schleiermacher erwähnte mit mehreren Notizen die Begleitung von Henriette Herz auf dieser Reise. Vgl. Votum Nr. 32, unten S. 108 Vgl. Votum Nr. 26, unten S. 87–88 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd. 1, Bl. 187r– 204r. Dilthey zufolge gab der Wechsel in der Leitung der Sektion nach dem Weggang Humboldts den Anlass dafür, dass Süvern die Ziele und Grundsätze für einen Lehrplan vorsorglich (gegenüber Schuckmann) noch einmal festhalten wollte. Vgl. Dilthey (1894), S. 235

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Einleitung der Bandherausgebenden

tation mit einem Schreiben vom 10. Februar 1811 den Dank aus für die Einsicht und den Fleiß, „mit welchem sich die Deputation des Auftrages entledigt hat, einen Plan zur Einrichtung der gelehrten Schulen zu entwerfen“100. Nach dem Weggang Wilhelm von Humboldts und einer interimistischen Leitung durch Georg Heinrich Ludwig Nicolovius (1767– 1839) war Kaspar Friedrich von Schuckmann (1755–1834) am 20. November 1810 Chef der Sektion für den Kultus und öffentlichen Unterricht beim Innenministerium geworden und hatte dies am 23. November 1810 der Berliner Wissenschaftlichen Deputation mitgeteilt.101 Schleiermacher und Spalding hatten sich bei ihm für diese Information bedankt und die gemeinsamen Ziele der Unterrichtsreform bestätigt.102 Am 17. April 1811 teilte Schuckmann im Namen der Sektion die beendete Durchsicht des ersten Lehrplanentwurfs mit. Er akzeptierte im Großen und Ganzen die Grundsätze des Plans, forderte aber eine Reihe von Veränderungen insbesondere im Hinblick auf einzelne Unterrichtsfächer (Zeichnen, geographischer und historischer Unterricht, Hebräisch, Religionsunterricht) sowie im Hinblick auf die Gliederung der Schularten.103 Auf das Schreiben Schuckmanns vom 17. April 1811 reagierte die Berliner Wissenschaftliche Deputation – inzwischen unter dem Vorsitz Spaldings – mit einer überarbeiteten Lehrplanfassung, die in der Handschrift Bernhardis erhalten ist und in gekürzter Fassung in einer Monographie über Bernhardi abgedruckt wurde.104 Ausschließlich auf diesen zweiten Lehrplanentwurf bezieht sich die Forschung.105 Möglicherweise wurde dem ersten Lehrplanentwurf schon allein deshalb keine Beachtung geschenkt, weil er sich in einer Akte des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz mit dem Titel „Die Aufsicht und Leitung 100

101 102 103 104

105

Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd. 1, Bl. 205r– 208v, hier 205r (Mundum). Das diesbezügliche Manuskript Süverns ist zu finden: GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd. 1, Bl. 201r–204r GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Bl. 12r–12v Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Bl. 13r–13v Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 113r–116v In gegenüber dem Original veränderter Rechtschreibung und Zeichensetzung und mit Kürzungen publiziert bei Horstmann (1926), S. 143–188. Horstmann veröffentlichte das Begleitschreiben nicht, obwohl es detaillierte Hinweise und inhaltliche Ergänzungen zu den einzelnen Paragraphen des zweiten Entwurfs enthält. Die Handschrift des zweiten Lehrplanentwurfs ist zu finden im GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 121r–147r. Vgl. Kade (1925), Lohmann (1984)

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der städtischen Erziehungs-, Lehr- und Schulanstalten und die zu diesem Behuf angeordneten städtischen Schuldeputationen, 1809– 1812“106 verbirgt. Ein sorgfältiger Vergleich beider Fassungen steht noch aus und dürfte eine Reihe von Veränderungen zutage treten lassen, die Rückschlüsse auf die Berücksichtigung von Schuckmanns Vorgaben erlauben und zugleich die stärkere Prägung dieser zweiten Lehrplanfassung durch Bernhardis pädagogische Auffassungen deutlich werden lassen.107 f. Die Gegner Die letzten Veränderungen dieser zweiten Fassung des Lehrplans nahm Süvern in die Hand. Inzwischen waren auch die Vorarbeiten für die Konzeption der Elementarschulen so weit vorangekommen, dass Süvern beide Entwürfe, die „Hauptinstruktion über die Einrichtung der öffentlichen allgemeinen Schulen des preußischen Staates“, die er auf der Grundlage des Lehrplans der Berliner Wissenschaftlichen Deputation erstellt hatte, und die „Besondere Instruktion über die Einrichtung der Elementarschulen“ von Ludwig Bernhard Christoph Natorp (1774–1846), zu einer „Gesamtinstruktion über die Verfassung der Schulen“ zusammenfügen konnte. Diese Zusammenstellung reichte er am 7. Februar 1813 der Sektion mit der Bitte ein, dass sie „Herrn Prof. Dr. Schleiermacher zum schriftlichen Votieren zugeschrieben und dessen Bemerkungen mir wieder zum Vortrage gegeben werden“108. 106 107

108

GStA PK, I. HA, Rep. 76 neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 38r–98r, Votum Nr. 32, unten S. 108–173 Vgl. z. B. die neu vorgenommene Einarbeitung der Rolle des Fleißes in die pädagogischen Grundsätze des Lehrplans (§11) – eine Überlegung, die Bernhardis Schulprogrammschrift von 1810 entstammt („Fleiß ist die Tugend des Schülers als solche“, S. 133) und dem ersten Lehrplanentwurf fremd ist; Bernhardi, August Ferdinand: Ueber die ersten Grundsätze der Methodik für die Lehrobjecte eines Gymnasiums. Programm von 1810, in: Ders.: Ansichten über die Organisation der gelehrten Schulen, Jena 1818, S. 54–134 Zitiert nach Kade (1925), S. 68, da die von Kade angegebene Akte, die auch Schleiermachers Votum zu Süverns Gesamtinstruktion enthielt, nicht zu ermitteln war (vgl. unten, Anmerkung 109). Kade zufolge habe sich auf demselben Blatt, das Süverns Aufforderung an Schleiermacher festhielt, noch folgende Randbemerkung befunden: „Herrn Professor Dr. Schleiermacher wieder vorzulegen. Süvern. 28.11.13 und zwar zum schriftlichen Votieren. Nicolovius. 30.11.13.“ Der Zusatz von Nicolovius sei zweimal rot unterstrichen gewesen. Aus dieser Randbemerkung könne man schließen, dass die Gesamtinstruktion Schleiermacher wahrscheinlich zweimal vorgelegen habe, bevor er sein schriftliches Votum verfasste (mit dem Datum vom 10. Juli 1814).

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Einleitung der Bandherausgebenden

Schleiermacher setzte sich mit Süverns „Gesamtinstruktion“ im Rahmen seiner Tätigkeit bei der Sektion für den öffentlichen Unterricht auseinander und verfasste ein Votum mit dem Datum vom 10. Juli 1814. Darin widersprach er den auf Schuckmanns Wünsche zurückgehenden Veränderungen. Entsprechend dem von der Berliner Deputation bei ihrer Lehrplanarbeit im Jahre 1810 aufgestellten Grundsatz, dass die gelehrten Schulen nicht der Vorbereitung auf einen bestimmten Beruf, sondern zweckfrei der allgemeinen Menschenbildung dienen sollten, lehnte Schleiermacher zum Beispiel Schuckmanns Forderung ab, dass der Hebräischunterricht in den Kanon der höheren Schule gehöre. Denn die von der Berliner Deputation konzipierte neue gelehrte Schule sollte gerade nicht „Spezialschule für Theologen“ sein.109 Süvern befasste sich gründlich mit Schleiermachers Einwänden, notierte seine Bemerkungen auf dem Rand und überarbeitete seine Instruktion unter Einbeziehung von Schleiermachers Anregungen. Diese überarbeitete Instruktion wurde zwar zwischen 1816 und 1819 noch in verschiedenen erziehungsreformerischen Zusammenhängen zu Rate gezogen, doch wurde sie niemals zum allgemeinen Gesetz. 109

Vgl. Schleiermachers Votum vom 10. Juli 1814 zu Süverns Gesamtinstruktion vom 7. Februar 1813, Votum 46, unten S. 234–255. Es ist Franz Kade zu verdanken, dass dieses Votum, wenn auch in gegenüber dem Original veränderter Orthographie und Interpunktion sowie mit gekennzeichneten Auslassungen für nicht entzifferte Wörter, veröffentlicht wurde und damit erhalten ist; vgl. Kade (1925), S. 184– 204. Die Edition Kades wurde für alle weiteren Abdrucke von Schleiermachers Votum übernommen (Weniger/Schulze (1957), Bd. 2; Schulreform in Preußen 1809–1819. Entwürfe und Gutachten, bearbeitet von Lothar Schweim [= Schweim], Weinheim 1966; Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1). Die Aktensignatur des preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, mit der Kade im Jahr 1925 Schleiermachers Votum nachwies, gibt es heute nicht mehr. Alle späteren Herausgeber übernahmen dennoch Kades Signaturangabe und gingen davon aus: „Das Manuskript von Schleiermachers Votum ist erhalten und befindet sich im Geheimen Staatsarchiv in Berlin (Dahlem)“ unter der von Kade angegebenen – nicht mehr existierenden – Signatur (vgl. Brachmann, Jens: Kommentar, in: Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1, S. 429). Leider ist nach Auskunft des Geheimen Staatsarchivs damit zu rechnen, dass die betreffenden Akten, die vor dem Zweiten Weltkrieg vom Kultusministerium – nicht vom Staatsarchiv – aufbewahrt wurden und nie in die Obhut des Staatsarchivs gelangten, im Krieg verloren gegangen sind. Schleiermachers Manuskript zu Süverns Gesamtinstruktion konnte jedenfalls bisher nicht ermittelt werden. – Der Edition von Kade ist auch zu verdanken, dass Süverns Unterstreichungen und seine zahlreichen ausführlichen Anmerkungen zu Schleiermachers Text, auf deren Grundlage Süvern seine Gesamtinstruktion nochmals überarbeitete, überliefert sind. Diese fanden bei den anderen Herausgebern keine Berücksichtigung.

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Die Umsetzung der Ideen zur Schulreform wurde wesentlich durch den Einfluss Schuckmanns behindert, der durch Erlass des Königs vom 3. Juli 1814 zum Innenminister ernannt worden war. Schuckmann bestritt zwar die Nützlichkeit eines allgemeinen Schulplans nicht, wollte ihn aber auf die innere Einrichtung der Schule (Curriculum, Fächerkanon) beschränkt sehen, während er sich einer die äußeren Verhältnisse des Schulwesens (Trägerschaft, Finanzierung) gesetzlich vereinheitlichenden Regelung, auf die es Süvern vor allem ankam, widersetzte. Im Rückblick auf seine Amtstätigkeit als Chef der Sektion für den Kultus und öffentlichen Unterricht bemerkte Schuckmann im Jahre 1823 (in Bezug auf eine Schrift Metternichs, die den reaktionären Denkschriften gegen die erziehungsreformerischen Bestrebungen zuzurechnen ist): „Ich würde die dargelegten Ansichten und Erinnerungen sehr loben, wenn dies nicht zugleich auch auf Selbstlob hinausliefe; denn da schon vor mehr als 10 Jahren ein allgemeines Schulgesetz von einer Seite aus den hier gerügten Gesichtspunkten eifrig betrieben ward, so habe ich gerade aus denselben in der Anlage angeführten Gründen als damaliger Chef ein solches Produkt nicht aufkommen lassen, und wenn man derartige Grundsätze in einige Schulgesetze einschwärzen wollte, sie mit dicker Feder weggestrichen. Daher wurde auch zu gleicher Zeit, als ich zum Jubel der Schleiermacher und Konsorten so freundlich von den Schulen und Universitäten relegiert wurde, eine Immediatkommission zur Einführung eines allgemeinen Schulreglements bestellt.“110 Die Immediatkommission, die Schuckmann in seinem Schreiben erwähnte, sollte ein Schulgesetz erarbeiten. Sie war im Zuge der Kabinettsorder vom 3. November 1817, durch welche zugleich die Einrichtung eines Kultusministeriums verfügt wurde, eingesetzt worden.111 Diese Kommission, in der Süvern federführend tätig war, legte dem Ministerium am 27. Juni 1819 einen Gesetzesentwurf vor, der den Lehrplan der Wissenschaftlichen Deputation aufnahm.112 Dass dieses Gesetz nicht 110

111 112

Schuckmann schrieb hier an den Fürsten Wittgenstein, einen der führenden Reaktionäre. Zitiert nach: Süvern, Wilhelm: Johann Wilhelm Süvern, Preußens Schulreformer nach dem Tilsiter Frieden. Ein Denkmal zu seinem 100. Todestage dem 2. Oktober 1929, Berlin/Leipzig 1929, S. 215 Vgl. Gesetz-Sammlung 1817, S. 289–292 Dieser „Entwurf eines allgemeinen Gesetzes über die Verfassung des Schulwesens im preußischen Staate“ ist u. a. abgedruckt in: Thiele, Gunnar: Süverns Unterrichtsgesetzentwurf vom Jahre 1819, mit einer Einleitung neu herausgegeben von Gunnar Thiele, Leipzig 1913, S. 12–81 und in: Schweim (1966), S. 123–221

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über sein Entwurfsstadium hinausgelangte, wurde auch durch die in dieser Frage sehr zögerliche Haltung des Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770–1840) bestärkt, dem ersten Minister des neuen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten.113 Als die Kommission 1819 ihren Entwurf zu einem Schulgesetz vorlegte, stand Preußen kurz vor der Verabschiedung der Karlsbader Beschlüsse. In seinem Promemoria über eine Reform des Schul- und Kirchenwesens vom 16. Oktober 1819 bezeichnete der Berater des Königs, Bischof Eylert, die einseitige und verkehrte Richtung des Erziehungswesens, die Anarchie in der Kirche und die missverstandene Humanität der Staatsbehörden als die Quellen der revolutionären Umtriebe und empfahl – neben durchgreifenden Maßnahmen in den Elementarschulen, Universitäten, in der Kirche und in der Staatsverwaltung – für die Gymnasien unter anderem eine Verengung des Fächerkanons auf die alten und neuen Sprachen, auf Mathematik und Geschichte.114 In einem letzten Beitrag zum Schulgesetzentwurf – dem Promemoria von Beckedorff, Eylert, Snethlage und Schultz vom 15. Februar 1821 – richtete sich der Angriff der Reaktion direkt auf die Mitglieder der Unterrichtssektion. Seit mehreren Jahren habe man mit lebhaftem Kummer, ja mit Entsetzen, das zunehmende moralische Verderben beobachtet, „welches durch das seit 1809 eingeführte System des Schulund Erziehungswesens im Preußischen Staate immer allgemeiner und zerstörender geworden ist“115. Dieses Promemoria prangerte in zwölf Hauptpunkten alle zentralen Aspekte der preußischen Erziehungsreform an. So war seinen Ver113

114

115

Vgl. Altensteins Schreiben vom 8. August 1819 an Staatskanzler Hardenberg, das die Umsetzung des Gesetzesentwurfs hinauszögerte, da u. a. „die kirchlichen, die Kommunal- und die gerichtlichen Verhältnisse nicht hinlänglich erwogen und im voraus berücksichtigt“ seien; abgedruckt in: Thiele (1913), S. 93 Das Promemoria ist abgedruckt in: Lenz (1910), Bd. 4, S. 380–390. Vgl. Schleiermachers Brief an E. M. Arndt vom 27. Januar 1819 über eine Predigt Eylerts: „Da hat am Krönungstage der Eylert ein erbärmliches Geschreie [Lenz, S. 354: Geschwätze] in der Domkirche von der Kanzel gemacht über den schrecklichen Zeitgeist; wie alle Kräfte über die Ufer getreten wären, wie überall Freiheit und Gleichheit gefordert würde, aller Respekt vor den höheren Ständen verschwunden wäre, und wie sich nun die Ritter alle verbinden sollten dem Unwesen ein Ende zu machen. So daß sich auch die Ritter alle vornahmen, wenn Montag die Revolution ausbräche, wollten sie sie tüchtig auf die Finger klopfen; sollte sie aber auch Dienstag noch nicht kommen, so wollten sie sie abends mit der Laterne suchen.“ Briefe ed. Meisner, S. 292 Vgl. Lenz (1910), Bd. 4, S. 390–401

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fassern vor allem die von den Reformern angestrebte allgemeine Bildung für alle Schüler ein Dorn im Auge.116 In zynischem Ton wurde im Hinblick auf das Schulwesen – neben dem allgemeinen Mangel an christlicher Gesinnung – beklagt, dass jeder „ohne Berücksichtigung des Unterschiedes der persönlichen Verhältnisse lediglich eine freie, geistige Entwicklung erzielen, und mit jedem andern die gleiche rein menschliche Ausbildung zu gleichen Ansprüchen im bürgerlichen Leben erhalten [solle], damit er nach höherem innern Berufe (d. h. nach den Forderungen jugendlichen Ehrgeizes und einer verworrenen Phantasie) dereinst seine Bestimmung für die Welt selbst wähle“. Das Promemoria erkannte hier den erziehungstheoretischen Kern der Reform, in dem sich alle Bemühungen der Deputation um einen Lehrplanentwurf und um die einzelnen Schulfächerkonzeptionen vereinten: Ausgehend von der unbestimmten Bildsamkeit des Zöglings sollte dieser durch erzieherisches Handeln dazu aufgefordert werden, selbsttätig seine Bestimmung hervorzubringen. Diese Zielsetzung war dem Promemoria zufolge staatsgefährdend. Seine Verfasser erläuterten, dass den Erziehungsreformern gemäß eine berufsbezogene Anleitung zu einer dem Stande, der individuellen Fähigkeit und den Mitteln jedes Einzelnen angemessenen Bestimmung als eine unwürdige Beschränkung der menschlichen Natur gelte und den Schulen untersagt sei. Daher rühre die „Überhäufung“ der gelehrten Schulen mit einer „Menge von Schülern, deren bürgerlicher Beruf sie von der gelehrten Ausbildung fern halten würde, daher die übertriebenen Zumutungen, welche in Absicht der Lehrgegenstände an alle, besonders aber an die niederen Volksschulen gemacht werden, und durch welche die wahre Bestimmung derselben vernichtet wird“. Der Grund dieser Gefahren und dieses Verderbens für die preußische Monarchie beruhe auf der Wirksamkeit „derjenigen Personen des Ministeriums der Geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten […], welchen seit 1809 fast ausschließlich die Leitung dieses höchst wichtigen Gegenstandes anvertraut war“. Das verderbliche System, dem sie gefolgt seien, sei allerdings keineswegs von ihnen selbst erfunden, „sondern wie ausführlich darzutun Pflicht ist, in gedruckten Schriften wie in öffentlichen Vorträgen zunächst von zwei Gelehrten ausgegangen, welche beide seit ungefähr zwanzig Jahren unter stetem großen Bei116

Dies ist schon der Hauptkritikpunkt von Beckedorffs Beurteilung des Süvernschen Unterrichtsgesetzentwurfs (abgedruckt in: Schweim (1966), S. 222–244).

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Einleitung der Bandherausgebenden

falle hier öffentlich aufgetreten sind, von den Professoren Fichte und Schleiermacher“117. g. Die Auflösung der Wissenschaftlichen Deputationen Gut sechs Jahre nach ihrer Einrichtung wurde die Berliner Wissenschaftliche Deputation trotz entschiedener Gegenwehr, die aus dem Unterrichtsdepartement der Sektion laut wurde118, aufgelöst. Die Auflösung ging auf einen Antrag des Innenministers Schuckmann zurück, bei den Konsistorien wissenschaftliche Prüfungskommissionen einzurichten und dafür die Wissenschaftlichen Deputationen abzuschaffen.119 Der Antrag des Innenministers bewirkte, dass der König am 19. Dezember 1816 per Kabinettsorder die Auflösung der Deputationen verfügte.120 Der König bezog sich bei seiner Entscheidung aus117

118

119 120

Lenz (1910), Bd. 4, S. 396. Zu Schleiermacher heißt es weiter (S. 398–399), dass dieser auf die neuen Anordnungen im Schul- und Erziehungswesen eingewirkt habe, „indem derselbe seine ausgezeichnete Beredsamkeit, Scharfsinn und Gewandtheit zunächst nur der siegenden Durchführung und Befestigung einer gänzlich unbeschränkten öffentlichen Lehr- und Lernfreiheit in religiöser, wissenschaftlicher und politischer Beziehung als einer vermeintlich dem Menschen zustehenden heiligen Berechtigung und Verpflichtung widmete, und sich, wie es scheint, nur in dieser Rücksicht und zur Beförderung der dieserhalben für notwendig angenommenen politischen Regeneration dem Fichteschen Systeme anschloß und die Ausführung solcher und ähnlicher Ideen durch seine persönlichen Verbindungen, auch von 1810 bis 1815 als Mitglied des Unterrichtsdepartements, selbst tätig zu unterstützen beflissen war. Besonders wirksam aber war derselbe durch seine im Jahre 1808 herausgegebene Schrift: über Universitäten im deutschen Sinne, welche die äußere und innere Unabhängigkeit dieser Lehrinstitute von dem Staate und der Kirche als erstes Prinzip derselben aufstellt und den Grund zu dem System verderblicher Universitätseinrichtungen gelegt hat, die von dem Ministerium seit 1809 bis jetzt in Ausführung gebracht worden sind, indem die Vorschläge der genannten Schrift für diesen Teil der Unterrichtsanstalten ebenso genau von der obern Behörde befolgt zu sein scheinen, als die Fichteschen Vorschläge in den ‚Reden an die deutsche Nation‘ für die untern Schul- und Erziehungsanstalten.“ Vgl. Süverns Protest gegen die Aufhebung der Deputationen (vgl. Dilthey (1894), S. 244–245), den er auch in seinem Brief an Herbart vom 12. März 1816 artikulierte: „Wenn man uns nur die Wissenschaftlichen Deputationen noch stehen läßt und nicht die lieben Consistorien mit an ihre Stelle setzt, wozu der Anschein ist. Zwar wird entgegengearbeitet – aber leise, leise; denn wir treten jetzt gewaltig sacht auf!“ Herbart, Johann Friedrich: Johann Friedrich Herbart’s Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge, Bd. 1–19, ed. K. Kehrbach/O. Flügel, Langensalza 1887–1912, hier Bd. 19, 1912, S. 192 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 74, L. IV. Gen., Nr . 14, Bl. 1r–2v Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 74, L. IV. Gen., Nr . 14, Bl. 3r–7r. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Bl. 28r–29r

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drücklich auf den „Bericht“ Schuckmanns (vom 20. November 1816).121 Schuckmann konnte sich mit seinem Ansinnen auf die Verordnung vom 30. April 1815 („wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-Behörden“) stützen.122 Durch diese Verordnung waren die Konsistorien zu Verwaltungsorganen der Provinzregierungen avanciert. Schuckmann schrieb der Berliner Wissenschaftlichen Deputation am 23. Dezember 1816: „Die wissenschaftliche Deputation wird es schon vorausgesehen haben, daß die veränderte Organisation der Provinzial-Behörden, insonderheit die Einrichtung der Consistorien, auch auf sie Einfluß haben würde. Den Consistorien sind in Hinsicht auf das höhere Unterrichtswesen die Geschäfte beigelegt worden, welche die wissenschaftlichen Deputationen bisher versehen haben, das längere unabhängige Bestehen der letzteren neben jenen war also ohne große Collisionen nicht möglich. Des Königs Majestät haben deswegen mittelst Allerhöchster Kabinetsordre vom 19. des Monats die Aufhebung der wissenschaftlichen Deputationen, und dagegen in Ueberzeugung von dem Nutzen, welchen sie gestiftet, die Errichtung wissenschaftlicher Prüfungs-Commissionen beschlossen, in welchen das Wesentliche der bisherigen wissenschaftlichen Deputationen fortdauern wird, die aber mit den Consistorien der Provinzen in engerer Verbindung stehen sollen. Indem das Ministerium des Innern der wissenschaftlichen Deputation solches eröffnet und ihr aufträgt, ihre seitherigen Geschäfts-Verrichtungen mit dem Ablauf des zu Ende gehenden Jahres zu schließen, dankt dasselbe ihr […].“123 Die Verwaltung der Kirchen- und Schulangelegenheiten wurde so verteilt, dass die Konsistorien die internen Belange des Kirchen- und höheren Schulwesens zugewiesen bekamen, die Regierungen die externen, insbesondere die Aufsicht über die Vermögensverwaltung und über die Elementar- und Bürgerschulen. Die neu eingerichteten Prüfungskommissionen bei den Konsistorien sollten die Lehrpläne prüfen, die Schulordnungen und Schulbücher der höheren Schulen bewilligen, die Abiturvorschriften genehmigen, die Abiturprüfungen beaufsichtigen und sämtliche Prüfungen für die Befähigung zum Lehramt an gelehrten Schulen abnehmen.124 121 122 123 124

Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 74, L. IV. Gen., Nr . 14, Bl. 3r (1. Blatt des Entwurfs) und 5r (1. Blatt der Abschrift) Vgl. Gesetz-Sammlung 1815, S. 85–98 GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Bl. 28r Vgl. Dienst-Instruktion für die Provinzialkonsistorien vom 23. Oktober 1817, Gesetz-Sammlung 1817, S. 237–245

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Einleitung der Bandherausgebenden

Damit wurden die Aufgaben, mit denen die Berliner Wissenschaftliche Deputation als kritische Begleiterin des Unterrichtssektors der Staatsverwaltung angetreten war, zurück in die Hand der kirchlichen Aufsicht gegeben. Die Bemühungen um die Entflechtung kirchlicher und schulischer Belange im Interesse einer neuen Schule, die die zweckfreie Bildung aller geistigen Kräfte ihrer Zöglinge ermögliche, hatten einen Rückschlag erlitten. Die Kreativität, die zur Konzeption neuer Lehrpläne und Unterrichtsfächer benötigt wurde, war nicht mehr gefragt. Die erziehungstheoretischen Verständigungen, um die die Deputation als wissenschaftliche Einrichtung rang, wirkten störend. Die Auflösung der Deputation riss die Kluft zwischen Wissenschaft und Verwaltung wieder auf und schnitt das Schulwesen vom wissenschaftlichen Fortschritt ab. Es wurde zu einer Verwaltungsangelegenheit, in der Prüfungen und Versetzungen, Genehmigungen und Beförderungen im Vordergrund standen. Die Einbeziehung der Öffentlichkeit in die Veränderungen des Schulsystems – der Aspekt, auf den die Berliner Wissenschaftliche Deputation mit ihrem ersten Lehrplanentwurf vom September 1810 besonderen Wert legte125 – wurde zurückgedrängt. Der Grundsatz dieses Lehrplanentwurfs, die schulische Öffentlichkeit zu beteiligen – die Eltern, die Verantwortlichen in den Kommunen, die Lehrer und die Direktoren – war von Süvern aufgegriffen worden. Angeregt durch die Berliner Vorschläge hatte er die Wissenschaftlichen Deputationen dazu ermuntert, pädagogische Vereine in Verbindung mit den einzelnen Schulen zu gründen.126 Damit knüpften die Reformer an die Intentionen Steins an, das bürgerliche Publikum in die Verwaltung der Staatsangelegenheiten mit einzubeziehen. Die diesbezüglichen Anregungen des ersten Lehrplanentwurfs implizierten die Differenzierung von Staat und bürgerlicher Öffentlichkeit und brachten den Beitrag zum Ausdruck, den die Berliner Wissenschaftliche Deputation zur 125

126

Die Deputation brachte mit ihrem Entwurf zum Ausdruck, dass sie ihre Rolle darin sah, den Austausch zwischen den Lehrern und Direktoren der einzelnen Schulen und den verantwortlichen Gremien des preußischen Staates zu befördern. Einwände und Verbesserungsvorschläge zur Schulgestaltung waren ausdrücklich erwünscht – ja konnten den vorgelegten Plan „recht bald […] überholen und unzulänglich machen“. Die Deputation wünschte, nur den Grund gelegt zu haben „zu einer allgemeinen Einigung über die Sache“; Votum Nr. 32, unten S. 109–110 Vgl. Süverns Promemoria vom 30. Januar 1811, GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd. 1, Bl. 187r–204r. Vgl. auch Bernhardis Begleitschreiben zum überarbeiteten Lehrplanentwurf GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 118r

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Konstituierung einer eigenständigen Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit zu leisten gedachte. Das Beispiel Frankreichs vor Augen, richteten sich die Angriffe der Reaktion vor allem hiergegen.

2. Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1813/14 Eine Vorlesung zur Pädagogik kündigte Schleiermacher erstmals für das Sommersemester 1813 an. Sie sollte: „Allgemeine Grundsätze der Erziehungskunst“ heißen und war für zwei Stunden wöchentlich geplant. Sie kam jedoch nicht zustande.127 Erst im darauffolgenden Wintersemester 1813/14 trug Schleiermacher dann eine PädagogikVorlesung vor. An Joachim Christian Gaß schrieb er am 18. Dezember 1813: „Dann lese ich zum ersten Mal Pädagogik, auch nicht ohne ziemlich vollständig hernach aufzuschreiben, und damit geht schon ziemlich viel Zeit hin.“128 Die Ankündigung für das Wintersemester lautete: „Die Grundsätze der Erziehungskunst, Herr Dr. Schleiermacher, Mitglied der Akademie der Wissenschaften. 3 Stunden wöchentlich von 5 bis 6 Uhr. | Paedagogicen docebit ter p. hebd. hor. v–vi. vesp.“129 Schleiermacher sprach vor 9 Hörern und zwar vom 8. November 1813 bis zum 23. März 1814.130 An Luise von Voß schrieb Schleiermacher am 31. Dezember 1813: „[E]s sind der Studenten so wenige, daß nicht alle angebotnen Collegia zu Stande kommen konnten, und ich lese deren nur zwei.“131 Die Vorlesung zur „Erziehungskunst“ aus dem Wintersemester 1813/14, wie auch die beiden anderen Pädagogik-Vorlesungen Schleiermachers, wurden zu seinen Lebzeiten nicht für den Druck bearbeitet. Erst im Rahmen einer Ausgabe der „Sämmtlichen Werke“ Schlei127

128 129 130 131

Vgl. Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten [= Virmond], ed. W. Virmond, Berlin 2011, S. 64 Friedrich Schleiermacher’s Briefwechsel mit Joachim Christian Gaß, mit einer biographischen Vorrede [= Briefwechsel mit Gaß], ed. W. Gaß, Berlin 1852, S. 114 Virmond (2011), S. 74 Ebd. Briefe 2, S. 309. Neben der Pädagogik war im selben Semester angekündigt und zustande gekommen: „Das Evangelium und die Apostelgeschichte des Lukas Herr Prof. S c h l e i e r m a c h e r in vier wöchentlichen Stunden von 9 bis 10 Uhr. | Scripta D. Lucae interpretabitur quater per hebd. hor. ix–x. | Q11 Hörer; 1.11.–23.3.R“; Virmond (2011), S. 70

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Einleitung der Bandherausgebenden

ermachers stellte Carl Platz (1806–1874)132 aus ihm zur Verfügung gestellten Manuskripten und Hörernachschriften eine „Erziehungslehre“ zusammen. Sie erschien 1849 bei Reimer in Berlin.133 Über die Herkunft und den Umfang des Materials berichtete Platz in seiner „Vorrede“: „Es sind mir vom Herrn Prediger Jona s übergeben worden: 1. Dreizehn Bogen Manuscript Schleiermacher‘s überschrieben: „Zur Pädagogik“. Das Heft bestand ursprünglich aus fünfzehn Bogen; zwei Bogen sind leider verloren gegangen. Es enthält in zusammenhangender Rede die Grundzüge zu den Vorlesungen, welche Schleiermacher in dem Wintersemester 1813/14 in Berlin über Pädagogik gehalten hat […]“134. Platz berichtete weiter über Schleiermachers Manuskript: „Abgedruckt wörtlich S. 585–688“135. Dieses wörtlich abgedruckte Manuskript Schleiermachers ist nicht mehr auffindbar und es liegen auch keine studentischen Nachschriften zur Vorlesung aus dem Wintersemester 1813/14 vor. Daher muss Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung von 1813/14 im vorliegenden KGA-Band so wiedergegeben werden, wie sie von ihrem ersten Editor, Carl Platz, 1849 in den Sämmtlichen Werken überliefert wurde. Platz dokumentierte 49 Stunden, bei deren Darstellung es jedoch eine Lücke gibt, die möglicherweise mit den beiden verloren gegangenen Bogen zusammenhängt, von denen Platz berichtete. So schrieb er am Ende der 42. Stunde: „Der Schluß dieser Stunde und die Stunden 43, 44, 45 fehlen.“136 Tageskalendereintragungen, die die Stunden belegen könnten, gibt es für den Zeitraum des Wintersemesters 1813/ 14 nicht. Der Vorlesungstext ist untergliedert in eine (nicht ausdrücklich benannte) Einleitung, einen allgemeinen und einen besonderen Teil. Innerhalb des letzten sind der erste und der zweite Abschnitt der ers132

133 134 135 136

Zur Biographie von Carl Platz vgl.: Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation, ed. Brandenburgischer Provinzialsynodalverband, Bd. 2: Verzeichnis der Geistlichen in alphapetischer Reihenfolge, Teil 2: Malacrida bis Zythenius, Berlin 1941, S. 643. Vgl. auch den Nachruf in: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland, Bd. 21, Berlin 1874, sowie folgende Akten des Geheimen Staatsarchivs in Berlin und des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam: GStA PK, X. HA Brandenburg, Rep. 2 B Regierung zu Potsdam, Abt. II, Nr. 1733; Pr. Br. Rep. 37 Herrschaft (Alt)Friedland Nr. 195 (Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam) und Pr. Br. Rep. 37 Herrschaft (Alt)Friedland Nr. 196–197 (Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam) Schleiermacher, Friedrich: Sämmtliche Werke [= SW], Berlin 1834 ff., hier SW III/9 Ebd., S. VIII–IX Ebd., S. IX SW III/9, S. 665

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ten Periode der Erziehung des Kindes durch Zwischenüberschriften ausgewiesen.137 Die Vorlesung setzt ein mit der Auseinandersetzung über den akademischen Status der Pädagogik. Dieser verlange den Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Debatte, der allerdings eine praktische Übung folgen müsse. Die Exposition des Untersuchungsgegenstandes, mithin des pädagogischen Sachverhalts, sofern und soweit dieser wissenschaftlich zu verstehen ist, schließt an die Ethik an, verweist zugleich jedoch darauf, dass dieser seine eigene Rationalität habe, weil und sofern Pädagogik ihre Realität selbst begründe (1. Stunde). Rationalität der Pädagogik bedeutet zum einen, dass für Schleiermacher die Grundaufgabe und Notwendigkeit der Pädagogik darin besteht, angesichts einer komplex und heterogen gewordenen sozialen und kulturellen Wirklichkeit eine Ordnung zu begründen, aus der heraus das menschliche Subjekt überhaupt so etwas wie Subjektivität, Souveränität und Autonomie gewinnen kann. Die pädagogische Problemstellung liegt jenseits des Gegensatzes von Konservativität und Fortschritt darin, gegenüber der Brüchigkeit des modernen Lebens und der daraus entstehenden Heteronomie die Bedingung zu schaffen, dass Menschen sich frei entwickeln und dabei zu einem Bewusstsein ihrer selbst finden. Schleiermacher weiß, dass sich diese von der Pädagogik ermöglichte Ordnung nicht utopisch, sondern immer nur mundan begründen lässt; zu leisten ist der Spagat zwischen einem sozialen und kulturellen Leben, das fragmentiert und insofern unordentlich erscheint, in der Pädagogik aber doch in einen Erfahrungszusammenhang gebracht werden kann, der einen Bildungsweg zur Selbstständigkeit und in Selbstständigkeit unterstützt. Allzumal 1826 wird er hier die Bedeutung der Familie an- und ausführen, die er 1813/14 nur streift (vgl. 30. Stunde), um die Grundfigur von „Spontaneität und Receptivität“ (31. Stunde) einzuführen. Rationalität der Pädagogik heißt für Schleiermacher allerdings zum anderen, dass es in der Erziehung Dimensionen des nicht zu Verhandelnden gibt. Das führt zu Zügen, die ihm im 20. Jahrhundert zunächst den Vorwurf des Autoritären eingebracht hätten, später vielleicht als autoritativ gebilligt worden wären: „Die Regel“, so hält er fast rigide in der 42. Vorlesungsstunde fest, „daß man, um den Kindern den Gehorsam zu erleichtern ihnen Gründe angeben müsse, ist nichtig; denn Gründe 137

Es ist nicht auszuschließen, dass die Zwischenüberschriften erst durch Carl Platz hervorgehoben oder sogar gesetzt wurden.

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Einleitung der Bandherausgebenden

angeben heißt den Gehorsam erlassen. Man riskirt es überdies darauf ob man Ueberzeugung hervorbringt; Kinder sind noch sehr wenig fähig Gründe zu erfassen“. Verbote können angesichts der Komplexität von Lebenswelten gar nicht prinzipiell ausgesprochen werden, auch dürfen sie nicht bloß negativ sein. Nötig ist vielmehr eine positive Anweisung, die das richtige Handeln ermöglicht – später, in der Vorlesung von 1826, stützt sich auf diese Einsicht die pädagogische Grundform der Unterstützung. Schleiermacher verzichtet schon 1813/14 auf eine anthropologische Begründung, um einer handlungstheoretischen Überlegung den Vorzug zu geben. Diese spannt er zwischen einer ethisch gestützten Perspektive und dem Blick auf die Gegebenheit des jeweiligen Menschen in seiner Befindlichkeit und doch immer schon gegebenen Bestimmtheit auf, um sie dann als mögliche Fälle zu diskutieren; das vollzieht er eher juridisch und weniger kasuistisch. Doch verleiht diese Erörterung an möglichen Fällen seiner ersten Vorlesung über Pädagogik einen durchaus „technischen“ Zug, sie führt näher an praktisch anmutende Erwägungen mit einer Tendenz zur Anleitung, wie sie die späteren Vorlesungen zu Gunsten der theoretischen Untersuchung vermeiden. Skepsis gegenüber der praktischen Empfehlung macht sich freilich schon breit, der Ratschlag behindert nämlich ein sachlich angemessenes Verständnis von Erziehung. Kann es eine solche überhaupt in den Gebieten des Sittlichen und Schönen geben? „Hienach scheint alles sittliche und schöne nicht Gegenstand der Erziehung zu sein und nur als solche das Einüben von Kenntnissen und Fertigkeiten übrig zu bleiben. Jeder wird aber doch gestehen daß ein technischer Proceß zur Erwekkung einer tugendhaften Gesinnung etwas verkehrtes ist, und daß sich einer lächerlich machen würde wenn er behauptete im Besiz einer Methode zu sein um guten Geschmakk einzuimpfen. Ja es würde sogar gegen ein solches Verfahren eine natürliche und wohlbegründete Opposition im Zögling entstehen, weil nämlich die äußerlich aufgedrungene Scheingesinnung das Entstehen der ächten im Inneren hinderte.“ (13. Stunde). Die Erziehung im freien, lebendigen Alltag steht so vor der Wahl zwischen Scylla und Charybdis, nämlich zwischen einer „laxen Erziehung“ und einer „pedantischen und harten Erziehung“ (13. Stunde). Eine bewusste Pädagogik kann also nur aufnehmen, was sie lebensweltlich vorfindet, sie kann dies ordnen, aber nicht eine neue Lebensweise erzwingen. „Pädagogische Neuerungen sind also eigentlich ein Krankheitsmaaßstab“ (14. Stun-

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de). Gleichwohl diskutiert Schleiermacher 1813/14 „Mittel“ der Erziehung (vgl. 42. Stunde), er ist also noch unentschieden, wie die Theorie der Pädagogik aussehen soll und kann, wenn sie die gegebene Praxis nicht aus dem Blick verlieren will. Noch schwebt ihm also vor, eine Kunstlehre zu formulieren. Dennoch spitzt er das methodologische Programm schon in einer Weise zu, die er in den späteren Vorlesungen dann konsequent verfolgen wird. Auch 1813/14 soll der Theorie der Vorrang eingeräumt werden, wobei sich allerdings das Problem der Erkenntnis einer gegebenen Wirklichkeit stellt. Schleiermacher löst dies durch die Vorstellung, nach der die akademische Beschäftigung mit der Pädagogik zwar auf die Allgemeingültigkeit ihrer Aussagen verzichtet, bietet aber zugleich doch als Verfahren an, ein „Fachwerk“ zu entwickeln (2. Stunde). Dies ermöglicht dann, die gegebene Wirklichkeit zu deuten, fachlich liegt der Gedanke nahe, dass Schleiermacher so ein Pendant zu dem entwickeln will, was Herbart als pädagogischen Takt bezeichnet. Verweise fehlen freilich. Schleiermacher arbeitet jedenfalls dieses Fachwerk in seiner Vorlesung aus, wobei er die Gefache regelmäßig mit zwei Grundperspektiven auffaltet, die für sein gesamtes pädagogisches Denken maßgebend werden; praktisch betrachtet bilden sie die Problemstellungen, die im pädagogischen Bewusstsein präsent sein müssen: Formal ergibt sich zunächst – erstens – die Perspektive, die sich als das Kontinuum zwischen der individuellen Eigenart und der sozialen sowie kulturellen Allgemeinheit zeigt, über die jeder Mensch doch als Grundbestand sozialer und kultureller Einsichten und Motive verfügen muss. Menschen sind auf eine Gesinnung angewiesen, einen – wie die Soziologie des 20. Jahrhunderts ausführt – sozialen Habitus, der ihnen aber doch stets individualisiert zu eigen sein muss, als individuell Allgemeines. Faktisch fallen hier übrigens die von Schleiermacher gewählte Denkform und die mit ihr erfasste Realität in eins, wobei jedoch das ethische Urteil bestimmend bleibt: Man dürfe, so der Vorbehalt, das Individuelle nicht mit dem Unvollkommenen verwechseln. Im Gegenteil: Schleiermacher setzt hier noch ein „Gefühl des Bedürfnisses in der erziehenden Generation“, macht also noch die Annahme eines elementar menschlich gegebenen Erziehungswillens. Die pädagogische Absicht kann oder darf sich jedoch nicht auf die „Chimäre“ idealer Vorstellungen stützen. Es mag zwar sein, dass gegebene Verhältnisse missbilligt werden, doch mündet dies nur in die

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„Aufgabe dem Zögling soviel Kraft und Freiheit anzuerziehen daß er dies aufheben könne.“ (5. Stunde). Eine zweite „Denkfläche“ eröffnet sich im Verhältnis zwischen situativer Gegebenheit und Prozess der Erziehung, der sich dann in unterschiedlichen Stufen realisiert; sie findet sich in der gesamten Vorlesung entfaltet, soweit und sofern die institutionellen Rahmungen des Geschehens diskutiert werden. Zugleich bleibt der Bezug auf den individuellen Fall als Prinzip bestehen. Schleiermacher fragt nach der Möglichkeit, im lebendigen Veränderungs- oder – wie man dann auch sagen könnte – Bildungsprozess Kontinuität entdecken zu können. Eine dritte Problemstellung ergibt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen der Duplizität der pädagogischen Leistung, die Schleiermacher als „das Ausbilden der Natur“ und das „Hineinbilden in das sittliche Leben“ bezeichnet (6. Stunde). Hier lässt sich nun das Grundthema erkennen, das Schleiermacher in allen seinen Vorlesungen bewegt, nämlich die Frage nach einer – modern gesprochen – Vergesellschaftung des Individuums, die doch die Individualität nicht preis gibt, sondern dem Einzelnen als Bedingung der Möglichkeit zuwächst, frei und selbstbewusst auf die Verhältnisse Einfluss nehmen zu können; Erziehung hat die Aufgabe, den Einzelnen frei zu lassen (5. Stunde). Ironischerweise drängt sich in der schon erwähnten 42. Vorlesungsstunde, der eine Schlüsselfunktion zukommt, bei einer eher pragmatisch angelegten Diskussion der Handlungsmittel auf, was allzumal 1826 endgültig ins Zentrum der Überlegung rückt, nämlich die Vorstellung von der Autonomie des Kindes: „Leichter erreicht man die Ordnung wenn Kinder einen Werth auf die Unabhängigkeit sezen, mit ihren Sachen selbst schalten wollen: dann macht man die Ordnung zur Bedingung. Die welche sich gern bedienen lassen, werden selten ordentlich.“ (42. Stunde) In einer Hinsicht unterscheidet sich die Vorlesung von 1813/14 deutlich von den beiden späteren. Es zeichnen sie entschieden politisch-demokratische, sogar egalitäre Tendenzen bei der Erörterung der Fragen aus, die der Ausrichtung des pädagogischen Systems auf das Gemeinwesen gelten. Schleiermacher diskutiert dies als Problem der Differenzen, die sich im Verhältnis des Angestammten und Angeborenen ergeben; sie sollen und können dann verschwinden, wenn in einem idealen bürgerlichen Zustand nur noch die „persönliche Differenz“ entscheidet. In einer Klammerbemerkung kommt er selbst zu der radikalen Einsicht. „Man kann sich auch ein gänzliches Ver-

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schwinden der angeborenen Differenz denken, aber nur zugleich mit einer vollkommenen Demokratie.“ (7. Stunde) Unweigerlich drängen sich die Debatten auf, die noch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts geführt werden, dabei aber dem Bildungswesen mehr Gewicht einräumen, als Schleiermacher dies für möglich gehalten hat. Pädagogik muss zur Kenntnis nehmen, dass Ungleichheit als Ausgangspunkt der Pädagogik besteht. Sie muss sich dem stellen, aber wird Erfolg nur haben, wenn die Gleichheit im sozialen Leben selbst gegeben ist. „Unser gemeines Volk ist großentheils noch roh, d. h. sich selbst überlassen bildet es sich rükkwärts. Also wird es auch nur die Kinder rükkwärts bilden, und also muß man dem gemeinsamen Lebens so viel einräumen als irgend möglich.“ (42. Stunde).

3. Gedanken zur Pädagogik im Winter 1813/14 Der erste Herausgeber der Pädagogik-Vorlesung von 1813/14, Carl Platz, berichtete bei seiner Beschreibung des von ihm zugrunde gelegten Manuskriptmaterials, dass Schleiermachers Aufzeichnungen „am Rande und zwischen den einzelnen Stunden Aphorismen“138 enthielten. Platz ließ diese Aphorismen direkt nach dem Text der Vorlesung von 1813/14 abdrucken und stellte ihnen folgende erklärende Worte voraus: „In dem von Schleiermacher selbst geschriebenen Hefte, welches den Vorlesungen 1813/14 zum Grunde lag, finden sich noch folgende einzelne Säze, numerirt bis 17; dann ohne Nummer und meist zwischen den einzelnen Stunden durch das ganze Heft zerstreut; sie beziehen sich selten auf die Stunde, der sie hinzugeschrieben sind, und sind als einzelne Gedanken zu betrachten, die Schleiermacher theils früher theils später in den Vorträgen entwikkelte.“139 Insgesamt 91 Aufzeichnungen stellte Platz separat als „Aphorismen“ ohne Nachweis ihres ursprünglichen Ortes zusammen. Um diese Passagen weniger als Sinnsprüche, sondern mehr als zu den Vorlesungsstunden gehörende, vorausschauende, weiterführende oder rückblickende Gedanken zu verstehen, werden sie im vorliegenden Band auf der Grundlage der SW III/9140 als „Gedanken“ nach dem Vorlesungstext geboten. Obgleich nicht mehr nachvollziehbar ist, an 138 139 140

SW III/9, S. IX Ebd., S. 673 Ebd., S. 673–688

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welchen Positionen sich die einzelnen Passagen ursprünglich im Manuskript Schleiermachers befanden, kann davon ausgegangen werden, dass ihr erster Herausgeber sie vollständig und wörtlich141 in die Sämmtlichen Werke übernahm. Sicherlich lassen sich die einzelnen Gedanken meist bestimmten Zusammenhängen zuordnen, die Schleiermacher in seiner Vorlesung entwickelte, doch können sie auch für sich alleine stehen und als Konzentrate seiner pädagogischen Beobachtungen und Überlegungen gelesen werden. So zum Beispiel Gedanke Nr. 9: „Spielen ist eigentlich das reine in der Gegenwart sein, die absolute Negation der Zukunft“142 oder Gedanke Nr. 72: „Die Erziehung sezt den Menschen in die Welt in so fern sie die Welt in ihn hineinsezt; und sie macht ihn die Welt gestalten in so fern sie ihn durch die Welt läßt gestaltet werden.“143

4. Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1820/21 Alle bislang vorliegenden Fassungen der Pädagogik-Vorlesungen gingen auf die von Platz durchgeführte Edition in den Sämmtlichen Werken Schleiermachers zurück; sie lag auch späteren Textausgaben zu Grunde.144 Abgesehen von jenen Editionen, die ohnedies nur Bruchstücke der Vorlesungen boten, ist die von Platz herausgegebene Fassung mit Verstellungen verbunden, die für die Theorie der Pädagogik folgenreich sind. Das gilt selbstverständlich weniger für die Vorlesung von 1813/14, die sich auf handschriftliche Notizen Schleiermachers stützt, wurde aber schon deutlich bei der Vorlesung von 1820/21. Diese war nur in Ausschnitten oder gekürzten Fassungen mit dem Effekt zugänglich, dass ihr ein spezifischer thematischer Fokus zugesprochen wurde, der der Breite ihrer Anlage nicht gerecht wurde; sie verhandelte keineswegs im Wesentlichen Gegenwirkung und Strafe, sondern stellte ebenfalls schon den Gesamtzusammenhang der Pädagogik dar, wie er theoretisch zu präsentieren war. Die Edition der „Berliner Nachschrift“145 hat das alte Vorurteil von der sachlichen 141 142 143 144 145

Ebd., S. IX. Vgl. oben Anm. 139 Gedanken zur Pädagogik 1813/14, unten S. 328 Ebd., unten S. 338 Vgl. z. B. Winkler/Brachmann (2000) Schleiermacher, Friedrich: Pädagogik. Die Theorie der Erziehung von 1820/21 in einer Nachschrift [= Ehrhardt/Virmond], edd. Ch. Ehrhardt/W. Virmond, Berlin/ New York 2008

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Beschränkung gründlich revidiert. Die ebenfalls verfügbare, aber nicht als Veröffentlichung zugängliche „Göttinger Nachschrift“146 zeigt ebenfalls das Bild einer umfassenden Abhandlung zur Pädagogik. Da sie jedoch zur vollständigen Rekonstruktion der Vorlesung vom Winter 1820/21 nicht ausreicht, wird in diesem KGA-Band die „Berliner Nachschrift“ in textkritischer Gestalt geboten. Zwar ist Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung von 1820/21 weder im deutschen noch im lateinischen Vorlesungsverzeichnis angezeigt, doch belegen die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin aufbewahrten Akten mit den von der Universität zu Berlin halbjährlich eingereichten Tabellen über die „in jedem Semester zu Stande gekommenen Vorlesungen“, dass Schleiermacher im Wintersemester 1820/21 in der philosophischen Fakultät eine Vorlesung hielt, die mit dem Titel „Pädagogik“ bezeichnet wurde. Dem Eintrag ist ebenfalls zu entnehmen, dass diese Vorlesung vor 49 Hörern stattfand; auch, dass sie am 23. Oktober 1820 begonnen und am 27. März 1821 beendet wurde. Schleiermacher hielt sie „privatim“, das heißt als normale, kostenpflichtige Universitätsvorlesung und nicht als Gratis-Vorlesung (publice).147 Die einzelnen Vorlesungsstunden lassen sich in Verbindung mit Schleiermachers Tagebuchaufzeichnungen exakt datieren. Denn über die Wintermonate 1820/21 hielt Schleiermacher fast immer fest, wann die einzelnen Stunden seiner Pädagogik-Vorlesung stattfanden oder ausfallen mussten. Dabei zählte er seine Vorlesungsstunden und gab mitunter Gründe dafür an, warum eine Stunde nicht gehalten werden konnte. Seine Aufzeichnungen legen Zeugnis ab von 62 Vorlesungsstunden zur Pädagogik. Schleiermacher hielt diese Vorlesung am Nachmittag, wechselte jedoch in der letzten Märzwoche des Jahres 1821 auf den Morgen, nachdem er am 20. März 1821 das Dogmatikkolleg und drei Tage später die Johannes-Vorlesung beendet hatte. Er notierte am Montag, dem 26. März: „Von 7–9 Pädagogik duplirt 60. 61.“ Der letzte Tagebucheintrag zur Pädagogik ist vom folgenden Tag, dem 27. März und lautet: „Von 7–8 Pädagogik mit 62 Stunde geschlossen“. 146

147

Sie wird in den Nachlassbeständen der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen unter der Signatur „Cod. Ms. F. Frensdorff 1,1“ aufbewahrt. GStA PK, I. HA, Rep. 76 Va Sekt 2 Tit. 13 No. 1, Vol. II, Blatt 122v. Vgl. Virmond (2011), S. 236

LXIV

Einleitung der Bandherausgebenden

Den Beginn der Pädagogik-Vorlesung von 1820/21 gibt Carl Platz zwar in Übereinstimmung mit Schleiermachers Tagebuchnotizen an, nicht jedoch das Ende; er zitiert vielmehr: „Geschlossen den 28. März 1821.“148 Die hier publizierte Vorlesungsnachschrift enthält nun tatsächlich – im Gegensatz zur Tagebuchaufzeichnung – eine 63. Vorlesungsstunde. Wann diese gehalten wurde und ob Schleiermacher vielleicht nicht nur am Montag, dem 26. März, sondern auch am Dienstag, dem 27. März seine „Pädagogik duplirt“, das heißt zweistündig vorgetragen hat, muss offen bleiben. Dass die Inhalte dieser 63. Vorlesungsstunde nicht etwa der Phantasie eines Studenten entsprangen, zeigt der Vergleich mit der Göttinger Nachschrift. Diese endet – wenn auch ohne Vorlesungsnummerierung – mit der Diskussion desselben Themas wie die Berliner Fassung: Beiden Nachschriften zufolge schließt die Vorlesung von 1820/21 mit der Frage nach dem Verhältnis von Erziehung und Religion. Schleiermachers Eintragungen zur Pädagogik aus dem Winter 1820/21 in seine Tageskalender149 lauten folgendermaßen: Datum

Eintragungen zur Pädagogik

Oktober 1820 23 Mo 24 Di 25 Mi 27 Fr 30 Mo 31 Di

Pädagogik Pädagogik Pädagogik Pädagogik 5te Stunde in Pädagogik Pädagogik ausgesezt

November 1820 01 Mi 03 Fr 06 Mo 07 Di 08 Mi 10 Fr 13 Mo 14 Di 15 Mi 17 Fr 20 Mo 21 Di 22 Mi

[6. Stunde] Pädagogik ausgesezt 7te Stunde Pädagogik Pädagogik Pädagogik Pädagogik Pädagogik ausgefallen Pädagogik 11te Stunde Pädagogik ausgefallen Pädagogik Pädagogik ausgesezt Pädagogik ausgesezt Pädagogik 13te Stunde

148 149

SW III/9, S. 689 Schleiermacher Nachlass Nr. 441 und Nr. 442 (Archiv der BBAW)

Historische Einführung Datum 24 27 28 29

Eintragungen zur Pädagogik Fr Mo Di Mi

Pädagogik Pädagogik 15. [16. Stunde] [17. Stunde]

Dezember 1820 01 Fr 04 Mo 05 Di 06 Mi 08 Fr 11 Mo 12 Di 13 Mi 15 Fr 18 Mo 19 Di 20 Mi

NM Pädagogik (18.) Pädagogik ausgesezt Pädagogik ausgesezt NM Pädagogik 19. Pädagogik Pädagogik ausgesezt Pädagogik 21. Pädagogik Pädagogik Pädagogik 24. NM Pädagogik Pädagogik geschlossen mit der 26ten Stunde

Januar 03 08 09 10 12 15 16 17 19 22 23 25 26 29 30 31

keine Pädagogik. NM Pädagogik 27. [28. Stunde] Pädagogik ausgesezt [29. Stunde] Keine Pädagogik Pädagogik 30. Pädagogik Pädagogik Keine Pädagogik NM Pädagogik 33. NM Pädagogik statt gestern. Pädagogik NM Pädagogik 36. Pädagogik Keine Pädagogik.

1821 Mi Mo Di Mi Fr Mo Di Mi Fr Mo Di Do Fr Mo Di Mi

Februar 1821 02 Fr 05 Mo 06 Di 07 Mi 12 Mo 13 Di 14 Mi 16 Fr 19 Mo

Pädagogik 38. NM Pädagogik 39. Ausgesezt wegen heftigen Hustens Pädagogik NM Pädagogik ausgesezt wegen Akademie. Pädagogik 41. Pädagogik ausgesezt Pädagogik Pädagogik 43.

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LXVI Datum 20 21 23 26 27 28

Einleitung der Bandherausgebenden

Di Mi Fr Mo Di Mi

März 1821 02 Fr 05 Mo 06 Di 07 Mi 09 Fr 12 Mo 13 Di 14 Mi 16 Fr 19 Mo 20 Di 21 Mi 23 Fr 26 Mo 27 Di

Eintragungen zur Pädagogik [44. Stunde] [45. Stunde] Pädagogik ausgesezt. Pädagogik 46. Pädagogik Keine Pädagogik. keine Pädagogik. Pädagogik 48. NM Pädagogik [50. Stunde] Pädagogik 51. Pädagogik 52. Pädagogik. NM Pädagogik NM Pädagogik. Pädagogik 56. NM Pädagogik. NM Pädagogik NM Pädagogik 59. Von 7–9 Pädagogik duplirt 60.61. Von 7–8 Pädagogik mit 62. Stunde geschlossen

Während Schleiermacher im Winter 1820/21 ein zweites Mal an der Berliner Universität zur Pädagogik las, schrieb er die grundlegenden Passagen seiner Dogmatik (Einleitung und Erster Teil) nieder, ein Vorhaben, das ihn seit den Semestern in Halle beschäftigte. Neben den wissenschaftlichen Projekten predigte150 er regelmäßig und erfüllte mannigfaltige pfarramtliche Aufgaben an der Dreifaltigkeitskirche, wo ihm die erste Vereinigung einer lutherischen und reformierten Gemeinde in Berlin gelang. Das Ergebnis der Unionsverhandlungen legte er im Dezember 1820 in der Druckschrift „An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörigen Gemeinden“ vor.151 In den Jahren 1820 und 1821 erteilte er regelmäßig zweimal in der Woche Konfirmandenunterricht, seinem Tagebuch zufolge dienstags und freitags. Auf eine Anfrage des Konsistoriums antwortete er am 30. März 1821, dass er seinen Unterricht insgesamt zweistündig gebe und dass seine „Abtheilung“ 40 Schülerinnen und Schüler umfasse.152 150 151 152

Vgl. KGA III/6 und KGA III/1, S. 887–892 (Predigtkalendarium) KGA I/9, S. 203–210; vgl. auch S. LXIX–LXX und S. XX–XXI Archiv Superintendentur Friedrichswerder, A 7, 1: Acta betreffend den ConfirmandenUnterricht auch die Listen der Confirmanden 1803 ff., Bl. 32

Historische Einführung

LXVII

Er unterrichtete in dieser Zeit Mädchen und Jungen gemeinsam. Die Einsegnungen hielt er in seinem Tageskalender fest; so wurden beispielsweise am Samstag, dem 23.12.1820 acht Heranwachsende von ihm konfirmiert.153 Neben der Pädagogik, die er viermal wöchentlich (montags, dienstags, mittwochs und freitags) an der Philosophischen Fakultät vortrug, hielt er jeden Morgen, von Montag bis Freitag, im Rahmen seiner theologischen Professur von 8 bis 9 Uhr eine Vorlesung über das „Evangelium Johannis“ und von 9 bis 10 Uhr folgte der „Erste Theil der Dogmatik“. Das Johannesevangelium trug er 97 Hörern vor, die Dogmatik 76 Studierenden. Zudem leitete er die „exegetischen Uebungen des theologischen Seminars“154. In der Universität war er gezwungen, sich gegen zunehmende Anfeindungen zu verteidigen, insbesondere seit er sich Ende des Jahres 1819 vor seinen Kollegen Wilhelm Martin Leberecht de Wette gestellt hatte155, der wegen der Abfassung eines Trostbriefes an die Mutter des Mörders Kotzebues verhaftet und bald darauf entlassen worden war. Schleiermacher verurteilte den Mord an Kotzebue und fürchtete, dass die unüberlegte Tat Folgen haben werde, besonders für die Universitäten.156 Die Bestrebungen, Schleiermacher aus politischen Gründen zumindest an eine entfernt gelegene Universität zu versetzen, fanden im Sommer 1820 ihren vorläufigen Höhepunkt, bevor die be153

154 155

156

Schleiermacher-Nachlass Nr. 441 und Nr. 442 (Archiv der BBAW). Auf den Schleiermacher-Kongressen 2006 und 2009 wurde anhand bislang unbekannter Nachschriften auf Schleiermachers dialogische Unterrichtsmethode in seinem Konfirmandenunterricht aufmerksam gemacht: Virmond, Wolfgang: Schleiermachers Konfirmandenunterricht. Nebst einer bislang unbekannten Nachschrift, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, edd. A. Arndt/U. Barth/W. Gräb, Berlin/New York 2008 (Schleiermacher-Archiv, Bd. 22), S. 653–746 und Ehrhardt, Christiane: “Erwachsen” oder “kindlich”? Religionspädagogische Aspekte des Verhältnisses Christentum/Judentum bei Schleiermacher, in: Christentum und Judentum. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009, edd. R. Barth/U. Barth/C.-D. Osthövener, Berlin/New York 2012 (Schleiermacher Archiv, Bd. 24.), S. 368–384. GStA PK, I. HA, Rep. 76 Va Sekt 2 Tit. 13 No. 1, Vol. II, Blatt 119r; vgl. Virmond (2011), S. 228, 241 Mit einem eindringlichen Plädoyer für die Freiheit der Lehre in der Theologie setzte sich Schleiermacher (zusammen mit den beiden anderen verbliebenen Fakultätsmitgliedern Neander und Marheineke) in einem Votum an den Kultusminister Altenstein für de Wette unmittelbar nach dessen Suspendierung ein. Vgl. Lenz (1910), Bd. 4, S. 366–370 Vgl. Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 8. Aufl., Hamburg 1999, S. 126

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Einleitung der Bandherausgebenden

hördlichen Maßnahmen gegen ihn ab Ende des Jahres 1821 bis zum April 1824 die Fortführung seiner universitären und kirchlichen Tätigkeiten ernsthaft bedrohten.157 Im März 1821, und zwar am Dienstag, dem 20. März, schloss Schleiermacher die Dogmatik-Vorlesung mit der 94. Stunde. Sein Tageskalender gibt darüber Auskunft, dass er, gleich nachdem er auch die übrigen Vorlesungen des Wintersemesters 1820/21 beendet hatte, an der Niederschrift der Dogmatik arbeitete158; der erste Band erschien im Sommer 1821.159 Schleiermachers Konzentration auf die Ausarbeitung seiner Glaubenslehre im Winter 1820/21 hinterließ Spuren in seiner PädagogikVorlesung desselben Semesters. Die Theorie der Erziehung, die er in diesen Monaten entwarf, will den Zugang zu einem selbstbewussten Leben öffnen. Wenn jeder Einzelne eine solche „Kraft der Reflexion“ besäße, heißt es, „sich alles Bewußtlose in ein bestimmtes zu verwandeln“, so wäre keine Ergänzung durch die Erziehung nötig. Da eine solche Fähigkeit jedoch nicht vorausgesetzt werden könne, sei es als eine Hauptaufgabe der Erziehung anzusehen, „daß sie in das Bewußtlose Bewußtsein hineinbringe, und dadurch dasjenige, was der Mensch hat in einem höhern Grade zu seinem Eigenthum macht“160. Zwar betonte Schleiermacher bereits in seinen Gedanken zur Pädagogik-Vorlesung von 1813/14: „Ueberall kommt das Bewußtsein durch die Erziehung“161 und fasste schließlich zusammen: „Diese beiden Gesichtspunkte, daß die Erziehung Ordnung und Zusammenhang, und daß sie erhöhtes Bewußtsein hervorbringt, sind es aus denen das wesentliche sich immer selbst gleiche der Erziehung hervorgeht.“162 Doch ist im Kolleg von 1820/21 die Verbindung dieses „erhöhten Bewußtseins“ mit dem transzendenten Grund des Seins hervorgehoben. Das Verhältnis von Erziehung und Religion wird insbesondere in den letzten Vorlesungsstunden thematisiert. Da das Religiöse auf dem „Bewußtsein gewordenen Verhältnisse des Menschen zur ur157 158 159 160 161 162

Vgl. hierzu ausführlich: Wolfes (2004), Teil II, S. 150–236 Schleiermacher Nachlass Nr. 442 (Archiv der BBAW): „An der Dogmatik gearbeitet.“ (28.3.1821), „Dogmatik gearbeitet“ (29.3.1821). Ausführlich zur Entstehung von Schleiermachers Glaubenslehre vgl. KGA I/7,1 S. XV–XXXV Vorlesung 1820/21, unten S. 439 Gedanken zur Pädagogik 1813/14, unten S. 337; vgl. auch das Ende des Gedankens 68, unten S. 338 Vorlesung 1813/14, unten S. 277

Historische Einführung

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sprünglichen Quelle alles Lebens und Seins“ beruhe, sei es Aufgabe des Erziehers, „dieses Bewußtsein gehörig zu fixieren“163. Der Anspruch, „eine bewußte und zweckvolle Theorie“ aufzustellen164, führt in Schleiermachers Pädagogik über bewusstseinsphilosophische Ansätze in der Tradition der Transzendentalphilosophie hinaus. Das Kolleg von 1820/21 betont, dass jede Erörterung der Frage: „Was versteht man unter Erziehung?“ ihren Ausgangspunkt beim Menschen „in seinem zeitlichen Dasein“ finden müsse.165 Es weist vielfältige politische Anspielungen auf die konkrete historische Situation auf, in der es vorgetragen wurde – z. B. greift es die Debatte über die Nationalbildung auf und diskutiert den Begriff der Erziehung unter dem Aspekt einer „Erziehung für die Gesellschaft“166. Dabei wird die Ungleichheit in der Gesellschaft thematisiert und danach gefragt, ob die Differenz der Stände durch Erziehung zu befestigen oder aufzuheben sei. Eine Notiz Schleiermachers aus dem Kontext des Kollegs von 1820/21, die diese Frage aufgreift, ist unten auf Seite 541 abgedruckt. Zwar werden – wie schon in der Pädagogik-Vorlesung von 1813/14 – die möglichen Ursachen für die gesellschaftlichen Ungleichheiten erörtert (ob diese aus den äußeren Umständen entspringen, angestammt oder angeboren seien), doch wird dabei offen gelassen, ob die Differenzen im Abnehmen begriffen sind oder nicht, denn „hier hangt viel vom Politischen ab“167. Damit unterscheidet sich das Kolleg von 1820/21 vom späteren aus dem Sommersemester 1826, welches die Überzeugung von einem beständigen Voranschreiten der kulturellen Entwicklung in Richtung zunehmender Gleichheit formuliert. Dass nicht allein Schleiermachers Pädagogik-Kolleg von 1826 Erziehung über den häuslichen Bereich hinaus in den öffentlich-politischen Raum führt, belegen die beiden studentischen Nachschriften der 1820/21er Vorlesung, in denen ein Verständnis von Öffentlichkeit artikuliert wird, welches zwischen öffentlicher und staatlicher Erziehung unterscheidet. Systematisch wird dabei auseinander gehalten, „ob der Mensch für sein Volk oder für seinen Staat gebildet werden soll“168. Bei der Auseinandersetzung mit der Rolle des Staats im Hin163 164 165 166 167 168

Vorlesung 1820/21, 63. Stunde, unten S. 536 und S. 537 Vorlesung 1820/21, 1. Stunde, unten S. 348 Ebd. Vgl. besonders 48. (und 49.) Stunde der Vorlesung 1820/21, unten S. 488–492 Vorlesung 1820/21, 49. Stunde, unten S. 492 Vorlesung 1820/21, 48. Stunde, unten S. 489

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Einleitung der Bandherausgebenden

blick auf die Erziehung wird dieser einerseits in die Verantwortung genommen und andererseits deutlich in den Grenzen seiner Wirksamkeit gezeigt. Zwischen der Pädagogik-Vorlesung von 1813/14 und den 1820/21 angesprochenen Aspekten des Themas „Staat“ liegen Schleiermachers Akademievortrag vom Dezember 1814 „Über den Beruf des Staates zur Erziehung“169, die in den Politik-Vorlesungen entfaltete Staatstheorie in den Zeiten persönlichen politischen Bedrohtseins sowie die bitteren Erfahrungen mit der restaurativen Erziehungspolitik der Unterrichtsbehörden des preußischen Staats. Die „öffentliche Meinung“ wird im Pädagogik-Kolleg von 1820/21 zum Korrektiv gegenüber staatlicher Vereinnahmung. „Es muß daher unter der Jugend auch eine Organisation der öffentlichen Meinung geben“, heißt es, „und diese muß sich vor dem eigenen Gewissen des einzelnen bestätigen“170. Die politischen Bezüge, die das Kolleg von 1820/21 formuliert, haben in der Edition von Carl Platz, die lediglich Auszüge zusammenstellt, keinerlei Berücksichtigung gefunden. Dass dieser Editor für seine Wiedergabe von Schleiermachers zweitem Pädagogik-Kolleg insgesamt weniger als die Hälfte des Vorlesungsmaterials berücksichtigt hat, lässt sich nun anhand derjenigen studentischen Nachschrift aufschlüsseln, die das Kolleg vollständig wiedergibt: anhand der in diesen KGA-Band aufgenommenen „Berliner Nachschrift“. Mit ihrer Hilfe lässt sich rekonstruieren, dass Platz bei seiner Textzusammenstellung ohne jede Kennzeichnung mehrere inhaltlich zusammenhängende Stunden übersprungen, einige der von ihm wiedergegebenen Stunden nur auszugsweise skizziert und zuweilen Anfang oder Ende gestrichen hat. Da Platz die grundlegenden ersten drei Stunden weggelassen hat, erfährt man erst jetzt, dass die Erörterung des Wissenschaftscharakters der Pädagogik – wie schon 1813/14 – die Vorlesung eröffnet. Diejenigen Vorlesungsstunden, die der Entfaltung einer Theorie der Erziehung gewidmet sind (z. B. 1.–3., 16., 30. und 31. Stunde), waren zuvor nicht bekannt. Es treten nun die Verhältnisbestimmungen von Pädagogik und Ethik sowie von Pädagogik und Politik hervor, die das Kolleg von 1820/21 kennzeichnen. Ein weiterer Aspekt, der in 169

170

KGA I/11, S. 125–146. In seinem Vortrag begründete Schleiermacher, inwiefern staatliche Erziehung, die er von öffentlicher Erziehung unterschied, lediglich unter bestimmten historischen Umständen zulässig und geboten sei, nämlich dann „und nur dann wenn es darauf ankommt eine höhere Potenz der Gemeinschaft und des Bewußtseins derselben zu stiften“ (S. 142). Vorlesung 1820/21, 54. Stunde, unten S. 505

Historische Einführung

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der Platzschen Edition keinerlei Berücksichtigung gefunden hat, ist das Thema Mädchenbildung, dem Schleiermacher sich über mehrere Vorlesungsstunden widmet.171 Seine zweite Pädagogik-Vorlesung erscheint durch die jüngst aufgefundenen Nachschriften in neuem Licht. Sichtbar wird ein bislang verkannter, eigenständiger Beitrag zur Grundlegung der Pädagogik als Wissenschaft. Dass dazu auch die Auseinandersetzung mit Schule und Unterricht gehört, ist erst durch die nun vorliegenden Nachschriften zu erfahren, denn in der Edition von Platz fehlen diese Aspekte. Daher musste man bisher davon ausgehen, dass sich erst die Vorlesung von 1826 ausführlich mit der Konzeption einzelner Unterrichtsfächer befasse, da auch aus der Vorlesung von 1813/14 keine detaillierten Entwürfe einzelner Unterrichtsfächer überliefert sind.172 Nun ist zu erfahren, dass das Kolleg von 1820/21 didaktische und methodische Fragen konkreter Unterrichtsfächer für die Schule erörtert. Von Interesse sind diejenigen Gegenstände des Unterrichts, „in denen die bildende Kraft liegt“: die Natur, die Sprache und die „Maaßverhältnisse“, also die Mathematik.173 Die einzeln aufgeführten und ausführlich dargelegten Unterrichtsfächer zeugen von einem sich verändernden curricularen Profil: Verstärkt gelangen realistische Bildungsinhalte auch in die höhere Schule, und der Unterricht in den alten Sprachen steht hier nicht länger an erster Stelle. Das Kolleg von 1820/21 entwickelt seinen Fächerkanon, die Konzeption der einzelnen Unterrichtsfächer sowie die didaktischen und methodischen Hinweise in Übereinstimmung mit dem ersten allgemeinen Lehrplan aus dem Jahr 1810, mit dessen Hilfe das gesamte höhere Schulwesen – ausgehend zunächst von einer Reform der Gymnasien in Berlin – vereinheitlicht und zu einem allgemein bildenden Schulwesen weiterentwickelt und ausgebaut werden sollte. Diesen hier zum ersten Mal veröffentlichten Lehrplan erarbeitete die „Wissenschaftliche Deputation für den öffentlichen Unterricht“– die erste Lehrplankommission in der Ge171

172 173

Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Thema Mädchenbildung sowie mit dem Verhältnis der Pädagogik zur Ethik ist dem Beitrag zu entnehmen, der die Veröffentlichung der „Berliner Nachschrift“ ankündigt: Ehrhardt, Christiane/ Virmond, Wolfgang: Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung von 1820/21. Ein Aschenputtel in neuem Licht, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 83, Heft 3, 2007, S. 345–359 Die letzten überlieferten Stunden der Vorlesung von 1813/14 (47.–49. Stunde) thematisieren jedoch bereits konkrete Unterrichtsgegenstände; vgl. unten S. 320–324 Vgl. Vorlesung 1820/21, 57. Stunde, unten S. 514–515

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Einleitung der Bandherausgebenden

schichte der Schule, die auf staatlicher Ebene Bildungsplanung betrieb – in Berlin unter der Leitung Schleiermachers. Mit ihrem Lehrplan von 1810 legte die „Deputation“ erstmals einen mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht verpflichtend fest. Ebenso erhielten erstmalig der Geschichts- und Geographieunterricht, der Unterricht in einer modernen Fremdsprache und der Deutschunterricht gesicherte Positionen im Curriculum. Die Stundenzahl des Lateinunterrichts (in der höheren Schule) wurde reduziert. Ein neu konzipierter Religionsunterricht gehörte genau wie der Mathematikunterricht in jeder Schulart dazu. Von „bildendem Unterricht“ ist im Kolleg von 1820/21 die Rede, der seinen Namen verdiene, wenn es um die „Erziehung des Menschen für das Erkennen“174 gehe. Wie die einzelnen Unterrichtsfächer diesen Grundsatz verwirklichen sollten, zeigt eine Fülle von Beispielen in den letzten acht Vorlesungsstunden des Kollegs, die bis hin zu Vorschlägen für die Unterrichtsgestaltung reichen. Nicht nur die Arbeit am Lehrplan hat ihre Spuren in der Pädagogik-Vorlesung hinterlassen, es sind neben der wissenschaftlichen Theorieentwicklung bei Schleiermacher möglicherweise auch die persönlichen Erfahrungen mit staatlichen Einmischungen zur Verhinderung der von der Berliner Wissenschaftlichen Deputation konzipierten Schulreform, die ihren Niederschlag gefunden haben. So versteht Schleiermacher in seinem Kolleg von 1820/21 den öffentlichen Schulunterricht als „Theil des politischen Lebens“ und plädiert für den „Character der großen Oeffentlichkeit des Unterrichts“. Niemals dürfe der Schulunterricht einer Staatsbehörde unterstellt werden. In der letzten Vorlesungsstunde heißt es: „Wird aber der Unterricht von oben geordnet, so läßt sich von einer gutgeordneten Akademie viel dafür erwarten, aber nicht von einer Staatsbehörde, denn hier kann nicht eine reine Organisation sein. Eben so war es nachtheilig, daß der Unterricht eine Zeit lang der Sache nach unter der Kirche stand […]. Eine freie pädagogische Thätigkeit ist also ein nothwendiges Ausgleichungsmittel“175. Ihren systematischen Ort erhält die Schule im Kolleg von 1820/21 „in der Mitte zwischen dem häuslichen Leben und dem Staate“176. Grundsätzlich ist zu Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung von 1820/21 zu sagen, dass sie durch die von ihrem ersten Herausgeber 174 175 176

Vorlesung 1820/21, 60. Stunde, unten S. 524 Vorlesung 1820/21, 63. Stunde, unten S. 535–536 Vorlesung 1820/21, 24. Stunde, unten S. 420

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Carl Platz getroffene Auswahl von Vorlesungsstunden und Stundenteilen als die Vorlesung über „Gegenwirkung, Strafe und Zucht“ gilt. Die Schwerpunktsetzung auf den Themen Strafen und Zucht basiert wesentlich auf dem mittleren Teil der Vorlesung, die Platz jedoch auch in Bezug auf diesen Themenkomplex nicht in ihrem tatsächlichen Verlauf wiedergegeben hat. Beispielsweise fehlen bei ihm die sich über drei Vorlesungsstunden erstreckenden Ausführungen über das Behüten und über die Maxime des Bewahrens (17.–19. Stunde), aus denen heraus die Überlegungen zur Gegenwirkung überhaupt erst entwickelt werden. Indem Platz diese Stunden übersprungen hat, streicht er den Kontext, in den die Diskussion der Strafen eingebettet ist, und raubt dem Begriff der Erziehung seine charakteristische Doppelgestalt, betont das Kolleg von 1820/21 doch, dass alle Erziehung Unterstützung und Gegenwirkung sei und zwar so, dass jedes zugleich das andere sein müsse. Die unterstützenden Einwirkungen sollen „zugleich demjenigen, was der Erziehung zuwider geschieht, entgegen wirken, und die Richtigkeit jedes pädagogischen Verfahrens muß hiernach beurtheilt werden, daß es dieser Identität Genüge leiste, und darin aufgehe“177. „Strafen sind nichts Pädagogisches“, heißt es im Kolleg von 1820/ 21. Eine Strafe wird als „Notsache“ bezeichnet, sie spreche immer für eine unvollkommene Erziehung, da die Erziehung dazu beitragen müsse, „die Strafe überflüssig zu machen“178. Seinen im PädagogikKolleg von 1826 formulierten Grundsatz: „Nie kann man glauben, daß die Strafe auf irgend eine Weise wirklich bessern kann“179, entwickelt Schleiermacher vor dem Hintergrund seiner Überlegungen zu den Formen der Gegenwirkung, wobei zwischen der Gesinnung (der Festigkeit und Dauer eines Willens, der die leiblichen Funktionen bestimmt) und ihrer Ausführung unterschieden wird. Um den inneren Willen in Handlung umzusetzen, bedarf es der Fertigkeiten, die durch Übung erworben werden können, doch Willensbildung ermöglicht die Übung nicht, denn „in dem, was rein das Innere betrifft, giebt es keine Uebung“180. 177 178 179 180

Vorlesung 1820/21, 16. Stunde, unten S. 395 Vorlesung 1820/21, 21. Stunde, unten S. 409 und 23. Stunde, unten S. 416 Vorlesung 1826, unten S. 759 Vorlesung 1820/21, 18. Stunde, unten S. 398. Zum „bildungstheoretisch fundierten“ Begriff der Übung bei Schleiermacher vgl. Brinkmann, Malte: Pädagogische Übung. Praxis und Theorie einer elementaren Lernform, Paderborn 2012

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Einleitung der Bandherausgebenden

Einzig in seiner zweiten Pädagogik-Vorlesung vom Winter 1820/ 21 führt Schleiermacher für die beiden Pole Gesinnungsbildung und Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten eine Vermittlerin ein: die „Zucht“. Sie bezieht sich auf das „innere Verhältniß im Zögling“181. Johannes Schurr bemerkt: „Die Zucht ist somit die propädeutische Erziehungsform zur unterstützenden Tätigkeit. Diese entwickelt und leitet die positiven Potenzen der Gesinnung und Fertigkeiten, jene setzt den niederen Organismus instand für die höheren“182. Die Zucht schafft die Voraussetzungen für den Willen, indem sie „ursprünglich darauf geht, durch ascetische Gewöhnung die gesammte Sinnlichkeit zu einem Organ der sittlichen Kraft auszubilden“183. Absicht der Zucht ist es, anzuregen, dass der junge Mensch sich der Veränderung seiner inneren Verhältnisse widmet. Diese inneren Verhältnisse werden gedacht als Beziehung zwischen dem „regierenden Geist“ (dem Willen) und dem Leib. Um ein solches Regierungsverhältnis in sich einrichten zu können, bedarf es der Übungen; sie bereiten den Leib auf die Leitung durch den Geist vor. Die Zucht ist dasjenige pädagogische Mittel, durch welches die Askese des Subjekts ins Werk gesetzt wird, und zwar vor allem dann, wenn der Zögling sich als ein Unfreier fühlt, weil er „von einer leidenschaftlichen Thätigkeit beherrscht wird“. Das Beherrschtsein durch das Begehren kommt dem Ungehorsam gegenüber sich selbst gleich. Es werden zwei Formen dieses Ungehorsams unterschieden: das Ausweichen vor unangenehmen Dingen (Trägheit) und die Suche nach dem ausschließlich Angenehmen. Zur Bekämpfung der Trägheit bedarf es der „Abhärtung gegen das Unangenehme“, zur Bekämpfung des Strebens nur nach dem Angenehmen bedarf es der „Entsagung“, das heißt der „Gegenwirkung gegen den Reiz des Angenehmen“. „Dies“, so das Kolleg von 1820/21, „sind die beiden Arten der σκησις worauf alle Zucht zurückgeht“184. Die Zucht leitet nicht eine Verdrängung oder Unterdrückung (des Sinnlichen) ein185, sondern eine Arbeit des Subjekts an sich selbst. 181 182 183 184 185

Vorlesung 1820/21, 27. Stunde, unten S. 427 Schurr, Johannes: Schleiermachers Theorie der Erziehung. Interpretationen zur Pädagogikvorlesung von 1826, Düsseldorf 1975, S. 424 Vorlesung 1820/21, 26. Stunde, unten S. 424 Vorlesung 1820/21, 27. Stunde, unten S. 431 So in der Rezeption von Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung von 1820/21: Kiel, Gerhard: Die Problematik repressiver Erziehungsmaßnahmen bei Schleiermacher, in: Pädagogische Rundschau 5, 1971, S. 317–330 und Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, ed. K. Rutschky, Frankfurt/ M. 1982

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Diese asketische Arbeit ist ein Mittel, mit dessen Hilfe sich das Individuum als Subjekt seiner Praxis konstituiert. Die Zucht lockt die Selbsttätigkeit hervor, durch sie sollen die Heranwachsenden „ihre eigenen Hilfsmittel kennen und gebrauchen lernen“, sodass sie zu einer „Übung der Selbstherrschaft“ angeleitet werden, so Schleiermachers Definition von Zucht in seinen Predigten über christliche Kinderzucht.186 Wesentlich für die Zucht ist, dass sie sich an die Freiheit des Individuums wendet. Sie „geht auf die Ansicht zurück, daß bei der Handlung etwas zum Grunde gelegen hat, was mit der eigenen Freiheit des Zöglings streitet, und sie wird angewandt, weil er etwas gethan hat, was er selbst nicht will, also um seine Thätigkeiten dem bessern Willen zu unterwerfen“187. Die Führung des Individuums aus dem Zustand seines Ungehorsams gegen sich selbst in einen Zustand der Freiheit, verstanden als aktive Beherrschung seiner selbst, erfordert zweierlei: die klare Einsicht des jungen Menschen in seine persönlichen Regierungsverhältnisse und das Vertrauen zum Erzieher, um sich von diesem (entgegen innerer Widerstände wie z. B. der Trägheit) zu sich selbst leiten zu lassen. Die Zucht ist weit davon entfernt, ein autoritäres Element zu sein; vielmehr erfordert sie das Gespräch, den Austausch, die Reflexion, die Nähe und damit die Teilnahme an einer gemeinsamen Vernunft.188 Hier ist die geforderte Strenge eine Dienerin der Freiheit, die ihrerseits wiederum nur praktisch erwirkt und erhalten werden kann durch eine strenge Übung des Selbst: „Je mehr das Freiheitsgefühl erregt ist, je leichter der Zögling sich die Zucht gefallen läßt, desto strenger kann die Zucht sein ohne allen Nachteil. […] Eben daher kommt das große Wohlgefallen einer gutartigen Jugend an einer vernünftigen Strenge, weil sie das Bildende darin fühlt und mehr ihre eigentliche Freiheit empfindet.“189 Die Selbstverhältnisse, die Schleiermacher etwa in seinen frühen „Monologen“ darstellt, sind in seinem Begriff der Zucht aufgenom186

187 188

189

Schleiermacher, Predigten „Ueber die christliche Kinderzucht“, in: KGA III/1, S. 660–705. Zur Didaktik der Übung als Kunst der Vermittlung von Aus-, Selbstund Fremdführung vgl. Brinkmann, Malte: Üben – elementares Lernen. Überlegungen zur Phänomenologie, Theorie und Didaktik der pädagogischen Übung, in: Dem Lernen auf der Spur. Die pädagogische Perspektive, edd. K. Mitgusch/E. Sattler/ K. Westphal/I. M. Breinbauer, Stuttgart 2008, S. 278–294 Vorlesung 1820/21, 27. Stunde, unten S. 430 Vgl. Schurr (1975) und Kinzel, Ulrich: Übung und Freiheit. Versuch einer Aktualisierung von Schleiermachers Bemerkungen über „Zucht“, in: Neue Sammlung 35, Heft 2, S. 65–87 Vorlesung 1820/21, 26. Stunde, unten S. 430

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Einleitung der Bandherausgebenden

men und weitergeführt. Die Ethik des Selbst, die er in seiner Pädagogik-Vorlesung von 1820/21 entwirft, geht über ein hermetisches „Selbstsorgeselbst“190 insofern hinaus, als sie im Rückgriff auf griechisches Denken das Verhältnis zur Politik mit in den Blick nimmt. Schleiermacher zeigt, dass die Gesellschaftlichkeit des Zöglings auf eine ausreichende Kräftebasis in ihm gestellt sein muss.191 Er geht davon aus, dass „das, wodurch der Mensch mit sich selbst in Harmonie steht, auch das [ist], wodurch er mit dem gemeinsamen Leben harmonirt“192. Anders als in der Systematik der Vorlesung von 1826, wo die Übung den Fertigkeiten und der Gesinnung die freie Tätigkeit zugeordnet ist, nimmt Schleiermacher in seiner Vorlesung von 1820/21 die Tradition tugendbildender Übungen auf, um sie vor dem Horizont einer nicht-hierarchisch konzipierten Sittlichkeit weiterzuentwickeln. Der Begriff der Zucht, der Verbindungen zwischen dem Gebiet der Fertigkeiten und der Bildung der Gesinnung anbahnt, fehlt in Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung von 1826. An die Stelle der Zucht tritt hier die sittliche Billigung oder Missbilligung.

5. Gedanken zur Pädagogik im Winter 1820/21 In seiner „Vorrede des Herausgebers“ berichtete Carl Platz von einem „Convolut Zettel, handschriftlich von Schleiermacher“, das er von Ludwig Jonas erhalten habe. Diese Zettel, so rekonstruierte Platz anhand der ihm gleichfalls zur Verfügung gestellten Vorlesungsnachschriften, geben „für die im Wintersemester 1820/21 gehaltenen Vorlesungen den Faden und die Hauptgedanken in größter Kürze“ wieder, während „nur sechs Zettel sich auf die Vorlesungen im Sommersemester 1826 beziehen“. Platz erläuterte: „Sämmtliche Zettel sind von mir gewissenhaft benutzt; ich habe sie aber nicht für sich abdrukken lassen, sondern jedem seinen Ort angewiesen an der geeigneten Stelle der Vorlesungen, und namentlich sind die Auszüge aus 190

191

192

Reichenbach, Roland: „La fatigue de soi“. Bemerkungen zu einer Pädagogik der Selbstsorge, in: Michel Foucault. Pädagogische Lektüren, edd. N. Ricken/M. RiegerLadich, Wiesbaden 2004, S. 187–200 Winkler, Michael: Geschichte und Identität. Versuch über den Zusammenhang von Gesellschaft, Erziehung und Individualität in der „Theorie der Erziehung“ Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers, Bad Heilbrunn 1979 Vorlesung 1820/21, 21. Stunde, unten S. 410

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den Vorlesungen 1820/21 nur mit Hülfe der Zettel und auf Grund ihrer aus den nachgeschriebenen Vorlesungen hergestellt.“193 Bei dieser „Herstellung“ seines Textes verwischte Platz die Spur der handschriftlichen Notizen Schleiermachers, weil er nicht kennzeichnete, was er von Schleiermacher übernommen hatte und welche Textpassagen den von Studenten nachgeschriebenen Vorlesungen entstammten. Die Spur verliert sich, da sämtliche Textmaterialien, die Platz für seine Edition verwendete, nicht mehr auffindbar sind. Obwohl Platz, im Vergleich zur Vorlesung von 1826, der er „nur sechs Zettel“ zuordnen konnte, für die Vorlesung von 1820/21 weitaus mehr handschriftliche Notizen Schleiermachers zur Verfügung standen, die zudem den roten „Faden“ der gesamten Vorlesung „in größter Kürze“ wiedergeben, entschied er sich, lediglich Auszüge zu präsentieren. Mit diesen Auszügen aus der Vorlesung von 1820/21 wollte Platz die von ihm in aller Breite präsentierte Vorlesung von 1826 inhaltlich ergänzt wissen. Zusätzlich zu seinen Auszügen aus der Vorlesung von 1820/21 gab Platz innerhalb der Vorlesungen von 1826 und 1813/14 einzelne Stellen aus dem Kolleg von 1820/21 in Fußnoten wieder. Dazu wählte er Textpassagen aus, die er in seine Zusammenstellung der Vorlesung von 1820/21 in Auszügen nicht aufgenommen hatte. Die Erkenntnis, dass die in Fußnoten angeführten Textpassagen überwiegend den vollständig weggelassenen Vorlesungsstunden entnommen sind und einige auch denjenigen Stundenteilen, die Platz übersprungen hatte, ist dank der „Berliner Nachschrift“ möglich, die Schleiermachers PädagogikKolleg von 1820/21 vollständig und mit einer Zählung der Vorlesungsstunden wiedergibt. So wie der vorliegende KGA-Band zur Pädagogik nicht aus verschiedenen Nachschriften zusammengestellte Kunstprodukte als Vorlesungen Schleiermachers wiedergibt, sondern einzelne studentische Nachschriften im Ganzen bietet, so holt er Schleiermachers Notizen – da, wo sie überhaupt noch als solche zu erkennen sind, – aus Fußnoten heraus und bietet sie als eigenen Haupttext. Lediglich zwei Notizen, eine kurze und eine umfangreichere, lassen sich den „handschriftlich von Schleiermacher“ beschriebenen Zetteln zuordnen.194 Nur diese beiden werden hier nach der Vorlesung von 1820/21 abgedruckt. Sie gewähren einen Einblick in Schleiermachers Vorbereitung 193 194

SW III/9, S. IX Zur Begründung dieser Zuordnung vgl. den Editorischen Bericht, unten S. CI–CIV

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Einleitung der Bandherausgebenden

und Durchführung seiner Vorlesungen. Das erste Textbeispiel zeigt, dass er zum einen kurz wesentliche Überlegungen notierte; dies verdeutlichen bereits die Gedanken zur Pädagogik von 1813/14. Zugleich hielt er Gedankengänge fest, die den Aufbau einzelner Vorlesungsstunden und die Systematik von großen Teilen der Vorlesung zu erkennen geben; so scheint etwa mit dem zweiten hier abgedruckten Text die Systematik des „Besonderen Teils“ der Erziehung aufgezeigt zu werden. Es ist nicht sicher zu entscheiden, ob Schleiermacher seine Gedanken vor oder nach den vorgetragenen Stunden festhielt. Friedrich Adolph Diesterweg, ein Hörer von Schleiermachers Pädagogik, berichtete, dass Schleiermacher frei gesprochen habe und als schriftliche Ausarbeitungen lediglich „eine kleine, zusammengedrehte Papierrolle […] oder ein beschriebenes Papierstreifchen oder auch gar nichts“ mit in die jeweilige Stunde gebracht habe.195 Die Notizzettel, die es von Schleiermacher zu seiner Pädagogik-Vorlesung aus dem Wintersemester 1820/21 gab, könnten den „beschriebene[n] Papierstreifchen“ geglichen haben, die Diesterweg aus den akademischen Kollegs seines Lehrers erinnert. Äußerungen Schleiermachers in seinen Briefen sprechen dafür, dass er die wichtigsten Gedanken des Vortrages im Anschluss an die Vorlesung aufgeschrieben hat.196 Da jedoch ein von Schleiermacher geführtes Heft über sein Kolleg von 1820/21 dem Editor Carl Platz nicht vorlag, mag Schleiermacher erneut auf der Grundlage des Heftes von 1813/14 gelesen und sich für die aktuelle Stunde lediglich mit jenen kleinen Notizen vorbereitet haben.

6. Vorlesungen über die Pädagogik im Sommer 1826 Im Sommersemester 1826 bot Schleiermacher im Rahmen seiner philosophischen Kollegs eine weitere Vorlesung zur Pädagogik an. Er trug sie fünf Mal in der Woche vor und zwar morgens von 6 bis 7 Uhr. Er begann am 17. April und schloss mit der 86. Stunde am 195

196

Diesterweg, Friedrich Adolph Wilhelm: Über die Lehrmethode Schleiermachers, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1–17, edd. H. Deithers u. a., Berlin 1956–1990, hier Abt. 1: Zeitschriftenbeiträge, Bd. 3: Aus den „Rheinischen Blättern für Erziehung und Unterricht“ von 1833 bis 1835, Berlin 1959, S. 251–268, S. 254 Vgl. z. B. Briefe an Gaß, S. 114, 149. Schleiermacher schrieb in einem Brief vom 18.12.1813 an seinen Freund Christian Gaß: „Dann lese ich zum ersten Mal Pädagogik, auch nicht ohne ziemlich vollständig hernach aufzuschreiben,“ (Briefwechsel mit Gaß, S. 114).

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1. September 1826. Mit 121 Hörern war die Veranstaltung sehr gut besucht. Sie war in dem „Verzeichniß der Vorlesungen, welche auf der Universität zu Berlin im Sommerhalbenjahre 1826 vom 17ten April an gehalten werden“ wie folgt ausgewiesen: „Die Grundzüge der Erziehungskunst trägt vor Herr Prof. Schleiermacher in fünf wöchentl. Stunden v. 6–7 Uhr Morgens. | Privatim paedagogices elementa tradet quinquies p. hebd. h. vi–vii. matut.“197 In der Theologie trug er „Die Briefe des Paulus an die Thessalonicher und Galater“ vor und „Die Grundsätze der praktischen Theologie“.198 Zudem war er intensiv mit der Nachbereitung und Ausarbeitung der Kirchengeschichte beschäftigt, die er im Wintersemester 1826 gelesen hatte. Bei seiner Platon-Übersetzung war er mit der Übertragung der Politeia in der abschließenden Phase angekommen. Eine Ausgabe mit seinen Festpredigten erschien zu Michaelis des Jahres.199 Kirchenpolitisch engagierte er sich bei der Neufassung der Gottesdienstordnung im so genannten Agendenstreit und entwarf in dieser Sache u. a. ein Memorandum an den König Friedrich Wilhelm III. und unterzeichnete ein „Protestschreiben der zwölf unterschriebenen Berliner Prediger vom 27. Juni 1826 an den Staatsminister Freiherrn von Altenstein“.200 In Schleiermachers Tageskalender201 lassen sich die 86 Stunden seiner Pädagogik-Vorlesung im Jahr 1826 lückenlos nachweisen. Datum

Eintragungen zur Pädagogik

April. 1826 17. Montag. 18. Dienstag 19. Mittwoch 20. Donnerstag 21. Freitag 24. Montag 25. Dienstag 26. Mittwoch 27. Donnerstag 28. Freitag

Alle drei Vorlesungen Angefangen. 2te Stunde Bußtag [keine Vorlesung] [3. Stunde] Ausgesezt auf Wolfarts Verordnung; 4te Stunde. [5. Stunde] [6. Stunde] Pädagogik 8te Stunde.

197 198 199 200 201

Vgl. Virmond (2011), 1826ss141, S. 421 Ebd., 1826ss11, S. 412 und 1826ss19, S. 413 Vgl. KGA III/2, S. IX–XVIII und S. 1–256 Vgl. KGA I/9, S. LXXXI–CXII und S. 271–472 Schleiermacher Nachlass Nr. 441 und Nr. 442 (Archiv der BBAW). In den Tageskalendern sind die Monatsbezeichnungen sowie die Angaben der Daten (Ziffern) vorgedruckt, während die Wochentage von Schleiermachers Hand eingetragen wurden.

LXXX Datum Mai. 1826 1. Montag 2. Dienstag 3. Mittwoch 4. Donnerstag 5. Freitag 8. Montag 9. Dienstag 10. Mittwoch 11. Donnerstag 12. Freitag 15. Montag 16.–19. Dienstag– Freitag 22. Montag 23. Dienstag 24. Mittwoch 25. Donnerstag 26. Freitag 29. Montag 30. Dienstag 31. Mittwoch

Einleitung der Bandherausgebenden Eintragungen zur Pädagogik 9te Stunde. [10. Stunde] [11. Stunde] [keine Vorlesung, Himmelfahrt] 12te Stunde. 13te Stunde. [14. Stunde] [15. Stunde] [16. Stunde] 17te Stunde. [keine Vorlesung, Pfingsten] [keine Vorlesungen, Reise Schleiermachers] 18te Stunde. [19. Stunde] 20te Stunde. [21. Stunde] 22te Stunde. 23te Stunde. [24. Stunde] [25. Stunde]

Juni. 1826 1. Donnerstag 2. Freitag 5. Montag 6. Dienstag 7. Mittwoch 8. Donnerstag 9. Freitag 12. Montag 13. Dienstag 14. Mittwoch 15. Donnerstag 16. Freitag 19. Montag 20. Dienstag 21. Mittwoch 22. Donnerstag 23. Freitag 26. Montag 27. Dienstag 28. Mittwoch 29. Donnerstag 30. Freitag

Ausgesezt um Reily Aufsaz zu machen. 26te Stunde. 27te Stunde. [28. Stunde] [29. Stunde] [30. Stunde] 31te Stunde. 32te Stunde. [33. Stunde] [34. Stunde] [35. Stunde] 36te Stunde. 37te Stunde. 38. Stunde Ausgesezt wegen Heiserkeit. [39. Stunde] 40te Stunde 41te Stunde [42. Stunde] [43. Stunde] Ausgesezt wegen Akademie. 44te Stunde

Juli. 1826 3. Montag 4. Dienstag

45te Stunde [46. Stunde]

Historische Einführung Datum

Eintragungen zur Pädagogik

5. 6. 7. 10. 11. 12. 13. 14. 17. 18. 19. 20. 21. 24. 25. 26. 27. 28. 31.

Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag

[47. Stunde] [48. Stunde] [49. Stunde] 50. [51. Stunde] [52. Stunde] [53. Stunde] 54. Stunde 55. [56. Stunde] [57. Stunde] [58. Stunde] 59. 60. [61. Stunde] [62. Stunde] [63. Stunde] 64. 65.

August. 1. 2. 3. 4. 7. 8. 9. 10. 11. 14. 15. 16. 17. 18. 21. 22. 23. 24. 25. 28. 29. 30. 31.

1826 Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag

[66. Stunde] [67. Stunde] keine Vorlesungen wegen Königs Geburtstag. Wegen Kopfweh nicht gelesen 68. [69. Stunde] [70. Stunde] [71. Stunde] 72. 73. [74. Stunde] [75. Stunde] [76. Stunde] Ausgesezt wegen zu schreibender Briefe. 77. [78. Stunde] [79. Stunde] [80. Stunde] 81. 82. [83. Stunde] [84. Stunde] [85. Stunde]

September. 1826 1. Freitag

Mit 86. geschlossen.

LXXXI

LXXXII

Einleitung der Bandherausgebenden

Carl Platz, der erste Herausgeber der Pädagogik-Vorlesung von 1826, stellte diese an den Anfang seines Bandes zu Schleiermachers „Erziehungslehre“202. Er räumte ihr den größten Umfang ein, formulierte sie zu einem gut lesbaren Text und versah sie mit detaillierten Überschriften, Gliederungen und mit einem Inhaltsverzeichnis. Platz rückte die Vorlesung von 1826 in den Mittelpunkt, obwohl ihm ausgerechnet für dieses Kolleg kaum authentische Manuskripte zur Verfügung standen. Aus dem „Convolut Zettel, handschriftlich von Schleiermacher“, das Platz übergeben worden war, bezogen sich „nur sechs Zettel […] auf die Vorlesungen im Sommersemester 1826“203. Über dieses karge Material hinaus hatte er nur Nachschriften erhalten: „Drei Nachschriften der Vorlesungen im Sommersemester 1826, und zwar von Herrn Prediger J. Schubring, Herrn Prediger Bindemann und Herrn Superintendenten Braune in Zossen. Endlich erhielt ich noch gegen den Schluß meiner Arbeit von meinem Freunde, dem Herrn Consistorialrathe Ohl in Neu-Strelitz eine sehr sorgfältige Nachschrift der Vorlesungen im Jahre 1826.“204 Seine Entscheidung, die Vorlesung von 1826 in das Zentrum der „Erziehungslehre“ zu setzen, begründete Platz zum einen aus der Tatsache heraus, dass das Kolleg mit 86 Stunden das umfangreichste war und dass ihm von dieser Vorlesung die meisten Textgrundlagen zur 202 203 204

SW III/9, S. 1–582 Ebd., S. IX Ebd. Die Studenten Schubring, Bindemann, Braune, Ohl, ließen sich in den Matrikelbüchern der Berliner Universität nachweisen: Verzeichniß der Studierenden auf der Königlichen Universität zu Berlin / Nebst Anzeige ihrer Ankunft, Vaterlandes, Studien und Wohnungen auf das halbe Jahr von Ostern bis Michaelis 1826 [= Wernicke], ed. J. F. A. Wernicke, Berlin 1826, S. 413: B i n d e m a n n , Moriz, Schwedt, Theologie, Prediger, Abgang 1827, Mittelstraße 60; S. 248: B r a u n e , Julius, Berlin, Theologie, Schuhmacher, Abgang 1828, Friedrichstraße 65; S. 379: O h l , Hermann Leberecht, Breslau, Theologie, Partkrämer, Abgang 1829, Adlerstraße 1/Friedrichstraße 144; S. 587: S c h u b r i n g , Carl Julius, Deßau, Theologie, Regierungsrath, vorher Universität Leipzig, Abgang 1827, Mohrenstraße 8/Mittelstraße 10. Vgl. auch Bahl, Peter/Ribbe, Wolfgang: Die Matrikel der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin 1810–1850, Teil 1, Die Matrikel für das 1. bis 23. Rektoratsjahr (1810 bis 1833), Berlin/New York 2010, S. 256, 251, 319, 292. Wahrscheinlich hatte Platz die Vorlesung von 1826 auch selber gehört, denn er war im SS 1826 immatrikuliert (vgl. ebd., S. 300) und schloss sich im Vorwort der SW III/9 in den Kreis der Hörer ein: „Ich statte den verehrten Herren, die durch Mittheilung dieser Nachschriften mir es möglich gemacht haben, die Pädagogik herauszugeben, herzlichen Dank ab, gewiß auch im Namen derer, die sich beim Lesen der gedruckten Vorlesungen noch einmal im Geiste zurükkversetzt sehen in jene Zeit, wo wir das lebendige Wort aus des großen Mannes Munde hörten […]“ (SW III/9, S. X). Allerdings erwähnte er keine eigenen Mitschriften.

Historische Einführung

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Verfügung standen. Darüber hinaus bewogen ihn inhaltliche und systematische Argumente, dem Kolleg von 1826 größeres Gewicht zu verleihen.205 Als Resultat liegt im Druck der SW eine Version der 1826er pädagogischen Vorlesung Schleiermachers vor, die aus einer Kompilation mehrerer Nachschriften entstand, in die zwar das aus sechs Zetteln bestehende Manuskriptmaterial Schleiermachers einfloss, aber nicht kenntlich gemacht wurde. Auch wenn Platz nach eigenen Angaben bemüht war, nach den von Jonas angesprochenen Richtlinien für die Edition der Vorlesungen Schleiermachers zu handeln206 und der tatsächlichen Rede Schleiermachers nahe zu kommen, schien ihm dies durch die ausschließliche Mitteilung der wenigen Textzeugen von Schleiermachers Hand nicht möglich.207 Da alle Materialien zur Pädagogik, die dem Herausgeber Carl Platz zur Verfügung standen, nicht mehr auffindbar sind, musste sich die Forschung 205

206

207

In seiner „Vorrede“ schrieb Platz: „Nach sorgfältiger Durchsicht der vorhandenen Materialien gewann ich die Ueberzeugung, daß es am gerathensten sein würde, die Vorlesungen von 1826 vollständig mitzutheilen, da von diesen nicht nur die meisten und ausführlichsten, oft wörtlich übereinstimmenden Nachschriften vorlagen, sondern sie selbst auch von den im Wintersemester 1813/14 und 1820/21 gehaltenen Vorlesungen durch Gleichmäßigkeit, ausführliche Behandlung des allgemeinen und besonderen Theils, durch genauere Eintheilung, durch klarer hervortretende Beziehung auf die Ethik, durch schärfere Grenzscheidung der Pädagogik und Politik, und endlich durch größere Abrundung und Vollständigkeit sich auszeichnen.“ (SW III/9, S. X) In der „Vorrede“ schrieb Platz: „In der ausführlichen und excerpirenden Mittheilung der Collegienhefte habe ich mich von denselben Grundsätzen leiten lassen, die der Herausgeber der christlichen Sittenlehre Schleiermachers so bündig und richtig in seiner Vorrede zu diesem Werk entwickelt hat.“ (SW III/9, S. X−XI) Dort schrieb Jonas: „1. So nothwendig es ist, das von Schleiermacher’s Hand geschriebene als das eigentlich authentische so genau als möglich wiederzugeben: so nothwendig ist es in der sei es ausführlichen sei es excerpirenden Mittheilung der Collegienhefte mit großer Freiheit zu Werke zu gehen, damit was entzückte, als man es hörte, wenigstens erträglich sei, wenn man es liest. […] Das alles aber so, daß 2. feststeht, daß Arbeiten dieser Art in dem Maaße Sünde sind, in welchen sie nicht reine Producte sind einer solchen Selbstverleugnung und einer so völligen Hingebung an das Object, daß dem Inhalte weder etwas ihm wesentliches entzogen wird, noch etwas ihm fremdes geblieben, ja daß selbst was die Form anlangt dem Auctor weder eine ihm wesentliche Spitze oder scharfe Kante abgeschliffen, noch eine von ihm nicht ausdrücklich gewollte angeschliffen wird.“ (SW I/12, S. XV−XVI) Dabei war er sich der Gefahr eines defizitären Ergebnisses durchaus bewusst: „Je mehr mich nun die Ueberzeugung durchdringt, daß Schleiermacher die schwerste Aufgabe für die Theorie der Erziehung […] approximativ gelöst hat: desto mehr muß ich es bedauern, daß nicht er selbst seine Pädagogik hat herausgegeben. Wie sie von mir herausgegeben jetzt erscheint, wird sie nur ein schwaches Abbild der Gestaltung der Erziehung sein, wie sie seinem Geiste einwohnte. Doch soll man mir den Vorwurf nicht machen, daß diesem Abbild die Treue fehle, welche nur da ist aber auch immer, wo die hingebendste Liebe.“ (SW III/9, S. VIII)

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Einleitung der Bandherausgebenden

seither auf eine kompilierte Fassung der Vorlesung von 1826 beziehen, die selbst zur Quelle wurde.208 Die Anfrage an das Archiv des Walter de Gruyter-Verlags über eventuell vorhandene Unterlagen bezüglich der Herausgabe der Pädagogik und dem Weg der Manuskripte förderte zwei Briefe von Platz an Georg Ernst Reimer, den Sohn des Verlegers Georg Andreas Reimer (1776–1842), zutage, die wenigstens eine ungefähre Vorstellung der Umstände und des zeitlichen Rahmens der Arbeit von Carl Platz liefern. Darauf, wann er die Unterlagen von Jonas überreicht bekam, gibt es keine genauen Hinweise.209 Platz an Reimer210: Euer Wohlgeboren sende ich den ersten Corr. Bogen der Schleierm. Pädagogik zurück. Die Entfernung Friedlands von Berlin, die sehr schlechte Postverbindung, in Folge der ich erst 3 bis 4 Tage die Briefe später empfange, machen es wohl nothwendig, daß die Correctur u Revis. in Berlin sei, so sehr gern ich auch jeden einzelnen Bogen selbst noch durchgesehen hätte. Eu. Wohlgeboren Zusage, daß die sorgfältigste Correctur etc. statt finden solle, vertrauend, verzichte ich daher auf die Revision. Dagegen hat Herr Prediger Jonas an mich geschrieben, daß er die Druckbogen des M an u s c r i p t s Schleiermachers, das den zweiten Cyclus des von mir mitgetheilten bildet, durchlesen wolle, was mir sehr nothwendig scheint, da H. P. Jonas mit der Handschrift Schl. vollkommen vertraut ist. – Ueber die Citate nach Seiten Zahlen bemerke ich folgendes. Sie sind ursprünglich von mir zu dem Behufe hinzugefügt um darnach das Comparative | Inhaltsverzeichniß anzufertigen. Dann hatte ich aber auch noch die Absicht das ganze Werk mit §§ zu versehen; da 208

209

210

Vgl. dazu das Vorwort von Mann, Friedrich, in: Schleiermacher, Friedrich: Schleiermachers Pädagogische Schriften. Mit einer Darstellung seines Lebens [= Platz], ed. C. Platz, 3. Aufl., Langensalza 1902, S. V. Auch umfangreiche Recherchen im Nachlass Jonas’ gaben weder einen Aufschluss über die Korrespondenz zwischen Platz und Jonas noch Hinweise auf den Verbleib der Pädagogik-Manuskripte. Sie gingen offenbar nicht an Jonas zurück, obwohl er sie dem folgenden Brief gemäß zwischenzeitlich noch einmal von Platz zur Korrektur bekam. Briefwechsel Carl Platz – Verlag Reimer: Walter de Gruyter GmbH & Co. Archiv: Eintrag: Platz, C., Prediger in Friedland (Kreis Lübben), später in Berlin, 2 Briefe 19.10.1847, 8.4.1872. Inhalt: Herausgabe der „Pädagogik“ Schleiermachers, Berlin

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dies erst am Schluß des Werkes geschehen konnte, wenn das ganze Gewebe, die einzelnen Abtheilungen und Abschnitte klar vorlagen, so schrieb ich inzwischen auch hier und da die Seitenzahl hinzu, um hernach mit Leichtigkeit citiren zu können. In der Zeit, wo dies geschehen sollte erkrankte meine Frau und starb, so daß ich von der Noth getrieben war, das Werk, wie es auch war abzuschicken. Ich habe daher vergessen die Seitenzahlen zu d u r c hst reichen. Sollten Sie einen Corrector gewinnen, der, meine Seitenzahlen vergleichend, wenigstens an den wichtigsten Stellen, eine einigermaßen deutliche Hinweisung auf späteres hinzufügen könnte: so würde ich Ihnen sehr dankbar sein. | Ich selbst konnte auf den ersten Correkturbogen die Seitenzahlen nur durchstreichen, da das Folgende des Werks mir nicht vorlag. Schließlich bitte ich Sie ergebenst mich wissen zu lassen, wann ich die Vorrede Ihnen übersenden solle. Ich bin jetzt von sehr vielen Geschäften in Anspruch genommen, u es wäre mir lieb zu wissen den äußersten Termin, bis wo ich die Vorrede zum Druck einzusenden habe. Hochachtungsvoll Eu Wohlgeboren ergebens Platz, Prediger zu Friedland Friedland den 19ten October 1847 Ein weiterer Brief bezieht sich wahrscheinlich auf die zweite Auflage der Pädagogik von 1871 und ist wohl als Honorarbestätigung zu lesen (die 2. Auflage erschien bestimmt als Lizenzausgabe). Berlin d. 8. April. 72 Hochgeehrter Herr Reimer, Ich war einige Tage verreiset und fand nach der Rückkehr Ihren Brief mit der überraschenden Nachricht. Sie haben mich durch Ihre Güte recht sehr erfreut und ich statte Ihnen meinen herzlichsten Dank ab, um so mehr, da Sie nach Uebersendung des Manuscripts der Pädagogik, schon in Friedland so freundlich u liberal meine Arbeit honorirten. Mich Ihnen herzlich empfehlend verbleibe ich mit größter Hochachtung Ihr ergebener Platz, Prediger

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Einleitung der Bandherausgebenden

Weitere Recherchen211 zur Person Carl Platz mit dem Ziel, mehr über den Verbleib der Nachschriften von Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung aus dem Jahr 1826 oder über die Umstände der Edition zu erfahren, blieben erfolglos. Die von Platz verwendeten Quellen müssen als verschollen gelten, obwohl sie sich wahrscheinlich bis zu Platz’ Tod 1874, gewiss aber bis 1871, beim Erscheinen der 2. Auflage der Erziehungslehre, in seinem Besitz befanden.212 Die von Platz gebotene Überlieferung des Kollegs von 1826 stellte nicht nur die beiden anderen pädagogischen Vorlesungen in den Hintergrund, sondern bestimmte auch entscheidend die Rezeptionsgeschichte der Schleiermacherschen Pädagogik. Erst jetzt, nach dem Auftauchen und der Erschließung einer weiteren Höreraufzeichnung aus dem Sommersemester 1826, ist die Möglichkeit gegeben, dem durch Platz bekannten Text eine Variante desselben Kollegs gegenüber zu stellen. Im vorliegenden KGA-Band ist die einzige heute bekannte Hörernachschrift von 1826 abgedruckt, die sich in der Zentralbibliothek Zürich befindet und höchst wahrscheinlich von Johann Jakob Sprüngli aufgezeichnet wurde.213 Lässt sich eine Grundstruktur der Vorlesung erkennen? Sie folgt ziemlich strikt der Exposition des Gegenstandes von Pädagogik, mithin der Begründung ihrer Notwendigkeit im Zusammenhang des geschichtlichen Prozesses, der Ausfaltung des Generationenverhältnisses in seinem Bezug auf das „nicht-genetische Erbe“ einerseits, der Perspektive auf das individuelle Subjekt in seinem Entwicklungsprozess innerhalb der sozialen und kulturellen Verhältnisse andererseits, endlich der Entfaltung jener Praxen, in welchen das Subjekt sich jeweils aktuell, in seiner Gegenwart bildet, hin zur Freiheit, in Aneignung von Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie der Entwicklung einer Gesinnung. Diese ist doppelt bestimmt, nämlich als Gemeingeist und als ein Selbstbewusstsein, beide eng an die Entwicklung der Sprache gebunden. Tatsächlich zeigt sich in der Nachschrift Sprünglis, dass Schleiermacher der Entwicklung der Sprache ein viel größeres Gewicht einge211

212 213

Es wurde eine umfangreiche Korrespondenz mit dem Evangelischen Zentralarchiv in Berlin und allen Kirchgemeinden geführt, in denen Carl Platz tätig war. Besonderes Interesse galt der Zeit in Altfriedland, in die seine Ehe fiel, wo also die Nachfahren eingetragen sein könnten, auf deren Spuren man weiter nach dem Verbleib des Nachlasses forschen könnte. Es konnten leider keine dienlichen Hinweise gefunden werden. Vgl. unten S. XCVI Nähere Informationen im Editorischen Bericht, vgl. unten S. CIV–CVII

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räumt hat, als bisher vermutet worden ist. Man kann also von einer Verschränkung von struktur- bzw. situationsbezogenen Überlegungen mit solchen sprechen, die den Prozess der Bildung und der Erziehung ansprechen – und zwar in einer Weise, in der in der Tat die Bildung des Subjekts als Bezugspunkt der Reflexion und Organisation des Erziehungsprozesses aufgenommen wird. Schleiermacher untersucht dabei die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen, die dem pädagogischen Handeln im Blick auf das Subjekt entstehen, wenn man seinen Entwicklungsprozess nicht nur im Verhältnis zu den unterschiedlichen Sphären, sondern in diesen selbst untersucht, mit welchen es in seinem Aufwachsen zu tun hat. Hier ist kurz innezuhalten, weil die Lektüre und Interpretation der SprüngliNachschrift zumindest eine vorsichtige Relativierung im Blick auf die Sphären der Bildung nahelegt. Bislang beherrschte die Rekonstruktion der Vorlesungen die Idee, dass die vier Sphären Familie, Religion, Geselligkeit und Wissenschaft als hinreichend und entscheidend anzusehen sind; in ihrer Viergestalt markieren sie die wesentlichen Sozialräume, in welchen der Bildungsprozess sich konstituiert. Das trifft nun zu und könnte doch falsch sein. Denn das systematische Argument richtet sich eher auf den Tatbestand der sozialisatorisch relevanten Räume, wobei dann doch Familie und Schule entscheidend werden im Bildungsprozess, während die Religion, Geselligkeit und Wissenschaft eher als beispielhaft angeführte Sphären zu gelten haben. Schleiermacher denkt offensichtlich systematischer, um die grundlegenden Strukturen zu verstehen, welche sich historisch ändern können; auch das Gewicht der von ihm angeführten Sphären kann zumindest in pädagogischer Hinsicht schwanken. So richtet sich der Blick auf die Praxis im gegebenen Lebensmoment, in welchem das Subjekt gefördert werden soll, ohne jedoch diese Unterstützung auf die künftigen Lebenszusammenhänge hin oder gar an diesen auszurichten. Was schließlich nur als kaum zu vertretender Vorgriff möglich wäre, gestützt auf Vermutungen und Annahmen, die sich kaum belegen lassen, in der Wirkung aber als Festlegung auf eine Zukunft, die andere verfügt haben und nicht das Subjekt selbst bestimmt hat. Den Lebensmoment fasst Schleiermacher als Spiel, dem gleichwohl Regeln eignen, die durchaus ein Moment der Übung bergen. Dabei besteht eine weitere entscheidende Differenz zwischen der von Platz erzeugten Fassung und der von Sprüngli festgehaltenen Nachschrift darin, dass dieser sehr viel mehr die Problemstellungen festhält, die Schleierma-

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cher aufgreift und diskutiert, während Platz auf die pädagogischen Lösungen abhebt und so den Eindruck einer praktisch relevanten Theorie gibt. Noch einmal gilt: Die Überlegung stützt sich prioritär auf die ethische Dimension des Geschehens, mithin auf die Konstitution sowie Entwicklung der Gesellschaftlichkeit und somit der sozialen Handlungsfähigkeit der Individuen; einer Handlungsfähigkeit, die für ihn eng an Freiheit sowie an das subjektive Bewusstsein sowohl von den Gegebenheiten wie von dem Subjekt selbst gebunden ist, dabei auf der Sprachfähigkeit und somit auf der Möglichkeit beruht, sich selbst in der Welt artikulieren zu können. Ob und wie weit Pädagogik diesen Vorgang des Autonomiegewinns begleiten und organisieren kann, entfaltet die Untersuchung in zwei Spannungsbögen. Verknüpft werden sie durch den Bezug auf den Fortgang im Bildungsprozess des Subjekts, den Schleiermacher (bei allem Vorbehalt) in drei Perioden fasst – deren Darstellung sich bei Sprüngli in einigen Punkten gegenüber der von Platz gegebenen Fassung unterscheidet. Die eine Spannung kann also mit den Begriffen vom Anfang und Ende festgehalten werden, die Schleiermacher auch regelmäßig erinnert. Quer zum Bildungsgang des Subjekts in den jeweiligen Perioden liegt die Untersuchung der jeweiligen Sphären, in welchen sich das individuelle Subjekt spontan und rezeptiv bewegt. Diese zweite Spannung entsteht zwischen dem individuellen Subjekt selbst und dem Aneignungsgegenstand. Dieser wird nach zwei Kriterien beschrieben und bewertet. Zum einen analysiert Schleiermacher sie darauf hin, wie weit sich das Verhältnis von allgemeiner Gesellschaftlichkeit und Besonderheit der Sphären in ihnen niederschlägt, wie weit sie mithin mit Eigentümlichkeiten und Ansprüchen verbunden sind, die für Gesellschaft schlechthin vielleicht propädeutisch aber nicht grundsätzlich wichtig sind; in der Vorlesungsnachschrift Sprünglis verlieren übrigens die Sphären Familie, Religion und Kirche, geselliges Leben sowie Wissenschaft die ihnen bislang zugesprochene, nahezu formal theoriebildende Bedeutung, ihre Quadruplizität wird weniger wichtiger, sie vermischen sich viel stärker, als dies bislang wahrgenommen worden ist. Zum anderen prüft er nämlich, ob und wie weit ihnen Gewicht in den jeweiligen Perioden zukommt, bzw. ob und wie weit sie einer bewussten pädagogischen Organisation überhaupt zugänglich sind. Das Subjekt muss die strukturellen Spannungen innerhalb und zwischen den Sphären bewältigen, um überhaupt in seinem Bildungsprozess voranschreiten zu können. Eine dritte Differenz deutet sich dabei schon an: Die Perioden unterscheiden sich in

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dem Ausmaß, in welchem sie das Private, vorrangig durch Liebe, Unmittelbarkeit und Diffusität gekennzeichnete Miteinander hinter sich lassen, während der öffentliche, formal geregelte, letztlich sogar gesetzlich geordnete Zustand maßgebend wird, der am Ende dann in der freien Selbständigkeit mündet, in der das Subjekt seine Position in der Gesellschaft gefunden und wahrgenommen hat.

II. Editorischer Bericht Der Aufbau des vorliegenden Bandes folgt dem Grundsatz II.4. der Einleitung der Herausgeber (vgl. S. VIII). Die übliche Einteilung in Manuskripte Schleiermachers und Nachschriften wird zugunsten des Prinzips der Chronologie aufgelöst. Allen hier mitgeteilten Texten steht ein editorischer Kopftext voran, der über Textzeuge, Texteditionen sowie über Besonderheiten informiert.

1. Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht Nur eine exemplarische Auswahl der transkribierten Schriften aus den Akten des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (vgl. Signaturenliste im Anhang) wird in diesem Band geboten. Insbesondere der Bereich der Prüfungsangelegenheiten der Schulamtskandidaten ist stark gekürzt, nur Schreiben, die in besonderer Beziehung zu Schleiermacher stehen, wurden aufgenommen. Die Auswahl der schriftlichen Antworten der Mitglieder der Berliner Wissenschaftlichen Deputation auf die von Schleiermacher zur Diskussion gestellten Arbeitsfragen wurde ebenfalls stark beschränkt. Da, wo sie dem Verständnis des von Schleiermacher auf der Grundlage dieser Antworten erstellten Votums dienen, werden die Stellungnahmen der Kollegen exemplarisch mitgeteilt und zwar zur Frage des Religionsunterrichts, der Neuordnung des Abiturs und zur Redaktion des Lehrplans. So bestehen die hier ausgewählten Voten insgesamt aus 46 Hauptdokumenten; Texte, die darin entweder direkt erwähnt werden, dem Verständnis des Haupttextes dienen oder mit diesem korrespondieren, begleiten das jeweilige Dokument in einem nicht eigens gezählten Anhang. Es werden 40 Voten aus dem Arbeitszusammenhang der Berliner Wissenschaftlichen Deputation mitgeteilt und 6 Voten Schleiermachers in sei-

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Einleitung der Bandherausgebenden

ner Funktion als Mitglied der Sektion für den öffentlichen Unterricht beim Ministerium des Inneren. 45 Voten sowie alle 28 in Anhänge aufgenommenen Texte werden nach gut erhaltenen Handschriften ediert, ein Votum, das sechsundvierzigste, leider nur nach einer gedruckten Fassung, da das Manuskript nicht aufzufinden ist. Die ausgewählten 46 Voten beinhalten Erstveröffentlichungen sowie einige bereits bekannte Stellungnahmen Schleiermachers zur preußischen Erziehungsreform, die hier erstmalig in textkritischer Gestalt geboten werden. Bisher basierten die in die Bände mit Schleiermachers Pädagogischen Schriften (Weniger/Schulze, Winkler/Brachmann) aufgenommenen Texte zur preußischen Reform im Wesentlichen auf Publikationen des beginnenden 20. Jahrhunderts, denen es auf einen inhaltlichen Beitrag zu den Reformen ankam und weniger auf eine exakte Wiedergabe der dazu herangezogenen Texte Schleiermachers aus den Archiven. So gab etwa Paul Schwartz (1910) innerhalb seines Aufsatzes Gutachten aus dem Kontext der Berliner Wissenschaftlichen Deputation oftmals mit eigenen, interpretierenden Ausführungen inmitten der Gutachtentexte wieder. Wilhelm Prenzler (1909) zitierte im Verlauf seines Dissertationstextes Gutachten zum Religionsunterricht mit Auslassungen und mit Abweichungen vom im Archiv gesichteten Original. Bei Franz Kade (1925) ist unter anderem erstmals Schleiermachers Vorschlag zur Prüfungsverordnung pro licentia docendi zu finden, in veränderter Rechtschreibung, Zeichensetzung und mit kleinen Auslassungen, unterbrochen von eigenen Kommentierungen Kades. Die bei Kade den verschiedenen Texten Schleiermachers hinzugefügten Ergänzungen sind nicht immer kenntlich gemacht (so z. B. im Votum zum Entwurf Natorps). Auch Schleiermachers „Allgemeiner Entwurf zum Religionsunterricht“ wurde einige Male gedruckt; zuerst von Wilhelm Prenzler und von Paul Schwartz.214 Die Fassung des Letzteren übernahmen u. a. Weniger/ Schulze und von dort Winkler/Brachmann.215 Die Lesefehler, die Schwartz bei der Transkription unterlaufen waren, wurden so fortgeschrieben. Beispielsweise wird in allen drei zuletzt genannten Publikationen Schleiermachers Wort „Hausgottesdienst“ als „Hauptgottesdienst“ wiedergegeben und Schleiermachers Wort „propädeutisch“ als „pädagogisch“. 214 215

Vgl. Prenzler (1909), S. 18–19 und Schwartz (1910), S. 161–163 Vgl. Weniger/Schulze (1957), Bd. 2, S. 141–143, 233; Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1, S. 168–170, 421

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Von den insgesamt 46 hier mitgeteilten Voten sind 6 auch im KGA-Briefband V/11 zu finden. Nur 2 dieser 6 doppelt mitgeteilten Schreiben sind v o n Schleiermacher, die restlichen 4 an ihn. Soweit erhalten, wird in dem hier vorgelegten Band möglichst der Entwurf zu einem Schreiben geboten, da die im damaligen Geschäftsgang übliche Abschrift oftmals bereits eine Ausarbeitung des Entwurfs ist – mitunter entfernt von den ursprünglichen Intentionen des Autors. Im Arbeitsprozess der Wissenschaftlichen Deputation sind folgende Stadien der Textentstehung zu unterscheiden: 1. Der Entwurf, 2. Die Abschrift (meist mit kleinen oder größeren Veränderungen des Entwurfs), 3. Die Reinschrift, das „Mundum“, also das, was schließlich an den Adressaten gesandt wurde. Die Blattzählungen der einzelnen Dokumente stammen aus deren Archivierung. Fehlende Abkürzungspunkte im Text wurden ergänzt. Jedem Schreiben steht ein editorischer Kopftext voran – orientiert an der Gestaltung der Predigt-Bände der KGA. Der editorische Kopftext informiert über Datum, Autor, Empfänger, Textzeuge, Texteditionen sowie über Besonderheiten. Von Beschreibungen der Schreibmaterialien (Tinte und Papier) der einzelnen Voten wurde angesichts der Untersuchung von Oliver Hahn abgesehen, der exemplarisch drei Manuskripte Schleiermachers zur preußischen Erziehungsreform einer Röntgenfluoreszenzanalyse unterzog, nämlich das Votum zum Religionsunterricht, den Allgemeinen Entwurf zum Religionsunterricht auf gelehrten Schulen sowie Schleiermachers Jahresbericht über seine Tätigkeit in der Wissenschaftlichen Deputation im Jahr 1810 (vgl. Anhang, S. 887–894 und das Faksimile des Jahresberichts, S. 2).

2. Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1813/14 Carl Platz übernahm das Manuskriptmaterial Schleiermachers nach eigenen Angaben wörtlich216 für den Druck in den Sämmtlichen Werken. Dennoch hinterließ er Spuren im Text. So finden sich Anmerkungen, Fußnoten und Hervorhebungen des Herausgebers, die sich folgendermaßen unterscheiden lassen: 1. Platz kennzeichnete Randbemerkungen Schleiermachers aus dessen Manuskriptheft und bot sie in Fußnoten.217 Sie werden hier 216 217

SW III/9, S. IX Ebd., S. 591, 594, 603, 635, 637, 649, 663

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wörtlich wiedergegeben (auch mit dem Zusatz von Platz: “Randbem. Schleierm.“) und sind als echte Fußnoten unter dem Fließtext der Vorlesung zu finden. 2. Zum Teil längere Anmerkungen bezogen sich bei Platz auf die Vorlesung von 1820/21, und zwar auf Textpassagen, die er in die gekürzte Version von 1820/21 in den SW nicht aufgenommen hatte218. Inhaltlich besteht kein gewichtiger Grund, diese Textpassagen hier abzudrucken, weil sie (bis auf eine Fußnote, die eher als Variante gelten kann219) alle in der Berliner Nachschrift220 wiedergegeben werden. Demzufolge werden sie hier getilgt. 3. Ebenso wird mit den Verweisen verfahren, die Platz auf die Auszüge der Vorlesung 1820/21 innerhalb des SW-Bandes vornahm221. Die Querverweise auf die Vorlesung von 1826 in der PlatzVersion222 kommen hier ebenso wenig zum Abdruck. 4. Im von Platz wiedergegebenen Vorlesungstext finden sich zahlreiche kleinere und größere Einschübe in runden Klammern, die sich sinnvoll in den Verlauf eingliedern und vermutlich bereits in Schleiermachers Manuskript standen. Da jedoch auch die Querverweise auf die verschiedenen Vorlesungen innerhalb des Bandes, die Platz vornahm, in runde Klammern gesetzt sind, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Text in Klammern eindeutig nur für Manuskriptmaterial steht. 5. Da auch nicht sicher bestimmt werden kann, auf welche Quelle die Zusätze zurückgehen, die bei Platz mehrmals in eckigen Klammern auftauchen, werden diese – ebenso wie die in runden Klammern – ohne Kommentar vollständig abgedruckt. 6. Hervorhebungen werden im vorliegenden Band unverändert übernommen, weil nicht abschließend zu klären ist, ob sie bereits im Manuskriptheft Schleiermachers vorhanden waren oder erst durch Platz gesetzt wurden. In ihrer ersten Veröffentlichung in den Sämmtlichen Werken sind die auf Manuskripten Schleiermachers beruhenden Materialien aus dem Jahr 1813/14 der kompilierten Vorlesung von 1826 nachgeordnet. Carl Platz, der diese Reihenfolge entschied und damit den Fokus 218 219 220 221 222

Ebd., S. 601, 604, 605, 661 Ebd., S. 601 Unten S. 345–538 Vgl. die Fußnoten in SW III/9, S. 588, 592, 596, 597, 598, 599, 610, 651 Vgl. die Fußnoten ebd., S. 586, 596, 598, 621, 629, 636, 655

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auf die letzte Vorlesung richtete, brachte dankenswerterweise vollständig die seinerzeit erhaltenen Manuskripte Schleiermachers zum Abdruck und überlieferte sie somit trotz der Unauffindbarkeit der Originale. Dennoch kann die Quelle der vorliegenden Ausgabe nur die von Platz bearbeitete Fassung des 1813/14er Kollegs sein. Das Kollegheft Schleiermachers aus den Jahren 1813/14 wurde im Band III/9 der SW (1849) bis auf die verloren gegangenen Seiten vollständig abgedruckt, ebenso in der „Erziehungslehre“ innerhalb der „Bibliothek Pädagogischer Classiker“ 1871 und der zweiten, erweiterten Auflage 1876 sowie in deren Nachdrucken 1902 und 1968. Danach wurde es 1910, 1911, 1927 von Braun und Bauer erneut publiziert und auch 1967 und 1981 in die Neudrucke der Ausgabe aufgenommen, wenn auch jeweils nur bis einschließlich der 42. Stunde, also bis zu der Stelle, wo der von Platz im Vorwort beschriebene Materialverlust eintritt223. Bemerkenswert an der Ausgabe von Braun und Bauer ist die Tatsache, dass die Editoren das 1813/14er Kolleg in den Mittelpunkt der pädagogischen Texte rücken. Diese offensichtliche Gewichtsverlagerung wurde aber wieder zurückgenommen, indem Erich Weniger und Theodor Schulze in ihrer Ausgabe von 1957 sowie deren Neuauflagen von 1966 und 1983/84 und Ernst Lichtenstein 1959, 21964 und 31983 die Texte nur auf die Einleitung und den Allgemeinen Teil reduziert im Anhang bzw. Anmerkungsteil boten. Erneut vollständig und in den chronologischen Verlauf der pädagogischen Texte Schleiermachers eingeordnet erschienen die Materialien von 1813/14 bei Michael Winkler und Jens Brachmann in ihrer Ausgabe aus dem Jahr 2000.

3. Gedanken zur Pädagogik im Winter 1813/14 Die „Gedanken zur Pädagogik 1813/14“, die hier im Anschluss an die Vorlesungsstunden von 1813/14 zu finden sind, werden nach der Fassung wieder gedruckt, die Carl Platz ihnen als „Aphorismen zur Pädagogik“224 gab. Er bot sie ebenfalls im Anschluss an die Vorlesungsstunden von 1813/14. Sie beruhen auf handschriftlichen Notizen, die Schleiermacher in seinem Heft zur Vorlesung „meist zwischen 223 224

Ebd., S. IX Ebd., S. 673–688

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Einleitung der Bandherausgebenden

den einzelnen Stunden durch das ganze Heft zerstreut“225 anbrachte. Die Nummerierung der einzelnen Gedanken stammt bis einschließlich Gedanke Nr. 17 von Schleiermacher, die weitere Nummerierung stammt von Carl Platz, daher wird die Zählung hier ab Gedanke Nr. 18 kursiv in eckige Klammern gesetzt. Die insgesamt 91 Gedanken zur Pädagogik 1813/14 wurden auch in den weiteren Auflagen der 1849 in den Sämmtlichen Werken erschienenen „Erziehungslehre“ als „Aphorismen zur Pädagogik“ im Anschluss an den Text der Vorlesungsstunden geboten, so in den Auflagen von 1871, 1876, 1902 und 1968. In die von Braun und Bauer vorgelegte Ausgabe (1910) sowie in deren späteren Auflagen (1911, 1927, 1967, 1981) wurden diese „Aphorismen“ in Auszügen aufgenommen. Die Ausgaben der Schleiermacherschen Pädagogik von Lichtenstein von 1959 (sowie 1964 und 1983) und Schuffenhauer aus dem Jahr 1965 enthalten die „Aphorismen“ ebenfalls in Auszügen. In der Edition von Weniger und Schulze von 1957 wurden sie im Anmerkungsteil zur Vorlesung von 1813/14 thematisch geordnet und mit ihrem möglichen Bezug zu den jeweiligen Stunden publiziert. Arndt gab sie 1996 ebenfalls auszugsweise heraus. Die im Jahr 2000 veröffentlichte Studienausgabe der pädagogischen Texte von Winkler und Brachmann bot die „Aphorismen zur Pädagogik“ wieder vollständig und setzte sie vor den Abdruck der Vorlesungsstunden.

4. Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1820/21 Die Vorlesung von 1820/21 bildet in der von Platz edierten „Erziehungslehre“ das Schlusslicht: Auf nur 125 Seiten (die Vorlesung von 1826 umfasst über 580 Druckseiten) finden sich – einem Anhang gleich – lediglich Auszüge aus Schleiermachers zweitem PädagogikKolleg. Bei seiner Zusammenstellung der Auszüge legte Platz den Akzent auf die Lehre von den Strafen und der Zucht. Diese Schwerpunktsetzung begründete er folgendermaßen: „Dann ergab sich mir auch bald als nothwendig, aus den Nachschriften der Vorlesungen 1820/21 dasjenige wenigstens mitzutheilen, was in den späteren keinen Raum gefunden hatte oder doch nur in größter Kürze berührt war; ich führe hier nur an die Lehre von den Strafen, von der Zucht, 225

Ebd., S. 673

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die Entwickelung der Eigenthümlichkeit.“226 Für seine Texterstellung der Vorlesung von 1820/21 arbeitete Platz – neben Schleiermachers Notizzetteln – mit zwei Nachschriften. In der „Vorrede“ zu seiner Ausgabe informierte er darüber, dass ihm zur Verfügung gestanden hätten: „Zwei Nachschriften der Vorlesung 1820/21, die eine von unbekannter Hand durch Herrn Director Diesterweg mitgetheilt, die andere von Herrn Superintendent Klamroth. Nur Auszüge habe ich aus diesen für den Druck bestimmt.“227 Nach Schleiermachers Tod publizierte zunächst Friedrich Adolph Diesterweg 1835 kurze „Proben“ aus der Pädagogik-Vorlesung von 1820/21, und zwar nach einer ihm vorliegenden Nachschrift.228 Der Vergleich mit der im vorliegenden KGA-Band unten abgedruckten Berliner Nachschrift ergibt, dass diese mit dem von Diesterweg veröffentlichten Text übereinstimmt. Diesterwegs „Proben“ können nun erstmals in den Vorlesungskontext eingegliedert und einzelnen Stunden zugeordnet werden. Es wird erkennbar, dass Diesterweg 4 Vorlesungsstunden (von insgesamt 63) drucken ließ: die zweite Hälfte der 49., sowie die 50., 51. und 52. Stunde jeweils vollständig – Passagen aus dem III., dem „Besonderen Teil“ der Vorlesung, die grundsätzliche Überlegungen zur zweiten Periode der Erziehung enthalten. Wiederum durch den Vergleich mit der Berliner Nachschrift zeigt sich, dass der überwiegende Textanteil der Platzschen Edition der Vorlesung von 1820/21 auf der von Diesterweg „mitgetheilten“ Nachschrift basiert. Der ersten von Platz herausgegebenen Pädagogik-Ausgabe folgte 1871 eine Neuauflage in kleinerem Format229, die eine rege Verbreitung fand. Neben den Textfassungen der von Platz erstellten Pädagogik-Vorlesungen enthält dieser Band außerdem Schleiermachers „Drei Predigten über die christliche Kinderzucht“ aus dem Jahr 1818 (gedruckt 1820) und die vom inzwischen 65jährigen Platz beigesteuerte „Lebens-Skizze und Würdigung Schleiermacher’s als Pädagogen“. 226 227 228

229

Ebd., S. X Ebd., S. IX Diesterweg, Friedrich Adolph Wilhelm: Proben von Schleiermacher’s Vorlesungen, in: Rheinische Blätter für Erziehung und Unterricht, Bd. 11, Essen 1835, S. 3–15. Die von Diesterweg veröffentlichten kurzen Auszüge wurden wieder abgedruckt in: Schleiermacher, Friedrich: Schriften, ed. A. Arndt, Frankfurt/M. 1996, S. 789–801 Sie erschien in der Reihe „Bibliothek Pädagogischer Classiker“: Schleiermacher, Friedrich: Erziehungslehre. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen [= Platz], ed. C. Platz, Langensalza 1871 (Bibliothek Pädagogischer Klassiker, Bd. 5)

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Einleitung der Bandherausgebenden

Platz zitierte in dieser Skizze einen kurzen Auszug aus dem Anfang der Vorlesung von 1820/21, der nicht in seiner ersten Ausgabe von 1849 vorkam, welche erst mit der 4. Vorlesungsstunde begann. Die zitierte Passage ist der 1. Vorlesungsstunde zuzuordnen und weist eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Text der Berliner Nachschrift auf – die meisten Sätze stimmen wörtlich überein.230 Die Tatsache, dass Platz etwas zitierte, das er nicht seiner ersten Ausgabe entnommen haben kann, zeigt, dass er noch immer auf Unterlagen zurückgreifen konnte, die ihm für die Edition im Rahmen der „Sämmtlichen Werke“ überlassen worden waren. Die Übereinstimmung mit der Berliner Nachschrift macht deutlich, daß ihm die von Diesterweg überlassene Nachschrift wohl noch immer zur Verfügung stand. 1902 erschien eine neue Auflage innerhalb der Reihe „Bibliothek Pädagogischer Klassiker“. Friedrich Mann betonte in seiner Vorbemerkung, dass die Erziehungslehre Schleiermachers „streng in der Form“ geboten werde, in der sie Platz in den „Sämmtlichen Werken“ 1849 hinterlassen habe. Mann gestand zu: „Mögen dieser Ausgabe auch gewisse Mängel anhaften, die in der Art, wie sie entstanden ist, ihren Grund haben, so wird sie doch den Charakter der Quelle behalten, der einzigen, die wir besitzen, auf die darum alle Be- und Überarbeiter, ja alle, die sich mit Schleiermacher gründlich beschäftigen wollen, zurückkommen müssen.“231 Damit war die Problematik ausgesprochen, dass die von Platz zusammengestellte Fassung allen folgenden Editionen als Grundlage dienen musste. Da kein späterer Herausgeber mehr auf die von Platz verwendeten Materialien zurückgreifen konnte, nahm dessen Kompilation von 1849 „den Charakter der Quelle“ an, wie Mann treffend bemerkte. Alle weiteren Editionsprojekte mussten in Abhängigkeit von dieser ‚Quelle‘ verwirklicht werden. Erst das jüngste Auftauchen der beiden studentischen Nachschriften der Vorlesung von 1820/ 21 hat diese Ausgangslage verändert. Die bis dato nur auszugsweise bekannte Vorlesung wurde in wiederum gekürzter Form im 20. Jahrhundert in verschiedenen Auswahlbänden mit Schleiermachers pädagogischen Schriften geboten. Die von Platz vorgegebene Rangfolge wurde dabei fortgeschrieben, denn fast immer stand die Vorlesung von 1826 an erster Stelle – wenn überhaupt, war die Vorlesung von 1820/21 gleichsam als Zugabe auf eini230 231

Vgl. Platz (1871), S. 753 und Vorlesung 1820/21, unten S. 345, 17–33 und 346, 1 Platz (1902); Orthographie und Interpunktion des Platzschen Textes sind in dieser Ausgabe von 1902 verändert.

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gen wenigen, letzten Seiten platziert.232 So ist sie etwa in der Ausgabe von Weniger und Schulze im zweiten Band auf den allerletzten 30 Seiten zu finden. Weniger begründete seine Entscheidung, die Vorlesung von 1826 in das Zentrum der Edition zu rücken, mit dem Hinweis auf das von Platz übernommene Erbe: „Die Auszüge aus den Vorlesungen von 1820/21 zu Grunde zu legen, verbot sich ohnehin. Sie waren vom Herausgeber von vornherein nur als Ergänzung gedacht und können, so wie sie da vorliegen, nicht für sich benutzt werden.“233 Mit Bedauern konstatierte er im Blick auf den zweiten Band: „Am Schluß des Bandes bringen wir aus den Vorlesungen von 1820/21 die Abschnitte über Gegenwirkung und Zucht. Es war […] nicht möglich, die Vorlesungen von 1820, die Platz leider so unglücklich auf Anmerkungen zu den Vorlesungen von 1826 und auf Auszüge aufgeteilt hatte, wieder zusammenzustellen.“234 Die Ausgabe von Weniger und Schulze verstärkte die von Platz herbeigeführte thematische Fokussierung der Vorlesung von 1820/21, die, gekürzt auf etwa ein Drittel des von Platz gebotenen Textes, den Titel „Vorlesungen über Gegenwirkung, Strafe und Zucht“ erhielt. Unter dieser Überschrift wurde Schleiermachers zweite PädagogikVorlesung in der Folge rezipiert – Resultat der Präsentation in den „Pädagogischen Schriften“, die als Taschenbuchausgabe eine weite Verbreitung fanden und über Jahrzehnte in den Erziehungswissenschaften als die Textgrundlage für Schleiermachers Pädagogik herangezogen wurden.235 Erst die Ausgabe von Winkler und Brachmann korrigierte die seit Platz übliche Rangfolge von Schleiermachers Pädagogik-Vorlesungen, indem sie den Text des Kollegs von 1820/21 in ungekürzter Fassung in den ersten Band der „Texte zur Pädagogik“ mit einbezog.236 Freilich konnte auch in dieser neuen Ausgabe wieder nur der von Platz gefertigte und hauptsächlich zum Themenkomplex „Strafe und Zucht“ zusammengestellte Text geboten werden. Eine grundlegende Veränderung trat ein, als im Zuge der Vorbereitung der Vorlesungsabteilung der Kritischen Gesamtausgabe der 232

233 234 235 236

Gar nicht aufgenommen wurde die Vorlesung von 1820/21 beispielsweise in den weit verbreiteten Band: Schleiermacher, Friedrich: F. E. D. Schleiermacher. Ausgewählte pädagogische Schriften von F. E. D. Schleiermacher [= Lichtenstein], ed. E. Lichtenstein, Paderborn 1959 Weniger, Erich: Vorwort, in: Weniger/Schulze (1957), Bd. 1, S. VII Weniger, Erich: Vorwort, in: Weniger/Schulze (1957) Bd. 2, S. X Weniger/Schulze (1983/84) Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1, S. 290–380

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Einleitung der Bandherausgebenden

Werke Schleiermachers die Berliner Schleiermacherforschungsstelle Ende 1982 von einer bislang unbekannten und Platz seinerzeit nicht zugänglichen – allerdings lückenhaften – Nachschrift der Vorlesung von 1820/21 erfuhr. Sie wird in den Nachlassbeständen der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen unter der Signatur „Cod. Ms. F. Frensdorff 1,1“ aufbewahrt. In jüngster Zeit wurde zudem aus Privatbesitz eine weitere und diesmal vollständige Nachschrift derselben Vorlesung erworben, die sich in Berlin befindet.237 Diese Nachschrift, die, weil anonym, hier als die „Berliner“ bezeichnet wird, unterscheidet die einzelnen Vorlesungsstunden voneinander und zählt sie, während die Göttinger Nachschrift keine Stundeneinteilung enthält. Die gestraffte Göttinger Nachschrift, die in Platzens Edition keine Berücksichtigung fand, ist eine gesonderte Überlieferung mit eigener Authentizität. Da sie jedoch zur vollständigen Rekonstruktion der Vorlesung vom Winter 1820/21 nicht ausreicht, wird in diesem KGA-Band die Berliner Nachschrift geboten. Welche Stunden und inhaltlichen Aspekte der Göttinger Fassung fehlen, lässt sich anhand der Berliner aufschlüsseln, die 2008 als Studienausgabe ohne philologischen Apparat und mit umfangreichen Sachanmerkungen herausgegeben wurde.238 Die 16 Vorlesungsstunden umfassende Einleitung in Schleiermachers Theorie der Erziehung wurde nach der Fassung der Berliner Nachschrift von Peter Grove ins Dänische übertragen, inhaltlich kommentiert und 2010 veröffentlicht.239 Der Vergleich mit dem von Diesterweg 1835 publizierten kurzen Auszug aus der Vorlesung 1820/21 ergab, dass die Berliner Aufzeichnungen mit diesem Text übereinstimmen. Das heißt, dass der Berliner Fund eine Abschrift derjenigen Vorlesungsnachschrift ist, die Diesterweg zugänglich war. Da der überwiegende Textanteil der Platzschen Edition auf eben dieser von Diesterweg zur Verfügung gestellten Nachschrift basiert, schaffen die Berliner Aufzeichnungen nicht nur 237 238

239

Es ist geplant, dass die Nachschrift in die Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek integriert wird; zur Zeit ist sie noch in Privatbesitz. Die Ausgabe enthält eine tabellarische Übersicht, welche Vorlesungsstunden und Vorlesungsstundenteile in den vorhandenen Nachschriften und ersten Publikationen jeweils berücksichtigt wurden: Ehrhardt/Virmond (2008), S. 37–49. Grove, Peter: Friedrich Schleiermacher: Filosofi, Teologi, Pædagogik. Udvalgte Tekster [Philosophie, Theologie, Pädagogik. Ausgewählte Texte], ins Dänische übersetzt von P. G. Hg. in Zusammenarbeit mit Anders Moe Rasmussen und Peter Widmann, Århus, Forlaget Philosophia 2010, S. 377–427

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die Voraussetzung für eine Rekonstruktion des gesamten Kollegs von 1820/21, sondern auch für eine neue Bewertung der Arbeit des Herausgebers Carl Platz. Es lässt sich nunmehr ermitteln, dass der Platzsche Text lediglich 31 Vorlesungsstunden berücksichtigte, also weniger als die Hälfte des gesamten Vorlesungsmaterials. Dabei wurden ohne jede Kennzeichnung mehrere zusammenhängende Stunden übersprungen, einige der wiedergegebenen Stunden nur auszugsweise skizziert und mitunter Anfang oder Ende weggelassen. Die Schwerpunktsetzung auf den Themen Gegenwirkung, Strafe und Zucht basiert hauptsächlich auf dem mittleren Teil der Vorlesung. Mit dem ersten Teil der 46. Vorlesungsstunde endet der von Platz wiedergegebene Text. Auf dem Titelblatt der zu einem Buch gebundenen Berliner Nachschrift ist zu lesen: „Paedagogik nach Schleiermacher. Leonhard Kalb. Berlin 1833/4.“ Philipp Leonhard Kalb (1812–1885) aus Frankfurt am Main studierte in Berlin vom Sommer 1832 bis wenigstens zum Wintersemester 1833/34 Theologie. In diesem Semester ließ er sich eine Nachschrift von Schleiermachers Vorlesung 1820/21 wahrscheinlich von einem bezahlten Schreiber abschreiben. Diese Abschrift gelangte vor einigen Jahren aus Frankfurter Privatbesitz nach Berlin. Der zeittypische dunkle Buchdeckel aus grauer Pappe trägt ein rotes Rückenschild mit der Aufschrift „Paedagogik“. Ein ungezähltes Doppelblatt mit der Titelseite und umseitigen Notizen (u. a. mit Literaturangaben und Bemerkungen zu pädagogischen Veröffentlichungen von 1807 bis 1832), die wohl vom Besitzer der Kopie stammen, eröffnet den Band. Die folgenden beiden Seiten sind leer. Die anschließende Abschrift der Vorlesung ist (wohl vom Kopisten oder dem Besitzer) von Seite 1 bis 350 sorgfältig gezählt; nur die Seite 343 wird irrtümlich als Seite 345 gezählt, woraus sich bis zum Schluss eine andere Nummerierung ergibt. Mehrfach hat ein (späterer) Benutzer eine Stelle mit Bleistift am Rand angestrichen und NB (nota bene) dazugeschrieben, was zum Teil ausradiert wurde (während zugehörige Bleistiftunterstreichungen im Text nicht oder nur nachlässig radiert wurden). Bis einschließlich zur 17. Vorlesungsstunde sind unregelmäßige Randnotizen zu finden, die inhaltliche Stichworte aufgreifen, sie stammen nicht von der Hand des Abschreibers. Derlei Benutzungsspuren sind bei der Edition nicht berücksichtigt. Die Einteilung in Absätze entspricht dem Manuskript. Drei Überschriften sind zu finden. Die Angabe der jeweiligen Vorlesungsstunde

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Einleitung der Bandherausgebenden

ist vom Schreiber auf dem Rand notiert (bis auf 1, 2 und 21) und die Stundeneinteilung durch Absätze markiert. Zu Beginn der 31. Vorlesungsstunde findet sich am Rand folgende Abkürzungsliste von der Hand des Schreibers: „s = das e = die r = der s = sie s = sich s = s[e]lbst ese = diese s = aus 1 = ein [korr. aus eine] 1e = eine cht = nicht M = Mensch d = durch f = für d[en] = werden f = auf“. Der nachgeschriebene Text enthält Fehler der unterschiedlichsten Art. Mitunter gewinnt man den Eindruck, der Schreiber habe inhaltlich gar nicht verstanden, was er zu Papier brachte, etwa wenn er „Priesterkatzen“ statt „Priesterkasten“ schrieb. Manche Fehler könnten Hörfehler sein, als hätte einer diktiert und ein anderer geschrieben, beispielsweise: „vermiethen“ statt „vermieden“ oder „pasirt“ statt „basirt“. Andere Fehler sind wohl Abschreibfehler: „Berührung“ statt „Bewährung“, „Empfindlichkeit“ statt „Empfänglichkeit“, „construirt“ statt „constituirt“ und „Gattung“ statt „Geltung“. Mehrere Fehler sind im Text bereits von anderer Hand korrigiert. Möglicherweise hat der Korrigierende noch die Vorlage zur Verfügung gehabt, etwa wenn er inhaltlich korrekt „Herrlichkeit“ in „Fertigkeit“ umänderte. Der philologische Apparat kennzeichnet die editorischen Eingriffe in den Text; er weist auf offensichtliche Schreibfehler hin, arbeitet aber auch in einigen Fällen mit Konjekturen, wo eine stärkere Veränderung des Textes nötig wird. Der Sachapparat bietet an missverständlichen Stellen eine Variante oder einen Zusatz zumeist aus der Platz-Edition (SW), aber auch aus der Göttinger Nachschrift oder aus Diesterwegs

Editorischer Bericht

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„Proben“. Diese ‚fremden‘ Texte ergänzen die Berliner Nachschrift dort, wo sie erklärungsbedürftig, opponierend oder unvollständig ist. Die Sachanmerkungen beschränken sich – im Gegensatz zur inhaltlich ausführlichen Kommentierung in der Studienausgabe der Berliner Nachschrift von 2008 – darauf, hauptsächlich Verweise und Anspielungen nachzuweisen.

5. Gedanken zur Pädagogik im Winter 1820/21 Die Fußnoten, in denen Platz Ausschnitte aus der Vorlesung von 1820/21 heranzog, enthalten die letzten Spuren von jenem „Convolut Zettel, handschriftlich von Schleiermacher“240, von dessen Existenz Platz berichtete. Zwei dünne Hinweise geben Aufschluss darüber, dass er den authentischen Text Schleiermachers in Fußnoten zu dem aus studentischen Ausarbeitungen zusammengestellten ‚eigentlichen‘ Vorlesungstext untergebracht hatte. Die Formulierungen, mit denen Platz die Fußnotentexte einleitete, verraten seinen editorischen Grundsatz, dass nämlich der von ihm aus Nachschriften kompilierte Text als die Vorlesung 1820/21 „selbst“ anzusehen sei241, wohingegen das, was Schleiermacher „eigenhändig auf einem Zettel“ vermerkte, kaum eine ausdrückliche Erwähnung verdiente. Von den 44 in Fußnoten überlieferten Zitaten aus der Vorlesung von 1820/21, die Platz über seinen Band „Erziehungslehre“ von 1849 verstreute, enthalten nur zwei Hinweise auf die von Schleiermachers Hand beschriebenen „Zettel“. Mit allen restlichen Zitaten gab Platz Nachschriften-Text wieder.242 Nur die beiden Zitate, die als Quellenangabe den ausdrücklichen Hinweis auf Schleiermachers eigenhändige Notizzettel enthalten, dürfen als authentische Texte Schleiermachers angesehen werden. Platz hatte also aus dem ihm überlassenen „Convolut Zettel, handschriftlich von Schleiermacher“ zwei Notizen für Fußnoten zu der von ihm in den Vordergrund gerückten Vorlesung von 1826 verwendet. Die restlichen Papiere des von ihm erwähnten „Convoluts“ muss er bei seiner Zusammenstellung der Vorlesung von 1820/21 ein240 241 242

SW III/9, S. IX Ebd., S. 57 Den Nachschriften-Text leitete Platz in seinen Fußnoten mit den Worten ein: „Die Vorlesungen 1820/21 sagen“ (SW III/9, S. 70), oder auch: „Die Vorlesungen von 1820/21 beschließen“ (SW III/9, S. 101).

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Einleitung der Bandherausgebenden

gearbeitet haben, getreu seines Berichtes, dass er jedem der Zettel „seinen Ort angewiesen [habe] an der geeigneten Stelle der Vorlesungen“243, freilich ohne dies zu kennzeichnen. Doch zwei der handgeschriebenen Aufzeichnungen kennzeichnete Platz immerhin und eröffnete damit die Möglichkeit, sie hier als Notizen Schleiermachers zu seiner Vorlesung von 1820/21 zu präsentieren. Die unten auf Seite 541 wiedergegebene Notiz ist in der Platzschen Edition in einer Fußnote innerhalb der Einleitung der Pädagogik-Vorlesung von 1826 abgedruckt und zwar im Zusammenhang mit der Frage nach der Aufgabe der Erziehung unter der Voraussetzung der Gleichheit der Menschen. Seine Fußnote leitete Platz mit den Worten ein: „Die Zettel zu den Vorlesungen 1820/21 enthalten diese Bemerkung, […]“. Er ließ den in diesem KGA-Band unten auf Seite 541 abgedruckten Text folgen, um dann ein weiteres Zitat in derselben Fußnote aus der von ihm zusammengestellten Vorlesung von 1820/21 anzuschließen, das er mit den Worten einleitete: „Die Vorlesungen 1820/21 selbst, […]“. Der an dieser Stelle von Platz angeschlossene Text lautet: „Es verträgt sich diese erste Hypothese überhaupt nicht mit der Einrichtung der menschlichen Gesellschaft; so lange sich die Masse der Menschen diese Differenz gefallen läßt, muß man auch voraussetzen, daß die Ungleichheit eine natürliche Grundlage habe, und nicht auf Willkühr oder äußeren zufälligen Umständen beruhe.“244 Der Wortlaut der „Berliner Nachschrift“ der Vorlesung von 1820/21 ist in der 10. Vorlesungsstunde ähnlich: „Diese Hypothese verträgt sich nicht mit der Einrichtung der menschlichen Gesellschaft, wie sie ist, und solange sich folglich die Masse der Menschen diese Differenz gefallen lässt, muss man bei ihnen ein Gefühl davon voraussetzen, dass diese Ungleichheit im äußeren Leben eine natürliche Grundlage habe.“245 Die zweite, unten auf den Seiten 541–542 wiedergegebene Notiz Schleiermachers ist in der Platzschen Edition in einer Fußnote zu finden, die er seiner Überschrift mit Untertiteln anfügt, wenn er die erste Periode der Erziehung im besonderen Teil der Pädagogik von 1826 ankündigt. Die von Platz gesetzte Überschrift lautet: „Erste Periode der Erziehung. Erziehung des Kindes rein innerhalb der Familie. Einleitung. Grenzpunkt. Verhältniß zur zweiten Periode. Form. Eintheilung.“246 243 244 245 246

SW III/9, S. IX Ebd., S. 57 Berliner Nachschrift der Vorlesung 1820/21, unten S. 373 SW III/9, S. 258

Editorischer Bericht

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Seine Fußnote zu dieser Überschrift leitete Platz mit den Worten ein: „Vorles. 1820/21. Eigenhändig von Schleierm. auf einem Zettel: […]“247. Der in dem hier vorgelegten KGA-Band auf den Seiten 541– 542 abgedruckte Text ist in der Platzschen Fußnote auf den Seiten 258–260 zu finden. Alle späteren von Platz veranstalteten Ausgaben von Schleiermachers Pädagogik-Vorlesungen (1871, 1876 und 1902) behielten die Fußnoten bei. Während weder Weniger/Schulze (1957 und 1983/84) noch Lichtenstein (1959) die Fußnotentexte übernahmen, bewahrten Winkler/Brachmann (2000) diese vollständig in einem „Anhang zur Vorlesung 1820/21“. Die Studienausgabe der Berliner Nachschrift der Vorlesung von 1820/21 gab die hier in den Haupttext aufgenommene zweite Notiz Schleiermachers in einer Anmerkung zur 36. und 37. Vorlesungsstunde wieder.248 In der Edition der „Erziehungslehre“ von Platz begleiten die auseinander gerissenen Passagen aus der Vorlesung von 1820/21, die er in Fußnoten unterbrachte, im Wesentlichen die von ihm in den Mittelpunkt gerückte letzte Pädagogik-Vorlesung aus dem Sommersemester 1826. Die Fußnotentexte dienen der inhaltlichen Ergänzung, mitunter auch der Kommentierung des von Platz gleichsam als Hauptvorlesung betrachteten Kollegs von 1826. Zugleich hat diese zerrissene Überlieferung von Schleiermachers zweiter Vorlesung in Fußnoten bei Platz eine editorische Bedeutung, da er hier gewissenhaft Textpassagen aufnimmt, die keinen Eingang in seine „Auszüge aus den Vorlesungen im Wintersemester 1820/21“ gefunden haben. Möglicherweise wollte Platz mit seinen Fußnoten weitere Auszüge aus Schleiermachers zweiter Vorlesung erhalten wissen. Weder inhaltliche noch editorische Gründe für eine Überlieferung der Pädagogik-Vorlesung von 1820/21 lediglich in Fußnoten haben Bestand, seit der Vergleich mit den beiden studentische Nachschriften zu dieser Vorlesung möglich ist. Es zeigt sich nun, dass die von Platz in Fußnoten wiedergegebenen Textauszüge inhaltlich nichts (mehr) zu bieten haben, was nicht schon – zum Teil wörtlich – in den Nachschriften formuliert ist. Damit hat sich ein Zwischenschritt in der Publikationsgeschichte der Vorlesung von 1820/21 erübrigt, nämlich die Aneinanderreihung der bei Platz gefundenen Zitate im Anhang der Studienausgabe von Winkler und Brachmann (2000). In dem hier vor247 248

Ebd. Ehrhardt/Virmond (2008), S. 174–175

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Einleitung der Bandherausgebenden

gelegten KGA-Band wird Schleiermachers zweites Pädagogik-Kolleg nicht länger auseinander gerissen präsentiert. Dem Abdruck der Berliner Nachschrift folgen die beiden Notizen Schleiermachers als „Gedanken zur Pädagogik 1820/21“, die sich dank Platzens Kennzeichnung den „Zettel[n], handschriftlich von Schleiermacher“ zuordnen lassen.

6. Vorlesungen über die Pädagogik im Sommer 1826 Der vorliegende Band gibt Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung von 1826 nach der einzigen heute bekannten Höreraufzeichnung wieder. Die Handschrift wird in der Zentralbibliothek Zürich als Depot des Instituts für Hermeneutik der Universität Zürich unter der Signatur Ms Z V 386 aufbewahrt und ist zusammen mit der Nachschrift zur im selben Semester von Schleiermacher gehaltenen Praktischen Theologie nachträglich zusammen in feste Pappe gebunden worden. Auf dem Vorsatzblatt befindet sich ein ovaler Stempelabdruck: J. SPRÜNGLI Pfarrer. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Johann Jakob Sprüngli, der sich am 12.4.1826 unter der Nummer 385 der Jahre 1826/27 in das Matrikelbuch der Berliner Universität mit dem Geburtsort Zürich, der Berliner Adresse Kanonierstraße 7 und dem Beruf des Vaters (Kaufmann) eingetragen hat,249 der Schreiber der vorliegenden Nachschrift. Jakob (oder auch Jacob) Sprüngli250 wurde am 4.11.1801 als drittes Kind von Katharina, geb. Im Thurn, geboren und starb am 6.2.1889. Sein Vater, der Leinwarenhändler Johann Jakob Sprüngli, fiel kurz vor der Geburt seines dritten Kindes im Alter von 30 Jahren einem Unfall zum Opfer, weshalb Jakob zeitweise von nahen Verwandten und später wieder von Mutter und Stiefvater, Amtsrichter Konrad Stutz, erzogen wurde. Neben der häuslichen Bildung besuchte er die Bürgerschule (1810–12), das Institut Hardmeier und Schoch (1813–15) und die Lateinschule (bis 1818). Es folgten die Lehrjahre am Collegium humanitatis (1819–20), in denen er sich vor allem der Philologie, Philosophie und Theologie zuwandte. Er studierte in Zürich Theologie und wurde am 13.3.1826 – also noch vor seinem Berli249 250

Vgl. Wernicke (1826) und Bahl/Ribbe (2010), S. 319 Die folgenden Angaben zur Person Sprünglis stammen aus: Schollenberger, Hermann: Sängerpfarrer Jakob Sprüngli, 1801–1889. Ein Lebensbild, Zürich 1922

Editorischer Bericht

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ner Aufenthalt – ordiniert. Danach ging er auf eine Bildungsreise durch Europa, die ihn nach Berlin, Bonn, Paris und Genf führte und war dann ab 1829 als Pfarrer in Schlieren (bei Zürich), später von 1835 bis 1879 in Thalwil tätig. Selbst Vater zweier Töchter beschäftigte sich Sprüngli mit Erziehungs- und Bildungsfragen und gründete eine private Knabensekundarschule in Schlieren. Sein besonderes Interesse galt der Pflege und Reform des öffentlichen Schul-, mehr noch des Gesangswesens, wodurch er auch ins Historisch-biographische Musikerlexikon der Schweiz251 aufgenommen wurde. Er hielt sich zwei Semester in Berlin auf (vom 12.4.1826 bis zum 17.4.1827) und hörte vier Vorlesungen Schleiermachers. Im Sommersemester: Pädagogik und Praktische Theologie, im Wintersemester: Christliche Sitte und Hermeneutik252. Sprünglis Interesse an Schleiermachers Vorlesungen ist deutlich. Ob er in seiner Berliner Zeit weitere Kollegs hörte, ist nicht nachzuweisen. Vermutlich musste er, da er sein Studium bereits abgeschlossen hatte und schon ordiniert war, an der Berliner Universität keine Examen ablegen, sondern hörte die Vorträge, um sich weiterzubilden. Dass kein Prüfungsdruck auf ihm lastete, scheint ihn nicht davon abgehalten zu haben, sorgfältig mitzuschreiben. Lediglich die Tatsache, dass das Manuskript einige Seiten vor dem Ende abbricht, könnte – sind die Bögen nicht verloren gegangen – ein Indiz für ein nachlassendes Interesse sein, welches im Text selber nicht zu spüren ist. Die gut erhaltene Handschrift besteht aus 8 Bögen mit je 8 Blatt und 16 Seiten und einem zusätzlichen Deckblatt im Format 19 mal 27,7 cm. Folglich existieren 128 beidseitig beschriebene Seiten. Während diese nicht paginiert sind, befindet sich eine Nummerierung von insgesamt 7 Eintragungen (eine fehlt) auf den Vorderseiten der jeweils neuen Bögen. Zählt man die Seiten durch, erscheint diese auf den Seiten 3 („Pädagogik Pr. Schleierm.“), 17 („Pädagogik. 2.“), 33 („Pädagogik 3.“), 49 („4“), 65 („Pädagogik 5“), die Nummerierung 6 auf Seite 81 fehlt, 97 („Pädag. 7“), 113 („Pädag. 8“). Das Papier hat einen gelblichen Farbton, die Seitenränder sind leicht bräunlich 251 252

Refardt, Edgar: Historisch-biographisches Musikerlexikon der Schweiz, Leipzig 1829, S. 295 Alle Aufzeichnungen werden in der Zentralbibliothek Zürich als Depot des Instituts für Hermeneutik der Universität Zürich aufbewahrt: Theologia moralis, vorgetragen von Prof. Schleiermacher, (Ms Z V 385, 219 Seiten) Wintersemest, 1826– 27; Hermeneutices et critices praecepta, vorgetragen von Prof. Schleiermacher, (Ms Z V 384, 206 Seiten) Wintersemest, 1826–27

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Einleitung der Bandherausgebenden

verfärbt. Auf dem Rücken des festen Pappeinbandes des Heftes befindet sich ein Etikett mit dem handschriftlich eingetragenen Titel „Schleiermacher: Pädagogik / Pract. Theol.“. Während der Text fortlaufend geschrieben und mit vielen Einfügungen und Marginalien derselben Handschrift versehen ist, finden sich insgesamt fünf Überschriften: „Einleitung“, S. 3; „Erste Periode“, S. 56; „II. Abschnitt I. Periode“, S. 65; „Zweyte Periode“, S 77; „Dritte Periode“, S. 126. Der Schreiber hat keine Stundenmarkierungen vorgenommen. Die einzelnen Stunden lassen sich anhand des Schriftbildes oder Tintenverlaufes nicht eindeutig markieren. Das Manuskript bricht vorzeitig ab. Der Schluss der Vorlesung wird nach der von Carl Platz edierten Version der Pädagogik in den Sämmtlichen Werken (SW III/9) geboten und setzt mit dem Übergang zur dritten Periode ein. Die Aufzeichnungen von Jakob Sprüngli (vgl. Faksimile, unten S. 544) sind schwer zu entziffern. Das Manuskript weist ein sehr kleines, flüchtiges Schriftbild auf und wurde offenbar mehrfach korrigiert und mit zahlreichen Einfügungen und Anmerkungen zwischen den Zeilen und an den Rändern von der Hand des gleichen Schreibers versehen. Darüber hinaus entwickelte der Schreiber eine Vielzahl von Abkürzungen und Zeichen, die im vorliegenden Druck kursiv aufgelöst werden. Trotz der Überarbeitungen enthält der Text viele wiederkehrende orthographische Fehler, syntaktische Ungenauigkeiten, Wortwiederholungen sowie Auslassungen, insbesondere von Hilfsverben und Artikeln, aber auch von dem Hörer entgangenen Begriffen. Vereinzelt kommt es zu Verständnisschwierigkeiten dadurch, dass die Reihenfolge der Wörter im Satz verstellt wurde, Satzzeichen fehlen oder auch sinnvolle Ausdrücke gestrichen und in unwahrscheinliche geändert wurden. Der Schreiber verwendet folgende Abkürzungen: Kürzel

Auflösung nicht und undc – etc daraus folgt einander über, übrig unter für auf mit

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0 1 2 3 4

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aus durch Gegensatz gleich Mensch, Menschen selbst, Selbst Null, nichts ein, eins, eine, einer, einen, erst zwey, zweyer, zweyen drey, dreyer vier

Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei dem vorliegenden Manuskript um eine Mitschrift, die nachträglich überarbeitet wurde. Fest steht, dass das disharmonische Erscheinungsbild der Aufzeichnungen Sprünglis mehrfache Revisionen nahelegt und dass das Manuskript in formeller Hinsicht roh, kryptisch und sprunghaft erscheint und in inhaltlicher Sicht eine anstrengende Denkleistung verlangt. Der Text bedarf daher einer geeigneten Behandlung. Offensichtliche Schreibfehler wurden korrigiert und Konjekturen durchgeführt, die eindeutig und sinnvoll sind. Fehlende Wörter, vor allem Hilfsverben oder Artikel, die der Leser unwillkürlich bei der Lektüre mitdenkt, wurden nicht eingefügt, um den teilweise stichpunktartigen Charakter des Textes zu erhalten. In eindeutigen und für das Verständnis notwendigen Fällen wurden so wenig Einfügungen wie möglich, aber so viele wie nötig, kursiv und in eckigen Klammern gedruckt, vorgenommen. Die Faszination des Textes besteht in seiner Offenheit. Der Leser erhält die Möglichkeit zu verstehen, aber gleichzeitig auch jenseits des tradierten Verständnisses zu deuten. Im Sachapparat wird an unverständlichen Stellen mit Textvergleichen aus den SW, stellenweise mit dem Vermerk „Zusatz“ versehen, gearbeitet. So fließt der Platztext dort, und nur dort ein, wo eine Aussage Sprünglis erklärungsbedürftig, opponierend oder unvollständig ist. Dass Carl Platz die Vorlesung von 1826 ins Zentrum seiner Ausgabe stellte und damit maßgeblich die Rezeptionsgeschichte bestimmte, wurde schon beschrieben. Interessant ist, dass nahezu alle weiteren Ausgaben der Erziehungslehre – freilich auch in Ermangelung der Materialien, die Platz zur Verfügung standen, und aufgrund des Fehlens weiterer Textzeugen – dem Platzschen Vorbild folgten und dem letzten Kolleg die größte Bedeutung beimaßen und somit auch der Quelle aus den SW Glaubwürdigkeit schenkten. Gleichzeitig jedoch wurde der Text nach den auf Platz zurückgehenden Auflagen

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Einleitung der Bandherausgebenden

von 1849, 1871, 1876, 1902 und 1968 wiederholt bis 2000 nur gekürzt abgedruckt. Eine Ausnahme bilden hier Weniger und Schulze253, die sich 1957, 1966 und 1983/84 für eine komplette Wiedergabe des Kollegs von 1826 entschieden. Mit dem vollständigen, zudem chronologischen Erscheinen der pädagogischen Texte Schleiermachers in der Studienausgabe254, wo die Vorlesung von 1826 an letzter Stelle steht, wird die Genese der pädagogischen Gedanken betont und die Rezeptionsgeschichte gleichsam umgekehrt. In den weiteren Textausgaben der Schleiermacherschen Pädagogik steht die Vorlesung von 1826, beruhend auf dem von Platz edierten Text, immer maßgebend im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, während die Vorlesungen aus den anderen Jahren zumeist gar nicht oder nur gekürzt wiedergegeben wurden. Dennoch entschieden sich alle Editoren dafür, auch den Leittext nur in Auszügen oder gar paraphrasiert zu bieten. Dies gilt für Keferstein 1887, 1889, und 1902255 und Braun und Bauer 1910, 1911, 1927, 1967 und 1981256. Ebenso verfuhren Wickert 1912257, Barckhausen 1914 und 1920258, Corali und Dinkler 1927259 sowie „Die Volksschule“ 1947260. Auch Lichtenstein legte 1959, 1964 und 1983261 eine gekürzte Präsentation der Vorlesung von 1826 vor, ebenso wie Schuffenhauer 1965262 und Friebel 1965263. *** 253 254 255 256

257 258 259 260 261 262 263

Weniger/Schulze (1957), (1966), (1983/84) Winkler/Brachmann (2000) Schleiermacher, Friedrich: Schleiermacher als Pädagog [= Keferstein], ed. H. Keferstein, Jena 1887, 2. Aufl., 1889, Leipzig 1902 Schleiermacher, Friedrich: Werke. Auswahl in vier Bänden [= Braun/Bauer], edd. O. Braun/J. Bauer, hier Bd. 3, Leipzig 1910, 1911, 2. Aufl., Aalen 1927, 1967 [Neudruck der 2. Auflage], 2. Aufl., 1981 Schleiermacher, Friedrich: Friedrich Schleiermacher, ed. R. Wickert, Langensalza 1912 (Greßlers Klassiker der Pädagogik, Band 28) Kant und Schleiermacher als Pädagogen. Eine Auswahl aus ihren Schriften, ed. H. Barckhausen, in: Pädagogische Schriftsteller, Bd. 17, Bielefeld 1914, 2. Aufl., 1920 Fichte und Schleiermacher, edd. M. Corali/R. Dinkler, in: Quellen zur Geschichte der Erziehung, Bd. 11, Leipzig/München 1927 Schleiermacher, Friedrich: Die Volksschule. Abdruck aus Schleiermachers pädagogischen Schriften, Hamburg 1947 Lichtenstein (1959), (1964), (1983) Schleiermacher, Friedrich: Ausgewählte Pädagogische Vorlesungen und Schriften, ed. H. Schuffenhauer, Berlin 1965 Schleiermacher, Friedrich: Gedanken zu einer Theorie der Erziehung, in: Grundlagen und Grundfragen der Erziehung 19, ed. H. Friebel, Heidelberg 1965

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Dieser KGA-Band II/12 ist in Kooperation zwischen Jena (Dorothea Meier, Jens Beljan, Michael Winkler) und Berlin (Christiane Ehrhardt, Wolfgang Virmond) entstanden. Die Vorlesungen von 1813/14 und 1826 verantworten das Jenaer Team. Christiane Ehrhardt und Wolfgang Virmond erarbeiteten die textkritische Fassung von Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung 1820/21. Christiane Ehrhardt edierte die Voten zum öffentlichen Unterricht. Dass die amtlichen Schriften zum öffentlichen Unterricht den vorliegenden Band eröffnen, ist das Ergebnis eines längeren Prozesses. Am Anfang stand die Faszination angesichts der Aktualität der zweihundert Jahre alten konzeptionellen Entwürfe Schleiermachers zum Religionsunterricht in der Schule. Die Sichtung der dazugehörigen vollkommen unversehrten Manuskripte im Berliner Staatsarchiv zeigte die lebendige dialogische Arbeitsweise Schleiermachers, wie er die Vorgänge in der Wissenschaftlichen Deputation strukturierte, Impulse setzte, Arbeitsfragen zur schriftlichen Stellungnahme in Umlauf brachte („Soll in den Lehrplan für gelehrte Schulen ein eigner Religionsunterricht aufgenommen werden oder nicht?“), selbst mit eigenem Gutachten antwortete, über den Austausch aller Antworten wachte, die mündliche Erörterung der Ergebnisse protokollieren ließ, Gegenstellungnahmen erlaubte, schließlich mit dem „Allgemeine[n] Entwurf zu Religionsunterricht auf gelehrten Schulen“ ein zusammenfassendes Gutachten erstellte, das am Ende in den Lehrplanentwurf von 1810 eingearbeitet wurde, der hier zum ersten Mal veröffentlicht wird. Wo und in welcher Form können solche Texte in der Kritischen Gesamtausgabe ihren Platz finden? Die Frage, ob ihnen überhaupt ein Platz gebührt, stand in den Herausgeberkonferenzen ab 2008 zur Debatte. Auf der Grundlage der in die Konferenzen wiederholt eingebrachten detaillierten Auflistungen der Archivfunde zur preußischen Schulreform und Papieren zu deren thematischer Gliederung wurde über die Jahre um die Bedeutung von Schleiermachers „Amtlichen Schriften“ gerungen. Weitere amtliche Betätigungsfelder gerieten in den Blick (u. a. Dreifaltigkeitsgemeinde, Einrichtung der Universität, Akademie der Wissenschaften). Die Idee zur Eröffnung einer eigenen Abteilung mit dem Amtlichen Schriftwechsel innerhalb der KGA wurde verworfen. Eine Einbeziehung dieser Komplexe in die laufende Briefedition schien ebenfalls nicht sinnvoll. Gab es doch in Schleiermachers vielfältigen amtlichen Tätigkeiten zahlreiche Texte, deren Erfassung nach Gattungen genauer zu prüfen

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Einleitung der Bandherausgebenden

war. Im Zusammenhang mit der preußischen Erziehungsreform galt es, Protokolle, Berichte (z. B. Jahresbericht, Visitationsberichte), Arbeitsaufträge (inhaltliche Aufgabenstellungen, methodische Vorgaben, Gestaltung der Arbeitsweise), inhaltliche Voten (Schwerpunkt: Sachfragen), konzeptionelle Entwürfe (Schwerpunkt: Strukturfragen), Gutachten, Rundschreiben, redaktionelle Bemerkungen, Prüfungsaufgaben, Zeugnismuster, Zeugnistexte, Programmschriften, Entwürfe für Zeitungsannoncen, Rezensionen, Anordnungen, Verordnungen und Richtlinien (Grundlagen für Gesetzestexte) und Briefe zu entdecken. Wegweisend waren endlich die augenfälligen Bezüge der gesichteten amtlichen Texte zu anderen Teilen von Schleiermachers Werk. So ergaben sich im Kontext der Schulreform Verbindungen zu bestimmten Vorlesungen (z. B. zur Pädagogik, philosophischen Ethik, Praktischen Theologie, Psychologie) – und zwar wechselseitige Verbindungen. Schleiermachers Konzeption von Schule, die er für die Sektion des Unterrichts entwarf, ist in seinen Vorlesungen wiederzufinden und zugleich stützt er sich bei seinen Gutachten auf bestimmte Überlegungen, die er an anderer Stelle angestellt hat. Die gesichteten Texte gaben Aufschluss über Schleiermachers Erziehungsbegriff und zeigten seinen Einfluss auf die Etablierung einer öffentlichen, allgemeinen Bildung. Es wurde deutlich, dass Schleiermachers Engagement für die preußische Schulreform seine Theorie der Erziehung prägte, die er ab dem Wintersemester 1813/14 an der Berliner Universität vortrug. Von der Wechselwirkung der amtlichen Schriften mit dem übrigen Werk bei Schleiermacher ist Günter Meckenstock überzeugt; ihm sei für seine enge Begleitung der amtlichen Schriften zum öffentlichen Unterricht über zehn Jahre gedankt. Aus einem ersten Treffen Anfang des Jahres 2011 mit Michael Winkler und Dorothea Meier, die in Jena an der Herausgabe von Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung 1826 arbeiteten (ab 2012 mit Jens Beljan) und Christiane Ehrhardt und Wolfgang Virmond, die in Berlin das Kolleg von 1820/21 kritisch aufbereiteten, erwuchs die Zusammenarbeit für den KGA-Band II/12, die zu der Einsicht führte, dass die amtlichen Schriften zur preußischen Erziehungsreform in denselben Band mit Schleiermachers Vorlesungen zur Theorie der Erziehung gehörten. Die Herausgeberkonferenz bestätigte 2013 in Kiel diese Konzeption, beschloss im Hinblick auf den Bandaufbau die chronologische Reihenfolge und nahm den Vorschlag auf, die amtlichen Texte als „Voten“ zu titulieren. Der Bandtitel „Vorlesungen über

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die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht“ wurde 2016 festgelegt. Die Jenaer Arbeitsgruppe, der für den Zeitraum eines Jahres auch Mari Mielityinen-Pachmann angehörte, wurde in mehreren Projektphasen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Das Personenregister erstellte Henning Kläfker. Er führte auch förderliche Korrekturen durch. Simon Gerber half gerne bei Entzifferungsfragen. Oliver Hahn nahm an drei Manuskripten Schleiermachers zum öffentlichen Unterricht eine Röntgenfluoreszenzanalyse vor (Anhang, S. 889–894). Günter Meckenstock investierte viel Zeit und Mühe, dem Band in der Korrekturphase durch hilfreiche Hinweise und Anregungen seine endgültige Gestalt zu verleihen. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank! Jena und Berlin im Juni 2017, Jens Beljan, Christiane Ehrhardt, Dorothea Meier, Wolfgang Virmond, Michael Winkler

Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht (1810–1814)

Die Abbildung zeigt die erste Seite von Schleiermachers Jahresbericht über seine Tätigkeit in der Wissenschaftlichen Deputation 1810 (GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 2, Bl. 2r), unten S. 212, 1–10 und S. 213, 1–15

Nr. 1 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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18. Februar 1810 Friedrich Schleiermacher Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. X, Nr. 11, Bl. 77r KGA V/11, S. 370 Vermerk von fremder Hand oben auf dem Blatt: „pr. 18. Febr. 1810“ und unter dem Datum: „Zu den Acten“, darunter das Namenskürzel Wilhelm von Humboldts: „H“ und: „Süvern. 23.“

Einer Hochlöblichen Section für den öffentlichen Unterricht im Ministerio des Inneren verfehle ich nicht auf Deren geehrtestes Schreiben vom 12t. dieses [Monats] meine Erklärung dahin abzugeben, daß ich es mir zur Ehre rechne die mir angetragene Stelle in der mit der Section verbundenen wissenschaftlichen Deputation für das laufende Jahr anzunehmen in der Hofnung daß es auch mir gelingen wird in Verbindung mit den andern ernannten und noch zu ernennenden treflichen Männern für die wichtigen Zwekke dieses Instituts nüzlich mitzuwirken, und daß ich daher den näheren Befehlen Einer Hochlöblichen Section entgegensehe. Berlin d. 18t. Febr. 1810. Schleiermacher

2–3 Vgl. Anhang, unten S. 4–5

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Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht

Anhang zu Nr. 1 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

12. Februar 1810 Johann Wilhelm Süvern, Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht Georg Ludwig Spalding, Johann Georg Tralles, Friedrich Schleiermacher GStA PK, I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. X, Nr. 11, Bl. 73r–74r; Entwurf zu amtlichen Schreiben, von Wilhelm von Humboldt und Süvern unterzeichnet Keine Am Ende des Briefentwurfs (Bl. 74r) ist zwischen dem Datum und der Absenderangabe eingefügt: „Ebenso mit den nöthigen Veränderungen an den Professor Tralles und an den Prof. Schleiermacher.“

An Herrn Professor Spalding Wohlgeboren hieselbst. 73r

73v

Durch die königliche Verordnung vom 16ten December 1808 über die veränderte Einrichtung der Verwaltungs-Behörden ist bestimmt, daß unter unmittelbarer Aufsicht der Section des öffentlichen Unterrichts eine wissenschaftliche Deputation errichtet werden soll, deren Geschäfte in Prüfungen erst angehender oder wirklich anzustellender Lehrer, in Bearbeitung von Unterrichts-|Plänen, in Revisionen von Lehr- und Erziehungs-Anstalten, in Ausrichtung anderer mit dem gelehrten Unterrichtswesen in Verbindung stehender Aufträge der Section des öffentlichen Unterrichts auch in freiwilligen Vorschlägen zur Verbesserung desselben bestehen werden. Sie wird hier in Berlin ihren Hauptsitz, außerdem aber in Königsberg und Breslau besondere, mit der Section des öffentlichen Unterrichts in directer Beziehung stehende Abtheilungen haben. Jede dieser Abtheilungen wird einen Director und sechs ordentliche, mehrere außerordentliche und correspondi4 unter unmittelbarer Aufsicht] mit Einfügungszeichen über )mit* 2 Vgl. Gesetz-Sammlung, S. 366: „Sie [die einzurichtende Wissenschaftliche Deputation] tritt an die Stelle des Oberschul-Kollegiums und hat zum Zweck, für den öffentlichen Unterricht zu leisten, was die technischen Deputationen für andere Zweige der Staatsverwaltungen leisten sollen. Die vorzüglichsten Männer in allen Fächern, welche auf den öffentlichen Unterricht Einfluß haben, werden zu Mitgliedern der Deputation erwählt, selbst wenn sie abwesend sind. Sie ist Examinationsbehörde für höhere Schulbediente. Ihre übrige Einrichtung wird durch eine besondere Verordnung bestimmt werden.“

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rende Mitglieder haben. Die Functionen des Directors und der ordentlichen Mitglieder dauern immer ein Jahr lang, können aber aufs nächste Jahr verlängert werden. Für jedes ordentliche Mitglied ist eine jährliche Remuneration von 400 rth bestimmt. Die Verfassung der Deputation wird die vollkommenste Selbständigkeit jedes Mitgliedes darin finden, die Beschlüsse werden nach Mehrheit der Stimmen gefaßt werden, und der Director wird die Vertheilung der Arbeiten und die Leitung der Deliberation besorgen. Die Oberaufsicht über den ganzen Geschäftsgang wird der Chef der | Section des öffentlichen Unterrichts führen, der auch den Sitzungen derselben, so oft es seine Geschäfte erlauben, beiwohnt. Außerdem ist die Deputation mit der Section des öffentlichen Unterrichts durch ihren Director vermittelt welcher Sitz und Stimme auf die Zeit seiner Amtsführung in der letzteren hat, und kann auch zu gemeinschaftlichen Berathschlagungen mit derselben vereinigt werden. Die ersten von Sr. Majestät auf den Vorschlag der Section des öffentlichen Unterrichts für das Jahr 1810-11 ernannten ordentlichen Mitglieder der wissenschaftlichen Deputation in Berlin sind der Geh. Rath Wolf als Director und außer Ew. Wohlgeboren die Professoren Schleiermacher und Tralles. Die Besetzung der übrigen noch offenen Stellen wird in Kurzem erfolgen. Es ist der Section des öffentlichen Unterrichts außerordentlich angenehm, Ew. Wohlgeboren dies anzeigen zu können, indem sie Ihrer Bereitwilligkeit, zu einem so großen Zwecke als Förderung und Verbesserung des Unterrichtswesens im Preußischen Staate ist in der wissenschaftlichen Deputation mitzuwirken, sich versichert hält. So bald sie Ihre Erklärung hierüber erhalten hat, wird sie eilen, die Deputation in Thätigkeit zu setzen und die ausführliche Instruction über die Bestimmung und die Einrichtung derselben erlassen. Berlin d. 12. Febr. 1810 Die Section des öffentlichen Unterrichts. Humboldt. Süvern 12.

1 des Directors und] mit Einfügungszeichen über der Zeile 13–14 welcher Sitz und Stimme auf die Zeit seiner Amtsführung in der letzteren hat,] am Rand 17 ordentlichen] davor )Mit* 20 Schleiermacher und Tralles] Am Rand: Spalding und Tralles, Spalding und Schleiermacher.

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Nr. 2 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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26. März 1810 Wilhelm von Humboldt, Leiter der Sektion für den öffentlichen Unterricht, Ministerium des Inneren Friedrich Schleiermacher GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Bl. 2r–2v; amtlicher Brief (Schreiberhand) mit Wilhelm von Humboldts eigenhändiger Unterschrift KGA V/11, S. 377–378 Notiz Schleiermachers oben auf der ersten Seite (Bl. 2r): „praes. d. 27t. Schl.“. Der Entwurf zu diesem Brief ist erhalten: GStA PK, I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. X, Nr. 11, Bl. 122r

Da der Geheime Rath Wolf durch seine Gesundheits-Umstände verhindert wird, die Direction der hiesigen wissenschaftlichen Deputation zu verwalten, so fordert die Section des öffentlichen Unterrichts Ew. Hochwürden auf, die Geschäfte derselben interimistisch wahrzunehmen. Sie übersendet Ihnen deswegen in der Anlage die vorläufige Instruction für die wissenschaftliche Deputation, um sie den übrigen Herrn Mitgliedern derselben, bekannt zu machen, und den in ihr enthaltenen Bestimmungen gemäs die Zusammenkünfte und Arbeiten der Deputation zu eröfnen. Da der unterzeichnete SectionsChef sich ein Vergnügen daraus machen wird, den Zusammenkünften der Deputation, so oft es seine Zeit erlaubt, beizuwohnen, so schlägt er Ewr. Hochwürden vor, zu denselben den Montag Nachmittag um 4 Uhr zu wählen, wird sich indeß gern über einen andern Tag vereinigen, wenn der Montag Ew. Hochwürden oder den andern Mitgliedern der Deputation nicht genehm sein sollte. Der VersammlungsOrt wird das SessionsZimmer der Section im UniversitätsGebäude sein. Die unterzeichnete | Section ladet nunmehr Ew. Hochwürden und die wissenschaftliche Deputation dringend ein, sich mit Eifer Ihren Geschäften zu unterziehen, und freuet sich im Voraus, in Ihnen und in der übrigen 5–6 Die vorläufige Instruktion fehlt in der Akte; ein diesbezüglicher Vermerk auf einem kleinen Notizzettel lautet: „Nota [.] Die hier fehlende Instruction des p Depart. für die hiesige wissenschaftliche Deputation, v. 25. Febr. 1810 ist dem H. Prof. Spalding unter dem 14. Jan. 11 auf dessen Verlangen zugefertigt worden. B.“, GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Bl. 1r. Der Text der vorläufigen Instruktion wird im Anhang zu diesem amtlichen Brief geboten. Vgl. unten S. 8–17

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Deputation eine kräftige Mitwirkung in ihrer Tätigkeit zu finden. Sie wird sich beeifern der Deputation bald Aufträge zu geben, die wesentlich in das Innere des Schulwesens eingreifen und sieht mit Vergnügen auch unaufgefordert erfolgenden Vorschlägen dieser Art von Seiten der Deputation entgegen. Berlin, den 26. Maerz 1810. Section im Ministerio des Innern für den öffentlichen Unterricht. Humboldt. An den Herrn Professor D. Schleiermacher Hochwürden

4 Vorschlägen] Vorschläge

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Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht

Anhang zu Nr. 2 Datum: Autoren: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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25. Februar 1810 Wilhelm von Humboldt, Johann Wilhelm Süvern, Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. X, Nr. 11, Bl. 103r–111r; amtliches Schreiben mit Wilhelm von Humboldts eigenhändiger Unterschrift Keine Unter dem Text (Bl. 110r) ist notiert: „Ebenso an die wissenschaftlichen Deputationen zu Königsberg in Preußen und in Breslau“; es folgen Entwürfe für Anschreiben nach Königsberg (Bl. 110r–110v), Potsdam (Bl. 110v), Breslau (Bl. 110v, 111r). Erst unter den letzten Briefentwurf (Bl. 111r) setzt Wilhelm von Humboldt seine Unterschrift für den Vorgang. Die meisten Korrekturen und Einfügungen am Rand stammen von Süverns Hand; er hat auf Bl. 111r, neben Humboldts Unterschrift, ebenfalls unterzeichnet: „Süvern 11.“. Humboldts eigenhändige Notiz vom 15. März ist auf dem Rand von Bl. 103r zu finden: „Das Mundum für die hiesige Deputation ist zuerst anzufertigen, und sobald es fertig ist, mir sogleich zur Unterschrift vorzulegen. 15. März, 1810. H“. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Historische Einführung, oben S. XXXXVII

An die wissenschaftliche Deputation zu Berlin. Die Sektion des öffentlichen Unterrichts hat sich zwar vorbehalten, der jetzt hier in Berlin konstituirten wissenschaftlichen Deputation noch eine nähere Instruktion zu ertheilen. Da aber, um solche abzufassen, erst die Resultate hinlänglicher Erfahrung abgewartet werden müssen, so findet die unterzeichnete Sektion es nöthig, über die Verfassung, Geschäfte und Verhältnisse der gedachten Deputation vorläufig folgendes festzusetzen: Die wissenschaftlichen Deputationen sind bestimmt, der Sektion des öffentlichen Unterrichts für ihre auf Förderung der Wissenschaft, der Erziehung und des Unterrichts gerichteten Zwecke behülflich zu seyn. 3 hier in Berlin] wohl nachträglich und von anderer Hand unterstrichen und am Rand notiert: in Königsberg, Breslau 6 über die] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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(Sie bestehen aus ordentlichen und außerordentlichen Mitgliedern, und haben jede an ihrer Spitze einen Direktor. Die ordentlichen Mitglieder wohnen allen Sitzungen bei, und verrichten die hauptsächlichsten der vorkommenden Arbeiten. Die außerordentlichen Mitglieder erwarten, um den Sitzungen beizuwohnen, die Einladung des Direktors, und übernehmen nur, wo die ordentlichen Mitglieder nicht zureichen, einzelne Arbeiten.) Außerdem haben die Deputationen auswärtige Korrespondenten, die aber überhaupt innerhalb der Königlichen Staaten, und insonderheit innerhalb desjenigen OberPräsidialDepartements, in welchem die Deputation sich befindet, wohnen müssen. [Die Zahl der ordentlichen Mitglieder ist bestimmt: es sind ihrer sechs außer dem Direktor. Die Zahl der außerordentlichen und der korrespondirenden Mitglieder ist unbestimmt.] Zu ordentlichen Mitgliedern wählt die Sektion ausschließend Männer, die sich den allgemei|nen Wissenschaften, namentlich den philosophischen, historischen und philologischen Studien, der reinen Mathematik und der allgemeinen Naturwissenschaft widmen, und verbindet mit diesen in jeder Deputation einen geübten praktischen Pädagogen. Jedes ordentliche Mitglied ist für eines dieser Fächer bestimmt, kann aber auch, wenn es nicht möglich ist, alle Fächer besonders zu besetzen, einige umfassen. In dem Falle, daß für gewisse Fächer ordentliche Mitglieder fehlen, können zu den Geschäften, welche Kenntniß derselben erfordern, auch außerordentliche zugezogen werden. Die außerordentlichen Mitglieder dienen also sowohl zum Ersatz als auch zur Unterstützung der ordentlichen; der Regel nach wird aber bei ihrer Wahl auf Kenntniß spezieller Fächer gesehen, wofür es unter den ordentlichen Mitgliedern keinen Vertreter geben kan. Um alle, den Zwecken der Sektion nützliche Männer zu vereinigen, auch um den Deputationen Organe für ihre Aufträge an entferntern Orten zu verschaffen, werden korrespondirende Mitglieder ernannt. Sämtliche Mitglieder ernennen Se. Majestät auf den Antrag der Sektion des öffentlichen Unterrichts, die außerordentlichen und korrespondirenden aber werden der Sektion von den Deputationen vorgeschlagen. Hiernach haben also die Deputationen jetzt der Sektion ihre außerordentlichen und korrespondirenden Mitglieder vorzuschlagen, und erstere aus der Stadt, letztere aus dem Oberpräsidialdepartement, worin jede ihren Sitz hat, zu wählen. | (Um die Gelehrten, aus welchen die ordentlichen Mitglieder der Deputationen bestehen, nicht allzulange Zeit ihren rein wissenschaftlichen Studien zu entziehen, werden dieselben allemal nur auf Ein Jahr ernannt, und ebenso übernimmt der Direktor seine Funktion nur auf Ein Jahr. Jedoch können jene sowohl 2 jede] mit Einfügungszeichen über der Zeile

31 Se.] Sr.

39 werden] davor )so*

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als dieser, so lange es gut scheint, in ihren Aemtern bestätigt und gelassen werden. Im Dezember jeden Jahres wird jeder Deputation die von des Königs Majestät bestätigte Liste der ordentlichen Mitglieder für das nächste Jahr von der Sektion zugefertigt. Die austretenden ordentlichen Mitglieder gehen in die Zahl der außerordentlichen über. Die Stellen bei den Deputationen sind mit keinen fixen Besoldungen verbunden. Allein jedes ordentliche Mitglied erhält, so lange es in Thätigkeit ist, zur Entschädigung für die aufzuwendende Zeit eine jährliche Remuneration. Diese besteht bei der Deputation in Berlin, welche von der Sektion zunächst Aufträge erhält und am meisten beschäftigt wird, in Vierhundert Thaler bey den Deputationen in Königsberg und Breslau in zweihundert Thalern für den Direktor und die Mitglieder. Für eine Remuneration der außerordentlichen Mitglieder, welche nach einer jährlich einzureichenden Liste derselben bei den von den Deputationen zu haltenden Prüfungen assistirt haben, wird die Sektion Sorge tragen. Die Arbeiten der Deputationen bestehen in Prüfung neuer Unterrichtsmethoden und Erziehungssysteme, in Entwerfung neuer Einrichtungspläne für wissenschaftliche und Bil|dungsanstalten und Beurtheilung schon vorhandener, in der Auswahl von Lehrbüchern, insofern die Sektion solche vorschreibt oder genehmigt, und in zweckmäßiger Veranstaltung zur Ausarbeitung neuer; in kommissarischer Theilnahme an Revisionen einzelner wissenschaftlicher und pädagogischer Institute, aber auch des Erziehungs- und Unterrichtswesens ganzer Städte oder größerer Distrikte, in der Beurtheilung von Schriften, Vorschlägen und Plänen, welche der Sektion eingeschickt worden, und über welche die Deputationen ihr Urtheil auch dieser wieder vorlegen. Anfragen, Schriften, Pläne u. s. w. welche vielleicht bey den Deputationen selbst aus Unkunde des Geschäftsganges eingegeben werden sollten, beantworten und beurtheilen dieselben nicht unmittelbar, sondern schicken sie der Section des öffentlichen Unterrichts ein, welche bestimmen wird, ob und in welchem Maße Rücksicht darauf zu nehmen ist. Die Deputationen haben eine sorgfältige Aufmerksamkeit auf alle Subjekte sowohl des In- als Auslandes, auf welche die Sektion des öffentlichen Unterrichts bei eintretenden Fällen für ihre Zwecke mit Vortheil reflektiren könnte, oder sie gar in ihre Sphäre zu ziehen nothwendig suchen müßte. Die Deputationen führen genaue Listen über 2 Im] über )Den ersten* 9 bei] mit Einfügungszeichen über der Zeile; korr. aus für die ordentlichen Mitglieder 9–11 , welche … wird,] in getilgten runden Klammern 11–12 bey … zweihundert Thalern] mit Einfügungszeichen am linken Rand 28– 29 selbst] über )unmittelbar* 29–33 Anfragen … ist] nachgetragen am linken Rand 32 welche] über )um zu*

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dieselben mit Bewertung der besonderen Qualifikationen jedes Einzelnen, machen die Sektion denselben gemäß aufmerksam auf Personen, die ihr im Allgemeinen oder in besondern Beziehungen wichtig seyn könnten, ertheilen ihr auf Verlangen die nöthige Auskunft über einzelne Männer, oder legen ihr auch die Listen ganz vor. Die Deputationen prüfen alle diejenigen, welche in den Würkungskreis der Sektion des öffentlichen Unterrichts eintreten wollen, und für die Zwecke derselben an gelehrten Schulanstalten thätig zu seyn | sich vorbereitet haben; nachdem dieselben zu einer solchen Prüfung zugelassen, oder derselben gesetzlich unterworfen werden; ferner diejenigen, welche zu den höhern pädagogischen Aemtern, deren Besetzung der Sektion vorbehalten ist, gelangen wollen; nicht minder die Feldprediger, insofern sie zum Unterricht des Militärs bestimmt sind; und endlich auch andere, zu den untern Schulämtern, die von den Geistlichen und Schuldeputationen der Provinzialregierungen besetzt werden, vorgeschlagenen Subjekte, wenn sie von diesen Behörden darum ersucht werden. Bei entstandenen Zweifeln an der wissenschaftlichen oder praktischen Tüchtigkeit eines oder des andern der im Erziehungs und Unterrichtsfache schon Arbeitenden nehmen die Deputationen kommissarisch an der Untersuchung theil und geben ihr Gutachten ab. Die Veranlassung zu diesen Arbeiten der Deputation geht gewöhnlich von der Sektion des öffentlichen Unterrichts aus. Die Aufträge derselben können von so mannigfaltiger Art seyn, als die Fälle, in welchen sie die Meinung einer Deputation zu vernehmen für gut findet. Die Sektion ist indessen hierin an keine Regel gebunden, sondern richtet sich sowohl in der Häufigkeit als in der Art ihrer Aufträge lediglich nach der Natur der Sache und den jedesmaligen Umständen. Nun ist billigerweise von ihr vorauszusetzen, daß sie auf der einen Seite die Deputationen über keinen wichtigen Gegenstand, der hauptsächlich wissenschaftliche Erwägung und Beurtheilung erfordert, unbefragt lassen; auf der | anderen aber dieselben nicht mit Aufträgen belästigen wird, die mehr für eine Geschäfts- als eine wissenschaftliche Behörde geeignet sind. 2 machen … auf] geändert aus )geben aus selbigen der Section auf Verlangen die nötige Auskunft über die ihr wichtig seyen könnenden* 3–5 die … vor] nachgetragen am linken Rand 3 ihr] folgt )entwe* 9–10 nachdem … werden;] mit Einfügungszeichen am linken Rand 16 sie] über )die wissenschaftliche Deputation* 16 werden] über )wird* 19 nehmen] über )nimmt* 19 Deputationen] korr. aus Deputation 20 geben] über )giebt* 21 Veranlassung] davor )mögliche* 21–22 der … gewöhnlich] mit Einfügungszeichen am linken Rand; korr. aus )kann ausgehen zuerst* 22 aus] mit Einfügungszeichen über der Zeile 24 einer] über )der* 27 nach] folgt )den Umständen und nach den Männern, welche jedesmal die Deputation ausmachen.* 27 der Natur… Umständen.] am linken Rand 29 Deputationen] korr. aus Deputation

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Außerdem aber sind die Deputationen bestimmt, den der Sektion des öffentlichen Unterrichts untergeordneten pädagogischen Provinzialbehörden ihrer resp. Oberpräsidialdepartements, also die wissenschaftliche Deputation in Königsberg den Geistlichen und Schuldeputationen der Ostpreußischen, Westpreußischen und Litthauischen, die in Breslau den Geistlichen und Schuldeputationen der Breslauischen und Liegnitzer Regierung mit ihren Gutachten, oder zu Prüfungen, oder andern der ihnen zukommenden Geschäfte auf jedesmaliges Ersuchen beizustehen. Insofern auch die Geistlichen und Schuldeputationen des Märkisch-Pommerschen Oberpräsidialdepartements in Potsdam, Königsberg n/m und Stargard wünschen sollten, sich in ähnlichen Angelegenheiten an die wissenschaftliche Deputation in Berlin zu wenden, machen sie ihre Anträge deshalb bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts. Es wird einerseits den wissenschaftlichen Deputationen zur Pflicht gemacht, kein von den Regierungen an sie gelangtes Geschäft, das seiner Natur nach ihnen zukommt, abzuweisen und unbeachtet zu lassen, andererseits aber auch den Regierungen, die wissenschaftlichen Deputationen weder bei Sachen ihrer Kompetenz zu übergehen, noch auch mit fremdartigen Geschäften zu behelligen. Beschwerden, welche hierüber etwa entstehen könnten, werden bei der Sektion des | öffentlichen Unterrichts angebracht. Unaufgefordert der Sektion des öffentlichen Unterrichts Verbesserungsvorschläge zu machen, ist den wissenschaftlichen Deputationen unbenommen, und die Sektion wird solche allemal mit Vergnügen aufnehmen. Jedoch versteht es sich von selbst, daß es ihr unbeschränkt zukommt, die allgemeine oder relative Möglichkeit oder Rathsamkeit ihrer Ausführung zu beurtheilen, und über dieselbe zu entscheiden. Gleiche Bewandniß hat es mit allen von den Deputationen vermöge erhaltenen Auftrags abgefassten Plänen und Gutachten. Der Geschäftsgang bei den Deputationen muß so einfach als möglich, und nur in so fern es unvermeidlich ist, einer bestimmten Norm unterworfen seyn. Die Art der Besorgung der einzelnen Arbeiten bleibt deswegen, soweit es irgend geschehen kann, der Bestimmung des Direktors, und bei der Deputation in Berlin der Leitung der Sektion überlassen. Um den Direktor der Deputation in Berlin nicht unnützerweise mit mechanischen Arbeiten zu beschweren, werden alle an die Deputation eingehende Sachen bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts abgegeben, dort erbrochen, und in ein eignes Journal eingetragen, von welchem der Direktor Abschrift erhält, und dann ungesäumt an denselben befördert. 1 die Deputationen] über )sie*

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Die Direktoren der Deputationen beurtheilen aber nach Beschaffenheit der Umstände, welche Sachen sie blos einzelnen Mitgliedern übergeben, und welche sie zum Vortrag bei der ganzen Deputation bringen wollen. Bei den von der Sektion selbst übertragenen | Arbeiten haben sie indessen diese Freiheit nur alsdann, wenn ihnen die Sektion keinen bestimmten Weg vorgezeichnet hat; auch versteht es sich, daß in der Antwort an die Sektion allemal das beobachtete Verfahren angezeigt wird. Schulreformen, Lehrplane, Statuten wissenschaftlicher Anstalten, Beurtheilungen von Unterrichts- und Erziehungsmethoden, Prüfungen allgemeiner Maaßregeln für das gesamte Erziehungsfach, und Vorschläge zu denselben und zu Stellenbesetzungen, so wie überhaupt alle Angelegenheiten, die ihrer Natur nach von mehreren Theilen der Wissenschaft aus betrachtet und erwogen werden können, und wegen ihrer Wichtigkeit eine allgemeine Beurtheilung erfordern, müssen allemal bei der ganzen Deputation zum Vortrag gebracht werden. Die Distribution der Arbeiten unter die einzelnen Mitgliedern geschieht durch den Direktor. Jeder Gegenstand fällt nun zwar von selbst demjenigen ordentlichen Mitgliede, oder, wenn er ein Fach betrifft, wofür es ein solches nicht giebt, demjenigen außerordentlichen Mitgliede zu, für dessen Kompetenz er gehört. Wenn aber ein solches Mitglied auch nicht übergangen werden kan, so hängt es doch allemal von dem Direktor ab, denselben Auftrag auch noch einem andern zu geben, ja er kan auch das Gutachten eines außer der Deputation befindlichen Gelehrten einfordern, ohne jedoch demselben die Arbeit des Mitgliedes der Deputation, im Fall dies nicht ausdrücklich einwilligt, mitzutheilen. | Die Bearbeitung durch einzelne Mitglieder ohne Vortrag in der vollen Deputation ist vorzüglich zur Beurtheilung eingesandter Schriften und solcher Gegenstände geeignet, die nur ein einzelnes Fach der Wissenschaften ausschließlich angehen. Was die erstern betrifft, so versteht es sich von selbst daß ganz unbedeutende gleich vom Direktor mit zwei Worten als solche angedeutet werden können, und daß es überhaupt mit Vermeidung aller Pedanterie und Weitläuftigkeit seiner Beurtheilung anheimgestellt wird, welche Wichtigkeit der Prüfung jeder einzelnen beizulegen ist. Zu Prüfungen angehender Pädagogen oder schon angestellter Lehrer und Erzieher für bestimmte Aemter konkurriren immer nur diejenigen ordentlichen und außerordentlichen Mitglieder, welche der Direktor nach Verschiedenheit der Subjekte und des Zwecks der Prüfungen dazu deputirt. Ueber beide wird aber jedesmal in der Sitzung der Deputation referirt. 18 Mitgliede] mit Einfügungszeichen über der Zeile

20 er] korr. aus es

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In Ansehung der Art, wie diese Prüfungen anzustellen, setzt die Sektion im Allgemeinen nur folgendes fest: Da zwei verschiedene Arten von Prüfungen vorkommen werden, nemlich Prüfungen angehender Pädagogen überhaupt, und würklich anzustellender oder zu befördernder Lehrer, so werden diese in Ansehung des Gesichtspunktes einer jeden so verschieden seyn müssen, daß bei den erstern allgemeine wissenschaftliche und pädagogische Bildung, bei den andern die Qualifikation zu bestimmten Stellen und zum Unterricht in bestimmten Lehrgegen|ständen, in so fern die Stellen ihn etwa mit sich bringen, auszumitteln ist. Prüfungen der erstern Art werden in Ansehung ihrer Gegenstände einen weiteren Umfang nehmen müssen, die der zweiten Art sich nach bestimmten Rücksichten beschränken dürfen. Beiderlei Prüfungen bestehen aus schriftlichen Arbeiten, der mündlichen Prüfung, und Probelektionen. Diese sind aber als Theile Eines Geschäfts in ihrer Beziehung auf einander so zu fassen, daß die schriftlichen Arbeiten theils das Talent der Komposition und des Ausdrucks in der deutschen, lateinischen, und wo es nöthig ist, der französischen Sprache bekunden, theils die Gesichtspunkte für die mündliche Prüfung im voraus den Examinatoren deutlicher bestimmen, die mündliche Prüfung das Hauptmittel zur Erforschung der Anlagen und ihrer Ausbildung sowohl als der Kenntnisse und Einsicht seyn, die Probelektion die Methode der Kandidaten nach verschiedenen hier in Betrachtung kommenden Gesichtspunkten darlegen soll. Daß die letzteren nicht die Richtung auf bloße Nachweisung materieller Kenntnisse nehmen, muß durch sorgfältige Auswahl ihrer Gegenstände und durch die Aufsicht dabei verhütet werden. Wenn die Prüfung eines Direktors oder Rektors für nöthig erachtet wird, so besteht sie nach der an die Geistlichen und Schuldeputationen erlassenen und hier abschriftlich beigehenden Instruktion vom 15ten September a. pr. allein in einer mündlichen Unterredung, welche nicht sowohl | auf besondere Zweige des Wissens, als auf seinen Geist, seine Tiefe, seinen Zusammenhang, auf die Verbindung des pädagogisch-theoretischen und praktischen Charakters in dem Subjekte gerichtet seyn muß. Die einzelnen Prüfungen aufs zweckmäßigste einzurichten, überlässt die Sektion dem Geiste und der Einsicht der Direktoren und Mitglieder der Deputationen und erwartet die größte Unparteilichkeit und Gewissenhaftigkeit von denselben. Gebühren werden aber von keiner Art der Prüfungen entrichtet. Sitzungen werden wöchentlich eine an einem bestimmten Tage gehalten. Jedoch bleibt es dem Direktor vorbehalten, wenn keine hinlängliche Zahl von Geschäften vorhanden ist, die Sitzung abzusagen. 9 die Stellen] über )jene*

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Indessen muß der Direktor der wissenschaftlichen Deputation in Berlin dies allemal zugleich dem Chef der Sektion, der in Königsberg und Breslau aber dem Stellvertreter derselben anzeigen. Auch darf ohne Zustimmung resp. in Berlin des Sektionschefs, oder in den Provinzen der Stellvertreter der Sektion die Sitzung nicht auf einen anderen Tag verlegt werden. Zu jeder Sitzung finden sich alle ordentliche Mitglieder, sie müßten denn gültige dem Direktor jedesmal anzuzeigende Entschuldigungsgründe haben, ein. Ob auch von den außerordentlichen dieser oder jener eingeladen werden soll, bleibt lediglich der Beurtheilung des Direktors überlassen. Dieser kan auch andere nicht | in der Deputation befindliche Gelehrte zu den Sitzungen zuziehen, muß jedoch hiezu vorher die Genehmigung resp. des Sektionschefs oder des Stellvertreters der Sektion nachsuchen. In den Sitzungen führt, auch wenn resp. der Chef der Sektion oder der Stellvertreter der Section selbst zugegen seyn sollte, allein der Direktor das Präsidium. Wird letzterer einer Sitzung beizuwohnen verhindert, so bestimmt der Sektionschef oder der Stellvertreter der Section – da Anciennetät hier nicht statt finden kan – auf seine Anzeige, wer an seiner Stelle präsidiren soll. Die Beschlüsse werden nach der Mehrheit der Stimmen abgefasst, und sogleich von demjenigen, der die Sache bearbeitet hat, aufgesetzt. Mitglieder, welche von der Stimmenmehrheit abweichen, können ihre Gutachten besonders hinzufügen. Wichtige Gegenstände, und deren Bearbeitung eine größere Ausführlichkeit erfordert, läßt der Direktor vor dem mündlichen Vortrage zum schriftlichen Gutachten cirkuliren. Die einzelnen Gutachten bleiben bei den Akten. Alle Ausfertigungen und officielle Schreiben der Deputation unterzeichnet allein der Direktor. Die Deputationen haben kein eignes Subalternenpersonale, sondern die Berliner Deputation bedient sich der Kanzlei- und Registraturbedienten der Sektion, die Königsberger und Breslauer der Subalternen der an ihren Orten befindlichen Regierungen. Die Deputationen stehen unter der aus|schließlichen Leitung der Sektion des öffentlichen Unterrichts. Zur Wahrnehmung dessen, was die ihr zustehende unmittelbare Beaufsichtung und Leitung der Depu4 in Berlin] mit Einfügungszeichen über der Zeile 4 oder … Provinzen] über )und* 5 der Sektion] mit Einfügungszeichen über der Zeile 13 oder] über )und* 13 des] korr. aus der 14 der Sektion] mit Einfügungszeichen über der Zeile 15 resp.] mit Einfügungszeichen über der Zeile 16 oder] über )und* 16 der Section] mit Einfügungszeichen über der Zeile 18 der] mit Einfügungszeichen über der Zeile 18–19 der Section] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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tationen in Königsberg und Breslau mit sich bringt, bevollmächtigt die Sektion den Chef oder Vicepräsidenten der Regierung, welche an dem Sitze dieser Deputationen befindlich ist, für jetzt den Herrn Regierungspräsidenten Wißmann in Königsberg, und den Herrn RegierungsVicepräsidenten Merkel in Breslau, welche besonders dahin zu sehen haben, daß in dem Geschäftsgange der Deputationen keine Schwürigkeit oder Verzögerung entsteht. Sie wohnen den Sitzungen der Deputationen bei, so oft es ihre Zeit erlaubt. Dasselbe thut in Berlin der Chef der Sektion des öffentlichen Unterrichts welcher die Oberaufsicht über den Geschäftsgang der Deputation führt. Er verbindet auch, wenn er es nöthig findet, die ganze Deputation, oder auch einzelne Mitglieder derselben mit der Sektion zu allgemeinen Konferenzen. Um aber auch dem Direktor der HauptDeputation in Berlin das gehörige Ansehen und Gewicht zu verleihen, und beide Behörden in so enge wechselseitige Verbindung als möglich zu setzen, ist der jedesmalige Direktor, so lange seine Funktion dauert, allemal Mitglied der Sektion, wohnt ihren Sitzungen bei, und nimmt an allen ihren Berathschlagungen mit völlig gleichem Recht mit den Staatsräthen, mit welchen er lediglich nach der Anciennetät | rangirt, Theil. Es giebt zwischen der Sektion und der Deputation in Berlin durchaus keinen Schriftwechsel, sondern die Dekrete, Gutachten, Vorschläge pp der einen Behörde werden im Original mit den Akten selbst der andern vorgelegt; es müßten denn Umstände eintreten, welche den Sektionschef hievon in einzelnen Fällen abzugehen veranlasst. Um aber die Kommunikation zwischen den Provinzialdeputationen und der Sektion möglichst abzukürzen, wird die Einrichtung getroffen, daß jede monatlich einen Bericht über die von ihr vollendeten Arbeiten mit kurzer Angabe der Resultate, wo diese möglich ist, an die Sektion einsendet. Das Verhältniß der Deputationen in Berlin, Königsberg und Breslau unter sich ist so beschaffen, daß letztere beide in Hinsicht auf völlige Gleichheit der Bestimmung und der Arbeiten mit ersterer ein Ganzes ausmachen, allein unter der Sektion des öffentlichen Unterrichts stehen, welche mit jeder von ihnen unmittelbar kommunicirt, übrigens voneinander unabhängig sind, sich aber zur Bewahrung der Einheit der Grundsätze so viel möglich in wechselseitige Verbindung setzen, und zu der HauptDeputation in Berlin in ein solches Verhält19 mit] über )Theil, und hat in derselben* 28 jede] korr. aus jene 29 ist,] folgt )und vorzüglich eine Liste der abgehaltenen Prüfungen, letztere mit den darüber aufgenommenen Akten,* 32 so beschaffen] mit Einfügungszeichen über der Zeile; korr. aus dergestalt 33 Bestimmung] korr. aus Bestimmungen 33 Arbeiten] korr. aus Arbeiter 34 allein] über )aber*

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niß treten, daß diese einer jeden von ihnen auch Aufträge ertheilen kan. Das Verhältniß der Deputationen zu dem Pleno der wissenschaftlichen und technischen Deputationen wird erst bei vollendeter Or|ganisation dieses Pleni gehörig bestimmt werden können. Da die Deputationen allein von der Sektion des öffentlichen Unterrichts ressortiren, so versteht es sich von selbst, daß keine andre Staatsbehörde befehlende Verfügungen an dieselben erlassen kan. Nach diesen Bestimmungen wird nun die wissenschaftliche Deputation in Berlin, Königsberg, Breslau angewiesen, ihre Arbeiten anzufangen. Modifikationen in denselben nach Erfordern der Umstände zu treffen, und eine vollständige Instruktion zu entwerfen, behält die unterzeichnete Sektion sich noch in der Folge vor. Berlin den 25tn Februar 1810. Die Sektion des öffentlichen Unterrichts Humboldt

6–7 Da … ressortiren] am linken Rand; darüber )würde das nicht so zu fassen seyn*; korr. aus Da die Deputationen gewißermaßen nur Theil der Sektion des öffentlichen Unterrichts ausmachen 10 Königsberg, Breslau] am linken Rand

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Nr. 3 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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28. März 1810 Friedrich Schleiermacher, interimistischer Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Bl. 3r Keine Unter Schleiermachers Unterschrift ist notiert: „vidi. Ich habe durchaus keine Einwendung gegen den Montag. Bernhardi.“. Darunter: „Vidi. Ich eben so wenig Erman“ und: „vidi, bin völlig einverstanden mit dem gewählten Tage und werde mich am nächsten Montag einfinden. GL Spalding 31 Merz“. Links daneben: „vidi Tralles“. Oben in der rechten Ecke der Seite: „Praes d 29ten Maerz Bernhardi“ und „29 Märtz Erman“

An die Mitglieder der wissenschaftlichen Deputation bei der Section des öffentlichen Unterrichts, die Herren p Bernhardi, Erman, Spalding, Tralles Meine H. Herren Collegen in der wissenschaftlichen Deputation werden aus dem anliegenden Schreiben der Hochlöblichen Section des öffentlichen Unterrichtes ersehen, daß die Deputation nicht die Freude haben kann ihre Zusammenkünfte unter dem Vorsiz ihres Directors des Herrn Geheimen Rath Wolf zu eröfnen. Zufolge des mir deshalb gewordenen interimistischen Auftrages gebe ich mir die Ehre Ihnen in der Anlage die vorläufige Instruction für die wissenschaftliche Deputation zur Einsicht zu communiciren, und ersuche Sie hierunter nebst Ihrem vidi gefälligst zu erklären: ob keiner von Ihnen eine wesentliche Einwendung gegen die von dem Chef der Section in Vorschlag gebrachte Zeit der Zusammenkünfte hat. Wenn sich kein Hinderniß findet, werde ich mir die Ehre geben, Sie auf Montag d. 2t April in das bestimmte Lokal zur ersten Zusammenkunft einzuladen. Berlin d. 28t. Merz 1810 Schleiermacher 4–6 Es handelt sich um das Schreiben Wilhelm von Humboldts an Schleiermacher vom 26. März 1810. (GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Bl. 2r–2v), oben S. 6–7 8–10 Vgl. oben S. 8–17

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Nr. 4 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

31. März 1810 Wilhelm von Humboldt, Leiter der Sektion für den öffentlichen Unterricht, Ministerium des Inneren Friedrich Schleiermacher, interimistischer Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 3r; amtlicher Brief mit Wilhelm von Humboldts eigenhändiger Unterschrift Keine Eigenhändig von Schleiermacher rechts oben in der Ecke: „praes. d 2. April Schl.“

An den Herrn Doctor und Professor Schleiermacher Hochwürden.

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Die Section des öffentlichen Unterrichts beauftragt Ew Hochwürden, als interimistischen Director der wissenschaftlichen Deputation hiedurch, die Prüfung des zum zweiten Oberlehrer am Collegio Friedericiano in Königsberg bestimmten privatisirenden Gelehrten Jahn durch dieselbe zu veranstalten. Der zu Prüfende soll vorzüglich den Unterricht in der Geschichte und deutschen Sprache am Collegio Friedericiano versehn er hat sich in beiden Fächern schon als Schriftsteller gezeigt und bereits einige Monate unter den Augen des Herrn Director Bernhardi am FriedrichsWerderschen Gymnasio unterrichtet. Nach diesen datis wird die Prüfung den in der Instruction für die wissenschaftliche Deputation aufgestellten Grundsätzen gemäß, zu modificiren seyn. Welche Mitglieder der Deputation Sie zu dieser Prüfung nach dem Zwecke derselben zuziehen und wie überhaupt sie einrichten wollen, bleibt Ihnen überlaßen. Die Section wünscht nur, sobald wie möglich das Resultat derselben zu erfahren, indem es ihr darum zu thun ist, daß Herr Jahn, wenn sie anders günstig für ihn ausfällt, auf Ostern das ihm bestimmte Amt antreten könne. Er selbst ist, sich bei Ihnen zu melden schon angewiesen. Berlin den 31. Maerz 1810. Section im Ministerio des Innern für den öffentlichen Unterricht. Humboldt. 10–12 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. X, Nr. 11, Bl. 102–111r, oben S. 11–14

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Nr. 5 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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1. April 1810 Wilhelm von Humboldt, Leiter der Sektion für den öffentlichen Unterricht, Ministerium des Inneren Friedrich Schleiermacher, interimistischer Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Bl. 4r Humboldt: Gesammelte Schriften, Bd. 16, Abt. 4, Bd. 1, S. 262; Spranger (1910), S. 127; KGA V/11, S. 383 Eigenhändig von Schleiermacher unter dem Brief: „zu d Acten Schl.“

An Herrn Prediger und Professor Schleiermacher, Hochwürden. Ich freue mich sehr Ihrer Thätigkeit, Qmein LieberR und weiß für den Augenblik nichts hinzuzufügen. Zu den außerordentlichen Mitgliedern bringen Sie wohl nun die Fächer, die uns weniger betreffen, Mineralogie, Botanik u. s. f. in Vorschlag. Neue Geschichte fehlt Ihnen. Glauben Sie dafür Woltmann (nicht den Residenten) gut; so habe ich nichts dagegen. 1. April, 1810. Humboldt.

6 Gemeint ist der Historiker Johann Gottfried Woltmann (1778–1822).

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Nr. 6 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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3. April 1810 Friedrich Schleiermacher, interimistischer Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Johann Gottfried Woltmann GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 5r–5v Keine Eigenhändig von Schleiermacher in der Mitte des linken Randes von Seite 5r: „Decr. das Mundum schleunigst zur Unterschrift wieder vorzulegen. Schl.“. Darüber, am linken Rand derselben Seite oben, hat der Abschreiber festgehalten: „mundirt den 5. Apr. 10. Stockfisch.“

An den Königlichen Professor am Cadetten Corps H Woltmann Wohlgeboren

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Die wissenschaftliche Deputation bei der Section des öffentlichen Unterrichts ist von derselben autorisirt erforderlichen Falls auch andere hiesige Gelehrte zu ersuchen, sich mit ihr zu ihren Arbeiten zu vereinigen. Da sie bis jezt kein Mitglied für das Fach der Geschichte besizt, so ersucht sie den gemäß Ewr Wohlgeb. ihr bei der Prüfung des zum zweiten Oberlehrer am Collegio fridericiano zu Königberg bestimmten jezt hier privatisirenden Gelehrten H. Jahn zu assistiren. Sie wünscht daß Sie ihn gefälligst eine historische Lection in Ihrer Gegenwart abhalten lassen und demnächst auch daß Sie an seinem auf den 9t. hujus Nachmittag um 4 Uhr in dem Sessionszimmer der Section im Universitätsgebäude angesezten Examen theilnehmen möchten um ihn noch weiter in den historischen Wissenschaften zu prüfen. | Da H. Jahn in der ersten Klasse des Friedrichswerderschen Gymnasii Unterricht in der Geschichte ertheilt; vor seiner Prüfung aber nur noch

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8–9 bestimmten] über )berufenen* 11 abhalten] davor )möchten* 11 daß Sie] über der Zeile 15 der … des] mit Einfügungszeichen über der Zeile, davor )dem* 15 Gymnasii] korr. aus Gymnasio 3–6 Wilhelm von Humboldt ordnete im Namen der Sektion für den öffentlichen Unterricht in einem Schreiben an die Geistlichen- und Schul-Deputationen aus Königsberg vom 15. September 1809 die Prüfung aller zu befördernden Lehrer an; darin hieß es, dass dazu „[v]on den Prüfungs-Commissarien … auch andre gebildete Männer … zugezogen werden“ können. Vgl. Anhang, unten S. 22–24

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in Einer Stunde Montag den 9. von 11–12 Uhr Vormittag: so fragt es sich, ob es Ihnen bequem sein würde dieser Unterrichtsstunde beizuwohnen welches statt der Probelection dienen könnte. Entgegengesezten Falls haben Sie nur die Güte dem H Dir. Bernhardi eine Ihnen dazu bequeme Stunde für den Prüfungstermin bald möglichst anzuzeigen. Die Deputation erwartet von Ihrer wissenschaftlichen und gemeinnüzigen Gesinnung eine gefällige Annahme ihres Antrages. Berlin d. 3t April 1810 Die wissenschaftliche Deputation Schleiermacher

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Anhang zu Nr. 6 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

13. September 1809 Wilhelm von Humboldt, Leiter der Sektion für den öffentlichen Unterricht, Ministerium des Inneren Die Geistlichen- und Schul-Deputationen GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 1r–2r; amtliches Schreiben Keine In der Ecke links oben ist: „Copia.“ zu lesen. Die Adressaten („An sämmtliche Geistliche und Schul-Deputationen“) sind etwas links unter dem Text aufgeführt

An sämmtliche Geistliche und Schul-Deputationen. 1r

Es haben seither nur Prüfungen angehender Lehrer bei ihrer ersten Anstellung, nicht aber schon angesetzter bei ihrer weitern Beförderung, gesetzlich stattgefunden. Dies hatte den großen Nachtheil, daß die Behörden, welchen die Bestätigung der Lehrer zustand, über die Qualifikation der zu höhern Schulaemtern vorgeschlagenen Subjecte nicht gründlich urtheilen konnten, und sich mehr nach allgemeinen Zeugnissen oder einer unbestimmten guten Meinung, als nach sichern Beweisen, richten mußten. Um diesem Nachtheil abzuhelfen, zugleich auch um solcher Lehrer willen, die des äussern Antriebes zum Fleiß in ihrer Fortbildung bedürfen, hat die Section des öffentlichen Unterrichts es nöthig erachtet, auch für die zu befördernden Lehrer eine Art der Prüfung anzuordnen.

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Sie setzt nemlich hiedurch fest, daß jeder Lehrer, der zu einer höhern d. h. zu einer solchen Stelle, womit der Unterricht in einer höhern Klasse verbunden ist, sei es an derselben oder an einer andern Anstalt, gewählt worden, sich einer Unterredung mit der Prüfungs-Behörde seiner Provinz oder deren Commissarien und einigen in ihrer Gegenwart zu haltenden Probelectionen unterziehen soll. Die Unterredung wird mit dem Zwecke angestellt, theils die Fortschritte des Gewählten in pädagogischer und wissenschaftlicher Bildung im Allgemeinen, theils den erhöhten Grad seiner Einsicht in die Fächer, worin er bisher unterrichtet hat, | oder künftig unterrichten soll, und in die Art ihrer didaktischen Behandlung zu erforschen. Die Probelectionen sollen hauptsächlich seine Fortschritte in der Methode, seinen Tact und seine Gewandheit in psychologisch richtiger Behandlung der Schüler so viel möglich an den Tag legen. Sie werden sowohl in den untern Klassen, worin er bisher unterrichtet hat, als auch in den höhern, worinn er künftig unterrichten soll, an größern Orten auch wohl in andern Schulen, gehalten und dürfen nicht gerade immer besonders veranstaltet werden, sondern können auch in mehrmaligen unerwarteten Besuchen der ordentlichen Lehrstunden des Candidaten bestehn. Von den Prüfungs-Commissarien können auch andre gebildete Männer bei denselben zugezogen werden. Wo es nur irgend möglich, ist bei dieser ganzen Prüfung auf die frühern Prüfungen des Candidaten[,] die dabei angefertigten Arbeiten und darüber aufgenommenen Protokolle, Rücksicht zu nehmen, um seine Fort- oder Rückschritte desto genauer bestimmen zu können. Ganz vorzügliche Sorgfalt ist auf die Prüfung derer zu wenden, welche zu Rectoren und Directoren gewählt sind, und besonders darauf zu sehen, ob sie philosophische, pädagogische und allgemein-wissenschaftliche Bildung genug besitzen, um das Ganze einer Lehranstalt übersehen und leiten zu können, welche Begriffe sie haben von der möglichsten Annäherung der Schulen zu Erziehungs-Anstalten, von ihrer Einwirkung auf häusliche und Volks-Erziehung und von der Beziehung, worinn sie in dieser Hinsicht gesetzt werden können, | von ihrer Organisation und Leitung in Ansehung des Unterrichts sowohl als der Disciplin und Policey, wie sie den Standpunkt eines Directors oder Rectors und sein Verhältniß zu den Lehrern, Schülern, Eltern und dem Publikum gefaßt haben, und welche Grundsätze der Directorial-Klugheit sie hegen. Es versteht sich indeß, daß nach Maaßgabe des höhern oder niedern Grades der Schulen diese Prüfung zu modificiren ist. Von dieser Prüfung können nur Männer von bewährter Geschicklichkeit und nur durch die Section des öffentlichen Unterrichts ganz

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entbunden, auch können statt der Prüfung schriftliche Arbeiten, wozu aber der angegebene Zweck dieser Prüfungen die Aufgaben bestimmen muß, ebenfalls nur auf Genehmigung der Section des öffentlichen Unterrichts gefordert werden. Bei Einleitung dieser Prüfungen und der Berichtserstattung über dieselben wird übrigens derselbe Geschäftsgang, wie bei den bisher üblichen und gesetzlichen, beobachtet. Nur auf den Ernst der Behörden und die Geschicklichkeit der Examinatoren wird es ankommen, dieser Anordnung den beabsichtigten Erfolg zu verschaffen. Die Geistlichen und Schul-Deputationen der Regierungen sowie die noch bestehenden Consistorien werden beauftragt, diese Instruction den Inspectoren der städtischen Schulen und den Directoren und Rectoren selbst, und zwar, wenn die Schulen Königl. Patronats sind, dieser unmittelbar, wenn sie aber städtischen Patronats sind, durch die Magisträte, bekannt zu machen, und auf die Befolgung der gegebenen Vorschriften streng zu halten. Königsberg den 15ten September 1809. Section im Ministerium des Innern für den öffentlichen Unterricht gez. v Humboldt

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Nr. 7 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

5. April 1810 Friedrich Schleiermacher, interimistischer Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Friedrich Ludwig Jahn GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 6r Keine In der Mitte des linken Randes ist notiert: „mundirt eod. Stockfisch.“

An den privatisirenden Gelehrten Herrn Jahn hierselbst (Oberwallstraße No 8 wohnhaft)

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Der privatisirende Gelehrte H. Jahn wird eingeladen sich zu der mit ihm vorzunehmenden Prüfung Montag den 9. huj. Nachmittag um 4 Uhr in dem Sessionszimmer der Section des öffentlichen Unterrichts im Universitätsgebäude einzufinden, und wenn ihm H. Director Bernhardi noch vorher seine Probelectionen betreffende Anweisungen Namens der Deputation geben sollte denselben zu genügen. Berlin d. 5t April 1810 Die wissenschaftliche Deputation Schleiermacher

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Nr. 8 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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5. April 1810 Friedrich Schleiermacher, interimistischer Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 4r Keine In der Handschrift Spaldings unter dem Schreiben: „vidi und wünschte ich am liebsten Montag von 8–9 einem Unterrichte des H. Jahn in der deutschen Sprache beizuwohnen; werde mich also wenn Hr. Dir. Bernhardi nichts dagegen hat und mir nichts weiteres bekannt macht zu derselben am künftigen Montag zu rechter Zeit einfinden. eod. G. L. Spalding.” Darunter finden sich folgende Sichtvermerke: „vidi Bernhardi. vidi Erman. vidi Tralles”

Circulare Umstehenden Anschreiben zu Folge habe ich bereits dem H. p. Jahn Terminum zum Examen auf Montag den 9. Nachmittag zur gewöhnlichen Sessionszeit angesezt und die Assistenz des H. Prof. Woltmann dazu erbeten. Ich lade hiedurch die H. p. Spalding und Bernhardi besonders dazu ein und ersuche ersteren den Examinandum vorher eine Probelection über die deutsche Sprache halten zu lassen, welches vielleicht am bequemsten durch Besuchung seines Unterrichts am Friedrich Werderschen Gymnasio Sonnabend oder Montag um 8–9 geschehen könnte, und dann die weitere Prüfung über deutsche Sprache und überhaupt den philologischen Theil zu übernehmen; lezteren aber den pädagogischen und methodischen Theil der Prüfung zu übernehmen und dem H. Prof. Woltmann wenn dieser dem Geschichtsunterricht Montag v. 11–12 nicht sollte beiwohnen können eine andere Stunde zu einer Probelection vor dem Prüfungstermin gefälligst einzuräumen. 15 vor dem Prüfungstermin] über der Zeile 2 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 5r und 6r, oben S. 25 11– 13 Bernhardi verfasste den Bericht über die Prüfung Jahns, der im GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 7r–8r als Abschrift erhalten ist. Vgl. Anhang, unten S. 27–30

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Da unser Verhältniß zur Kanzelei noch nicht völlig regulirt ist so ersuche ich M. H. H. Collegen dieses Circulare einander baldmöglichst zuzustellen indem H. Prof. Spalding es zuerst an H. Prof. Bernhardi sendet. 5

Berlin d. 5t April Schleiermacher

Anhang zu Nr. 8 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

11. April 1810 August Ferdinand Bernhardi, Wissenschaftliche Deputation Berlin, Direktor des Berliner Friedrich-Werderschen Gymnasiums Sektion für den öffentlichen Unterricht, Ministerium des Inneren GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 7r–8r; amtliches Schreiben ohne eigenhändige Unterschrift Schleiermachers Schwartz (1910), S. 205–206 Unter dem Text (Bl. 8r) ist von fremder Hand notiert: „verfaßt von Bernhardi“. Weitere Dokumente zu dieser Prüfung: sind zu finden im GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 1r–9r

Gutachten der wissenschaftlichen Deputation über den Candidaten Jahn

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Bei der am 9ten April c. angestellten Prüfung des Candidaten Jahn bemerkte die wissenschaftliche Deputation 1. im allgemeinen: einen Mangel an philosophischem Sinne welcher sich besonders darin äußerte, daß alle Urteile und Begriffe ganz in das Unbestimmte gingen, so daß ihnen eben so viel Einseitiges und Schieffes als Wahres und Richtiges beigemischt war, daher bemerkte man deutlich, daß der Candidat nicht die Fähigkeit besitze, eine Reihe von Begriffen aus einem Gesichtspunkte abzuleiten, oder dahin zu vereinigen. Aus diesem Grunde erhielten alle Äußerungen einen schwankenden Charakter, und indem Hauptsachen in ihrer Bedeu1 noch] über der Zeile

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tung verkannt wurden, traten Nebensachen unverhältnismäßig hervor, also: daß alle Äußerungen mehr das Gepräge der Willkürlichkeit und des Einfalles als der durch philosophische und historische Begründung hervorgebrachten Klarheit und Sicherheit erhielten. Bei allem diesem war die Fähigkeit zu kombinieren, eine Sache von einer gegebenen oder willkürlich gesetzten Seite leicht aufzufassen und darzustellen, einen einseitigen oder willkürlichen Zusammenhang mit vielen Worten, die nicht ohne Scharfsinn gestellt waren, geschickt zu verteidigen, unverkennbar. 2. In Hinsicht der einzelnen Kenntnisse fand sich: a) Daß der Candidat in der griechischen Sprache so schwach war, daß er sich das Examen darin verbitten mußte. b) Im Lateinischen wurde ihm eine leichte Stelle aus dem Cicero zum Übersetzen vorgelegt, allein im ganzen wurde der Sinn der ihm vorgelegten Stelle mehr erraten und in unbestimmten deutschen Worten hingestellt als übersetzt und verstanden. Die Bedeutung der einzelnen Wörter wußte er weder nach dem allgemeinen Sinne, noch nach ihrer lokalen und individuellen Bedeutung anzugeben, sondern er half sich nur mit aus dem Zusammenhange ergriffenen oder von dem Examinator hingeworfenen Winken. In der Auffassung derselben jedoch und in der Benutzung für die Entdeckung des Richtigen bewies er einen löblichen Scharfsinn, so daß wenn die Kenntnis des Faktischen in der Sprache hinzugekommen wäre, es keinem Zweifel unterworfen ist, daß er hierin ein brauchbarer Lehrer hätte werden können. | c) In der Geschichte bestand der Candidat am besten. Es ist unverkennbar, daß er diese Wissenschaft in den allgemeinsten Umrissen besitzt, daß er in der neueren Geschichte eine Menge von Factis in seinem Gedächtnis hat und bereit zum Gebrauch; in der Geschichte des 30jährigen Krieges, welcher ihm als Lehrobjekt auf dem FriedrichsGymnasium aufgegeben war, zeigte sich eine Bekanntschaft und ein Studium der Quellen und Kenntnisse der Details. Allein zuvörderst kann mit dem Mangel aller Sprachkenntnisse unmöglich eine gründliche Einsicht in die alte Geschichte bestehen, zweitens wurde in der Prüfung für die neuere Geschichte besonders vermißt die Geläufigkeit und Bestimmtheit in den Jahreszahlen, welche man bei Hauptbegebenheiten wohl von jemandem, der sich eigends mit der Geschichte beschäftigt hat, verlangen kann. Im ganzen liegen ihm die Facta noch zu unüberdacht, ihrer welthistorischen oder politischen Bedeutung nach nicht erwogen und aufgefaßt nebeneinander. Daher entsteht das Bestreben mit Verkennung des historischen Sinnes der Begebenheiten, von ganz subjektiven Gesichtspunkten aus, eine Geschichte zu bilden und die Neigung des Candidaten auf Nebenbegebenheiten auszu-

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schweifen und ihnen eine unverhältnismäßige Bedeutung zuzuschreiben. d) Bei der pädagogischen Prüfung, wo ihm aufgegeben ward einen Lehrgegenstand durch die Klassen einer Lehranstalt zu verteilen und zu steigern war es unmöglich, den Candidaten zu einem bestimmten Gange und deutlicher Angabe der Abstuffungen desselben hinzuleiten, seine Äußerungen darüber bezogen sich mehr auf empirische Übungen als auf eine aus der Natur des Objekts geschöpfte Methode. 3. In Hinsicht der Lehrfähigkeit des Candidaten ergab sich: a) In Hinsicht der Disciplin der oberen Klassen nichts als Löbliches, in Hinsicht der Disciplin der untersten Klassen, ist es ihm dagegen nicht gelungen, in den Stunden, welche ihm auf dem FriedrichsGymn. anvertraut waren, die wünschenswerthe Ruhe und Ordnung zu erhalten; es sind zwar keine groben Exceße vorgefallen, allein es herrschte weder Stille noch Aufmerksamkeit in den Stunden, welches offenbar an seiner Methode und Vortrag lag; denn b) zuvörderst beschäftigte er sich größtentheils nur mit einzelnen Schülern, anstatt die Rede an die ganze Klasse zu richten, und den Einzelnen | zum Repräsentanten derselben zu machen; sodann aber war kein wahrer Fortschritt in dem Vortrage selbst sichtbar sondern er drehete sich in einem engen Kreise herum. Dagegen eilte er zu sehr in den oberen Klassen, wo ihm aufgetragen war, einen Ausschnitt aus der deutschen Geschichte zu dozieren, und indem er sich in ein den jungen Leuten angewiesenes Detail verlor, verdunkelte er den Hauptgesichtspunkt und rückte bei aller Masse von Einzelnheiten und bei aller Schnelligkeit des Vortrags wenig vor. Dem Candidaten wäre daher im allgemeinen nachdrücklich zu empfehlen: Bildung und Scharfsinn des philosophischen Sinnes überhaupt. Für die philologischen Kenntnisse stellt es die Deputation anheim: ob nicht einem jeden, der Oberlehrer an einer Gelehrtenschule ist, eine wenigstens alltägliche Kenntnis des Griechischen zur Pflicht gemacht werden müsse. Die lateinische Sprache aber muß er sich wenigstens in dem Grade zu eigen machen, auch wenn er nie eine einzige Lehrstunde darin zu geben hätte, welches doch wohl schwerlich der Fall sein wird, daß er nach einem Jahre mit Nutzen den mittleren Klassen vorstehen könne, und daß er ein einem etwa dann anzustellenden Examen bei weitem besser erscheine, als in dem jetzigen geschahe. Überhaupt aber darf er, solange er Schulmann ist, das Studium dieser Sprache nie aus den Augen setzen. Das philologische Studium überhaupt würde auch auf seine historischen Bemühungen von wohltätigem Einfluß sein und in dieselben mehr Festigkeit und Objektivität hineinbringen. Für das eigentliche Lehren in der Klasse

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ist er besonders zu erinnern, daß der Erfolg desselben zunächst von der äußeren Bedingung der Ruhe, Stille und Aufmerksamkeit der Schüler ausgehe und daß er also nach dem streben müsse, was man Autorität nennte. Dieses steht aber wieder in der engsten Wechselwirkung mit dem Vorgetragenen, welches wenn der Schüler in demselben keine Ordnung, Klarheit und Fortschritte bemerkt, niemals aufgefaßt, am wenigsten mit Lernbegierde und Liebe ergriffen wird. Um den Sinn für den mündlichen Vortrag zu schärfen, ist ihm besonders das Hospitieren bei ältern und geübtern Lehrern zu empfehlen. Die Wissenschaftliche Deputation in der Section des Cultus und öffentlichen Unterrichts Schleiermacher. Berlin den 11. April 1810

1 Erfolg] Erfolgt

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21. April 1810 Friedrich Schleiermacher, interimistischer Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Friedrich August Wolf GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 12, Bl. 1r Keine Vermerk Schleiermachers am Rand links auf der Mitte der Seite: „Das Mundum zur Unterschrift schnell wieder vorzulegen B. 21t Apr. Schleiermacher“. Von Schreiberhand ist notiert: „Mdt d. 21 ejusdem“ sowie „Wissenschaftl Deput.“ und der Adressat des Briefes und das Datum links oben über dem Schreiben: „Berlin, 21t Apr 10. An D König[l] Geheimen Rath Herrn Wolf Hochwohlgeboren“

Die unterzeichnete Deputation welche sich für jezt mit Schmerzen des Vorzugs beraubt sieht unter Ewr Hochwohlgebohren unmittelbarer Leitung zu stehen findet wenigstens einige Erleichterung in dem unbestreitbaren Rechte Sie wenigstens bisweilen um Ihre Meinung befragen zu dürfen. Sie eilt dasselbe geltend zu machen indem sie Ihnen anliegende „Gedanken p“ mit der Bitte zusendet ihr über die Zwekmäßigkeit und Verständigkeit derselben Ihre Meinung zukommen zu lassen. Es ist natürlich daß sie es am wenigstens wagen will über diesen Gegenstand der Section des öffentlichen Unterrichts ihr Gutachten abzugeben ohne den Stifter und Vorsteher einer ähnlichen Anstalt vernommen zu haben welche den Altertumswissenschaften soviel trefliche Männer erzogen hat, und der zugleich auch wol der beste Richter darüber ist, in wie fern dem Verfasser dieser „Gedanken“ die Errichtung und Leitung eines Seminariums, vielleicht auch ohne daß er durch einen vorzüglichen zum Grunde liegenden Plan gebunden sei könnte anvertraut werden. Sie schließt mit dem Wunsche daß es Ihnen gefällig sein möge Ihre Bitte recht bald zu erfüllen. Berlin d. 21t April 1810 Die wissenschaftliche Deputation bei der Section des öffentlichen Unterrichts. 1 unterzeichnete] über )wissenschaftliche* 1 Deputation] folgt )bei* 3 dem] folgt )Rec* 5 eilt] folgt )sich* 6 ihr] am linken Rand nachgetragen 7 Meinung] folgt )bald möglichst* 14 er durch] über )dem selben* 14 vorzüglichen] folgt )Plan* 15 Plan gebunden sei] über der Zeile

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27. April 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. Z, Nr. 1, Bd. 1, Bl. 27v–29r Kade (1925), S. 93–100; Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1, S. 166–168 Keine

Daß es, zumal bei den immer noch bestehenden Patronatsrechten, durchaus nothwendig ist daß die Kandidaten des Lehramts zu einer Lehrstelle an einem öffentlichen Institut auch nicht müßten vorgeschlagen werden können ohne sich einer Prüfung pro licentia docendi unterworfen und diese Lizenz gewonnen zu haben, scheint kaum mehr streitig zu sein. Allein schon aus dieser Art die Sache zu fassen geht hervor, daß solange jemand nur als Hauslehrer oder in einem PrivatInstitut Unterricht ertheilt die Verordnung auf ihn keine Anwendung findet, und ich muß der entschiedenen Majorität die sich schon dahin erklärt hat ebenfalls beitreten. Ja auch eine Einladung an diese sich der gleichen Prüfung zu unterwerfen wünsche ich nicht, weil sie mir ganz überflüßig erscheint und doch das Ansehn eines indirecten Zwanges an sich trägt. Selten wohl bestimmt sich ein junger Mann bloß in Privatinstituten zu unterrichten es müßte sein in Beziehung auf irgendein bestimmtes Fach, oder indem er dies nur auf kurze Zeit als ein Füllstük seines Auskommens ansieht, weiterhin aber eine andere Laufbahn einschlagen will. In beiden Fällen wäre eine allgemeine Prüfung der Sache nicht angemessen. Alle die sich dem Lehrstande eigentlich widmen werden sich den Weg auch in die öffentlichen Institute bei Zeiten bahnen wollen und sich also von selbst zu der Prüfung stellen. Die Candidaten der Theologie als solche oder auch als künftige Prediger nehme ich ebenfalls aus. Aber ich möchte in die gleiche 5 unterworfen] davor )zu* 9–10 Die Voten der anderen Deputations- und Sektionsmitglieder sind in derselben Akte zu finden: GStA PK, I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. Z, Nr. 1, Bd. 1.

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Ausnahme auch die Mitglieder vom Staat errichteter Seminarien | für gelehrte Schulen einrechnen solange sie als solche auf öffentlichen Instituten Unterricht ertheilen. Denn theils werden sie in das Seminarium nicht ohne Prüfung aufgenommen und der Director ist ihre Prüfungsbehörde theils bleibt er auch da sie unter seine besondere Aufsicht gesezt sind für das was und die Art wie sie lehren persönlich verantwortlich. Soll nun die Frage entschieden werden welche Prüfungen vor die wissenschaftliche Deputation gehören, so hat der Herr SectionsChef in seinem Votum zuerst näher bestimmt was der nach dem Entwurf vor diese Behörde nicht gehörige Elementarunterricht sei. Ich möchte nur hinzufügen daß auch ein populärer Unterricht in Geschichte und Erdbeschreibung noch zum Elementarunterricht gehöre, ja daß öfters auch auf niedern Schulen grammatische Anfangsgründe der lateinischen und französischen Sprache vorgetragen werden, etwa zum besten derer welche sich dem Kanzleidienst widmen wollen ohne daß sie deshalb aufhören Elementarschulen zu sein. Es würde also meines Erachtens als das Prüfungsgebiet der Deputationen übrig bleiben 1.) zur Universität dimittirende Schulen oder Gymnasien 2.) Mittelschulen in denen wenigstens wirklich alte Schriftsteller gelesen werden, und welche ihre Schüler so weit bringen, daß sie in die dritte Klasse eines Gymnasiums kommen können. Hieraus ergeben sich von selbst die verschiedenen Stufen welche schon der Herr SectionsChef in seinem Voto bemerkt hat | nämlich 1.) Solche welche tüchtig befunden sind nur in Mittelschulen oder denen ihnen entsprechenden Klassen der Gymnasien zu unterrichten 2.) Solche welche sich zum Unterricht in den höhern Klassen qualificiren 3.) Solche welche zum Dirigiren geschikt sind. Da lezteres jedoch nicht eigene Kenntnisse voraussezt sondern nur klare Ansicht des gesamten Lehrgeschäftes Uebersicht des Ganzen einer Lehranstalt und das besondere Talent des Dirigirens: so ist es nicht auf dieselbe Weise eine höhere Stufe. Die allgemeine Verordnung wäre in dieser Hinsicht so zu fassen 1.) Jeder der sich pro licentia docendi meldet muß zugleich mit angeben ob er für jezt nur als Unterlehrer oder auch als Oberlehrer will geprüft sein, welches dann auch in dem zu ertheilenden Zeugniß bestimmt muß angegeben werden. Die Qualification zum Dirigiren kann aber keiner bei dieser Prüfung erhalten. Die Prüfung geht übrigens lediglich auf Kentnisse und es sind außer dem mündlichen Examen 9–10 Wilhelm von Humboldts eigenhändiges Votum befindet sich im GStA PK, I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. Z, Nr. 1, Bd. 1, Bl. 19r–21r; es wurde zuerst veröffentlicht in: Humboldt: Gesammelte Schriften, 2. Abt.: Politische Denkschriften, Bd. 10.1: 1802–1810, ed. B. Gebhardt, S. 239–242.

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nur schriftliche Arbeiten damit verbunden und keine Probelectionen. 2.) Jeder der zu einer bestimmten Stelle vorgeschlagen wird muß sich einer zweiten mit Probelectionen verbundenen Prüfung unterwerfen auch wenn er bei der ersten schon den höheren Grad des Oberlehrers erhalten hat. 3.) Wer mit diesem Grade schon versehen zu einem Rectorat vorgeschlagen wird hätte nur noch ein Colloquium zu bestehen. Was aber die Gegenstände der Prüfungen betrift: so sind im allgemeinen die philologischen u. historischen zu unterscheiden und ich bin der Meinung daß beide Prüfungen nach Maaßgabe der verschiedenen Grade auf beide Objecte gerichtet sein, und in dem Zeugniß bemerkt werden muß | welches die Hauptstärke und welches die auffallend schwache Seite des Kandidaten ist. Ausnahmen hiervon sind nur zu machen wenn jemand auf einem hohen Gymnasium nur für ein bestimtes Fach angestellt werden soll, weil nicht vorauszusezen ist daß ein solcher subsidiarisch auch bei anderen Unterrichtsgegenständen werde gebraucht werden. Daß ein rechtmäßig erworbener Doctortitel von dem mündlichen Examen entbinden soll, wünschte ich da auch bei rituellen Promotionen oft nur zu leichtsinnig verfahren wird, nicht in die Instructionen aufgenommen, sondern es müßte immer der Deputation anheimgestellt werden nach Befinden in diesem Falle von der mündlichen Prüfung (so wie bei Schriftstellern bisweilen von den schriftlichen Arbeiten) zu dispensiren. Daß die zu ertheilenden Zeugnisse nicht nur den Grad überhaupt angeben sondern auch noch verschiedene Modificationen zulassen müssen, versteht sich wol von selbst. Bei Berufung auswärtiger Schulmänner bleibt der Section ja überlassen von den Prüfungen zu dispensiren und da dieses in den Verhandlungen jedesmal von selbst wird erwähnt werden, scheint es unnöthig in der allgemeinen Verordnung etwas darüber zu sagen. d. 27t Apr. Schleiermacher

3 Prüfung] korr. aus Prüfungen

15 bei] korr. aus für

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30. April 1810 Georg Ludwig Spalding, Wissenschaftliche Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. Z, Nr. 1, Bd. 1, Bl. 30r–32r; Autograph Spaldings, von Schleiermacher eigenhändig unterzeichnet Keine Eigenhändig von Schleiermacher auf Blatt 32r: „Decr. Das Gutachten der Deputation über den Entwurf zur Verfügung wegen der Prüfungen mit dem Entwurf und allen Anlagen der Section des öffentlichen Unterrichts vorzulegen B. d 30. Schl.“

Um dem Eindringen untüchtiger Subjekte in die Lehranstalten des Staates vorzubeugen, scheint es nicht allein rechtmäßig sondern sogar nothwendig, diejenigen, welche sich diesem Geschäfte widmen, in eine solche Aufsicht zu nehmen, daß sogar Vorschläge zu dergleichen Ämtern nur für schon geprüfte und in gewißem Maaße bewährte Candidaten geschehen können, und daß es also eine Klasse von jungen Männern gebe, außer welcher Magisträte und anderweitige Patronen nicht wählen dürfen. Bei jeder Meldung um ein höheres Lehramt auf öffentlichen Schulen müsste daher das Zeugniß hinzugefügt werden, welches der Aspirant in einem vorläufigen Examen erhalten hat, und lezteres kann, mit Bezug auf die vorläufigen Prüfungen der Candidaten des Predigtamtes, füglich das E x am e n p r o l i c e n t i a docendi leisten. Schon aus dieser Vergleichung erhellt die Unbedenklichkeit eines Verfahrens, das in einem sehr ähnlichen Verhältniß bisher statt gefunden hat. | Von der Aufweisung eines solchen Zeugnisses wären loszusprechen diejenigen, welche in den bloßen Elementar-Kenntnissen der Volks- und Bürgerschulen unterrichten sollen, ohne jedoch sie der speciellen Prüfung bei Übertragung eines Amtes zu überheben, ferner die Mitglieder der Seminarien für gelehrte Schulen, als welche schon bei dem Eintritt in diese Vorbereitungs-Anstalten von deren jedesmaligem Director geprüft sind, endlich alle, die in Familien oder in Privat-Insti-

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tuten Unterricht übernehmen, als welche dem Urtheil der sie wählenden Privat-Personen überlassen bleiben. Dem zu Folge eigneten sich zu einer solchen vorläufigen Prüfung nur 1.) die künftigen Lehrer in den oberen Klassen der Schulen, welche auf die Universität entlassen 2.) die Lehrer in Mittel-Schulen, wenn alte Schriftsteller gelesen werden und die ihre Zöglinge etwa für die zweite und dritte Klasse einer von den obgedachten Anstalten vorbereiten. Junge Männer, die von der Universität zurükkommen, wenn sie Schulmänner werden wollen, würden verpflichtet, sich bei der angewiesenen Prüfungsbehörde zu melden und diese dürfte keinen von sich weisen, der eine von den beiden oben bestimmten Sphären des Lehramts zu seinem Ziel machte. Nach Maßgabe der Bestimmung für h ö h e r e | oder M i t t e l -Schulen, würden dann die Zeugnisse der Examinatoren abgefasst; ob der Geprüfte zur nüzlichen Führung eines solchen Amtes geeignet sei. Da bloß Kenntnisse in dieser Prüfung berüksichtigt werden, als zu deren Erwerbung der zu Prüfende bis dahin allein Gelegenheit hatte und deren reichlicher Besiz immer im Ganzen die sicherste Gewährleistung einer künftigen Amtsgeschiklichkeit ist, so bedarf es nur mündlicher Fragen und schriftlicher Probe-Arbeiten, keiner ProbeLection. Die Kenntnisse, die im Allgemeinen vom Schulmanne gefodert werden, sind philologische, historische und mathematische. Die Zeugnisse müssten bestimmt erwähnen, in welchen dieser drei Gegenstände, auch bei den tüchtig befundenen Subjekten, Schwäche oder Stärke sich gezeigt habe. Ein auch mit allen Formalitäten erworbener Doctor- oder Magister-Titel könnte bei dem bisher oft erscheinenden Leichtsinn in Ertheilung dieser Würde, in der Regel wol nicht von dem Exa mine p r o l i c e n t i a d o c e n d i freisprechen. Doch wäre vielleicht der Prüfungsbehörde anheimzustellen, ob sie durch die bei Erwerbung jenes Titels gelieferten Probeschriften sich berechtigt glaube, das zulassende Zeugniß auch ohne Examen zu ertheilen. Die in diesem vorläufigen Examen zurükgewiesenen würden stets wieder zu demselben gelassen werden können, wenn sie glaubten, die Mängel ersezt zu haben. Dispensationen von dem vorläufigen ja von allem Examen, bei anderweitig bewährter Vorzüglichkeit des Subjektes, bleiben der Section anheim gestellt. | Nur solche übrigens, wie gesagt, die hier tüchtig befunden waren, dürften zu einer offenwerdenden Lehrerstelle sich melden und vorgeschlagen werden; und nun würden sie zu einer be-

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stimmteren Prüfung in dem Fache gezogen, worin sie besonders wirken sollen, in welcher Prüfung dann theils Zu- oder Abnahme der Kenntnisse erforscht, theils aber durch Probelectionen das Lehrtalent bewährt würde. Eine Einladung ohne Befehl, sich zu dieser vorläufigen Prüfung zu melden scheint entweder unwirksam zu werden, oder doch einem Zwange zu gleichen. Bei der Beobachtung dieser Maasregeln schiene der Staat dasjenige zu thun, was zur vortheilhaften Besezung der Schulstellen in seiner Gewalt stehet. Berlin 30. April 1810 Die Wissenschaftliche Deputation bei der Section für den öffentlichen Unterricht Schleiermacher

Nr. 12 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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5. Mai 1810 Wilhelm von Humboldt, Leiter der Sektion für den öffentlichen Unterricht, Ministerium des Inneren Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Bl. 5r; amtlicher Brief, von Wilhelm von Humboldt eigenhändig unterzeichnet Keine Keine

An die wissenschaftliche Deputation hieselbst. Der wissenschaftlichen Deputation wird hierdurch bekannt gemacht, daß des Königs Majestät mittelst Kabinets Order vom 26ten vorigen Monats für das laufende Jahr 1. den Prediger und Professor Herrn Dr. Schleiermacher an die Stelle des unter die Mitglieder der wissenschaftlichen Deputation zurückgetretenen Geheimen Raths Wolf zum Direktor derselben, 2. den Herrn Professor Woltmann zum ordentlichen Mitgliede derselben für die historischen Wissenschaften, 3. zu außerordentlichen Mitgliedern a) den Herrn StaatsRath und Ritter Karsten für Mineralogie, b) den Herrn Professor und Ritter Wildenow für Botanik, c) den Herrn MedizinalRath Klaproth für Chemie, d) den Herrn Professor Ideler für Kosmographie, e) den Herrn Hofrath Hirt für Achäologie, 4. und zu korrespondirenden Mitgliedern die Herren Professoren Schneider und Bredow zu Frankfurt und den Herrn Schulrath Bartholdi zu Stettin zu ernennen geruht haben. Dem Herrn Woltmann, und den ausserordentlichen und korrespondirenden Mitgliedern hat die Section des öffentlichen Unterrichts ihre Ernennung bekannt gemacht, und sie ersucht, der Allerhöchsten Intention nachzukommen. Sie überläßt nun der wissenschaftlichen Deputation, sich mit ihnen in nähere Kommunikation zu setzen, und ladet den Herrn Dr. Schleiermacher als nunmehrigen Direktor hiermit ein, die ordentlichen Konfe-

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renzen der unterzeichneten Sektion, welche alle Sonnabends Vormittags von 8 Uhr an gehalten werden beizuwohnen.

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Berlin, den 5. Mai 1810. Sektion im Ministerium des Innern für den öffentlichen Unterricht Humboldt.

Nr. 13 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

21. Mai 1810 Wilhelm von Humboldt, Leiter der Sektion für den öffentlichen Unterricht, Ministerium des Inneren Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 1r–1v; amtlicher Brief, von Wilhelm von Humboldt eigenhändig unterzeichnet Horstmann (1926), S. 120–121, Teilabdruck Schleiermacher eigenhändig oben rechts auf der ersten Seite (Blatt 1r): „pr. d 28. May, Schl.“ und am linken Rand derselben Seite: „An H. Prof Spalding behufs des Schreibens an die correspondirenden Mitglieder 28. Schl. Wiss. Deput.“

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An die Wissenschaftliche Deputation, hieselbst.

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Der wissenschaftlichen Deputation wird beigehend ein Originalvorstellen des Director Bernhardi vom 13.ten d. M. wegen der bei den hiesigen Gymnasien stattfindenden Dispensation mancher Schüler von den griechischen Lehrstunden und wegen anderer Einrichtung der Abiturientenprüfungen mit dem Auftrage zugefertigt, bei Ausarbeitung eines allgemeinen Schulplans für die gelehrten Schulen des Staats, und eines daran sich schließenden neuen Reglements für die Abiturienten-Prüfungen, wozu die Deputation bei dieser Gelegenheit veranlaßt wird, darauf Rücksicht zu nehmen. Zu dem ersteren sind die allgemeinen Principien festzustellen, deren Anwendung auf die Organisation des Unterrichts und auf die Disciplin jeder Schule, die gelehrte Schule seyn und bleiben will, unerläßlich sind, mit Bemerkung der Punkte, in welchen jeder Schule nach dem Lokale, nach ihren verschiedenen Mitteln, oder auch nach temporären Umständen, Abweichungen gestattet werden können. In wiefern die innere Verfassung der Schulen mit der äußeren Einrichtung zusammenhängt, z. B. in der Direction und dem Verhältniß des Directors zu den Lehrern, so wie der Lehrer untereinander, den Ferien, in 2–6 Bernhardis Eingabe an die Sektion für den Kultus und öffentlichen Unterricht vom 13. Mai 1810 ist in Bernhardis Handschrift im GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 2r–2v archiviert. Vgl. Anhang, unten S. 41–42

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Ansehung deren sehr verschiedene, oft dem Unterricht nachtheilige Einrichtungen auf den Schulen des Preussischen Staats stattfinden p.p. sind auch diese zu berücksichtigen. Um die p Deputation mit den Grundsätzen der Section über die verschiedenen Arten der allgemeinen Schulen, die es im Staate geben soll, und zugleich auch mit den Einleitungen, die sie zur Regulirung | der äussern Schulverfassung getroffen hat, bekannt zu machen, wird ihr eine Abschrift der an die Geistlichen und Schul Deputationenen der Provinzial Regierungen unterm 14.ten hujus erlassenen Verfügung mitgetheilt, aus welcher sie ersehen wird, wie der zu entwerfende Plan so eingerichtet werden kann, daß er mit den nöthigen Modifikationen auch auf die höhern Bürgerschulen paßt. Auch werden der p Deputation in den beigehenden 5. Volum. Ackten die Arbeiten des aufgelöseten Ober-SchulCollegii sowohl über den allgemeinen Schulplan als auch über ein neues Reglement für die Abiturientenprüfungen zum beliebigen Gebrauch communicirt, mit der Aufforderung, ohne Verzug diese wichtige Angelegenheit, auf welche schon seit mehrern Jahren die Aufmerksamkeit der Nation gespannt ist, und deren Beendigung von allen Seiten dringend gewünscht wird, vorzunehmen.

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Berlin, den 21.ten May 1810. Humboldt. Section im Ministerio des Innern für den öffentlichen Unterricht

Anhang 1 zu Nr. 13 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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13. Mai 1810 August Ferdinand Bernhardi, Direktor des Friedrich-Werderschen Gymnasiums in Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 2r–2v Horstmann (1926), S. 119–120 Keine

Einer Hochpreislichen Sektion des Cultus und des öffentlichen Unterrichts im Ministerio des Innern macht der unterzeichnete Direktor darauf aufmerksam: 7–10 Vgl. Anhang, unten S. 43–45

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Wie in den berlinischen gelehrten Schulen durchaus keine Einheit in Hinsicht der Dispensationen von den griechischen Lehrstunden stattfinde, sondern dieselben theils von der subjectiven Ansicht der Direktoren, oder den oft unverständigen Wünschen weichlicher und unwissender Eltern; oder gar von dem Begehren träger Schüler abhängig seien. Da sich nun in Hinsicht dieses Punktes gewiß etwas Festes und Objektives bestimmen läßt, so ersucht derselbe die Hochpreisliche Sektion ganz gehorsamst das Nöthige darüber zu verfügen. Da ferner vor kurzer Zeit erlaubt worden: daß auch Einländer auswärtige Universitäten beziehen können, so scheint es, als müsse das Abiturienten-Examen anders modificirt werden, damit dem Eilen auf die Universität, welches großentheils mehr durch die Eltern als durch die Jünglinge veranlaßt wird, kräfftig vorgebeugt werde. Es wünscht daher der Unterzeichnete daß auch | in dieser Hinsicht von Seiten der Hochpreislichen Sektion die nöthigen Bestimmungen festgesetzt werden mögen. Ehrfurchtsvoll Einer Hochpreislichen Sektion des Cultus und öffentlichen Unterrichts gehorsamster A F Bernhardi Direktor des Friedrichsgymnasii Berlin den 13 ten May 1810.

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Anhang 2 zu Nr. 13 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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14. Mai 1810 Wilhelm von Humboldt, Leiter der Sektion für den öffentlichen Unterricht, Ministerium des Inneren Die Geistlichen- und Schul-Deputationen in Breslau, Liegnitz, Stargard und Königsberg (Neumark) GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 3r–4r Keine Oben links in der Ecke von Blatt 3r ist das Wort „Abschrift“ notiert. Unter dem Text (Bl. 4r) sind die Adressaten aufgeführt: „An die Geistliche und Schul-Deputationen Einer Königlichen Regierung zu Breslau, Liegnitz, Stargard und Königsberg (Neumark)“

Da die Section des öffentlichen Unterrichts jetzt auf die gesamte innere und äussere Organisation des Schulwesens ernstlich bedacht ist, und es ihr zur Bestimmung, welche Städte jeder Provinz gelehrte Schulen oder höherer StadtSchulen, oder gewöhnliche Bürgerschulen haben sollen, darauf ankommt, so genaue Kenntniße, wie möglich, von dem Zustande der städtischen Schulen, hauptsächlich der höhern – ohne Unterschied der Confession – zu erlangen, so wird die Geistliche und Schul Deputation Einer königlichen p. Regierung hiemit beauftragt, einen GeneralBericht über den Zustand sämmtlicher Stadtschulen ihres Departements anher einzureichen. Auf eine weitläuftige Auseinandersetzung des Details ist es hiebei gar nicht abgesehen, sondern nur auf die Anführung so bestimmter und ausgemachter Data, daß eine deutliche Vorstellung von der Beschaffenheit, theils des gesammten Schulwesens bedeutenderer Städte, theils der einzelnen Schulen daraus hervorgehe, und ein sicheres Urtheil über die künftige Bestimmung einer jeden, worüber die Geistliche und Schul-Deputation p. gutachtliche Bemerkungen beizufügen hat, gefällt werden könne. Bei dieser Bestimmung wird von folgenden Gesichtspunkten auszugehen seyn: daß die erste Classe der städtischen Schulen die Elementarschule seyn muß, in welcher die Grundkraft der menschlichen Natur in den verschiedenen Zweigen, nach welchen sie von der Erziehung nothwendig aufzufassen ist, angeregt, geweckt, im Allgemeinen geübt und entwickelt wird, und daß ausser einer oder mehrern niederen Elementarschulen dieser Art, jede Stadt eine höhere Elementar- oder Stadtschule besitzen muß, in welcher die nur zu einer gewißen Stärke gediehenen sittlichen, intellektuellen und ästhetischen

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Kräfte an den einer jeden correspondirenden | bestimmten Gegenständen, der Natur- und der Menschenwelt zu dem Grade entwickelt, und fortgebildet werden, auf welchem jeder zur Mündigkeit gelangte Mensch stehen muß, um seiner selbst und seiner Beziehung, zu der Gottheit und zu der Welt inne, seiner Anlagen und ihres Maaßes sich bewußt, und ihrer mächtig zu seyn, und um nach dem Verhältniß derselben, seiner im Laufe ihrer Entwickelung nothwendig gewordenen Einsichten und Kenntnisse, und seiner Neigung, welche immer unter dem Einfluß äußerer Beziehungen stehen wird, eine weitere Ausbildung, durch welche er als würksames Glied in das gemeinsame Leben der Gesellschaft eingreift, suchen, und mit Glück sich ihrer befleißigen zu können. An diese Schulen werden sich nun gleich die gelehrten Schulen zur allgemeinen Grundlage wissenschaftlicher Bildung für diejenigen welche ihrer fähig sind, oder sie begehren, anschliessen. Eine besondere Rücksicht erfordern aber solche Orte, die entweder an und für sich selbst oder durch ihre Nachbarschaft mehr als eine gewöhnliche Stadtschule bedürfen, aber doch nicht einen so kultivirten Sprengel um sich vereinigen, daß sie eine eigne gelehrte Schule erfordern. Solchen Städten müssen zu ihrer Stadtschule auch die untern Klassen der gelehrten bis zur dritten inclusive vielleicht mit der erstern verbunden, und als ihre Fortsetzung, aber ohne wesentliche Verschiedenheit von den untern Klassen eigentlicher gelehrten Schulen gegeben werden. Stadtschulen auf diese Art erweitert, kann man höhere Stadtschulen nennen. Auf die innere Einrichtung jeder Art von Schulen hat die p Deputation sich nicht ausführlich einzulassen, indem die | allgemeinen Principien einer solchen gleichzeitig bearbeitet werden. Aber die äußere Ausstattung derselben mit Fonds und Lehrern, die Einkünfte und die Art, sie zu erheben, zu verwalten, und zu verwahren, die Hindernisse und Mißbräuche, welche dem bessern im Wege stehen, und die beste Art sie zu heben, und die Schulaufsicht, ist nothwendig zu berücksichtigen, und können über dies alles allgemeine Principien für die Provinz aufgestellt werden. In Ansehung der Aufbringung der Unterhaltungskosten im Allgemeinen ist es Grundsatz der Section, daß sämmtliche Stadtschulen, als den allgemeinen Volksbedürfnissen entsprechend, von den Kommunen, die gelehrten Schulen aber, als einen ausgedehntern Wirkungskreis umfassend, aus Provinzialfonds unterhalten werden müssen. In Ansehung der gelehrten Schulen müssen aber in sofern die Kommunen contribuiren, als die untern Klassen derselben, den höhern der Stadtschulen entsprechen. Jedoch können Ausnahmen Statt finden, von der einen Seite, wenn Kommunen wohlhabend genug sind, der Königlichen Zuschüße zu gelehrten Schulen entbehren zu können, von der andern

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Seite, wenn sie zu dürftig sind, die ihrem Orte nothwendigen Schulen selbst zu unterhalten. Hiernach hat die Geistliche und Schul-Deputation p ihre Vorschläge, von denen die Section wünscht, daß sie sich so viel möglich auf eigne Ansicht der Schulen gründen, einzurichten, und bald möglichst einzureichen, damit die äussere und innere Reform des städtischen Schulwesens zu gleicher Zeit eintreten kann. Berlin den 14. May 1810. Section im Ministerio des Innern für den öffentlichen Unterricht gez. v Humboldt.

Nr. 14 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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4. Juni 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Georg Wilhelm Bartholdy GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 5r Keine Von Schleiermachers Hand auf dem Rand: „Das Mundum zur Unterschrift vorzulegen 4t. Jun. Schleierm“; darunter: „Wissenschaftliche Deput.“. Von fremder Hand darunter: „4. Junii mdt und zPost“

An den Königlichen Schulrath und Prof. Herrn Bartholdy zu Stettin Die unterzeichnete Deputation welche sich freut Sie zum correspondirenden Mitgliede gewonnen zu haben ist neuerdings von der Section des öffentlichen Unterrichts aufgefordert worden sich mit Entwerfung eines allgemeinen Lehrplans für gelehrte Schulen zu beschäftigen. Sie wünscht dabei natürlich auch Ihre Einsichten und Erfahrungen zu benuzen und ersucht Sie ergebenst ihr Ihre Gedanken über den Umfang die Folge und die Methode des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts sobald es Ihre Geschäfte nur irgend zulassen gefälligst mitzutheilen und zugleich wie dieses Lehrgebiet in Ihrem Gymnasium jezt wirklich eingerichtet ist ihr kürzlich zu beschreiben. Die Sache ist von solcher Wichtigkeit daß es Ihnen gewiß selbst interessant sein wird eine Deputation in ihren Arbeiten zu diesem Zwek nach Möglichkeit zu unterstüzen. Die wissenschaftliche Deputation bei der Section des öffentlichen Unterrichts.

2 Deputation] folgt )fre* 1 Georg Wilhelm Bartholdy (1765–1815), Schulrat in Stettin und Lehrer am dortigen Gymnasium 7–11 Bartholdys Antwort („Über Stufenfolge, Methode und Umfang des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts gelehrter Schulen“) ist in derselben Akte zu finden: GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 81r–89r.

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Nr. 15 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

6. Juni 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 9r–9v Schwartz (1910), S. 156–157; Kade (1925), S. 48 Von Schleiermachers Hand auf dem Rand (Bl. 9r): „Zum Circulir. an die Hhn Woltmann, Erman, Bernhardi, Spalding und Tralles wohlgeb. 6. Jun. Schl.“ Darunter zwei Notizen Bernhardis: „Praesent. den 9. Juny Nachmittags [,] Bernhardi“, und: „remiss. am 10 Juny Mittags H Prof Tralles [,] Bernhardi“. Bemerkung von Tralles: „erhalten den 10 Jun Mittags in Hrn Spaldings Wohnung gesandt den 11. Morgens [,] Tralles“. Darunter Spalding: „erhalten am 13 Abends, an Herrn D. Schleiermacher nebst dem Voto gesendet am 15 früh. GL Spalding.“ Schleiermacher: „H Prof. Woltmann zum Vortrag in der Conferenz den 18. 16. Schl.“

Meiner H. H. Collegen schriftliche Vota erbitte ich mir vorläufig über folgende Punkte: 1. 5

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Soll in den Lehrplan für gelehrte Schulen ein eigner Religionsunterricht aufgenommen werden oder nicht? Soll die französische Sprache die einzige neuere Sprache sein welche in den Lehrplan allgemein aufgenommen wird oder soll auch in der englischen oder italienischen oder beiden in jeder gelehrten Schule unterrichtet werden? Soll über die Aussprache und Accentuation der alten Sprachen etwas allgemein festgesezt werden oder ist jedem Director zu überlassen wie er es in seinem Institut, oder jedem Lehrer wie er es in seiner Klasse halten will. Soll bei dem Lehrplan die übliche Eintheilung als unumstößlich zum Grunde gelegt werden daß jedes Lehrobject in dem Verhältniß in welchem es zu den übrigen steht auch im Lauf einer jeden Woche vorkommt? Oder ist er so allgemein abzufassen daß es

7 in der] über )der*

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frei gelassen wird auch Versuche anzustellen mit der andern Methode nach welcher die Lehrobjecte in größeren Massen wechseln, so daß z. B. in zwei zusammengehörigen Klassen einmal einen Monat hindurch das Lateinische ganz dominirt und alles andere nur in wenigen Repetitionsstunden vorgetragen wird, dann wieder drei Wochen eben so das Griechische und 14 Tage eben so die Mathematik? – eine Methode welche schon früher einmal beim OberSchulcollegio zum Vorschlag | gekommen aber gänzlich verworfen worden ist, und welche Q R in seinem Institut mit großem Erfolg eingeführt hatte.

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Ich behalte mir vor successive noch mehrere Fragen in Umlauf zu sezen und wiederhole meine in dieser Beziehung neulich gethane Bitte. Ueber die gegenwärtigen aber erbitte ich mir die Vota so daß ich sie zu der nächsten Conferenz am 18. noch einem meiner H. H. Collegen zum Vortrag zuschreiben kann.

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Schleiermacher d. 6t. Jun

6 Wochen] am Ende der Zeile nachgetragen 9 Paul Schwartz gibt folgenden Namen wieder: „Schuh“; Schwartz (1910), S. 157. Bei Franz Kade heißt es: „(Schulz?)“. Vgl. Kade (1925), S. 48

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Nr. 16 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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8. Juni 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Karl Ludwig Willdenow GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 6r Keine Von Schleiermachers Hand auf dem Rand: „wissenschaftliche Deput.“ Vgl. Ausfertigung dieses Briefentwurfs von Schreiberhand: GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 7r

scrib an Herrn Ritter und Prof. Willdenow, die wissenschaftliche Deputation sei beauftragt einen allgemeinen Lehrplan für die gelehrten Schulen des Staats zu entwerfen. Sie sei vorläufig darüber einverstanden daß die Kenntniß der Natur zu den nothwendigen Lehrgegenständen gehört, und daß die Naturlehre nur auf den oberen Klassen gelehrter Schulen könne vorgetragen werden, der Unterricht in der Naturgeschichte aber jenem vorangehen müsse. In Bezug hierauf ersuche sie den Herrn Ritter seine Gedanken wie jener Unterricht einzurichten und zu vertheilen ingleichen ob und wie vielleicht schon die ElementarUebungen im Zeichnen dazu zu benuzen sein möchten ihr gefäligst mitzutheilen. Schleiermacher 8t. Jun

3 sei] davor )ist* 1 Karl Ludwig Willdenow (1765–1812) 7–11 Die Antwort Willdenows vom 20. Juni 1810 ist erhalten: GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 69r–70r

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Nr. 17 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen:

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9. Juni 1810 Friedrich Schleiermacher, Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht Wissenschaftliche Deputation Königsberg GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 5, Titel 23, Nr. 2, Bd. 1, Bl. 17r Herbart: Sämtliche Werke, Bd. 15, S. 235 als Fußnote; Dilthey, Wilhelm/Heubaum, Alfred: Urkundliche Beiträge zu Herbarts praktischer pädagogischer Wirksamkeit, in: Neue Jahrbücher für Pädagogik, Dritter Jahrgang 1900, Leipzig 1900, S. 340 Schleiermacher notierte diesen Text auf dem Rand der ersten Seite des „Plan[s] der Errichtung eines HauslehrerInstituts für die Provinz Ostpreußen“ (vgl. Anhang). Die mit dem 9. Juni 1810 datierte Ausfertigung von Schleiermachers Entwurf (Schreiberhand), von Wilhelm von Humboldt im Namen der Sektion für den öffentlichen Unterricht unterzeichnet, ist in derselben Akte zu finden (GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 5, Titel 23, Nr. 2, Bd. 1, Bl. 20r–20v). Schleiermacher hat unter Wilhelm von Humboldts Unterschrift notiert: Schleiermacher 16

resp. Es sei die gute Meinung der Deputation hierunter nicht zu verkennen; allein einerseits werde der angegebene Mißbrauch, daß dürftige Studirende ihre Akademische Laufbahn unterbrechen um auf dem Lande Privatunterricht zu ertheilen, auf diesem Wege schwerlich auszurotten sein, weil diejenigen die sich solcher Hauslehrer bedienen entweder sehr beschränkte Zwekke haben und nicht mehr verlangen als wozu man sich in Städten der Schüler von den Gymnasien bedient, oder sehr beschränkte Mittel, so daß sie genöthigt sind der Rüksicht auf den Preis alles andere aufzuopfern. Andererseits habe es mancherlei Inconvenienzen wenn Behörden sich darauf einlassen PrivatInstitute beim Publicum zu empfehlen. Uebrigens sei es fast allgemeine Sitte derer, welche bessere Hauslehrer wünschen, sich deshalb an sachkundige Männer zu wenden, und so werde es schon von selbst denen welche von dem didaktischen Institut des Prof. Herbart Vortheil gezo6 haben] mit Einfügungszeichen über der Zeile über )in* 14–1 gezogen] folgt )haben*

9 habe] davor )

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gen oder in den Königsbergischen Gymnasien Gelegenheit gehabt haben sich Uebung im Unterricht zu erwerben, nicht fehlen können, wenn sie genöthigt seien Hauslehrerstellen zu suchen auf vorzügliche Art unterzukommen und sich in diesem Verhältniß Verdienste zu erwerben. Besondere Bemühungen aber zur Bildung von Hauslehrern auf Universitäten anzuwenden scheine um so weniger rathsam als man je wünschen müsste mit der Vervollkomnung der öffentlichen Unterrichtsanstalten dieser Stand allmählig ausgehn zu sehen. 9.

Schleiermacher.

Anhang zu Nr. 17 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen:

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23. Mai 1810 Johann Friedrich Herbart, Wissenschaftliche Deputation Königsberg Sektion für den öffentlichen Unterricht, Ministerium des Inneren GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 5, Titel 23, Nr. 2, Bd. 1, Bl. 17r–19v Herbart: Sämmtliche Werke, Bd. 15, S. 235–237; Dilthey/ Heubaum (1900), S. 338–340; Herbart: Pädagogische Schriften, Bd. 3, S. 41–42; Herbart, Johann Friedrich: Johann Friedrich Herbarts Pädagogische Schriften, edd. O. Willmann/Th. Fritzsch, Bd. 1–3, Osterwieck/Leipzig 1913–1919, hier Bd. 3, 1919, S. 68–71 Der Plan (hier von Schreiberhand) wurde von Herbart konzipiert und von Hüllmann als Direktor der Wissenschaftlichen Deputation zu Königsberg des Jahres 1810 unterzeichnet

Plan der Errichtung eines Hauslehrer-Instituts für die Provinz Ostpreußen. Eine Stelle der Instruktion für die Wißenschaftliche Deputation enthält die Versicherung, die Hochpreisliche Section des öffentlichen Unterrichts werde Vorschläge der Wissenschaftlichen Deputation über Verbeßerungen im Unterrichts- und Erziehungswesen wohlwollend aufnehmen, wenn sie dieselben auch nicht immer genehmigen sollte. 1 oder] folgt )sich*

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Aufgemuntert durch diese Aeußerung, will die Wissenschaftliche Deputation der Prüfung ihrer vorgesezten Behörde einen Plan vorlegen, wie einem gewissen, in hiesiger Gegend wahrgenommenen, Gebrechen des Privat-Erziehungswesens in einigem Grade abzuhelfen sei. Zwei Umstände sind es, von denen die Ausführung unsers Gedankens ausgehn muß: die große Dürftigkeit der meisten von den Studirenden, die sich der Theologie widmen und HauslehrerStellen suchen; und die bisherige schlechte Beschaffenheit der Schulen, auf denen sie die erste Bildung erhielten. Ueberflüßig ist wohl nicht, dem möglichen Einwurfe zum voraus zu begegnen: an der Verbeßerung der Schulen wird mit Eifer gearbeitet; ist diese ausgeführt, dann werden die Uebel, die aus dem bisherigen schlechten Zustande folgten, von selbst aufhören. Manche Forderungen in der sittlichen Welt sind nicht mit | Anweisungen auf die Zukunft zu bezalen; viele der edelsten Früchte reifen spät. Aber das Bedürfnis ist dringend, dem Uebel abzuhelfen, das geschildert werden soll; auch tragen die Schulen nur einen Teil der Schuld. Weder durch gründlichen und mit Geschmack erteilten Schulunterricht mit den Anfängen der Wissenschaften bekannt, noch durch gute häusliche Erziehung zu demjenigen Grade der sittlichen Ausbildung gelangt, deßen Forderung einem Erzieher und Jugendlehrer unerlaslich ist, betreten viele Jünglinge, die sich einem Lehr- und Kirchen-Amte widmen, die akademische Laufbahn. Die Zahl der, für Theologen bestimmten, Stellen an den Freitischen, beläuft sich noch nicht auf 40; sie ist also weit unter der Zahl der Dürftigen. Die große Concurrenz derer, die in Privathäusern Unterricht zu ertheilen suchen, hat den Preis für solchen Unterricht auf so niedrige Säzze herabgebracht, dass keiner davon sich erhalten kann, der nicht einen großen Teil des Tages diesem, der Entartung wegen so zu nennenden, Handwerkerwesen, aufopfert. Nach einem Jahre, ja nach einem halben, treibt Mehrere die Noth wieder fort; sie gehn als Hauslehrer zu Beamten und Gutsbesizzern der Provinz, erwerben sich daselbst eine kleine Summe, kehren auf die Universitaet zurük, gehen wohl noch ein|mal fort, und kommen wieder: so daß nicht wenige, was sie studiren nennen, durch fünf bis sechs Jahre fortziehn. G a nz a ußer der S phä re u n s e r s P l an s b l e i b e n al l e , d i e S t udirenden selbst betref f e n d e , M aas r e ge l n : es ist entweder Sache des akademischen Senats, zu berathschlagen, wie dieser Zerrißenheit des akademischen Studii ein Ende zu machen sei, oder es scheint am räthlichsten, die Sache nicht mit unmittelbarem Zwange anzugreifen, sondern sie zu untergraben. Unser Augenmerk sind ausschlieslich die Nachtheile jener Gewohnheit für den Zustand der Privat-Erziehung. Anerkannt schädlich ist schon der öftere Wechsel der Erzieher. Ueberdies bloße

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Miethlinge, die, ohne innern Beruf zu dem Geschäft, das Tagwerk blos wegen des Tagelohns unternehmen, wie werden sie für die Entfaltung des Geistes der Pflegebefohlenen sorgen, wie für die Läuterung, Vertiefung der Seele, sie, ohne Begriffe von Erziehungskunst, ohne Lehrmethode, ohne alle Vorbereitung? Das einzige, mit der Freiheit des Publikums verträgliche, und deshalb zuverläßigste, wenn auch nur langsam wirkende, Mittel gegen das Uebel scheint eine pädagogische Einrichtung, die wir unter der Bedingung ein HauslehrerInstitut nennen, daß darunter keine durchaus selbstständige Anstalt verstanden, und keine Forderung eines besonderen Fonds befürchtet werde. Der Grundgedanke ist: den Familien der Provinz, welche Hauslehrer suchen, Gelegenheit zu | verschaffen, nur mit solchen Kandidaten eine Verbindung einzugehen, welche den akademischen Cursus vollendet haben, also in der Regel nicht so bald wieder davon gehn werden, und, die sich durch pädagogische Uebungen, unter Aufsicht und Leitung angestellt, einige Vorbereitung zu dem wichtigen Geschäft erworben haben. Das Plenum der Wissenschaftliche Deputation muß sich begnügen, die Sache eingeleitet zu haben; die Ausführung überläßt sie dem Professor Herbart und dem Director Gotthold als Privatsache; um so mehr, da der pädagogische Beruf beider Männer immerwährend ist, die Mitgliedschaft der Wissenschaftlichen Deputation nur ein Jahr dauert. In dem didaktischen Institut des Professors Herbart, der Grundlage eines zu errichtenden pädagogischen Seminarii, üben sich, unter Anleitung desselben, die Mitglieder im Unterrichten, zu welchem Behufe mehrere Knaben vereinigt sind. Fast alle Mitglieder der Wissenschaftlichen Deputation sind Zeugen dieser Uebungen gewesen. Die Collaboratoren, die am Fridericianum lehren sollen, werden größtenteils Studenten seyn, die in den lezten Jahren ihrer akademischen Laufbahn praktische Uebungen wünschen. Sie können unter Anleitung des Directors Gotthold zum Haus|lehrerstande vorbereitet werden. Jene Theilnehmer an der Herbartschen Anstalt, und die meisten dieser Collaboratoren, sind die jungen Männer, die man sich als Mitglieder des Hauslehrer-Instituts denkt. Herbart und Gotthold übernehmen die gemeinschaftliche Leitung; an einen von beiden wenden sich die auswärtigen Familien, die einen vorbereiteten Hauslehrer suchen; solche, die von der Gelegenheit keinen Gebrauch machen, und jeden annehmen, der sich darbietet, geben zu erkennen, daß sie von ihrer theuersten Angelegenheit keinen Begriff haben. Sollte die Anstalt Vertrauen gewinnen, und die Zahl der Kandidaten den Aufträgen nicht mehr angemeßen sein, so wären die Collaboratoren der Altstädtschen Schule in den Umkreis, und der Rector Hamann in das Interesse, zu ziehen.

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Darauf kömmt vieles an, wie die Sache in das Publikum eingeführt wird. Selbst-Ankündigungen machen nicht den günstigsten Eindruk: weder die Wissenschaftliche Deputation überhaupt, noch die beiden genannten Männer insbesondere, verstehen sich dazu. Wenn die Geistliche und Schul-Deputation der Königlichen Regierung, die moralische VormundschaftsBehörde der Provinz, die Bekanntmachung übernähme, würde jeder Schein von Anmaaßung | wegfallen. Der Herr Regierungs-Präsident Wissmann hat zugesagt, die Sache dort vorzutragen und zu empfehlen. Sie scheint durch Einfachheit der Einrichtung, und durch Löblichkeit des Zwecks, empfehlenswerth. Königsberg d 23 May 1810 Wissenschaftliche Deputation. Hüllmann.

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Nr. 18 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen:

Besonderheiten:

Juni 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 28r–29v Zum Religionsunterricht (Bl. 28r–29r): Prenzler (1909), S. 16–17; Schwartz (1910), S. 159–160 (dort auch die übrigen drei Antworten, S. 163–169); Kade (1925), S. 49; Weniger/Schulze (1957), Bd. 2, S. 143–144; Winkler/Brachmann (2000), Bd 1, S. 171–172 Diese Voten entstanden wohl nach dem 6. Juni 1810 (dem Datum von Schleiermachers Fragen zum Lehrplan) und vor dem 18. Juni 1810 (dem Sitzungstag der Wissenschaftlichen Deputation, an dem alle Antworten vorgetragen und abgestimmt wurden). Wahrscheinlich wurden sie sogar vor dem 13. Juni 1810 geschrieben (dem Tag, an dem Schleiermacher veranlasste, dass die „vorläufigen Entwürfe“ unter allen ordentlichen Deputationsmitgliedern kursieren sollten, „um zum Grunde der weiteren Berathschlagungen zu dienen“, vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 8r, unten S. 71)

Soll auf den gelehrten Schulen ein besonderer ReligionsUnterricht ertheilt werden?

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Bei dem Religionsunterricht ist nach der gewöhnlichen Ansicht das Lernen das Erwerben von Kenntnißen nur die Nebensache, nur ein nothwendiges Mittel; das Wesentliche, der eigentliche Zwekk ist die Belebung der Gesinnung, das wahre lebendige sich anschließen an die Gemeine. Auf die Gesinnung zu wirken kann aber niemals ein unmittelbares Object für die Schule sein, sondern nur fragmentarisch gelegentlich kann ein selbst innerlich lebendiger Lehrer darauf wirken. Dem Staat muß allerdings daran gelegen sein daß seine Bürger religiös seien; es muß ihm eben so sehr daran liegen daß sie Vaterlandsliebend seien. Er thut für das leztere dennoch nirgend etwas besonderes; warum soll er es für das erstere thun, da dies zu bewirken zumal schon der Zwek einer andern Anstalt ist, der Kirche. Ueberdies wenn auch der Wille da wäre und gut so scheint das Unternehmen sehr schwierig. Bei der jezigen Lage der Sachen ist ein

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religiöser Schulmann etwas sehr seltenes und den Unterricht einem Geistlichen als außerordentlichem Lehrer zu übertragen heißt nur etwas nicht sehr natürlich in die Schule verpflanzen was außer der Schule | ohnehin geschieht. Dies sind die Gründe, welche gegen den Religionsunterricht auf Schulen sprechen. Auf der andern Seite, die Kirche unterscheidet die verschiedenen Stufen der Bildung nicht, ihr Unterricht ist für die Jugend aller Klassen derselbe; gesezt also auch er wäre für den Zwek der Belebung der Gesinnung überall vortreflich so wird doch das was dabei nicht Gesinnung sondern Einsicht ist in jenem Unterricht vernachläßigt. Die Kirche fordert diese Einsicht nur von den künftigen Klerikern und ist sicher daß diese sie in ihrem künftigen theologischen Studio erlangen. Der Staat wünscht diese Einsicht bei allen welche dereinst die Kirche als eine vom Staat adoptirte und benuzte Anstalt leiten sollen; d. h. bei allen Staatsdienern und in einem weiteren Sinne bei allen höher gebildeten. Er muß also etwas thun um diese Einsicht in die Religionssachen auf seinen Bildungsanstalten hervorzubringen. Dies sind die Gründe für den Religionsunterricht. Man sieht sie stehn einander streng genommen nicht entgegen; und die Auflösung des scheinbaren Streites liegt darin daß bei dem Religionsunterricht auf gelehrten Schulen die Einsicht die Hauptsache sein muß und die Belebung der Gesinnung die Nebensache und so in der Form einer allgemeinen historischen Darstellung der christlichen Lehre und Kirche scheint er mir beibehalten werden zu müssen. So verschwindet auch die Schwierigkeit welche aus dem Zusammensein verschiedener Religionsgenossen auf der Schule entsteht, welches dieser Art des Unterrichts gar nicht entgegen sein kann. So auch die, daß es an qualificirten Lehrern fehlen werde, oder daß der Prediger in der Schule nur seine gewohnte Catechisation wiederholen werde. Dringend aber scheint, wenn er diese Richtung bekom|men soll die Anfertigung eines hiezu besonders eingerichteten Handbuchs.

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Soll die französische Sprache die einzige neuere sein in der unterrichtet wird. Es war keine Veranlassung die Frage so zu stellen ob vielleicht auch diese solle verbannt werden. Sie bleibe stehn nicht nur um des allgemein anerkannten Bedürfnisses oder um ihrer sogenannten klassischen Literatur willen, sondern rein philologisch als Gegenstük zu den antiken Sprachen. Dazu aber reicht die eine hin weil mit Hülfe dieser einen, der Muttersprache und der lateinischen ein jeder die andern 7 Bildung] bildung

8 derselbe] korr. aus die

12 sie] ihn

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selbst erlernen kann, die Genauigkeit der Aussprache abgerechnet welche immer nur eine Sache des Bedürfnisses ist. Es versteht sich daß die Erlaubniß auch in andern neueren Sprachen zu unterrichten unbenommen bleiben muß, nirgend aber darf dadurch dem Recht der Hauptlehrgegenstände zu nahe getreten werden. Der Gedanke an die Stelle der französischen Sprache eine andere romanische zu sezen wäre eine übelangebrachte Polemik gegen die historische Tendenz und jede Veränderung hierin müßte wol von dieser ausgehn. Soll eine Norm über die Aussprache der alten Sprachen stattfinden?

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Eine solche kann nur gegeben werden wenn man theoretisch im Besiz des richtigen ist und wenn man im Stande ist es auch wirklich darzustellen. Die Meinungen über das erste mögen wol was das Verhältniß der Sylben gegen einander betrift nicht sehr getheilt sein wenn man annimmt die alten Sprachen sollen gelesen werden nach Accent und Quantität, und die zwei brauchen sich selten ins reine Gleichgewicht sezen lassen wenn man dem Accent die Oberstelle einräumt in der Prosa, der Quantität in der Poesie. Wir wissen aber alle daß man größtentheils unvermögend ist dieses darzustellen. Deshalb nun darf man freilich keine andere Norm fixiren bei der es nun bleiben soll weil jenes unerreichbar ist | sondern man muß als allgemeine Regel aufstellen daß man sich diesem müsse zu nähern suchen. Diese kann kaum eine andere Formel haben als diese. Nirgends darf in der Prosa der Accent vernachläßigt werden, und jeder sehe wie weit er es dahin bringen kann auch die Quantität mit herauszuheben, und umgekehrt in der Poesie. Was die Aussprache selbst betrift so sind wir wie es scheint noch nicht einmal mit der Theorie im reinen, und hier ist daher kaum etwas anderes zu thun als das Schwanken in engere Grenzen einzuschließen. Dies thue der allgemeine Lehrplan für das Ganze, und innerhalb dieses Gebietes wiederum ein jeder Director für seine Schule. Soll die wöchentliche Wiederkehr des festgesezten quantitativen Verhältnisses der Lehrobjecte zur Regel gemacht werden.

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Im allgemeinen stimme ich auch dafür, und wenn dies auch nicht zur Regel gemacht würde, würde doch gewiß jezt nirgend etwas anderes geschehen. Allein da man weder über die Unmöglichkeit noch über den Nuzen der anderen Methode wegen zu weniger Erfahrung abspre2–5 Es … werden.] am Rand nachgetragen 12–13 was … betrift] mit Einfügungszeichen am Rand 21 Diese] folgt )Annäherung muß* 34 etwas anderes] umgestellt aus anderes etwas

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Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht

chen kann: so muß man sich doch hüten zuv iel f est zusezen. Sollte sich also diese Methode in geistvollen Privatanstalten weiter bewähren: so scheint es mir eine zu große Einschränkung der Freiheit der Directoren zu sein wenn man ihr den Zugang in die öffentlichen Schulen ganz abschneiden wollte. Nur daß durch einen eingereichten Lehrplan und durch die documentirte Uebereinstimmung der Lehrer die praktische Möglichkeit müßte nachgewiesen sein.

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Anhang 1 zu Nr. 18 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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Juni 1810 Johann Gottfried Woltmann, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 30r–30v Prenzler (1909), S. 14 Dies ist die Antwort auf Schleiermachers 1. Frage zum Lehrplan (vgl. Votum Nr. 15, oben S. 47). Woltmann notierte seinen Namen über sein Votum oben auf Bl. 30r

Die Frage ob es auch in den gelehrten Schulen besonders in den höhern Klaßen einen Religionsunterricht geben soll, muß ich meiner Ueberzeugung nach bejahen, denn der Unterricht welcher von den Predigern gegeben, und der von den meisten nur als eine nothwendige Bedingung angesehen wird, um das gleichsam christlich bürgerliche Zeichen der Reife zu erhalten, fällt doch immer in eine frühere Periode der Entwickelung und was nachmals von Seiten der Kirche geschieht, bezwekt blos die Erregung christlicher erbaulicher Gefühle. Es scheint mir daher nothwendig daß es noch in den folgenden Schuljahren, für die welche eine gelehrte Bildung anstreben und doch nicht künftig als Theologen das Christenthum in seiner wißenschaftlichen und historischen Gestalt und Bildung zum Gegenstande ihres Studiums machen, daß es für diese noch eine Steigerung dieses Unterrichts gebe. Der große Einfluß, den das Christenthum in seiner wißenschaftlichen Entwickelung auf die ganze neuere Geschichte gehabt hat, und die Bedeutsamkeit welche in einer mehr vollständigen und systematischen Kentniß des Christentums, auf welchem die ganze Maße der Meinun11 gegeben] folgt )wird* 12 bürgerliche] folgt )Ge* 13 immer] folgt )ge* 15 christlicher] xstlicher 20 Unterrichts] folgt )giebt*

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gen und Gedanken der neuern Zeit gegründet ist, für das wißenschaftliche Bedürfniß hat, scheint | es möglich und zwekmäßig zu machen, auch dieses in den Kreis der auf der Schule mitzutheilenden Erkentniße zu ziehen. Wenn man nun auch nicht läugnen kann daß dieser Unterricht nothwendig und unabsichtlich auch auf die Erregung und Vergeistigung des Gefühls zurükwirken muß, so mögte ich dieses nicht einmahl so sehr in Betracht ziehen, als vielmehr den Einfluß welchen dieser Unterricht auf die Belebung und Erweckung des philosophischen Talents haben würde. Denn wenn auch jeder überzeugt ist, daß die Philosophie in ihrer strengen und wißenschaftlichen Gestalt zu groß sei für die Schule, so muß diese leztere doch, in wiefern sie den Keim aller geistigen Bildung entfalten soll auch für diese Seite des Geistes sorgen und wodurch könte sie dieses zwekmäßiger als durch einen Religionsunterricht, da auf der einen Seite die neuere Philosophie und die christliche Lehre in genauer Wechselbeziehung auf einander gestanden haben und das Gemüth zugleich gerade auf diesem Gebiete in seinem Gefühle gewiße Unterstützungsquelle findet? Denn wenn man das Bedürfniß nach der Philosophie auf der Schule nicht befriedigen kann noch will so soll man es doch vielleicht erregen. […]

3 dieses] folgt )der* folgt )sogleich*

4 läugnen] folgt )will*

7 in] folgt )QDensR*

19 Hier wird nur die Antwort zum Religionsunterricht geboten.

16 Gemüth]

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Anhang 2 zu Nr. 18 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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Juni 1810 August Ferdinand Bernhardi, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 20r–21r In gekürzter Fassung: Prenzler (1909), S. 15; Horstmann (1926), S. 50–51 Mithilfe von Bernhardis Notizen auf dem Rand von Schleiermachers Manuskript mit den Lehrplanfragen (Votum Nr. 15) darf angenommen werden, dass Bernhardi sein Votum in der Zeit zwischen dem Nachmittag des 9. Juni und dem Mittag des 10. Juni 1810 geschrieben haben müsste (vgl. oben S. 47)

Ad I Die erste der angegebenen Fragen den Religionsunterricht betreffend beantworte ich mit: J a [.] Der Religionsunterricht ist nothwendig weil er das Kind, den Knaben, den Jüngling aufklärt und reflektiren macht über den sittlichen Gehalt seines Handelns und über den Zweck desselben. Betrachtet man die Kinder der dritten Bildungsstuffe eines Gymnasii (V und VI) so findet man einen im Ganzen rohen Haufen, der seine Pflichten als Schüler erfüllt weil er muß, oder der in thierischer Unschuld mögte ich sagen dahin lebt und formal sittlich ist, er weiß selbst nicht warum. Die ächte Sittlichkeit bei beiden hervorzubringen soll der Religionsunterricht dienen, da klar ist daß im Ganzen die Eltern niemals den eigentlichen sittlichen Unterricht zu übernehmen im Stande noch geneigt sind. Wie könnte also in diesen Claßen ein Unterricht fehlen, dessen Streben ist den Geist frei zu machen und die Lust und Freude am Ethischen zu entzünden? Wir gehen zur zweiten Bildungsstuffe (IV und III). Kann irgendwo der Mangel dieses Unterrichts entschuldigt werden, so ist es in dieser Region. Die jungen Leute im Ganzen werden als an formale Sittlichkeit gewöhnt, vorausgesetzt und zudem tritt bei den meisten der Zeitpunkt ein wo sie die Catechisationen besuchen. Dies würde eine an Lehrern schwache Anstalt allenfalls berechtigen diesen Unterricht auf dieser Stuffe auszusetzen, allein folgendes ist genau zu erwägen: 1 Hier wird nur die Antwort zum Religionsunterricht geboten.

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Erstlich im Ganzen findet in diesen Claßen | das obenerwähnte häusliche Verhältniß und dessen Mangelhaftigkeit noch immer statt. b. Dagegen ist der Blick des Knaben bereits freier und der Geist empfänglicher für freie Sittlichkeit, welches zum Theil durch das höhere Alter entsteht. Soll nun diese Fähigkeit zur Erzeugung sittlicher Ideen und Gefühle unbenuzt bleiben? c. Die Catechisationen ersetzen nicht den Religionsunterricht für die Schule. Der Prediger unterrichtet verschiedene Stände, verschiedene Alter, verschieden ausgebildete Kinder, er geht daher nach einem Durchschnittspunkte, sein Maximum ist das Minimum für die bürgerlichen Forderungen der Rechtlichkeit, der Gesezlichkeit u. s. w. Besizt jedes Kind dies Minimum der Religionskenntniß, so soll er zwar nicht dabei stehen bleiben aber er kann, er muß oft das Kind einseegnen. Mit so etwas aber darf sich keine Schule begnügen. In der ersten Bildungsstuffe setzt man durch langes sittliches Handeln entstandenes sittliches Gefühl das heißt Ahnung einer sittlichen We l t (im Gegensatze einzelner sittlicher Aeußerungen und Handlungen, durch Sinnlichkeit unterbrochen und nicht zu einem sittlichen Leben verschmolzen) voraus und zwar ganz allgemein. Soll dieses nun in seiner Dunkelheit bleiben oder durch klares Bewußtsein von Seiten der erkennenden Thätigkeit vollständig gemacht werden? Ich denke nur das letztere, denn dies giebt allein die Sicher|heit im Handeln, verbürgt die Dauer des Gefühls und seine drastische Krafft. Es darf daher der Religionsunterricht hier durchaus nicht fehlen. Da er aber eine sittliche Weltanschauung und ein sittliches Leben begründen soll so werde er auch systematisch ertheilt, er bestehe in einem System, in einer christlichen Moral. Aeußerungen die Bedeutung des Religionsunterrichts und seine Methode betreffend stehen in meinen Programmen von 1809 pag 14. pag 33. 1810 pag 69 seq. […]

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Bernhardi.

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2 Mangelhaftigkeit] folgt )dagegen*

18 Sinnlichkeit] folgt )nicht zusa*

29–30 Vgl. Bernhardi (1818), darin: Ueber Zahl, Bedeutung und Verhältniß der Lehrobjecte eines Gymnasiums, Programm von 1809, S. 1–53; Ueber die ersten Grundsätze der Methodik für die Lehrobjecte eines Gymnasiums, Programm von 1810, S. 54–134

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Anhang 3 zu Nr. 18 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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10. Juni 1810 Johann Georg Tralles, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 32r Keine Keine

Die der wissenschaftlichen Deputation vorgelegten Punkte sind so vielseitig für die Beurtheilung daß ich meine gutachtliche Gedanken – da sie gefordert werden – in möglichster Kürze zu geben am angemessensten glaube. ad 1) Halte ich es am besten wenn darin nicht von dem bisherigen Gebrauch abgewichen wird. […] Tralles Berlin den 10. Juni 1810

4 dem] den 4 Hier wird nur die Antwort zum Religionsunterricht geboten.

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Nr. 18, Anhang 4

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Anhang 4 zu Nr. 18 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

13. Juni 1810 Paul Erman, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 10r–11v Prenzler (1909), S. 11–14 Keine

1. Frage. S o l l a u f g e l e h r t e n Sc h u l e n R e l i gi o nsunterricht ert heilt werden.

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Der Unterricht in der Religion, so fern er möglich ist, hat wesentlich eine spekulative Seite, um die Idee der Gottheit aufzustellen, und eine aszetische um die auf das göttliche sich beziehenden Gefühle und Willensbestimmungen zu erregen und zu läutern. Nur aus der Verschiedenheit der subjektiven Standpunkte und Zwecke der Zubelehrenden ist eine Verzweigung dieses Unterrichts entstanden: in zwei Arten, je nachdem mehr hervortritt das spekulative Wißen, oder die Leitung des Willens durch religiöse Ideen und Gefühle. (S tudium der T heol o g i e , und Re li gi o n s u n t e r r i c h t im eigentlichen Sinne, oder aszetische Erziehung zur Religiosität.) Das Bedürfniß der nicht gelehrten Stände ist befriedigt, und ihr höchstes Intereße ist am besten gesichert durch die aszetische Erziehung zur Religiosität, wo von der Idee des Unendlichen gerade nur soviel ausgehoben wird wie in der Vernunft bereits liegt, oder worauf sie so 12 oder] über der Zeile 1 Hier wird nur die Antwort zum Religionsunterricht geboten. 6 ältere, abweichende Schreibung für asketisch. Vgl. Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe, Bd. 1–4, Leipzig 1793–1801, hier Bd. 1, S. 445; Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelungs und Campe’s Wörterbüchern [= Campe: Ergänzungsband], Braunschweig 1813, S. 129–130. In der Erstauflage, die Schleiermacher in seiner Bibliothek hatte (Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. 1–5,1, Leipzig 1774–1786 [SB 8: Bd. 1–4]), fehlt diese Information. Künftig werden Nachweise aus dieser Erstauflage geführt [= Adelung: Wörterbuch].

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nothwendig und ungezwungen führt daß es als ein Postulatum oder ein Korellar des Vernunftgebrauchs aufgestellt werden kann. Diese Grundlage nenne man wie man will: Ideal der Vernunft, Intellektuelle Anschauung, ursprüngliches Gefühl des Unendlichen, erste Prämiße, oder letzter Schlußsatz der Syllogismen einer natürlichen Theologie, genug sie existirt, ist leicht zugänglich, und die menschliche Vernunft ist als religiös anerkannt; wie sie sich denn auch durch die allgemeinste Erfahrung bewährt hat. An dieser Eigenschaft der Vernunft läßt sich mit Sicherheit anknüpfen, um zur praktischen Veredlung des Menschen durch die symbolischen Hülfsmittel der Kirche zu gelangen. Nur seitdem dieser Karakter der Vernunft anerkannt wurde, ward es möglich einen Unterricht in der Religion den Schulen der Philosophen zu entrükken wodurch die christliche Kirche ihre jetzige Gestaltung annahm. Der Staat weist jeden seiner Bürger an die Kirche, um das erste und edelste seiner Bedürfniße zu befriedigen; und kein Institut welches sich auf bloßes Wißen bezieht soll und kann die Stelle der Kirche vertreten. Selbst in den Dorf- und Bürgerschulen sollte demnach kein sogenannter Religionsunterricht gestattet werden. Dem Staate bleibt für die Erfüllung dieser wichtigsten aller Pflichten, der Prediger allein verantwortlich, weil er allein die Eigenthümlichkeit der Beziehungen des Religionsunterrichts auf die Gefühle und den Willen in vollem Maaße realisiren kann; nicht blos wegen der korrespondirenden Eigenthümlichkeit seines Karakters, der ihn als einen in das Göttliche eingeweihten und blos für das göttliche lebenden dem Volke darstellt; sondern hauptsächlich weil der Erfolg des öffentlichen Gottesdienstes, und der vielleicht noch wohlthätigere Einfluß der PastoralVerhältniße auf die Sitten der Eingepfarrten, offenbar nur dann in vollem Maaße gedeihen können wenn sie auf das frühere Verhältniß zum Religionslehrer gegründet | sind. Zu dulden, oder vielmehr sehr zu billigen ist es demohngeachtet daß in Dorf und TrivialSchulen Gebethe und Lieder zu den Gedächtnißübungen gewählt werden, weil dabei kein eigentlicher ReligionsVortrag, am allerwenigsten ein zusammenhängender für sich bestehender systematisch statt finden darf. Der Katechismus sollte aber meines Dafürhaltens nie in der Schule vorgetragen werden. Die einzige Ausnahme würde da zu gestatten seyn wo die Jugend von der gehörigen Theilnahme an dem Religionsunterricht des Predigers durch zu große Entfernung des Wohnortes, oder durch andere unüberwindliche Lokalhinderniße abgehalten wäre. Aber selbst in diesem Falle müßte dieser Zweig des Volksunterrichts der immediaten 11 möglich] folgt )den* 19 bleibt] folgt )der Prediger* mit Einfügungszeichen über der Zeile

23 korrespondirenden]

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Leitung des Predigers anvertraut bleiben; und zwar mit einer solchen Autentizität daß durch die äußeren Formen der Visitationen und Examinationen die Jugend stets daran erinnert würde den Prediger als das Organ und das Haupt des Religionunterrichts für die Unmündigen so wie des Gottesdienstes für die Erwachsenen anzuerkennen und zu verehren. Jede Abweichung von dieser Norm entfernt ohnfehlbar das Volk um einen Schritt mehr von der ächten Religiosität, wenn auch eine scheinbare Vielwißerei oder Aufklärerei in Religionssachen dafür sprechen sollte. Der für die gebildeteren Stände berechnete erste Religionsunterricht muß ebenfalls zur Grundlage erhalten eine von der Kirche ausgehende Ausbildung der Vernunft und der Gefühle für religiöse Gesinnung, keinesweges aber einen auf theoretische Erkenntniß und wißenschaftliche Spekulation Anspruch machenden Schulunterricht. Denn das Wißen ohne die Gesinnung, ohne die lebendige Einwirkung in die Willensthätigkeit frommet bei diesem Stande so wenig wie bei jedem anderen; ist aber für den Staat bei weitem nachtheiliger. Man darf also hier, noch weniger als bei dem Volke, den theoretischen Antheil des ersten Religionsunterrichts vom Aszetischen trennen; und wenn man nicht die lästige Schaar der Sophisten und Aretologen vermehren will, so muß unabläßlich der erste Schritt in die Erkenntniß des Göttlichen zugleich einführen in die religiöse Gesinnung durch aszetische Andacht. Es muß also auch für die gebildeteren Stände, und zwar hauptsächlich für sie, der religionsUnterricht nicht ausgehen von der Schule als ein Zweig des Lernens und Wißens, sondern von der Kirche, in der Form einer religiösen Handlung, einer christlichen Vorübung. Ist einmahl durch diese Vorbereitung die Religiosität begründet, und für die ganze Zukunft des Individuums lebendig erregt, so kann hinterher ein jeder der den Beruf und die Neigung dazu fühlt die wißenschaftliche Ansicht der Religion auf rein theoretischem Wege erforschen. Da diese Forschung aber nur demjenigen zugänglich ist der im Gebieth der Spekulation vollkommen bewandert ist so ist dieß wohl kein Gegenstand für die gelehrte Schule. Sollte also ein Religionsunterricht für die gelehrten Schulen berechnet werden so dürfte dieser schon an und für sich auf keinen Fall eine gleichartige wißenschaftliche Tendenz mit den übrigen Gegen8 Religionssachen] folgt )davon* 10 erste] mit Einfügungszeichen über der Zeile 16 bei] mit Einfügungszeichen über der Zeile 16 bei] mit Einfügungszeichen über der Zeile 17 Staat] folgt )von* 24 der religionsUnterricht] mit Einfügungszeichen am linken Rand; der] korr. aus die 36 schon an und für sich] mit Einfügungszeichen über der Zeile 37 wißenschaftliche] am linken Rand nachgetragen

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Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht

ständen des Lehr Cyklus bekommen, um die übeln Folgen eines nicht aszetischen ersten Unterrichts in der Religion zu vermeiden. Daßelbe fordert aber auch die Konsequenz des Schulplans wie er sich jetzt gestalten will: seine Tendenz alles auszuschließen was nur entfernte Beziehungen auf die Spekulation hat ist so entschieden daß er sogar die ersten Grundzüge einer logischen Anthropologie der | Universität vorbehält. Wie könnte er also Resultate der Theologie auseinander setzen wollen, die das höchste und letzte aller Spekulation sind. Man hat Mühe sich einen Religionsunterricht zu denken der weder an dem kindlichen Glauben der Kirche, noch an den Forschungen der Wißenschaft anknüpfen will. Wie wenig ächte Religiosität von einem Unterrichte der Art zu erwarten sey hat vielleicht die Erfahrung nur zu sehr gezeigt; und es hat sich hier die Verkehrtheit der Aufklärerei am deutlichsten ausgesprochen. Sollte hingegen der Religionsunterricht auf gelehrten Schulen nicht als ein bloßer Zweig des Lernens und Wißens behandelt werden, sondern wie es sich geziemt mit aszetischer Erweckung religiöser Gefühle und Gesinnungen, und in der Form derjenigen gottesdienstlichen Handlung deren das kindliche Alter fähig ist, so fielen allerdings einige der wenigen Einwendungen weg: es würden sich aber zu den übrig bleibenden neue und nicht unerhebliche zugesellen. Der frühere Geist des Religionsunterrichts auf Schulen war ohnstreitig bei den Protestanten eben so aszetisch wie er es bei den Katholiken noch ist, und bestand aus Gebet, Gesang, Vorträgen über vorgelesene Stellen der Schrift, u. d. m. Viele der neueren Pädagogen haben sich bemüht diese liturgischen Formen neu zu beleben: Man kann aber mit Recht zweifeln ob der Geist unserer jetzigen gelehrten Schulen sich je dieselben mit Erfolg aneignen werde. Auf jeden Fall bliebe immer folgendes zu erwägen. – Warum überhaupt sich die Schule vordrängt das zu leisten was der Natur der Dinge, und den Staatsverfügungen gemäß der Kirche anheim fällt; und was die Kirche unendlich leichter und sicherer zu leisten vermag. – Warum die Schule zum Nachtheil ächter Religiosität die Einheit in den Verhältnißen des Predigers zu seiner Gemeinde zerreist, indem sie ihm von Seiten der Kinder die wohlthätigen Eindrücke der ersten Initiation in das Göttliche entzieht, worauf doch sein künftiger Pastoral Einfluß, und der Nachdruck des öffentlichen Gottesdienstes zum Theil berechnet seyn soll. 1 des] folgt )Unte* 1 die] den 1 eines] folgt )wißen* 3 aber] am linken Rand nachgetragen 3 die Konsequenz des] über )die Konsequenz, von dem* 6 einer] über )der* 27 zweifeln] folgt )da* 30 was] folgt )nach* 31 und] folgt )nach*

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– Ob es für die unbefangene und unerfahrene Jugend heilsam seyn könne wenn gleich beim ersten Religionsunterrichte die Wurzel des Glaubens abgeschnitten wird durch eine Opposition der Grundsätze und Lehren die nach dem jetzigen Zustande des Protestantismus nicht zu vermeiden ist, wenn mit dem Religionsunterrichte des Predigers, der in der Schule parallel laufen soll; und wenn dieser obendrein nothwendig so berechnet werden muß daß er Juden und Muhammedaner, Katholiken und Protestanten mit gleicher Kraft und Salbung ergreife. – Kann man von jugendlichem Gemüthe erwarten daß es bei denselben Umgebungen, unter Vorsitz derselben Lehrer, und auf den Glockenschlag aus der Funktion des bloßen Begreifens und Lernens, in die Gefühle der religiösen Andacht übergehen werde: oder wird nicht vielmehr der vorwaltende Karakter des übrigen Schulunterrichts, die Religiös seyn wollenden Handlungen des Schulkultus zum kalten Mechanismus herabwürdigen, und so die Rezeptivität für Andacht in ihrem | Keime ersticken. – Bilden nicht die philologischen Lehr-gegenstände mit dem Geiste eines christlichen Religions-unterrichts einen durchaus nicht zu überwältigenden Gegensatz, sobald man beide in denselben Umgebungen, durch dieselben Lehrer in gleich auf einander kontinuirenden Lehrstunden im kindlichen Gemüthe zur Einheit der Ansicht bringen will. Ist die Schule durchaus indifferent in Sachen der Religion, so kann sie den Unglauben und die Immoralität des Heidenthums darstellen in bloßer Beziehung auf das was da war, und es einem höheren, christlich moralischen Institute überlaßen zu bestimmen was da seyn soll – sie ist der Ausgleichung dieser Kontraste ganz überhoben. Unternimmt aber die Schule den ReligionsUnterricht, so wird sie es hoffentlich nicht blos zum Scheine thun (welches das ärgste vom argen wäre) sondern mit Redlichkeit und Einheit des Bestrebens; mit dem heiligsten Vorsatze den Knaben in der ächten Religiosität wenigstens eben so zu befördern wie in der Grammatik. Alsdann darf sie nicht mehr tausend Stellen, wie Post mortem nihil est ipsaque mors nihil. – oder Huc juvenem est aequum descendere – etc. etc. auf sich beruhen laßen. Eine christlich-moralische Polemik mit den Autoren ist aller6 obendrein] mit Einfügungszeichen über der Zeile auf den rechten Rand überlaufend nachgetragen 9 man] folgt )sich*

7–8 werden muß … ergreife] 7 er] folgt )auf* über )für*

32 Seneca, Lucius Annaeus: Troades 397; Tragoediae, ed. Societatis Bipontinae, Zweibrücken 1785 S. 236; Tragoediae, ed. O. Zwierlein, Oxford 1988, S. 67 33 Horatius Flaccus, Quintus: Satyren [lat.], erklärt v. L. F. Heindorf, Breslau 1815, Buch 1, Satire 2, Vers 34, S. 37 [SB 938]; Opera, ed. D. R. Shackleton-Bailey, Berlin/New York 2008, S. 167

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dings von einer so überschwenglichen Abgeschmacktheit daß sie keiner Erwähnung bedarf. Man versetze sich jedoch von der andern Seite in das Gemüth des Knaben, wenn demselben Lehrer der so eben über die Unsterblichkeit einen Vortrag voll religiöser Gesinnung gehalten hat, in der unmittelbar darauf folgenden Viertelstunde bei Lesung der Rede des Cäsars im Cicero, oder des Chors aus dem Seneca, durchaus nichts zu erwähnen einfällt als Metrik und Latinität. Ich schließe unmaßgeblich aus diesen und mehreren ähnlichen Gründen daß es dem Intereße der Religiosität angemeßen sey den Religionsunterricht ganz der Kirche zu überlaßen. Die Einwendung es gebe hie und da Prediger die der religiösen Erziehung der gebildeten Stände nicht gewachsen wären, oder die sich ihrer nicht pflichtmäßig annehmen, ist eine Anklage die vor das Forum der Kultusbehörde durch die Gemeinde zu bringen ist, damit diesen etwanigen Mängeln des Klerus abgeholfen werde. Bekanntlich tritt aber der umgekehrte Fall auch ein, daß nemlich die Geistlichen gegen den ReligionsUnterricht der Schulen sehr gegründete Beschwerden führen; und aus diesen Mißgriffen den mangelhaften Erfolg ihrer eigenen Bemühungen ableiten. Diese höchst gefährliche Kollision zwischen Schule und Kirche wird nur dann wegfallen, wenn man aufhören wird zwei so getrennte Gegenstände wie wißenschaftlichen Unterricht und praktisch religiöse Erziehung, gewaltsam und gegen die wahren Affinitäts Gesetze, ineinander verschmelzen zu wollen. […] 12r

Erman. den 13. Juny 1810.

8 mehreren] über der Zeile )zu bring wie der dur*

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9 Religiosität] folgt )und*

13 Kultusbehörde] folgt

Nr. 18, Anhang 5

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Anhang 5 zu Nr. 18 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

Juni 1810 Georg Ludwig Spalding, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 13r–14v Prenzler (1909), S. 11–14 Auf der Grundlage von Spaldings Notiz auf dem Rand von Schleiermachers Manuskript mit den Lehrplanfragen ist davon auszugehen, dass das Votum zwischen dem Abend des 13. Juni und dem Morgen des 15. Juni 1810 entstanden sein dürfte. Die Randnotiz verrät, dass das fertig gestellte Votum „früh“ am 15. Juni an Schleiermacher weitergereicht wurde (vgl. oben S. 47)

Ad 1.) Über den Religionsunterricht.

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Einen eignen Religionsunterricht in den Lehrplan gelehrter Schulen aufzunehmen, halte ich allerdings für nöthig. Ich bin von dem Werth einer religiösen Gesinnung bei jedem Menschen überzeugt, und da dies wol ziemlich allgemein der Fall ist, so kommt es bei dieser Frage nur darauf an, ob durch den Schulunterricht die Einpflanzung und Befestigung eines solchen Sinnes bewirkt werden könne. Freilich sezen sich dieser Wirkung gerade auf öffentlichen gelehrten Schulen viele Hinderniße entgegen, und es mag oft Fälle geben, wo der Freund der Religion wünschen möchte, dieser Unterricht werde lieber gar nicht ertheilt. Indeßen die Ausmerzung dieses Gegenstandes aus dem Lehrplane hat gewiß noch nachtheiligere Folgen im Allgemeinen. 1. Junge Leute, die aus ihren kindischen | oder jugendlichen Zerstreuungen herausgerißen werden durch den heilsamen Zwang der Schule, welche mühsames Anstrengen ihrer Geisteskräfte und Stätigkeit des flatternden Willens von ihnen fodert, bekommen leicht und frühe einige Achtung vor dem Wißen und Verstehen. Hören sie nun in dieser Periode der ersten Anerkennung geistiger Kraft und Treflichkeit nichts von Gott und übersinlichen Dingen, so werden sie schwerlich 10 Religion] folgt )der* 15 welche] mit Einfügungszeichen über )die* 16 von ihnen] mit Einfügungszeichen über der Zeile 16 fodert] Adelung: Wörterbuch 2,239−240 18 ersten] mit Einfügungszeichen über der Zeile 1 Hier wird nur die Antwort zum Religionsunterricht geboten.

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ein hierauf gerichtetes Nachdenken des Gebildeten und Unterrichteten werth halten. Aber die Verbindung des gründlichen Wißens mit Erwekkung der Ehrfurcht vor mehr als menschlichen und bürgerlichen Gesezen, stellt den religiösen Menschen dem jugendlichen Gemüthe dar als ein edles Wesen, als ein nachahmungswürdiges Beispiel. 2. Der Religionsunterricht bei den Geistlichen außer der Schule beschäftigt die Jugend nur | während eines kleinen Theiles ihrer Bildungszeit. Je abgesonderter derselbe erscheint von dem was sonst für ihren Geist geschieht, desto weniger läßt sich Eindringen in den Karakter davon hoffen. Leider ist es so häufig der Fall, daß diejenigen, die etwas wißen, das Glauben, Hoffen und Anbeten für eine Schwäche halten, und umgekehrt solche, deren zartes und liebevolles Gemüth sie zu Gott zieht, Wißen und Nachforschen für Stolz und Frevel erklären. Diesen Zwiespalt befördert die Verbannung des Religionsunterrichtes aus den Schulen gewiß. Sie lehrt den Geistlichen als einen Ungelehrten ansehn, und den Gelehrten als einen Ungeistlichen. Ob vielleicht während dieser Bildungsperiode des Jünglinges in der Schule kein Religionsunterricht anzuordnen sei, ist eine besondere Frage. Mir scheint es zwekmäßig, daß der Religionsunterricht in der Schule überhaupt in die Stunden gelegt werde, welche | dem Unterrichte der Katechumenen vom Staate bestimmt ist. Auf diese Weise würde, so lange der junge Mensch von dem Prediger seiner Gemeine die christliche Unterweisung genöße, für ihn dieser Unterricht in der Schule ausfallen. 3. Nachdem die Jünglinge durch die Konfirmation gewißermaßen zu einem Range der Selbständigkeit aufgenommen sind, scheint es mir höchst gefährlich von Staats- und Schul- wegen nichts mehr für ihre religiöse Bildung zu thun. Also auch für die höheren Klaßen sehe ich diesen Unterricht an als Bedürfniß der Schule. Die oben erwähnten Hinderniße der Behandlung der Religion als Gegenstandes der Schule können, sobald die Entbehrung dieses Lehrobjektes als allgemein schädlich erkant ist, nur noch Schwierigkeiten sein, nicht Gründe der Abschaffung. Sie werden vermindert und vielleicht vernichtet durch die zwekmäßigste Einrichtung dieses Unterrichtes und durch die Geschiklichkeit der denselben ertheilenden Lehrer. Über diese Fragen indessen wird erst nach Entscheidung der jezt vorgelegten, zu berathschlagen sein. G L Spalding.

7 eines] folgt )kurz*

19 daß] folgt )für diejenigen Klaßen*

22 Gemeine] folgt )in*

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13. Juni 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 8r Keine Etwa auf der halben Höhe seines Textes hat Schleiermacher auf dem linken Rand notiert: „Mit sämtlichen Beilagen zum Circuliren an die ordentlichen Mitglieder der wissenschaftlichen Deputation die HH Woltmann Bernhardi Erman Tralles und Spalding.“ Unter dieser Notiz hat Bernhardi vermerkt: „praes. d 15ten Junjus 1810“, und darunter: „rem. d 16ten Bernhardi“. Es schließen sich weitere Vermerke Bernhardis an: „Mir zur Bearbeitung gesandt am 23ten Juny Bernhardi“, „Vorgetragen am 2ten July Bernhardi“ und zuletzt: „Von neuem bearbeitet zum 23ten und 26ten July [,] Bernhardi“

Indem ich versprochenermaßen die vorläufigen Entwürfe über die Behandlungen der einzelnen Haupt Lehrobjecte unter M. H. H. Collegen in Circulation seze um zum Grunde der weiteren Berathschlagungen zu dienen (wobei ich voraussezen möchte daß sie sich in unserer nächsten Conferenz d 18t. wieder mit einfinden) verbinde ich damit einige zufolge meiner Aufforderung an H Dir. Bernhardi vorgelegte weitere Fragen zu gefälliger vorläufiger gutachtlicher Beantwortung und verweise nur in Beziehung auf die leztere auf das Ausschreiben der Section betreffend den Lehrplan worin wir eigentlich nicht eine Schulordnung im ganzen Umfang zu entwerfen aufgefordert werden sondern einen Lehrplan und nur in sofern die disciplinarischen Angelegenheiten auf diesen Einfluß haben sie mit zu berücksichtigen. Schleiermacher d. 13t. Jun 10. 8–12 Vgl. das von Wilhelm von Humboldt unterzeichnete Schreiben der Sektion für den öffentlichen Unterricht vom 21. Mai 1810, mit dem die Berliner Wissenschaftliche Deputation zur „Ausarbeitung eines allgemeinen Schulplans für die gelehrten Schulen des Staats“ aufgefordert wurde: „Zu dem ersteren [dem allgemeinen Schulplan, die Hrsg.] sind die allgemeinen Principien festzustellen, deren Anwendung auf die Organisation des Unterrichts und auf die Disciplin jeder Schule, die gelehrte Schule seyn und bleiben will, unerläßlich sind,“. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 1r–v, hier 1r, oben S. 40 8 Vgl. Adelung: Wörterbuch 1,573

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Nach dem 18. Juni 1810 Johann Gottfried Woltmann Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 33r–34r Kade (1925), S. 50–51 Dieses Protokoll dokumentiert dem einleitenden Satz zufolge die Sitzung der Wissenschaftlichen Deputation vom 18. „dieses Monats“. Dass damit der 18. Juni des Jahres 1810 gemeint ist, lässt sich dank zweier amtlicher Schriften Schleiermachers belegen: In seinem klar datierten Schreiben vom 13. Juni 1810 hatte Schleiermacher von „unserer nächsten Conferenz d 18t.“ gesprochen und am 16. Juni die Unterlagen „H Prof. Woltmann zum Vortrag in der Conferenz den 18.“ zugeschrieben, vgl. oben S. 71 und S. 47)

In der am 18t. dieses Monats gehaltenen Sitzung der wißenschaftlichen Deputation wurden die von den Mitgliedern eingehohlten schriftlichen Gutachten über die vier folgenden Fragen zum Vortrag gebracht. 1) ob ein eigner Religionsunterricht in den Lehrplan für gelehrte Schulen aufgenommen werden soll? 2) ob die französische Sprache die einzige neuere Sprache sein soll, welche gelehrt wird, oder ob auch in der englischen und italienischen unterrichtet werden soll? 3) ob über die Aussprache und Accentuation der alten Sprachen etwas festgesezt oder ob es jedem Direktor überlaßen werden soll, wie er es in seinem Institut halten will? 4) ob bei dem Lehrplan die bisher übliche Vertheilung der Lehrgegenstände auf einzelne in jeder Woche wiederkehrende Stunden zum Grunde gelegt, oder ob es erlaubt werden soll, dieselben in größeren Zeitmaßen wechseln zu laßen?

11 festgesezt] folgt )werden soll* folgt )sein*

15 gelegt] folgt )werden soll*

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Die erste Frage wurde von der Mehrzahl bejahend beantwortet, theils weil es nothwendig sei durch einen solchen Unterricht eine Verbindung zwischen der wißenschaftlichen und religiösen Bildung hervorzubringen, theils weil dadurch in den Gemüthern der höhere gleichsam speculative Sinn angeregt werden könne, theils endlich weil für alle Staatsdiener und höhere Stände überhaupt eine vollständige Kentniß des Christenthums ein Bedürfniß sei, welches der von den Predigern gegebne und nur auf einen populären Durchschnitt berechnete Unterricht nicht befriedige, die theologischen Studien auf der Universitaet seien aber nur für den ausschließlich damit beschäftigten Stand berechnet. Herr Prof. D. Schleiermacher hat es übernommen die Form und den Gang dieses Unterrichts zu entwerfen. Diejenigen deren Meinung nicht für den Religionsunterricht ist, könten über diesen Gegenstand dem Lehrplan ihr besonderes Votum beifügen. | 2) In Beziehung auf die zweite Frage entschieden sich alle dahin daß unter den jetzigen Umständen die französische Sprache nicht ausgeschlossen werden könne, eine andere neuere Sprache aber noch über dem zu lehren nicht tunlich sei, teils wegen des Mangels an Zeit, die man sonst andern, nöthigeren Wißenschaften entziehn müße, teils wegen der Einfachheit und Leichtigkeit dieser Sprachen, vermöge deren sie sich mehr zum Privatunterricht schicken und dem Privatfleiße leichter zugänglich sind. Nur ein Ausweg ward vorgeschlagen nämlich den Unterricht im Französischen bis Tertia reichen zu lassen, wo diejenige Kenntniß des Französischen erlangt sein könnte, welche von einer öffentlichen Schule verlangt werde; in den beiden übrigen höheren Klassen könnte alsdann eine andere neuere Sprache die Stelle des Französischen einnehmen. – Im Ganzen übrigens solle der Unterricht in andern neuern Sprachen außer der französischen nur nicht gefördert werden, sonst aber wo er möglich und den übrigen wißenschaftlichen Studien nicht hinderlich ist, erlaubt sein. 3) Die dritte Frage wurde dahin beantwortet daß, wo die Theorie selbst noch nicht überall im Reinen sei, es der Freiheit der Einzelnen überlassen werden müße die Resultate der darauf sich beziehenden gelehrten Forschungen mit dem Herkömlichen zu vereinigen. Nur darüber waren mehrere Stimmen einig daß im Griechischen die Vereinigung des Akzentes mit der Quantitaet als eine Aufgabe und Norm festgesetzt werde, damit keine einseitige Manier das Übergewicht erhalte. 6 alle] folgt )welche* net] folgt )seien*

10 seien] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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4) Die in der lezten Frage vorgeschlagene Methode schien zwar der Mehrzahl im allgemeinen viel äußerliche und innerliche Schwierigkeiten gegen sich zu haben, dennoch aber ward beliebt deshalb die herkömmliche Verteilung nicht zu einer Norm zu machen, sondern in dem Lehrplan nur das Verhältnis der | Lehrgegenstände in Beziehung auf die Zeit welche sie erfordern, festzusetzen und nur das Ganze zu bestimmen, welches in den größern Hauptabschnitten erreicht sein soll. Woltmann.

6 die] der

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Nr. 21 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

Nach dem 18. Juni 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 109r– 110v Prenzler (1909), S. 18–19; Schwartz (1910), S. 161–163; Weniger/Schulze (1957), Bd. 2, S. 141–143; Winkler/ Brachman (2000), Bd. 1, S. 168–170 Schleiermacher muss diesen Entwurf in den Sommerwochen nach der Deputationssitzung vom 18. Juni 1810, auf der er sich dazu bereit erklärt hatte, „die Form und den Gang“ des Religionsunterrichts zu entwerfen“ (vgl. oben S. 73), bis spätestens zum 3. September 1810 geschrieben haben. Denn an jenem 3. September fand die abschließende Beratung der Wissenschaftlichen Deputation zum Lehrplan statt und Schleiermacher verreiste im Anschluss (vgl. unten S. 108)

Allgemeiner Entwurf zum Religionsunterricht auf gelehrten Schulen.

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Die öffentlichen Schulen sind allerdings vorzüglich Lehranstalten in wie fern das Lehren die allgemeine Form aller Thätigkeiten darin ist, nicht aber als ob das Lernen der einzige Zwekk derselben wäre, sondern dieser ist vielmehr vermittelst des Lernens die Entwiklung der geistigen Kräfte und zwar nicht nur der einzelnen Fertigkeiten sondern auch der uebereinstimmenden allgemeinen Richtung aller oder der Gesinnung. Auf diese muß also unter der Form des Lehrens in allen Lehrstunden gewirkt werden. Allein so geschieht es nur jedesmal von einer bestimmten Seite aus nicht aus dem innersten Mittelpunkt. Daher wird es nothwendig jene Wirkungen zu concentriren das Mangelhafte darin zu ersezen und die Selbstthätigkeit für das Gute und Rechte von seinem Mittelpunkt aus zu erregen. Dies muß allerdings gewissermaßen durch das Leben auf der Schule selbst und durch den Geist in welchem die Disciplin geübt wird geschehen[;] die Absicht des Religionsunterrichts aber ist auch gradezu und unter der Form des Lehrens darauf zu wirken. Hiezu giebt es nun keinen andern Gegenstand als das Christenthum in wie fern es lehrbar ist. Denn der Mittelpunkt aller Gesinnung

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ist Religiosität, und der Staat von welchem die Einrichtung der öffentlichen Erziehungsanstalten ausgeht erkennt das Christenthum für die unter seinen Bürgern allgemein verbreitete und gültige Form der Religion welches er durch die Anordnung des Religionsunterrichts auf Schulen aufs neue zu erkennen giebt[.] Zugleich | legt er dadurch eine faktische Protestation gegen die Ansicht ein als ob Religion unter der positiven Form des Christenthums und wissenschaftliche Bildung einander ausschlössen. Es ist daher eine falsche und allen übrigen Verfahren des Staats nicht analoge Tendenz wenn man um der etwanigen jüdischen Zöglinge willen dem Religionsunterricht das christliche benehmen und ihn in das Gebiet einer sogenannten allgemeinen Religion hinüberspielen würde die überdies weder eine bestimmte äußere Form noch eine anerkannte Doctrin hat welche als sie repräsentirender Lehrgegenstand auftreten könnte. Der Unterricht muß vielmehr christlich sein dabei aber streben sich von der Polemik der einzelnen christlichen Partheien gegen einander frei zu halten. Nur wo er dies nicht kann zeige er sich in unserm protestantischen Staate auch protestantisch. Eine eben so falsche Richtung aber ist angedeutet in dem Namen theologische Klassen welchen hie und da dieser Unterricht führt. Denn theologisch das heißt gelehrt, philosophisch und kritisch soll er nicht sein. Doch hierüber läßt sich weniger im Allgemeinen etwas sagen, sondern man muß den Religionsunterricht auf den verschiedenen Bildungsstufen betrachten. Von diesen hat die Deputation in ihrem Normalbilde einer gelehrten Schule immer dreie angenommen, und durch diese haben wir auch hier den Religionsunterricht hindurchzuführen. Auf der u n t e r s t e n ist als das wesentlichste wol anzusehen daß die Fertigkeit gebildet werde unter den Formen von Geschichten Parabeln Sprichwörtern Gnomen das Innere der Gesinnung anzuerkennen denn diese Stufe repräsentirt den Zustand wo das Allgemeine nur unter der Form des Einzelnen aufgefaßt wird und anders nicht zum Bewußtsein kommt. Sie repräsentirt zugleich die Einheit der | Volksmasse, und daher gebe es auch für diesen Unterricht Einen Leitfaden. Dies sei nun aber kein anderer als die Bibel. Einen Auszug aus derselben für Schulen anzufertigen habe ich nie gebilligt denn wiewol sie vieles enthält was dem Laien immer unverständlich bleiben muß und noch mehreres was Kinder von diesen Jahren nicht fassen können so ist doch jenes eine Anmaßung auf der einen und eine Verkürzung auf der andern Seite. Jeder verständige Lehrer wird schon selbst sehen was er brauchen kann um es zum Grunde seiner Unterhaltung zu 23 sondern] davor )als*

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legen. Die natürliche Verbindung der Bibel mit der religiösen Poesie ist allerdings nicht zu vernachläßigen; aber auch hier möchte ich kein Buch vorschreiben oder den Kindern in die Hände geben sondern sie mögen sich gewöhnen einzelne Strophen oder kleinere Lieder sich durch die lebendige Stimme anzueignen. Für die zweite Stufe ist es schwer etwas bestimmtes festzusezen da sie im Ganzen in die Zeit hineinfällt in welcher der kirchliche Religionsunterricht ertheilt wird. Ein zwiefacher wäre von manchen Seiten bedenklich, und es scheint mir nur zwei Auswege zu geben. Entweder die Schüler erhalten gar keinen andern Religionsunterricht als in der Schule und werden nicht eher als bei ihrem Abgange von dieser auch nach vorgängiger Prüfung eines Predigers in die Kirchengemeinschaft aufgenommen, und alsdann müßten diese Klassen einen vollständigen Religionscursus enthalten der das in den untern Klassen fragmentarisch mitgetheilte zusammenfaßte und die Uebereinstimmung von allem zu einer lebendigen Ueberzeugung brächte. Allein hievon möchten so viele Ausnahmen nothwendig werden, daß es fast besser sein möchte den andern Ausweg zu erwählen und für diese Stufe, welche die dritte und vierte Klasse in sich faßt den Religionsunterricht in der Schule ganz cessiren zu lassen. Auf der obersten Stufe endlich muß die Absicht vorzüglich dahin gehen durch | eine gehaltvolle Darstellung den Mängeln welche der kirchliche Religionsunterricht für den gebildeten Verstand der Jünglinge nicht selten gehabt haben wird abzuhelfen, den Skepticismus der sich in ihnen entwikelt haben mag zur Sprache zu bringen und zu zügeln, den religiösen Geist auch unter den verschiedensten Lehrformen und Meinungen auffassen zu lehren und das speculative Talent propädeutisch anzuregen damit in dem Einzelnen eben wie es im Großen geschehen ist die Philosophie sich hernach desto leichter aus der Beschäftigung mit der Religion entwikkele. Eine allgemeine Kentniß der Bibel, eine kurze Geschichte der Ausbildung der christlichen Kirche und Lehre würden die eigentlichen Lehrgegenstände sein. Ein Lehrbuch scheint hier wol unentbehrlich zu sein, mir ist aber noch keines bekannt welches ich zur allgemeinen Einführung empfehlen könnte. Zwei wöchentliche Stunden, welches schon jezt das gewöhnliche Maaß ist, würden wol auf jeder Stufe für den Religionsunterricht hinlänglich sein. Es scheint hiemit noch ein anderer Gegenstand in Verbindung zu stehen, nemlich ob und in welchem Maaß die Schulen einen Hausgot20 cessiren: aufhören, wegfallen; vgl. Campe: Ergänzungsband, S. 182

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tesdienst haben sollen[,] mit Gebet und Gesang eröfnet werden. Bis jezt steht darüber nichts allgemein fest, und da hiebei die gute Wirkung doch ganz von dem Geist abhängt mit welchem die Sache behandelt wird und von der Theilnahme der Lehrer so glaube ich auch daß es jezt noch nicht gut wäre etwas allgemeines darüber festzusezen. Schleiermacher.

1 Bis] bis

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Wohl Juni 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 55r–56r Schwartz (1910), S. 173–175; Kade (1925), S. 55–56 (Auszüge); Weniger/Schulze (1957), Bd. 2, S. 145–146; Lohmann (1984), S. 328–331; Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1, S. 172–174 Die Datierung basiert auf den übrigen Vorarbeiten der Deputationsmitglieder zum Lehrplan, die im Wesentlichen in der zweiten Juni-Hälfte des Jahres 1810 entstanden, einzelne auch noch Anfang Juli

Der Unterricht in der deutschen Sprache ist nicht bloß als Sprachunterricht zu betrachten sondern weil die Muttersprache das unmittelbare Organ des Verstandes ist und das allgemeine der Fantasie so flüchtet sich vorzüglich in diesen Unterricht alles was für die freie formelle Bildung des Geistes auf Schulen geschehen kann, alle Vorbereitung zur Philosophie wenn nicht der Religionsunterricht hier von einer andern Seite zu Hülfe kommt und zum Verständniß der redenden Künste ja zum höhern Verständniß der Sprache selbst indem aus leicht begreiflichen Gründen der Unterricht in den gelehrten Sprachen sich möglichst wenig von dem unmittelbaren Zwek entfernen darf. Auch den Unterricht in andern Gegenständen welche von dem SchulCyclus ausgeschlossen sind muß er ersezen indem in demselben Verhältniß als den Zöglingen der SprachSchaz eröfnet wird man ihnen auch die Masse aller in der Nation lebenden Begriffe und Anschauungen und die eigenthümliche Art und Weise ihrer Verknüpfung mittheilt. Hiebei ist nun vorzüglich Rüksicht darauf zu nehmen zu was für verschiednen Zeiten die Schüler die Schule verlassen um sich ihren besondern Zwekken zu widmen damit einem jeden auf diesem Gebiet sein Recht widerfahre. Danach bestimmt sich von selbst die allmählige 3 Verstandes] über )Geistes* 7–8 redenden] korr. aus dich

6–7 wenn … kommt] mit Einfügungszeichen am Rand 8 höhern] über )philosophischen*

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Entwiklung dieses Lehrgebietes und das was auf jeder Stufe desselben gelehrt werden muß. | Wenn man sich eine Schule von Sechs Klassen denkt so kann man annehmen daß zu den niedrigsten Bestimmungen dem Handwerke und dem Kleinhandel die Knaben aus der fünften und vierten Klasse abgehn, die künftigen Künstler Officianten Krieges und Kaufleute aus der dritten und zweiten und daß die Mehrzahl derer welche den ganzen Cursus vollenden aus solchen besteht welche die höchste wissenschaftliche Bildung anstreben. Wie groß in Deutschland überhaupt vorzüglich aber vielleicht in unsern Gegenden der Mangel an Bildung in Bezug auf die Muttersprache ist, liegt zu Tage. Unsere Schulen müssen künftig für diese Klasse mehr leisten als bisher. Sie muß so weit gebracht werden das ganze Gebiet der Muttersprache welches in das gemeine Leben gehört in einer gewissen Vollständigkeit inne zu haben und auch schreibend und sprechend richtig handhaben zu können. Auch würde hier in den Sprachunterricht zwekmäßig zu verweben sein alles was man sonst kunstlos und unverständig genug unter dem Namen von Verstandesübungen und Technologie getrieben hat. Es gehören also hieher Uebungen in der Rechtschreibung Wortbeugung und Wortfügung auf der einen in der Wortbildung und Sazbildung auf der andern Seite in zwei Klassen vertheilt in deren frühern die erste in der lezten die zweite produktivere die Oberhand haben. Alle provinziellen Fehler müssen ausgerottet sein und auch soviel möglich den provinziellen Mängeln durch welche die meisten dieser Klasse auf einen Sprachvorrath beschränkt sind der nur ein kleines Idiotikon bildet kräftigst entgegengewirkt sein. Da der kalligraphische Unterricht als hiezu gehörig anzusehen ist und nothwendig unter der unmittelbaren Aufsicht des deutschen Sprachlehrers steht so glaube ich mit Inbegriff desselben wöchentlich zehn Stunden ansezen zu müssen. Weit mehr muß für diejenigen geschehen welche künftig ihrer Bestimmung nach schon zu der gebildeten Gesellschaft gehören sollen. Sie müssen ehe sie die Schule verlassen dahin gebracht sein zusammenhängend und fließend aber einfach und schmuklos | zu schreiben. Die wesentlichen Eigenschaften der Darstellung müssen aufgefaßt sein (nicht als Theorie für sich sondern an Beispielen und Uebungen erläu6 Künstler] korr. 6 Krieges] mit Einfügungszeichen über der Zeile 8 vollenden] über )anstreben* 27–30 Da … müssen] am Rand nachgetragen 35–1 Die wesentlichen … erläutert] mit Einfügungszeichen am Rand 35 wesentlichen Eigenschaften] über )die ersten Grundsäze* 6 Officiant, ein Bedienter, ein Beamteter oder Beamter; Campe: Ergänzungsband, S. 445.

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tert) ein Takt gewonnen sein wenigstens für das edlere und unedlere in der Sprache, die Fähigkeit ein Ganzes der Rede aufzufassen muß einigermaßen geübt und der Vortrag zu einer gewissen Tüchtigkeit gebracht. Also ein zweiter Cursus von Grammatik, ausgedehnteren Lese und StilUebungen nebst Auszügen. Da der kalligraphische Unterricht in diesen Perioden nicht mehr stattfinden darf werden 6 Stunden hinreichen. Die Periode zerfällt wiederum in zwei Klassen nach demselben Princip. Diejenigen endlich die sich den Wissenschaften widmen wollen müssen soweit gebracht sein daß sie auch um als Schriftsteller aufzutreten von Seiten der Sprache tüchtig sind, ferner vorbereitet die wissenschaftliche Theorie der redenden Künste zu verstehen. Es müssen also die Eigenschaften der Darstellung in den verschiedenen Gattungen der ungebundenen Rede eben so anschaulich gemacht worden sein, das Gefühl für die Schiklichkeit des Ausdruks muß ganz gebildet und das Ohr sowol für den materiellen Wohllaut als für den Numerus geübt sein. Größere Aufsäze welche gegenseitig kritisirt werden und interpretatorische Uebungen von Prosaikern und Dichtern bei welchen zugleich das metrische genauer entwikelt wird werden die Hauptsache sein und wöchentlich wol nur drei bis vier Stunden erfordern. Eine Theilung in zwei Klassen scheint mir in dieser Periode nicht mehr so nothwendig, wird aber bei frequenten Anstalten wol von selbst entstehen.

1 Takt] folgt )muß* 3 einigermaßen] über )in einem gewissen Grade* folgt )worden sein* 5 der] korr. aus die 13 Eigenschaften] über ) * laut] korr. 18 Uebungen] folgt )werden die Hauptsache sein*

3 geübt] 16 Wohl-

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22. Juni 1810 Friedrich Gustav Koch Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 35r–35v Keine Oben auf Blatt 35r hat Schleiermacher eigenhändig den Eingang des Briefs vermerkt: „pr. d 24ten Jun. 10“. Unten auf Blatt 35r hat Schleiermacher eigenhändig notiert: „Wissenschaftl Deput. H p Bernhardi“. Im freien Raum unter der Anrede auf Blatt 35r haben Bernhardi und Schleiermacher eigenhändig festgehalten: „Respond.: Der Candidat hat aus der Hekuba des Euripides von Vers 340 bis 376 ed. Herman Niana zu erklären und zu übersetzen und zwar beides in lateinischer Sprache, ferner ein curriculum vitae auszuarbeiten, welches er auch in lateinischer Sprache einreichen muß nebst einer Ausarbeitung über die Particula überhaupt, (in Deutscher Sprache) [Bernhardi] und sich demnächst zum mündlichen Examen einzustellen [Schleiermacher].“

Hochwürdiger Herr, Insonders hochzuehrender Herr Professor! Die Königliche kurmärkische Regierung hat mir auf mein von dem hiesigen Herrn Superintendent Bolte unterstütztes Ansuchen, mich in Berlin im Schulfache anzustellen, den Bescheid ertheilt, daß ich zuvor mich einem mündlichen Examen zu unterwerfen, und dieserhalb an Ew. Hochwürden mich zu wenden habe. Da nun die Regierung meine an dieselbe eingereichten | schriftlichen Arbeiten schon als Prüfungsarbeiten annehmen will, und es mein sehnlichster Wunsch ist, so bald als möglich in Berlin ein anständiges Unterkommen zu finden, so ermangele ich nicht, Ew. Hochwürden schuldigst die Anzeige hievon zu machen, auch Ihnen zu melden, wie ich hoffe, daß es mir erlaubt seyn werde, in nächster Woche, dieser Prüfung wegen, Ew. Hochwürden meine persönliche Aufwartung zu machen, und die nähere Bestimmung darüber von Ihnen zu erwarten. Mit schuldiger Ehrerbietung empfehle ich mich dero gütigem Wohlwollen, und nenne mich Ew. Hochwürden ganz ergebensten Diener Koch, Hauslehrer beim Herrn Oberamtmann Hanisch in Fehrbellin. Fehrbellin, am 22sten Jun. 1810

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Nr. 24 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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27. Juni 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Gustav Schoder GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 44r–44v Keine Dass es sich bei der Datierung um den 27. Juni 1810 handeln muss, geht aus den übrigen Dokumenten um die Prüfung Schoders hervor. So ist das Mundum von Schleiermachers Zeugnis-Entwurf mit dem „27. Juni 1810“ datiert; es befindet sich in derselben Akte des Staatsarchisv, Bl. 45r–45v, und ist von Schleiermacher unterzeichnet

exped. dem Mag. Gustav Schoder ein Zeugniß des Inhaltes, daß nachdem er sich vor der wissenschaftlichen Deputation zur ersten Prüfung gestellt und von derselben nach schriftlicher und mündlicher Prüfung auch abgehaltenen Probelectionen in Absicht seiner Kentnisse und Gaben so befunden worden ist, daß zu erwarten steht, er werde bei anhaltendem Studiren und Uebung im Lehren der gelehrten Welt und dem Staat im Schulfache erspießliche Dienste leisten können, gedachte Deputation ihm hiedurch die licentia docendi ertheile und ihn zum Candidaten des Schulamtes erkläre, so daß er ohne Anstand von jedem Patron | zu einem Lehramt an einer gelehrten Schule präsentirt werden könne, worüber ihm zu seiner Legitimation und jedermanns Wissenschaft dieses Zeugniß ausgefertiget werde. Schleiermacher d. 27.

8 hiedurch] folgt )zum Candidaten des Schulamtes erkläre*

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Nr. 25 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

7. Juli 1810 Friedrich Gustav Koch Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 121r–122v KGA V/11, S. 431–433 Oben rechts auf Blatt 121r hat Schleiermacher eigenhändig den Eingang des Briefs vermerkt: „praes. d. 9. Jul. 10“ und links unten auf demselben Blatt: „Wissenschaftl Deput. H Dir. Bernhardi“. Schleiermacher und Bernhardi haben auf dem linken Rand notiert: „Respond: Candidat hat so bald als möglich seine Arbeiten einzusenden, dann wird ihm ein neuer Termin zum Examen angesetzt werden, in welchem er sich unfehlbar einfinden muß wenn nicht sein ganzes Gesuch ad acta gelegt werden soll [.] Bernhardi 9. July 1810.“

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Hochwürdiger Herr, Insonders hochzuehrender Herr Professor!

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Es ward in der vorigen Woche, da ich die Ehre hatte, Ew. Hochwürden meine persönliche Aufwartung zu machen, von Ihnen bestimmt, daß das mündliche Examen, dem ich mich zu unterwerfen habe, am Donnerstage der nächsten Woche, als am 12. Julius, sollte gehalten werden. Ich sehe mich aber in die Nothwendigkeit versetzt, um einen Aufschub dieses Examens zu bitten, indem theils eine Unpäßlichkeit, theils aber auch die Geschäfte, die mir in meinem jetzigen Amte obliegen, es mir unmöglich machen, die aufgegebenen schriftlichen Arbeiten zu dieser Zeit zu vollenden. | Dürfte ich überzeugt 6–7 Der erbetene Aufschub wurde gewährt; die Reinschrift des von Schleiermacher und Bernhardi auf dem Rand von Bl. 121r vorgenommenen Briefentwurfs lautet: „An den Candidat Koch zu Fehrbellin Dem Candidat Koch zu Fehrbellin wird zwar der unterm 7. d. M. nachgesuchte Aufschub seiner Prüfung hiemit bewilliget. Derselbe hat aber seine schriftlichen Probe-Arbeiten sobald, als möglich, bey der wissenschaftlichen Deputation einzureichen. Hierauf wird ihm ein neuer Termin zum Examen angesetzt werden, in welchem er sich unfehlbar einstellen muß, wenn nicht sein ganzes Gesuch ad acta gelegt werden solle. Berlin den 9. July 1810. Wissenschaftl. Deput. Schleiermacher (GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 123r).

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seyn, daß Ew. Hochwürden das Zutrauen, das ich zu Ihnen hege, und dem ich mich gerne ganz überließe, nicht auf eine Art deuteten, welche mich in Ihren Augen herabsinken ließe, so möchte ich es wagen, Ihnen meine Wünsche unverhohlen und offenherzig vorzutragen, und Sie theils um Ihren Rath, theils aber auch um Ihre Hülfe zu bitten. Mein ganzes bisheriges Studium hat auf das Schulfach hingezielt, und ist deshalb besonders auf Philologie verwandt worden. Ich bin ein Mekelnburger von Geburt, war erst in Berlin auf dem Berlinisch-Cölnischen Gymnasium; dann auf der Universität Rostock, und würde mit Liebe und Eifer meine Kenntnisse immerfort zu vermehren suchen; allein meine schlechten Vermögensumstände erlauben mir nicht, was ich so sehr wünschte, ungestört in Berlin die vielen Gelegenheiten, die sich dort einem jungen Menschen darbieten, zu benutzen: wenn ich dort leben und studiren will, muß ich zugleich auf einen Unterhalt bedacht seyn. Diesen zu finden sehe ich nur zwei Wege, eine Anstellung von Staats wegen und | eine Stelle als Hauslehrer. Aus mehreren Gründen ziehe ich die letztere der ersteren vor, besonders aber, weil ich meine geringen Kräfte kenne, und nicht gerne in ein öffentliches Amt treten mögte, ehe ich demselben zu meiner eignen Zufriedenheit vorstehen könnte. Mein sehnlichster Wunsch ist daher, in Berlin eine Stelle als Hauslehrer, sei es in dem Hause eines Vornehmen oder eines Gelehrten, zu erhalten, die mir jedoch so viel Zeit übrig ließe, um einige Collegia (namentlich bei Herrn Prof. Wolf) hören, besonders aber die Königliche Bibliothek benutzen zu können. In einer Stelle, wie diejenige, in der ich mich jetzt befinde, kann ich zwar ruhig leben, aber ich gehe in allen Kenntnissen nicht allein nicht vorwärts, sondern offenbar zurück, wie das an einem Orte, wo es an aller Gelegenheit zur weiteren Ausbildung fehlt, wohl unausbleiblich ist. Und wie kann eine solche Ruhe für einen Menschen von meinen Jahren gehören! Auf Michaelis dieses Jahres muß ich von hier abgehen, weil mein bisheriger Zögling ein Gymnasium beziehen wird, und | Michaelis also wünsche ich in Berlin Unterhalt zu finden. Da ich nun dort keine Gönner habe, so komme ich mit der offenherzigen Bitte, mir zur Erhaltung einer solchen Stelle behülflich zu seyn, gerade zu Ew. Hochwürden. Sollten Sie mich Ihrer Unterstützung werth finden, so würde mir schon die gütige Versicherung hievon ein großer Trost seyn. Doch verzeihen Ew. Hochwürden, daß ich Sie mit meinen Angelegenheiten schon so lange unterhielt; sie sind mir das Wichtigste, und das verführte mich dazu. Ich schließe also mit einer nochmaligen Bitte

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Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht

um Ihren Rath und Beistand, dessen Sie mich hoffentlich nie unwürdig finden sollen, und mit der Versicherung, daß ich stets seyn werde mit schuldiger Ehrerbietung Ew. Hochwürden ganz gehorsamer Diener Koch. Fehrbellin, den 7ten Julius; 1810.

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Nr. 26 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

Juli 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 111r– 111v Kade (1925), S. 58 Das Manuskript ist nicht unterschrieben und nicht datiert. Es wurde wohl im Kontext der übrigen Beiträge zur Redaktion des Lehrplans – also im Juli 1810 – geschrieben. Mit einiger Sicherheit lässt sich jedoch sagen, dass es nach dem Juni 1810 (der Monat, in dem noch die Gutachten zu einzelnen Fragen und Fächern angefertigt wurden) und vor dem 3. September desselben Jahres entstanden sein dürfte, dem Tag der abschließenden Lehrplanberatung, an dem Schleiermacher Berlin verließ

Ueber die Redaction des Lehrplans für gelehrte Schulen.

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Der Plan besteht wesentlich aus einem allgemeinen Theil und einem besonderen. Der allgemeine Theil entwikkelt aus der Idee der gelehrten Schule und dem Ziel welches sie sich vorzustekken hat die Wahl der Lehrobjecte und ihr Verhältniß zu einander so wie die Hauptzüge der Organisation des Ganzen. Dem allgemeinern Theil geht eine kurze Einleitung voran welche auseinandersezt in wie fern ein allgemeiner Schulplan heilsam und möglich ist, und was dagegen einer jeden Schule selbst überlassen werden muß. Der besondere Theil wendet nun die im allgemeinen aufgestellten Principien auf die einzelnen Lehrgegenstände an und zwar in einer doppelten Darstellung so daß zuerst das was in einer jeden Bildungsstufe geleistet werden muß durch alle Objecte durch verzeichnet dann aber jedes einzelne Object durch die sechs angenommenen Klassen durchgeführt wird. Dem besonderen Theile folgt als Anhang das Schema selbst mit den dazu etwa nothwendigen Erläuterungen unter der Form von Anmerkungen.

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Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht

In dem besonderen Theile muß nothwendig auch Erwähnung geschehen von Lehrbüchern; was aber hierüber | zu sagen ist muß erst durch die Discussionen der Deputation bestimmt werden.

Anhang 1 zu Nr. 26 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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12. Juli 1810 August Ferdinand Bernhardi, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 106r– 106v Keine Keine

Nach meiner Meinung ist die Redaktion des entworfenen Lehrplans nur das Geschäft eines einzelnen und da dieser sich nach den votis der Mitglieder richten muß, so würde wenn der so gearbeitete Plan nochmals circulirte nicht zu befürchten sein daß die Ansicht eines Individuums der Deputation aufgedrängt würde. Soll indeß auch die Redaktion von der ganzen Deputation besorgt werden: so fragt sich aus welchen Theilen der Plan bestehen muß?

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1. Aus einer Einleitung in welcher die Bedingungen festgestellt werden unter denen der Lectionsplan entworfen worden ist z B sechs Claßen 36 Stunden etc. 2. Aus einer Darstellung der Objecte welche die Deputation als wesentliche Lehrobjecte ansieht mit Angabe der Idee von welcher aus sie gelehrt werden sollen. Hieher gehören die neu aufgenommenen Objecte der Musik und Gymnastik ferner das verbannte Hebräisch etc. 10 der] korr. aus die

10 muß] korr. aus müßen

4 Redaction: die Zusammentragung, Sammlung und Anordnung, Heyse, Johann Christian August: Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch. Mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung der Wörter nebst genauer Angabe ihrer Abstammung und Bildung, 14 Aufl., Neubearbeitet, vielfach berichtigt und vermehrt von Prof. Gustav Heyse und Dr. Wilhelm Wittich, Hannover 1870, S. 781

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3. Aus einer Darstellung der nach Nomen 1 wesentl. sechs Theile eines jeden Objects, oder aus der Idee des Objects so fern diese durch gegebene sechs Claßen realisirt wird. |

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4. Aus einer summirten Darstellung sämmtlicher Objecte der einzelnen Bildungsstuffen damit erscheine was in je zwei und zwei Claßen geleistet sei, was der aus V abgehende Handwerker, der aus III abgehende Künstler etc. der aus I abgehende Studirende mit ins Leben hinein nehme. 5. Aus einer zur Uebersicht nothwendigen Tabelle zur Bemerkung der Verhältniße eines Objectes zu einem anderen der Stundenzahl nach. Sollen nun mehrere diese Uebersichten zu Stande bringen so muß wenigstens Nomen 1 und Nomen 5 von e i n em gearbeitet oder von zweien so daß einer Nomen 1 ein anderer Nomen 5 verfaßt, gearbeitet sein. Dann erhält jedes Mitglied sein votum nebst den darüber gemachten Bemerkungen zurück und verfertigt auf einem besondern Blatte Nomen 2. und zugleich, aber auf sechs besondern Blättern Nom 3. Dann wird die schon angefertigte Tabelle zerschnitten und zwar in drei Theile und drei Mitglieder erhalten einen Theil und zugleich von den sechs über jedes Object existirenden Blättern die zwei dem Mitgliede welches arbeiten soll zugehörigen, so entsteht Nomen 4 in drei Blättern. Ist dieses geschehen so wird das Ganze in eins geschrieben und der Plan ist fertig. Berlin d. 12 July 1810. Bernhardi

1 Nomen] Nom. hier im Sinne von Rubrik, Absatz 9 zur Bemerkung] davor )mit* 13 so daß … verfaßt] mit Einfügungszeichen am Rand; verfaßt] davor )arbeitet* 15 b e s o n d e r n ] dreifach unterstrichen 16 b e s o n d e r n ] dreifach unterstrichen 18 drei] über )zwei* 18 erhalten] folgt )erhalten* 19 zwei] folgt )ihr*

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Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht

Anhang 2 zu Nr. 26 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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14. Juli 1810 Johann Gottfried Woltmann, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 104r–104v Keine Die Datierung basiert auf Woltmanns Äußerung in seinem Brief vom 15. Juli an Schleiermacher: „was ich gestern in Beziehung auf den Lehrplan überschikt habe“ (unten S. 91)

Mir scheint die ganze Anordnung des Lehrplans am füglichsten von drei Hauptgesichtspunkten ausgehen zu können. Zuerst nämlich werden die leitenden Grundsätze aufgestellt werden zu müßen, welche zum Grunde gelegen und als beseelendes Prinzip dem Ganzen die bestimte Physiognomie gegeben haben. Das geschieht am zwekmäßigsten wenn der Begrif einer gelehrten Schule angegeben und der Punkt gezeigt wird, wo sie in die Universitaet übergehet; auch das Ziel deutlich aufgestellt wird, welches am Ende der Schule erreicht sein muß, so daß die fernere gelehrte Bildung deßelben sich überall in formaler und materialer Rücksicht als eines Anknüpfungspunktes bedienen kann. Daraus wird sich ganz natürlich ergeben warum die bestimmten Gegenstände aufgenommen, andere aber ausgeschloßen sind; ferner warum jedem der aufgenommenen Gegenstände gerade das bestimte quantitative Verhältniß zugetheilt ist, welches sich richtet theils nach der Stelle, welche das Lehrobjekt in dem Ganzen QaufnimmtR, theils nach dem geringern oder größern Maaße von Fertigkeit, welche der Verstand darin erlangen muß. Zweitens müßen die drei Hauptstufen, welche dem Lehrplan zum Grunde liegen, gerechtfertigt werden durch die Zurückführung derselben | auf die Bedürfniße derer welche die Schule besuchen und zu verschiedenen Zeiten wieder verlaßen. Aber zugleich muß auch klar werden daß zwar jede Stufe wie bei einer tragischen Trilogie ein für sich bestehendes Ganzes ausmacht, daß sie aber alle drei zugleich nichts als drei zusammenhängende Entwickelungsstufen eines größern dramatischen Ganzen sind, welches bis zur höchsten Spitze fortschreitet, und nach einer höhern Einheit verknüpft wird. So bilden sie also 4 gelegen] folgt )haben* 14 zugetheilt] davor )geg* 14 ist,] folgt )und* 18 Hauptstufen] folgt )gerechtfertigt werden* 24 größern] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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Nr. 26, Anhang 3

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drei Metamorphosen, welche das Schulleben durchzugehen hat bis zu seiner vollständigen Reife. In wiefern aber drittens diese verschiedenen Stufen, sich zwar nach den verschiedenen Bedürfnißen der menschlichen Gesellschaft richten und deshalb ein blos äußerliches Bildungsgesetz zu haben scheinen, in der That aber dadurch daß jene Stufen der menschlichen Gesellschaft auf den natürlichen Entwickelungsstufen des menschlichen Geistes beruhen, auch ein ineres Gesetz haben, so wird sich auch daran anschließen was der allgemeine Lehrplan in Absicht auf die Methode aufnehmen muß. Nämlich es wird zu rechtfertigen sein, warum ein Q…R Gegenstand auf die bestimte Weise gesteigert worden ist und wie darin nothwendig waltet die Identitaet des materiellen QSt…R und der bildenden und empfangenden Kraft. Woltmann

Anhang 3 zu Nr. 26 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

15. Juli 1810 Johann Gottfried Woltmann, Wissenschaftliche Deputation Berlin Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 105r– 105v KGA V/11, S. 438 Keine

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d. 15t. Juli

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Indem ich Ihnen, so wünscht es meine Frau, die Einladung auf den Dienstag Mittag wiederhohle, welche sie in beiliegendem Briefchen an Ihre Frau und Schwester ergehen läßt und meine freundlichsten Bitten den ihrigen hinzufüge, so mögte ich zugleich zu dem was ich gestern in Beziehung auf den Lehrplan überschikt habe, noch einen kleinen 1 drei] davor )die* 3 Stufen,] folgt )die* 3 zwar] mit Einfügungszeichen über der Zeile 5 äußerliches] folgt )Vorbild* 17 wiederhohle] korr. aus wiederhohlen 19–20 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 104r–104v, oben S. 90–91

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Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht

Nachtrag senden, weil ich glaube gerade das, was Sie wollen, nicht berührt zu haben, nämlich die bestimmte äußerliche Art das Ganze zu redigiren. In Beziehung darauf würde ich, wenn es erlaubt ist noch auf diese Weise mit seinen Vorschlägen nachzukommen, der Meinung sein, daß die Anfertigung der allgemeinen Einleitung einem übertragen würde, die Darstellung der einzelnen Lehrobjekte nach Anleitung der abgegebenen Vota von z w e i e n , wegen der beiden Haupttheile des Mathematisch-Physischen und des Histo|risch-Philologischen, ausgearbeitet würde und nachdem endlich dieses bei allen Mitgliedern in Umlauf gesezt worden zur nochmaligen Einsicht, dan endlich Einer wiederum diese drei Theile zusammenfügte um auch in Absicht auf den Styl und das ganze Aeußere eine gewiße Einheit hineinzubringen. Das wars was ich in Beziehung auf den Lehrplan noch auf dem Herzen hatte und gerne los sein wollte; in Beziehung auf Sie aber denke ich auf und in dem Herzen immer zu bewahren die freundlichste Liebe mit welcher ich stets bin

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Ihr Woltmann.

Anhang 4 zu Nr. 26 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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Juli 1810 Paul Erman, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 103r Keine Keine

Es scheint mir nicht nöthig in dem abzustattenden Berichte sich auf irgend eine Auseinandersetzung der Gründe einzulaßen welche die Deputation zu jeder Einzelnen Bestimmung bewogen haben, theils weil diese Gründe meistens leicht einleuchten werden, theils weil die beizulegenden Vota der einzelnen Mitglieder nöthigenfalls die gewünschte Auskunft geben werden. Es ist wesentlich sich gleich mit Bestimmtheit zu erklären über die Anzahl der Lehrer, so wie über alle die anderweitigen Hilfsmittel die 1 Sie] korr. aus sie 5 sein] mit Einfügungszeichen über der Zeile davor )Maaß* 21 meistens] korr. aus meisthenteils

6 Anleitung]

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Nr. 26, Anhang 4

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der Plan zu seiner Ausführung nothwendig erfordert, damit die Behörde entscheide ob diese Mittel überall erreichbar sind, oder nicht. Im letztern Falle müßte der Plan wesentlich abgeändert, und den zu Gebothe stehenden Hülfsmitteln angepaßt werden. Es ist vor der Hand nicht nöthig den Plan bis in das letzte Detail, in Hinsicht auf Vertheilung der Lehrstunden und andere minder wesentliche Gegenstände auszuarbeiten. Hiezu wird Zeit genug seyn wenn die Sektion die jetzt vorhandenen Grundzüge des Organisationsplans genehmigt haben wird. Jede wesentliche Abänderung des Plans, deren wir doch einigen mit Sicherheit entgegensehen können, würde die ganze auf das Detail verwendete Mühe völlig unnütz machen. Der Bericht würde, nach meiner Überzeugung, mehr innere und äußere Einheit gewinnen, und das ganze sich beßer in sich selbst runden wenn ein einziges Mitglied die Redaktion deßelben übernähme. Der Antheil den die übrigen Mitglieder an das gemeinschaftliche Werk nahmen, würde deßhalb ebensowenig dem Referenten allein anheim fallen, wie in allen ähnlichen Fällen Kollegiatischer Verhandlungen. Ich wünschte daß die Redaktion des Berichts von Herrn Direktor Bernhardi übernommen würde Erman

3 abgeänder,] folgt )werden* 4 Hülfsmitteln] davor )Mitteln* 14 ganze sich] sich über der Zeile 17 ebensowenig] mit Einfügungszeichen über der Zeile 17 anheim] davor )ebensowenig*

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Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht

Anhang 5 zu Nr. 26 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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Juli 1810 Georg Ludwig Spalding, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 107r– 107v Keine Keine

Redakzion des Lehrplans Die Bestimmung des Umfangs der Bildung, welche gelehrte Schulen ihren Zöglingen geben sollen. Daß davon alles auszuschließen sei, was für einen besonderen Beruf bildet. Daß drei Stufen in dieser Bildungsperiode angenommen worden, deren erste den Knaben, wenn er nichts weiteres sich vorsezt, zu den geringeren Geschäften des Nehrstandes entläßt; deren zweite die Kentniße mittheilt, die zu der nicht-wißenschaftlichen Wirksamkeit im Staate vorbereiten; deren lezte den eigentlichen Studirenden für die Universität reif macht. Nachweisung der Kentniße, welche am Schluß jeder dieser Abtheilungen von ihren Zöglingen gefodert werden, und | deren Besiz also unzertrennlich ist von der Versezung in eine Klaße, die zu der nächst-folgenden Bildungs-Stufe gehört; und also Angabe des Verhältnißes der verschiedenen Lehrobjekte in einer jeden Bildungs-Stufe, wonach erkannt wird, wieviel zu gleicher Zeit in jedem derselben von einem Zöglinge geleistet sein muß. Bestimmung der Unterabtheilungen, deren hier in jeder Bildungsstufe zwei angenommen worden. Daß im Fortschritte von einer dieser Unterabtheilungen zur andern, eine Kompensazion der Fertigkeit in dem einen Lehrobjekte gegen das Zurükbleiben in einem andern statt finde, nicht aber in jenem von der einen Bildungsstufe zur andern. Verhältniß der Zeit, die jedem Lehrobjekte gewidmet wird, oder Anzahl der Stunden für jedes. 7 „Nährstand: die Klasse von Staatsbürgern, welche durch Erwerb (Handel, Gewerbe, Ackerbau etc.) ihren Lebensunterhalt beziehen, im Gegensatz zu dem Lehrstand, welcher zur Unterweisung Anderer dienende Individuen, bes. den Clerus, u. zu dem Wehrstand …“ (Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, Bd. 1–19, 4. Aufl., Altenburg 1857–1865, hier Bd. 11, 1860, S. 651)

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Bedarf des Lehrerpersonale zu Bestreitung dieser Unterweisungen. | Unterricht in Singen und gymnastische Übungen, außerhalb der vorher angegebenen Lehrzeit. Von den Ferien. Einrichtung der Zeugniße, die den Abgehenden zur Universität ertheilt werden. Schema der Lehrstunden. GLS.

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Nr. 27 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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Juli 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Johann Friedrich List GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 124r Keine Von Schleiermachers Hand unter seiner Unterschrift: „cito.“ Die Reinschrift dieses Briefentwurfs (GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 125r) trägt das Datum vom 17. Juli 1810; Schleiermacher hat unten auf dem Blatt eigenhändig notiert: „Da ich heute Abend auf zwei Tage verreise, ist das möglichst zu beschleunigende mundum H Dir. Bernhardi zur Unterschrift vorzulegen. Schl.“

Decret. Dem p List zu schreiben daß da seine mündliche Prüfung sowol als seine Probelection nicht zur Zufriedenheit der Deputation ausgefallen: so wolle sie ihm gern noch eine Probelection in einer niederen Classe gestatten und habe er sich deshalb baldmöglichst bei dem Director Bernhardi zu melden. Schleiermacher

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Nr. 28 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

28. Juli 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Johann Friedrich List GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 129r; amtliches Schreiben mit Schleiermachers eigenhändiger Unterschrift Keine Der Entwurf dieses Briefes stammt von Schleiermachers Hand als Randnotiz auf dem Bericht über die Prüfung Lists (GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 126r, vgl. unten S. 98)

An den Herrn Candidaten List zu Marienwerder p. Post

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Dem Candidaten List wird, in Bezug auf den Verlauf seiner Prüfung, hierdurch bekannt gemacht: daß, falls er bei einer gelehrten Schule angestellt zu werden wünschen sollte, die unterzeichnete Deputation ihn auffordere, sich nach einem halben Jahre, wenn er durch fleißige Studien während dieser Zeit sich besser qualificirt zu haben glaubt, zu einer abermaligen Prüfung zu melden. Berlin den 28ten July 1810. wissenschaftliche Deputation Schleiermacher

2 Vgl. den Prüfungsbericht im Anhang, unten S. 98–100

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Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht

Anhang zu Nr. 28 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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28. Juli 1810 Georg Ludwig Spalding, Wissenschaftliche Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 126r–128r Keine Der Bericht enthält Korrekturen und Ergänzungen von Schleiermachers Hand und ist sowohl von Spalding als auch von Schleiermacher unterzeichnet. Auf dem Rand der ersten Seite (Bl. 126r) befinden sich folgende Notizen von Schleiermachers Hand: „1. Das Mundum zur Unterschrift vorzulegen. 2. exped. an den List daß in Bezug auf den Verlauf seiner Prüfung die Deputation ihn falls er bei einer gelehrten Schule angestellt zu werden wünscht auffordert sich nach einem halben Jahr wenn er durch fleißige Studien während dieser Zeit sich besser qualificirt zu haben glaubt, wieder zu melden. Schleiermacher 28t July 10.“

Bericht der wissenschaftlichen Deputation über die Prüfung des Candidaten List Der Candidat Joh. Friedr. List solte, nach dem Auftrage Einer hochpreislichen Section für den Öffentlichen Unterricht, theils zu dem Amte eines fünften Lehrers der gelehrten Schule zu Marienwerder, theils auch im Allgemeinen in Absicht seiner Lehrfähigkeit in Gymnasien geprüft werden. Es wurden ihm zur schriftlichen Ausarbeitung, außer einem kurzen lateinischen Aufsaz über seine Lebensumstände, aufgegeben 1. Eine lateinisch abzufaßende Erläuterung einer Stelle aus Platons Gorgias von p. 482 C – 486 D ed. Steph. 2. Eine deutsche Abhandlung über die Art, den lateinischen Stil auf Schulen zu lehren und zu üben. Muße und freier Gebrauch der Hülfsmittel ward, wie immer, dem Candidaten zugestanden. Zu Probelectionen wurde ihm die Erklärung der zweiten horazischen Ode des ersten Buches in der ersten Klaße des Friedrichs-Gym1–2 Bericht … List] von Schleiermachers Hand

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nasiums, und in eben derselben ein historischer Unterricht über Karl den Fünften, besonders in seinen Verhältnissen mit Franz dem Ersten bestimmt. | Der mündliche Vortrag in diesen Lehrstunden verrieth weder einen hinreichenden Stoff von Kentnißen über die Gegenstände noch Leichtigkeit in Mittheilung eigner Ideen, oder in Erwekkung fremder. Die horazische Ode ward, ohne Nachforschung, ob die Schüler das Abweichende theils der allgemein poetischen theils der eigenthümlichen Sprache dieses Dichters inne hätten, mehr mit allgemeinen aesthetischen Bemerkungen kommentirt, und viel Zeit in Abfragung des Inhalts verloren. Vom Metrum geschah überall keine Erwähnung. Bei den meisten Stellen blieb es ungewiß, ob Lehrer und Schüler in ihrer Ansicht des Einzelnen derselben übereinstimmten. Eigentlich falsche Erklärungen konten weniger bemerkt werden, eben um dieser Allgemeinheit willen, worin der Vortrag sich hielt. Der historische Unterricht hatte keine Freiheit und Lebendigkeit, weil die Materialien meist ängstlich aus einer schriftlichen Anzeichnung zusammengesetzt wurden. Doch sollte ein gewisser Glanz der Beredsamkeit in der | Einleitung über den Gegenstand verbreitet werden, weder gründlich noch geschmackvoll genug noch dem Schulunterrichte angemeßen. Da der Kandidat äußerte daß nicht so wohl philologische als mathematische und physikalische Stunden seine Hauptbeschäftigung gewesen wären, so ward er noch besonders in der Mathematik geprüft. Aber hier, wie übrigens in dem Gespräche, das über seine schriftlichen Arbeiten mit ihm angestellt worden, haben sich keine sicheren Kentniße und kein gründlicher nach Zusammenhang strebender Geist gezeigt. Von der Mangelhaftigkeit seiner mathematischen Kentniße kann es zum Beweise dienen, daß er behauptet, die Seiten eines Dreiecks seien ihren gegenüberstehenden Winkeln proporzional, und daß er den Beweis nicht zu führen vermag, daß die Tangente auf dem radius einen rechten Winkel bildet. Im Griechischen konnte er mündlich von den in seinem Aufsaz gemachten Fehlern nicht vieles | verbessern, und fand Schwierigkeit die nunmehr schon durchgearbeitete Stelle befriedigend ins Deutsche zu übersezen. Sein lateinischer Stil zeigte sich nicht nur völlig entfernt von antiker Art und Kunst, sondern auch durch manche grammatische Fehler verunziert. In dem deutschen Aufsaze war weder Lehrweisheit zu bemerken, noch auch gründliche Durchdenkung des Gegenstandes selbst. Die mündliche Auffoderung zur Berichtigung mancher darin vorgetragenen Ideen lokte auch nichts Beträchtliches hervor zu deren Vertheidigung Beschränkung oder Erweiterung.

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Amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht

Das Examen über Physik und Naturbeschreibung zeigte einige historische Bekantschaft mit hiehergehörigen Gegenständen doch ohne gehörige Verbindung. Ein gleiches war bei der Prüfung über die Geschichte sichtbar, wo die Anzahl der dem Candidaten bekannten Tatsachen keinesweges groß genug war, um den Mangel an Zusammenhang in der Übersicht derselben zu ersezen. In Erwägung der ursprünglichen Veranlaßung zu diesem Examen, als welches in dem Rufe zu einer Stelle als fünfter Lehrer bestand, sahe | die Deputazion es für zwekmäßig an, noch eine Probelection in einer niedrigeren Klaße (nämlich Quarta) des Friedrichs-Gymnasiums vorzunehmen. Diese sollte sowohl im Lateinischen als Deutschen die Regeln der Wortfügung zum Gegenstand haben. Im Lateinischen ward verlangt, mit den Knaben den Gebrauch des Conjunctivs durchzugehen; im Deutschen den Gebrauch der Präposizionen zu erläutern. Das erste geschah wiederum mit der Befangenheit die keinen Schritt weit abwich von der in Händen gehaltenen Bröderschen Grammatik; das andere zwar allerdings mit größerer Lebhaftigkeit und Erregung der Aufmerksamkeit, doch ohne fruchtbare Auseinandersezung der dem kindlichen Verstande etwa schwierigen Materien. Die Deputation hat daher den List anstatt eines Zeugnisses nur dahin bescheiden können sich nach Verlauf eines halben Jahres wenn er glaube durch fleißige Studien besser qualificirt zu sein wieder zu melden. Schleiermacher

GL Spalding.

2–3 ohne … Verbindung.] mit Einfügungszeichen am Rand von Schleiermachers Hand, folgt )in keinem gehörig durchdachten Systeme* 21–24 Die … melden.] mit Einfügungszeichen am Rand von Schleiermachers Hand

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Nr. 29 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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29. Juli 1810 Johann Friedrich List Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 130r–130v Keine Am Rand von Blatt 130r findet sich die Notiz von Schleiermachers Hand: „Zu den Acten Schl. 30.“ Der Umschlag des Briefs, bei der Archivierung als Blatt 131r nummeriert, trägt folgende Aufschrift: „An Herrn Professor Schleiermacher Wohlgeboren, hieselbst Mauerstraße, unweit der Dreifaltigkeitskirche“

Wohlgeborner HErr, Insonders hochzuverehrender HErr Professor!

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Obgleich ich bis jetzt noch nicht das Testimonium über den Ausfall meiner Prüfung zugefertigt erhalten habe; so kenne ich doch den wesentlichen Inhalt desselben seit vorgestern durch eine mir gefälligst gestattete Einsicht in das Journal des expedirenden Bureaus für die Sektion des Kultus. Meine Verhältniße erlauben es mir nicht, einen kostbaren Aufenthalt hieselbst noch weiter unnützer Weise zu verlängern, noch weniger ein nach Verlauf eines halben Jahres mir bewilligtes zweites Examen hier in Berlin abzuwarten. Heute gedenke ich mit der Post nach Marienwerder abzureisen; und deshalb geht mei|ne ergebenste Bitte an Ewr Wohlgeboren dahin, es gefälligst zu veranlassen, daß jenes Zeugniß unter meiner Adresse unmittelbar an mich nach Marienwerder über Post geschickt werde. Um aber alle Weitläuftigkeiten wegen der Berichtigung der bei dem Examen statt gefundenen Unkosten zu vermeiden: so ist die Naucksche Buchhandlung, Schinkenplatz No 1. hieselbst so gefällig gewesen, dieselben für mich übernehmen zu wollen. Es wird also nur nöthig sein, die Liquidation darüber bei ihr in meinem Namen abgeben zu lassen.

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Mit schuldiger Hochachtung Ewr Wohlgeboren ergebenster Fr. List. Berlin den 29 Jul. 10. 15–16 Die Naucksche Buchhandlung war am Hausvoigteiplatz Nr. 1; diesen Platz nannten die Berliner aufgrund seiner Form „Schinkenplatz“.

Nr. 30 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

3. August 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht, Georg Heinrich Ludwig Nicolovius Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Schleiermacher Nachlass Nr. 510 KGA V/11, S. 451–454 Auf dem ersten Blatt oben findet sich ein Eingangsvermerk: „pr. d. 3. Aug. 1810“

Die Art wie meine jezige Anstellung bei der Section des öffentlichen Unterrichtes in Beziehung auf den zu errichtenden akademischen Gottesdienst neuerlich zur Sprache gekommen ist veranlaßt mich oder nöthigt mich vielmehr eine unumwundene Erklärung meiner Ansicht darüber bei Ewr. Hochwohlgebohren als gegenwärtigen Chef der Section zu jedem beliebigen Gebrauch niederzulegen. Des Königs Majestät haben mich als ordentliches Mitglied der Section des öffentlichen Unterrichts anzustellen geruht, und mir in d i e s e r n e u e n Q u al i t ät ein Jahrgehalt von 2000 Rth ausgesezt. Dies scheint sehr viel, und schien mir selbst im ersten Augenblik auch so. Allein in der Cabinetsordre ist selbst darauf gerechnet, daß ich mich bei der Dreifaltigkeitskirche muß subleviren lassen, und hiezu glaubte ich nicht weniger als 300 Rth bestimmen zu können; es ist ferner darauf gerechnet, daß ich, sobald es sich thun läßt, auch das Directorat der wissenschaftlichen Deputation abgebe, was auch mit meiner eignen Ueberzeugung übereinstimmt. Dadurch verliere ich anderweit 400 Rth, welche man mir, wie ich aus dem was die Cabinetsordre aus dem Antrag herübergenommen hat schließen muß, sonst nicht leicht würde wieder entzogen haben, und es bleibt also für mich nur ein reines Plus von 1300 Rth übrig. Da nun der Antrag dahin 20 1300] korr. aus 1200 5–6 Georg Heinrich Ludwig Nicolovius (1767–1839) hatte nach dem Weggang Wilhelm von Humboldts im Juni 1810 die interimistischen Leitung der Sektion für den Kultus und öffentlichen Unterricht beim Innenministerium übernommen (am 20. November löste ihn Kaspar Friedrich von Schuckmann ab).

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muß gelautet haben, daß die Section eines ordent lichen Arbeiters nothwendig bedürfe, und daß ich mich einigermaßen dazu eigne: so schloß ich daß man mir etwas mehr als die halbe Arbeit eines Staatsrathes leicht geben könnte, die ich auch nun noch neben meinen andern Geschäften bestreiten zu können glaube, und so schien mir auch etwas mehr als das halbe Gehalt eines solchen nicht mehr eine außerordentliche, irgend jemanden benachtheiligende, Begünstigung zu sein, welche ich niemals würde angenommen haben. | Allein es kommt nun noch folgendes hinzu. Ich habe bei der Universität nur 800 Rth. Niemand wird hoffentlich sagen, daß ich auch dort wie bei der Section nur ein Nebenarbeiter sein solle, und deshalb auf kein volles Gehalt Anspruch zu machen hätte. Auch haben des jezigen Herrn Ministers von Humboldt Excellenz mich bald nach Ihrer Rükkunft aus Königsberg mehrmals versichert, daß ich allerdings, sobald ich in voller Thätigkeit bei der Universität wäre, auch in das volle Gehalt eines ordentlichen Professors, dessen Hauptgeschäft die Professur ist, einrükken sollte. Hiezu ist keine Aussicht, und es hat sich gezeigt, daß bald nach der lezten Bewilligung für die theologische Facultät nur noch 2 höchstens 3 gewöhnliche Gehalte übrig blieben, und für mich also der billige Zuschuß nicht auszumitteln war. Auch erklärten mir der Herr Minister von Humboldt Exc., als Sie zum erstenmal wegen des für mich zu machenden Antrages mit mir sprachen, daß eben weil mir bei der Universität nichts mehr gegeben werden könnte, Sie dafür sorgen wollten, daß ich bei der Section desto mehr bekäme. Aehnlich äußerten sich, ehe ich noch von jenem Antrag etwas wußte, bei einer Conferenz die Staatsräthe Herren Süvern und Uhden, als ich von meinen Ansprüchen an den Universitätsfond sprach; nemlich „ich möchte darüber ruhig sein, weil Herr von Humboldt andere Anträge zu meinem Besten machen wolle“. Das gewöhnliche volle Gehalt eines ordentlichen Professors bei der hiesigen Universität ist zu 1500 Rth anzunehmen, woran mir noch 700 Rth fehlten auf welche ich die billigsten und gegründetsten Ansprüche hatte. Indem ich also jenen Aeußerungen zufolge auch diese 700 Rth auf jene 2000 Rth abrechnete, und mich aller weiteren Ansprüche an den Universitätsfond, wie ich auch noch thue, gänzlich entschlug: so blieben mir für die Arbeiten in der Section nur reine 600 Rth übrig, welches das Viertheil von dem Gehalt eines Staatsrathes ist. Mehr als ein Viertheil seiner Arbeiten werde ich wol immer haben müssen, wenn das in dem Antrag erwähnte Bedürfniß der Section nicht eine leere Phrase sein soll, und so kann wol Niemand hierin etwas entdekken, was zuviel wäre. 7–8 welche] korr.

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Will mir aber nun zugemuthet werden, für jene 2000 Rth | auch noch das übrige meiner Einkünfte an der Dreifaltigkeitskirche ohne Entschädigung aufzuopfern um dafür den akademischen Gottesdienst zu übernehmen: so müßte ich noch 700 Rth abrechnen. Jene 600 Rth gingen also ganz darauf, ich müßte noch 100 Rth von meinen billigen Ansprüchen an den Universitätsfond fahren lassen, und hätte die Arbeiten bei der Section umsonst zur Zugabe. Daß ich mich dazu nicht verstehen kann, wird jeder billig Denkende einsehn. Sagen des Herrn Minister von Humboldt [Exc.] dennoch, dies sei bei dem Antrage Ihre Idee gewesen: so kann ich nur auf eben diese Weise betheuern, daß wenn mir davon das Geringste officiell oder mündlich wäre gesagt worden, ich die Anstellung bei der Section gänzlich würde deprecirt, und nur unterthänigst gebeten haben, meine Ansprüche an den Universitätsfond zu realisiren. Dann hätte ich als Professor 1500 Rth gehabt und meine Stelle an der Dreifaltigkeitskirche; niemandem würde es haben einfallen können, daß ich diese ohne Entschädigung aufgeben sollte, ich würde also in diesem Falle mit 1000 Rth entschädigt worden sein, und o h n e al l e Se c t i o n s geschä f te 2500 Rth, mit Einschluß der Deputation aber 2900 Rth gehabt haben, eine Existenz die der weit vorzuziehen wäre, welche mir jezt zugemuthet werden will. Jene war eigentlich was ich wünschte, weil ich es fordern konnte, und über die Billigkeit dieser Forderung war ich so sicher, daß ich fest entschlossen war, wenn man mich in das volle Gehalt eines Professors nicht gesezt hätte, meine öffentliche Anstellung bei der Universität ganz aufzugeben, und nur als Privatdocent aufzutreten, bis sich auswärts eine Anstellung fände welche von mehrerer Schäzung zeugte. Aus dieser treuen Darstellung scheint mir sehr klar hervorzugehen, daß ich auf die mir bei der Section angewiesenen 2000 Rth nur eins von beiden abrechnen kann, entweder meine ganze Stelle an der Dreifaltigkeitskirche mit Vorbehalt meiner Ansprüche auf 700 Rth Zulage bei der Universität, oder diese Ansprüche mit Vorbehalt | dessen was mir nach Abzug der Sublevationskosten noch an der Dreifaltigkeitskirche übrig bleibt. Uebrigens aber ist es auf jeden Fall ganz unmöglich daß ich diese Stelle schon zu Michaelis ganz aufgebe; hätte man dies ernstlich gewollt so hätte man alle zu Einrichtung des akademischen Gottesdienstes nothwendigen Schritte mehr beschleunigen müssen. Sofern es übrigens möglich ist für den nächsten Winter beides zu combiniren, was aber nur sehr unvollkommen und nicht ohne Nachtheil geschehen könnte, soll der Anfang des akademischen Gottesdienstes durch mich nicht verzögert werden. Ob ich ihn aber völlig übernehme, das wird gar nicht von jenem ökonomischen Arrange11 officiell] oder officiale

41 ökonomischen] über )Q R*

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ment allein abhängen; sondern vorzüglich davon, ob er auf eine solche Weise eingerichtet wird daß ich ihn mit voller Ueberzeugung allein übernehmen kann. Denn wenn man dabei irgend eine äußere Trennung der beiden protestantischen Confessionen festhält, würde ich es für weit zwekmäßiger halten ihn entweder zwischen einem lutherischen Universitätsprediger und mir zu theilen, oder ihn ganz einem lutherischen zu übergeben. Beides würde sich, falls Prof. Marheinecke den an ihn ergangenen Ruf annimmt, ohne sehr bedeutende Ausgaben einrichten lassen. B. d 3t Aug. 1810. Schleiermacher

Nr. 31 Datum: Autor: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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13. August 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4, Bl. 134r–134v Keine Keine

I n b e i d e h i e s i ge Z e i t u n ge n e i n z u rükken In Bezug auf das Edict d. d. 12t Jul. dieses Jahres die allgemeine Prüfung der SchulamtsCandidaten betreffend und besonders auf dessen § 16 macht die unterzeichnete Deputation hiedurch bekannt: 1.) Sie hat zu diesen Prüfungen die Monate May und October jedes Jahres bestimmt. 2.) Jeder der geprüft sein will, mit Ausnahme derer welche sich nach § 8 no 1 nur als rite prononcirten zu legitimiren brauchen, hat sich bei ihr unter Einreichnung eines lateinisch abgefassten curriculum vitae schriftlich zu melden, worauf er sogleich die Aufgaben zu seinen schriftlichen Arbeiten erhalten wird. Wer von einer bereits von ihm verfaßten litterarischen Arbeit glaubt, daß sie ihn dieses Theils der Prüfung überheben könne, kann selbige mit einreichen und Bescheid darüber erwarten. 3.) Mit den schriftlichen Arbeiten oder statt ihrer der nöthigen Legitimation haben sich dann die zu Prüfenden bei dem jedesmaligen Director | der Deputation persönlich, und zu solcher Zeit zu melden, daß die Prüfung noch während des Verlaufs eines von den genannten 13 kann] davor )hat* der Zeile

15–16 oder … Legitimation] mit Einfügungszeichen über

1 Die Vossische und die Spenersche Zeitung 2–4 Das „Edict wegen einzuführender allgemeiner Prüfung der Schulamts-Candidaten“ vom 12. Juli 1810 ist zu finden: GStA PK, I. HA Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. Z, Nr. 1, Bd. 1, Bl. 50r–53v. Der § 16 (Bl. 53r) lautet: „Junge Männer, die der angeordneten allgemeinen Prüfung sich entweder unterziehen wollen, oder laut dieser Unsrer Verordnung zu unterziehen gehalten sind, können sich bei einer der drei Abtheilungen der wissenschaftlichen Deputation, welche die Termine, wo dergleichen Gesuche am bequemsten anzubringen sind, bekannt machen werden, sofort melden.“

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Monaten kann abgehalten werden, wonach dann jeder seine erste Meldung einzurichten hat. 4.) Sollte jemand wünschen von der persönlichen Anwesenheit hieselbst dispensirt zu werden: so können hiezu nur die dringendsten Gründe bestimmen und kann doch selbst in diesem Fall die Prüfung nur an einem Orte abgehalten werden, wo die Deputation auswärtige Mitglieder hat, das heißt jezt nur in Frankfurt an der Oder oder Stettin. Berlin d. 13. August 1810 Die wissenschaftliche Deputation hieselbst bei der Section im Ministerio des Innern für den öffentlichen Unterricht Schleiermacher

1 wonach] folgt )sich* 1 jeder] folgt )bei* 2 einzurichten] korr. aus zu richten

1 seine] korr. aus bei seiner ersten

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3. September 1810 Wissenschaftliche Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd. 1, Bl. 38r–98r; amtliches Schreiben, von Bernhardi unterzeichnet Keine In einem Brief an J. C. Gaß bezeichnete Schleiermacher diesen Lehrplan als „meinen Plan“, den er gerne drucken lassen würde (KGA V/11, Nr. 3556, 68–71). Aufgrund der Abwesenheit Schleiermachers unterschrieb Bernhardi den Plan eigenhändig: „In Abwesenheit des Direktors [.] Bernhardi“. Die Korrekturen im Text stammen im Wesentlichen von seiner Hand. Mit Schreiben vom 21. September (Bl. 36r) übersandte er der Sektion für den öffentlichen Unterricht den Lehrplanentwurf: „Der Unterzeichnete übergiebt dem Auftrage des abwesenden Doktor und Profeßor Schleiermacher gemäß einer Hochpreislichen Sektion gehorsamst den beikommenden Entwurf eines Lehrplans für gelehrte Schulen, mit dem Wunsche daß der Inhalt dem Auftrage und den Erwartungen der Hochpreislichen Sektion entsprechen möge. Ich habe die Ehre zu sein Einer Hochpreislichen Sektion gehorsamster A. F. Bernhardi. Berlin d 21. September 1810.“ Schleiermacher reiste am 3. September nachmittags oder abends ab nach Dresden und blieb bis zum 25. September verreist (vgl. Tageskalendereintrag vom 3. September 1810, oben S. XLIV: „Mittag bei Dohna. Wissenschaftliche Deputation. Abreise“)

Entwurf der wissenschaftlichen Deputation zur allgemeinen Einrichtung der gelehrten Schulen. Die wissenschaftliche Deputation hat sich, aufgefordert von der hochpreislichen Section für den öffentlichen Unterricht seit geraumer Zeit fast ausschließend mit dem Gedanken an einen allgemeinen Lehrplan für unsere gelehrten Schulen beschäftiget. Sie kann aber der Section das Resultat ihrer Arbeiten nicht übergeben, ohne derselben vorher zu erkennen zu geben, wie sehr sie auf der einen Seite zwar die Noth-

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wendigkeit allgemeiner Anordnungen einsieht, auf der anderen Seite aber auch eben so deutlich die mannigfaltigen großen dabei obwaltenden Schwierigkeiten. Der Nachtheil, welchen einzelner einseitiger Directoren und Lehrer bis jetzt eigentlich durch nichts gezügelte Willkür stiftet, ist nicht abzuläugnen und eben so wenig zu verkennen, daß der Mangel allgemeiner Vorschriften nur zu sehr die Anstellung untauglicher Lehrer und die Fortdauer unzweckmäßiger und unzureichender Einrichtungen begünstigt. Auf der andern Seite scheint es dagegen sehr gewagt gerade jetzt solche allgemeine Vorschriften aufstellen zu wollen. Das Interesse mit welchem seit mehreren Jahren eine große Anzahl geistvoller Männer und Jünglinge über die Methode des Unterrichtes Forschungen und Versuche anstellen, wird hoffentlich nicht ohne Resultate bleiben; und wenn gleich man sich bis jetzt mehr den Elementarunterricht | zum Gegenstand genommen hat, so wird doch unfehlbar nach den ersten glücklichen Erfolgen auf jenem Felde auch der höhere Unterricht mit demselben Eifer behandelt werden. Wieviel hier noch geschehen kann und muß, das ist den Mitgliedern der Deputation bei dieser Gelegenheit mehr als jemals deutlich geworden vorzüglich daraus, daß die Zeit welche man den Schülern und die Anstrengungen welche man dem Staat zumuthen darf, bei der bisherigen Verfahrungsart fast gar nicht zureichen wollten, um das zu leisten, was man fast nothwendig unter dem Zweck der gelehrten Schulen befassen muß. Da nun die Deputation ihren Entwurf nur mit Rücksicht auf das, was in wohl eingerichteten Schulen jetzt geleistet werden kann, abfassen durfte: so muß sie von dieser Seite angesehen sogar wünschen, daß die Fortschritte in der Kunst des Unterrichts recht bald ihren Plan überholen und unzulänglich machen mögen. Hiezu kommt noch, daß viele Schulen freilich in dem Fall seyn mögen umgeschaffen oder so gut als neu geschaffen werden zu müssen, viele aber auch nicht, und daß diese jede unter ihren eigenen Bedingungen entstanden sind und bestehen. Bei allen diesen nun wird es doch meistens auf den guten Willen der Directoren und Lehrer und auf eine Uebereinstimmung ihrer eigenen Einsicht mit dem Entwurf ankommen, in wie fern sie sich derselben fügen werden oder nicht, indem es an Vorwänden Abweichungen zu beschönigen nicht leicht fehlen kann. Und wo beides oder auch nur eins von beiden vorhanden ist, da ist eine allgemeine Norm als solche sehr entbehrlich. Wenn | aber endlich auch diese Rüksicht gar nicht einträte: so ist das Geschäft der Lehrer durchaus ein solches, bei welchem nicht nur eine bestimmte SeelenKraft sondern das ganze Gemüth thätig seyn muß, und eben ein solches scheint mir bei der vollkommensten Freiheit am voll35 Vorwänden] folgt )un*

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kommensten gedeihen zu können. Allerdings muß auch Einheit in dem Geschäft sein und Uebereinstimmung der Mitarbeitenden aber auch diese muß eine möglichst freie sein und kann weniger durch eine aufgestellte Norm erreicht werden, als vielmehr die Behandlung der Wissenschaften auf den Universitaeten und in den practischen Uebungsanstalten für Schullehrer darauf wirken muß. Dies alles zusammen genommen kann die Deputation nicht wünschen an ihrem Entwurf ein auf ewige oder auch nur auf lange Zeiten feststehendes Werk geliefert zu haben, sondern nur den Grund gelegt zu einer allgemeinen Einigung über die Sache und zu einer lebendigeren Wechselwirkung zwischen sich und den gelehrten Schulen des Staates. Sie wünscht wenn Eine hochpreisliche Section für den öffentlichen Unterricht den Entwurf entweder wie er hier ist, oder mit den Veränderungen welche die Einsichten derselben darin hervor bringen werden, sanctionirt, daß dies doch nur in der Art geschehe, daß es ein Gegenstand des pflichtmäßigen Berichts der Gymnasien wird, wieweit sie sich demselben und warum nicht mehr genähert haben, oder aus welchen Gründen sie davon wieder abgewichen sind. Auf diesem Wege wird man gewiß nicht lauter Mängel, sondern auch manches erfahren, was den | Entwurf übertrift und verbessert, und so kann der Plan ein Kern werden von welchem sich alle wichtige Erfahrungen die auf unsern gelehrten Schulen gemacht werden, wieder absetzen, und wird dann die Deputation in den Stand gesetzt werden diese zum Besten des Ganzen zu combiniren und weiter zu verarbeiten: so kann ein lebendiges Fortschreiten so wohl als eine wachsende und wahrhaft nationale Gleichförmigkeit erwartet werden.

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I. Al l g emeine A nsicht von de m Z wek der gelehrten S c h u l e n , und ihr en wes ent lichen Lehrgegenständen. Man wird wohl jetzt darüber allgemein einverstanden seyn, daß der Endzwek der Schulen nicht blos darauf geht der Jugend eine gewisse Masse von Kenntnissen beizubringen, oder Fertigkeiten mechanisch einzuüben, sondern daß dies nur die eine Seite desselben ist, und daß mit dieser zugleich fort gehen soll die andere, nemlich die Entwickelung der geistigen Kräfte. Bei den gelehrten Schulen insbesondere er17 warum] mit Einfügungszeichen über der Zeile 21 welchem] welchen den] mit Einfügungszeichen über der Zeile 30 Endzwek] Entzwek

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hellt dies ganz unwidersprechlich aus ihrem Zusammenhang mit den Universitäten dem sie ihre Zöglinge überliefern auf welchen schon ein freier Gebrauch der eignen geistigen Kräfte eben so sehr als eine gewisse Maasse von Kenntnissen vorausgesetzt wird, und wo ihnen ohne bestimmte Leitung der Beschäftigungen nur noch Anregungen zu ganz freier Benutzung hingegeben werden. Beides muß also mit und durch einander fortgehen. Die Kenntnisse welche von außen vor|gehalten und die Thätigkeiten welche geboten werden um sie aufzunehmen sollen die ihnen entsprechenden Kräfte aufregen und ins Spiel setzen, und jede neu aufgeregte Kraft dann auch wiederum an neuen Gegenständen sich üben, und sich ihrer bemächtigen. Hieraus ergiebt sich schon ein allgemeines Gesez in Absicht auf das Verfahren in den einander entgegengesetzten untern und obern Klassen der gelehrten Schulen. Je mehr nach unten nehmlich um desto mehr streng geboten und in mehreren eben weil die individuellen Unterschiede noch nicht entwickelt sind, ganz gleichmäßige Thätigkeit, desto mehr Vorhaltung von Kenntnissen wenn sie auch noch nicht ganz können verstanden werden; je näher hingegen der Universität, um desto vollkommener muß alles was sie noch lernen aus dem was sie schon wissen entspringen, und um desto mehr muß schon auf freie und in Ideen sich eigen gefallende Thätigkeit gerechnet werden. Dieses Gesez wie es den inneren Character des Verfahrens bestimmt, muß sich nach der Meinung der Deputation auch äußerlich aussprechen, theils darin, daß in den untersten Classen wenig oder keine häuslichen Arbeiten aufgelegt werden, von denen auch die allgemeine Erfahrung lehrt wie schlecht sie gerathen, und wie wenig dadurch gewonnen wird, in den obern Klassen hingegen desto mehrere und mannigfaltigere, theils auch darin, daß überhaupt die der Schule zu widmenden täglichen Stunden in den untern Classen mehr waren in den obern aber weniger. Allein der leztere Unterschied ist doch in ihrem Entwurf selbst nur sehr unbedeutend ausgefallen, und sie kann dies daher nur als etwas auf|stellen, worauf erst allmählig muß hingearbeitet werden. Derselbe Zusammenhang der gelehrten Schule mit der Universität bestimmt ihr auch schon von der einen Seite die Grenze ihrer Bestrebungen. Nemlich sie soll allerdings die Totalität der geistigen Kräfte entwickeln in wie fern diese das Wissen und das unmittelbare Darstellen des Gewußten als solchen zum Gegenstande haben, aber eben nur in Beziehung auf die bestimmten von einander verschiedenen Gegenstände des Wissens, dagegen die absolute Einheit aller jener Richtungen die schlechthin immer und in allen gleiche Seite jener Kräfte die wir mit dem Namen Philosophie bezeichnen, muß lediglich der Uni8 um] und

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versität überlassen bleiben. Vorgeübt und vorbereitet werden zwar die Zoeglinge dazu auf der Schule, je mehr von allen Seiten im Unterricht die systematische Form und der innere Zusammenhang heraustritt, aber als ein eigentlicher Lehrgegenstand vorhanden seyn darf nichts philosophisches. Von der andern Seite erhellt eben daher, daß die gelehrten Schulen in Absicht auf die Gegenstände welche sie behandeln ganz universell seyn müssen. Alles gehört ihnen wesentlich an, was zur gemeinsamen Bildung derjenigen beiträgt welche sich bis zur Wissenschaft erheben wollen, eben so aber muß alles ausgeschlossen bleiben, was seine Abzweckung jenseits dieses Punktes hat, und nur auf einen bestimmten Gegenstand sich bezieht, auf welchen einzelne in der Folge ihren wissenschaftlichen Geist anwenden wollen. Aus den gelehrten Schulen muß alles entfernt werden, was ihnen das Ansehen geben könnte Specialschulen für einen oder den | andern einzelnen Stand zu seyn. Womit die gelehrten Schulen endigen, und was sie im Allgemeinen umfassen müssen, das ist hieraus dem Wesen nach bestimmt, schwieriger scheint es zu entscheiden, womit sie anfangen sollen, und in welchem Verhältniß sie demnach zu den Elementarschulen stehen, ob sie nemlich alles was in diesen gelehrt wird voraussetzen die Zöglinge aus ihnen empfangen, und nur das was sich auf die frühere wissenschaftliche Bildung bezieht hinzu fügen, oder ob sie selbst überall von vorne anfangen sollen. Das erstere scheint indeß gar nicht praktisch zu seyn. Alle eigenthümlichen Lehrgegenstände der gelehrten Schulen haben eine völlig elementare Seite, und es giebt nur ein gewisses Alter welches sich dazu eignet der Seele dieser Elemente einzuprägen. Erst wenn unsere Elementarschulen so ganz umgeschaffen wären, daß man voraussagen könnte, das Gedächtniß würde durch sie so systematisch gestärkt, daß auf ihnen vorbereitet eilf oder zwölfjährigen Knaben nachher noch die ersten Elemente der alten Sprachen mit Leichtigkeit und in einer desto kürzern Zeit fassen würden, nur dann könnte an eine Isolirung der gelehrten Schulen als solcher ohne Nachtheil gedacht werden. Für jetzt also hat die Deputation angemessener gehalten von der Voraussetzung auszugehen, daß die gelehrte Schule den ganzen Unterricht von den ersten Elementen an bis zur Universität hin besorgt, und von einem Zögling, den sie als einen Anfänger in ihre unterste Klasse aufnimmt nichts weiter fodert, als daß er Wörter und Zahlen mechanisch mit Geläufigkeit | lesen und die deutschen und lateinischen Schriftzüge wenn auch nur mühsam malen kann. Man rechnet daher auf einen wenigstens zehnjährigen Aufenthalt derjenigen Zöglinge, welche den ganzen Cursus durch machen vom ach14 einzelnen] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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ten Jahre bis ins achtzehnte. Je mehr man nun vielleicht in der Folge von dem auch nur aus dem mütterlichen Unterricht kommenden Anfänger erwarten kann, desto mehr werden dann auch die Schulen ohne ihre Mittel zu erweitern leisten können. Wenn man nun die Abstufung hinzu nimmt welche die hochverordnete Section selbst in der Verfügung vom 14. May anni currentis bereits festgesetzt hat zwischen höheren Elementar oder Stadtschulen und höheren Stadtschulen einer Abstufung mit welcher die Deputation ganz einverstanden ist, so ergiebt sich daraus, daß sowohl die höhere Elementarschule als die höhere Stadtschule mit in die gelehrte Schule zu Einem Ganzen aufgenommen sind. Diese faßt demnach drei verschiedene Bildungsstufen in sich, welche also auch auf zwiefache Weise zu betrachten sind, jede für sich, und jede in ihrer Beziehung auf die folgende. Die falsche Maxime, jede Stufe auf welcher der Knabe und Jüngling sich befindet, nur als einen Uebergang zur folgenden, also nur als Mittel zu betrachten führt theils das ganze Unterrichtswesen in einem wunderlichen Kreise herum, theils weil man von ihr aus nie darauf sieht, daß der Zögling eine gewisse Stufe des Daseyns genieße, und sich ihrer mit Bewußtsein erfreue, sondern ihn immer nur auf eine Zukunft, die ihm dunkel ist, und deren Zusammenhang mit der Gegenwart er nicht fassen kann, verweiset, giebt sie der ganzen Praxis etwas | düsteres mechanisches lebloses, wobei die Entwickelung selbst unmöglich gedeihen kann. Sieht man die gelehrte Schule nun so an, als das Ineinandersein der höheren Elementarschule, der höheren Stadtschule und der eigentlichen gelehrten Schule: so sieht man deutlich wie eine jede dieser Stufen, eine eigne Art und Weise des Daseins darstellt, weil aus einer jeden Zöglinge unmittelbar in ein ausübendes Leben übergehen, in welchem sie zwar noch Fertigkeiten erwerben aber nicht mehr neue geistige Kräfte entwickeln, dessen Geist sie also schon vollkommen inne haben. So aus der untern Stufe in den niedern Bürgerstand, aus der mittlern in den Handelsstand, den Stand der Künstler und alle nicht durchaus wissenschaftliche Zweige des Staatsdienstes, aus der höchsten aber in das UniversitätsLeben das streng wissenschaftliche Gebiet, welches sich in Beziehung auf die Schule aus dem selben Gesichtspunkte ansehen läßt. Auf der andern Seite aber ist jede dieser 5–7 Diese an die „Geistlichen und Schuldeputationen der Provinzialregierungen“ adressierte Verfügung der Sektion für den öffentlichen Unterricht, die von Wilhelm von Humboldt unterzeichnet ist, enthält einen bildungstheoretisch begründeten Vorschlag zu einer Gliederung des Schulsystems in vier verschiedene Schularten (Elementarschule, höhere Elementar- oder Stadtschule, höhere Stadtschule, gelehrte Schule), die aufeinander aufbauen und ineinander greifen sollten. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 3r–4r

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Stufen Theil des Ganzen, und also unerläßliche Bedingung, um in regelmäßigem Fortschritt zu der folgenden zu gelangen, daher auch in der Einheit der gelehrten Schule jede schon einiges enthält, was vorzüglich als Vorbereitung zu der folgenden muß angesehen werden. In einer jeden selbst aber besteht ein Gegensatz zwischen Empfangen und Hervorbringen, nicht freilich als eine gänzliche Trennung, aber doch so, daß früher jenes und später dieses das Uebergewicht hat, und dies motivirt die Eintheilung einer jeden dieser Stufen in zwei verschiedene Klassen. Auf diesem Wege ist die Deputation dahin ge|kommen eine Abtheilung in sechs Klassen als den Normalriß einer gelehrten Schule anzusehen, und sich überall in der Bearbeitung der einzelnen Lehrgegenstände und der Zusammenstellung des Ganzen auf diese Abtheilung zu beziehen. Es kann freylich Schulen geben, welche durch eine zu große Frequenz genöthigt sind, mehrere Abtheilungen zu machen, und andere deren Mittel ihnen nicht erlauben diese Anzahl zu erreichen. Allein es ist die Frage, ob nicht beides auf Misverhältnisse deutet denen eben von der höchsten Behörde des ganzen Unterrichtswesens aus müßte abgeholfen werden. Auf jeden Fall aber sollte allen Schulen jener Anriß weil er in der Natur der Sache selbst gegründet ist, vorschweben um darauf zu denken, wie sie ihre beschränkten Mittel zu ordnen haben, um doch dem wesentlichen nach dasselbe zu erreichen, oder um ihre mehreren Abtheilungen auf jene Ideen zu beziehen, und das rein willkürliche dabei möglichst zu vermeiden. In Beziehung auf diese Ansicht ist auch die Frage entschieden worden, welche überall wo von der Eintheilung einer Schule in Klassen die Rede ist oben an stehen muß, ob nemlich jeder Schüler in jedem Lehrgegenstande in einer und derselben Klasse sitzen muß, oder ob umgekehrt jeder in jeder nach Maasgabe seiner Fortschritte in einer eigenen soll sitzen können. Für welches von beiden man sich auch ausschließend entscheide, es wird immer unnatürlich und schädlich seyn. Das eine muß zum Princip in Absicht der Bildungsstufen gemacht werden, jeder Schüler kann nur in einer und derselben seyn und nicht in eine höhere versetzt werden, bis er in | jedem Lehrobject vollkommen geleistet hat, was auf seiner bisherigen Stufe zu leisten war. Denn die Verschiedenheit der Talente oder der Neigung darf sich auf diesem Gebiete soweit nicht erstrecken, und ein Subject welches während es so in der Pluralität der Lehrobjecte in der 6. Classe sein könnte in einem oder dem andern noch in der fünften seyn müßte ist entweder verwahrloset oder der allgemeinen Bildung, welche der Zweck der gelehrten Schule ist, unfähig. Dagegen ist es allerdings gut 12 der] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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jener Verschiedenheit so viel einzuräumen, daß man das andere zum Princip in Absicht der beiden unter einer und derselben Bildungsstufe befaßten Klassen mache; so daß jeder Schüler in manchen Gegenständen in der einen in manchen in der andern sich befinden kann, den lezten Cursus vor seiner Versetzung in die höhere Stufe ausgenommen. Woraus von selbst folgt, daß in je zwei solchen Klassen die Lehrstunden in jedem Lehrobject streng parallel laufen müssen, sowohl der Lage als der Zahl nach. Was nun die Bestimmung der Lehrgegenstände betrift so ist es auch, wenn man nur die Idee der gelehrten Schule vor Augen behält nicht schwer den Streit zu schlichten welcher zwischen den alten Sprachen und den Wissenschaften obwaltet, die einander gegenseitig bald ausschließen bald wenigstens auf das äußerste beschränken möchten. Die einseitigen Verteidiger der alten Sprachen möchten allen Realunterricht theils auf die Universitäten verweisen wenn er wissenschaftlich theils in die Specialschulen für besondere Stände und Gewerbe wenn er empi|risch seyn soll. Allein wenn auf Universitäten der kurze Zeitraum vorüber ist, welcher von den besseren ausschließlich dem Zwecke gewidmet wird sich des Philosophischen Standpunktes zu bemächtigen: so eilt jeder dem besondern Fache zu welchem er sich widmen will mit gänzlicher Vernachlässigung entweder der naturwissenschaftlichen oder geschichtlichen Seite, und so würde eine allgemeine wissenschaftliche Bildung nie erreicht werden, die doch beiden unumgänglich nothwendig ist, denen sowohl welche ganz den Wissenschaften leben als denen welche wissenschaftliche Ansichten im Großen auf die gemeinen Angelegenheiten anwenden wollen. Zudem muß um die philosophische Seite der Wissenschaften zu verstehen, mit welcher die Universität ihrem Wesen nach anfängt, das Materiale schon gegeben seyn, dessen man sich noch über dies durch solche Thätigkeiten bemächtigt, Gedächtniß nemlich und erhöhte sinnliche Anschauung, welche früher wollen geübt seyn. Die Wissenschaften gehören also nothwendig auf die gelehrte Schule, und wir verstehen darunter Geschichte nebst Geographie, Naturlehre nebst Naturbeschreibung und Mathematik, nur daß der philosophische Theil von allem der Universität vorbehalten bleibt. Die Sache wird noch von einer anderen Seite klar, wenn man bedenkt daß die gelehrte Schule zugleich die höhere Stadtschule in sich schließt. In dieser soll diejenige Klasse der Gesellschaft gebildet werden, welche ohne grade auf dem Standpunkt der Wissenschaft zu stehen, sich doch dadurch | vor der übrigen Volksmasse bedeutend auszeichnet daß sie mit ihrer Thätigkeit nicht an den Umkreis des Staates, oder gar einen kleinen Theil desselben geheftet 7 parallel] paralell

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ist, sondern schon in der cultivirten Welt überhaupt wurzelt, mit den wissenschaftlichen Menschen im Staate so wie mit den Ausländern in vielfache unmittelbare Berührung kommt, also auch durch Handhabung einer größern Masse der verschiedenen und durch Vergleichung desselben zu einer Ahndung des Allgemeinen und also zu einer höhern Bildung sich eignet. Dieser sind daher erweiterte Kenntnisse von der Geschichte sowohl als von der Natur unentbehrlich. Ja ohne das Talent der lebendigen Naturanschauung welches von dem Technischen das in die Specialschule gehört gar sehr unterschieden werden muß, ist die Bildung an welcher es dieser Klasse noch fehlt und die größere allgemeine Anstelligkeit derselben die so vortheilhaft auf das Ganze wirken müßte, und sie sich hernach auch als Erfindsamkeit in den einzelnen Zweigen zeigt, nicht zu erreichen. Was auf der andern Seite, die alten Sprachen betrift, so sind sie zu allgemein unter uns Deutschen als das eigentliche Medium aller höheren Bildung anerkannt, als daß auch nur zu besorgen wäre, sie könnten jemals aus unserer gelehrten Schule vertrieben werden. Wenn sie aber auch schon in der zweiten Bildungsstufe einen wesentlichen Bestandtheil des Unterrichts ausmachen (denn in der untersten stehen sie nur vorbeitungsweise) | so ist dies vorzüglich darin gegründet, daß der Mensch so lange im geistigen Sein ein glebae adscriptus bleibt, als er nur seine Muttersprache kennt und mit seinem Schönheitssinne nur an vaterländische Productionen gebunden ist. Nun aber ist theils um die Sprachkunde zu einer gewissen Allgemeinheit zu erheben nur in den alten Sprachen fester Boden (und von den neuern möchte es nur zweckmäßig seyn in einer andern Hinsicht die eine zu einem wesentlichen Gegenstande des Unterrichts zu machen, welche jedesmal die in dem geselligen Verkehr weitest verbreitete ist, also die französische Sprache für jetzt) theils ist das Urtheil über die Produktion der Kunst in fremden lebenden Sprachen immer durch die politischen Verhältnisse bestimmt, und nur die alten eignen sich dazu, daß sich ein reines Geschmacksurtheil an ihnen bilden kann. In beiden Hinsichten aber ist eine Mehrheit der so zur Muttersprache hinzu kommenden Sprachen wünschenswerth und fast nothwendig, so daß auch auf dieser Stufe schon und nicht nur in Beziehung auf die folgende mit Recht das Griechische neben dem lateinischen steht. Uebrigens sind hier 21 glebae adscriptus: ein zwangsweise an die Scholle Gebundener. „Adscriptio glebae“ ist ein alter Rechtsterminus, der schon im 4. –6. Jahrhundert die erbliche und unauflösliche Bindung des Bauern an das bebaute Land unter der Herrschaft eines dominus beschrieb. Seit dem Ende des 11. Jahrhunderts definierte der Begriff im juristischen Vokabular die Leibeigenschaft. Vgl. Lexikon des Mittelalters, Bd. 1–9, ed. R.-H. Bautier, München/Zürich 1980–1998, hier Bd. 1, 1980, S. 168–169

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überall unter alten Sprachen nur diese beiden gemeint. Das Hebräische muß wohl aus dem Gebiet der Schulen ganz verwiesen werden. Es ist unentbehrlich für den Theologen, aber in so fern gehört es in seine SpecialSchule die am besten mit der Universität verbunden ist. Es ist auch als Repräsentant der orientalischen Sprachen von großer Wichtigkeit für den eigentlichen Philologen, aber es gehört in so fern auch zu seinem besondern Studio, welches erst auf und nach der Universität beginnt. Zu der allgemeinen wissenschaftlichen Bildung zu gehören | hat es gar keinen besondern Anspruch. Auf Universitäten wird deshalb keine Veränderung nöthig seyn denn wegen der unzulänglichen Art wie das Hebräische auf den meisten Schulen gelehrt wurde mußte doch immer Hebräischer Fundamentalunterricht ertheilt werden. Auch den Studirenden wird kein Nachtheil daraus erwachsen, denn es ist gewiß eine sehr allgemeine Erfahrung, wie leicht und schnell diese Kenntnisse nachgehohlt werden. Die Aufgabe endlich die Muttersprache mit Leichtigkeit und Geschik nach eines jeden Bedürfniß zu gebrauchen liegt schon in der höhern ElementarSchule vor, wird mit dieser in der gelehrten Schule aufgenommen, und erweitert sich auf jeder Bildungsstufe ihren höheren Zwecken gemäß. Das Verhältniß dieser verschiedenen Lehrobjecte aber, wieviel einem jeden von der für die Schule bestimmten Zeit zuzugestehen ist, muß nach sehr verschiedenen Rüksichten bestimmt werden, und ist daher sehr schwierig. Es kommt dabei theils auf die Wichtigkeit des Gegenstandes an, theils darauf in welchem Grade besonders der mündliche Unterricht unentbehrlich ist, theils darauf in welcher Vollständigkeit nach der jedesmaligen Beschaffenheit der Lehrer und der sonstigen Schulmittel ein Gegenstand gelehrt werden kann, und wie weit man in der Methode desselben fortgeschritten oder zurük ist. Daher ist es hier am wenigsten möglich etwas überall oder für jede Zeit gültiges anzunehmen, sondern vielmehr besonders nothwendig aufmerksam darauf zu machen, daß manches von dem festge|setzten nur in den gegenwärtigen Umständen gegründet ist, worüber hier einige Bemerkungen vorangehen mögen. Der Antheil der Wissenschaften zusammen genommen ist im Verhältniß gegen die Sprachen, wenn gleich jene nur wenig über ein Drittheil der gesammten Schulzeit, diese beinahe zwei Drittheile derselben ausfüllen, dennoch größer angenommen als gewiß auf den meisten unserer Schulen bis jetzt der Fall ist; aber offenbar sind auch unsere meisten litterärisch gebildeten an Geschichts und Naturkenntnissen viel weiter zurük als für den Einfluß auf das ganze Leben zu wünschen 1 alten] allen 6 es] mit Einfügungszeichen über der Zeile worden 39 Naturkenntnissen] Naturkenntnisse

12 wurde] korr. aus

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wäre. Daß der Unterricht in der Mathematik der sich bis jetzt nur wohl auf wenig Gymnasien bis zur sphärischen Trigonometrie erstrekt, viel zu dürftig ist, muß einleuchten. Die Ausdehnung welche ihm der Plan der Deputation giebt wird freilich aus Mangel an Lehrern unmittelbar sehr schwer zu erreichen seyn, aber sie hat doch vorgezogen ihn gerade so aufzustellen, um dadurch den Wunsch desto bestimmter auszudrücken, daß man sich diesem Ziel nähern müsse. Der Naturwissenschaft ist im strengen Sinne nur halb so viel Zeit gewidmet, als der Mathematik, weil die eigentliche Physik in allen ihren Theilen nicht eben so befriedigend kann vorgetragen werden ohne höhere Theorie einzumischen, welche der philosophischen Ansicht, und mit dieser auch nur der Universität angehören; der Geschichte hat man am wenigsten eingeräumt, theils weil ihr außer den eigentlichen Lehrstunden noch manches zu Statten kommen kann von der Lektüre und den Uebungen des Sprachunterrichts theils weil wenn das Gedächtniß nur recht gewöhnt ist die chronologische Folge und den Synchronismus zu fassen, eine größere Masse einzelner Thatsachen auch ohne Unterricht kann gewonnen werden. | Uebrigens ist die Hofnung der Deputation darauf gerichtet daß es durch Vervollkommung der Methode möglich werden soll ohne dem Sprachunterricht sein Ziel niedriger zu stecken, dennoch mit der Zeit theils dem wissenschaftlichen Unterricht etwas zuzulegen, theils die Stundenzahl in den obern Klassen zu vermindern. Außer diesen LehrObjecten aber, welche den unmittelbaren Schulcyclus bilden, hat die Deputation noch auf einige andere ihr Augenmerk gerichtet und fühlt sich gedrungen Einer Hochpreislichen Section ihre Meinung darüber vorzulegen. Ein Religionsunterricht ist auf den meisten gelehrten Schulen schon eingeführt, da er aber der Schule fremd zu seyn scheint, wenn man bei der gewöhnlichen Ansicht derselben stehen bleibet, so hat die Deputation es noch einmal zum Gegenstand ihrer Berathschlagungen gemacht, ob es zwekmäßig wäre ihn beizubehalten oder nicht? Sie ist mit einer großen Mehrheit bei der bejahenden Antwort stehen geblieben, und zwar in dem Sinn und der besondern Weise welche unten noch für sich wird ausgeführt werden. Unter allem was in das Gebiet der schönen Kunst gehört, muß man als das allgemeinste Talent welches die Natur keinem ganz versagt hat und worin es jeder bei gehöriger Uebung zu einer das Leben verschönernden Fertigkeit bringen kann, das des Gesanges ansehen. | Die Vokalmusik hat einen alten Anspruch auf die gelehrten Schulen, 6 vorgezogen] korr. aus vorzogen 12 angehören;] angehören, ; das Komma stand zunächst hinter Geschichte 33 stehen] korr. aus bestehen 36 allem] allen

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es ist möglich sie auf eine solche Weise zu lehren, daß die Behandlung des einzelnen Subjectes nicht stärker aus der Masse herauszutreten braucht als bei andern Lehrobjecten, sie greift in die allgemeine NationalBildung auf vielfache Weise ein, und die Ausbildung dieses Talentes den Privatanstalten der Einzelnen überlassen, wäre eben so viel als für lange Zeit sie gänzlich aufgeben. Wie nun auf der einen Seite die Deputation aus Gründen welche unten mitgetheilt werden sollen auf die gänzliche Abschaffung der bisher bestandenen Singechöre dringen muß, so empfiehlt sie dagegen eben so ernstlich einen allgemeinen Unterricht im Singen auf allen gelehrten Schulen welcher aber natürlich nur auf den ernsten Stil der Kirchenmusik seine Richtung nimmt. Einen nähern Plan dazu hat die Deputation nicht entworfen, und stellt gehorsamst anheim, ob die Section dem Professor Zelter welcher sehr dazu geeignet ist, den Auftrag dazu geben will. Das Zeichnen hat die Deputation nur aufgenommen, in Beziehung mit der Naturbeschreibung, um durch die eigne Darstellung die Verhältnisse der organischen Gestalten desto besser einzuprägen, theils in Beziehung auf die mathematische Lehre von der Perspective und auf die physikalische von den Farben. Die höhere Ausbildung der Zeichenkunst scheint ein zu eigenthümliches Talent zu erfordern | um ein Gegenstand des allgemeinen Schulunterrichts zu sein. Die Deputation hat deshalb auch nur im Allgemeinen ihre Ansicht aufgestellt, indem ein näherer Entwurf nur von Sachverständigen kann angefertigt werden. Außer diesen aber giebt es noch eine allgemeine Kunst deren Gegenstand der Mensch selbst ist, und welche den Zweck hat, seinen Leib zur Stärke, Gewandtheit und Schönheit auszubilden, nemlich die Gymnastik. Wie sehr wir in der körperlichen Ausbildung zurük sind in allen Ständen das Militair ausgenommen, leuchtet ein, und daß ein so auffallendes Misverhältniß zwischen Leib und Seele vielfältigen Nachtheil hat wird niemand läugnen. Jeder giebt auch gewiß zu daß es unumgänglich nothwendig ist auf die Masse der Nation in dieser Hinsicht zu wirken, und wenn von der Verbesserung der Elementarschulen die Rede ist, wird jedermann dieses als eines der ersten Erfordernisse ansehen. Dennoch dürfte der Gedanke in den gelehrten Schulen einen gymnastischen Unterricht einzuführen vielen befremdlich 11 Stil] korr. aus Styl heit] Gewandheit

13 dem] den

21 ein] korr. aus einen

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13 Carl Friedrich Zelter (1758–1832), Komponist und Leiter der Berliner Singakademie, der 1803/1804 fünf Denkschriften zur Reform der Musikpflege an die preußischen Kultusbehörden richtete; Schleiermacher hatte davon Kenntnis. Vgl. KGA I/5, S. XXXI–XXXII, S. 18

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scheinen. Allein wäre es nicht etwas sehr bedenkliches, wenn die gebildeten bürgerlichen Stände an körperlicher Ausbildung, welche so sehr wirken kann um der Masse zu imponiren, hinter dieser je länger je mehr zurükbleiben? Die Pflicht des Staats dies zu einem Gegenstande seiner Fürsorge zu machen, scheint freilich nur einzutreten bei denjenigen deren Erziehung er ganz übernimmt, also bei allen Alumnaten. Allein wenn man bedenkt, wie sehr der Unter|richt in den Wissenschaften die Zeit der Jugend in Anspruch nimmt: so scheint es unbillig die Ausbildung des Körpers nur den freiwilligen Uebungen der Jugend oder den Privatanstalten der Eltern die sich größtentheils auf das frivole Tanzen beschränken würden, zu überlassen. Denn was nur so rhapsodisch betrieben wird bedarf sehr viel Zeit um zu gedeihen. Es scheint also auch ganz im Allgemeinen eine Pflicht des Staats in Verbindung mit den gelehrten Schulen eine Anstalt zur kunstmäßigen Ausbildung des Körpers darzubiethen. Die Mitglieder der Deputation stimmen darüber überein, daß auf der ersten Alters und Bildungsstufe, diejenigen Uebungen herrschen müssen, welche Behendigkeit und Geschik erfordern, nehmlich regelmäßiges Gehen, Laufen, Steigen und Ringen, auf der zweiten diejenigen welche die Schnellkraft der Muskeln üben, Springen aller Art, und Voltigiren, auf der dritten diejenien welche die Stärke in Anspruch nehmen, Fechten, Schwimmen, und wo es seyn kann, Reiten, Heben und Tragen von Lasten. Für diese beiden neuen Gegenstände Musik und Gymnastik ist keine andere Zeit aufzufinden als die dem Herkommen nach überall schulfreien Nachmittage des Mittwochs und Sonnabends, in denen beide so wechseln könnten, daß im Sommer mehr Zeit auf die Gymnastik, im Winter mehr auf die Musik gewendet würde. Die Art den gymnastischen Unterricht allmählig einzuführen, und vielleicht zuerst nur als eine Anstalt für diejenigen welche Wohlthaten vom Staate genießen bis das | Publicum sich daran gewöhne und der wahrscheinlich nicht ausbleibende Wunsch der übrigen Jugend, den Absichten der Regierung entgegen käme überläßt die Deputation billig den weitern Anordnungen der erleuchteten Section. Auf diese Allgemeine Darstellung ihrer Ansichten und Wünsche läßt die Deputation zu desto leichterer Uebersicht der größeren organischen Theile einer gelehrten Schule zunächst folgen: 15 Die] mit Einfügungszeichen über der Zeile 17 Behendigkeit] korr. aus Behändigkeit 24 überall] mit Einfügungszeichen über der Zeile 6–7 Heyse (1870), S. 36: „Alumnat […], eine Nähr- oder Pflegschule, Lehranstalt, deren Schüler auch beköstigt werden“

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II. E i n e g e dr ängt e Zus ammens t ellung dessen was in a l l e n L e h rO bject en in jeder der drei aufgestellten B i l dungs s t uf en soll geleistet werden. 5

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Die untere Bildungsstufe nemlich, welche nach dem Schema der Deputation die sechste und fünfte Klasse begreift arbeitet: i n Ab s i c h t d e r Sp r ac h b i l d u n g dahin die grammatischen Formen unterscheiden und ihre Bedeutung fassen zu lehren einen möglichst bedeutenden Vorrath von Wörtern aller Art jedoch mit überwiegender Richtung auf das Bedürfniß des gemeinen Lebens herbeizuschaffen, und somit den Grund zu einem richtigen Gebrauch der Sprache zu legen. Natürlich findet hier eine Abstufung statt, in den d r e y verschiedenen Sprachen welche zugleich, und zum Theil auch vergleichend getrieben werden. Dem Schüler der diese Bildungsstufe verläßt, es sey nun um in die nächste überzugehen, oder schon die Schule mit dem thätigen Leben zu vertauschen, ist das ganze Gebiet der M u t t e r s p r ac h e welches dem gemeinen Leben angehört bekannt, er hat | die Wortbeugung, Wortfügung und Wortbildung inne, und kann sich, weil er auch Ton und Zeichen richtig auf einander zu beziehen gelernt hat, mündlich und schriftlich ohne provinzielle Fehler ausdrücken. Das Französische liest er fertig, hat die Analogie und die Anomalie der Sprache in seiner Gewalt nebst einem ansehnlichen WortVorrath, und da auch schon ein bedeutender Anfang in der Lesung gemacht und das Schreiben und Sprechen versucht ist: so ist ein solcher Grund gelegt, daß der von hier abgehende im Nothfall bei weniger Nachhülfe sich der Sprache auf dem Wege der Uebung nothdürftig bemächtigen kann. Das L at e i n i s c h e ist freilich mehr für die auf der Schule Fortrükkenden und es kann der Schüler auf dieser Stufe nur zum Besitz eines verhältnißmäßigen Wortvorraths zur Kenntniß der Ethymologie und des Theiles der Wortfügung der zum Verstehen leichter Verse und zum Selbstbilden einfacher Säzze erforderlich ist, gebracht werden. Allein auch für die Abgehenden ist wegen des formalen Nutzens dieser Uebungen der Zeitaufwand wohl nicht zu bedauern. Die Handschrift ist in beiden Schriftarten bis zur Deutlichkeit gediehen. In der w i s s e n s c h af t l i c h e n B i l d u n g geht alles von der geordneten und bereicherten sinnlichen Anschauung aus, und nur das wird 11 statt] korr. aus Statt 27 es] mit Einfügungszeichen über der Zeile 27 der Schüler] mit Einfügungszeichen über der Zeile 31–32 formalen Nutzens] korr. aus Formal-Nutzens 33 Gemeint ist die lateinische und die deutsche Schrift (Current)

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aufgenommen was sich auf diese unmittelbar zurük führen läßt. Daher auch die M at h e m at i k welche es unmittelbar mit den Gesetzen dieser Anschauung zu thun hat, am weitesten gedeihte. Hier erwirbt der Schüler überhaupt Fertigkeit | im Zählen im weitesten Sinn sowohl mit ganzen als gebrochenen Zahlen, sowohl nach dem dekadischen – also mit Einschluß der Decimalbrüche – als nach andern Systemen regelmäßigen sowohl als unregelmäßigen. Hinzu kommen dann die Anfangsgründe des allgemeinen Rechnens oder der Buchstabenrechnung so wie die geometrischen Elemente in den vier ersten Büchern des Euklides. Die Naturbeschreibung anlangend bekommt der Schüler eine nur noch rhapsodische Kenntniß von einzelnen zum größten Theil inländischen Erzeugnissen aus allen drei Naturreichen. Der hiemit in Verbindung zu setzende Unterricht im Zeichnen muß ihn in Stand setzen die verschiedenen Formen desto richtiger und vielseitiger zu vergleichen und aus der Fantasie wieder herzustellen. Die Geographie, (hier zugleich als Vorläuferin der Geschichte zu betrachten) anlangend, muß ihm das Bild der Erdoberfläche in ihrer natürlichen Eintheilung, nach Meeren, Flüssen und Gebürgen gegenwärtig und eine darauf gegründete Uebersicht der jetzigen politischen Geographie geläufig seyn. Alle hier aufgezählten Lehrobjecte, wie sie auf dieser Bildungsstufe vorkommen sind das bis jetzt am meisten bearbeitete Gebiet der Pestalozzischen Methode. Wie sehr sie nun auch als Vorübung sich schon von manchen Seiten bewährt hat, so scheint doch eine allgemeine Einführung derselben durch ein Gesetz nicht rathsam | sondern die Sache muß sich selbst empfehlen, und nur dafür gesorgt werden, daß sie je länger je mehreren durch Anschauung bekannt werde, damit die Ueberzeugung von ihrer Nützlichkeit wenigstens nicht durch Unbekanntschaft verhindert und ihre Einigung mit dem streng wissenschaftlichen Unterricht allmählig herbeigeführt werde. 29–30 wissenschaftlichen] korr. aus gewissenschaftlichen 21–23 Johann Heinrich Pestalozzi entwarf eine „Methode“, die eine Philosophie des Elementaren und zugleich eine Unterrichtsmethode darstellt. Die philosophischen Grundsätze sind in der Schrift „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechtes“ (Zürich 1797) dargelegt (Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 1–29, Berlin 1927–1996 (Nachdruck 1997–2013), hier Bd. 12: Schriften aus der Zeit von 1797–1799, 1938 (1995), S. 1–166). Die Methode reicht von der Vorstellung einer allgemeinen Klassifizierung und Systematisierung über eine Einsicht in die Systematisierungsleistung des kindlichen Verstandes z. B. beim Schreiben, beim Konstruieren von Formen, beim Wechsel von Dialekt in Hochsprache und wenn das Kind Quadrate und Kreise durch Bewegung der Arme veranschaulicht, bis hin zu einer tiefen Einsicht in die menschliche Natur. Vgl. Korte, Petra: Selbstkraft oder Pestalozzis Methode, in: Der historische Kontext von Pestalozzis „Methode“. Konzepte und Erwartungen im 18. Jahrhundert, edd. D. Tröhler, S. Zurbuchen, J. Oelkers, Bern/Stuttgart/Wien 2002, S. 31–46

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Der Religionsunterricht auf dieser Bildungsstufe kann ebenfalls nur einen rhapsodischen Character und die Absicht haben, den religiösen Sinn, und das sittliche Gefühl zum Bewustseyn zu bringen, und vermittelst ausgewählter fragmentarischer Bibellesung und Erklärung zu üben. – Es werden übrigens im Allgemeinen zwei Jahre auf diese Bildungsstufe gerechnet. Die Zw e i t e B i l d u n gs s t u f e , nach dem Schema der Deputation die dritte und vierte Klasse in sich begreifend und im Durchschnitt in drey Jahren zu vollenden hebt nun: die S p r a c h k e n n t n i ß vom elementarischen und nothwendigen zu einer genauen innern Kentniß, und zum Gebrauch als Organ des Denkens. Daher hat der Schüler beim Abgang von dieser Stufe die Regeln der Syntaxis möglichst vollständig inne, und ist gewöhnt Schriftsteller fortlaufend zu lesen und selbst richtig zu schreiben. Die Abstufungen sind denen auf der vorigen Stufe ähnlich: Das D euts c h e ist am meisten gebildet. Hier muß der Schüler, weil er weniger durch Schwierigkeiten am Einzelnen gehalten ist ein nicht zu verwikkeltes Ganzes der Rede in seinen Theilen richtig auffassen, also auch in zwekmäßi|gen Auszügen darzustellen gelernt haben. Auch schreibt er nicht nur sprachrichtig sondern auch zusammenhängend und fließend, jedoch nur im einfachen und schmucklosen Styl. Im F ra nzösis c h e n und L a t e i n i s c h e n sind die Regeln der Wortfügung nicht nur in allgemeinen Umrissen sondern auch bis in die eigenthümlichen Verbindungsarten hinein bekannt, und der schriftliche sprachrichtige Ausdruk ist weiter gebildet. Im Französischen kommt zu diesen auch eine Fertigkeit im mündlichen hinzu, im Lateinischen dagegen die Kenntniß der Prosodie, so daß ihm auch schon die leichtere Poesie der Römer ganz verständlich ist. Auf dieser Stufe muß nun auch überall noch das G r i e c h i s c h e dazukommen, nicht als eine willkürliche oder auf ein bestimmtes künftiges Studium Bezug habende Beschäftigung Einiger, sondern ganz allgemein. Die Deputation hat auch die Ansicht in Betracht gezogen, welche Mehrere jetzt gefaßt haben, daß man im Unterricht das ganze Verhältniß der beiden alten Sprachen gegeneinander umkehren, das Griechische zur Basis machen, und das Lateinische erst auf jenes folgen lassen solle. So wenig sie sich aber überzeugt hat, daß dies Verfahren zwekmäßig seyn könne, eben so einstimmig hat ihr die Nothwendigkeit eingeleuchtet, daß das Griechische ein allgemeiner UnterrichtsGegenstand auch schon auf dieser zweiten Bildungsstufe werden müsse. Nur das einzige möchte sie zugestehen, daß da mehrere welche eigentlich die Bildung dieser Stufe nicht erwerben wollen, doch in | die untere Klasse derselben noch auf 8 dritte] über )fünfte*

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eine kurze Zeit überzugehen pflegen, in dieser Hinsicht die Nothwendigkeit am Griechischen Unterricht Theil zu nehmen erst ein halbes Jahr vor dem Uebergang in die obere Klasse eintritt worauf denn bei der Anordnung der Stunden Rüksicht zu nehmen ist. Deshalb und weil dies in der That alles ist, was von der Majorität des Publikums für jetzt zu erlangen seyn möchte, ist wohl für diese Stufe im Griechischen kein höheres Ziel zu setzen, als Erwerbung eines bedeutenden Wörtervorrathes, vollständige Kenntniß der Sprachformen der gewöhnlichen Sprache, mit Ausschluß der Dialecte, und soviel Fertigkeit im Verstehen und Gebrauch der Sprache als die Durchlesung eines Elementarbuches und die ersten Uebungen im Schreiben hervor bringen. Dies führt natürlich so weit, daß bei fortgesezter auch nur sich selbst gelassener Beschäftigung das Verstehen der attischen Prosa wenig Schwierigkeiten finden kann. Dagegen läßt sich freilich sagen, daß wenn denen welche aus dieser Stufe abgehen, das Griechische zum eignen Genuß werden soll, es weit nöthiger wäre sie in den Stand zu setzen den Homer zu verstehen, diese Quelle aller griechischen Kunst und Weisheit. Von dieser Seite also schiene die Methode die von Einigen jetzt empfohlen wird, die griechische Sprache historisch zu erlernen, und mit den alten homerischen Formen anzufan|gen, sehr vorzüglich. Die Deputation hat aber nicht geglaubt diese in einen allgemeinen Lehrplan aufnehmen zu dürfen, sondern sieht sie als einen Gedanken an, der am besten zuerst durch die Privaterziehung versucht wird, und tröstet sich über jenen unläugbaren Mangel, theils damit, daß viele von denen welche die Universität nicht beziehen wollen doch noch auf einige Zeit in die untere Klasse jener lezten Stufe übergehen, wo ihnen dann der Homer gleich anfangs entgegen kommt, theils damit, daß wenn erst eine Reihe von Jahren das Griechische allgemein und gründlicher auf unsern Gymnasien wird getrieben worden seyn, dadurch vielleicht eine Fertigkeit des Unterrichts entsteht, die auch auf dieser Stufe das ganze Ziel welches sie sich vorstecken sollte, erreichen läßt. Die w is s e n s c h af t l i c h e B i l d u n g erhebt sich im Ganzen zu allgemeinen Uebersichten des materiellen. Die G eschicht e tritt ein, so daß die großen politischen Veränderungen, zuerst geographisch dargestellt werden, und hernach die so genommenen geschichtlichen Data in der Universalhistorie zu einem Ganzen vereinigt werden. Auch die Nat u r b e s c h r e i b u n g bildet sich zu einer wenn gleich nicht vollständigen systematischen Uebersicht der drey Naturreiche aus, 6–7 im Griechischen] mit Einfügungszeichen am linken Rand von Bernhardis Hand 8 Wörtervorrathes] korr. aus Wortvorrates 9 Sprache] korr. aus Sprachen 16 in den] korr. aus wohl in 28 daß] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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und es kommen die Elemantaranschauungen der Phy sik hinzu, nemlich diejenigen zuerst, welche sich auf die Mechanik beziehen. Das Zeichnen wird | in Verbindung mit diesen Wissenschaften weiter ausgebildet jedoch nur als Anwendung der Lehre von der Perspective, auf die Darstellung einzelner Figuren. Die M at hema tik erweitert sich durch die Lehre von den Gleichungen des ersten und zweiten Grades, die geometrischen Sätze aus dem 5. und 6. wie auch 11. und 12. Buche des Euclides. Die Trigonometrie und Elementartheorie der Logarithmen wie auch die Hauptsätze der analytischen Geometrie. Wer nun auch die dritte B i l d u n gs - St uf e auf welcher man den Jüngling eigentlich Fünf Jahre verweilen lassen will vollendet, und gereift der Universität entgegen geht, der muß die S pra chen welche gelehrt werden so inne haben, daß er sich ihrer so viel die Natur der Sache zuläßt, als Darstellungsmittel zu bedienen weiß, ohne ihre Eigenthümlichkeit zu verletzen daß er auch in keinem Gebiet ihrer Literatur unversucht ist, daß er mit den unentbehrlichen und gewöhnlichen Hülfsmitteln sich überall durch zu helfen weiß, wo er nicht Schwierigkeiten anerkennt, die nur durch die höhere philologische Kunst in die er erst auf der Universität eingeweiht werden soll, können gelößt werden, und daß er in eben diesen höheren Unterricht eingehen kann. So muß er im G r i e c h i s c h e n die attische Prosa und den Homer, im L a t e i n i s c h e n den Cicero und Horatz im Ganzen mit Fertigkeit verstehen, dort ein tragisches Chor mit Hülfe des Wörterbuchs, hier den Tacitus nach genommener | Ueberlegungszeit richtig erklären; das Latein muß er fehlerlos und frei von Germanismen schreiben, und über angemessene Gegenstände auch verständlich sprechen können. Im Griechischen muß man sich wohl begnügen, wenn etwas deutsch dictirtes von nicht schwierigem Inhalt sprachrichtig und wohl accentuirt kann niedergeschrieben werden. – Im F ra nzösischen geschieht auf dieser Stufe eigentlich nichts neues, die schon erlangte Fertigkeit wird nur erhalten, und es kommt Uebung im Lesen der Hauptschriftsteller der Nation hinzu. Daher auch wenn ein Gymnasium Gelegenheit hat auch Unterricht im Englischen und Italienischen zu ertheilen, hiezu der größte Theil der dem Französischen auf dieser Stufe bestimmten Zeit kann verwendet werden. Irgend etwas anderes aber darf wohl um dieser Lehrgegenstände willen nicht leiden. – An der d e u t s c h e n Sprache wird aber weil hier gar keine anderweitigen Schwierigkeiten entgegenstehen der Sinn für die Schiklichkeit und Angemessenheit des Ausdruks in den verschiedenen Gattungen der 16 Literatur] korr. aus Litteratur wie auch im Folgenden häufig Fehlerlos 35 anderes] anders

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Schreibart, für das rhythmische in der Sprache für die Interpretation des Einzelnen und des Verständnisses des Ganzen so geübt, daß dadurch auf der einen Seite den interpretatorischen und kritischen Unterweisungen der Universität über die alten Sprachen zunächst vorgearbeitet, auf der andern Seite der Schüler in den Stand gesetzt wird die Theorie der redenden Künste, welche ihm dort gegeben wird, zu verstehen. | Der w i s s e n s c h af t l i c h e U n t e r r icht erweitert sich soweit, daß auf mannigfaltige Weise das Bedürfniß der philosophischen Behandlung der Gegenstände aufgeregt, und eben dadurch die Fähigkeit in eine solche einzugehen, gewekt würde. Daher wird nun in der Mat h e m a t i k die Theorie der Gleichungen ganz im allgemeinen vorgetragen, die Theorie der Reihen die unbestimmte Analytik und die Wahrscheinlichkeitslehre. Endlich die eintretenden mechanischen Wissenschaften, sowie die in der P h y sik mitgetheilte anschauliche Kenntniß von den Qualitaeten die noch keiner mathematischen Behandlung fähig sind, doch aber in physische und mathematische Geographie eingreifen, müssen die höheren Ideen der Natur vorbereiten. – Die G e s c h i c h t e wird in dem Gegensatz der alten und neuern behandelt, und dadurch wie durch die in dem philologischen Unterricht zerstreut liegenden Materialien der philosophischen Ansicht der sittlichen Welt und besonders auch der lebendigen Idee des Staates vorgearbeitet. Hiezu stimmt denn auch der wieder aufgenommene Relig io n s Un t e r r i c h t welcher nicht nur das Lebenselement der sittlichen Welt die Gesinnung zum klaren Bewußtsein bringt sondern auch die Idee der Kirche welche in der neuern Geschichte so bedeutend wirksam ist, richtig aufzufassen möglich macht. An diese Zusammenstellung mögen sich nun schließen.

III U e bersicht en von der E inrichtung und dem | Fort gang des Unt errichts in den einzelnen L ehrgegenständen in welchen noch mehr die individuelle Ansicht der einzelnen Mitglieder der Deputation von ihren Fächern hervor tritt, und zwar was den S p r a c h Un t e r r i c h t anbetrift.

1 Interpretation] korr. aus Interpunktion 13 Reihen] korr. aus Sache 14 Wahrscheinlichkeitslehre] korr. aus Wahrscheinlichkeitsrechnung 22 Idee] korr. aus Ideen

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Obgleich man bei den Kindern, welche gelehrten Schulen zuerst übergeben werden, auf die Kenntniß der lateinischen Schriftzüge rechnen kann, so müssen die angehenden Schüler doch besonders im lateinischen Lesen geübt werden. Die ersten Anfänger bekommen Anweisung zur richtigen Aussprache der Buchstaben nicht allein, sondern auch der Sylben mit genauer Beobachtung des durch die lange oder kurze penultima bestimmten Accente, und zwar durch das bloße richtige Vorsagen des Lehrers, nicht durch Gründe. Die weiter gekommenen werden in schneller Anwendung dieser erworbenen Kentniß geübt, und bekommen mechanische Fertigkeit im Lesen des Lateinischen ohne es noch zu verstehen. Denn wollte man um dies zu vermeiden das Lesenlernen nur mit dem Vokabellernen zugleich betreiben, so würde man höchstwahrscheinlich den Mechanismus zu lange verschieben und eben dadurch beständig unvollkommen erhalten. Hier wird selbst wenn die zugleich in die Anstalt ein|tretenden Lehrlinge einander möglichst gleich wären doch bei der gewöhnlichen Behandlung sogleich eine Verschiedenheit des Fortschritts sichtbar werden, und daher werden in dieser ganzen ersten Klasse, die nach der hier angenommenen Abstufung Sexta heißen mag, von selbst Unterabtheilungen entstehen, die zwar in einem Lehrzimmer und unter eines Lehrers Aufsicht, dennoch verschieden von ihm beschäftigt werden; die schwächeren in mündlichen Gesprächen, die geübteren durch unterdeß aufgegebene schriftliche oder Gedächtnißarbeit. Diese Leseübungen stehen, so lange sie nöthig sind, gegen die übrigen in dem Verhältniß des Drittheils gegen das Ganze. Das zweite Drittheil ist Vokabellernen auch dieses in Abstufung: die untere Abtheilung lernt blos Nomina und zwar erst später Adjectiva; alle aus der sinnlichen Sphäre. Die obere lernt Verba und lernt den Unterschied der Hauptredetheile kennen; auch die Begriffe von transitiv und intransitiv. Das dritte Drittheil lateinischer Uebungen geben Grammatik und Lesen zusammen, so daß auf jedes der beiden ein Sechstheil fällt, bis durch Aufhören des mechanischen Lesens, jedem sein Sechstheil zuwächst und also die Geschäfte der Klasse im Lateinischen bestehen in 1) Vokabellernen | 2) Grammatik, 3) übersetzendem Lesen. Die Grammatik für die untere Abtheilung der Klasse, ist Auswendiglernen der regelmäßigen Declination; für die obere der regelmäßigen Conjugationen und des verbi substantivi. Zugleich werden die allgemeinen Regeln über das G e n u s die besonderen für jede Declination, die Construction der Praepositionen und einiger Conjunctionen erklärt und eingeübt. Die Lesung besteht für die untere Abtheilung im Nachsprechen, bilden und Aus23 schriftliche] korr. aus schriftlichen

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wendiglernen kleiner Sätze, zusammengesetzt aus Nomen und Verbum, für die obere, im Exponiren der leichtesten Stücke aus Gedikes Lesebuch oder einen andern Elementarbuche. Dem Cursus dieser Classe ist 1 Jahr gewidmet. Versetzung aus der Klasse ist dem schneller Fortschreitenden auch in einem halben Jahre offen. Die nächste Klasse oder Q u i n t a theilt ihre Beschäftigungen mit der Sprache in zwei Hälften: Grammatik und Exponiren. Die erstere wird hier nach ihrem logischen Inhalt vollkommen gelehrt | Die acht partes orationis nach der Aufzählung und Benennung der Alten selbst werden erklärt, und durch beständiges Abfragen bei jeder Gelegenheit eingeübt. Dazu kommt ein genaues memoriren aller paradigmata und vorzüglich der Anomalia. Die Kunstwörter der Flectionen, besonders bei den Verben werden möglichst begreiflich gemacht, und wenigstens zur größten Geläufigkeit für den Gebrauch, dem Gedächtniß eingeprägt. Hier bilden die Schüler unter Anleitung des Lehrers vollständigere Sätze und lernen dabei die einfacheren Regeln der Wortfügung. Das Vokabellernen wird beibehalten, doch ohne die vorher angegebene Beschränkung auf sinnliche Begriffe, und eben dabei der Sinn für die Verschiedenheit der Redetheile fleißig geübt. Das Lesen erstrekt sich nunmehr auf größere Stellen in Elementarbüchern: z. B. Gedikens und von dem Gelesenen werden Uebersetzungen angefertigt, welche zum Theil und in ihrem leichtesten Theile gebraucht werden, um daraus Rükübersetzungen ins Lateinische zu machen. Doch müssen diese lezte|ren Uebungen in der Klasse mündlich unter des Lehrers Leitung vorgenommen werden. Auch hier ist der Cursus jährig, die Versetzung halbjährig. Die Absicht des Unterrichtes in Q ua rt a geht unmittelbarer, als bisher auf die Fertigkeit des eignen Ausdrucks in der zu erlernenden Sprache. Denn der Besitz dieses Grades von Bekanntschaft mit derselben sichert eigentlich allein die Bildung, die man von Erlernung einer Sprache hoft. Daher ist es natürlich, an der Schreibfertigkeit im Lateinischen einen bestimmten Punkt anzuerkennen wodurch sich gelehrter oder ungelehrter Gebildete unterscheiden. Hier theilen sich die Beschäftigungen zu gleichen Hälften in Lesung von Schriftstellern und Anfertigung eigener Arbeiten. Die Grammatik indessen, als Leitung dieser lezteren, wird besonders in Rüksicht der Wortfügung, mit zu den Uebungen zu rechnen seyn. Diese Uebungen bestehen theils aus aufgegebenen Exercitien, deutsch dictirt, und zu Hause von dem Schüler lateinisch auszuarbeiten, theils aus leichten Extemporalien, wo das 2–3 Vgl. Gedike, Friedrich: Lateinisches Lesebuch für die ersten Anfänger, Berlin 1782, 19. Aufl., 1824 [SB 2344]

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Deutsche unmittelbar lateinisch aufgefaßt wird. Ein anderer Theil der Grammatik schließt sich unmittelbar an die Lesung an; nämlich die Prosodie. Unter den lateinischen Schriftstellern die sich zur Jugendbeschäftigung vorzüglich empfeh|len, ist Phaedrus ein sehr zwekmäßiger. Schon bei dessen Lesung muß die Quantitaet aller Sylben (nicht mehr blos der penultima) bekannt gemacht, und ihre Kenntniß durch Scandiren geübt werden. Anderweitige Lesung für dieses Alter ist Cornelius Nepos und, abwechselnd Eutropius oder Aurelius Victor. Bei diesen Lesungen wird die Uebung des extemporalen Rükübersetzens ins Lateinische noch immer sehr rathsam, und bei ihrer Leichtigkeit nützlich für den Schüler seyn. Auch muß sein Gedächtniß noch von Zeit zu Zeit durch Abfragen von Vokabeln geübt werden. Tert ia unterscheidet sich von der nächstvorhergehenden Klasse durch Bekanntschaft mit eigentlicher Poesie, da die des Phaedrus in der vorigen doch nur versifizirte Prosa war. Ovids Verwandlungen abwechselnd mit den Tristibus und einigen Heroiden lehren den Hexameter kennen und das Distichon, wobei indessen der vorher bekannt gewordene Jambus nicht vergessen, sondern in mancherlei Uebungen eben mit dem Hexameter verglichen werden müßte. Außer der poetischen Lesung tritt nun eine ernstere prosaische ein, die zum Theil statarisch, zum Theil kursorisch ist. Zur ersten empfielt sich Caesar zur andern Curtius, oder eine Sammlung aus mehreren Schriftstellern, dergleichen die Gedikesche Chrestomathie darbietet. Die Stylübungen, theils Exercitia, theils Extempora|lia werden weitläufttiger und aus einer schwierigern Sphäre des Inhalts gewählt als in der vorigen Klasse. Die Exercitia könnten wohl hier zuweilen in metrischen Wiederherstellungen verworrener Verse, aber auch schon in Verwandlung klassisch lateinischer Prosa in irgend eine Versart, besonders Jamben bestehen. Auf den gesamten Zeitraum beider leztbeschriebenen Classen, werden drei Jahre gerechnet, 1 für Quarta 2 für Tertia. Ohne den angegebenen Grad des Fortschritts muß keine Versetzung stattfinden, und diese erfolgt nur einmal im Jahre. Von S e c u n d a an betrachtet man die Zöglinge eines Gymnasiums als dem Studiren auf Universitäten und dem eigentlichen gelehrten Stande bestimmt. Für die Lesung eignet sich hier Cicero in seinen Reden, Livius und Virgils Aeneide. Dem Style sind eben die Arten der Uebungen gewidmet, nur in größerer Ausdehnung und mit höheren 12 Vokabeln] korr. aus Vokablen 14 die] mit Einfügungszeichen über der Zeile 16 Heroiden] Herriden 18 mancherlei] macherlei 27 verworrener] korr. aus verworfener 23 Friedrich Gedikes „Lateinische Chrestomathie“ erschien zuerst 1793 in Berlin, die 3. Auflage 1803.

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Forderungen. Die metrischen werden, wie in Tertia zum Theil in die Ausarbeitungen der Exercitien zu verlegen seyn zum Theil aber mit der Lesung Virgils vereinigt werden. In der lezten Rüksicht kann freilich nur die Vollkommenheit des römischen Versificators im Hexameter nachgewiesen werden. Zu mehrseitigen | Uebungen also müssen auch andere Metra schon hier, vor Lesung des Horatz, bekannt werden, und in dieser Absicht möchte der Tragiker Seneca von dem metrischen Lehrer gebraucht werden können. Die eignen Arbeiten können hier gar wohl selbstgefertigte Gedichte in Hexametern und Jamben seyn, die einen bekannten mythologischen oder sonst aus dem Alterthum geschöpften Gegenstand behandeln, oder auch Variazionen sind über ein Thema aus einem gelesenen alten Dichter, zuweilen eine Uebersetzung aus dem Griechischen oder Deutschen. Der Cursus dieser Classe erstrekt sich hier auf zwei Jahre, und die Versetzung ist jährlich. Die E r s t e Klasse eines Gymnasiums muß in der Regel des Lateins recht kundige junge Leute enthalten. Sie müssen also von den alltäglichen Schwierigkeiten, der Anfänger nicht mehr aufgehalten werden. An die Uebung im Schreiben, die auch hier nach der vorher angegebenen Art getrieben wird, schließt sich auch das Sprechen an. Dieses kann besonders bei der Behandlung eines Schriftsteller vorkommen, dessen Erklärung philologische Kunst erfordert, und es eignet sich dazu unter andern Terenz, über dessen schwieriges Metrum, die Erläuterungen sich gar wohl von dem Lehrer lateinisch geben lassen und dann Gelegen|heit zum Gespräche geben. Diesen Schriftsteller kennen zu lernen ist der studirenden Jugend in vieler Rüksicht nützlich, und vielleicht dürfte es hin und wieder mit einen Plautinischen Stük abwechseln, wobei jedoch die häufige Veränderung des Metrums eine zu genaue, und besser dem Studium eigentlicher Kunstverwandten aufzusparende Beschäftigung und Erforschung verlangt, Horaz in den Oden und hexametrischen Gedichten wird häufig und mit Ausschluß des Unanständigen fast ganz zu lesen seyn; auch Virgils Georgica abwechselnd. Bekanntschaft mit andern Prosaikern und Dichtern des Alterthums könnte theils dem eignen Studium empfohlen werden, theils zu metrischen oder anderweitigen eignen Ausarbeitungen z. B. den Exercitien benutzt werden, so daß etwa aus dem Statius oder Lucan, oder Silius Italicus etwas in Prosa umgesetzt würde, oder Stellen dieser Dichter in ein anderes vorgeschriebenes Metrum verwandelt. Daß auch hier poetische Uebungen getrieben werden ergiebt sich von selbst. Lyrische Metra werden von den Schülern versucht. Zur 14 und] mit Einfügungszeichen über der Zeile 30 den] mit Einfügungszeichen über der Zeile 36 werden,] am linken Rand von Bernhardis Hand

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prosaischen Lesung eignet sich hier vorzüglich Tacitus, abwechselnd mit Sallust, doch muß immer Cicero besonders in seinem Werke vom Redner häufig gelesen werden. Auch hier könnten die Exercitien vorzüglich die Extemporalien die Bekanntschaft mit andern Schriftstellern befördern, wenn z. B. aus dem Suetonius deutsch diktirt, und | dann sogleich der Schriftsteller mit dem Latein der Schüler verglichen würde. Zu wünschen wäre es, daß auch im Lateinischen die Primaner wöchentlich eine Stunde weniger in der Schule hätten, wie beim Griechischen bestimmter vorgeschlagen ist, dabei aber die Verpflichtung häuslich etwas unter Controlle des Lehrers zu lesen. Dem Aufenthalt in dieser Classe werden drey Jahre bestimmt, und über diese Zeit verbreitet sich also auch der lateinische Unterricht, wobei natürlicherweise dem Ermessen des jedesmaligen Vorstehers einer Anstalt viele Abwechselung anheim zu stellen ist, nur höchlich zu widerrathen, daß keine verwirrende Lesung heterogener nicht völlig bewährter Schriftsteller versucht werde. Die Absicht kann nicht seyn, mit dem Umfang der Literatur bekannt zu machen, sondern möglichst correcte Formen dem Gemüthe vorzuhalten und einzuprägen. Alles Uebrige ist Gegenstand des eignen künftigen Studiums. Kritik wird in der ersten Classe wenigstens und zum Theil auch in Secunda, in so fern zu berüksichtigen seyn, als den Jünglingen der logische und grammatische Vorzug solcher Lesearten kann nachgewiesen werden, die einen gleichen Grad von historischer Autorität haben. Der einsichtsvolle Lehrer wird beurtheilen, wo er zuweilen seine Zuhörer durch Beurtheilung scharfsinniger Conjecturen üben soll, | oder wo die beste Leseart blos historisch bekannt zu machen ist. Von einem bestimmten Lehrbuche der lateinischen Grammatik ist hier nie die Rede gewesen. Daß es ein kurzes, zum Auffinden und Nachschlagen bequemes sey, ist besonders rathsam. Herr Heindorff ist mit der Abfassung eines solchen, nach Art und Maas der kleinen märkischen Grammatik beschäftigt. B) U n t e r r i c h t i m G r i e chischen

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Da das Studium der griechischen Sprache und Literatur unter uns bereits solche Fortschritte gemacht hat, daß die Kenntniß davon jedem der zu den gebildeten Ständen sich rechnet, unentbehrlich ist; so müssen die Schulen dieses Bestreben nach Kräften befördern, und dem Erlernen der griechischen Sprache mehrere Zeit als bisher geschehen ist einräumen, und zwar in dem sie theils mehr Stunden darauf wö30–32 Ist offenbar nicht erschienen.

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chentlich verwenden, theils indem sie die griechischen Klassen bis dahin ausdehnen, wo die Bildung der mittleren Stände anfängt, das heißt in diesem vorausgesetzten Schulplan bis nach Quarta incl. Zur Beför|derung des griechischen Sprachstudiums gehört ferner, daß man diese Sprache ganz auf gleichen Fuß mit allen andern die auf der Schule erlernt werden behandle, daß man also schriftliche Uebungen einführe, und zwar nicht sowohl zu dem Zwecke, daß der Schüler wirklich griechisch schreiben lerne, sondern daß er in das Wesen, und die Fügung der griechischen Sprache genauer eindringe. Eine prosodische Uebung in den obern Klassen kann das wiederherstellen verworrener Verse seyn. Dieser Zwek, das Studium der griechischen Sprache immer mehr zu befördern, erfordert auch daß das Dispensiren vom Griechischen, welches die ungebildete Masse der Eltern, oft noch begehrt eingeschränkt werde, und zwar: 1. 2. 3.

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Muß kein in Tertia Sitzender auf irgend eine Weise sich von der Erlernung des Griechischen ausschließen können. Muß jeder Quartaner wenigstens ½ Jahr bevor er nach Tertia sich examiniren läßt, das Griechische anfangen. Müssen alle diejenigen Quartaner, welche sich ohne dazu gezwungen zu seyn dem griechischen Unterricht anschließen besonders ausgezeichnet werden.

Ueberhaupt aber ist der gegenwärtige Plan für den griechischen Sprachunterricht nur als ein vorläufiger anzusehen, als ein solcher welcher sich noch in das Vorurtheil der | Masse hineinfügt. Billig müßte der griechische Sprachunterricht bereits in Quinta anfangen, damit er fast gänzlich mit dem Lateinischen von einerlei Umfange sey. Diese wünschenswerthe Ausdehnung wird indessen erst nach einigen Jahren möglich, wenn die Masse des Publikums sich mehr an dieses Object gewöhnt hat. Die Erlernung der griechischen Sprache auf einer Schule muß bis zu dem Grade getrieben werden, daß ein zu der Universität abgehender die attischen Prosaiker der leichtern Art, sofern der Inhalt keine Schwierigkeit macht ohne Praeparation fertig und ohne Mühe versteht. Von den Dichtern muß er den Homer also lesen können, daß er auch ohne Vorbereitung ganze Parthien verstehe und ihm nur einzelne Wörter oder seltene Formen fehlen. Eben so geläufig muß er den Dialog des Sophokles lesen und mit Hülfe des Lexicons und der Gramma9 die] mit Einfügungszeichen über der Zeile 10–11 verworrener] korr. aus verworfener 11 Verse] folgt gestrichenes eingeklammertes Wort 13 Masse] Maße 35 verstehe] korr. aus verstehen

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tik in einem tragischen Chore sich zurecht finden können. Die Uebung im Style muß übrigens so gebildet seyn, daß er ein ganz leichtes ihm deutsch diktirtes Stück ohne grobe grammatische Fehler und mit richtigen Accenten griechisch niederschreiben kann. Die Cursus für die vier griechischen Klassen sind also anzuordnen. 1) Die vierte griechische Klasse beschäftigt sich zuvörderst, mit dem mechanischen Lesen welches in Prosa überall, nach dem sichtbaren auf jeden Worte stehenden Accente | lieber, als nach der lateinischen Analogie geschieht, der Etacismus ist überall einzuführen. Außerdem begreift der Cursus dieser Klasse die ganze Analogie der Sprache, sowohl bei dem Nomine als Verbo als den Particuln. Als Grundlage kann Buttmanns Auszug aus seiner Grammatik wenn er erschienen zum Grunde gelegt werden. Neben diesem grammatischen Unterricht ist ein lexicalischer Unterricht bei dem Reichthum der griechischen Sprache nötig und dem Versetzungsfähigen müssen wenigstens 2000 Grundwörter geläufig seyn, welche der Lehrer allenfalls aus Niz griechischem Wörterbuch Berlin 1808 nehmen kann. Endlich müssen aus irgend einem Elementarbuche einige Bogen griechisch gelesen seyn, wozu Jacobs Lesebuch zu empfehlen ist. 2) Die Dritte griechische Klasse lehrt die ganze Anomalie mit Ausschluß der dialektischen Formen und fügt die analoge Syntax hinzu. Das Auswendiglernen der Wörter wird fortgesetzt und die Lehre von der Ableitung und Zusammensetzung eingeprägt. Hinzu kommen leichte Stylübungen, bei welcher Gelegenheit der Accent eingeübt wird. Die Lectüre ist noch grammatisch gerichtet, doch wird bei derselben schon mehr auf die Syntax gesehen. Der erste Theil von Jacobs Elementarbuch kann hier geendigt werden. 3) Die zweite griechische Klasse lernt die Formen der Dialecte, und die Prosodie im | Allgemeinen bei Gelegenheit des Homer kennen. Der grammatische Gesichtspunkt ist hier der hauptsächlichste, Analysiren und Kenntniß der Formen sind vorzüglich zu beachten, im Ganzen kann nur wenig absolvirt werden, desto mehr in dem Prosai33 dem] den 10 Etacismus [griech./lat.]: Aussprache des altgriechischen Eta als langes (offenes) e. Diese von Erasmus von Rotterdam geforderte, historisch richtige Aussprache hat sich im dt. Sprachgebiet als Schulnorm durchgesetzt. Gegensatz Itazismus. Vgl. Heyse (1870), S. 326 12–14 Ein Auszug aus Buttmann, Philipp Karl: Griechische Grammatik, Berlin 1810, ist erschienen unter dem Titel „Griechische Schul-Grammatik“, Berlin 1812 [SB 391]. 18 Vgl. Niz, Andreas Christoph: Kleines griechisches Wörterbuch in etymologischer Ordnung zum Gebrauch für Schulen, Berlin 1808 20 Vgl. Jakobs, Friedrich: Elementarbuch der griechischen Sprache für Anfänger und Geübte, Jena 1809

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ker Xenophon dessen Anabasis, Memorabilien Cyropädie abwechselnd zu lesen sind, und zwar schnell, ohne jedoch Schwierigkeiten vorüberzugehen, damit bald eine wünschenswerthe Fertigkeit hervorgebracht werde. Außerdem muß der Schüler eine vollständige Uebersicht der Syntax erhalten, und es müssen bald häusliche Exercitia bald Extemporalien geschrieben werden. 4) Die erste griechische Classe bildet diese Stylübungen noch weiter aus, und lehrt die Schüler in einer häuslichen Lectürstunde, sich selbst bei Auctoren, die sie nicht in der Klasse lesen, zu helfen, indem der Lehrer diese häuslichen Arbeiten und Uebersetzungen corrigirt, und supplirt wo sie mangelhaft sind. Als Prosa sind die leichtern Dialogen des Plato zu lesen nach Heindorffs Ausgabe auch wohl einige einzelne Reden des Demosthenes. Die Lectüre des Homer wird cursorisch fortgesetzt, also daß die Schüler in diesem Dichter eine Fertigkeit des Verstehens erlangen. Endlich ist der Sophocles als Einleitung in die dramatische und zugleich lyrische Poesie zu behandeln. Da der Dialog nur Stellenweise Schwierigkeiten machen kann, so ist auf das Verständnis der lyrischen Stücke besondere Sorgfalt zu verwenden. | 60v

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C) U n t e r r i c h t i m F ra nzösischen Dieser Unterricht kann aus einem doppelten Gesichtspunkt angesehen werden, einmal aus dem jeder andern fremden Sprache indem nämlich die Kenntniß ihrer Eigenthümlichkeit und der in ihr verfaßten Meisterwerke ein Element der höhern Bildung ist, dann aber auch in wie fern es höchst wünschenswert ist, sich ihrer im geselligen und Geschäftsleben in möglichster Vollkommenheit bedienen zu können. Die gelehrten Schulen müssen offenbar beide mit einander vereinigen und also vom ersten Anfang an sowohl auf gründliche grammatische Kentnisse hinarbeiten, als auch möglichst vielseitige Uebungen im Gebrauch der Sprache anstellen. In Absicht des leztern muß der Mechanismus der Aussprache so zeitig als möglich eingeübt werden, weil sie sonst nicht leicht zu einiger Vollkommenheit gebracht werden kann, eine zweite spätere Aufgabe bilden die Eigenthümlichkeiten der Construction, und die dritte endlich den Takt für das engere Gebiet der 1 dessen] korr. aus des 12 Ausgabe] korr. aus Ausgaben einen 27 grammatische] über )Geometrische*

20 einem] korr. aus

11–12 In Schleiermachers Bibliothek befanden sich: Platon: Dialogi selecti [gr.], ed. L. F. Heindrof, Bd. 1–4, Berlin 1802–1810 [SB 1491] und Platon: Libri IV [gr.], Gorgias, Apologia Socratis, Charmides, Hippias maior, Scholarum in usum ed. L. F. Heindorf, Berlin 1805 [SB 1492]

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streng correcten Sprache und die Art wie dieses auf der einen Seite Neologismen aufnimmt auf der andern Seite in Archaismen entartet. In den b e i d e n u n t e r n Klassen würde dem Französischen die Hälfte oder zwei Drittheile von der dem Lateinischen gewidmeten Zeit zu geben seyn. In Se x t a würde das erste Vierteljahr ganz mit Uebungen in der Aussprache hingebracht werden, die zugleich gebraucht werden können, um einen Wortvorrath anzulegen. Dieser würde | in der Folge auf eine mehr zusammenhängende Weise, indem man einzelne in das Gebiet des gemeinen Lebens eingreifende Gegenstände zu erschöpfen suchte, zu vermehren seyn, und zugleich die regelmäßige Deklination und Conjugationen einzuüben seyn. Auch kann der erste Anfang mit dem Uebersetzen schon gemacht werden. In Q u i n t a sind die lezten Uebungen zu erweitern, wie es schon dadurch möglich wird daß nun auch die unregelmäßigen Zeitwörter mit ihrer Beugung eingeprägt werden. Hier sind auch schon leichte Sätze selbst zu bilden, und in Verbindung hiemit wird die Aussprache noch mehr befestigt und verfeinert. Die b e i d e n m i t t l e r n Klassen müssen sich eine hinreichende Fertigkeit in Sprache und Richtigkeit im Styl, wenigstens für die Geschäfte zum Ziel setzen, weil diejenigen welche nach Vollendung dieser Stufe abgehen, größten Theils in vielfache Geschäftsberührungen mit den Ausländern kommen. Die Zeit ist daher gleich zu theilen zwischen Lesung angemessener Schriftsteller und zwischen practischen Uebungen in Schreiben sowohl als Sprechen. Ueberall werden hiebei die syntactischen Regeln und der richtige Gebrauch der Formen eingeübt. In Q u a r t a wähle man zur Lesung Schriftsteller, die unmittelbar in das Gebiet der feinern Umgangssprache gehören vorzüglich epistolarische. In Te r t i a historische und raisonnirende, auch leichte epigrammatische und moralische Poesie. Die Sprachstunden müssen | in beiden Classen um nicht zu erlahmen sich an einen Faden halten, entweder eine aufgegebene häusliche Lection oder an einen zum Durchdenken aufgegebenen Gesprächsgegenstand. In lezterer Klasse können auch schon alle nöthigen Erläuterungen in den Lehrstunden französisch gegeben werden. Die b e i d e n o b e r e n K l as s e n müssen die Fertigkeit des Schreibens und Sprechens durch fortgesetzte Uebung erhalten, jedoch bekommt die Lection hier wieder das Uebergewicht weil nun der Hauptzwek ist, die verschiedenen Gebiete so wohl als Perioden der klassischen Litteratur kennen zu lernen. In Secunda müßte die historische und practische Prosa, die beschreibende und erzählende Poesie, 2 Archaismen] Archerismen 9 einzelne] einzeln sche 28 leichte] korr. aus leichten

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in P r i m a die dramatische und epische Poesie und die rhetorische Prosa vorherrschen. D) U n t e r r i c h t i m D eut schen.

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Mit jeder Sprache wird dem Menschen ein eigenthümlich gebildetes und die ganze Weltkenntniß eines Volkes umfassendes System von Anschauungen gegeben. Für einen jeden aber ist die Muttersprachen dasjenige, für welches er durch seine Nationalität gleichsam präformirt ist, und das einzige, dessen er sich ganz rein bemächtigen und sein ganzes Dasein und Leben darin darstellen kann. Hieraus geht hervor, daß wenn auch nicht geläugnet werden kann, daß in gewisser | Hinsicht der philologische Sinn besser in den alten Sprachen geübt wird, als in der Muttersprache, in wie fern nemlich diese jenen an Vollkommenheit der Ausbildung und innerer Selbstständigkeit so wie an Festigkeit der Formen und Regeln scheinbar wenigstens nachsteht dennoch auf der andern Seite der Unterricht in der Muttersprache nicht nur eine größere Gewalt über die Sprache bewirken muß, indem das ganze Leben ihm unmittelbar zu Hülfe kommt, sondern auch weil sie das natürliche unmittelbare Regen des Verstandes und der Fantasie ist, weit mehr durch ihn auf die Richtigkeit und Beweglichkeit der erkennenden Operationen selbst gewirkt werden kann. Der deutsche Unterricht muß daher auf jeder Bildungsstufe ihrem Geist gemäß beide Tendenzen mit einander verbinden, und danach ist die Combination der Uebungen einzurichten. Auf der u n t e r n B i l d u n gs s t u f e ist der deutschen Sprache eben so viel Zeit zu widmen als der lateinischen, und außerdem noch die Hälfte davon den damit verbundenen kalligraphischen Uebungen. Da hier alles auf die Reichhaltigkeit und Ordnung der sinnlichen Anschauung auf richtige Subsumtion und Combination derselben ankommt, so wie auf die unmittelbar organischen Fertigkeiten im Gebrauch der Sprache, so sind die Uebungen hier folgende. In S exta Uebungen im richtigen Lesen, sowohl was Aussprache und Ton und Accent betrift, als in der Rechtschreibung und der sprachrichtigen Bildung einzelner erst einfacher, dann zusammengesetzter Sätze, nicht aber als häusliche Arbeit sondern in den Lehrstunden selbst worin sich | Uebungen in der Wortbeugung in Einprägung der einfachsten syntactischen Regeln von selbst anschließen. Endlich Sammlung großer Massen von Wörtern aus verschiedenen Gesichtspunkten z. B der 13 innerer] über )einer* 18 Fantasie] korr. aus Phantasie organische 32 als] am linken Rand von Bernhardis Hand korr. aus )Wortbiegung* 36 anschließen.] anschließt,

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Theile eines Ganzen, der Arten einer Gattung, der Abstufungen einer Kraft, der Uebergänge einer Form genaue Vertheilung der Stunden ist hier um so weniger anzugeben, da die Uebungen selbst sich nicht so strenge scheiden, und wohl alle ein ziemlich gleiches Anrecht haben. In Q u i n t a muß im Lesen schon mehr auf Geläufigkeit und gefälligen Vortrag gesehen werden, wobei schon der Unterschied zwischen Prosa und Poesie zum klaren Bewustsein kommen muß. Die Sazbildung erweitert sich zur Darstellung eines in seinen allgemeinen Umrissen gegebenen aus wenigen Sätzen bestehenden Ganzen, welches alsdann ein Thema zu mannigfaltigen Variationen wird. An die Stelle der bloßen Wortsammlung treten bestimmtere Uebungen in der Wortbildung und Ableitungen um die Analogie der Sprache mehr in die Gewalt zu bekommen. Der Schüler wird nicht eher auf dieser Stufe für reif erklärt bis er alles provincielle in der Aussprache und im Ausdruck abgelegt und im Sprechen und Schreiben völlige grammatische Sicherheit hat. Der k a l l i gr ap h i s c h e U n t e r r i c h t ist in der Regel lediglich auf diese Unterrichtsstufe zu beschränken, und nur für den Nothfall noch eine Nachhülfsklasse auch für Quartaner zu gestatten, die aber außerhalb der gewöhnlichen Schulstunden fallen muß. Wenn von Anfang an, auf eine gute Federhaltung gesehen, und die Hand lange genug an Grundstrichen geübt wird, ist es leicht den | Unterricht in dieser Zeit zu vollenden. Denn die Schnörkeleien welche in den Kanzleyen gebraucht werden können, gehören offenbar in eine Specialschule. Es wird gut seyn, wenn der Schreiblehrer unter der unmittelbaren Aufsicht dessen der das Deutsche in jeder Klasse lehrt, steht, damit die Uebungen combinirt werden können. Auch ist dahin zu sehen, daß die römische Hand ebenso vollkommen eingeübt werde, als die deutsche, und zwar nicht nur Latein und Französisch so geschrieben werde sondern auch Deutsch. Auf der m i t t l e r n B i l d u n gs s t u f e verliert das Deutsche nicht nur die der Kalligraphie bestimmten Stunden sondern muß auch wohl wegen des zunehmenden lateinischen und griechischen Unterrichts selbst noch etwas zurüktreten. Die Zeit wird in Quarta gleich geteilt zwischen Lesung und Stylübungen: zur ersten gehört auch schon Declamiren rhetorischer und poetischer Stücke und zu den leztern abkürzende Wiederherstellung gelesener Stücke aus der erzählenden Gattung. In Tertia bekommen die Stylübungen auch was die Zeit betrift, das Uebergewicht, und es müssen aus größern Stücken andern Inhalts, wohlgeordnete und abge23 Schnörkeleien] korr. aus Schnörceleien 38 Gattung] am linken Rand von Bernhardis Hand statt )Zeitung* 40 Stücken] folgt )auch*

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faßte Auszüge gemacht werden. Die Grammatik wird in beiden Klassen bei Gelegenheit beider Uebungen fort während eingeübt, und umfaßt hier schon vorzüglich in Tertia das schwierigere und streitige, wobei sich die Geschiklichkeit des Lehrers vorzüglich darin zeigen muß, wo verschiedene An|sichten statt finden, die Gesichtspunkte aus denen sie genommen sind, nachzuweisen. Jedoch ist hier noch überall auf Gleichförmigkeit in der Klasse zu sehen, und sie ist von der Seite der Neuerer entfernt zu halten. – Bei der Lesung ist schon darauf zu sehen, daß die verschiedenen Sprachgebiete unterschieden werden, in Quarta nur im Allgemeinen das poetische und prosaische, sowie das edle und niedrige, in Tertia kann schon auf mehrere Abstufungen sowohl was Wörter als auch Redensarten und Constructionen betrift hingewiesen werden. Bei den Aufsätzen ist auf richtigen Zusammenhang auf Klarheit und Reinheit des Ausdruks zu sehen, und die Schüler nicht eher für reif auf dieser Stufe zu halten bis sich eben hierin zeigt daß sie in dem angegebenen Sinne sich der Sprache hinreichend bemächtigt haben. Auf d e r d r i t t e n B i l d u n gs s t u f e theilt sich die Zeit wiederum zwischen Lesung und Stylübungen so daß in S ecunda die Lesung das Uebergewicht hat, in P r i m a beide gleich werden. Die Lesung muß hier nur klassische Werke aller Gattungen, die populär philosophischen werden nicht ausgeschlossen, zum Gegenstand haben. In der Prosa muß auf den Numerus in der Poesie auf das Metrum beständige Rüksicht genommen werden. Die Lesung muß ordentliche Interpretation seyn, der Sinn muß mit Sicherheit und Nothwendigkeit nachgewiesen und keine hermeneutische Schwierigkeit darf | übergangen werden, so daß der Schulunterricht hier an der Muttersprache möglichst genau der Behandlung vorarbeitet, welche die Universität den alten Schriftstellern angedeihen läßt. Der Character und die Eigenthümlichkeit des Schriftstellers muß überall durch unmittelbare Anschauung sowohl als durch Vergleichung deutlich gemacht werden. So auch müssen Analysen des Ganzen oder größerer Abschnitte vorgenommen werden um das Verfahren des Schriftstellers in der Anordnung zu verstehen, wodurch theils das Verständniß der Theorie der redenden Künste und der Composition überhaupt vorbereitet, theils auch das Verfahren beim eignen Arbeiten richtiger geleitet wird, die eignen Aufsätze welche eben deshalb erst in Prima nachdem diese Uebungen schon eine Zeit lang fortgesetzt worden sind, in größerem Maaß eintreten können, müssen überall beweisen wie das bei der Interpretation gesagte ist aufgefaßt worden, daher es weit vortheilhafter 32 Analysen] korr. aus Analisen tion] korr. aus Compensation

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ist, wenn derselbe Lehrer beide Uebungen leitet. Bei der Lesung kann schon mit darauf gesehen werden, daß auch der Character der verschiedenen Perioden der Litteratur sowohl was die Sprache als die Composition betrift, aufgefaßt werde. Die Aufsätze des Einen von den Andern kritisiren zu lassen, ist eine vortheilhafte Uebung. Poetische Uebungen sind freilich nicht ganz zu verwerfen müssen aber nur sehr selten mit großer Vorsicht und Beschränkung aufgestellt und mit großer Strenge behandelt werden, mehr um die falschen dichterischen Tendenzen der Jünglinge abzuwenden | als um ihnen Nahrung zu geben. Was nun die wissenschaftliche Bildung betrift, so findet sich

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A Ueber den U n t e r r i c h t i n d e r M a t hema tik.

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Bei den Vorarbeiten der Deputation befindet sich außer einer allgemeinen Ansicht der mathematischen Wissenschaften, in wie fern sie ein Lehrgegenstand auf gelehrten Schulen seyn können und sollen, und einer ganz kurzen Angabe der einzelnen Theile des Unterrichts in ihrer Folge, noch ein Aufsatz welcher theils Winke über die Methode giebt, theils den, dem mathematischen Unterricht hier angewiesenen Umfang rechtfertiget. Mit Verweisung auf diese anderweitigen Arbeiten scheint es hinlänglich hier zusammenzustellen, was und nach welcher Ordnung in den verschiedenen mathematischen Disciplinen jede Klasse einer wohlorganisirten gelehrten Schule zu leisten hat. Die Anzahl der Stunden ist in allen Klassen gleich angenommen, eben so viele als mit welchen, das Deutsche, abgerechnet, die kalligraphischen Stunden – das Lateinische und Griechische in den untern Klassen anfängt von welchen Lehrobjecten sich der mathematische Unterricht nur dadurch unterscheidet, daß sich wegen seiner innern Gleichförmigkeit kein bestimmter Grund einer Vermehrung oder Verminderung der Lehrstunden auffinden läßt. Da vorausgesetzt wird, der in die 6. Klasse eintretende Knabe könne Deutsch lesen, so darf man auch annehmen, er kenne nicht nur die Zahl|zeichen, sondern könne auch zusammenhängend geschriebene Ziffern einigermaßen lesen. Der Anfang des Unterrichts welchen er nun in der 6. Klasse erhält, kann ihm also nicht ganz neu und fremdartig erscheinen. Uebrigens sollte es wohl eine Bedingung der Aufnahme in einer gelehrten Schule 14 befindet sich] mit Einfügungszeichen am linken Rand von Bernhardis Hand 18 theils] Theils 26 Lateinische] Leiteinische 32 könne] können

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seyn, daß der Knabe unter andern allgemeinen Elementarkenntnissen aus irgend einer Vorschule auch die des Schreibens der Ziffern und des Lesens der Zahlen wenigstens Vierziffrige besitze. Fordert es die Schule so werden Eltern und Vormünder die ihre Knaben in dieselbe aufnehmen lassen wollen, schon darauf sehen, daß er eine kleine Probe hierin bestehen könne. In dieser 6. Klasse wird das Zählen im weiten Sinne betrieben; und dazu gehören auch die so genannten vier Species 1) Nach dem dekadischen System erweitert auf Dezimalbrüche 2) Andern ähnlichen Systemen 3) Nach unregelmäßigen wo die Ziffern einer Klasse, zu denen der vorhergehenden nicht immer in denselben Verhältnissen stehen. Wie z. B. in der Anwendung bei Pfunden, Untzen oder Lothen, Quentchen pp oder im Gelde, Längenmaaßen, dieses der Fall ist, daher auch Beispiele hieher gezogen werden können. Wenn den Additionen pp für diese Voraussetzung Bedeutung gegeben werden; so erlernt der Knabe, schon in den ersten Elementen des Zählens ohne es zu merken Regel de tri u. dgl. | Da sich der Unterricht in Ziffern auf mehrerlei Weise geben läßt, so kann nicht genau bestimmt werden, wann der Knabe aus der 6. in die 5. Claße übertreten soll. Die größte Fertigkeit hierin, wird wohl nicht in dem einen Jahre zu erreichen seyn. Allein es ist nicht nothwendig, daß der Lehrling im dekadischen Systeme diese schon vollkommen erlangt habe, bevor man ihn mit den Systemen zweier, dreier pp Ziffern bekannt macht. Sondern er übt indem er sich mit diesen beschäftiget, eben dieselbe Fertigkeit und dies gilt auch von den unregelmäßigen Eintheilungen. Aber auf’s Verstehen der Sache ist alle Rüksicht zu nehmen bevor sie verlassen wird, wenn sie gleich natürlich in der Folge öfter in Rükerinnerung kommen muß. Die Anzahl der Beispiele ist also nicht ohne Noth zu häufen. Nur insofern sie Verschiedenheit der Ansichten pp geben und das Urtheilsvermögen in Thätigkeit setzen, sind sie rathsam, denn die Folge bringt stets neue mit sich, so daß es an Ueberzeugungs Exempeln für denselben stets wiederkehrenden Mechanism nie gebricht, und er doch nicht auf Kosten des Verstandes und mit einer dem Knaben langweiligen Einerleiheit erreicht wird. Der numerische Unterricht in der 5. Klasse kann eine Fortsetzung von dem in der 6. seyn. Das Rechnen mit benannten Zahlen oder | irregulairen Systemen wird hier noch fortgesetzt. Zugleich fängt aber 3 besitze] korr. aus zu besitzen 5 eine] korr. aus einer 19 Claße] am linken Rand von Bernhardis Hand 22 ihn] ihm davor )numerische* 17 Regel de tri ist der Dreisatz

5 kleine] kleinen 35 Fortsetzung]

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auch der Unterricht in der formalen Arithmetik, der eigentliche mathematische Unterricht mit den allerersten Elementen der sogenannten BuchstabenRechnung an, wo darauf hingewiesen wird, daß es in jeder Aufgabe darum zu thun sey, die R e ge l zu finden für ihre Auflösung und so bald man Ziffern könne es nur von der Erfindung jener Regel abhänge das b e r e c h n e n zu können was eine Aufgabe in jeden gegebenen Falle fordert. Die erste Behandlung der BuchstabenRechnung geschieht mit Hinsicht auf die numerische Bruchrechnung, deren Vorschriften aus jener abzuleiten sind. Sie wird ausgedehnt auf die erste elementare Behandlung der stetigen Brüche. In den parallel laufenden Stunden für das Rechnen mit benannten Zahlen wird der in der Rechnung mit Brüchen erhaltene Unterricht zu den Abkürzungen benutzt, die jenes durch diese erhalten kann. Auch fängt in dieser Klasse der geometrische Elementarunterricht an. Die dem Unterricht bestimmten wöchentlichen Stunden theilen sich im ersten halben Jahr zu gleichen Theilen in | die Rechnung mit benannten Zahlen die Buchstaben und Bruchrechnung und die Geometrie. Im leztern halben Jahre behalten Buchstaben und Bruchrechnung und Geometrie ihren vorigen Antheil, der dritte aber wird getheilt zwischen der Rechnung mit benannten Zahlen und der geometrischen Construction vermittelst deren Theoreme entwickelt und Aufgaben gelöset werden, welche sich auf die grade Linie und den Kreis beziehen. Die Schüler können nur dann in IVta übergehen wenn sie Fertigkeit im numerischen Rechnen zeigen, und den ersten einfachen Algorithmus der BuchstabenRechnung einsehen: In der ebenen Geometrie aber dürfte eine Auswahl der wichtigsten Sätze der ersten 4 Bücher Euklides von ihnen zu fordern seyn. In IVta wird getrieben 1) Die Theorie der Gleichungen vom 1. Grade. Theorie der Elimination zwischen mehreren gegebenen Gleichungen dieses Grades, wobei sich Uebung im litterairischen Calcül vorfindet, ohne daß es nöthig seyn dürfte in besondern leeren Exempeln, Rechnungsarten mit allgemeinen Zeichen zu üben. Diesem folgt die Theorie quadratischer Gleichungen, auch die numerische Auflösung derselben, wobei sich die Ausziehung der Quadratwurtzeln aus Zahlen nachweisen und ausüben läßt. 2 Elementen] folgt )mit*

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Wohlgewählte Beispiele für die Anwendung dieser Theorien müssen sie dem Schüler interessant lehrreich und nützlich machen, auch seinem Verstande aneignen. | 2) Die reine Geometrie wird fortgesetzt, die vornehmsten Sätze des 6. 11. und 12. Buches Euklides nemlich. Der Lehrer hat hier anfänglich die Lehrsätze von den Proportionen zu behandlen, welches derselbe nach Maasgabe des 5. Buches Euklides oder nach dem neuern Begrif der Proportionalität leisten kann. Jenen indessen mitzutheilen und zu erläutern, dürfte wenn es einigermaßen die Zeit erlaubt nicht ohne Nutzen seyn, besonders für diejenigen welche sich dem gelehrten Stande widmen. 3) Geometrische Construction wird geübt, wozu der Lehrer Aufgaben giebt, welche sich mittelst der graden Linie und des Kreises auflösen lassen. Häuslicher Fleiß ist hier schon in Anspruch zu nehmen. Die Zeit wird zu gleichen Theilen getheilt zwischen Algebra und Geometrie und von der leztern noch eine Stunde zur geometrischen Construction verwendet. Die Schüler treten nicht anders aus diesem Cursus bis sie die in demselben zu erlernenden Materien wohlgefaßt haben. In IIItia 1) Weitere Entwickelung der quadratischen Gleichungen und deren Anwendung. Algorithmen der Potenzen. Elementardarstellung der Theorie der Logarithmen und deren Gebrauch | Anwendung auf Probleme. Potens eines Binom’s. 2) Analytische Geometrie der Gleichung der graden Linie für sich, zwey oder mehrere mit einander verbunden pp Gleichung des Kreises, Behandlung solcher Aufgaben welche Kreis und gerade Linie darbieten. Flächeninhalt der gradlinichten Figuren des Kreises; körperlicher Raum der von ebenen Flächen begränzten Figuren dann der Kugel pp. Sehr zwekmäßig und zu wünschen wäre es wenn in der analytischen Geometrie die Algorithm der Kreisfunktionen mitgenommen werden könnte, da es unabhängig von ihrer Entwickelung geschehen kann. Auf diese Weise wäre gesorgt, daß die welche mit dem Austritt aus IIIa die Schule überhaupt verlassen, die ersten Elemente der Mathematik in einigen Zusammenhang mitnehmen können. Die geometrische Construction findet in dieser Klasse nicht mehr statt, weil sie zu zeitraubend ist. Es ist hinlänglich wenn der Lehrer in der analytischen Geometrie gelegentlich fragt, wie eine analytisch gegebene Auflösung eines Problems sich durch Construction finden lasse, oder sie 12 geübt] mit Einfügungszeichen über der Zeile begränzten] über der Zeile nachgetragen

28–29 Figuren des Kreises …

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vom häuslichen Fleiße begehre. Die Zeit, nur mit Weglassung der Construction wie oben getheilt zwischen algebraischen und geometrischen Unterrichte. Die Schüler müssen wenn sie in Secunda zugelassen werden wollen, den bisher genossenen Unterricht sehr gut angeeignet haben, und | unzweideutige Proben davon ablegen. In IIa wird gelehrt. I) a Theorie der Gleichungen überhaupt im allgemeinen. Ihre numerische Auflösung durch Näherung in sofern dies nach den bisherigen Kenntnissen und der Mithülfe einiger Lehrsätze geschehen kann. b) Anfangsgründe der Lehre von den Reihen, die Theorie von den unbestimmten Koeffizienten und der darauf sich gründenden Entwickelung einiger merkwürdiger Reihen nebst der Darstellung der Potenzirung, Multiplication pp der Reihen aus der Lehre von den Combinationen abgeleitet, deren Elemente als vorbereitend hier mitzunehmen sind. Da der Aufenthalt des Schülers in dieser Klasse zweyjährig, so ist jener Unterricht auch auf zwei Jahre zu vertheilen; in einem Jahre die Theorie der Gleichungen im andern die Theorie der Reihen, und jeder Cursus ist so anzuordnen daß er unabhängig vom andern verständlich sey. Wenn dies nicht ganz ohne einige Wiederholung von Lehren des einen Cursus im andern geschehen kann, so ist dies von keinem Nachtheil. Diese Behandlungsweise ist nothwendig; da alljährig neue Schüler in die Klasse | treten, und also keinen ihnen unverständlichen Unterricht antreffen dürfen. Dem angemessen ist auch der geometrische Cursus anzuordnen. 2) Analytische Geometrie, nach drey Dimensionen a) Wenn in dem algebraischen die Lehre von den Gleichungen behandelt wird, so kann die analytische Geometrie mit algebraischen Zeichen – ohne geometrische Funktionen zu gebrauchen – vorgetragen werden. b) In dem Jahre, wo die Theorie der Reihen vorkömmt wird die analytische Geometrie zugleich algebraisch und mit Zuziehung der geometrischen Ausdrücke behandelt, der Algorithm derselben wird geübt, die ebene und sphärische Trigonometrie, machen die ersten Sätze dieses geometrischen Unterrichts – der sich in jenem, wie in diesem Falle auf die Kegelschnitte ausdehnen muß. Es ist nicht aus den Augen zu lassen, daß eine Schule keinen ächt systematischen wissenschaftlichen Gang in der Mathematik nehmen kann und soll, dieser würde zu abstrakt und dem Schüler zu sehr formal seyn, daher nicht hinlängliche Theilnahme erregen. Indessen ist hier doch darauf gesehen, so nahe als möglich den systematischen 20 ist] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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Gang zu folgen, und der Zwek der Schule, daß etwas | erlernt, und durch Uebung fest eingeprägt werde, doch zu erreichen. Man kann den Unterricht im mathematischen in IIa als hier gleichsam ganz von vorne anfangend betrachten, indem nur vorausgesetzt zu werden braucht daß der Schüler nicht ohne alle Vorkenntniß diesen Unterricht anfängt, die Begriffe ihm nicht ganz neu und seine Gemüthskräfte empfänglicher sind. Der Lehrer hat aber darauf zu achten, sich nicht in zu weitläuftige Verfolgung des Einzelnen zu verlieren, weil sonst nicht nur jene Theorien im vorgeschriebenen Zeitraume nicht durchgegangen werden könnten, sondern der Zögling auch sie nicht mehr übersähe und den Zusammenhang verlöhre, durch welchen sowohl sein Verstand als sein Gedächtniß sich dieselben aneignen kann. Von der Zeit gebührt ebenfalls die Hälfte dem algebraischen, die Hälfte dem geometrischen Unterricht. Der Uebergang in Ia hat statt, wenn der Jüngling die Materie des Unterrichts der II. Klasse, so nach der Ueberzeugung des Lehrers inne hat, daß er ohne Anstoß dessen Vorträge in dieser lezten | Classe zu folgen vermag, wovon nicht nur das Examen sondern auch die Proben häuslicher Arbeiten, welche ihm der Lehrer aufgegeben, die Beweise liefern. In Ima. 1) a) Algebraische Auflösung der Gleichungen vom dritten und vierten Grade. Anfangsgründe der unbestimmten Analytik. b) Arithmetische Reihen, figurirte Zahlen und deren reciproke Summen derselben. Deduction des TaylorschenLehrsatzes, Reihenentwickelung nach demselben, Zusammenstellung mit den oben über die Reihen (in IIda) gelehrten Folgerungen. c) Wahrscheinlichkeitslehre. Da der Aufenthalt hier dreyjährig, so sind auch die Gegenstände des Unterrichts so vertheilt, daß der aus Secunda Eintretende den Lehrer folgen kann, er habe das erste Jahr welche jener Abtheilungen des Unterrichts es auch sey zuerst zu benutzen. Jeder derselben schließt sich an einen der beiden des in IIda ertheilten an. Es wäre wohl zu wünschen, daß der WahrscheinlichkeitsCalcül stets ins dritte Jahr fiele. Allein dies ist ohne größern Nachtheil für das Gymnasium | und die Zöglinge nicht zu erhalten, und es ist besser einige Wiederholungen derselben Materie in den beiden zuletzt aufgeführten besonders zu gestatten. Die Meinung ist nemlich daß jährlich nur eine von den drey getrennt angegebenen Mate12 dieselben] dieselbe

31 welche] korr. aus welchen

25 Brook Taylor (1685–1731), britischer Mathematiker

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rien vom Lehrer behandelt werden, fernere Zerstückelung wäre schädlich. 2) Anstatt der Geometrie treten nun die Disziplinen der angewandten Mathematik besonders der mechanischen Wissenschaften ein. Der Jüngling mag hier den Lehrer treffen wo er wolle, so muß er denselben zu folgen aus IIda das Nöthige mitbringen. Daß mit dem Jahr gerade ein sich von den übrigen absondernder Theil dieser Wissenschaft anfängt, ist so nöthig als natürlich, denn der Cursus des Ganzen wird auf 3 Jahre vertheilt. Die eine Hälfte der Zeit ist dem analytischen Unterricht, die andere den angewandten mathematischen Wissenschaften gewidmet. Zahl der wöchentlichen Stunden 6. 3 der analytischen 3 den angewandten mathematischen Wissenschaften gewidmet. | B N at u r b e s c h r e i b u n g u n d Na turlehre.

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Beide Objecte stehen in einer genauen Verbindung unter sich sind aber im Schulunterricht am besten nicht gleichzeitig sondern nacheinander zu behandeln. Die Naturgeschichte eignet sich für die frühere Zeit wo sinnliche Anschauung und Gedächtniß vorzüglich geübt werden; die Naturlehre für die welche der Universität am nächsten kommt indem sie auf allen Seiten zur Speculation auffordert. Doch ist auch leztere nicht ganz allein auf die höchste Bildungsstufe zu beschränken, sondern es ist vielmehr nothwendig, daß auch die welche nur die zweite vollenden, eine solche Uebersicht von den Elementaranschauungen der Physik gewinnen, daß sie im Stande sind das Einzelne der Phänomene unter allgemeineres zu subsummiren, und sich also über die gedankenlose Empirie der Absicht zu erheben. Daher theilen sich beide Lehrobjecte so daß Naturbeschreibung die drei unteren, Naturlehre, die drei oberen Klassen einnimmt. Wenn man die drei wesentlichen Theile betrachtet, in welche die Naturbeschreibung zerfällt, so geht sehr deutlich hervor, daß der mineralogische und zoologische Theil im Unterricht zurük treten müsse gegen den botanischen. Dem zoologischen nemlich kommt das Leben selbst weit mehr zu Hülfe, man lernt die Thiere im gemeinen Verkehr mit ihnen weit | leichter nach ihren Unterscheidungszeichen, und eigenthümlichen Formen kennen als die Pflanzen und in der Mineralo6 Daß] Das 19 behandeln. Die] behandeln die mit Einfügungszeichen über der Zeile

26 Einzelne] Einzeln

27 also]

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gie wiederum sieht man auf die Körper selbst so sind sehr viele so wenig verbreitet, daß ihre Kentniß nur für den gehört, welcher sich der Wissenschaft selbst widmen will, sieht man auf die Formen, so ist auch hier das wesentliche sehr einfach, und an wenigen bedeutenden Gegenständen leicht darzustellen. Dazu kommt noch, daß überall weit leichter eine große Menge Pflanzen herbei zu schaffen ist als eine gleich reichhaltige mineralogische oder zoologische Sammlung. Auch spricht offenbar die Pflanzenwelt dieses Alter am meisten an, und nächstdem die Insecten welche auch schon aus den obigen Gründen im zoologischen Unterricht am meisten herauszuheben sind. In der s e c h s t e n Klasse sei nun der Unterricht nur propädeutisch um nur eine Menge von Naturgegenständen zur besonnenen Anschauung zu bringen, die also von selbst größtentheils einheimisch seyn werden. Zu sehen ist vorzüglich darauf, daß möglichst alle Hauptformen zur Anschauung kommen und alle Entwickelungsarten. In der f ü n f t e n Klasse werde das systematische vorbereitet, auch eine genauere Kenntniß der einzelnen Theile und ihrer Formen im vegetativen | und animalischen Gebiet und der äußern Merkmale im mineralogischen wenn der Besiz einer mäßigen Sammlung die doch jedes Gymnasium erwerben sollte dies möglich macht. Lezteres ist um so wichtiger, da das Auge hier zugleich für die Stärke der Farbe und ihrer Uebergänge nach allen Richtungen geübt wird. Ersterem muß das Zeichnen hier zur Hülfe kommen, und es muß ein Theil, wenigstens der Zeichenstunden rein der Naturbeschreibung gewidmet seyn. Es nöthiget nicht nur zur größern Aufmerksamkeit auf die Formen, sondern giebt auch die beste Gewehrleistung, daß sie richtig aufgefasst werden, und lehrt in Ermangelung der Originale, Abbildungen genauer verstehen. In der v i e r t e n Klasse endlich wird eine systematische Übersicht der drei Naturreiche gegeben und zwar so, daß zwar ein System zum Grunde gelegt, aber auch die Haupteintheilungen der andern gangbaren so aufgefaßt werden, daß sich der Schüler auch nach ihnen selbst über einzelne Gegenstände orientiren kann. Welches System in jedem Reiche zum Grunde zu legen sey, muß wohl unbestimmt gelassen bleiben. I n d e n d r e i o b e r n K l as s e n t r i tt nun die N a turlehre ein. Die dritte Klasse als unterste Stufe dieses Unterrichts giebt eine allgemeine Uebersicht der Haupterscheinungen der Körperwelt auf dem Wege der sinnlichen Anschauung, durch Versuche und leicht fassliche Beobachtungen. | Das Detail der quantitativen Bestimmungen, wird meistentheils für die folgenden Stufen aufbewahrt, und eben so 8 Alter] über )alles*

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wenig kann hier von Theorien und systematischer Zusammenstellung der Gesetze die Rede seyn. Bei der großen Mannigfaltigkeit der Gegenstände die die Natürlichen umfaßt, ist es nothwendig irgend eine Grenze zu ziehen, um der Oberflächlichkeit zu entgehen und doch den Schülern deren viele die gelehrte Schule verlassen nachdem sie den Unterricht dieser Klasse genossen haben, etwas in sich geschlossenes mit zu geben, woran sie sich nothdürftig begnügen, oder woran sie anderweitig anknüpfen können. Diese Grenze läßt sich am besten bestimmen, wenn man für den Standpunkt dieser Klasse die Physik als Hülfswissenschaft zur gründlichen Erlernung der physischen Geographie betrachtet. Die Grundzüge der Bewegungslehre; die allgemeinen Gesetze der Statik für die drei AggregationsZustände der Körper, gehören hierher, und von der besondern Physik, die Hauptzüge aller wovon die physische Geographie eine unmittelbare Anwendung zu machen hat. In den zwei höheren Klassen ist dem Unterricht in der Naturlehre mehr Selbstständigkeit und mehr wissenschaftlicher Zusammenhang zu geben. Da einerseits der propädeutische Unterricht der vorigen Klasse schon eine allgemeine Uebersicht | der mechanischen Theile gegeben, und da andererseits die bedeutenden Fortschritte in der Mathematik nur in der ersten Klasse zu erwerben sind, so wäre es zwekmäßig in der z w e i t e n Kl as s e die besondere Physik abzuhandeln. Diese Klasse hätte sich also zu beschäftigen mit denjenigen Lehren, die zur Zeit noch nicht als Zweige der angewandten Mathematik aufgestellt werden können, und die mehr den Weg der Empirie als den des Kalcüls einzuschlagen haben; wie da sind die Lehren von der Physikchemie, der Geometrie, der Electrizität und Magnetismus. In der erst en K l a s s e folgte darauf die Lehre vom Licht und von den Farben oder die physicalische Basis der Optik in allen ihren Zweigen, als Beschluß der besonderen Naturlehre womit man auch noch die Lehre vom Schall verbinden könnte. Dann zurük zum gründlicheren Vortrag der allgemeinen Naturlehre, und zwar mit Einschluß der metaphysischen Eigenschaften der Körper, um die in der dritten Klasse aufgestellten Erscheinungen, besonders alles was die Grundlage der mechanischen Wissenschaften ausmacht, besser zu begründen. Da im allgemeinen nicht bestimmt werden kann, ob die Individualitäten jeder gegebenen Klasse beim Vortrag der reinen Mathematik Zeit genug übrig lassen werden um die Theile der angewandten | 4 Oberflächlichkeit] korr. aus Verflächtigkeit 23 abzuhandeln] korr. aus abzusondern 28 Geometrie] ist dick unterstrichen und am linken Rand mit Fragezeichen versehen

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Mathematik alle gehörig abzuhandeln, so ist es ungemein vortheilhaft, daß gerade hier beide Zweige des Lehrplans (Physik und Mathematik) sich so begegnen, daß immer einer dem andern übertragen und aushelfen kann; daher beide Lehrer hier Uebereinkunft treffen müssen. Wenn diese Uebersicht im Vergleich mit den übrigen dürftig erscheint: so ist es, weil noch zu wenig Erfahrungen von einem ausführlichen und würdigen Vortrag naturwissenschaftlicher Gegenstände vorhanden sind, als daß man im Allgemeinen daraus bestimmen könnte über die Methode sowohl, als über das Verhältniß über welchen einzelne Theile zu behandeln sind, und weil hier von einer Mannigfaltigkeit von Uebungen weniger die Rede seyn kann. Wenn nur erst diesem Unterricht die ihm nothwendige Zeit zugesichert ist, und Lehrer an denen es jetzt sehr fehlt, sich allmählig heranbilden: so werden hernach die Erfahrungen einiger Jahre in den Stand setzen den vortheilhaftesten Weg genauer anzuzeigen.

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Auch diese beiden Disciplinen eignen sich zu einer eben solchen Verbindung als die vorigen. | Denn die Erde kann nicht vollständig dargestellt werden, ohne die Veränderungen mit darzustellen welche der Mensch eben durch jene Handlungen welche der Gegenstand der Geschichte sind, auf ihr hervor gebracht hat: aber allerdings erscheinen diese als das letzte erst hinzugekommene. Eben so ist für alles was die Geschichte darstellen will, die Erde in ihrer gegebenen Gestalt und Relation zu dem Menschen, die Bedingung welche erst erkannt seyn muß, wenn jenes soll verstanden werden. Hieraus also ergiebt sich, wie natürlich die Erdbeschreibung der Geschichte voran geht. Bleibt man bei der Geschichte allein stehen, so ist der Unterricht in derselben aus zwei ganz verschiedenen Aufgaben zusammen gesetzt, nemlich Mittheilung des Faktischen und Einzelnen bis zur festesten dauerndsten Einprägung in das Gedächtnis der Schüler, und dann Erregung der Empfänglichkeit für das Innere dieser Wissenschaft, für die Anschauung der von der Sittlich bildenden Kraft des Menschen erzeugten staatsbürgerlichen Verhältnisse. Beides kann niemals ganz getrennt werden, aber man sieht leicht, daß zur ganz genügenden Lösung der lezteren Aufgabe sich erst die Universität eignet, weil erst in der speculativen Betrachtung der gesammten Menschen Kraft die 24 letzte] über )bes*

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politische Richtung derselben recht | kann verstanden werden; sowie auf der andern Seite der Geschichtsunterricht jemehr er diese Aufgabe zwekmäßig mit berüksichtiget, um desto mehr dazu beiträgt das Bedürfniß der höheren ethischen Ansicht zu erregen. Hieraus ergiebt sich wie diese zweite Aufgabe erst in der späteren Periode des Schulunterrichts heraustreten darf, in der erstern aber die Ereignisse mehr empirisch aufgefasst werden müssen. Dann giebt es aber keine Einheit welche sie bindet und woran das wechselnde in ihnen gemessen werden kann, als die Beziehung auf das räumliche der Erde, so daß sich zuerst offenbar die Geschichte am meisten an die Geographie anschließt, und geographisch muß behandelt werden. Beide aber, Erdbeschreibung und Geschichte von Anfang zugleich auftreten zu lassen, davon räth die Betrachtung ab, daß es in sich selbst viel Schwierigkeiten hat mit dem Geschichtsunterricht zu zeitig anzufangen. Denn je mehr man darin Handlungen der Menschen darstellen will und diese um sie der Fassungskraft des Schülers näher zu bringen aus den Beiträgen Einzelner zusammensetzt, um desto sicherer führt man Mißverständnisse herbei. Der Lehrling wird eben wegen ihrer scheinbaren Verwandtschaft die Gegenstände einer höheren Sphäre in seine Ansicht hineinziehen und dadurch verzerren, daß er einen Zusammenhang | in das Gehörte bringt nach der Art wie er seine eignen Handlungen combinirt oder nach dem Maasstabe der ihm dabei angelegt wird, und darauf laufen auch alle Bestrebungen die Geschichte zu popularisiren hinaus. Aus diesen Gründen konnte auch die Deputation ohnerachtet der entgegengesetzten Ansicht ihres schätzbaren auswärtigen Mitgliedes für dieses Fach der Methode nicht Beifall geben, der zusammenhängenden Behandlung der Geschichte als Propädeutik, Biographien voranzuschicken. Diese geht eben davon aus, daß die Begebenheiten in ihrer politischen Beziehung weder Interesse noch Klarheit für den Lehrling haben, und macht deshalb lieber einen einzelnen Menschen zum Anknüpfungspunkt des Unterrichts. Aber der Einzelne ist nur insofern ein historischer Character als eine lebendige Wechselwirkung zwischen der Freiheit des Individuums und der bewustlosen Kraft des Ganzen nachzuweisen ist; die Aufgabe ist also hier eine zusammengesetzte und noch verwikkeltere. Daher werden auch solche Biographien nicht historisch sondern psychologisch, es wird ihnen ein ascetischer Zwek untergelegt und zu dessen Behuf die Charactere falsch gewürdigt, der wahren geschichtlichen Ansicht entgegen gearbeitet, und 8 gemessen] korr. aus genossen 12 zugleich] zu mit Einfügungszeichen über der Zeile 15 darin] mit Einfügungszeichen über der Zeile 17 zusammensetzt] korr. aus gesetzt

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Vorurtheile erzeugt die hernach nur mit der | größten Mühe können ausgerottet werden, ohne daß man sogar für jenen dem Geschichtsunterricht ganz fremden Zweke etwas Bedeutendes ausrichtete. Darum ist nun die Geographie und geographische Behandlung die einzige wahre Propädeutik für den Geschichtsunterricht, und dieser wird nun so anzulegen seyn. Die u n t e r s t e B i l d u n gs s t u f e ist ganz für die G eog ra phie bestimmt, und zwar so daß in Se x t a der Anfang gemacht wird mit der n a t ü r l i c h e n G e o gr ap h i e wie sich versteht nur ganz empirisch um die Gestalt der Erdkugel recht fest einzuprägen, vorzüglich in Absicht auf den Gegensatz zwischen Wasser und festem Lande, und die durch das erste in dem lezten bestimmten Einschnitte, Trennungen und Begränzungen um den verwikkelten Bestimmungen der politischen Geographie an einem feststehenden, eine einfachere Grundlage zu geben. Dabei werden natürlich die Begriffe vom Klima und den wesentlichen Verschiedenheiten des Bodens als den nach den Gegenden verschieden modificirten Relationen der Erde zu dem Menschen in Bezug auf seine politische Thätigkeit mitgegeben. Durch beides zugleich hat man dann den einen Factor zu den großen historischen Bewe|gungen zur Anschauung gebracht, welchen gegenüber steht die bildende an diesen Grundformen der Natur umher spielende Kraft der menschlichen Freyheit als der zweite Factor. – In Q uinta wird nun weiter fortgeschritten zur p o l i t i s c h e n G e o gr ap hie welche die lezten Resultate aller historischen Bewegungen an den äußerlich sichtbar werdenden räumlichen Verhältnissen darstellt. Eine solche Anschauung der neuesten Weltverhältnisse ist dem Lehrling allerdings auf dieser Stufe schon nothwendiges Bedürfniß und muß also möglichst vollständig jedem einwohnen der für reif diese Stufe zu verlassen erklärt werden soll. Aber sie ist auch die einzige deren er fähig ist und füllt also sein Bedürfniß ganz aus. Denn wer von dieser Bildungsstufe abgeht, kommt mit der historischen Welt auch gewiß nur von dieser äußern Seite in Berührung. Was man hingegen von der gewöhnlichen Behandlungsart aus einwenden könnte, ist, daß demjenigen der von hier aus in das bürgerliche Leben wenngleich nur in die niedern Gegenden desselben übergeht, doch eine Kenntniß der vaterländischen Geschichte wenigstens nothwendig sey. Allein wie unmöglich es ist, die Geschichte eines einzelnen Staates, zumal eines solchen wie der preußische ist von vorneherein zu isoliren ist für sich klar und im Unterricht der in dieser | Beziehung ertheilt wird, muß so unhistorisch seyn daß er hieher nicht gehören kann. Will man ihn 15 vom] von hystorischen

19 historischen] korr. aus hystorischen 24 historischen] korr. aus 39 und im] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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also nicht ganz fehlen lassen, so lasse man ihn aus solchen Bruchstükken entstehen, die bei andern Gelegenheiten vorzüglich beim Unterricht im Deutschen und Französischen, als Leseübung, als Exercitium, als Erzählung zum Wiedererzählen kann gegeben werden, worauf entweder beim Lectionsplan, oder durch ein unmittelbares Zusammentreten des Geschichtslehrers mit diesen Sprachlehrern muß gesorgt werden. Auf diese fragmentarische Weise wird jenem Bedürfniß hinlänglich Genüge geleistet. Die z w e i t e B i l d u n gs s t u f e steht nur in der Mitte zwischen dem propädeutischen und jenem höhern Geschichtsunterricht, durch welchen die politischen Verhältnisse und die ihnen zum Grunde liegenden Kräfte sollen zur Anschauung gebracht werden. Soll dieser verstanden werden: so müssen vorher alle geschichtlichen Hauptbegebenheiten schon auf eine mehr sinnliche Weise vorgestellt, und fest eingeprägt worden sein, und eben dieses ist, ganz nach der Analogie mit andern Lehrgegenständen, das Geschäft welches auf dieser Stufe getrieben wird. In der ersten Hälfte tritt natürlich mehr die Analogie mit dem frühern hervor, in der zweiten wird mehr das künftige vorbereitet. | Es sind auf der vorigen Stufe zu der abgelaufenen historischen Zeitreihe die beiden ruhenden Endpunkte gegeben an der ursprünglichen Beschaffenheit der Erde und an ihre dermalige Bewohnung und Bearbeitung. Der Zwischenraum zwischen beiden wird zunächst in Q u a r t a durch eine h i s t o r i s c h e G e o gr a phie oder g eog ra phisc h e H i s t o r i e ganz nach Analogie der politischen Geographie ausgefüllt, indem hier eben so die verschiedenen historischen Momente wie dort der neueste Zustand durch eine Reihe von geographischen Abbildungen oder historischen Landcharten anschaulich gemacht wurde. Durch diesen Unterricht werden alle Fertigkeiten und Vorkenntnisse erworben, die wenn man zu früh zum wahren Geschichtsunterricht übergeht gewöhnlich versäumt werden. Die Fantasie wird gewöhnt sich den Schauplatz der Begebenheiten richtig und durch die Zurükbeziehung auf die natürliche Geographie lebendig zu construiren, die chronologische ZeitLinie, fügt sich auf ihre natürliche Basis dem Raum, und der Synchronismus wird auf die faßlichste Weise eingeprägt. Zur Verfertigung oder freien Wiederentwerfung der Abbildungen sowohl in dieser als der vorigen Klasse kann ein Theil der Zeichenstunden vielleicht mit benutzt werden. Es ist offenbar, welcher außerordentliche Vorrath von Thatsachen an diese Darstellung angeknüpft werden kann indem die Lehrer den Uebergang von einem geographisch dargestellten Zustande zum andern durch Erzählung der darauf Bezug habenden Begebenheiten | erläutern, und wie sehr jede 11 politischen] politische

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Geschichte zumal die deutsche durch eine solche räumliche Anschauung an Klarheit gewinnt. In Te r t i a wird hierauf das so mitgetheilte zu einer univ ersa lhis t o r i s c h e n U e b e r s i c h t zusammen gefasst und erweitert, wobei denn die inneren und politischen Verhältnisse anfangen müssen, hervorzutreten. Bei dem Zusammenhang dieser Klassen kommt es nun vorzüglich auf das Einverständniß der Lehrer an, wie weit die erstere ins einzelne gehen, und wie viel sie der lezten überlassen soll. Ehe aber ein Schüler für reif erklärt wird, die universalhistorische Klasse zu verlassen, muß er alle Hauptdata die hier gegeben werden in ihrer chronologischen Folge und ihrer synchronistischen Zusammenstellung wohl inne haben. Auf der d r i t t e n B i l d u n gs s t u f e endlich geht nun der Unterricht mehr in das Innere. An die Stelle der Raumeinheit, tritt nun die Einheit der Völker und Staaten, und zu der Darstellung der Grenzverhältnisse kommt auch die des wechselseitigen Ineinandergreifens der bürgerlichen Elemente hinzu. Es würde am besten in demselben Sinn in S e c u n d a die al t e G e s c h i c h t e behandelt, weil durch die Beschäftigung mit den alten Sprachen der Sinn für die alte Welt früher aufgeregt ist, und das Bedürfniß das | historische Ganze derselben zusammen zu haben, früher eintritt; in P r i ma dagegen die neuere. In welcher Form, und in welchem Zusammenhange der Lehrer die Andeutungen von dem wahren Zusammenhang der Begebenheiten, von der Beschaffenheit der politischen Verhältnisse, und von dem Charakteristischen der Zeiten und Völker geben solle, darüber kann wohl im Allgemeinen nichts vorgeschrieben werden. Das Statistische wird sich von selbst soweit ergeben, als nöthig ist um die Begebenheiten zu verstehen, um das Bedürfniß nach der Idee selbst des Staats und seiner verschiedenen Formen rege zu machen; so wie auch auf dieser Stufe erst die wahre sittliche Einwirkung der Geschichtskunde auf die bürgerliche Gesinnung anheben kann, und auch nur durch die Darstellung selbst erreicht werden muß ohne aus dem rein historischen Vortrag jemals heraus zu gehen. D R e l i gi o n s U n t erricht

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Der ReligionsUnterricht kann keinen anderen Zwek haben, als auf die übereinstimmende Richtung aller Kräfte zur Selbstthätigkeit für 8 gehen] mit Einfügungszeichen über der Zeile 28 um] über )und* 33 gehen] über )heben*

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das Gute und Rechte als solches erregend zu wirken, und dieser Zwek | ist in dem der Schulen wenn darinn nicht blos gelernt sondern die geistigen Kräfte überhaupt entwickelt werden sollen nothwendig mitgegeben. Nun wird auf denselben in unseren gelehrten Schulen freilich schon ohnedies hin gearbeitet, theils in allen Lehrstunden nicht etwa durch besondere asentische Einmischungen sondern durch die Sache selbst; allein dann doch nur von einer bestimmten Seite aus, und so daß die Thätigkeit nur durch das Interesse für den bestimmten Gegenstand vermittelt ist; theils durch das Leben auf der Schule selbst, und durch den Geist in welchem die Disziplin geübt wird, allein so doch mehr auf eine unbewußte Weise. Zu beidem ist daher der ReligionsUnterricht die natürliche Ergänzung, indem hier unter der Form des Lehrens selbst auf die Religiösität als die höchste Einheit aller Gesinnung gewirkt wird. Der Staat von welchem die Einrichtung der öffentlichen Erziehungsanstalten ausgeht, erkennt das Christenthum für die unter seinen Bürgern allgemein verbreitete und gültige Form der Religiösität, dies muß sich also auch in der Anordnung des ReligionsUnterrichtes auf Schulen aussprechen. Es ist daher dem übrigen Verfahren des Staats gar nicht analog wenn man um der etwanigen jüdischen Zöglinge willen dem Religionsunterricht das christliche benehmen und ihn in das Gebiet einer sogenannten allgemeinen | Religion hinüber spielen will, ja dies ist auch an sich unthunlich weil eine solche weder eine bestimmte Form noch eine anerkannte Doctrin hat, welche als Lehrgegenstand auftreten könnte. Der Unterricht würde also entweder rein willkührlich werden oder in eine philosophische Theorie ausarten. Allein von der Polemik der einzelnen christlichen Partheien gegen einander muß der Unterricht im allgemeinen sich eben so frey zu halten suchen, wie auch der Staat gegen sie neutral ist. Da indes auch unsere Gymnasien nicht von allem Nexus mit der Kirche frey sind: so wird natürlich auch der Unterricht auf einigen protestantisch sein, auf einigen katholisch, und in so fern muß dann auch Eltern von der entgegengesetzten Confession erlaubt seyn ihre Kinder den Religionsunterricht in der Schule nicht besuchen zu lassen, worauf bei der Stundenbestimmung desselben zu sehen ist. Eben so verkehrt aber als die unchristliche, ist, eine andere Tendenz des Religionsunterrichts, welche sich wenigstens in dem Namen „theologische Klassen“ den er hie 6 asentische] unbekanntes Wort, wohl Abschreibfehler 9 theils] korr. aus Theils. 10 welchem] korr. aus welchen 36 unchristliche, ist,] unchristliche ist, 30 Nexus: der Zusammenhang, die Verbindung, die Verflechtung (von lat. nectere, verknüpfen, knüpfen) Vgl. Campe: Ergänzungsband, S. 435

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und da führt, angedeutet findet. Denn theologisch, das heißt gelehrt, philosophisch und kritisch soll er gar nicht seyn, indem ein solcher lediglich in eine theologische Specialschule gehören würde. | Der ReligionsUnterricht auf der Schule ist nach der jetzigen Einrichtung nicht der einzige den die Zöglinge empfangen, sondern sie erhalten noch einen kirchlichen von den Predigern außer der Schule. Beide gleichzeitig neben einander bestehen zu lassen ist wohl eine sehr bedenkliche Sache, wegen der großen Verschiedenheit der Meinungen und Ansichten sowohl, als auch des Talents für diesen Unterricht, so daß vermöge des leztern, leicht der eine Unterricht ganz in den Schatten gegen den andern könnte zu stehen kommen, so wie vermöge des erstern einer dem anderen, auf eine sehr störende Weise widersprechen könnte. Es scheint wenn der Religionsunterricht auf den gelehrten Schulen bestehen soll nichts übrig zu seyn als entweder jene Einrichtung aufzuheben so daß die Schüler nur auf der Schule unterrichtet und von ihren respect. Predigern dann blos nach vergangener Prüfung confirmirt werden, welches aber als ein Eingriff in die Rechte der Kirche mit Recht könnte angesehen werden, oder da der kirchliche Religionsunterricht nur in einen gewissen Zeitraum eingeschlossen ist, den ReligionsUnterricht auf Schulen während desselben cessiren zu lassen. Man kann annehmen, daß der kirchliche ReligionsUnterricht in der Regel mit der zweiten Bildungsstuffe zusammenfällt, und | es ist hier also nur von der ersten und dritten zu reden. Die u n t e r s t e B i l d u n gs s t u f e stellt den Zustand dar, wo das Allgemeine nur in und unter dem Einzelnen aufgefaßt wird, und anders nicht zum Bewustsein kommt. Daher besteht das wesentliche des ReligionsUnterrichts hier zu erst darin, unter der Form von Geschichten und Parabeln dann auch von Sprichwörtern und Sentenzen die Religiösität zur Anerkennung zu bringen. Diese Stufe repräsentirt zugleich auch die ungesonderte Einheit der Volksmasse, und um desto eher kann auch hier Ein allgemeiner Leitfaden eingeführt werden. Dieser ist gegeben an der Bibel, und daß kein anderer Statt finde ist auch der propädeutischen Natur des ReligionsUnterrichts auf dieser Stuffe ganz angemessen. Die Bibel enthält freilich sehr vieles was Kinder von diesen Jahren nicht fassen können, und darum ist das Bibellesen ohne Auswahl billig auf allen Schulen abzuschaffen. Allein einen Auszug aus der Bibel für Schulen abzufassen ist immer Anmaßung so wohl als Verkürzung, denn einem Lehrer dem man nicht Verstand genug zu einer zwekmäßigen Auswahl zutraut, muß man auch den Religions-unterricht nicht übertragen. | Zweitens sind die Zöglinge dieser Stuffe auch darin zu üben, daß sie den poetischen Ausdruk der 22 zusammenfällt] korr. aus zusammenfolgt

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religiösen Gesinnung aufnehmen und sich aneignen. Am natürlichsten wird dieses mit jenem verbunden, und die Kinder anstatt eines Buches lieber gewöhnt sich einzelne Strophen oder kleinere religiöse Lieder durch die lebendige Stimme einzuprägen. Auf der o b e r s t e n B i l d u n gs s t u f f e wird die HauptAbsicht dahin gehen müssen, den religiösen Geist auch unter den verschiedensten Lehrformen und Meinungen auffassen zu lehren, so daß dadurch theils den Mängeln welche der kirchliche Religionsunterricht für den höher gebildeten Jüngling leicht gehabt haben kann, abgeholfen, und der Skepticismus der sich in ihnen erzeugt haben mag zur Sprache gebracht, und gezügelt werde, theils das speculative Talent propädeutisch angeregt werde, damit hernach in dem Einzelnen eben wie es in der ganzen neuen Welt im Großen geschehen ist, aus der Beschäftigung mit der Religion die Philosophie sich desto leichter entwikle. Der eigentliche Lehrgegenstand ist eine nach dem Maasstaab der allgemeinen höheren Bildung vorzutragende Geschichte der Ausbildung der christlichen Kirche und Lehre, mit welcher zugleich auch eine | nähere Kenntniß und richtigere Ansicht der Bibel muß gegeben werden. Leztere könnte mehr in der 2 . Classe, erstere mehr in der ersten vorherrschen. Ein Lehrbuch scheint hier mehr als irgend wo unentbehrlich zu seyn um der Willkühr und der Ungleichförmigkeit des Vortrages vorzubeugen. Aber ein von allen Seiten zu empfehlendes müßte wahrscheinlich erst geschrieben werden.

Um alles was bis jetzt über den Lehrplan ist gesagt worden, für das Auge zusammen zu fassen hat die Deputation das anliegende Schema angefertigt, bei Gelegenheit dessen sie aber noch einige Bemerkungen hinzufügen muß. Es ist zuerst auf einen wöchentlichen Cyclus eingerichtet, so nemlich daß das Verhältniß in welchem die einem Lehrgegenstande gewidmete Zeit zu der der übrigen und zum Ganzen steht mit dem Ende einer Woche jedesmal abgeschlossen ist. Bekanntlich ist dies die gewöhnliche Einrichtung auf unsern Gymnasien, und es ist der Deputation nicht entgangen, daß sich viele andere denken lassen. Die entgegengesetzte wäre, wenn abwechselnd und nach dem angenommenen Verhältniß jedesmal eine Woche oder gar | einen Monat hindurch nur ein Lehrgegenstand herrschend wäre, und alle übrigen bis jeden seine Reihe träfe nur nebenbei in Wiederholungsstunden be11 werde] korr. aus werden 24–26 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd. 1, Bl. 99r– 100r, unten S. 172–173

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trieben würden. Diese Methode ist hie und da mit Erfolg versucht worden, und der Vortheil der daraus erwächst, wenn der Unterricht in zu kleinen Massen zertheilt wird, ist nicht zu verkennen, wie denn in seinem Privatfleiß fast jeder ausgezeichnete Kopf, auch wohl schon auf Schulen, diese Methode befolgt. Die Deputation hat aber doch geglaubt, daß erst nachdem diese Methode noch häufiger in Privatinstituten welche sich über all besser zu gewagten Versuchen eignen, angewendet werden, und sich dort bewährt hat, werde beurtheilt werden können in wie fern sie auch für öffentliche Schulen brauchbar ist. Sie scheint es überhaupt wenig für die untern Klassen, für das Alter wo alles so zu sagen nach rascheren Pulsschlägen wechselt; für die obern Klassen wo die Selbstthätigkeit der Zöglinge stärker heraustreten soll, und es gut wäre wenn auch die äußere Form des Unterrichts hiernach modificirt würde, ließen sich allerdings allerlei Annäherungen zu dieser Methode realisiren, wenn Lehrer da sind, welche dieselbe zu nutzen verstehen, und ein Direk|tor der die schwierige Aufgabe zu lösen weiß, den Lectionsplan so einzurichten, daß die Möglichkeit dazu nicht ganz benommen ist. Darum aber konnte nur das bisher übliche als ein allgemeines Schema aufgestellt werden, und es muß auch hier der freien Disposition der Directoren vieles überlassen bleiben. Was die St u n d e n z ah l betrift, so sind in dem Schema mit Ausschluß des Mitwochs und Sonnabends deren Nachmittage frei gelassen sind, sieben tägliche Stunden angenommen. Eine Gleichförmigkeit hat bisher hierin nicht Statt gefunden, sondern man findet sieben, fünf auch sechs Stunden. Es scheint der Deputation, wenn man nicht Lehrgegenstände über deren Unentbehrlichkeit sie einverstanden war wieder ausstoßen oder mit einer Kärglichkeit, bei welchen der Zwek nicht mehr erreicht werden konnte, abfertigen wollte, unmöglich mit einer geringen Stundenzahl auszukommen. Sie verkennt nicht daß sich vorzüglich zwei Einwendungen gegen diese Annahmen machen lassen. Die Eine, daß auf diese Weise zum Privatunterricht in Gegenständen welche in den Schulplan nicht aufgenommen sind, gar keine Zeit übrig bleibe; die andere, daß vier Stunden hintereinander sich unterrichten zu lassen eine | zu ermüdende Anstrengung sey, wobei für den Erfolg des Unterrichts viel müsse verlohren gehen. Die erste dieser Einwendungen erkennt sie an als gegründet, glaubt aber nicht, sie berüksichtigen zu müssen. Denn es lassen sich kaum andere Gegenstände denken für welche man zum Privatunterricht seine Zuflucht nehmen müsse, als schöne Künste oder neuere Sprachen. Was die ersten betrift, so wird der musikalische Sinn und das unmittelbare musi28 welchen] welche

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kalische Organ in der Schule geübt und das nöthige der Theorie muß in der Gesanglehre auch vorkommen. Daß aber viele Knaben und Jünglinge einen Theil ihrer Zeit dazu anwenden eine mittelmäßige Fertigkeit auf irgendeinem musikalischen Instrument zu erwerben, scheint etwas zu sein, was man nicht begünstigen muß. Das gleiche gilt vom Zeichnen. Derjenige bei dem sich ausgezeichnetes Talent und innerer Beruf zum ausübenden Künstler entwickelt, muß zeitig genug die allgemeinen Unterrichtsanstalten verlassen, um in eine Specialschule über zu gehen; für alle übrigen sind solche Kunstübungen so zeitverderblich und von manchen Seiten gefährlich, daß es besser ist durch die Einrichtung der Schulen | davon zurük zu halten. Der zweite Einwurf ist ungegründet was die untern Klassen betrift, denn da hier überhaupt das Individuum weniger herausgehoben wird, die Thätigkeit mehr eine gemeinsame in jedem Augenblik seyn muß: so ist, wenn für den nöthigen Zwischenraum zwischen den einzelnen Stunden gesorgt wird, Ermüdung nicht zu befürchten. Es kann gegründet seyn für die oberen Klassen wo der Lehrer der Natur der Sache nach, öfter mit dem einzelnen Schüler zu thun hat; denn wenn er leidet, daß die Mehrheit sich in einen größten theils passiven Zustand befindet, so müssen Dumpfheit und Ermüdung um desto größer werden je länger dieser anhält. Allein auch jede einzelne Lehrstunde die diesen Character trägt ist schlecht abgehalten, und der Einwurf muß also mehr durch die Geschiklichkeit der Lehrer und durch zwekmäßige Verlegung der Unterrichtsgegenstände beseitigt werden, als durch die geringere Stundenzahl. Die Mittwochs und Sonnabends Nachmittage müßten um so mehr ausgespart werden, da sie für den Unterricht im Singen und für die gymnastischen Uebungen bestimmt sind. Außerdem giebt es noch einen partiellen Anspruch an diese Zeit | der nicht immer wird abgewiesen werden können, nemlich um solchen Einzelnen nachzuhelfen, welche ohne ihr Verschulden, z. B. durch Krankheit, zurükgeblieben sind. Denn nur vorzügliche Lehrer und nur in gewissen Fällen werden ohne Nachtheil des Ganzen einzelnen allgemeinen Lehrstunden eine solche Bestimmung geben, oder die Zurükgebliebenen an einzelne Mitschüler zur häuslichen Nachhülfe verweisen können. Je länger nun die Schüler in der Schule selbst beschäftigt sind um desto sparsamer muß man mit der Aufgabe häuslicher Arbeiten verfahren. Aus den untern Klassen sind diese wie schon bemerkt das Auswendiglernen ausgenommen, ganz verbannt; je höher hinauf um desto mehr muß freilich Gelegenheit gemacht werden daß die indivi3 dazu] mit Einfügungszeichen über der Zeile 34 an] über )und*

22 Einwurf] korr. aus Entwurf

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duelle Thätigkeit aus der gemeinsamen heraustreten kann. Indes ist auch hiezu gewiß nicht völlig so viel Zeit außer der Schulzeit in Anspruch zu nehmen, als gewöhnlich geschieht. Desto mehr kann man dann auch Vorbereitungen fordern, und in den obersten Klassen ganz eigene freie Thätigkeit veranlassen. Mehr ins Einzelne hierüber zu gehen schiene, der Einsicht der Directoren vielleicht mehr als nöthig vorgreifen, indeß wird die Deputation auf Verlangen, auch hierüber noch ausführlichen Rath ertheilen. Die ganz freie Thätigkeit der Schüler wird nun noch mehr befördert und zugleich für die nöthige | Erholung für Schüler so wol als Lehrer gesorgt durch die Sc h u l f e r i e n deren zwekmäßige und übereinstimmende Anordnung sehr zu wünschen ist. Indeß läßt sich nur hypothetisch etwas darüber festsetzen, da die Schulferien zum Theil abhängen von den Endpunkten der akademischen Semestern, und es also darauf ankommt, was über diese festgesetzt wird. Auf jeden Fall aber wäre zu wünschen, daß nur Einmal jährlich auf eine öffentliche Weise zur Universität dimittirt würde, welches auch den Universitäten vortheilhaft wäre, damit nicht die für Ankömmlinge bestimmten Collegia die encyclopädischen z. B. ununterbrochen müssten gelesen werden. In diesen Zeitpunkt würden dann natürlich diejenigen Schulferien fallen, welche zum Theil mit den auf die Abgehenden Bezug habenden Schulfeierlichkeiten ausgefüllt werden. Mitten in dem durch diese bestimmten Schuljahr müssen noch andere Ferien seyn, weil nehmlich auch halbjährige Veränderungen vorfallen. Beide leisten aber, zumal für die Lehrer wenig, für den eigentlichen Zwek der Ferien, und dürfen also nicht die einzigen, eben deshalb aber auch nicht zu lang seyn. Es ist wahrscheinlich anzunehmen, daß diese beiden Punkte Ostern und Michaelis seyn werden, und an jedem werden 14tä|gige Ferien seyn müssen. Beide Schulhalbenjahre werden dann jedes von einem christlichen Hauptfest durchschnitten. Von diesen muß Weinachten theils wegen des nahen Jahreswechsels theils weil es einen solchen Charakter hat, daß an ernstes Arbeiten in den untern und mittlern Klassen wenig zu denken wäre einiger Raum verstattet werden, so daß man auch hier zwei freie Wochen annehmen kann. Pfingsten schikt sich aber wegen der noch unsicheren Witterung nicht zu langen Ferien, und würden hier die Lehrstunden am besten nur durch die eigentlichen Festtage unterbrochen, die wahre Erholungsferien aber welche Lehrer und Schüler zu Reisen anwenden können, mit drei Wochen in die Hundstage verlegt. Auf manchen Gymnasien ist es außerdem Observanz, daß in den beiden heißen Monaten Julius 16 Einmal] korr. aus einmal 20 diesen] diesem 33 und mittlern] mit Einfügungszeichen über der Zeile

30 diesen] korr. aus diesem

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und August außer den Mittwoch und Sonnabend noch 2 andere Nachmittage wöchentlich frey gegeben werden. Auch dies würde bei zu behalten seyn entweder allgemein oder noch besser, so daß es dem jedesmaligen Ermessen des Directors anheimgestellt bliebe um sich nach der Witterung die hier doch der einzige Bewegungsgrund ist auch wirklich richten zu können. Wenn nun auf diese Weise jenen Anord|nungen gegen die allzu große Stundenzahl begegnet wird: so bleibt doch noch eine Bedenklichkeit übrig, daß nemlich theils diese große Masse, theils auch die Combination zweier Klassen wodurch es unmöglich wird, daß derselbe Lehrer über denselben Gegenstand in diesen beiden Unterricht ertheile, ein so starkes Lehrerpersonale voraussetze, als kaum die best fundirten und frequentesten Gymnasien jetzt besitzen. Die Deputation gesteht, daß die Ausführbarkeit ihrer Vorschläge nur auf der Voraussetzung beruhe, man werde die Zahl der eigentlichen gelehrten Schulen, so sehr einschränken, das die darauf bisher gewendeten Kräfte möglichst concentrirt und jedem daher eine hinreichende Frequenz verschaft würde, um auf eine solche Ausdehnung Anspruch machen und sich in derselben erhalten zu können. Wenn man annimmt daß ein Director weit weniger Stunden haben darf als die übrigen Lehrer, und ihm also höchstens 12 wöchentliche Stunden zuschreibt, wenn man nächstdem von der in der allgemeinen Recapitulation gegebenen Summe die Schreib und Zeichenstunden abrechnet, würden für die übrigen Lehrer noch 180 Stunden bleiben, und da man durch die Bank einem Lehrer nicht mehr als 18 Stunden zumuthen kann, so würde jedes Gymnasium noch 10 ordentliche Lehrer brauchen.

Was nun noch über die i n n e r e Einrichtung der gelehrten Schulen zu sagen ist, bezieht sich theils auf das Verhältniß des Directors zu den Lehrern, theils auf das Verhältniß der Anstalt zu den Eltern der Zöglinge und zum Publikum überhaupt, theils auf das Verhältniß der Lehrer zu den Zöglingen, oder auf die Grundsätze der eigentlichen SchulDisziplin. Zuerst bei den Verhältnissen zwischen dem Director und den übrigen Lehrern kommt alles auf Gesinnung und praktischen Verstand von beiden Seiten an, und beides ist durch Vorschriften nicht zu erreichen. Diese können nur dahin sehen, daß die äußeren Formen der Natur des Verhältnisses und dem Zwek des Ganzen angemessen sind, und daß der gute Wille durch dieselben unterstützt werde, wenn man 22 der] nachgetragen auf dem linken Rand

27 innere] über )neuere*

37 dem] den

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auch nicht gänzlich verhindern kann, daß ein böser Wille sich hinter ihnen verstekke und dem Zwek des Ganzen und der gemeinsamen Thätigkeit widerstrebe ohne daß man ihm eine äußere Schuld nachweisen kann. Abgesehen davon, daß der Director das einzige Organ der Anstalt nach außen ist, verhält er sich zu den übrigen Lehrern als primus inter pares, nur daß in einzelnen Fällen mehr | die Priorität des Directors in andern mehr die Parität der Lehrer heraustritt, so daß man zwei ganz verschiedene Gebiete unterscheiden kann. Als Primus erscheint der Director überall wo von der Organisation des Ganzen die Rede ist. Auch hier wirkt er nicht allein, vielmehr kommt alles darauf an, daß so wie auf der einen Seite, das was in das Departement eines einzelnen Lehrers gehört auch Object der Directorialnotiz werde, so auch das Arrangement des Ganzen zu einem Object des Interesses für jeden einzelnen Lehrer werde. Deshalb sind Conferenzen nothwendig und wenigstens alle vier Wochen abzuhalten, in denen alles zur Organisation des Ganzen gehörige besprochen wird und in denen die einzelnen vorgekommenen Fälle in Beziehung auf die Bildung allgemeiner Gesetze betrachtet werden, um die Organisation immer vollkommener zu machen, denn der Wahn daß sie schon vollendet sey, ist immer das Zeichen des beginnenden Verfalls. Der Rath aber den er hier von seinen Collegen einhohlt, hat nur die Kraft eines Gutach|tens. Die eigentliche Bestimmung, geht in allem von ihm aus was von allgemeinem Interesse und nicht schon durch Gesetze bestimmt und in allem was seiner Natur nach, veränderlich ist. Daher geht auch, wiewohl in den Conferenzen darüber berathschlagt wird, der jedesmalige Lectionsplan, so fern er nicht durch allgemeine Festsetzungen bestimmt ist, von ihm aus; in eben diesen Grenzen bestimmt er auch die DisciplinFormen, und ordnet einzelne Strafen an, welche die Grenzen der Klasse überschreiten, und nicht durch Gesetze bestimmt sind, z. B. Degradationen, wiewohl eben der dringenden Fälle wegen, bei denen doch nicht erst Recours an den Director kann genommen werden, sehr zu wüschen ist, daß von solchen Strafen möglichst bestimmt seyn möge, in was für Fällen sie anzuwenden sind. Eben so müssen auch alle aufzugebenden häuslichen Arbeiten sowohl während des Cursus als in den Ferien in den Conferenzen besprochen und definitiv von dem Director bestimmt werden. Denn auch dies geht über das Gebiet der einzelnen Klassen hinaus, weil ein Lehrer mit seinen Forderungen die Erfüllung der des | andern unmöglich machen kann. 36 Cursus] korr. aus Curcus

37 auch dies] über )es*

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Zu diesem Gebiet gehört auch, daß der Director nicht nur das Recht hat sondern auch die Pflicht die Lehrstunden seiner Collegen zu besuchen und sich mit ihnen über Methode und Disciplin in denselben zu einigen. Ferner daß er zu bestimmen hat in allen Fällen wo einem Lehrer durch Vikariren muß Hülfe geleistet werden. Dagegen sind die Lehrer dem Director gleich in allen Handlungen worüber die Schulgesetze schon bestimmt haben, weil er in diesen eben so wenig abändern oder Ausnahmen machen darf, als sie. Sie entscheiden mit demselben Ansehen in allen Disziplinarfällen welche den Kreis der einzelnen Klasse und ihre Disziplinargesetze nicht überschreiten, und über alles was nur aus dem Standpunkt des einzelnen Lehrers kann beurtheilt werden, wie z. B. Versetzungen aus einer Klasse in die andere. Zweitens, was das Ve r h äl t n i ß d e r Eltern zu der A nsta lt b e t r i f t so sind sie zu förderst mit allen ihren Klagen und Vorstellungen, zufolge des obigen, an den Director allein gewiesen, und sie müssen davon unterrichtet werden, daß wenn sie dergleichen bei andern Lehrern anbringen, sie ohne Würkung blei|ben müssen. Das wesentliche des Verhältnisses besteht darin, daß indem die Eltern ihre Kinder der Anstalt übergeben sie sich eines Theils ihrer natürlichen Gewalt entäußern und diese der Anstalt übertragen, woraus gegenseitige Rechte und Pflichten entstehen. Die Eltern haben das Recht zu erforschen wie der Zwek des Unterrichts an ihren Kindern erreicht wird. Diese Kenntniß wird ihnen verfassungsmäßig durch die Censur und das Examen, wovon unten mitgetheilt; es muß ihnen freylich aber auch freistehen solche Erkundigung bei dem Director mündlich einzuziehen, und dieser kann nur durch seine Autorität Ueberlästigkeit von sich abwähren. Dagegen sind sie verpflichtet darauf zu halten, daß ihre Kinder sich den Gesetzen der Schule durchgängig fügen, so wohl was die Disciplin als was die Objecte und die Methode des Unterrichts betrift, womit das Recht der Anstalt zusammen hängt, Zöglinge deren Eltern die Einwürkung der Schule auf die Schüler auf eine störende Art hemmen, aus der Anstalt zu entfernen. Da nun dergleichen Einmischungen der Eltern sehr häufig vorkommen, und | die Directoren wenn man glaubt daß alles von ihrer Willkür abhänge, den lästigsten Zumuthungen ausgesetzt sind; so ist es höchst wünschenswerth, daß über diese Gegenstände das Nothwendige auf eine solche Art feststehe, daß die Directoren für jede Abweichung verantwortlich sind, oder wenigstens ihr unbezweifeltes Recht darthun können. Hieher scheint vorzüglich folgendes zu gehören. 27 einzuziehen] korr. aus einziehen

39 oder] über )da*

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1) Es darf kein Zögling aufgenommen oder beibehalten werden, für welchen die Eltern Dispensation von irgend einem Theile des Unterrichts unter welchem Vorwande es auch sey, begehren. Nur über die gymnastischen Uebungen wenn sie eingeführt werden, müßten noch besondere Festsetzungen erfolgen. 2) Der Director hat das Recht einen Zögling zu entfernen, dessen zu oftmalige Abwesenheiten nach seinem Ermessen, verhindern daß der Zwek des Unterrichts an ihm erreicht werde, und daher unvermeidlich störend für die übrigen werde, vorausgesetzt daß sie nicht erwiesen in Krankheit gegründet sind, oder nach dem Zeugniß des Arztes zur Wiederherstellung der Gesundheit nothwendig waren, und daß der Director die Eltern einmal vorher gewarnt hatte. Besonders gielt dies von allen Abwesenheiten für | welche nur Geschäfte für die Eltern, sonstige häusliche Hindernisse, Privatstunden oder Theilnahme an Vergnügungen als Ursache können angeführt werden. Um dies desto richtiger beurtheilen zu können, muß jede auch noch so kurze Abwesenheit durch einen vom Vater, Mutter oder Vormund eigenhändig geschriebenen mit dem Datum der Ausstellung versehenen und die Ursache und Zeit der Abwesenheit genau angebenden Zettel bescheinigt werden. Dasselbe gielt von Reisen während des Cursus oder vor Anfang der Ferien, ausgenommen, für Zöglinge die ihre Eltern auswärts haben bei großen Unglüksfällen, oder gefährlichen Krankheiten und Todesfällen von Eltern und Geschwistern. Verreisen vor dem Anfang der Ferien ist überall nur zu statuiren, wenn die Entfernung so groß ist, daß der Schüler nicht acht Tage um seine Eltern seyn könnte, und wenn besonders günstige Reise-Gelegenheiten sich ereignen, aber immer nur für den Fall, daß keine Schulfeierlichkeit versäumt wird. Nach jeder längern Abwesenheit während der Schulzeit, muß der Schüler sich einer Prüfung | unterwerfen, und sich gefallen lassen, in eine niedere Klasse versetzt zu werden, wenn er zu viel verlernt; ist aber dies auch nicht der Fall, so hat er doch die Repetitionsstunden, wenn auf der Schule dergleichen statt finden, solange es nöthig befunden wird, zu besuchen. 3) Wenn Eltern ihre Kinder den Strafgesetzen der Anstalt entziehen wollen, indem sie ihnen entweder den Auftrag geben bei dieser oder jener Strafe nach Hause zu kommen, oder sie nicht wiederschikken wenn die Strafe für den Schüler rechtlich beschlossen ist: so muß wenn es irgend geschehen kann, die Strafe vor der Entfernung vollzogen werden. Wo nicht so muß bei leichten Vergehen der Schuldige für abgegangen erklärt auch sein und der Eltern betragen, misbilligend 4 die] korr. aus den

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erwähnt werden. Ist aber das Vergehen groß, und bedarf einer exemplarischen Züchtigung: so muß die Polizey für diesen Fall angewiesen seyn, und so bald sie requirirt wird, den Schuldigen zur Schulstrafe ausliefern. Außer den Eltern steht aber noch die Schule mit dem gesammten Publikum und namentlich mit dem gelehrten und gebildeten Theile desselben in Verbindung. Es ist also auch noch eine Vorkehrung zu treffen, daß dieses erfahre, was | in der Anstalt geleistet werde, und nach welcher Methode dies geschehe. Dieses kann auf eine doppelte Weise erreicht werden: Einmal durch Nachrichten von dem Vorsteher der Anstalt selbst, welches durch das Program geschieht, dann durch die Einladung an das Publicum Augenzeuge des Geleisteten und der Methode zu seyn, und dieses geschieht bei dem öffentlichen Examen. Jedes öffentliche Examen will das Wohlwollen und die Zuneigung des Publikums für die Anstalt gewinnen und hat daher einen epideiktischen Character, dieser darf aber nie bis zur Hintergehung und bis zum Betrug des Publicums ausgedehnt werden, im Gegentheil hat der Director, von dem man mit Recht fordern kann, daß er jeden Augenblik wisse, in welchem Theil des Auctors oder der Wissenschaft die Lehrer in ihren Lectionen stehen, dahin zu sehen, daß beim öffentlichen Examen nicht Materien die der Schüler vor kurzen in der Klasse durchgenommen, vorgetragen, oder gar die Anwesenden durch eigentliche Präparation der Schüler auf den bei dem Examene durchzunehmenden Abschnitt getäuscht werden. | Ein solches Examen aber kann in seiner besten Form nur immer beweisen was der Schüler gelernt und nicht wie es ihm gelehrt ist wenigstens erscheint, das leztere nur sehr unvollkommen. Daher würde es zwekmäßiger seyn dieser Form des Examinis, welches auf Ostern in der Regel abgehalten wird, eine zweite hinzuzufügen. Dieses zweite Examen welches Acht Tage lang dauern könnte, würde am besten auf Michaelis abgehalten und mit demselben der Sommercursus beschlossen. Es bezöge sich dann besonders auf die Methode, das Publikum würde zu demselben durch eine kurze Anzeige eingeladen, die sämtlichen Schüler blieben in ihren Klassen vertheilt, und alle Lehrer führen in ihren Lectionen fort, es wäre aber dem Publico erlaubt, diese hospitirend zu besuchen und sich auf diese Art von dem Geiste der Classen und der Lehrfähigkeit des einzelnen Lehrers zu unterrichten. Auf diese Weise wäre es dem Publikum möglich, ein gründliches Urtheil über den Werth der Anstalt zu fällen, und sich nach Ueberzeugung für diese oder jene zu bestimmen. 18 jeden] jedem 26 das] korr. aus daß

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Was d r i t t e n s die Verhältnisse der Lehrer zu den Schülern oder die a l l g e m e i n e n G r u n d s ät z e d e r Sc hulD isziplin betrift, so verstehen wir unter Disciplin nicht nur alle diejenigen äußern Anstalten, welche zum Gedeihen des Schulunterrichts | nothwendig und erforderlich sind, sondern auch alle diejenigen Mittel, welche eine äußerliche Ordnung in das Betragen des Schülers bringen und denselben zur freien und eigentlichen Sittlichkeit anleiten und gewöhnen. Das Recht zur Disziplin ist ein Theil der väterlichen Gewalt und wird von der Anstalt mit dem Eintritt des Schülers in das Gymnasium erworben, daher kann es sich auch nicht weiter erstrecken, als in so weit es übertragen ist: auf den Aufenthalt des Schülers auf dem Gymnasio selbst. Das Betragen desselben auf dem Wege vom Hause nach dem Gymnasio und umgekehrt, gehört, werden nicht die Schulstunden zur Verabredung von Unordnungen auf der Gasse gemißbraucht, nicht mehr zur Competenz der Anstalt, sondern der Eltern, wobei jedoch die Gymnasien welche Alumnaten haben eine Ausnahme machen. Die zur freien Sittlichkeit durch die Disziplin zu bildende Masse zerfällt in drey Theile, welche mit den drei Stuffen der intellectuellen Bildung parallel sind, und welche durch die Bezeichnung, Kinder, Knaben, Jünglinge bequem unterschieden werden können, wenn man unter Jünglingen die Mitglieder der ersten, unter | der Benennung Kinder die Mitglieder der lezten Bildungsstufe versteht, und die Knaben zur mittleren Bildungsstufe gehörig, denkt. Das Charakteristische jener 3 Stuffen ist: daß im Ganzen die Vernunft in der untersten Stuffe, noch so ungebildet angenommen wird, daß nicht nur eine klare Einsicht in die Pflicht fast gänzlich mangelt, sondern es auch unmöglich ist den Mitgliedern dieselbe in jedem Falle vollständig zu verschaffen, die Vernunft ist also im Ganzen egoistisch gerichtet und von der Sinnlichkeit beherrscht. Bei den Knaben als der zweiten Stuffe wird die Vernunft bereits so kräftig angenommen, daß sie über den Zwek des Unterrichts und über die Motive zur Erfüllung der Pflichten gegen den Lehrer reflektirt, und daß die allerdings noch mächtige Sinnlichkeit bereits im Gleichgewicht mit der Vernunft gedacht werden kann. Bei den Jünglingen ist endlich eine überwiegende Kraft der Vernunft anzunehmen, und von ihnen ein Handeln aus sittlichen Motiven zu erwarten. Da ein Theil des unsittlichen Handelns durch Uebung und Gewohnheit entsteht: so ist zu vörderst dahin zu sehen, daß alle Gelegenheit in dieser schlimmen Uebung fortzufahren der ganzen Masse 9 dem] den 14 gemißbraucht,] folgt )sind* 29 zweiten] zweite

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genommen werde, dieses aber kann nur durch eine durchaus ununterbrochene, immer vorhandene, wenn gleich nicht immer bemerkbare Aufsicht geschehen, welche aber nie in das sclavische ausarten oder den Schüler hindern darf das sittliche Erlaubte zu thun und alles | dasjenige was bei dem Zusammenseyn vieler Schüler vernünftigerweise erlaubt werden kann. Die engsten Formen dieser Aufsicht gehören für die Kinder, weitere für die Knaben, für die Jünglinge dürfen sie kaum merkbar seyn, und müssen den Character des freien Zusammenseins nicht vernichten. Der positive Theil der Disciplin ist derjenige, welcher eine bereits geschehene Abweichung von der allgemeinen oder relativen Sittlichkeit unterdrükt und bestraft. Die Vernunftsform in welcher dies im Allgemeinen geschieht ist die Ermahnung und der Verweis, dieser muß bei den Kindern mehr das Gefühl, bei den Knaben mehr der Ehrtrieb bei den Jünglingen mehr die reine Vernunft aufregen, und mit Ermahnungen muß überall der Anfang in allen Disciplinarfällen gemacht werden, da der Versuch ob die Ueberzeugung und die Liebe zur Sittlichkeit nicht hervorgebracht werden können, durchaus nicht zu unterlassen ist. Die ganze übrige Disciplin muß in ihren Formen so geregelt seyn, daß es möglich ist jede Stuffe auf eine eigenthümliche Art zu behandeln, ohne jedoch das Kind wenn seine Sittlichkeit schon gebildet ist, durch niederdrückende Strafen zu verderben, und ohne daß es unmöglich wird sinnliche Strafen auch an den rohen und wilden Jünglingen zu vollziehen, ohne sich eine Verletzung der gesezmäßi|gen Form schuldig zu machen, besonders aber muß der Director eine so einzelne und genaue Controlle über jedes Individuum führen, daß es ihm möglich wird den ganzen Lebenslauf eines jeden Einzelnen mit einem Blicke zu übersehen, damit er weder einen gegebenen Fall zu strenge, noch zu gelinde beurtheile, sondern im Zusammenhange mit dem vorhergeführten Leben. Ist ein Vergehen begangen, so muß die Strafe unausweichlich und gewiß seyn, sie muß dem Vergehen unmittelbar oder nach einer gesezmäßigen Zeit folgen, und da Leichtsinn ein Grundfehler des jugendlichen Gemüths ist, so muß sie außerdem noch entferntere gesezmäßige Folgen haben. Solche sind z. B. das Summiren kleiner Vergehungen, das Notiren einer schimpflichen Strafe, auf den Censurzettel und überhaupt ist dahin zu sehen, daß die ganze Disciplinarverfassung den Schüler für den Staat vorbereite, also daß er im Leben nichts antreffe was er nicht, obgleich in einer sehr niedern Potenz schon in der Schule erfahren hat. 30 dem] korr. aus den

37 überhaupt] folgt )aber*

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Die Vergehungen des Schülers sind doppelter Art, entweder sie sind Vergehungen des Schülers als eines solchen, oder sittliche Vergehungen überhaupt welche sich nur bei | Gelegenheit des Schulunterrichts äußern, jene sind Ungehorsam gegen den Lehrer und Trägheit, diese unsittliches Betragen gegen die Mitschüler, Lügen, Betrug und Entwendung. Das leztere Vergehen ist allemal mit Entfernung zu bestrafen. Die Bestrafung der erstern Vergehungen richtet sich nach den Bildungsstuffen. In der lezten Bildungsstuffe nemlich wo die Vernunft noch egoistisch gerichtet ist, muß auch der Lehrer als ein Einzelner dem Kinde mit Liebe und Zutraulichkeit entgegentreten, doch dabei durchaus nicht vergessen, daß das Kind das Gesetz fürchten und zur Befolgung desselben gezwungen werden soll, also daß eine Gewohnheit gut zu handeln erzeugt werde. Daher sind zwar der Verweis und Ehrenstrafen auch hier an ihrem Orte, im Ganzen aber ist die Disciplin mehr auf körperliche Züchtigung, wenn jene nicht anschlagen, gerichtet. Zu dieser gehört Gefängniß und Schläge, die bei Lügen und Betrug allemal, aber eben so bei grober Unsittlichkeit gegen Mitschüler, ausgezeichneter Trägheit und positivem Ungehorsam gegen den Lehrer, immer aber sehr | empfindlich eintreten. Fruchten Schläge nicht bei einiger Wiederholung, so muß, damit die Schule nicht in ein Zuchthaus ausarte, das Kind entfernt werden. Hunger ist durchaus von der Disciplin auszuschließen, da seine Anwendung ungewiß und nicht abzumessen ist, er auch leicht der Gesundheit schädlich werden kann. Das Princip von welchem aus die Disciplin der zweiten Bildungsstuffe gehandhabt werden muß, kann weder ein ganz sinnliches noch ein rein sittliches seyn, ein solches zusammengesetzte ist, der Ehrgeitz. An die Stelle der körperlichen Züchtigung treten Ehrenstrafen, deren Zwek ist E h r f u r c h t gegen das Gesetz einzuprägen. Das Betragen des Lehrers nähert sich mehr dem blos freundschaftlichen. Dergleichen Ehrenstrafen sind: kleine Geldstrafen bei Trägheitsfehlern, aber niemals bei andern Vergehungen. Es wird nemlich vorausgesetzt, daß ein Knabe bereits einiges Taschengeld erhalte, und damit nun niemals ein Misbrauch entstehen, muß die Geldstrafe gering seyn, und in Gefängnißstrafe sowohl nach der Willkür des Lehrers, als auf die Bitte des Schülers jedes | mal verwandelt werden können; ferner muß das so Eingekommene berechnet und zum unmittelbaren Nutzen der Schüler verwandt werden. Eine dieser Klasse eigenthümliche Strafe ist die De19 positivem] korr. aus positiven

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gradation, die sowohl bei Trägheitsfehlern als bei Ungesittetheiten ihre Anwendung hat, wenn beide so groß sind, daß sie den Geist der Klasse entehren, und das Subject unwerth machen, mit den Mitschülern zusammen zu seyn, sie ist aber nur bis auf acht Tage höchstens auszudehnen. Absonderung in der Klasse ist ein geringerer Grad derselben. Bei denselben Vergehungen findet auch die Gefängnißstrafe statt, welche nach dem Landrecht bis auf 48 Stunden ausgedehnt werden kann. Bei Trägheitsfehlern endet sie mit Vollendung der versäumten Arbeit, bei andern Vergehungen nach der Bestimmung des Lehrers; Einsperren in eine Klasse ist ein geringer Grad davon. Sollte ein Individuum sich so vergessen, daß eine körperliche Züchtigung unumgänglich nothwendig ist, so ist diese nicht öffentlich son|dern privatim zu vollziehen, leidet aber die Natur des Vergehens dieses nicht, so erfordert es die Achtung vor der Classe daß der Schuldige sogleich entfernt werde. Für die erste Bildungsstuffe giebt es kein anderes Princip der Dis ciplin, als ein rein sittliches. Die Mitglieder dieser Stuffe sollen das Gesez lieben, dessen Wohlthätigkeit sie schon durch viele Jahre haben kennen lernen. Der Lehrer muß ihnen nun einzig als eine höhere gebildete Vernunft erscheinen, der sie, ohne mit derselben sich äußerlich zu berühren, mit Liebe und Achtung anhangen, Vergehungen kann es nicht geben, also auch keine Strafen, Ermahnungen und Verweise sind das Einzige was statt finden kann. Wenn jedoch ein Einzelner durch Trägheit und Leidenschaft aus den Gränzen träte, so sind Geldstrafen und Degradationen, wohl das Einzige was zuzulassen ist, sind die Vergehungen bedeutender, so können sie nach der vorigen Abstuffung bestraft werden. Eine allgemeine Strafe ist Relegation und Entfernung, jene findet bei allen denjenigen | Vergehungen statt, welche den Thäter der Gesellschaft gesitteter Mitschüler überhaupt unwürdig machen, und sie ist nur dann zu brauchen, wenn das Vergehen so öffentlich begangen ist, daß die Strafe publik werden muß, sonst ist überall die Entfernung vorzuziehen, da die feierliche Relegation auch äußerlich schädliche Folgen haben kann. Die Ce n s u r ist für jede Schule ein wesentliches Institut, sie besteht in einem schriftlich verfassten, und öffentlich in einer Versammlung der Schule bekannt gemachten Urtheile über das Betragen des Schülers gegen Lehrer und Mitschüler, über seinen Fleiß in der Classe und zu Hause, und seiner Empfänglichkeit für den Unterricht überhaupt, und zwar nicht im allgemeinen, sondern mit Angabe des einzel33 äußerlich] korr. aus äußerst

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nen Objects in welchem er Fortschritte macht, oder zurük bleibt. Beigefügt und in Zahlen müssen | ausgedrükt werden, die versäumten Stunden und Arbeiten, und die Schule hat dafür zu sorgen, daß ein solcher Zettel der am besten vierteljährig ertheilt wird, den Eltern vorgezeigt, und von ihnen unterschrieben werde. Als allgemeines Disciplinarmittel für den Schüler muß aber die Censur auch den Werth des Schülers im allgemeinen ausdrücken und dieses äußerliche Folgen in der Schule haben. Hier wird nun auch der Ort seyn, über die Versetzungen zu reden, denn wenn der Zwek des Unterrichts erreicht werden soll, so darf kein Schüler in eine andere Klasse versetzt werden, ehe er wirklich im Stande ist mit derselben mitzugehen. Daher ist hier besonders jeder einzelne Einfluss abzuwehren, und es muß immer nach einerlei Maasstaab verfahren werden. Bei der hier vorausgesetzten Einrichtung von je zwei combinirten Klassen kommen nun zweierlei Versetzungen vor, partielle | für einzelne Lehrobjecte aus einer combinirten Klasse in die höhere, und gänzliche aus einer Bildungsstuffe in die höhere. Die ersteren sind von minderer Wichtigkeit, und es reicht dazu Ein Einverständniß des Lehrers der den Knaben abgeben will, und dessen der ihm bekommen soll. Die lezten dagegen sind von der größten Wichtigkeit, und es gehören dazu die Einstimmung aller Lehrer der alten und der neuen Klasse. Dieses kann schwerlich anders begründet werden als durch eine Prüfung wozu der Schüler sich melden, oder auch aufgefordert werden kann. Diese Versetzungen sind immer zugleich als ein Abgang anzusehen, nemlich von einer Bildungsstuffe, und es ist ganz einerlei ob dieses zugleich Uebergang zu einer höhern ist, oder Abgang von der Schule; daher die im engeren Sinne sogenannten Abiturienten-Prüfungen ganz nach demselben Maasstaab zu beurtheilen sind. Die Schule selbst kann keinen von einer Bildungsstuffe entlassen, als indem sie sich überzeugt, daß er sie vollendet | hat. Die Entlassung kann aber als die ausschließende That der Schule nur angesehen werden, wenn sie den Entlassenen auf eine höhere Stufe ihrer selbst erhebt. Abgehen lassen, es sei nun von der höchsten Stuffe zur Universität, oder von einer niedern zu einer andern Lebensweise können ihn seine Angehörigen auch wider Willen und Rath der Schule; aber diese muß dann nur desto strenger darauf halten, daß ihr Urtheil gehörig bekannt, und nicht mit jenem verwechselt werde. Es muß daher die 29 Die] mit Einfügungszeichen am linken Rand von Bernhardis Hand 27–29 Vgl. Schleiermachers Voten zum Abitur, GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 11, Bl. 1r und Bl. 14r–17r, unten S. 179 und 200–205

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Regel seyn, daß alle welche die Schule verlassen sich einer strengen Prüfung unterwerfen. Das Resultat von dieser ist ein Zeugniß in welchem zuerst von jedem Lehrobject angegeben wird, wie weit der Abiturient es darin gebracht habe, daraus aber auch ausdrüklich die Folgerung gezogen werden, ob er demnach nach dem Urtheil der Schule die Bildungsstuffe vollendet habe, oder nicht. Dieses Zeugniß wird, damit keine Täuschungen statt finden können, den Eltern eben so zugefertigt, wie die Censur, und | bekommt zugleich mit Recht die größte Publicität, welche ihm eine Schule geben kann, nemlich in ihrem Program. Ueber diejenigen welche von der Schule abgegangen sind, ohne sich der Prüfung unterzogen zu haben, wird ein Gericht gehalten, und aus demselben ein Zeugniß gebildet, welches ebenfalls in das Programm eingerükt, und mit demselben den Eltern zugesendet wird. Uebrigens haben diese Zeugnisse in dem neuen Kreise in dem sich die ehemaligen Zöglinge begeben, durchaus keinen gezwungenen Einfluß. Sehr natürlich aber ist es daß der Staat denen, welche das Zeugniß der Unvollendung erhalten haben, und also wider Willen von der Schule abgegangen sind, nicht eher irgend ein Beneficium ertheile, bis sie dort wenigstens einen ausdrüklichen Titel der Würdigkeit sich erworben haben. Die Prüfungen müssen übrigens mit dem möglichst geringen Zeitaufwand, so eingerichtet seyn, daß man daraus entnehmen kann, ob der Zögling das geworden ist, was er auf dieser Bildungs|stuffe werden soll. So angesehen ist gar kein Grund abzusehen, weshalb die Aufhebung des Universitätszwanges, diese Maasregel überflüssig machen sollte. Sie bleibt nothwendig als Justification der Schule für das Publikum, und sehr heilsam wenn die Eltern sich über die Fortschritte der Kinder zu täuschen geneigt sind. Für den Fall daß sie sie wissentlich zu früh von der Schule wegnehmen, reicht sie freilich nicht hin. Diesem vermag die Schule nur dadurch vorzubauen, daß sie es mit dem Ueberzug in die höchste Bildungsstuffe sehr genau nehme, und demnächst noch mit dem partiellen Versetzen nach Prima möglichst vorsichtig umgehe. Ueber die Art und Weise der Prüfung genauere Vorschriften zu geben, als auf dem aufgestellten Ziel einer jeden Bildungsstuffe sich von selbst ergeben, würde nach dem Erachten der Deputation von keinem Nutzen seyn, da alles Uebrige lediglich auf das Talent und dem Ernst der Prüfenden ankömmt. Ehe aber die Deputation ihre Arbeit beendigt, muß sie sich noch darüber erklären, daß ihr | Plan ganz auf gelehrte Schulen berechnet ist. Sie glaubt nemlich daß sich die Anwendung auf höhere Bürger8 zugleich] mit Einfügungszeichen über der Zeile 39 Anwendung] korr. aus Anordnung

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schulen und auf Elementarschulen von selbst ergiebt wenn man letztere der untern, erstere der untern und mittleren Bildungsstuffe parallel setzt. Nur würde auf den bloßen Elementarschulen, besser das Latein wegbleiben indem die, welche ganz auf dieser Stuffe stehen bleiben sollen, nicht nöthig haben, durch eine alte Sprache von den Banden der Zeit, sondern nur durch noch eine neuere den Banden des Raumes befreit zu werden. An die Stelle dieses Unterrichts könnte man die Gesanglehre in die eigentlichen Schulstunden hinaufrücken. Dagegen wäre es sehr zu wünschen, daß man den höheren Bürgerschulen sowohl das Griechische und Lateinische lassen könnte, wenigstens in den gebildeteren Provinzen, und nur solche könnten natürlich zur 3. Klasse eigentlicher Gymnasien vorbereiten. Höhere Bürgerschulen welche die alten Sprachen ausschlössen, würden nur auf Specialschulen vorbereiten, oder ge|wißermaßen die Stelle derselben vertreten, wodurch dann der entstehende leere Raum auszufüllen wäre. Die Deputation hat sich übrigens nicht angemaßt ihrer Arbeit gleich die Form einer Instruction zu geben, welche sogleich den Schulen könnte vorgelegt werden, sondern eines mit Gründen belegten Gutachtens für Eine Hochpreisliche Section, welche Gründe in den Vorarbeiten noch ausführlicher nachzusehen sind. Denn sie wagt nicht zu hoffen, daß Eine Hochpreisliche Section in allen gleich mit ihr einverstanden seyn werde, und kann wenn sie sich erst völlig mit derselben geeinigt hat, eine solche Umformung auf Erfordern sehr leicht vornehmen. Sie kann aber nicht schließen ohne noch einmal daran zu erinnern, daß ein jetzt entworfener Plan nichts auf lange Zeit gültiges seyn kann, und ist so frei damit einen Vorschlag zu verbinden, wie zur schnelleren Beförderung des Guten eine lebendige Gemeinschaft aller pädagogischen Einsich|ten unter uns könnte gestiftet werden. Wenn nemlich jedes Gymnasium gehalten wäre was ihm selbst in seiner Praxis neu und vorzüglich erschiene in einem jährlichen Bericht an die Regierung zusammenzustellen. Diese fertigt diese Angaben der wissenschaftlichen Deputation ihres Departements zu, welche dann gutachtlich darüber an die Section berichtete. Diese theilte dann nach Befinden den Bericht auch den anderen Deputationen zur Corrrelation zu oder läßt auch die Resultate aus allen ohne weiteres den Gym1–2 man letztere] mit Einfügungszeichen am linken Rand von Bernhardis Hand vor )eine bestim* 9 Dagegen] mit Einfügungszeichen am linken Rand von Bernhardis Hand vor )Daher* 31–32 Praxis] mit Einfügungszeichen am linken Rand von Bernhardis Hand vor )Parthie*

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nasien zum beliebigen Gebrauch zufertigen, oder auch was durch ungetheilten Beifall darauf Anspruch machen könnte, zu allgemeiner Einführung.

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Berlin den 3. September 1810. Die wissenschaftliche Deputation. In Abwesenheit des Direktors [.] Bernhardi An Eine Königliche Hochlöbliche Section im Ministerio des Innern für den öffentlichen Unterricht.

Die Abbildung zeigt das doppelseitige Schema zum Lehrplan vom September 1810 (GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 99r–100r)

Nr. 33 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

16. November 1810 Adolph Friedrich Giesebrecht Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 8, Vol. 1, Bl. 17r– 17v Keine Eingangsvermerk oben rechts auf Blatt 17r von Schleiermachers Hand: „praes. d 19. Nov. Schl.“. Darunter ist wohl von der Hand Bernhardis vermerkt: „praes. d 20t rem. d 22t“. Unten auf dem Rand von Blatt 17r hat Schleiermacher eigenhändig verfügt: „Wissenschaftliche Deput. H Spalding u. Bernhardi“

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Hochwürdiger Herr Doctor, Hochwohlgeborner Herr Director,

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Etwas spät bin ich endlich im Stande, die mir von einer verehrlichen wissenschaftlichen Deputation bestimmten Probearbeiten an Euer Hochwohlgeborn zu übersenden, und die Entschuldigung dieser Verspätung hauptsächlich, außer dem, ja wohl verzeihlichen Ehrgeize, bey dieser Gelegenheit Ihnen meine tiefe Verehrung zu bezeugen, ist es, was mich so frey macht, Euer Hochwohlgeborn mit einigen Worten beschwerlich zu fallen. Für mich anführen kann ich den Umstand, daß die Geschäfte des Amtes, welches ich jetzt interimistisch | ver9 daß] das 2–3 Folgende Aufgaben waren A. F. Giesebrecht am 15. Oktober 1810 von der Wissenschaftlichen Deputation gestellt worden: „ […] Dem designirten Conrector der Stadtschule zu Frankfurt an der Oder, Herrn Giesebrecht, wird auf seine Vorstellung vom 6. dieses Monats, wegen nachgesuchter Prüfung hiemit zur Resolution ertheilt: dass er ausser einem Curriculum vitae in lateinischer Sprache, einem lateinischen Aufsatz zur Erklärung und Erläuterung der Stelle aus Sophoclis Oedipus in Colono ex editione Brunkii von der Zeile 1587–1666, ingleichen einen deutschen: über das Wesen der Partikeln in der Sprache, bey der Wissenschaftlichen Deputation p einzureichen habe. […]“. Das von Schleiermacher unterzeichnete Schreiben (Bl. 6r) geht auf G.L. Spaldings Aufgaben-Entwurf zurück, den dieser auf dem Rand von GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 8, Vol. 1, Bl. 5r notiert hat. 9 „Conrector der Stadtschule zu Frankfurt an der Oder“, vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 8, Vol. 1, Bl. 6r und Bl. 43r–44v

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walte, mir nicht die Zeit ließen, welche ich auf diese Arbeiten verwenden zu müßen glaubte, und daß ich deshalb die Ferien, welche die hiesige Schule während der Messe hat, abwarten mußte, um ungestörter arbeiten zu können. Außerdem kann ich es ja wohl gestehen, daß mir die Lösung der vorgelegten Aufgaben, ungeachtet ich denselben den in meinem Munde immer thörichten Vorwurf zu großer Schwierigkeit zu machen weit entfernt bin, nicht leicht geworden ist, da ich auf die philosophische Grammatik bisher meine Aufmerksamkeit noch fast gar nicht gerichtet, und auch dem tieferen Studium der Griechischen Tragiker, seit ich überhaupt planmäßig studiere, freywillig entsagt hatte, um einst gestärkter und würdiger zu demselben zurückzukehren. Dürfte ich noch Eine Bitte wagen, und kennte ich die Verhältniße, welche deren Erfüllung möglich oder unmöglich machen mögen, genauer, als ich sie kennen zu lernen hier im Stande bin, so wäre es die, den Termin meines mündlichen Examens und der zu haltenden Probelectionen so anzusetzen, daß die dadurch unvermeidlich werdende Unterbrechung des Unterrichts von so geringer Dauer, als möglich, würde. Doch kann ich freylich von Euer Hochwohlgeborn erwarten, daß Sie diese Rücksicht auch ohnedies nehmen werden. Mit der gehorsamsten Bitte, die Versicherung meiner tiefsten Verehrung gütig aufzunehmen, habe ich die Ehre mich zu nennen Euer Hochwohlgeboren gehorsamster Diener AGiesebrecht. Frankfurt an der Oder den 16. November 1810

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17. November 1810 Friedrich Schleiermacher, Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht, J. W. Süvern GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A, Teil II, Nr. 14, Bd. 1, Bl. 166v–167v Kade (1925), S. 102–106; Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1, S. 174–175 Schleiermachers Votum zu Süverns Entwurf zur Einrichtung von Schuldeputationen in den Städten schließt auf Blatt 166v unten direkt an die Stellungnahme J. D. W. O. Uhdens (vom 28.5.1810) zu Süverns Entwurf an. Auf den Rändern sind Süverns Überarbeitungsnotizen zu finden (wiedergegeben bei Kade (1925))

ad § 2. Den Ausdruk „Schulen verschiedener Confessionen[“] wünschte ich nur auf den Gegensatz zwischen protestantischer und katholischer beschränkt; denn zwischen reformirter und lutherischer scheint es nicht nöthig oder auch nur rathsam eine solche Festsezung zu machen. Wie man aber an der StädteOrdnung im allgemeinen nicht mit Unrecht getadelt hat daß ihre Bestimmungen den | kleinen Städten nicht recht angepaßt wären: so scheint mir auch die hier vorgeschlagene Wahlform nur den größeren und mittleren angemessen zu sein. 1 Schleiermacher bezieht sich auf einen Entwurf J. W. Süverns (vom 26. Juli 1810) zur Einrichtung von städtischen Deputationen für die Schulverwaltung, der „sämtlichen Herrn Räthen der Section für den öffentlichen Unterricht“ am 10. Oktober 1810 von Nicolovius mit der Bitte um schriftliche Stellungnahme übersandt wurde. Nicolovius fügte seiner Anordnung die Bemerkung hinzu: „Zuerst an Herrn Prof. Dr. Schleiermacher“ (GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd. 1, Bl. 160r). Wesentliche Anregungen Schleiermachers aus dessen Votum vom 17. November 1810 arbeitete Süvern in eine erneute Vorlage ein, die nach nochmaliger Redaktion am 26. Juni 1811 in einer Instruktion zur Einrichtung von Schuldeputationen in den Städten mündete (GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd. 1, Bl. 262r–268v). In Süverns Vorlage (ebd., Bl. 161r) heißt es: „Wo es Schulen verschiedener Confessionen giebt, da ist bey der Zusammensetzung der Schul-Deputation hierauf Rücksicht zu nehmen.“ Dieser Text befindet sich nachgetragen zu §2 am Rand und ist durchgestrichen, aber in ähnlicher Formulierung in §4 eingefügt und so auch in der letzten Fassung des Entwurfs von 1811 beibehalten.

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Auch die meisten kleinen Städte werden zwei Mitglieder jeder Classe in der Deputation bedürfen; aber die wenigsten möchten Sechs Sachkundige Männer vorzuschlagen haben. Für diese also wäre eine einfachere Wahlform wol zu wünschen. ad § 7 Es scheint in mancher Hinsicht bedenklich auch die gelehrten Schulen eben so wie die Bürgerschulen qua interna den Städtischen SchulDeputationen zu untergeben und es müßte wenigstens die § 10 angedeutete Freiheit der Rectoren genauer bestimmt werden. Denn man muß voraussezen daß in den Städtischen Deputationen auf der einen Seite eine große Eifersucht entstehe gerade hier ihr Ansehen recht geltend zu machen und dennoch ist in ihnen das Interesse für das Elementar und Bürgerschulwesen das überwiegende und sie werden alles aus diesem Gesichtspunct ansehen. Da nun eine gelehrte Schule als das Eigenthum der ganzen Provinz anzusehen ist, nicht als eine Communalanstalt: so entsteht die Frage ob es nicht besser ist die eigentlichen gelehrten Schulen quoad interna unmittelbar den Regierungen zu untergeben und nur die äußere Verwaltung vi delegationis den Städtischen SchulDeputationen zu übertragen. Dagegen wäre ich sehr dafür ihnen die Parochialschulen einzelner Gemeinen sowol als die etwanigen niederen Schulen königlichen Patronats gänzlich und mit Einschluß des in § 9 bestimmten Patronatrechtes ganz zu untergeben. ad § 9 Da für die Bürgerschulen noch keine solche Prüfung die jeder Anzustel|lende vor der Präsentation überstanden haben muß angeordnet ist und eine so vielstimmige Wahl deren Mitberechtigte nicht 5 Im ursprünglichen §7, den Süvern mit der Einarbeitung der Voten zu §6 korrigierte, heißt es: „Der Wirkungskreis der städtischen Schul-Deputationen dehnt sich auf sämmtliche Lehr- und Erziehungs-Anstalten innerhalb der Städte aus, welche städtischen Patronats sind, ohne Unterschied der Confessionen und der verschiednen Arten und Grade der Schulen.“ (Bl. 162r) 8 In Süverns Vorlage heißt es im § 10: „In Beziehung auf die Rectoren der größeren Schulen müssen aber die Deputationen den Gesichtspunct fassen, daß diesen innerhalb des durch die Gesetze und Vorschriften des Staats ihnen gezogenen Geschäftskreises die möglichst freye Wirksamkeit zu lassen sey.“ (Bl. 163r) 23 In der Vorlage heißt es im § 9: „In Ansehung der Wahlen wird es so gehalten, daß die Schul-Deputationen die von ihnen Gewählten immer dem Magistrate präsentiren, welcher sie der Regierungs G u S Dep. vorschlägt. Hat der Magistrat gegründete Einwendungen gegen eine Wahl der Schul Dep. zu machen, so ist er dieselbe nicht zu verwerfen berechtigt, sondern darf nur versuchen die Schul- Dep. zu einer neuen Wahl zu veranlassen. Will diese sich nicht dazu verstehen, so bleibt ihre Wahl gültig und der Mag. ist nur befugt, seine abweichende Meinung und die Gründe derselben der Regierungs G u S Dep. in seinem Wahlberichte vorzutragen, welcher alsdann die Entscheidung zusteht. Ist mit einer Schul-Stelle noch ein andres Amt verbunden, so geschieht die Wahl mit Zuziehung der competenten Behörde. Die Vocationen städtischer Schulbeamten werden gleich den Vocationen zu andern städtischen Aemtern von den Magistraten ausgefertigt.“ (Bl. 162v)

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alle Interesse an der Sache haben offenbar vielen Mißleitungen ausgesetzt ist: so muß ich, in Absicht der Art wie das Wahlrecht den städtischen Deputationen übertragen wird, dem Gesezesentwurf ganz beistimmen. § 13. Sollte man nicht vielmehr jezt schon dahin arbeiten daß es keine eigentlichen und besonderen ArmenSchulen mehr gäbe, sondern auch diese dem CommunalSchulwesen förmlich einverleiben und die armen Kinder nach der Lokalität unter die verschiedenen Schulen vertheilen? Mit den Waisenhäusern ist es vor der Hand freilich noch ein anderes. Daß die Dispensation vom Schulgelde nur von der SchulDeputation unmittelbar abhängen soll ist wol wo es mehrere Schulen giebt nicht thunlich, sondern sie müssen dies den nach Maaßgabe der Umstände darüber im Allgemeinen zu instruirenden Rectoren überlassen. Schleiermacher d. 17. Nov. 10.

5 In Süverns Vorlage heißt es im § 13: „Mit der Fürsorge für die Schulen hängt zusammen die Aufsicht über die Verwaltung ihres Vermögens. Diese liegt den Schuldeputationen in Ansehung der städtischen Schulen und der Königlichen Elementarschulen, welche an die Commune übergehen, allein, in betreff der übrigen unter ihnen stehenden Patronatsschulen aber gemeinschaftlich mit den respectirten Patronen und in Ansehung der Armenschulen nach § 7 der Städteordnung gemeinschaftlich mit den Armen-Directorien, ob.“ (Bl. 164r). Weiter beschäftigt sich dieser Paragraph u. a. mit der Dispensation vom Schulgeld, die der Schuldeputation übertragen wird (Bl. 164v)

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19. November 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 11, Bl. 1r Schwartz (1910), S. 192–193; Kade (1925), S. 87–88 Auf dem linken Rand ist Schleiermachers eigenhändige Anweisung zu finden: „Circulirt bei sämtlichen Mitgliedern der Deputation zum schriftlichen Gutachten. Schleiermacher 19.t Nov.“; hieraus lässt sich die Datierung erschließen. Notizen auf dem linken Rand, untereinander: „Praes. d 20t rem. d 22 ten Bernhardi“, „acc. 22. QdimR 23t Spalding“, „… 25 Tralles”, „…26. Erman”, „recepi – – 26. Woltmann“. Schleiermacher notierte abschließend: „Mit den anliegenden einzelnen Votis zu den Acten Schl. 10t“

Da in der Verfügung der Section wegen Abfassung des Lehrplans zugleich das Gutachten der Deputation wegen der AbiturientenPrüfungen erfodert war, diese aber in dem Lehrplan selbst nichts ausdrükliches gesagt hat: so ist uns noch übrig dieser Aufforderung zu genügen. Es scheint mir bei dieser Sache vorzüglich auf folgende Punkte anzukommen. 1.) Sollen die AbiturientenPrüfungen überhaupt beibehalten werden? Diese Frage haben wir aber eigentlich schon vorläufig bejaht indem wir auf jeder unserer drei Stufen ein ähnliches angeordnet haben. 2.) Sollen sie ihren Einfluß auf die Ertheilung von Stipendien behalten? 3.) Sollen sie die alte Form des testimonium maturitatis und immaturitatis behalten, oder den Censuren ähnliche Zeugnisse von mehreren Stufen ertheilt werden. 4.) Wie sollen die Arbeiten angeordnet werden. Schleiermacher 1–3 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Blatt 1r–1v, oben S. 40 7– 9 Vgl. den „Entwurf der Wissenschaftlichen Deputation zur allgemeinen Einrichtung der gelehrten Schulen“, GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 38r–98r, oben S. 108–173 im Lehrplan Bl. 94v–96r

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Anhang 1 zu Nr. 35 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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November 1810 August Ferdinand Bernhardi, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 11, Bl. 8r–9v Schwartz (1910), S. 192–194 Aus den Randnotizen auf dem Manuskript Schleiermachers mit seinen Fragen zum Abitur geht hervor, dass Bernhardi dieses Votum zwischen dem 20. und dem 22. November 1810 schrieb (vgl. oben S. 179)

Die erste der beiliegenden Fragen beantworte ich unbedenklich mit Ja. Die zweite ist nach meiner Ueberzeugung nur bedingungsweise zu bejahen: Wenn die Universität in ihren Disciplinareinrichtungen ein Mittel hat sich von dem Ernste der Individuen mit welchem sie die Wissenschaften treiben zu vergewissern; so kann ein auch als unreif Abgegangener, nach bewiesener Änderung und Nachhohlung allerdings an Beneficien Theil nehmen. Ist dieses nicht, so ist es gewiß ein geringeres Uebel, wenn ein junger Mensch die Unterstüzzung die er durch Unkenntniß verlohren hat, gebeßert ist nicht erhält als daß der träge Jüngling dadurch, daß seine Trägheit von keinen fühlbaren Folgen ist, darin bestärkt werde. ad 3. Das Abiturienten Examen hat zum Zweck die Eltern von der Fähigkeit des Jünglings die Universität zu beziehen zu unterrichten. Es kann auf doppelte Art dem Jünglinge nicht nüzlich sein daß er zu einem gegebenen Zeitpunkte schon abgehe: 1. Wenn klar ist daß die sittliche Freiheit noch nicht bis zu dem Grade ausgebildet sei, daß man ihn zutrauungsvoll sich überlassen könne. | 2. Wenn die intellektuale Bildung noch nicht so weit vorgerükt ist, daß er dem Unterricht auf der Universität beiwohnen kann. Die Schule muß durchaus auf beides Rücksicht nehmen, und ein Testimonium morum wie man es nennt, ist nach meinen Begriffen ganz verwerflich, indem es absondert was lebendig zusammengehört. Daher muß ich das von der Schule auszustellende Zeugniß also beschreiben: „Es wird in wenigen, aber charakteristischen Zügen, die alle historische Wahrheit haben müßen, das Betragen des jungen Menschen

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während seiner Schulzeit geschildert und diejenigen Seiten des Charakters besonders herausgehoben, welche Einfluß auf die anzutretende Carriere haben können. Dann wird zur intellektualen Bildung übergegangen und im Allgemeinen bestimmt: wie universal sie sei, hier findet sich nun eine Gelegenheit versteckter Weise die natürlichen A n l a g e n des jungen Menschen zu schildern und zu dem Ende muß diejenige Disciplin zu welcher er neigt vorzüglich herausgehoben werden, besonders ob er ein philosophischer Kopf sei, wobei Mathematik und deutsche Aufsätze entscheiden, oder ob er besonders historisches Talent verrathe, wobei die Sprachstunden in Betrachtung kommen, dann muß ausdrücklich angeführt werden | wie viel der Jüngling in demjenigen was seinen Neigungen und Fähigkeiten nicht analog ist geleistet habe und wie ausgezeichnet er in dem sei, wo ihm die Natur vorzüglich zu Hülfe gekommen ist. Hat ein Jüngling sich allein dem einseitigen Talente überlassen, so muß, wie ausgezeichnet er auch in dieser Einseitigkeit sei, dennoch das Urtheil nur auf Mittelmä ßig gehen, denn nie darf die Schule die Disharmonie und das Talent einseitig gebildet durchschlüpfen laßen. Hierauf folgt nun ein bestimmtes Urtheil ob der Jüngling die Universität beziehen solle, oder nicht, ausgedrückt durch R e i f M i t t e l m äß i g oder u nreif.“ ad 4. Die Prüfung soll theils die Fähigkeiten des jungen Menschen beweisen, theils seine Fertigkeiten. Jene legen besonders die schriftlichen Aufsätze dar, diese das mündliche Examen. Darnach sind nun die Aufgaben abzumessen. Schriftlich muß angefertigt werden: 1. Ein deutscher Aufsatz. Da nun durch denselben nicht blos die Bildung des Verstandes sondern auch der Phantasie geprüft werden soll: so muß das Thema der Art sein, daß er zur Darstellung beider Arten Veranlassung giebt und es von der Wahl des Jünglings abhängt welche Art er vorziehen will. | 2. Ein lateinischer Aufsatz, der zugleich seine Fortschritte in der alten Geschichte darlegt. Hier braucht man nur historischen Stil zu verlangen, der auch derjenige ist den die jungen Leute zuerst kennen lernen und in dem sie am meisten versiren. Der Lehrer der Stilübungen beurtheilt diesen Aufsatz im mündlichen Examine 3. Ein französischer Aufsatz bestehend aus einem Thema aus der neueren Geschichte wird eben so behandelt. Diesem folgt nun ein mündliches Examen welches die Extension der Kenntnisse und die Fertigkeiten zum Zwecke hat. Es muß dieses daher nie unmittelbar bei der Sache stehen bleiben, sondern hier und dorthin ausschweifen, damit der Umfang und das Bereitsein der Kenntnisse erhelle. Das Einzelne besteht:

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1. Aus einem mathematischen und physikalischen sehr strengen Examine 2. Aus einem Stücke der Auctoren, die im griechischen und lateinischen gelesen sind: Ist ein Gymnasium seinem Innern nach vollendet: so kann der Lehrer nie gelesene Stücke wählen, sonst gelesene aber vor längerer Zeit, damit auch das ins Klare komme was der Schüler vom Vortrage des Lehrers behalten hat.

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Bernhardi.

Anhang 2 zu Nr. 35 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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23. November 1810 Georg Ludwig Spalding, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 11, Bl. 10r–11v Schwartz (1910), S. 192–194 Keine

Ich stimme dem Voto des Herrn p. Bernhardi gröstentheils bei, und mache nur ad 3 No.2. die Anmerkung, ob eine zu genaue Schilderung des Moralischen in einem jungen Menschen nicht a) eine nicht allgemein zu hoffende Scharfsichtigkeit bei den beurtheilenden Schullehrern vorausseze? b) dennoch den größten Misgriffen ausgesezt bleibe? c) Ob der Jüngling gu t m ü t h i g und g esezt sei, kann leicht beobachtet werden, und das scheint mir genug für das moralische Urtheil. Mit der Stufenleiter, und den Grundsäzen zu deren Bestimmung, bin ich ganz einverstanden, und bemerke nur noch, daß nur das Wort: u n r e i f (der dritte, niedrigste Grad) von Stipendien ausschließen dürfe. ad 4. No. 2.3. Die eigne Ausarbeitung einer Materie scheint mir den jugendlichen Geist zu sehr befangen | zu halten, um die Darlegung alles dessen zu erwarten, was er in einer Sprache weiß. Ich würde daher diese beiden anzufertigenden Aufsäze in wahre Extemporalia verwandeln, wo der gewissenhafte Lehrer deutsch diktirte und das 27 deutsch] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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Resultat des franz. und lat. aufzeichnenden Schülers der Prüfungsbehörde vorgelegt würde. Hiezu würde ich noch fügen: Eine griechisch-diktirte Stelle, woraus die Kentniße der Akzente abgenommen würde, und die von dem Schüler mit einer beliebig deutschen oder lat. Übersezung zu begleiten wäre. Historische Notizen über eine vorgeschriebene Periode der Geschichte, ohne allen Anspruch auf Stil, je einsilbiger desto besser, würde ich gleichfalls fodern. Auf diese Weise entstünden fünf zu liefernde schriftliche Arbeiten 1.) 2.) 3.) 4.) 5.) 6.) 7.)

Deutsch. Aufs. Lat. Franz. Gr. Historischer. | Vielleicht möchte man noch wünschen eine mathematische Aufgabe, schriftlich gelöset.

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Damit nicht in der Jugend das Vorurtheil entstehe, dieser Gegenstand sei minder wichtig. Auch möchte mancher durch ruhiges Selbstarbeiten vortheilhafter erscheinen, als im Geräusche des mündlichen Examens. Im mündlichen Examen möchte eine größere Willkühr vielleicht rathsam sein, so daß, mit Rüksicht auf die Verschiedenheit der schriftlichen Arbeiten, dem Schüler gerade über die dort behandelten Gegenstände Gelegenheit gegeben würde, seinen guten Ruf vielleicht wiederherzustellen. Nur, was im Schriftlichen (nach meiner Ansicht) nicht vorgekommen wäre: physicalische Kentniß müßte nothwendig durchgefragt werden, sonst bald lateinisch, bald griechisch, bald Historie, bald Mathematik, oder auch alles zusammen. GL Spalding, B. 23. 9br 10. verte si pl. | Ich bemerke noch, daß die Wahl der zu bearbeitenden Gegenstände lediglich auf den Rector Gymnasii ankommen müße, und keinesweges mit den Mitgliedern der Prüfungsbehörde vorher zu verabreden sei, welches sehr unangenehme Verzögerungen herbei führte. GLS. 10 fünf] korr. aus sechs 22 Im] davor )ad* 24 Arbeiten] davor )Auf* 29 bald Mathematik,] mit Einfügungszeichen über der Zeile 33 mit] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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Anhang 3 zu Nr. 35 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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November 1810 Johann Georg Tralles, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 11, Bl. 11v Schwartz (1910), S. 192–194 Aus den Randnotizen auf dem Manuskript Schleiermachers mit den Fragen zum Abitur geht hervor, dass Tralles sein Votum wohl am 25. November 1810 verfasste (vgl. oben S. 179)

Meine Herrn Vorgänger haben mir nichts zu wünschen übrig gelassen, besonders da auch in Rücksicht des mathematischen Examens ein schriftlicher Aufsaz begehrt wird, welches ich allerdings für nothwendig halte. Nicht allein weil der Abiturient Gelegenheit dadurch erhält zeigen zu können was er mehr wisse in dieser Wissenschaft, als man sonst vielleicht forderte; sondern auch seinen Scharfsinn darlegen kann. Denn es ist in der Mathematik besonders – so wie in allen Wissenschaften überhaupt – darum zu thun nicht blos Fragen zu beantworten sondern Fragen auffinden und durch sich selbst Ansichten zu nehmen. Im vorgelegten mathematischen Thema wird hierauf Rücksicht zu nehmen sein. Das mündliche Examen scheint mir könne in keinem Fache unterbleiben, indem es darthut, in wie weit das Erlernte gegenwärtig ist und die Geschwindigkeit des Vorstellungsvermögens gleichsam, so wie das schriftliche die Intensität desselben belegt. Allein es weiter auszudehnen als für ein gegründetes Urtheil von Seiten des Examinators nöthig, wäre allerdings höchst überflüssig. Tralles

4 Nicht] davor )Und zwar*

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Anhang 4 zu Nr. 35 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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November 1810 Johann Gottfried Woltmann, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 11, Bl. 12r Schwartz (1910), S. 192–194 Aus den Randnotizen auf dem Manuskript Schleiermachers mit den Fragen zum Abitur geht hervor, dass Woltmann sein Votum wohl am 26. November 1810 schrieb (vgl. oben S. 179)

Ich habe nur wenig zu dem Gesagten hinzuzufügen. – Darin daß ein schlechtes Zeugniß von dem Genuß der Stipendien ausschließe stimme ich H. D. Bernhardi bei, indem es doch immer auf der Universität schwer sein wird von der Beßerung eines Einzelnen genaue Kentniß zu bekommen. In einzelnen ausgezeichneten Fällen wird man doch Mittel finden eine Unterstützung zu verschaffen, ohne daß dies als eine rükwirkende Aufhebung einer frühern Schuld angesehen zu werden braucht. Zu 3) glaube ich mit H. Prof. Spalding daß die Reife oder Unreife des Karakters zugleich mitzubestimmen weder in dem Berufe noch in dem Vermögen der Schule liegt Zu 4) stimme ich doch mit H. D. Bernhardi für die Anwendung historischer Themata bei den Aufsätzen im lateinischen und französischen Spracherwerb. Da der deutsche Aufsatz eigentlich das Maaß der Darstellungskunst abgiebt, so wird die Anwendung einer fremden Sprache bei der Aufzeichnung der historischen Fakten nicht eben den Geist hindern, und da doch bei der Prüfung der Kenntniß der lateinischen und französischen Sprache auch auf die freie Bewegung in derselben gesehen werden muß, so scheint mir dies beßer zu sein, als es blos in ein paar Extemporalia zu verwandeln. Woltmann

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Anhang 5 zu Nr. 35 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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November 1810 Paul Erman, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 11, Bl. 13r Schwartz (1910), S. 192–194 Aus den Randnotizen auf dem Manuskript Schleiermachers mit den Fragen zum Abitur geht hervor, dass Ermans Votum wohl am 26. November 1810 entstand (vgl. oben S. 179)

Obigen Votis stimme ich durchgängig bei. ad 2. bemerke ich daß oft die Rede wäre denen auf Universitäten Studierenden die Gelegenheit zu geben halbjährig oder jährlich von ihren Fortschritten in den Wißenschaften Proben abzulegen. In dieser Voraussetzung könnten unbedingt der niedrigste Grad der für das Endresultat der Abiturienten Examen vorgeschlagenen Bestimmungen von der Theilnahme an den Stipendien ausschließen. Da alsdann diese Ausschließung nur die erste Periode der akademischen Laufbahn treffen würde, und zugleich als bedeutende Anregung wirken müßte den geringen Mängeln durch größeren Fleiß abzuhelfen. Wenn aber, aus vorgehenden Gründen die erwähnten Prüfungen der Studierenden nicht für alle Individuen festzusezen wären, so müßten doch auf jeden Fall die als unreif Dimittierten einem solchen sich unterwerfen; und um sie ihnen selbst beliebt zu machen, wäre es sehr ersprießlich diese Prüfung als ein Mittel aufzustellen zur Erlangung der früher verwirkten Stipendien. ad 3 und 4. bin ich ganz mit Herrn Bernhardi einverstanden, dringe jedoch mit Herrn Spalding und Tralles auf eine schriftliche Ausarbeitung für das Mathematische Fach; weil die angeführten Gründe dafür von großer Wichtigkeit sind. Erman

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Nr. 36 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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20. November 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 1, Abt. X, Nr. 11, Bl. 125r–126r Keine Am Rand sind einige kleine Aktennotizen von fremder Hand vermerkt, so z. B.: „pr. d. 2. Nov. 10“. Der Adressat ist nicht ausdrücklich angegeben

Da der Zeitpunkt zur Zusammensezung der wissenschaftlichen Deputation für das künftige Jahr herannaht: so halte ich es für meine Pflicht in Beziehung auf dieselbe folgende Anträge zu machen. Was zuerst die Bestellung des Directors betrift: so ist zwar in der Kabinetsordre, durch welche ich zum Mitglied der Section ernannt worden bin, ausdrüklich festgesezt, daß ich, falls sich kein gleich taugliches Subject dazu fände, das Directorat auch noch im künftigen Jahr sollte behalten können; allein auf der einen Seite scheint es mir so sehr gegen die Stellung dieses Institutes, daß es von einem wirklichen Mitglied der Section dirigirt werde, auf der andren scheint mir jener Nothfall so wenig einzutreten, daß ich wünschen und bitten muß, das bisher geführte Directorat mit dem Schlusse dieses Jahres niederlegen zu dürfen. An meiner Stelle bringe ich dazu in Vorschlag den Professor Spalding. Er verdient und genießt die Achtung und das Vertrauen aller Mitglieder, sein litterarisches Ansehn giebt ihm den gegründetsten Anspruch auf diesen Plaz, und die Section wird ihn gewiß mit Vergnügen in ihren Zusammenkünften sehen. Auch läßt sich die Ausübung dieses Rechtes mit seinen übrigen Geschäften leicht vereinigen, indem nur mit dem Dir. Bellermann das Abkommen getroffen werden darf daß er ihn für den Sessionstag von Lectionen befreit. Bei dieser Gelegenheit glaube ich aber bemerken zu müssen, daß es im Allgemeinen keine ganz billige Ein|richtung zu sein scheint, daß der Director in Absicht der Remuneration den übrigen Mitgliedern nur gleich gesezt ist, da er einen so bedeutenden Zeitaufwand mehr zu machen hat. Für die persönlichen Verhältnisse des G. R. Wolf und

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zulezt auch für die meinigen war dies ganz gut berechnet; bei einem minder hoch besoldeten scheint es nicht ganz passend, und es würde wol nur billig sein ihm noch die Hälfte der gewöhnlichen Remuneration zuzulegen. Für jezt könnte dies aus dem Gehalt der noch vakanten Stelle geschehen, und für die Zukunft vielleicht die Einrichtung gemacht werden, daß die zwei zulezt hinzugetretenen Mitglieder jedes hundert Thaler weniger erhielten. An die Stelle des Prof Spalding würde ich zum ordentlichen Mitglied für die philologischen Wissenschaften den Prof. Heindorf vorschlagen. Seine Tüchtigkeit und seine Verdienste sind bekannt, er würde die Stelle in jeder Hinsicht ganz nach Wunsch ausfüllen, seine Ernennung würde ihm zur großen Aufmunterung und Freude gereichen, und da er bei seinem Uebertritt zur Universität gar keine Gehaltsvermehrung erfahren hat: so wäre ihm auch der damit verbundene Vortheil sehr zu gönnen. Wenn es für rathsam gehalten wird, wie ich es denn dafür halte, das Statut, vermöge dessen die Mitglieder nur auf Ein Jahr ernannt sind, gleich jezt geltend zu machen: so würde es am angemessensten sein eines von den bisherigen außerordentlichen Mitgliedern im naturwissenschaftlichen Fache deren wir mehrere haben etwa den Prof. Ritter Willdenow für das Jahr als ordentliches Mitglied ein, und das bisherige ordentliche Mitglied Prof. Erman ebenso in die Zahl | der außerordentlichen zurüktreten zu lassen. Indem ich nun ebenfalls in die Zahl der außerordentlichen Mitglieder zurüktrete, und dabei gern bereit bleibe in einzelnen Fällen 9 Ludwig Friedrich Heindorf (1774–1816) 24–25 Nachdem Schuckmann am 11. Dezember 1810 an den König geschrieben hatte, dass der „Professor Schleiermacher, welcher als jetziges ordentliches Mitglied des Departements des öffentlichen Unterrichts von den Geschäften bei der gedachten Deputation entbunden zu seyn wünscht […]“ (GStA PK, I. HA, Rep. 74, J. Abt. I, Nr. 3, Blatt 1r–2v), gab Schuckmann Anfang Januar 1811 die Veränderungen bei den Mitgliedern der Wissenschaftlichen Deputation bekannt; er folgte Schleiermachers Personalvorschlägen einzig in Bezug auf das Direktorat: „An die Stelle des Herr Professors Schleiermacher ist mit Allerhöchster Genehmigung der Professor Spalding zum Director der Deputation für dieses Jahr ernannt […]. Aus den ordentlichen Mitgliedern tritt für dieses Jahr der Professor Woltmann, welcher wie das Departement mit voller Anerkennung seiner bisherigen Verdienste hoft, nun auch als ausserordentliches Mitglied der Deputation seine Mitwürkung zu ihren Zwekken nicht entziehen wird. An seine Stelle tritt der Professor Rühs als ordentliches Mitglied ein. Von den beiden noch offenen ordentlichen Stellen ist die eine dem Professor Ideler, bisherigem ausserordentlichem Mitgliede, übertragen worden; die andere wird für jetzt noch unbesetzt bleiben.“ GStA PK, I HA, Rep 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Blatt 14r–14v. Vgl. auch das „Verzeichniß der Mitglieder der wissenschaftlichen Deputation zu Berlin für das Jahr 1811“, das im GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Blatt 15r zu finden ist. Demnach blieb Schleiermacher, obwohl er hier seine Bereitschaft dazu erklärt, nicht einmal außerordentliches Mitglied der Deputation.

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wenn die Deputation es wünscht an ihren Berathungen und Arbeiten Theil zu nehmen, würde sie auch für das nächste Jahr ganz auf dem bisherigen Fuß, und eine Stelle in derselben noch unbesezt bleiben.

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Berlin d. 20t. Novemb. 1810. Schleiermacher

Nr. 37 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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4. Dezember 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Adolph Friedrich Giesebrecht GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 8, Vol. 1, Bl. 18r Keine Dies ist der Briefentwurf; der von Schreiberhand mundierte Brief ist in derselben Akte, Blatt 20r aufbewahrt

1. Re s p . Der Probelectionen wegen sei es nothwendig daß Examinandus sich spätestens d.18t hujus hier gestellte weil die Gymnasien d. 22t geschlossen würden und könne dann das ganze Examen in 4 Tagen abgemacht sein. Sollte indeß auch diese Unterbrechung länger sein als die dortigen Umstände zulassen: so werde ihm freigestellt entweder die Probelection dort vor den correspondirenden Mitgliedern der Deputation den Professoren Schneider und Bredow abzuhalten und sich dann während der Weihnachtsferien zum mündlichen Examen hier zu stellen oder im höchsten Nothfall sich auch mündlich dort von den genannten Herren prüfen zu lassen. Für den Fall nun daß er eines oder das andere wünsche habe er sich mit dem jeweiligen Antheile bei ihnen zu melden und das weitere von ihnen zu erwarten. Schleiermacher 4t Dec

1–2 A. Giesebrecht, vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 8, Vol. 1, Bl. 17r– 17v, oben S. 174–175

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Nr. 38 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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4. Dezember 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Johann Gottlob Schneider und Gottfried Gabriel Bredow, Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 8, Vol. 1, Bl. 18r–18v Keine Dies ist der Briefentwurf; der von Schreiberhand mundierte Brief ist in derselben Akte Blatt 20r–21v aufbewahrt

2. S c r i b An d i e c o r r e s p o n d i r e n d e n M itg lieder der D eput a t i o n P r o f f S c h n e i d e r u n d B r e d o w. Es sei der zu einer Lehrstelle in Frankfurt berufene Giesebrecht von der Deput zu examiniren; da er aber dort schon in Function sei und die Verhältnisse vielleicht nicht zulassen daß er sich lange genug entferne um sein ganzes Examen hier zu machen so ersuche die Deputation Sie ihm nachdem er es wünsche entweder die Probelectionen abzunehmen oder zugleich auch das mündliche Examen mit ihm abzuhalten. Seine Anstellung sei freilich vorzüglich auf Philologie berechnet da man aber wissen muß wie er, wenn auch nicht jezt doch in Zukunft subsidiarisch und auf untergeordnete Weise auch für andere Lehrgegenstände gebraucht werden kann so würde eine Prüfung auch auf Historie und Mathematik zu richten sein. Für den Fall daß das mündliche Examen in Berlin abgehalten würde ersuchte daher die Deputation wenigstens um eine historische Probelection, falls beide | Herren aber auch die mündliche Prüfung übernähmen würde es Ihrem Ermessen anheimgestellt wie Sie beide Gegenstände unter die Probelection und das mündliche Examen vertheilen wollten wie auch die nähere Wahl der Materien Ihnen ganz überlassen bliebe. Die Deputation ersuche um ein Protokoll der Verhandlungen und füge zu vorläufiger näherer Kenntniß des Examinanden ihr votum über die schriftlichen Arbeiten des Giesebrecht abschriftlich bei. Schleiermacher 4t 9 Philologie] davor )Sprachen* 20–21 Vgl. Anhang 1, unten S. 192–193 und den abschließende Bericht über die Prüfung, Anhang 2, unten S. 193–195

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Anhang 1 zu Nr. 38 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

26. November 1810 Georg Ludwig Spalding, Wissenschaftliche Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 8, Vol. I, Bl. 19r–19v Keine Das Votum in der Handschrift Spaldings ist von Schleiermacher eigenhändig unterzeichnet und datiert. Auch die Überschrift („Votum der wissenschaftlichen Deputation über die schriftlichen Arbeiten des p Giesebrecht“) stammt von Schleiermachers Hand

Votum der wissenschaftlichen Deputation über die schriftlichen Arbeiten des p Giesebrecht 19r

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Die gelieferten schriftlichen Probe-Arbeiten des Schulamts-Candidaten G i e s e b r e c h t , der zum Lehrer der Stadt-Schule in Frankfurt a. d. Oder von dem dortigen Magistrat erwählt ist, zeichnen sich sehr vortheilhaft aus. Eine lateinisch abgefaßte Erklärung der Stelle des Sophokleischen Trauerspiels, Ödipus auf Kolonos, welche die Erzählung von Ödipus Tod enthält, zeugt von nicht gemeiner Gewandtheit im lateinischen Ausdruk, und von gründlicher Kenntniß der griechischen Sprache, in so fern Grammatik und Belesenheit in den wichtigsten Schriftstellern dieselbe, im Alter des Verfassers, geben kann. Zugleich ist Nachdenken über die sich darbietenden Schwierigkeiten überall sichtbar und meist gelinget die Lösung sehr gut. Eben so zeugt der lateinische Aufsaz, der die Lebensumstände des Candidaten erzählt von Sprachkenntniß und Überlegung nicht allein, sondern auch von richtigem und feinem Gefühl. | Die deutsche Abhandlung über das Wesen der Partikeln ist den Sprachen holt zwar bei weitem zu weit aus bei dieser Untersuchung und überläßt sich den entlegensten Analogien, bei deren Ergreifung der nach Gründlichkeit strebende Kopf unverkenbar ist, die indeßen noch sehr entfernt sind von den eigentlich für die Materie fruchtbaren Säzen; doch ist auch dieser Aufsaz kein verwerflicher Beweis von des Verfassers Anlage zum tieferen Nachforschen, und enthält, mitten un-

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Nr. 38, Anhang 2

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ter hieher nicht gehörigen Speculationen, Keime von richtigen Ansichten des Gegenstandes. GL Spalding B. 26. November 10. Schleiermacher

Anhang 2 zu Nr. 38 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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31. Dezember 1810 Georg Ludwig Spalding, Wissenschaftliche Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 8, Vol. I, Bl. 43r–44v Keine Unter der Überschrift („Bericht der wissenschaftlichen Deputation über die Prüfung des SchulamtsCandidaten Giesebrecht“), die Schleiermacher eigenhändig auf den rechten Rand von Blatt 43r gesetzt hat, hat er notiert: „Zu mundiren u. dem Departement vorzulegen Schl. 31t“. Darunter findet sich die Notiz von Schreiberhand: „mund. . Jan. 1811 Schneider.“. Oben über dem Text auf Blatt 43r ist als Datum und Ort des Prüfungsberichts festgehalten: „Berlin d 31 Xbr. 1810“

Bericht der wissenschaftlichen Deputation über die Prüfung des SchulamtsCandidaten Giesebrecht Der zum Conrector der Stadtschule zu Frankfurt an der Oder von dem dortigen Magistrate vorgestellte Schulamts-Candidat Giesebrecht ist von der hiesigen Wissenschaftlichen Deputation des Departements für den öffentlichen Unterricht geprüft worden, und hat vorher die ihm aufgegebenen schriftlichen Probe-Arbeiten angefertigt. Diese Aufsäze zeichnen sich sehr vortheilhaft aus. Eine lateinisch abgefaßte Erklärung der Stelle des Sophokleischen Trauerspiels Ödipus auf Kolonos, welche die Erzählung von Ödipus 9 des Departements] korr. aus bei der Section über der Zeile, davor )vorläufig*

10 vorher] mit Einfügungszeichen

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Tode enthält, zeugt von nicht gemeiner Gewandtheit im lateinischen Ausdruk, und von gründlicher Kentniß der griechischen Sprache in so fern Grammatik und Belesenheit in den wichtig|sten Schriftstellern dieselbe, im Alter des Verfassers, geben können. Zugleich ist Nachdenken über die sich darbietenden Schwierigkeiten überall sichtbar und meist gelinget die Lösung sehr gut. Eben so bewährt der lateinische Aufsaz, der die Lebensumstände des Candidaten erzählt Sprachkentniß und Überlegung nicht allein, sondern auch richtiges und feines Gefühl. Die deutsche Abhandlung über das Wesen der Partikeln in den Sprachen hohlt zwar um vieles zu weit aus bei dieser Untersuchung und überläßt sich den entlegensten Analogien, bei deren Ergreifung der nach Gründlichkeit strebende Kopf unverkennbar ist, wenn sie gleich noch sehr entfernt sind von den eigentlich für die Materie fruchtbaren Säzen; doch ist auch dieser Aufsaz in so fern beifallswürdig, als er des Verfassers Anlage zum tieferen Nachforschen beweiset; und er enthält, mitten unter hieher nicht gehörigen Speculationen Keime von richtigen Ansichten des Gegenstandes. In den beiden Probelectionen welche nachher der Candidat in der ersten Klasse des hiesigen Friedrichs-Gymna|siums gehalten hat, die eine über alte Geschichte, und zwar den peloponnesischen Krieg, die andere über Tacitus Annalen 4, 3 2 zeigten sich nicht allein gleichfalls gute Kentniße, sondern auch eine erfreuliche und dem Lehrer unentbehrliche Geschiklichkeit die Selbstthätigkeit der Zuhörer rege zu erhalten, und ihre unrichtigen Äußerungen und Ansichten zu verbessern. Das mündliche Examen ist sodann von der wissenschaftlichen Deputation vorgenommen worden, und der Candidat zeigte im Lateinsprechen eine lobenswürdige Fertigkeit und zugleich die Gabe einige seiner Erklärungen im Tacitus, über die ihm Einwürfe gemacht wurden, geschikt zu vertheidigen, auch fällte er bei den ihm gethanen Fragen über einige der älteren Philologen richtige Urtheile. Nachdem er auf gleiche Weise seine Ideen über einige Punkte der allgemeinen Grammatik mit Klarheit und Besonnenheit in einem deutschen Gespräche entwikkelt hatte, ward | er in der Mathematik geprüft, und bewies auch hier, obgleich der Gegenstand nicht zu seinen Hauptstudien gehört hatte, beifallswürdige Kentniße und ein reifes Nachdenken. Über einige Theile der von ihm in der Probelection behandelten 11 um vieles] über )bei weitem* 19 In] über )Bei* 19 beiden] mit Einfügungszeichen über der Zeile 19 in] im 19–20 der ersten Klasse des] mit Einfügungszeichen über der Zeile 25 und Ansichten] mit Einfügungszeichen über der Zeile 29– 30 einige] mit Einfügungszeichen über der Zeile 30 im Tacitus] mit Einfügungszeichen über der Zeile 31 fällte] über )äußerte*

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Geschichte, imgleichen über die neuere englische Geschichte von Heinrich dem 7 an befriedigte er sehr, auch durch die Genauigkeit der chronologischen Angaben. Der lezte Gegenstand der Prüfung war Physik und auch darin bewährte der Candidat allgemeine Kenntnisse und ein gesundes Urtheil. Man ist daher berechtigt von dem Giesebrecht in dem ihm jezt übertragenen Amte viel Nuzen für die Jugend und bei längerer Übung einen ausgezeichneten und gelehrten Schulmann zu erwarten. GLSpalding. Schl. 31.

Nr. 39 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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6. Dezember 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 5, Vol. I, Bl. 36r Keine Dass es sich bei der Datierung um den 6. Dezember 1810 handeln muss, ergibt sich aus den übrigen Schreiben um die Prüfung Kannegießers (vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 5, Vol. I, Bl. 35r und Bl. 37r). Schleiermachers hat seine Bitte um Beschleunigung des Kannegießerschen Zeugnisses auf einem kleinen Blatt (11 cm x 12 cm) notiert

Da die Prüfungen bei der Wissenschaftlichen Deputation durchaus kostenfrei sind und auch für die Ausfertigung der Zeugnisse keine Gebühren entrichtet werden so ersuche ich um möglichste Beschleunigung des Kannegieserschen Zeugnisses Schl. 6t

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Nr. 39, Anhang 1

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Anhang 1 zu Nr. 39 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

Wohl 1. Dezember 1810 Georg Ludwig Spalding, Wissenschaftliche Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 5, Vol. I, Bl. 33r–34r Keine Die Überschrift, „Protokoll über die Prüfung des D Kannegießer“ steht rechts am Rand von Blatt 33r. Darunter hat Schleiermacher eigenhändig vermerkt: „Zu den Acten Schleiermacher 2. Dec.“. Die Datierung lässt sich aus dieser Aktennotiz Schleiermachers und aus Spaldings Anweisung vom 1. Dezember 1810, Kannegießer ein Zeugnis auszustellen, sowie aus dem daraufhin angefertigten Zeugnis vom selben Tag rekonstruieren (vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 5, Vol. I, Bl. 35r und Bl. 37r, unten S. 199)

Protokoll über die Prüfung des D Kannegießer

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Der Doctor der Philosophie Herr Kannegießer hat sich vor der hiesigen wissenschaftlichen Deputation bei der Section für den öffentlichen Unterricht zu einem mündlichen Examen wegen Erlangung der facultatis docendi am 26. Nov. eingefunden, nachdem derselbe theils schriftliche Arbeiten zur Probe eingereicht, theils drei Probelectionen im Friedrichs-Gymnasium hieselbst gehalten hatte und zwar 1.) über eine Ode des Horaz 2.) über Gegenstände des Elementar-Unterrichtes in der Mathematik, und 3.) eine historische. In den schriftlichen Arbeiten, bestehend, außer einem Curriculum vitae in lateinischer Sprache, aus einer lateinisch abgefassten Erklärung eines Chors der Antigone des Sophokles V. 332–383., und einem deutschen Aufsaze über die Mittel den häuslichen Fleiß der Schüler zu befördern, zeigte sich eine lobenswürdige philologische Kentniß und, was den lateinischen Stil betrift, ziemliche Gewandtheit doch nicht durchgängige Richtigkeit; wie denn auch sowohl in der Probe4–5 wegen Erlangung der facultatis docendi] mit Einfügungszeichen über der Zeile 10 In] davor )Bei* 14 Kentniß] mit Einfügungszeichen über der Zeile 10–14 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 5, Vol. I, Bl. 17r–30r

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lection über den Horaz, welche von dem Candidaten ganz lateinisch gehalten wurde, als beim mündli|chen Examen in diesem Stükke eine nicht gewöhnliche Fertigkeit in der lateinischen Sprache bemerkbar ward. Die Erklärung des gedachten Chors ist im Ganzen richtig geleistet, obgleich hin und wieder einige Abweichung von der genauen grammatischen Kentniß der griechischen Sprache entwischt ist. Der deutsche Aufsaz zeugt von guter und gründlicher Jugendbeobachtung, nur ist zu tadeln eine gewisse Neigung wahre und brauchbare Säze unter dem Scheine der Paradoxie aufzustellen und denselben dadurch mehr Glänzendes zu geben. Bei den Probe-Lectionen erschien, bei aller geäußerten guten Bekantschaft mit dem zu lehrenden Gegenstande (vorzüglich in Rüksicht auf die Lehrstunde über Horaz), dennoch die Fertigkeit nicht ganz ausgebildet, den Schüler in gehörige Selbstthätigkeit zu sezen, und jede seiner Äußerungen zu seiner Belehrung zu benuzen. In der mündlichen Prüfung zeigte sich des Candidaten Fähigkeit gegebene Winke zu leichter Entdekkung ihm bisher nicht bekanter Wahrheiten zu gebrauchen, wie überhaupt ein gebildeter Verstand; und war dis insonderheit in Rüksicht mathematischer Gegenstände der Fall, ingleichen zum Theil | bei den historischen. Denn die meisten schon ausgebildeten Kenntnisse bewährte der Candidat allerdings in den alten Sprachen, wobei ihm jedoch eine noch tiefere Gründlichkeit zu erwerben übrig bleibt. Indessen zweifelt die Deputation keinesweges, daß derselbe schon jezt als Lehrer beträchtlichen Nuzen stiften könne, und findet keine Schwierigkeit, ihm das verlangte Zeugniß pro f a cult a t e docendi zu ertheilen.

8 zu tadeln] mit Einfügungszeichen über der Zeile 17 bisher] folgt )ihm* 19 und] davor )auch*

11 erschien] über )war*

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Anhang 2 zu Nr. 39 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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1. Dezember 1810 Georg Ludwig Spalding, Wissenschaftliche Deputation Berlin Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 5, Vol. I, Bl. 35r Keine Der Entwurf der Wissenschaftlichen Deputation in der Handschrift Spaldings zu einem Zeugnis für Kannegießer ist eigenhändig von Spalding (am 1. Dezember 1810) und von Schleiermacher (am 2. Dezember 1810) unterzeichnet. Das Mundum zu diesem Zeugnisentwurf ist in derselben Akte des Staatsarchivs (Blatt 37r) zu finden; es ist von Schleiermacher mit dem „8t“ (Dezember 1810) unterzeichnet

Ex p e d . dem Doctor Phil. K an n e gi e ß e r ein Zeugniß des Inhalts, daß nachdem er sich vor der wissenschaftlichen Deputation zur ersten Prüfung gestellt, und von derselben nach schriftlicher und mündlicher Prüfung, auch abgehaltenen Probelectionen in Absicht seiner Kentniße und Gaben so befunden worden ist, daß zu erwarten ist, er werde bei immer fortgeseztem Studiren und bei der Übung im Lehren, der gelehrten Welt und dem Staat im Schulfach ersprießliche Dienste leisten, gedachte Deputation ihm hiedurch die licent ia docendi ertheile und ihn zum Candidaten des Schulamtes erkläre, so daß er ohne Anstand von jedem Patron zu einem Lehramt an einer gelehrten Schule praesentirt werden kann, worüber ihm zu seiner Beglaubigung und jedermanns Wißenschaft dieses Zeugniß ausgefertigt werde. GL Spalding . 1. Xbr. 10 Schleiermacher 2t

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Nr. 40 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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10. Dezember 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 11, Bl. 14r–17r Schwartz (1910), S. 194–198; Kade (1925), S. 88–90; Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1, S. 176–180 Schleiermacher verfasste dieses Gutachten auf der Grundlage der Antworten der übrigen Deputationsmitglieder (vgl. Anhänge Nr. 1– 5 zu Nr. 35, oben S. 180–186) auf seine in Umlauf gebrachten Fragen zum Abitur (vgl. Votum Nr. 35, oben S. 179); es ist von Bernhardi unterzeichnet. Schleiermacher notierte eigenhändig auf dem linken Rand der ersten Seite (Blatt 14r): „Als Votum zu mundiren Schl. 10t“. Darunter sind unter anderem folgende Notizen zum Geschäftsgang aufgeführt: „factum ad 14. ejd wo die Sache zum Q Rgekommen“, „Mund.: d 15. Xbr. Dannemann senj.“, „abgegangen den 17. ejd mit Q R Abschrift A.B.C.D.“. Über der Überschrift, „Gutachten der wissenschaftlichen Deputation zu Berlin über die Abiturientenprüfungen“, ist, wohl von Schreiberhand, das Datum notiert: „Berlin den 10. Decembr 1810.“

Gutachten der wissenschaftlichen Deputation zu Berlin über die Abiturientenprüfungen. Eine hochpreisliche Section im Ministerium des Inneren für den öffentlichen Unterricht hat in derselben Verfügung, worin sie der unterzeichneten Deputation aufgab einen allgemeinen Lehrplan für die Gymnasien zu entwerfen sie auch aufgefordert, über die AbiturientenPrüfungen ihr Gutachten abzugeben. Die Deputation hat geglaubt dies besser thun zu können wenn sie erst wüßte, ob die Grundsäze des Lehrplans auf denen die innere Eintheilung der Gymnasien beruht und welche mit diesem Gegenstande genau zusammenhängig von der 8 sie] über der Zeile

8 wüßte, ob] mit Einfügungszeichen über der Zeile

3–7 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Blatt 1r–1v, oben S. 40

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Section sanctionirt würden. Da aber die Entscheidung über den Lehrplan sich verzögert und die Deputation vor Ablauf des Jahres sich auch dieses Geschäftes zu entledigen wünscht: so theilt sie hier ihre Gedanken so mit wie sie aus jenen Grundsäzen folgen. Sie unterscheidet drei Zeitpunkte an welchen Schüler das Gymnasium verlassen. Am frühesten diejenigen welche sich für die niedern bürgerlichen Gewerbe bestimmen, späterhin die welche die Beschäftigungen des höheren Bürgerstandes ergreifen und zulezt die welche eine wissenschaftliche Bildung auf der Universität vollenden wollen. Auf allen diesen Punkten nun findet die Deputation Prüfungen und darüber auszustellende Zeugnisse sehr zwekmäßig sowol für die welche das Gymnasium verlassen als für die welche eine höhere Hauptstufe auf demselben betreten. Das leztere wird nur demjenigen vergönnt | dessen Prüfung ausweiset daß er das Ziel der vorigen Stufe vollkommen erreicht habe, das erstere bleibt allerdings der Bestimmung der Eltern und Vormünder überlassen aber es ist die Pflicht der Schule, daß sie über diese ihr Urtheil unverholen ausspreche um an jedem übereilten Schritt derselben unschuldig zu sein. Ganz in demselben Falle befinden sich die Gymnasien auch in Absicht derer welche die Universität beziehen wollen. Nachdem den Landeskindern alle fremden Universitäten offen stehen können die AbiturientenPrüfungen den Zwekk nicht mehr erreichen zu verhindern daß Jünglinge nicht unvorbereitet ihre akademische Laufbahn antreten; sie bleiben aber von derselben Nothwendigkeit um das so lange zwischen den Lehranstalten und den Eltern der Zöglinge bestandene Verhältniß auf eine redliche und würdige Art aufzulösen. Mit diesem nächsten Gesichtspunkt ist noch jener zu verbinden daß der Staat diejenigen welche ihm zu höheren Werkzeugen dienen sollen schon von diesem Zeitpunkt an näher ins Auge fassen und sich von ihren Eigenschaften unterrichten will. Beides zusammengenommen scheint nun folgendes die zwekmäßigste Einrichtung der AbiturientenPrüfungen zu sein. Sie bestehen wie bisher aus mündlichen Abfragen und schriftlichen Arbeiten. Die ersten sollen die Kenntnisse der Prüflinge bekunden und die Art wie sie jedem gegenwärtig sind[;] die anderen sollen mehr das Talent, die Combinations und Darstellungsgabe ins Licht 4 folgen.] Absatz im Original nicht deutlich erkennbar 6 für] über )QinR* 7 Gewerbe] über )Stände begeben,* 26 Mit diesem] korr. aus Aus diesem wichtigsten 31 sein.] folgt ) Sie* 32 Abfragen] auf dem linken Rand nachgetragen 33 Die] korr. aus Das 1–4 Vgl. den „Entwurf der Wissenschaftlichen Deputation zur allgemeinen Einrichtung der gelehrten Schulen“, GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd.1, Bl. 38r–98r, oben S. 108–173

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sezen und zugleich die inspicirende Behörde in Stand sezen den Bericht über die mündliche Prüfung zu controliren. Die mündliche Prüfung ist auf alle Unterrichtsgegenstände zu richten eben wie von der | Grenze jeder Bildungsstufe der Schule und soll ausmitteln in welchem Maaß jeder das geleistet hat was sich die Schule als ihr Ziel vorstekt, worüber die Deputation auf den Entwurf zum Lehrplan verweisen muß. An schriftlichen Arbeiten scheint erfordert zu werden 1. Ein deutscher Aufsaz welcher vorzüglich die Bildung des Verstandes und der Fantasie beurkunden soll. Das Thema ist daher aus einem solchen Gebiet zu wählen daß die Examinanden nach Neigung und Gutdünken diese oder jene Form vorziehen können. 2. Ein lateinischer und 3. Ein französischer Aufsaz. Da diese vorzüglich zeigen sollen in welchem Grade sich die Schüler die Sprache angeeignet haben zugleich aber ganz freie bloß raisonnirende Composition in fremden Sprachen ein gar schwieriges Unternehmen ist an welchem auch die bessern Jünglinge gewöhnlich scheitern so scheint es am gerathensten historische Gegenstände für diese Aufsäze zu wählen zumal auch der historische Styl derjenige ist der ihnen am geläufigsten muß geworden sein, und zwar für den lateinischen Aufsaz aus der alten und für den französischen aus der neueren Geschichte. Jedoch nicht so daß detaillirte Beschreibung oder Häufung von Thatsachen die Hauptsache ist: denn in welchem Maaß jeder diese inne hat muß das mündliche Examen ergeben; sondern vielmehr so daß daraus hervorgehe wie jeder Thatsachen in Verbindung zu sezen und Ansichten davon aus gewissen Gesichtspunkten zu nehmen weiß. 4. Ein mathematischer Aufsaz, ebenfalls nicht um zu zeigen wie gut der zu Prüfende einzelne Fragen zu beantworten weiß, welches besser in Masse beim mündlichen Examen geschieht sondern um seinen Scharfsinn darzu|legen, und damit erhelle ob er selbst Fragen aufzufinden und eigene Ansichten zu nehmen wisse kurz ob er mathematisches Talent habe. Endlich 5. ein Aufsaz welcher ein dictirtes Stük eines griechischen Schriftstellers enthalte mit beigefügten Interpretirenden Anmerkungen, ersteres damit erhelle wie weit man es im richtig schreiben und accentuiren das heißt in wirklicher Aneignung der Grammatik gebracht habe, lezteres damit die inspicirende Behörde von der Art wie die philologischen Studien getrieben werden sich unterrichten könne. Anstatt der dictirten Stelle könnte man auch eine selbstgemachte Uebersezung aus 1 zugleich] folgt )dazu dienen daß* 7 muß] mit Einfügungszeichen am linken Rand nachgetragen ) * 19 geworden] korr. aus gewesen 23 denn] über )sondern* 28 welches] davor )sondern*

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dem Deutschen oder lateinischen nehmen wenn nur der Gegenstand von der Beschaffenheit ist daß er zu jenen Anmerkungen reichen Stoff giebt. Die schriftlichen Arbeiten werden unter Aufsicht eines Lehrers ohne Hülfsmittel angefertigt ausgenommen etwa die Uebersezungen ins Griechische. Durch diese Aufsäze scheint der Zwekk der schriftlichen Arbeiten wie die Deputation sich ihn denkt vollständig erreicht zu werden und ein mehreres überflüßig zu sein. So glaubt sie auch über die Einrichtung der mündlichen Prüfungen nichts detaillirtes sagen zu dürfen nachdem sie den allgemeinen Grundsaz aufgestellt hat. Was aber die Einrichtung der Prüfungszeugnisse betrift: so scheint weder den Eltern noch der öffentlichen Behörde durch die Prädikate reif oder unreif etwas befriedigendes gesagt zu werden. Der Deputation ist vielmehr folgendes als das zwekmäßigste erschienen. Die Abiturienten erhalten nach ihrer Prüfung eine zwiefache Ausfertigung. Die eine ausführlichere ist zunächst nur den Eltern und Vormündern bestimmt und ganz nach Art der gewöhnlichen Censuren eingerichtet denen da sie mit gutem Grunde erst am Anfang des neuen Cursus gehalten werden die Abiturienten gewöhnlich entgehn. Es ist aber höchst w i c h t i g daß grade an diesem Zeitpunkt die Angehörigen genau und ausführlich von der Ansicht unterrichtet werden welche die Lehrer von einem Jüngling haben fassen müssen. | Hier ist also mit einer gewissen Ausführlichkeit von des Zöglings Charakter sowol als seinen Talenten und Fortschritten und deren Verhältniß zu reden. Diese Ausführlichkeit könnte auf die akademischen Lehrer und die öffentlichen Behörden welche die Bekanntschaft mit ihm erst machen sollen oft auf ernstliche Weise nachtheilig wirken und ihm dadurch seinen neuen Lebensabschnitt verderben anstatt ihn darin zu fördern. Für diese vorzüglich ist daher eine zweite kürzere Ausfertigung oder das eigentliche Prüfungszeugniß. Dieses habe einen dreifachen Charakter reif oder gut, mittelmäßig und unreif oder schlecht in einer zwiefachen Beziehung nemlich auf Sitten und Charakter und auf Talente und Fortschritte. Die Reife des Charakters ist natürlich da sich das ganze zunächst auf den Uebergang in das freiere akademische Leben bezieht nach der Selbständigkeit des Zöglings und nach der Reinheit seines Betragens zu bestimmen, so wie überwie3–5 Arbeiten … Griechische] mit Einfügungszeichen am linken Rand nachgetragen 4 etwa die] korr. aus ausgenommen daß ihnen bei den 18–19 da … werden] mit Einfügungszeichen am linken Rand nachgetragen 23 des Zöglings] über )dem* 24 seinen] über )von den* 24 Fortschritten] folgt )des Zöglings* 24 deren] über )ihren* 29 darin] korr. aus darauf

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gende Verführbarkeit und eingewurzelte unsittliche Gewöhnungen zu unreif oder schlecht qualificiren und Mittelmäßigkeit da statt findet wo Leichtsinn mit überwiegender Gutartigkeit gepaart ist oder wo angehender ernster guter Wille noch zu wenig Herrschaft erworben hat unter ältern Fehlern. Was die andere Seite die der Talente und Fortschritte betrift so scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch möglich zwischen der Censur und dem Zeugniß wenn jene mehr auf die ganze bisherige Erfahrung sich gründet dieses natürlicherweise mehr die Prüfung im Auge hat. Allein da die Prüfung aus so verschiedenen Theilen besteht und soviel Zeit einnimmt daß eine vorübergehende Stimmung nicht überall Einfluß haben kann und deshalb leicht muß als solche erkannt werden können, da auf der andern Seite | dafür gesorgt werden muß daß bei der Prüfung kein Schüler täuschen oder blenden kann, so kann ein solcher Widerstreit nie wirklich eintreten. Die Reife ist da wenn ein genügender Grad allgemeiner Bildung und wirkliches Talent vorhanden ist, sowie ein einseitiges Talent und bedeutende Fortschritte in einem Fach eine allgemeine Unbildung und Verstandesmangel nur Mittelmäßigkeit zum Resultat haben und Zurükbleiben in den Fortschritten und Mangel an Talent zu dem Prädikat unreif oder schlecht qualificiren. Das beigelegte Prädikat wird auch in dem Zeugniß durch allgemeine Züge aber nicht in einer bloß tabellarischen Form belegt, so wie das Prädikat des Zeugnisses auch in der Censur mit ausgedrükt werden muß. Die Deputation glaubt nichts ganz überflüßiges zu thun wenn sie zu dieser Auseinandersezung drei Schemata von Zeugnissen und eines von einer Censur unter den Beilagen A.B.C.D hinzufügt. Ein Punkt scheint noch zu berüksichtigen. Es ist nemlich bisher gesezlich gewesen daß die mit dem Zeugniß der Unreife abgegangenen von den öffentlichen Beneficien ausgeschlossen waren. Dies hat auch allerdings viel für sich wiewol da ein junger Mensch sich auf der Universität selbst noch sehr bessern kann und Manchem grade nur diese Freiheit fehlt um sich recht zu entwikeln, allerdings zu wünschen wäre daß dies nicht für immer sondern nur für den Anfang gelten möchte. Es entstehen aber die beiden Fragen, welcher Grad nun ausschließen soll ob nur der unterste oder schon der mittlere, und wie man wenigstens bei der hiesigen Universität verhindern soll daß nicht einer vor 15 da] über ))hier** 21 nicht] folgt )nicht* Einfügungszeichen am linken Rand nachgetragen 34 beiden] über )doppelte*

23–26 glaubt … hinzufügt] mit 34 entstehen] korr. aus entsteht

23–26 Die Zeugnismuster sind im Anhang beigefügt, vgl. unten S. 206–211

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der Prüfung abgeht, sich als einer der Privatunterricht genossen immatriculiren läßt und dann doch zu den Beneficien concurrirt. Das lezte scheint zwar über die der Deputation vorgelegte Aufgabe unmittelbar hinauszugehen, sie erlaubt sich aber doch den Vorschlag daß wenigstens alle die welche Privatunterricht genossen haben oder genossen zu haben vorgeben, | wenn sie nicht auf alle Beneficien im Voraus Verzicht leisten wollen sich an die Abiturientenprüfung einer gelehrten Schule anschließen und ihr Zeugniß v orw eisen müssen ja es wäre gewiß dieser Maßregel eine gänzliche Allgemeinheit auch ohne Bezug auf die Beneficien aus vi e l e n Gründen zu wünschen. Was das erste betrift so wünscht die Deputation daß der Staat seine Unterstüzungen nur denen welche das beste Zeugniß davon tragen zuwenden möge, dagegen bei solchen Beneficien worüber die Entscheidung kein e r öffentlichen Behörde ganz zusteht es wünschenswerth genug sein wird wenn man nur erreicht daß die ganz unfähigen davon ausgeschlossen bleiben. Die wissenschaftliche Deputation

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Anhang zu Nr. 40 Datum: Autoren: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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November 1810 Johann Gottfried Woltmann (A), Georg Ludwig Spalding (B), August Ferdinand Bernhardi (C, D), Wissenschaftliche Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 11, Bl. 2r–7r Schwartz (1910), S. 198–201 Die Zeugnisentwürfe sind undatiert; aus den übrigen Dokumenten zum Thema „Abitur“ geht jedoch hervor, dass sie in den Tagen des November 1810 entstanden sein dürften, in denen die einzelnen Mitglieder der Wissenschaftlichen Deputation Schleiermachers Arbeitsfragen zum Abitur beantworteten, also vom 22.–26.11.1810. Der Zeugnisentwurf „A“ für ein Zeugnis der Reife stammt von der Hand Woltmanns. Der Entwurf „B“, „Mittelmäßig“ ist in der Handschrift Spaldings verfasst. Der Zeugnisentwurf „C“ für ein Zeugnis der Unreife ist in der Handschrift Bernhardis erhalten; von seiner Hand stammt auch der Entwurf „D“

A. Zeugniß Reif N. N. hat bei einer raschen, alles mit Eifer ergreifenden Lebendigkeit, eine nicht minder lobenswerthe kräftige Beharrlichkeit und Ausdauer gezeigt so daß er den vielfachen Talenten, womit er ausgerüstet ist, auch einen eben so vielseitigen Fleiß gewidmet und alle Lehrgegenstände mit gleichem Erfolge in sich aufgenommen hat. Freilich hat seine lebendige Empfänglichkeit seine fleißige Beharrlichkeit am meisten in denjenigen Zweigen der Erkentniß übertroffen, zu welchen ihn eine besondere Vorliebe hinzog, wie in den Sprachen und historischen Wißenschaften und er hat daher in diesem Kreise wo nicht die meisten Erkentniße der Menge nach, doch in Beziehung auf die Kraft, die lebendigste und freieste Einsicht gewonnen. Der richtige Instinkt womit er sich den Geist der alten Sprachen angeeignet, hat seine Aufsätze, besonders im Lateinischen sehr empfohlen. Seine deutschen 5 gezeigt] mit Einfügungszeichen über der Zeile 6 auch einen] folgt )viel* widmet] folgt )hat* 12 Erkentniße] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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Aufsätze dagegen verriethen stets die Freiheit und Klarheit, die in dem Kreise seiner Gedanken herrschten, so wie die Anschaulichkeit und Beweglichkeit seines Gefühls und seiner Phantasie. Diese leztern Eigenschaften, die seine freien Darstellungen auszeichnen, und bei fernerer | Reife ihnen eine sehr bestimte Eigenthümlichkeit zu geben versprechen, scheinen freilich seinem Handeln nicht günstig zu sein, indem er rasch verfahrend und den freien Verknüpfungen seiner Einbildungskraft vertrauend eine falsche Unabhängigkeit von der äußern Welt hat; da er aber auf der andern Seite mit einer tiefen sittlichen Gesinnung versehen ist, die ihn auch bei seinem Fleiß immer zu dem rechten Ziele fortgeführt hat, so kann man ihn doch sicher sich selbst überlaßen und darf hoffen daß er nur durch Irrthümer belehrt, zur Einstimmung der äußern und innern Welt kommen wird. – Er ist daher in jeder Hinsicht für r e i f erklärt worden

B Mit t elmäßig. N N hat auf dem — Gymnasium drei Jahre in der ersten Klasse gesessen, und sich ziemlich gesezt betragen, auch mit seinen Mitschülern in einem meistens freundlichen Verhältnisse gelebt, gegen seine Lehrer aber nie die geringste Widersezlichkeit oder Unehrerbietigkeit bewiesen; doch in Ansehung des Klassenbesuches ist er nie ganz regelmäßig gewesen, hat hin und wieder einzele Stunden versäumt, zwar immer entschuldigt durch Gesundheitszeugnisse, und insonderheit in den Morgenstunden, wie auch in der Anfangsstunde des Nachmittags, ist er gewöhnlich zu spät erschienen. | Die aufgegebenen Arbeiten hat er, mit wenigen Ausnahmen, zu rechter Zeit geliefert, doch meistens etwas flüchtig und möglichst kurz abgefaßt; ohne merkliche Vermeidung derjenigen Fehler, die in den früheren Arbeiten getadelt waren. In der Klasse war er ununterbrochen aufmerksam und hat sich nie vorsäzlich zerstreut. In der Latinität ist er bis zu der Fertigkeit eines meist grammatischrichtigen Ausdruks bei eigenen Aufsäzen gelangt, wobei jedoch schon oft vermiedene grammatische Fehler zuweilen unverhoft wieder zum Vorschein kamen. Das Erklären und Übersezen lateinischer und griechischer Schriftsteller gelang ihm löblich, wenn er gut präparirt war, welches zwar meistens doch nicht regelmäßig zutraf. | 6 nicht] mit Einfügungszeichen über der Zeile 21 versäumt] mit Einfügungszeichen über der Zeile 23 Nachmittags,] folgt )hat er Q R* 30 ist] folgt )der* 30 meist] folgt )richti* 31 jedoch] folgt )oft* 32 oft] nachgetragen auf dem linken Rand 33 und Übersezen] nachgetragen auf dem linken Rand 34 löblich] mit Einfügungszeichen über der Zeile, davor )gut*

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Im deutschen Ausdruk behielt er immer etwas steifes und Gedankenloses, daher seine Aufsäze, weit entfernt einen Gegenstand zu erschöpfen, gewöhnlich zu kurz geriethen, und er fast immer, nach der Erinnerung, zugestanden, daß er wichtige Punkte ausgelassen habe. In der Geschichte hat er eine beträchtliche Menge von Factis ins Gedächtniß gefasst, die er auch den Jahrzahlen nach ziemlich wohl zu ordnen weiß, indessen mit unterlaufenden, befremdlichen Verwechselungen der Zeitalter, und Personen. In der Mathematik sind seine Kentnisse sehr beschränkt. Das Französische, wozu er auch außer der Klasse viel Gelegenheit hatte, hat er zu vorzüglicher Fertigkeit gebracht.

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C. Unreife. Heinrich Müller aus N N, Sohn des daselbst vor mehreren Jahren verstorbenen Predigers, steht als Pupille unter der Vormundschaft des Geheimen Secretair Pauli. Er wurde Ostern 1806 nach Secunda eingeschrieben und Ostern 1808 nach Prima versetzt wo er bis Michaelis 1810, also 2½ Jahr geseßen hat. Da er um diese Zeit die Universität beziehen wollte und sich zu diesem Zwecke dem am 10ten October 1810 angestellten Abiturienten Examen unterzog, so wurde ihm von der unterzeichneten Prüfungskommission sowohl als seinen sämtlichen Lehrern der Rath ertheilt sich durch längern Schulbesuch noch mehr für die Universität vorzubereiten und er einstimmig für U nreif erklärt. Die Gründe dazu sind folgende: Au f f ü h r u n g Was die Aufführung betrifft so kann ihr der Vorwurf der Unanständigkeit und Roheit durchaus nicht gemacht werden[;] allein in Hinsicht des Schulbesuches, der Regelmäßigkeit in Ablieferung der Arbeiten ist sie sehr zu tadeln und durch keine Mittel zu verbeßern gewesen F l e i ß Durchaus tumultuarisch und willkührlich immer durch Launen und Neigung bestimmt und daher im höchsten Grade unregelmäßig sowohl in der Zeit der Ablieferung der Arbeiten als in der Genauigkeit und Anstrengung mit welcher sie angefertigt worden. | Ke n n t n i ß e Vorzüglich in allem zu welchem roher durch Fleiß nicht gebildeter Scharfsinn gehört. Daher im Deutschen, Lateinischen und 12 Unreife] korr. aus Zeugniß der Unreife für Heinrich Müller türlicher*

34 roher] über )na-

14 Pupille: das Mündel, Pflegling (Campe: Ergänzungsband, S. 508)

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Griechischen, wo es darauf ankommt aus dem Zusammenhange etwas zu erschließen, oder einen einzelnen Gedanken darzustellen und zu verfolgen, ausgezeichnet, allein von aller grammatischen Grundlage im höchsten Grade entblößt. Frühe Uebung und Neigung haben ihm die Französische Sprache sowohl schrifftlich als mündlich sehr geläufig gemacht. Ausgezeichnet in der Physik so fern sie in mehrern Abschnitten nicht mit der Mathematik und durchaus lobenswerth in der Geschichte so fern sie nicht mit der Chronologie zusammenhängt. In der Mathematik ist er nach allen Seiten hin unwissend.

D. Cens ur f ür den Primaner Müller Von Johannis 1810 bis Michaelis 1810 Aufführung

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Sehr fein, anständig und gesittet, er hat nie die Form des aeußerlichen Wohlstandes beleidigt aber von einem Eigensinne begleitet der weder vernünftigen Vorstellungen noch strengen Mitteln weicht. Es ist unmöglich gewesen ihn zum regelmäßigen Schulbesuche in den Lectionen die seiner Neigung nicht entsprachen zu gewöhnen[;] er versäumte in diesem Quartale 97 Stunden worunter 42 mathematische 34 lateinische Stilstunden. Die Entschuldigung daß Krankheit ihn abgehalten hat er nicht genügend beweisen können, er wurde dreimahl degradirt, mußte achtmal nacharbeiten und erlitt zweimal Arrest, das ihm wegen unregelmäßig abgelieferter und flüchtig angefertigter Arbeit diktirte Strafgeld beträgt 1 Rth 12 g. F l e i ß i n d e r C l aße In denen Lectionen zu denen ihn eine natürliche von ihm stets überschäzte Anlage, oder eine individuelle Neigung hinzog durchaus zu loben namentlich in den deutschen Stilstunden, der Physik, der Geschichte, denen Sprachstunden, welche mehr auf die Interpretation hingerichtet sind als im Horaz oder wo die Schrifftsteller cursorisch gelesen werden als im Livius. Hier versteht er aus dem Zusammenhange den Sinn zu errathen und durch Uebersetzungen die er ge3 ausgezeichnet] über der Zeile 31 im] korr. aus )der*

21 er] über der Zeile

30 im] korr. aus )der*

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braucht den Mangel an allen gründlichen grammatischen Kenntnißen zu bedecken. In der Physik ist bei seiner aus Schlaffheit entstandenen Unwissenheit alles für ihn verlohren was mit der reinen Mathematik zusammenhängt; in der Geschichte vernachläßigt er das chronologische ganz und hat daher zwar eine Masse von Begebenheiten allein einzeln und ohne historischen Zusammenhang. | In den übrigen Lectionen als Mathematik, Stilstunden und so fort überläßt er sich seinen Träumereien oder er besucht sie nicht unter allerlei nichtigen Vorwänden.

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Häu s l i c h e r Fleiß

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Im höchsten Grade unregelmäßig und keinesweges angestrengt[;] seine deutschen Aufsätze sind durch grobe orthographische und Sprachfehler mehr aus Nachläßigkeit als aus Unwissenheit entstellt, die lateinischen wimmeln von Sprachfehlern gegen die TrivialGrammatik ohngeachtet die Möglichkeit eines guten Stils hie und da sichtbar ist. Der Innhalt der deutschen Aufsätze ist in der Regel sehr zu loben besonders wenn sie sich nach der Darstellung und nicht nach der Untersuchung hinneigen oder sich hinwenden laßen. Daß er im Französischen sich auszeichnet dankt er früher Uebung und seiner verkehrten Neigung in Gesellschaften zu glänzen und den Weltmann zu spielen. Im griechischen hat er noch die verschiedenen Accente verwechselt und neulich den Unterschied zwischen den langen, kurzen und vocalis anceps nur mit Mühe angeben können. Die Präparation treibt er sehr leichtsinnig, von der Repetition sind nur schwache Spuren entdeckt worden. Er hat also auf alle Weise die Hoffnungen seiner Lehrer getäuscht die sie bei seiner Versetzung nach Prima von ihm faßten, indem er im letzten Vierteljahre durch einen sehr geregelten, dabei aber übertriebenen und tumultuarischen Fleiß worunter seine Gesundheit damals beträchtlich litt und noch die Spuren an sich | trägt, sich die nothwendigen Kenntniße erwarb, welche er nachher durch unterlaßene Uebung, durch Trägheit und Schlaffheit wieder vergessen hat so daß dadurch offenbar wird daß die bemerkten Vernachläßigungen nur durch seine Schuld keinesweges durch einen Mangel an Fähigkeit entstanden sind.

13 entstellt] über )besorgt* 18 sich] mit Einfügungszeichen über der Zeile 19 dankt] mit Einfügungszeichen über der Zeile über )hat* 19 und] mit Einfügungszeichen über der Zeile 21 spielen] folgt )zu danken*

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Kenntniße

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Ergeben sich aus den vorigen Rubriken von selbst. Von wahrhaft gründlichen Sprachkenntnißen kann gar nicht die Rede sein, seine physikalischen und historischen Kenntniße ruhen auf keinem Fundamente und sind deshalb unvollständig und verwirren sich bei dem kleinsten Anlaße. Von mathematischen Kenntnißen darf man gar nicht sprechen. Für die Universität und die diplomatische Carriere ist er bei weitem nicht vorbereitet genug und es würde ihm sehr nüzlich sein noch ein Jahr auf der Schule zu verweilen.

2 vorigen] davor )aufgezeigten* nicht die Rede sein*

6–7 darf man gar nicht sprechen] über )kann gar

Nr. 41 Datum: Autor: Empfänger: Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

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17. Dezember 1810 Friedrich Schleiermacher, Direktor der Wissenschaftlichen Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den Kultus und öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 2, Bl. 2r–3r Keine Dieses Manuskript Schleiermachers hat auch G.L. Spalding unterzeichnet. Adressat und Datum sind oben auf dem Rand von Blatt 2r von fremder Hand notiert: „Berlin d 17. December 1810 An Ein Hochlöbliches Departement f. d. Cultus und öffentlichen Unterricht.“ Aus einer Randnotiz darunter geht hervor, dass das Schreiben am 19. Dezember desselben Jahres mundiert wurde.

Zufolge des verehrlichen Auftrages der Hochlöblichen Section vom 27. November beeifert sich die unterzeichnete Deputation ein Verzeichniß ihrer Arbeiten während des nun ablaufenden Jahres vorzulegen wiewol darin wenig oder nichts enthalten sein kann wovon die Section nicht unterrichtet wäre. Denn die betreffenden Regierungen haben der Deputation nie einen Auftrag gegeben noch sie über irgend etwas zu Rathe gezogen. Seitdem die Deputation zuerst interimistisch und nach der Ausscheidung des GR. Wolf definitiv für dieses Jahr organisirt worden und ihre außerordentlichen auch correspondirenden Mitglieder erhal1–2 Zufolge … Deputation] umgestellt aus Zufolge des verehrlichen Auftrages vom 27. November beeifert sich die unterzeichnete Deputation der Hochlöblichen Section 8 Seitdem] korr. aus Nachdem 1–2 Das von Nicolovius unterzeichnete Schreiben der Sektion für den Kultus und öffentlichen Unterricht vom 27. November 1810 an die Berliner Wissenschaftliche Deputation mit Schleiermachers Sichtvermerk, GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 2, Bl. 1r, lautet: „Da die wissenschaftliche Deputation hieselbst keine monatlichen Berichte gleich den wissenschaftlichen Deputationen in Königsberg und Breslau, an die Section des öffentlichen Unterrichts zu erstatten verpflichtet ist, diese aber nicht von allen im Laufe des ausgehenden Jahres von derselben verrichteten Arbeiten Kenntniß hat, so wird der wissenschaftlichen Deputation aufgetragen, noch vor Ablauf des Jahres über selbige anher zu berichten.“ 10–1 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 1, Bl. 5r und 6r (Schleiermachers Briefe an Bartholdy und Willdenow), oben S. 46 und S. 49

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ten und sich mit denselben in Verbindung gesezt hatte, hat sie folgende Prüfungen im Auftrage der Section verrichtet. Zuerst die des zum Oberlehrer am Fridericiano in Königsberg bestimmten D. Jahn. Wiewol diese Prüfung nicht das Resultat gab daß man ihm sogleich eine solche Lehrstelle anvertrauen könnte: so gab er doch erfreuliche Beweise von Kenntnissen Anlage und Kraft und ist seitdem auf eine angemessenere Art mit Nuzen in das Lehrfach eingetreten. 2. Des zum Collaborator am FriedrichsWerderschen Gymnasium bestimmten und hernach auch berufenen Candidaten Brunnemann 3. Des Candidaten List welcher eine nicht ganz sichere Aussicht zu einer Anstellung in Marienwerder hatte und deshalb lieber die Prüfung gleich darauf gerichtet wünschte ob er tüchtig sei zum Oberlehrer an irgend einer gelehrten Schule bestellt zu werden. Der Ausgang aber entsprach der Erwartung nicht und es mußte ihm gerathen werden nachdem er durch fortgesezte Studien sich gründlichere | Kenntnisse erworben haben würde sich wieder zu melden. 4. Des zum Collaborator am FriedrichsWerderschen Gymnasio bestimmten und seitdem berufenen Herrn Nordmann der sich vorzüglich dem mathematischen Unterricht gewidmet und darin auch Kenntnisse gezeigt hat wie man sie für jezt noch bei den wenigsten angehenden Lehrern der Mathematik finden wird. Aufgetragen war der Deputation früher noch die Prüfung eines Hofrath Römer welcher sich um eine Lehrstelle beworben hatte von dieser Bewerbung aber abstand. Außerdem haben sich in Bezug auf das Edict vom 12. Juli pro licentia docendi prüfen lassen zuerst ein Magister Schoder aus Würtemberg welcher der Deputation viel Interesse einflößte so daß sie wünscht er möge recht bald unter uns einheimisch und durch seine Kenntnisse und seine Gesinnungen nüzlich 1 hatte] über der Zeile 3 Königsberg] über )Kb* über )ein für allemal so geprüft zu werden*

11–12 und deshalb … gerichtet]

2–3 Die Prüfungsunterlagen der hier erwähnten Prüfungskandidaten sind in folgenden Akten des Geheimen Staatsarchivs bewahrt: GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 4: Jahn, Roemer, Brunnemann, Schoder, Koch, List. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 8, Vol. I: Nordmann, Giesebrecht, Schulze, Waechter. GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 5, Vol. I: Kannegießer und Marggraf 8 Collaborator: Mitarbeiter; vgl. Campe: Ergänzungsband, S. 198: „A[m] meisten kömmt dieses fremde Wort als Titel für junge Schullehrer vor, die durch Theilnahme an dem öffentlichen Unterrichte sich zu einer höhern Stelle vorbereiten sollen.“ 24 Das am 12. Juli 1810 erlassene „Edict wegen einzuführender allgemeiner Prüfung der Schulamts-Candidaten“, GStA PK, I. HA Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. Z, Nr. 1, Bd. 1, Bl. 50r–53v, basiert auf dem von Schleiermacher verfassten Gutachten zum Examen pro licentia docendi, welches er nach Durchsicht sämtlicher Voten der Wissenschaftlichen Deputation und der Sektion zu diesem Thema mit Datum vom 27. April 1810 schrieb. Schleiermachers Gutachten ist in derselben Akte des Staatsarchivs aufbewahrt. Vgl. Bl. 27v– 29r, oben S. 32–34

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werden. Ferner der am hiesigen Schindlerschen Waisenhause stehende D. Kannegießer, dem die Deputation wiewol er in Absicht der Q R Gründlichkeit eines eigentlichen Philologen nicht völlig genügte doch ein ehrenwertes Zeugniß nicht versagen konnte indem er Kenntnisse und Gewandheit überall zeigte und auch seine Aufsäze Resultate des Selbstdenkens und gemachter Erfahrungen waren. Gemeldet hatte sich auch ein Candidat Marggraf dem aber die Deputation schon nach Ansicht seiner Aufsäze den Rath geben mußte sich zuvor noch mehr zu vervollkomnen; und ein auswärts als Hauslehrer sich aufhaltender Candidat Koch der aber nachdem ihm die Themata zu seinen Arbeiten aufgegeben worden sind nichts weiter von sich hat hören lassen. Eingeleitet sind jezt noch die Prüfung des zum Oberlehrer an das Lyceum zu Königsberg N. M. bestimmten Candidat Schulze in Stettin[;] des zum Oberlehrer in Frankfurt an der Oder bestimten Candidaten Giesebrecht dessen schon eingegangene Auf|säze etwas ausgezeichnetes erwarten lassen und das Colloquium mit dem ehemaligen Professor zu Bialystock Herrn Wächter und es soll nicht an der Deputation liegen diese Berufung noch vor Ablauf dieses Jahres zu beendigen und darüber zu berichten. Die Deputation ist übrigens nicht in den Fall gekommen ihre außerordentlichen Mitglieder zu Prüfungen zuzuziehen. Außer den Prüfungen hat sich die Deputation nur mit denjenigen Gegenständen beschäftigt wozu die Section sie veranlaßt. Sie ist befragt worden um ihre Meinung über den Entwurf zu dem seitdem erschienenen Edikt die Prüfung der Schulamtscandidaten betreffend eben so über den Entwurf des Prof Erfurdt zu einem philologischen Seminarium. Zum Gutachten ist ihr zugeschikt worden eine Abhandlung des zur mathematischen Professur in Liegniz vorgeschlagenen Prof D. Rangnik. Dieses ist von dem mathematischen Mitgliede der Deputation Prof Tralles abgelegt worden ohne zum Vortrag in der Session gebracht worden zu sein. Es wurde ihr aufgegeben die neuen von D. Zeune angegebenen Erdbälle in Absicht auf ihre Einführung in Schulen zu prüfen, und zulezt eben so die QZöllnerschenR Lehrbücher. Ihr bedeutendstes Geschäft aber wenigstens wenn man auf die dazu erforderten Berathungen und Vorarbeiten sieht war der Entwurf zu einem allgemeinen Lehrplan für die höheren gelehrten Schulen der 2 er in Absicht] über )es ihm an* 12 des] über )eines* 19–21 Die … zuzuziehen] mit Einfügungszeichen am linken Rand; folgt )und jetzt wird sie vielleicht wenn die Umstände es erfordern die Prüfung des Giesebrecht ihren in Frankfurt correspondirenden Mitgliedern übertragen.* 24–25 Die Gutachten und Entwürfe sind zu finden: GStA PK, I. HA Rep. 76 VI, Sekt. 1, Gen. Z, Nr. 1, Bd. 1; vgl. oben, Anm. 10

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sie in einem großen Theil ihrer Sizungen, ja mehr wenn Prüfungen dazu kamen auch noch in außerordentlichen Zusammenkünften beschäftiget, und wozu sie auch die schriftlichen Meinungen des Prof Rektor Willdenow über den naturhistorischen und des Schulrath Bartholdy über den mathematischen Unterricht mit eingeholt und mehr oder weniger benuzt hat. Wie nüzlich sie sich also in dem zu Ende gehenden Jahre bewiesen das muß großentheils davon abhängen wieviel brauchbares und die Sache des Unterrichts förderndes in dem Resultat dieser Berathschlagungen, welches der Hochlöblichen Section vorliegt enthalten sein wird. Schleiermacher 17t. Gl Spalding.

3–6 und wozu … hat.] mit Einfügungszeichen am linken Rand; das ursprüngliche hat ist gestrichen 5 den] folgt )physikalischen* 3–5 Vgl. Schleiermachers Schreiben an Bartholdy und Willdenow, GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 5r und 6r, oben S. 46 und S. 49 8–10 Gemeint ist der „Entwurf der wissenschaftlichen Deputation zur allgemeinen Einrichtung der gelehrten Schulen“, der erste Lehrplanentwurf vom September 1810, vgl. oben S. 108–173

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19. Dezember 1810 Friedrich Schleiermacher, August Ferdinand Bernhardi, Wissenschaftliche Deputation Berlin Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 12, Bl. 3r–6r Keine Manuskript von Bernhardis Hand; sämtliche Korrekturen stammen von Schleiermachers Hand. Die Datierung ergibt sich aus Schleiermachers Unterschrift, der dieser eine „19“ hinzugefügt hat und dem Auftrag von Nikolovius an die Wissenschaftliche Deputation vom 7. Dezember 1810, Bauers Lehrbuch der Deutschen Sprache zu beurteilen. Oben über das Schreiben hat Schleiermacher eingenhändig notiert: „Unter der Aufschrift: Bericht der wiss. Dep. üb. Bauers Sprachlehre zu mundiren. Schl.“

Ueber den Zweck des vorgelegten und anbei zurükgehenden Buches giebt die Vorrede nicht genugsames Licht. Es wird zwar daselbst ge1 Ueber] davor )Unter dem doppelten Titel: Johann Ernst Stutz Kleinere Deutsche Sprachlehre zum Schulgebrauche; und: Lehrbuch der Deutschen Sprache, besonders zum Gebrauch in Schulen, hat der Doktor und Conrektor Bauer in Potsdam eine deutsche Grammatik herausgegeben, deren erster Titel von dem Verleger herrührt. (Vorrede pag. 2) Dem Plane nach soll das Buch aus zwei Bänden und einem Bande Erläuterungen bestehen von denen nicht deutlich gesagt wird ob sie einzeln verkauft, oder von dem Schüler allemal mit angeschafft werden müßen. Die erste Abtheilung dieses dritten Bandes ist mit besonderer Seitenzahl dem ersten Bande beigefügt.* 1 des … zurükgehenden] mit Einfügungszeichen am Rand von Schleiermachers Hand statt )dieses* 2 daselbst] folgt )pag II* 1 Am 7. Dezember 1810 erhielt die Berliner Wissenschaftliche Deputation den Auftrag zur Begutachtung eines Lehrbuchs der Deutschen Sprache (GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 12, Bl. 2r): „An die wissenschaftliche Deputation hieselbst[.] Das Departement des Kultus und öffentlichen Unterrichts kommunizirt der wissenschaftlichen Deputation hierneben sub conditione remissionis den ihr mittelst allerhöchster CabinetsOrdre vom 3. huj. zugefertigten Ersten Band des von dem Konrektor Bauer zu Potsdam herausgegebenen Lehrbuchs der Deutschen Sprache, mit dem Auftrage, den Werth und die Brauchbarkeit desselben zu prüfen, und sodann darüber Bericht zu erstatten. Berlin, d. 7. Dezbr 1810. Departement für den Kultus und öffentlichen Unterricht im Ministerio des Innern. Nicolovius“.

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sagt: daß es für größere Schulen bestimmt sei, man sieht aber nicht ob nur für höhere Bürger oder auch für gelehrte Schulen. Für leztere machen indeß schon die Unrichtigkeiten, welche man bemerkt wo lateinisches und griechisches angeführt werden, das Buch unbrauchbar; | es wird also auch nur als ein Leitfaden für Bürgerschulen zu beurtheilen sein. Die Forderungen, welche man mit Recht an ein solches Lehrbuch machen kann sind: Kürze (womit aeußerlich Wohlfeilheit und deutlicher Druck ohne störende Druckfehler zusammenhängen) Richtigkeit und Bestimmtheit und besonders genaue Beschränkung auf das für den besonderen Zwek nothwendige, Eigenthümlichkeit und Neuheit der Ansicht, die man freilich auch hier nirgends findet, ist wenn der Verfaßer nur zeigt daß ihm das Beste in diesem Fache nicht unbekannt war, nicht zu verlangen. Der Verfaßer trägt auf 232 Seiten nur die Lehre von den Buchstaben und Sylben und deren Aussprache, ferner die Lehre von dem Ton, der Bildung der Wörter durch Flexion, (nicht aber die Flexion selbst) durch Ableitung, Zusammensetzung und endlich noch die Rechtschreibung vor. | Daß nun der Verfaßer zur Behandlung der Rede-

1 es] über )dieses Lehrbuch die Grundlage sein solle eines zweijahrigen Unterrichts in der deutschen Sprache* 1–5 bestimmt … unbrauchbar] von Schleiermachers Hand; über und neben )allein der letztere Ausdruck schließt nur die Elementarschule bestimmt aus nicht aber die gelehrte Schule. Da aber der Verfaßer wenn er sich anders seines Zweckes deutlich bewußt war und blieb selbst im dritten für Lehrer bestimmten Bande, wenn | 3v er Ableitungen aus dem Griechischen anführt, die griechischen Stammwörter allemal mit deutschen Buchstaben anführt, so zeigt dies deutlich, daß er das Buch nur für Bürgerschulen höchstens nur für die mittleren Claßen gelehrter Schulen bestimmt haben könne und aus diesem Gesichtspunkte* 5 nur … Bürgerschulen] mit Einfügungszeichen über der Zeile und am Rand von Schleiermachers Hand 10–11 Beschränkung … nothwendige,] mit Einfügungszeichen am Rand nachgetragen von Schleiermachers Hand statt ) Sonderung des Nothwendigen für den einzelnen Zweck, von dem was zwar an sich richtig, für den untergeordneten Zweck aber nicht brauchbar ist. Sind diese Eigenschaften vorhanden so ist* 12 die … ist] mit Einfügungszeichen am Rand von Schleiermachers Hand 14 verlangen.] folgt )und muß nur sich vorfindend anerkannt werden* 15 nur] über )folgendes vor:* 19 vor] über der Zeile von Schleiermachers Hand 19 Daß] davor )Hier ist zu loben daß der Verfaßer Adelung, welcher aus einigen Gründen die Rechtschreibung | 3v hinter die Syntax stellte nicht gefolgt ist. Sehr tadelnswerth aber ist es daß hier nicht Nothwendigkeit für den einzelnen Zweck von Vollständigkeit gehörig geschieden sind, indem die Buchstaben und deren Aussprache auf 48 die Bildung der Wörter auf 95 Seiten behandelt worden sind. Die kleinere Adelungsche Sprachlehre braucht zu diesen Abschnitten nur 69 Seiten (Auflage 1798) und für die Rechtschreibung wofür der Verfaßer 53 Seiten braucht hat Adelung nur 41 Seiten ob enger oder weitläufiger gedruckt, darauf kommt hier nichts an. Diese 15 Bogen der Bauerschen Sprachlehre kosten an 12 bis 16 g und* 19 nun] mit Einfügungszeichen über der Zeile

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theile, der Syntax nach demselben Verhältniß wenigstens 700 Seiten brauchen wird, und noch in einem vierten Theile (vid Vorrede pag 8) Stil und Titularlehre, Rhetorik und Deklamation mit Action, Prosodie und Poetik abhandeln will, wovon doch nur die Titularlehre allenfalls und die Prosodie zur Grammatik gehören: so ist klar daß dieses Werk drei bis vier Thaler, kosten muß und schon deshalb dürfte dessen Einführung in Schulen wohl nicht rathsam sein. Ueberhaupt aber ist es unzweckmäßig auf Aussprache der Buchstaben und | selbst auf die Bildung und Zusammensetzung der Wörter theoretisch so viel Zeit zu verwenden, da sich in der Muttersprache ein gewißes Gefühl für die sprachrichtige Bildung der Wörter schon vorfindet, und die Provinzialismen in der Aussprache beim lauten Lesen corrigirt, nicht aber die Anfänger mit Regeln darüber überhäuft werden müssen. Etwas zweckmäßiger sind die Regeln für die Zusammensetzung beim Unterrichte zu gebrauchen wie denn dieses der beste Abschnitt des Buches ist, bei dem aber überall Seidenstüker vorangeht. Allein diese Materie sollte nicht soviel Raum einnehmen. Der Knabe erfährt davon mehr als er zu wissen braucht, unterdeß er von Declination und Conjugation nocht gar nichts lernt | In der Anord1 nach … Verhältniß] über der Zeile von Schleiermachers Hand über )wenn er anders sein Lehrbuch nicht unverhältnißmäßig in den folgenden Theilen abkürzen will,* 2 brauchen … noch] von Schleiermachers Hand korr. aus braucht, da er 6 drei bis] von Schleiermacher Hand über)an* 6 Thaler,] folgt )wenigstens drei* 6 muß] folgt )welche Summe aber für die Schüler und für ein Compendium bei weitem zu hoch ist* 6 schon deshalb] am Rand von Schleiermachers Hand statt )daher* 6 dessen] von Schleiermachers Hand über )die* 6–7 Einführung] folgt )dieser Sprachlehre* 10 in der] von Schleiermachers Hand über )dadurch daß die deutsche Sprache,*Muttersprache ist, 11 ein] davor )eine gewiße Richtigkeit der Aussprache* 12 und] von Schleiermachers Hand über )Es muß also der Unterricht im Deutschen besonders auf die praktische Seite hingewandt werden* 14 müssen] mit Einfügungszeichen über der Zeile von Schleiermachers Hand 15 beim] davor )allein* 15–19 wie … lernt] mit Einfügungszeichen über der Zeile am Rand von Schleiermachers Hand. Folgt )allein nie muß dies so viel Raum und Zeit wegnehmen daß das Dekliniren, Conjugiren die Bildung des Satzes und andere Hauptabschnitte der Sprache verdunkelt und zurückgedrängt werden. Der Verfaßer scheint sich überhaupt gar nicht deutlich gemacht zu haben, was ein Compendium zum Zwecke habe, es muß mehr andeutend als ausführlich, mehr die Wiederhohlung und Vorbereitung erleichternd sein als den mündlichen Vortrag des Lehrers unnüz machen. Durch das gegenwärtige Buch lernt der Knabe noch nichts von der deutschen Deklination, Conjugation und Syntaxis; dagegen von den Nebencapiteln mehr als er braucht. In Hinsicht dieser | 5r wünschenswerthen Kürze hätte sich der Verfaßer am besten an R e i n b e c k s D e u t s c h e S p r a c h l e h r e Leipzig 1809 172 Seiten Octav halten sollen* 16 Seidenstücker, Johann Heinrich Philipp: Bemerkungen über die Deutsche Sprache. Eine Vorarbeit zu einer ktitischen Grammatik der Hochdeutschen Sprache, Helmstedt 1804

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nung scheint der Verfaßer einerseits Adelungs kleine Sprachlehre neuste Ausgabe und Heinsius Teut vor Augen zu haben. Der Stil ist mehr der eines Lehrbuches als eines Compendiums. Ein gewißer Fleiß des Sammelns und Nachtragens ist überall sichtbar aber so roh, daß man in den meisten Fällen angeben kann aus | welchen Vorgängern mehr oder minder wörtlich der Verfaßer gesammelt hat; ein Studium der Quellen ist nirgend sichtbar. Die mehr für den Lehrer und anderweitigen Leser als für den Schüler bestimmten Erläuterungen enthalten nicht nur unbrauchbares, weitläuftiges und locker zusammengetragenes, sondern geradezu falsches in Menge. 2 Stil] folgt am Rande )welches Wort der Verfaßer mit einem y schreibt* 3 Compendiums.] folgt )wie oben erinnert und auch von andern Seiten ist viel zu tadeln, so steht in den Erläuterungen pag 89 folgende Stelle: „Pallast kommt von palatium her und dies von Pallas dem Grosvater des Ewander, der 400 Jahr vor Roms Erbauung in diese Gegend kam, weil er eines Mordes wegen aus Arcadien flüchtig werden mußte und nun das Dorf, das er auf dem ersten Hügel des nachmaligen Roms baute, Palanium nannte, welcher Hügel unter dem Nahmen palatium in der Folge der Sitz der Kaiser wurde. (Auch Neros goldenes Haus stand hier.)* 3 Ein] korr. aus ein; davor )Ohngeachtet das Werk nichts Eigenthümliches hat, so ist doch* 4 ist] über der Zeile von Schleiermacher eigenhändig eingetragen 4–5 aber … in] mit Einfügungszeichen über der Zeile am Rand von Schleiermachers Hand; folgt )Der beste Abschnitt ist der von der Composition, wo aber überall Seidenstüker (Bemerkungen über die Deutsche Sprache) vorangeht. In* 5 angeben kann] korr. aus kann man angeben 6 gesammelt hat] davor )geschöpft hat* 8–9 Die … enthalten] von Schleiermachers Hand korr. aus Was die Erläuterungen betrifft den ersten Theil des 3ten Bandes so sind sie ganz besonders tadelnswerth, sie enthalten 11 in Menge] mit Einfügungszeichen über der Zeile von Schleiermachers Hand. Folgt )Beispiele des erstern sind: gleich der erste Zusatz. Was soll der Lehrer und der Schüler mit Franks Meinung und der seines Recensenten mit Schlegels und Adelungs Ansichten, wenn weiter kein Urtheil oder ein durch keine Gründe unterstüztes hinzugefügt wird. Ebenso wird pag 16 die Stephanische Eintheilung der Buchstaben, und die dürftige Notiz aus Moriz Reisen über die Vermehrung des römischen Alphabets durch Tab Claudius pag 31 behandelt. Der Gelehrte bedarf dieser Nachweisungen nicht, der ungelehrte Lehrer will ein Resultat haben und dem Schüler sind dergleichen unnüz. Beispiele würklicher Unrichtigkeiten sind: pag 87 wo vinum von ïἶνον abgeleitet wird[;] pag 39 „Die lateinische Sprache setzt den Ton bloß auf die l a n g en Sylben, die griechische unterscheidet die Sylben nicht nur nach Länge und Kürze, sondern auch zugleich noch durch den Accent.“ Es würde unnöthig sein hier den gänzlichen Mangel | an Kenntniß von dem Wesen des Accents und an lateinischer Sprachkenntniß weitläuftig auseinander zu setzen, da ein jedes lateinische Wort, welches ein QPyrrhinischesR ist den Verfaßer widerlegt. Sind auch diese Worte aus dem Versuch der Deutschen Sprachlehre Strasburg 1803 genommen, so kann dies den Verfaßer nicht entschuldigen, da er das Angeführte als Erläuterung giebt und kein Wort zur Widerlegung hinzufügt.* 2 Heinsius, Theodor: Teut oder theoretisch-praktisches Lehrbuch des gesammten Deutschen Sprachunterrichts, Bd. 1–4, Berlin 1806–1811

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Alles zusammengenommen kann man dem vorliegenden Werke nur einen sehr geringen Werth einräumen und es dürfte wohl in Hinsicht des Preises sowohl als des Innhaltes bedenklich sein es in Schulen einzuführen. Bernhardi Schleiermacher 19

1 Alles zusammengenommen] von Schleiermachers Hand über )Nach diesen Gründen* 1 vorliegenden] davor )gegenwärtig*

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6. Juli 1811 Friedrich Schleiermacher, Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht Wissenschaftliche Deputation Berlin GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Sekt. 1A, Teil II, Nr. 14, Bd. 1, Bl. 271r Keine Die Ausfertigung dieses Briefentwurfs ist in derselben Akte zu finden (GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu Sek. 1A, Teil II Nr. 14, Bd. 1, Bl. 272r). Von Schleiermachers Hand unter seinem Brieftext: „Scribetur in simile an die Wissenschschaftl Deputat. zu Kb. u. Brsl. mit Auslassg. der eingeklammerten Stelle. 2. An sämtl Geistl u. Schul Dep. Sie haben den zu ihrem Ressort gehörigen gelehrten Schulen die Einsendung ihrer Programme an d. Wissenschftl Deput. aufzutragen. 3. An die Direct. der 4 hiesigen Gymns. dasselbe. Darunter: Von den übrigen Exempl. eines an die Bibliothek des Dep.“

1. S c r i b a t u r an d i e w i s s e n s c h af t l i c h e D eputa t ion hieselbst In Erwägung daß in den Schulprogrammen bisweilen nüzliche pädagogische Ideen enthalten sind welche wenig in Umlauf kommen sie auch nicht selten Aufschlüsse über das Innere der Schulen geben habe sich das Departement durch den in der Anlage (1 Expl.) enthaltenen Vorschlag des Dir. Gotthold veranlaßt gefunden dato durch die Regierungen sämtlichen gelehrten Schulen auf zugeben (und an die hiesigen Gymnasien selbst zu verfügen) daß sie von jedem Programm 3 Exemplare der wissenschftlichen Deputation in deren Bezirk sie liegen jedesmal übersenden sollen. Hiedurch würde ihnen die Bekanntschaft mit den Schulvorstehern erleichtert, und sie würden in Stand 5–6 Friedrich August Gotthold hatte am 18. Mai 1811 geschrieben (GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu Sek. 1A, Teil II Nr. 14, Bd. 1, Bl. 270r): „Einem Hochpreislichen Departement des Cultus und öffentlichen Unterrichtes überreiche ich zehn Exemplare des von mir geschriebenen Osterprogrammes, und ersuche Dasselbe gehorsamst, den im Eingange gewagten Vorschlag zur Beförderung des pädagogischen Ideentausches zu prüfen, und Falls er nicht verwerflich scheinen sollte, den Herrn Direktoren des Joachimsthalischen, Berlinisch-Cölnischen, Werderschen und Friedrich-Wilhelmsgymnasiums ein Exemplar mitzutheilen. Königsberg den 18ten Mai 1811 [.] Des Friedrichscollegiums Direktor FAGotthold“.

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gesezt auf ausgezeichnete Schulschriften die übrigen Schulen ihres Bezirkes sowol als die andern wissenschaftlichen Deputationen aufmerksam zu machen. Schleiermacher 6 Jul 11

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2. Dezember 1811 Friedrich Schleiermacher, Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht Geistliche und Schul-Deputation der Kurmärkischen Regierung zu Potsdam GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Sekt. 15 bb, Nr. 1, Bd. 1 (ohne Blattzählung) Kade (1925), S. 22–23 Diesen Briefentwurf notierte Schleiermacher auf dem Rand der ersten vier Seiten von P. Natorps Gutachten über das kurmärkische Seminar. Von Schleiermachers Hand auf der ersten Seite seines Briefentwurfs: „An ein König. Hochpreisliches Departement für den Kultus und öffentlichen Unterricht im Ministerio des Innern“

Resp. Das Departement sei schon auf dem Grund von früheren Berichten vom 3. May pr. und 28. Januar pr. ganz mit dem Urtheil der Deputation über den Zustand des hiesigen Schullehrersemin. einverstanden; ehe es sich aber auf die Forderungen einlasse welche die Deputation jezt Behufs einer gründlichen Reform desselben aufstellt 2 28.] davor )3. Febr.* 1–3 Natorp, als berufenes Mitglied bei der Provinzialregierung in Potsdam mit gutachterlichen Aufgaben im Bereich des Volksschulwesens betraut, legte der Sektion am 15. November 1811 einen Bericht über die verheerenden Ausbildungszustände im Elementarschullehrerseminar vor (GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Sekt. 15 bb, Nr. 1, Bd. 1). Natorps Einschätzung dokumentiert Thiele, Gunnar: Die Organisation des Volksschulund Seminarwesens in Preußen 1809–1819, mit besonderer Berücksichtigung der Wirksamkeit Ludwig Natorps, Leipzig 1912, bei dem eine ausführliche Schilderung der Differenzen, die im Bezug auf die Einschätzung der Zellerschen Normalinstitute zwischen den Verantwortlichen in der Sektion und Natorp, bzw. der Geistlichen und Schuldeputation der Kurmärkischen Regierung artikuliert wurden, zu finden ist und mit gegensätzlicher Interpretation bei Kade (1925). Zu den Normalschulversuchen und der Entwicklung der Lehrerbildung vgl. Zeuch-Wiese, Ilona: Die Erziehung der Erzieher. Zur Institutionalisierung der Elementarschullehrerausbildung in Preußen. Geschichte und Funktion der Königsberger Normal-Institute 1808–1813, Berlin 1984 und Tenorth, Heinz-Elmar: Lehrerberuf und Lehrerbildung, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1–6, München 1987–2005, hier Bd. 3: (1800–1870), Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches, edd. K.-E. Jeismann, P. Lundgreen, 1987, S. 250–270.

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müsse ihm erst der Plan zu dieser Reform bestimmter vorgelegt werden, Es scheine zuvörderst sehr schwierig daß die Seminaristen ihre praktischen Uebungen im Lehren in mehreren und zwar solchen Anstalten halten sollen, welche nicht ohne einen Gewaltstreich unmittelbar unter die Direction des Inspectors können gestellt werden, wo demnach zwischen zwei Directionen beständige Collisionen zu befürchten sind. Und könnten diese mehreren Anstalten dem Inspector Seminarii ganz untergeben werden, so müßte diesen die Direction desselben so beschäftigen und zerstreuen daß das Seminarium selbst darunter unstreitig leiden würde. Eben so schwierig scheint | es zu sein, bei den 20 nicht stipendiirten Präparanden das äußerst nothwendige Verbot des HandwerksBetriebs hier in Berlin wirksam durchzusezen, indem es von keiner Familie oder Schulanstalt zu loben sein würde wenn sie den jüngeren unter den Präparanden Lehrstunden gradehin anvertrauen wollten da auch die älteren sich noch unter Anleitung im Lehren üben sollen. Der Erwerb vom Unterricht würde also ganz wegfallen, und auf 20 Subjecte welche in Hofnung auf das Beneficium sich über ein Jahr lang auf eigne Kosten in Berlin unterhielten sei wol nicht zu rechnen. Fänden sich aber unter den Präparanden solche die mit Beifall und Erfolg Unterricht in Familien oder in Privatstunden ertheilten so würden sich diese gewiß wenn kein Zwangsmittel dagegen angewendet würde größtentheils hier niederlassen und für das Landschulwesen verloren gehen wie denn überhaupt der Aufenthalt in der Hauptstadt den für das platte Land bestimten, wenn nicht besondere Maaßregeln dagegen ergriffen werden auf vielerlei Weise nachtheilig werden müsse. Ferner fehle noch die Ueberzeugung wie sich die bestimmte Anzahl von 50 Seminaristen und einem zweijährigen Cursus zu dem jährlichen Bedürfniß der Provinz verhalte. Endlich komme freilich alles darauf an, daß die Subjecte besser als bisher schon in das Seminarium eintreten. Dies sei aber weder durch Beneficien noch durch Prüfungen allein zu erreichen; sondern es müßte erst wenigstens einzelne bessere Land oder kleinere Stadtschulen geben aus denen sie gründliche Elementarkenntnisse mitbringen könnten. Das Departement müsse daher nochmals auf seinen bereits in der Verfügung vom 18. Febr. pr aufgestellten Grundsaz zurükkommen, daß ein rechtes Gedeihen des Seminarii nicht zu hoffen sei bis die Provinz ein solches Normalinstitut habe, welches – ohne eine Specialschule für künftige Schullehrer zu sein, als welches im engeren Sinne den 1–2 werden, ] folgt )wozu es die Deput. hiedurch auffordere* 16 sollen] korr. aus sollten 21 sich] mit Einfügungszeichen über der Zeile 23–26 wie … müsse.] mit Einfügungszeichen am unteren Rand 33 mitbringen könnten] über )erhielten* 36 Provinz] mit Einfügungszeichen über der Zeile 37 habe] über )da sei*

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Seminarien vorbehalten bleibt – als allgemeine Bildungsanstalt dennoch durch seine Einrichtung die Mittheilungsgabe vorzüglich entwikle, und dadurch in mehreren, und gerade den bestorganisirten Subjecten, Lust zum Lehrstande aufrege. Daß in die | sen Anstalten nicht sowol der Nachhülfe bedürftige als vielmehr für ihren Beruf sich würklich interessirende, auf ihre Fortschreitung bedachte Schullehrer Gelegenheit erhalten vielerlei Gutes zu sehen welches sie dann nach Umständen und Fähigkeiten wieder anwenden können, ist ein Nuzen den sie zugleich leisten aber nicht ihr eigentlicher Zwek; daß sie aber, Werkstätten zu pädagogisch didaktischen Experimenten seien ist ein ganz falsche und höchst oberflächliche Ansicht, welche das Departement sich gewundert hat in einem Bericht der Deputation ausgesprochen zu finden, die hierüber schon vielfältige Erläuterungen erhalten, der es auch außerdem nicht an Gelegenheit gefehlt hat zu einer richtigen Ansicht zu gelangen, und die sich auf jeden Fall hätte bedenken sollen zu sagen das Departement organisire in seinen Lehranstalten bloß zum Experimentiren, welches entweder ein höchst unbedachter oder ein eben so unehrerbietiger Ausdruk ist. Der Deputation werde also hiedurch aufgetragen 1. einen genaueren Entwurf zur künftigen Einrichtung des Seminarii vorzulegen, welcher die angedeuteten Schwierigkeiten beseitige und zugleich eine anschauliche Vorstellung von dem Ganzen gebe wie sie es sich gedacht hat 2. da der Provinz ein Normalinstitut nothwendig ist, weil es wenig fruchten würde, eine kostspielige Reform des Seminarii durchzusezen, wenn man nicht eine 2 Einrichtung] folgt )theils* 4 Subjecten] mit Einfügungszeichen über der Zeile 4 Lust] davor )die* 6 auf] davor )besser* 7 zu sehen] mit Einfügungszeichen über der Zeile 9 aber,] folgt )wenn der Bericht sich auswirkt* 11 ganz falsche und] mit Einfügungszeichen über der Zeile 14 der] davor )und* 23 weil] über )und* 18–20 Die Akte des Preußischen Staatsarchivs bewahrt mehrere unveröffentlichte Mahnungs- und Erinnerungsschreiben Schleiermachers aus verschiedenen Monaten des Jahres 1812 auf, mit denen er den erbetenen Seminarentwurf einforderte. Darüber hinaus beruhigte er den langjährigen Leiter des Seminars, dass „von keiner Auflösung sondern nur von einer grundlegenden Reform des p Seminars die Rede“ sei und erklärte Staatskanzler von Hardenberg die Zusammenhänge. In weiteren Briefen wird der Standort diskutiert; auf die Aufforderung Schleiermachers hin, sich für „Dom Brandenburg“ oder „Dom Havelberg“ zu entscheiden, sprach sich Natorp im Namen der kurmärkischen Schuldeputation für Havelberg aus, was von der Sektion mit einem Antwortschreiben Schleiermachers (vom 9. August 1812) genehmigt wurde. Darin beharrte Schleiermacher auf dem Wunsch, dass die Deputation der kurmärkischen Regierung doch zuerst den ihr aufgetragenen Seminarplan einzureichen habe. Er erklärte, das Departement könne „über die Anlegung eines neuen Schullehrer-Seminars nicht im allgemeinen entscheiden und noch weniger auf Genehmigung von Fonds antragen bevor es mit der Absicht der Deputation näher bekannt sei“ (GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Sekt. 15 bb, Nr. 1, Bd. 1).

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Pflanzschule hätte welche ihm bald bessere Zöglinge liefern kann: so hat die Deputation sowol ihren auch gegen des Königs Maj. schon unmittelbar erwähnten Plan, das Militär Waisenhaus zu Potsdam theilweise zu einem Seminario einzurichten, endlich im Zusammenhang vorzulegen, als auch die ihr schon in frühen Verfügungen aufgetragene Untersuchung des Waisenhauses zu Oranienburg in dieser Hinsicht vornehmen zu lassen und darüber zu berichten. Was endlich den dem Bericht über einen speciellen Gegenstand nicht ganz der Ordnung gemäß eingewebten allgemeinen Vorschlag zu einer zwiefachen Prüfung der Elementarschullehrer betrift so hat die Deputation dabei die Analogie des zwiefachen Examens der Candidaten des Predigt und höhern Schulamts nicht vor Augen | gehabt indem bei beiden schon das erste vorläufige Examen wahl und präsentationsfähig macht, und erst auf die Präsentation das zweite folgt; sie hingegen will erst wer zwei Prüfungen überstanden hat solle wahlfähig sein. Da nun hieraus die Idee nicht klar hervorgehe so habe sie auch hierüber nichts Q nirenR zu lassen ohne es vorher dem Departement zur Genehmigung vorgelegt zu haben. Schleiermacher 2. Dec.11.

2 sowol] über )entweder* 6–7 in dieser Hinsicht] mit Einfügungszeichen über der Zeile 8–9 Was … gemäß] mit Einfügungszeichen unten auf der Seite nachgetragen

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7. März 1813 Friedrich Schleiermacher, Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht Geistliche und Schul-Deputation der Kurmärkischen Regierung zu Potsdam GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Sekt. 15 bb, Nr. 1, Bd. 1 (ohne Blattzählung) Keine. Kade (1925), S. 25–37 und Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1, S. 180–184) edierten nach der (u. a. durch Süvern veränderten) Abschrift Hier votiert Schleiermacher zu einem Entwurf Natorps über die Lehrerausbildung im Elementarschulwesen

S c r i b d e r Ch u r m är k i s c h R e g. G e i s t l . u S chul D eput Ueber den von ihr unterm 2t. September pr. eingereichten Entwurf zu einem Provinzial-Landschullehrerseminario, welchen das Departement einer 2 Der Entwurf, auf den Schleiermacher sich bezieht, trägt das Datum des 27. September 1812. In der Abschrift von Schleiermachers Text ist das Datum korrigiert. „Referent OberConsistorialrath Natorp“ hatte am 27. September 1812 den von Schleiermacher erbetenen „Plan und Etat eines Seminariums für die Kurmark“ mit dem „Grundriß eines Schullehrer-Seminariums für die Kurmark“ in der Anlage übersandt (GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Sekt. 15 bb Nr. 1, Bd. 1; Natorps Entwürfe sind dokumentiert in: Thiele (1912), S. 145–175). 3–1 Von Oktober 1812 bis März 1813 wurde zwischen Sektion und kurmärkischer Schuldeputation über Fragen der Ausstattung des geplanten Seminars verhandelt, angestoßen durch einen Brief Schleiermachers an Hardenberg, „ob auf ein dem Zwek entsprechendes Gebäude und auf eine hinreichende Dotation aus dem Fond des saecularisirten Domstifts seiner Zeit und wann zu rechnen sei, wie nach der allgemeinen Erklärung welche Se. Maj. über die Verwendung jener Fonds erlassen habe allerdings zu hoffen stehe.“ Schleiermacher erläuterte, dass eine „Umbildung“ des derzeitigen Berliner Landschullehrerseminars nicht in Frage käme und dass stattdessen eine Verlegung bzw. Neugründung außerhalb Berlins sinnvoll sei: „Daher stünden einer genügenden Umbildung desselben eine Menge von Hindernissen entgegen und wenn diese auch überwunden werden könnten so sei es bedenklich einen bedeutenden Aufwand von Kräften aller Art an eine Anstalt zu wenden die schon durch ihre Lage in der Residenz nicht geeignet sei zur Bildung von Männern welche größtentheils in der Abgeschiedenheit des Landlebens ihren Beruf zu erfüllen bestimmt sind.“ Schleiermacher betonte, dass, falls die Bildung besserer Lehrer nicht durch ein neu einzurichtendes Lehrerseminar gesichert werde, „alle andern Bemühungen des Departements im Fache des Landschulwesens für diese Provinz ohne Erfolg bleiben“ (GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Sekt. 15 bb Nr. 1, Bd. 1, Briefentwurf Schleiermachers vom 1. November 1812).

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reiflichen und genauen Prüfung unterworfen, bemerke es zunächst im Allgemeinen, daß er die Grenzen eines solchen Instituts nicht festhalte und den rechten Geist desselben nicht überall ausspreche. So wäre es eine verderbliche Versuchung, wenn schon durch den Plan selbst ein solches Institut aufgefordert werde nach einer literarischen Wirksamkeit zu streben wie allerdings geschieht wenn die ehemaligen Zöglinge verpflichtet sein sollen, die Schriften desselben anzuschaffen. Vielmehr müssten die Lehrer des Seminarii zu pädagogischer Schriftstellerei wenig oder gar keine Zeit haben und auch mit öffentlicher Bekanntmachung der selbstentworfenen Leitfäden sehr vorsichtig und nur nach langer Bewährung derselben vorschreiten. Ebensowenig kann das Institut, welches bloß lehrend sei noch irgendeine Aufsicht über die entlassenen und als Lehrer angestellten Zöglinge ausüben, welches nur Kollisionen mit den andern Behörden hervorbringen müsse. Was aber die Hauptsache wäre, so könne das Departement auch die in dem Plan herrschende Ansicht über die Seminaristen selbst nicht teilen. Diese zum Dienst in Land und kleinen Bürgerschulen bestimmt gehörten nicht in diejenige Klasse welche ihre Bildung eigentlich literarisch durch Lektüre und kritisches Studium erlange und durch Schreiben fixiere und bewähre auch nicht eine solche welche die Theorie ihres Geschäfts abgesondert als ein System allgemeiner Sätze und aus solchen abgeleitet haben könne, sondern nur an und mittels der Ausübung. Hier aber spreche sich überall eine viel zu starke Neigung zum rein Theoretischen und Spekulativen aus, und es sei auf Schreiben aller Art ein übermäßiges Gewicht gelegt. Man dürfe selbst in Zukunft wo bessere Elementarschulen mehr vorbereitet haben werden von den Präparanden weder eine solche Leichtigkeit im Mechanischen des Schreibens noch im schriftlichen Verfassen voraussetzen daß bei den vielen Heften und schriftlichen Ausarbeitungen | der Zeitaufwand mit dem Nuzen in einem richtigen Verhältniß stehen könne. Wie richtig und sicher die Zöglinge das Mitgeteilte aufgefaßt haben müßte man hier nicht aus schriftlichen Aufsätzen beurteilen wollen sondern aus den beständigen vielseitigen Anwendungen welche sie davon zu machen durch ihre praktischen pädagogischen Übungen genötigt werden. Dieselbe Ansicht gehe auch durch den ganzen Lehrplan hindurch in welchem nur die eine Seite, der eigentliche Unterricht mit Vorliebe und Genauigkeit ausgearbeitet die andere aber, die didaktischen Übungen nur eben angedeutet ist. Man muß in einigen Jahren wenigstens streng von der Voraussezung ausgehen daß die Präparanden bei ihrem Eintritt in das Seminarium das was die Jugend künftig von ihnen lernen soll materialiter völlig inne haben, und also giebt es 20 nicht] Die Abschrift ergänzt „nicht“ und gibt wieder: „auch nicht in eine solche“.

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denn eigentliche Kenntnisse für die Seminaristen nur diejenigen zu erwerben, welche sie haben müssen um gehörig über ihren künftigen Schülern zu stehen und ihren dem eigentlichen Unterrichtsgebiet naheliegenden Fragen zu genügen, und die welche zu ihrer Amtsführung als Küster und Organisten ihnen nötig sind. Die Hauptsache ist demnach im Seminario die Lehrkunst welche an den verschiedenen Unterrichtsgegenständen selbst und unmittelbar praktisch gelehrt wird, wie in § 2 No 5 ganz richtig gesagt ist, als eigentliche Wissenschaft aber, wenn auch nur encyclopädisch, wie § 2 No 6 will, in ein solches Seminarium ebenfalls nicht gehöre. Die hier aufgestellte allgemeine Ansicht werde sich durch die folgenden Bemerkungen über die einzelnen Gegenstände noch mehr ins Licht sezen. 1.) Der Sprachunterricht ist ganz von der Wichtigkeit wie der Entwurf ihn darstellt. Allein das Interpretieren deutscher Klassiker könnte den Seminaristen leicht eine falsche, Schöngeisterische Richtung geben, und doch für das, was sie wieder lehren sollen wenig gewonnen werden. Denn sie würden zum Beispiel nicht leicht durch neuere poetische Lectüre Geschik dazu bekommen ihren künftigen Schülern die edlen und kräftigen Kirchenlieder welche die eigentlichen Klassiker des Volks sind aufzuschließen. Auch daß dabei verfahren werden soll wie beim Lesen | der alten Klassiker auf gelehrten Schulen ist nur richtig wenn die unteren Klassen gelehrter Schulen gemeint sind denn eine kritische und historische Kenntniß der Muttersprache wäre etwas völlig Überflüssiges. 2.) In dem was unter dem Titel Realkentnisse zusammengefaßt ist herrscht auch noch großer Überfluß. So zum Beispiel ist allerdings zu wünschen daß in den Elementarschulen künftig wenigstens die Fähigeren gelehrt würden eine Landcharte zu verstehen und zu gebrauchen aber dann ist eine besondere biblische Geographie den Seminaristen auch überflüssig und man könnte ebensogut auch jüdische Alterthümer nötig finden. Eine Übersicht der Landwirtschaftslehre gebrauchen die Seminaristen weder um sie wieder zu lehren noch bei den wenigen Morgen Landes die sie etwa haben zu ihrem eigenen Nuzen. 7–8 wie … ist,] mit Einfügungszeichen über der Zeile. § 2 No 5 im „Grundriß eines Schullehrer-Seminariums für die Kurmark“ lautet: „Die Gegenstände des Unterrichts sind zunächst die nemlichen, welche den Cyclus der Unterrichtsgegenstände für die Volksschulen bilden. Diese werden aber so bearbeitet, daß den Seminaristen die elementarische Behandlung eines jeden Lehrfachs, der Stuffengang und die ganze methodische Verfahrensart sogleich einleuchtend und anschaulich wird.“ (GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Sekt. 15 bb, Nr. 1, Bd. 1) 9 wie … will,] mit Einfügungszeichen über der Zeile. Im § 2 No 6 heißt es: „Zu diesen Lehrgegenständen kömmt dann aber noch eine Encyclopädie der Pädagogik Didaktik und Elementarschulkunde nebst einer Anleitung zur Schulpraxis.“ (GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Sekt. 15 bb, Nr. 1, Bd. 1)

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3.) Was den Religionsunterricht betrift so findet eine eigentliche Interpretation der heiligen Urkunden ohne Schriftgelehrsamkeit und aus der bloßen lutherischen Uebersetzung gar nicht statt, und es kommt vorzüglich nur darauf an daß sie diejenigen Stellen unterscheiden lernen über welche sie sich mit Nuzen weiter verbreiten können und daß man ihnen brauchbare Hülfsmittel dazu anzeige. Ein systematischer Religionsunterricht aber durch welchen sie über die verschiedenen theologischen Ansichten hinaus gestellt würden auf denen auch die verschiedenen Katechismen beruhen scheint ein viel zu hohes Ziel da man wol von den wenigsten Geistlichen wird rühmen können daß sie jeden Katechismus gleich gut zu gebrauchen wissen. Es ist auch um so weniger nöthig die Seminaristen in diesem Fach völlig selbstständig zu bilden da sie doch als Schullehrer im Religionsunterricht der unmittelbaren Leitung des Predigers dem sie vorarbeiten besonders unterworfen bleiben. Wie aber bei diesem ohnedies schon zu großem Zuschnitt des Religionsunterrichts die einzelnen Unterrichtsstunden auch zugleich noch den Charakter von Erbauungsstunden haben sollen ohne daß dieser Theil zu einer ganz unverhältnismäßigen Masse anschwelle ist nicht abzusehen. Die wöchentlichen Erbauungen werden neben dem öffentlichen Gottesdienste dem ascetischen Bedürfniß genügen. Den Seminaristen aber auch für ihren Privatgebrauch ein Erbauungsbuch vorzuschreiben kann als ein zu großer Eingriff in die religiöse Freiheit nicht genehmigt werden. 4.) Fehlt es in dem Lehrplan wie er hier mitgetheilt wird, ganz an einem durchgreifenden Prinzip für die Eintheilung in zwei Cursos. Wenn ein solches in bezug auf die Hauptsache des Instituts nämlich die Lehrkunst zum Grunde gelegen hätte: so würde vieles klarer und übereinstimmender geworden sein, man hätte schwerlich die sogenannte | continuirliche Methode unbedingt empfohlen welche weit anwendbarer ist wo es darauf ankommt eine Masse verschiedenartiger Kenntnisse und Fertigkeiten möglichst schnell zu erwerben und man hätte die praktischen Uebungen auf welche das meiste im Seminar ankommt nicht so kurz und unbefriedigend abgefertigt. Eine über die Grenzen des zweiten Cursus hinausgehende classis selecta sei nicht zu statuiren. Wer Fähigkeit und Muße habe über das Ziel welches die Anstalt im Allgemeinen sich stecke, hinauszugehen müsse dieses für sich allein tun und könne sich dabei privatim des Rathes der Lehrer bedienen. 5.) Was die praktischen Uebungen besonders betrift, so kann es wenn die Seminaristen, wie künftig durchaus der Fall sein muß, bei 15–23 Wie … werden.] mit Einfügungszeichen am unteren Rand 33–38 Eine … bedienen.] mit Einfügungszeichen am unteren Rand 39 die praktischen] korr. aus diese

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ihrem Eintritt dasjenige schon wissen, was sie dereinst die Jugend lehren sollen, von gar keinem Nuzen, sondern nur schädlich und verwirrend sein, wenn sie selbst als Schüler sich anstellen und einer von ihnen als Lehrer sich an ihnen übt sondern sie müssen sich nur an wirklichen Schülern üben wo sie wirkliche Fortschritte sehen und auch mit wirklichen Hindernissen zu kämpfen haben. 6.) Der hiermit genau zusammenhängende und für das Institut höchst wichtige Begriff der Normalschule ist in dem Entwurf gar nicht entwickelt. Es scheint aber die Ansicht zum Grunde zu liegen als solle die Normalschule keine selbstständige Lehranstalt sein in welcher Kinder von Anfang an bis zu einem gewissen Punkt nach Einer Methode gebildet und entwikelt würden. Aber nur in einer solchen können die Präparanden den sicheren Gang des Lehr- und Erziehungsgeschäftes kennen lernen und Vertrauen zu den Vorschriften fassen lernen die man ihnen giebt. Wenn dagegen zu einer Reihe von Versuchen Schüler aus anderen Schulen herausgenommen werden in denen ein anderes Verfahren herrscht so kann nie ein reines Resulthat herauskommen. Es wird daher auch weit leichter für die Seminaristen sein in der Normalschule Unterrichtsstunden zu übernehmen, wovon in dem Lehrplan gar nichts vorkommt als in andern Schulen. Hieraus würde sich für die praktischen Uebungen folgende natürliche Stufenfolge ergeben Auscultiren in der Normalschule; In einen von dem Lehrer bereits angefangenen Unterricht eingreifen; In einer bestimmten Stufe den Unterricht von vorne an ertheilen; Auscul|tiren in anderen Schulen. In demselben einzelnen Lehrobjecte auf eine Zeitlang übernehmen; In einzelnen Vertretungsstunden andern Lehrern assistiren. 7.) Wiederholungen und Prüfungen sind auch zu sehr gehäuft, und ein öffentliches jährliches Examen scheint ohne Nuzen zu sein da die Seminaristen von ihren Fortschritten in der Lehrkunst nur durch Lectionen einen Beweis ablegen können, auf diese Art aber alle in ein paar Tagen nicht geprüft werden können. Die wahre Kenntniß von dem Zustand und den Fortschritten des Instituts muß man durch den pädagogischen Cursus bekommen wenn derselbe zwekmäßig angelegt wird. 8.) Die Seminaristen können nicht füglich mit den Schülern der Ortsschule den Singechor constituiren da sie musikalischen Unterricht und Uebungen mit ihnen nicht gemein haben können. Daß in einzelnen Fällen die Geübteren an öffentlichen Kirchenmusiken theilnehmen, ist etwas anderes. Uebrigens aber sei die Musik ein viel zu wesentlicher Theil des Unterrichts als daß man sich in Absicht seiner auf Männer in andern Ämtern verlassen dürfe; sondern es müsse durchaus

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darauf gesehen werden daß wenigstens einer von den ordentlichen Lehrern des Seminars im Stande sei den musikalischen Unterricht zu ertheilen. 9.) Daß nach den verschiedenen Abstufungen der Tüchtigkeit die Wahlfähigkeit nur für bestimmte Termine gelten solle sei löblich. Nur müßten dann in der jährlichen Liste jedesmal alle welche für das nächste Jahr noch wahlfähig sind aufgeführt werden um nicht gerade die besseren in Vergessenheit zu bringen. Nach erfolgter Anstellung aber bleibt aller gesetzliche Zusammenhang des Zöglings mit der Anstalt aufgehoben. Diese Bemerkungen uebergiebt das Departement vorläufig der Deputation zur genausten Erwägung um danach den ganzen Plan noch weiter auszuarbeiten. Die Instruction für den Inspector welche da auf ihr die Einheit das Ganzen beruht, von der größten Wichtigkeit ist, erwartet das Departement in der Folge besonders. Dagegen kann die Tagesordnung in einem allgemeinen Entwurf nicht genau vorgeschrieben werden, zumal | sie schwerlich in allen Jahreszeiten gleich sein kann. Sie fließt mit dem Lectionsplan zusammen und wird mit diesem halbjährich oder jährich von dem Inspector der Geistlichen und Schuldeputation zur Genehmigung vorgelegt. Dasselbe gilt von der Anzahl der Sodalitien mit denen man sich danach richten muß, ob sich mehr oder weniger zur Aufsicht tüchtige Subjecte finden. Was den Etat betreffe so könne über denselben noch nicht definitiv entschieden werden. Mit dem Contubernium werde man sich nach den vorhandenen Fonds richten müssen. Auch der für das Seminar aber erleide noch manche Veränderungen. Der Titel für Hülfslehrer müsse ganz wegfallen, der ad extraordinaria und für den Lehrapparat müsste, da physikalische Instrumente überflüssig sind verringert werden können und vielleicht noch die Gehalte für die Lehrer wenn ihnen allen freie Wohnungen angewiesen werden können; wogegen das Gehalt für den Inspector zu gering angesezt zu sein scheine. Des Herren Staatskanzlers Excellenz hatten übrigens bereits im November pr. den Ihnen gemachten Antrag dahin beantwortet, daß ob auf die Gebäude 1 wenigstens] mit Einfügungszeichen über der Zeile 6 jedesmal] mit Einfügungszeichen über der Zeile 10 aufgehoben.] Es folgen einige gestrichene Zeilen. 26 Titel] über )Artikel* 21 Sodalitien = Brüderschaften (Heyse (1870)). 24 Contubernium = Stubengemeinschaft (Heyse (1870)). 26–27 Natorp veranschlagte für die Bezahlung der Hilfslehrer insgesamt 100 Reichstaler. 27 Für Mittel „ad extraordinaria“ berechnete Natorp 300 Reichstaler. 30–31 Natorp schlägt 100 Reichstaler für das Gehalt des „Inspectors“vor. 31–3 Dieser Brief von Hardenbergs vom 19. November 1812 befindet sich in derselben Akte GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Sekt. 15 bb, Nr. 1, Bd. 1.

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und die Fonds des Domkapitels zu Havelberg für das Seminarium zu rechen sein werde nicht eher als nach völlig beendigter Regulierung der Entschädigungen bestimmt werden könne.

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10. Juli 1814 Friedrich Schleiermacher, Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht (sekundäre Überlieferung) und Johann Wilhelm Süvern, Randbemerkungen, (sekundäre Überlieferung) Ministerium des Inneren, Sektion für den öffentlichen Unterricht Kade (1925), S. 184–204 Nach Kade: Weniger/Schulze (1957), Bd. 1, S. 147–151; Schweim (1966), S. 102–122; Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1, S. 185–201 Dieses Votum muss nach dem gedruckten Text von Franz Kade (1925) wiedergegeben werden, da das Manuskript Schleiermachers nicht auffindbar ist; die Akte, in der es sich (ebenso wie Süverns Text) befand, ging nach Auskunft des GStA PK wahrscheinlich im Zweiten Weltkrieg verloren (vgl. Historische Einführung, oben S. XLVII–XLVIII)

Schleiermachers Votum vom 10. Juli 1814 zu Süverns Gesamtinstruktion vom 7. Februar 18131 Dem Auftrage, über die vorzulegenden Entwürfe schriftlich zu votieren, glaube ich am zweckmäßigsten zu genügen, wenn ich vor Mitteilung meiner Bemerkungen über das Einzelne mich zuerst über die allgemeinen Abweichungen meiner Ansicht von der hier durchgeführten erkläre. Diese betreffen den Wert der alten Sprachen und das Verhältnis der Erziehungsanstalten niederer Ordnung zu den unteren Abteilungen der Anstalten höherer Ordnung. Ich bin gänzlich damit einverstanden, daß die alten Sprachen nicht nur durch die Kenntnis und den Genuß der in ihnen verfaßten 1 Alle Anmerkungen in diesem Votum stammen von Kade. Fußnote Kade, S. 184: „Orthographie und Interpunktion habe ich geändert. Für jedes unleserliche Wort ist ein Gedankenstrich mit Fragezeichen gesetzt. Was nicht mit Sicherheit zu entziffern war ist mit einer eckigen Klammer eingeschlossen. Süverns Unterstreichungen sind durch Sperrdruck hervorgehoben. Die eingeklammerten Zahlen kennzeichnen Süverns Randbemerkungen. Diese sind im Anschluß an das Votum abgedruckt.“

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Werke Bildungsmittel sind, sondern auch als eigentümliche und in einem vorzüglichen Grade vollendete Formen des Vernunftsausdrucks. Allein wenngleich beide Wertungsarten dem Maße nach verschieden sind, so lassen sie sich doch in der Wirklichkeit nicht voneinander trennen. Denn auch als Formen betrachtet können die alten Sprachen nur demjenigen lebendig sein und bleiben, der sich durch fortgesetzten Umgang mit den Werken der klassischen Schriftsteller die Geläufigkeit erhält, sie zu gebrauchen und sie sich immer gegenwärtig zu erhalten (1.). Sie können also auch ihre bildende Kraft nur an demjenigen beweisen, der zu diesem fortgesetzten Umgang fähig wird, welches nur das Resultat eines vollendeten Gymnasialkurses sein kann. Ich will mich nicht auf die Erfahrung berufen, wie bald diejenigen, welche aus den mittleren Klassen unserer Gymnasien oder aus unseren höheren Bürgerschulen zu anderen Geschäften übergehen, allen Umgang mit dem Altertum aufgeben, wie dieser Teil ihres Unter|richts ihnen allmählich ganz abstirbt, und was davon wirklich zurückbleibt nur auf einer solchen Kenntnis von den Sitten, Begebenheiten und Personen des Altertums beruht, wie sie auch durch Gebrauch der Übersetzungen und durch einen zweckmäßigen Geschichtsunterricht hätten erwerben können. Denn man könnte sagen, dies rühre nur her von dem bisherigen mangelhaften Zustand unserer Schulen. Sondern ich behaupte, wenn auch in den unteren und mittleren Klassen des Gymnasiums alles erreicht wird, was der Entwurf § 14 für die beiden unteren Stufen vorschreibt, und wenn sich unsere niederen und höheren Bürgerschulen diesem Ziel auch so sehr nähern, als es möglich sein wird, nachdem diesen Gegenständen ein beträchtlicher Teil der Zeit (§ 27) entzogen ist, dennoch nur der derselbe Erfolg eintreten muß, weil noch keine Leichtigkeit erworben ist, sich mit den Werken der Alten allein und ohne Unterstützung zu beschäftigen, und auch keine so große Lust daran, daß sie den nachteiligen Einwirkungen eines immer weiter von den2 diesen Gegenständen abführenden Lebens widerstehen könnte. Der Einfluß dieses Bildungsmittels verringert sich also, vom Austritt aus der Schule an zu rechen, täglich, und was dadurch wirklich im Gemüt bewirkt war, geht eben deshalb allmählich verloren. Was davon ohnstreitig wirklich zurückbleibt, ist nur dieses (2.), daß diejenigen, die eine Zeitlang mit fremden Sprachen verkehrt haben, niemals so in ihrer Muttersprache gefangen sein können, daß ihnen diese als der einzig mögliche und also in allen seinen Teilen notwendige Ausdruck der Vernunft erschiene, und darin liegt allerdings Befreiung von einer höchst bedeutenden Beschränktheit. Allein dieses Ziel ist auf einem anderen Wege ohne den unverhältnismäßigen 2

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Zeit- und Kraftaufwand eines so weit durchgeführten Unterrichts zu erreichen, wenn nämlich dem Unterricht in der Muttersprache eine zweckmäßige komparative Grammatik (3.) einverleibt und auf diese Art das Bewußtsein fremder Sprachsysteme, wenigstens ihrer großen charakteristischen Züge, mit dem Bewußtsein des eigenen verschmolzen wird. Ich würde also für alle Schulen, die nicht Gymnasien sind, die alten Sprachen aus dem Kreise der notw endig en Unt errichtsg e g e n s t ä n d e au s s c h l i e ß e n , u n d die da durch g ew onnene Ze i t t e i l s z u r E r w e i t e r u n g d e s Unterricht in der Mut ters p r a c h e an w e n d e n , t e i l s d az u , da ß der Ma thema tik- und P h y s i k u m s o e h e r i h r vo l l e s R e c ht w iderfa hren könne (4.). Dagegen würde ich weit entfernt sein, zu sagen, daß alle, welche in die letzte Bildungsstufe des Gymnasiums, S ekunda und Prima , w i r k l i c h e i n t r e t e n , al s s o l c h e , die sich dem g elehrten S t a n d e b e s t i m m e n u n d al s o z u r Univ ersit ä t | überg ehen, s o l l e n a n ge s e h e n w e r d e n (5.) (siehe § )3. Die Kenntnis der alten Sprachen in einem solchen Umfange, in welchem allein sie wahre, durchgreifende Bildungsmittel sind, gehört nach meiner Überzeugung für alle diejenigen wesentlich, welche in einem gewissen Sinne über der Nationalität stehen, also die gesamte Bildung des Volkes in seinem Zusammensein mit andern und in seiner Abhängigkeit von früheren Zeitaltern auffassen und verstehen sollen. Dies sollen aber alle diejenigen, welche leitend in die öffentlichen Angelegenheiten eingreifen. Insofern nun dieses nur die höheren Staatsbeamten sind, und für diese, wenn sie sich auch nicht auf den höheren wissenschaftlichen Standpunkt wirklich erheben, den die Universität eigentlich ausbilden soll, dennoch der Durchgang durch die Universität eine notwendige Form bleibt, so ist jener Satz vollkommen richtig. Bedenkt man aber, daß auch jetzt schon einzelne Personen aus den höheren Volksklassen auch außerhalb des Staatsdienstes in geselligen Verhältnissen oder durch die öffentliche Meinung einen bedeutenden Einfluß ausüben, und daß dies vielleicht künftig in der bestimmten Form einer Repräsentation geschehen kann: so wird es höchst wünschenswert, daß recht viele, die auch nicht, was man nennt, studieren wollen, dennoch unsern Gymnasialkursus in seiner ganzen Strenge durchmachen möchten. Ja man sollte dieses, soviel als möglich, allen wohlhabenden Eltern des Mittelstandes zu einem Ehrenpunkt machen, und in der Tat, wie kann sich die Liberalität, die die erste schöne Folge des Wohlstandes sein soll, besser und an einem wichtigeren Gegenstande äußern, als dadurch, daß nicht geeilt wird, die Jugend in den wirklichen Erwerb einzuspannen. Nur auf diesem Wege können wir uns jener allgemei3

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nen Verbreitung intellektueller Kultur nähern, durch welche sich England auszeichnet, und auf welcher dort sowohl die Würde des öffentlichen Lebens, als der kräftige Aufschwung der höheren Gewerbe beruht. Wenn unsere wohlhabenden Kaufleute und Fabrikanten ihren Söhnen ohne Rücksicht auf ihren künftigen Beruf eine vollkommene Schulbildung geben ließen; wenn man es in allen Ständen ehrenvoller fände, diese gründlich zu erwerben, als schlecht vorbereitet ein paar Jahre auf der Universität zuzubringen, teils des Scheines wegen, teils weil dort nebenbei leider noch allerlei Sachen getrieben werden, die eigentlich nur auf Spezialschulen gehörten: wieviel weiter würden wir in jeder Hinsicht sein! Aber jene dürftige Kenntnis des Lateinischen, mit der aus den Mittelklassen der Gymnasien und aus den Bürgerschulen mühsam der mittlere Bürgerstand und die subalterne Klasse getränkt werden, ohne daß sie dabei zu irgend etwas besserem gedeihen können, scheint mir nur eine Verschwendung, von der ich wünschte, daß wir sie nicht länger fortsetzten. | Ich fürchte zwar nicht, daß diese meine Meinung verwechselt werden möchte mit der Denkungsart, welche die alten Sprachen nur den eigentlichen Gelehrten vorbehalten und sonst überall die sogenannten Kenntnisse an die Stelle an die Stelle derselben setzen will, und ich habe es für meine Pflicht gehalten, sie bei dieser Gelegenheit auszusprechen. Demohngeachtet halte ich es nicht für möglich, die alten Sprachen aus unseren Stadtschulen ganz zu verbannen. Der natürliche Parallelismus, welcher in allen übrigen Gegenständen des Unterrichts stattfindet zwischen der allgemeinen Stadtschule und den unteren der höheren Bürgerschule und den mittleren Klassen der Gymnasien, wird es armen Knaben, die künftig ein Gymnasium besuchen sollen, wünschenswert machen, die ersten Stufen auf jenen Anstalten zu durchgehen, und es wäre hart, wenn man dieses durch jegliches Entfernen der alten Sprachen unmöglich machte. Allein dies sind dann Nebenzwecke, um derentwillen der eigentliche Kursus jener Anstalten in keinem Stücke dürfte beschränkt werden; sondern die lateinischen und griechischen Stunden in den allgemeinen Stadt- und höheren Bürgerschulen müßten außerhalb der eigentlichen Schulstunden verlegt werden. Ich würde mich auch nicht so ausdrücken, daß auf der allgemeinen Stadtschule vom Lateinischen und auf der höheren vom Griechischen Dispensation stattfinde; sondern so: Lateinisch und Griechisch gehören zwar nicht in jene Schulen (6.), diese sollen aber dennoch überall so eingerichtet werden, daß es außerhalb der Schulstunden für künftige Gymnasiasten entsprechend den unteren und mittleren Klassen der Gymnasien könne gelehrt werden (7.). Auch

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würde ich kein Bedenken tragen, ein erhöhtes Schulgeld dafür anzusetzen. Dies führt zu der zweiten allgemeinen Frage: laufen denn in der Tat jene Anstalten niederer Ordnung mit den Abteilungen des Gymnasiums so parallel (8.), daß man sagen kann, das Gymnasium schließe die höhere Bürger- und allgemeine Stadtschule in sich, und diese letzteren stellen einzelne Klassen des Gymnasiums dar, und es sei daher einerlei, ob einer, der nur die Bildung einer von jenen beiden Anstalten erwerben wolle, sie auf diesen selbst, oder auf den entsprechenden Klassen eines Gymnasiums erwerbe, und ob einer, der den Gymnasialkursus vollenden will, den Unterricht auf demselben oder auf einer von jenen Anstalten anfange? Ich glaube nicht, daß man dieses behaupten kann, und zwar um so weniger, wenn man auch auf einen Einfluß der Schule auf die Sittlichkeit und den Charakter rechnet. Zuerst sind die Z e i t ve r h äl t n i s s e durchaus anders. Man nimmt an (siehe § 14), daß der novitius viel früher die unterste Klasse des Gymnasiums zu besuchen anfängt, als eine ländliche Elementarschule ihre Zöglinge entläßt. Die allgemeine Stadtschule verrichtet, wenn man auf das | Ziel des Unterrichts sieht, dasselbe in einer lä ng eren Zeit, als der untersten Abteilung des Gymnasiums dazu eingeräumt werden kann; dasselbe gilt, jedoch in einem geringeren Grade, von der mittleren Abteilung des letzteren und von der höheren Bürgerschule. Der Zögling also, der nur die Bildung der allgemeinen Stadtschule erhalten soll, diese aber auf den unteren Klassen des Gymnasiums empfängt, wird früher, als zu wünschen ist und minder reif in sein Berufsleben übergehen. Der Gymnasiast hingegen, der die erste Bildungsstufe auf einer allgemeinen Stadtschule vollendet, wird hinter seinen Altersgenossen in Absicht auf den Unterricht auf eine ungünstige Art zurückbleiben. Wenn erstere Vermischung der äußeren Verhältnisse wegen nicht immer zu vermeiden ist, ohnerachtet unsere Gymnasien sehr darunter leiden: so wäre wenigstens zu wünschen, daß man auf indirekte Weise die erste zu verhindern und möglichst dahin zu wirken suchte, daß nicht die unteren Klassen der G y mna sien v on solchen ü b e r f ü l l t w ü r d e n , d i e gl e i c h von ihnen in die G ew erbe ü b e r g e h e n ; s o n d e r n d aß f ü r d i e s e a uch in den S t ä dten, w o G y m n a s i e n s i n d , m e h r ab ge s o n dert e niedere und höhere B ü r g e r s c h u l e n b e s t än d e n (9.) – Aber auch die F orm des Unterrichts darf doch nicht dieselbe sein. In der Elementarschule, über die sich dem Geiste nach die niedere Stadtschule nur wenig erhebt, ist alles Tradition, Empirie; Fertigkeiten des Sinnes und der Ausübung sollen ausgebildet werden; nur die lückenlos fortschreitende Tätigkeit, durch welche dieses am zweckmäßigsten geschieht, gibt einen Schein von wissenschaftlicher Form. In der Stadtschule, in ihrer größeren

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Vollkommenheit betrachtet, nähert sich alles mehr dem Charakter der Kunst, in dem alles auf Beobachtung, ja gewissermaßen Erfindung und auf Darstellung ausgeht. Indem hierzu ein mannigfaltigerer Schematismus gehört und umfassendere Kombinationen, so tritt auch die wissenschaftliche Form gewissermaßen ein, aber nur als Mittel. Auf dem Gymnasium hingegen, ohnerachtet auch dieses sich des Philosophischen und Spekulativen, welches die Prinzipien der wissenschaftlichen Form in sich begreift, ganz enthält, ist doch die wissenschaftliche Form selbst gegeben, nicht nur ihr Schein, und sie wird als Zweck ausgebildet, nicht nur als Mittel. Nun tritt zwar dieser unterscheidende Charakter erst auf der höchsten Stufe bestimmt heraus, und die mittlere entspricht allerdings in ihrem Wesen auch hierin der höheren Bürgerschule, sowie die untere der allgemeinen Stadtschule; aber vorbereiten kann und soll doch jede höhere Anstalt die ihr eigentümliche Entwicklung auch schon durch ihre niederen Klassen auf mancherlei Weise, und deshalb sind auch in der Tat und leisten die unteren und mittleren Klassen eines Gymnasiums noch etwas anderes als eine allgemeine oder höhere Bürgerschule. Wodurch | dies eigentlich geschieht, ist freilich schwer zu sagen, aber zu leugnen ist die Sache selbst nicht. Dies ist ein zweiter Grund, warum auf unseren Gymnasien die Zöglinge, die aus niederen Schulen kommen, fast immer zurückbleiben. Meiner Meinung nach wird also dasjenige Gymnasium das vollkommenste sein, welches auch die unteren der allgemeinen Stadtschule entsprechenden Klassen in sich enthält, und es würde ratsam sein, in dieser Instruktion den Behörden einen Wink zu geben, daß sie n a c h K r äf t e n d ar au f s o l l t e n zu w irken suchen, da ß d i e f ü r d i e h ö h e r e n St u d i e n b e s t i m mten a uch so zeit ig a ls m ö g l i c h d i e G ym n as i e n s e l b s t f r e q u ent ierten (10.). Ich gehe nun zu den einzelnen Bemerkungen über, welche sich mir dargeboten. Wenn in der allgemeinen Instruktion § 2 Nr. 6 gesagt wird, das Gymnasium solle in der Regel nicht auch die Elementarschule mit sich verbinden, so steht dies in Widerspruch mit § 20, wo das Zählen oder die vier Spezies als Pensum der unteren Klasse aufgeführt wird, welches auch die obere Stufe der Zahlenlehre in der Elementarschule bildet. Gänzlich ausschließen sollte das Gymnasium von den Aufgaben der Elementarschule n u r d i e L e s e f e r t i gkeit sow ohl der Buchs t a b e n a l s Zi f f e r n (11.) Alles andere wird in einem vollständigen Gymnasium auch vorkommen, wenngleich unter veränderter Gestalt. Es wird z. B. nicht eine Formlehre haben, aber es braucht sie auch nicht vorauszusetzen. Ebenda Nr. 7 wünschte ich gleich noch deutlicher als allgemeinen Grundsatz ausgesprochen zu sehen, daß in keiner öffentlichen Schule

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irgendeine Exemtion von einzelnen Unterrichtsgegenständen stattfinden dürfe. Es steht erst unter § 9, aber dort gleich in Verbindung mit Ausnahmen, weshalb er nicht denselben Eindruck von Strenge und Allgemeinheit machen kann (12.). § 11, Nr. 1. Wenn in den mittleren Abteilungen eines Gymnasiums noch kalligraphische Übungen nötig sind, so kann dies auch eine Folge früherer Vernachlässigung sein. Daher sollten auf dieser Stufe die Schreibstunden eigentlich nicht nur außerhalb der gewöhnlichen Schulstunden fallen, sondern auch besonders bezahlt werden (13.). Ebenda Nr. 2. Das über das Zeichnen Gesagte rührt zwar von einem angesehenen Meister der Kunst her; ich kann mich aber doch nicht enthalten, einige Zweifel dagegen aufzustellen. Was ich von dieser Kunst am meisten verbreitet wünschte, ist die F ertig keit, G eg e n s t ä n d e al l e r A r t n ac h d e r N a tur a ufzunehmen (14.). Wenn aber hierin einige Übung erlangt werden soll, so darf die Pers p e k t i v e n i c h t e r s t au f d e r l e t z t en S t uf e vorgetragen werden (15.). Das hier vorgesteckte | Ziel, Erfindung der Gruppierungen, scheint mir außerhalb der Grenzen des öffentlichen Unterrichts zu liegen. Meiner Meinung nach würde in die allgemeine Instruktion, wie es auch ursprünglich der Fall war, keine bestimmte Stufenfolge dieses Unterrichts aufzunehmen sein und überhaupt zu bemerken, daß er minder wesentlich ist und nur da stattfinden soll, wo man ihn gut und gründlich haben kann (16.). Denn was ein mittelmäßiger Zeichenmeister leistet, möchte den Aufwand der kostbaren Zeit nicht lohnen. § 16, Nr. 4. Wenn, was ich sehr billige, in Quarta Ovids Metamorphosen nach einer Auswahl und Proben aus dem betreffenden Schrifttum sollen gelesen werden, so setzt dieses eine Chrestomathie voraus; auch war vorher davon die Rede, daß eine solche noch in Quinta und Quarta soll gestattet sein, nur bei Gelegenheit der Prosaiker. Ich wünschte, daß bestimmter in der Inst rukt ion v on einer p r o s a i s c h e n u n d vo n e i n e r p o e t ischen la t einischen Chres t o m a t h i e für diese Klassen die Rede wäre und die Regierungen aufgefordert würden, von den Direktoren der unter sich habenden Gymnasien Vorschläge dazu zu erfordern, die dann bei den wissenschaftlichen Deputationen näher könnten erwogen werden. Ich wünschte s o gar, d aß d e r G e b r au c h der Chrest oma thien neb e n d e n A u t o r e n d u r c h al l e K l assen durchg ing e (17.), weil nur so die Jugend ohne zu große Kosten Proben von den verschiedenen Arten des Stils und den verschiedenen Zeitaltern der Sprache erhalten kann. Wenn man lieset, was sub. 6 über den Unterricht in Prima gesagt ist: so scheint dies auch eigentlich dem Geist des Entwurfs nicht zuwider. Denn warum soll z. E. um des Wenigen willen,

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was aus Tacitus oder Sallust sowie aus Livius etwa gelesen werden kann, der deutsche Primaner sich diese Autoren ganz anschaffen. Eine wohlangelegte Chrestomathie würde aber Gelegenheit zu noch größerer Vielseitigkeit geben; und wenngleich der Schulunterricht nicht bestimmt sein kann, mit dem ganzen Umfang der Literatur bekannt zu machen, so müßte er doch so weit gehen, daß schon ein Bedürfnis nach demjenigen entstände, was die Universität zunächst bietet, nach einer Geschichte der Sprache und Literatur. In einer solchen Chrestomathie könnten auch Proben aus etwas späteren Schriftstellern gegeben werden, so daß der Verfall der Sprache angedeutet würde. Dasselbe gilt vom Griechischen. Nach dem Vokabellernen in den unteren Klassen brechen die Gedächtnisübungen plötzlich ab. Nun wird zwar das objektive oder Realgedächtnis durch den ganzen Gang des Unterrichts von selbst geübt, aber ein ganz anderes ist das Gedächtnis für das individuelle, welches besonderer Übungen zu bedürfen scheint. Es ist zu bemerken, daß im ganzen jetzt die Anzahl derer weit geringer ist, welche große Stellen aus alten Schriftstellern und | Dichtern treu im Gedächtnis bewahren, als sonst. Ich halte es für eine s e h r z u e m pf ehlende Übung , da s a m An f a n g e j e d e r d e r L e k t ü r e ge w i d m eten S tunde a bw echs e l n d e i n e r e i n gr ö ß e r e s St ü c k au s e i n em D icht er oder Pros a i k e r r e z i t i e r e (18.). Man kann dazu leicht Schriftsteller wählen, die sonst in der Schule nicht gelesen werden. Übungen in lateinischer Poesie würde ich zwar gestatten, aber nicht als ordnungsmäßige Schularbeit. In derselben Art müßte aber auch wohl der griechischen Poesie erwähnt werden (19.). § 18. Der Unterricht im Hebräischen kommt dem Gymnasium nicht an und für sich zu, sondern es ist insofern S pezia lschule f ür T h e o l o g e n . Diesem gemäß würde meiner Meinung na ch der Unt e r r i c h t a b e r s o w o h l au ß e r d e n e i ge ntlichen S chulst unden zu l e g e n s e i n (20.), wie in einer höheren Bürgerschule der Unterricht im Lateinischen und Griechischen4. Die Sache selbst betreffend muß man wohl vorzüglich fragen, ob durch diese Einrichtung des Kursus dem Universitätslehrer gedient sein kann. Durch das Lesen einiger h i s t o r ischer A bschnitte und P s a l m e n ist ihm für die Interpretation selbst wenig geholfen (21.), er muß doch die Lektüre des Alten Testamentes von vorne und aus dem Rohen anfangen. Der Nutzen dieser Lesung kann nur sein, daß die Schüler eine Anschauung von dem Verhältnis der Poesie zur Prosa bekommen und von dem Verhältnis der Analogie zur Anomalie in der 4

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Sprache. Der Universitätslehrer wird also ohnstreitig wünschen, alles E i n ü b e n s t r i vi al e r G r am m at i k ü b erhoben zu sein (22.), und wird also wünschen, daß die künftigen Theologen auch die Kenntnis der chaldäischen, armenischen Formen schon mitbringen. Ich möchte hinzusetzen, auch die L e s e f e r t i gk e i t des A ra bischen, da diese s c h o n b e i m vo l l s t än d i ge n G e b r auch hebrä ischer Wört erb ü c h e r u n e n t b e h r l i c h i s t (23.). Diese Wünsche möchten um so leichter zu realisieren sein, da das Ziel, welches im Entwurf gesteckt ist, sehr leicht in einem Jahre erreicht werden kann. Wenn übrigens der Unterricht auch in zwei Klassen zerfällt, so sollten doch n u r P r i m an e r an d e mselben t eilnehmen (24.). Denn wenn man auch annimmt, daß nicht jeder die drei Jahre in Prima erfüllt, so reichen schon zwei vollkommen hin. Und eher als zwei oder drei Jahre vor dem Abgang zur Universität sollte noch gar kein Entschluß über einen künftigen Beruf, am wenigsten über diesen, gefaßt und als gültig angenommen werden (25.). | § 19. In dem, was hier über die Muttersprache im allgemeinen gesagt ist, liegt indirekt die Anerkennung des Satzes: daß die alten Sprachen auch als Sprachen nur für diejenigen sind, welche über der Nationalität stehen sollen. Ad 1. Bei der Sammlung großer Massen von Wörtern unter verschiedenen Gesichtspunkten ist wohl zu beachten, daß nicht zuviel von der kaum ausgetriebenen Technologie sich unter dieser Rubrik wieder einschleiche (26.). Ad. 3. Lesen von Übersetzungen aus dem Griechischen würde ich in dieser Klasse noch nicht anraten, am wenigsten auf dem G y mna s i u m (27.), wo es nicht darauf ankommen kann, hierdurch Nebenzwecke zu erreichen. Wenn erst in dieser Klasse der Unterschied von Prosa und Poesie und von den verschiedenen Arten des Stils zum Bewußtsein soll gebracht werden, so scheint es ratsamer, die Schüler hier noch mit einem so eigentümlichen Sprachgebiet wie das unserer Übersetzungen zu verschonen. Am angemessensten scheint dieser Klasse die ältere Klassizität des 18. Jahrhunderts: Gellert, Haller, Kleist und –?, deren Gehalt so beschaffen ist, daß gründliche Interpretation dabei getrieben werden kann (28.). Sollte ja hier schon ein fremderes Sprachgebiet eintreten; so würde ich lieber zu den leichteren Stücken unserer älteren lyrischen und romantischen Poesie raten. – Zu Kompositionen unter der F o r m vo n Briefen w ürde ich nicht r a t e n (29.). Meiner Erfahrung nach sind diese das, was auf allen Schulen am allgemeinsten mißlingt. Außer na chbildenden A ufsä tz e n würde ich nur R e l at i o n e n über ein G esehenes oder Gehörtes fordern.

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Ad 4. Bei der Lektüre scheint mir hier das Hauptprinzip zu sein, daß die Interpretation s c h w i e r i ge r s e i n muß a ls die g leichzeit i g e i n d e n a l t e n Sp r ac h e n , um diesen vorzuarbeiten. Auf der S ta d t - u n d h ö h e r e n B ü r ge r s c h u l e muß g ründliche Interpretation deutscher Schriften in desto reicherem Maße getrieben werden, als die alten Sprachen nicht zum allgemeinen Unterrichtssystem gehören sollen (30.). Ad 5. Das Pensum, welches hier für Sekunda gedacht ist, würde ich gern noch großenteils, besonders was die Interpretation betrifft, auch für das Gymnasium noch in die zweite Bildungsstufe hineinziehen (31.), um in Prima Raum zu gewinnen für die Kenntnis der deutschen Dialekte und der früheren Perioden der deutschen Sprache, wozu auch eine z w e c k m äß i ge C h r e s t oma thie das Beste wäre. Denn die Nibelungen z. B. in ihrer eigentümlichen Sprache ganz zu lesen, würde doch zuviel Zeit einnehmen. § 21, ad 1. Das Pensum der untersten Klasse ist ebenfalls schon in der Elementarschule enthalten, die also auch in dieser Hinsicht nicht ganz vorausgesetzt wird. Ich billige dieses, da viele | Kinder auf das Gymnasium aus einem bloß häuslichen Unterricht kommen, in dem ihnen nichts von Naturgeschichte ist geboten worden. – Ohnerachtet des Propädeutischen sollten doch auch hier schon die Gegenstände in einer solchen Ordnung zur Anschauung gebracht werden, daß sie die aufsteigende Entwicklung der organischen Formen mit darstellte (32.). Ad 4. Wenn dies Pensum gleichzeitig mit den systematischen Naturbeschreibung könnte vorgetragen werden, so schlösse es sich auch an den geographischen Unterricht besser an, sowie das Pensum für Sekunda, sub. 5, sich am besten unmittelbar an die vollendete Betrachtung der organischen Körper anschließt (33.). Ich würde also 3 und 4 gleichzeitig durch die beiden Klassen Quarta und Tertia fortgehen lassen. Dem Pensum für Sekunda ist wohl notwenig auch die Lehre von der W är m e hinzuzufügen. § 22, ad 1. Auch hier ist auf die Voraussetzung der Elementarschule in ihrem ganzen Umfange nicht Rücksicht genommen worden (34.). Ad 2. Den Z u s at z am R an d e würde ich noch stärker ausdrükken. Es ist nicht nur schädlich, wenn die reine faktische Auffassung durch m o r a l i s i e r e n d e R äs o n n e m e n t s gestört wird, sondern es entstehen auch nur moralische Urteile, die in dem Munde der Zöglinge ebenso anmaßend als lächerlich klingen (35.). § 23. In dem Eingange dieses Paragraphen müßte billig erwähnt werden, daß, und bestimmt in welchem Sinne, einige Gymnasien protestantisch und andere katholisch sind, und daß in eben diesem Sinne

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auf den Unterschied der Protestanten unter sich keine Rücksicht genommen werde (36.). Zu wünschen wäre, daß der Unterricht auf der untersten Stufe so eingerichtet würde, daß es keiner Dispensation der protestantischen Kinder auf katholischen Gymnasien, wenigstens keiner der katholischen auf protestantischen Gymnasien bedürfte (37.). Dasselbe muß von den Erbauungen allgemein gelten (38.). Die Kenntnis einer Auswahl der eigentlich kirchlichen Lieder ist schon auf der untersten Bildungsstufe zumal für die allgemeine Stadtschule zu wünschen (39.). NB. Was über den Stufengang des [technischen] Unterrichts gesagt wird, muß wohl einen eigenen § bilden, um den Übelstand zu vermeiden, daß es äußerlich als ein Zusatz zum Religionsunterricht erscheint. § 24. Einer weiteren Zerlegung in Klassen, die nur durch die Frequenz veranlaßt werden kann, wünschte ich Grenzen gesetzt und die Einteilung in parallele Kursus für diesen Fall bestimmter empfohlen (40.). Jene Maßregel hindert sehr bald, daß jede Klasse ihr festes Pensum habe, und das wirkt sehr nachteilig. § 25. Mir scheinen 7 Stunden täglichen Unterrichts – zu denen | man schon in den mittleren Klassen noch ein bis zwei Stunden zu Vorbereitungen und häuslichen Arbeiten, in den höheren, wo man soviel auf den Privatfleiß rechnet, noch mehr hinzufügen muß – zuviel zu sein. Rechnet man nun noch die Gesanglehre, den Unterricht in der Instrumentalmusik und in neueren Sprachen, den viele noch häuslich nehmen, hinzu: so erschrecke ich über die geistige Spannung, die wir der Jugend zumuten, und fürchte, daß wir, wenn auch durch die Mitwirkung der gymnastischen Übungen ein kräftiges, doch gewiß ein sich zeitig aufreibendes, kurzlebiges Geschlecht erziehen. Auch bleibt für das Leben der Schüler mit ihrer Familie weniger übrig als zu wünschen wäre. Für den größeren Teil der Schüler in der allgemeinen Stadt- und höheren Bürgerschule finde ich Erleichterung durch das Verbannen der alten Sprachen, wenn ich auch einen Teil dieser Zeit anderen Gegenständen zugelegt wünsche. Aber wie ist den Gymnasiasten zu helfen? Für diese kann ich nur auf die Fortschritte der Methode hoffen, welche instand setzen werde, in k ü r z erer Zeit mehr zu leisten, a l s b i s h e r ge s c h e h e n i s t . Nu r w ü nschte ich dieses in dem E n t w u r f s e h r b e s t i m m t au s ge d r ü ckt a ls ein Ziel, w ona ch a l l e Un t e r r i c h t s an s t al t e n s t r e b e n sollt en. Mir scheint auch in dieser Hinsicht in dem Entwurf ein bedeutender Unterschied (ich möchte es ein Mißverhältnis nennen) stattzufinden zwischen der Darstellung des mathematischen Kursus und allen übrigen. Bringe ich

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nämlich auch in Anschlag, daß in dem Entwurf der Mathematik mehr Zeit ausgemittelt ist, als sie bisher größtenteils einnahm: so erhebt sich doch auch verhältnismäßig das hier Geforderte weit mehr über das gewöhnlich nicht nur Geleistete, sondern auch Beabsichtigte, als bei den anderen Unterrichtsgegenständen. Ich halte jedoch das Geforderte für sehr möglich. Aber für ebenso möglich halte ich es auch, daß in den Sprachen das Geforderte mit einem bedeutend geringeren Zeitaufwand kann geleistet werden. Und dazu müßte in dem Entwurf auf das Dringendste aufgefordert werden. Das Schema ließe sich leicht auf 32 Stunden bringen durch folgende Änderungen. In Q uinta und S e x t a bringe ich Latein und Deutsch durch Verminderung der Lektürestunden auf 6, der Naturgeschichte und Geographie oder Geschichte entziehe ich jeder eine Stunde, dem Zeichnen und der Kalligraphie, denen beiden schon vorgearbeitet sein muß, jedem eine Stunde (41.). In Quarta und Tertia Latein auf 6 und Griechisch – wo ohnehin über die besondere lexikalische Stunde der Entwurf keine Auskunft gibt – auf 5, ebenso das Deutsche auf 5 Stunden (42.). In Sekunda und Prima durch Beschränkung der Lektüre Lateinisch auf 6 und Griechisch auf 7 Stunden, weil nämlich in dem ersten, länger getriebenen schon mehr auf Privatfleiß gerechnet | werden kann als in dem letzten (43.). Nach einer Reihe von Jahren lassen sich vielleicht noch 4 wöchentliche Stunden einziehen, ohne daß der Sache Schaden geschieht. § 26. Der Herr Tillich hat mit dem abwechselnden ma ssenw eis e n H e r a u s t r e t e n einzelner Lehrobjekte Versuche gemacht, die sehr guten Erfolg gehabt haben. Meiner Meinung nach müßte man dieser Methode dasselbe einräumen, was oben wegen Priorität des Griechischen gesagt worden. Vgl. Instr. § 32, 5 (44.). § 27. Mit Bezug auf die oben im allgemeinen ausgeführte abweichende Ansicht bemerke ich nur noch ad 1 und 2. Es ist immer eine Ungerechtigkeit darin, wenn deshalb, weil einige genötigt sind, noch etwas zu lernen, wovon die anderen dispensiert sind, sie deshalb in den gemeinschaftlichen Lehrobjekten auch weniger Unterricht und Hilfe genießen; hiergegen ist das Verlegen jener Objekte außer den gewöhnlichen Schulstunden das einzige Mittel (45.). Worin soll auch die Voraussetzung begründet sein, daß diejenigen, die nicht Latein oder Griechisch lernen, in irgendeinem Objekt einer Nachhilfe bedürftig sein werden, die jenen überflüssig wäre? Ad 5. Für ganz notwenig halte ich, daß der, welcher von der allgemeinen Stadtschule ins Leben übergeht, im Deutschen noch das Pensum von Quarta, und der von der höheren Bürgerschule abgehende das von Sekunda mitnehme und kann also in keine Zusammen-

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ziehung dieses Unterrichtes einstimmen (46.). Der Roheit und Dürftigkeit in der Existenz des niederen Mittelstandes und der Leerheit mancher höheren Klasse kann nicht gründlicher und wirksamer entgegen gearbeitet werden, als durch eine größere Teilnahme an dem Reichtum von Verstand und Schönheit, der in unserer Sprache niedergelegt ist und durch die größere Beweglichkeit des Gemütes, die vorzüglich durch einen schulmäßigen Gebrauch der Sprache bewirkt wird. Ad 6. Aus den oben angegebenen Gründen muß ich gesagt wünschen, daß es immer nur eine unvollkommene Form ist, wenn ein Gymnasium seine Quinta und Sexta nicht in sich selbst hat (47.) Schließlich: wenn das Latein auch aus dem allgemeinen Unterrichtssystem der höheren Bürgerschule wegfällt, so wird derselben eine Anweisung nötig zum Verhältnis und Gebrauch der auch im gewöhnlicheren Leben vorkommenden technischen Ausdrücke. Da aber dieses Elemente des Geschäftsstils sind, so kann diese Anweisung beiläufig in den deutschen Sprachstunden vorkommen (48.). Es steht indes zu hoffen, daß dies immer mehr aufhören wird, ein Bedürfnis zu sein. § 32, Nr. 4. Das zuletzt angeführte Gesetz wünschte ich auf allen Schulen, auch wenn sie einen durchgängigen Parallelismus haben, dennoch eingeführt (49.) | Nr. 6 Wenn nur auf das Pensum der Klassen streng gehalten wird, und der Direktor die Lehrer in gutem Vernehmen zu erhalten weiß: so sollte man wohl Schulen, die es haben können, in dem Gebrauch mehrerer Lehrer in derselben Klasse eines Faches nicht beengen. Teils ist eine solche Abwechslung wohltätig für die Schüler, teils hat wirklich mancher Lehrer weit mehr Fähigkeit die grammatischen Stunden und Stilübungen zu treiben, als die Interpretation und umgekehrt (50.). Nr. 7. Der Beweggrund, wie er hier ausgedrückt ist, könnte zu streiten scheinen mit der bei uns statthabenden Einrichtung, daß bei vollkommenen Kenntnissen einer doch als Unterlehrer bestätigt wird, den man als Oberlehrer nicht anerkennen will. Es bedarf aber auch wohl keines Beweggrundes weiter, als daß jeder Lehrer sich ganz dem Institut schuldig ist, an dem er arbeitet (51.) § 33, Nr. 8. Ein direktes Mittel könnte man wenigstens den Anstalten, welche Unterstützungen auf Universitäten erteilen, verschaffen, wenn man den Genuß ihrer Benefizien, wenn der Aspirant nicht das Zeugnis Nr. 1 erhält, an das volle Trienium in Prima bände (52.). § 34 ist zwar von der Beschäftigung der in den Ferien zu Hause bleibenden Schüler die Rede, nicht aber von allgemeinen Ferienarbeiten, welche au c h d i e ve r r e i s e n d e n einzuliefern ha ben (53.).

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§ 39, Nr. 2. Eigentliche Degradation verhindert immer einen Teil des Schulzwecks, die Wirkung fördernder Teilnahme am Unterricht, und sollte meines Erachtens gar nicht stattfinden (54.). Nur sollte ein Schüler einer höheren Klasse eine kurze Zeitlang wie einer a us ein e r n i e d e r e n b e h an d e l t w e r d e n d ü r f en (55.). Insofern verschiedene Klassen verschiedene Rechte und Freiheiten haben. Siehe § 42. Nr. 3. Es sollte wenigstens angedeutet werden, daß auf G y mna si e n m a n d a h i n arbeiten müsse, die Schläge abzuschaffen (56.). Ja es müßte den Eltern freistehen, sich die Schläge zu verbitten, nur müssen sie sich gefallen lassen, daß man ihnen dann die Kinder zurückschicke in Fällen, wo man es sonst nicht tut (57.). Von der allgemeinen Stadtschule gilt dies aber nicht. Der Hunger als eigentliche Strafe ist zwar zu verwerfen. Dies ist aber wohl nicht so streng zu nehmen, daß er auch nicht einmal –? einer anderen Strafe sein dürfe (58.). § 40. Mancherlei Vergehungen sind übergangen, deren meines Erachtens gerade um deswillen hätte Erwähnung geschehen müssen, weil sie so sehr verschieden behandelt werden; z. E. gemeinschaftliche Ve r g e h e n g e g e n L e h r e r d u r c h A u s t r ommeln und ebenso, gemeinschaftliche ge ge n No vi z e n (59.) | Entfernung der Relegation dürfen auf der allgemeinen Stadtschule weit weniger angewendet werden, weil der Unterricht nicht leicht auf andere Art zu beschaffen ist. Sie sind aber auch weniger nötig, weil man eine größere Stufenleiter von Strafen zu Gebote hat (60.) § 42. Der Schulkodex muß aber nach Beschaffenheit der Umstände von der Gesamtheit der Lehrer modifiziert werden können, wenn im ganzen oder in einzelnen Beziehungen ein anderer Ton in die Anstalt gekommen ist (61.). § 43, ad Nr. 7. Es liegt wohl nur am Ausdruck, daß man hier denken könnte, die Meinung sei, daß der Direktor auch Lehrer nach Willkür zu den Konferenzen nicht berufen dürfe (62.). A llerding s i s t e i n Un t e r s c h i e d z w i s c h e n o r d e n t lichen und Hilf slehr e r n z u m a c h e n ; aber eine Verfassung muß in dieser Hinsicht jede Schule haben, die auch der Direktor nicht willkürlich brechen darf. § 44, Nr. 5. Die besonders günstige Reisegelegenheit ist ein Vorwand, der sehr oft kann genommen werden, und öffentlich bekannt wünsche ich dieses Gesetz nicht (63.); der Rektor kann sich ja in jedem Falle, wo er abschlagen muß, auf seine Instruktion berufen. § 45, Nr. 3. Ich kann den Wunsch nicht [verbergen], daß die hier angeführte Art des Examens allmählich überall an die Stelle des gewöhnlichen treten möge. Es sind dabei gar keine [Unterschiede] und – – –? möglich, und weit bestimmter ist das Bild von dem Leben und Treiben der Schule, welches dem Publikum dadurch gegeben

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wird. Ich meines Ortes würde daher das gewöhnliche Examen nur vorläufig beibehalten, wo es schon ist, und bestimmen, daß, wo die z w e i t e Ar t e i n ge f ü h r t w ü r d e , die erste dann aufhören könnte (64.). Ein öffentlicher Akt in bezug auf Entlassung der Abiturienten bliebe dennoch. Indem ich meine Bemerkungen über diese Instruktion schließe, drängt sich mir freilich der Wunsch auf, daß sie möchte kürzer h a b e n a b g e f aß t w e r d e n k ö n n e n (65.). Allein bei ihrem Zweck und der Art, wie sie aus den früheren Vorarbeiten erwachsen ist, sehe ich die Möglichkeit dazu nicht ein, es müßte dann die ganze Form geändert, alles mehr an Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand der Dinge angeknüpft und statt der Deduktionen die Gründe nur angedeutet werden, was doch vielleicht für die meisten Anregungen weniger nützlich und anleitend sein würde. Über die besondere Instruktion wegen der Elementarschulen füge ich zunächst nur einige das einzelne betreffende Bemerkungen bei. Eine abweichende Ansicht im allgemeinen habe ich höchstens nur darin, daß ich auf das Lesen bei den nur durch die allgemeine Elementarschule zu bildenden Volksklassen einen noch weit ge|ringeren Wert lege als der Entwurf (66.). Ich bin überzeugt, daß die Kunst des Lesens und der Verkehr mit Büchern nie einheimisch in ihrem Leben und eingreifend in ihr ganzes Dasein sein kann und sein soll, daß diese ihnen fremde Kunst sich nur hält, inwiefern die Kirche, die protestantische vorzüglich, die Religiosität auf die eigene Bibelkenntnis eines jeden gründet, und inwiefern die Promulgation der Gesetze auf dem Wege der Schrift5 geschieht, und alle bürgerliche Beglaubigung auf der Schrift beruht. Daher bin ich auch überzeugt, daß alle Bildung, die wir unter dem Volke zu verbreiten suchen, nur gedeihen wird, insofern wir sie nicht auf Bücher gründen, sondern eine lebende Tr a d i t i o n (67.) hervorzurufen suchen. § 7. Mir scheint nicht, daß die Formenlehre sich bis zu den eigentlich sogenannten geometrischen Körpern versteigen muß. Das Dodekaedron und Ikosaedron kommen im Leben gar nicht vor, und das Volk kann ihre Bedeutung wohl nie verstehen. Würfel, Prisma u n d P y r am i d e , R e d u k t i o n d e s Z y linders a uf da s Prisma u n d d e s K e ge l s u n d d e r K u ge l au f die Py ra mide ist wohl allein das rechte Ziel (68.). – Das Oval ist auch wohl eine zufällige Figur und an dessen Stelle d i e e i ge n t l i c h e Ellipse zu set zen, welche schon durch ihre mechanische Konstruktion im Vergleich mit dem Kreise eine bedeutungsreiche mathematische Anschauung gibt. 5 Kade (1925), S. 198: „„des Lesens“ hatte Schleiermacher erst geschrieben, dann hat er „Lesens“ gestrichen und dafür „Schrift“ gesetzt.“

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§ 9. Bei der Naturbeschreibung muß doch darauf gearbeitet werden, daß die Kinder eine lebende Anschauung von dem Zusammenhang der verschiedenen Formen des Lebens in aufsteigender Ordnung bis zum Menschen erhalten (69.). Den Entwicklungsgang der Pflanzen anschaulich zu zeigen und überall auf die Lebensweise der Tiere aufmerksam zu machen, gehört wohl sehr zur Sache; allein von hier aus geht der Entwurf meines Erachtens zu sehr ins Ökonomische hinein. Ökonomie soll aber ebensowenig in Landschulen gelehrt werden als Technologie in Stadtschulen; nur allgemein das Auge für Naturgegenstände geübt. Die Ökonomie lernen sie, wenn sie anfangen, als Knechtsgehilfen oder Jungen die Praxis zu treiben. P h y s i k würde ich gänzlich ausschließen, da man auch über die täglichsten Naturerscheinungen hier nichts Befriedigendes sagen kann (70.). § 12. Die Dispensation der Kinder anderer Konfessionen braucht doch nur auf der oberen Stufe des Religionsunterrichtes stattzufinden (71.). Übrigens scheint hier dem Schullehrer zuviel Willkür gelassen zu sein und zu wenig getan, um möglichen Differenzen zwischen dem Unterricht in der Schule und dem beim Prediger vorzubeugen. Der Schullehrer muß in Absicht des Religionsunter|richtes g a nz besond e r s a n d e n P f ar r e r ge w i e s e n w e r d e n , um dem gehörig vorzuarbeiten (72.). § 14. Schwerlich werden wir mit dem Zeichnen in den lä ndlich e n E l e m e n t ar s c h u l e n so glücklich sein, wie mit dem Gesang (73.). – Als Erweckung des Schönheitssinnes muß man diesem Unterricht eine solche Richtung geben, daß ihnen die Anwendung auf die Einrichtung und Ausschmückung ihrer Häuser und Gärten naheliegt. Ein praktischer Anfang scheint mir hier zweckmäßig, nämlich, daß man sie lehre, Risse von Häusern und Pläne von Feldmarken und Gegenden verstehen und einigermaßen aus freier Hand auch anfertigen (74.). Wogegen in dem Unterricht in der Perspektive für jetzt sehr wenig zu erwarten ist. § 17. Mit Pestalozzi in Lienhard und Gertrud bin ich der Meinung, daß der Industrieunterricht nicht das Hauptgeschäft des Landmannes, sondern seine Füllarbeit betreffen muß (75), indem Verbesserungen des Landbaues niemals von der Schule ausgehen werden. Wohl aber läßt sich der Landmann gefallen, daß sich der Schullehrer, den er doch als Städter betrachtet, als Meister zeigt in den mehr städtischen Arbeiten. Meiner Meinung nach muß der Industrieunterricht auch für Knaben auf Handarbeit gehen u n d z w ar a uf die, w elche a n jed e m O r t d e r L an d m an n m i t Vo r t e i l nebenbei t reiben ka nn. Auch bin ich mit Pestalozzi der Meinung, daß der Industrieunterricht nicht nur in besonderen Schulen erteilt werden muß, sondern daß,

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sobald einige Fertigkeit erlangt ist, die Kinder angehalten werden müssen, die Handarbeit auch während jedes Unterrichts zu treiben, der nicht selbst die Hände erfordert (76.). Es ist eine wesentliche Veredelung, wenn der Mensch in seiner mechanischen Beschäftigung nicht ganz aufgeht, sondern sein Gemüt zu anderen Tätigkeiten frei behält. Daß es hierzu keine Anleitung gibt, das unterhält nicht wenig die Stumpfheit und Gedankenlosigkeit im Volk. – Was den Gartenbau betrifft, so ist es sehr möglich, daß der Schullehrer ihn übe, und daß die Kinder ihm6 dabei zur Hand gehen und bei dieser Gelegenheit ablernen (77.), aber zum eigentlichen Schulunterricht wünschte ich ihn keineswegs gerechnet. Da wir jetzt einer Periode entgegensehen dürfen, wo die Lehrer sehr gut sein werden, während die Eltern noch häufig mittelmäßig und schlecht sind, so wäre sehr zu wünschen, daß in Landschulen ein völliges Zusammenleben der Jugend mit den Lehrern sein könnte. Dieses wird aber schwerlich durchzusetzen sein, als mit Hilfe solcher Industriearbeiten, die den Eltern einigen Vorteil unmittelbar einbringen (78.). § 19. Auch hier sind mir zuviel Stunden für die Schüler und für den Lehrer. Schon 28 scheinen mir hinreichend und vielleicht mehr, als sich überall wird ausführen lassen (79.). | § 21. Der Apparat erscheint mir, ich gestehe es, zu reich. Ich wünschte in den Händen der Schüler kein Lehrbuch, w eder der a r i t h m e t i s c h e n Ü b u n ge n n o c h d er N a t urg eschicht e (80.). Ein Lehrbuch für das Z e i c h n e n scheint mir auch für den Lehrer von wenig Nutzen zu sein (81). Es kommt darauf an, daß er die Handführung gut verstehe; an alles Theoretische, was ihm bei seiner Vorbereitung gesagt worden ist, muß ihn eine zweckmäßige Sammlung von Musterblättern auch ohne Text hinreichend erinnern. Physikalische Instrumente scheinen mir ein reiner Luxus, also nicht nur unnütz, sondern schädlich (82.). – Wenn die Wandtafel auf der einen Seite Notenlinien hat: so brauchen die Kinder kein Gesangbuch, weder wegen der Melodie, noch wegen Textes; denn die Lieder müssen sie a u s w e n d ig l e r n e n (83.), sonst haben sie sie doch nicht, weil ihnen das Lesen, wenn es ihnen in der Schule auch noch so geläufig war, hernach unausbleiblich wieder fremd wird. § 23. Halbjährig zu entwerfende Lektionsverzeichnisse reizen nur zu unnützen Veränderungen. Ist ein Lektionsplan einmal zweckmäßig befunden: so bleibe es dem Sc h u l i n spektor überla ssen, da ra n z u ä n d e r n , wenn es durch wichtige Veränderungen der Umstände nötig wird (84.). 6

Kade (1925), S. 199: „und den Eltern. (Zusatz von Süvern.)“

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§ 31. Entfernung aus der Schule sollte auf dem Lande gar nicht als Strafe verhängt werden; sie ist ein zu großes Übel für das ganze Leben, als daß sie einem Kinde sollte zugefügt werden dürfen (85.). § 37. Schwerlich werden die Eltern diese schriftlichen Mitteilungen gehörig würdigen. Vielen werden sie nur vorkommen als eine Rechenschaft, die ihnen der Schullehrer ablegen muß und werden einen Dünkel in ihnen erregen. Mögen die Eltern nachfragen und der Lehrer ihnen dann die Berteilung im Zensurbuch vorlesen und die nötigen Erläuterungen darüber geben (86.). § 42. Allen anständigen Durchreisenden sollte eigentlich erlaubt sein, die Landschulen zu besuchen (87.). Schleiermacher. 10. Jul. 14.

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Die nachstehenden Randbemerkungen sind von Süvern mit Bleistift geschrieben. Die abgekürzten Wörter habe ich ausgeschrieben. 1. Einleitung § 27, 1 wo dieselbe Ansicht zugrunde liegt. 2. Dies ist zwar nicht der einzige Vorteil vom Unterricht in alten Sprachen. Sie bilden auch um so mehr das organische Denken durch die organische Konstruktion ihrer Form, als diese auch im Lateinischen nicht durchs Hilfswörter sondern durch Flexionssilben sich ausbilden. Das Deutsche kommt dem Lateini|schen hierbei nicht gleich. – Das Kombinations- und Urteilsvermögen wird durch das Exponieren und das dabei nötige Konstruieren und Analysieren geübt. Beides fällt im Deutschen weg. – Das ganze –? Talent wird geübt durch die Schwierigkeit, welche eine fremde alte und originelle Sprache entgegenstellt, und durch deren Überwindung die Kraft erhöht. Aber wenn in jedem Unterrichtszweige sich der formelle und sprachliche Nutzen verbinden soll, so liegt doch die alte Sprache denen, die nicht über die Stadtschule hinausgehen wollen, zu entfernt. 3. Diese ist nicht möglich ohne Kenntnis mehrerer Sprachen, also nicht auf der allgemeinen Stadtschule. 4. Accedo. 5. Dies ist ein Mißverständnis. Bei dem Ausdruck ist nichts anderes als das zunächst mit †) Notierte gemeint. 6. Accedo. § 27.

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7. Indes wieviel Objekte sollen auf die Weise außer den öffentlichen Stunden7. Was die Lateinisch-Lernenden in anderen Objekten etwa versäumen, sollen [sie erst auf dem] Gymnasium wieder [einholen]? 8. Die Sache selbst ist in der Einleitung zu § 27 anerkannt. 9. Accedo, und wird auch in facto überall, wo es möglich ist, schon dahin gearbeitet. Doch wird an manchem Ort auch der künftige Gewerbsmann sich mit den unteren Klassen eines Gymnasiums behelfen müssen. 10. Accedo, doch wird dies nicht überall möglich sein. 11. Accedo! 12. Regel und Ausnahme gehören wohl zusammen. 13. Kann gesagt werden, wird aber nicht überall zu bewirken sein. 14. Ist im Entwurf gesagt. 15. Sie geht schon von der Elementarschule aus, folglich durch alle durch. 16. Da würde er vor der Hand wenig stattfinden können. Bisher ist’s [recht], man gibt den mittelmäßigen Lehrern Vorschrift zur Benutzung oder läßt sie ganz gewähren. 17. Geschieht und muß geschehen. Niemand wird z. B. den Livius in einer Schule ganz lesen lassen. Im Griechischen ist es vollends nötig. 18. Die Übung ist zu empfehlen, aber die Zeit ist vorzuschreiben. 19. Accedo. 20. Gut! 21. Soll auch nur elementare Vorbereitung sein. 22. Es kommt sehr darauf an, welche Grammatik in der Schule gebraucht wird! | 23. Das ist wohl zuviel! 24. Darüber würde ich nichts sagen. 25. Übrigens ist über die Wichtigkeit des Studiums der hebräischen Sprache für Verfall oder Blüte der Religiosität und Theologie – – – – – –? Edingburg 1812. p. 65. 26. Accedo. 27. Aber auf der Stadtschule. 28. Accedo. 29. Können wohl des Geschäftslebens wegen nicht ganz ausgeschlossen werden. – Die vielen Briefe gelingen durch Entwerfen wohl erst. 30. Richtig.

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31. Wird nicht gut möglich sein, da sich von dem Pensum in Prima schwerlich etwas nach Secunda ziehen läßt. 32. Gut! 33. Der Gedanke ist richtig. Aber da würde die Zeit noch mehr ins Gedränge kommen, wenn alles in eine Klasse fällt. Sollte es durch zwei hindurch gehen, so würden diese entweder kombiniert, oder die Objekte in jeder wiederholt, oder endlich beide geteilt werden müssen. Jedes hat seine Unbequemlichkeiten. 34. Siehe die Einleitung ad Nr. 7. 35. Kann geschehen. 36. Ich würde mich darüber in Ansehung des zweiten Punktes nicht auslassen. 37. Ebenso. 38. Accedo. 39. Accedo, und kommt das schon in der Elementarschule vor. 40. Accedo. 41. Accedo. – – ? des Französischen – ? ab in Lat. 1 „ Deutsch 1 „ Geogr. 1 1 „ Kalligr. 4 42. Auf dieselbe Weise Griech. 1 Deutsch 2 1 Geogr. u. Gesch. 4 43. In ähnlicher Weise beim Lat. 1 beim Griech. 1 das Hebr. 2 4 44. Das von Knickhahn zuerst aufgebrachte, aber nicht auf jeder Schule anwendbare System muß wenigstens erwähnt werden. | 45. Accedo, siehe oben. 46. Der Sinn des § ist nicht, daß weniger geleistet werden soll in diesem Fache, sondern daß, weil das für das Gymnasium in VI geforderte schon großenteils in die allgemeine Elementarschule fällt, wieder vieles von dem, was in IV und III des Gymnasiums geschehen soll, mit in die allgemeine Stadtschule gezogen werden kann. 47. Freilich können die Gymnasien vollständig davon abweichen, alle laufen wieder zurück. Aber nicht zulässig ist, daß, wenn

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48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70. 71. 72. 73. 74. 75.

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eine gute Vorbereitung vorausgesetzt wird, ein Gymnasium mit 4 Klassen bestehen könne. Accedo. Geht an. Bei den Sprachstunden ist die Abwechslung gestattet Accedo. In dem Falle würde jeder gewiß 3 Jahre in Prima bleiben müssen, denn in kürzerer Zeit läßt sich doch das Zeugnis Nr. 1 schwerlich gewinnen. Doch nur bedingt. Wenn jemand durch Faulheit zurückkommt, so gibt sich die Zurückversetzung von selbst. Accedo. Accedo. Möchte ich nicht erwähnen. Braucht nicht erwähnt zu werden. Liegt in den Ausführungen des § ? Versteht sich von selbst. Gut! Das liegt in dem Worte aufgefordert sein. Gut! Doch muß in dieser Sache das meiste der Beurteilung der Direktoren überlassen werden. Accedo. Wird gehen, wenn ein Schulgesetz vorausgegangen ist. Ich sehe nicht, daß zu viel Wert darauf gelegt ist. Eben damit das Lesen nichts Schwerfälliges und Ertötendes werde, muß es bald zu großer Geläufigkeit kommen. Darauf beruht der ganze Entwurf. Accedo. Das eine kann geschehen ohne das andere auszuschließen. Das Studium der Naturgeschichte führt ohnehin zum Beobachten der Ordnung. Soviel der Entwurf enthält zur Aufklärung über die Naturerscheinungen wird nicht fehlen dürfen. Allerdings nicht8, doch ist wohl besser, nichts darüber zu sagen. | Accedo. Doch wird es getrieben. Das scheint wieder zu viel. Der Landmann ist immer in Behandlung und Beobachtung der Natur begriffen. Der naturhistorische Unterricht –? eine

Kade (1925), S. 203: „auf der unteren Stufe.“

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Unterredung über diese Beobachtung und Behandlung – – – –? Bewußtsein und Einheit geben. So wird er von selbst ökonomisch. Weiter will der Entwurf nichts. Ist auch anderer Erzieher Meinung. Weiter will der Entwurf nichts. Ist auch anderer Erzieher Meinung. Accedo. Es ist ausdrücklich für den Lehrer bestimmt. Den Lehrern, wie sie jetzt sind, tun Leitfaden sehr not. Accedo. Oben ad § 23 ist eine Auswahl der Kirchenlieder gewünscht. Und wie sollen sie denn alle ohne großen Zeitverlust auswendig lernen? Accedo. Es wird doch Fälle geben, wo sie nötig ist. Accedo. Accedo.

Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1813/14

Textzeuge: Texteditionen:

Besonderheiten:

Manuskript Schleiermachers in sekundärer Überlieferung; SW III/9 (1849), S. 583–672 Platz (1871), (1876), (1902), (1968); Braun/Bauer (1910) (Auszug), (1911) (Auszug), (1927) (Auszug), (1967) (Auszug), (1981) (Auszug); Weniger/Schulze (1957), Bd. 1 (Auszug), (1966), Bd. 1 (Auszug), (1983), Bd. 1 (Auszug); Lichtenstein (1959) (Auszug), (1964) (Auszug), (1983) (Auszug); Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1 Einzige Überlieferung der Vorlesungen von 1813/14 und einziger Text aller pädagogischen Vorlesungen, für den ein Manuskript Schleiermachers vorliegt

(Manuscript Schleiermacher’s)

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Zur Pädagogik. 1813. Angefangen den 8. Nov. 1813. Geschlossen den 23. März 1814.|

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Man will die Pädagogik aus dem akademischen Cyklus ausschließen. Man hat Recht, wenn man sie auf die Praxis eines näheren oder entfernteren Bedürfnisses bezieht. Nicht die ganze Praxis zu der sie die Theorie ist schließt sich an die Wissenschaft an, sondern nur die Tradition der Wissenschaft, die davon nur ein kleiner Theil ist. Hiezu giebt es mittelbare Vorübungsanstalten wie so viele ähnliche, die die rein akademische Methode mit dem praktischen Leben verbinden, theils auf der Universität, besser nach derselben. Ohne solche Uebungsanstalten kann die Pädagogik als bloße Technik nichts helfen. Es giebt aber einen ganz anderen Gesichtspunkt. Sie ist eine von der Sittenlehre ausgehende Disciplin, von dieser abhängig auf der einen Seite, ihre Realität selbst begründend auf der anderen. Denn wenn die großen sittlichen Formen sich nicht von einer Generation auf die andere in ihrem Wesen erhielten, so wäre das in der Sittenlehre dargestellte nichts in sich selbst reales. Nun läßt sich aber zeigen daß der einzelne Mensch durch sich allein, aus dem lebendigen Zusammenhange mit anderen herausgerissen, auf das Niveau mit ihnen nicht käme, also Staat &c. verfielen. Es zeigt die Erfahrung daß er durch die Einwirkung anderer dahin kommt. Diese Einwirkung als | dieses

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leistend muß aber als eine zugleich gesezmäßige und natürliche nachgewiesen werden, und das ist das Object der Pädagogik. So als eine aus der Ethik hervorgehende Disciplin muß sie die Ethik voraussezen. In meinem System der Ethik läßt sich ihr Ort nachweisen und damit zugleich die wesentlichsten Formeln zur Lösung ihrer Aufgabe. Mit diesem System kann ich aber die Bekanntschaft nicht voraussezen. Dem legitimen Anfang muß also ein anderer substituirt werden: das Ausgehen vom populären Begriff, um allmählig zu einer Erklärung zu gelangen. Erziehung ist die Einleitung und Fortführung des Entwikklungsprocesses des einzelnen durch äußere Einwirkung. Auf diese Weise aber würde auch der Staat als solcher erziehen, und jeder gute Freund, und der Mensch würde bis ans Ende seines Lebens erzogen. Also bestimmter: durch Einwirkung einzelner (nicht ganzer Massen) und bis zur bürgerlichen Selbständigkeit, die nun freilich in verschiedener Beziehung wieder überall verschieden bestimmt ist, so daß man zu keiner vollständigen Begrenzung gelangt. [Eben dahin wären wir gekommen, wenn wir gleich gesagt hätten, die Einwirkung welche vom älterlichen Verhältniß ausgeht.] In dieser Erklärung ist aber nichts reales was zum Princip dienen kann; es muß noch hinein, worauf die Einwirkung gerichtet werden soll. Denn wenn man fragt, Wie macht man den Menschen herrschsüchtig oder geizig? so sollen wir keine Antwort darauf haben in unserer Pädagogik. Hier müssen wir nun ebenfalls vorläufig an die populären Begriffe von Tugend, sittlicher und intellectueller Vollkommenheit appelliren. Aber auch so fehlt uns noch, wenn wir auf den Begriff der Entwikklung zurükkgehen, ob aus jedem alles soll und kann entwikkelt werden, oder ob und in welchem Verhältniß nur einiges. |

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Zweit e St unde. Einige nämlich glauben an eine Beschränktheit der Pädagogik durch die Natur, daß manchen Menschen manche Anlagen, einzelne Talente fehlen. Andere glauben an eine Allmacht der Pädagogik, daß man alles hervorrufen könne wenn man es recht anfinge. Das erste führt auf eine reine Passivität. Denn wenn nichts gelingt als was den Naturbedingungen analog ist: so darf man auch nichts anderes unternehmen, muß also die Natur erst erkannt haben, oder alles ist Gerathewohl; erkannt aber kann man sie nicht eher haben als bis die Zeit der pädagogischen Bildsamkeit vorüber ist. Das andere führt zu unbe17–19 […]] eckige Klammern im Textzeugen

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dingter Willkühr, also eben deshalb auch zur Passivität. Denn wenn doch der Zögling selbst Zwekk ist: so kann, wenn es keinen inneren Bestimmungsgrund giebt was man aus ihm machen soll, der Grund nur sein äußeres sein, d. h. seine Schikksale und Verhältnisse; wenn diese aber da sind, ist die Zeit auch vorüber. Soll es eine Pädagogik geben, so muß es also eine diese beiden Extreme bindende Bestimmung geben, die auch anderwärts her kommen muß. Es sind also im voraus z w e i f e s t e Punkte zu suchen, da s eth i s c h e Zi e l und die p h ys i s c h e Vo r aussezung , w a s soll a us de m M e n s c h e n w e r d e n ? und w as i s t der Mensch schon? Leztere ist dieselbe die auch der Ethik zum Grunde liegt. Vor dieser Untersuchung sind noch folgende Fragen zu beantworten. Erstens. Giebt es eine allgemeingültige Pädagogik? Ich verneine; wie den Staat und die Philosophie. Sie wäre sonst die Kunst aller Künste und statt aller anderen Künste und Wissenschaften, und alles würde durch sie, da doch das allgemeine von dem einzelnen nicht mehr abhängen kann als dieses von jenem. Zweitens. Ist die Pädagogik empirisch oder speculativ? Viel herrliches aus der bloßen Beobachtung (Levana), aber es entbehrt der Form. Das speculative giebt nur Fachwerk um die That oder die Beobachtung hineinzulegen. Sie oscillirt nach beiden Seiten. Unsere muß mehr speculativ sein. |

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A u f f i n d u n g d e s e r s t e n f e s t e n P u n k t e s: Wie wird der Mensch gegeben; also, Wie findet ihn die Pädagogik – sezt voraus, wann die Pädagogik anfange. Die Erziehung entwikkelt sich selbst erst allmählig. Sie ist nur möglich als technische, in so fern ein Zusammenhang von Mittel und Zwekk zu construiren ist, also als der Gegenstand gegeben und bekannt ist. Sie entwikkelt sich also gleichmäßig mit dem natürlichen Entwikklungsproceß. Dieser geht von der Geburt an; verschiedene Behandlungsweisen haben anerkannt verschiedene Wirkungen auf die Entwikklung des Organismus. Man kann diese Wirkungen nicht einmal als zur physischen Erziehung gehörig der intellectuellen entgegensezen; denn Sinne sind Bedingung alles Wahrnehmens, und Muskeln Bedingung alles Handelns. Vor der Geburt sind zwar auch Einwirkungen, aber keine technischen. Wir wissen nicht wie die Stim18–19 Vgl. Richter, Johann Paul Friedrich (Jean Paul): Levana oder Erziehlehre, Braunschweig 1807; Werke, Bd. 1–6, ed. N. Miller, München 1960–1963, hier Bd. 5: Vorschule der Ästhetik. Levana oder Erziehlehre. Politische Schriften, München 1963, S. 515–874

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mungen der Mutter auf die Gemüthsart des Kindes wirken, und es kann keine andere Regel gegeben werden, als daß alle Einwirkungen auf das Kind nur mögen Resultate eines pflichtmäßigen Handelns sein. Dasselbe gilt von allem was an dem Kinde noch nicht bekannt sein kann. Zur Hauptfrage. Daß jedes einzelne ein allgemeines und besonderes zugleich ist, ist allgemeines Gesez aller Erscheinung. Auf den Menschen ohnerachtet der Einheit und Identität der Gattung auch anwendbar. Mittelbestimmungen also zwischen der menschlichen Natur und dem einzelnen 1) die Racen; 2) die Nationalität. Beides hier nicht als mehr und minder edel sondern als verschiedene Modification. Nationen schon mehr intellectuell verschieden. Idee des Nationalcharakters. Weiter herab Stämme, Familieneigenheiten. – Jeder einzelne ist ein Individuum, das gemeinschaftliche aller seiner Momente ist ein innerliches, wogegen wir die einzelne Bestimmtheit des Thieres nur als Product der Relationen ansehen. – Die Frage, Worin besteht die völlige Bestimmtheit des einzelnen? scheint in die Abgründe der Psychologie zu führen. |

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Viert e St unde. Da wir aber darauf daß es eine Bestimmtheit des einzelnen geben müsse, aus dem Gegensaz des allgemeinen und besonderen gekommen sind: so knüpfen wir auch an diesen zunächst an. Jedes einzelne Wesen hat als besonderes einen Anfang und ist als solches aus dem allgemeinen entstanden, also durch das allgemeine bestimmt, und so wohnt ihm auch ein Vermögen bei durch das allgemeine bestimmt zu werden. Beispiel von Pflanzen und Atmosphäre, Vernunft im einzelnen und allgemeiner Vernunft. Ebenso aber ist es nur ein einzelnes durch Hinauswirken auf die Totalität: Pflanzen produciren elementarische Stoffe, Thiere auch. Dies der Gegensaz von Receptivität und Spontaneität. Das Leben ist aus beiden zusammengesezt, auch in jedem Act ist beides; aber wie in jedem Act so auch im ganzen Leben kann das Verhältniß beider sehr verschieden sein. Das Leben als so bestimmter Gegensaz ist in der einzelnen Erscheinung wesentlich ein zeitliches; in der Zeit folgen die verschieden modificirten Acte auf einander. Bringen wir nun auch diese Form unter den Gegensaz des allgemeinen und besonderen, so erhalten wir daß es eine zwiefache Succession giebt: entweder allgemeines und besonderes entstehen gleichförmig mit einander, oder in abwechselndem Uebergewicht auf Einen Schlag allgemeines das sich hernach successiv im besonderen ausprägt, und auf

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Einen Schlag besonderes das successiv ins allgemeine aufgenommen wird. Beides muß zusammen sein; denn wäre die gleichförmige Succession allein, so käme nie ein deutliches Bewußtsein des allgemeinen und besonderen in seinem Gegensaz heraus; wäre die ungleichförmige allein, so wäre auch sie nie vollendet: denn die lezte Note im sinkenden Takt muß die Indifferenz des allgemeinen und besonderen sein. Aber das Verhältniß beider kann sehr verschieden sein. Daß in diesem Gebiet die persönliche Eigenthümlichkeit liegt, bestätigt sich auch dadurch, daß auf diesen Gegensäzen die Temperamente beruhen. Denn phlegmatisch und cholerisch sind überwiegende Spontaneität; sanguinisch und melancholisch | sind überwiegende Receptivität; phlegmatisch und sanguinisch sind überwiegende Gleichförmigkeit; cholerisch und melancholisch überwiegende Ungleichförmigkeit. Das Temperament selbst aber ist noch unbestimmt und allgemein; also müssen wir noch einen Punkt dazu nehmen. Alles höhere Leben ist Bewußtsein. Jedes Bewußtsein hat einen äußeren und einen inneren Factor und ist verschieden je nachdem dieser oder jener der primitive ist. Erkennen, wenn der äußere der primitive; Handeln im engeren Sinn, wenn der äußere der lezte ist. Beide Acte haben ihren Organismus, und der ist im Menschen zusammengesezt. In jedem also ein Verhältniß jedes Zweiges zur Einheit. Dieses Verhältniß ist in demselben Maaß angeboren wie das Temperament; und das Temperament in demselben Maaß, nämlich was die äußeren Erscheinungen betrifft, alterabel wie das Talent, d. h. von jedem gegebenen Zustande aus drükkt die Gesammtthätigkeit des Menschen immer ein und dasselbe Verhältniß aus, und dieses ist die angeborene Bestimmtheit. Das Talent ist nicht durch das Temperament gegeben und umgekehrt; sondern beides sind besondere Factoren der Eigenthümlichkeit, d. h. ein Mensch ist von allen anderen desselben Temperaments verschieden durch sein Talent, und von allen desselben Talents verschieden durch sein Temperament. Weiter ist nicht nöthig die Untersuchung für jezt zu treiben, bis wir erst wissen wie weit wir auf das besondere des Temperaments und des Talents Rükksicht zu nehmen haben.

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Die zweite Frage, Wohin soll die Pädagogik den Menschen führen? müßte uns in die ganze Ethik verwikkeln. Wir wollen dagegen ganz empirisch fragen, Wohin liefert die Pädagogik den Menschen ab. Die Antwort die wir so erhalten scheint nicht allgemeingültig sein zu können; allein wir glauben auch an keine allgemeingültige Pädagogik.

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Zuerst an den St aat, in welchem er als Zögling nur Annex ist und selbständig wird in dem Maaß als die Erziehung ihn frei läßt. Außer dem | Staat giebt es noch P r i vat l e b en; verstößt er gegen die Sitte, so wird es auch als Zögling seinen Erziehern zugeschrieben, hernach ihm. Dann finden wir noch die K i r c h e. Der Eintritt in sie bezeichnet daß die Religiosität eigene Wurzeln geschlagen hat. Auch müssen wir die S p r a c h e als ein eigenes Gebiet anerkennen. Diese soll er auch soweit sie ihm angehören kann besizen wenn er erzogen ist, und also keinen Antheil haben wenigstens an der Fortpflanzung des in ihr niedergelegten Wissens. Dieses möchte wol das ganze sittliche Leben umfassen und ein mehreres nicht aufzufinden sein.1 Wenn die Erziehung hierauf ihre Rükksicht nehmen soll, kann sie nicht allgemeingültig sein; denn anders muß der Mensch für diesen, anders für einen anderen Staat und Kirche erzogen werden. Und anders wird sie sein in einer Zeit wo diese Verhältnisse ganz auseinandertreten; anders, wenn sie ineinander eingewikkelt sind, z. E. bei den Alten die Kirche in den Staat, bei uns der Staat in das Privatleben. Indem wir aber diese Beschränkung anerkennen, müssen wir auch ein Bestreben fühlen sie aufzuheben, weil wenn der Mensch z. E. für den gegebenen Staat erzogen wird, alles unvollkommene in diesem immer weiter einwurzelt. Heilung für die Gebrechen aller Sphären kommt freilich nur durch die Erziehung; allein damit die Erziehung diese Richtung bekomme, muß ein Gefühl des Bedürfnisses in der erziehenden Generation im ganzen sein. Dies soll nicht durch einzelne wissenschaftliche Erzieher zunächst in die zu erziehende Generation gelegt werden; denn Naseweisheit heilt nicht. Also kann sie doch nur kommen in so fern z. E. im Staat das Gefühl seiner Unvollkommenheit ist. Daß nun die Generation für dieses mit erzogen werden muß, liegt schon in der ersten Formel. (Kanon.) Sie wird also immer von zwei Punkten ausgehen, von der unbewußten Billigung des gegebenen und von der ge|fühlten positiven Mißbilligung desselben. Hierin liegt die Aufgabe dem Zögling soviel Kraft und Freiheit anzuerziehen daß er dies aufheben könne. Nur muß man niemals das unvollkommene mit dem individuellen verwechseln. Eine allgemeine Religion und eine von aller Nationalität entblößte Sitte sind eben solche Chimären wie eine allgemeine Sprache und ein allgemeiner Staat. 1 Jede andere Gemeinschaft ist nur das Ineinander von diesen: häusliche primitiv; frei gesellige secundär. Randbem. Schleierm.

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Man kann aber eben so gut auch umkehren und sagen, die Erziehung gehe aus von dem dem Menschen angeborenen Staat Kirche u. s. w., und ende mit der Darstellung seiner individuellen Natur. Angeboren ist dem Menschen der Staat dem Wesen nach als die dem realen zugewendete Seite der Nationalität, er trägt sie in seiner körperlichen Constitution in sich, welche nur die äußere Seite der psychischen ist. Schwerer sieht man daß auch das individuelle Erkennen ihm angeboren ist. Es scheint als ob er die anderen Formen, wenn man ihn unter andere Völker sezt, eben so leicht annähme; allein die Erfahrung zeigt doch theils daß dies hemmt, theils daß sich doch die angeborne Neigung offenbart auch noch in Mischlingen. Angeboren ist auch dem Menschen eine bestimmte Liebe, und von der Geburt an ist er in der Manifestation seiner Zustände, welches die beiden Momente des geselligen Lebens sind. Daß Religion im allgemeinen dem Menschen angeboren ist, wird niemand läugnen; schwer wird man gestehen daß ihm z. E. das Christenthum angeboren sei. Geht man aber nur auf das Wesen, auf die bestimmte Modification des menschlichen Gefühls: so bewährt sichs doch. Kein Heidenthum wird unsern Kindern lebendig; keine Mythologie wird ihnen religiös: aber unsern religiösen Stil haben sie oft angenommen ohne alles Zuthun. In alle diesem aber ist der Mensch ursprüng|lich nur universell, und es ist die Aufgabe der Erziehung ihn zu individualisiren. Erst am Ende ihrer Bemühungen stellt sie ihn als einen individuellen hin, und dies ist ihr höchster Triumph. Es sind also dieses z w e i ve r s c h i e d e n e G esicht spunkt e der E r z i e h u n g, d as A u s b i l d e n d e r Nat u r, und da s Hineinbilden in d a s s i t t l i c h e L e b e n. In jedem Act muß beides sein, aber in verschiedenem Verhältniß. Da der Mensch bei Beendigung der Erziehung auch eine besondere Stelle einnehmen soll im Staat &c.: so muß die Entwikklung der Natur vorangegangen sein. Es ordnen sich also die Massen so; der Scheidepunkt ist die Mannbarkeit. Dem entspräche die bei uns gegebene z w i e f ac h e F o r m d e r Erziehung. Erst ist sie ganz in der Familie, dann wird sie auch Sache des Staats und der Kirche. Doch trifft dies nicht mit der Mannbarkeit zusammen, sondern weit früher. Staat Wissenschaft und Kirche mischen sich schon früher ein, damit nicht bis dahin zuviel versäumt werde. Sehr verschieden haben sich zu verschiedenen Zeiten die häusliche und nationale Seite der Erziehung begrenzt. Theoretisch ist gar eine rein öffentliche Erziehung aufgestellt worden. Wir haben also drei verschiedene Stufen, d i e r e i n h äu s l i c h e E r z i e h u n g, d ie öf fent liche Elemen-

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t a r e r z i e h u n g, d i e h ö h e r e ö f f e n t l i che Erziehung. Diese Typen gehen constant durch und zeigen sich auch selbst wenn die öffentlichen Anstalten in denen die beiden lezten organisirt sind nicht benuzt werden.

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Ehe wir die allgemeinen Kanones für diese Stufen suchen, entsteht z u n ä c h s t d i e F r age, in wie fern innerhalb jeder die nationale Erziehung nur Eine ist oder mehrere. Anders gestellt, Ist jeder Mensch f ä h i g a u f gl e i c h e We i s e w i e d e r andere in S t a a t Kirche &c. e i n z u t r e t e n, o d e r n i c h t? und ist jeder Mensch einer gleichen Bildung zur Individualität fähig wie der andere, oder nicht? Dies läuft auf | den schwierigen Gegensaz der aristokratischen und demokratischen Ansicht hinaus. Wir haben keinen Anknüpfungspunkt um über sie zu entscheiden. Wir wollen also zunächst nur fragen, Was für pädagogische Resultate entstehen aus den verschiedenen Annahmen? Ers t e r F a l l. Die unstreitig wirkliche Differenz ist nur die Folge der verschiedenen Bildung und der äußeren Verhältnisse. Dann fragt sich, Soll die Erziehung dem was die äußeren Verhältnisse ergeben nachgehen, also unter diesen stehen; oder soll sie ein Gegengewicht gegen dieselben sein und sie also beherrschen? Im ersten Fall wäre dies kein besonderer Fall, sondern würde sich auf den zweiten reduciren. Im andern würde entweder in einigen Fällen die Erziehung doch über die äußeren Verhältnisse nicht siegen: und dann hätte sie geschadet, sie hätte nach dem gestrebt was nicht zu Stande kommt, und für das was wirklich wird, nicht gesorgt. Oder sie würde immer siegen: und dann würde niemand in den untergeordneten Verhältnissen existiren wollen. Die Menschen müßten also hineingezwungen und dadurch unglükklich werden, oder die sociale Ordnung müßte sich auflösen.2 Dieser Fall giebt also auf keine Weise ein praktisches Resultat, und wir können also nicht davon ausgehen. Zw eiter F a ll. Es giebt eine natürliche Differenz, und zwar ist diese angestammt. In diesem Falle haben wir es höchst bequem; wir richten nämlich eine Specialerziehung vom ersten Augenblikk ein für soviel verschiedene Stufen als es giebt. D r i tt e r F al l. Die natürliche Differenz ist nicht angestammt, sondern persönlich angeboren. Dann ist eine Nothwendigkeit verschiedener Behandlung; aber auch eine Unmöglichkeit von Anfang an 2

Dann würde man entweder Sklaven suchen, wodurch wieder der zweite Fall entstände; oder die Differenz selbst würde sich auch äußerlich verlieren, wodurch die Untersuchung unnüz wird. Randbem. Schl.

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zu erkennen wem jede gebühre. Jene Nothwendigkeit tritt aber auch nicht ein vom ersten Augenblikk; denn die Individualität überhaupt entwikkelt sich erst allmählig, also | auch ihre verschiedene Potenz; das Sein des einzelnen in den allgemeinen Sphären kommt überhaupt erst allmählig zum Bewußtsein, also auch das verschiedene Verhältniß desselben. Die Aufgabe ist also nur die, daß in der Erziehung selbst das Princip liegen muß die verschiedene Qualität zu entwikkeln und auch zu erkennen. Diese Einrichtung einer ganz gemeinschaftlichen ersten Elementarerziehung und einer späteren qualitativen Trennung paßt auch auf den zweiten Fall, wenn sie gut ist. Ja sie muß auch auf den ersten passen, wenn es nur die Folge der eigenen That des Zöglings ist, daß er in diese oder jene Stufe übergeht. Nur wenn der zweite Fall angenommen wird in der öffentlichen Meinung, und doch der dritte wirklich vorhanden ist, oder umgekehrt, wird diese Methode in üblen Ruf der Parteilichkeit oder der geheimen Machination gerathen. Auch das schadet aber nicht, wenn nur diese Differenz zwischen ihr und der öffentlichen Meinung selbst als verschwindend muß gedacht werden. An m e r k u n g. Die Sache selbst betreffend, so ist wol keine allgemeine Antwort möglich. Bei den meisten Völkern ist gewiß die Differenz ursprünglich angestammt. Diese Anstammung erlischt aber durch bürgerliche Annäherung und connubium, und geht in die persönliche über. Die Erziehung wird also bestmöglich sein, wenn sie von dem Augenblikk an wo das Princip dieses Erlöschens gelegt ist, auch nur noch die persönliche Differenz voraussezt. [Man kann sich auch ein gänzliches Verschwinden der angeborenen Differenz denken, aber nur zugleich mit einer vollkommenen Demokratie.]

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We n n d i e Un g l e i c h h e i t d e r M e n s c h e n v on N a t ur im A bnehm e n i s t (denn es ist Abnehmen und allmählige Ausgleichung, wenn sie sich aus einer angestammten in eine nur angeborene verwandelt): s o i s t e i n e p äd ago gi s c h e I n s t i t u t i o n frev elha f t w elche sie a u f d e m P u n k t f e s t z u h al t e n s t r e b t w o sie sie f indet; also jede welche von | aristokratischen Gesichtspunkten ausgeht. Das höchste Abnehmen aber wäre, wenn auch die angeborene Ungleichheit verschwände. Es würde dann jeder in die höchste Bildungsstufe übergehen. Hülfe sich dann der Staat durch Sklaven: so würden diese dann bald in die Elementarinstitute mit aufzunehmen sein und dadurch in 25–27 […]] eckige Klammern im Textzeugen

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dem aufs neue beginnenden Kreislauf der Anfang zur allmähligen Ausgleichung gemacht werden. Hülfe er sich durch Veredlung und Vertheilung der mechanischen Geschäfte und durch Verwandlung der bisher qualitativen Differenz in eine rein functionäre: so litte der Typus keine weitere Aenderung als daß Specialschulen neben dem allgemeinen Cyklus entständen. – Wo aber die Ungleichheit noch besteht, müssen der Erziehung die äußeren Verhältnisse zu Hülfe kommen, daß nämlich die für die niederen Stufen bestimmten auch ohnehin zeitiger ihre Erziehung zu beendigen getrieben werden und es für einen Vortheil ansehen den lezten Cyklus nicht mitmachen zu dürfen. Zw e i t e F r age. Wie verhält sich, da doch nicht alles in dem Menschen Werk der Erziehung ist, das was durch sie entsteht zu dem was ohne sie entsteht, nur homogen oder auch heterogen? Anders gestellt: B e s c h l e u n i gt die Erziehung nur was auch ohne sie geschähe, oder thut sie auch G e ge n w i r k u n g dem was troz ihr geschieht? Offenbar das lezte. Denn wir finden im Menschen das böse; dieses können wir nie als durch eine der Theorie gemäße Erziehung entstanden ansehen. Also offenbar enthält die Erziehung wenigstens auch Gegenwirkung. Es giebt aber hierüber folgende verschiedene Ansichten. 1. Die Erziehung ist nur Erwekkung des guten; die Unterdrükkung des bösen ist hievon die natürliche Folge. 2. Die Erziehung ist nur Unterdrükkung des bösen, das gute entwikkelt sich dann selbst. 3. Die Erziehung muß beides abgesondert leisten. – Die Entscheidung zwischen den ersten bei|den scheint sehr abzuhängen von der Frage über die Erbsünde und das radicale böse. Die zweite wenigstens scheint sich nur ausbilden zu lassen wenn man das böse als auf eine secundäre Weise äußerlich entstanden ansieht, so wie die erste das böse in die Natur zu sezen scheint und eben deshalb nicht direct, weil es als ein sich wieder erzeugendes gedacht werden muß, dagegen angehen kann. Die dritte Ansicht aber hat das Uebel daß sie die Theorie unanwendbar macht; denn wenn auch jene das doppelte System von Erwekkungen und Gegenmitteln vollständig ausbildet, so fehlt dieser der Entscheidungsgrund was sie in jedem Augenblikk thun soll, da man in jedem Augenblikk auf beide Art wirksam sein kann. Wir werden also auf die ersten beiden zurükkgeworfen. Da alles böse Widerstreit gegen Staat Kirche &c. ist, so geht die Ansicht vom angeborenen bösen davon aus, daß das böse in der einzelnen Natur des Menschen liege, und daß er eben deshalb erst müsse für Staat &c. tüchtig gemacht werden. Die entgegengesezte geht eben deshalb davon aus, daß weil dem Menschen Staat Kirche &c. angeboren seien, sei ihm das gute angeboren; aber indem man ihn zum eigenthümlichen entwikkle, entwikkle sich das böse mit. Da es nun nur eine relative Differenz ist, von welchem Punkt man anfängt: so muß auch dieses nur eine relative Differenz

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sein. Also: Das gute ist angeboren in wie fern das böse nicht angeboren ist; und das böse ist angeboren in wie fern das gute nicht angeboren ist. [Nämlich das gute i. e. das Elementsein von Staat und Kirche ist nicht angeboren als wirkliches Bewußtsein. So demnach ist das böse angeboren, d. h. im Bewußtsein ist es eine Priorität, daß der Mensch dieses alles außer sich sezt und sich selbst ihm entgegen. Ferner: Das böse ist nicht angeboren als eine reale Richtung des Gemüths; so demnach ist das gute angeboren.] Da nun ferner unmöglich ist daß die Gegenwirkung gegen das böse und die Wirkung auf das gute realiter können getrennt sein (NB. | beispielsweise den Saz aufgestellt, daß es keine eigentlichen Strafen pädagogisch giebt, weil diese wesentlich nur Gegenwirkungen gegen das böse sind): so fallen alle drei Ansichten in Eine zusammen. Denn wenn jede Beförderung des guten zugleich Gegenwirkung gegen das böse ist: so ist es gleichviel, ob ich den ganzen Proceß als das eine, oder als das andere, oder als ein Gemisch von beidem ansehe.

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D r i t t e F r a g e. Wenn das Ziel der Erziehung ist, den Menschen für Staat Kirche &c. abzuliefern, in ihm aber von Anfang an kein Bewußtsein hievon einwohnt: so behandelt man jeden Moment nur als Mittel für einen künftigen. D ar f m an e i nen Moment einem a nd e r n a u f o p f e r n ? Offenbar Nein; so wenig man einen Menschen bloß als Mittel für den andern behandeln darf. Denn der Mensch des künftigen Moments ist nicht mehr der des vorigen. Weil die Idee des Lebens in dem einen eben so gut ist als in dem andern (und nicht eines untergeordneten Lebens das dem höheren zur Speise dienen könnte), so darf auch der eine nicht des anderen wegen vernichtet werden. Wenn man dennoch sagen wollte, der Zögling würde in Zukunft einsehen daß man wohlgethan habe, und man dürfe also seine Einwilligung anticipiren: so ist das falsch, weil nach einem unabänderlichen Naturgesez eine große Mortalität in diese Bildungsperiode fällt. Sondern was Vorbereitung ist, muß zugleich auch unmittelbare Befriedigung sein. Eben deshalb darf man auch nicht sagen, man wolle nach den eben aufgestellten Gesichtspunkten theilen: einiges solle Vorbereitung sein, anderes Entwikklung der eigenthümlichen Natur. Denn wenn ein pädagogischer Act ausschließend das leztere ist: so wird eben so die Zukunft der Gegenwart aufgeopfert. Nämlich alle Lebensacte wodurch die | Natur sich entwikkelt sind Zusammenwirkungen, 3–8 […]] eckige Klammern im Textzeugen

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erfordern also ein äußeres. Wenn man dies aus seinen Beziehungen auf Staat Kirche &c. heraus versezt: so wird in dem Zögling das böse, nämlich der Widerstreit gegen jene realiter producirt. Es entsteht also der Kanon, A l l e Vo r b e r e i t u n g m u ß zug leich unmittelba re B e f r i e d i g u n g, u n d al l e B e f r i e d i gung zug leich Vorbereit ung s e i n. Nun ist aber die Beförderung des Wohlseins oder der Naturentwikklung und Darstellung eines jeden Menschen in Gemäßheit mit den Ansprüchen des Staates der Kirche &c. allgemeine Pflicht, und alles pädagogische Verfahren trete also unter den allgemeinen Pflichtbegriff zurükk und scheine sich als besondere Kunstlehre aufzulösen. Dies würde aber überall gelten; denn alles gute und rechte müsse doch ein Ausschnitt aus dem allgemeinen Pflichtverfahren sein; nur das rein technische würde abgesondert bleiben. Aber wohl zu merken sei, dies als Richtmaaß alles pädagogisch construirten. Jedes Verfahren könne nur in sofern richtig sein als es sich unmittelbar als Pflicht begreifen lasse, alles andere sei nothwendig falsch und erkünstelt.

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Man könnte zweifeln ob es etwas durch alle Stufen gleich hindurchgehendes gebe. Aber man muß sich [durch] das vielfache und bunte jedes einzelnen Falles nicht irre machen lassen. Die Erziehung ist von Anfang bis zu Ende nichts anderes als Auseinandertreibung der Gegensäze, Erhöhung des Bewußtseins, Feststellung des eigenen Lebens. Ist hierin nichts mehr zu leisten: so ist auch die Erziehung zu Ende, und eben dasselbe ist es womit sie anfängt. Das allgemeine muß das erste sein, theils weil es uns hilft die Einheit in dem Bilde der Erzie|hung festhalten, theils weil das besondere hernach daraus abgleitet oder darauf zurükkgeführt werden muß. E r s t l i c h. Ve r h äl t n i ß d e r E r z i ehung zu den a nderw eitig e n E i n w i r k u n ge n i n s o f e r n s i e ihr zuw ider sind. Die pädagogischen Bemühungen sind auf allen Seiten von zufälligen Einwirkungen umgeben, welche weil nicht alles einzelne im allgemeinen Leben mit demselben zusammenstimmt und sein inneres rein ausdrükkt, ihr zum Theil widersprechen müssen. Je mehr dieser Widerspruch eingreift, um desto schwerer erreicht sie ihr Ziel. Sie kann also zweierlei thun. E n t w e d e r nach Maaßgabe ihre unmittelbare Einwirkung verstärken und dadurch die entgegengesezten überwiegen.

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O d e r die entgegengesezten Einwirkungen möglichst abwehren und einschränken. Es ist hier nur von Einwirkungen die Rede; denn wiewol es keinen lebendigen Act giebt der nur Affection ist: so ist doch die Spontaneität hier als Gegenwirkung nur secundär; und wenn die Einwirkung abgeschnitten ist, so ist die Gegenwirkung mit abgeschnitten. Die eine Maxime sagt nun, Auf die Einwirkung kommt nichts an, und ich will durch andere Einwirkungen nur die Gegenwirkung dominiren. Die andere sagt, Nein es kommt schon auf die Einwirkung an. Dies wäre in soweit immer schlimm, weil man sie doch gänzlich nicht abschneiden kann. Hier nun kommt die Frage über die U n s c h u l d in Betracht. Unschuld ist in irgend einer Hinsicht Bewußtlosigkeit des Gegensazes von gut und schlecht, aber Uebereinstimmung der Bewußtlosigkeit mit dem guten. Sobald die Bewußtlosigkeit mit dem schlechten übereinstimmt, wird sie Unwissenheit, und es wird nothwendig den Gegensaz zur Sprache zu bringen. Sobald aber das Kind vom schlechten afficirt wird als Wahrnehmung oder Gefühl, so geht die Unschuld verloren. Die eine Maxime will also theils die Unschuld bewahren, theils wenn der Gegensaz durch die Erziehung entwikkelt ist, die Anschauung des bösen im einzelnen verhüten. Um zwischen beiden zu entscheiden muß man den Unterschied aufstellen erstlich zwischen Zeiten wo die Einwirkungen | wirklich welche sein können, und wo nicht. Wo das Werk der Erziehung beendigt ist, soll die Tugend und die Einsicht selbständig sein. Es würde Unwissenheit sein, das böse nicht zu kennen; und Schwäche, davon verleitet zu werden. Wo es noch nicht angefangen ist, also der Gegenstand noch nicht in das Leben eingreift, da ist auch keine Sorgfalt nöthig. Ein Kind kann ohne Nachtheil manches sehen was ein Knabe nicht. Ein Kind das noch nicht reden kann, darf Sprachfehler hören &c. Die Zeit ist also nur die wo die Erziehung selbst mit dem Gegenstande beschäftigt ist. – Zweitens in der Sache den Unterschied des u n s c h ö n e n und des u n r i c h t i ge n, der freilich auch nicht absolut ist, weil eins zugleich das andere sein muß. Das unrichtige aber ist mehr das dem ganz allgemein und logisch, oder dem individuell bestimmten positiv entgegenstehende; das unschöne das aus einem inneren Mißverhältniß hervorgehende. Sprachfehler sind unrichtig, plebeje Redensarten im ordentlichen Gespräch unschön, schlechter Stil überhaupt unschön. Gesezwidrige Handlungen sind unrichtig, Selbstsucht ist unschön. Das unrichtige kann gebraucht werden zur Erläuterung der Regel, das unschöne aber nicht zur Erläuterung des schönen. Das unrichtige kann nur mechanisch durch Gewohnheit wirken, das unschöne auch durch einen specifischen Reiz. Offenbar also hat die vorsichtige Maxime ihr eigentliches Object im unschönen, die kühne im unrichtigen.

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Die vorsichtige Maxime hat also ihre Stelle in Bezug auf das unschöne, sobald der Sinn für einen Gegenstand wirklich | geöffnet ist. Wie man aber so lange das eigene Leben noch schwach ist das neugeborne Kind in möglichst gleicher Temperatur zu halten und den Einflüssen der Witterung zu entziehen sucht, hernach aber dieses Einhüllen und Einwikkeln abnimmt: so muß auch die Behütung abnehmen wenn die Selbständigkeit eingetreten ist. Diese aber kann nicht eintreten wenn man immer behütet, und hierin liegt das Maaß. Die Selbständigkeit ist die radicale Kur, die Behütung nur die palliative. Keine Behütung also darf die Entwikklung der Selbständigkeit unmöglich machen. Beispiel an der Maxime, Kinder dem öffentlichen Unterricht zu entziehen damit sie nicht unschönes sähen. Dadurch entgehen ihnen aber die vielseitigsten Aufregungen zur Selbständigkeit. Wenn Jugend nach gleichförmiger Behütung hernach ins Leben kommt: so ist der Abstich zu groß, und die Gefahr um so größer da keine innere Gegenkraft gebildet ist. Hieraus folgt schon daß die Maxime eine größere Anwendbarkeit hat für das weibliche Geschlecht, welches nie in einen so freien und großen Spielraum tritt und welches diejenige Selbständigkeit die auf dem Begriff ruht niemals erlangt, als für das männliche. Hiemit hängt auch zusammen daß man auf die Unschuld einen größeren Werth legt bei Mädchen als Knaben. Mädchen sollen zum Bewußtsein erst kommen wo sie wieder bildend auftreten. In Knaben muß es eher gewekkt werden, weil mit der Unschuld weder ein wissenschaftliches noch ein herrschendes Leben verträglich ist, also auch nicht eine nähere Vorbereitung zu beiden. Hier ist also der Irrthum gar leicht, daß man die Unschuld zu lange erhalten will; der Verlust kann daher nicht groß sein, wenn das Leben sie auch etwas früher zerstört als der Gang der Bildung es nothwendig machte. Jedes neue Gebiet in welches der Zögling eintritt, sezt wieder einen neuen Gegenstand für diese Maxime, in welchem ebenso ihre Anwendbarkeit abnimmt. Sie nimmt also im einzelnen immer ab, im ganzen aber zu, so lange der Zögling noch im Besiz seines ganzen Daseins ist. Es giebt einen Punkt | in welchem ihm für vieles auf einmal der Sinn aufgeht: das ist die Periode der Mannbarkeit, in welcher der Mensch eigentlich für alles höhere erst empfänglich wird. Wie die sich hier entwikkelnde organische Kraft behutsam zusammengehalten werden muß, damit sie weder verschwendet noch ins unschöne abgelenkt wird: so auch mit allen anderen Kräften; und gleich schwer ist jeder Schade zu ersezen der dieser Zeit geschieht.

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Sieht man auf die natürlichen Differenzen der Menschen: so hat die behutsame Maxime mehr Anwendbarkeit bei denen von receptiven Temperamenten, weil in diesen weniger sich die Selbständigkeit ausbildet. Dem phlegmatischen und cholerischen schadet vieles nicht, was wol dem sanguinischen und melancholischen schadet. Am gefährlichsten ist der lezte wegen der Ungleichförmigkeit seiner Beweglichkeit, da leicht das schöne und ermuthigende in einem unerregten Moment fallen kann, das unschöne aber in einen erregten. Auch müssen am meisten melancholische Menschen durch die Sünde hindurch, dann sanguinische, dann cholerische wegen der Ungleichförmigkeit, am wenigsten aber phlegmatische. Zw e i t e n s. Ve r h äl t n i ß d e r E r z i e h u ng zu den a nderw eit ig e n E i n w i r k u n ge n i n s o f e r n s i e m it ihr zusa mmenstimm e n.3 In sofern also kommen dieselben Einwirkungen zusammen auch ohne die Erziehung; was hat also diese zu leisten? Man kann sagen, sie verstärkt was diese doch zu schwach bringen, sie ordnet was sie nur chaotisch bringen, sie erhöht zum Bewußtsein was sie nur unbewußt bringen. Alles braucht also nur zum Gegenstande der Erziehung gemacht zu werden in dem Maaß als das Leben in diesen Punkten zurükkbleibt. Aber es wird nur geschehen in wie fern das Zurükkbleiben wirklich erkannt wird. Daher giebt es kein allgemeines Maaß. Die Gestaltung der Erziehung beruht auf zwei Brennpunkten. Allgemein, Auf dem Interesse an der Ju|gend, dem Bestreben ihr nachzuhelfen und sie die eigenen Verwirrungen vermeiden zu lassen. Besonders, Auf dem Gefühl dessen was in der Gestaltung des gemeinsamen Lebens mangelhaft ist. [Hätte nicht auch der erste Punkt eben so positiv aus dem Gesichtspunkt der kühnen Maxime müssen durchgegangen werden? Dahin hätte eigentlich gehört daß Erwekkung der Liebe der eigentliche Hauptpunkt ist, und daß die Behutsamkeit nothwendig ist wo die Liebe noch nicht hat erwekkt werden können.]

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Der pädagogische Factor den das reine Interesse an der Jugend bildet, würde immer eine Erziehung hervorbringen, wenn auch kein Gefühl vom mangelhaften des Lebens ihn secondirte. Aber auch nicht eine 3

Besser schließt sich hier No. 3. an (St. 16), wenn das unschöne und unrichtige sich von selbst entwikkelt. Randbem. Schleierm.

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sich überall gleiche. Wenn | man Erziehung in verschiedenen Zeitaltern und Nationen gleichförmig verschieden findet, die eine vielseitiger ausgebildet, die andere beschränkt, und so auch bei einzelnen Menschen: so kann man sagen, dort sei ein größeres Interesse an der Jugend als hier. Es fragt sich aus diesem Gesichtspunkt, Ist die ausgebildetste die beste oder kann sie in eine πολυπραγμοσ νη ausarten und also das Interesse für die Jugend zu groß sein? Daß dies im einzelnen möglich ist, sehen wir täglich. Das Bestreben Unarten abzugewöhnen kommt gewiß aus reinem Interesse. In dem Maaß als der Mensch in das Gebiet der Sitte kommt, wird diese auch Gewalt über ihn üben, und die Unarten werden verschwinden. Uebt sie zu schwache über ihn: so werden sich auch wenn er erwachsen ist neue erzeugen, und das Bemühen im einzelnen in der Kindheit hilft nichts. Die Frage nun, ob und wodurch von diesem Punkt aus das Gebiet der Pädagogik zu bestimmen sei, läßt sich nur entscheiden durch Berükksichtigung der neulich schon angeregten Punkte. Die Erziehung als Ergänzung fehlender Einwirkungen des Lebens geht mehr aus dem anderen Factor, dem Gefühl der Mängel, hervor; aber daß sie Ordnung und Bewußtsein hineinbringt, gehört hieher. Die Frage auf die Spize gestellt würde also so lauten, Soll alles in dem Menschen auf ordnungsmäßige Weise und durch Zusammenhang werden? und soll man überall auf das Maximum von Bewußtsein hinarbeiten? – ad 1.: | so ist offenbar daß weder Kenntniß noch Fertigkeit ohne Zusammenhang sicher ist, daß von den chaotischen Einwirkungen viele verloren gehen weil sie zu früh kommen, und daß leicht ganze Klassen von Anregungen ausbleiben können. Hienach scheint also alles was im Leben ist auch in der Erziehung sein zu müssen. – ad 2.: so wird man nicht leicht die Frage ganz allgemein bejahen wollen; theils macht das Bewußtsein eben den Unterschied der verschiedenen Bildungsstufen; theils sieht jeder, es wäre unmöglich und würde die Erziehung ganz aufheben, weil wir über vieles niemals zum Bewußtsein kommen, z. E. wie wir unsere Glieder regen, wie wir unsere Gedanken verbinden; theils – da hier nur vom objectiven Bewußtsein die Rede sein kann, indem was das subjective Bewußtsein das Gefühl beträfe, die eigentliche Erziehung keinen Vorzug vor dem Leben haben kann – ist offenbar vieles wo das eigentlich vollkommene völlig bewußtlos ist, das Bewußtsein erst hinterdrein kommt und etwas ganz anderes bildet. Der sittliche Mensch als solcher ist bewußtlos, das Bewußtsein bildet den Moralisten; der Genießer des schönen als solcher ist bewußtlos, das Bewußtsein bildet den Kritiker, der ganz ein anderer ist. Hier also gewinnen wir die Bestimmung, daß dasjenige worin das objective Bewußtsein vorwaltet überwiegend in das Gebiet der eigentlichen Erziehung fällt, dasjenige worin das Gefühl vorwaltet, d. h. das sittliche und alles dem

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analoge, mehr in das Gebiet des Lebens. [Hiedurch wird auch die Bestimmung aus dem Gesichtspunkt der Ordnung begrenzter. Das sittliche wird in das Gebiet gewiesen welches seiner Natur nach chaotisch ist. Die Aufgabe ist nun Ordnung in das allmählige Hineintreten der Kinder zu legen.]

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Hienach scheint alles sittliche und schöne nicht Gegenstand der Erziehung zu sein und nur als solche das Einüben von Kenntnissen und Fertigkeiten übrig zu bleiben. Jeder wird aber | doch gestehen daß ein technischer Proceß zur Erwekkung einer tugendhaften Gesinnung etwas verkehrtes ist, und daß sich einer lächerlich machen würde wenn er behauptete im Besiz einer Methode zu sein um guten Geschmakk einzuimpfen. Ja es würde sogar gegen ein solches Verfahren eine natürliche und wohlbegründete Opposition im Zögling entstehen, weil nämlich die äußerlich aufgedrungene Scheingesinnung das Entstehen der ächten im Inneren hinderte. – Um die Sache auf die Spize zu stellen kann man sagen, Auch das dominirend objective hat seine subjective Seite, welche also ebenfalls aus dem technischen Kreise herausfällt, z. E. im philologischen Erwekkung des Taktes. Aber es giebt auch bei Behandlung dieser Gegenstände außer dem technischen Kreise ein Leben der Alten mit den Jungen, in welches eben jene Anregungen natürlich hineinfallen. Während das technische Verfahren auf das objective wirkt, wirkt das Leben auf das subjective. Man muß daher unterscheiden: G e b i e t d e r Erziehung im eng er e n S i n n e, d a s d e s t e c h n i s c h e n Ve r f ah rens; und im w eit eren S i n n e, d a s d e s L e b e n s. Beide muß man, wiewol sie in Zeit und Ort nirgends vollkommen getrennt sind, ihrem Charakter nach streng unterscheiden. Dem technischen Gebiet den freieren Charakter des Lebens geben, ist das Princip der laxen Erziehung; dem Leben den Charakter des technischen Verfahrens geben, ist das Princip der pedantischen und harten Erziehung, die eben so unfruchtbar als unerfreulich ist. Nun entsteht aber die Frage, Giebt es für das Gebiet des Lebens auch eine Theorie? Zu verneinen wenn darunter verstanden wird eine Anweisung einen bestimmten Zwekk sicher zu erreichen. Zu bejahen wenn es heißt, Eine Anweisung um sicher zu sein daß man in jedem gegebenen Fall das rechte thut, und daß also das geschieht was unter den gegebenen Umständen geschehen konnte. Nämlich aus dem einen Hauptstandpunkt der Erziehung ist der Mensch in 1–5 […]] eckige Klammern im Textzeugen

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der Familie. In dieser wird gelebt nach ihrem Gesez und so auch auf den Zögling gewirkt auch außerhalb des technischen Verfahrens. Die Aufgabe ist also | nur ihn überall nach dem Gesez und der Natur der Familie zu behandeln. (A n m e r k u n g. Hiebei findet denn auch das in der Erziehung statthabende analoge von Strafe, aber lediglich aus dieser Beziehung statt.) Aus dem anderen Standpunkt ist das Wirken auf ihn ein Handeln des Staates der Kirche &c. Wer auf ihn wirkt, es sei zu Hause oder in der Schule oder sonst, thut es als Agent des Staates der Kirche &c. Die Verhältnisse in denen dies geschieht sind auch nicht technische Institute allein; auch in ihnen ist ein Leben und also ein Wirken nach ihren verschiedenen Gesezen. Vorher fanden wir aus dem Princip der Ordnung – und dieses geht ja ganz auf ein technisches Verfahren aus – daß alles müsse zur Erziehung gehören; hier vom Princip des Bewußtseins aus finden wir daß nicht alles auf gleiche Weise dazu gehört. Wie gleicht sich dieses aus?

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So, daß wenn einmal der Zögling in das Gebiet der Mittheilung und Erwekkung eines bestimmten Gefühls aufgenommen ist, alsdann nur nach den Gesezen des Lebens zu handeln ist; daß aber ein technisches Verfahren stattfindet um ihn nach Ordnung und Zusammenhang in dieselben eintreten zu lassen. Das leztere erhellt hinreichend daraus daß man z. B. offenbar viel zu früh rechtliche Gefühle oder wol gar Begriffe bei den Kindern voraussezt, auch ehedem häufig zu früh sie auf bestimmte Weise fromm zu machen suchte. Gehen sie darauf ein: so kann doch nichts daraus entstehen als daß sie sich mit einem leeren Scheine begnügen, der die Entwikklung des rechten Processes hindert. Gehen sie nicht darauf ein: so entsteht eine auf dieselbe Weise schadende Opposition. Dieses richtige Hineinführen nun muß nach denselben Principien geschehen welche das Wesen alles technischen Verfahrens ausmachen. Man könnte die Frage aufwerfen, welches von den beiden Gebieten, das eigentliche des technischen Verfahrens oder das | des einwirkenden Lebens, das höhere sei. Sieht man auf die Kunst: so ist das erste das höhere. Hier kann der Erzieher sein Resultat bestimmt aufstellen, und niemand kann ihm streitig machen daß es sein Werk ist; wogegen wenn man auf Gesinnung und Gefühl eingewirkt hat, einer immer behaupten kann, es würde ohne diese Einwirkungen dasselbe erfolgt sein. Sieht man dagegen auf die Wirkung: so ist das Gebiet des

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einwirkenden Lebens das höhere. Denn das andere bringt nur Einsichten und Fertigkeiten hervor, nur den Organismus, nicht den Willen oder die Gesinnung, den regierenden Geist. Wogegen das einwirkende Leben die Gesinnung und den Willen hervorruft, von dem man sagen kann, Fehlt es auch an der systematischen Ausbildung, der gute Wille kann sie gewissermaßen ersezen und jedesmal das Maaß von Geschikk hervorbringen das für den gegebenen Fall nothwendig ist. Diese beiden Gesichtspunkte, daß die Erziehung Ordnung und Zusammenhang, und daß sie erhöhtes Bewußtsein hervorbringt, sind es aus denen das wesentliche sich immer selbst gleiche der Erziehung hervorgeht. Der dritte, daß sie nämlich das mangelnde der Einwirkungen des Lebens ergänzen soll, der Factor der auf dem Gefühl des mangelhaften Zustandes des Lebens beruht, ist es aus dem das wechselnde der Erziehung hervorgeht. Denn in dem Maaß als das was dem Leben mangelte durch die Erziehung hervorgebracht worden ist, nehmen die aus dem Leben entspringenden Aufregungen für die künftige Jugend zu, und der Gegenstand darf nicht mehr in demselben Sinne sondern nur unter dem vorigen Charakter Gegenstand der Erziehung sein. Wird aber der Uebergang in das Leben nicht erreicht: so ist man entweder auf falscher Fährte gewesen, oder man hat es nicht recht angefangen und ein Versuch wechselt mit dem anderen. Pädagogische Neuerungen sind also eigentlich ein Krankheitsmaaßstab. Am übelsten wenn die Bemühungen sehr mannigfaltig sind und jeder seine eigenen Verbesserungsversuche macht. Denn das ist das Zeichen daß sich das Krankheitsgefühl nicht wie ein richtiger Instinct | verhält und daß sich wenig gemeinsames vorfindet. Nur von solchen Neuerungen ist etwas zu halten welche schnell populär werden, wie die in der physischen Erziehung und jezt die musikalischen und gymnastischen Bemühungen.

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Die beiden Elemente das beharrliche und das veränderliche sind freilich nur relativ entgegengesezt. Da die Nation aus der Indifferenz erst wird: so wird auch ihre ganze Erziehung; alles darin war einmal nicht. Diejenigen in denen sich zuerst ein neues Nationalelement entwikkelte, fühlten es in der Nation als fehlend; und so läßt sich alles auf das veränderliche reduciren. Aber alles auch auf das bleibende, da alles im ersten Keim involvirt lag. Es findet aber eben daher ein zwiefaches Verhältniß statt. In der P e r i o d e d e s S teig ens geht alles pädagogisch entstehende in das bleibende System der Nationalbildung

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über. Das als mangelnd gefühlte erzeugt politische und pädagogische Bestrebungen, es geht ins Leben über, und wird dann durch den anderen Factor, durch das reine Interesse an der Bildung der Jugend fortgepflanzt. In der P e r i o d e d e s Ve r f al l s gelingt keine Kur, oder wenn ein Uebel geheilt ist, bricht ein anderes aus. Alle Uebel werden als so dringend gefühlt daß die immer wechselnden Neuerungen das alte bestehende System ganz auflösen, indem man meint jezt alles auf den Einen Punkt wenden zu müssen, hernach aber zum alten System zurükkzukehren. Z w i s c h e n b e i d e n liegt eine Zeit in welcher die h ö c h s t e E n t w i k k l u n g und die ersten Elemente des Verfalls zusammenkommen. Der Verfall ist aber noch nicht permanent, er ist nur Krankheitszustand, erfordert nur partiale Rükksichten und wird wo nicht geheilt doch gelindert. Dies ist der Typus, die forma le S eite. Läßt sich aber dazu auch eine m at e r i a le aufzeigen, | ein pädagogisches Element welches jenen Grenzpunkt bezeichnet? – Die nationale Eigenthümlichkeit entsteht aus der Indifferenz, wie die persönliche. Sie entsteht als Gegensaz, aber sie darf kein absoluter werden, und damit nicht in ihr das allgemein menschliche aufgehe, muß sich mit ihr zugleich entwikkeln ein Sinn für das fremde. Ist sie also am höchsten entwikkelt, so muß auch dieser Sinn am höchsten entwikkelt sein und als ein wesentliches Element der Nationalbildung gefühlt werden. Also die Zeit der höchsten Entwikklung ist da, wenn im pädagogischen System Veranstaltungen sind um den Sinn für das fremde auszubilden und zu unterhalten. An m e r k u n g 1. Da auch das nationale Leben schwach oder stark sein kann wie das persönliche: kann man sagen, Je mehr Sinn für das fremde, desto stärkere Nationalität? Wir wären dann offenbar das stärkste nationale Leben. Aber eine unbewußte Nationalität bedarf auch nur eines negativen Sinns einer erweiterten Gastfreiheit. (Denn Gastfreiheit ist die erste Stufe dieses Sinnes, an welcher man erkennt ob ein Volk auf dem Wege der Cultur oder der Barbarei ist.) Das Bewußtsein aber würde weit feindseliger wirken und bedarf also des stärksten Gegengewichtes. Wir haben deswegen den meisten Sinn für das fremde weil wir die bewußteste Nation sind. Anm. 2. Der Sinn für das fremde wird natürlich nie gleichförmig in der Nation entwikkelt sein, das Maximum davon nur in denen die auf der höchsten Stufe stehen; und wie nahe diesen die anderen sind, das hängt ab von der gleichförmigen Durchbildung die in der Nation überhaupt stattfindet. A n m . 3. Man muß wohl unterscheiden Sinn und Liebe. Jener thut der Anhänglichkeit an das nationale keinen Eintrag. Diese wird Nachahmung, und zwar aus reiner Lust (nicht nur solche Nachconstruction die als Mittel zur Schärfung des Sinnes geübt wird), welche nur auf Unkosten des volksthümlichen stattfinden kann. Liebe

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zum fremden ist allemal Verfall, und dieses eben die scharfe Grenzscheidung der beiden Perioden. A n m. 4. Wenn gleich Nachahmung des klassischen Alterthums auch auf | Verfall deutet, weil einer nicht zugleich kann ein Deutscher und ein Grieche sein: so erlauben wir doch in dieser Hinsicht manches was wir gegen das coexistirende fremde nicht erlauben. Dies kann seinen Grund nicht haben in einer größeren Vortrefflichkeit, sondern nur im geschichtlichen Zusammenhange, weil unsere Cultur auf jene gegründet ist. Soll aber dies die Ursach sein, so muß natürlich mit der Liebe zum Alterthum auch verbunden sein Sinn für die alterthümlichen Nationalzustände, besonders diejenigen welche partiale Blüthe einer bestimmten Periode waren; und also auch dies muß zur Zeit der höchsten Nationalentwikklung in das pädagogische System aufgenommen sein. Auch dies darf eben so wenig in nachahmende Lust ausarten: denn das Stükk zurükkschrauben wollen ist auch Verfall.

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D r i t t e n s. Ve r h äl t n i ß d e r E r z i e h u n g zu dem w a s sich a us d e m M e n s c h e n vo n s e l b s t e n t w i k k e lt. Parallel dem vorigen, aber mehr von Seiten der Spontaneität. Da das Dasein des Menschen von Anfang an ein Leben ist, und zwar ein wachsendes: so müssen sich von selbst Kräfte entwikkeln und in correspondirenden Thätigkeiten äußern. Es entsteht nun die Frage, Wozu außerdem die Erziehung? welche nach zwei Seiten beantwortet werden kann. Die Erziehung ist auch hier entweder Gegenwirkung, indem einiges in der Selbstentwikklung vom Ziel der Erziehung abführen würde; oder Ergänzung, indem die Selbstentwikklung nicht genug leisten würde. Beide Antworten sind richtig; die Erziehung ist theils gegen das böse gerichtet, theils sagt man auch von Menschen die sich unvollkommen entwikkelten, daß sie in der Erziehung vernachlässigt sind. Nichts aber was sich selbst entwikkelt kann ursprünglich böse sein; es müßte sonst auch in der menschlichen Natur liegen, und dann könnte die Erziehung doch nichts dagegen ausrichten. Auch zu allen Lastern ist das elementarische worauf man zulezt zurükkommt nicht böse; nicht Geschlechtstrieb, nicht Erhaltungstrieb, weder widerstehender (Zorn), noch | attractiver (Geiz). Das böse liegt also nur im Verhältniß. Daher ist die ergänzende Wirkung der Erziehung die ursprüngliche, die polemische nur die secundäre. Alles Verhältniß ist zusammengesezt aus Gleichheit die unter der Identität, und Ungleichheit die unter dem Gegensaz steht. Soll also etwas allgemeines festgestellt werden: so

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muß man einen Gegensaz auffinden unter welchen sich die verschiedenen Verhältnisse alle subsumiren lassen, und aus welchem man die speciellen Formen desselben entwikkeln kann. Ein solcher Gegensaz in der Entwikklung des Menschen darf nicht auf Gerathewohl gesucht, sondern muß durch eine Ableitung gesezmäßig gefunden werden. Nur soviel vorläufig: N e gat i ve Da rst ellung. Es ka nn nicht d e r G e g e n s az z w i s c h e n L e i b u n d S eele sein. Viel Anschein dafür. Was sich aus Leib und Seele entwikkelt ist beides gut, beides zusammen umfaßt alles; das meiste böse wird sich darstellen lassen als ein Mißverhältniß zwischen Leib und Seele. Die Sache muß aus zwei Gesichtspunkten betrachtet werden. Erstens. Ist in der That das durch die Erziehung zu unterstüzende und das durch sie zu bestreitende ein entgegengeseztes Verhältniß zwischen Leib und Seele? Zweitens. Können Erziehung des Leibes und Erziehung der Seele die Hauptabtheilungen der ergänzenden Erziehung sein? ad 1. Man erklärt das gute durch Herrschaft der Seele über den Leib, und das böse durch Herrschaft des Leibes über die Seele. Allein wie kann man sagen, daß die Lust z. E., welche nicht herrschen soll, etwas leibliches ist? und wie kann man sagen, daß die Vernunft herrscht, da sie nicht herrschen kann außer in so fern sie etwas auch leibliches erst geworden ist. Man kann eher sagen, es giebt zweierlei Herrschaft: im Leibe die Herrschaft entweder des leiblichen ⲕατ’ ἐξοχήν, oder dessen was im Leibe den Geist repräsentirt; und im Geist eine Herrschaft dessen was der Geist ⲕατ’ ἐξοχήν sezt, und eine Herrschaft dessen was im Geiste den Leib repräsentirt, welche beide eigentlich immer einander correspondiren müssen. Die Nerventhätigkeit repräsentirt im Leibe den Geist, | die Lust repräsentirt im Geiste den Leib. ad 2. Man theilt freilich in körperliche Erziehung und geistige; aber wo soll die Grenze sein? Bildung der Sinne ist Bildung des Verstandes. Bildung der willkührlichen Muskelkraft ist Bildung des Willens; denn keine Thätigkeit ist vollkommen wenn sie nicht zugleich körperlich ist; sowie kein Auffassen, wenn es nicht zugleich sinnlich ist. Hier also ist beides nicht zu trennen. Was bleibt nun außerdem rein geistiges übrig? Nur die Gesinnung; diese aber liegt auch außer dem Gebiete der technischen Erziehung. Was bleibt rein körperliches übrig? Das System der Respiration und der Ernährung. Dieses aber liegt außer den Grenzen der pädagogischen Technik, denn man kann nur nach den Vorschriften des Arztes wirken; sonst würde die Pädagogik ganz die Medicin verschlingen. Außer in wie fern man wieder durch das entgegengesezte Ende durch die Gesinnung auf beides wirken kann, wie man bei schlechter Respiration und Verdauung auch gewisse Tugenden und Fertigkeiten nicht fordert, oder nur durch eine weit stärkere Kraft der Gesinnung möglich hält.

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A n m. 1. Der Ausdrukk physische Erziehung für einen Theil ist völlig schlecht; denn was überhaupt anders als die φ σις kann erzogen werden? – Bleiben wir aber auch bei körperlich stehen: so kann man sagen, Beim Volk ist auch die Einwirkung auf die Gesinnung zur körperlichen Erziehung gehörig. Denn da seine Gesinnung nur Vibration einer allgemeinen Bewegung ist, so ist es eigentlich nichts als Organismus, Leib. Die geistige Erziehung bliebe also nur für die Menschen höherer Ordnung, und zwar gerade in so fern sie über dem Zeitalter stehen und also nicht können erzogen werden. A n m. 2. Kein Gegensaz den man aufstellen könnte, begünstigt so sehr den Wahn als ob die Glieder einander ausschlössen und das eine in dem Maaß zurükkstehen müsse als das andere ausgebildet wird. Wie lange hat der Gedanke ge|herrscht, fein geistig gebildete Menschen dürften oder müßten kränklich sein, und ebenso körperlich stark ausgebildeten Menschen müsse man verzeihen wenn sie geistig stumpf sind. Dies gilt nur von Menschen deren Körper viel todte Masse angenommen hat, d. h. eben nicht gebildet ist. – Der Gegensaz von Leib und Seele hat sich mit dem Princip der neuen Zeit zugleich entwikkelt, und es ist ein Symptom ihres Verderbens daß er sich überspannt hat. Wir müssen ihn nun wieder abstumpfen und mehr auf die Identität beider in unsern Ansichten und Behandlungen sehen. P o s i t i v e D ar s t e l l u n g. Woher nehmen wir einen richtigen Gegensaz? Wir scheinen ihn schon gefunden zu haben indem wir den Gegensaz von Leib und Seele auflösten in dem von Verstand und Willen, deren jeder sowol leiblich als geistig war. Dieser Gegensaz kann daher über jenem stehen, weil er ihn durchdringt. Allein der Weg vom falschen zum wahren ist unsicher, und wir müssen anders anfangen. Wir sezen den Anfang des Menschen da wo wir ihm zuschreiben daß er eigenthümlich afficirt wird und sich eigenthümlich bewegt. Im Fötus sind dies mehr einzelne Strahlen, von der Geburt an wird es ein Continuum. Als einzelnes Wesen steht der Mensch allem entgegen, aber weil er im ganzen befaßt ist, so ist dies entgegenstehen Gemeinschaft; ein In- Durch- und Nacheinander von heraustreten und hineingehen. Dieses hat zwei Seiten. Beides kann seinen Anfang haben außer ihm: in sofern muß er afficirt werden können, und dies nennen wir Receptivität; es kann seinen Anfang nehmen in ihm, und dies nennen wir Spontaneität. In dem beständigen Fluß des Lebens ist aber der Anfang nur relativ, und also real beides in einander. Das ganze Leben ist also Zusammensein und Wechsel von Receptivität und Spontaneität. Diese Ausdrükke haben Verwandtschaft mit dem Bewußtsein und

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beziehen sich auf das eigenthümliche des menschlichen Lebens. Ganz analoges ist aber auch in dem bewußtlosen, in wie fern es nur als ein für sich gesezt werden kann. Fassen wir unter diesen Gegensaz im all|gemeinen z u e r s t die p r i m i t i ve unterstüzende Wirkung der Erziehung: so geht sie theils darauf, die Spannung des Gegensazes zu befördern: denn anfangs ist er noch schwach und eben darum nichts recht bestimmt im Leben aufzufassen; theils darauf, ihn gegen die äußere Reaction zu unterstüzen durch Verwahrung, bis die Stärkung so weit gediehen ist daß es keiner Verwahrung mehr bedarf. Aber wie ist es z w e i t e n s mit der s e c u n d är e n p olemischen Wirkung? Indem der Gegensaz sich stärkt, steigert er sich auch; es genüge uns an der gemeinen Topik sinnlich verständig und vernünftig. Böse und verkehrt ist das niedere, aber nur in Bezug auf das höhere. Daher sagt man gewöhnlich, das böse liege im Streit des höheren und niederen. Denn wenn jemand etwas böses thut worum er gar nicht weiß, rechnet man ihm dieses nicht als böse zu, sondern fragt nur ob er es nicht hätte wissen sollen. Dann aber liegt der Fehler in der vernachlässigten primitiven Wirkung. Was heißt aber nun Streit des höheren und niederen im Menschen? und wie ist beides zusammen? Wenn der Mensch um das höhere weiß: so beherrscht es seine Receptivität; wenn er aber nicht danach handelt: so beherrscht es nicht seine Spontaneität. Der Mensch in wie fern er Object der Erziehung ist, hat alle Steigerung zuerst in der Receptivität. Die ungleichförmige Entwikklung beider Glieder des Gegensazes ist also das böse welchem muß entgegengearbeitet werden. Es besteht aber die Differenz der Temperamente, also die eigenthümliche Natur des Menschen, auch in einem bestimmten Verhältniß von Receptivität und Spontaneität. Wie verhält sie sich also zu dem was die Erziehung unterstüzen, und dem sie entgegenarbeiten soll? Auf der einen Seite soll die eigenthümliche Natur des Menschen entwikkelt und der Gegensaz gefördert werden in der bestimmten Modification unter der er ihm angeboren ist. Auf der anderen Seite führen wir auch alle Fehler und Laster auf das Temperament zurükk, und es scheint also dem entgegengearbeitet werden zu sollen. |

A cht zehnt e Stunde. Es ist gewiß daß jedes Temperament in seine besondere Art des bösen ausschlägt; geht man aber noch weiter: so schlägt jedes aus in eine eigene Verrükktheit, Blödsinn gleich phlegmatische, Raserei gleich cholerische, Tollheit gleich sanguinische, Wahnsinn gleich melancholi-

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sche. Man sieht also die Vernunft ist das zusammenhaltende Band wie der menschlichen Natur im allgemeinen so auch ihrer besonderen Modification im Temperament. Das böse ist also nicht Manifestation des Temperaments, sondern der mit der Entwikklung des Temperaments nicht Schritt haltenden Entwikklung der Vernunft. Wie jedes böse eine Disharmonie ist zwischen dem einzelnen Leben und dem allgemeinen: so ist der Wahnsinn, Abwesenheit des ⲕοινὸς λόγος, das gänzliche Auseinandersein beider. Also das Temperament ist in seiner Entwikklung lediglich zu unterstüzen; aber es ist auch gleichmäßig mit derselben unter die Potenz der Vernunft zu stellen. Man kann kein Gegenwirken gegen das böse als Unterdrükkung des Temperaments ansehen, vielmehr wird es nur desto besser zusammengehalten je weniger böses darin sich äußert. Zum Ideal des Weisen gehört auch nicht daß er in der Indifferenz der Temperamente sei; das Temperament offenbart sich in jedem Act auch ohne böses, und eine Unterdrükkung desselben findet nicht statt. Wenn aber doch Receptivität und Spontaneität in jedem Menschen besonders modificirt sind: so fragt sich, Muß nicht jeder nach Maaßgabe seines Temperaments besonders behandelt werden? Wird die Frage bejaht: so findet gar keine gemeinsame Erziehung statt, da das Temperament wieder in jedem einzelnen ein anderes ist. Die primitive Seite gestattet keine solche besondere Behandlung. Denn bei ihrem Anfang ist das Temperament noch nicht zur Erscheinung gekommen, kann also auch keinen Maaßstab abgeben. Sind aber die verschiedensten bei einer gleichen Behandlung von Null auf Eins gekommen: warum sollen sie nicht eben so gut von Eins auf | Zwei kommen können? Das entwikkelnde Princip ist im Zögling selbst, die Erziehung reicht nur den Stoff dar; ist sie systematisch, so muß dieser eine Totalität bilden, und dann können sich alle Temperamente an ihm entwikkeln. Wenn man freilich darauf ausgehen wollte ein noch stärkeres Uebergewicht des einen Gliedes hervorzubringen d. h. den Entwikklungsproceß specifisch zu beschleunigen oder zu spannen, dann müßte besondere Behandlung stattfinden; allein wenn man nicht den Rationalisirungsproceß zugleich beschleunigt, so erzeugt man nur böses. – Eben so wenig aber in Bezug auf die secundäre Seite. Da Gegenwirkung gegen das böse und Förderung des guten in der Erziehung realiter gar nicht getrennt sein können: so könnte man überhaupt das böse, wenn man lediglich auf den Zögling selbst Rükksicht nimmt, sich selbst überlassen, weil es wenn alle pädagogischen Operationen zusammenstimmen die Vernunftentwikklung zu befördern, sich eben selbst verlieren muß. Was aber zur Vernunftentwikklung geschieht, kann sich nicht nach der Differenz der Temperamente richten. Nun kann man aber freilich das böse nicht vollkommen sich

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selbst überlassen, weil der Zögling nie isolirt ist, sondern in ein gemeinsames Leben gesezt. Allein was man thut um den Einfluß des bösen auf dies gemeinsame Leben zu dämpfen (wohin alle Behandlungen der Fehler und alle Strafen gehören; denn diese stellen nur eine sinnliche Größe gegen die andere, jede aber bietet jedem Temperamentsfehler eine Seite dar, also vertheilt man das böse in eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen, vermindert es aber nicht), das muß auch Element eines gemeinsamen Lebens sein, und nicht ein vereinzelndes hervorbringen, wie die differenten Behandlungen thun würden. Es ist also nur egoistische Anmaßung die aus diesem Grunde gegen eine gemeinsame Erziehung auftritt. |

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N eunzehnt e Stunde. Man findet sie häufiger da wo das Nationalgefühl weniger stark ist – in England am wenigsten unter den Neueren –, denn dann fühlt man auch daß das Temperament der einzelnen unter der Potenz des Nationaltemperamentes steht. Bei uns war das Nationalgefühl schwach, daher auch diese Neigung stark. Sie scheint zwar mehr von der Differenz der Stände herzurühren, der Edle soll vom Gemeinen geschieden werden; allein das kommt auf Eines heraus. Denn das vornehme hat kein anderes Wesen als das stärkere Heraustreten der Eigenthümlichkeit. Das andere Element der Eigenthümlichkeit ist die D ifferenz der An l a g e n, Hervortreten einzelner Zweige und Organe, sei es der Receptivität oder der Spontaneität. Soll diese Differenz begünstigt werden, oder soll sie unterdrükkt werden? – Das erste nicht. Sie soll bestehen, denn sie liegt in der Natur, eben durch sie ist jeder Mensch eine eigene Modification der Menschheit; allein sie bra ucht nicht begünstigt zu werden um zu bestehen. Denn da sie von der Geburt an noch nicht erscheint, und also durch eine bloß allgemeine Erziehung von Null auf Etwas gekommen ist: so wird sie auch bei einer solchen sich bis zum natürlichen Maaß ihrer Spannung weiter entwikkeln. Ist die Erziehung gleichmäßig: so wird bei gleicher Unterstüzung das stärkere Organ mehr wachsen als das schwächere. Sie soll aber auch nicht begünstigt werden; denn je mehr einzelne Vermögen im Menschen zurükkbleiben, um desto mehr wird er abhängig. Nun ist diese Abhängigkeit zwar das intellectuelle Band der Geselligkeit; allein es giebt doch ein Maaß über welches man der Schönheit unbeschadet nicht hinausgehen darf, denn der Mensch wird eine Mißgestalt. Unterdrükkt aber soll diese Differenz auch nicht werden; denn dieses würde am Ende die Theilung der Geschäfte unmöglich machen.

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Verschieden von der Differenz der Anlagen ist nun noch die der Neigungen. Nämlich jedem Vermögen entspricht eine | Seite der Welt als ihr Stoff. Dieser Stoff aber ist wieder in sich selbst gegliedert, und das Organ des einen hat eine specifische Verwandtschaft mit Einem Theile dieses Stoffes, das eines anderen mit dem anderen. Dies ist Neigung und kommt vorzüglich in Betracht bei den vorherrschenden Talenten. Die Neigung eines Menschen in seinem vorherrschenden Talent ist sein Beruf. Die Bestimmung des Menschen ist, die Welt in sich aufzunehmen und sich in der Welt darzustellen. Nun erlangt er zwar statt des ganzen immer nur einzelne Punkte. Einzelnes kann Repräsentant des ganzen sein in wie fern man darin als in einem besonderen das allgemeine mit hat und als in einem bestimmten sein entgegengeseztes. Das leztere entsteht nur durch Vergleichung auf empirischem Wege, das erstere nur durch Analogie. (Man kann zwar beides auch auf speculativem Wege erlangen, aber dies geht aus der organischen Behandlung des Stoffes als solchen noch weniger hervor.) Beides also nur in wie fern der Zögling mit dem ganzen Stoff seines Organs und mittelbar mit der Totalität des Stoffes bekannt wird, also auf dem Wege der allgemeinen Bildung. Geht man dagegen der Neigung gleich nach, die völlig bewußtlos anfängt: so behält er das einzelne immer nur als einzelnes und nicht als Repräsentant der Welt. Die Maxime also welche jeden Menschen unbeschadet seiner Neigung durch die allgemeine Bildung durchgehen läßt, ist allein die welche den Zögling selbst, seine Bildung zum Menschen zum Zwekk hat. Diejenige aber welche gleich auf das specielle ausgeht (noch schlimmer wenn es nicht durch Neigung bestimmt sondern durch fremde Willkühr gesezt ist), braucht den Menschen nur als Mittel, entweder für die Eitelkeit des Pädagogen, weil gleich ein äußerer Schein hervorgebracht wird, oder für irgend ein bestimmtes Gebiet, in welchem er ein vortreffliches Organ sein kann ohne es selbst zu besizen. Es ist nun von dem Gegensaz aus, ohne auf die einzelnen Gebiete und Perioden speciell zu sehen, nur d r e i e rlei im A llg emeinen zu sagen. G e s e z d e r e x t e n s i ve n E n t |w i k k lung, G esez der int ensi v e n , G e s e z d e r G l e i c h z e i t i gk e i t o der des Wechsels zw isc h e n Re c e p t i vi t ät u n d Sp o n t an e i t ät. [Von dem lezten ist dann der natürliche Uebergang zur Anordnung der verschiedenen Perioden.]

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Es würde zuerst von der e x t e n s i ve n Ent w ikklung zu reden sein; allein es ist zuvor zu bemerken, daß wir extensive und intensive zwar trennen, daß sie aber realiter immer verbunden sind. Die Extensive ist bedingt durch die intensive. Von dem Chaos des neugeborenen, in welchem Gefühl und Wahrnehmung gar nicht getrennt sind, ist nicht möglich zum Sondern der Gegenstände zu gelangen, wenn sich nicht die Vernunft als Bewußtsein der Formen entwikkelt hat. Einzelne Indicationen für sich, z. E. Identität der Farbe, abgesonderte Bewegungen, bringen in so viele Irrthümer daß sie immer wieder in das Chaos zurükkführen müßten. – Ebenso ist die intensive bedingt durch die extensive. Denn ehe aus dem Chaos des neugeborenen, in welchem physiologisches und willkührliches noch gar nicht getrennt ist, ein Wollen sich entwikkeln kann, müssen sich erst die Vermögen gesondert und jedes sich als Fertigkeit gebildet haben, um in einem Gegensaz zu stehen der verbunden werden muß. Es gilt aber eben so gut das lezte auch von der Seite der Receptivität, und das erste auch von der Seite der Spontaneität. Aber eben deswegen weil beides zwar vereinigt ist aber doch als zweierlei muß gesezt werden, ist in jedem Act eines das primitive und das andere das secundäre; keines von beiden aber darf bloß als secundäres behandelt werden, also muß es in der technischen Behandlung getrennt werden. Dabei aber muß man wol wissen daß indem man das eine fördert secundär auch das andere folgt. | Demnächst aber fragt sich, Ob es ein allgemeines Princip der extensiven Entwikklung für alle Perioden und Zweige der Erziehung giebt, das sich also gegen alle Gegenstände indifferent verhält und eben sowol Receptivität als Spontaneität befaßt. – A llg emeine A uf g a b e ist E n t w i k k l u n g d e s r e c e p tiv en Cha os zur Welt a ns c h a u u n g, u n d d e s s p o n t an e e n z ur w elt bildenden S elbstd a r s t e l l u n g. Der Proceß ist also auf beiden Seiten wesentlich derselbe. Da die Thätigkeit in dem Zustande worin die Erziehung den Menschen entläßt, ebenso vorkommt wie in dem worin sie den Menschen findet: so liegt alle Einwirkung nur in dem Zuführen des Stoffes, die aber nur in sofern ein Fortschritt sein kann als sie an die Gesammtthätigkeit welche bis zu jedem Moment gegeben ist anknüpft; sonst ist sie nur eine Verlängerung des dem vorigen Moment gegebenen rohen Stoffes. Also ein allgemeines Princip giebt es. Stoff führt sich aber auch von selbst zu, und die Sache der Erziehung ist nur mehr Ordnung und Zusammenhang und eben dadurch auch Bewußtsein hervorzubringen. Wir halten uns zuerst an die O rdnung. Und da fragt sich zuerst, Wenn wir auch wissen was wir jedesmal sollen fol-

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gen lassen, wann sollen wir es folgen lassen? Hier nun als Problem die Maxime „Nicht eher ein neues folgen zu lassen bis das vorige in dem Zögling vollständig geworden ist.“ Man kann auf der einen Seite sagen, Jedes einzelne sowol der Receptivität als der Spontaneität ist in sich selbst ein unendliches, kann also nie vollständig werden; und ist dies die Maxime: so ist die Erziehung gar nicht da oder zurükkhaltend. Auf der anderen Seite muß man sagen, Wird diese Maxime nicht angewendet: so ist die Erziehung nur Schein und gar nicht specifisch verschieden von den chaotischen Einwirkungen des Lebens. Dies Dilemma ist zu lösen. [Vielleicht nun gleich übergehen zum Princip des Zusammenhangs; nämlich die Gesammtthätigkeit jedes Momentes bestens zu benuzen zum Gesammtzwekk, woraus indirect jene | Maxime folgt. Denn das unsichere und verpfuschte bildet keine Gesammtthätigkeit.]

E in und zwanzigst e Stunde. Es führt schon von selbst auf eine Beschränkung der Maxime, die aber weder willkührlich noch äußerlich sein darf. – Kanon. Die abzuwartende Vollendung nämlich darf nur eine relative sein, nämlich in Bezug auf die aufgestellte Aufgabe, abstrahirt von allem was außerdem noch im Gegenstande oder in der Thätigkeit ist. Die Langeweile der Wiederholung darf man nicht fürchten. Denn diese ist nur in dem Verhältniß in welchem Mannigfaltigkeit und Wechsel gänzlich mangeln. Nun aber ist Mannigfaltigkeit des besonderen immer nicht nur möglich sondern auch nothwendig um was für das aufgestellte Problem in dem gewählten Substrat zufällig ist auch als zufällig erscheinen zu lassen. – Die Haupteinwendung gegen die Maxime ist, Es sei nicht nöthig die Vollendnung abzuwarten, dasselbe was jezt Gegenstand selbst sei, komme hernach vor als integrirender Bestandtheil, und dann könne allmählig nachgeholt werden was noch fehle; ja es sei Schade, da diese Wiederholung doch unvermeidlich sei, nichts auf sie zu rechnen. Allein eben dies ist das Princip der Pfuscherei und schlechthin falsch. Auf die Wiederholung wird ohnedies gerechnet. Denn die abzuwartende Vollendung ist da, wenn vermittelst der auf den Gegenstand angestrengt und ausschließend gerichteten Aufmerksamkeit das Problem im engeren Sinne gelöset wird. Dies genügt aber nicht für die Folge, denn was als Bestandtheil in einem anderen stekkt, das muß ohne Aufmerksamkeit und oft ohne Bewußtsein aufgefaßt oder ausgeübt werden. Dies erfolgt nur indem es durch Wiederholung 11–14 […]] eckige Klammern im Textzeugen

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zur Gewohnheit geworden ist; das kann es aber nie werden wenn wegen Mangel an Richtigkeit die Aufmerksamkeit immer noch besonders muß darauf gerichtet werden. Der Kanon bleibt also nothwendig stehen. Wenn nun aber alles was jezt Gegenstand eines Pro|blems für sich ist, hernach als Bestandtheil eines zusammengesezteren vorkommt: muß dies nicht auch rükkwärts ins unendliche gelten, und wo fängt man an? Dies ist die Frage nach dem elementarischen, welches freilich technisch bestimmt werden muß, denn im Leben kommt nichts elementarisch vor, und es ist ein doppelter pädagogischer Fehler wenn man bei zu componirtem anfängt und wenn man ins unendliche zerspalten will. Allein in wie fern die Frage materiell ist, läßt sie sich hier nicht lösen, sondern nur von jedem Gegenstande aus. Formell aber müssen wir hier sagen, Elementarische Aufgaben sind solche welche nicht für sich dargestellt werden können, sondern nur indem man von einem anderen abstrahirt; z. E. Man kann keinen Ton von bestimmter Länge darstellen ohne auch von bestimmter Höhe und Stärke, was aber einfach für sich gedacht keine heterogene Mannigfaltigkeit enthält. Alles elementarische in jedem Gegenstande ist ein mannigfaltiges, das gleichzeitig muß betrieben werden. Der Vorzug der Mathematik als pädagogischer Gegenstand besonders in Bezug auf die Befolgung dieses Kanons liegt darin, daß kein Gegenstand mehr ist als man ihn jedesmal will sein lassen, und daß alles wovon man abstrahiren muß niemals zur Sache gehört. Daher schließt sich alles desto mehr, je mehr es mathematisch ist, an diese Maxime des Fortschrittes und somit auch an diesen Typus der strengen Erziehung an, und umgekehrt. Dies ist aber auch natürlich, denn die Gesinnung und die Phantasie müssen auch am meisten der Entwikklung im freien Leben überlassen bleiben.

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Auf dem Gebiet wo die Erziehung nicht technisch ist tritt die Maxime in negativer Gestalt auf. Das Leben ist ursprünglich einfach und entfaltet sich erst allmählig; aber in der Welt der erwachsenen ist überall das entfaltete, und die Einwirkungen von diesem stören und übereilen die Entwikklung. Ein natürliches Gegengewicht ist freilich, daß vieles an den Kin|dern vorübergeht was ihren Sinn nicht trifft; nur die unvermeidliche Irrationalität des einzelnen und ganzen gegen einander stört dieses und macht besondere Cautelen nothwendig. Wäre beides völlig harmonisch, so könnte man alles gehen lassen. Die Maxime

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lautet also, Das Einfache nicht eher zu verlassen bis es seine relative Vollendung erreicht hat. Beispiel: Geschmakk an den reinen Tonverhältnissen eher als an den Dissonanzen; an einfachen Accorden eher als an figurirter Musik, und diese so lange abhalten. Im allgemeinen ist das einfache in der Kunst das was mit dem ursprünglichen organisch natürlichen zusammenfällt, also da Anknüpfungspunkt; und so im Verhältniß weiter. In der Gesinnung ist das gute das Zusammenfallen des gemeinsamen mit dem einzelnen. Also nicht eher in größere und zusammengeseztere Sphären bringen, bis die Gesinnung in den einfachen so weit relativ entwikkelt ist daß sie wiederum als Basis dienen können. Die zweite Aufgabe ist nun ein P r i n c i p des Zusa mmenha ng s in der extensiven Entwikklung. Ordnung bezieht sich auf das Nacheinander in einem isolirten Zweige (denn weiter kommen wir durch die vorige Maxime nicht), Zusammenhang auf das Nebeneinander verschiedener Zweige. Beides ist aber dasselbe. Ordnung ist Zusammenhang in wie fern jeder isolirte Zweig wieder ein mannigfaltiges ist, da das elementarische wesentlich mannigfaltig ist; Zusammenhang ist eine Ordnung in wie fern die ganze Erziehung Eins und nur im Zusammenhange die relative Vollendung jedes Momentes ist. Man wendet ein, der Zusammenhang werde erst am Ende der Erziehung gefunden, während derselben könne er nicht stattfinden, sondern nachdem die Zweige richtig constituirt sind, sei nur innerhalb jedes Zweiges auf dessen Vollendung in sich selbst zu sehen. Allein das Leben ist dann in jedem Moment ein zerfallenes und verworrenes, die Gegenwart der Zukunft aufgeopfert. Man wendet ferner ein, der Mensch auf der niederen Stufe sehe auch erwachsen den Zusammenhang der großen Sphären nur als eine äußere Nothwendigkeit; mehr könne der | Zögling auch nicht verlangen, und so werde der Zusammenhang dargestellt indem alle Zweige gleichmäßig auf positive Weise auf sein Wohlbefinden und Uebelbefinden Einfluß haben. Allein da einige Zweige vermöge seiner Neigung diesen Einfluß auf natürliche Weise haben: so erscheint kein Zusammenhang zwischen diesem natürlichen und jenem positiven Einfluß, und somit überall kein Zusammenhang.

Drei und zwanzigs t e Stunde. Wenn die Erziehung mehr Zusammenhang in die Entwikklung bringen soll: so muß sie keine anderen Elemente enthalten als die das Leben enthält, sonst ist zwischen beiden und also auch in der Entwikk-

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lung überhaupt der Zusammenhang aufgehoben. Bei uns finden wir einen solchen Streit, der sich in der Art wie Wissen und Praxis, Schule und Leben entgegengesezt werden, hinreichend manifestirt. Historisch ist zuvörderst zu fragen, ob und wo es besser ist. Wir finden einen solchen Streit nicht bei den rohen Völkern, wo das Leben wenig differentiirt, jede kleine Sphäre, wie bei unvollkommenen Organisationen, mehr dem ganzen gleich ist, also alle Einflüsse des ganzen auch von den nächsten Umgebungen repräsentirt werden und eben daher wenig oder keine besondere Erziehung nöthig ist. – Wir finden ihn ferner nicht bei den klassischen Völkern, wo Bildungsgrade und Stände nicht so sehr verschieden sind und die Erziehung nichts enthält was nicht jeder freie in seinem Leben hätte brauchen können. Die Jugend wurde zeitig aus dem differentiirten Leben der Familie in die Totalität des Nationallebens hinein versezt. – Hieraus zeigt sich woher bei uns der Streit kommt. Es ist Mangel an Einheit im Nationalleben. Unsere Cultur und Gesinnung ist auf fremdes gepfropft. Diese Abhängigkeit ist bei einigen völlig bewußtlos geworden, bei anderen zum Bewußtsein immer mehr gesteigert. Daher eine zwiefache Entwikklung, und wenn die Erziehung die Einflüsse der Totalität repräsentiren soll: so muß sie vieles enthalten wovon sich in dem Leben der meisten keine | Spur findet. Wenn wir in dieser Einheit unter den Griechen stehen: so stehen wir im Bewußtsein über ihnen. Auch sie hatten fremde Elemente aufgenommen, ihre Mythologie beweist es; aber sie waren ihnen ganz unbewußt geworden. Wir könnten es nur als einen Rükkschritt ansehen, wenn wir dieses Bewußtsein verlören. Nehmen wir nur dasjenige in das Erziehungssystem auf, was das Leben der unbewußten Region enthält, und wollen alles andere auf die Zeit nach der eigentlichen Erziehung versparen: so würden nur diejenigen welche das thätige Leben nur sehr spät in Anspruch nimmt zu jener Stufe gelangen; sie würde sich aus dem Nationalleben allmählig verlieren. Trennen wir beide Regionen ursprünglich in der Erziehung: so bilden wir ein Kastenwesen. Nehmen wir alles was die höhere Stufe giebt in die Erziehung auf: so haben alle aus der niederen abstammenden in ihrer Erziehung Elemente die sie in ihrem Leben gar nicht finden. Es bliebe also nichts übrig als daß man diesem Uebel durch eine Erhöhung des Lebens abhülfe. Dies liegt aber, allgemein aufgefaßt, nicht im Gebiete der Erziehung, die nur sehr indirect dazu wirken kann. Also man muß der Jugend ein besonderes von ihrem Familienleben verschiedenes Leben bilden, welches als die Einheit aller ihrer Erziehungselemente erscheine. Dies ist nicht nur die conditio sine qua non unserer Aufgabe, sondern auch dasjenige wodurch sie rein gelöset wird. Denn um einen lebendigen Zusammenhang herzustellen ist die positive Verbindung von Lust und Unlust mit jedem Erziehungselement nicht genug. Auch

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nicht, daß man alle anderen als Mittel für diejenigen darstelle auf welche seine Neigung ihn führt, was ohnedies zu einer völlig isolirten Erziehung führen würde die für jeden eine andere sein müßte; sondern jedes Element muß durch das andere gefordert werden und alle zusammen müssen eine Einheit darstellen, wie die höheren Sphären des geistigen Lebens für den Weisen Ein ganzes darstellen. |

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Der Zusammenhang aller verschiedenen Elemente des Lebens ist unter der Form des objectiven Bewußtseins nur zu geben auf dem wissenschaftlichen Standpunkt, auf jedem niederen erscheinen immer die verschiedenen Elemente einander störend fremd unabhängig: so kann er dennoch in der Erziehung nicht vorkommen. Er kann also nur gegeben werden unter der Form des subjectiven Bewußtseins. Im Gefühl hat es auch der ungebildete Mensch, daß geselliges und religiöses, bürgerliches (Leben) und Wissen zusammenhängen; jede Affection des Gefühls, wenn sie auch von dem einen Gebiete ausgeht, weiset doch zugleich auf alle anderen hin. Ebenso nun wird der Zusammenhang in der Entwikklung sein, wenn ein Leben gegeben ist in welchem so alle Elemente durch einander bedingt sind. Dies ist eigentlich das P r i n c i p d e r S c h u l e n, in welchen das Wissen nur deshalb besonders hervortritt weil es dasjenige ist, weniger um deswillen vorzüglich ein solches Leben außer dem Familienleben nöthig ist, als nur was im Familienleben selbst am meisten fehlt und sich also bei der Vergleichung am meisten heraushebt. Aus dem rein pädagogischen Standpunkt aber ist es nur ein den anderen gleiches Element. Das gesellige, das bürgerliche, das religiöse sind eben so gut darin; und wie sehr die Schule der Idee entspricht, das zeigt sich vorzüglich daran, ob jeder Fortschritt in dem einen durch den in dem anderen bedingt ist, und ob die Ehre einseitig auf eines oder auf die Totalität aller gerichtet ist. Durch dies beides nun fühlt in einer wohl eingerichteten Schule der Zögling diesen Zusammenhang, und anders ist er ihm nicht zu geben. Ohne Schule in diesem Sinne ist für uns keine Erziehung. Gleich fehlerhaft ist es durch Unterricht in der Familie die Totalität repräsentiren zu wollen, oder zwar den Unterricht außer die Familie zu verlegen, aber kein anderes Leben daran zu knüpfen. Die lezte Ansicht, daß Schulen bloß Unterrichtsanstalten (Kenntnißfabriken) wären, Supplement auf der einen | Seite, Vorbereitung möglichst bestimmt für den persönlichen Kreis auf der anderen, hat lange geherrscht und den Verfall der Schulen bewirkt. Diese Ansicht ist nur ausgegangen von dem

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Standpunkt der skeptischen Reflexion und von dem gänzlichen Mangel an Nationalitätsgefühl. Eine andere Frage aber ist, ob sich die Nothwendigkeit der Schule in dieser Hinsicht nicht auf das männliche Geschlecht beschränke; und diese möchte ich bejahen. Der Mann hat ein Leben außerhalb der Familie, und dies entwikkelt sich eben zuerst an und mit der Schule; das Weib hat keines, ihr stellt sich alles in der Familie dar. Die Weiber sollen nicht unwissend bleiben; aber da ihr Wissen einen ganz anderen Typus hat, so kann ihn auch ihr Lernen haben. Lebendig ist ihr Wissen doch nur in sofern als in der Familie ein Werth darauf gelegt wird. Was sie schulmäßig wirklich lernen, vergessen sie entweder, oder es alterirt den weiblichen Charakter. Schulen sind daher für sie nur bis zu dem Zeitpunkt wo sich psychologisch der Geschlechtsgegensaz zu entwikkeln anfängt. Späterhin werden sie Uebel erzeugen, nur andere wenn man sie unter Knaben mengt, andere wenn man sie unter sich läßt; denn da sie nicht bestimmt sind in Haufen aufzutreten, sondern nur einzeln zu leben: so ist auch dies widernatürlich. Für die weibliche Jugend wird man also eben so gewaltsam auf die häusliche Erziehung geführt, wie für die männliche auf die öffentliche. – Die verschiedenen Modificationen welche das System des öffentlichen Unterrichts noch von diesem Princip ausgehend annimmt, hängen von der Art ab wie das Problem aufgefaßt wird, daß die Schule auf der einen Seite die zu große Differenz der beiden Bildungsstufen vermitteln, auf der anderen doch es jedem möglich machen und vorbehalten soll nach seiner persönlichen Qualification in die eine oder die andere hineinzugehen. Doch dies gehört zum folgenden – nämlich zur I n t e n s i ve n E n t w i k k l u n g. Diese ist in ihrer oben bereits angeführten relativen Differenz von der extensiven eine | Steigerung des Bewußtseins vom chaotischen zum Gegensaz zwischen Subject und Object und zur Wiedervereinigung beider. Wenn wir diese verschiedenen Stufen als Potenzen des Bewußtseins unterscheiden: so ist dies auch nicht so zu verstehen als ob sie realiter im Subject getrennt wären. Die eine entsteht nicht und die andere verschwindet nicht. Der Mensch ist nie ein Thier; aber er hört auch nie auf (auch im allervernünftigsten giebt es solche Elemente) ein Analogon des thierischen in sich zu haben. Auf die alte Frage, Wie der Mensch ursprünglich zur Vernunft gekommen sei, kann es nur zwei Antworten geben. Ist die Vernunft etwas eigenthümliches höheres und er soll erst dazu kommen: so kann dies nur durch eine unmittelbare Offenbarung des göttlichen Wesens geschehen. Dann kann es aber auch immer wieder nur so geschehen, und eine Erziehung zur Vernunft ist nichts, wie auch jene ganz consequent behaupten. Soll der Mensch zur Vernunft erst kommen, aber durch sich selbst: so muß sie etwas von seinen vorher

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schon gegebenen Vermögen d. h. von der Sinnlichkeit abhängiges, ein causatum derselben sein. Und das ist die andere Antwort. Dann ist freilich eine Erziehung zur Vernunft möglich; aber es entsteht dann die Frage, die auch von dieser mechanischen Seite immer entstanden ist, Ist es gut den Menschen zur Vernunft zu erziehen? Wir wollen uns also auf diesen Standpunkt gar nicht stellen, sondern annehmen der Mensch ist ursprünglich bei Vernunft. Dann wird sich also auch die Vernunft, so gewiß sie zu seiner Natur gehört und die menschliche Natur in jedem eine lebendige Kraft ist, sich von selbst erheben, die Steigerung des Bewußtseins wird sich von selbst entwikkeln, und es fragt sich nur, Wie ist dieser Proceß durch die Erziehung zu fördern? Hier zeigt sich nun zuerst ein Gegensaz zwischen der intensiven und extensiven Entwikklung. Die leztere hängt an der Mannigfaltigkeit der Gegenstände, die erste gar nicht. Wenn man das Princip der Ordnung in seiner ganzen Schärfe nähme und unbedingt: so wäre die extensive Entwikklung Null, eben weil in jedem Ge|genstand, so lange noch eine Beziehung auf eine höhere Potenz des Bewußtseins wäre, noch etwas unverstandenes bliebe. Aber eben dann ginge an diesem Einen Gegenstande der ganze intensive Entwikklungsproceß vor sich, während dessen aber freilich der Gegenstand alles werden würde. Die Gegenstände sind also hier ganz secundär. Dies ist im voraus zu bemerken, und nun zu sehen auf die Differenz zwischen dem was ohne technisches Verfahren erfolgen würde, und was durch dasselbe geschieht; und auf das Verhältniß in welches sich der den Proceß leitende gegen den Zögling zu sezen hat.

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Der intensive Entwikklungsproceß wird allerdings auch ohne die Erziehung von Statten gehen. Aber nehmen wir eine Ungleichheit der Dignität in den Menschen an: so wird sie hierin liegen; denn bloßes Mehr und Weniger im extensiven, Kenntnisse und Fertigkeiten, geben uns keine verschiedene Dignität. Sofern nun dieser Unterschied nur eine innere Ursach hätte, ein bestimmtes Maaß von Fähigkeit: so könnte die Erziehung freilich nichts produciren was nicht in der besonderen Natur liegt; aber doch beschleunigen, denn in dem sich selbst überlassenen kommt oft die höchste Entwikklung sehr spät. Eine rein äußere Ursach kann es hier nicht geben, eben weil es auf Zusammensein mit bestimmten Gegenständen nicht ankommt. Doch sind diese auch nicht ganz ohne Einfluß. Der intensive Proceß ist auf der einen Seite dem extensiven entgegengesezt; auf der anderen Seite,

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weil nichts als ein bloß äußeres sondern nur als eine Identität des äußeren und inneren, nichts als ein bloß einzelnes sondern nur als eine Identität des einzelnen und allgemeinen gehabt werden kann (jeder Fortschritt aber vom äußeren zum inneren und vom einzelnen zum allgemeinen ist eine intensive Entwikklung): so würde der extensive Proceß auch Null sein wenn der intensive es wäre. Der lezte muß also eine Seite haben mit welcher er jenem zugekehrt ist, das ist die h i s t o r i s c h e, d. h. ein relatives Gegebensein eines | inneren und allgemeinen in Bezug auf eine bestimmte Mannigfaltigkeit des äußeren und einzelnen. Er muß ebenso eine Seite haben mit welcher er von dem extensiven unabhängig ist, d . i . die r e l i g iöse und specula t iv e. Das r e l i g i ö s e ist das unmittelbare Gegebensein des absolut inneren und äußeren im unmittelbaren Selbstbewußtsein. Das specula t iv e ist das nie beendigte Suchen des absolut inneren und allgemeinen im objectiven Bewußtsein. Beides ist aber wieder wesentlich verbunden. Das historische ist grundlos ohne eins von den beiden anderen; das speculative und religiöse sind leer ohne das historische, denn sie können sich nur in diesem darstellen. Da wir aber den intensiven Proceß im Differential für später halten müssen als den extensiven: so wird die erste Stufe die historische sein. Haben nicht alle Menschen gleiche Dignität: so sind sie gewiß nicht alle gemacht sich mit dem abzugeben was nie vollendet werden kann. Ist also einer nicht speculativ: so kann man ihn nicht dazu machen; es ist seine natürliche Unvollkommenheit. Ist aber einer nicht religiös: so ist es eine Verkehrtheit, denn er müßte in einer beständigen Skepsis sein; ist er dies nicht: so ist er von einem bloß in seiner Besonderheit liegenden Grunde geleitet, und das ist böse. Also 1. P r i n c i p d e r F ö r d e r u n g d e s specula t iv en. Die Begriffe sind zwar geschieden, aber ob ein Mensch speculativ sei oder nicht, das ist sehr schwer zu erkennen. Denn auch im bloß historischen ist immer ein speculatives Element, und auch die speculative Kraft kann sich nur im historischen äußern. Man muß also in das Innere hineinschauen, und das ist immer höchst ungewiß. Noch viel schwerer kann man erkennen ob einer speculativ werden kann. Also muß die Erziehung allen die Möglichkeit sichern. Jede gegebene Identität des inneren und äußeren wird aber dem Menschen wieder nur ein äußeres und einzelnes in wie fern er es unmittelbar auf sein empirisches Dasein bezieht, und wird ein Reiz für die Entwikklung nur in wie fern es der Betrachtung still steht. Mit dem Auffassen der Dinge für das empirische Dasein muß der Mensch | anfangen, weil dieses in ihm absolut bedürftig ist; wogegen das höhere in seliger Ruhe latitirt. Es muß aber dasjenige was nur für die Betrachtung da ist ihm vorgehalten werden, d. h. die innere Seite der Naturdinge, ihre Geseze, und die heterogene

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Seite dessen womit wir historisch zusammenhängen. Lezteres das Kriterium der höheren Bildung. Menschen die bloß für das empirische gemacht sind, werden an beidem nichts sehen als was für das empirische gemacht ist; die speculativen aber werden sich an die andere Seite halten. Die Erziehung muß also sein eine stufenweise Herauskehrung der contemplativen Seite der Gegenstände, wodurch jeder seinen intensiven Entwikklungsproceß, wenn er will, von jedem Punkt auf dem er steht weiter fördern kann bis zum höchsten. Soviel im allgemeinen. 2. P r i n c i p d e r Ve r h i n d e r u n g d e s i rrelig iösen. Da hier ein absoluter Mangel nicht in der That sondern nur durch Mißverstand sein kann: so ist nur die Rede von dem relativen, der sich in dem bösen als gottlosen ausdrükkt. Dieses, haben wir schon gesehen, ist nur in der Ungleichförmigkeit der Receptivität und Spontaneität, im Zurükkbleiben der ersten als Trägheit, im Zurükkbleiben der anderen als Untugend oder Laster. Die Maxime ist also im allgemeinen eine Gleichförmigkeit des intensiven Entwikklungsprozesses auch der Receptivität und Spontaneität zu erhalten. Diese ist wesentlich nicht etwa Zurükkhalten des einen bis das andere nach ist. Dann wäre es besser den Zögling den Weg durch das böse, dem es doch nicht ganz entgeht, durchmachen zu lassen.

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Er l ä u t e r u n g ad 2. Die rechte Methode das Gleichgewicht herzustellen ist a) daß man an der Receptivität das am meisten ausbilde was der Spontaneität am nächsten liegt, nämlich die subjective Seite oder das Gefühl; b) daß man jeden Act der Spontaneität der mit der Receptivität nicht zu|sammenstimmt, dieser wieder vorhalte, also zur Subsumtion des producirten unter den Begriff nöthige. (Das bloße Wiederholen kann nur im extensiven Proceß etwas helfen, und auch da hat es sein Bedenken, da das eigentliche Motiv dabei nur die Langeweile ist.) ad b. Auch dies kann nur mit Nuzen in einem Gesammtleben geschehen, und dieses ist um desto vollkommener, je weniger persönliches oder willkührliches bei dieser Operation eintritt, weil aus solchem Eingreifen allemal eine Verstimmung zwischen Erzieher und Zögling entsteht. Es muß also diese Subsumtion als nothwendig aus der Construction des Gesammtlebens hervorgehen; Hauptprincip für die Schulen. Allein die Subsumtion wird nur in sofern auf das Gleichgewicht wirken als aus der Unangemessenheit eine Unlust entsteht, also als nicht bloß der Gedanke sondern das Gefühl intensiv entwikkelter ist. Daher hängt dies ganz ab von a. Also ad a. Jeder einzelne

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ist mit seinem Gefühl abhängig von einem Gemeingefühl. Es kommt also alles darauf an daß dieses richtig sei. Richtig aber wird es nur sein wenn es sich selbst allmählig steigernd den intensiven Proceß leitet. Bilden also gleich im pädagogischen Leben Zögling und Erzieher Ein ganzes: so wird doch nicht das vollkommen intensiv entwikkelte Bewußtsein der Lehrer das Gemeingefühl sein dürfen. Man sieht täglich, welchen Schaden es thut wenn man der Jugend zu zeitig das rein sittliche und das absolut religiöse Gefühl aufdringt; sie bekommt es nur als einzelnes, verkennt es und wird gleichgültig dagegen. Die Hauptaufgabe also ist, zum Behuf der Subsumtion ein dem Entwikklungsgang angemessenes Gemeingefühl in fortwährender Steigerung zu construiren. Und so fällt dieses als ein besonderer Fall unter 1. Also ad 1. Stufenweise Heraushebung der contemplativen Seite der Gegenstände. Hierunter ist befaßt das religiöse und das speculative. In dem einen dominirt mehr der Gegensaz des äußeren und inneren, im anderen mehr der des allgemeinen und einzelnen. a) Speculative Seite. Die Gegenstände sind secundär. Das speculative ist die Idee Gottes, in welcher alle | Mannigfaltigkeit der Gegenstände verschwindet. Es scheint also daß man die Wahl habe, und da fragt sich, Worin tritt unmittelbar die Betrachtung am meisten hervor? und was ist in sich selbst einer solchen Steigerung fähig daß man den ganzen intensiven Entwikklungsproceß daran fortleiten kann? Beides vereinigt sich in nichts so sehr als in der Sprache. Mit der Sprache beginnt der Mensch, denn die erste Vernunftentwikklung offenbart sich durch sie; und mit der Sprache endet er, denn der Philosoph hat seine Bestimmung ganz erfüllt wenn er seine Entdekkungen in der Sprache fixirt hat. In der Sprache sieht jeder nur das dessen er fähig ist; jeder hat genug und keiner zuviel; es besteht also die vollkommene Freiheit.

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Sieben und zwanzi gste Stunde. Was entspricht nun der Sprache auf Seiten des subjectiven Bewußtseins? Er soll ein inneres in sich finden, dem die Totalität der Dinge, ihn selbst eingeschlossen, als äußeres entspricht. Alle Liebe ist Aufhebung eines Gegensazes von innerem und äußerem; denn der Gegenstand ist ein äußeres, aber auf ein inneres unmittelbar bezogen. Es entwikkelt sich also das höhere wie sich die Liebe entwikkelt; die absolute Liebe ist das göttliche Bewußtsein. Das Leben selbst besteht aus concentrischen Kreisen von Liebe; alle sind zugleich gegeben. Der Erziehung liegt aber ob den Zögling nur allmählig hineintreten zu lassen, damit kein Mißverhältniß sei zwischen seiner Entwikklungs-

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stufe und dem Leben in welchem er steht. Ursprünglich ist gegeben die Familienliebe; späterhin findet sich der Mensch im Staat, indirect durch Anschauung fremder Nationalität, direct durch reales Hineingezogenwerden, das aber bei uns zu spät erfolgt. Die Lükke wird ausgefüllt durch die Schule.4 Diese kann der Knabe als eine erweiterte Familie ansehen; er | wird aber je länger je mehr sich aufgefordert fühlen die Analogie des bürgerlichen darin zu finden. Die Nationalliebe ist aber eine beschränkte, ganz auf dem historischen Standpunkt. Die allgemeine ist in keinem Gesammtleben als nur in der Kirche; in dieser ist sie indirect als Aufhebung der Nationalbeschränktheit, direct als unbegrenztes Verbreitungsbestreben gesezt. Die Art wie der Zögling zuerst in die Kirche tritt, ist auch Ausfüllung der Lükke, denn sie schließt sich auch zunächst an persönliches Bedürfniß an und erscheint als erweiterte Familie; sie fordert aber je länger je mehr auf, das höhere in ihr zu finden, und nicht ohne Verschuldung bleibt es verborgen.

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So weit kann nur die allgemeine Untersuchung gehen. Ist extensiver und intensiver Proceß bis auf den bezeichneten Punkt gestiegen: so ist der Mensch reif zum selbständigen Dasein. Alles nähere muß sich modificiren nach den verschiedenen Perioden und Gegenständen.

Zweit er besonderer T heil.

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Dieser muß nothwendig anfangen mit einem S chema tismus, welcher eine doppelte Richtung hat nach der extensiven und intensiven Seite. Lezteres mahnt uns an den Anfangs- und Endpunkt der Erziehung. Der Endpunkt schwer zu bestimmen; wir schließen aber akademisches Leben und was dem parallel läuft mit allen praktischen Uebungen welche darauf folgen aus, weil in lezteren das pädagogische ganz im einzelnen technisch ist und auch schon im ersten das Erzogenwerden nicht mehr durchgehender Zustand des ganzen Menschen ist, sondern nur noch partiell. Was zunächst dem Anfangspunkt liegt, unterscheidet sich, charakterisirt durch die von dem Erzie|her negirte Selbständigkeit des Zöglings, von dem am Endpunkt, charakterisirt dadurch daß der Erzieher die Ansprüche des Zöglings auf Selbständigkeit bald ganz anerkennen zu müssen einräumt. In der Mitte läuft 4

Hieher gehört als andere Seite wo mehr die Freiheit dominirt die gymnastische Gemeinschaft. Randbem. Schleierm.

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beides unkenntlich zusammen. In solchem Falle statuiren wir immer eine mittlere Periode; allein es giebt kein bestimmtes Princip für sie, wenn wir es nicht etwa bei Anordnung der extensiven Seite finden.

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Man kann die drei Perioden parallelisiren mit den beiden Bildungsstufen. In der Kindheit dominirt der extensive Proceß; was auf der intensiven Seite geschieht ist nur zufällig und von selbst. In der zweiten Periode soll das historische Bewußtsein, welches vorher rein empirisch war, so weit entwikkelt werden daß man sieht ob der Zögling eines speculativen fähig ist. Die dritte Periode wäre dann nur für diejenigen welche sich zur höheren Bildungsstufe eignen, noch ein Zustand allgemeiner Erziehung, für die anderen nur technische Vorbereitung auf ihren besonderen Beruf. Diese stimmt auch mit dem vorigen; denn der erste Act der sich aussprechenden und Anerkennung fordernden Selbständigkeit ist die Wahl einer bestimmten Stellung. Also die erste Stufe propädeutisch, die zweite elementarisch, die dritte technisch, nämlich der speculative Standpunkt wird als ein besonderer angesehen.5 Nun zum andern Gesichtspunkt, daß nämlich der Mensch für die vier organischen Sphären tüchtig soll ausgebildet werden, da seine Beziehung auf sie am Anfang so gut als Null ist. Denkt man sich diese Organismen als selbstthätig: so müssen sie ein Interesse haben sich auf die künftigen Generationen fortzupflanzen, und so entsteht eine zwiefache Ansicht der Er|ziehung. Sie erscheint einmal als Werk der Familie bis zu Ende, denn nur nach vollendeter Selbständigkeit tritt der Mensch aus ihr heraus. Dann aber als Werk jener Organismen bis zu Anfang; denn wenn gleich ihr nächstes Interesse ist zu sehen daß die Entscheidung über die Bildungsstufe richtig gefaßt werde: so muß doch ihr Interesse bis auf die erste Periode zurükkgehen. Offenbar also der Antheil der Familie in der ersten Periode am größten, in der lezten am kleinsten; denn da die Familie als solche weder auf dem speculativen Standpunkt steht, noch an einen bestimmten technischen Kreis gebunden ist: so hat sie kein Urtheil über das Verfahren in der lezten Erziehungsperiode. Ebenso offenbar der Antheil jener Sphären in der lezten Periode am stärksten, in der ersten am schwächsten. Für 5 Erste Stufe soll noch keine Ungleichheit entwikkeln, weder Mangel noch Ueberfluß. Zweite soll vorbereitend sein auf die Berufsverschiedenheit. Gemeinleben als Uebergang von persönlicher Autorität, die noch fortwirkt. Dritte ist die des Auseinandergehens. Randbem. Schleierm.

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die mittlere aber fehlt es wieder für sich an einem bestimmenden Princip. Wir können nun aber zusammenfassend sagen, ihr Anfangspunkt wird bestimmt durch den Eintritt in das gemeinsame pädagogische Leben außer der Familie; ihr Ende durch den Bestimmungsact und den propädeutischen Eintritt in eine bestimmte Lebenssphäre. Die erste Schwierigkeit gegen diese Anordnung entsteht aus der Differenz der Geschlechter. Die Töchter sollen auf der einen Seite die ganze elementarische Bildung theilen, auf der anderen nicht aus der Familie heraus. Dies mit dem geschichtlich gegebenen verglichen, hält sich die Praxis auf dem Lande an das erste: sie theilen die ganze Elementarbildung, aber außerhalb der Familie; in den Städten an das lezte: sie bleiben in der Familie, theilen sie aber nicht ganz. Die eigenen Mädchenschulen sind die schlechteste Auskunft, nur Nothmittel wenn keine Privatbildung innerhalb der Familie möglich ist.

N eun und zwanzigs t e Stunde. Eine zweite Schwierigkeit ist daß die höhere Bildungsstufe eigenthümliche Elemente hat; jeder Anfang aber ist trivial, es erscheint unschikklich so spät noch irgend etwas anzufangen, und | auch als großer Zeitverlust. Dieser Schwierigkeit hat man gesucht auf eine doppelte Art auszuweichen. Entweder man sezt einen zwiefachen Cyklus von Elementarbildung, den einen für diejenigen welche präsumtiv auf der niederen Stufe bleiben, den anderen für die welche präsumtiv auf die höhere steigen. Oder man sezt nur Einen Cyklus, nimmt aber in diesen mit auf alles was doch eigentlich nur auf der höheren Bildungsstufe brauchbar wird. Beides hat große Unbequemlichkeiten. Das erste gründet sich doch immer auf die Voraussezung eines angeerbten Unterschiedes, denn woher wollte man sonst nach absolvirter Kindheit schon den Bestimmungsgrund nehmen? Man kann sich bei jedem Fehlgriff nur damit rechtfertigen, daß der Zögling doch diese Ansprüche gehabt habe. Allgemein aber hält es die Fortbildung zurükk wenn man diesen Zustand prolongirt. Das andere hat den Nachtheil, daß die Jugend der niederen Bildungsstufen Elemente aufnimmt die sich aus ihrem Leben immer mehr verlieren, daß sie also ihre Zeit verliert mit der sie erwerben will. Daher entsteht Abneigung gegen die öffentliche Erziehung und Lust zu zeitiger bloß technischer Abrichtung. In eines von beiden wird man immer fallen wenn die Elementarbildung nicht vollendet und rein ist, wie denn unsere Organisationen überall die Spur davon tragen. M a n m u ß i n d e ß na ch Reinig keit der El e m e n t a r b i l d u n g s t r e b e n. Die eigenthümlichen Elemente der

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höheren Bildungsstufen sind doch den anderen homogen, Sprache, Leibesgewandtheit, und werden nach einer vollständigen Elementarbildung leicht zu erlernen sein; und da sie nur als neue Anwendung bekannter Regeln erscheinen, so erscheinen sie auch nicht als absoluter Anfang, und alle Unschikklichkeit fällt weg. Endlich scheint die obige Deduction zu fordern daß in der lezten Periode besondere Institute wären, vom Staat aus, von der Kirche aus &c. Dies könnte aber nur sein wenn jene absolut getrennt wären; sie sind es aber nur relativ, und würden auch bei größerer äußerer Trennung gerade durch das gemeinschaftliche Interesse an der Erziehung wieder vereinigt | werden, eben weil diese an einem und demselben Proceß und nur unter der Form eines gemeinsamen Lebens, was nur als Einheit erscheinen kann, gefördert werden kann. Wir werden also handeln Erstlich von der Erziehung der Kinder in der Familie; Zweitens von der Elementarbildung als vollständig und rein in Beziehung auf die vier Sphären; und endlich von der höheren und technischen Bildung.

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Dr eißigs t e Stunde. E r s t e P e r i o d e. E r z i e h u n g d e s K i n des rein innerha lb der F a m i l i e. Zu begrenzen nicht durch ein bestimmtes Alter, sondern durch den Anfang eines eigentlichen mannigfaltigen Unterrichtes. Dieser deutet auf das gemeinsame Leben (Schule) hin, weil er ohne bestimmte Ordnung nicht stattfinden kann; theils ist er eben deshalb in der Familie nicht zu prästiren. – Hieraus folgt schon ein Hauptmerkmal dieser Periode, daß nämlich Zusammenleben und Erziehen nicht so streng zu sondern sind als später. Man kann wenig thun als mitleben und lebenhelfen; aber alles ist auch Erziehung desto mehr, je mehr es auf alles folgende einwirkt. Innerhalb der Periode selbst finden wir einen merkwürdigen Punkt der sie in zwei Theile theilt, nämlich die Aneignung der Sprache. Man kann ihn zwar nicht fixiren, denn die Kinder reden schon lange und vieles ist ihnen doch noch bloßer Schall, also keine sicher bestehende Mittheilung durch die Sprache; und auf der anderen Seite vernehmen sie weit eher als sie reden, und noch eher giebt es eine pantomimische Verständigung. Das wesentliche aber ist daß mit der Sprache der Begriff eintritt. Daran hat das pantomimische keinen Theil. Dieses ist bloß für das Gefühl und die fließende Wahrnehmung. Das Streben nach Begriffen lokkt die articulirten Töne hervor; von hier an ist erst eine Einwirkung auf die Reflexion und durch die Reflexion möglich, weil hier erst gedacht wird. Also |

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E r s t e r Ab s c h n i t t. Erziehung des sprachlosen Kindes. Die relative Bewußtlosigkeit die in der Begrifflosigkeit liegt, ist zugleich die strengste Abhängigkeit des Daseins. Mit dem Verstande haben wir noch gar nichts zu thun; der Sinn ist das einzige psychische. Für dessen Entwikklung ist aber wenig besonderes zu thun, und darum tritt die physische Seite vorzüglich heraus, weil hier das Bedürfniß so bestimmt ist. Das Leben ist als ein einzelnes hingestellt, aber ohne alle Selbständigkeit. Der erste Grad der Selbständigkeit ist wenn das Kind in Bezug auf den Assimilationsproceß anderen Menschen gleichgestellt ist; dies fällt in der Regel mit dem Anfang des Sprechenlernens zusammen. P h y s i s c h e Se i t e d e r E r z i e h u n g. Was erstlich das Leben überhaupt betrifft, so ist der unmittelbare Unterschied von dem Zustande vor der Geburt dieser, daß 1) der Ernährungsproceß ein willkührlicher wird; 2) die sich immer gleiche Temperatur des Uterus nicht unmittelbar gegeben ist. – ad 1. ist, wenn alles den natürlichen Gang geht, wenig zu sagen. Die Frage, wie zeitig man das Kind neben der Muttermilch an andere Nahrungsmittel gewöhnen muß, und an was für welche, ist rein medicinisch. Kann aber die Mutter nicht säugen: so entsteht das Dilemma zwischen Amme und Fütterung. – Gegen die Ammen der Schade den die heftigen Gemüthsbewegungen bringen, die Besorgniß daß von der gemeinen Natur übergehe. Diese wird dadurch, daß dieser ganze Proceß rein animalisch sei, daß doch nicht alle Kinder das Temperament der Mutter bekommen, nicht aufgehoben. Etwas von der Analogie zwischen Aeltern und Kindern liegt gewiß auch darin, und es bleibt frevelhaft aufs Gerathewohl eine Gemeinschaft des Daseins mit einer fremden Person zu stiften. Vornehmlich aber die Theilung der Liebe, welche daraus entsteht. – Gegen die Fütterung, die Unnatürlichkeit. Allein wenn die Mutter nicht säugen kann, so ist ja durch die Natur selbst aus|gesprochen daß hier eine Ausnahme von der Regel stattfinden soll. Ferner die große Behutsamkeit welche nöthig ist. Allein diese läßt sich doch auf wenige einfache Regeln zurükkbringen; und wenn die Mutter dem Kinde nur soviel Zeit widmet als sie beim Stillen thun würde, so kann keine Gefahr entstehen. Mein Resultat ist, daß eine Amme nur zulässig ist wenn der Arzt es ausdrükklich befiehlt. – ad 2. Fängt schon hier der Gegensaz zwischen harter und weicher Erziehung an. Allein wenn man nur nicht aus Schlendrian oder Neuerungssucht etwas schlechthin grundloses thut, so wird in diesem Zeitraum die Abweichung nach der einen oder der anderen Seite wenig schaden. Denn das Kind macht sich in einem weit höheren Grade als wir seine Atmosphäre selbst, und in dieser, die sich weit weniger ändert, lebt es. Der Schade fängt erst an wo von einer Freiheit des Kindes die Rede sein kann.

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Nun also der G e ge n s az vo n Sp o n ta neitä t und Receptiv it ä t. Zuerst S p o n t an e i t ät. Am Anfang noch kein Gegensaz von willkührlich und unwillkührlich in den Thätigkeiten, alles nur Wirkung eines momentanen Reizes; allmählig entwikkelt sich der Gegensaz: am Ende des Abschnittes schon mit demselben ein bestimmter Wille im weiteren Sinn und ein Cyklus von eigenen Neigungen und Abneigungen. Zuerst mit Rükksicht auf den Anfang des Abschnittes. Man kann die Entwikklung des Systems der willkührlichen Bewegungen beschleunigen und vervollkommnen oder auch aus Vorsicht zurükkhalten. Symbol der behütenden Maxime das völlig eingeschnürte Wikkelkind. Symbol des anderen Extrems die Kinder mit Beulen und Löchern im Kopf. Das erste ist ein offenbarer Rükkschritt, das lezte zeigt an daß das Leben nur ein Zufall ist. Man muß der Freiheit den möglichsten Spielraum lassen, aber unter solchen Umständen daß ein wesentlicher Schade immer nur als ein besonderes Unglükk vorkommen kann. Dies um sein eigenes Gewissen zu beruhigen. Denn wieviel ohne wirklichen | Schaden im ganzen gewagt werden kann, das sieht man an den Volkskindern. Beschleunigung und Behütung auf eine widernatürliche Weise gepaart, wie in den Laufbänken, ist auch kein Gewinn; es entsteht keine Sicherheit, keine wahre Tüchtigkeit daraus. Dahin auch die Fallhüte; man lege sie lieber als Teppich auf die Erde. Zum Beschleunigen kann man nur wirken auf die trägeren Naturen durch vorgehaltene naturgemäße Reize und muß dabei die sich schon entwikkelnde Temperamentsdifferenz gewähren lassen; z. E. Kinder welche lange kriechen, und welche gar nicht kriechen wollen. Ueberall auch darauf Rükksicht zu nehmen, daß das Kind sich in jedem Augenblikk wohl befinde; am freien Wohlbefinden muß die Entwikklung fortgehen. – Mit Rükksicht mehr auf das Ende des Abschnittes und darüber hinaus zuerst vorläufig die Betrachtung, daß man sich häufig zu große und ängstigende Vorstellungen macht, wozu alles schon der Grund gelegt werden kann in dieser Periode. Allerdings entwikkeln 19–22 Laufbänke, auch Gängelwägen, sind mit Rädern bestückte Gestelle, die als Hilfsmittel zum Laufenlernen für Kinder eingesetzt wurden. Bei Fallhüten handelt es sich um Mützen, die mit Stoffen ausstaffiert wurden, um das fallende Kind vor Verletzungen zu bewahren. Laufbänke und Fallhüte waren im 18. Jahrhundert weit verbreitet. Vor Schleiermacher hatte bereits Rousseau im zweiten Buch des „Émile“ die Verwendung derartiger Hilfsmittel scharf kritisiert. Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Collection complète des œuvres, Bd. 1–30 in 15, Zweibrücken 1782–1784 [SB 1625], hier Bd. 7, 1782, S. 80: „Émile n’aura ni bourlets, ni paniers roulans, ni chariots, ni lisieres“ (Œuvres complètes Bd. 1–5, 2. Aufl., Paris 1986–1995, hier Bd. 4: Émile, Éducation, Morale, Botanique, edd. B. Gagnebin/M. Raymond, 1990, S. 300)

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sich schon alle in der Constitution angelegte Neigungen, aber man kann dem fehlerhaften darin nicht eher entgegenwirken als wenn man sichere Wahrnehmungen hat und sichere Motive: beides ist aber in dieser Periode sehr beschränkt. Es ist auch offenbar daß da das Bewußtsein dieser ganzen Zeit völlig verloren geht, nichts in derselben schon zu begründen oder zu bestreiten ist was immer als ein bewußtes in dem Menschen sein soll oder nicht; wogegen allerdings der Grund zu allem was unbewußt sein und bleiben darf, gelegt werden kann. Beispiele: Natürlicher Anstand und Anmuth in den Bewegungen, Reinlichkeit. Mangel des ersten deutet immer auf etwas krankhaftes; aber wenn man auf der einen Seite diesem abzuhelfen sucht, muß man doch auch der schlechten Gewöhnung abhelfen, weil diese wieder ihre Ursachen vermehrt. Es kann nur geschehen theils durch unmittelbare Einwirkung, indem man den Zustand selbst gleich ändert und nie dauern läßt, theils durch den Nachahmungstrieb, der ein völlig unbewußtes und schon hier eintretendes Motiv ist. Beides allein kann auch auf die Reinlich|keit wirken. Uebrigens ist Mangel an Liebe zu dieser eine Stumpfheit des Tastsinnes und des Geruchs; übertriebene Liebe zu ihr eine krankhafte Schärfe dieser Sinne, die auf Nervenschwäche beruht. Aus dieser Liebe kann ein Pedantismus entstehen, den man nicht darf einwurzeln lassen.

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Gegen das Ende dieses Abschnittes ist die Spontaneität soweit entwikkelt daß sie sich bestimmt und nach vielen Seiten als Zuneigung und Abneigung zeigt. Wir können diese theilen in die welche sich auf Liebe, und die welche sich auf Lust bezieht. 1) Liebe. Der Grund und die erste Offenbarung aller Liebe ist die zur Mutter; sie ruht auf einer Gemeinschaft des Daseins, in welcher Selbstliebe und Liebe zur Mutter ungeschieden ist, und erst am Ende dieser Periode trennt sich beides bestimmter. An dieser Liebe nehmen nun alle Theil welche Theil nehmen an der Sorge für das Kind. Dies ist der natürliche Gang. Auf der anderen Seite entwikkeln sich auch Abneigungen, fortwährende gegen einzelne Personen, momentane gegen alle, selbst die Mutter nicht ausgeschlossen. Die permanenten Abneigungen lassen sich schwerlich beim Kinde als Rache construiren; die Kinder haben dazu zu wenig Gedächtniß; sie können rein physisch sein, wie wir sie in uns als etwas physisches fühlen und nur moralisch zügeln. Besser wenn ein Kind in solche Berührungen nicht kommt; aber man muß nichts aus dem gewöhnlichen Gange des Lebens herausgehendes thun um sie

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davon zu befreien; es ist als Schikksal anzusehen. Eben so wenig aber einen unnöthigen Zwang anthun. Die momentanen Abneigungen sind nicht immer die Schuld derer die sie erregen. Das Kind hat bald Wünsche die nicht befriedigt werden können, und sieht das Nichthelfen als Opposition an. Das schlechteste Mittel, erst in dem zweiten Abschnitt recht anwendbar, ist das Raisonniren mit dem Kinde; nicht viel besser ist, etwas anderes an die Stelle sezen: es gelingt nur bei sehr sanguinischen Kindern. Das wahre Mittel ist daß ihm nie die | Opposition allein erscheinen muß, sondern in ihr selbst muß sich das allgemeine Verhältniß der Hülfleistung aussprechen, d. h. man muß mit Liebe abschlagen. Nur sehr cholerische Kinder werden einer solchen Behandlung widerstehen; bei diesen aber muß man, weil sie so excellent sind gerade bei allem was sich auf das Wollen bezieht, weniger daraus machen. 2) Lust. Hier im rein physischen Sinne, weder unter die Liebe zu subsumiren, noch auf die bloße Thätigkeit zu beziehen. Es ist dem Menschen eigenthümlich daß die Lust bei ihm nicht bloß das gestillte Bedürfniß ist, ausgenommen wenn man das auf intellectuellem Wege erzeugte Streben nach Lust auch Bedürfniß nennen will. Das Kind aber fängt an mit der Analogie des animalischen, und jenes entwikkelt sich erst allmählig. Es sollte in diesem Abschnitt noch keine physische Lust haben als die Stillung des Bedürfnisses. Widernatürlich entstanden muß es sein, wenn ein Kind ohne Bedürfniß alles essen will was es sieht, und wenn es schon bestimmte Geschmakkslüsternheit hat.

Dr ei und dreißigste Stunde. Da beim Thiere alles Instinct ist, der Mensch sich aber überall über den Instinct erheben soll: so kann man dieses, daß die Eßbegierde sich vom Bedürfniß trennt, doch nur als ein zeitiges Herausarbeiten aus dem Instinct ansehen. Die Erfahrung lehrt aber daß in eßlüsternen Kindern sich auch der Geschlechtstrieb widernatürlich früh entwikkelt. Jenes Erheben über den Instinct soll auch bei dem höheren anfangen und sich nur allmählig und später über das niedere verbreiten. Die Entwikklung der Geschmakkssensationen, welche bestimmt erst mit dem Kauen anfängt, wird allein eine solche Lüsternheit nicht bewirken, auch nicht das Essensehen der erwachsenen. Sie entsteht widernatürlich erstlich dadurch daß sie viel vom Wohlgeschmakk reden hören; wo man um des Genusses willen ißt und trinkt, da gehören die Kinder nicht hin. Zweitens dadurch daß man sie durch Essen beschwichtigt. Dies fängt schon an der Mutterbrust an, wo es freilich

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oft verzeihlicher Irrthum ist; es | wird aber je länger desto verderblicher. Es ist Hauptsünde gegen die allgemeine Maxime, die die Basis alles Humanisirens ist, daß man nichts gegen seinen Zwekk gebrauchen darf. Drittens, daß wenn man sie zu einer Thätigkeit aufregen will, man sie durch Essen und namentlich wohlschmekkendes lokkt. Man lokke sie durch etwas was auch auf ihrem Entwikklungsgange liegt, durch Gegenstände für das Auge und dergleichen. Man handelt sonst gegen eine zweite eben so allgemeine Maxime, daß man nichts hervorbringen soll was man wieder zerstören muß. Denn man erzeugt eine Bereitwilligkeit für Sinnenlust etwas zu thun in ihnen. – Außer der Eßlust giebt es in Kindern nur die Augenlust. Diese ist aber intellectueller Natur und hängt ganz an der Receptivität. – Also Zweitens R e c e p t i vi t ät. Anfangs ganz chaotisch. Kein Sinn bestimmt vom anderen gesondert; in keinem die objective und subjective Seite. Am Ende des Abschnittes alle mehr oder weniger entwikkelt. Diese Entwikklung geht freilich von selbst vor sich. Aber die Mängel im Gebrauch der Sinne, die sich später zeigen, bringen doch auf die Vermuthung daß die Erziehung auch hier etwas thun könne. Daher sehr verschiedene Ansichten hierüber. Wir beschränken uns auf die beiden Hauptsinne. Erstlich. Was kann man? a. Dadurch daß man dem Verlangen der Kinder nach Wahrnehmung entgegenkommt und ihnen einen Reichthum davon bereitet. Kleinstädtische Kinder sind so weit zurükk hinter großstädtischen und Landkindern, weil sie verhältnißmäßig am meisten in der Stube gehalten werden. Man seze sie in Lagen wo entferntere Gegenstände auf die Sinne wirken können; man fixire ihnen die vorübergehenden. b. Der Sinn des Gesichts ist besonders der Sinn des Wissens. Man zeige ihnen Veränderungen desselben Gegenstandes, damit sie das zufällige vom wesentlichen unterscheiden lernen. Man zeige ihnen ähnliches und verschiedenes, um den Proceß des allgemeinen und besonderen in der sinnlichen Anschauung einzuleiten. c. Der Sinn des Gehörs ist der Sinn des Ge|fühls. Er fängt später an sich zu entwikkeln, entwikkelt sich aber dann sehr schnell (wie viel gehört dazu, daß ein Mensch an der Stimme erkannt, daß die Verschiedenheit der Accentuation bemerkt werde), weil sich die ganze Sehnsucht nach eigenthümlicher menschlicher Mittheilung auf diesen Sinn gründet. Wie es aber der Sinn der Liebe ist, so ist es auch der Sinn der Furcht. Schrekk entsteht durchs Gehör; Schrekkhaftigkeit macht feigherzig. Die ersten Spuren davon schon in diesem Alter. Man sorge daß das Kind nie die Menschenstimme fürchte, so wird es auch nichts anderes fürchten. – Durch das Gehör bildet sich ferner der Tact, das allgemeine Medium der Ordnung und des Maaßes. Unbewußt

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muß er jezt schon wirken; man muß ihn bei allen Gehörübungen hervorheben. Zweitens. Was kann man nicht? Die Sinne sind von ihrer mathematischen Seite Gemeingut, nur von ihrer künstlerischen sind sie Talente. Diese hängt aber lediglich an der inneren Productivität des Sinnes. Wenn ein Mensch nicht zu Augenmaaß und Gehör kommt, das Organ müßte denn offenbar krank sein: so ist das Fehler der Erziehung. Aber daß es innerlich in einem bilde und singe, dazu kann man nichts thun, und erfährt es auch zu spät als daß man schon in diesem Zeitabschnitt etwas dabei thun könnte. Alle Wirkung auf Gesicht und Gehör von außen wird diese innere Productivität nicht hervorbringen. Von selbst aber sezen sich die Verhältnisse schon in diesem Abschnitt fest; und wenn man auf die Talente wirken kann, so findet man eine gewisse Relation derselben schon bestehend.

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In dem Gegensaz nun von Spontaneität und Receptivität entwikkelt sich das Leben des Kindes als einzelnes, und geräth in Streit mit anderen, indem es seinen Willen durchzusezen und seine S elbstä ndig k e i t zu erhalten sucht. Der Unterschied der sich in dieser Hinsicht schon in diesem Abschnitt entwikkelt ist der, daß von der Geburt an es schon unangenehmes | zu entfernen und sein Verlangen zu stillen sucht; wenn es aber nicht geht, so macht es keinen Unterschied ob dies von einem fremden Willen herrührt oder nicht. Sobald aber zu seinem eigenen Triebe das Bewußtsein hinzukommt und es seinen Willen hat, unterscheidet es auch den fremden Willen. Die vorläufige Frage ist, Ob man diese Opposition jezt anders behandeln soll, oder ob man die allgemeinen Maximen jezt schon kann geltend machen. Daß in der Folge das Kind mittelst der Sprache kann überredet oder überzeugt werden, ist kein Grund. Denn das Ueberreden ist nur ein Mittel mehr zum Ablenken; das Ueberzeugen aber hebt die Opposition auf. Kinder sollen allmählig die Aeltern verstehen lernen, dahin gehört das Ueberzeugen; aber die Fälle wo man sie nicht überzeugen kann, welche bis zur vollen Mündigkeit abnehmend fortgehen, darf man mit den anderen nicht vermischen. Am besten also man läßt das Ueberzeugen seinen eigenen Gang gehen auch der Zeit nach ganz getrennt, und versucht nicht zu überzeugen wenn das Kind gehorchen soll. Eben so wenig ist ein Grund, daß in der Folge die Kinder lernen der Aeltern Willen nicht bloß als einen einzelnen ihnen gegenübertretenden sondern als einen allgemeinen ansehen. Denn wo sie sich unter diesen deshalb fügen, hört die Opposition auf; wo sie sich nicht dar-

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unter fügen, kann in der Behandlung kein wesentlicher Unterschied entstehen. Also müssen schon hier die allgemeinen Maximen gelten. Hauptsaz: Es ist gut daß so wenig als möglich Opposition entstehe; wenn sie aber entsteht, muß der ausgesprochene Wille der Aeltern allemal durchgehen. Hieraus entwikkeln sich zwei Bestrebungen, die Opposition abzulenken, und den Willen des Kindes zu brechen. Alle Verschiedenheit der Erziehung in dieser Hinsicht ist nur ein verschiedenes Verhältniß beider; absolute Nachgiebigkeit, wo man nicht abgelenkt hat sich selbst die Schuld beimessen und dem Kinde den Willen lassen; absolute Härte, jede mögliche Opposition zum Ausbruch zu bringen damit der Wille gebrochen werde, – sind strafbar und streng genommen undenkbar. Die Verschiedenheit innerhalb dieser Grenzen hängt | vom Charakter ab und hat wieder Einfluß auf den Charakter der Kinder. Im ganzen ist das Ablenken mehr Sache der Mutter, das Brechen mehr Sache des Vaters. Alles kommt an auf richtige Unterscheidung der Gebiete, wo man den Willen als Befehl ausspricht, und wo als Frage und Vorschlag. Befehlen muß man alles wovon man fühlt daß das Beste des Kindes und die Ordnung der Familie es erfordert; streitiges Gebiet ist Vergnügen und Bequemlichkeit der Aeltern. Befehlen soll man gar nicht was nur als Vergnügen und Bequemlichkeit des Kindes erscheint. Was man einmal nur als Vorschlag vorgetragen hat, soll man nicht in Befehl verwandeln; was man einmal befohlen hat, darf man nicht fahren lassen. Hier richtet sich nun das Verfahren nach den Mitteln welche das Kind einschlägt. In diesem Abschnitt hat das Kind noch keine anderen Mittel als Schreien und Schmeicheln. In der höchsten Ausartung ist jenes Troz, wenn das Kind anderen Unlust machen und dadurch siegen will; dieses ist List. Beides ist secundär. Ursprünglich geht das Kind von der Analogie aus, daß es durch Schreien und durch Freundlichkeit erlangt was es wünscht. Diese Erfahrung muß es nothwendig machen. Das Bewußtsein der ersten Zustände, wo Schreien und Lächeln in ihm nur mechanisch war und von anderen als Zeichen gedeutet wurde, geht bald verloren. Man hüte also nur daß es keine Erfahrung mache daß Schreien Mittel ist. Ganz nicht zu vermeiden wegen Schwächlichkeit und Unwohlbefinden. Die Kunst ist, während solcher Zeiten die Oppositionen zu vermeiden, aber ohne daß das Kind es bemerke. Der zweite Grad ist nun, daß man es wenigstens davor hüte daß es nicht die Erfahrung mache, sein Schreien errege Unlust und man sei ihm zu Willen um dieser aus dem Wege zu gehen. Daher möglichste Gleichgültigkeit gegen das Schreien und Entfernen des schreienden. Ebenso mit dem Schmeicheln.6 Man | lasse es nicht merken daß es Mittel überhaupt 6

Vor allen Dingen darf man nicht Schmeicheleien von ihnen erbitten. Randbemerk. Schleierm.

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ist, gebe oft ehe es bittet, schlage ab wenn es gebeten hat; vor allen Dingen aber nicht, daß man an der Kunst seines Schmeichelns Freude hat und sie sich verdienen will. Daher was man der ersten Bitte abgeschlagen hat nicht der Fortsezung gewähren; die Schmeicheleien bisweilen ohne bestimmten Grund von sich weisen.

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Am Ende dieser Periode geht der Knabe in das Schulleben, das Mädchen analog in das Leben des Hauswesens über. Hier ist Ordnung nach dem Gesez, so daß jede Uebertretung ihm selbst als Unrecht auffallen soll und straffällig ist. Dies ist aber unmöglich wenn er Ordnung überhaupt erst lernen soll. Daher ist eine allgemeine Hauptaufgabe dieses Abschnittes, daß allmählig das ganze Leben in Ordnung gebracht werden soll. Eine hiegegen streitende Ansicht ist, daß das Kind keine Ordnung mit auf die Welt bringt, und daß man ihm diese als einen Zwang so lange ersparen muß als möglich. Hiebei waltet aber die Täuschung ob, als ob das Kind jemals ein rein vereinzeltes Naturwesen sei; es ist Glied der Familie, und in dem Maaß als es sich gegen die Ordnung sträubt, bringt es Unordnung und unnatürlichen Zwang in diese. Weil aber der Punkt wo Ordnung eintreten soll nicht gegeben ist, so entstehen weichere und härtere Behandlungsart; diese hat die Maxime, Man soll von Anfang an überall Versuche auf Ordnung machen und sie fortsezen sobald sie irgend gelingen; jene, Man soll warten bis die Natur selbst die Ordnung einleitet. Im vorigen Abschnitt war noch keine Ordnung möglich, weil diese auf einem Wechsel geschiedener Zustände beruht, und also nicht sein kann wo alles noch chaotisch ist. Sie kann sich daher auch nur allmählig entwikkeln je nachdem die Zustände sich scheiden. Ordnung in Schlaf und Wachen; nicht rathsam, zu warten bis das Kind am Tage nicht mehr schläft, ohner|achtet noch Verwirrung wieder eintritt wenn dieses aufhört. Ordnung im Essen und Trinken; kann beginnen wenn das Kind kauen und also mit den erwachsenen essen kann. Die intellectuellen Processe sind noch nicht geschieden genug (s. unten) um Ordnung zu haben. Ordnung im Waschen An- und Auskleiden. Die Ordnung ist auch deshalb nothwendig, damit die Kinder die Dienste die ihnen geleistet werden für ein Familiengeschäft halten und nicht das Gefühl bekommen als ob andere von ihnen abhängig wären. – Im Schulleben muß das Kind mit einer gewissen Selbständigkeit dastehen.

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Daher zweite Aufgabe, Es lerne immer mehr sich selbst zur gesellschaftlichen Erscheinung bringen. Bei vielen Kindern ist der Trieb stark genug dasjenige selbst thun zu wollen was sich auf ihren Leib bezieht. (Gewiß aber nicht da wo sie das Gefühl haben indem sie sich bedienen lassen zu herrschen.) Dann trete man ihm ja nicht in den Weg wenn er sich entwikkelt. Aber dann muß man auch auf möglichste Simplicität denken im Anzug und in den Instrumenten welche die Kinder handhaben sollen. Wo er nicht stark ist, muß man andere zu Hülfe nehmen; sie müssen Sachen nur besizen indem sie mit ihnen umzugehen wissen, wodurch Geschikklichkeiten geübt werden die man sie hernach desto leichter anweisen kann auch auf sich selbst anzuwenden; sie müssen zu den Thätigkeiten die sie lieben nur gelassen werden in der bestimmten äußeren und von ihnen selbst hervorgebrachten Form. Erreicht wird dies gewiß immer, wenn man es nicht vernachlässigt. – Mit dem Anfang der folgenden Periode geht eine zwiefache Form des Lebens an. Schulleben ist Arbeitsleben oder Uebungsleben, Leben zu Hause ist Spielleben. Dieser Gegensaz tritt aber dann erst ein, und ist die wahre Evolution welche den Abschnitt bildet. Uebung und Spiel sind einander entgegengesezt, hauptsächlich als hervorbringend und darstellend, nebenbei aber auch als gebietbar und schlechthin frei, und als auf die Differenz der Zeit|dimensionen sich beziehend und als Ausdrukk der absoluten Gegenwart. Dieser Gegensaz findet jezt noch nicht statt, eben weil sich dem Kinde die Zeitdimensionen erst allmählig entwikkeln. Es wäre umsonst dem Kinde etwas als reine Uebung hingeben zu wollen, es wird ihm doch unter der Hand Spiel. Also der Erzieher muß sich nicht befremden lassen wenn alles was er als Uebung denkt dem Kinde Spiel wird; aber er muß eben deshalb suchen jedes Spiel zur Uebung zu machen.

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Man muß sich daher auch kein bestimmtes Ziel vorsezen was man jedesmal erreichen soll, wie dieses zur Zeit der eigentlichen Uebungen, im großen bewußt, wie kleinen unbewußt, nothwendig ist. Eine allgemeine Frage ist noch die, Soll nun das ganze Leben des Kindes in diesem Mittelding von Spiel und Uebung aufgehen? soll es keinen Mittelzustand geben zwischen Schlaf und einer nach außen sich manifestirenden Thätigkeit? Dem Müßiggang und der Faulheit muß freilich entgegengearbeitet werden sobald sie sich nur zeigen: allein das Kind bedarf eines solchen Mitteldinges in zwiefacher Hinsicht. Erstlich, da Schlaf und Wachen nur allmählig auseinander geht und jezt

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erst in Ordnung kommt, und die Seele sich später entwikkelt als der Leib: so ordnet sich auch jener Gegensaz später in Bezug auf die Seele; die intellectuellen Kräfte können nicht so lange ununterbrochen thätig sein als die animalischen, und es muß also einen Schlaf der Seele geben außer dem Schlafe des Leibes. Dieser Zustand nimmt ab, gehört aber doch noch in die erste Hälfte dieses Abschnittes, ins zweite und dritte Jahr hinein. So lange dieser noch nöthig ist, giebt es auch keinen eigentlichen Müßiggang und kein Verfahren gegen diesen. Wenn sich dieser Zustand länger als physisch nothwendig ist fortsezt: so geht er dann in den eigentlichen Müßiggang über und ist psychische Krankheit. Diese zeigt sich in den weniger gehaltvollen Individuen; sie ist ihr Naturfehler, und daher nie ganz auszurotten, sondern nur durch vermehrte Reize | dem Uebermaaß derselben zu begegnen. Zweitens. Jeder erwachsene Mensch hat speculative Zustände, wenn nicht objective doch subjective; und gerade das edelste entwikkelt sich durch diese, sowie auch der höchste Lebensgenuß in ihnen liegt. Wann fangen diese an? Wir sind eben so sehr geneigt sie dem früheren Alter abzusprechen, wie wir sie den niedrigen Volksklassen absprechen. Sie fangen aber gewiß schon so zeitig im Leben an, als man sieht daß das Kind etwas in sich selbst verarbeitet. Dies zeigt sich aber schon beim Erlernen der Sprache, wenn man bedenkt wie sie sich die Formen und den abstracten Theil derselben, die Partikeln, aneignen. Gleichzeitig auch, wie sie richtig die Menschen und ihr Verhältniß zu denselben fixiren. Die äußeren Einwirkungen sind zu tumultuarisch, zu stark, als daß während derselben eine gehörige innere Reaction stattfinden kann; diese erfolgt hernach aber durch eine innere gleichsam wiederkäuende Thätigkeit. In dieselbe Form gehören auch die ersten combinatorischen Spiele der Phantasie, aus denen sich alles poetische entwikkelt. Hiezu also muß das Kind Zeit haben. Es fragt sich, Läßt sich dieser Ruhe ein Maaß bestimmen, und läßt sie sich vom Müßiggang unterscheiden? Beide Fragen fallen zusammen. Denn hält man nur den Müßiggang ab: so giebt es kein Zuviel; das Zuviel ist nur das was Müßiggang wird. Der Unterschied liegt aber in der Physiognomie. Die innere Thätigkeit geht zur rechten Zeit von selbst in eine äußere über; denn die krankhafte Phantasie entwikkelt sich erst später. Ein geistig gesundes Kind hat Bedürfniß nach dem Reiz der Außenwelt, und wenn es nichts mehr zu verarbeiten hat, geht es von selbst demselben nach. Der Müßiggang geht durch Stumpfheit in einen Schlaf über, der kein physisches Bedürfniß ist, und trägt die Schlaffheit die diesen ankündigt von Anfang an in sich. Soviel im allgemeinen. Bei der Behandlung des einzelnen können wir weniger dem Gegensaz von Spontaneität und Receptivität nachgehen, denn im Spiel ist beides am innigsten durchdrungen. Besser den wesentlichen Ele-

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menten der Bildung, die alle durch die | Einwirkung der Familie in dieser Zeit müssen entwikkelt werden. Denn sind am Ende dieser Periode auch nicht die Keime der Frömmigkeit Geselligkeit Bürgerlichkeit entwikkelt, so ist wenig zu hoffen. Wir haben also, vorausgesezt daß nicht jedes Element durch ein eigenes System pädagogischer Thätigkeit entwikkelt wird, zu fragen, wie weit wir es in jedem bringen können; und dann wird sich auch zeigen, durch welche Mittel und in welcher Form.

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Zuerst also F ö r d e r u n g d e s Wi s s e n s. Die allgemeineren Principien, daß die Erziehung Nationalsache sei, und daß alle höhere und besondere Bildung sich nur aus der allgemeinen emporheben dürfe, verbieten in diese Perioden schon etwas zu bringen was nicht in den Cyklus der National-Elementarbildung gehört, also nichts was auf eine höhere oder specielle abzwekkt. Dies ist ein tyrannisches Vorgreifen der Natur. Ja auch wo sich ein specifisches Talent schon zeigt, wie dies bei der Musik öfter der Fall sein kann, muß man es nur im übereinstimmenden Fortgang mit allem anderen excoliren. Also überall nur anknüpfen an das was sich von selbst anfängt zu entwikkeln. Die nähere Bestimmung, wie weit, giebt der Gegensaz zwischen der einsamen Behandlung in dieser und der gemeinsamen in der folgenden Periode. Alle ersten Elemente entwikkeln sich so durch rein dialogische Behandlung, wie sich das ganze geistige Dasein durch das Gespräch zwischen Mutter und Kind entwikkelt; so weit nun diese einsame Behandlung nothwendig erscheint, müssen die Sachen hier getrieben werden; wo sie langweilig werden, weil die Gegenstände nicht genug ausfüllen, wozu eben das gesellige das Supplement giebt: da muß man sie in die folgende Periode verschieben. Daher gehört in die folgende Periode alles wozu der Wetteifer behülflich ist, d. h. was durch thätige Aufmerksamkeit kann erzwungen werden. – Nähere Anwendung. S p r a c h e. Keine Duplicität, wenn es auch besser scheint | fremde Sprachen ex usu zu lernen. Schon aus dem obigen Princip, auch der Unnatur und des Erfolgs wegen. Eine wird zurükkstehen; und da das Verfahren von der Vorliebe für eine fremde Sprache ausgeht: so steht die Muttersprache zurükk; fremder Accent, Mangel an Geläufigkeit, vielleicht gar nicht ursprüngliches Denken darin; lezteres Nationalverrath. Das ganze Wissen des Kindes muß dadurch oberflächlich werden, weil es kein festes System von Begriffen bekommt. Die Muttersprache wird von selbst angeeignet; die Kinder lernen weit mehr von

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selbst als sie gelehrt werden könnten, weil dazu schon ein voller Besiz der Sprache gehören würde. Daher allgemein: Aller eigentliche Unterricht über das innere der Sprache gehört in die folgende Periode. Wo man nachhelfen muß oder vielmehr behüten, das ist richtige Aussprache, richtige Wortfügung, Gebrauch aus dem edleren Kreise mit Ausschluß des gemeinen. Unrichtigkeit der Aussprache findet sich von selbst, weil die Töne sich nur allmählig bestimmt sondern. (Siehe Schwarz.) Man muß also nur sehen daß dies nicht zu lange dauere. Tändeln und sich zur falschen Aussprache herablassen ist nur so lange unschädlich als sie die schlechte nicht von der guten zu unterscheiden wissen. Durch Probiren richtet man zwar wenig aus, aber man macht sie doch aufmerksam. – Falsche Grammatik wird theils angewöhnt theils selbst erfunden. Die lezte bessern die Kinder leicht, wenn man sie nur nicht hingehen läßt; der angewöhnten muß man durch gutes Beispiel vorbeugen und durch beständig wiederholtes Corrigiren abhelfen. – Das Gemeine ist nicht ganz zu vermeiden wegen der Dienstboten. Es hat natürlich Reiz für die Kinder, weil es unmittelbar Empfindung ausdrükkt, die sie sonst nur unarticulirt auszudrükken wissen. Man muß es ihnen nur geradezu verbieten; nicht deswegen weil es von den Dienstboten kommt, weil sie Achtung vor diesen als erwachsenen behalten müssen. |

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A cht und dr eißigste Stunde. Sprachreichthum müssen die Kinder erhalten durch häufiges Sprechen mit ihnen. Für Vermehrung des Wissens überhaupt durch die Sprache und sonst finden zwei entgegengesezte Maximen statt, ihnen möglichst viel Stoff zuzuführen, und sie vor allem unverstandenen zu bewahren. Die erstere, weil sie so am sichersten in einem beständigen Reiz bleiben das empfangene zu verarbeiten; die leztere, weil das Aufnehmen von unverstandenem was man nicht dafür hält, zur Dumpfheit und Stumpfsinnigkeit führt. Unverstandenes aber müssen sie durchgehen, weil alles Wissen vom Nichtwissen anhebt, auch wir alle immer noch im Berichtigen unserer Begriffe sind und Kinder noch nichts völlig verstehen können. Nur muß jedes so gestellt werden daß sie es immer besser verstehen lernen. Die Methode beruht darauf, daß man die entgegengesezten Gestalten des Wissens, das empirische und das speculative, im Auge behält. Von beiden haben sie freilich nur die Form, nämlich das freie Combiniren und das Gebundensein durch die Gegenstände. Empiri7–8 Vgl. Schwarz (1804), Bd. 2, S. 431–432 [SB 1791]

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sches Wissen befördert theils durch die Sprache in Erzählung, theils durch unmittelbare Darlegung vor die Sinne, theils durch Combination beider; und auf der anderen Seite theils durch allmähliges Erweitern ihrer unmittelbaren Sinneswelt, wohin auch die Schärfung der Sinne gehört, theils indem man dem sich bald regenden Triebe nachgiebt auch von der fremden und fernen Welt zu wissen. Viele sind gegen Erzählungen von fremden Gegenständen, weil sie sich nur unzulängliche und falsche Vorstellungen machen; allein man muß nur dahin sehen, daß es ihnen an Gelegenheit sie durch andere Notizen zu berichtigen nicht fehle. Ebenso sind einige gegen Bilder von fremden Gegenständen. Allein theils kann man sie durch Bilder von bekannten Dingen unterstüzen, theils giebt es eine Ahndung welche das fehlende hinzufügt und die Dimensionen richtig vorstellt. Das vollkommenste ist freilich Combination von Bild und Erzählung in einem fort|schreitenden zugleich durch Wiederholung das Gedächtniß übenden Cyklus: allein auch jene einseitigen Uebungen sind von großem Nuzen. Vorbereitend gehört auch hieher die erste Kenntniß von Gestalt Zahl und Maaß; nur so weit als man ohne strenge Uebung kommt, ausgehend von der Namenerklärung der dahin gehörigen Wörter und einem einfachen sinnlichen Schematismus der Zahl, wobei sie eigentlich als Gestalt gemerkt wird. Mit einem hinreichenden Apparat kann man ziemlich weit in diesen vorbereitenden Kenntnissen kommen und vielerlei Lehren anbringen ohne irgend Anspruch auf eine wissenschaftliche Form zu machen.

N eun und dr eißigs t e Stunde. Ob schon in dieser Periode Kinder sollen l e sen und schreiben lernen, muß eigentlich im Zusammenhange mit der öffentlichen Unterweisung der folgenden Periode beantwortet werden. Sezt diese bei ihrem Anfange schon Lesen und Schreiben voraus: so müssen sie es natürlich jezt lernen. Fängt sie wenigstens damit an: so wird es, da hierin Freiheit herrschen muß, immer viele geben die um die Kinder etwas länger in der Familie zu halten die ersten Elemente der öffentlichen Unterweisung ihnen häuslich beibringen. Auch ist die Frage zu beantworten in Beziehung auf die Mädchen. Also a. S chreiben hängt zusammen mit Zeichnen; Vorübungen mit der Hand sind dieser Zeit schon angemessen, es können auch solche gemacht werden die sich auf das Schreiben mehr als auf das Zeichnen beziehen: aber das eigentliche Schreiben erfordert zuviel kleinliche Genauigkeit als daß es unter einer anderen Form als der der strengen Uebung könnte erlernt

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werden, darum fällt es der folgenden Periode anheim. b. L e s e n kann wol spielend erlernt werden, aber wozu? Als Uebung an sich ist es von gar keinem Werth, zumal das richtig sprechen ohne Bezug auf die sichtbaren Zeichen getrieben wird. (Zerfällen | der Wörter in ihre Elemente nach dem reinen Gehör muß wol im fünften Jahre vorkommen.) In Bezug auf den künftigen Gebrauch ist es aber nicht eher nöthig bis dieser unmittelbar eintritt. D ies soll a ber a ls Unterw e i s u n g s m i t t e l i m e r s t e n St ad i u m des öf fent lichen Unt err i c h t e s n i c h t d e r F al l s e i n. Als Zeitvertreib ist es aber offenbar schädlich (die Kinderliteratur zeugt als Frucht gegen diese Maxime), erregt Dünkel, tödtet die lebendige Anschauung, nagelt an den Tisch und macht öffentlichen Lebens unfähig. Lesewuth der Kinder ist eben so arg als Spielwuth. Was ist zu thun um das freie Combinationsvermögen aufzuregen? In der ersten Entwikklung des Bewußtseins ist der Gegensaz noch nicht gegeben. Der Productionstrieb zeigt sich allmählig, die Kinder fangen an sich Geschichten zu erdichten. Sie bekommen die Zeitdimensionen und füllen sich die Vergangenheit an mit einem sonderbar erträumten Leben. An diese beiden Punkte muß man anknüpfen, und um die Vermischung zu verhüten welche auch die Entwikklung des Gegensazes von Wahrheit und Lüge unmöglich macht und hierin viel Verwirrung anrichtet, ihnen für die poetische Form auch einen poetischen Stoff geben. Es giebt aber keine andere Poesie für Kinder als Mährchen, weil sich ihnen alles als Factum gestalten muß. Man erzähle ihnen also M äh r c h e n. Es ist nicht wahr daß ihnen diese die gegenwärtige Welt verleiden, die Gewalt der Anschauung und der Trieb dazu ist viel zu groß; auch nicht, daß sie das moralische Gefühl verderben, dazu ist die Gewalt einer gut eingerichteten Familie zu groß; und so mit anderen Klagen. Die besten Mährchen sind die die keinem eigentlich religiösen Cyklus angehören, die Gnomen Elfen Feen, weiße Magie aller Art, die sich recht, man weiß kaum woher, zu einem Schattenleben unserer modernen Welt angebildet haben. |

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Vierzigs t e Stunde. B i l d u n g z u r R e l i gi o n. Entgegengesezte Maximen. Die eine bringt zeitig asketische Elemente in das Leben, aus der alten superstitiösen Zeit entsprossen, will die Religiosität aus der Gewöhnung entstehen lassen und ist gleichgültig, wenn etwas zurükkhaltend wirkt, wie tief es gehe. Die andere, aus dem neuen Libertinismus entsprossen, will die Kinder von aller Religion entfernt halten, damit sie ihnen nicht

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durch Gewöhnung mechanisch werde, bis sie sie hernach verstehen können. Allein wenn das Nichtverstehen ausschließen sollte, so bliebe am Ende niemand in der Kirche als die speculativen Menschen, und was sie trieben wäre doch etwas anderes als was in der Kirche getrieben werden soll. Um der Sache recht auf den Grund zu kommen muß man unterscheiden die Entwikklung der Religion als inneren Princips im Leben überhaupt, und das Heraustreten desselben für sich allein. – In der ersten Form ist die Religion dem Menschen angeboren und die Bedingung alles anderen menschlichen Erkennens und Handelns. Sie ist das positive Bewußtsein von der Relativität des Gegensazes zwischen einem einzelnen Leben und der Totalität; je mehr sich also dieser Gegensaz entwikkelt und schärft, muß es sich auch entwikkeln. Im ersten Abschnitt dominirt noch die Analogie des animalischen; jezt entwikkelt sich nach allen Seiten das eigenthümlich menschliche Bewußtsein. Der erste Keim ist in der Liebe zur Mutter; sie ist ein fremdes Dasein von dem das Kind nur relativ getrennt, und welches zugleich Repräsentant alles fremden ist. Am Ende dieser Periode hat sich dieser relative Gegensaz über die ganze Familie ausgebreitet. Wenn das Kind sein Wohlsein nur in seiner Uebereinstimmung mit dem ganzen findet, welche ja bei ihm nur Gehorsam sein kann: so ist es fromm. Hiezu kann nun dem Charakter dieser Periode gemäß durch technische Bemühungen wenig geschehen; alles geht aus dem Leben hervor. | Die andere Form ist wesentliches Element der vollendeten menschlichen Bildung; die Begriffe sind darin, da sie immer inadäquat bleiben, nicht die Hauptsache sondern nur Mittel. Zwekk ist die gegenseitige Mittheilung und Anregung, welche statthaben kann troz des irrationalen Elements in den Begriffen. Wie lange also soll man die Kind zurükkhalten? Allgemeine Formel. Da die religiösen Begriffe nur da sind in Beziehung auf den Cultus, so muß es jene nicht haben wenn es diesen nicht hat. Der kirchliche Cultus ist offenbar für dies Alter zu zusammengesezt. Der patriarchalische Hausgottesdienst kann neben diesem fortdauern, oder in ihn untergegangen sein. Man kann im lezten Fall eben so fromm sein als im ersten; und im ersten eben so wenig gleichgültig gegen die Kirche als im lezten. Ist Gottesdienst im Hause, so ist es unmöglich daß die Kinder nichts davon merken. Fragen sie nun: so muß man ihnen auch die Begriffe mittheilen so wie sie sie fassen können. Denn eine völlig abschlägliche Antwort dürfen sie nie bekommen, da man nie behaupten kann daß ihr Erkenntnißvermögen ganz außer Relation mit einem bestimmten Gegenstande stehe, am wenigsten mit diesem. Allein da die religiösen Begriffe nur in Bezug auf die Erregung und Mittheilung da sind: so muß man mit jenen auch diese anfangen. Dies kann geschehen in der freien Form der gelegentlichen

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Anwendung auf ihr Betragen, theils auch indem man ihnen den Gedanken an Gott zum ersten und lezten macht. Wo aber auch kein Hausgottesdienst ist, kommen die Begriffe doch gelegentlich vor, und man kann nicht einmal verhüten daß sie sie nicht durch die Dienstboten bekommen und um desto eher eine superstitiöse Wendung nehmen. Aus heiler Haut ihnen die Begriffe beibringen könnte nur todtes Wesen veranlassen. |

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E in und vier zigste Stunde. B i l d u n g fü r d e n St aat. Diese ist die materielle und die formelle, die Ausbildung der Kräfte und die Einbildung des Gesezes in die Kräfte. Die erste ist die geistige und die körperliche. Von der geistigen nichts mehr zu sagen, da sie in den beiden vorigen Artikeln begriffen ist. Die körperliche ist Selbständigkeit und Selbstthätigkeit. Bei Entwikklung des ersteren am meisten der Gegensaz zwischen weichlicher und strenger Erziehung. Am Anfang ist die Selbständigkeit gleich Null und das Dasein ruht bloß auf dem äußeren Schuz; sie soll wachsen und der Schuz soll abnehmen. Die eine Maxime sagt nun, Weil sie nur sehr langsam wachsen kann, so muß der Schuz sehr lange dauern; die andere, Weil der Schuz so bald als möglich aufhören soll, so müsse man immer weiter versuchen wie weit die Selbständigkeit gehen kann. Der Gegensaz ist also nur Differenz der Exponenten in derselben Formel. Es fragt sich, ob es natürlich feste Punkte giebt. Es giebt eine Zeit in welcher der Schuz nicht kann entzogen werden ohne Grausamkeit; diese ist mit dem Anfange dieses Abschnittes zu Ende. Es giebt eine Zeit wo er nicht kann fortgesezt werden ohne Lächerlichkeit; das ist die Mannbarkeit. Also unser Abschnitt und die nächste Periode sind das Feld für den Streit dieser beiden Maximen, von denen die eine wo sie übertrieben | wird nur in der Noth der niederen Stände kann gegründet sein, die andere in der Willkühr der höheren. Ein anderer Punkt ist physisch. Es giebt eine Zeit wo das Leben noch zu schwach ist zu Proben, und eine andere über welche hinaus man die Abhärtung nicht verschieben darf, wenn sie nicht soll unmöglich werden. Genauere Bestimmungen fühlen wir nur nöthig weil die Willkühr in der Erziehung herrscht. Es müßte eine Nationalsitte sein welche die Willkühr beherrschte. Anders als so kann nicht geholfen werden. Die Selbstthätigkeit ist Kraft oder Geschikklichkeit. Auch Gegensaz im Verhältniß beider, da die eine nicht nach dem Maaß der anderen wächst und sie sich also in die Zeit theilen müssen. Vorurtheil welches glaubte, hohe Ausbildung der Körperkraft deute auf zu-

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rükkgebliebene Seelenkräfte. Freilich wachsen unmittelbar Leib und Seele nicht eins nach des anderen Maaß: allein die Körperkraft bildet sich früher aus; dann folgt eine Periode von überwiegender Ausbildung der Geisteskraft. Will man intellectuelle Ausbildung übereilen im früheren Stadium: so schadet man dem Körper. Will man die Ausbildung der Körperkraft überwiegen lassen im späteren: so macht man stumpfsinnig. Eben darum giebt es auch zu jeder Zeit ein Uebermaaß, in welchem Uebung der körperlichen Kräfte den geistigen schadet: dies ist das athletische. Genauere Bestimmungen müssen nur aus der Sitte hervorgehen und in dieser gegründet sein. Das Verhältniß von Kraft und Geschikklichkeit in wie fern sie sich entgegengesezt sind, ist offenbar so daß in unserer Periode noch die Geschikklichkeit vorwaltet, weil Knaben und Mädchen noch weniger auseinandergehen und für leztere doch die Geschikklichkeit Hauptbestimmung ist; auch weil die Selbständigkeit, die der Kraft zum Grunde liegen muß, noch gering ist. Die Geschikklichkeit selbst theilt sich in gymnastische und mechanische. Die ersten sind eigentlich die Form der Kraftentwikklung; aber es geht eben daraus hervor daß die gymnastische Uebung in dieser Periode mehr auf die Ge|schikklichkeit ausgehen müsse als auf die Kraft; die Entwikklung der Kraft ist secundäre Folge. Die mechanischen Geschikklichkeiten sind theils eine eben so natürliche und zwekkmäßige Form zur Uebung der Sinne, theils ein fast unentbehrliches Füllstükk der Zeit, theils das beste Mittel die Gleichheit der Stimmung herzustellen, wenn sie einmal gestört ist. Es giebt deren eine große Menge; auch hier sollte eine Nationalsitte die Willkühr bestimmen.

Zwei und vierzigs t e Stunde.

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Fo r m e l l e B i l d u n g f ü r d e n St aat. Hieher gehört7 1) O rdnung. Oben schon allgemein. Sie ist Princip alles gemeinschaftlichen Daseins. Die beiden Grenzpunkte sind oben schon angegeben. Dazwischen liegen noch a. Ordnung in den dem Körper angehörigen Dingen. Kinder denen Ordnung Natur ist braucht man nicht dazu anzuhalten, sonst könnten sie leicht pedantisch werden. b. Ordnung in den sinnlichen Substraten und Mitteln ihrer Beschäftigung. Allgemeines Princip davon, daß nichts gegen seinen Zwekk oder unterhalb 7

Das individuell nationelle gehört nicht hieher. Man kann es nur absichtlich aus- oder gar einbilden wollen wo die Nationalität verloren gegangen ist, und auch das ginge erst später. Die Entwikklung des nationalen muß von selbst kommen. Gegenwirken kann man gegen hemmende Einflüsse, aber auch erst später. Randbem. Schleierm.

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seines Zwekkes als rohe Masse gebraucht werde. Dies ist der Keim der zerstörenden Verschwendung, welche alle Cultur untergräbt; sezt sich sehr leicht fest besonders bei sanguinischen und melancholischen Kindern. Das Spielen über diese natürliche Grenze hinaus stört hier das Menschwerden, zerstört aber zugleich sich selbst, weil eine unendliche Fülle von Dingen da sein müßte. Mittel. Leichter erreicht man die Ordnung wenn Kinder einen Werth auf die Unabhängigkeit sezen, mit | ihren Sachen selbst schalten wollen: dann macht man die Ordnung zur Bedingung. Die welche sich gern bedienen lassen, werden selten ordentlich. Dann gehört dazu, daß sie Interesse an ihren Sachen haben und daß man ihnen nicht mehr giebt als sie mit diesem bestreiten können. Strafen sind hier ganz unwirksam. Man muß nur durch die Gewöhnung wirken; durch diese allein kann Ordnung in einem gewissen Grade eingepflanzt werden. Auch die bloß natürlichen Strafen muß man nur in dem Maaß eintreten lassen als das Gedächtniß der Kinder sich ausbildet, denn Ordnung und Gedächtniß können sich nur gegenseitig stärken. Wenn Kinder die Dinge noch zwekkwidrig behandeln, so ist es ein Zeichen daß sie vom Werth derselben noch kein Gefühl haben; man muß sich hüten sie mit zu gebildeten Dingen zu überladen. Alles kommt aber darauf an, daß das Halten auf Ordnung die Wahrheit des ganzen Hauses sei. – 2) G ehorsa m. Gehorsam ist Basis des bürgerlichen Zustandes. Auch der beste Mensch im besten Staat muß bisweilen rein gehorchen. Die Naturseite des Gehorsams ist bei den Kindern das Gefühl ihrer physischen Abhängigkeit; die Naturseite des Ungehorsams ist daß sie ganz im augenblikklichen Wunsch aufgehen. Man muß durch jene auf diese Einfluß gewinnen. Ursprünglich glauben die Kinder, was ihrem augenblikklichen Wunsch entgegen sei, das sei ihnen entgegen. Wenn man ihnen nun zeigt daß man selbst nicht ganz im augenblikklichen Befehl oder Verbot aufgeht; wenn man ihnen das Gefühl der Liebe aufdringt dabei: so achten sie dieses Nichtganzaufgehen, ja es wird das erste Reizmittel um ihr eignes Gewissen zu erwekken. Die Regel, daß man um den Kindern den Gehorsam zu erleichtern ihnen Gründe angeben müsse, ist nichtig; denn Gründe angeben heißt den Gehorsam erlassen. Man riskirt es überdies darauf ob man Ueberzeugung hervorbringt; Kinder sind noch sehr wenig fähig Gründe zu fassen. Eine andere Regel ist nicht sehr viel besser „Jedes Gebot oder Verbot solle immer allgemein, oder natürlicher Aus|fluß aus einem allgemeinen sein.“ Das Leben ist zu mannigfaltig und im Hause viel schwerer ein allgemeines richtig aufzustellen. Die Hauptsache ist daß ihnen Consequenz und Zusammenhang durchschimmere, daß man wenig befehle und streng darauf halte, daß man zu jedem Verbot einen Befehl füge; die bloße Negation

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ist zu leer um zu beleben. Auf die Ueberzeugung kann man zu anderer Zeit wirken, um zu versuchen ob sie ihrer fähig geworden seien. []

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– Davon hängt aber gleich eine andere Frage ab, nämlich ob (wie oben behauptet) die Tr i vi al b i l d u n g für alle dieselbe sein kann. Hier müssen wir also eine Ansicht unseres Zustandes fassen. Unser Dualismus ist keine strenge Kastendifferenz mehr; die Beispiele daß sich Kinder aus den niederen Ständen zur höchsten Bildung emporschwingen, und umgekehrt, sind schon zu häufig. Aber die Differenz ist doch noch so groß daß der Einfluß bedeutend ist. Von gleich gebornen Kindern wird immer das vornehm geborene leichter zur höheren Bildung geführt werden können als das gemein geborene. Also kommt es darauf an, ob beide sich zur Erziehung gleich verhalten, und wie. Unser gemeines Volk ist großentheils noch roh, d. h. sich selbst überlassen bildet es sich rükkwärts. Also wird es auch nur die Kinder rükkwärts bilden, und also muß man dem gemeinsamen Leben so viel einräumen als irgend möglich. |

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Die höheren Stände zeigen sich unfähig, indem sie doch fremde Hülfe hinzunehmen, die nur von denen kommt welche auch in dem gemeinsamen Leben leiten; auch haben sie eine durch Verkehr mit dem fremden aufgelöste Nationalität. Allgemein also, möglichstes Uebergewicht des gemeinsamen Lebens über das Familienleben. Da aber die Einwirkung des Familienlebens doch bleibt, und sich die Schule auf einen Typus desselben beziehen muß: so wird sie auch verschieden eingerichtet sein müssen, wenn es große Differenzen im Familienleben giebt. Sie wird ferner verschieden eingerichtet werden müssen wo die 2 seien.] Es folgt ein größeres Spatium. Platz berichtet in seiner Bandeinleitung vom Verlust zweier Bogen des Manuskriptheftes 1813/14 (vgl. SW III/9, S. IX). Am Ort der Lücke in der 42. Stunde schreibt er: „Der Schluß dieser Stunde und die Stunden 43, 44, 45 fehlen. Die Vorlesungen 1826 schließen sich nicht durchaus an das ursprüngliche Heft Schleiermachers an, am meisten weichen sie wol von diesem in der Einleitung zur zweiten Periode ab, da die kurze Einleitung zu dieser in den Vorlesungen 1826 nicht die Lükke Stunde 43, 44, 45 ausfüllt. Es fehlt in dem vorliegenden Heft der Schluß der ersten Periode, der Anfang der zweiten Periode; von d e r z w e i t e n P e r i o d e handelt nun das folgende also.“ (SW III/9, S. 665) Da der folgende Textabsatz der 46. Stunde unmittelbar vorangeht, ist anzunehmen, dass er das Ende der 45. Vorlesungsstunde wiedergibt.

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Zeit verschieden ist in welcher, und die Bildung selbst welche erreicht werden soll. Eine Abstufung einfacher und complicirter Organisationen. Zwar soll jede höhere Stufe nur aus einer weiter verbreiteten niederen hervorgehen: aber theils sind Abänderungen möglich und wünschenswerth wo man das Uebergehen in eine höhere voraussieht; theils muß doch dasselbe in kürzerer Zeit geleistet werden, wenn noch so viel darauf folgen soll. Dieses zusammengenommen giebt folgende Eintheilung: Volksbildung, Regentenbildung im weitesten Sinne. Volksbildung scheidet sich wieder in ländliche und städtische. Es giebt einen bürgerlichen Zustand bei dem die lezte Differenz mehr eine locale als eine qualitative ist, wo nämlich auch die gewerbtreibenden Klassen wenig politisirt sind, und einen entgegengesezten, wo sich die städtische Volksbildung wenig von der Regentenbildung unterscheidet. Daher nun mit Rükksicht auf die verschiedenen Bildungsstufen die bei uns stattfindende Triplicität, die La ndschule, die Bürg ers c h u l e, die h o h e Sc h u l e. Die mittlere wird immer den meisten Modificationen unterworfen sein. In allen ist die Richtung auf das Wissen und auf den Staat das hervorstechende, die Geselligkeit das was sich am meisten von selbst bildet und als solches geschüzt und gepflegt werden muß, die religiöse was am meisten zu|rükktritt (denn der Religionsunterricht ist nicht unmittelbar religiöse Bildung) und am meisten eines Surrogats bedarf. Dies ist aber in allen dasselbe und wird daher in eine allgemeine Betrachtung können zusammengefaßt werden. Auch werden wir nicht alle Formen ganz durchführen müssen; die Landschule ist das Hauptschema der Trivialbildung; die Bürgerschule das Schema der historischen, und die triviale kommt in ihr wieder vielleicht mit Abänderungen; die hohe Schule ist das Schema der höheren speculativen Bildung, und in ihre kommen die beiden anderen wieder vielleicht mit mancherlei Abänderungen.

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D i e Tr i v i al b i l d u n g ist also nicht auf eine vollkommen allgemeine Art überall dieselbe. Das identische findet man wenn man ausgeht von dem Anknüpfen an die vorige Periode; das differente, wenn man bedenkt wie die Masse der Jugend sich theilt, einige gleich von hier zum praktischen Leben übergehen, andere zur höheren Bildung. Der Charakter ist, daß der Sinn in der weiteren Entwikklung zugleich unter die Potenz des Verstandes gesezt wird, aber nicht so daß der Verstand auf bewußte Weise selbst entwikkelt wird. Ferner ist Charakter, daß das Abstractionsvermögen noch fehlt. Das mehr allgemeine muß

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in das mehr besondere unmittelbar übergehen, kein großer Cyklus dazwischen. Daher nirgend eine eigentlich wissenschaftliche Form. Auch Receptivität und Spontaneität, deren Gegensaz sich mehr entwikkelt, dürfen nur einen kleinen Cyklus bilden. Die Sinnesentwikklung formal führt auf M at h e m at i k. Alle elementarischen Verhältnisse (arithm.) der discreten und (geometr.) der concreten Größe, aus den Grundanschauungen Vor- und Zurükkzählen, Linie und ihre Bewegung entwikkelt. Materialiter führt die Entwikklung auf die classificirte Kenntniß der Dinge. Die wahren Dinge sind aber nicht die | künstlichen (Technologie), diese sind nur Schatten des menschlichen Bewußtseins; sondern der natürlichen Dinge. Also Nat u r b eschreibung. Einige wollen, man soll nur beim einheimischen, was ihnen unmittelbar zur Wahrnehmung kommen kann, stehen bleiben, weil doch alles todt ist was sie durch den bloßen Begriff erhalten. Allein dazwischen steht noch das Bild, und vermittelst dieses muß man wenigstens das fremde zu Hülfe nehmen wo Lükken auszufüllen sind und es dient die Verhältnisse richtiger heraustreten zu lassen. An die Mathematik schließt sich das Ze i c h n e n an als Production. Man kann sagen, es wird nur soviel Mathematik begriffen als auch gezeichnet wird. (Nicht als ob die mathematische Anschauung schluderhaft solle durch das Augenmaaß zu Stande kommen; aber dieses soll das Product der geübten mathematischen Anschauung sein.) – Zu den natürlichen Dingen gehören auch die Weltkörper und unter diesen besonders die Erde. So schließt sich an die Naturbeschreibung die G eog ra phie an. Diese ist durch Mathematik vermittelt die Bedingung zur Construction des Lebens der Dinge. Dasjenige Element worauf das Begreifen der Classification ruht und aus dem sich zugleich der Keim zur künftigen Bildung entwikkeln kann, ist der S p r ac h u n t e r r i c h t. Der Organismus der Sprache muß an der Uebereinstimmung desselben mit dem Organismus der Dinge (z. E. Subjects- und Prädicatsform mit dem inneren und äußeren, wesentlichen und zufälligen an den Dingen) zur Anschauung gebracht werden; allgemein aber auf richtigen und vollkommen angemessenen Ausdrukk gedrungen werden.

A cht und vier zigst e S tunde. In dieser Beschreibung keine Spur von G e s chichte. Sie ist im Leben der Staaten, und diese sind noch unbegreifbar. Es wird todtes Gedächtnißwerk; das Gedächtniß aber kann besser lebendig geübt wer-

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den. Wenn wir eine lebendige Volks|sage hätten, die noch an mehreren Fäden mit dem Leben zusammenhinge und also in ihrer Realität unmittelbar wahrnehmbar wäre: so könnte diese wie Homer in den Unterricht verwoben werden. Diese Realität fehlt aber unsern Volksbüchern, und wir werden sie auch den Nibelungen nicht geben können, die sich nicht mehr so wieder lebendig machen lassen wie nach weit kürzerer Zeit und weit geringerer Veränderung Homer bei den Griechen. Nur zweierlei giebt es für diese Periode geschichtliches: die biblische Geschichte, von ihr bei der religiösen Bildung, wiewol sie dorthin eigentlich nicht gehört; und das biographische. Lezteres eben deshalb weil es sich an die frühere mythische Darstellung anschließt, denn alle geschichtlichen Personen werden in diesem Sinne biographisch betrachtet wieder mythisch (das Gegentheil ist nur durch den größten Aufwand von Kritik möglich); die Phantasie wird aufgeregt, und zwar zur Bildung bestimmter Thätigkeiten; sie wird in das sittliche und religiöse Gebiet hinein productiv. Aber dieses kann nun nicht selbständiger Bildungsgegenstand sein; es kann nur an anderem, oder nur in der Form des Spiels vorkommen. Alles was ursprünglich auf der Seite der Spontaneität lieg, ist G y m n a s t i k. Es muß auch in kurzen Cyklis in die Receptivität übergehen, welches dadurch geschieht daß die Regel dazu gegeben und die Angemessenheit zu derselben in Betracht gezogen wird. Gymnastik der Sinne. Die des Auges geht vom Z e i c hnen und der Naturbeschreibung aus; die des Ohres ist die G e s ang lehre, sie hängt eben so am arithmetischen als jene am geometrischen, und ist von einer unmittelbar psychischen religiösen Wirksamkeit, weil sie Ausübung des Maaßes an sich selbst und zwar am subjectiven Princip ist; sie steht auch im lebendigen Zusammenhange mit dem Sprachunterricht. Die Gymnastik des G e d äc h t n i s s e s liegt in den mathematischen und philologischen Productionen und im systematischen Auffassen des physischen. Bloß formale Gedächtniß|übung soll es auch nur unter der Form des freien Spieles geben. (Indem das Gedächtniß nothwendig immer im Gegensaz des allgemeinen und besonderen versirt: so heftet sich daran allmählig das Bewußtsein der Verstandesformen, für welche es eine eigne Gymnastik jezt noch nicht giebt.) Die G ym n as t i k d e s L e i b e s ist in der großen Masse weit weniger gefährlich. Die Extreme von Tollkühnheit und Furchtsamkeit entwikkeln sich nicht leicht, weil jeder einzelne mehr feste Punkte hat an denen er sich richtig stellen kann. Man lasse nur dem körperlichen Instinct und dem natürlichen Wetteifer die nöthige Freiheit. Mißlich zu finden ist das rechte Maaß der Anstrengung (was übrigens von der geistigen Gymnastik ebenso gilt). Entgegengesezte Maximen. Die beste Probe ist, wenn keine Gymnastik die andere hindert und wenn

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beide nicht die natürlichen Functionen hindern, wenn der Gegensaz von Schlaf und Wachen gut gespannt bleibt &c. Alle Folgen sind in der Nähe, wie das ganze Leben aus kleinen Cyklis besteht; in der Ferne braucht man keine zu fürchten. An die Gymnastik schließt sich das Spiel an, welches auch besser gedeiht im gemeinsamen Leben. Es soll Erholung sein und wird offenbar zu dürftig wenn es dem im häuslichen Leben angeschlossen ist. Das häusliche Leben wird aber dann ganz religiös. Im gemeinsamen Leben ist dann zugleich die bürg erliche F ortb i l d u n g. Die Idee des Gesezes und des bürgerlichen Gegensazes wird lebendig, und wird als die nothwendige Bedingung eines erfreulichen und gedeihlichen Lebens unmittelbar gefühlt. Auch die streng wechselnde Lebensordnung ist politische Propädeutik. Ebenso auch die Bi l d u n g z u r G e s e l l i gk e i t. Unter Kindern einerlei Standes hat das gemeinsame Leben vor dem häuslichen nur den Vorzug der weiteren Ausdehnung und des größeren Stils. Bei Kindern verschiedener Stände oder aus den Berührungspunkten hat es auch den Vorzug der Liberalität. Im häuslichen Leben tritt | die Differenz zu stark und oft etwas drükkend heraus; im gemeinsamen die Gleichheit; die Schäzung nach dem persönlichen Werth überwiegt, und weit mehr die individuelle Anziehung als die Standesgleichheit bestimmt die näheren Verhältnisse. Das entwikkelt die politische Fortbildung.

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Was ändert sich nun in der Behandlung dieser Stufe durch die Differenzirung der Stände von ihr aus? Erstlich auf der Seite des Landvolkes oder Von den L an d s c h u l e n. Im wesentlichen sind sie doch auf die angedeuteten Elemente gebaut, und doch leisten sie wenig, weil sonst die Klage daß das Landvolk sich zurükkbilde nicht stattfinden könnte. Worin liegt die Schuld? In der eigentlichen Unangemessenheit der Bildungsgegenstände für ihr Leben kann sie nicht liegen, denn sie sind ihnen alle nothwendig. Zwei Betrachtungen vorzüglich. Erstlich. Der Abstand ist zu groß von ihrem Bildungsleben zum thätigen. Die Handarbeit verwischt hernach alles. Daher die Aufgabe der Industrieschulen. Sie müssen im Bildungsleben auch Handarbeit treiben, aber gewöhnt werden bei und mit derselben ihr Bewußtsein klar zu behalten. Diese Aufgabe trifft zugleich zusammen mit der, den Gegensaz zwischen dem Interesse der Bildung und dem der Aeltern, welche die Kinder so kurz als möglich in der Schule lassen wollen, auszugleichen. Sie kann aber nur da gelöst werden wo neben dem Akkerbau schon

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Füllarbeiten bestehen; denn wenn keine Analogie zwischen den Schulgeschäften und den häuslichen selbst ist, werden die Aeltern es nicht für nüzlich halten. Zweitens. Die Art den gemeinen Kindern Kenntnisse durch Bücher beizubringen, macht daß diese hernach wieder sterben; das Bücherwesen kann ihnen nicht lebendig bleiben, die Fertigkeit selbst kommt ihnen aus Mangel an Uebung wieder abhanden. Der Unterricht muß unmittelbar und lebendig sein. Man möchte fragen, ob sie überhaupt sollen lesen und schreiben lernen. Gewiß nicht, wenn | nicht vorhanden wäre eine bürgerliche Nothwendigkeit, indem unser ganzes Staatsleben auf beidem ruht. Wer die Geseze selbst kennen will, muß lesen; wer einen höheren Kredit genießen und irgend eine politische Rolle spielen will, auch nur die eines Dorfschulzen, muß schreiben; und dazu muß jeder in Stand gesezt werden, wenn man nicht wieder das Landvolk zu einer specifisch untergeordneten Kaste will hinabsinken lassen. Es ist auch vorhanden eine religiöse Nothwendigkeit in der protestantischen Kirche. Die Bibel ist Norm; jeder soll selbst schöpfen können; die mittelbaren Mittheilungen durch das Gedächtniß würden immer Verfälschungen sein können. – Knaben und Mädchen wird man in den Landschulen noch lange nicht trennen können. Differenziren läßt sich die Lebensweise, eben wegen der Gymnastik und der Industrie-Arbeit. Für die Sittlichkeit ist wol wegen späterer Entwikklung des Geschlechtstriebes wenig zu besorgen.

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Manuskript Schleiermachers in sekundärer Überlieferung; SW III/9 (1849), S. 673–688 Platz (1871), (1876), (1902), (1968); Braun/Bauer (1910) (Auszug), (1911) (Auszug), (1927) (Auszug), (1967) (Auszug), (1981) (Auszug); Lichtenstein (1959) (Auszug), (1964) (Auszug), (1983) (Auszug); Schuffenhauer (1965) (Auszug); Arndt (1996) (Auszug); Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1 Die insgesamt 91 Gedanken standen ursprünglich am Rande und zwischen den einzelnen Vorlesungsstunden von 1813/14 (vgl. SW III/9, 1849, S. IX)

Aphorismen zur Pädagogik. |

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1. Erziehung nach den vier Hauptgegenden des höchsten Gutes hin: religiöse, wissenschaftliche, bürgerliche, Welt-Erziehung; jedes zwiefach, in der Familie und in den Vorverbindungen.

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2. Dies bildet die teleologische Erziehung; vorher geht die mechanische oder quantitative; diese ist rein elementarisch als allgemeine Pädagogik. Hierhin die allgemeinen Geseze der Fortschreitung vom kleineren zum größeren, die Principien alles gymnastischen und aller Gegenwirkung.

3. Negative Hauptregel ist hier, Nichts machen, ja auch nichts dulden was man wieder zerstören müßte. – Die andere, Nichts zerstören was man machen müßte und nicht machen kann.

4. In die allgemeine Pädagogik auch die allgemeinen Principien über das Ineinandersein des universellen und individuellen, und des receptiven und spontanen.

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5. Allgemeine Maxime, Das Kindsein muß das Menschwerden nicht hindern, und das Menschwerden nicht das Kindsein.

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6. Das Kind ist durch die Familie und nicht die Familie um des Kindes willen. Dies muß es als Naturgesez fühlen. Ebenso hernach in allen anderen Verbindungen.

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7. Das Kindsein wird gehindert durch alles was das Kind nur um eines fernen Zwekkes willen thut. – Das Menschwerden wird gehindert durch alles worin nicht Vernunftentwikklung ist.

8. Allgemein kann das Kindsein ausgedrükkt werden durch Spielen, das Menschwerden durch Ueben. – Spiel ist Anti-Uebung, wenn es das Gefühl von Maaß und Ordnung zerstört. Uebung ist Anti-Spiel, wenn sie keinen Cyklus darstellt und zu keiner Vollendung kommt.

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9. Spielen ist eigentlich das reine in der Gegenwart sein, die absolute Negation der Zukunft.

10. Man kann wie in das Lernen zuviel Spielen so auch in das Spielen zuviel Lernen bringen. Etwas durchdrungen von seinem Gegentheil muß aber beides sein in der ersten Periode.

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Nr. 5–13

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11. In die Bildung zur Wissenschaft gehört auch der Religionsunterricht. Tadel von Arndt und anderen die den Unterricht in der Landesreligion zu sehr als äußeres und Nebensache betrachten. Die Religiosität wird erst durch ihn fixirt; es entsteht das geschichtliche Bewußtsein derselben. Die Stufen sind dieselben wie in allem anderen Wissen.

12. Der Pädagog muß achten auf den Gegensaz der in jedem erscheint zwischen der allmähligen Fortbildung und der stoßweisen Entwikklung.

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13. In der Bildung der Menschheit im allgemeinen kommt | derselbe Gegensaz vor. Viel Klügeln in der Pädagogik geht gewöhnlich einer großen Revolution vorher; ist aber nur die negative Seite ihres Vorgefühls.

2 Anspielung auf Ernst Moritz Arndt, wobei sich Schleiermacher sehr wahrscheinlich auf eine Stelle im zweiten Band von Arndts „Fragmente über Menschenbildung“ (Altona 1805) bezieht: „Aber die Landesreligion? Ja, da sagt ihr etwas anders, obgleich ihr nicht so sagen solltet. Ihr meint die Gebräuche und Weisen, die ein Land als Symbole angenommen hat, sich das Höchste und Heiligste zu versinnlichen, ihr meint die Ceremonien, die als bürgerliches Zusammenband der Gemeinschaft, als Erweckung der Andacht einer versammelten Menge dienen. Diese halten wir in hohen Ehren, weil wir ihre Würde und Nothwendigkeit begreifen. Nicht Religion selbst sind sie Mittel zur Religiosität, zur Zucht, zur gemeinschaftlichen Freudigkeit auf dem Lebenswege, der oft so voll Dornen liegt; sie sind nothwendig, weil nur das Große und Gemeinschaftliche die Menschen zur Andacht erhebt. Sie werden als sinnliche Zeichen des Uebersinnlichen immer nothwendig bleiben, was auch schale Spötter und kalte Grübler darüber hohnlächeln mögen. In diese Landesreligion, diese gottesdienstlichen Gebräuche werde der verständige Jüngling fromm eingeweiht, werde durch sie zuerst mit dem Staate näher verbunden, weil sie ihn früher bilden sollen, als die Gesetze. Er wird sie | fromm empfangen, weil er durch seine Bildung Ehrfurcht für alles Menschliche lernte; weil er ohne Klügelei selbst in solchen Dingen das Klimatische und Nationale achten kann, wo er es findet; weil er endlich an sich selbst fühlt, daß der Mensch nur gemeinschaftlich mit Menschen zum höchsten Ziel klimmen kann. So wird er das Seine würdigen, das Fremde nicht verachten und hassen.“ (S. 199–200)

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Gedanken zur Pädagogik im Winter 1813/14

14. Natürliche Verschiedenheit in der Art wie die beiden nothwendigen Momente in der Pädagogik, die nationale Richtung und die allgemeine, mit einander verbunden sind, in verschiedenen Zeiten und auch in verschiedenen Regionen.

15. Wie hat die Pädagogik den Gegensaz zu berükksichtigen zwischen denen die das Ganze weiter bringen, und denen die in der Masse bleiben? Uebermaaß aristokratischer Grundsäze ist hier offenbar wenn schon die Elementarbildung verschieden eingerichtet wird; Uebermaaß demokratischer, wenn es keine Abstufungen von Reizmitteln giebt.

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16. Das Sein des Menschen in einem Ganzen als bloß integrirender Theil ist ein leibliches Sein; die Erziehung dazu ist eine bloß physische, d. h. im ganzen Erziehung durch Gewöhnung. Dies ist der allgemeinste Begriff von physischer Erziehung.

17. Zusammenhang der Sinne und der Glieder mit dem Charakter und den Leidenschaften. Die erste Stufe sowol der Verstandes- als der Charakterbildung ist Sinnesbildung.

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[18.] Das Ohr ist der Sinn der Furcht. Eben daher die Wirkung der Musik auf den Muth.

[19.] In der wissenschaftlichen Erziehung liegt alles Zusammenfassen der Dinge unter gegebene Gattungs- und Art-Begriffe auf der physischen Seite.

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[20.] Diejenige Spontaneität welche über den Zustand des Ganzen hinausgeht, ist die Genialität. Ihr Erwachen fällt | erst in die lezte Erziehungsperiode, und es giebt für sie nur eine Disciplin.

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[21.] Die Pädagogik muß sich wol eigentlich besonders an die Tugendlehre anschließen. Hierüber ausführlicher in der Einleitung.

[22.] Die Wahrheit gehört offenbar überwiegend in die Sphäre der Darstellung als solcher. Dort ist sie producirend; im Gebiete der Anschauung ist sie nur Product.

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[23.] Vor Zukunftslügen kann niemand stehen, weil die Kraft des Willens stoßweise geht. Nur ganz lederne Menschen machen keine. Man muß also möglichst wenig Versprechungen fordern, und sie nie mit einem Triumph acceptiren.

[24.] Auf der ersten Stufe muß das Kind seine Existenz ganz in der Familie haben. Die Ansprüche aller anderen Sphären gehen nur durch die Familie auf das Kind. In der Kirche ist dies anerkannt; es sollte auch anderwärts so sein. Jedes Heraustreten des Kindes aus der Familie ist ein Uebergang, den man nicht zu früh machen kann.

[25.] Man muß jede Wirkung auf den Zögling zugleich als Action der sittlichen Sphäre betrachten von der sie ausgeht.

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[26.] Die Erziehung für die freie Geselligkeit, in so fern diese über die Grenzen des Staates hinausgeht (indirect auch die für die Wissenschaft in demselben Sinne), ist die Bedingung des höheren Seins im Staate. – Die Erziehung für die Wissenschaft, in so fern diese über die Grenzen des Kirchenglaubens hinausgeht (indirect auch die für die freie Geselligkeit), ist die Bedingung des höheren Seins in der Kirche.

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[27.] Hat das höhere Sein in der Wissenschaft und in der freien Geselligkeit keine solche Basis?

[28.] Eine allgemeingültige Pädagogik läuft auf eins hinaus mit dem idealen allgemeinen Staat, erklärt alles positive und historische für zufällig.

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[29.] Die sittlichen Ganzen erhalten sich nicht nur, sondern sie steigen auch; und so verhalten sich auch die einzelnen doppelt zu ihnen.

[30.] Man darf eine Familie nicht als eine bloße Erziehungsanstalt ansehen. Also muß auch alles Handeln in ihr zugleich durch das Bewußtsein ihrer ganzen sittlichen Lage bestimmt sein.

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[31.] Familien sind von Seiten des Geschmakks den Künsten ungleich zugewendet. Dies wirkt auf den einzelnen assimilirend. Daher muß allgemeine Kunsterregung zum Grunde liegen. – Die allgemeine Kunsterregung muß eben deshalb bei allen Künsten welche ein Copiren gestatten, auf das Produciren gerichtet sein.

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[32.] Ueber das materiell angeborene. Man kann die Frage unentschieden lassen.

[33.] Ueber das radicale Böse. Es ist nichts anderes als die positiv werdende Negation der Vernunft.

[34.] Das rechte Verhältniß zwischen beiden Endpunkten geht erst daraus hervor daß es sich umkehren läßt.

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[35.] Was sich für eine rein öffentliche Erziehung wie | die Platonische sagen läßt ist, daß wenn man die natürliche Differenz nur als angeboren annimmt, eine gemeine Familie ihren Kindern das höhere nicht bieten kann, und sie also dafür schon auf der ersten Stufe verdorben werden.

[36.] Wie die Erziehung erst auf alles gehen muß um die Qualitäten anzuprobiren, so auch auf alles um die Potenzen anzuprobiren. Mancher vornehme hat nur nicht manifestiren können wie sehr er zum mechanischen neigt, weil ihm nie etwas mechanisches ist vorgeführt worden. Könige sezen sich wieder darüber hinweg und werden Schlosser &c.

[37.] Man muß ja nicht die Temperamente zu früh erkennen wollen; man hält oft Stimmungen dafür.

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[38.] Die Philologie hat bei uns einen geschichtlich begründeten Vorrang vor der Mathematik.

[39.] Es giebt eine Möglichkeit durch zeitige Bilinguität und Umgebung mit Fremden die Nationalität aufzuheben; aber es kann nur durch Willkühr bestimmt werden.

10–11 Vermutlich Anspielung auf den französischen König Ludwig XVI. (1754–1793), der eine ausgeprägte Leidenschaft für die Schlosserei hatte. Über seiner Privatbibliothek hatte er eine eigene Schmiede, verfertigte eigenhändig Schlosserarbeiten und ergänzte sein Kabinett mit zwei deutschen Schlossern.

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[40.] Bei jeder Mittheilung zum Auffassen muß man bedenken daß die Phantasie als individualisirendes Vermögen in einer beständigen Production begriffen ist, die man daher in das Interesse ziehen, oder hemmen muß. Dasselbe gilt vom Sinn bei Aufgaben zur Production; er ist im beständigen Auffassen begriffen. Zerstreutheit ist wol nur dies vom Gegenstand der Production getrennte Auffassen.

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[41.] Der allgemeine Theil kann von keinem anderen Schema ausgehen als von der Bildung der Receptivität und Spontaneität, sowol der extensiven als auch der potenziellen oder humanisirenden.

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[42.] Böse, gemein, edel. Ob sich das böse auch aus dem edeln unmittelbar entwikkelt, und unter welchen Bedingungen?

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[43.] Grunderklärung. Erhöhung des Lebens nach menschlichem Typus. Das meiste kommt dem Menschen doch immer chaotisch.

[44.] In Ausbildung des Sinnes Zusammensein von Nothwendigkeit und Freiheit.

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[45.] Zur Entwikklung der Nationalität darf nichts besonders geschehen wenn sie in der alten Generation da ist, außer in so fern fremdartiger Einfluß abgewehrt werden müßte.

[46.] Die Hauptsache bleibt also Beschleunigung des Processes, aber als wahren von innen herausgehenden Processes.

[47.] Ist ein Unterschied zwischen directer Erziehung, d. h. dem was ausdrükklich geschieht um in ihnen etwas zu sezen, und indirecter, dem was mit Rükksicht auf sie besonders modificirt wird?

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[48.] Ist ein Unterschied zwischen physischer Erziehung und geistiger? Fällt er mit dem obigen zusammen, d. h. kann etwas anderes als der Organismus erzogen werden? Muß man nicht alles was die Gesinnung betrifft chaotisch aus dem Leben hervorgehen lassen?

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[49.] Wie bringt man das zusammen, die Jugend auf einen besseren Weg führen als wo die Alten sind, und sie doch die Achtung vor den Alten nicht verlieren lassen?

[50.] Der Unterricht muß beredt sein, das Leben gesprächig, die Erziehung so wortkarg als möglich.

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[51.] Darf im Erziehen etwas die Form haben, ihnen als unverstandenes zu erscheinen, wie im Leben? ist dieses das worauf die Anerkennung der Fähigkeit zu einer höheren Stufe beruht?

[52.] Ob man verhüten muß daß das heterogene ihnen gar nicht komme? Der Begriff der Unschuld ist auf alle Theile anwendbar. – Wenn der Tact recht rein gebildet ist, wird es keine Gefahr haben. – Die Liebe ist eigentlich überall das Präservativ gegen alles böse.

[53.] Schwierigkeit im Fortschreiten die Rechte des extensiven und intensiven gegen einander zu messen. Je mehr simplificirt und je mehr die Aufgabe eine besondere ist: desto mehr kann man auf das intensive dringen. Je zusammengesezter und je mehr sie eine allgemeine ist: desto weniger. Giebt es nicht viele Fälle wobei man eben deshalb beides verbinden muß, einfache Aufgabe und zusammengesezte? z. E. Zeichenunterricht.

[54.] Ist nicht alles von Seiten der Receptivität angesehen ein unendliches, und also nicht zu erschöpfen ehe man weiter geht?

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Gedanken zur Pädagogik im Winter 1813/14

[55.] Alles was als bestimmte Aufgabe hingestellt wird, muß vollkommen gelößt sein ehe man weiter geht.

[56.] Kein Act ist bloße Receptivität oder bloße Spontaneität; aber jeder ist überwiegend das eine. Dringt man nun bloß auf receptives: so wird entweder die Spontaneität unterdrükkt, oder es bildet sich eine falsche und dem Act unangemessene hinein. Also muß überall auch ein Gleichgewicht gesucht werden. Kann man dasselbe auch von der Spontaneität sagen?

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[57.] Allgemein ist die Beziehung der Erziehung auf das chaotische Leben. Was in demselben gar nicht liegt, gehört auch nicht in die Erziehung. Doppelte Richtung dieser Beziehung. Der Grundsaz des H ü t e n s ist in allen Stufen und Beziehungen derselbe. Bei dem was schon abgemacht ist durch die Erziehung, ist es nicht nöthig; bei dem was noch nicht aufgenommen werden kann, auch nicht. In der Mitte unterscheide man das unschöne und unrichtige, die Wirkung durch Gewohnheit von der durch Reiz.

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[58.] Zum Reiz kommt noch hinzu als Hemmung Gewalt und Rohheit.

[59.] Im Gebiet des unrichtigen fallen die Punkte wo die Behütung anfangen müßte und wo sie aufhören kann, so nahe an einander als man will.

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[60.] Wo unschönes ist, da ist auch die Frage von Unschuld. Auch hier eine Zeit vor der Behütung.

[61.] Ob die Behütung noch nothwendig sein kann wenn der Gegensaz zur Sprache gekommen? Nach Maaßgabe der Gewalt des Reizes. (Keuschheit und Gerechtigkeit.)

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[62.] Keine Behütung darf die Entwikklung der Selbständigkeit hemmen.

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[63.] Das Hüten nimmt ab vom Einbetten und Einwikkeln an, je mehr die Selbständigkeit zunimmt; es tritt wieder ein bei jeder neuen Lebensfunktion. Maaß, Nicht deshalb die nothwendige Entwikklung der Thatkraft zurükkhalten, z. E. nicht von der Schule entfernen. Daher bei Knaben weniger anwendbar als bei Mädchen; bei melancholischen und sanguinischen nothwendiger als bei den anderen. Es muß für jedes ein Heiligthum geben. Daher die gesunde Neigung zum Ideal.

[64.] Ueber die Grenze zwischen Erziehung und Leben. In sofern muß die Erziehung Ergänzung sein oder Verstärkung. In verschiedenen Zeiten manches mehr dem Leben überlassen. Erziehung ist Correctiv des Verhältnisses. Ueberall kommt das Bewußtsein durch die Erziehung.

[65.] Ist wo ein unschönes entwikkelt, so ist in Bezug auf die Erkenntniß die Behütung überflüssig, in Bezug auf den Reiz desto nothwendiger.

[66.] Ueber die Gleichmäßigkeit der Erziehung. Thorheit, daß jeder eine für sich besonders haben will; Zeichen von Mangel an public Spirit.

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[67.] Vom Gefühl des mangelnden gehen alle Verbesserungen aus. Nur diejenigen sind echt welche schnell populär werden, z. E. unsere gymnastischen und musikalischen.

[68.] Die Erziehung bringt Ordnung. Dahin gehört auch das richtige Verhältniß des allgemeinen zum besonderen, und daß das Bewußtsein erregt werde daß man mit jenem zugleich auch dieses habe.

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Gedanken zur Pädagogik im Winter 1813/14

Mit der Ordnung hängt unmittelbar das Bewußtsein zusammen. Soll man überall auf ein Maximum von Bewußtsein sehen? Es scheint als ob es sonst nicht lohne eine Erziehung zu haben.

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[69.] Von da aus, daß alles worin das Gefühl dominirt, also auch alles sittliche zurükktritt in der eigentlichen Erziehung, ein neuer Fortschritt in der Erklärung derselben. Wie | eigentlich Erziehung und Leben sich durchdringen. Alles was aus dem reinen Gefühl geschieht, gehört dem lezten an. Dies wird nun auf indirecte Weise in das Gebiet der Pädagogik gehören, um zu bezeichnen daß darin nichts technisches sein darf. Alles der Art ist als reine Action der handelnden Sphäre anzusehen.

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[70.] Alles gute was der Zögling leistet, muß man zu einer Basis machen worauf man Forderungen gründet.

[71.] Die Erziehung ist entweder Entwikklung, in so fern sie das natürliche Verhältniß von Receptivität und Spontaneität ungestört läßt; oder Heilung, in so fern sie es ändert. Muß nicht in der Realität beides überall eines sein?

[72.] Die Erziehung sezt den Menschen in die Welt in so fern sie die Welt in ihn hineinsezt; und sie macht ihn die Welt gestalten in so fern sie ihn durch die Welt läßt gestaltet werden.

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[73.] Unterschied der physischen und intellectuellen Erziehung auf die Spize gestellt.

[74.] Jeder Mensch ist einigen Objecten sowol auf Seite der Receptivität als der Spontaneität näher verwandt, und dies ist das zweite constitutive Element der Eigenthümlichkeit. Specifischer Sinn und Talent.

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[75.] In wiefern sind extensive und intensive Fortschreitung verschieden? Realiter nicht getrennt, aber technisch.

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[76.] Das Gesez des extensiven, in wie fern die Erziehung gesondert ist vom chaotischen, kann nur auf die drei Punkte gehen, Ordnung, Zusammenhang, und Bewußtsein.

[77.] Ob das Gesez daß eines erst vollendet sein müsse ehe man zum anderen geht, auf alles paßt? Ob nicht im Gebiete der Receptivität und Spontaneität Einzelnes und Totalität sich entgegengesezt gegen einander verhalten. Alsdann müßte gar nichts unverstandenes vorkommen auf der receptiven Seite, und nichts schülerhaftes auf der spontaneen.

[78.] Zwei entgegengesezte Maximen. Es scheint daß man sie beide verbinden muß. Aber reine Erziehung hat man nur da wo die eine waltet. Vielleicht deshalb Mathematik ein so vorzügliches Schema der reinen Erziehung.

[79.] Erziehung des Kindes, wobei die Geschlechtsdifferenz sich am meisten verliert und die einzelnen Zwekke heraustreten. Erziehung des Knaben, wo die Geschlechtsdifferenz sehr heraustritt, also eine doppelte Behandlung ein; die Zwekke treten auseinander, aber die Familie dominirt und die Bildung ist elementarisch; geht bis zum vierzehnten Jahre vom fünften. Die Bildung ist potenzirt, aber noch nicht technisch.

[80.] Wie früh kann man anfangen am Sprechenlernen mit zu künsteln? Erste unvollkommene Production mancher | Buchstaben ist nicht zu hindern. Nur muß man das Ohr daran üben.

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[81.] Das Ohr bildet sich am allerschnellsten. Anfangs kein Geräusch einen Eindrukk: wie bald den genauesten objectiven und den stärksten subjectiven! Lezteres zum Theil mit daher, weil der Ton am leichtesten personificirt wird; daher wol auch das Ohr Sinn der Furcht.

[82.] Erst wenn die Kinder sprechen können, kann man anfangen sie die Sprachelemente unterscheiden zu lehren.

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[83.] Man soll die Kinder lokken, aber nicht durch Kuchen: lieber durch etwas glänzendes oder sonst.

[84.] Man muß sich von Anfang an überzeugen von der großen Ohnmacht des Verbotes unter jeder Gestalt.

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[85.] Ueber die Blödigkeit der Kinder und ihre Relation zur Selbständigkeit.

[86.] Die Sprache muß überall als reines Medium der Wahrheit heilig gehalten werden.

[87.] Die Augenlust kann den Uebergang bilden zur Receptivität.

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[88.] Das Princip aller Verkehrtheit ist, wenn man etwas gegen seinen Zwekk gebraucht.

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[89.] In so fern ein Zweig im anderen seine Haltung hat, wird doch der eine nur als Mittel zu jenem anderen betrieben. Es muß also ein gemeinschaftliches Resultat geben, auf welches alle gleichen Einfluß haben.

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[90.] Die Privaterziehung wird weit mehr Einseitigkeiten zum Resultat haben als die öffentliche. Das gemeinsame Leben ist ein solches Resultat; die gemeinsame Neigung ist auf das Ganze gerichtet.

[91.] Auf irgend eine Weise kann überall zum Bewußtsein kommen daß die verschiedenen Zweige für einander Stoff und Form sind.

Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1820/21

Die Abbildung zeigt die Seite 225 der hier veröffentlichten Nachschrift zur Pädagogik-Vorlesung 1820/21, unten S. 467, 8–32

Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

Nachschrift von unbekannter Hand, Privatbesitz in Berlin Ehrhardt/Virmond (2008) Derzeit einzige Überlieferung sämtlicher Vorlesungsstunden von Schleiermachers Pädagogik-Kolleg 1820/21

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Die Pädagogik d. h. die Theorie der Erziehung hat in Bezug auf den academischen Unterricht vielerlei Schicksale gehabt. Sonst ward sie gar nicht vorgetragen, dann sehr häufig, und man legte sehr großen Werth darauf, nachher gerieth sie allmälig wieder in Verfall. Es ist daher wohl nicht unpassend hier zu Anfange das Verhältniß derselben zur Tendenz des academischen Unterrichts anzudeuten. Trug man sie früher gar oft vor, so geschah dies aus Mangel an Ausbildung der practischen Philosophie; vernachlässigte man sie, so lag der Grund davon in der unrichtigen Behandlung, indem man sie als Technik für einzelne bestimmte Geschäfte angesehen hat; dies ist aber eine sehr untergeordnete Ansicht und ist sie herrschend, so braucht aber wirklich die Pädagogik gar nicht für Akademien vorgetragen zu werden, denn Regeln ohne Uebung sind nichts, und folglich wäre sie zu den Seminarien zu verweisen. Aber dies ist nicht der rechte Gesichtspunkt; es läßt sich ein höherer fassen, der sie allerdings in den academischen Unterricht hineinzieht. Sie steht nämlich mit der Ethik im genausten Verhältniß, und zwar in einem doppelten. Denn wenn sich der Mensch dahin erhoben hat, das Leben sei durch ein Gesetz zu fassen, so kann dies nicht geschehen, als wenn in ihm zugleich das Bestreben erwacht, diesem Gesetz Allgemeinheit zu verschaffen; | und wo diese Sehnsucht einmal erwacht ist, da hat sie sich stets auf die Bildung der heranwachsenden Generation geworfen. Die andere Seite der Verbindung der Pädagogik mit der Ethik ist die, welche aus jenem ersten Punkte unmittelbar hervorgeht, daß alles in der Sittenlehre keine andere Berührung findet als in der Pädagogik. Jeder nämlich der ein Gesetz des Lebens richtiger erkannt zu haben meint, als es sich aus dem Leben, wie es ist, unmittelbar ergiebt, wünscht es auch zu realisiren durch das durch die Gewohnheit noch nicht gebändigte Geschlecht. Und nun giebt die Pädagogik die Probe für die Sittenlehre, denn ein Gesetz für das menschliche Leben kann nicht das rechte sein, wenn es nicht realisirt werden kann; denn die menschliche Natur ist ja die realisirende Kraft und was nun dadurch nicht realisirt werden 16 ein höherer] eine Höhere

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kann ist auch nicht das richtige Gesetz derselben. Daher haben auch vorzüglich die Alten auf die Pädagogik einen hohen Werth gelegt, und es ist der Ausspruch aller Weisen daß weder die Theorie noch die Praxis der Gesetzgebung ein erfreuliches Resultat geben könne, wenn man die Erziehung vernachlässige. Für uns muß diese Wichtigkeit noch zugenommen haben, denn wenn gleich bei uns das öffentliche Leben zurück getreten ist, so hat doch die Kirche ihre Stelle neben dem Staat genommen, und das religiöse Leben macht mit dem erkannten Gesetz desselben einen Anspruch auf den Menschen, der in seiner ganzen und rechten Tiefe erfaßt, die menschliche Na|tur mehr ergreift, als das bloße bürgerliche Leben bei den Alten thun konnte. Es kann in uns aber kein Bewustsein von der Reinheit des Glaubens sich erheben, wenn wir nicht die Hindernisse, welche der Erfüllung des göttlichen Willens in uns entgegen stehen, wegräumen. Alle Bemühungen aber, ein religiöses Gemeinleben zu führen, müssen durchaus ohne Erziehung fruchtlos sein. Kirche und Staat sollen aber in ihren Bemühungen zusammenstimmen und so bekommt die Pädagogik, für uns eine noch größere Wichtigkeit, als sie im Alterthum hatte. Weil nun also der Mensch zur Stütze des bürgerlichen und zum Werkzeuge des religiösen Lebens gebildet werden soll, so ist der Verfall von Pädagogik stets ein schlimmes Zeichen für die Vernachlässigung des bürgerlichen Lebens oder des wissenschaftlichen Bewustseins. Es würde keine Entschuldigung sein, wenn man sagte, die Erziehung könne doch vortrefflich sein, wenn gleich die Theorie derselben vernachlässigt werde. Freilich ist das Gefühl an und für sich ein richtiger Leiter, wenn ihm nichts in den Weg tritt, und er auf einfachem Wege geht. Ist z. B. irgendwo die Volksthümlichkeit recht lebendig, so kann daraus eine Nationalerziehung ohne Theorie hervorgehn. Ist das religiöse Element in einem Volke vorzüglich mächtig, so kann eine religiöse Erziehung dem Glauben des Volkes gemäß ohne Theorie vortrefflich dasein. Aber fragen wir ein Geschlecht, wie leicht sich das Gefühl verirrt, und wie | dann, wenn beide Elemente, das politische und religiöse, nicht zusammentreffen, das Ziel erreicht werden kann, so ist nichts nöthiger, als daß eine Theorie das getrübte Gefühl reinige. Wirklich hat seit vielen Jahrhunderten das Religiöse mit dem Politischen in Zwiespalt gelebt; und wir können nicht sagen, daß er sich schon im Leben ausgeglichen, also ist das reine Gefühl verloren, und wir können es nur 8 dem] den 13 der] die 26 einfachem] einfachen

26 den] dem

26 er] Kj der Mensch

1–5 Vgl. Platon: Politeia, Buch 5, besonders 449a–468e; Opera, ed. Societas Bipontina, Bd. 1–12, Zweibrücken 1781–1787 [SB 1490], hier Bd. 7, 1785, S. 2–43; Werke in acht Bänden, ed. G. Eigler, 2. Aufl., Darmstadt 1990, hier Bd. 4, S. 366–429

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durch eine rein wissenschaftliche Behandlung wieder ersetzen. Aus der Verschiedenheit dieser Behandlung entsteht nun aber der Wechsel in den Schicksalen der Pädagogik. Bei uns Deutschen wurde sie zuerst unter Karl dem Großen thematisch behandelt unter welchem eine pädagogische Gesetzgebung anfing, eine bloße Theorie war; ja Karls ganze Regierung war eine pädagogische, und warf mancherlei Elemente in die Volksbildung hinein. In der Erziehung selbst herrschte die scholastische Methode, und weil die Erziehung in den Händen der Wissenschaftlichen war, so läßt sie sich als Theorie ansehen. Wenn sie nun ihren Ursprung hatte in einer Zeit, wo das Religiöse und Politische innerlich innig vereint, äußerlich sich zu trennen anfing, so mußte sie verfallen, als diese Trennung immer mehr ins Innere eindrang, und die Wissenschaften auf der Seite der Kirche gegen den Staat standen. In den Zeiten der Reformation sah man ein, wie die Erziehung selbst aus einem religiösen Gesichtspunkte veraltet war. Man brachte daher das | Erziehungswesen in die Hände des Staats, und Geistliche und Gelehrte, welche sich auch von der Identität mit der Kirche loswickelten, hatten Antheil daran, weil sie mehr dem Staat, als weil sie der Kirche angehörten. Bald aber artete die Theorie in Hypothesen ohne wissenschaftlichen Zusammenhang aus, als besonders zwei pädagogische Bestrebungen die Theorie und Praxis vertilgten. Dies geschah 1) in der Basedowschen Periode, deren Tendenz war den einseitigen Einfluß der Kenntnisse des Alterthums auf die Erziehung wankend zu machen, und [sie] so einzurichten, daß der Mensch von Jugend an mit allen Verzweigungen des Lebens bekannt werde. 2) Die zweite Methode war die Pestalozzische, welche nicht von der oberflächlichen Anschauung des menschlichen Lebens, sondern von tieferer Anschauung der Natur ausgeht. Schon diese kurze Geschichte der Pädagogik wird zeigen, wie genau die Theorie der Erziehung mit allen Bestrebungen im Felde der Wissenschaften der Religion und des bürgerlichen Lebens zusammenhängt. In diesem Zusammenhange angesehen, ist die Pädagogik ein wesentliches Element in der praktischen Philosophie, und es muß also eine rein wissenschaftliche Behandlungsweise derselben geben, die 9 Wissenschaftlichen] Wissenschaftliche 22–26 Anspielung auf den Streit des Philanthropismus und Humanismus, der besonders zwischen Johann Bernhard Basedow, dem Gründer des ersten Philanthropins in Dessau, und Reinhold Bernhard Jachmann, dem ersten Direktor des Conradinums in Jenkau, ausgetragen wurde. Vgl. Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit, Jena 1808 26–28 Vgl. Pestalozzi (1797); Sämtliche Werke 12,1–166

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dem praktischen Bestreben zum Grunde gelegt werden kann. Dies ist unser Gesichtspunkt. Bei dem Zusammenhange zwischen der Theorie der Erziehung und der allgemeinen Sittenlehre | muß nun jene in dieser ihr Princip finden, da aber im gegenwärtigen Zustande der Philosophie, wo die Systeme der Sittenlehre zu sehr von einander abweichen, eine gemeinsame Sittenlehre fehlt, so müssen wir bei der Erklärung und Darstellung des Princips unserer Disciplin uns stellen, wie wenn es keine allgemeine Wissenschaft gebe, und die Frage aufwerfen: was versteht man unter Erziehung? Offenbar betrifft es den Menschen, als Erscheinung angesehen in seinem zeitlichen Dasein. Hier muß es aber einen Anfangspunkt der Erziehung geben, und einen Punkt der Vollendung, und fragen wir nun, wie der Mensch von dem einen zum andern komme, so beruht dieses auf zwei Factoren. Der Mensch selbst ist nämlich eine lebendige Kraft, welche in der Entwikkelung begriffen ist; aber der einzelne Mensch ist auch in beständiger Wechselwirkung mit andern, und diese bestimmt alles in der Erscheinung mit. Denn der Mensch kann zwar nichts wirken oder thun, das mit seiner Individualität in Widerspruch stände, und wenn wir das, was er wirklich geworden ist, betrachten, so hätte er es zwar von diesem innerlichen agens allein werden können: aber dennoch hilft ihm offenbar die Wechselwirkung mit andern sein Handeln zu bestimmen. Zwar ist hierbei noch die äußere Natur im Spiele, aber das rechnen wir nicht, sondern nur das, was von der Thätigkeit anderer Menschen ausgeht. Die Erziehung ist | also nach dem Bisherigen die Beförderung der Entwickelung des Menschen durch die Einwirkung anderer. Allein diese Erklärung ist zu weit denn diese Einwirkung anderer hört nie auf und doch sagen wir nicht, der Mensch werde so lange erzogen, wie er lebt. Im weitesten Sinne nennen wir wohl Erziehung auch alles das, was der Mensch durch Natur und geschichtliche Ereignisse erfährt. Dies aber stimmt nicht mehr mit einer bewußten und zweckvollen Theorie zusammen welche wir doch hier aufstellen wollen. Zunächst haben wir also den Endpunkt der Erziehung zu bestimmen und dann den Punkt festzuhalten, daß sie nur durch die Einwirkung anderer erfolge. Einwirkung ist aber, nicht was geschieht, sondern gewollt worden und beabsichtigt ist. So also wäre Erziehung der Antheil an derjenigen Ausbildung des Menschen, die die beabsich2 Theorie] Theorie, 4 im] in 11 einen] eine 13 einen] eine Handeln zu bestimmen] bei seinem Handeln bestimmen

21–22 sein

20 agens von (lat. agere): in Bewegung setzen, treiben. Der Begriff entstammt der scholastischen Physik und bezeichnet das Prinzip, das die Form einführt. Gemeint ist – in Anlehnung an Aristoteles – die Wirkursache, die anderes hervorbringt und nicht von anderen Ursachen bestimmt ist.

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tigte Einwirkung eines Menschen auf den andern ist. Doch auch dies ist hier kein Princip der Erziehungskunde, sondern es entsteht hier wieder die Frage, was denn mit den einzelnen beabsichtigt werden solle, und hier kommen wir auf das Gebiet der Sittenlehre, auf ein sehr bestrittenes Feld.

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Wie kommen wir zu einer allgemeinen Formel über die Verfahrungsweise bei Einwirkung auf das in der Entwicklung begriffene Gemüth? Hätten wir ein allgemeines System der Sittenlehre, so müßten wir diese Regel allgemein daraus entnehmen können. Denn die verschiedenen Richtungen der menschlichen Natur müßten | darinn verzeichnet, und das Verhältniß der Persönlichkeit der einzelnen auch festgestellt sein, ob nämlich jeder zu dieser Aufgabe ein gleiches Verhältniß habe. Da dies aber nicht ist, und wir nur fragen können, was die Erziehung aus dem Menschen machen soll, so müssen wir in dieser Hinsicht an diejenige Vorstellung über das appelliren, was die Vollkommenheit des Menschen ausmacht, wovon wir glauben können, daß alle Menschen darin einig sind. Zuerst haben wir hier etwas Negatives, worüber wir uns leicht vereinigen können. Nämlich auf das äußerlich mit angenehmen Empfindungen Verbundene soll die Theorie der Erziehung nicht ausgehen, denn sie geht nicht schlechthin auf die Persönlichkeit, und wir fodern von ihr, daß sie in der menschlichen Natur dasjenige, was das eigentliche Reale ist, ausbilden soll. Aber hier ist es schwer vom Negativen zum Positiven zu kommen, und die Frage zu beantworten, was denn das Reale in der menschlichen Natur ist; jeder wird hier etwas sagen, aber darüber in Verlegenheit sein, ob seine Antwort auch das Ganze umfasse und allgemein befriedigend sei. Wenn wir nun die Theorie mit der Praxis vergleichen, so werden wir sagen müssen, daß beide sehr verschieden von einander sind. Kein Volk und kein Zeitalter hat dieselbe Erziehungsweise wie das andere und keine Religion wie die andere. Dies läßt sich nicht anders erklären, als daß das Bewust|sein von der menschlichen Natur auch nicht in allen Völkern und Zeiten dasselbe, sondern ein verschiedenes ist, und daß in den Differenzen wenigstens etwas Permanentes in verschiedenen Nationen ist. Wenn wir bei der nationalen Differenz der Erziehung stehen bleiben, so können wir sagen, daß sie im Abnehmen begriffen, und da am größesten ist wo wenig Gemeinschaft unter den verschiedenen Völkern Statt findet. Das allgemeine Ziel der zeitlichen 7 kommen] können

8 begriffene] begriffenen

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Entwickelung des Menschen scheint zu sein, daß die Identität der Menschen immer größer werde. Ist es dahin gekommen, so giebt es zuerst eine einzige allgemein gültige Pädagogik, die es bis dahin nicht geben kann. Auf jenem Punkte befinden wir uns aber noch lange nicht. Wir können nur sagen, daß hier wohl die Theorie der Praxis vorangehe, und wir mit Vernachlässigung aller Differenzen eine Theorie aufstellen könnten. Allein wollte man dieß auch, so würde sie doch nicht in einem Verhältnisse mit der Praxis stehen, worin sie stehen sollte, denn die Bedingungen würden ja fehlen, unter welchen sie ausgeführt werden könnte. Man kann hier nur sagen: die Praxis darf zwar die Differenzen nicht vernachlässigen, aber sie ansehen als etwas im Abnehmen Begriffenes, und das ist alles was sich aus diesem entfernten Zielpunkte ableiten läßt. | Aber es ist gewiß eine der schwersten Aufgaben für die Theorie, jene gefundenen Regeln richtig anzuwenden, und so hätten wir nur die Einsicht in die Schwierigkeit der Sache von dieser Seite genommen. Positiv haben wir nichts gefunden, als daß die Theorie jenen Differenzen untergeordnet sein, und auf der andern Seite wieder darüber stehen muß. Eben so wollen wir überlegen, wo die Erziehung anfängt. Am leichtesten können wir bestimmen, wo die Erziehung aufhören soll. Wir haben Erziehung im engern Sinne von der Erziehung im weitern unterschieden. Die letzte hört nie auf, da die Bildsamkeit des Menschen zwar sich verringert aber doch nie aufhört. Die Erziehung im engern Sinne muß aber aufhören, sonst wäre die Differenz zwischen dem engern und weitern nichts; wo aber hört sie auf? So lange sich der Mensch im Zustande des Erzogenwerdens befindet, ist er im Zustande überwiegender Passivität, und der Punkt, wo die eigentliche Erziehung aufhört, ist der, wo die überwiegende Passivität des Menschen aufhört. Dies muß derselbe Punkt sein mit dem, wo dem Menschen eine Selbstthätigkeit selbst von denen zugestanden wird, die ihn bisher geführt haben. Die Richtigkeit dieser Formel wird niemand bezweifeln, aber | sie ist unbestimmt, und von hier aus auch nicht näher zu bestimmen. Nehmen wir die gegenwärtige Gestaltung des menschlichen Lebens, so wird dem Menschen eine bestimmte Selbstständigkeit nicht von denen zugestanden, die ihn im engsten Sinne des Worts erzogen haben, sondern es ist eine Sache der größern Gemeinschaft der Menschen, worin seine Selbstständigkeit eingreift. Als Mitglied der Kirche ist die Confirmation der Punkt, wo die Kirche den Menschen Selbstständigkeit zuschreibt, und hier mußte die Erziehung im engern Sinn aufhören. In der bürgerlichen Gesellschaft haben wir eine Ahnung 9 Bedingungen würden] Bedingung würde

25 dem] den

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von eben solchem Punkte, aber er ist schwer zu bestimmen. Die Mündigkeit könnte es sein, aber es ist nichts Seltenes, daß der einzelne schon früher Geschäfte für die bürgerliche Gesellschaft ausführt, die ihn eben dadurch für männlich erklärt. Einen gemeinschaftlichen Endpunkt für die gesammte Erziehung finden wir folglich doch nicht, und die Theorie findet hier an der Praxis etwas auszugleichen. Aber eben dieses bestimmte Aufhören findet nun Statt wenn wir den einzelnen in seinem Verhältnisse zu Staat und Kirche betrachten. In der häuslichen Gesellschaft giebt es solchen Punkt gar nicht, und das Verhältniß zwischen Kindern und Aeltern wird nie geändert. Wir sehen also auf der einen Seite ein bestimmtes | Abschneiden, auf der andern ein allmäliges Verschwinden der Erziehung, und zwischen beiden müßte überhaupt der Endpunkt liegen. Wo fängt aber die Erziehung an? Hier kann man sich denken sei die Antwort leicht, denn die Erziehung geht ja auf die Beförderung des Entwickelungsprocesses des einzelnen, und sie muß also anfangen, sobald der Mensch als möglicher Gegenstand der Einwirkung gegeben ist. Er ist nun als ein solcher mit der Geburt gegeben; aber auf der einen Seite hat man dessen ungeachtet den Anfangspunkt der Erziehung schon früher setzen gewollt, auf der andern erst später. Die Alten, welche die Erziehung politisch behandelten, gaben die Regel, daß der Mann schon in Beziehung auf die hervorzubringenden Kinder seine Gattin wählen solle. Dies aber ist eine zu dunkle Region, um die Sache zu bestimmen, und hier kann nur Beobachtung aushelfen, indem zu nahe Verwandte, zu große Differenzen des Alters und Temperaments hier als nachtheilige Umstände in Betrachtung kommen. Wir stehen in dieser Beziehung auf einem andern Punkt als die Alten, bei denen die Frau nur ein Mittel war, das Hauswesen in Stand zu bringen, welches der Mann im Staate repräsentiren sollte. Höhere geistige Geschlechtsliebe gab es damals noch gar nicht, wenigstens außer den häuslichen Verhältnissen, und sie | hatte auf die Schließung der Ehe keinen Einfluß. Bei uns muß sie allein gelten. Ist der Mensch in gesunder Gemüthsverfassung, so wird sich keine Liebe zu einem Geschöpfe finden, das nicht im Stande wäre, Kinder zu erzeugen. Anders ist es von der entgegengesetzten Seite, wo man behauptet, man solle die Erziehung noch gar nicht von der Geburt anfangen, sondern erst vieles abwarten. Dies hängt mit einer andern Streitfrage zusammen: näm1 solchem] solchen 20–23 Aristoteles bestimmt in seiner „Politik“ Ehe und Geschlechterverhältnis teleologisch, von den Selbsterhaltungszwecken der staatlichen Gemeinschaft her; vgl. Aristoteles: Politik 7,16 1334b–1336a; Opera, Bd. 1–2, Leiden 1590 [SB 74], hier Bd. 2, S. 268–270; ed. W. D. Ross, 12. Aufl., Oxford 1992, S. 243–249

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lich wenn wir Hervorbringung von Erziehung unterscheiden, – wie verhält sich das, was der Erziehung gegeben wird, zu dem, was sie hervorbringen soll? Hier sind die Meinungen verschieden, und auf der einen Seite herrscht der Glaube an die Allmacht der Erziehung, daß sie alles aus dem Menschen machen könne, was sie wolle, auf der andern Seite der Glaube an die Ohnmacht der Erziehung, daß man nichts in den Menschen hineinziehen könne, was nicht schon in ihm liege.

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Zuerst wollen wir sehen, was aus der verschiedenen Art, wie jene Frage beantwortet werden kann für die Erziehung folgt. Nimmt man an, daß jeder Mensch durch die Geburt bestimmt ist, so daß einiges in ihm hervorragt, manches zurücktritt oder fehlt, so ist es offenbar eine Thorheit, wenn man die Bemühungen der Erziehung auf das richtete, was ihm ganz fehlt. Wenn man aber sagt, sie müsse dem Fehlenden zu Hülfe kommen, damit ein Gleichgewicht | entstehe, so muß man doch erst wissen, was hervorragt, und was zurücktritt, und so kann die Erziehung nicht mit der Geburt anfangen, sondern muß warten, bis sich die Eigenthümlichkeit des Menschen offenbart hat. Wann hat sich aber die Natur offenbart? Eigentlich nicht eher bestimmt, als bis großentheils die Periode der höhern Bildsamkeit des Menschen vorüber ist. Denn es giebt Anlagen, die sich erst sehr spät entscheiden, und selbst diejenigen, die sich sonst früh entwickeln, kommen zuweilen erst später zum Vorschein, z. B. die Anlage der Musik. Von dieser Ansicht aus muß also eine vollkommene Passivität in der Erziehung folgen. Was die andre Ansicht betrifft, daß man aus jedem alles machen könne, so müssen wir sagen: wir wollen einmal selbst die natürliche Möglichkeit davon zugeben, so ist doch das unmöglich, alle Anlagen in jedem in gleichem Grade zu entwickeln, indem Fertigkeit nur ein Produkt der Zeit, und also eine Auswahl nöthig ist. Wonach soll aber diese Auswahl geschehen, wenn in der ursprünglichen Beschaffenheit des Menschen keine Inclination dazu vorhanden ist? Hier giebt es zweierlei Bestimmungsgründe: 1) die persönliche Vorliebe der Erziehenden für diesen oder jenen Zweig der menschlichen Thätigkeit. Dies ist zwar häufig, aber nicht sittlich richtig und kunstgemäß, sondern tyrannisch und selbstsüchtig. 2) machen die äußern Ver|hältniße des zu Erziehenden das eine oder das andere nützlich oder überflüssig, dies kommt auch in der Praxis vor, aber die Theorie kann dies nicht rechtfertigen. Wenn in diesem Punkt auch durch die bürgerliche Ver-

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fassung manche Schranken gesetzt, und auf der andern Seite Andeutungen gegeben sind, so muß doch erst die Willenskraft des Menschen sich manifestiren, und wenn dies geschieht, ist die Periode der Erziehung vorüber. Also muß die Erziehung auf der einen Seite mit der Geburt des Menschen angehen, denn so werden gewollte Einwirkungen anderer auf den einzelnen nothwendig, auf der andern Seite scheint in Bezug auf die vorgelegte Frage, wie der Mensch gegeben wird, ein zweckmäßiges Verfahren in der Erziehung erst später angehen zu können und fortzudauern bis ans Ende der Erziehungsperiode. Wie also dort das Ende, so ist hier der Anfang zwiefach, zuerst ein allmäliger. Es würde offenbar umsonst sein, allgemeine pädagogische Gesetze aufzustellen, wenn wir nicht jene Frage von der Differenz der Identität der gebornen Menschen beantworteten, um darnach die Erziehungsart zu bestimmen. Es giebt noch Philosophen und Pädagogen, welche eine vollkommene Gleichheit aller einzelnen Menschen annehmen, und andere, die das entgegengesetzte, ursprüngliche Verschiedenheit, behaupten. Unmöglich kann das pädagogische Ver|fahren von beiden Voraussetzungen aus dasselbe sein, denn wenn es die Behandlung eines eben sowohl mit- als gegenwirkenden Stoffes betrifft, (denn so sieht man nach jenen verschiedenen Grundsätzen den Menschen an) so kann man keine Verfahrungsweise aufstellen, wenn man nicht weiß, wie man den zu bearbeitenden Stoff findet. Freilich ist es wohl wahr, daß auch nach Beantwortung jener Frage die Aufgabe doch noch sehr amplicirt bleibt, denn gesetzt, alle Menschen wären gleich, so wäre noch zu bestimmen, was man aus jedem einzelnen zu machen suchen solle, ob aus allen dasselbe, und ob man alles übrige den Verhältnissen überlassen solle? – 26 jedem] jeden 15–18 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen, aus dem Französischen übersetzt v. M. Mendelssohn, Berlin 1756 [SB 1626]; Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, in: Collection complète 1,19–183; Œuvres complètes 3,109–237. In der Debatte um die preußische Schulgesetzgebung lehnte beispielsweise Ludolph Beckedorff die Forderung der Schulreformer nach allgemeiner Bildung für alle Heranwachsenden ab, da er eine „Verschiedenheit“ der Menschen durch die gesellschaftliche Ständeordnung bewahrt wissen wollte. Beckedorffs Auffassung steht im Gegensatz zu John Locke, dessen Schrift „Some thoughts concerning education“ (1693) im Jahre 1708 in Deutschland erschien und im 18. Jahrhundert in Europa breit rezipiert wurde. Locke ging davon aus, dass die menschliche Seele bei der Geburt eine tabula rasa, ein leeres Blatt sei; die Erziehung könne alles aus dem Menschen machen.

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Wir müssen daher reden 1) von der physischen Voraussetzung, wie der Mensch gegeben werde, 2) von dem ethischen Ziel seiner Ausbildung, und dann erst können wir das Verfahren beim Streben nach Erreichung dieses Ziels zeichnen.

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1) Ueber die physische Voraussetzung sind also die Ansichten sehr verschieden, aber von ihr hängt die Gestaltung der ganzen Theorie ab. Unser ganzes Denken, in wie fern es sich auf die gegebene Welt bezieht, unser reales Denken ist durchaus an den Gegensatz des Allgemeinen und Besondern gebunden, und was darüber hinaus liegt, weisen wir auch über die gegebene Welt hinaus. Die Idee der Gottheit ist über diesen Gegensatz erhaben, | darum ist sie auch keine der Welt; die Vorstellung von der bloßen Materie ist eben so aus jenem Gegensatz herausgesetzt, und darum sind wir auch einig daß die bloße Materie in der Welt nicht zu finden ist. Was uns aber in der Welt gegeben ist, pflegen wir unter jenem Gegensatz vorzustellen, und die Vollkommenheit unsers Denkens wird dadurch gemessen, wie vollkommen jener Gegensatz darin hervortritt. Z. B. die animalische Welt wird stets unter Classen und Gattungen gebracht; weniger finden wir dies bei der vegetabilischen und noch weniger in der todten. Wie steht es nun um den Menschen als Erscheinung? Jeder einzelne ist ein Mensch, dies ist das Allgemeine; aber zwischen diesem Allgemeinen und dazwischen, daß jeder ein einzelner ist, liegt eine Menge Abstufungen. Diese wollen wir hier kurz untersuchen. Die Anthropologie hat schon eine Menge Racen unterschieden, und wenn gleich nicht entschieden ist, ob sie nicht alle von einem Stammvater herrühren können, so läugnet man doch, daß ein Mensch durch die Kunst aus einem Gebiete in das andere versetzt werden könne. Neger und Weiße z. B. können nie vereinigt werden, denn selbst durch Vermischung, also auf kunstmäßigem Wege gelingt es nur in der Unendlichkeit und also niemals. Hier ist also ein Besonderes gesetzt, unbeschadet | der allgemeinen Identität. In einer Race unterscheiden wir wieder Völkerschaften; dieser Unterschied ist schon geringer, aber doch ein solcher, daß er einem geüb29–30 kunstmäßigem] kunstmäßigen 18–20 Vgl. SW III/9, S. 691: „Die animalische, vegetabilische Welt wird stets unter Klassen und Gattungen gebracht, und auch im Gebiete des todten starren tritt der Gegensaz unverkennbar hervor.“ 22–23 Vgl. SW III/9, S. 691: „aber zwischen diesem allgemeinen und dem besonderen daß jeder ein einzelner ist,“

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ten Auge nie entgeht, und durch Kunst kann man nie aus der einen Völkerschaft die andere machen. Von den verschiedenen Stämmen gilt dasselbe, dasselbe in einem geringeren Grade von den Familien. Nun machen wir den Sprung auf den einzelnen Menschen. In jedem also, insofern er einem Stamme einer Völkerschaft auch angehört, sind alle diese Differenzen vereint. Aber sind nun die einzelnen eines und desselben Stammes völlig identisch, wenn wir sie in der Geburt betrachten, oder sollte nicht in jedem noch eine Eigenthümlichkeit sein, die sein Wesen ausmacht? Nach der Analogie muß es so sein. Die Hauptbestimmungen in der menschlichen Natur in Beziehung auf die Erde sind die verschiedenen Racen; auch die Völkerschaft ist ein einer verschiedenen Bestimmbarkeit fähiges Ganze; sollten nun nicht die Verschiedenheiten, welche die einzelnen Menschen darstellen, nothwendig sein, um das eigenthümliche Leben des Volks in seiner Vollkommenheit zur Erscheinung zu bringen? Die eigenthümlichen Verschiedenheiten sind also etwas Nothwendiges, und jeder einzelne ist an und für sich selbst ein eigenthümliches Wesen, und tritt als solches in die Erscheinung. Ja noch mehr: das allgemeine Gefühl wird sich vereinigen | dies für einen Theil von dem anzuerkennen, was den Menschen vom untergeordneten Wesen unterscheidet. Pflanzen derselben Gattung haben zwar auch Differenzen, aber diese waren gewiß nicht im Keim angelegt; dasselbe gilt von den Thieren. Der Mensch hingegen ist nicht verschieden durch Einwirkung von äußern Potenzen. Die physische Voraussetzung, daß allerdings jeder Mensch ein eigenthümliches Wesen ist, kann nur so aufgestellt werden, wie es mit der Identität des Gemeinsamen bestehen kann. Also liegt keinesweges diese Eigenthümlichkeit darin, daß die Eigenthümlichkeit jedes Menschen etwas sei, was zur allgemeinen menschlichen Natur hinzukomme, auch nicht, was ihr fehle, – denn beides wären Unvollkommenheiten; sie ist nur ein verschiedenes Verhalten dessen zu einander, was die allgemeine menschliche Natur constituirt. Fragen wir, was dies für ein verschiedenes Verhalten sein könne, so werden wir vorläufig zweierlei als möglich unterscheiden können. Auf der einen Seite besteht die menschliche Natur aus einer Mannichfaltigkeit von Verrichtungen, seien es leibliche oder geistige. Diese können sich nur quantitativ verschieden verhalten; es ist aber auch möglich, daß eine qualitative Verschiedenheit Statt findet. Nämlich jeder Mensch ist ein fortschreitendes in seiner Entwickelung, und er wird, was er werden soll, von einem unvollkommenen Anfange bis zur relativen Vollendung | in der Zeit. Dieses Fortschreiten hat einen Exponenten, der 3 geringeren] geringerem 3 den] dem der Mensch 23–24 Potenzen] Pflanzen

6 diese] diesen 19–20 den Menschen] 31 constituirt] construirt

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die Kraft bezeichnet, die dem einzelnen einwohnt, und nun ist es denkbar, daß diese nicht eine und dieselbe in allen Menschen ist, sondern daß einige überhaupt nur einen geringeren Punkt erreichen, und andere einen höhern. Dies ist kein quantitativer Unterschied im vorigen Sinne, sondern steigern wir es bis zu einem gewissen maximum, so sind es verschiedene Potenzen der menschlichen Natur, die dadurch dargestellt werden, was beim ersten nicht der Fall ist. Diese Unterschiede lassen sich in der Erfahrung nicht leugnen, und niemand wird behaupten, daß es von der Erziehung oder von äußeren Umständen abhange, einen untergeordneten zum höhern zu machen. Auch dieser Unterschied zeigt den Reichthum der menschlichen Natur.

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So wie unter allen Wechseln der allmäligen Entwickelung doch etwas Beharrliches ist im Leben eines Volkes, eben so muß man annehmen, daß sich auch in der Erscheinung jedes einzelnen etwas gleichbleibendes finde. Was alles ist aber im Wesen des Menschen mannichfaltig? Dies ist wieder etwas Unendliches, und die Psychologie oder Anthropologie muß hier vorausgesetzt werden. Aber auch hier hat noch keine Vorstellungsweise classisch werden gewollt. Nun können wir unmöglich eine ganze Psychologie sogleich machen, wollen aber | doch diejenigen Hauptpunkte herausheben, welche auf die Entwickelung eines Menschen Beziehung haben. Wir sind von der Einheit der Menschheit ausgegangen, um das Verhältniß der einzelnen zu einander zu bestimmen. Es verhält sich wie ein Besonderes zum Allgemeinen: Der einzelne entsteht als ein besonderes aus dem Allgemeinen, das einzelne Leben entsteht durch den Akt der Zeugung, und in ihm ist eine ursprüngliche Differenz aufgehoben. Aber die Zeugung ist nie der Willkühr eines oder beider Theile unterworfen, also liegt sie jenseits des Willens. Der Geschlechtsackt ist die reproducirende Kraft der Gattung, die ein einzelnes hervorbringt, und so geht der einzelne fort. Aber ein einzelnes Wesen ist der Mensch nur als ein agens, und dies constituirt eine der vorigen entgegengesetzte Seite. Durch das Allgemeine ist der einzelne entstanden, aber er steht in bestimmender Zurückwirkung auf das, was auf ihn einwirkt. Dies ist der Gegensatz den man durch Receptivität und Spontaneität ausdrückt. In jedem Augenblick des menschlichen Lebens ist beides zusammen, weil beides zusammen das Leben constituirt. Nichts ist auf den Menschen reine Einwirkung, wobei er sich leidend verhielte, denn dieser Zustand wäre

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außerhalb des Lebens, sondern jeder Act ist mit einer Gegenwirkung verbunden. | Alles, was uns als das Freieste erscheint, so frei, daß sich der Mensch diese Freiheit kaum als sein Eigenthum denken kann, wie jede plötzliche Zusammenstellung von Gedanken, hängt doch an seinen beiden Enden am Entgegengesetzten; durch eine Gegenwirkung dagegen, durch einwirkende Umstände darauf, wird die Receptivität construirt. Der Gegensatz selbst ist also bloß in der Vorstellung getrennt, in der Wirklichkeit hingegen zugleich. Bei manchen stehen diese Endpunkte weiter auseinander, und dann ist sein Leben reich, sonst ist es arm. Hier liegt schon ein unendlicher Reichthum von Differenzen zwischen den einzelnen, die wir unter diesem richtig verstandenen Gegensatz des Uebergewichts von einem dieser Factoren über den andern erhalten. Der andere Anknüpfungspunkt versteht sich von selbst. Nämlich das menschliche Leben ist in seiner Erscheinung an sich und in so fern es Gegenstand der Erziehung ist, ein zeitliches und successives. Dies wollen wir mit dem Vorigen in Verbindung bringen. Wenn wir den einzelnen selbst ansehen als Identität des Allgemeinen und Besondern, so ist er dies in jeder einzelnen Lebensäußerung und in jedem Lebensmoment, z. B. im Denken, Vorstellen, Erkennen pp | denn das Vorgestellte pp kann gesteigert werden ins Allgemeine und zusammengezogen ins Besondere. Gehen wir nun davon aus, daß in jedem Moment jene Identität des Allgemeinen und Besondern Statt findet, so müssen wir in der Succession dieser Momente auch solche Identität annehmen. Was ist denn nun das, was wir Verschiedenheit der Temperamente nennen? Die gewöhnliche Terminologie ist hier mangelhaft. Sie müssen sich in ihrer Quadruplicität paaren, um einander gegenüber zu 22 jedem] jeden 1–5 Vgl. SW III/9, S. 695: „sondern jede Einwirkung ist mit einer Gegenwirkung oder Mitwirkung verbunden. Aber andererseits ist die freieste eigenste That des Menschen eben so gebunden an das andere Glied des Gegensazes. Ja auch in den Fällen wo wir weder eine bestimmte Thätigkeit des Menschen noch die auf ihn einwirkende Thätigkeit anderer, oder Einwirkungen äußerer Umstände nachweisen können, bei dem was so frei erscheint daß sich der Mensch diese Freiheit kaum als sein Eigenthum denken kann, wie jede plözliche Zusammenstellung von Gedanken dafür ein Beispiel ist, sind die beiden Glieder des Gegensazes gebunden.“ 10 Vgl. SW III/9, S. 695 (Zusatz): „Je ärmer aber das Leben ist, desto weniger Differenzen.“ 20–25 Vgl. SW III/9, S. 696: „z. B. im Denken Vorstellen Erkennen; das vorgestellte kann von dem besonderen ins allgemeine gesteigert, vom allgemeinen ins besondere zusammengezogen werden. Gehen wir nun davon aus, daß in jedem Moment jene Identität stattfindet in besonderer Wechselwirkung; nehmen wir hinzu, daß ein Moment auf den anderen folgt: so gewinnen wir eine Differenz in der Succession der Momente.“

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treten. Fragen wir nun, was das phlegmatische und sanguinische Temperament gemein haben, gegenübergestellt dem melancholischen und cholerischen, so ist bei jenen die Gleichförmigkeit der Succession vorherrschend, bei diesen denken wir uns die größeste Differenz der Momente. Beim cholerischen Menschen kann ein Eindruck, der ganz etwas besonders ist, ein ganz Allgemeines werden, und dasselbe denken wir uns auf entgegengesetzte Art im melancholischen; beim phlegmatischen und sanguinischen ist ein Moment wie der andere. Fragen wir, wo bei den Temperamenten das Uebergewicht der Receptivität auf der einen Seite und der Spontaneität auf der andern liege, so verbindet es sich in dieser Hinsicht umgekehrt: das phlegmatische und cholerische Temperament hat die überwiegende Spontaneität, denn phlegmatisch | ist derjenige auf den nichts leicht einen so heftigen Eindruck macht, daß er in einer begonnenen Thätigkeit gestört wird, und cholerisch ein solcher, in welchem jeder Moment, der aus einem Besonderen ein Allgemeines geworden ist, in die Thätigkeit ausgeht, und sich nicht im Innern beschließt wie beim Melancholischen und Sanguinischen. Bei diesen nämlich ist ein Uebergewicht der Receptivität über die Spontaneität, und sie unterwerfen sich jedem Eindruck. Diese Combinationen der Gegensätze erkennen wir als allgemeine Typen für die besondern Erscheinungen des menschlichen Lebens an, worunter wir diese subsumiren. Wir kommen nun auf den Gegensatz zwischen Receptivität und Spontaneität. So wie die Totalität des menschlichen Lebens ein Mannichfaltiges ist, so müssen sich auch die Empfänglichkeit und die freie Thätigkeit als ein Manchfaltiges gestalten. Dieses aber in Beziehung auf ein Äußeres ist der Organismus, denn wo wir einen solchen setzen, da ist innere Einheit, die mit dem Aeußern in manchfaltige Beziehungen tritt. So hat jedes Leben und auch das menschliche Leben als das reichste einen zwiefachen Organismus der Receptivität und Spontaneität, die manchfaltig in einander eingreifen, und dadurch die Einheit des Lebens darstellen. Dieser Organismus ist | bei allen Menschen derselbe weil die Beziehungen des Menschen auf die Welt überall dieselben sind. Aber in so fern er ein Manchfaltiges ist, giebt es wieder Verhältnisse zu den einzelnen Theilen, und diese müssen nicht in allen Theilen dieselben sein. Dieser Reichthum in den Verhältnissen ist eine 1 phlegmatische] pflegmatische 7–8 phlegmatischen] pflegmatischen 11 phlegmatische] pflegmatische 12–13 phlegmatisch] pflegmatisch 15 welchem] welchen 20 Combinationen] Compination 25 Empfänglichkeit] Empfindlichkeit 28 innere] immer 32–34 Vgl. SW III/9, S. 698: „Dieser zwiefache Organismus ist bei allen Menschen derselbe, weil die Beziehungen des Menschen auf die Welt überall dieselben sind.“

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neue Quelle der persönlichen Eigenthümlichkeit. Aber dieser kann bei weitem nicht auf eine so leichte Art unter bestimmte Gegensätze gebracht werden, weil der menschliche Organismus überaus zusammengesetzt ist, und seine Verhältnisse nicht einmal im Zusammenhange erforscht sind, so daß wir nicht im Stande sind, die Formeln aufzufinden, woraus wir die Gegensätze construiren könnten, und könnten wir dies auch, so wäre doch die Anzahl der Gegensätze zu groß, um allgemeine Grundsätze danach aufzustellen. Hier sind wir an der Quelle solcher Manchfaltigkeit, die wir gleich ursprünglich als eine solche auffassen müssen, die dem Begriffe entgeht, und wo nur die unmittelbare Anschauung das Rechte treffen kann. – Wollen wir das Vorherrschen eines einzelnen Zweiges im Organismus der Receptivität bezeichnen, so pflegen wir es eine Anlage im Menschen zu nennen, und wollen wir das Vorherrschende im Organismus der Spontaneität bezeichnen, so nennen wir dies Talent, obgleich | es nur noch Keim ist. Merkmale sind hier nur, wenn jenes Talent oder jene Anlage da ist, und diese fehlt. Die Persönlichkeit eines Menschen besteht nun in der Nothwendigkeit der Verbindung dieser Talente und Anlagen. So wird es wieder eine Aufgabe sein, auch nur die Eigenthümlichkeit des einzelnen so weit zu erkennen, daß, wenn wir die allgemeine Verfahrungsregel gefunden haben, sich diese an die gefundene Richtigkeit des Gegenstandes anknüpfen läßt.

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Das Ursprüngliche und Angeborne ist wohl eins, wiewohl sich nicht genau die Kennzeichen des letztern angeben lassen, und wie weit die äußern Eindrücke gehen. Temperament und Talent entwickeln sich erst mit den Jahren. Die Anlagen und Talente kommen in sehr verschiedener Succession zur Erscheinung, es läßt sich daher hierüber nur eine allgemeine unbestimmte Formel aufstellen. Der einzelne Mensch ist zwar nur im Zusammensein von Empfänglichkeit und freier Thätigkeit, aber indem in jedem Moment, auch in dem, der überwiegend durch äußere Eindrücke bestimmt ist, die Freithätigkeit erscheint, so ist es nun seine persönliche Individualität, welche die Freithätigkeit in solchen Momenten ausmacht. Könnte man alle Eindrücke von außen berechnen, so würde die innere Freithätigkeit des Menschen stets ein gleiches Verhältniß darstellen. | Diese beiden Punkte, die Differenz des Temperaments und die Differenz der Anlagen und Talente, scheinen zwar die Hauptmomente der persönlichen Eigenthümlichkeit zu 35 berechnen] brechen

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sein; aber im Zusammensein sind jene Hauptpuncte so getrennt, daß wir sie als unabhängig von einander ansehn können. Es setzt z. B. nicht dieses Talent jenes Temperament voraus, sondern beides muß hier für sich behauptet werden. Wenn wir jeden einzelnen mit denen zusammenstellen, die ihm in Beziehung auf das Temperament am ähnlichsten sind, so wird er sich durch eine eigenthümliche Mischung von Talenten und Anlagen unterscheiden, und umgekehrt werden sich Menschen von denselben Anlagen und Talenten durch eigenthümliche Temperamente unterscheiden. Weiter führt uns die angestellte Betrachtung nicht, als daß wir diese Hauptpuncte ins Auge gefaßt haben; die Richtigkeit der Erziehung wird von der Erkenntniß jener Eigenthümlichkeit abhangen. Was soll denn nun die Erziehung aus dem Menschen machen? Hierüber wollen wir noch eine allgemeine hypothetische Betrachtung hinzufügen, welche zeigt, wie die Erziehung von verschiedenen Ansichten aus verschieden zu construiren ist. Wollen wir den Menschen rein für sich selbst betrachten und behandeln, so müssen wir sagen, jede ent|schiedene Einseitigkeit könne zu einem Extrem führen, welches die ganze Harmonie der Natur und die Gesundheit des einzelnen Lebens zerstören kann. Bei der Differenz der Temperamente ist dies klar, das Extrem jedes Temperaments ist Wahnsinn. Eben so ist nicht zu leugnen, daß eine entschiedene Einseitigkeit in Ansehung des Organismus die Talente der Menschen unvollkommen macht. Fragen wir einseitig und für sich: wie werden wir auf solchen Menschen mit seinen Talenten und Anlagen wirken müssen, um ihn wie um sein selbst willen zu behandeln? so werden wir, wenn wir die Einseitigkeiten erkannt haben, dahin arbeiten müssen, sie in Schranken zu halten. Auf der andern Seite aber ist es offenbar, daß jeder Mensch ein Glied einer bestimmten menschlichen Gesellschaft ist, worin er bestimmte Verrichtungen übernehmen muß. Sehen wir diese Verrichtungen an als für das Ganze geschehend, so werden sie desto besser sein, wenn sich der einzelne ganz ihnen hingiebt. Betrachten wir den Menschen in dieser Beziehung, so müssen wir die Einseitigkeiten recht ausarbeiten. Für eine von beiden Verfahrungsarten müssen wir uns entscheiden, oder eine Temperatur treffen, die ein Gesetz beherrschen muß. Mit dieser allgemeinen Beobachtung, wie hieraus entweder zwei verschie9 Temperamente] Temperatur

10 daß] das

21–23 Vgl. SW III/9, S. 700: „Aber ebenso ist nicht zu läugnen daß eine einseitige Richtung der Talente den Menschen unvollkommen macht:“ 34–35 Vgl. SW III/9, S. 700: „Für eine von beiden Verfahrungsarten würden wir uns entscheiden müssen, wenn es uns nicht gelingen könnte den Gegensaz zu temperiren und so beide entgegengesezte und einseitige Methoden auszugleichen.“

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dene | einseitige Methoden entstehn, oder wie beide gegen einander auszugleichen sind, wollen wir hier abbrechen. Was sollen wir nun aus dem Menschen machen? Diese Frage betrifft den Endpunct der Erziehung, wie die vorigen Untersuchungen ihren Anfangspunct. Zunächst müssen wir fragen, wie wir zur Beantwortung jener Frage gelangen. Wie das Suchen nach dem Anfangspuncte der Erziehung, wie uns der Mensch gegeben werde, die ganze Psychologie, Anthropologie und Physiologie erforderte, so fordert uns diese Frage die ganze Ethik ab, und hier ist die Differenz der Ansichten noch viel bedeutender, und doch können wir uns keine besondere Ethik construiren. Hier haben wir nur ein Hülfsmittel, der Sache eine ganz andere Wendung zu geben. Statt jene Frage allgemein zu beantworten, wollen wir sie lieber in folgender Beziehung fassen. Wenn die Erziehung des Menschen vollendet ist, müssen wir ihn doch irgend wohin stellen, und dieser sein künftiger Standpunct mußte schon bei der Erziehung berücksichtigt werden. Vorher können wir also die Frage beantworten, wohin wir den Zögling abzuliefern haben, und wenn wir wissen wie er aufgenommen werden wird, je nachdem wir ihn so oder anders abgeliefert haben, so werden wir viel für die Bestimmtheit unserer Antwort gewonnen haben. Gern setzen wir uns in einen bestimmten Zustand menschlicher Dinge hinein | und das können wir nicht ändern, denn eine Erziehung, die auf diesen Zustand Rücksicht nimmt, ist besser als eine, die es nicht thut. Auch die Erziehungsmittel sind ja durch einen gegebenen Zustand bestimmt, und wir arbeiten, selbst ohne es zu wissen, für einen gewissen Zustand menschlicher Dinge. Es ist also am besten, wenn wir unser ganzes Handeln nach einem solchen bestimmten Zustand abmessen. Bei jener Frage tritt uns wieder eine scheinbare Manchfaltigkeit von Verhältnissen entgegen, und es ist vieles subjectiv, wenn wir uns diese ordnen und auch dies bringt wieder etwas Hypothetisches in die Theorie der Erziehung. Wir müssen uns die Beantwortung jener Frage so construiren: 1) zuerst hat jede Erziehung den Zögling an den Staat abzuliefern. Denn die Familie ist das erste Organ der Elemente des Staats. Der einzelne Mensch ist ein Annex der Familie, und seine Erziehung ist erst vollendet, wenn man sagt, er tritt nun in ein persönliches Verhältniß zur bürgerlichen Gesellschaft, und kann also selbst eine Familie stiften. Das folgende zweite könnte schon nicht im Allgemeinen zugestanden werden, nämlich daß der Zögling auch 2) an die Kirche abgeliefert wird, an irgend eine geistige Gemeinschaft, der er angehören muß. Es ist aber wohl nur eine eingebildete Vollkommenheit wenn man sagt: ist der Mensch vollkommen in sich selbst gebildet, so bedarf er | 3 dem] den 18 anders] sanders 22 diesen] diesem Kj organische Element 38 der] den

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solcher Gemeinschaft nicht, und er kann für sich allein stehen. Dies ist eigentlich eine Unvollkommenheit, weil der Mensch ein geselliges Wesen ist, und alles in ihm gesellig werden soll. Hat die Religion im Menschen die gehörige Vollkommenheit erlangt, so wird sie von selbst gesellig werden, und ist sie dies nicht, so ist sie auch nicht ausgebildet. Jedes Hauswesen ist eben so das organische Element der Kirche wie des Staats, und der erzogen werdende Mensch ein Annex der Familie in Beziehung auf die Kirche wie auf den Staat. Ist seine Erziehung vollendet, so tritt er in ein besonderes persönliches Verhältniß zu beiden. Beides spricht sich auf eine so gleichmäßige Weise aus, daß wir dies parallel stellen müssen, nur daß dem Menschen nicht eben so ursprünglich seine Religionsgemeinschaft angewiesen zu sein scheint wie sein Staat. Aber wir finden ja, daß die Willkühr sich auch in das letzte mischt, indem der Mensch auswandern kann, und so ists auch in der Kirche. 3) liefert die Erziehung den Menschen ab in das Gebiet einer bestimmten Sprache. Dies scheint etwas Wunderliches, weil es kein Wort für dieses Verhältniß giebt. Aber wenn wir vom Angeborenen abstrahiren, so hat der Mensch, wenn er erzogen ist, eine Sprache, die seine eigenthümliche ist, und wir werden uns kaum denken können, daß bei der Kenntniß mehrerer Sprachen ein Mensch eine Vielheit von Sprachen habe, ohne daß die eine für ihn etwas anders sei als alle übrigen. Nur eine Sprache sitzt im | Menschen ganz fest, er mag noch so viele lernen. Daß dies aber auch ein großes und dominirendes Verhältniß ist, kann man aus folgendem erkennen. Das Denken ist eine sehr allgemeine und im einzelnen bedeutende Operation, wird aber nur vermittelst der Sprache verrichtet, und alles Gedachte hat seinen natürlichen Ort nur in der Sprache, worinn es gedacht ist, und kann auch nur in dieser in demselben Grade fruchtbar sein. Denn jede Sprache ist eine eigenthümliche Weise des Denkens, und das in einer Sprache Gedachte kann nicht in einer andern auf dieselbe Art wiedergegeben werden. Auch in Bezug auf die Receptivität befruchtet jeden sein Denken nur aus dem Gebiet seiner Sprache. Wir zwar thun dies aus den Trümmern des Alterthums; aber was geht denn nun davon 11 dem] den

23 folgendem] folgenden

9–11 Vgl. SW III/9, S. 702: „Beides spricht sich auf eine so gleichmäßige Weise aus, daß wir Staat und Kirche parallel stellen müssen.“ 31–3 Vgl. SW III/9, S. 703: „Wir zwar suchen Reichthum zu schöpfen aus den Trümmern des Alterthums. Aber was geht denn nun davon in das Leben über? Nur das wirkt am unmittelbarsten auf die Denkoperation und zeigt seinen Einfluß auf die ganze Lebensrichtung des Menschen auf das bestimmteste, was in dem Gebiete der eigenthümlichen Sprache entstanden ist. In der Sprache ist also eben so gewiß ein eigenthümliches Leben, das Innehaben und Fortpflanzen gemeinsamer Erkenntniß, wie in der Kirche und im Staate. Also auch in dieses Gebiet hat die Erziehung den Menschen abzuliefern.“

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ins Leben über, und was wirkt aus dem Leben, aus dem Gebiet der eigenthümlichen Sprache auf die Denkoperationen des Menschen. Also auch dahin hat die Erziehung den Menschen abzuliefern. Das vierte ist das Supplement zum Vorigen, aber deshalb eben so unbestimmt, wie jene Puncte bestimmt sind, und wodurch der Mensch ins Allgemeine zurückversetzt wird, nämlich 4.) das gesellige Leben, das Gebiet der unmittelbaren persönlichen Einwirkung, wo es jeder mit jedem zu thun haben kann. Dies ist das vollkommne Freie. Dies ist auch nothwendig, denn wenn Fremde von einem Verkehr aus|geschlossen werden, so ist dies Rohheit und Barbarei. – In jeder von diesen vier Gemeinschaften soll der erzogene Mensch seine bestimmte Stelle einnehmen, also muß er auch so erzogen werden, daß er für dieses alles etwas sein kann. Aber zuerst haben wir hier vier ganz verschiedene Rücksichten, und da doch ferner alle diese Verhältnisse so, wie sie sind, unvollkommen sind, so entsteht hier die Frage: sollen wir den Zögling für die Unvollkommenheit miterziehn, damit sie fortgepflanzt werde, oder nicht? Hier müßten wir also ins Gebiet der Ethik zurück, um zu wissen, was ist das Vollkommne und was das Unvollkommne, damit wir jenes befolgen, und dieses vermeiden.

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Ueber diese Unvollkommenheiten muß sich jeder selbst erheben, d. h. jeder muß sich in der Erziehung selbst erziehen. Wenn wir uns die Möglichkeit denken daß solche Erzieher aufgestellt sein könnten, welche über alle Unvollkommenheiten erhaben wären, welche z. B. die Menschen für den Staat erziehen, nicht wie er ist, sondern wie er der vollkommene ist pp. so muß der Erzieher selbst in sich tragen die reinsten Ideen von der Kirche, vom Staate pp. Dabei kann nun leicht ein Mißverständniß eintreten, daß nämlich z. B. Erzieher aus ganz verschiedenen Völkern, welche auf dieser | Stufe der Vollkommenheit ständen, alle auf gleiche Weise und für dieselbe Idee des Staates erziehn würden, nicht für einen gegebenen Staat; ebenso gäbe es ein allgemein gültiges Wissen, für welches in allen Ständen die vollkommenen Erzieher erziehen würden; so auch eine allgemeine Religion. 4 Supplement] Sublement

7 jedem] jeden

28 ganz] ganz ganz

31 gäbe] giebt

27–33 Vgl. SW III/9, S. 705: „Dabei kann nun aber zugleich das Mißverständniß eintreten, daß z. B. Erzieher aus ganz verschiedenen Völkern alle auf gleiche Weise und für dieselbe Idee des Staates erziehen wollten, nicht für einen gegebenen Staat. Sie würden den individuellen Staat aufheben. Ebenso würden sie für ein allgemeingültiges Wissen und für eine allgemeine Religion alle erziehen.“

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Diese liegt aber in der Forderung nicht. Es ist etwas anderes, wenn wir sagen die Erziehung muß ihre Richtung nehmen auf eine vollkommne Einrichtung des Staats, der Kirche pp oder auf einen allgemeinen Staat. Dies letzte ist nicht möglich, so lange die Differenz der Individualität besteht. Diese kann nie hinweggeräumt werden, und dies soll auch die Erziehung nicht anstreben, weil wir sonst den einzelnen Menschen aus der Haltung seines Lebens herausnehmen, und in ein chaotisches Allgemeines setzen würden. Nun würden wir fragen: wie ist die beschränkende Forderung, daß der Mensch nicht für die Unvollkommenheit eines gegebenen Zustandes erzogen werden soll, zu realisiren durch diejenigen, die ihn nun erziehen sollen? Allerdings werden die immer am besten erziehn, die sich am meisten über das Unvollkommne der Zeit erhoben haben. Sie werden erziehn auf der einen Seite mit ihrer Anhänglichkeit an den Zustand, dem sie angehören, aber sie werden auf der andern Seite um so besser erziehen, als in ihnen eine | bewußte Mißbilligung des Unvollkommnen ihrer Lebensgemeinschaften ist. Diese Mißbilligung werden sie nicht sogleich mittheilen, sondern dasjenige unterdrücken, wodurch eben jene Misbilligung in ihnen hervorgebracht ist, und dasjenige entwickeln, wodurch jene fortgeräumt werden könnte. Jeder, der einer Lebensgemeinschaft wahrhaft angehört, hat das Princip derselben in sich, und steht in lebendiger Wechselwirkung mit ihr. Denken wir uns nun das Ganze auf den einen wirksam, und den einzelnen in überwiegender Receptivität mit unterdrückter Spontaneität: so wird er alles Unvollkommene des Ganzen aufnehmen, und was er thun kann, sich dagegen zu schützen, das werden nur Palliative sein, im Ganzen ohne Bedeutung. Die Kraft der Freiheit, mit der die einzelnen sich gegen diese Unvollkommenheiten schützen, wird natürlich sehr verschieden sein, aber sie wird doch entwickelt werden durch die Erziehung von solchen, die sich über die Unvollkommenheit erhoben haben, mehr als durch eine Erziehung mit blinder Liebe für das Gegebene. Die Erziehung soll den Menschen bilden für die eigenthümliche Beschaffenheit der Lebensgemeinschaft, aber zugleich soll sie die Kraft der Freiheit in dem Zögling entwickeln, um den verschiedenen Unvollkommenheiten des Mo|ments entgegen zu arbeiten. Der Mensch wird für die Erziehung gegeben mit einer persönlichen eigenthümlichen Menschennatur, und diese soll durch die Erziehung tüchtig entwickelt werden für die angebornen Lebensgemeinschaften, in welche er eintreten soll. Aber man kann die Sache auch umkehren. An der persönlichen Eigenthümlichkeit muß die Erziehung anknüpfen, und mit der Erziehung für die Lebensgemeinschaft endigen. Wenn es aber verschiedene Ge14 den Zustand] dem Zustande; korr. aus ihrem Zustande

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meinschaften giebt, so wie das Erkennen nach Maßgabe der verschiedenen Sprachen, und verschiedene bürgerliche Vereine nach Maßgabe des Volkscharakters, wie dann? Dieser ist dem Menschen ja doch schon angeboren, und also könnte die Erziehung hiermit anfangen. Die Erziehung soll ferner die persönliche Eigenthümlichkeit begleiten, und so erscheint die Ausbildung jener Eigenthümlichkeit als das Ende und der höchste Triumph der Erziehung. Der Mensch wird geboren in einer bestimmten bürgerlichen Gesellschaft, einer bestimmten Sprache und der damit verbundenen Modification des Erkennens, und eben so in einer bestimmten Form des Religiösen. In allen diesen Gemeinschaften findet die Erziehung den Menschen, der Staat nämlich nimmt den Menschen schon bei seiner Geburt in Beschlag, so auch die Religion und die Sprache, in welche er schon durch seinen | Namen eingewachsen ist. Für alle diese soll die Erziehung den Menschen als ein vollkommen gebildetes Organ darstellen. Der Erzieher soll aus ihm so etwas machen daß alle Gemeinschaften sagen können, die Dienste, die er ihnen leistet, könne ihnen kein anderer leisten – dann ist der Mensch vollkommen persönlich gebildet. Daß aber dem Menschen der eigenthümliche Volkscharacter angeboren wird, ist offenbar. Er liegt schon in der ganzen körperlichen Constitution in den Zügen der Gestalt, welche sich durch die Zeugung fortpflanzt. Freilich wenn ein Kind gleich nach seiner Geburt in ein ganz fremdes Volk versetzt würde, so wird es dieses Volkes Sitten annehmen und sich unter ihm nicht fremd fühlen. Dies beweiset aber nur, daß der einzelne Mensch bis auf einen gewissen Grad unter der Potenz der auf ihn einwirkenden geistigen Kräfte steht. Aber wenn es lange ein Gegenstand für die Dichter war, daß die unterdrückte Natur sich auf einmal wieder offenbart, so liegt darin eben so tiefe Wahrheit. Weniger klar scheint dies von der Sprache und der damit verbundenen Modification des Erkennens. Die Kinder erfinden sich Töne und Bezeichnungen auf ihre eigene Hand, und daß sie die Sprache des Vaters annehmen, scheint eben so eine willkührliche Folge der äußern Umgebungen. Allein wenn wir nun sehen, wie weit es der Mensch bringen | kann im Besitze einer fremden Sprache, so wird er doch in dieser nicht ganz seine eigenthümliche Natur ausdrücken können. Er kann nur den allgemeinen Typus der Sprache auffassen, am meisten in solchen Puncten wo die Individualität zurücktritt. 2 bürgerliche] bürgerlichen

13 seinen] seinem

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28–30 Vgl. SW III/9, S. 707: „Weniger klar scheint zu sein ob auch die Sprache angeboren sei, also auch die damit verbundene Modification des Erkennens.“

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Combinirt man beide Ansichten, nämlich die Erziehung für jene großen Gemeinschaften und die Herausbildung der persönlichen Eigenthümlichkeit, so nimmt dieser letztre Gegensatz eine untergeordnete Stufe ein, und jene beiden Ansichten sind identisch. Nämlich wir mußten zugestehen, daß sich die Anlagen und Talente allmählig entwikkeln. Dieses Entwickeln ist nichts von der Erziehung Unabhängiges. Sagen wir: dem Menschen ist seine volksthümliche Anlage und die Anlage für die Sprache schon angeboren, so ist es offenbar, daß diese Keime auch allmälig entfaltet werden müssen, und da also die Erziehung allmälig anfängt und die Entwickelung auch, so fällt diese auch in das Gebiet der Erziehung. Dadurch, daß der Mensch eine volksthümliche Anlage hat, ist er noch nicht tüchtig, einzugreifen ins bürgerliche volksthümliche Leben, noch auch sich das in der Sprache Niedergelegte anzueignen; dies muß durch die Erziehung geschehen. Ist dem so, so sehen wir, daß sich in beiden Ansichten nur eine doppelte Aufgabe der Erziehung darstellt. | Dem einzelnen Menschen ist nämlich eine Angehörigkeit an bestimmte Formen der Gemeinschaften auch angeboren. Dies ist am deutlichsten in Beziehung auf den volksthümlichen Charakter überhaupt, welcher schon in der Körperbildung angelegt ist. Die Kennzeichen hiervon liegen nicht in dem, was aus der Erziehung hervorgegangen ist, z. B. in Bewegungen, sondern in den festen Theilen und Zügen selbst, auch im Gesicht. Im großen Sinne ist dies unverkennbar; im einzelnen ist es möglich zu verfolgen; im Kleinen wird es lächerlich. Bei der Sprache ist dies nicht ganz so klar, denn die ersten Tendenzen der Kinder sind willkührliche Versuche; allein wenn man ins Elementarische geht, so wird man es doch finden. Denn obgleich man die einzelnen Töne systematisiren wollte, so sind doch diese Töne nicht dieselben in allen Sprachen, denn es fehlen einige einigen. Je früher freilich ein Kind in eine fremde Sprache versetzt wird, desto leichter wird es sie sich aneignen; aber diese einzelnen Fälle kann man nicht anführen, weil die Masse der gegenwirkenden Kräfte hier entscheidet. Es muß also zugegeben werden, daß auch die Anlage zu einer bestimmten Sprache dem Menschen angeboren wird. Ferner ist auch die kirchliche Gesellschaft eine natürliche | und wesentliche Instanz der Erziehung. Diese verschiedenen Gesellschaften beruhen auch auf einem verschieden modificirten Typus der menschlichen Richtung, worauf sie sich beziehen, und wenn man sagt, diese verschiedenen Formen seien auch den Menschen angeboren, so mögte dies zweifelhaft scheinen. Aber im Großen erfahrungsmäßig 4 dieser letztre] Kj dieser

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sind die Fälle selten, wo ein Mensch aus einer Religionsgesellschaft, worin er erzogen ist, in eine andere übergeht. Und sagen wir, es liege nur in Umständen, daß der Mensch seiner Religionsgesellschaft treu bleibt, so müßte der Gegenstand selbst dem Menschen gleichgültig sein. Aber dies ist nicht der Fall, sondern der Grund, warum die meisten Menschen in ihrer Religionsgesellschaft bleiben, ist eine innere Uebereinstimmung mit derselben. Aber es wäre ja doch ein Sprung, wenn man sagen wollte, diese sei ihm angeboren; vielmehr ist sie ihm anerzogen, und durch Vorliebe geheiligt. Allein eine solche Vorliebe, die nicht objectiv wäre, würde das Angeborne ganz ausschließen. Solche Zusammenstimmung auf diesem indireckten Wege würde sich nicht halten können gegen die speculative Behandlung des religiösen Elements bei allen Völkern. Denn sobald ein solcher Gegenstand wissenschaftlich behandelt wird, so gesellt sich auch | das Kritische dazu, und befreit den Menschen von einer unbewußten Ueberzeugung, und fodert, daß er sich seiner Ueberzeugung bewußt werde. Zwar behandelt nur ein gebildeter Theil von Menschen diese Sache so, aber wenn diese noch in der anerzogenen Religionsgesellschaft bleiben, so ist hier eine directe und natürliche Uebereinstimmung. Aber es scheint noch einen geschichtlichen Beweis dagegen zu geben, daß auf diesem Felde etwas Angebornes sei. Das Christenthum und der Muhamedanismus sind als neue Formen auf einem kleinen Gebiet entstanden, und haben sich über eine große Menge von Völkern verbreitet, denen vorher andere Religionen angeboren und anerzogen waren, also können sie selbst nichts Angebornes sein. Aber eben so wenig, könnte man sagen, kann etwas Angebornes in jenen Formen sein, die ausgetrieben wurden. Dies ist etwas, wogegen sich nichts geradezu sagen läßt, und es bleibt uns hier nichts übrig als daß wir die Analogie zwischen der religiösen und politischen Gesellschaft anwenden. Wir finden nämlich in demselben Volk auch die Formen der politischen Gesellschaft veränderlich, und doch sagen wir daß die Form der politischen Gesellschaft ein Resultat vom Nationaltypus ist, und die verschiedenen Formen scheinen nur verschiedene Entwickelungsstufen desselben Characters zu sein. | Eben so müssen wir sagen: die Religionsformen der früher von denselben abgefallenen Völker waren einer niedern Entwickelungsstufe angemessen, und hätten sich doch nicht halten gekonnt. Aber bei den Fortschritten beider Religionen ist doch eine erstaunliche Differenz, indem einige Völker die eine oder die andere gern angenommen, andere zurückgestoßen haben, ohne daß man bei ihnen eine andre Entwicklungsstufe nachweisen gekonnt hätte. Wir finden also 3 seiner] seine

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doch die Analogie des Angebornen, und der Unterschied auf dem religiösen und politischen Felde nöthigt uns nicht, diesen Theil des geselligen Lebens aus einem ganz andern Gesichtspunkte zu betrachten als jenen. Wir werden also genöthigt, die Angeborenheit der Menschen an Gesellschaftsformen anzunehmen. Bei der Erziehung für dieselben haben wir nun zwei Aufgaben, deren gegenseitiges Verhältniß wir bestimmen wollen. 1) Die Erziehung soll davon ausgehn, daß in jedem einzelnen ein eigenthümliches menschliches Dasein angelegt ist: sie soll jeden tüchtig machen, in das gemeinsame Leben einzugreifen, so daß er sich als den Gesellschaftsformen wirklich angehörig zeigt, und das Seinige beitragen kann, die Unvollkommenheit zu vertilgen und den Zustand der Dinge vollkommner zu machen. 2) Die Erziehung soll dahin ausgehen, da jedem | Menschen mit vielen andern ein gemeinsamer Typus schon angeboren ist, eine ausschließende persönliche Eigenthümlichkeit in jedem einzelnen zu entwickeln. Wir sehen beide Aufgaben als zusammenstimmend an. Die eigenthümliche Natur jedes einzelnen solle das Organ sein, worin sich der allgemeine Typus ausspricht, und eine Kraft, womit der einzelne gegen das Ganze auftreten kann wenn Unvollkommenheiten darin sind. In seiner eigenthümlichen Natur soll er den idealen Typus der bürgerlichen Gesellschaft pp in sich tragen, und sie selbst soll unter diesem stehen, woraus folgt, daß der Mensch für einen bestimmten Staat erzogen werden muß. Beide Aufgaben sind übereinstimmend aber nicht identisch. Es zeigen sich bei der Erziehung zwei verschiedene Rücksichten. Fragen wir nämlich was wird im Stande sein, die Erziehung gleichmäßig auf beide Rücksichten zu lenken, und gleichmäßig beiden Aufgaben zu genügen? – so ist dies der Grund des Gegensatzes zwischen der Privatund öffentlichen Erziehung. Die einzelne Person hat nämlich für das Ganze einer großen Gemeinschaft keinen differenten Werth, wohl aber für die, welche mit dem einzelnen durch die Natur selbst verbunden sind. Die Ausbildung der eigenthümlichen Persönlichkeit des einzelnen durch die Erziehung ist nicht das vorherrschende Interesse einer Gemeinschaft, und in so fern die Erziehung überall eine öffentliche wäre, so wäre zu besorgen, daß | diese Rücksicht gänzlich zurückstände; die Aeltern aber haben Interesse an der einzelnen Person, und werden die Vollkommenheit des einzelnen gern darstellen wollen. In der Privaterziehung wird die Tendenz auf Entwickelung der Individualität das dominirende sein. Zwar wird man keine Differenz gerade veranlassen, aber jene Rücksicht auf das Allgemeine wird doch zurücktreten. Eben so wird bei der öffentlichen Erziehung die Sorge für die persönliche Eigenthümlichkeit zurücktreten. Daher ist geschicht8 ein] kein

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lich die Erziehung stets in diese beiden Zweige getheilt; selten ist sie ganz dem häuslichen Leben überlassen, selten bemächtigen sich Staat und Kirche der Erziehung ganz. Hierbei ist nicht ausgeschlossen, daß die Extreme, wo nämlich ein Zweig der Erziehung ganz fehlt, nicht die ganze Aufgabe dennoch erreichen könnten; aber doch unter seltenen und schwer eintretenden Umständen.

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Wenn die verschiedenen großen Gemeinschaften der Uebereinstimmung aller organischen Theile, d. h. aller Familien mit dem Ganzen so sicher sind, daß die Erziehung, die hier ganz auf der vollkommenen Ausbildung der persönlichen Eigenthümlichkeit beruht, damit übereinstimmte, daß diese Eigenthümlichkeit zum Dienste der Gesellschaft tüchtig machte: so könnte sich die Gesellschaft auf die Familien verlassen, und so wäre eine öffentliche Erziehung nicht nöthig. Denn entständen auch größere Erziehungsanstalten, die durch einzelne Familien bewirkt würden, ohne daß sie in | Opposition mit der Gemeinschaft stehen, so wäre dies doch nur eine Privaterziehung. Beides besteht jetzt neben einander, denn Privatanstalten zur Erziehung giebt es in Menge. Aber wir können uns auch eine solche Ansicht in der Verwaltung des Staats und der Kirche denken, welche beide zu vollkommner Passivität führt, so daß alles sich am besten von selbst machte, und dies geschähe bei einer vollkommenen Zusammenstimmung aller einzelnen in dem Gebrauch ihrer Kräfte zu den herrschenden Ideen; auch dann könnte die öffentliche Erziehung ganz aufhören. Aber dies kann nur bei einer Art von Auflösung des Ganzen geschehen. Lange Zeit hat in vielen unserer Staaten die Regierung sich auch in die Gewerbsthätigkeit gemischt, um ihr der jedesmaligen politischen Ansicht gemäß eine gewisse Richtung zu geben oder zu nehmen. Dies hat allmälig aufgehört, und man überläßt jetzt die Sache sich selbst. Nun lebt auch eine Classe von Staatsmitgliedern vom Erziehen, und also könnte hier die Ansicht sein, auch dies sei ein Gewerbe, und die es besser betrieben, würden Zulauf haben. Geschähe dies, weil man die feste Ueberzeugung hätte, so wohl die Familien, als die sich mit der Erziehung abgeben, würden nie etwas der Gesellschaft Nachtheiliges in die Erziehung hineinbringen, so würde dies der Zustand der Vollkommenheit sein; nähme man aber diese Maxime an, weil man sich auf das verließe, was sich von selbst ergeben würde, so würde dies eine zugenommene | Auflösung des gemeinsamen Lebens 8 der] die

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sein, und dann würde nichts übrig bleiben, als die Privaterziehung. Aber diese müßte denn auch auf die Unvollkommenheit des Staats Rücksicht nehmen, und der Sache einen andern Gang geben. Eben so wollen wir folgendes untersuchen: was können das für Umstände sein, wo die Erziehung ganz eine öffentliche sein könnte, und keine Privaterziehung Statt fände? Hier müssen wir uns die Familien als den dem Staate gegenüberstehenden Theil denken, und unter welchen Umständen ist dies möglich? Nur dann, wenn sie überzeugt wären, daß die Richtung der öffentlichen Erziehung für ihren Gesichtspunct dieselbe wäre, und der Staat jede persönliche Eigenthümlichkeit zur Ausbildung brächte. Diesem Fall steht aber ein anderer gegenüber, nämlich wenn die Erziehung aus Noth ganz eine öffentliche ist. Auch diesen Fall finden wir unter uns zum Theil. Allein was auf der einen Seite die Bedürftigkeit thut, könnte auf der andern auch die Corruption thun, und hier würden es sich die Aeltern auch gefallen lassen, daß die Erziehung eine öffentliche wäre, weil sie dieselbe aus den Augen verloren hätten, wie z. B. in den gebildeten Classen der Franzosen. Hier wäre es noch sicherer, daß auch die Anstalten der ersten physischen Erziehung unter öffentlicher Aufsicht ständen, und die Aeltern würden sich beides gefallen lassen. | Und dies wäre hier auch empfehlend. Annäherung an diesen Zustand finden wir der Praxis nach in Sparta und in der Theorie in der platonischen Republick. Dies sind die beiden Extreme, und von hier aus können wir beurtheilen, wie sich die Sache zwischen beiden Extremen machen wird. In wie fern nun die eine Form nicht hinreicht, weil das eine Element nicht mit dem andern übereinstimmt, wird die andre Form nöthig sein, um diese Unvollkommenheit zu ergänzen. Wo ein Vertrauen des Staats auf das Hauswesen nicht vorhanden ist, oder umgekehrt, da werden sich immer, wenn die Privaterziehung dominirt, die Kirche und der Staat etwas vorbehalten, oder wo die öffentliche Erziehung dominirt, da werden die Familien an der Erziehung Theil nehmen. Dieser Antheil wird richtig gestellt sein, wenn das Gefühl des Verhältnisses des organischen Theils zum Ganzen und umgekehrt des Ganzen zum Theile richtig ist. Offenbar aber sind die Maximen für die öffentliche nicht dieselben wie für die Privaterziehung, und so wird die Theorie der gesammten Erziehung nur Statt finden, wenn sie eine Annahme macht, in wie fern beide Zweige in einander eingreifen. Wenn das Verhältniß des Privatlebens zum öffentlichen in einem ruhigen 17–18 Vgl. SW III/9, S. 712 (Zusatz): „wie z. B. bei den gebildeteren aber corrumpirten Klassen des französischen Volkes, bei denen die Kinder noch während des Säugens aus dem Hause gegeben werden. Da ist gar kein Interesse an der Erziehung.“ 22 Vgl. Platon: Politeia, 5. Buch, besonders 460; Opera 7,24–26; Werke 4,398–403

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Gange ist, so | kann man ohne Nachtheil auf den gegebenen Zustand der Dinge Rücksicht nehmen; aber eben so gut ist es, die Theorie auf verschiedene Fälle zu richten, denn dann wird ihre Anwendung desto leichter. Wenn also ein ungleiches Interesse für die beiden Hauptaufgaben Statt findet in denen, von welchen die Erziehung ausgeht: wie ist es dann mit denen, welche die Gegenstände der Erziehung sind? Verhalten sie sich zu jenen Aufgaben gleich oder verschieden? Dies können wir nur ausmachen, indem wir uns auf die Erfahrung berufen. Es ist offenbar, daß die meisten Menschen welche erzogen werden, einen gewissen Grad von Brauchbarkeit für die Gesellschaft bekommen. Wenige mißrathen gänzlich, so daß sie sich nicht in die Gesetze fügten, und einen Zweig der Thätigkeit ausüben lernten, – eben so in religiöser Beziehung und in der Muttersprache. Wenige erreichen aber auch die höhere Stufe, wo der einzelne auf das Ganze fördernd wirkt; nur wenige ersteigen diese Stufe im Staat, wenn wir auf die Gesetzgebung sehn, so daß sie die verschiedenen Zweige des geschäftigen Lebens weiter bringen, oder daß sie in der Kirche die religiöse Empfindung aufnehmen und erhöhen und beleben, oder daß sie das Erkennen weiter begründen. Hier ist also eine Ungleichheit. Untersuchen wir denselben Punct in Ansehung | der Entwickelung der in jedem vorausgesetzten persönlichen Eigenthümlichkeit, so scheinen wir fast Unrecht gehabt zu haben, wenn wir voraussetzten, daß in der Natur bei jedem eine solche Eigenthümlichkeit angelegt sei. Denn bei der Masse der Menschen ist es schwer, den einen vom andern zu unterscheiden. Wenn einer der nur in den höhern Regionen der Gesellschaft zu leben gewohnt ist, eine große Gesellschaft aus dem Volke sieht, so sieht ihm einer wie der andre aus, wie ein Regiment Kalmücken. Wenn dem so wäre, wie es zu sein scheint, so gäbe es wenige Menschen, bei denen die persönliche Eigenthümlichkeit herausgebildet wird. Dieser Schein ist nur da, wo es eine große Ungleichheit der Bildung giebt, und er entsteht dadurch, daß diejenigen, welche in der Gesellschaft eine höhere Stelle einnehmen, die untern Volksklassen nur massenweis sehen, und behandeln; wer hingegen mit ihnen genauer umgeht, der unterscheidet auch die einzelnen. Hierauf können wir also keine allgemeine Entscheidung aufstellen. Denn dieses Verschwinden der persönlichen Eigenthümlichkeit verschwindet selbst, wo der größere Abstand der Menschen unter einander verschwindet, und so ist doch die persönliche | Eigenthümlichkeit überall angelegt. Auch jene Differenz gleicht sich aus, denn einem schlichten Landmann auf einer Cour wird auch einer wie der andre aussehn, 16 geschäftigen] geschäfttigen 31 daß] das

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obgleich diese Leute selbst glauben mögen, daß sie persönlich eigenthümlich gebildet sind. Jede Classe muß sich für sich persönlich ausbilden. Wie verhalten sich nun diese Gleichheit und Ungleichheit in den Hauptaufgaben gegen einander? Es ist nicht zu leugnen, daß das Herausbilden einer persönlichen Eigenthümlichkeit, so daß sie bei einer gewissen Gleichförmigkeit der Ansichten, der Lebensweise pp doch sichtbar wird, eine höhere Kraft voraussetzt; also in denen, die unter gleichen Umständen ihre persönliche Eigenthümlichkeit vollkommen ausgebildet haben, muß eine größere Lebenskraft sein. Diese ist es auch, was den einzelnen in den Stand setzt, auf eine selbstständige Weise auf das Ganze zu wirken, und ihm nicht bloß passiv sich hinzugeben. Also diejenigen, worin eine solche stärkere Lebenskraft nicht ist, durch die Erziehung auf eine solche Stufe heben zu wollen, wo sie auf das Ganze der Gesellschaft wirken könnten, würde vergebliche Mühe sein, wie auf der andern Seite diejenigen, worin die höhere Lebenskraft angelegt ist, den andern in der | Behandlung gleich zu setzen, wieder dem wohlthätigen Einfluß der einzelnen auf das Ganze entgegen arbeiten hieße. Hier ist also wieder eine Differenz in der Erziehung, die man ausdrückt durch den Unterschied der niedern und höhern Erziehung. Jene hat zum Zweck, den einzelnen zum Dienst jedes organischen Ganzen tüchtig zu machen, dem er angehört, so daß er dem allgemeinen Impuls folgt. In Beziehung auf die andere ist das Ziel, die eigenthümliche Anlage jedes so weit auszubilden, daß sie in der Nähe aus dem Zusammenhange des Lebens wahrgenommen werden kann, und daß in dem einzelnen ein gewisses Gefühl davon von selbst entsteht. Die höhere Erziehung soll die persönliche Eigenthümlichkeit auf eine dominirende Weise ausbilden und den einzelnen dahin zu bringen suchen, daß er durch die höhere Kraft in ihm auch auf das Ganze wirken könne, und ihm dazu eine Regel geben. Beides ist dasselbe, denn es kann der einzelne nur dadurch, daß er sich auf eine imponirende Weise über die andern heraushebt, und die Aufmerksamkeit auf seine Person festhält, auf das Ganze wirken, und es läßt sich nicht denken, daß eine persönliche Eigenthümlichkeit ausgebildet werde, ohne daß sie dem Ganzen | die Regel geben sollte. Die ganze Differenz zwischen einer höhern und niedern Erziehung hat aber nur Wahrheit, in so fern Ungleichheit in der Gesellschaft ist. Soll nun die letzte bleiben, oder weggeschafft werden, oder muß sie bleiben oder weggeschafft werden? Darf oder soll es ferner eine Differenz zwischen einer höhern und niedern Erziehung geben, und in wie fern verhalten sich beide gegen einander? 16 den] der

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Es kommt hierbei viel darauf an, wie man sich diese Ungleichheit als entstanden denkt. Denkt man sie sich als Produkt der äußern Verhältnisse und der Erziehung selbst, was soll dann die Erziehung für eine Richtung nehmen? Soll sie diese Differenz begünstigen, soll man in ihr den verschiedenen Einwirkungen der äußern Verhältnisse nachgeben, oder ihnen entgegenwirken, so daß diese Ungleichheit aufgehoben, und alle auf den höhern Standpunct gebracht würden? Angenommen, daß die Erziehung das leisten könne, so giebt es eine große Masse von Beschäftigungen, wozu man diese Ausbildung nicht braucht z. B. alles Mechanische. Nun wäre es freilich gut, wenn auch diejenigen, welche das Mechanische verrichten, auf der höchsten Stufe der menschlichen Entwickelung ständen. | Dann hätten sie den Genuß des Selbstbewußtseins. Allein dies brächte eine gänzliche Umwälzung hervor, denn dann würde keiner die Massen der mechanischen Geschäfte verrichten wollen. Es würde dann entweder eine ganz andere Eintheilung der Geschäfte vorgehen müssen, oder man zöge in den Umkreis der Gesellschaft Menschen hinein, welche einer solchen höhern Ausbildung entweder nicht fähig wären, oder vermöge eines Rechts der Gesellschaft sie entbehren müßten, wie die Sklaven bei den Alten. Diese Hypothese verträgt sich nicht mit der Einrichtung der menschlichen Gesellschaft, wie sie ist, und so lange sich folglich die Masse der Menschen diese Differenz gefallen läßt, muß man bei ihnen ein Gefühl davon voraussetzen, daß diese Ungleichheit im äußern Leben eine natürliche Grundlage habe. Indem man zugiebt, daß diese Ungleichheit auch eine natürliche Grundlage habe, kann man annehmen, entweder daß dies angestammt, oder etwas persönlich Angebornes sei. Wenn wir noch einmal auf jene Hypothese zurückgehn und sie umwenden, und sagen: da viele Menschen auf einer niedern Stufe stehen bleiben, so muß auch die große Menge nicht sehr ausgebildet werden: – so tritt die vollständige Willkühr ins Erziehungswesen ein; sie prädestinirt einige zur höhern, andre | zur geringern Bildungsstufe, und diese Willkühr ist unmenschlich. Die angestammte Differenz bildet hierzu das Gegenstück, denn so kommen wir ins Kastenwesen zurück. Dieses ist in Beziehung auf den Staat der Adel, in Beziehung auf die Religion sind es die Priesterkasten. Wie nun jene Annahme uns ein Extrem darstellte, welches sich als unhaltbar zeigte, so ist auch dieses ein unhaltbares, wenn man auf seinen Ursprung zurückgeht. Allerdings ist der Exponent der menschlichen Bildung in den verschiedenen Racen so verschieden, daß man zu der Annahme bewogen 17 vorgehen] vergehen

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wird, der eine sei bildsamer als der andre, doch können wir dies nicht als permanent annehmen. Wenn wir nun die geschichtliche Betrachtung dieses Gegenstandes verlassen, und ihn vom Christenthum aus ansehen, so setzt dieses eine gemeinsame Empfänglichkeit in allen Menschen voraus. Nun aber ist es eine Eigenthümlichkeit des Christenthums, daß es eine bildende Kraft ist, und überallhin verbreitet sein will, dies kann aber nur durch eine Gemeinschaft geschehen, die auch Empfänglichkeit für andre Gegenstände voraussetzt, und so ist jene Annahme von einer absichtlichen Nichtausbildung der niedern Classe unchristlich. Uebrigens hat sich der Exponent des Verhältnisses der niedern Classen zu den höhern vermindert, und dies wird also wohl noch ferner geschehen. Sehen wir auf einen Staat | oder ein Volk, welches durch verschiedene Stämme entstanden ist, die gewöhnlich im Gegensatz der edlern und untergeordneten stehen, so müssen wir sagen: jemehr die Gemeinschaft zwischen ihnen zunimmt, desto mehr muß sich der niedre Stand dem höhern assimiliren, und nur in so fern sie auseinandergehalten werden, bleiben die untergeordneten unedel. Eine Erziehung also, die darauf eingerichtet wäre, diese Unterschiede festzuhalten, würde zwar für den edlern Stand Vorzüge bewirken, aber dem natürlichen Entwickelungsgange entgegen arbeiten. Die dritte Hypothese ist folgende: Zwar sei eine natürliche Ungleichheit unter den Menschen da, aber sie sei nicht angestammt, sondern nur persönlich angeboren; und so wie dem einen das Talent zu einer Thätigkeit fehlen könne, so lasse sich auch nicht aus jedem alles machen. Was hat nun diese Hypothese für einen Einfluß auf die Einrichtung der Erziehung? Der Vortheil, daß man vom Anfange an weiß, wohin man einen Menschen zu weisen hat, geht hier verloren. Hieraus folgt, daß man bis zu einer gewissen Zeit, wo sich alle Differenzen entwickelt haben mögen, alle zu Erziehende auf gleiche Weise behandelt, so daß die Maxime ist: durch die Erziehung müsse zum Vorschein kommen, was in einem Menschen liegt, und wenn sich dieses entwickelt habe, werde jeder Erzogene einen andern Weg gehen. Dieses ist | ein Erfolg, welcher nicht seine eigene Umkehrung hervorbringt, und dieses System führt zu keiner Revolution, die ein andres System nothwendig machte. Denn diejenigen, welche über den Zögling zu bestimmen haben, werden sich zwar bisweilen irren; aber der Irrthum wird doch nicht das Herrschende sein, und man wird ihm vorbeugen können. Ist es nun richtig erkannt, wohin der Zögling seinen Anlagen nach gehöre, so wird man annehmen, daß er mit dem Schicksal zufrieden ist, das man ihm bereitet. Denn kein Mensch hat einen beharrlichen Trieb zu etwas, das in seiner Natur nicht liegt. 3 vom] von

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Dieses System der Erziehung wird also immer bestehen können. Schließen wir nun den Kreis, und gehen auf die erste Hypothese zurück, daß es keine angeborne Ungleichheit gäbe, so fragen wir, wie sich die so eingerichtete Erziehung zu jener Hypothese verhalten werde: so müssen wir sagen: wenn keine Ungleichheit da ist, so wird diese gleiche Erziehungsweise auch keinen Schaden anrichten. Nur der zweiten Hypothese von angestammten Differenzen strebt diese entgegen. Dies giebt uns zu der Bemerkung Veranlassung, wie wir aus der Erziehung den Stand der Gesellschaft beurtheilen können. Wenn in einer Gesellschaft, worin noch eine große Trennung der verschiedenen Stände ist, ein solches Erziehungssystem allgemein | wird, daß alle einzelnen bis auf einen gewissen Punct nach denselben Regeln behandelt werden, so ist dies ein großer Schritt, um jene Trennung allmälig aufzuheben, und man muß voraussagen, daß ein solches Erziehungssystem die Trennung ins Abnehmen bringen muß. Widersetzen sich die niedern Stände dieser Art der Erziehung, so sind sie einer höhern Bildung noch gar nicht fähig, und wenn ein solches System durchgedrungen ist, wie bei uns, aber die höhern Stände sich der Gemeinschaftlichkeit der Erziehung opponiren, wie noch immer geschieht, so haben sie eine richtige Ahnung von dem, was die andern ihnen näher bringt, und sie fangen es beim rechten Punct an, um sich isolirt zu halten. Aber der Erfolg wird umgekehrt sein: ihre Erziehung wird schlechter und mehr auf den Schein berechnet sein als auf die Realität. So scheint von allen Seiten dies das richtige System zu sein, welches demjenigen sich am meisten anschmiegt, was wir als das Resultat der geschichtlichen Entwicklung im Großen ansehen müssen. So haben wir denn gefunden, daß eine Mischung von Privat- und öffentlicher Erziehung das beste ist; eine Formel für das Richtige ist uns jedoch noch dunkel geblieben, und nur hier in der Differenz der höhern und niedern Erziehung haben wir ein Resultat gefunden, | worin aber noch viel unbestimmtes ist. Um nun etwas wenigstens in jener Beziehung nachzuholen, müssen wir auf eine Differenz sehen, die durch die Natur gegeben ist auf die Differenz der Geschlechter. Auch hier treffen wir verschiedene Meinungen an. Man hat schon sonst behauptet, die Vollkommenheiten des Mannes und Weibes seien dieselben, und noch neuerdings hat man eine große Ungerechtigkeit in der Gesellschaft darin gefunden, daß die Weiber von der Regierung ausgeschlossen sind. Aber auch in der Praxis finden wir Ungleichheiten, indem es Gegenden giebt, wo die Weiber Rechte ausüben können, und andere, wo nicht. Dies muß nun ein verschiedenes Resultat für die Frage geben, in wie fern die Weiber erzogen werden müssen, ob für die öffentlichen Geschäfte oder nicht.

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Diese Frage scheint ganz allgemein zu sein. Der Unterschied der Geschlechter ist ursprünglich, und scheint also die Erziehung gleich im Anfange zu theilen. Die Frage aber, ob diese Theilung absolut sein solle oder nicht, scheint nicht aus einem so allgemeinen Gesichtspuncte beantwortet werden zu können. Dennoch ist auf der andern Seite nicht zu leugnen, daß gerade in dem verschiedenen Verhältnisse der Geschlechter zum Staate sich der Unterschied für die Erziehung concentrirt. Die ganze Existenz des weiblichen Geschlechts ist mehr in die Familie eingeschlossen, die des männlichen | im öffentlichen Leben mehr hervortretend. Die Differenz der Geschlechter tritt auch am meisten hervor in der bürgerlichen Gesellschaft, am wenigsten in der religiösen, denn wenn auch hier in den meisten geschichtlichen Religionsformen ein thätiger Einfluß des weiblichen Geschlechts Statt findet, so finden wir doch dort zahlreiche Ausnahmen. Hier finden wir schon eine eigentliche weibliche Würde (die Priesterinnen) und so einen repräsentativen Einfluß des weiblichen Geschlechts auf den Cultus gesetzt, und das häufiger als auf dem politischen Felde. Sehen wir auf die allgemeine Praxis in der Erziehung, so finden wir hier einen großen Unterschied. Denn die religiöse Erziehung wird im Ganzen für die Weiber eben so weit getrieben wie für die Männer, und was für diese noch später hinzukommt, hat mehr einen wissenschaftlichen als religiösen Character. Das Gebiet des Erkennens in der Sprache scheint sich zwischen dem religiösen und politischen Gebiet in der Mitte zu halten. Der vollendete Typus ist dort die wissenschaftliche Production, und da gehört es zu den seltensten Erscheinungen, daß ein Weib etwas Bedeutendes leistet. Sehen wir aber auf das weitere Gebiet der Mittheilung der Erkenntniß, so ist der Einfluß des weiblichen Geschlechts bei weitem größer. Schon die Familientradition ist ihnen eingeräumt | und eben so die feinere Geselligkeit. So ist die Differenz der Geschlechter für das Practische nur ungleich in Staat und Kirche, und beide stehen hier wieder in einem relativen Gegensatz. Hat aber nicht die bürgerliche Gesellschaft ein eben so großes Interesse an der Erziehung des weiblichen Geschlechts wie die Kirche? Sobald die Weiber Gattinnen und Hausmütter werden, haben sie ja Einfluß auf das Entstehen der Familien und auf das erste Stadium der Erziehung. Es muß also der bürgerlichen Gesellschaft daran gelegen sein, daß sie hier richtig einwirken, und wenn gleich eine gemeinsame Erziehung 23–25 Vgl. Göttinger Nachschrift, S. 29: „Der Einfluß, den das weibliche Geschlecht auf die Sprache und das Erkennen ausübt, ist gewiß nicht unbedeutend, obgleich er keineswegs hier so anerkannt ist wie auf dem religiösen Standpunkt.“

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der weiblichen Jugend nicht so allgemein sein kann, wie bei der männlichen, so muß doch der Staat auch hier sein Interesse wahrnehmen. Das zeigt sich aber nicht, und die Ursache davon ist folgende. Das religiöse Interesse hat es mit dem Gemüth zu thun, und jede einzelne menschliche Seele ist auf gleiche Weise ein Gegenstand der religiösen Erziehung. Die bürgerliche Erziehung hingegen hat es mit Ausbildung der Kräfte zu thun, die Erde zu beherrschen, und da ist der einzelne nicht unmittelbar Gegenstand der Erziehung. Die Weiber haben nur ein mittelbares Interesse für den Staat, nämlich nur in so fern sie als Gattinnen und Mütter ins Hauswesen eingeführt werden; die dies nicht werden existiren auch für | den Staat nicht. Er kann es also dem Interesse der einzelnen Staatsbürger überlassen die richtige Wahl zu treffen, weil sie die unmittelbarste persönliche Angelegenheit ist, und die einzelnen hierin zu beschränken, ein Beweis eines unvollkommenen bürgerlichen Zustandes wäre. Es ist also eben so das Interesse der Familien, die weiblichen Individuen zu ihrer Bestimmung zu erziehen, wie des Staates. Es fragt sich nun, was wir denn jetzt für ein Resultat gewonnen haben. Wir wollen einen bestimmten Scheidepunct finden um das Verhältniß der Privat- und öffentlichen Erziehung zu bestimmen Wir haben gesehn, daß der Staat ein größeres Interesse hat an der Erziehung der männlichen Jugend, und daß die Erziehung der weiblichen größtentheils Privaterziehung ist. Bei der religiösen Gemeinschaft findet sich eine Gleichheit des Interesse, und so ist hier eine öffentliche Erziehung für beide Geschlechter bis auf denselben Punct gleich nöthig. Einen Bestimmungspunct jener Ungleichheit der Erziehung für beide Geschlechter haben wir noch nicht gefunden. Der Unterschied der Geschlechter ist etwas Gegebenes, und dies ist wahr in Bezug auf das Körperliche und Geistige; aber auf der andern Seite ist es eben so wahr, daß er sich erst allmälig entwickelt. Für beide Geschlechter also können wir eine Zeit unterscheiden, wo der Geschlechtsgegensatz noch nicht zur Erscheinung gekommen ist, | und wo also sein Einfluß auf die Erziehung auch noch nicht das Recht hat, in die Erscheinung zu treten. Wollte man vom ersten Augenblick an die Mädchen anders behandeln als die Knaben, so wäre dies ein Kastenwesen; in späterer Zeit dagegen ist eine ungleiche Behandlung vollkommen gegründet. Es giebt für beide Geschlechter eine Periode, wo die Geschlechtsdifferenz noch keinen Einfluß auf die Erziehung haben soll, und dann eine Periode, wo sie eine verschiedene Erziehung veranlassen muß, wo ein anderes Verhältniß für die Privat- und öffentliche Erziehung eintritt, und die Erziehung nicht auf gleiche Weise fortgeführt werden kann. Hier muß also ein bestimmender in der Entwickelung nicht zu verkennender Scheidungspunct sein. Es giebt eine Zeit, wo sich die Ge-

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schlechter abstoßen, und dies ist die Zeit, wo die Theilung in der Erziehung mit Recht angeht. Nehmen wir das zusammen mit dem, was wir über die Differenz einer höhern und niedern Erziehung gesagt haben, so fragt es sich, ob wir annehmen können, daß diese beiden Epochen zusammenfallen, wo sich die Differenz der Erziehung manifestirt, und wo sich die Anlagen und die äußern Verhältnisse entschieden haben. Beide Epochen sind nicht identisch, denn die eine bezieht sich auf etwas Constantes für alle Zeiten und Völker, die andere auf etwas differenzirtes. Der Zeitpunkt wo das Bewußtsein | der Geschlechtsdifferenz erwacht, fällt in den, wo das höhere Selbstbewußtsein noch schläft, und die Erziehung, die eine andere Richtung nehmen soll, muß sich erst in einer spätern Zeit entscheiden. Es giebt also drei verschiedene Perioden der Erziehung: die erste characterisirt sich durch die Möglichkeit und Rathsamkeit einer gleichmäßigen Behandlung beider Geschlechter; in der zweiten tritt die Differenz in der Behandlung heraus: die Erziehung der weiblichen Jugend wird Privatsache, in der Erziehung der männlichen waltet das politische Interesse und die Gemeinschaft des Erkennens vor; in der dritten kann man dem einzelnen für die Zukunft sein Prognostikon stellen, und so kann hier die Erziehung ihre bestimmte Richtung nehmen. Alle Maximen der Erziehung sind also nach diesen verschiedenen Perioden zu modificiren, und wir müssen stets auf dieselben Rücksicht nehmen. Wir kommen jetzt auf eine andere Frage. Wir sind davon ausgegangen, daß die Erziehung mit dem Leben selbst anfängt, aber daß sie sich erst allmälig entfaltet. Nun ist aber doch während dieser Zeit die Erziehung nicht das einzige agens, sondern es wirken auf den sich entwickelnden Menschen noch andre Potenzen außer der Erziehung. Betrachten wir diese aus dem Gesichtspuncte der Erziehung, so zerfallen | sie in solche, die mit der Tendenz der Erziehung zusammenstimmen, und in solche, die ihr entgegenwirken. Die letzten sind schlechthin regellos gemischt, denn es geschieht vieles was nicht mit der Absicht der Erziehung übereinstimmt; aber dies würde im Ganzen beweisen, daß die Erziehung im Widerspruch stände mit dem Leben selbst. Unsere Voraussetzung ist also folgende: Bei der Erziehung des Menschen erfolgen Einwirkungen auf ihn, die nicht abzuwenden sind, und theils mit der Erziehung zusammenstimmen, theils ihr widerstreiten. Die ganze Erziehung können wir von diesem Gesichtspuncte aus betrachten als ein Verhältniß des erziehenden Willens zu den Einwirkungen auf den Zögling, die von selbst entstehn. Besteht nun das Wesen der Erziehung darin, daß nur die übereinstimmenden Einwirkungen durch die Erziehung selbst zusammengehalten oder beschleunigt 3 Erziehung] Differenz

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werden, oder darin, daß die Erziehung diejenigen Einwirkungen aufzuheben sucht, die ihrer Tendenz widerstreiten, oder ist sie aus beiden gemischt?

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Daß die Erziehung ganz auf diese verschiedenen Fälle reducirt werde, bedarf noch der Erläuterung, weil man denken kann, daß sie nur ein Theil der ganzen Erziehung seien, und daß diese doch auch etwas ausrichten könne, was durch die mitwirkenden Fälle | weder verhindert noch hervorgebracht wird, und daß man dieses besonders betrachten müsse. Wir wollen voraussetzen, es könne etwas im Menschen bewirkt werden, was von demjenigen verschieden sey, was auch ohne die Erziehung bewirkt werden könnte. Diese Voraussetzung ist in sich selbst nichtig, und nichts kann aufgestellt werden, was specifisch als ausschließliche Folge der Erziehung angesehen werden kann. Erziehung ist die absichtliche Einwirkung auf den in der Entwickelung begriffenen Menschen, und wir müssen daher alle unabsichtlichen Einwirkungen davon sondern. Das gesellige Leben besteht nun aber einmal darin, daß wir einander unsre Gesinnungen mittheilen. Sobald das Kind fähig wird, so erregt zu werden, so ist die Mittheilung der Gesinnungen eine unabsichtliche Einwirkung, und was dadurch geschieht, geschieht theils mit der Erziehung theils ohne dieselbe. Das gesellige Leben besteht auch darin, daß wir einander Rede stehen, und unsre Erfahrungen und Kenntnisse auf einander übertragen. Wenn nun im Kinde die Wißbegierde erwacht, so muß man ihm auch Rede stehen, und es fragt auch wohl Leute, die es nicht erziehn, und so erfolgt die Mittheilung von Kenntnissen auch ohne Erziehung. Eben so ist das gesellige Leben eine bestimmte Einwirkung | von einer andern Seite, indem einige den Ton angeben, und andere nachahmen, und die Tonangeber erwarten auch, daß die andern ihnen folgen. Ueberhaupt kommt in dem Verhältnisse der Erwachsenen gegen die Jugend vieles vor, was gegen die Idee der Erziehung, und was ihr gemäß ist, alles aber unabsichtlich. Alle Einwirkungen der Erziehung, die unterm Begriffe der Nachahmung stehen, sind auch ein Product des Lebens ohne die Absicht des Erziehers. Auch die Erregung des sittlichen Gefühls kommt im Leben wie in der Erziehung vor. Die Erziehung hat also keinen eigenthümlichen Zweck, sondern was sie hervorbringen will, ist dasselbe, was unter andern Formen und unabsichtlich durch das Leben selbst geschieht, und was sie hemmen will, findet auch im 30 der] die

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Leben seine Hemmung. Daher ist die obige Frage richtig gestellt. Allein es kann scheinen, als sei es überflüssig, jene drei Fälle noch zu sondern; wir können uns aber von der Beantwortung derselben deshalb nicht dispensiren, weil schon die verschiedenen möglichen Theorien wirklich aufgestellt worden sind. Es giebt nämlich zuerst die Ansicht der Erziehung, daß sie nur Gegenwirkung sein soll gegen das, was im Leben selbst sich ihrer Idee entgegen entwickelt. Dies ist der ausschließend negative Character der Erziehung. Andre haben die Idee aufgestellt: sie solle nur alle bildenden Einwirkungen, die | im Leben selbst liegen, verstärken, und brauche dann, was im Leben ihr entgegen geschieht nicht zu berücksichtigen, sondern wenn sie sich nur mit dem Analogen einige, werde sich ihr Zweck schon erreichen lassen. Neben beiden giebt es die beides vereinigende Theorie. Dies alles ist jedoch noch kein hinreichender Grund, jene verschiedenen Fälle einzeln zu untersuchen, denn will man eine Theorie aufstellen, so braucht man nicht auf die vorhandenen Rücksicht zu nehmen. Aber es drängt sich uns bei diesen verschiedenen Ansichten noch eine Frage auf die erst zu beantworten ist. Sagen wir: gäbe es auch keine absichtlichen Einwirkungen, so würde sich im Menschen doch dasjenige entwickeln, was die Erziehung eigentlich will, – so ist dies doch das Gute, und was sich neben der Erziehung entwickelt, das entweder absolut oder relativ Böse. Sagt man nun: die Erziehung muß nur das Gute unterstützen, das sich von selbst entwickelt, so wird dadurch eine Ungleichheit zwischen Gutem und Bösem der Behandlung nach gesetzt, und sagt man: die Erziehung muß nur dem Bösen entgegen wirken, das von selbst entsteht, so wird auch dadurch eine Ungleichheit gesetzt. In beiden Fällen findet eine ungleiche, aber nach der entgegengesetzten Seite hinliegende Behandlung Statt, und nur, wenn man beides combinirt und sagt, man möchte das Gute unterstützen, und dem Bösen entgegen wirken, ist eine | Gleichstellung vorhanden. Was ist nun das Richtige? denn wenn wirklich eine von den beiden einseitigen Ansichten wahr wäre, so wäre die combinirende Ansicht nachtheilig. Um jene Frage zu beantworten, fragen wir: worauf beruhen diese entgegengesetzten Ansichten? Betrachten wir zuerst die einseitigen Theorien, und fragen nach der jeder zum Grunde liegenden Ansicht. Der Theorie: die Erziehung muß nur die natürliche Entwickelung des Guten unterstützen, aber dem Bösen nicht entgegenwirken, können zwei Ansichten zum Grunde liegen: 1) daß das Böse etwas Geringfügiges sei, das vom Guten überwachsen werden würde; 2) daß das Böse im Menschen so fest sitze, daß man es unmit22 relativ] negativ Guten und Bösen

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telbar nicht mit Erfolg angreifen, sondern nur durch Stärkung und Vervielfältigung des Guten verringern und einschränken könne. Eben so liegt der Theorie: das Gute kann man sich selbst überlassen, aber dem Bösen muß man entgegen wirken die Ansicht zum Grunde, daß das Gute dem Menschen natürlich ist, und daß man es nur von den Hindernissen, von dem dazwischen kommenden Bösen zu befreien braucht. Hier kann man nicht sagen wie bei jener Theorie: hieraus scheine hervorzugehen daß die wahre Theorie die sei, daß das Böse dasjenige sei, dem man nur auf eine indirecte Weise beikommen | könne, und daß man sich den vergeblichen Kampf mit der Natur ersparen müsse, indem man das Böse durch die absichtliche Einpflanzung des Guten zu hemmen suche. Die vereinigende Theorie scheint die Einseitigkeiten auszugleichen, indem sie annimmt: das Böse ist zwar natürlich, kann aber durch Gegenwirkungen unterdrückt werden, und das natürliche Gute bedarf auch einer Unterstützung. Aber gewöhnlich weiß man nicht recht, wie man sich diese ursprüngliche Gleichheit des Guten und Bösen vorstellen soll, und offenbar construirt sich großentheils die Ansicht von der menschlichen Natur nur nach einer jener einseitigen Theorien. Einige sagen, das Böse sei dem Menschen angeboren, und dies ist nicht bloß eine christliche Theorie; andre meinen, der Mensch würde ganz gut sein, wenn er nicht durch die Gesellschaft verdorben würde, wie Rousseau. Beide Theorien haben am tiefsten in die Erziehung eingegriffen, und die meisten Menschen theilen sich darin. Die letzte Theorie befriedigt jedoch am wenigsten. Es giebt keinen Augenblick im Leben, der in der Gewalt des Erziehers steht, wo er nicht entweder das Gute unterstützen, oder das Böse unterdrücken könnte. Wer nun eine jener Theorien hat, weiß stets, was er zu thun hat. Wer dagegen eine combinatorische Theorie hat, ist seiner Sache | gar nicht sicher, und kommt auf das bloße Gefühl zurück, und wählt überall dasjenige, was entweder das Nächste ist, oder den meisten Erfolg hat. So liegen uns zwei Fragen zur Beantwortung vor: 1) was ist denn die richtige Ansicht über das Verhältniß der menschlichen Natur zum Guten und Bösen, und 2) was ist der Vorzug derjenigen Theorie, daß man die Anwendung der Unterstützung des Guten und Unterdrükkung des Bösen gleich findet, oder daß man sie dem Gefühl überläßt. Die letzte Frage ist am leichtesten zu beantworten. Also was ist Theorie überhaupt? Was wir so zu nennen pflegen, bezieht sich stets auf eine Praxis, und dies hat der Sprachgebrauch festgestellt, denn nur wunderliche Leute reden von theoretischen Wissenschaften. Wie ver21–22 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Émile, ou de l’éducation, in: Collection complète 7–10; Œuvres complètes 4,239–877

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hält sich nun die Theorie zur Praxis? Diese als das Erfahrungsmäßige ist immer eher, und die Theorie kommt erst hinterher, wenn man überlegt, wie man dazu kommt, es gerade so zu machen und nicht anders. Ehe also die Theorie entsteht, setzt man voraus, daß es im Menschen etwas gebe, was die Praxis bewirkt, und daß die Theorie nicht durch die Praxis bewirkt werden soll. Dies findet sich bei allen Künsten und die Menschenbildung ist auch eine Kunst. Es ist eigentlich nicht nöthig, daß die Theorie die Formel für die Anwendung in sich enthalte, sondern | sogar nicht einmal möglich, und wo dieses Verhältniß eintritt, daß mit der Theorie die Regel der Anwendung gegeben ist, so daß man nicht mehr fehlen kann, da ist keine Theorie mehr, sondern nur mechanische Vorschrift, z. B. das Arithmetische und Geometrische. Das ist der Unterschied zwischen Kunst und Mechanismus. So kann eine Theorie der Musick und Malerei aufs beste von einem aufgestellt werden, der diese Künste selbst gar nicht ausüben kann. Theorie ist Folge der Betrachtung über die Praxis, die Betrachtung ist aber etwas Allgemeines, und die richtige Anwendung setzt das Erfindungsvermögen in der Kunst voraus. Wenden wir dies auf die beiden verschiedenen Theorien der Erziehung an, so müssen wir sagen: diejenige Theorie, welche beide zu verbinden pflegt, ist um deswillen nicht die schlechtere, weil wir bei ihrer Anwendung in jenes Dilemma gerathen, denn die Theorie soll nicht über die Anwendung entscheiden, sonst wäre sie Mechanismus, sondern sie soll ein Maaßstab zur Beurtheilung für denjenigen sein, der Liebe und Lust zur Erziehung hat; die Theorie soll ihn das Rechte in mehreren Fällen finden lehren, wo er’s im einzelnen schon von selbst gefunden hätte. Die Appellation an das Gefühl macht also die Theorie nicht schlechter. | Als Theorien sind die andern beiden Theorien schlechter, obgleich sie auch Theorien bleiben, denn ihr Gebiet der Anwendung ist nicht mehr ganz so groß. Wir kommen nun auf die andere Frage: Indeß ist die Beantwortung jener Frage die Hauptsache, und diese Frage auf allgemeine Weise, nach allgemeinen Principien zu entscheiden, ist hier nicht der Ort. Berufen können wir uns auch nicht auf eine allgemein entschiedene und entscheidende Antwort, sondern müssen sie in Bezug auf unsern Gegenstand beantworten. Die zwei Hauptaufgaben bei der Erziehung sind folgende: 1) den Menschen tüchtig zu machen für die Gemeinschaften, in die er eintreten soll, und 2) seine eigenthümliche Natur zu entwickeln.

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Sagen wir in Beziehung auf die erste Aufgabe, man habe nur nöthig, dasjenige in Schranken zu halten, was dem Gemeingeist der bürgerlichen Gesellschaft zuwider ist, was Verwirrung ins Gebiet der Sprache bringt, u. s. w.: so muß im Menschen schon Anlage sein, und auch die äußern Umstände müssen uns helfen. Also nur dann dürfte die Erziehung ihre Bemühungen besonders auf die negative Seite wenden. Hebt man das Gegentheil hervor, so liegt darin ein Mißtrauen gegen die übereinstimmenden Einwirkungen des Lebens in dieser Hinsicht, und das scheint darauf hinaus | zu gehen, daß in diesem Character der bürgerlichen Gesellschaft, des Erkennens und der Religiosität etwas Willkührliches sei, denn hätten sich diese Formen, die nun gerade s i n d , in keinem jener Gebiete von selbst entwickelt, so wären sie willkührlich. Aber die Willkühr hat kein festes Ziel, und so ginge die Theorie der Erziehung ganz verloren, denn jeder könnte dann irgend einen Typus zum Vorschein bringen wollen, und würde danach erziehn, und so wäre keine allgemeine Methode möglich. Dies ist auch der Fall in Zeiten, wo entweder die Lebendigkeit in der Gemeinschaft verloren ist, oder wo ein Gefühl von Unzufriedenheit überhand genommen hat, und die zufälligen Unvollkommenheiten nicht gut gemacht werden durch ein Gefühl von der Nothwendigkeit des Wesentlichen. In diesem Falle giebt es aber keine Theorie, sondern nur Manieren, bei denen also die jedesmalige Zeit der Maßstab wäre. Die zweite Aufgabe der Erziehung ist, die persönliche Eigenthümlichkeit im einzelnen zu entwickeln. Sagt man auch hier, die Erziehung müsse sich bemühen, das abzuwenden oder zu vernichten, was sich von selbst im Menschen gegen diese persönliche Eigenthümlichkeit gestaltet, so könnte man glauben, dergleichen könne sich gar nicht gestalten. Aber wir finden doch immer zweierlei | was die Ausbildung der persönlichen Eigenthümlichkeit zurückhält, mag sie auch angeboren sein. 1) liegt die Nachahmung in der geselligen Natur der Menschen, und ohne dieses Princip kann er sich nicht entwickeln. Ist der einzelne von vielen umgeben, die wenig analog mit ihm sind, oder herrscht im Leben ein strenger Typus, so daß persönliche Eigenthümlichkeit nicht gilt, so wird seine eigene zurückgedrängt, wie bei den Chinesen. 2) hemmt die Entwickelung der persönlichen Eigenthümlichkeit ein Mangel an Widerstandskraft im einzelnen Menschen. Jeder tritt dem andern in den Weg, weil eine enge Gemeinschaft der Menschen in der Periode nothwendig ist, wo die Bildung vollendet werden soll. Giebt nun der einzelne nach, wo er Widerstand findet, 38 den] dem

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so verkrüppelt seine Eigenthümlichkeit aus Feigherzigkeit. So ist es denn möglich, daß man sagt: die Erziehung muß nur gegen diese Hindernisse ankämpfen, und dafür sorgen, daß der Nachahmungstrieb nicht vorherrsche, und daß der Mensch nicht in Feigherzigkeit versinke; und daß man auf der andern Seite sagt: man muß die Selbstständigkeit hervorrufen. Hiernach müssen wir sagen: soll es eine Theorie geben, so können wir nur von der einen Voraussetzung, entweder der Hemmung oder der Unterstützung, ausgehen. Aber wenn wir dies in Beziehung auf die beiden Aufgaben der Erziehung näher betrachten, so | erscheint es anders. Wir haben eingestanden, daß die persönliche Eigenthümlichkeit sich nur allmälig entwickelt. Jede allmälige Entwickelung kann freilich so construirt werden, daß man das sich Entwickelnde als eine unendliche Größe betrachtet. Nun aber bewirken doch nur Hemmungen die allmälige Entwickelung. Dies ist aber dasselbe mit der Ansicht, daß die Kraft, womit sich die persönliche Eigenthümlichkeit entwickelt, beschränkt ist, und nur ein gewisses Maß des Widerstandes überwinden kann. Man kann sie aber zugleich unterstützen, und ihr zugleich noch mehr entgegen arbeiten. Gehen wir auf die andere Aufgabe der Erziehung, den Menschen für die Gesellschaft auszubilden, so müssen wir sagen: wenn es im einzelnen kein natürliches Verhältniß zu den Gemeinschaften giebt, in welche er treten soll, so herrscht hier bloße Willkühr. Ist ihm aber die Liebe zu diesen Gemeinschaften angeboren, so wird er sich in ihren Formen entwickeln, und dann braucht man in ihm nur dem einzelnen entgegen zu arbeiten, was dem allgemeinen Typus einer solchen Gemeinschaft widerstrebt, und hier wird es im Leben selbst viele Einwirkungen geben, wodurch sich der Gemeingeist dieser Gesellschaften dem einzelnen mittheilen wird. Aber bedenken wir, daß auch hier eine Differenz des Bewußtlosen und des Bewußten | Statt findet, und daß der einzelne kräftiger steht, wenn er ein Bewußtsein seines Verhältnisses zur Gesellschaft hat, so liegt es der Erziehung ob, das Hervortreten dieses Bewußtseins zu befördern, und so führt uns auch hier die eine Voraussetzung auf die entgegengesetzte. Hier scheinen wir also auf die gemischte Theorie zurückzukommen. Nur das scheint nicht genug wenn man sagt, man müsse die beiden andern Theorien mit einander verbinden. Das Rechte scheint darin zu liegen, daß die entgegengesetzten Ansichten auf dieselbe hinausgehn, so daß sie identisch sind, und die Wahrheit jeder in der Verbindung mit der andern liegt. Es ist nicht möglich, daß die Erziehung eine 18–19 Vgl. Göttinger Nachschrift, S. 35: „Nun kann man sagen ich muß dem Entgegenstrebenden entgegen arbeiten und das Mitwirkende unterstützen.“

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ihren Zweck begünstigende Einwirkung unterstütze, ohne zugleich einer sie hemmenden Potenz entgegen zu wirken, und wieder ist es nicht möglich, daß die Erziehung einem Zustande entgegen trete, ohne zugleich positiv zu wirken; beide Seiten, die positive und die negative müssen immer mit einander verschmolzen sein. Denn der Mensch ist ja ein agens. Dies alles wird sich durch die unmittelbare Anschauung des ganzen Processes am besten ergeben. Bei dem Bestreben, der Nachahmung oder Blödigkeit in einem Menschen entgegen zu wirken, muß etwas sein, das positiv die Entwickelung seiner persönlichen Eigenthümlichkeit begünstigt, denn sonst wird die Wirkung der Erziehung etwas Mechanisches. | Man kann z. B. der Feigherzigkeit entgegen wirken durch die Furcht selbst; dann ist zwar eine bestimmte Wirkung aufgehoben, aber die Neigung des Menschen, so auf sich einwirken zu lassen, ist nur befördert. Der Feigherzigkeit kann man auch durch die Lust entgegenwirken, indem man auf die Behauptung der Freiheit einen Preis setzt. Aber so ist nur eine andre Form an die Stelle der Feigherzigkeit gekommen, denn auch die Lust kann feigherzig machen. Es giebt keine positive Unterstützung, die nicht zugleich ein Widerstand gegen das Widerstrebende wäre. Unterstützen wir die persönliche Eigenthümlichkeit des Menschen, so wird er dem Nachahmungstriebe nicht mehr nachgeben, und ist er sich seiner Persönlichkeit als einer Realität bewußt, so wird die Feigherzigkeit unterdrückt. Indem wir dieses sich vereinigen sehen, müssen wir sagen, das Rechte sei, die beiden Wirkungsarten, die positive und negative Erziehung, zu verbinden, nur nicht so, daß man beide als verschieden, sondern so, daß man beide als dasselbe ansieht. Dies kann man auch so ausdrücken: trennt man beide Richtungen der Erziehung, so ist es nicht zu vermeiden, daß man jede von beiden auf eine untergeordnete Weise behandelt, also die negative Behandlung durch die Furcht, die positive durch die Hoffnung bewirkt, oder: sie erreichen beide ihre Idee nicht. Vereinigt | müssen sie werden, und die Wirkung erscheint dann zugleich positiv und zugleich negativ, die Absicht der Erziehung fördernd und hemmend. Als einen entgegengesetzten Charakter der beiden Hauptabsichten der Erziehung können wir unterscheiden, daß bei der Hineinbildung in die Gesellschaft das Negative, bei der Entwickelung der 3 einem Zustande] Kj einem ihren Zwekk hemmenden Zustande (vgl. SW III/9, S. 723) 34 einen] einem 33–34 Vgl. SW III/9, S. 724: „die Absicht der Erziehung fördernd und das engegenstrebende hemmend.“

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persönlichen Eigenthümlichkeit das Positive die Oberhand hat, obgleich man beim ersten Blicke meinen sollte, es müsse gerade umgekehrt sein.

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In Beziehung auf beide Aufgaben der Erziehung haben wir etwas Angebornes angenommen, woran dieselbe anknüpfe. Allein dieses ist in beiden Beziehungen nicht dasselbe. Beide haben miteinander gemein, daß das Angeborne sich erst allmälig entwickelt; allein es ist hier der Unterschied, daß in Beziehung auf den angebornen Typus des gemeinsamen Lebens eine gegründete Voraussetzung Statt findet; die einzelne Natur hingegen läßt keine Voraussetzung zu, denn eine Aehnlichkeit mit Vater oder Mutter läßt sich gar nicht voraussetzen. Nimmt man nun beides zusammen, so scheint das Gegentheil des Ausgesprochenen zu folgen. Denn wenn der allgemeine Typus im Voraus bekannt ist, so kann der Erzieher etwas thun, ihn zu unterstützen; der positive Character scheint also mehr in der gemeinsamen Seite der Erziehung einheimisch zu sein, bei der Ent|wickelung der Persönlichkeit hingegen muß man erst die Entwickelung des einzelnen überhaupt abwarten, um ein Ziel zu haben. Aber dieser ganze Gegenstand ist von einer andern Seite zu betrachten. Wir haben schon erwähnt, was die Entwickelung der persönlichen Eigenthümlichkeit hemmt, nämlich der Nachahmungstrieb und Mangel an Widerstandskraft. Was würde nun, wenn es keine absichtlichen Bemühungen der Erziehung gäbe, geschehen, um die Entwickelung der persönlichen Eigenthümlichkeit zu begünstigen? Nichts, als was die Basis der Erziehung selbst ist, Lust und Freude an dem sich entwickelnden Leben. Wäre diese in den Umgebungen des Kindes, so würden sich der Entwickelung der Persönlichkeit keine Hinderniße in den Weg legen. Aber eine solche Theilnahme ist nur der moralischen Nähe nach vorhanden. Fragen wir eben so in Bezug auf die andere Hauptaufgabe der Erziehung, den 15 ihn] ihm 6–12 Vgl. SW III/9, S. 724: „Aber nun tritt gerade hier der Unterschied ein, daß wir den angeborenen Typus des gemeinsamen Lebens schon mit Grund voraussezen können, und es kann also in dieser Beziehung die unterstüzende Thätigkeit alsbald beginnen; dagegen ist in Rükksicht auf die persönliche Eigenthümlichkeit keine so bestimmte Voraussezung zulässig, und es scheint daher als könne hier um so weniger die Unterstüzung eintreten, als man erst in späterer Zeit die Eigenthümlichkeit bestimmt erkennen kann; denn aus der Aehnlichkeit mit Vater und Mutter läßt sich wohl kein entscheidender Schluß ziehen.“

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Menschen für die Gesellschaft zu bilden, was hier geschähe, wenn es keine absichtliche Erziehung gäbe: so müssen wir antworten, daß eben das, was die individuelle Entwickelung hindert, diese Entwickelung fördern wird. Schon der Nachahmungstrieb wird jeden in den Typus des gemeinsamen Lebens einführen, eben so das Gefühl, wie wenig der einzelne gegen die Masse ist, welches den Grund zur Blödigkeit legt. Die Erziehung | für die Gemeinschaften findet also Hülfsmittel genug, und man braucht hier den Menschen nur den unvermeidlichen und natürlichen Einflüssen zu überlassen. Alle positive Kraft der Erziehung soll sich jedoch nicht von diesem Gebiete zurückziehn, aber mehr negativ das in der Entwickelung der Persönlichkeit dem Hineinbilden in die Gemeinschaften feindselige d. h. das Egoistische, Launenhafte und Willkührliche zurückdrängen. Auf dem Gebiete der individuellen Entwickelung kann die Erziehung nicht sehr schnell positiv werden, weil die natürlichen Anlagen des Menschen sich erst allmälig entwickeln. Weil aber diese Entwickelung so langsam vor sich geht und zwar stoßweise, so ist es natürlich, daß die Erziehung den Exponenten dieser Entwickelung zu beschleunigen, und sie positiv zu unterstützen sucht, und die Aufgabe ist, wie dies am besten geschehen könne. Eigentlich, müssen wir sagen, hat sich der Mensch erst ausgebildet, wenn die Erziehung vorüber ist. Bei der Entwickelung der Persönlichkeit ist also besonders eine frühe positive Unterstützung nöthig. Dies erhellt auch aus der Natur dessen, was der individuellen Seite der Erziehung entgegen ist, d. h. des Nachahmungstriebes und der Feigherzigkeit. Beide darf man nicht ganz unterdrücken, denn das wäre für die gemeinsame Seite der Erziehung | gefährlich. Z. B. ein starker Nachahmungstrieb im Kinde darf nicht unterdrückt werden, aber er ist und bleibt etwas Bedenkliches für die Entwickelung der persönlichen Eigenthümlichkeit. Nach dieser Betrachtung stellt sich die Sache so, daß die eine Aufgabe der Erziehung, den Menschen für die Gemeinschaft, worin er geboren ist, zu bilden, mehr durch die negative Form erreicht wird, die andere, die Entwickelung der persönlichen Eigenthümlichkeit, mehr durch die positive. Aber stets muß beides geschehen, denn beides ist in beiden. Durch das Hervortreten der Eigenthümlichkeit wird der Nachahmungstrieb zurückgedrängt, aber in so fern dieser heilsam ist, wird er dadurch nicht gehindert werden, denn der gemeinsame Typus muß alle Individualitäten in sich aufnehmen können. Das Egoistische und Launenhafte tritt dem gemeinsamen Leben am meisten entgegen, und was hiergegen anstrebt, wird wieder positiv für die Entwickelung des gemeinsamen Typus wirken. 4 den] dem

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Wenn wir nun durch eine frühere Untersuchung die Erziehung in verschiedene Perioden getheilt haben, so haben wir sie hier getheilt in zwei relativ einander entgegengesetzte Formen, die sich durch jene Perioden verschieden hindurchziehen werden. So ist auch unsere Aufgabe schon bestimmter geworden. | Hier schließt sich eine andere Betrachtung an. Wir sahen bei der vorigen, daß stets Einwirkungen auf den Menschen, der erzogen werden soll, geschehen würden, und fragten, wie sich die Einwirkungen des Erziehers zu den unabsichtlichen verhalten müßten. Ist aber die Trennung des Absichtlichen und Unabsichtlichen richtig? Ist alles beim Erzieher absichtlich und mit Bewußtsein nach einer Bewußtlehre eingerichtet? Würden nicht stets unabsichtliche Einwirkungen auch von denen selbst ausgehen, die in der Erziehung begriffen sind? Ja! wir sind uns in unserm Leben mit der Jugend keinesweges stets der Erziehung bewußt, und wenn das Bewußtsein auch nie verschwindet, so tritt es doch zurück im freien Leben mit der Jugend. Wie verhalten sich nun diese verschiedenen Einwirkungen des Erziehers gegen einander? Sie scheinen in Bezug auf den letzten Punct einander entgegengesetzt zu sein. Wenn wir nämlich denken, daß wir in einem freien Leben mit der Jugend das Erziehen vergessen, so vergessen wir auch den fixen Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern. Wonach richten wir denn unser Verhalten gegen andre Menschen ein, in so fern es nicht durch Pflichtverhältnisse bestimmt ist? Nach dem Gesetze des reinen freien Mitgefühls | so daß wir jedem zum bewußten Genusse seines Daseins zu helfen suchen. Das ist aber die Sache des Moments, denn was sich nicht auf den Moment bezieht, was auf die Zukunft geht, fällt wieder ins Gebiet der Pflichten. Denn ist das Mittheilen für die Zukunft auch noch etwas, so ist dies nur etwas Zufälliges. Geben wir uns nun den Kindern hin, so verhelfen wir ihnen zu einer momentanen Befriedigung, zum momentanen Genuß ihres Daseins. Betrachten wir dagegen die absichtlichen Bemühungen der Erziehung, so kommen wir auf das Entgegengesetzte, denn diese haben ihren Gegenstand in der Zukunft. So haben wir einen Gegensatz: das unabsichtliche, freie Leben mit der Jugend kann nur den Character haben, ihr zur Befriedigung in der Gegenwart zu verhelfen; die Erziehung dagegen opfert die Gegenwart der Zukunft auf. Wie soll man diese entgegengesetzten Thätigkeiten in Uebereinstimmung bringen? Hier finden sich verschiedene Theorien: einige Erzieher spielen mit den Kindern, andre wollen das Spiel unter die Kinder unter einander verbannt wissen, denn die Einwirkungen der Erwachsenen müßten den Moment stets der Zukunft aufopfern. Beide Einseitigkeiten sind verderblich, und besonderes die letzte macht das Leben so schroff, 16 freien] freiem

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daß | Liebe und Freude der Kinder an dem Verhältnisse mit den Erziehern nicht aufkommen kann. Wenn nun die einseitigen Theorien unrichtig sind, so ist wieder ein Bedürfniß des Ausgleichens zu einer Zusammensetzung vorhanden, wobei es sich nur fragt, ob es an einem Princip dazu fehlt. Denn was hülfe es zu sagen: man muß das eine thun, und das andre nicht lassen? Auch hier müssen wir zu einer der vorigen analogen Auflösung kommen, die uns zeigt, daß beides eins und dasselbe und daß jener Gegensatz nur scheinbar ist. Wir können dies nicht einsehn, ohne das ganze Verhältniß zwischen den Kindern und Erwachsenen tiefer in seinen ethischen Gründen aufzusuchen, denn dies allein kann uns das Verhältniß der beiden Lebensformen, der freien und absichtlichen begreiflich machen.

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Jede einzelne Handlung, die in das Gebiet der Erziehung oder des Lebens mit der Jugend fällt, muß sich auf Gegenwart und Zukunft zurückführen lassen. Man hat häufig eine andere Art der Auflösung gesucht, und gesagt, das Selbstbewußtsein der Nichterwachsenen sei nicht vollständig, und daher müsse man nicht mehr darauf sehen, was ihnen für den Augenblick zur Befriedigung gereiche, und sie selbst würden das in Zukunft billigen. Aber würde nicht jeder dem ein Zögling stirbt, sich Vorwürfe machen, wenn er nicht seine | Handlungen auf beide Gesichtspuncte reduciren kann? Jene Ansicht ist also auch ungenügend. Vielmehr sind das Gebiet, worin die Aufgabe der Erziehung liegt, und das Gebiet des freien Zusammenlebens mit der Jugend dieselben. Es ist offenbar, daß die Kinder jedes Alters stets Bedürfnisse haben, die in das letzte Gebiet fallen. Sobald also in einem Moment des Lebens etwas aus dem Gesichtspuncte der Zukunft geschieht, so ist jene Aufforderung gefährdet, und alles, was aus dem Gesichtspuncte der Erziehung geschieht, ist nur in so fern richtig, als es dem gegenwärtigen Zustande der Jugend zukommt, und ihr Befriedigung gewährt. Nun aber giebt es keinen Augenblick, worin nicht etwas für die Erziehung geschehen könnte; läßt der Pädagog auch nur einen vorübergehen, so erscheint er als unvollkommen in seiner Kunst, denn er wird stets etwas sehen, was in seinen Zweck hineinfällt. In so fern nun nicht nur einige besonders 1 den] dem 20–22 Vgl. SW III/9, S. 732: „indeß die Sterblichkeit ist gerade in der Periode der Kindheit sehr groß. Wenn man die Gegenwart der Zukunft opfert, und diese tritt nicht ein: so muß der sich Vorwürfe machen der seine Handlungsweise in der Erziehung nicht auf beide Gesichtspunkte der Gegenwart und Zukunft reduciren kann.“

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zur Erziehung berufen sind, sondern auch jeder Erwachsene ein Theilnehmer derselben ist, so muß jeder jeden Moment zu diesem Zwecke benutzen, und jeder Augenblick im geselligen Verein muß die pädagogische Kunst mit sich haben. So ist beides dasselbe. Sagt man hiergegen: es sei hier ein offenbarer Unterschied, denn das eine falle unter den Gesichtspunct der Pflicht, das andere unter den Gesichtspunct der Kunst. Denn die Anerkennung und Erfüllung der Ansprüche | die jeder an den andern hat, ist eigentlich, was wir Pflicht nennen, und das rein menschliche Verhältniß, das an keine Zukunft denkt, ist Pflicht, Erziehung aber Kunst, und die Kunst erscheint stets der Pflicht untergeordnet. Aber dieses Raisonnement können wir auch umkehren, und sagen: die Erziehung ist Pflicht, denn jeder ist ein Mitglied der Gesellschaft, worin der Zögling leben soll, und zur Erhaltung derselben verpflichtet, also zur Erziehung. Allein eben so könnte man auf der andern Seite erwiedern: das rein menschliche Verhältniß des einzelnen zum andern ist das Gebiet der allgemeinen Menschenpflicht. Betrachten wir es aber, wie es chaotisch daliegt, und geordnet werden soll, so müssen wir sagen: dies sei die Lebenskunst, die Ansprüche al l e r so zu lösen und zu befriedigen, daß nichts zu verlangen übrig bleibt. – Dieser ganze Streit ist aber bloß scheinbar, und nur jene Formel hebt ihn auf. Die folgenden Bemerkungen werden uns den Weg bahnen zur nähern Erläuterung dieser Behauptung. Stellt man einander gegenüber das allgemeine ethische Gebiet und die Gebiete, für welche es Theorien giebt, also die Kunst sind, z. B. die Erziehung, so muß jedes solches einzelne Gebiet im allgemeinen ethischen aufgehen. Wir brauchen das Wort Kunst von der Erziehung schon uneigentlich, und eigentlich nur vom Gebiete | der schönen Künste, die vom ethischen Gebiete sehr entfernt zu sein scheinen. Allein in jeder Kunst giebt es ein Steigen und einen Verfall, und die Künstler sollen den Verfall abwehren. Dieser aber ist ein Element vom Verfall des ganzen gemeinsamen Lebens. Die Kunst soll der Moralität gar nicht dienen, sondern nur fühlen, daß sie ein Element davon sei. Umgekehrt: sieht man auf das rein ethische Gebiet, und fragt, was in der Gesammtheit des Lebens geschehen müßte, damit die menschliche Natur vollständig da sei, so müssen daraus alle Gebiete, für welche es eine Kunstlehre geben kann, construirt werden, und das ethische Gebiet muß sich so weit ausdehnen, daß es jenes alles in sich faßt, und so giebt es keine Theilung. Es muß kein menschliches Verhältniß geben, das nicht kunstmäßig behandelt werden könnte, so auch die Erziehung. Die Aufgabe für alle Künste ist stets dieselbe, die Auflösung stets eine andere. 7–10 Vgl. SW III/9, S. 729–730: „denn die Anerkennung und Erfüllung der Ansprüche die jeder an den anderen habe, sei eigentlich das was wir Pflicht nennen, und das rein menschliche Verhältniß in welchem wir mit anderen stehen und bei dem die Beziehung auf die Zukunft nicht vorhanden sei, erfor|dere nicht sowol ein kunstmäßiges sondern vielmehr ein pflichtmäßiges Handeln.“

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Es fragt sich, was der rechte Punct sei, von dem aus wir jener Verbindungsformel beider Theorien in der Erziehung den rechten Werth geben können. Nämlich jeder Moment soll ein Zeugniß ablegen, von dem freien Verhältnisse zwischen allen Menschen, zwischen der Jugend und dem Alter. Wie kann uns dies in der Erfahrung selbst leiten? Das eine Verfahren erscheint als eine gemeinsame | Richtung der Kinder und Erwachsenen auf den gegenwärtigen Moment, und indem dies der Fall ist, so ist die Richtung auf die Zukunft negirt. Aus dem Gesichtspuncte der Erziehung aber scheint die Gegenwart stets der Zukunft aufgeopfert zu werden. Hier ist die Auflösung unmöglich, so lange wir Gegenwart und Zukunft einander entgegenstellen. Dieser Gegensatz ist nämlich nur ein relativer, kein absoluter. Unsere Frage kommt also darauf zurück, wie es mit diesem Gegensatze stehe. Wir haben schon angeführt, wie man sich gewöhnlich jene Schwierigkeit löst: nämlich die Jugend werde es selbst in der Zukunft erkennen, und in dieser künftigen Zustimmung liege die Berechtigung des Erziehers, so zu verfahren, wie er verfährt. Das Unzureichende dieses Auskunftmittels leuchtet ein. Wie verhält sich aber das gegenwärtige Bewußtsein der Kinder zu jedem künftigen? Eine für alle Zeitpuncte ihrer Entwickelung gleich gültige Antwort läßt sich hierauf nicht geben. So lang sich die Kinder noch im Allgemeinen im Zustande der Bewußtlosigkeit finden, tritt die Schwierigkeit, das Verhältniß der Gegenwart gegen die Zukunft richtig zu stellen, nicht ein. Dies ist die Ursache, warum viele glauben es sei die leichteste Periode der Erziehung diejenige, wenn das Bewußtsein der Jugend noch nicht erwacht | ist. Für diesen Zeitpunct scheint es der Auflösung jener Schwierigkeit nicht zu bedürfen. Sehen wir auf das Ende der Erziehung, so hört die Schwierigkeit auch auf, denn da soll man den Menschen behandeln nach dem, was er selbst aus sich gemacht wissen will. Also ist die Schwierigkeit zwischen beiden Puncten vorhanden. Wie ist denn nun das schon erwachte Bewußtsein der Jugend während dieser Zeit beschaffen? Hier findet sich eine Stufenfolge. Das Bewußtsein des Moments erwacht eher als die Sorge für die Zukunft; ist diese erst erwacht, so ist jene Schwierigkeit auch geringer, denn hier findet sich schon Vertrauen zum Erzieher. Die Schwierigkeit schränkt sich also ein auf den Zeitraum, wo das Gefühl der Gegenwart erwacht ist, die Sorge für die Zukunft aber noch nicht. Wie ist nun das Bewußtsein in diesem Augenblicke beschaffen? Man sagt von den Kindern, sie leben bloß in der Gegenwart; dies ist aber eine elegische Sage des Alters, das auf die Jugend zurücksieht. Als realer menschlicher Zustand ist jenes gar nicht möglich, denn wir kommen an die Grenze 7 den] dem 38 den] dem

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des Thierischen, wenn wir nicht in die Gegenwart auch die Divination setzen. Sonst wäre gar keine Perfectibilität möglich, denn das Thier bleibt | stets in seinem Zustande, bei seinem Instinct stehen. Wollen wir die menschliche Natur als Einheit ansehen, wie wir doch nicht anders können, und wollen wir im Kinde schon die menschliche Thätigkeit erblicken, so können wir nicht anders als in demselben, sobald die Combination von Vergangenheit und Gegenwart da ist, auch die Kombination von Gegenwart und Zukunft setzen. So hat der Erzieher im Kinde selbst stets einen Fürsprecher, das divinatorische Vermögen desselben. Wir brauchen nur rein für die Zukunft zu arbeiten, und die Befriedigung des Moments zu vernachlässigen, so wenden wir uns zwar an dieses divinatorische des Kindes, aber wird durch unser Handeln nicht zugleich das Bewußtsein der Gegenwart, worin jenes divinatorische eingehüllt ist, befriedigt, so wird das Kind uns tadeln, obgleich der Tadel zurücktritt. Eben so ist es auf der andern Seite. Also ist unsre Formel vollkommen gerechtfertigt.

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Hieraus geht deutlich hervor, wie es bei der Pädagogik auf die lebendige Zusammenschauung alles dessen, was in die Betrachtung fällt, vorzüglich ankommt. Auf eine mechanische Weise läßt sich nicht die Zusammenstimmung des Speciellen mit dem allgemeinen Ethischen feststellen; nur von allgemeinen Formeln kann der Prüfstein | des Verfahrens ausgehn. Alle pädagogische Richtigkeit hängt von dem richtigen Sinn und Gefühl für die verschiedenen zu betrachtenden Verhältnisse ab, einen andern Werth als solchen kann auch eine Theorie nicht haben. Die Pädagogik läßt sich leichter und ruhiger als Theorie behandeln als z. B. die Politik, weil die entgegengesetzten Ansichten nicht so die Leidenschaften aufregen; aber dieses abgerechnet, verhält es sich mit der Politik wie mit der Pädagogik. Beiden gereicht es zum Verderben, wenn man glaubt, es lassen sich darin Regeln aufstellen, die das Princip ihrer Anwendung schon in sich tragen, und wobei es eines leitenden Gefühls nicht bedarf. Dies ist den sittlichen Künsten eben so wenig eigen, wie den bildenden. 1 Divination (lat. divinatio): das Vermögen, in eine ungewisse, gestaltbare Zukunft zu schauen. Unter Divination wird hier die schöpferische Kraft des Kindes verstanden, in bildende Wechselwirkungen zur Welt einzutreten. 2 Rousseau spricht mit seinem Begriff der „perfectibilité“ dem Menschen (als unmittelbar zu seiner Natur gehörend) die unbestimmte Fähigkeit zu, Fähigkeiten entwickeln zu können. Unter der Perfektibilität versteht er die auf kein Telos individueller und gesellschaftlicher Entwicklung hin finalisierte Bildsamkeit des Menschen (vgl. Rousseau (1756); Collection complète 1,19183; Œuvres complètes 3,109-237)

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Wie können wir nun nach dem bisherigen das ganze Geschäft der Erziehung anlegen? Wir wollen uns zur Beantwortung dieser Frage das Gefundene wiederholen, und dies wird desto besser sein, weil wir es sogleich in Beziehung auf das Folgende setzen können. Erstens haben wir zwei Hauptaufgaben gefunden, worin die ganze erziehende Thätigkeit zerfällt; die eine ist: die persönliche Eigenthümlichkeit des einzelnen herauszulocken. Von ihr haben wir gesagt, daß sie am meisten einen positiven Character hat, d. h. in unterstützenden Einwirkungen besteht. Die zweite ist: den einzelnen für die Gemeinschaften | tüchtig zu machen, wohin ihn die Erziehung abzuliefern hat. Diese Seite zerfällt wieder in drei Aufgaben: 1) in die politische Erziehung, die sich auf das bestimmte Volk bezieht; 2) in die scientifische Erziehung, die den Antheil des einzelnen an dem gemeinsamen Erkennen zum Gegenstande hat; 3) in die religiöse Erziehung. Von allen drei Aufgaben haben wir gesehen, daß sie mehr einen negativen Character haben, d. h. die nachtheiligen Einwirkungen aufheben, welche die natürliche Entwickelung des einzelnen aus sich selbst haben könnte. Zweitens haben wir verschiedene Perioden der Erziehung unterschieden, denn nicht alle Vermögen des Menschen entwickeln sich gleichzeitig. Die Verfahrungsart der Erziehung ist in jeder Periode verschieden. Das natürliche Ende der Erziehung ist nämlich dann da, wenn die Selbstthätigkeit des einzelnen vollkommen ist, und man ihm die Sorge, durch die Kraft des Willens alles Vortheilhafte in seinem Wirken zu unterstützen allein überlassen darf. Nun aber entsteht die Kraft des Willens und die Vollständigkeit des Bewustseins allmälig, und je mehr sich also die Erziehung diesem ihrem Ende nähert, desto mehr nähert sich das Verfahren dem Verhältnisse, das zwischen gleichen Erzogenen Statt findet. Im ersten Anfange der Erziehung ist | die Selbstständigkeit noch auf keinem Puncte entwickelt; im Zöglinge selbst ist ein Gefühl der Hülfsbedürftigkeit, und dadurch wird die Thätigkeit des Erziehers anders bestimmt, indem ihm die Receptivität des Zöglings entgegen kommt. Dieses ist der fließende Unterschied, der sich uns aber schon mehr in einen festen umgewandelt hat, woraus die verschiedenen Perioden der Erziehung entstanden sind. Drittens stellen wir den Gegensatz des Materiellen und Formellen auf, aber die Differenzen in dem einen waren durch etwas anders bestimmt als in dem andern, und folglich muß beides verschieden behandelt werden. In dem Gegensatze, woraus wir die beiden Hauptaufgaben der Erziehung behandelt haben, finden wir die Gründe, den Inhalt der Erziehung zu bestimmen, aber in demselben nicht die Gründe des Wechsels der Form. Beide Betrachtungen für sich, würden aber nicht genügen, unser Verfahren zu leiten, sondern es drängt sich 11 drei] 3.

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uns noch die Frage auf: wie verhält sich die Erziehung zu den Resultaten der Einwirkung andrer, die nicht zur Erziehung gehören? Beides haben wir identificirt. Diese Betrachtung bestimmt also die Grenzen nach außen; aber dieses werden wir auf alles anwenden müssen, was sich auf die verschiedenen Gebiete der Erziehung bezieht, und | daran hat sich dasjenige angeknüpft, wodurch das Verhältniß des einzelnen Theils der Erziehung zum Ganzen bestimmt wurde. Denn dieses reduzirten wir auf die Frage, ob man bei der Erziehung die Gegenwart der Zukunft aufopfern müsse. Wir antworteten, man müsse den einzelnen Moment zur Totalität des ganzen Geschäfts erheben; dies sei der Probierstein, woran sich die Richtigkeit des pädagogischen Verfahrens bewähren müsse, und diese Regel des Verhältnisses des einzelnen zum Ganzen geht wieder durch alle Perioden und Gebiete der Erziehung hindurch. Erfüllen wir alle diese Beziehungen, so wird unsre Theorie gut sein. Daß, wie sich dies alles ergeben hat, sich alles zu vereinzeln scheint, ist bei Kunsttheorien überhaupt nicht zu vermeiden. Aber wie ordnen wir alles am bequemsten an? Am natürlichsten werden wir bei demjenigen anfangen, was sich aus den letzten Betrachtungen ergeben hat, weil sich dies beständig durch alle Gebiete und Perioden der Erziehung hindurch zieht. Es wird gleich sein, daß, und wie die erziehende Thätigkeit unterstützen muß, was ihren Zweck befördert, und hemmen, was ihm entgegen ist, und so brauchen wir nichts vom Gebiete der Erziehung zu anticipiren, sondern können nun von der allgemeinen reinen Idee ausgehn. Hieraus werden sich uns gewisse allgemeine Regeln ergeben, | die uns in der speciellen Behandlung leiten werden. Hierauf können wir wählen, ob wir das Geschäft der Erziehung zuerst in Bezug auf die Perioden oder die Gebiete betrachten wollen. Offenbar beziehen sich diese beiden Betrachtungsweisen auf einander, dürfen aber nicht mit einander verschmolzen werden. Die Betrachtung über die verschiedenen Perioden der Erziehung ist hier am natürlichsten voranzuschicken, weil diese begründet sind in der Anschauung von der sich allmälig vermehrenden Selbstthätigkeit des einzelnen Menschen. Dies ist nun stets dasselbe, und wir brauchen hier nur auf wenige Differenzen Rücksicht zu nehmen. Zuletzt werden wir jene allgemeine Regeln auf das Materielle anwenden. D as A l l ge m e i n s t e vo n der Erziehung . Wir haben die Pädagogik als eine Kunstlehre angesehen, indem die zusammenstimmenden Einwirkungen der Erwachsenen auf die Jugend 12 diese] dieses 24 Idee] Ide

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ein Resultat hervorbringen sollen, welches, weil ihm ein Urbild zum Grunde lag, und nach Regeln gehandelt wurde, als ein Kunstwerk angesehen werden kann. Da es aber viele Einwirkungen giebt, die nicht in die Regeln der Kunst gehören, so ist in der Erziehung Absichtliches und Zufälliges ver|mischt. Man fängt also mit dieser Sonderung an. Hier wird sich uns die Folge der Gegenstände leicht selbst ergeben. Alle Erziehung läßt sich zwiefach ansehen: einmal als Unterstützung dessen, was schon von selbst geschieht, und als Gegenwirkung gegen das, was von der Kunst nie geschehen würde. Das ganze Geschäft der Erziehung kann man nicht ansehn als aus einer Vermischung solcher Elemente bestehend, sondern so, daß jedes zugleich das andere sein müsse. Alles was Einwirkungen unterstützt, muß zugleich demjenigen, was der Erziehung zuwider geschieht, entgegen wirken, und die Richtigkeit jedes pädagogischen Verfahrens muß hiernach beurtheilt werden, daß es dieser Identität Genüge leiste, und darin aufgehe. Hier ist es am besten, von demjenigen anzufangen, was als der Idee der Erziehung zuwider erscheint, denn so tritt das Kunstmäßige in einem bestimmten Gegensatz auf gegen das von selbst Erfolgende, und wir können es hier leichter auffassen, und üben uns also schon, es zu isoliren, und für sich zu betrachten. Denn sehen wir die Erziehung als Unterstützung des von selbst Geschehenden an, so ist es schwer, die Unterstützung von demjenigen, was von selbst geschieht, zu unterscheiden. Es ist daher besser, wenn wir jenes | zuerst betrachten. Der Grundkanon aber ist, daß alles Kunstgemäße in der Erziehung auch als das reine Resultat einer sittlichen Handlungsweise muß angesehen werden können. Indem wir hiermit anfangen, zu fragen: wie hat die Erziehung demjenigen entgegen zu wirken, was ihrer Idee zuwider sich entwickelt? so müssen wir freilich wieder auf das letzte Ende der Erziehung hinsehen, und sagen: was der Idee der Erziehung zuwider ist, müssen wir nach eben dieser Idee beurtheilen, nach dem allgemeinen Gesetze für das Materielle. Gesetzt, wir wüßten schon, was der Idee der Erziehung zuwider ist in Beziehung auf ihre beiden Hauptaufgaben, wie wird denn nun die Erziehung diesem entgegen zu wirken haben? Der eine Kanon hierfür wird nun ein negativer: auf keine solche Weise, die sich nicht auf die Ethik zurückführen ließe; der zweite ein positiver: so daß, was geschieht, zugleich alle der Idee der Erziehung angemessenen Einwirkungen unterstützt.

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Wir wollen also zuerst die Erziehung betrachten, als Gegenwirkung gegen die zerstörenden Einwirkungen. Dies ist der Punct wo sich die

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Kunst dem Kunstlosen nähert, und wo wir das ganze Gebiet der Erziehung in seiner Entstehung sehen. Wir wollen die verschiedenen Puncte aufsuchen, worauf sich jene Einwirkungen ergreifen lassen, um die | Gegenwirkung anzubringen. Je mehr man das Leben sich selbst überläßt, desto mehr hat es eine chaotische Gestalt. Das einzelne gehört zwar in ein bestimmtes Gebiet, aber die Succession der einzelnen Momente ist zufällig. Unter diesen zufälligen Einwirkungen kann es solche geben, welche der Idee der Erziehung ganz zuwider sind. Könnten wir sagen, das Beste sei, die Sache im ersten Anfange anzugreifen, und die Zustände anderer Menschen, woraus solche Einwirkungen hervorgehen, auszuschließen, so wäre dies das Nächste. Z. B. Alles Leidenschaftliche, das Kinder sehen, ist der Erziehung zuwider; damit sie aber nichts sähen, müßte das Hauswesen ganz vortrefflich sein. Um es aber erst vortrefflich zu machen, kommen wir aus dem Gebiete der Pädagogik heraus. Sehen wir die Erziehung an als einen Theil des Gemeinwesens, so müßten die Kinder im Hause, das vom Staat abhangt, nichts als Gutes und Liebe zum Staat pp sehen; aber auch dies liegt jenseits der Pädagogik. Das eigentliche Pädagogische muß also unter der Voraussetzung anfangen, daß Menschen mit der Jugend in Berührung kommen können, welche der Erziehung entgegen einwirken. Weil nun diese Aufgabe, die der Erziehung zuwider laufenden Einwirkungen unschädlich zu machen, auf der Unvollkommenheit beruht, und vorausgesetzt, so ist auch eine reine Auflösung derselben nicht möglich. Wenn wir die Sache rein ethisch betrachten, so müssen wir sagen: alle ethischen Auf|gaben lassen sich rein auflösen, ohne daß die Pflichten irgend collidiren, so lange alle Elemente rein sind. Setzen wir aber das Böse mit hinein, so ist die reine Auflösung nicht mehr möglich. Z. B. die Strafgerichtsbarkeit ist schwierig zu behandeln, und manches darinn nicht sittlich, wie die Todesstrafen, denn jede Gewalt ist unsittlich. Setzen wir nun voraus, daß Einwirkungen möglich sind, die der Idee der Erziehung zuwider laufen, so fragt es sich: welches ist der nächste Punct wo man den Widerstand anbringen kann? Die eine Ansicht ist, man solle alles thun, um jene Einwirkungen von aller Berührung mit der Jugend auszuschließen; aber dies liegt schon außer den Grenzen der Erziehung. Mit Menschen von einer gewissen Stufe der Unbildung kann man nie sicher sein, ob sie nicht in einen unsittlichen und leidenschaftlichen Zustand gerathen, und es ist daher stets ein Supplement der Fehler erforderlich, die dadurch entstehen können. Denn z. B. die Entfernung der Kinder von Dienstboten, die man hier angerathen hat, ist theils unthunlich, und hat 23 vorausgesetzt] Kj Gegenwirkungen voraussetzt 35 den] dem 37 einen] einem

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theils wieder andere nachtheilige Folgen. Andre sagen dagegen: man muß diese Einwirkungen nicht scheuen, weil man sie überhaupt nicht, oder doch nur in einer gewissen Periode abwehren kann, und je schneller dann der Uebergang vom behüteten in einen unbehüteten Zustand erfolgt, desto größer wird der Nachtheil sein; daher lasse man lieber das Leben, wie es in der Zukunft sein wird, so auch von Kindheit an gewähren. Aber auf diese Maxime kann nicht rein gehalten werden, denn sind wirklich | schon nachtheilige Wirkungen vorhanden, wie soll man sie heilen? Hier also sind wieder entgegen wirkende Maximen nöthig. Jedoch zuerst müssen wir die nachtheiligen Einwirkungen selbst betrachten. Diese scheinen von unendlicher Anzahl zu sein; aber es kommt nur darauf an, das Manchfaltige zusammenzuziehn. Fassen wir die Sache empirisch auf, so sind die nachtheiligen Einwirkungen 1) böse Beispiele. Beispiel ist etwas nur, in so fern es Nachahmung erweckt. 2) Gewalt welche gegen die Jugend ausgeübt wird, und diese beiden sind die Hauptbegriffe. Denn was kann man weiter noch scheuen wollen, als daß durch das Zusammenleben die Entwicklung der Jugend gehemmt werde, oder eine falsche Richtung bekomme. Alles, was die Entwickelung hemmt, ist Gewalt, und alles, was sie zu einer falschen Richtung reizt, wird ursprünglich böses Beispiel sein, denn die Jugend muß den Reiz erst kennen lernen. Dies sind also die beiden Formen der nachtheiligen Einwirkungen. Was ist aber das Materielle davon? Dies zu beantworten, wollen wir uns beziehen auf die Hauptaufgaben der Erziehung. In Bezug auf das gemeinsame Leben soll der erzogene Mensch in solcher Harmonie stehen, daß sein Dasein und das geförderte gemeinsame Dasein dasselbe ist. Tritt nun in der Jugend ein Widerspruch hervor gegen das gemeinsame Leben, so ist dieser Unschönes, zerstörte Harmonie, und eben so ist es etwas Unschönes, wenn sich die eigenthümliche Natur nicht entwickelt. Dies verstehen wir aber nur | darunter in so fern es aus dem Innern hervorgeht; aber alle nachtheilige Einwirkungen, mögen sie der Form nach Reiz oder Gewalt sein, sind nur dadurch nachtheilig, daß sie entweder das Unschöne oder das Unrichtige hervorbringen. – Wie verhält sich diese Differenz zwischen dem Unschönen und Unrichtigen zu jenen beiden Maximen als möglich oder als nothwendig? Das Unrichtige werden wir auf jedem Gebiete noch brauchen können weil es stets gegeben ist, und jede Vervollkommnung es nur eliminirt, nie vernichtet. In Bezug auf das Unrichtige würde es falsch sein, die behütende Maxime schlechthin anwenden zu wollen, weil das Unrichtige nie vermieden werden kann. Wir können und müssen hier verschiedene Perioden unterscheiden. Es kann Unrichtiges geben, was die Zöglinge in sich aufnehmen, aber was in einem Gebiete liegt, das in ihnen noch

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nicht entwickelt ist. In diesem Fall ist es ganz unschädlich, und das Behüten davor wäre unnütz. Wenn z. B. ein Kind noch nicht reden lernt, so mag es immer mit Menschen zusammen sein, die Sprachfehler machen, und dies wird ohne Einfluß sein. Denken wir uns, es sei bis zu dem Puncte behütet worden, wo es Fertigkeit im Sprechen erlangt hätte, so wäre es überflüssig, es noch nachher vor dem Hören von Sprachfehlern zu behüten. Ueberhaupt ist unrichtig etwas, wenn die äußere Erscheinung dem Willen nicht adäquat ist. Unschön ist dasjenige, was aus dem verderbten Innern kommt. Verhält es sich nun eben so wie mit dem Unrichtigen auch in Beziehung | auf das Unschöne? Ist auch hier die Behütung unnütz oder nicht, und müssen hier die Einwirkungen ausgeschlossen werden? Der ganze Gegensatz zwischen Unschönem und Unrichtigem ist nur relativ, denn nichts im Menschen Entgegenstehendes ist mechanisch.

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Unschön ist alles, was die Harmonie des Daseins stört, und aus dem Innern herauskommt, wozu folglich auch das Böse gehört. Das Unrichtige kann nur wirken auf dem mechanischen Wege der Nachahmung, denn alles Aeußerlich werden des Innern leitet sich an der äußern Einwirkung fort. Der nachtheiligen Einwirkung falscher Beispiele wird dadurch entgegengewirkt, daß der richtige Proceß in der Erziehung gemacht wird, und die Nachahmung also auf diese Seite hin überwiegt. Hier ist die behütende Maxime unnöthig. Aber das Unschöne wirkt durch einen specifischen Reitz auf die Kinder, z. B. plebejische Redensarten, Schimpfwörter, das Wollüstige. Da kann man leicht ermessen, daß das Verhältniß der nachtheiligen Einwirkungen zu dem Positiven der Erziehung nicht dasselbe sein wird, wie im Gebiet des Unrichtigen. Alles Unrichtige nämlich gehört mehr oder weniger ins Gebiet der Uebung, aber in dem, was rein das Innere betrifft, giebt es keine Uebung. Die Entwickelung des Schönen und Unschönen geht leichter fort als die Entwickelung des Richtigen und Unrichtigen. Das Unschöne liegt in einem Uebergewicht des Sinnlichen, Leidenschaftlichen, Ungemessenen. Das Schöne hat seine Wurzel an dem | Höhern, das sich im Menschen später entwickelt als das Gegentheil, z. B. entwickelt sich die Selbstsucht und Persönlichkeit früher als der Gemeingeist. Das Bewußtsein des Unschönen kann so weit kommen daß das Höhere nicht mehr recht gedeihen will, und da scheint die behütende Maxime wohl an ihrer Stelle zu sein. Hier 24 einen] einem

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kommt es auf zwei Puncte an, auf den Anfangs- und Endpunct. Also zuerst: wo muß jene Maxime aufhören? Sobald die höhern Gesinnungen erweckt sind, so daß in ihnen die Kraft liegt, dem Unschönen den Eingang ins Gemüth zu verwehren, ist jene Maxime unnöthig und sogar schädlich. Dies wird deutlich, wenn wir uns das Verhältniß des Endpunctes zu der rechten Zeit denken. Sobald die höhern Potenzen im Menschen allmälig an Kraft zunehmen, muß die Behütung abnehmen, denn sie wird dann unnöthig; wollte man sie fortsetzen, so müßte sie doch auf einmal aufhören. Dann würde aber der Zögling überströmt werden von gefährlichen Einwirkungen, weil die höhere Kraft noch nicht im Streite mit solchen Einwirkungen geprüft wäre. Was also dann die Menge einstürmender sinnlicher Reize für Wirkungen hätte, könnte man gar nicht absehen. Folglich ist das Rechte die allmälige Nachlassung der Aufsicht. Stets muß man bei der Erziehung die Prüfung erneuern ob die Kraft im Menschen schon gerüstet ist gegen nachtheilige Einwirkungen. Sehen wir auf den Anfangspunct, so werden wir hier bemerken, daß die behütende Maxime auch zu früh in Ausübung gebracht | werden kann, und dann unnütze Mühe ist. Denn jeder Reiz hat eine gewisse Periode, womit er anfängt, wirksam zu sein. So lange er das nicht ist, können auch die nachtheiligen Einwirkungen nicht von Schaden sein, und das ängstliche Verfahren drückt den Zögling nur nieder. Eine andere Betrachtung dieser Maxime ist folgende. Das ganze abzuwehrende Unschöne ist dem Zögling nicht zur Wahrnehmung gekommen, und ist stets im Gegensatz mit dem Schönen, und sagen wir: wir wollen die nachtheiligen Einwirkungen abwehren, so heißt das: wir wollen verhindern, daß jener Gegensatz auf eine anschauliche Weise zum Bewußtsein kommt. Diese Bewußtlosigkeit in Bezug auf den Gegensatz zwischen gut und schlecht, ist Unschuld. Das Etymon deutet zwar nicht darauf hin, aber der Sprachgebrauch fixirt es dafür, und dieser Ausdruck gilt von allem, auch vom Eigennutz. Die Unschuld soll also bewahrt werden. Daß es eine Periode giebt für jedes Gebiet, wo diese Unschuld nothwendig ist, und es ein Zeichen der Corruption ist, wenn sie die Unschuld verloren hat, ist offenbar. Hierbei kommt es aber auf zwei Puncte an. 1) können wir den Fall annehmen, daß das Unschöne auch ohne äußere Eindrücke sich im Menschen selbst erzeugt? Wir müssen diesen Fall annehmen, denn sonst ließe es sich nicht einsehen, wie das Unschöne reizen könnte, wenn nicht im Menschen die Anlockung dazu läge. Sonst könnten wir auch nicht | erklären, wie das Unschöne in denen entstanden sei, die wir von der Jugend ausschließen wollen. Angenommen, Unschönes wäre im Zögling, so hat er keine Unschuld mehr, wenn er auch den Gegensatz von Gutem und Schlechtem noch 42 Gutem und Schlechtem] Guten und Schlechten

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nicht in sich hat. Seine Bewußtlosigkeit stimmt hier mit dem Schlechten überein, und dann ist es Unwissenheit die aufgehoben werden muß, und dann muß die Erziehung den Gegensatz selbst zur Erkenntniß bringen, um am Unschönen Mißfallen zu erregen, und den Geist auf das Schöne zu lenken. Sollen wir aber dann die Reize entfernen? Nein! Selbst wenn der Mensch in wahrer Unschuld ist, nicht. Denn die abwehrende Sorge ist dann freilich in manchem Stück überflüssig; ist aber eine Gattung von Unschönem herausgebrochen, so wissen wir, daß die Neigung dazu da ist, und nun muß man ihr entgegen wirken durch Aufregung des entgegengesetzten Guten, welches mit dem Mißfallen am Unschönen anfängt. Aber wenn dieses eine gewisse Kraft erlangt hat, ist es gefährlich, das Innere noch durch äußere Reize verstärken zu lassen, und in Bezug hierauf ist die behütende Maxime strenger fortzusetzen. – Der zweite Punct bezieht sich auf die vollendete Erziehung. Dann soll der Mensch selbstthätig in der Gesellschaft auftreten, und | überall Rechtes und Gutes thun. Gesetzt auch, das Unschöne wäre nicht von Innen heraus gekommen, könnte es rathsam sein, die Unschuld bis auf diesen Punct erhalten zu wollen? Nein, denn die sittliche Thätigkeit des Menschen in jedem Gebiete setzt die Kenntniß des Bösen voraus, und er muß sie mitbringen. Die Jugend, in irgend einer Beziehung so lange zu isoliren von der Kenntniß des Bösen, bis sie in der Gesellschaft auftritt, ist gefährlich, weil sie das nicht kennt, dem sie entgegen wirken soll, und es nicht richtig zu behandeln weiß. Offenbar ist hier ein großer Unterschied zwischen beiden Geschlechtern. Wir verlangen eine längere Unschuld von der weiblichen Jugend als von der männlichen, und wir sehen in Bezug auf die weibliche Jugend keine Gefahr von einer lange fortgesetzten Unschuld. Worinn liegt das? Dem Manne steht immer in einer Beziehung ein herrschendes und forschendes Leben bevor, – in enger Bedeutung zwar nur gewissen Classen, aber in weiterm Sinne allen. Denn in jedem bürgerlichen Leben ist Herrschen und Gehorchen stets vertheilt, und jeder nimmt am Herrschen Theil. Eben so ist das Forschen allgemeiner Beruf. Denn der Antheil, den jeder an dem allgemeinen Beruf nehmen muß, die Erde zu beherrschen und zu bilden, erfordert ein klares Bewußtsein über die Verhältnisse, und ohne dieses kann der | Mann nicht bestehen. Er kann es aber nicht haben, wenn er nicht den Gegensatz zwischen Gutem und Schlechtem hat, und diesen bis in alle Elemente verfolgen kann. Die Kenntniß zwischen Gutem und Schlechtem 1 Bewußtlosigkeit] bewußtlosigkeit 7 manchem] manchen Unschönen 31 jedem] jeden 38 Schlechtem] Schlechten Kenntnisse 39 Gutem und Schlechtem] Guten und Schlechten

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ist also zum Herrschen nothwendig. Denken wir uns den Endpunct der Erziehung als den Anfangspunct einer selbstständigen Reihe, und denken wir uns dies in Uebergängen und Abschnitten, so müssen wir postuliren, daß er die Kenntniß des Guten und Bösen, welches in seinen Verhältnissen vorkommen kann, mitbringe. Mit den Weibern verhält es sich anders. Das öffentliche Leben ist nicht ihr Element, sondern sie haben nur einen indirecten Einfluß darauf durch die freie Geselligkeit im häuslichen Leben. Dieses ist ihr Centrum, und in diesem sollen sie eigentlich das reine Wesen der Liebe repräsentiren, und in jenem das der Schönheit. Dies ist etwas anderes, als das Herrschen und Forschen, denn die Liebe herrscht nicht, und die Frauen sollen nur durch die Kraft der Liebe wirken, die Jugend lieben, und das Ganze zusammenhalten. Da ist keine Kenntniß über jenen Gegensatz, sondern nur das reine Gefühl nöthig, welches, ohne durch das klare Bewußtsein hindurch zu gehn, in Thätigkeit übergeht. Eben so ist im geselligen Leben bei den Weibern stets das Vorherrschende die Seite des Gefühls, und wenn wir ihnen eine genauere Menschenkenntniß zuschreiben, so ist die Form doch | eine andere als bei den Männern und eine Wirkung des Gefühls und dunkeln Instinkts. Die Kräfte, die sie brauchen, und womit sie wirken sollen, bedürfen des bestimmten Bewußtseins, worin die Form jenes Gegensatzes aufgenommen ist, gar nicht, und selbst wenn sie bildend auftreten sollen, ist es nicht nöthig, daß sie die Unschuld verloren haben, sondern eher, als bis der Gegensatz ihnen selbst Gegenstand wird, braucht er ihnen nicht ins Bewußtsein zu kommen. Eine andere dieser analoge Differenz ist die Differenz der Temperamente, und nach dieser bekommt die pädagogische Maxime, zu bewahren, eine verschiedene Auslegung. Dieser Unterschied besteht aus zwei Gegensätzen, der Receptivität und Spontaneität, und es giebt ein Hervortreten der einen oder der andern. Der andere Gegensatz ist der einer relativ gleichförmigen oder ungleichförmigen Beweglichkeit, und diese beiden Gegensätze zusammen bestimmen die vier Temperamente. Nun ist offenbar, daß die hervortretende Spontaneität, die eine zurücktretende Receptivität und einen Mangel an Empfindlichkeit voraussetzt, wenig zugänglich ist für äußere Reize, und die Behütung weniger nothwendig macht, wogegen sie bei vorherrschender Receptivität nothwendiger ist. Denn was der innern Neigung des Menschen zum Unschönen entgegen wirken soll, muß selbst Spontaneität werden, sonst macht es zwar, was man häufig findet, daß er das Unschöne mit | Schmerz betrachtet, aber daß es doch wieder hervorgeht. Hier 3 in] im

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ist also das gegenwirkende Princip schwerer hervorzurufen; desto größer ist die Gefahr von Reizen und desto nothwendiger die Maxime der Behütung. Dies gilt noch mehr da, wo die Receptivität ungleichförmig beweglich ist, denn da kann leicht der gefährliche Reiz in einen erregten Moment fallen, und die Bestrebung des Guten in die unerregten Momente, wie dies überhaupt bei der gleichförmigen Spontaneität der Fall ist, die am wenigsten Behütung braucht. Denn in der ungleichförmigen kann im Zurücktreten der Spontaneität die Receptivität überwiegender sein. Also zuerst nach Maßgabe der Geschlechter und dann der Temperamente hat diese Nothwendigkeit gefährliche Reize abzuwehren, einen verschiedenen Umfang, muß aber abnehmen in dem Maße, worinn sich die Selbstthätigkeit des Guten fixirt, sonst ist sie nur nachtheilige Beschränktheit, welche den Menschen im thätigen Leben unvorbereitet findet. In der Differenz der Geschlechter und Temperamente ist übrigens der eigenthümliche Sitz in Beziehung auf das Unschöne.

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Die Maxime des Bewahrens kommt in der Praxis in vielen Widerstreit mit andern Theilen der Erziehung. Durch jenes Isoliren isolirt man die Kinder auch von vielem Nützlichen, und die richtige Anwendung desselben hängt oft nur vom richtigen Gefühl ab. In Deutschland z. B. stehen wir jetzt auf einem Puncte, wo die Trennung der Stände abnimmt; damit hangt zusammen, daß auch für | die Jugend ein größeres Zusammentreten da ist, und die Jugend der höhern Stände weit mehr an der öffentlichen Erziehung Theil nimmt. Dagegen kann eingewandt werden, daß man bei diesem Verfahren nicht dafür stehen kann, daß nicht die besser Erzogenen an den schlechter Erzogenen schädliches Unschönes sehen, und dies ist auch wahr, und so muß man dieser Besorgniß etwas einräumen. Aber von welchen Vortheilen wird auch die Jugend abgehalten, wenn man sie isolirt? Da scheint denn doch das Mittel ärger zu sein als das Uebel. Eine bestimmte Regel giebt es hier nicht, denn die Jugend zwar zurückzuhalten von der öffentlichen Erziehung, ihr aber doch die Vortheile derselben zu ersetzen, ist unmöglich, und es muß hier ein besserer Zustand der Dinge eintreten. Wir können hier nur von einem besondern Gesichtspunkt aus Regeln geben die aus der Combination mit dem Uebrigen hervorgehen werden. 2 von] vor

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Wir kommen zweitens zum Verfahren der Erziehung in Bezug auf zufällige Einwirkungen, welche die natürliche Entwickelung der Persönlichkeit hemmen. Hier ist die Frage, welche von beiden Maximen die rechte sei, entweder zu bewahren, oder nicht bewahrend die zufälligen Einwirkungen gewähren lassen, und sie selbst gebrauchen, um das Rechte hervorzurufen. Das einzelne Leben ist überall eine bestimmte Kraft, die in einem Naturzusammenhange mit den übrigen steht. Dieser aber hat zwei Seiten, er ist fördernd und hemmend. Das letzte erscheint als ein Uebel, aber es ist offenbar eben so wesentlich zum Bestehn | des einzelnen Lebens wie das Fördernde. Alles ist uns nur in diesem Gegensatze gegeben; er tritt aber erst heraus, wo das Selbstbewußtsein erwacht, denn dann erst fühlt man die Hemmung. Förderte alles den Menschen, so würde er nicht auf eine bestimmte Weise sich seiner selbst bewußt werden können, denn er könnte in sich nicht unterscheiden, was aus seiner Lebenskraft hervorging, und was von außen kam. So sind wir z. B. im vegetabilischen Leben nicht so weit zu entscheiden (indem im Samen eine Kraft ist, die Pflanze zu entwickeln, weil erst fördernde Umstände hinzukommen müssen), ob etwa die Atmosphäre jene Kraft zum Ausbruche bringt, oder ob das Leben schon im Samen liegt. So würden wir uns mit unserm Leben befinden, wenn uns alles förderte. Dasselbe was so allgemein wahr ist, gilt auch vom Verhältnisse des einzelnen zum gemeinsamen menschlichen Leben. Wenn dieses überall den einzelnen förderte, so würde er nicht bestimmt das gemeinsame und einzelne Leben unterscheiden können, und der Gegensatz zwischen dem einzelnen und gemeinsamen Leben, der stets hemmend ist, ist nothwendig, um das Bewußtsein zu erwecken. Daher kann in der absoluten Democratie und Despotie das Gefühl der persönlichen Freiheit nicht heraustreten, weil keine Differenz zwischen dem einzelnen und dem Ganzen gesetzt ist. (Eben daher kommt das Gefühl des Fatums) In andern Regierungsformen ist jeder selbst das Ganze, und nur in dem Maße als Streit entsteht, erwacht das | Gefühl der persönlichen Freiheit. Der höchste Punct der griechischen Blüthe war stets dann, wenn das gemeinsame Leben am meisten bedroht war. Was daher das Bewußtsein der eigenthümlichen Lebenskraft fördert, das fördert diese selbst, und so sind die Hemmungen nothwendig. Dies gilt am meisten in der Zeit, wo sie sich enthalten soll; also scheint es, soll man den Hemmungen freien Lauf lassen, und sie nicht abhalten, damit der Mensch zum Bewußtsein komme. Die äußern Lebenselemente sind das erstre, und die Jugend bekommt wenig Kraft, wenn sie nicht Hemmungen findet. 20 unserm] unsern

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Daher hat man die Theorie des Abhärtens aufgestellt, das dem Leben eine größere innere Consistenz geben soll, und wozu die Form der Gegenwirkung nöthig ist. Aber es ist nicht zu leugnen, daß es hier Extreme giebt, indem, was wir verweichlichen nennen, als ein Extrem erscheint, und es auch im Abhärten ein solches giebt. Folglich muß jene Maxime ihre Grenzen haben. Diese lassen sich nur danach bestimmen, je nachdem die Kraft eine Gegenwirkung leisten kann. Wenn der Mensch geboren wird, so ist sein Leben noch gar nicht isolirt. Hier könnte der Uebergang aus dem sichern Zustande vor der Geburt in einen solchen, wo man das Kind den äußern Elementen aussetzt, das Leben tödten, weil es noch keine Kraft hat, um sie den äußern Einwirkungen entgegenstellen zu können; es muß | also erst isolirt werden, und die Gewöhnung an die hemmenden Einwirkungen muß eine gewisse Stetigkeit haben, wobei wieder keine Grenze ist. Fast scheint die Ausführung dieser Maxime hemmende Einwirkungen selbst zu veranstalten. Denn das Kind ist nach der Geburt nur in einem größern Raum, wo es auch Sicherheit findet; bringen wir es aber an die freie Luft, so veranstalten wir selbst Hemmungen. Dies können wir auf das intellectuelle Gebiet anwenden, welches hier keinen Gegensatz bildet, sondern die fortgesetzte Lebensfunction der animalischen ist. Alles Hemmende giebt den Kindern das Gefühl einer auf sie eindringenden Macht, und alles Fördernde giebt ihnen das Gefühl der Liebe. Beides ist eigentlich eins und dasselbe. Wollen wir hier sagen: man muß das Leben der Erwachsenen die Kinder oft als eine bloße Macht fühlen lassen, damit sie sich zur Gegenwirkung gewöhnen, so würde dies nicht das Richtige sein; auch ist dies nicht in der Analogie mit der leiblichen Behandlung, sondern die Analogie ist nur scheinbar. Daß wir das Kind nicht im Hause halten können, ist natürlich, nicht nur nicht, wenn wir es hemmenden Einwirkungen aussetzen wollen, sondern auch nicht, wenn es sich auch nur an der Welt sättigen soll. Es wird nie nöthig sein, daß man Hemmungen ausdrücklich veranstalte, sondern sie finden sich von selbst, und da soll man sie nicht scheuen, weil die Lebenskraft dadurch hervorgerufen und | gestärkt wird. Ein 1 Die Bedeutung der Abhärtung nicht nur als Teil der körperlichen, sondern auch der moralischen Erziehung wird in der Neuzeit wohl am frühesten von John Locke in den ersten Paragraphen seiner „Some thoughts concerning education“ (1693) formuliert. Das gezielte Herbeiführen von Hunger, Schmerz, ja sogar Krankheit als legitimem Mittel einer natürlichen Erziehung hat danach Rousseau in seinem „Émile“ ausführlich diskutiert (Collection complète 7–10; Œuvres complètes 4,239–877). Spätere Autoren wie die Philanthropen oder Immanuel Kant, bei denen Abhärtung ebenfalls fester Bestandteil des Erziehungsprogramms ist, haben mit Rousseau und Locke die Annahme gemeinsam, Abhärtung führe nicht nur zu größerer körperlicher Gesundheit, sondern diene durch die Entwicklung von Selbstdisziplin auch der Charakterbildung.

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intellectueller Druck soll nie von der Erziehung ausgehen in der Absicht, die Kinder zur Gegenwirkung aufzufordern, und eben so verkehrt ist es, die Kinder zu tyrannisiren, um in ihnen das rechte Gefühl der Freiheit zu erwecken. Dadurch würde der höhere Zusammenhang des Lebens gestört werden, denn die absichtlichen Einwirkungen der Erwachsenen sollen die Kinder nur als hülfreiche Kraft fühlen, und die Erwachsenen sollen sich ungeachtet des erwachenden Gefühls der Freiheit ihnen hingeben. Das andre Extrem ist die Maxime der Behütung vor allen Berührungen mit Menschen, die einen Druck gegen die Kinder ausüben könnten. Hiervon kann auch nur Nachtheil entstehen, denn nach der Erziehung findet es sich von selbst, daß einer auf den andern drückt. Hat man also die Kinder früher davor bewahrt, so kommen sie unvorbereitet in diesen Zustand, und wissen sich wenig in der Welt zurecht zu finden. Jede Gewalt ist freilich etwas Falsches und Unvollkommnes, denn es soll keine nöthig sein bei einem vollkommenen Zustande des gemeinsamen Lebens, wo das Gesetz, wie auch in den einzelnen Verhältnissen, wo die Liebe herrschen soll. Diese Unvollkommenheit der Gewalt ist aber da, und kommt auch ins Gebiet der Erziehung hinein. Die Gewalt ist stets hemmend und störend, aber eben darum ruft sie die Gegenwirkung hervor, und dies scheint ein Verhältniß | der Gleichheit vorauszusetzen. Die Erfahrung beweist auch, daß, wo in einem ungleichen Verhältniße Gewalt geübt wird, der Druck nicht die vortheilhafte Wirkung hervorbringt, das schwächere Leben zu stärken, sondern er schüchtert es ein. Die zarte Pflanze wächst nicht besser in schlechter Witterung, sondern sie verkümmert. Wo bei großer Ungleichheit der Rechte die Höhern Gewalt üben, da werden die minder Berechtigten eingeschüchtert, bis es den Grad erreicht, wo die entgegengesetzte Gewalt heraus bricht. Das Verhältniß der Kinder zu den Erwachsenen ist stets ein ungleiches, und Gewalt ist hier stets etwas unvollkommenes, und so könnte man die Maxime der Bewahrung rechtfertigen. Aber es kommt hier darauf an in welchem Maße die positiven Einwirkungen der Erziehung selbst fördernd sind; sind sie es im rechten Maße, so geben sie dem Kinde das Gefühl, es sei ein Theil des Ganzen, wovon es eingeschlossen wird, und dies stellt die Ungleichheit wieder her. Fühlt das Kind in sich die Aeltern beleidigt, so wird es nicht mehr von der Gewalt erdrückt werden, und dieses Gefühl muß im Kinde erweckt werden, denn es ist der Anfang des Gemeingeistes. Dann wird das Kind nicht bloß sich, sondern ein gemeinsames Leben in sich fühlen, und in dem Maße es dann die Gegen28 es] er

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wirkung gegen die Gewalt äußert, wird das eigne Leben desselben concentrirter und stärker werden, desto leichter wird sich seine individuelle Eigenthümlichkeit entwickeln. |

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Indem wir die ganze Erziehung im Allgemeinen betrachten, und sie so ansehn, daß sie nur Unterstützung und Ergänzung dessen ist, was ohne Erziehung von selbst geschehen würde, und auf der andern Seite Gegenwirkung gegen die ihrer Idee feindseligen äußern Einwirkungen: haben wir so zuerst eine Seite der Gegenwirkung betrachtet, und gesehen, wie in einer gewissen Beziehung man suchen müsse die nachtheiligen Einwirkungen selbst zu entfernen, wie man dies aber in einer andern nicht dürfe, sondern sie selbst zur Hervorrufung des Richtigen brauchen könne. Dann hatten wir den Begriff des Hemmenden und Drückenden erwogen, und gesehn, wie sich dies zum Vorigen verhielt. Indem aber diese Maximen nur im Allgemeinen bestimmt werden können, und die Anwendung im Einzelnen dem Gefühl überlassen bleiben muß, so können sie bisweilen, falsch angewendet, etwas im Zögling hervorrufen, was der Idee der Erziehung zuwider läuft. Was wird denn nun dagegen für ein Widerstand geleistet werden müssen, wenn wirklich im Zögling etwas der Idee Widerstreitendes entstanden ist? Doch hierzu kommt noch eine andre Betrachtung. Es würde gar keine nachtheiligen Einwirkungen d. h. Verleitungen von der rechten Form der Entwickelung geben, wenn nicht im Menschen diesem Verkehrten etwas entgegen käme, was nur durch jene Einwirkungen beschleunigt und hervor|gerufen wird. Daß dieses ist, geht schon daraus hervor, daß von andern solche Einwirkungen geschehen, welche im Menschen das Verkehrte hervorbringen, was wir durchaus nicht allein als Werk andrer oder als Produkt der äußern Natur annehmen können, der Ursprung des Unschönen liegt im Menschen selbst. Es ist also hier gleichviel, ob das Unschöne und Verkehrte aus nachtheiligen Einwirkungen oder aus dem Menschen selbst hervorgegangen ist. Zuerst muß man einige Einwirkungen abhalten, andre in eine bessre Richtung leiten, dann kommt die γένεσις des Unschönen aus dem Innern hinzu, und wie wird dagegen gewirkt werden sollen? Aber was ist denn nun eigentlich das der Idee der Erziehung zuwider laufende? Die religiösen und sittlichen Principien sind nicht überall in der menschlichen Gemeinschaft dieselben, und wir können uns an sie allein also nicht halten. Wir betrachten daher die Sache aus unserm 38 unserm] unsern

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bestimmten Gesichtspuncte. Soll die Erziehung nicht anders als in jedem Menschen die menschliche Natur so viel wie möglich entwickeln in der Gemeinschaft und in der Persönlichkeit, so liegt darin eigentlich die Voraussetzung, daß alles, was sich in dem Menschen bildet, an und für sich gut sei. Denn es kann sich nichts aus ihm entwickeln, was nicht die menschliche Natur mit sich bringt. Dies widerspricht aber der allgemeinen Erfahrung und Praxis, und wir müßten daher hier nach einem medius terminus suchen. Wenn wir annehmen | alles, was sich aus der menschlichen Natur entwickelt, sei an und für sich gut, so betrachten wir es nur aus dem Gesichtspuncte eines einfachen Elementes der menschlichen Natur. Z. B. die Unmäßigkeit oder Unkeuschheit. Beides ist etwas Böses und der Erziehung zuwider, aber simpliciter betrachtet, geht das eine als einfaches Element angesehn, zurück auf Erweckung des Geschlechtstriebes, was an und für sich ein Gutes ist, das andre auf den Ernährungsproceß, auf Erweckung des Hungers und des Geschmacks. Das Resultat ist dennoch aber böse, und worinn liegt hier nun das Böse? Eben so ist es mit der Angewohnheit übler Stellungen bei Kindern. Daß einer jede Bewegung hervorbringen kann, ist nothwendig; wenn sie aber etwas Mechanisches wird, und nicht natürlich bleibt, so ist eben dies, daß sie sich als mechanisch festgesetzt hat, das Böse. Denn nichts Mechanisches soll sich festsetzen im Menschen, als was zum natürlichen Acte des Willens gehört. Das Böse in dem andern Beispiel liegt im Verhältniße und dann darinn, daß diese physische Seite von der ethischen losgerissen ist, denn simpliciter ist nichts Böse, sondern nur im Verhältnisse zu anderm. Wie sollen wir nun dieses Verhältniß construiren, um das der Erziehung feindselige zu finden? Hier haben wir kein andres Mittel, als daß wir das Manchfaltige uns auf wenige Gegensätze zurückführen. Denn | fragen wir, welches die Ursache sei, warum man manche Erscheinungen im Leben als verkehrt ansieht, so tritt hier gewöhnlich zuerst der Gegensatz der niedern und höhern Vermögen des Menschen auf. Das Verkehrte besteht darin, wenn das Verhältniß der Unterordnung umgekehrt oder aufgelöst ist. Darin liegt, daß die niedern Vermögen an und für sich gut sind. Aber wir sehen leicht, daß dieser Gegensatz nicht ausreicht. Denn wenn ein Mensch von etwas Verkehrtem oder Bösem keine Vorstellung hat, so rechnen wir es ihm 4 in] an

11 Natur. Z. B.] Natur, z. B.

8 Der medius terminus (Mittelbegriff) übernimmt in der aristotelischen Logik die Funktion der Verknüpfung von Allsatz und Schlusssatz; vgl. Aristoteles: Erste Analytik 1 41b–42a; Opera 1,46–47; ed. W. D. Ross, Oxford 1964, S. 43–45

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auch nicht zu; wo kein Gesetz, da auch keine Sünde. Diese Vorstellungen, welche Gesetze aussprechen, bilden den menschlichen Verstand, und die Vorstellungen, in so fern sie in That ausgehn, den menschlichen Willen. Irgend eine Störung des Verhältnisses der niedern und höhern Vermögen ist doch noch nicht böse, wenn nicht im Menschen selbst hinzukommt ein Widerstreit des Verstandes und Willens. Allem demjenigen, was zu dem niedern Vermögen gehört dürfen wir keinen Widerstand entgegensetzen, weil alles nothwendig ist, und auch die Entwickelung der höhern Vermögen unnöthig sein würde bei Zurückhaltung der niedern. Denn sonst hätten sie keine Organe. Da ist der Ort der Gegenwirkung also nicht. Denn das Mißverhältniß kann nur entstehn, wenn die höhern Vermögen in der Entwickelung zurückbleiben. Da aber muß die Erziehung unterstützen, und nicht entgegen wirken. | Entwickeln sich die niedern Vermögen früher, als die höhern durch die Form des Lebens z. B. die Nahrung, so liegt der Fehler in der Anordnung des Lebens, also außerhalb der Erziehung, in so fern sie Gegenwirkung sein soll. Diese bezieht sich ja nur auf den andern Gegensatz. Ist denn aber der Wille das Thätige und der Verstand das Leidende? In einem gewissen Sinne ist dies falsch, denn das Denken und Vorstellen ist eben so sehr eine Thätigkeit wie das Handeln nach außen. Aber gehen wir einmal von der Möglichkeit eines solchen Widerspruchs aus. Was ein Mensch thut, ohne daß sich in seiner Vorstellung etwas dagegen regt im Gefühl oder im Verstande, das kann man ihm selbst nicht als verkehrt anrechnen, sondern es wird verkehrt, wenn man jene Vorstellungen in ihm erregt, und dann doch die Disharmonie stehen bleibt. Denken wir uns also, man könne etwas in seiner Vorstellung erregen, was mit seinem Willen in Widerspruch steht, so fragen wir: ist dies seine eigne Production? Nein, denn Verstand und Wille können an und für sich nicht in Widerspruch stehen. Der Widerspruch besteht nur, wenn man die Vorstellung als ein Empfangenes, Leidentliches ansieht. Was in seiner Vorstellung seiner Handlungsweise widerspricht, ist eben deswegen etwas Fremdes und Empfangenes. Der Gegensatz reducirt sich also auf den gewissen [zwischen] Selbstthätigkeit und Receptivität. Wenn der Wille und das | Gefühl im Widerspruch sind, so können Urtheile des Gefühls nur unter der Form der Receptivität angesehen werden, als empfangen und nicht von innen producirt, sonst könnte es mit der Thätigkeit, die von 24 ihm] ihn 1 Vgl. Röm 7,8 und Röm 5,13: „Denn die Sünde war wohl in der Welt, ehe das Gesetz kam; aber wo kein Gesetz ist, da wird Sünde nicht angerechnet.“ 10 Vgl. SW III/9, S. 735: „und ohne die Entwikklung der niederen Vermögen würden die höheren müßig sein; jene sind Organe dieser.“

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innen producirt wird, nicht im Widerspruch stehen. Das Niedere darf nicht reprimirt werden, sondern man muß das Höhere unterstützen, denn jenes gehört der menschlichen Natur an. Allerdings ist jener Widerspruch zwischen Receptivität und Spontaneität etwas Verkehrtes. Beides soll eins sein. Dies ist auch ein Mißverhältniß zwischen diesen beiden Formen des geistigen Daseins. Aber ist hier die Gegenwirkung anzubringen?

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Denken wir uns, es würde sich das Verhältniß bei weiterer Ausbildung wieder ins Gleichgewicht bringen, oder es besteht in jedem ein bestimmtes Verhältniß zwischen beiden, und dies gehöre mit zu seiner Eigenthümlichkeit, so ist beides wahr, das erste in so fern als nicht alle Functionen sich gleichmäßig entwickeln, das zweite wegen der Verschiedenheit der Temperamente. In wie fern ein solches Verhältniß zum Eigenthümlichen des Menschen gehört, ist es nicht einmal eine pädagogische Aufgabe, dies zu ändern. Denn das fiele in das Gebiet der Willkühr. Alle Manchfaltigkeiten, welche durch die Mischung der Functionen möglich und der menschlichen Natur gemäß sind, | sollen bestehen; in der Verbindung mit dem allgemeinen Leben findet sich die nöthige Ergänzung von selbst. Die Erziehung hat also kein Recht, diese persönlichen Constitutionen zu ändern. Jeder soll sie zur höchsten Vollendung bringen, so wie sie in besonderer Art die menschliche Natur ausspricht. Von dem ersten Gesichtspuncte aus, daß die eine das andre überwiegt, sollte man denken, man müßte hier entgegen wirken. Allein dies wäre wieder Unterdrückung eines Natürlichen. Daher haben viele dieses in der Theorie ausgesprochen: man müsse das Böse sich selbst überlassen, und nur auf die Hervorbringung jener Functionen hinarbeiten, durch deren Zurückbleiben das Böse entstanden ist. So müsse man die Entwickelung des Lebens unterstützen; eine eigentliche Gegenwirkung aber sei nicht nöthig. Allein nun treten hier zwei Puncte ein, die wir nicht übersehen können. 1) Jede einzelne Handlung ist nicht etwas für sich, so daß man sie isolirt betrachten könnte, und sie spurlos aufhört. Wäre dies, so wäre jene Theorie richtig. Denn die einzelnen Verkehrtheiten würden nachher durch andre Handlungen verdrängt werden. Dies ist aber nicht der Fall, sondern 16 Gebiet] Gebiete 19–20 Vgl. SW III/9, S. 737: „in der Verbindung mit dem gemeinsamen Leben findet sich die nöthige Ergänzung von selbst.“

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es giebt eine Gewöhnung, d. h. eine durch die Wiederholung selbst zunehmende Leichtigkeit ge|wisser Handlungen, wodurch sie am Ende den Character des Willkührlichen verlieren, und mechanisch erfolgen. Diese Wirkung ist vorzüglich in den niedern Functionen der menschlichen Seele. Wenn nun in der Folge das richtige Verhältniß sich entwickelt, so kann dies nicht zur Darstellung gelangen, sondern findet ein Hinderniß in der Gewöhnung, welches nicht wäre, wenn man früher auch nur die äußern Handlungen verhindert hätte. Indem man so das Unschöne sich selbst überläßt, so erschwert man für die Folge die äußere Darstellung des richtigen Verhältnisses, und bereitet dem Menschen für die Zeit seiner richtigen Einsicht einen Kampf mit dem Mechanismus in sich vor. Daher entsteht die Aufgabe, Gegenwirkungen anzubringen, die aber keinen andern Zweck haben dürfen, als den Ausbruch der Handlungen zu verhindern, in denen sich das Unschöne kund thut. 2) So wenig die Handlung isolirt ist, sondern in die ganze Entwickelung eingreift, eben so wenig ist der Mensch selbst isolirt, sondern beständig im Zusammenhange mit andern. Alles Unschöne im einzelnen Menschen hat doch einen störenden Einfluß auf das gemeinsame Leben, dem er angehört, denn das, wodurch der Mensch mit sich selbst in Harmonie steht, ist auch das, wodurch er mit dem gemeinsamen | Leben harmonirt. Die Jugend ist allerdings für das öffentliche Leben Null, aber in Beziehung auf die Störung des gemeinsamen Lebens ist sie es nicht, und sei es im häuslichen Leben, oder in der öffentlichen Erziehung, so wird alles Verkehrte nachtheilig wirken; also auch um des gemeinsamen Lebens willen müssen hier Gegenwirkungen angebracht werden, aber diese haben wieder keinen andern Zweck, als die einzelnen störenden Handlungen zu verhindern. Dies sind die eigentlichen Arten von Gegenwirkungen, die hier Statt haben. Die erste Art ist das, was man eigentlich Zucht nennt, die andre Art ist die St r af e . Aber nur in der ersten ist ein pädagogisches Element. Strafen sind nichts Pädagogisches; sie gehören dem gemeinsamen Leben an, und haben hier ihren Ursprung und Zweck. Dieser Punct liegt am meisten an der Grenze unserer Untersuchung, und gehört nur mittelbar in unsre Theorie. Wenn wir auf die Jugend eine Gegenwirkung ausüben, sie zu hindern, etwas zu thun, so ist dies ein Druck, eine Hemmung, und in wie fern der Zweck derselben nicht im Zöglinge selbst liegt, so ist dies nichts Pädagogisches. Ein solcher Druck ist nicht dasjenige, wofür man die Jugend behüten müsse, sondern man muß sie gewähren lassen, in dem Maße als sich Widerstandskraft | in ihr entwickelt. Vor Strafen also dürfen wir die Jugend nicht bewahren, weil sie aus dem gemeinschaftlichen Leben kommen, 11 dem] den

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aber das Maß ist hier nicht anzuwenden, da die Jugend keinen Widerstand gegen die Strafe äußern soll. Wenn irgendeine als Strafe der Jugend zugefügte Unannehmlichkeit ihr auf einem andern Wege zustößt, und sie sich darum nicht stören läßt in Verfolgung ihrer Zwecke, so freuen wir uns darüber. Aber strafen wir damit, so wollen wir die Handlung dadurch verhindern. Dies ist ein Widerspruch, vor dem man sich hüten muß. Verachtet die Jugend körperliche Schmerzen, so thun wir nicht weise, sie als Strafe anzuwenden. Aber wir finden dasselbe bei allen Gegenwirkungen. Strafen machen die Jugend weichlich und feig, und dies ist dem Hauptzweck der Erziehung zuwider. Nun aber kann die Gegenwirkung doch nur an einem sinnlichen Theile angebracht werden, z. B. durch Entbehrung, aber auch dies widerstreitet unserm Zwecke, denn auch diese Entbehrung soll der Mensch verachten. Daher ist man auf ein nicht sinnliches Gebiet gegangen, und hat alle Strafe auf dem Ehrtrieb angebracht. Allein auch diesem Triebe soll der Mensch nicht absolut nachgeben, sondern | sich durch eine Gegenwirkung gegen denselben nicht stören lassen. Was sollte sonst aus ihr werden, so lange die öffentliche Meinung über das Gute und Böse noch so schwankend und verschieden ist? Diese allgemeine Meinung soll immerfort gebildet werden durch einzelne. Dadurch kommen die Einzelnen in Widerspruch, mit der allgemeinen Meinung, und werden für Schwärmer und Phantasten gehalten, bis sich die Meinung geändert hat. Wollte der Mensch also jedem Druck gegen den Ehrtrieb nachgeben, so wäre keine Fortbildung der Welt möglich. Menschen, die nur mechanisch mit der Gemeinschaft zusammenhangen, können ohne Ehrtrieb sein. Denkt man sich die Gesellschaft aber ohne solche Classe, aber solche dagegen, die durch ihre ganze Bildung angehalten ist, daß sie einen fortbildenden Einfluß auf das Ganze üben könne, so hat diese niemals nöthig, dem Ehrtrieb entgegen zu handeln, weil sie nie in Widerspruch mit der öffentlichen Meinung kommt. Aber so bestimmt sind die Grenzen niemals gezogen. In welchen Ort soll sich nun die Strafe flüchten? Man hat gesagt, man müsse die Gegenwirkung anbringen auf dem Thätigkeitstrieb, und durch Hemmung der Action den Menschen strafen, und nun wird man freilich jenen frühern Einwurf nicht machen können, daß | der Mensch sich auch darüber erheben soll, und in der Unthätigkeit seine Befriedigung suchen. Allein wir können den Menschen nie ganz außer Thätigkeit setzen. Auch die größeste Langeweile kann den Thätigkeitstrieb im Innern nicht hemmen, ja er kann eine Befriedigung darin finden, sich an der innern Thätigkeit zu entschädigen, und die Strafe zu verachten. Dann würde die Strafe die Folge haben, daß sie eine 23 jedem] jeden

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Gewöhnung hervorbringt, und zwar eine für das öffentliche Leben sehr nachtheilige, nämlich sich mit der innern Thätigkeit zu begnügen. Daher ist auch diese Strafform nicht besser als jede andre, und es scheint so, daß die Strafe stets ein Entgegenhandeln gegen den Zweck der Erziehung sei, daß es gar keine Strafe geben müsse, und diese bloß in die Theorie des gemeinsamen Lebens gehöre, und daß man auf eine andere Weise bei der Jugend die Störung des gemeinsamen Lebens verhindern müsse. Gäbe es eine solche Weise, dann würden wir mit beiden Händen zugreifen. Aber wir dürfen auf ihre Entdeckung nicht warten, sondern wenn die Jugend jedoch eingreift in das öffentliche Leben, so kann man der Strafe nicht entübrigt sein, und die Aufgabe bleibt also immer, wie muß die Strafe eingerichtet werden, um so wenig wie möglich nachtheilig zu wirken für den Zweck der Erziehung?

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Kann man nun die Strafe aus dem Gebiete | der Erziehung gänzlich verbannen? Sie geht nicht aus dem Interesse der Erziehung hervor; es wird dadurch nichts erreicht, was die Erziehung beabsichtigt, und sie hat an und für sich keinen Werth. Sie wird nur durch andre Bewegungsgründe hervorgelockt, und soll die Erziehung befördern, aber nicht hemmen. Aus dem bisherigen sahen wir, daß wir’s nicht in unsrer Gewalt haben, daß die Strafe nicht gegen das Interesse der Erziehung wirke. Aber wo sollen wir denn die Gegenwirkung gegen das Unschöne und Unrichtige anbringen? An der sittlichen Richtung im Menschen selbst. Da nun diese im Selbstbewußtsein auch unter der Form des Gefühls ist, und am Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen Theil nimmt, so muß die Gegenwirkung angebracht werden unter der Form des eigenen sittlichen Unwillens an dem, was unrecht ist. Hier ist Folgendes zu bemerken. Wenn man eine solche Gegenwirkung anbringen kann, so hört sie auch auf, bloße Strafe zu sein, denn das eigentliche sittliche Gefühl wird nicht durch die äußere That bedingt, sondern durch die innern Motive. Der Ehrtrieb dagegen wird durch die äußere That bestimmt. Denken wir uns einen Menschen rein dem Ehrtriebe folgend, so kann es kommen, daß | er sich worüber schämt, wobei er selbst ein gutes Gewissen hat, insofern er fürchtet, daß die Menschen seiner That ein andres Motiv unterlegen könnten. Indem also ein Unwillen und eine Scham vor sich selbst nicht mehr die äußere That afficirt, sondern vom innern Zustande ausgeht, so wirken sie auch auf das Innere zurück, welches so modificirt wird, 22 wirke.] wirke,

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daß eine solche That nicht wieder entsteht. In wie fern also die Gegenwirkung in diesem Gebiet ausschließend angebracht wird, in so fern hört die Strafe auf, Strafe zu sein, und sie wird Zucht, weil sie auch auf das Innere wirkt, und dann können alle Bedenklichkeiten beseitigt werden, die uns aus Strafe als Strafe entstehn. Wenn eine Strafe die Form eines Schmerzes hat, so wagen wir es darauf, daß sie entweder nicht gelingt, wenn der Zögling den Schmerz überwindet, oder daß die Scheu vor Schmerz gestärkt wird; wenn aber mit dem Schmerze sich ein unangenehmes sittliches Gefühl verbindet, so kann dieses das andre überwiegen. Wenn die Gegenwirkung aus einem sinnlichen und sittlichen Factor besteht, so kann offenbar die Wirkung sehr groß sein, und wir können daher den sinnlichen Factor sehr klein machen. Dasselbe gilt, wenn die Strafe die Form des verletzten Ehrtriebes annimmt, d. h. die Form der Beschämung. Wird hiermit | ein rein sittlicher Factor verbunden, so kann auch dieser verstärkt jenen übertragen. Das Hinzukommen eines sittlichen Factors macht also allein die Strafe in der Erziehung möglich, so daß kein Nachtheil zu besorgen ist; im Gegentheil haben wir den Nachtheil nicht in unserer Gewalt. Hieran knüpft sich eine zweite Betrachtung, die nachtheiligen Wirkungen von den verschiedenen Formen der Strafe werden immer erst von einem gewissen Entwickelungspuncte anfangen, und also ist es auch von diesem aus erst möglich, etwas anzubringen, was der nachtheiligen Wirkung vorbeugt. In der ersten Lebensperiode ist das Gedächtniß noch gleich Null zu setzen, und es bekommt erst allmälig Sicherheit und Umfang. Ehe nun das Gedächtniß so groß ist, daß die Kinder aus einer gewissen Reihe sich eine Analogie bilden können, so kann keine Besorgniß sein, daß die Strafe nachtheilig wirken möchte, und es fragt sich nur, ob vor dieser Besorgniß Nutzen der Strafe eintritt. Kann z. B. ein Schmerz eine Wirkung thun, so daß das Kind instinktartig und unbewußt dasjenige unterläßt, worauf der Schmerz erfolgt ist, ehe es einen Begriff von Schmerz und also eine Scheu davor hat? Dies ist unleugbar wahr. In dieser Periode würden also körperliche Strafen von Nutzen sein | können. Sobald aber das Gedächtniß aus der Analogie schließen kann, so fangen die Besorgnisse an, das Kind mögte aus der Strafe den Schmerz scheuen lernen. Dieses Verhältniß findet auch Statt in dem Gebiete der Strafen, die auf Beschämung basirt sind, obgleich dies erst später geschieht, wo das Gedächtniß stärker ist. Hier kommt es darauf an, daß das persönliche sittliche Gefühl noch nicht als etwas Eigenes existirt, und so lange kann auch aus der Anwendung der Beschämung noch nicht der Nachtheil entstehen, daß die Kinder sich scheuen eine verkehrte öffentliche Meinung 12 den] dem

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gegen sich zu reizen. Nun wollen wir wieder zurückgehn und fragen: giebt es eine Zeit für beide Hauptformen der Strafe, wo sie nützlich sein können? Wenn die Gefährlichkeit der Beschämung erst anfängt, so giebt es eine Zeit, wo sie, ohne gefährlich zu sein, heilsam sein kann. Sobald aber das persönliche sittliche Gefühl erwacht ist, so ist es gefährlich, die Beschämung als Strafe zu brauchen, sondern dann muß ein sittlicher Factor hinzukommen, so daß die Strafe Zucht wird. Was die Strafen, die auf dem Schmerz beruhen, betrifft, so fragt es sich auch: giebt es eine Zeit, wo sie nützlich sind, ohne nachtheilig zu sein? Können wir in der Erfahrung einzelne Combinationen zwischen einzelnen Thatsachen und dem unangenehmen | Gefühl, das dadurch veranlaßt wird, nachweisen, und kann sich dieses Gefühl noch nicht verallgemeinern? Hier finden wir eine Analogie mit den Thieren. Bei denselben wirkt besonders der Schmerz, und sie sind keinen allgemeinen Vorstellungen fähig, sondern nur einzelner Combinationen. Daher geht hier die Wirkung nie über den Zweck hinaus. Können wir nun beim Menschen einen ähnlichen Zustand nachweisen, so dürfen wir annehmen, daß die körperlichen Strafen nützlich sein können in Bezug auf solche individuellen Vorstellungen. Das Vermögen des Menschen dazu verräth sich nun nur durch die Sprache, und wir haben keine Ursache, dem Menschen allgemeine Vorstellungen zuzuschreiben, ehe sich die Sprache in ihm entwickelt. Das Resultat dieser Betrachtung ist dieses. Es können körperliche Strafen heilsam sein, ohne daß man eine andere Vorkehrung dabei zu treffen braucht, nur in der Zeit, ehe sich der Mensch der Sprache bemächtigt; sobald er allgemeiner Vorstellungen fähig ist, so findet sich in ihm eine allgemeine Scheu vor unangenehmen Empfindungen, und dann tritt die Besorgniß ein, daß die Feigherzigkeit durch körperliche Strafen vermehrt werde. Die Strafe der Beschämung wird auf dem Ehrtrieb basirt, und sie kann unbedenklich in der Zeit heilsam sein, ehe das Gewissen im Menschen erwacht. Denn bis dieses erwacht ist, so lange kann er keinen Unterschied | machen zwischen Richtigkeit und Unrichtigkeit in der Meinung der Menschen, und so lange ist die Beschämung auch gefahrlos. Beides nimmt einander auf, so daß, sobald die körperlichen Strafen bedenklich werden, und ein sittlicher Factor nöthig ist, der Ehrtrieb erwacht, wo dann die auf Scham basirten Strafen eintreten, bis das Gewissen erwacht. Dann ist die Beschämung an und für sich bedenklich und gefährlich, weil das Gewissen mit ihr in Streit kommen kann. Was soll aber nach erwachtem Gewissen werden, wenn beide Arten von Strafe an und für sich bedenklich sind? Wenn wir hier von der Idee der Erziehung ausgehn, so müssen wir folgendes 14 keinen] keiner

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sagen: Wenn das sittliche Gefühl im Menschen seine natürliche Stärke erlangt hat, aber der Mensch dadurch nicht geleitet werden kann, so ist die Erziehung banquerott, denn sie hat kein Mittel mehr. Freilich ist noch ein Unterschied zwischen dem ersten Erwachen des sittlichen Gefühls, wo Strafen gefährlich sind, und zwischen der Vollendung jenes Gefühls. In diesen Zwischenraum würde die Nothwendigkeit fallen, einen sittlichen Factor mit der körperlichen Strafe oder der Beschämung zu verbinden, und so hätten wir eine vollständige Entwickelung der Sache. Hier ist noch zu entwickeln, daß der Ehrtrieb erwacht, wenn allgemeine Vorstellungen erwachen. Dies ist aber durch die Erfahrung deutlich. Denn die Strafe giebt | auch indirect die allgemeine Form der Gegenstände wieder, und dadurch wird auch der unmittelbare Ausdruck der Gemüthszustände verständlich. Billigung und Mißbilligung haben ihren Ausdruck in der Physiognomie welche aber das Kind erst nach Verständniß der Sprache versteht. Dann ist das Kind fähig, selbst afficirt zu werden durch den Eindruck, den es auf andre gemacht hat, und so kann man auch schon durch die Beschämung wirken.

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Man könnte glauben, daß, sobald die Erregung eines sittlichen Gefühls möglich ist, die Strafe weichen könne, weil schon im Innern des Menschen ein Princip liege, wodurch die strafbaren Handlungen aufhören. Aber hier ist zu bemerken, daß dies nur allmälig geschieht, und zwischen der Einsicht von der Verkehrtheit der Handlung und dem Vermögen, die Handlung zu unterdrücken, ein Zwischenraum ist. Es muß also noch eine Gegenwirkung Statt finden, und so ist die Verbindung eines sittlichen Elements mit einer Strafe möglich. Die Voraussetzung muß allerdings sein, daß allmälig durch die Stärkung des Sittlichen auch die Gewalt des Unsittlichen überwunden wird. Daher darf die Strafe nicht ganz aufhören, sobald das Sittliche erwacht; aber von diesem Augenblick an muß die Strafe als etwas Abnehmendes gedacht werden. Dasselbe gilt von der frühern Periode. Wir unterscheiden zwar verschiedene Knoten in der | Entwickelung des Menschen, aber nicht so, daß etwas plötzlich ist, sondern daß alles vorbereitet wird. Die Strafe wird daher auch nur allmälig abnehmen. Dies ist ein wichtiger Grundsatz, um sich eine gesunde Theorie darüber zu entwerfen. Die eigentlichen Strafen liegen also nicht auf dem Boden der Erziehung, sondern sind nur geduldet, und haben ihr Fun4 dem] den

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dament im gemeinsamen Leben. Hier findet sich eine Analogie mit der bürgerlichen Gesellschaft, wo die Theorie der Strafe eben so schwierig ist. Man mag die bürgerlichen Strafen so oder so einrichten, so bessern sie an und für sich den Menschen nicht, vorzüglich bei uns. Denn Amerikas Beispiel paßt für uns nicht, denn dieses ist frei, und alle Bürger zusammen entwerfen die Strafgesetze, und streben zum Bessern; wir aber werden monarchisch regiert. Auch im Alterthum sind die Strafen nicht von der Tendenz, zu bessern, ausgegangen. Unsere Strafen vertrauen auf das religiöse Element in Ansehung der Besserung. Betrachten wir die Strafgesetzgebung, so liegt es in der Erfahrung, daß die Strenge der Strafen abnimmt; und daraus läßt sich auf die Vervollkommnung der ganzen Gesellschaft schließen. Im Ganzen ist nie eine Strafgesetzgebung geschärft worden. Bei anarchischen Zeiten herrscht zwar eine andere Verfahrungsweise, doch hier ist die Strafe | nicht Strafe, sondern kriegerische Operation. Eben so wenn ein Staat zerfällt oder unterjocht wird, dann ist das Mißtrauen vorherrschend, und die Strafen werden geschärft. Im Ganzen nehmen die Strafen ab, denn bei immer strenger Gesetzgebung nimmt die Genauigkeit der Ausführung ab, und endlich wird die Gesetzgebung selbst gemildert. Die reine Strafe ist folglich eine Sache der Noth, und wenn sich der Mensch gegenüber der äußern Natur über den Nothstand erhebt, so soll auch gegenüber der menschlichen Natur jener Nothstand abnehmen. Die gemeinschädlichen Handlungen werden immer zufälliger, und dann könnte überhaupt schon früher die Strafgesetzgebung gemildert werden. So ist auch in der Erziehung die reine Strafe Nothsache, und je länger sie erfordert wird, desto unvollkommner ist die Erziehung, weil sie nicht genug beiträgt, die Strafe überflüssig zu machen. In diesem Sinne müssen wir davon ausgehen, daß, angenommen, die Strafe sei unentbehrlich, sie in der Erziehung als eine abnehmende Größe erscheinen muß, und sie muß so construirt werden, daß dies schon aus ihr selbst hervorgeht. Wir haben gesehn, daß die Strafe, welche auf den Schmerz basirt ist, auf eine rein mechanische Weise durch die Erinnerungsfähigkeit | wirkt, welche in jener Periode auf das einzelne beschränkt ist. Die Strafe kann also nur durch Wiederholung wirken; muß aber damit eine wirkliche Schärfung verbunden werden, so ist das unvollkommen. Wenn wir nun die Strafe im Allgemeinen betrachten, so müssen wir sagen: es ist dasjenige, was wir die Verbindung des Sittlichen mit dem Sinnlichen genannt haben, wodurch die Strafe im Ganzen abnimmt. Denn wirkt die Strafe auf das Innere, so ist im Innern etwas, das strafbare Handlungen verhindert, und läßt sich also mit der Strafe der sittliche Factor verbinden, so muß die Strafe schon von selbst abnehmen. Daß es eine Zeit giebt, wo die Strafe noch nothwendig ist, nachdem sich schon das sittliche

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Element damit verbinden läßt, ist schon gezeigt; und es fragt sich nun, wie die postulirte Verbindung eines sittlichen Factors mit dem sinnlichen Element der Strafe besteht? – Setzen wir, wie wir offenbar müssen, die Strafe sei eine Handlung des Strafenden, so hat jede verständige Handlung zwei Seiten. Die eine ist, daß jede Handlung die Äußerung eines Innern ist; die andre, daß sie strebt, einen gewissen Erfolg hervorzubringen. Zwar giebt es Handlungen, die wir stets nur von der einen Seite anzusehen pflegen, aber bei genauerer Betrachtung ist dies unrichtig. So scheinen | z. B. Gemüthserschütterungen auf keinen Erfolg berechnet zu sein, aber an und für sich müssen sie doch mit dem Willen zusammenhangen, und dieser ist stets auf einen Erfolg gerichtet, welcher ist, daß sich ein solcher Gemüthszustand dem Gedächtnisse fester einprägt. Umgekehrt scheint z. B. die Geschäftsführung im Leben nur auf den Erfolg gerichtet zu sein, der hier hervortritt; aber auch solche Handlungen können nicht ohne etwas Charakteristisches sein, wodurch sie als reine Aeußerungen erscheinen. So hat folglich auch die Strafe beide Seiten. Einerseits ist sie auf den Erfolg berechnet; aber sie wäre unnatürlich, wenn sie nicht auch Aeußerung eines Innern wäre, und es giebt keine unnatürlichere Foderung, als daß ein Vater oder Lehrer mit der vollkommensten Gleichgültigkeit strafen soll. Dann wäre der Strafende gleichsam nur die Fortsetzung des Stockes. Jede Strafe im Gebiete der Erziehung wäre völlig unrechtmäßig, die nicht zugleich, wenn nur der Zögling fähig ist eines Andern Gefühl aufzufassen, angesehen würde als Aeußerung des reinen sittlichen Unwillens, denn sonst wäre sie von der Absicht der Erziehung ganz abgesondert. Denn es erscheint als etwas Unsittliches, daß man mit Wissen und Willen einem andern etwas Unangenehmes zufügt, und es ist nur dadurch gut zu machen, daß er selbst | es sich gefallen läßt, weil es mit seinem Willen geschieht, und daß es durch etwas Sittliches bedingt ist. Dies kann aber nur geschehen, wenn die Strafe eine Aeußerung eines Innerlichen ist. Auf der niedrigen Stufe des Menschen findet also eine mechanische Seite der Strafe Statt; beim erwachenden Sittlichen ist Unterordnung unter Ordnung und Gefühl der Rechtmäßigkeit des sittlichen Unwillens bei einer sträflichen Handlung. Die Aeußerung des sittlichen Unwillens muß mit der Strafe selbst verbunden werden, und dadurch ist der Anfang ihres Verschwindens gemacht, indem in den Zögling beides kommt, Schmerz oder Beschämung und der Eindruck des sittlichen Unwillens. So kann keine Scheu vor unangenehmen Empfindungen entstehen, sondern nur eine Scheu vor sittlich unangenehmen Empfindungen, und der Schmerz wird nur geheiligt durch den sittlichen Unwillen. 14 den] dem

19 unnatürlichere] unnatürliche

29 daß] das

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Die beiden Hauptformen des Lebens der Kinder sind das häusliche Leben und das Leben in der Schule. Jenes hat eine unmittelbare Naturgewalt, die einem künstlichen Institut fehlt, welches daher auch in Beziehung auf die Strafe eine genauere Construction erfordert. Der Natur der Sache nach ist es offenbar, daß sich ein Kind leichter in die Ordnung findet, worin es sich ursprünglich findet, und woraus sich allmälig die | Selbstständigkeit des eigenen Lebens lößt. Im öffentlichen Leben tragen die Zöglinge die Naturgewalt in sich, und können nur durch die Intelligenz geleitet werden. Daher ist dieser ganze, die Strafen betreffende Theil der Erziehung im häuslichen Leben freier zu behandeln; die Schule hingegen muß mehr organisirt sein, und eine störende Handlung muß mit Gewalt unterdrückt werden. Daraus folgt, daß das ganze Strafsystem in der öffentlichen Erziehung imposanter sein muß als im häuslichen Leben. Hieraus ist die Differenz beider am besten zu übersehen. Besonders wichtig sind folgende Puncte. Man pflegt einen Unterschied zu machen zwischen natürlichen und willkührlichen Strafen; die ersten fallen aber gar nicht unter den Begriff der Strafe. Wir müssen nämlich hier von dem Grundsatz ausgehn, daß alles Verkehrte auch zerstörend auf das Leben selbst einwirkt, und Uebel zur Folge haben muß, und daß im gemeinsamen Leben jeder verkehrte Punct diese Folgen ins Ganze trägt. Wenn diese übeln Folgen auf einen andern Punct hinfallen als auf den, worin das Verkehrte liegt, so sind sie unverschuldetes Leiden. Ueberhaupt hat jedes Verkehrte üble Folgen. Nennt man diese als solche natürliche Strafen, so hat man in so fern Recht, als es ein Gesetz der Providenz ist. Denkt man sich diese natürlichen Folgen so gewendet, daß das Uebel auf den Punct zurückfällt, wo die Schuld ist, so | nennt man sie mit Recht natürliche Strafen. Setzen wir diesen willkührliche Strafen entgegen, so verstehn wir darunter diejenigen Uebel, welche keinen Naturzusammenhang haben mit dem Bösen, worauf sie zurückfallen; könnte man stets das Gegentheil bewirken, so würden keine willkührlichen oder positiven Strafen nöthig sein. Aber indem wir schon früher betrachtet haben, daß es nicht zu rechtfertigen ist, wenn man jemandem eigentliche Uebel zufügt, so ist, wenn kein Zusammenhang der 19 dem] den 22 verkehrte] Verkehrte 23 einen] einem 29 willkührliche] willkührlichen 34–35 jemandem] jemanden

23 den] dem

25–27 Vgl. SW III/9, S. 749 (Zusatz): „Nennt man die Uebel als solche natürliche Strafen: so hat man in sofern Recht als dies ein Gesez der Providenz ist daß jedes verkehrte seine üblen Folgen hat.“

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Strafe mit dem zu Bestrafenden da ist, eine rein willkührliche Strafe nie zu rechtfertigen. In jeder richtigen Strafconstruction muß der Unterschied zwischen natürlichen und willkührlichen Strafen aufgehoben werden. Ein anderer Gesichtspunct ist folgender: jede That ist aus zwei Elementen zusammengesetzt, aus einer äußern Seite, dem Erfolg, und einer innern, dem Motiv. Eine That würde nicht gestraft werden, wenn sie jene äußere Seite nicht hätte. Hat die äußere That keine innere Seite, so wird sie nicht gestraft. Diese Beziehung der That auf den Willen des Thäters ist die Zurechnung. Wenn wir davon ausgehn, daß jede Strafe auf gewisse Art auf einem Gesetze beruht, so ist sie, weil sie nichts rein einzelnes ist, immer etwas, was mehrere betreffen kann, und dies gilt in der Erziehung wie auf andern Gebieten. Die Zu|rechnung ist aber verschieden nach der äußern und nach der innern Seite der That hin. In Beziehung auf die äußere Seite ist jeder Erfolg derselbe, in Beziehung auf die innere kann der Erfolg derselbe sein, aber ein anderes Motiv haben. Daher können hier zwei entgegengesetzte Handlungsweisen Statt finden. Einige sagen, der strafende Richter habe sich nicht um die psychologische Seite der That zu bekümmern, sondern müsse nur die äußere Seite ins Auge fassen; andere sagen, dies sei barbarisch, man müsse vielmehr die That psychologisch betrachten. Ueber diesen Gegensatz im Allgemeinen zu entscheiden, geht über unsre Aufgabe; wir wollen ihn nur in Bezug auf die Erziehung betrachten. Aber auch hier ist eine große Differenz möglich, wenn wir auch sagen, man müsse auf beides Rücksicht nehmen. Wir haben hier also zwei Gegensätze, wonach wir die Strafen construiren müssen. Jede Strafe muß natürlich sein, aber auch den Character des Positiven an sich tragen. Wie werden wir jene Differenz in Bezug auf die beiden Hauptformen des Lebens der Kinder auszutheilen haben? Offenbar ist im häuslichen Leben der sittliche Naturcharacter, das Gefühl einer Zusammengehörigkeit, woher das Leben seine Einheit [hat], das Vor|herrschende. Hier ist also die Gleichmäßigkeit in der Behandlung am wenigsten nothwendig. Wenn wir in derselben Beziehung eine öffentliche Erziehung betrachten, so ist hier jenes Gefühl nicht, und vor aller Erfahrung hat der Zögling schon das Gefühl, daß der Lehrer sich leichter über sein Inneres irren kann als Vater und Mutter, wenigstens denkt er dies in hypothesi welche richtig ist, obgleich es in thesi ganz anders sein kann. Da ist dann die Gleichmäßigkeit der Bestrafung für die Schule weit wesentlicher als für das Haus. Nach dem Gefühl kann in [der] Schule weit weniger gestraft werden; nur durch feste Gleichmäßigkeit in der Bestrafung erhält die Hand28 werden] wenden

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lung des Strafens selbst den gesetzlichen Character und dies darf der Schule nicht fehlen. Nur muß jene Gleichförmigkeit nicht pedantisch festgehalten werden, denn die Schule steht in der Mitte zwischen dem häuslichen Leben und dem Staate. Wenn es in einem Hause Strafgesetze giebt, so ist das schrecklich, denn da ist der Character des häuslichen Lebens vernichtet, indem es aus einer natürlichen Anstalt eine künstliche geworden ist. Aeltern, welche Strafgesetze geben, vernichten ihre natürliche Autorität, denn sie binden sich selbst; die Kinder aber dürfen nie das Gefühl haben, daß die Aeltern gebunden sind, denn sie sollen | die freie Seele des Hauses sein. Eben so wollen wir den andern Gegensatz, die Verbindung des Natürlichen mit dem Willkührlichen in den Strafen, in beiden Verhältnissen betrachten. Das häusliche Leben hat hier den Vorzug, daß es ein Naturganzes ist, wenn auch kein reines; es muß also hier leichter sein, die natürlichen Folgen auf den Thäter zurückzuwerfen. Im Strafsystem des Hauses darf von keiner willkührlichen Strafe die Rede sein, sondern die Strafe muß den Kindern stets als die natürliche Folge von demjenigen erscheinen, was sie gethan haben, und diese Aufgabe ist nicht schwer zu lösen. Im zusammengesetzten gemeinsamen Leben der Schule ist das nicht möglich. Aber hier ist auch weniger daran gelegen, daß die Strafe als natürliche Folge erscheint, sondern sie muß schon als Ergänzung der Unmöglichkeit erscheinen, die natürlichen Folgen stets auf den Thäter zurückfallen zu lassen. Denn diese haben schon den Lehrer und die andern Schüler getroffen, und die Strafe ist nur davon wieder Rückwirkung. Weil aber diese Strafen schon gleichmäßig sind, dürfen sie willkührlich sein, aber eben darum müssen sie auch wieder gesetzlich sein. Im Falle ein Vater seine Kinder selbst | unterrichtet, muß im Hause schon der Character der Schule vorwalten.

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Die Folgen sind auffallend nachtheilig, wenn jene Regel überschritten wird. Eine Ungleichmäßigkeit im Vertheilen der Strafe in der öffentlichen Erziehung und eben so Willkührlichkeit im häuslichen Leben bewirken eine Art von Verstockung. Die Strafe will ja auf die Zukunft wirken, was nur geschehen kann, wenn der Gedanke an die Strafe

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8 Autorität] Authorität

12 dem] den

20 möglich] möglig

28–29 Vgl. SW III/9, S. 753 (Zusatz): „Im Fall die Schule zugleich Erziehungsanstalt ist, muß sie noch mehr den Charakter des Hauses an sich tragen.“

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zum Trieb auf eine gewisse Handlung gezogen wird; hierzu ist aber eine gewisse Sicherheit dieses Zusammenhanges nöthig. Ist diese nicht da, so sucht der Zögling das Unangenehme für sich so leicht als möglich zu machen, sowohl den Schmerz als die Beschämung. Verstokkung ist stets ein Zeichen davon, daß das Strafsystem nicht richtig construirt ist, denn das Band zwischen dem Sittlichen und Sinnlichen in der Strafe ist dann gewiß sehr geschwächt. Indem wir nun jene beiden Classen von Strafen angenommen, die dritte aber, die gegen den Thätigkeitstrieb gerichteten Strafen als hemmend vorläufig verworfen haben, so ist das Materiale der Strafen durch diese Classification noch sehr unvollkommen bestimmt, und es giebt noch eine Menge Strafen in diesen beiden Gattungen. Es muß aber einen Grund geben, um die Strafen zu bestimmen, denn eine völlige Gleichgültigkeit dagegen ist unmöglich. | Worauf beruht nun der Unterschied der Strafen? Hier müssen wir darauf zurückgehen, daß eigentlich stets ein sittlicher Factor an der Strafe haftet, wenn gleich er anfangs gleich Null zu setzen ist. Die äußere Handlung der Strafe ist zugleich ein reiner Ausdruck des Gefühls der Mißbilligung, und diese symbolische Seite bestimmt die Beschaffenheit der Strafe selbst. Denn es ist nur etwas willkührliches, wenn wir sagen, das Schlagen sei das natürlichste, denn die Kinder schlagen selbst, um etwas von sich abzuwehren. Alles andere erscheint mehr als etwas Absichtliches, und ist deshalb von mehr leidenschaftlichem Character. Es giebt hier einen natürlichen, durch die Sitte anerkannten Cyclus, aus dem man sich nicht heraus bewegen darf. Können wir auch nicht überall die Sitte auf das Natürliche zurückführen, so muß doch ein solcher Zusammenhang Statt finden, daher sich auch hier Differenzen finden, die sich auf den Zustand der menschlichen Bildung beziehn, der alles, was symbolisch ist, modificirt. Wenden wir dies auf die Strafen an, die auf den Ehrtrieb basirt sind, so irrt man sich offenbar, wenn man glaubt, durch lange tadelnde Reden einen Eindruck auf die Jugend zu machen. Da aber der Ehrtrieb am meisten durch Reden getroffen wird, und hier symbolische | Handlungen zwar auch an ihrer Stelle sind, aber nur als Nebensache erscheinen, so müssen wir sagen: je kürzer eine den Ehrtrieb angreifende Rede ist, desto kräftiger müssen die einzelnen Elemente sein, und auch hier kann das Schimpfen oft nicht leicht unterschieden werden. Dennoch kann in einem einzigen Worte ein Urtheil ausgesprochen sein, und es ist doch nicht das, was wir Beschimpfung nennen. Aeußerlich ist hier die Grenze schwer fest zu halten, und das Natürliche hat sich ganz hinter die Sitte versteckt. Hebt man die Gemeinschaft des zu tadeln8 Strafen] Strafe

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den Menschen mit den andern auf, so ist der Zusammenhang aufgehoben, worauf sich die Strafe gründet. Reduciren wir dies auf die symbolische Natur der Menschen, so können wir fragen: was soll dasjenige im Strafenden sein, das sich durch eine symbolische Handlung zu erkennen giebt? Je mehr der sich äußernde Zustand ein leidenschaftlicher ist, um desto sicherer geht die Strafe aus ihrem rechten Gebiete heraus; je mehr es das beleidigte Rechtsgefühl ist, das sich im Strafenden äußert, desto sicherer wird die Strafe in ihren Schranken bleiben. Je mehr eine Ehrtriebsstrafe den Character der aufgehobenen Gemeinschaft trägt, desto mehr ist das Verhältniß der Ungleichheit zwischen | dem Erzieher und Zögling aufgehoben, und dann fühlt sich der so Gestrafte in einem Zustande des Krieges, wodurch das ganze Verhältniß der Erziehung aufgehoben ist. Dies ist also von dieser Seite die ganz bestimmte Grenze. Eben so auf der andern Seite, wenn sich im Erziehenden ein persönlich leidenschaftlicher Zustand verräth, so ist auch dadurch das eigentliche erziehende Verhältniß aufgehoben, denn in der persönlichen Leidenschaft kann ein Mensch nicht mehr die vernünftige Sittlichkeit repräsentiren, und alles dies muß in der Strafe vermieden werden. Ueberall muß die Strafe den Character haben, auf ihren Zweck auszugehen, nämlich auf die Hemmung der Wiederholung dessen, was verboten ist. Hieraus entsteht nun leicht die falsche Regel, daß man Strafen in der Leidenschaftslosigkeit verfügen solle. Die Beschaffenheit der Strafe hat noch einen andern Gesichtspunct, sowohl qualitativ als quantitativ (welches beides stets zu vereinigen ist,) nämlich den Gesichtspunct der Wirksamkeit der Strafe. Eine Strafe, die ihren Zweck nicht erreicht, ist stets nachtheilig, weil nichts so offenbar wie eine solche als falsche Maßregel erscheint, und dem Zögling Gelegenheit zum Tadel giebt. Denn bei der Strafe soll der Zögling den Zweck derselben kennen; erfährt er nun selbst, | daß sie ihren Zweck nicht erreicht, so setzt ihn dies in den Fall, seine Erzieher zu beurtheilen, was nur geschehen kann, wenn die Erziehung anfängt in ein rein vormundschaftliches Verhältniß überzugehen. Die Wirksamkeit der Strafe aber beruht 1) auf der Sicherheit der Erinnerung, 2) auf der Stärke des Eindrucks. Wo beides nicht ist, da sind die Strafen vergeblich und nachtheilig, weil sie eine Gewöhnung an dasjenige hervorbringen, was man als abhaltendes Mittel ansehen will, und geschieht das, so muß man die Strafen steigern, statt daß sie abnehmen sollten. Daher müssen sie von Anfang an so eingerichtet sein, daß sie ihren Erfolg nicht verfehlen; dann kann das Materielle derselben abnehmen, bis sie endlich zur edlen Zucht werden. 31 ihn] ihm

31 den] dem

33 vormundschaftliches] Kj freundschaftliches

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Worauf beruhen denn nun jene beiden Momente? Das letzte, die Stärke des Eindrucks, ist keine Folge von der materiellen Seite der Strafe. Denn ist auch im Menschen noch nicht das sittliche Gefühl erwacht, so hängt er doch auch nicht von dem bloß Materiellen der unangenehmen Empfindung ab, sondern die Wirkung der Strafe, ist doch schon viel zusammengesetzter, indem der Zustand des Strafenden selbst wirkt. Der Zustand des Erziehers ist für den Zögling stets eine Macht, | und wie die Macht, wenn sie sich als Güte zeigt, ein unbestimmtes Vertrauen erregt, so erregt die strafende Macht außer der unmittelbaren unangenehmen Empfindung eine allgemeine Furcht, welche um so mehr ein nothwendiges Element der Strafe ist, als auf ihr zugleich die Sicherheit der Erinnerung beruht. Denn je mehr in einem Moment alles zu einem Eindruck zusammenstimmt, um desto sicherer prägt er sich ein. Nähert sich der Zustand des Zöglings schon dem Erwachen des sittlichen Gefühls, so kommt es nicht aufs Materielle der Strafe an, sondern das Formelle derselben mit jenem macht einen großen Eindruck, und je größer dieser ist, desto mehr kann man von jenem nachlassen; beide zusammengenommen müssen aber den gehörigen Eindruck machen. Das andre Moment der Wirksamkeit der Strafe, die Sicherheit der Erinnerung beruht auf dem Gedächtnisse, das sich auch im Menschen erst allmälig entwickelt. Hier kommt es darauf an, daß die Combination, die der Zögling machen soll zwischen Handlung und Strafe, ihm erleichtert wird. Die Lust zu einer gewissen Art von Handlungen steht stets im Zusammenhange mit der Erinnerung an ähnliche Fälle. Daher ist es für die frühere Periode der Erziehung eine wichtige Regel, daß die Strafe so schnell wie mög|lich auf die That folgen muß, denn je mehr beide der Zeit nach zusammenfallen, desto mehr wird jene Combination erleichtert. In der spätern Zeit, wo die Strafen seltner werden sollen, und das Gebiet jeder, wofür sie als Warnungszeichen gilt, größer wird, kommt es darauf an, daß die Combination das ganze Gebiet umfasse. Hier ruht das ganze Uebergewicht auf dem sittlichen Factor, und die Strafe geht über in das Gebiet der Begriffsbildung, so daß das Kind denkt: diese Handlungsweise hat diese Strafe.

26. Vorlesung Wenn wir das Gesagte ans Ende der Erziehung knüpfen, so soll denn das sittliche Princip im Zögling eine Macht geworden sein, die das sinnliche in ihm überwältigt. Sonst fällt er der Zucht des Lebens auf der einen Seite und der Strafe der Gesetze auf der andern anheim. Ist

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er so, wie ihn die Erziehung abliefern soll, so wird er fühlen, daß er es den Strafen selbst verdankt, wenn das Sittliche eine solche Macht in ihm geworden ist; er muß dann auf die allmälige Veränderung des Strafsystems zurücksehn und es billigen. Ist es nun die Absicht der Erziehung, wie sie es ist, daß der Mensch nach ihrer Vollendung so sein soll, wie wir eben auseinander setzten, so muß es auch ihre Absicht sein, daß er am Ende das ganze Strafsystem billige, und daher ist dies der richtige Maßstab der Prüfung alles dessen, was Strafe in der Erziehung ist. Dies läßt | sich weiter verfolgen. Denkt man während der Erziehung selbst immer daran, daß jene Billigung am Ende der Erziehung eintreten soll, so muß deshalb jede Strafe so geordnet sein, daß man dabei die künftige Bewilligung dessen, der gestraft wird, suppliren kann, und dies ist der beste Kanon, um zu prüfen, ob nichts Ungehöriges und Unzureichendes ins Strafsystem gekommen ist. Nach derselben Regel muß man auch die genannten allgemeinen Regeln für die Strafen prüfen können, ob sie recht sind. Wenn wir gesagt haben, man müsse mit einer mechanischen Gegenwirkung anfangen, so muß diese Strafe zugleich Vorarbeit für die spätern höhern Organe sein, und indem wir selbst die Strafen aus dem Gesichtspuncte der künftigen Billigung ansehn, so muß denn der Gegensatz zwischen Strafe und Zucht und der Gegensatz zwischen Erziehung als Gegenwirkung und als Unterstützung sich rechtfertigen lassen. Denn reine prohibitive Strafe ist zugleich Zucht, in so fern dadurch eine Vorübung der Gewalt jeder höhern Kraft über die niedere geschieht, denn der Zögling giebt ja immer der Vernunft nach (zuerst des Erziehers). Gegenwirkung ist aber auch zugleich Unterstützung, denn die noch nicht erwachte sittliche Kraft wird unterstützt, so daß ihr schon vorgearbeitet ist, wenn sie erwacht. Gehn wir auf die weitere Entwickelung | der Sache, so ist der Ehrtrieb nur eine Subsumtion des Selbstbewußtseins unter die Gemeinschaft, der man angehört, und der Uebergang zum freien sittlichen Selbstbewußtsein. Um dies zu bewirken, gehn auch alle Strafen in den Begriff der Zucht über. So haben wir noch von dem zu handeln, was als Zucht von der Strafe unterschieden worden ist. Vorher denken wir noch einmal daran, wie wir den relativen Gegensatz construirt haben, daß die Strafe nur pädagogisch zu dulden ist, die Zucht aber ursprünglich darauf geht, durch ascetische Gewöhnung die gesammte Sinnlichkeit zu einem Organ der 1 ihn] ihm

7 ganze] Ganze

26 noch] auch

37 Sinnlichkeit] Sittlichkeit

26–28 Vgl. SW III/9, S. 760: „Ebenso fördert die Gegenwirkung die Unterstützung und geht in sie über; denn die noch nicht erwachte sittliche Kraft wird durch Gegenwirkung gegen das verkehrte unterstützt, so daß ihr schon vorgearbeitet ist wenn sie erwacht.“

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sittlichen Kraft auszubilden. Sehen wir nun, daß alle Strafe eigentlich nur als Zucht zu billigen ist, so kann die Frage entstehen, ob man denn nicht an der bloßen Zucht genug haben, und eigentliche Strafen ganz unterlassen könne? Für die Erziehung müßte dies ganz dasselbe sein, denn die Strafe wirkt doch nur als Zucht von dem Augenblick an, wo die Zucht recht gut neben ihr bestehen kann, und früher ist die Strafe noch gar nicht pädagogisch wirksam; was aber der Mensch in der Zeit thun kann, wo er keiner Zucht fähig ist, ist nur etwas Geringfügiges, – so könnte man sagen, und dann gäbe es gar keine eigentliche Strafe in der Erziehung. Es ist so vieles, was | im Gefühl für diese Ansicht spricht, und diesem kommt auch die Erfahrung zu Statten vom Mißbrauch der Strafen und dem Gewagten, was darin liegt. Bei der Prüfung dieser Ansicht wollen wir uns den Gegensatz zuerst zwischen dem häuslichen Leben und dem Leben in der öffentlichen Erziehung vorhalten. Beide Zustände haben miteinander gemein, daß diejenigen, welche erzogen werden sollen in einem Verhältnisse unter einander und gegen den Erzieher stehen. Die Differenz beider Zustände ist, daß der Zögling in der öffentlichen Erziehung in einem Verhältnisse gegen solche steht, die geradezu erziehen, was im häuslichen Leben nicht der Fall ist; ferner sind die Verhältnisse derer, die erzogen werden, unter sich in der öffentlichen Erziehung von größerm Umfange als im häuslichen Leben, und dort ist also eine größere Menge nachtheiliger Wirkungen abzuwehren. Wenn wir in der häuslichen Erziehung vom Verhältniße der Kinder unter sich ganz abstrahiren, so sollten im Verhältnisse derselben zu den Erwachsenen keine Strafen Statt finden, denn sie können die Erwachsenen nur wenig stören. Daher ist auch im häuslichen Leben das Gebiet der Strafen weit geringer, ja hier ist es möglich, aller Strafe zu entbehren. Sehen wir ferner auf die Verhältnisse der Kinder unter sich, so könnte | man auch sagen, die Störungen des einen gegen das andere lassen sich als Uebungen gebrauchen, indem ihnen aufgelegt wird, daß sie sich nicht stören lassen sollen. So wäre es im häuslichen Leben möglich, der Strafen ganz zu entbehren. Aber in der öffentlichen Erziehung muß man die Unmöglichkeit davon zugestehn. Was das Verhältniß der Kinder zu den Erziehern betrifft, so ist es dasselbe, wie zu den Aeltern, denn jene sollen keine Strafe gebrauchen wegen desjenigen, was gegen sie selbst geschieht. Etwas unmittelbar gegen sie Gerichtetes kann durch Strafen gar nicht gut gemacht werden, sondern es ist ein unheilbarer Schade, der bloß verhütet werden muß. In dem Verhältnisse der Kinder unter sich muß man sie freilich zeitig daran gewöhnen, daß sie lernen, sich über Störungen, die ihnen begegnen, hinwegzusetzen. 25 im] in

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Aber dieses Vermögen bildet sich nur allmälig aus, und ist in den ersten Perioden der Erziehung sehr gering. Da nun die Masse auf den untern Stufen der Erziehung viel größer ist als nachher, und also Störungen viel leichter vorfallen, so muß hier ein Strafsystem zu Hülfe kommen, welches aber natürlich bei steigender Erziehung abnimmt, denn die Lust zu störenden Handlungen muß dann hinweggenommen sein. Zwar | braucht man sich nicht von Anfange an vorzunehmen, alles durch Strafen auszurichten, sondern man muß vom Anfange an auch die Widerstandskraft bei den Kindern in Thätigkeit setzen. Sehen wir nun zurück auf das häusliche Leben, und bemerken, daß die andre Seite der Erziehung der Strafen nicht entbehren kann, so müssen wir fragen, ob es denn gut wäre, dort gar nicht zu strafen, wenn man dies auch nicht brauchte. Bald würden die Kinder fühlen, daß sie Herren im Hause wären; dies darf aber nicht sein, denn sie müssen den Unterschied zwischen sich und den Erwachsenen stets empfinden. Wie sie unter einander leicht für Störungen empfänglich sind, und sehen, daß sie das Störende in Beziehung auf die Erwachsenen, das ihnen so unangenehm ist, frei ausüben können, so bemerken sie bald die Gewalt die sich die Erwachsenen ihrentwegen anthun, und halten sich daher für die Herren im Hause. Der Character eines Hauswesens kann verschieden sein, und hier sind die größesten Modificationen möglich, ohne unrichtig zu sein. Die Erziehung nun muß mit dem herrschenden Character des Hauswesens in Uebereinstimmung stehn. Herrscht im Hauswesen ein strenges, abgemessenes Wesen, so muß dies auch in der Erziehung sein; herrscht im Hauswesen ein | heiterer, fröhlicher Character, der nachsieht, so wäre es wieder nachtheilig, in der Erziehung streng zu sein, und bald würden die Kinder es fühlen. Das einzige, was sich hier pädagogisch bestimmen läßt, ist die Nothwendigkeit der Uebereinstimmung der Erziehung mit dem Gesammtcharacter des Hauswesens, der von der allgemeinen Ethik bestimmt werden muß. Haben wir nun eingestanden, daß die Nothwendigkeit der Strafen im häuslichen Leben nicht so groß ist, wie im öffentlichen der Kinder, und daß die Organisation der Strafen dort nicht so ausgebildet zu sein braucht, wie sie hier sein muß: was ist denn die Grenze die man in Ansehung der Gelindigkeit nicht überschreiten darf? Objectiv ist sie, daß die Freiheit der einzelnen Erwachsenen gesichert sei, und durch die Kinder nicht gestört werde; subjectiv in Beziehung auf die Kinder, daß sie stets in dem Bewußtsein erhalten werden, daß die Erwachsenen, nicht sie das Hauswesen constituiren. 15 den] dem

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In der öffentlichen Erziehung ist das natürliche Gefühl von der Unentbehrlichkeit der Strafen in der Analogie der Erziehung mit einem gesetzlichen Zustande begründet, und die natürliche Neigung einer guten Organisation geht stets auf die Seite der größern Strenge. Allein correspondirend mit jenem Gesichtspuncte | in der häuslichen Erziehung ist hier ein anderer Gesichtspunct aufzustellen. In der öffentlichen Erziehung, wo kein unmittelbarer Naturzusammenhang zwischen dem Erzieher und Zögling sich findet, muß die Achtung des letzten gegen den ersten ein maximum sein, weil der Abhängigkeit, worin der Zögling gehalten werden muß, nichts Physisches zum Grunde liegt; durch eine große Meinung des Zöglings von der intellectuellen und sittlichen Kraft des Erziehers steht dieses Verhältniß am sichersten. Ferner soll die öffentliche Erziehung eine Vorübung dafür sein, daß sich einer durch den andern so wenig wie möglich stören lasse; ist in dieser Beziehung das Strafsystem so strenge, daß das gemeinsame Leben gar keine Gelegenheit zu dieser Uebung geben kann, so ist es zu strenge. Ferner muß der Erzieher gar nicht beleidigt und gestört werden können, denn durch Strafen kann dies gar nicht gut gemacht werden, indem die Zöglinge stets das Gefühl haben werden, etwas gegen ihn ausgerichtet zu haben. Es muß daher gar keine Strafe geben, in Beziehung auf das, was gegen den Erzieher begangen wird, sondern dies muß nur in so fern gestraft werden, als es eine Wirkung auf die Mitzöglinge hat. – Auf diese Weise wird sich der Uebergang von dem, was in der häuslichen Erzie|hung das Rechte ist, zu dem, was es in der öffentlichen ist, am besten constituiren.

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Die Zucht ist Gegenwirkung mit der Absicht, das innere Verhältniß im Zöglinge selbst zu ändern, d. h. die ihr entgegen wirkenden Potenzen nicht eben zu schwächen, sondern den höhern zu unterwerfen. In dieser Hinsicht bildet die Zucht den Uebergang zwischen der reinen Gegenwirkung und den unterstützenden Thätigkeiten der Erziehung. Denn alle untergeordneten Verrichtungen sollen Organe des Idealen im Menschen sein, indem die Idee der Zucht darin liegt, die Richtungen aller Thätigkeiten so zu modificiren daß in demselben Maße, wie das Höhere im Menschen erwacht, es seine Organe vorgebildet findet. Um dies zu fassen, müssen wir uns versetzen in den Thatbestand, wie er sich findet. Für alle natürliche Triebe und Functionen des Menschen giebt es eine Befriedigung, aber diese coincidirt nicht immer mit 27 Absicht] Ansicht

34 demselben] denselben

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dem, was aus derselben Thätigkeit entsteht, in so fern sie als Organ des Höhern im Menschen betrachtet wird. Dieses Höhere ist in der Erscheinung ein Späteres, weil es sich später unter der Form des Bewußtseins entwickelt. Die sinnlichen Verrichtungen werden geleitet, indem sie ihrer Befriedigung nachgehn, und entwickeln sich auf diesem Wege. Je mehr das der Fall ist, desto mehr werden sie fixirt, | diese Richtung zu erreichen, und das steht oft im Widerspruch mit demjenigen, was sie als Organe der intellectuellen und moralischen Thätigkeit leisten sollen. Indem wir nun davon ausgehn, daß der Mensch in einer Gemeinschaft steht, so wird dadurch das supplirt, daß seine höhere Thätigkeit erst späterhin erwacht, und die Vernunft derer, die das Gemeinsame leiten, vertritt so die Stelle seiner Vernunft. Alle Leitungen der Seele, die von diesen die Vernunft repräsentirenden Mittelpuncten des gemeinsamen Lebens ausgehn, alle Gebote und Befehle repräsentiren die Forderungen der Vernunft überhaupt, und müssen harmoniren mit demjenigen, was die Vernunft des Zöglings selbst einst fordern wird. In dem Maße er also gehorsam ist, und der Gehorsam auch realisirt wird, werden alle seine Functionen zur Harmonie mit seiner Vernunft hingeleitet werden. Was in der Erziehung anders geboten wird, ist verkehrt. In so fern nun der Zögling gehorsam ist, findet das, was wir Zucht nennen, keine Stelle, sondern die Nothwendigkeit derselben wird erst durch den Ungehorsam gefordert. Daher kann man den ganzen Begriff der Zucht auf dieses Gebiet beziehn. Hier entsteht also die Aufgabe, die Richtung gewisser Thätigkeiten zu verändern, und in wie | fern diese hier als Organe betrachtet werden, kann die Veränderung nicht anders geschehn, als auf dem Wege der Gewöhnung oder Entwöhnung, und alle Zucht geht in diesen beiden Formen auf. Hier hangt alles ab von dem Widerstreit zwischen der Befriedigung der untergeordneten sinnlichen Thätigkeiten und ihrer Angemessenheit für den Organismus der Vernunft. Die Befriedigung der sinnlichen Thätigkeiten als Triebe ist zurückzuführen auf den Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen im Allgemeinen, auf das Suchen des Angenehmen und Meiden des Unangenehmen. Betrachtet man die sinnlichen Thätigkeiten als Organe des höhern, so kommt es nicht auf diesen Unterschied an, denn ihren Dienst als Organe können sie stets nur in der Form der Anstrengung leisten, und dies ist ein Hinüberstreifen ins Unangenehme. Betrachten wir sie 1 Organ] Organe

26 dem] den

24–26 Vgl. SW III/9, S. 766: „In wie fern nun die niederen Functionen zu Organen der höheren ausgebildet werden sollen, in wie fern wir also jene Thätigkeiten als Organe betrachten:“

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als Organe für die höhern Thätigkeiten, so soll der Zweck der höhern erreicht werden, aber dieser kann für die Befriedigung der niedern ganz indifferent sein, und unter der Form des Unangenehmen erscheinen, und es ist nur zufällig, wenn die Erreichung der Aufgabe der Befriedigung der höhern Vermögen auch die niedern Thätigkeiten befriedigt. Im Ganzen ist also immer schon eine Unangemessen|heit in der ganzen Richtung dieser Thätigkeiten gesetzt, in so fern sie durch das Angenehme oder Unangenehme bestimmt werden. Dies können wir aber nur durch Thatsachen erfahren, d. h. der Erzieher kann zwar wissen, wie es in dieser Hinsicht um seinen Zögling steht, aber diese Ahnung, dieses Mitwissen kann ihn zu keiner bestimmten Thätigkeit veranlassen, und diese erscheint selbst dem Zögling nicht unter der Form der Zucht, denn er fühlt sie nicht als Gegenwirkung. Nun kann dem Zöglinge selbst das Bewußtsein davon, daß seine niedern Thätigkeiten mit der Vernunft im Mißverhältnisse stehen, nur durch die Erfahrung deutlich werden. Und so hangt die Zucht mit der Strafe zusammen, die sich nur an solchen Handlungen übt, die gegen ein aufgestelltes Gebiet verstoßen. Indem hier der Gehorsam vorausgesetzt wird, kann man dem Zögling nachweisen, wo er ungehorsam gewesen ist. Aus dieser Veranlassung derselben, woraus die Strafe entsteht, entsteht auch die Zucht. Die Strafe betrachtet die Handlung in ihrem Zusammenhange mit dem gemeinsamen Leben, die Zucht betrachtet sie nach ihrem Motiv. Wenn wir nun bei der Voraussetzung bleiben, worauf alle Erziehung beruht, daß der Gehorsam der Jugend etwas Natürliches, nämlich das Resultat von Abhängigkeits|gefühl ist, so müssen wir sagen: wir müssen es als die permanente Willensrichtung der Jugend ansehn, daß sie gehorsam ist, und der Ungehorsam ist nur eine augenblickliche Unterbrechung ihres Willens. Alle Momente des Ungehorsams sind nur Ausnahmen und in und durch sich vergänglich, so daß mit dem constanten Bestreben des Zöglings auch die züchtigende Thätigkeit des Erziehers zusammentrifft. – Kann nun der Zögling die Paroxismen, die ihn gegen die Zucht aufbringen, mit dem permanenten Bestreben des Gehorsams vergleichen, so fühlt er jenes Vorübergehende als ein Ungehöriges und also etwas mit seinem constanten Bestreben Streitendes, also als πάϑημα einen leidenden Zustand, als eine Unterbrechung seiner Selbstthätigkeit. In dem Zustande, wo er von seiner leidenschaftlichen Thätigkeit beherrscht wird, fühlt er sich als ein Unfreier. Dieses Gefühl muß bald in ihm erwachen, wenn die Zucht von rechter Art ist, und ihm jenen Zustand, weßhalb er gezüchtigt wird, als einen Unfreien darstellt. Daraus geht eine Regel hervor, worin wir die große Differenz zwischen Zucht 15 im] in

32 ihn] ihm

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und Strafe erkennen können: die Strafe, je mehr sie als reine Strafe nöthig ist, muß unmittelbar auf die gestrafte Handlung folgen; für die Zucht ist es entgegen gesetzt, | sie wird in solcher Identität von That und Bestrafung erschwert, weil dann noch die widerstrebende Richtung im Zögling selbst ist, und so eine Opposition gegen die Zucht rege wird. Dadurch wird die Wirkung derselben sehr geschwächt, mehr als bei der bloßen Strafe. Die Zucht darf nur eintreten, wenn der Zögling wieder zu der Besinnung gekommen ist, welche eine klare Einsicht möglich macht. Hiermit hangt zweitens folgendes zusammen. Da die Strafe sich zugleich auf das gemeinsame Leben bezieht, so bezieht sie sich auf eine solche Ansicht des einzelnen Daseins, wo dieses nicht selbstständig ist; sie straft darum, weil der einzelne nicht als Organ des gemeinsamen Lebens thätig gewesen ist. Die Zucht hingegen geht auf die Ansicht zurück, daß bei der Handlung etwas zum Grunde gelegen hat, was mit der eigenen Freiheit des Zöglings streitet, und sie wird angewandt, weil er etwas gethan hat, was er selbst nicht will, also um seine Thätigkeiten dem bessern Willen zu unterwerfen. Strafe wendet sich an das Gemeingefühl, Zucht an das Gefühl der Persönlichkeit. Die Zucht findet also gar nicht die Opposition im Zögling, welche die Strafe findet, sondern bei ihr kommt alles darauf an, daß sie sich auf eine bestimmte Weise, an das Freiheitsgefühl wende. Je leichter sich aber der Zögling | die Zucht gefallen läßt, je mehr sein Freiheitsgefühl erregt ist, desto strenger kann die Zucht sein ohne allen Nachtheil. Dies bestätigt sich in der Erfahrung. Fragen wir nach dem Hauptunterschied zwischen den höhern und niedern Classen in der Gesellschaft, so ruht er darauf, daß in jenen das Freiheitsgefühl, das Gefühl des persönlichen Werthes erregt, in diesen unterdrückt ist. Setzen wir uns in eine solche Lage der Dinge, wo die Ungleichheit in einem gewissen Maße existirt, so ist davon die Folge, daß bei der liberalen Jugend derselbe Grad der Strenge mit großem Vortheil angewandt wird, der bei der illiberalen Jugend sehr nachtheilig ist. Hier wirkt die Zucht nur als Strafe, denn die Jugend fühlt, daß sie für einen fremden Willen gebildet werden soll, nicht für ihren eigenen. Eben daher kommt das große Wohlgefallen einer gutartigen Jugend an einer vernünftigen Strenge, weil sie das Bildende darin fühlt, und mehr ihre eigentliche Freiheit empfindet. Wo dagegen das Freiheitsgefühl unterdrückt ist, da ist die sinnliche Befriedigung oder doch die eigennützige Befriedigung das Höchste im Menschen. Dieses ist der allgemeine formale Character der Zucht, und darauf beruhen alle Principien derselben. Um uns dies genauer vorzustellen, wollen wir es auch von der 27 jenen] jenem

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materialen Seite be|trachten. Hier kommt es auf den Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen an. Wenn sich ein Ungehorsam von trägem Character zeigt, so liegt ihm zum Grunde die Scheu vor der Anstrengung, welche der Zögling nicht überwinden kann, um einem einzelnen Gebot zu genügen. Ein sthenischer Ungehorsam ist dagegen der, welcher durch den Reiz des Angenehmen entsteht. Offenbar ist hier schon eine große Differenz der Naturen zu bemerken, denn beide Arten des Ungehorsams sind nie in demselben Subject zusammen. Jene werden nicht vom Reiz des Angenehmen beherrscht; diese können nicht das Unangenehme ertragen. Daraus entstehen differente Arten der Zucht: 1) Abhärtung gegen das Unangenehme; 2) Entsagung, indem man das Angenehme entfernt, und es nicht bis zur Befriedigung darin bringt. Dies sind die beiden Arten der ἄσκησις worauf alle Zucht zurückgeht.

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Worauf beruht die Nothwendigkeit einer Gegenwirkung, die die Zucht will? Wir meinen, die Anerkennung der Nothwendigkeit von Seiten des Zöglings hangt davon ab, daß das Kind das, was der Erzieher für verkehrt erkennt, auch dafür erkenne. Denn in jedem Menschen ist ein Gemeingefühl, und dieses kann sich gegen seine eigne Person leicht aufwerfen, und hieran kettet sich das Erkennen selbst, | in so fern das Gemeingefühl erwacht. Dies ist etwas allmälig zum Vorschein Kommendes. Aber die Zucht muß deshalb, um zu wirken, von der Strafe unterschieden werden, und in dem Zögling muß die Differenz beider gefühlt werden. Das kann nur beruhen auf dem Verhältnisse des Vertrauens, die Strafe ist Sache der Nothwendigkeit, in der Zucht aber ist der Zögling ein Zweck, und das muß er fühlen. Indem die Zucht ihm widerstrebt, so muß er fühlen, daß sein ganzes Dasein vom Erziehen umfaßt werde, und davon muß er überzeugt sein, und dies ist das Vertrauen. Jedes solches Verfahren muß ohne Veranlassung angeknüpft werden. Die Strafe muß sich auf eine bestimmte äußerliche That beziehn, die Zucht nicht. Da muß man nicht eine solche That erwarten, wo man sie anlegen könnte. Weil also auf eine äußerliche Veranlassung nicht gewartet wird, so kann also nur 4 einem] einen 8–10 „Jene“ sind die sthenischen Naturen, „diese“ die asthenischen. 21 Vgl. SW III/9, S. 771: „an diesen Sinn für das gemeinsame kettet sich nun das Erkennen seiner selbst.“

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der Zögling jenes Verfahren an das Vertrauen anknüpfen. Es muß also erst befestigt sein, ehe die Zucht beginnt. Das Mißtrauen hat das Fundament, daß einer den andern bloß als Mittel für sich ansieht. Worauf beruht die Möglichkeit eines solchen Verfahrens? Die Zucht muß subsumirt werden unter die Begriffe der Abhärtung und Entsagung. Jene ist die Gegenwirkung gegen den Reiz des Unangenehmen und diese die Aufopferung gegen den | Reiz des Angenehmen. Diese also müssen wirklich im Leben vorhanden sein. Denken wir uns den Menschen im Zustande der Noth, so kann die Erziehung unter dieser Form nicht auftreten, da kein Angenehmes ist, dem entsagt werden kann, sondern das Unangenehme ist schon gegeben. Also ist es bedingt durch die Lebensverhältnisse, und tritt erst ein, wo das Leben Fülle und Reichthum hat. Also innere Freiheit muß da sein. Die Zucht hat die Grenze, daß sie die Freiheit unterstützt. Dies führt uns auf die beiden Puncte, auf der einen Seite, was das Gelingen anbetrifft, daß die Zucht ihren Zweck erreicht, so hangt dies ab vom erwachenden Freiheitsgefühl, daß nämlich der Mensch eine Herrschaft über sich selbst will, daß er das Höhere unterscheidet, und das Organ für dieses sei. Denn darauf geht alle Zucht aus, daß nicht die sinnliche Function das Wollen bedinge, daß sie nicht hemme und nöthige. Vorausgesetzt muß werden, daß der Wille erwacht. Erwacht der Wille nicht, so kann er nur ein Organ für etwas anderes werden. Die Erziehung soll auch das Erwachen des Willens begünstigen, aber dieses wird nur gelingen, wenn die Zucht das gehörige Maß hält. Unter beiden Formen ist die Zucht eine Gegenwirkung gegen den sinnlichen Reiz. Darin | aber kann man vereinigen das für-sich-sein-wollen des Einzelnen und das organische Wesen für alle. Man kann leicht in Abhärtung und Entsagung zu weit gehen. Wenn es leicht ist, dieses Extrem einzusehen, so ist es schwer, zu bestimmen, wie man es erkennt, und es läßt sich keine Formel darüber zusammenfassen. Wir haben gesagt: die Zucht soll sich anschließen, an die Freiheit und an den Willen. Aber den Willen können wir nicht von der Totalität der Existenz des Menschen trennen, sondern der Wille erwacht nur bei einer gewissen Festigkeit 5 die Begriffe] den Begriff

32 Existenz] Erziehung

21–22 Vgl. SW III/9, S. 772: „Ist der Wille nicht erwacht, so wird der Mensch nur ein Organ anderer.“ 24–27 Vgl. SW III/9, S. 772: „Die Zucht ist unter beiden Formen, Abhärtung und Entsagung, eine Gegenwirkung gegen den sinnlichen Reiz. Dieser kann aber als ein Fürsichseinwollen aufgefaßt werden, aber zugleich als Organ für das höhere. Das was die Sinnlichkeit reizt in ihrem Fürsichsein, dient zugleich zu ihrer Erhaltung; nicht unterdrükkt sondern erhalten muß das sinnliche werden, damit das geistige sein Organ habe:“ 30–31 Vgl. SW III/9, S. 773: „Wir haben gesagt, die Zucht soll sich anschließen an das Freiheitsgefühl und den Willen;“

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der organischen Kraft, und man muß bei der Zucht wohl sehen, wie es mit der Abhärtung steht. Bleibt kein physisches Leben übrig, so daß der Wille sich nicht so entwickelt, so hat man daran einen Maßstab, wonach man sieht, es ist zu weit gegangen worden. Bleibt das innre Leben frisch mit dem physischen, so ist keine Gefahr. Wir haben nun im Allgemeinen auf das Materiale hinzuweisen, daß die Zucht Gegenwirkung sei gegen den sinnlichen Reiz. Wir sagen noch etwas über einzelne Puncte. Man findet in der Erziehung besonders bei den Deutschen, eine solche zielende Tendenz, die gegen den Willen ist, gegen das, was man | Eigensinn zu nennen pflegt. Dies ist ein schwieriger Punct. Es giebt eine Periode, wo die Kinder desselben noch nicht fähig sind. Dieses ist Instinct, wo das Leben noch an der Mutter hangt, und dies setzt sich fort, so lange kein Zwiespalt zwischen der persönlichen Existenz und der erhaltenden Kraft des Lebens eintritt. Dann kommt eine Zeit, wo man sich keinen Eigensinn denken kann, wo Verstand und Gesinnung vollkommen erwacht sind. Was dazwischen liegt, nennt man gewöhnlich Eigensinn. Einmal ist es der erwachende Wille selbst, dann das Schattenbild des Willens, das wir Willkühr nennen. Der Wille muß seiner Natur nach sich der Identität des persönlichen Lebens und dem Antheil, den es am gemeinsamen Leben hat, nähern. Der Zögling kann sich diese Identität anders construiren als der Erzieher. Die Willkühr geräth in Zwiespalt gegen den Antheil des gemeinsamen Lebens, und damit kann der Wille nicht bestehn. Ist es wirklich die Willkühr, so muß der Pädagog wohl darauf sehen. Gestaltet sich die Willkühr in jemandem, so geht sie entweder aus von einer Leidenschaft, oder sie substituirt sich unter der Form der Launen, und dann widerstrebt sie der Gesetz|mäßigkeit im Leben. Ist es wirklich die Willkühr, dann ist die Nothwendigkeit der pädagogischen Einwirkung gegeben; ist es aber der erwachende Wille selbst, wie steht es dann mit dem fälschlich genannten Eigensinn? Es kommt darauf an, wie sich der Mensch das Gemeinsame construirt. Strebt er mit seiner Construction dagegen, so fällt dies zu seinem Nachtheil aus. Daher sagt man, daß man den Willen der Kinder beugen müsse. Man kann sagen: 3 entwickelt] verwickelt jemanden 31 dem] den

6 Materiale] Material 33 seinem] seinen

21 am] an

26 jemandem]

12–13 Vgl. SW III/9, S. 773: „die Zeit des reinen Instinctes.“ und Göttinger Nachschrift, S. 55r: „Dieß ist die Zeit des Instincts.“ 23–24 Vgl. SW III/9, S. 774: „Bei der Willkühr geräth der Mensch in Zwiespalt mit sich und dem Antheil den er am gemeinsamen Leben zu nehmen hat, und damit kann der Wille nicht bestehen.“ 31– 32 Vgl. SW III/9, S. 774: „Es kommt darauf an, wie der Mensch sich das Gemeinwesen construirt.“

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das Verhältniß ist ein wandelbares, und in jeder Gesellschaft kann sich eine Forderung aufthun, die früher nicht da war, und so unterdrückt man die Fortschreitung selbst. Hier nähern wir uns der Politik. Wo die Neigung ist, alle Aenderung im Gemeinwesen zu scheuen, da wird die pädagogische Strenge natürlich sein; in dem Maße man sieht, daß das persönliche Verhältniß noch anders werden muß, so wird auch die Pädagogik anders werden, und da kommt oft Streit zwischen der Pädagogik und bürgerlichen Gewalt. Die Extreme sind 1) der kastenmäßige Character der Erziehung, der Alles beim Alten lassen will. Jemehr diese Maxime feststeht, bleibt es beim Alten. Das andere Extrem ist das besorgliche Halten an einem schon entwickelten Zustande der persönlichen Freiheit. |

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In der Ausübung muß man immer darauf zurückkommen, daß die Erziehung ein kunstmäßiges Handeln ist. Ein andrer Punct liegt auf dem entgegen gesetzten Ende, die Entwickelung des Temperaments. Dies liegt auf dem Gebiete der Natur. Es findet aber auch da eine Zucht Statt, nicht aber giebt es einen Schein, sondern, in wie fern jedes Temperament ein Extrem hat, welches wir überall unter den Begriff des Wahnsinns stellen müssen, der die losgelassene Einseitigkeit des Temperaments sein kann. Dies entwickelt sich zeitig, und in jedem Menschen sind die Keime des Wahnsinns vorhanden. Es kann freilich scheinen, als ob nur bei einer großen Heftigkeit des Temperaments dieser Wahnsinn heraustrete. Aber in der Erziehung kann die 19 den] dem 1–2 Vgl. SW III/9, S. 774: „in jedem Geschlecht kann eine Forderung sich aufschließen“ 5–7 Vgl. SW III/9, S. 775: „In dem Maaß dagegen als man einsieht daß das Verhältniß der persönlichen Freiheit zum Gemeinwesen ein anderes werden muß, wird auch die Erziehung freier werden.“ 14–15 Vgl. SW III/9, S. 775–776: „Auf dem Zettel, der diesem Abschnitt zum Grunde liegt, steht wörtlich, ü b e r d i e B ä n d i g u n g d e r F r ö h l i ch k e i t e b e n f a l l s v e rsc h i e d e n e M a x i m e n . Dann erst folgt, ü b e r d i e Te m p er a m en t e . In den Vorlesungen selbst folgt unmittelbar der Entwikklung über die Bändigung des Willens die Betrachtung über die Differenz der | Temperamente. Es wird aber wol leicht sein die verschiedenen Maximen in Beziehung auf die Bändigung der Fröhlichkeit zu beurtheilen, wenn man das, was Schleiermacher in Bezug auf Eigensinn und die Temperamente gesagt hat, berükksichtigt. Nur freilich wird man, nicht nur wenn man Fröhlichkeit abgesehen von ihrem Verhältniß zu den Temperamenten, sondern auch in ihrem Verhältniß zu diesen betrachtet, die Differenz in der religiösen Lebensanschauung nicht dürfen unbeachtet lassen.“ 24–2 Vgl. SW III/9, S. 776: „Aber dies gilt nicht von der Periode der Erziehung; die Heftigkeit kann in dieser Zeit schon ohne dies hervortreten, weil der Wille noch nicht entwikkelt ist, der das Temperament unter seine Herrschaft nimmt.“

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Heftigkeit ohne dieses heraustreten, wenn der Wille noch nicht entwickelt ist. Daher ist klar, daß der positiven Form der Erziehung zur Seite eine negative stehen muß, welche die Stelle des Willens vertritt. Es ist in der Erfahrung, daß wir bei Kindern im einzelnen die Ausbrüche des Temperaments finden. Hier liegen schon Indicien in der Natur der Sache für die Gegenwirkung. Der cholerischen Einseitigkeit ist am meisten die Gegenwirkung nothwendig, und analog ist hier die Strafe. Der phlegmatischen Einseitigkeit fällt die aufhelfende Form der Erziehung | zu, weil dieses eine Unbehülflichkeit ist, der man zu Hülfe kommen muß. Das sanguinische und melancholische Temperament muß auf beiden Seiten aufgefaßt werden. Wir haben es hier mit dem Gebiete der Zucht zu thun. Der ist das Sanguinische und Melancholische entgegen. Man muß die Zerstreuung hemmen, und das In-sichhinein-Wirken der Phantasie zwingen, d. h. man muß eine Ablenkung von einem Gegenstande auf den andern hervorbringen. Aber nur die Gewöhnung muß gehemmt werden, nicht jeder Moment. Je mehr das ganze Leben, ordnungsmäßig eingetheilt ist, desto weniger ist es möglich, daß die Kinder sich beiden Temperamenten überlassen können. So hat die Ordnung das Gewicht des gemeinsamen Lebens für sich. In wie fern dieses aber unabhängig von der speciellen Erziehung construirt wird, so muß man doch Modificationen in dieser zulassen. So müssen wir sagen, daß wir das gemeinsame Leben so construiren müssen, daß den Einseitigkeiten vorgebeugt wird. In dem Maße der Widerstand gegen das gemeinsame Leben gewachsen ist, muß die Zucht wieder zurückkommen. Was Abhärtung und Entsagung betrifft, so will das hier nicht viel sagen. Hier soll ein innerer Widerstand gegen die Einseitigkeiten hervorgebracht werden. Indem dieses als fest angesehen | wird, so nennen wir es Abhärtung, wenn der Zögling gewohnt wird, gegen die Temperamente Widerstand zu leisten. Ebenso ist es mit der Entsagung. Es ist offenbar, je größer die Gewalt der Constitution ist, desto mehr muß man dem Zögling den Widerstand erleichtern. Es giebt noch ein andres Hauptgebiet, welches wir berühren müssen, dasjenige, was sich weniger aus der eigenen Natur, sondern aus Nachahmung sich aus den Kindern erzeugt. Der Wille ist das, was die Erziehung befördern will; die Nachahmung wirkt ihr entgegen. Wenn wir den jetzigen Zustand der Jugend vergleichen mit dem frühern, so finden wir die stärkste Differenz. Damals wurden die Kinder zur Nachahmung angehalten, jetzt legt man auf das, was ins Gebiet der Sitte fällt, keinen großen Werth mehr. Offenbar rührt dies von einer veränderten Ansicht des Lebens her; so wie jenes das Extrem war, so kann auch auf der andern Seite auf das Extrem gegangen 31 dem Zögling] an

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werden. Das Aeußerliche in der Sitte hat auch immer einen innern Grund, und die Jugend muß sie auch repräsentiren. Es fällt, wenn es nicht geschieht, eine große Kraft des gemeinsamen Lebens weg. Es läßt sich aber auf keine bestimmte Formel bringen. Es ist wahr, daß alle Sitte einen | innern Grund hat, alles Aeußere ist ja ein Widerschein des Innern. Nun aber könnte man sagen, man müsse gar nicht darauf sehen, daß irgend etwas, das zum Aeußern gehört, zur Nachahmung in der Jugend gebracht werde, und man müsse nur auf das Innere sehen, dann fände sich jenes von selbst. Die Nachahmung des Aeußern nach dem Innern hat immer etwas Sclavisches. Hat sich das Kind schlechte Haltung angewöhnt, so muß man positiv dagegen wirken. Dieses ist die Zucht, und es erscheint größtentheils im einzelnen bei den Kindern als Sache der Nachahmung. Alles, was gegen die Sitte anstößt, und nicht so bleiben soll, hat in der innern Natur keinen Grund, sondern nur in einer specifisch fehlerhaften Richtung oder in der Nachahmung. Das letzte ist das Häufige, und dagegen muß die Erziehung wirken. Hier tritt die Differenz ein, die wir in der Willkühr betrachtet haben. Manches, was sich in der Jugend entwickelt, kann als Correction in der herrschenden Form angesehn werden, und das ist die Schwierigkeit, worauf wir aufmerksam gemacht haben. Die Jugend soll gebildet werden für das Leben, aber nicht für die Unvollkommenheit. Man sieht wie nöthig es ist, daß die Erziehung in den Händen wissenschaftlicher Leute sei. Dies lehrt die Geschichte. | Es ist daher kaum zu denken, daß die Erziehung den Fortschritten eines Volkes zu Hülfe kommen kann außer unter diesen zwei Bedingungen. Ist das Volk sklavisch, so bedarf es großer Institute, die in den Händen wissenschaftlicher Männer sind. Ist das Volk liberal, so kann dies in den Händen der Familie sein. Das Wesentliche der Anwendung beruht aber immer nur auf der Anschauung, und kann nur in einer sittlichen Seele sein, die mit Liebe in das Göttliche dringt. Wir gehen über zu der Form, wie die Erziehung auftritt als Unterstützung desjenigen, was sich im Zöglinge selbst entwickelt, und von außen auf ihn einwirkt, also die Erziehung als Mitwirkung betrachtet. Wir können eine kräftige Constitution des einzelnen Menschen denken, und in solchem Zustande ist die Erziehung überflüssig. Der Mensch entwickelt sich von selbst auf eine richtige Weise, und das innere Leben begünstigt diese Entwicklung. In diesem Nullpunct haben wir das maximum der Erziehung gefunden. Die Erziehung soll den Menschen nicht weiter bringen, als er von selbst gekommen sein würde. Es ist etwas Gekünsteltes | wenn die Erziehung aus dem Menschen etwas machen will, was er nicht geworden sein würde. Damit ist das divinatorische gesetzt, indem der Erzieher eine Ansicht von der ihm vorliegenden menschlichen Natur und von dieser überhaupt hat, und von demjenigen, was der Zögling nöthig hat.

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Es hat freilich das Ansehn, als ob durch die Erziehung mehr geleistet wird, was ohne sie nicht geleistet werden könnte durch das gesellige Leben und die natürlichen Anlagen, wie z. B. die Wissenschaft. Aber es kommt hier zweierlei in Betrachtung 1) daß auch auf diesem Gebiete das Höhere nur entsteht in der auf die eigentliche Erziehung folgenden Periode. 2) daß wir unsern gegenwärtigen Zustand nicht als einen natürlichen ansehen können, als einen, der aus einer ursprünglich und rein fortgeschrittenen Bildung selbst entstanden wäre. Es ist ein künstlicher Zustand, eine nicht natürliche, sondern eingeimpfte Bildung. Weil kein natürlicher Zusammenhang in der Bildung der jetzigen Völker ist, so haben wir die Bildung eines fremden Volkes aufgenommen, nämlich die classische, und um diese sich anzueignen, dazu gehören andere Anstalten als die natürlichen. Denken wir uns ein Volk, das seine Bildung aus sich selbst vollendet, so wird ohne alle eigentliche Erziehung jeder, wenn das gesellige | Leben wohl gestaltet ist, zur Zeit der endenden Erziehung so viel allgemeine Bildung haben, wie er braucht. Belehrende Mittheilungen aller Art finden sich im Leben selbst und auch Uebung; weil die Jugend immer gebraucht wird als dienstleistend u. s. w. so wird jeder eine große Menge von Fertigkeiten erwerben ohne unmittelbare Anschauung der Theorie des Geschäfts selbst zu haben. Sobald wir also auf einem natürlichen Gebiete bleiben, läßt sich unser Satz rechtfertigen. Nur da, wo die Bildung eine künstliche, nicht frei natürliche ist, wird etwas hinzukommen. Die Menschen erwerben allmälig eine Menge von neuen Kenntnissen, Thätigkeiten und Fertigkeiten von Geschlecht zu Geschlecht. Wer in einem spätern Geschlecht geboren wird, steht nun an und für sich auch auf demselben Puncte, wie der, dessen Leben in ein früheres Geschlecht fällt. Er soll nun aber alles durchmachen, was alle frühern Generationen erworben haben. Denken wir uns diese Fortschreitung, so muß das Leben, das in die Erziehungsperiode fällt, immer reicher werden; die verschiedenen Völkerstämme sind von vorn herein gesondert in der Geschichte. Da giebt es auch keine andere Kenntniß und Beherrschung der Natur als diejenige die sich im Vaterlande findet. So lange ist die Bildung sehr einfach. | Aber allmälig nähern sich die Menschen, und so erwerben sie von andern neue Kenntnisse. Dies sind alles natürliche Fortschritte der Bildung. Aber die Aufnahme der classischen Bildung liegt nicht rein in dem nationellen Gange, und sie kann nicht erreicht werden ohne besondere Anstalten dazu. Indeß ist auch dies nicht ganz von der Erfahrung entlegen, denn das Maß von 5 diesem] diesen

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besonderer Erziehung, die auf diese Gegenstände verwendet wird, ist nicht bei allen Völkern dasselbe. In wie fern also die Erziehung Mitwirkung ist zu demjenigen, was sich auch ohne sie aus dem Menschen theils von innen theils von außen entwickeln würde, kann sie kein höheres Ziel haben, als zu ergänzen, was auf diesem natürlichen Wege den einzelnen abgehen könnte, theils vermöge der unzureichenden Gestaltung des Gemeinwesens selbst, theils der unzureichenden Anlagen wegen. Legen wir dies zum Grunde, und nehmen noch dazu, daß es nicht bei allen Völkern und Classen ein gleiches Maß von Erziehung giebt, so müssen wir das letzte auf zwei Factoren zurückführen. Die Differenz kann liegen in einem verschiedenen Interesse, das an der Jugend genommen wird. Dieses Interesse ist ein rein natürliches, und kann eigentlich nirgends fehlen. Aber wir müssen bedeutende Differenzen annehmen, eine Stumpfsinnigkeit, die dem thierischen Interesse an den Kindern sich nähert. Von diesem minimum | steigen wir hinauf bis zu einem maximum, wo der Blick und die Liebe des Volkes, nicht nur das ganze gegenwärtige Geschlecht sondern auch das zukünftige umfaßt, und auch dieses zu bilden sucht durch getroffene Anstalten, welches strebt, in alle Theile des Lebens eine absichtliche Erziehung hineinzubringen. Der zweite Factor ist umgekehrt. Es kann an zwei Puncten dasselbe Interesse sein an der Jugend; wenn aber an dem einen die Mangelhaftigkeit des Gemeinlebens geringer ist, oder weniger empfunden wird, und eben so die Mangelhaftigkeit der einzelnen, so werden hier die Differenzen stärker heraustreten. Der erste Factor ist ein rein sittlicher. Das maximum jenes Interesses läßt sich freilich nicht denken ohne einen gewissen Grad von Bildung. Das höchste sittliche Motiv hängt hier von der höchsten geistigen Cultur ab. Der andere Factor ist ein eigentliches Bedürfniß. Die Liebe ist hier auch das leitende, aber sie wird hier bestimmt durch das Erkennen von Unvollkommenheiten. Worin liegt denn eigentlich der Grund zu einem technischen Verfahren, wie die eigentliche Erziehung ist? Denken wir uns eine menschliche Gesellschaft auf einem hohen Grade der Bildung, so daß sie kein Bewußtsein der Mängel haben kann, und auch auf einem so hohen Grade der Gesundheit, daß auch die Erzeugung | gesund ist, so wird in einem solchen dieses Bedürfniß eines technischen Verfahrens geringer sein. Im Gefühl der Zulänglichkeit ihres Lebens hat sie auch das Gefühl, daß sie die Jugend so imprägnire, daß die Bildung aus dem Leben von selbst entsteht. Die eigentlich technische Erziehung geht am meisten aus von dem Bewußtsein der Mängel in der zu erziehenden Jugend und in dem gegenwärtigen Geschlechte. Da fühlt man das Bedürfniß besonderer Anstalten für 5 natürlichen] natürlichem

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die Erziehung des künftigen Geschlechts. Wenn wir dies voraussetzen und fragen: was hat die Erziehung als Ergänzung eigentlich zu leisten, so müssen wir diese beiden Fälle sehr unterscheiden, den, wo man dem künftigen Geschlechte zu einem vollkommenen Zustande verhelfen muß, und den, wo man es auf den Zustand der vorliegenden Bildung empor heben will, damit es in ihm selbstständig stehe. Das letzte ist das Allgemeinste und Gewöhnlichste. Denken wir uns die Gesammtbildung eines Volkes, so ist offenbar, so wie nicht jeder einzelne die Gesammtbildung in sich trägt, so soll sie nicht jeder einzelne im künftigen Geschlecht so haben, sondern sie soll in ihm auch so vertheilt sein, jeder soll etwas davon haben, und zu diesem etwas ein allgemeines Complement, das ihn fähig macht, in die andern Theile der Bildung einzugehn. Hierum muß die Totalität der Jugend in Berührung | kommen mit der Totalität der Bildung, und sie selbst erwerben gegen die Zeit der vollendeten Erziehung, und so auch jeder einzelne mit gewissen Theilen derselben. Aber freilich 1) geschieht dies im unmittelbaren Leben nur auf eine chaotische und fragmentarische Weise, dies ist ja der Character der Erfahrung und des Gemeinlebens. Dieses Chaotische ist allerdings unzureichend. Kann nun jeder einzelne in das Chaos den gehörigen Zusammenhang bringen, und mit einer gewissen Schnelligkeit eine solche fremde Reife bekommen, daß er selbst bald ein anschauliches Bild des Ganzen entwirft, dann ist keine Nachhülfe der Erziehung nöthig. Aber je unvollkommener dies geschieht, desto nöthiger ist sie, um das Chaotische zu ordnen, und in ein Ganzes zu verwandeln. 2) im unmittelbaren Leben kommt dem Menschen das meiste auf eine ganz unmerkliche Art. Er hat es, ohne daß er es weiß, und eignet es sich durch Wiederholung auf eine relativ unbewußte Weise an. Hätte nun jeder einzelne solche Kraft der Reflexion, sich alles Bewußtlose in ein bestimmtes zu verwandeln, so wäre auch hier keine Ergänzung nöthig. Aber da dies am allermeisten vorausgesetzt werden kann, so ist das zweite Hauptgeschäft der Erziehung, daß sie in das Bewußtlose Bewußtsein hineinbringe, und dadurch dasjenige, was der Mensch hat in einem höhern Grade zu seinem Eigenthum macht. In dem Maße als die Erziehung dieses leistet, ist sie vollkommen. |

31. Vorlesung Wäre das Leben vollkommen, so theilte jeder dem andern im freien Umgange das mit, wovon er wüßte, daß es dem andern zur Bildung 3 den] denn

5 den] denn

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dienen würde. Dies geschieht aber nicht, und daß dies nicht geschieht, hält uns in Entfernung von der Meinung als könne die Erziehung aus dem Menschen machen, was sie wolle. Die Erziehung muß nur so viel ergänzen wie die Unvollkommenheit des Lebens dem Menschen nimmt, darf ihm aber nicht mehr geben als er nach seiner Beschaffenheit im vollkommnern Leben gewonnen haben würde. Dies veranlaßt wieder ein künstlerisches Verfahren. Hier ist ein Unterschied zwischen einer Gesammtheit des Lebens, wie sie vollkommen wäre, und zwischen dem, wozu die unvollkommene sich steigern soll. Je größer diese Differenz ist, und je klarer sie eingesehen wird, desto mehr scheint es eine Erziehung müsse leisten, was das Leben selbst nicht leistet. Freilich muß sie in die Jugend den Keim zu einer künftigen höhern Vollkommenheit des Lebens legen, und in dieser Hinsicht hangt sie von zwei Motiven ab; von dem Interesse an der Bildung der Jugend und dem Gefühl von den jedesmaligen Mängeln jedes Zustandes, die durch die Erziehung ergänzt werden müssen. Das erste Motiv belebt die Erziehung überhaupt, das andre giebt ihr eine bestimmte Richtung. Und was ergiebt sich aus dem letzten? Was sind das für Mängel, in den Einflüssen des Lebens, die durch die Erziehung ergänzt werden müssen? Um diese so ganz ins Allgemeine gestellte Frage zu beantworten, müssen wir die Identität in der bürgerlichen, wissenschaftlichen und religiösen Erziehung berücksichtigen. Was nun in der Gesellschaft | in so fern sie auf die einzelnen wirkt, von Bildung in jener Richtung vorkommt, das kommt in gewissem Maße jedem einzelnen vor, und auf dem natürlichen Wege der Nachahmung wird sich alles in eigenem Maße wieder in ihm entwickeln. Was ist denn nun aber das Mangelhafte in den Einflüssen der Gesellschaft auf die Totalität der Jugend? 1) Das gemeinsame Leben ist etwas Chaotisches auf allen jenen drei Gebieten; die Erfahrung desjenigen, was dem Menschen allmälig kommt, ist chaotisch; in dem, was den Menschen anregt, ist keine Ordnung. Wo nun etwas Verworrenes ist, da ist auch ein Gebiet des Zufalls, welcher den einen begünstigt, und den andern beeinträchtigt, wie denn auch überhaupt der Mangel an Unterstützung in diesem chaotischen Gebiete liegt. Diese chaotischen Wirkungen müssen in ein Ordentliches verwandelt werden. 2) Was sich im Menschen selbst von innen entwickelt, das steht in der Jugend vereinzelt und verborgen unter einer großen Masse. 24 gewissem] gewissen

31 den] dem

34 diesem] diesen

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7–9 Vgl. Göttinger Nachschrift S. 57v: „Es ist wieder ein Unterschied zwischen der Gesammtheit des Lebens, wie sie in ihrer Art vollkommen wäre, wohinter sie aber immer zurück bleibt, und bis auf welchen Punkt man sie steigern soll.“

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Betrachtet man aber die Jugend in größern Zwischenräumen, so haben sich in jedem einzelnen Thätigkeiten und Neigungen entwickelt, ohne daß er sich selbst oder andern Rechenschaft zu geben weiß, wie? – auf bewußtlose Weise. Dasselbe geschieht auch durch die Wirkung der Masse auf den einzelnen, und das ist in der Ordnung, denn das einzelne Leben ist stets im ganzen eingehüllt. Da aber das Bewußtlose etwas Unvollkommenes ist, so ist es die zweite Hauptaufgabe der Erziehung, das Bewußtlose in ein Bewußtes zu verwandeln. Wie verhält sich nun hierbei die Thätigkeit der Erziehung | zu dem was von selbst gegeben ist? Es giebt hier zwei verschiedene Ansichten, die aber zu zwei argen Extremen führen. Die eine ist, daß es doch endlich des Menschen eigenes Werk sei, das Bewußtlose in ein Bewußtsein zu verwandeln, wenn man ihn früher bloß dem Leben überlassen hat, und dies möge man also immerhin thun. Auf der andern Seite sucht man alles durch die Erziehung zu bewirken; aber gäbe es nichts für die Jugend als Erziehung, so würde sie vielmehr nur abgerichtet werden. Diese beiden Extreme entstehn wenn man nicht die Einflüsse des Lebens und der Erziehung von einander sondert. Giebt es nämlich neben der kunstmäßigen Behandlung keinen freien Spielraum für die Einflüsse des Lebens, so ist dies die pedantische Erziehung, im Gegensatz jener laxen wo das Leben selbst erziehn soll. Offenbar sind beides gefährliche Extreme, denn das eine führt die Erziehung auf Null; das andre ist jedoch von manchen empfohlen worden. Wir wollen versuchen, beide Ansichten mit einander zu vereinigen und sie daher an bestimmten Gegenständen betrachten. Wie soll sich z. B. in der Jugend der Geschmack entwickeln? In der Sache selbst ist schon viel Bewußtloses, und es ist eine Aufgabe für viele künftige Geschlechter, dieses Bewußtlose zum Bewußtsein zu bringen. Die Productionen selbst sind ganz frei, ja sie sind das freiste und daher | kann beim Auffassen nicht auf Ordnung und Zusammenhang gesehn werden. Hier kann also durch Uebertreibung des Absichtlichen die Absicht selbst vernichtet werden, und so giebt es schon etwas, was man ohne Absichtlichkeit den natürlichen Ereignissen des Lebens überlassen muß. Anders ist es mit der Entwickelung des sittlichen Gefühls. Hier kann man nicht sagen, daß der Erziehung nichts zukommen könne, sondern hier muß eine gewisse Fortschreitung und Methode sein um Ordnung in die Entwickelung zu bringen. Aber Methode im sittlichen Gefühl ist abgeschmackt, weil hier die Absicht, sobald sie sich als solche zeigt, nie erreicht wird. Hier ist scheinbar eine Differenz, und wir wollen versuchen, sie auf etwas bestimmtes 21 laxen] laxem

29–30 Productionen] Production

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zurückzuführen. Dies geschieht so: die Seite des objectiven Bewußtseins läßt die stärkste Einwirkung der Erziehung zu; auf der andern Seite aber liegt das subjective Bewußtsein, das Gefühl und alle Thätigkeit, worauf dieses hinausläuft, und hier darf von nichts Kunstgerechtem die Rede sein. Zwar muß die Erziehung hier helfen, aber nur negativ. Das Leben bietet z. B. das Schöne und Unschöne, das Reine und Unreine durch einander dar, und nun besteht die negative Unterstützung der Erziehung darin, das Unschöne und Unreine, was die Erziehung hindern konnte, abzuwehren, und das Schöne und Sittliche herbeizuziehn, aber – dies darf nicht den | Character des Absichtlichen haben. Das Schöne und Sittliche können wir aber sehr gut von einer positiven Seite ansehn, weil wir hier an kein allgemeines negatives Bewahren zu denken haben, sondern dies nur in Beziehung auf die absichtliche Seite der Entwicklung eintritt. Dasselbe ist’s in gewisser Beziehung mit dem klaren Bewußtsein im ästhetischen Gebiet. Hier haben wir das klare Bewußtsein selbst noch nicht, sondern nur ein unklares Gefühl, denn die Grenzen des allgemein und relativ Schönen sind noch nicht bestimmt, daher können wir auch kein klares Bewußtsein mittheilen, sondern müssen nur die Bewußtlosigkeit zum Bewußtsein bringen, und der Jugend zeigen daß wir davon nichts wissen. Im Sittlichen ist jedoch das Bewußtlose häufig dem Bewußtsein vorzuziehn, und es giebt hier ein Heiligthum der Bewußtlosigkeit, das man nicht zerstören muß. Beim Reflectiren kann aber die Klarheit des Bewußtseins nie groß genug, die Ordnung und der Zusammenhang nie klar genug sein.

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Wir haben gesehn, daß die positive Seite der Erziehung, die Hervorbringung der Ordnung und des Bewußtseins, auf der objectiven Seite des Bewußtseins ihren Sitz hat; allein auch hier giebt es etwas dem Pädagogen Unerreichbares. Das Höchste des objectiven Bewußtseins ist die Wissenschaft, und die Darstellungen darin sind Kunst. Wissenschaft wird aber elementarisch beigebracht. In einer gebildeten Erziehung giebt man sich Mühe, die Fähigkeit | der Composition zu erwekken, nicht hervorzurufen. Nur das Unschöne und Unrichtige kann man durch Erziehung eliminiren, und die positive Seite der Erziehung kann nur diesen untergeordneten Werth haben und hier wirkt nur das freie Leben. Die Erziehung kann zwar dazu beitragen das Schönheitsgefühl zu erwecken, aber das freie Leben muß es vollenden. Was ist 21 dem] den

22 das] daß

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aber die höchste Vollkommenheit des freien Lebens welches das Sittliche und Ästhetische wecken soll? Es muß in sich ein Kunstwerk sein. Allerdings ist dies Wort weit, aber Kunst ist Gestaltung von einem Princip aus, welches sich durch eine äußere Erscheinung wiedergiebt. Beobachten wir die Begrenzung des natürlichen Lebens, so finden wir auch im einzelnen Alles chaotisch und erst im Großen einen festen und angestammten Character. D i e a l l ge m e i n s t e n s i t t l i c h e n Verhä ltnisse des p äd ago gi s c h e n B e s t r e bens.

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Betrachten wir im Großen die Geschichte jedes gemeinsamen Lebens z. B. in der Kunst, Religion, Politik, so finden wir bei einem geschichtlich abgelaufenen Ganzen eine Periode des Steigens, der Blüthe und des Verfalls. Auf alle diese Puncte müssen wir auch auf unserm Gebiete Rücksicht nehmen. | Was ist nun das Verhältniß jedes Geschlechts zum folgenden in der Periode des Steigens? Offenbar ist jedes besser als das vorige. Das Verhältniß des Fallens ist, daß das künftige Geschlecht immer schlechter wird als das vorige. Geschähe dies nicht, so könnte auch kein Staat verfallen. Fragen wir nach dem Verhältniß der Periode der Blüthe, so ist es das mittlere zwischen diesen oder der partielle Wechsel zwischen diesen. Das frühere Geschlecht ist das erziehende, das spätere das erzogene; ist dies nun schlechter als jenes, so ist die Erziehung schlecht gewesen. Aber fragen wir, wie das spätere Geschlecht besser wird, so scheint die Wirkung nicht größer sein zu können als die Ursache. Wir müssen daher eine andre Erklärungsweise hiervon suchen. Es muß in der Natur liegen, und das spätere Geschlecht ist von Natur besser, – könnte man sagen. So kann ja aber die Natur auch schlechter werden. Nun fragt sich, was hiervon richtig sei. Hier kommt manches in Betrachtung, was außer dem Gebiet der Pädagogik liegt. Zuerst bietet sich uns die Frage dar: Liegt es in der Natur, und ist es denkbar, daß ein Geschlecht von Natur besser sei als das andre? Dies können wir nicht leugnen. Der Mensch ist ja in einem Gegensatz gegen die Natur, und so ist der Mensch in einem Theil der Erde fest geworden, so | wird sein Leben freier, jener Gegensatz schwindet immer mehr, und jenes freie Leben wirkt auch auf die Quellen der Erzeugung unter günstigen Umständen. Auf der entgegengesetzten Seite muß man sagen: wenn einmal ein Keim von Corruption im Menschen liegt, so wirkt er auch auf die Erzeugung und die Menschen werden schlechter. Wenn wir Steigen und Fallen ganz auf diese Rechnung schreiben, und die Ursa-

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che davon ins Lebensprincip selbst hineinlegen, so wird die Bedeutung der Erziehung etwas sehr Geringes und Ueberflüssiges außer in der Zeit der Blüthe. Wenn wir eine Gesellschaft im Entstehen betrachten, und fragen, ob sie schon eine Erziehung habe, die auf den Zweck der Gesellschaft berechnet ist, so müssen wir dies verneinen. In jedem Volk ist ursprünglich keine Erziehung, sondern das Leben selbst hat eine feste Gestaltung, wohinein die Jugend gebildet wird. Erst allmälig findet sich ein künstlerisches Verfahren, und dies ist ein Zeichen der Vollkommenheit der Gesellschaft. Betrachten wir die Periode des Verfalls, so werden wir sagen müssen: ehe sie eintrifft hat ein gemeinsames Leben schon sein Erziehungssystem, und nun richtet man die Erziehung auf den Punct wo der Verfall zu befürchten ist. So ist der revolutionäre Character des Erziehungswesens ein Zeichen von dem eingetretenen Verfall einer Gesellschaft und jemehr diese Erneuerungen den Character der Einseitigkeit [haben], desto mehr deuten sie auf einen solchen hin. So erblicken wir | überall den Gang des Erziehungswesens. Von Null fängt sie an, ihr Dasein ist ein Zeichen vom Festgewordensein des gemeinsamen Lebens, das Verlieren der Festigkeit ist ein Zeichen vom Verfall. Dies giebt uns eine traurige Ahnung über uns selbst. Seit 50 Jahren bemerkt man im Erziehungswesen lauter einseitige Neuerungen. Sollen wir nun daraus schließen, daß unser gemeinsames Leben im Verfall sei? Allerdings. Doch leuchtet uns eine Hoffnung: das Leben eines Volkes ist etwas sehr Langes, Wechsel aber ist auch in seiner Blüthe, und so können wir uns die Hoffnung machen, daß wir in dieser Zeit stehen. Aber es muß nun eine andre Zeit in der Erziehung folgen, und der Wechsel in derselben muß ein Ende nehmen. Hierzu kommt noch eine tröstliche Betrachtung. Jedes gemeinsame Leben hat einen individuellen Character, und ist dadurch jedem andern entgegengesetzt, und stößt es als ein Fremdartiges ab. Dies finden wir beim ersten Anfange, wo sich das eine oder das andre organisirt. Wenn aber ein gemeinsames Leben zur Blüthe gekommen ist, und der Character fest geworden ist, so verliert sich das Abstoßen des Fremden und es öffnet sich der Sinn für dieses. Liebe zum Fremden ist dagegen etwas anderes, und ein Zeichen des Verfalls, indem man im eigenthümlichen Character nicht mehr bestehen kann. Wir stehen jetzt auf dem Punct, daß uns der Sinn fürs Fremde geöffnet ist, und die Liebe zum Fremden ist vorüberge|gangen. Dies ist ein Symptom vom Steigen. So können wir hoffen, daß sich auch der Wechsel 31–33 Vgl. SW III/9, S. 783: „Wir finden dies überall beim Anfange, wo sich ein gemeinsames Leben organisirt“.

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im Erziehungssystem wieder verlieren wird, aber nur auf dem Wege des vollständigen Beschauens, der genauen Theorie. Jene Ansicht vom Steigen und Fallen der Menschen durch die Natur ist also nur einseitig, und es muß zur Erklärung dieser Erscheinung noch ein Factor hinzukommen.

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Jede Veränderung, jede Revolution in der Erziehung, welche die Tendenz hat, durch eine veränderte Form die lebendige Berührung der Extreme in der Gesellschaft zu bewirken, trägt zum Steigen der Gesellschaft bei, und haben Veränderungen in der Erziehung diese Tendenz, so zeugen sie vom Steigen der Gesellschaft. Wir hatten uns eine Abstufung gebildet für die Wirksamkeit dieser positiven Seite der Erziehung im Vergleich mit den Einwirkungen des gemeinsamen Lebens überhaupt: je mehr etwas, das Gegenstand der Erziehung werden kann, und sich im Menschen entwickelt, eine Technik zuläßt, desto mehr kann es Gegenstand der Erziehung werden. Je weniger das zu Entwickelnde eine Technik zuläßt, desto weniger kann es Gegenstand der Erziehung sein, und desto mehr kommt auf die richtige Gestaltung des Lebens an. Halten wir uns dies vor, und fragen uns nach dem, was an diesen beiden Extremen liegt, so können wir es uns nach den Hauptzweigen der Erziehung abmessen. Offenbar ist die wissenschaftliche Erziehung | die welche am meisten positiv sein kann, wo alles sich Entwickelnde einer Technik fähig ist, außer wo es in die freie Production übergeht, die nicht durch Erziehung gelernt werden kann. Die religiöse Erziehung ist das andre Extrem, und kann nicht auf kunstmäßige Weise entwickelt werden; hier kommt es auf das Gesammtleben an, und die Erziehung kann nur negativ wirken. Zwischen diese hatten wir uns die Erziehung in Bezug auf das bürgerliche Leben gestellt, und dies liegt auch in der Mitte. Etwas darin geht rein von der Gesinnung aus, und liegt in der Religion, ein andres läßt Technik zu, und beide Zweige werden durch die Sitte verbunden, die ein Inneres und Äußeres zugleich ist. Lebt ein Mensch ganz in der vaterländischen Sitte durch Gewöhnung, so ist das eben nicht werthvoll; geht dies aber aus seiner innern Gesinnung 11 zeugen] zeigen 13 im] in 17 zu Entwickelnde] ZuEntwickelnde dem 30–31 Religion,] Religion

21 den]

14–17 Vgl. SW III/9, S. 784: „Je mehr etwas was sich im Menschen entwikkelt eine Technik zuläßt, in desto größerem Maaße wird es Gegenstand der Erziehung sein.“

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hervor, so ist es würdig. Unsre Aufgabe nun ist nachdem wir erkannt haben, worauf es bei der unterstützenden Erziehung ankommt, ein Princip für diese entwickelnde Erziehung zu finden. Dies ist schwer, und die meisten Differenzen im pädagogischen Verfahren rühren daher, daß man sich diese Aufgabe verschieden löst. Wir müssen die Momente aufsuchen, wodurch sie gelöst werden kann. Die Erziehung soll durch alle Unterstützung kein andres Resultat bewirken, als daß das heraustrete, was, wenn wir uns den Menschen sich vollkommen construirt denken von selbst erfolgt sein würde. Hieraus folgt, daß die Erziehung nichts anzufangen hat, sondern daß die Anfänge schon | da sein müssen in der Naturanlage und im gemeinsamen Leben. Wirken diese beiden Thätigkeiten fort, so muß das Resultat, das durch die Erziehung bewirkt werden soll, auch ohne Erziehung hervortreten. Die Erziehung muß also dahin sehen wo etwas ins Stocken geräth, und dann nachhelfen; sie muß den Gang beobachten, den die Entwikkelung selbst nimmt. Nun haben wir schon festgestellt, daß das menschliche Leben aus manchfaltigen Functionen besteht welche sich jede für sich mit einer gewissen Unabhängigkeit allmälig entwickeln. Alle diese haben einen gewissen Gegenstand, sie sollen sich desselben bemächtigen, die Beziehungen mit diesem Gegenstande sollen selbstthätig sein, und diese Selbstthätigkeit in ihrer Vollständigkeit ist Fertigkeit. Der Entwickelungsgang läßt sich also in die Factoren zerfällen, daß sich jede Richtung ihres Gegenstandes bemächtigt, und, daß die Behandlung desselben eine Fertigkeit wird. Ist dies der Fall, so ist der Mensch gebildet. Dagegen könnte man einwenden, wenn alle Beziehungen einer Richtung auf den Gegenstand selbstthätig sein sollen, so gehe ja die Empfänglichkeit leer aus. Allein der Gegensatz zwischen Receptivität und Spontaneität ist nicht über Gebühr hoch anzuschlagen. Die Sinne z. B. beziehen sich auf Receptivität, und doch wird niemand leugnen, daß man Sehen und Hören doch zugleich als Fertigkeiten ansehen kann, und daß, wenn man sie auf der ersten Entwickelungsstufe betrachtet, sie mehr receptiv sind. So hängen Spontaneität und Receptivität genau zusammen. Der Einfluß der Erziehung auf die Entwicklung der Sinne ist eben so groß, wie auf die Entwicklung der freiwilligen Bewegungen, obgleich diese mehr die Spontaneität und jene mehr die Receptivität repräsentiren. | Im Fortschritt unserer Betrachtung ist zu unterscheiden 1) die extensive Entwickelung, wodurch sich die Function ihres Gegenstandes bemächtigt und 2) die intensive Entwickelung, wodurch sie zur Fertigkeit wird. Nehmen wir z. B. die Sprache in ihren Elementen, so sind das Töne. Ist das Sprechen eine Function, so sollen die einfachen Töne 26 den] der

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durch die Sprachorgane hervorgebracht werden. Dies ist die extensive Entwickelung; Leichtigkeit der Aussprache ist die intensive. So entsteht für die Erziehung eine zweifache Aufgabe, nämlich die Erziehung soll die extensive und intensive Entwickelung in jeder menschlichen Function ergänzen. Alle diese Functionen aber bilden wieder ein Ganzes unter sich, und sehen wir den Geist als eine Einheit an, so scheinen jene Functionen als Organismus der Gegenstand zu sein, dessen sich der Geist bemächtigen muß. Dies ist also die extensive Entwickelung des Geistes. Die Lebendigkeit und Leichtigkeit des Willens dagegen, womit der Geist diesen Organismus beherrscht ist die intensive Entwickelung des Geistes. Beides zugleich kann aber nicht gefördert werden. Die Natur und die Einwirkung des Lebens bewirken hier einen beständigen Wechsel, und sind deshalb chaotisch; die Erziehung aber, die sich durch Bewußtsein characterisiren soll, darf auch hier nicht bewußtlos sein. Wenn aber beides nicht zugleich gefördert werden kann, jedes aber ein Unendliches ist, so entsteht ein Streit zwischen beiden Aufgaben, worin eben der Grund zu den differenten Maximen liegt. Bei welcher Entwickelung soll man anfangen, und wie von der einen zur andern übergehn? Freilich wenn die Erziehung nur ergänzen soll, was das Leben schon bietet, so könnten wir uns jener Frage überheben. Aber weil die Einwirkungen des Lebens chaotisch sind, so lassen sie sich | in ihren Wirkungen nicht sogleich beurtheilen, und die Erziehung muß daher, obgleich ergänzend ihren eigenen Weg gehn, erhaben über die chaotischen Einwirkungen des Lebens. Daher müssen wir thun, als sollte die Erziehung allein alles bewirken, und dadurch nur können [wir] ein Princip für ihre Einwirkung auffinden. Nun kommen wir auf jene Frage zurück, welche von beiden Entwikkelungen vorherrschen solle. Beide sind nothwendig in einander und ursprünglich einerlei. Die Fertigkeit kann ja nur am Gegenstand bewiesen werden, und der Gegenstand kann nicht angeeignet werden ohne Fertigkeit. Aber fragen wir nach der Fortschreitung bei beiden Entwicklungen, so entsteht ein doppeltes Interesse. Die extensive Entwickelung geht von einem Gegenstand zum andern, bis das Ganze erschöpft ist; das Interesse der intensiven Entwickelung ist es, die Fertigkeit zu vervollkommnen, und also, wenn die Beziehung einer Function auf einen Theil des Gegenstandes nicht vollkommen ist, diese erst zu vervollkommnen, ehe man zu einem andern Gegenstand übergeht. 2 intensive] extensive 6 eine] Kj innere tung] Fortschreitungen 33 einem] 1n

15 bewußtlos] Bewußtlos

31 Fortschrei-

21–22 Vgl. SW III/9, S. 787: „Allein die Einwirkungen des Lebens als chaotisch lassen sich in ihren Folgen nicht sogleich beurtheilen;“ 32 Vgl. SW III/9, S. 788: „so entsteht ein entgegengeseztes Interesse,“

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Ein reines Gleichgewicht zwischen beiden Entwickelungen ist nicht denkbar, und die eine Seite der andern unterordnen, ist nichts Unrechtes, sondern unvermeidlich. Giebt es aber ein Uebergewicht der einen Seite über die andre oder nicht? Offenbar ist es unrecht, wenn das Unterordnen der einen unter die andere bis zur gänzlichen Vernachlässigung der einen Seite geht. Denken wir uns nun die wesentlichen Functionen des Menschen, und hat sich die Erziehung auf eine einzelne Function geworfen, und nicht eher losgelassen, als bis diese Fertigkeit war, so entsteht daraus Einseitigkeit, obgleich Virtuosität. Ein solcher Mensch wäre Organ, aber ohne leitendes Princip. Dies ist nichts, aber auch das Entgegengesetzte ist nichts. Denn die Bildung eines extensiv entwickelten Menschen wäre manchfaltig aber schlecht, wie bei jenen die größeste | Vollkommenheit, aber im Einzelnen, herrschen würde.

34. Vorlesung Methode ist eine gewisse Regel in Beziehung auf jene zwei verschiedene Richtungen, auf der einen Seite sich den ganzen Gegenstand anzueignen, und auf der andern die größeste Fertigkeit hervorzubringen. Hier entsteht die Frage, ob sich über die Methode etwas Allgemeines festsetzen läßt für alle Gegenstände der Erziehung. Zuerst aber müssen wir sehen, wie sich beide Richtungen gegen einander verhalten. Es kommt hier darauf an, ein Gesetz zu finden, wonach beide Zwecke zugleich erreicht werden können. Wäre der eine dem andern untergeordnet, so wäre jenes Gesetz leicht aufzustellen. Da jenes aber nicht der Fall ist, so müssen wir beide Richtungen in ein bestimmtes Verhältniß zu einander setzen. Denken wir uns nun eine geistige Verrichtung, so können wir behaupten, daß sie, wenn sie sich ihres ganzen Gegenstandes bemächtigt hat, von selbst zu einer gewissen Intension gelangt ist, denn die Leichtigkeit ist Folge der Wiederholung, und je öfter etwas bei gleichem natürlichen Vermögen verrichtet wird, desto größer wird die Fertigkeit. Wiederholung ist Hauptsache, und ist mit ihr das extensive Ziel erreicht, so ist auch das intensive erreicht. Arbeitet man rein auf die Intension, so wird dadurch nicht die Extension bewirkt, obgleich dies auch wohl mittelbar geschehen kann. Denn wenn dieselbe Handlungsweise auch nur in einem Theil eines Gegen24 jenes] Kj dies 16–18 Vgl. SW III/9, S. 788–789: „Und das würde die beste Methode sein, vermöge der es möglich würde die Totalität der Gegenstände | einerseits sich anzueignen,“

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standes so wiederholt wird, daß eine große Fertigkeit entstanden ist, so hat man dadurch zwar nicht den ganzen Gegenstand, aber doch die Leichtigkeit, sich alle andre Theile desselben auf eine sehr leichte Weise anzueignen. Z. B. diene das Sprachvermögen. Die Totalität des Gegenstandes ist die Gesammtheit aller Sprachen. Setzen wir den Fall, daß das Sprachvermögen in einer Sprache in jeder Beziehung vollkommen ange|eignet ist, so hat dieser Mensch zugleich eine allgemeine Sprachlehre im Kopfe und ihm bleiben bei andern Sprachen nur noch die mechanischen Schwierigkeiten übrig. Halten wir uns an intellectuelle Verrichtungen, so müssen wir davon dasselbe sagen. – In so fern es nun auf beiden Seiten gleich steht, ist der Vortheil aufgehoben, der uns zu erwachsen schien, wenn die eine Seite der andern untergeordnet wäre. Jetzt müssen wir zwischen beiden wählen, oder beides mit einander verbinden. Jene Gesetzgebung geht aber nur daraus hervor, daß wir uns von der einen Seite die absolute Vollkommenheit dachten. Da aber dieses Treiben doch nur ein ideales Ziel ist, so scheint die Frage in die unendliche Manchfaltigkeit zu zergehen, so daß sie uns in Bezug auf jeden Gegenstand gelößt werden zu können scheint. Also müßte man dabei auf die Beschaffenheit des Gegenstandes und auf die Individuen sehn. – Ein gewisser Grad von Fertigkeit ist bei der Erziehung immer schon gegeben. Brauchte man nun nur eine von beiden Richtungen zu verfolgen, so müssten wir sagen, wenn uns ein Zögling gegeben wäre, der schon Fertigkeit und mehrere Gegenstände hätte, daß wir das eine vernichten, und die andere Seite hervorheben müßten. Wie möchten wir das aber? Wenn z. B. im Gesange jemand schon eine Fertigkeit hätte, und wir nun jener Ansicht gemäß statt ganzer Passagen auf das einfache zurückgehen wollten, so wäre dieses ein Ton. Aber auch dieser ist noch nicht das einfachste. Jeder Ton wird bestimmt durch Höhe und Tiefe, crescendo und decrescendo, und es | kommt dabei auch noch auf den schnellern und langsamern Uebergang von einem Ton zum andern an. Folglich müßte der Ton 9–10 intellectuelle] intellecktuelle 14 Gesetzgebung] Kj Gleichstellung (so Göttinger Nachschrift, S. 60v) oder: Kj Gleichsezung (SW III/9, S. 790) 31 der Ton] Kj die Übung 20–21 Vgl. SW III/9, S. 790: „Die Erziehung macht nie den Anfang, sondern findet immer schon ein gegebenes vor, auch einen gewissen Grad von Fertigkeit.“ 23– 24 Vgl. SW III/9, S. 790: „der schon eine gewisse Fertigkeit in einem Gegenstand und mehrere Gegenstände sich angeeignet hätte.“ 25–28 Vgl. SW III/9, S. 790: „Nehmen wir an, es habe jemand im Gesange schon eine gewisse Fertigkeit, eine Geläufigkeit in der Production der Töne, und es habe sich dies so von selbst ergeben durch die τριβή: so müßten wir um methodisch zu Werke zu gehen nach jener Ansicht diese Fertigkeit vernichten, auf das einfache zurükkgehen, statt ganzer Passagen den einfachen Ton singen lassen.“

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noch in diese drei Operationen zerfällt werden, welche sich aber gar nicht von einander trennen lassen. Sehen wir die Sache so an, so geht daraus hervor, daß sich die ganze Kunst der Methode in die Aufgabe auflösen lasse, überall die rechten Elemente zu finden. Methode ist immer das Gesetz für die Behandlung der Elemente. Es giebt aber wenig Gegenstände, die auf e i n Element zurückgehn. Können wir auf einem Gebiete, wo beide Richtungen vereinigt sind, nur dann etwas Zusammengesetztes produciren lassen, wenn erst beide Richtungen befolgt sind, so müßten wir beide Richtungen erst trennen, was jedoch unmöglich ist. Entweder muß man also die Uebung nach allen Seiten richten, oder man bringt ein der Idee unadäquates Element in die Richtung auf das einzelne, und dieses kommt leider doch stets hinein, und etwas wird doch immer vernachlässigt. Daher die Frage: lassen sich allgemeine Principien für die Methode aufstellen ohne alle Beziehung auf den Gegenstand? Etwas hierzu ist hier schon gethan, und wir müssen also das Ganze zugeben. Das erste ist die richtige Auffindung der Elemente: diese können wir aber nicht bestimmen, ohne auf die einzelnen Gegenstände einzugehn, und so muß uns dazu eine wissenschaftliche Kenntniß der Gegenstände vorliegen. Im Allgemeinen müssen wir sagen, daß überall, wo es eine Mehrheit von Elementen giebt, ein Ganzes auch ein Zusammengesetztes ist, und auf diese Weise die verschiedenen Richtungen schon darin sind. Die Uebung z. B. von einem Ton in den | andern rasch überzugehn ist nur einseitig. So muß man bei dem einen immer vom andern abstrahiren, und nicht darin unterrichten. Wir müssen also ein Gesetz finden diesem Mangel abzuhelfen, oder ihn so klein zu machen wie möglich. Hierbei müssen wir uns an die allgemeinsten Verhältnisse halten. Sobald eine Mehrheit von Elementen gegeben ist, so fragt es sich, ob sie in gleichem Range stehen oder nicht. Wo nicht, so ist das eine auf das andre gerichtet, und sie sind nicht in einem vollkommenen Sinne Elemente, sondern es ist 23 von] vom

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10–14 Vgl. SW III/9, S. 791: „Entweder muß man also die Uebung nach allen Seiten richten, oder man bringt ein der Idee inadäquates Element in die Richtung auf das einzelne; dies kommt leider immer mit hinein in die Uebung, so daß die Idee der Erziehung nur jedesmal in dem sich ausspricht was geübt wird, in dem anderen nicht, und etwas wird dann vernachlässigt.“ 14–17 Vgl. SW III/9, S. 791: „Lassen sich allgemeine Principien für die Methode aufstellen abgesehen von der Beziehung auf bestimmte Gegenstände? so geht aus dem vorigen hervor, daß wir die Frage im allgemeinen bejahen können, aber auch nur im allgemeinen.“ 20–26 Vgl. SW III/9, S. 792: „Da überall wo es eine Mehrheit von Elementen giebt, auch das einzelne was geübt werden soll schon ein ganzes ist, zusammengesezt aus beiden Richtungen, so daß man das eine übend von dem anderen immer abstrahiren muß:“

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darin schon eine Fortschreitung vom Einfachen zum Zusammengesetzten. Man muß also bei den ursprünglichsten Elementen anfangen. Sind diese völlig gleich wie in dem obigen Beispiel, so muß man sie gleichzeitig produciren. Aber auch dies ist ein schwankendes Maß, und bedarf der Kunst zur Lösung, indem man noch auf die verschiedenen Anlagen Rücksicht nehmen muß. Also kann das Gesetz nur ganz unbestimmt aufgestellt werden, und man muß sagen, die nähere Bestimmung beruhe auf dem Gegenstande, und je nachdem die Erziehung eine Privaterziehung ist oder eine gemeinsame.

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Allgemeine Principien können nur sehr unbestimmt gegeben werden. Gesetzt nun, die Elemente seien gefunden, so fragt es sich nach der weitern Regel der Fortschreitung. Diese können wir nicht finden, wenn wir nicht Anfang und Ende verknüpfen. Das Ende war zweifach, die intensive und extensive Vollkommenheit. Wenn wir nun eine von beiden in absoluter Vollendung denken, so ist die andre zugleich mit gesetzt; aber wir haben auch beantwortet, daß dies nicht vom untergeordneten Punct gilt, und das giebt uns Aufschluß über die Regel der Fortschreitung. Wenn man von den Elementen aus in einer gewissen | Gleichmäßigkeit nur auf die extensive Vollkommenheit hinarbeitet, so folgt daraus noch nicht, daß dadurch auch gleiche intensive Vollkommenheit gewonnen sei; es bleibt immer eine unbestimmbare Differenz. Eben so kann umgekehrt durch absolute Fertigkeit jeder Theil des Gegenstandes angeeignet werden. Aber auch dies gilt nur von der absoluten Vollendung der Fertigkeit. Jeder untergeordnete Grad von Fertigkeit kann auch hinter dem zurückbleiben, was ihm bei der extensiven Vollkommenheit parallel wäre; – d. h. auf der Seite der extensiven Vollkommenheit verhalten sich die einzelnen Theile nicht gleichmäßig zur Erwerbung der Fertigkeit, und die Grade der Fertigkeit verhalten sich nicht gleich zur Aneignung aller Theile des Gegenstandes. Betrachten wir z. B. auf dem musikalischen Gebiet speciell ein Instrument. Die Totalität besteht darin, in allen Arten von Tönen spielen zu können; die Fertigkeit besteht in der Leichtigkeit 3–4 Vgl. SW III/9, S. 792: „Sind diese völlig gleich, wie bei dem obigen Beispiel vom Ton: so kann man das eine ohne das andere üben; z. B. das bloße Zeitmaaß für sich u. s. w.; und dann combiniren; oder gleichzeitig das eine mit dem anderen produciren, lezteres dann, wenn das Nacheinander durchaus nicht möglich ist.“ 17–18 Vgl. SW III/9, S. 792–793: „jedoch gilt dies nur, wie wir ge|sehen haben, bei absoluter Vollkommenheit, nicht von untergeordneten Punkten“ und Göttinger Nachschrift, S. 61r: „in untergeordneten Punkten gilt dieß aber nicht.“

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und Sicherheit der Production. Sagt nun jemand, er habe alle Passagen in seiner Gewalt, so hat er sich die Totalität des Gegenstandes angeeignet, und dann muß er auch eine absolute Fertigkeit haben. Eben so muß er umgekehrt, bei der Fertigkeit alles zu spielen, war ihm vorgelegt wird, alle Passagen in seiner Gewalt haben. Bei einem untergeordneten Punct ist es nicht mehr so. Es kann jemand viel gespielt haben, ohne viel Fertigkeit zu besitzen, und bei einem ziemlichen Grade von Fertigkeit braucht ihm auch nicht der ganze Gegenstand eigen zu sein. – Daraus folgt, daß die Differenzen bestimmt werden durch den verschiedenen Gang, der von den Elementen aus genommen worden ist. | Wenn sich nun alle möglichen Fortschreitungen von dem Element an nicht gleich verhalten, es aber zweierlei Fortschreitung giebt, so werden wir festsetzen, daß wir, wo diese beiden Fortschreitungsweisen sich bestimmt unterscheiden lassen, keiner einen unbedingten Vorzug vor der andern geben, aber sagen werden, jede sei nur so die beste, daß sie auf die andere die vollkommenste Rücksicht nimmt. Nun ist offenbar, daß verschiedene einzelne Theile eben deshalb, weil sie solche sind, ein verschiedenes Verhältniß zum Ganzen haben müssen, d. h. wenn man auf der extensiven Seite anfängt, so muß man sagen: es ist nicht einerlei, zu welchen Theilen des ganzen Gebietes man von dem einen übergeht, sondern die Fertigkeit muß auch berücksichtigt werden; und nicht alles, was um der Fertigkeit willen gethan wird, wirkt auf die Leichtigkeit, sich den ganzen Gegenstand anzueignen, sondern die Fertigkeit muß von einem zum andern geleitet werden. Beim Realen kommt es nun auf die Kunst an, diejenige Fortschreitung zu finden, die auf der andern Seite das meiste thue. Diese Kunst ist zusammengesetzt aus der pädagogischen Kunst und der Sachkunde selbst. Hierfür ist die allgemeine Formel: wenn die Fortschreitung einen zweifachen Character haben kann, so ist das allgemeine Gesetz auf der extensiven Seite diejenigen Uebergänge zu suchen, wodurch zugleich am meisten auf der intensiven Seite gewonnen wird, und umgekehrt die Übung der Fertigkeit zu suchen, wobei auf der extensiven Seite am meisten gewonnen wird. Hierzu kommt noch eine rein pädagogische Betrachtung. Die rechten Methoden bestimmt zu finden, ist | nur durch Sachkunde möglich. Aber allgemein pädagogisch möglich ist es, die Aberrationen 7 von] vom

15 der andern] den andern beiden

26 der] jeder

11–12 Vgl. Göttinger Nachschrift, S. 61r–61v: „Wenn sich alle möglichen Fortschreitungen von den Elementen ungleich ver|halten,“ 32–33 Vgl. SW III/9, S. 793: „und umgekehrt, bei Uebung der Fertigkeit diejenigen Uebergänge zu wählen bei denen auf der extensiven Seite am meisten gewonnen wird.“ 36–1 Vgl. SW III/9, S. 794: „so läßt sich doch im allgemeinen als rein pädagogisch noch eine Anleitung geben, die Aberrationen zu entdekken an den Folgen welche die falsche Methode hervorbringt.“

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bald zu finden an den Folgen, die sie hervorbringen. Dazu können wir eine allgemeine Anleitung geben, wenn wir die Sache im Großen betrachten. Wir nehmen an, daß es auf jedem Gebiet der Erziehung die extensive und die intensive Reihe giebt. Nun haben wir gesehn, daß es auch zwei Fortschreitungsweisen geben kann, so daß ein maximum der Fertigkeit und Extension entsteht. Woran zeigt sich nun, daß das eine oder das andre geschehn sei? Derjenige welcher mit dem ganzen Gegenstande einer Thätigkeit bekannt ist, und nur ein minimum von Fertigkeit hat, wie dies wohl möglich ist hat den Gegenstand nicht, sondern nur den Schein ihn zu haben den δοξοσοφία (Weisheitsdünkel) – die Folge einer extensiven Methode bei vernachlässigter intensiver. Hier entsteht bei dem Zöglinge Eigendünkel, z. B. wenn jemand in der Philologie viel gelesen hat ohne grammatische Sicherheit zu besitzen. Auf der andern Seite kann man viel Zeit verwenden, um die Fertigkeit zu üben, ohne daß daraus ein Gewinn für die Extension entsteht. Jede Fertigkeit nun ist eine organische Thätigkeit, und der Mensch hat immer nur beschränkte Gewalt über seine Organe, daher entsteht aus der unendlichen Wiederholung Eckel und Unlust. Hierin fehlt besonders die pestalozzische Methode. Ueberhaupt bekommt man auf diese Weise doch nur ein minimum der Totalität. – An diesem Kriterium also kann man die Aberrationen erkennen: ist in der Methode | gefehlt, so werden die Zöglinge entweder eitel oder eckel. Kommt man aber zwischen Ermüdung und Eitelkeit hindurch, so ist die Methode gut. – Allein bei der großen Masse der Zöglinge und auch bei verschiedenen Methoden, die dessen ungeachtet nicht alle gleich gut sind, findet man weder das eine noch das andre. Hier sind zwei Factoren zu berücksichtigen, die vom Gange der Erziehung abhangen: die Langsamkeit oder Schnelligkeit der Fortschritte, und in wie fern diese den Zöglingen selbst bemerklich wird. Unsre Unterrichtsmethoden z. B. haben sich seit 30 Jahren sehr geändert, und wenn wir in Beziehung auf manche Gegenstände fragen, ob die Zöglinge, als die Methode schlechter war, eitler oder träger waren, als jetzt, so müssen wir dies verneinen. Damals aber hatten sie einen andern Maßstab, und bekamen durch die Methode selbst nicht einen so baldigen Ueberblick über das Ganze des Gegenstandes. Eben so muthet man auf der andern Seite jetzt den Zöglingen mehr Beharrlichkeit bei demselben Dinge zu, während sie schon sehen, wohinaus es will, und dennoch sind sie nicht träger als damals. Dies liegt darin, daß 3 jedem] jeden 29–30 Vgl. SW III/9, S. 794–795: „Unsere Unterrichtsmethoden haben sich seit fünf|zig Jahren sehr geändert;“

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jetzt in der Erziehung auf das Bewußtsein ein größerer Werth gelegt wird als damals. Der andere Punct ist, daß jene Fehler weniger zum Vorschein kommen können, in dem Maße die Masse größer ist. Bei der einzelnen Erziehung kommt beides, Stolz und Eckel zum Vorschein, das gemeinsame Leben hat eine erregende Kraft, und hält die Ermüdung länger zurück.

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Da die verschiedenen Beziehungen auf das gemeinsame Leben sich eigentlich erst an das Ende der Erziehung anschließen, so müssen wir die periodische Differenz der Erziehung voranschicken. Was die allmälige Entwickelung der Erziehung betrifft, so haben wir zwei Hauptpuncte, die uns die wesentlichen Differenzen | derselben zu bezeichnen scheinen. Der letzte ist, wo die Gesellschaftsfunctionen vollständig entwickelt sind, und wo auch zugleich die Eigenthümlichkeit des einzelnen entwickelt ist. Das Abstoßen der Geschlechter schien oben nur auf einer äußerlichen Beziehung zu beruhen, allein dies ist natürlich kein isolirter, sondern nur ein physischer Punct. Dieser Punct ist das Ende der Kinderjahre, jedoch nicht mathematisch bestimmbar. Was liegt nun der Erziehung in Bezug auf diese Fortschreitung ob? Zu berücksichtigen ist hier die Eigenthümlichkeit des einzelnen Lebens und der durch die Natur ausgesprochene Anfang der Mündigkeit und persönlichen Freiheit. Von hier an ist die Erziehung im Abnehmen. Die mittlere Periode ist die eigentliche Zeit der bestimmten allgemeinen Ausbildung in Erwartung der sich entfaltenden Eigenthümlichkeit, daß diese einen möglichen ausgebildeten Organismus vorfinde. Diese Periode ist die des vorwaltenden Gehorsams, weil auch die Entfaltung des Willens erst erwartet wird, und auch dafür der Organismus vorbereitet sein soll. Die erste Periode ist die pädagogische, wo sich die Erziehung mehr an das Chaotische des Lebens anschließt. Aber indem man dabei schon auf eine zweite Periode sehen muß, so ist ihr Hauptcharacter, daß die Kinder zum Gehorsam gebildet werden sollen damit sie in die zweite Periode übergehn können. Dies sind die Hauptgesichtspuncte bei Entwickelung der Fortschreitung der Erziehung. 3–7 Vgl. SW III/9, S. 795: „Bei Privaterziehung kommt beides Eitelkeit und Ueberdruß mehr zum Vorschein, ebenso in kleineren Erziehungsanstalten; dagegen in den größeren Instituten das gemeinsame Leben seine erregende Kraft beweiset, Stolz und Ermüdung zurükkhaltend; in der Masse wird das Gefühl des einzelnen zurükkgedrängt durch das Gemeingefühl.“

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Genau genommen fängt die Erziehung mit dem Leben zugleich an, und zwar nicht gerade als ein minimum, denn das Kind besteht nur durch Erziehung, und ohne fortwährende Sorge würde das Leben gar nicht wurzeln. Aber diese Art von Sorge unterscheiden wir von der spätern, und so können wir sagen: | die Erziehung tritt hier als ein minimum auf, sie erhält nur, entwickelt nicht. Erst in der zweiten Periode wird entwickelt. Man sagt daher: die erste Periode ist die der physischen Erziehung, die zweite die der intelligenten, und die dritte die der ethischen Erziehung. Allein aus diesen Ausdrücken können leicht Mißverständnisse entstehen, denn alle Erziehung ist ethisch, und will man auch nur erhalten, so will man nur ein freies Wesen und Leben erhalten. Eine überwiegend physische Erziehung giebt es eigentlich auch in der ersten Periode nicht. Das wesentliche aber liegt darin, daß die Hauptsorge auf die Ethik gerichtet ist, denn indem man in der ersten Periode zur Entwickelung wenig beitragen kann, so soll doch der Mensch erhalten werden als ein selbst Entwickelndes und um der Entwickelung willen. Hier entsteht die Frage: welche Form soll in Beziehung auf die natürliche Existenz die Erziehung in dieser Zeit haben? Hier fällt der Gegensatz zwischen der Erziehung im einzelnen und in Massen ganz weg. Denn es liegt in der Natur, daß die Kinderzeit ganz ans Hauswesen gewiesen ist, weil die Erhaltung auf einem Lebenszusammenhange beruht, der durch nichts anderes ersetzt werden kann. Zwar giebt es im einzelnen wohl Ausnahmen, und man übergiebt wohl die Kinder einer Amme; dann ist aber der Naturzusammenhang gelößt, und nimmt dies Ueberhand, so wird die französische Sitte bei uns Mode, worin ein böses Gewissen liegt, ein Gefühl von Unfähigkeit oder Unlust die mütterlichen Pflichten selbst zu übernehmen. Man findet sogar Theorien von dieser Art aufgestellt, daß alle Mütter ihre Kinder gleich nach der Geburt der bürgerlichen Gesellschaft übergeben, und dann | erwarten sollen, ob ihnen ihre eignen Kinder oder andre zugetheilt werden, z. B. in Platons Republik. Diese Theorie hat eine aristokratische Wurzel im edelsten Sinne des Wortes. Sie geht davon aus, große Differenzen anzulegen welche jedoch nicht angeboren sind. Allein es ist immer ein Schade, daß auf diese Weise gemeine Naturen edle Aeltern bekommen. So kann durch die Erziehung nicht so viel Gutes erreicht werden, wie wenn die Erziehung gleich vom Anfange an eine gemeinsame wäre. – Es giebt angeborne Differenzen unter den Menschen, und die Erziehung kann nicht das 30 ihnen] ihm

33 jedoch nicht] Kj jedoch

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31 Vgl. Platon: Politeia, 5. Buch, besonders 460b–d; Opera 7,25–26; Werke 4,400– 403

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im Menschen entwickeln, was sie will, sondern was in ihm liegt. Aber diese Differenzen sind sehr wandelbar, und daher geht auch das allgemeine Bestreben des Ethischen darauf, diese Differenzen allmälig abzustumpfen. Jene Theorie setzt aber das Talent voraus diese Differenzen zu erkennen, um ihnen abhelfen zu können. Ist das nun möglich oder nicht, daß man sie schon in der ersten Periode der Erziehung erkenne? Fragen wir zuerst, worinn denn diese Differenzen bestehn so sind es nicht Differenzen der Talente, sondern der eigentlichen Intelligenz im Verhältnisse zur Sinnlichkeit. Dies hat eine theoretische und eine practische Seite. Die letzte besteht im Uebergewicht des Willens über die Triebe. Nun fragt es sich, ob es möglich ist, diese Differenzen schon in der ersten Periode der Erziehung zu erkennen? Nehmen wir die Kinderjahre bis zum 6ten oder 8ten Jahre, so geht unterdeß eine so erstaunliche Entwickelung bei den Kindern vor, daß keine folgende Periode damit Schritt hält, | und so können diejenigen, die den Zögling mit Neigung verfolgen, schon Anzeichen über dasjenige haben was aus ihm werden wird. Aber fragen wir danach, was sich in dieser Zeit am meisten entwickelt, so sind es die Talente. Auf ihrem Gebiete liegen die größesten Differenzen der Kinder z. B. auf dem musikalischen, philologischen, mathematischen Gebiete. Aber über das Verhältniß zwischen der Intelligenz und Sinnlichkeit kann man am Ende der Kinderjahre noch gar nicht urtheilen. Hier erfolgen die schnellsten Umkehrungen erst mit den Zeiten der Mannbarkeit. Folglich braucht in der ersten Periode die Erziehung keine gemeinsame zu sein. Auch kann der Naturzusammenhang zwischen Kindern und Aeltern in dieser Zeit durch nichts andres ersetzt werden. In der Folge treten aber Aufgaben ein, die nicht mehr in der häuslichen Erziehung, sondern nur in der öffentlichen gelößt werden können. Aber die Aufgabe über die Grenzbestimmung zwischen beiden Perioden und Erziehungsarten läßt sich nur unbestimmt lösen.

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37. Vorlesung In keinem Zeitraum wird das Bewußtsein so erfüllt, wie in den Kinderjahren, der Entwickelung in dieser Periode kann man nur zusehn, nicht sie leiten. In den Kinderjahren entwickelt sich auch schon das religiöse Bewußtsein, auch schon durch das Hauswesen. Eben so wird die politische Anlage entwickelt durch das Hineinleben in die häusliche Sitte. Nun muß das Verhältniß bestimmt werden zwischen den verschiedenen Formen der Erziehung in dieser Periode, in wie fern sie 5 ihnen] ihm

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positiv sein kann, und negativ sein muß. Im Allgemeinen können wir feststellen, daß die Erziehung mehr negativ ist in Ansehung der Entwickelung, in so fern diese sich weniger von dem gemeinsamen Zusammenleben | unterscheidet. Nachher tritt auseinander, was Resultat des Lebens und einer absichtlichen Einwirkung ist. So kann hier von keiner Methode die Rede sein in allem, was zur Entwickelung gehört, und so sind alle Vorschriften in dieser Beziehung mehr negativ. Dies stimmt damit überein, daß die Erziehung hier ans Hauswesen gewiesen ist, an ein gemeinsames Zusammenleben, welches von selbst lehrt. Bei der öffentlichen Erziehung muß weit mehr Methode sein. Auf ähnliche Art ist zu bestimmen, in wie fern diese Periode auch in Beziehung auf den Gehorsam pädagogisch ist. Denn beim Anfang der Erziehung ist auch keine Verständigung möglich weil das Kind noch nicht reden kann. In der zweiten Periode ist der Gehorsam herrschend, er kann aber nicht mit einmal hervorgebracht, sondern muß vorbereitet werden. Daher darf er in der ersten Periode, auch noch nicht die strenge Form haben. Der Gehorsam gegen Verbote muß aber in seiner ganzen Stärke da sein, weil sonst die Erziehung nicht auf die Erhaltung gerichtet sein kann. Diese erste Periode kann nicht genau begrenzt werden, denn eine frühe Entwickelung ist immer krankhaft, sie sei durch die Natur oder durch falsche Behandlung erzeugt. Manches Kind entwächst der Kindheit mehr in der einen als der andern Beziehung, und so haben wir in einem lebendigen Ganzen nur verwaschene Grenzen. Daher müssen wir ins einzelne gehn. Wenngleich die Erziehung in ihrer strengen Form noch nicht hervortritt, so ist doch die Differenz zwischen dem eben gebornen Kinde und dem Erwachsenen so groß, daß wir hier noch einen Abschnittspunct suchen müssen. Dieser kann nun in Beziehung auf das Hervortreten der Erziehung selbst gefunden werden. Dieses geschieht durch das Werk | des Gehorsams, denn darauf beruht das Gelingen der ganzen Erziehung. Dieser beruht aber auf der Verständigung und diese auf der Sprache. Denn diese wirkt auf das Denken, das den Geboten und Verboten zu Hülfe kommen muß. Aber auch dieser Punkt ist ungewiß. Die Kinder vernehmen offenbar schon, ehe sie selbst sprechen, und sie sprechen schon selbst, ohne daß sie die Sprache ganz verstehn. Doch die ganze Entwickelung des Menschen auch nach der Periode der Erziehung ist ein beständiges Innebekommen der Sprache und wir unterscheiden die Menschen selbst, je nachdem sie dieselbe mehr oder weniger inne haben. So können wir auch im Anfange der Erziehung keinen bestimmten Abschnitt machen, sondern nur im Begriffe die Scheidung bestimmen: alle Verstän33 den] dem

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digungsmittel vor der Sprache, das Pantomimische und Musicalische, ist mehr auf das Gefühl, aber das Wesen der Sprache ist der Begriff, woran auch der Gehorsam gebunden ist. Denn die Vorschrift muß in ihrem bestimmten Maße verstanden sein, und für die Erziehung ist sehr unbequem, wenn die Kinder über die Vorschriften selbst skeptisiren und dialektisiren. Durch die Sprache muß also ein gemeinsames Leben der Begriffe gegeben sein. So ist es ja auch in der Gesetzgebung. Mit dem Besitz der Sprache tritt erst die Periode der eigentlichen Erziehung ein. Wir müssen also sondern die Behandlung der Kinder, ehe sie sprechen können, von der Behandlung derselben, wenn man durch das Medium der Erziehung auf sie wirken kann. Hierbei haben wir zweierlei zu betrachten. 1) das Geschäft der Erhaltung; 2) in Beziehung auf die Entwickelung ist a) zu unterscheiden das fragmentarische technischer Erziehung, das sich aber nur | an der Einwirkung des Lebens äußert, b) das Verbot. Das erste ist offenbar im ersten Theile dieser Periode dasselbe wie im zweiten. In Beziehung auf das zweite kann es vor dem Besitze der Sprache keine Erziehung geben. Was ist aber das, was vor der Sprache die Stelle des Gehorsams vertritt, so daß dieser nachher bald hervorgebracht werden kann? Also 1) was ist in Bezug auf die Erhaltung zu thun? Sie kann nicht von der Entwickelung getrennt werden, und diese erfolgt von innen von selbst, und daran knüpft sich die wenig positive Unterstützung in dieser Periode und die Hemmung des Schädlichen an. Was giebt es aber in dieser Zeit zu erhalten? Offenbar das, was schon entwickelt ist, d. h. schon der Mensch selbst in seinem Anfange von der Erzeugung an. Der ganze Mensch in dieser ersten Zeit kommt noch nicht zur Wahrnehmung, denn die geistigen Functionen verkündigen sich uns erst durch die Sprache. Zuerst tritt das Ethische, die Liebe hervor, das Anerkennen des Lebenszusammenhanges; das Intelligente verbirgt sich noch. Doch öffnen sich nach und nach die Sinne, und nehmen activ die Gegenstände auf, und diese Functionen müssen behütet und erhalten werden. Die Sinne hangen aber an ihren Organen, und wie der Verstand nicht eher bemerkt wird, als bis die Sprache entwickelt ist, so manifestirt sich auch der ganze Geist nur am Leibe, und so tritt in dieser Zeit das Leibliche hervor. Hier entsteht die Frage, ob auch in Beziehung auf die Erhaltung im Materialen der Erziehung eben da ein natürlicher Abschnitt eintritt, wo wir in der Form einen gefunden haben. Das leibliche Leben | hangt vom Assimilationsprocesse ab, d. h. es muß sich Stoff aneignen. Bei der Geburt nun sind die Kinder von den Erwachsenen wesentlich verschieden, denn sie sind an die 2 auf das Gefühl] Kj auf das Gefühl gerichtet deum

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Muttermilch gewiesen, und so ist die Selbstständigkeit ihres Lebens noch nicht ausgesprochen. Erst wenn das Kind Nahrungsmittel zu sich nimmt, ist das einzelne Leben selbstständig. Dies hängt aber ab von der Zahnbildung und diese von der Sprachentwicklung. Und so fallen beide Momente, der eine physische und der andre intellectuelle, wesentlich zusammen.

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Die Ernährung des Kindes vor der Geburt ist unwillkührlich nach der Geburt willkührlich. Doch soll die Mutter das Kind so lange nähren, wie sie es in sich getragen hat. Allein hier kommt auch der Gesundheitszustand sehr in Betrachtung, worüber der Arzt entscheiden muß. Kann die Mutter ihr Kind nicht selbst ernähren, so muß sie entweder eine Amme nehmen, oder dem Kinde andre Nahrungsmittel geben. Hier tritt ein Ethisches Moment ein. Weil die Muttermilch für Affecte sehr empfänglich ist, so ist es bedenklich, das Kind mit der fremden Person in Verbindung zu setzen. Dazu kommt noch, wenn man von dem Unterschiede zwischen edlern und gemeinern Naturen ausgeht, daß das Kind leicht in eine geistige Analogie mit der Ernährerin hineingezogen werden könnte. Es ist offenbar, daß die instinctartige Liebe der Kinder zur Mutter nicht so groß ist, wenn sie dieselben nicht selbst nährt. Hiernach wäre es vorzuziehn, das Kind an fremde Nahrungsmittel zu gewöhnen. Aber es giebt hier eine andre Ansicht wonach man sagt, das könne durch die Erziehung aufgehoben werden, wenn sich eine mehr | geistige Seite der Liebe entwickelt. Das zweite, wodurch sich in Bezug auf das physische Leben der Zustand des Kindes nach der Geburt vom Zustande vor derselben unterscheidet, ist die unmittelbare Berührung der Atmosphäre, der Zusammenhang mit der äußern Welt. So wirken alle Bewegungen in ihr auf das Kind ein. Hier geht die Differenz an zwischen einer abhärtenden oder verweichlichenden Erziehung, und es kann in dem einen wie in dem andern zu viel gethan werden. Man kann unstreitig ein Kind zu früh der Einwirkung der Atmosphäre aussetzen, und dann kann die schwache Lebenskraft des Kindes noch nicht im Stande sein, den nöthigen Widerstand zu leisten. Aber auch die Verweichlichung kann zu früh angehn. Jeder bildet sich eine eigenthümliche Atmosphäre oder Wärme, und die Kraft dazu muß durch die Nothwendigkeit, den Widerstand zu reizen erregt werden. Aber hier lassen sich 32 der] die

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gar keine bestimmten Vorschriften geben, sondern nur Beobachtungen machen. Nun folgt die weitere Entwickelung des Lebens, die von innen ausgehn muß, und wozu die Erziehung nichts thun kann. Doch giebt es etwas zu verhindern. Die leibliche Seite des Lebens ist noch die vorherrschendste, und von den mehr geistigen Functionen entwickeln sich nur die Sinne. In dieser Zeit herrschen die freien Bewegungen der Muskeln und die Entwickelung der Sprache vor. Wir können dies zusammenfassen unter dem Gegensatz von Receptivität und Spontaneität. Was jene betrifft, so kann die Erziehung eigentlich gar nichts dazu thun. Die Welt muß allmälig in das Kind eingehn, und dabei kann man nur die Spontaneität in Betrachtung ziehen. Das z. B. wodurch das Bewußtsein zuerst er|füllt wird, ist das Gesicht. Indem die Augen vor der Geburt geschlossen sind, das Öffnen derselben aber schon eine zusammengesetzte Bewegung ist, da theils der Reiz des Lichts einwirkt, theils es eine willkührliche Handlung ist, so findet sich hier das Zusammensein von Receptivität und Spontaneität. Was kann nun zur Beförderung dieser Entwickelung auf eine absichtliche Weise geschehn? Wollten wir dem Mechanismus des Naturreizes noch etwas hinzufügen, so würden wir der Entwickelung schaden. Die Kinder müssen daher nach der Geburt wieder in die Dunkelheit zurück, und man muß hier hemmend einwirken. Zum Anfüllen des Bewußtseins durch den Gesichtssinn können wir auch nichts thun, es hilft nichts, Gegenstände vor sie zu führen, denn diese sind ihnen chaotisch. Die Erziehung muß hier auf die Einwirkung des Lebens selbst warten. – Eben so verhält es sich mit den willkührlichen Bewegungen und der Entwickelung der Sprache. Es ist keine Frage, daß beides beschleunigt werden kann, aber weil die Sprache schon jetzt das Intellectuellste ist, so entzieht man, wenn man sie beschleunigt, die zu ihrer Erlernung nöthigen Kräfte der physischen Seite der Entwickelung. Spricht man in der Absicht mit den Kindern, daß sie das Sprechen lernen sollen, so kann man sie leicht überreizen, und so der physischen Seite der Entwickelung schaden. Dasselbe findet Statt in Ansehung der willkührlichen Bewegungen, die gewöhnlich dem Sprechenlernen vorangehn. Lernen die Kinder eher sprechen als gehen, so ist dies ein Zeichen, daß die physische Entwickelung hinter der geistigen zurückbleibt. Die willkührlichen | Bewegungen kann man auch beschleunigen, und man könnte daher denken, daß man, wenn man auch das 3 die] der

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6–7 Vgl. Göttinger Nachschrift 64r: „und von den leiblichen Functionen entwickeln sich jetzt erst die Sinne;“

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Sprechen beschleunigte, einen doppelten Vortheil haben würde. Aber hier ist gerade ein doppelter Nachtheil in der Ueberreizung. Denn will man die beschleunigende Erziehung schon jetzt anfangen, so bringt man gewiß einen krankhaften Zustand hervor. Dagegen hat man hier auch eine hemmende Einwirkung zu vermeiden, die eben so nachtheilig sein kann, wie jene; man wickelt z. B. die Kinder so ein, daß alle willkührlichen Bewegungen untersagt werden. Allein hier zeigt sich übertriebene Aengstlichkeit, wie überhaupt in der verweichlichenden Erziehung. Man lasse überall das Leben frei, und suche kein forcirtes Treibhauswesen. Ferner läßt sich schon auf der ersten Lebensstufe die Differenz des Temperaments wahrnehmen. Offenbar muß man auch hier der Entwickelung freien Lauf lassen, um nichts Widerwärtiges zu thun. Auch der Glaube an die freie Entwickelung der Natur bringt es schon mit sich, daß man sie hier sich selbst überläßt, und nur nachhilft. Wollen z. B. die Kinder gehn, so leite man sie. Ueberhaupt muß man hier erst Beobachtungen sammeln. Zu große pädagogische Thätigkeit in dieser Periode verdirbt die ganze Erziehung, weil sie die Reinheit des Subjects trübt. An den ersten Schritten, die hier die Natur von selbst thut, muß der Erzieher ihre Art und Weise erkennen, damit er danach weiter wirken könne. Giebt man nun zu, daß man auch die Sprachentwickelung nicht beschleunigen darf, sondern sie abwarten muß, so ist doch hier eine bedeutende Differenz möglich. Denn ein anderes ist es, das Lernen der Sprache beschleunigen, ein anderes es | leiten, wenn es beginnt. Das Sprechen kommt rein von innen heraus, und ist keinesweges eine bloße Nachahmung, sondern mehr Freiheit, als man selbst glaubt. Denn die Kinder bilden sich ihre eignen Zeichen, die nicht Verstümmelungen, sondern ursprüngliche Productionen sind. Auf diese darf man jedoch keinen so hohen Werth legen, wie manche, die daraus die Natursprache bilden wollen, denn man kann in keinen ersten Versuchen die Vollendung der Sprache erkennen wollen. Wahrscheinlich sind die ersten allgemeinen Vorstellungen auch anders, als diejenigen, worauf unsre Begriffe basirt sind, und so bezeichnen die Kinder ihre Vorstellungen auch anders, bis sie die Muttersprache verstehn. Soll man aber diesen Proceß beschleunigen, so daß sie so bald wie möglich in die eigentliche Muttersprache hineinkommen? Auch dies kann eine Störung der Reinheit des innern Processes sein; die größeste Verkehrtheit aber ist es, den Kindern in ihrem System nachzusprechen, denn das ist ein verkehrtes Hinablassen zu den Kindern, wodurch man nur ihre Entwickelung hemmt. Selten sprechen die Kinder auch alle Buchstaben rein aus, sondern substituiren dem einen mehrere andere un5 vermeiden] verneiden

20 er] der

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reine. Hier könnte man denken, sei eine Methode zu üben, und die einzelnen Laute den Kindern so lange vorzusprechen, bis sie dieselben nachsprechen. Aber die Sprachwerkzeuge bilden sich wohl selbst erst nach und nach zu den gehörigen Lauten aus, und man warte also darauf, denn es ist noch nicht Zeit, in diesem Alter eigentliche Uebungen mit den Kindern vorzunehmen. Denn gewöhnlich werden sie unnöthig, oder ziehen ein für das Kin|desalter zu großes Interesse auf sich. Man sorge nur dafür, daß die Kinder stets rein sprechen hören, dann werden durch das Ohr die Sprachwerkzeuge nach und nach zum Bessern gebildet.

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Welches ist nun das Kriterium der Richtigkeit der VerfahrungsArt in der ersten Periode? Die Entwickelung darf nicht übereilt werden, aber man darf ihr auch nicht aus Verweichlichung Hindernisse in den Weg legen. Das Leben in seinen einzelnen Momenten ist zusammengesetzt aus dem, was von innen heraus geschieht, und aus dem, was von außen hineinkommt, und das Wohlbefinden der Kinder beruht auf der Uebereinstimmung von beiden. Die Erziehung der ersten Periode soll nun den Einwirkungen von außen etwas hinzufügen, oder davon abschneiden. Ist nun ein Kind gesund, so muß es heiter sein, und ist es das nicht, so ist das stets ein Zeichen, daß etwas in der Einwirkung von außen ist, was nicht sein sollte; und diese stehn ja hier stets in der Gewalt der Erziehung. Bei einiger Aufmerksamkeit läßt sich hier der Fehler leicht auffinden, sowohl ein Fehler der Überreizung als der Hemmung sowohl von körperlichen als psychischen Phänomenen. Von einer andern Seite kommt Folgendes in Betrachtung. Wo in der Erziehung etwas versehen wird, muß dies auch nachtheilige Folgen haben. Was kommt nun am Ende dieses Zeitraums als nachtheilige Folge der Erziehung vor? Auf welcher Stufe der Entwickelung befindet sich ein Kind in dieser Zeit, und was für Abweichungen zeigen sich jetzt in | das Schlechtere hinein? Hier müssen wir wieder auf den Gegensatz von Receptivität und Spontaneität sehen, worüber jedoch die reine Einheit des Lebens steht. Was zuerst diese betrifft, so können wir noch nicht sagen, daß jetzt schon eine Continuität des Bewußtseins vorhanden ist. Denn hierfür nimmt man mit Recht den Zeitpunct an, wo die Kinder anfangen Ich zu sagen. Dies geschieht aber am Ende unsers Abschnittes noch nicht. Daher kommt man auf 2 den Kindern] der Kinder 6 den] dem 15 seinen] seinem 22 diese] Kj diese äußeren Einwirkungen 25 von] darüber: an 25 psychischen] physischen

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die Betrachtung, daß man für diesen ersten Abschnitt der Erziehung sich große Sorgen macht, und denkt, daß, weil die Entwickelung jetzt so rasch ist, auch der Grund gelegt werde zu allem Verkehrten, was in der Folge der Erziehung zum Vorschein kommt. Aber dies ist nicht der Fall, eben weil das Bewußtsein noch gar nicht oder nur sehr schwach vorhanden ist. Was aber dasjenige betrifft, was sich auch am Ende der Bewußtlosigkeit fixiren kann, so ist es schlimm, daß wir nicht eher wissen, was in dieser Zeit im Kinde vorgeht, als bis sich die Wirkungen davon äußern, was aber erst in einer spätern Zeit geschieht. Einiges zeigt sich aber doch schon am Ende dieses Zeitpunctes, und das zu erläutern, müssen wir in den Gegensatz von Receptivität und Spontaneität hinabsteigen. In diesem Zeitraum entwickeln sich zunächst die Sinne, und da man nun in der Folge eine Verschiedenheit in der Stärke und Reinheit der Sinne wahrnimmt, so entsteht die Frage, ob diese Differenz ursprünglich ist, oder von der Erziehung abhangt. Im Gesichtssinn z. B. giebt es eine bedeutende Differenz, wenn man nachher physiologische Symptome findet, und sie dann | der ursprünglichen Anlage zuschreibt. Aber hierzu ist die Differenz viel zu groß, und nur gewissen Classen eigen, z. B. dem Gelehrten im Gegensatz gegen den Bauer. Dennoch ist gewiß viel Sache der Gewohnheit, und sobald daher üble Gewöhnungen einreißen, so muß man [sie] schon bei der Erziehung zu verhindern suchen. Doch fällt dies erst in den zweiten Theil der Erziehung. Man kann aber doch schon Achtung geben, ob sich ein Kind lange mit demselben Gegenstand beschäftigt. Stumpfheit oder Schärfe des Auges aber kann durch das Licht hervorgebracht werden, was genauer zu bestimmen, dem Arzte überlassen bleibt. Was d as Gehör betrifft, so liegt dieses uns näher, denn nur durch das Gehör kommen die Kinder zum Aneignen der Muttersprache. Sprechen also die Kinder unvollkommen, so kann das seinen Grund haben in einer Unvollkommenheit der Sprachorgane, aber auch in einem unvollkommnen Auffassen. In dieser Zeit läßt sich aber noch nichts Bestimmtes thun, obgleich man schon sehen kann, ob das schwere Auffassen an einem organischen Fehler liegt. Dem falschen Hören kann aber in dieser Zeit schon abgeholfen werden, und sprechen die Kinder unrichtig, so muß man stets durch den Sinn des Gehörs auf sie wirken. Bei der Angewöhnung an natürliche und gewöhnliche Nahrungsmittel kommt der Geschmackssinn in Betrachtung, der hier sehr wichtig zu sein scheint. Aber hier muß man das Objective von dem Subjectiven unterscheiden. Abneigung gegen Uebelgeschmack und Zunei9 davon] daran Nahrungsmitteln

19 eigen] einigen

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gung gegen Wohlgeschmack ist in diesem Zeitraum etwas Widernatürliches, was für die Zukunft angedeutet sein mag. Was aber die objective Seite, das Erkennen der Gegenstände am Geschmack betrifft, so ist dies | ein Fortschritt, der sich an den Gebrauch der Nahrungsmittel selbst anschließen muß. Die Trennung zwischen beiden Seiten muß aber sogleich practisch gemacht werden, und man muß den Kindern nie einen Uebelgeschmack ersparen, und ihnen etwa die Arzneimittel angenehm machen. Dies ist etwas sehr Wichtiges für unsern Uebergangspunct zur folgenden Zeit. Hieran schließt sich noch der Tastsinn und der Hautsinn. Mit beiden und mit dem Geruche hangt ein Punct zusammen, der jetzt schon wesentlich wird, die Reinlichkeit, welche ihre medicinische und ethische Seite hat. Befindet sich ein schmutziges Kind wohl, so ist das ein sehr übles Zeichen. Dagegen kann eigentlich nur medicinisch gewirkt werden, indem man der Haut die gehörige Reizbarkeit zu geben sucht, was durch das Baden erreicht wird. Dieses kann aber auch übertrieben werden, und die Reinlichkeit zum Pedantismus ausarten. Dann wirft sich die Empfindelei auf diesen Sinn hin. Man muß, um dies zu verhüten, die Kinder sich schmutzig machen lassen, dann aber müssen sie wieder zur Reinlichkeit zurückkehren. Die willkührlichen Bewegungen werden in dieser Zeit auch bis auf einen gewissen Grad entwickelt. Sobald nun ein Kind den freien Gebrauch seiner Gliedmaßen hat, so verräth das eine darinn, eine gewisse Anmuth, das andre das Gegentheil. Ist dies nun angeboren, oder kann darauf durch die Erziehung gewirkt werden? Eigentlich müssen wir sagen, ist die natürliche Anmuth in der Bewegung etwas, das sich mit der Bewegung zugleich entwickeln muß, denn sie ist nur Darstellung der menschlichen Gestalt in den ver|schiedenen Bewegungen, und ungraziöse Bewegungen sind fehlerhaft. Wo das Gegentheil der Anmuth positiv heraustritt, ist etwas Krankhaftes, sei es nun körperlich oder psychisch. Mancherlei Bewegungen weisen auf Anlagen zu organischen Fehlern, worauf sehr zu sehen ist, was wir jedoch den Aerzten überlassen müssen. Aber das Ungraziöse hat auch einen ethischen Grund, wogegen sich in dieser Zeit noch nichts thun läßt, woraus man aber etwas erkennen kann. Alle ungraziösen Bewegungen sind entweder aus Heftigkeit oder aus Unbeholfenheit ungraziös, was auf Temperamentsdifferenzen hindeutet. Denn für jede Temperamentsverschiedenheit giebt es eine Schönheitslinie, und weicht das Temperament davon ab, so kann man erkennen, zu welcher Temperamentseinseitigkeit die Kinder sich hinneigen; aber darauf nun einzuwirken, muß man sich für die spätere Zeit versparen. 7 ihnen] ihm 16 Baden]Leben chisch] physisch

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Der Gegensatz zwischen Gewähren und Abschlagen tritt ein, wenn die Kinder sich willkührlich bewegen können. Giebt es nur ein Extrem von Gewähren und ein Extrem von Abschlagen? Das letzte würde die Thätigkeit zurückdrängen, jenes eine Verwöhnung, eine Gewohnheit des Herrschens hervorbringen. Beides ist nachtheilig, denn im Extrem liegt durchaus nicht eine Mittelstraße. Aber auch diese ist hier leer, denn sie führt zur Willkühr. Man muß daher jedesmal auf die Sache sehn, und sich dabei nicht die geringste Abweichung und Inconsequenz erlauben. Liebe aber muß sich sowohl im Gewähren als im Abschlagen manifestiren, und so werden sich die Kinder über ein Abgeschlagenes nicht betrüben, weil sie das Bewußtsein der Liebe nicht verlieren. Hierbei ist es | unwahrscheinlich, daß eine beständige Folge von Gewähren oder von Abschlagen Statt finden sollte, und daher ist die Hülfsmaxime des Gewährens nach mehrerem Abgeschlagenen nicht nöthig. Man glaubt auch, wenn man den Kindern etwas abschlagen muß, so müßte man sie auf etwas anderes ablenken, damit sie jenes vergessen. Aber das Ablenken ist nicht nöthig bei lebhaften Kindern; bei andern (sanguinischen) aber ist es gut, weil es ihre Thätigkeit zu etwas anderm treibt. Aber ein Fehler ist es, wenn man ihnen statt eines Abgeschlagenen einen Genuß darbietet, indem man sie von einer Thätigkeit ablenkt. Im Großen wäre dies ja ein verächtlicher Zustand. Es wird dadurch nur Genußfähigkeit hervorgelockt, die Kinder werden gewöhnt die Thätigkeit auf den Genuß zu beziehen, und das ist gemein. Ein anderer Punct, von dem sich die Spontaneität entwickelt, ist die Liebe, welche eigentlich Instinct ist, und sich auf den physischen Lebenszusammenhang bezieht. Am Ende dieses Abschnitts nimmt aber die Liebe schon einen freiern Character an. Bei den Thieren hört die Liebe auf, wenn die Jungen sich selbst ernähren können. Beim Menschen ist aber das Höhere, intelligente Moment schon vom Anfang an darinn. Das Kind erkennt aber auch schon andre Menschen, und liebt sie. Das kommt daher, weil das Kind ins gemeinsame Leben aufgenommen ist. Aber hier entstehen schon Differenzen. Offenbar haben manche Kinder in dieser Zeit Blödigkeit und Menschenscheu, wie auch Abneigung oder Zuneigung zu einzelnen Menschen bei gleicher Nähe und Entfernung. Das letzte kann man nicht gewähren las20 anderm] andern

21 einen] einem

22–23 Vgl. SW III/9, S. 302 (Zusatz): „Im großen angesehen, z. B. wenn ein Volk für die Freiheit Genuß sich bieten läßt, ein verächtlicher Zustand.“

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sen, denn | jeder persönliche Widerwille hat etwas Einengendes, und muß weggeschafft werden. Jenes aber ist ein langsameres oder schnelleres Gefühl von der Identität aller Menschen, und es ist nicht zu entscheiden, daß das eine besser sei als das andre. Die Kinder, die sich an jeden anschließen, haben für die Nächsten weniger Zuneigung, und je mehr sich die Liebe ausbreitet, desto mehr verliert sie an Tiefe. Dies aber muß man gewähren lassen. Die specifischen Zu- und Abneigungen sind großentheils unerklärlich und selbst für die Erwachsenen etwas Geheimnißvolles, das im Unbewußten liegt. Die Erfahrungen über den unmittelbaren Eindruck sind sehr entgegengesetzt. Macht bei manchen Charakteren Jemand zuerst einen unangenehmen Eindruck, so bleibt er; bei andern aber ist der erste Eindruck ungewiß, und sie finden nachher jemanden widerwärtig, der sie anfangs reizte, und so umgekehrt. Bei Kindern läßt sich nicht entscheiden, ob bei ihnen das eine oder das andre Statt findet, so wenig wie bei den Erwachsenen. Das Nicht-entscheiden-können bei den Kindern giebt hier den Maßstab, und man muß es ihnen nichts gelten lassen, daß sie gegen jemand Abneigung äußern, sobald andre Gründe da sind, und ihnen nie das Gefühl geben, daß specifische Zu- oder Abneigungen berücksichtigt werden. Wir kommen jetzt zum zweiten Abschnitt der ersten Periode, woran wir eine Menge Fäden angeknüpft haben, die wir nur fortzuspinnen, und das Neue hinzukommen zu lassen brauchen. Wir wollen gerade da fortfahren, wo wir im ersten Abschnitt aufgehört haben. Es kommen hierbei nicht die beiden | Seiten der Receptivität und Spontaneität allein und für sich in Betrachtung, sondern die Beziehung der einen auf die andre. Die Receptivität ist das Aufnehmen, und ein Kind nimmt lieber von dem einen etwas auf als von dem andern. Hier entsteht die Frage: da die Kinder nun so vieles durch die Liebe aufnehmen müssen, soll man ihnen auch Menschen aufdringen, gegen die sie eine specifische Abneigung haben? Dies hat großen Einfluß auf die ganze Entwickelung des Menschen, und es ist ein großes Unglück und Unrecht, Kinder in Lebensverhältnisse mit Menschen zu setzen, die ihnen widerwärtig sind. Auf der andern Seite giebt es einen Uebergang der Receptivität in die Spontaneität. Jene haben wir durch die Sinne repräsentirt. Gesicht und Gehör hangen am meisten mit der bewußten Spontaneität zusammen. Aber das Gesicht ist überwiegend der Sinn für das Wissen, weil er uns die Gegenstände vorführt, und die Begriffe gehen am meisten am Leitfaden dieses Sinnes. Das Gehör ist mehr der Sinn des Gemüths, und dies hangt sich von der Sprachentwickelung an ganz an das Gehör, weil jene die einzige menschliche 30 ihnen] ihm

38 vorführt] verführt

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Mittheilung ist. Damit hangt auch zusammen, daß das Kind immer mehr das Bewußtsein von der Abhängigkeit seines Daseins fühlt, und sich also mit andern in ein Verhältniß setzen muß, woher das Gefühl der Zuversicht und der Aengstlichkeit entsteht. Beides hangt sehr am Gehörssinn. Man wird z. B. nicht leicht finden, daß sich ein Kind über eine fremdartige Gestalt erschrickt, sondern es wird neugierig, aber über einen Ton erschrickt es. Man hat gesagt, dies sei mehr physisch, als hier angegeben wird; allein diese | Ansicht ist gewiß zu materialistisch. Aber es kommt hierbei auf die Qualität, nicht auf die Quantität an. In wie fern soll man hierauf einwirken. Offenbar kann hier der Grund zu Aengstlichkeit und Herzhaftigkeit gelegt werden. Ein Kind, das die Menschenstimme fürchtet, fürchtet leicht auch irgend einen andern Ton, und es ist ein Verderben in der Erziehung, daß man die Kinder durch die Stimme fürchten macht.

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41. Vorlesung Wenn die Kinder anfangen zu sprechen, so tritt der Uebergang in den öffentlichen Unterricht ein, welcher für die beiden Geschlechter nicht dasselbe ist, für die Mädchen ist der öffentliche Unterricht nur eine Sache der Nothdurft, wenn das Hauswesen nicht zu einem andern die Mittel hergeben kann. Auch die freien Bewegungen sind am Ende der Kinderjahre schon zu Kunstfertigkeiten ausgebildet und auch hier trennen sich die Geschlechter bestimmt. Im zweiten Theil der Kinderjahre muß daher auf eine vorbereitende Weise auf die Differenz der Geschlechter Rücksicht genommen werden. Die ganze Volksbildung fängt erst später an, die Differenz der Geschlechter zu berücksichtigen. Bei den höhern Classen ist dies nothwendiger, und geschieht früher. Beim Landvolk müssen die Weiber dieselben Arbeiten verrichten, wie die Männer, also muß ihr Körper gleich ausgebildet sein; bei den gebildeten Ständen aber ist das nicht nöthig, also muß hier mehr auf jene Differenz gesehen werden. Je größer also bei einem Volke die Entfernung der Stände ist, desto mehr muß man auf diese Differenz sehn. Dasselbe gilt von der Vorbereitung für den öffentlichen | Unterricht. Eine partielle Rücksicht muß auch schon in dieser Zeit auf die Differenz der Geschlechter genommen werden, aber nur in dem Maß, wie es für die folgende Periode nöthig ist. Dies im Allgemeinen[.] Wir wollen nun den Weg gehn, den wir uns schon vorgezeichnet haben. Wir sehen zuerst auf die Seite der Spontaneität. Am Ende dieser Periode müssen die Bewegungen schon zu Kunstfertigkeiten ausge16 Wenn die Kinder anfangen zu sprechen, so] Kj Am Ende der Kinderjahre

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bildet sein, und es entsteht daher die Frage, was in dieser Hinsicht die Erziehung zu thun hat. Unter Kunstfertigkeiten wird hier verstanden: 1) die Analogie der bildenden und 2) der darstellenden Kunst. In Rücksicht des letzten Punctes giebt sich schon früher ein Unterschied zu erkennen in Ansehung der Anmuth, die sich auch bald in der Sprache offenbaren muß. Das Sprachorgan muß entwickelt sein, wenn das Kind lesen kann, und hierbei muß sich der Schönheitssinn zu erkennen geben. Das andre ist, was in der Analogie der bildenden Kunst liegt, und dies ist sehr allgemein zu verstehen. Das Bildungsvermögen des Menschen liegt in der Hand, und wenn die Kinder die Hände nicht mehr bedürfen, um sich im Gleichgewicht zu erhalten, so wollen sie etwas mit denselben gestalten. Daraus müssen aber am Ende der Kinderjahre Fertigkeiten hervorgegangen sein, wodurch die Kinder sich ihrer Kräfte bewußt sind. Wie geschieht dies aber? Streng genommen ist in dieser Periode alles vorbereitend, und ein Unterricht in Kunstfertigkeiten wie in wissenschaftlicher Hinsicht ist hier noch gar nicht an seiner Stelle. Die zwecklose aber doch zweckmäßige, die geordnete aber freie Bewegung führt dahin. | Die Bewegungen müssen folglich so geleitet werden, daß etwas geordnetes, woraus sich ein subjectives und objectives Bewußtsein entwickelt, entstehe. Der Mensch ist ein agens, und der Thätigkeitstrieb entwickelt sich mit einer freien Bewegung. Thäte man auch dazu nicht, so entständen doch Versuche daraus. Sobald die Kinder gehen können, entwickelt sich in ihnen die Idee des Raumes, nicht durch das Auge, sondern durch die freie Bewegung; nun bewegen die Kinder auch Gegenstände von einem Orte zum andern, und gestalten sie um. Aber da sie noch kein Maß der Gegenstände haben, so würden sie oft etwas anfangen, woran ihre Kräfte nicht reichten. Hier muß man ihnen also zu Hülfe kommen. Wollte man von dem Grundsatze, daß sie durch die Erfahrung klug werden sollten, ausgehn, so hat das einen großen Schein für sich, denn der Mensch ist dazu bestimmt, sich selbst zu entwickeln, aber er ist auch zu einem gemeinsamen Leben bestimmt und zur Liebe, die nicht bloß negativ sein darf, so daß sie bloß Schaden verhütet. Beobachtet man die Kinder im Spielen, so äußert sich darin die Regung der bildenden Kraft, die Sehnsucht nach etwas Gebildetem; es scheint also besser zu sein, ihnen etwas Gebildetes zu geben, und ihnen die Versuche, sich selbst etwas zu bilden, zu ersparen. Aber diese Ansicht ist nur oberflächlich, denn die Kinder freuen sich nicht über das Gebildete, sondern über ihre Thätigkeit. Wechsel von Gegenständen ist das Bedürf6 wenn] wie

30 daß] das

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niß der Kinder, aber dies vervielfältigt sich, wenn man ihnen in diesen frühern Jahren zu viel darreicht, und bei gebildeten Dingen zerstören sie wieder. Was ist nun das Richtige zwischen diesen Extremen? Denken wir uns einen völlig gebildeten | Gegenstand, so ladet er uns zur Betrachtung ein, besonders wenn er unter die Idee des Schönen fällt. Betrachten ist aber nicht die Sache der Kinder; das, was man ihnen darreicht, muß bildsam, muß ein Material sein, das sie bald handhaben können, und das ihren Kräften angemessen ist. Daher haben viele gesagt, das Kind brauche nur einen Haufen nassen Sand, und die Formel ist richtig obgleich die Kinder manchfacherer Beziehungen fähig sind. Woraus sie festere Gestalten bilden können, das ist für sie das beste. Aber die Betrachtung soll auch sein, und da diese an die Sinne gebunden ist, so müssen auch sie geübt werden. Je mehr daher beides zusammenfällt, desto mehr wird das ganze Dasein befriedigt. Das Unterscheiden der Größenverhältnisse und das Unterscheiden und Zusammenstellen der Farben ist daher für das Kind das Beste, weil es dadurch am besten seine Sinne bilden kann. Sehen wir auf die andre Seite, auf die Kunstfertigkeiten im Gebiete der Darstellung, so herrscht darin das Unbewußte vor, und es läßt sich also wenig dort thun. Wenn ein Kind freier Bewegung fähig ist, so kann darin hohe Grazie entwickelt werden; aber zerstört man das Unbewußte, so säet man Eitelkeit. Hier ist also große Vorsicht nöthig. Der Typus ist hier die Art wie sich das Anmuthige im Gebrauch der Sprache entwickelt, in so fern sich diese an fremden Productionen übt.

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Die Alten theilten ihre ganze Erziehung in Musik und Gymnastik. Die Ausbildung der Sprache gehört zur Musik, die andern Fertigkeiten in körperlichen Darstellungen zur Gymnastik. Indem nun gesagt ist, daß die Sprache | das Schema zu allem hergeben soll, so ist jener Gegensatz aufgehoben, und wirklich hat er auf die neuere Erziehung keinen Einfluß. Beides fällt auch zusammen, denn so bald die Rede eine gewisse Energie bekommt, so stellen sich Gebehrden dabei ein, und umgekehrt. Diese Identität zwischen Musik und Gymnastik führt aber 1 dies] diese

3 diesen] diesem

8–9 Vgl. z. B. Richter (1807), S. 187–188; Werke, Bd. 5, § 53, S. 607–608 27– 29 Vgl. z. B. Platon: Politeia, Buch 2, 376; Opera 6,244–246; Werke 4,150–155; Nomoi, Buch 6, 764c–765d; Opera 8,276–279; Werke 8,1,376–381

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weiter. Die Alten hatten für diese verschiedenen Zweige verschiedene Principien, und es fragt sich nur, mit welchem Recht? Die Musik hat den Namen von der Tonkunst, und die alten Grammatiker wollten auch die Sprache auf die musikalischen Principien reduciren, welche reine Mathematik waren, welche auf diese Weise das Centrum bildete. Sie wurde auch für den Mittelpunct der ganzen Bildung gehalten, was auch Platons Ausspruch beweißt. In der Gymnastick dominirte aber die Mathematik gar nicht, sondern die reine Idee der Schönheit unter dem Gesichtspunct der plastischen Kunst, und wenn gleich diese auch für die festen Verhältnisse Prinzipien hatte, so waren doch die Bewegungen nur als Begleiter der Musik der Mathematik unterworfen, wie z. B. die Bewegung eines Chors, nicht die Bewegung in der Palästra, wo Erfahrungsregeln herrschten. Diese Differenz der Principien nun ist geleugnet, und so ein Gegensatz gegen die antike Denkweise construirt worden. Wie ist dies gemeint? Das mathematische Gebiet geht freilich auch durch alle bildende Kunst hindurch. Für die Zeichnung und Malerei z. B. ist die Perspective das mathematische Princip. Aber das Mathematische ist doch immer in der Praxis beschränkt z. B. der Kanon | einer Bildsäule braucht kein Kunstwerk zu sein. Es muß also Schönheit hinzutreten. In so fern ist die antike Ansicht wahr. Die Nothwendigkeit des Hinzutretens der Schönheit gilt auch von der Musik, denn durch die bloße Mathematik in derselben entsteht noch kein Kunstwerk (Kirnbergers Composition durch Würfel). Ueberhaupt sind die mathematischen Principien nur kritisch und lehren die Fehler vermeiden. Eben so verhält es sich mit dem numerus im Periodenbau und mit der Metrik. – Wo also die eigentliche kunstmäßige Productivität angeht, da ist so wohl in den bildenden als darstellenden Künsten das mathematische Gebiet zu Ende; dies aber ist für beide 5 bildete] bildeten 12 Palästra] Pallästra 14 Denkweise] Denkreihe 19 der Kanon einer Bildsäule] Kj eine nach dem Kanon gefertigte Bildsäule

18–

6–7 Vgl. SW III/9, S. 801 (Zusatz): „wie Platons Ausspruch beweiset, daß sie die Seele umwandele und zu dem seienden ziehe“. Platz verweist auf Politeia, Buch 7, 521 und 526 und merkt hier zusätzlich an: „Die Musik erzieht nach Platon durch Gewöhnungen mittelst des Wohlklanges, eine gewisse Wohlgestimmtheit nicht Wissenschaft einflößend, ihr liegt die Mathematik zum Grunde (l. c. 522.). Die Mathematik selbst ist eine Hinleitung zum Wesen (524.), die Seele in die Höhe führend (525.), sie macht zu allen andern Kenntnissen geschikkt (526.), sie macht, daß die Idee des Guten leichter gesehen werde, sie ist Kenntnis des immerseienden (527.).“ Vgl. Platon: Politeia 521a–526e, 522a–c, 524d–e, 525d, 526b, 527a–b; Opera 7,140–152, 7,142–143, 7,147–148, 7,149–150, 7,150–151, 7,152–153; Werke 4,572–593, 4,576–579, 4,584–587, 4,588– 589, 4,590–591, 4,592–595 23 Johann Philipp Kirnberger (1721–1783) hatte 1757 unter dem Titel „Der allzeit fertige Polonaisen- und Menuettencomponist“ ein Würfelspiel entworfen, mit dem kleine Musikstücke komponiert werden konnten.

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Künste das Gemeinsame. Auf dem Stadium der Erziehung, welches wir jetzt betrachten, ist aber von der productiven Kunst noch nicht die Rede, obgleich sich das musikalische Talent früh entwickelt. Und doch ist auch dieses anfangs nur Nachahmung und Fertigkeit in der Ausführung, nicht Production. Dieselbe Grenze ist uns auch für unser Schema gesteckt, für die Ausbildung der Sprache. Wenn ein Kind am Ende der Kinderjahre auch geistig sehr entwickelt ist, so wird es doch noch nicht bedeutende Ideenreihen zusammensetzen. Aber das richtige Verstehen und Darstellen des Verstandenen kann schon auf einen hohen Grad getrieben werden. Wir haben es also hier nur mit dem gemeinsamen Felde, der Mathematik, zu thun. Ueberhaupt könnte man in dieser Hinsicht die Ausbildung der Sprache zum allgemeinen Schema für alle darstellende Fertigkeiten machen. Wir wollen dies erläutern. Hier drängt sich uns | die Frage auf, was denn am Ende dieser Periode geleistet sein soll. Hier verschwinden uns die allgemeinen Bestimmungen immer mehr aus den Händen. Die vornehmern Kinder werden am Ende dieser Periode in der Sprache weiter sein, als die geringen, weil sie sich in einem Kreise bewegen, wo die Sprache eine größere Rolle spielt. Hat es nun Zeiten gegeben, wo dieser Unterschied nicht so allgemein war, so müssen wir fragen, womit dies zusammenhange. Das Volk in Athen und Rom hatte einen viel feinern Sinn für Sprachvollkommenheit als das unsrige. Diese Thatsache ist unleugbar. Denn die Theorie über die musikalische Vollkommenheit der Sprache, war nur auf den mündlichen Vortrag vor der Volksmasse berechnet. Wenn nun das Volk einen so fein gebildeten Sinn hatte, ohne Aehnliches zu produciren, so ist der Unterschied gegen uns hier so groß, daß auch schon in den Kinderjahren ein Unterschied zwischen den Alten und uns gewesen sein muß. Dieser Unterschied steht in einem nahen Zusammenhange mit dem öffentlichen Leben, denn durch die Sprache konnte man ja nur auf die Gemüther wirken. Dieses fehlt aber bei uns so gut wie ganz, und so sind wir hinter den Alten weit zurück. Der Unterschied zwischen den höhern und niedern Ständen tritt so bei uns stärker hervor als bei den Alten, wo nur die Virtuosität herrschte, und einen Unterschied machte. Wir müssen also in Bezug hierauf zwei Rücksichten nehmen, die in folgenden beiden Fragen ruhn: 1.) Wie hat man in den beiden getrennten Gliedern der Gesellschaft die Erziehung einzurichten, in so fern jene Differenz | besteht, und 2) wie muß man die Erziehung stellen um jene Differenz aufzuheben? Das letzte ist nicht mehr rein pädagogisch, sondern trägt schon ein politisches Element in sich. Denn fragen wir, ob es wünschenswerth sei, daß der Unterschied zwischen Hohen und Niedrigen 7 geistig sehr] sehr geistig

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bleibe, so ist dies eine politische Frage. Sie zu entscheiden, liegt nicht im Umfange unserer Untersuchung, und wir müssen also einen Mittelweg einschlagen, indem wir untersuchen, wie man die Erziehung in dem einen und wie im andern Falle einrichten müsse. Aber auch hier ist die Antwort sehr schwierig, denn jene Differenz ist nicht als constant denkbar, weil sie zum Bewußtsein gekommen ist. Hier können wir mit einfachen allgemeinen Bestimmungen nicht mehr auskommen. Soll jene Differenz bleiben so ist offenbar, daß man die Volksclassen immer mehr auf dem Gebiet des Mechanismus halten, und das Intellectuelle so wenig wie möglich herausheben muß. Darin giebt es auch ganz löbliche Bestrebungen, aber diese Menschen verstehen sich selbst nicht. Man kann mit vollem Rechte die Frage aufwerfen: Wozu ist es nöthig, daß das Volk lesen und schreiben lernt? Nun von dem Standpuncte des Protestantismus aus mögte es nöthig sein, die Nothwendigkeit des Lesenlernens zu behaupten, aber auch nur um der Bibel willen braucht das Volk lesen zu können. Es bringt es ja doch nie so weit, daß es eine gute Rede verfolgen kann. Beides aber ist Nebensache für die intellectuelle Ausbildung, und nur der hat ein Recht zum Lesen und Schreiben, welcher eine Leichtigkeit in der Sprache hat. Durch das Lesen und Schreiben hört die Differenz zwischen den Ständen noch gar nicht auf, denn beides | ist auch nur reiner Mechanismus, und man kann dadurch eben so gut der intellectuellen Bildung entgegen arbeiten. Wo Annäherung der Stände sein soll, muß man das lebendige Verkehren in der Sprache hervorbringen, das Uebrige findet sich von selbst. Wo man dagegen die Annäherung der Volksclassen verhindern will, braucht man nur den lebendigen Verkehr in der Sprache zu hindern, und immerhin lesen und schreiben lassen.

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43. Vorlesung Weil in dieser Periode die Erziehung noch in den Händen der Familien ist, so müssen wir sagen, daß, weil in der großen Volksmasse der Sinn für die Sprache noch nicht erweckt ist, sie auch hier noch nicht leitendes Princip sein kann. Vom Mittelstande aus muß erst die Sprache der niedern Volksclasse mehr mitgetheilt werden, damit sie mehr Wichtigkeit gewinne. Ueberhaupt bildet sich erst, wenn der Erfolg der gemeinsamen Angelegenheiten vom Sprechen abhangt, die Sprache immer mehr und auch in der Jugend. Wir müssen uns daher nur an 4 dem] den

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diejenigen Theile der Gesellschaft halten, wo die Sprache schon mehr cultivirt wird. Den ersten Abschnitt in der Erziehung haben wir gemacht, wo sich das Sprachvermögen elementarisch entwickelt hat, und wo das Kind sich auf seine Weise durch die Sprache verständlich macht. Was haben wir nun in dieser Periode weiter zu thun? Die Sprache hat zwei Seiten, die wohl von einander zu unterscheiden sind, und sich aufeinander beziehn, die logische und die musikalische. Zur letzten gehört alles, was das äußere Hervorbringen betrifft, Reinheit und Deutlichkeit und Richtigkeit der Töne und Zweckmäßigkeit der Betonung. Alles, was das Verhältniß der Gedanken unter sich betrifft, ist logisch, | also alles Grammatische, das sich auf die Structur bezieht. Das eine ist offenbar eine andre Fertigkeit als das andre. Dies ist nicht so zu verstehn, wie wenn jemand wohl einen Gedanken richtig gebildet haben, aber ihn doch unzweckmäßig vortragen könne. Das findet sich zwar, aber es ist nur eine falsche Gewöhnung. Sonst folgt stets das Musikalische dem Logischen, wenn nur Gewalt über den Organismus der Sprache da ist. Nehmen wir aber den Fall, daß jemand vortragen soll, was ein andrer gedacht hat, so ist nicht die ganze Production aus einem Stücke, sondern nach dem Aneignen der Gedanken hat das Musikalische eine Selbstständigkeit, und hier kann jemand richtig vortragen, was er nicht ganz gedacht und verstanden hat. Selbst bei den besten Schauspielern ist das richtige Vortragen oft nur Folge des Instincts. Hier ist also das Richtige und Falsche gleich möglich. Wenn wir nun in dieser Periode der Erziehung die Sprache zum allgemeinen Typus gemacht haben, so ist hier besonders ihre musikalische Seite gemeint. Wenn die Kinder häufiger und nicht mehr ganz abgebrochen sprechen, so muß man anfangen, darauf zu merken, wie sie sich dabei benehmen, und alles Unrichtige censiren. Das Unrichtige kommt auf zweierlei hinaus, nämlich entweder darauf, daß der rechte Ton nicht getroffen wird, oder daß er nicht das rechte Maß hat. Beides liegt im Gebiete der organischen Bewegung. In jeder Sprache giebt es Töne, die in einander übergehn, und leicht mit einander verwechselt werden weil der Unterschied in den Bewegungen der Sprachorgane ein minimum ist; auch giebt | es Einflüsse des Gemüths, die das rechte Maß verfehlen lassen. Hieraus entstehen dann schwer abzulegende Gewöhnungen, und dadurch verliert die Sprache die rein darstellende Kraft; und es entsteht ein falscher und schiefer Eindruck. Alles kommt darauf an, dies zu vermeiden. Die Production der Sprache ist allemal mimisch. Jeder Mensch produzirt zwar die Sprache ursprünglich, aber es ist ein Unterschied zwischen der Production im Allgemeinen und in einer bestimmten Sprache. Das Hineinfügen der allgemeinen Töne

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in die bestimmte Sprache ist nur mimisch, und beruht auf dem nationellen Typus der einzelnen Sprachen. Die fremden Töne sind Folge einer feinen Eigenthümlichkeit der Sprachwerkzeuge und der Nation selbst, nicht einer frühen Gewöhnung. Da nun das Kind in seiner Production an dasjenige gewiesen ist, was es hört, so muß man darauf merken, daß es richtig aufnehme. Unsere Sprache nun hat sich vielfach ausgebildet, aber im Kunstgebiet der Sprache ist die hochdeutsche Mundart herrschend. Denn die alemannischen und plattdeutschen Gedichte, werden nie volksthümlich werden, sondern sind wie die Gedichte, welche wie eine Axt oder Flasche aussehn und bilden durchaus keine Litteratur. Wir finden aber eine gewisse Unbeholfenheit in der Sprache der Volksmasse auch in den Gegenden, die keine eigenthümliche Mundart haben, und dies ist nur eine Folge des Mangels an Interesse an der Sprache selbst und eine Trägheit der Sprachorgane. Dem haben wir keine Aussicht abzuhelfen als durch einen vermehrten Umgang derjenigen Classe, worin die Bildung ist, des Mittelstandes mit | der Volksmasse. Unmittelbar läßt sich aber in dieser Periode der Erziehung nichts dazu thun, weil sie noch an das häusliche Leben gewiesen ist, sondern erst, wenn die öffentliche Erziehung angeht. Dann aber ist es schwer, üble Gewohnheiten abzugewöhnen, weil es zu spät ist. Aber auch die Kinder der gebildeten Classen, sind nicht außer Berührung zu setzen mit dieser Masse, worin das Unschöne der Sprache seinen Sitz hat, und es wäre auch Unrecht, diese Berührung gewaltsam zu hemmen. Wir können unsre Kinder gar nicht vom Gesinde getrennt halten. Die Mittel, daß die Mütter selbst Gesinde werden, oder daß man die Kinder in einer fremden Sprache sprechen lernen, und dann erst die Muttersprache erlernen läßt, sind beide unnatürlich und lebenzerstörend. Das erste hemmt gänzlich die Annäherung der Masse an den gebildeten Kern des Volkes. Aber man muß auf ein Gegengewicht gegen den üblen Einfluß jener Berührung denken, und keine Unrichtigkeit in der Sprache bei den Kindern aufkommen lassen, ohne sie auszurotten. Man muß die richtige Production hervorbringen, und ihr über die unrichtige die Macht der Gewöhnung geben. Die Kinder müssen eine Fertigkeit im Ohre bekommen, das falsche zu unterscheiden; sie müssen lernen, dem Ton das gehörige Maß zu geben. Dies sind die Hauptpuncte in dieser Zeit der Erziehung. 1 dem] den

3 feinen] freien

8 alemannischen] allemannischen

9–11 Ein Figurengedicht ist ein „aus Versen gebildetes Gedicht, das typographisch eine Figur abbildet.“ (Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, ed. W. Killy u. a., Bd. 1–15, Gütersloh 1988–1993, hier Bd. 13, 1992, S. 302)

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Wir kommen nun auf die Analogie zwischen der Bildung des Sprachvermögens und allem, was in der Bewegung des Lebens der Darstellung angehört. Was dies betrifft, so ist es wahr, daß, je mehr sich das Leben entfaltet, in allen Bewegungen das, daß sie einem Zwecke dienen, die Oberhand gewinnt. Thun sie das nicht, so haben sie etwas Unschönes an sich. In der Kindheit haben sie noch keinen Zweck, und diesen freien Charackter | müssen sie auch behalten. Man sagt bei uns gewöhnlich, man könne es jedem gemeinen Manne ansehen, ob er Soldat gewesen sei oder nicht. Dies liegt darin daß im Soldatenwesen alle Bewegungen bestimmt einem Zwecke dienen; und hierin hat man unendlichen Tiefsinn aufgewandt. Durch das Soldatenwesen kommt ein zwar bestimmter aber serviler Character in die ganze Darstellung. Hiernach müßte sich der gemeine Mann, der nicht Soldat war, besser darstellen; aber auch das ist nicht der Fall. Denn Trägheit ist das Element unsers Klimas. Beim gemeinen Mann der nicht Soldat gewesen ist, kommt also noch das Unharmonische zur Zweckmäßigkeit, und so war oder ist die soldatische Darstellung noch eine bessere, nicht dem Ganzen nach, sondern weil es keine bessere gab. Dies geht auch bis in die höhern Stände, wo der Character der Geschäftsbewegung der dominirende ist. Jener liberale Character der Freiheit in den Bewegungen, der nur auf Darstellung gerichtet ist, muß schon in der Jugend erreicht werden. Aber hier wird nichts Komödiantisches verstanden, denn eine darstellende Bewegung, die keinen andern Zweck hat, als den Menschen angenehm zu zeigen, ist am Ende aber so servil, und dies gilt selbst von den höchsten Zirkeln. Die Bewegungen müssen aus dem Gedanken hervorgegangen sein, alle Kräfte zur Leichtigkeit der Disposition zu bringen. Was also auf der Seite der Sprache die freie Ausbildung der Sprachwerkzeuge war, dies ist auch hier die Aufgabe in Rücksicht der freien Muskelbewegung. In so fern in der zweiten Periode die geordnete Zweckmäßigkeit angeht, muß man in dieser Periode dahin arbeiten | die allgemeine Zweckmäßigkeit hervorzubringen, die nachher nicht mehr muß ausgetilgt werden können. Das Kind muß die ganze Manchfaltigkeit aller Bewegungen richtig zu treffen lernen. Dieses ist die Basis alles Gymnastischen, in so fern es in dieses Alter fällt. Von der Form, die durch bestimmte Uebungen erreicht werden muß, ist hier noch nichts gesagt, sondern in dieser ersten Periode muß nur das Unrichtige abgewöhnt 8 jedem] jeden

25 den] dem

31 in dieser Periode] Kj in der ersten Periode

20–22 Vgl. SW III/9, S. 809: „Der liberale Charakter der Darstellung wird nur hervortreten wenn die Freiheit der Bewegung nicht gefährdet wird und die Bewegungen wirklich auf die Darstellung gerichtet sind: darauf muß schon in der Jugend hingewirkt werden.“

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werden. Wie in der Sprache das Falsche auch vom Einfluß des Gemüths abhängt, so hängt auch das Unrichtige in der darstellenden Bewegung von körperlicher Beschaffenheit und Anlagen ab, die man nicht vernachlässigen darf. Das Kind darf z. B. die Brust nicht eindrücken, denn das ist ein Zeichen einer fehlerhaften Beschaffenheit derselben, die durch das Vordrücken derselben gehoben werden kann.

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Im Sprechen finden wir die ganze Wurzel des sittlichen Lebens und des Erkennens. Alle organischen Bewegungen gehen von einem innern impetus aus, dem eine innere Vorstellung zum Grunde liegt. Den Kindern sind die Sprachorgane auch als etwas Chaotisches gegeben, und nur in welchem Maße sie sich in die bestimmte Sprache fügen, kommt erst Bestimmtheit in die producirten Töne. Dasselbe kann man auf die übrigen Bewegungen der Kinder anwenden. Hierin liegt nun die Wurzel der Sittlichkeit und Züchtigkeit. Wenn wir also in den Kindern den Sinn wecken, das Äußere jenem innern impetus gleich zu setzen, und daran Wohlgefallen zu finden, bereiten wir das sittliche Gefühl vor. Es | ist leicht vorherzusehn, daß Kinder, welche gegen die Virtuosität ihrer Production gleichgültig bleiben, auch gegen das Ethische gleichgültig sein werden. Eben so ist es natürlich, daß, wenn in der Erziehung die reine Liebe herrscht, man auch alles in dem Maße beurtheilt, das es in der Kindheit hat, und nicht in dem, welches es für uns hat. Es ist also Mangel an Liebe, dasjenige gering zu achten, was das Kind achtet; man sehe nur auf die Freude der Kinder bei gelungenen Bewegungen. Braucht man diese Freude nicht, so verschulden nicht die Kinder ihre Stumpfsinnigkeit, sondern die Erzieher. – Auf der andern Seite liegt hierin die Wurzel des eigentlichen Erkennens. Dies meint auch Platon, wenn er sagt, daß in jedem Denken so viel Wissenschaft sei, wie darinn Mathematik sei, d. h. in so fern man sich über das Maß darin Rechenschaft zu geben weiß. Aufs Unterscheiden und Vergleichen, auf Identität und Gegensatz kommt alles an. Mathematik ist überall die Theorie des abstracten Maßes, und dies ist die Basis für alles andre Erkennen, denn wir brauchen überall Zahl und Maß, um uns die Verhältnisse zu versinnlichen. Nun giebt es aber nichts Trockneres als die mathematischen Elemente, hingegen in ihrer Ausübung nichts, was einen mehr magischen Reiz auch für die Kinder hat, so daß man sie in die mathematische Ausübung ganz vertiefen kann. Dies kommt daher, weil ihnen dadurch, was im Leben selbst 28–29 Vgl. Platon: Politeia 522b–527c; Opera 7,142–153; Werke 4,576–595

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wesentlich Bedingung ist, zum Bewußtsein kommt. Denn das Leben schreitet schon in der Natur auf gemessene Weise fort durch Pulsschlag und Athemzug, welches die Elemente des | Lebens und Maßes sind. Aber die Trockenheit dieser Gegenstände kommt daher und entsteht dann, wenn das, was sie bezeichnen, dem Menschen noch nicht in der Praxis zum Bewußtsein gekommen ist. Denn die Praxis liegt überall der Theorie zum Grunde. Der Mensch muß alle Maßverhältnisse im Leben selbst mit Klarheit durchschauen können, dann interessirt ihn auch die Theorie, und in jenem liegt dann auch die Wurzel alles Erkennens. So ist es die richtige Fortschreitung, daß die ersten Elemente des Mathematischen in der Praxis vorangehn müssen. Aber auch hier ist diese Periode der Erziehung nur propädeutisch. Nun müssen wir aber auch auf die logische Seite der Sprache übergehn. Das Musikalische ist als solches nur etwas Mechanisches, wenn es sich nicht auf das Verstehen gründet. Was ist nun in dieser Periode der Erziehung in Bezug auf den logischen Theil der Sprache dasjenige, was von selbst geschieht, und was hinzu gethan werden muß? Die musikalische Seite kann nicht weiter geübt werden wenn nicht das Verstehen der Sprache, das Logische, vorausgesetzt werden kann, denn sonst wird es etwas Todtes. Betrachten wir die Kinder vom Spracherlernen bis zum Ende der Kinderjahre, so sehen wir, daß das Sprachvermögen eine große Evolution bewirkt. Was hier aber durch das Leben selbst geschieht, ist chaotisch. Soll man es nun dabei bewenden lassen, oder das Chaotische ordnen und ergänzen? Denken wir uns, daß die Kinder eine große Menge logischer Materialien sammeln, und wollen wir ihnen nun die Form selbst überlassen, so | wird die Ergänzung des Chaotischen nur bei ausgezeichneten Talenten möglich sein. Schon das mittelmäßige Talent müßte unterstützt werden, denn sonst würde das Material zu drückend. Von selbst kommt also keine Ordnung in das Chaotische. Aber nehmen wir auch ein Maß der Selbstthätigkeit an, wodurch sich die Eindrücke verallgemeinern, so ist doch darin ein großes Uebergewicht von Passivität, die man in Activität verwandeln muß. Freilich entwickelt sich der Mensch selbst, und die Erziehung bringt nur größere Klarheit in die eigne Entwickelung. Da erzeugt sich denn die entgegengesetzte Vorstellung von einem maximum und minimum der Erziehung und des Selbstüberlassens. Hierbei muß man die natürliche und künstliche Gestalt des Lebens unterscheiden. Soll man nun auch die Begriffsentwickelung sich selbst überlassen? Betrachten wir den Menschen auf einer niedern Stufe der Bildung und in einem einfachen Zustande, so kommen wir schwer dahinter, wie weit auch bei den Erwachsenen eine gewisse Begriffsbildung zu Stande gekommen ist, und ob nicht meistens verworrene Bilder die Seele erfüllen. So befindet sich der Mensch in einem

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Zustande größerer Passivität, und betrachtet alle seine Fertigkeiten und Ausübungen nur aus dem Gesichtspuncte des Abwehrens. Tritt ein positiver Gesichtspunct ein, so daß die Fähigkeiten des Menschen unter den Begriff der Kunst gebracht werden, so tritt Activität ein, die nur auf einer wahren Begriffsbildung beruht. Dies klingt paradox, denn man meint, der Künstler sei auf keinen Begriff basirt. Aber dies ist ja eben | jener unterste Standpunct, wo die Praxis der Theorie vorangeht. Niemand behauptet aber wohl, daß es einen bildenden Künstler geben könne, der z. B. vom menschlichen Leibe keinen Begriff hätte. Wo wir nun im ganzen Leben den positiven Character der Thätigkeit, die Kunst, finden, da wird nicht mehr bloß das Bedürfniß abgewehrt, sondern da herrscht der Proceß der Begriffsbildung. Wofür wollen wir nun den Menschen bestimmen für Passivität oder Activität? Wollen wir ihn für jene bestimmen, so lassen wir die Begriffsbildung ruhen, und führen die Bilder seines Innern nur in die Thätigkeit wieder über. Wollen wir ihn für die Activität bestimmen, so entstehen die Fragen, ob man da der Begriffsbildung zu Hülfe kommen müsse, und ob die große Masse auch emporgehoben werden solle? Das letzte gehört in die politische Seite der Pädagogik. Nehmen wir aber unsern Standpunct der Dinge an, so ist doch immer nur ein Theil der Nation bestimmt, sich höher zu erheben. Hier fragt sich wieder, ob das Leben so gestaltet sei, daß sich die Begriffsbildung von selbst entwickelt, oder so, daß ihr durch die Erziehung zu Hülfe gekommen werden muß.

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Bei dieser Untersuchung müssen wir darauf zurückgehn, daß, je mehr etwas im Menschen Selbstthätigkeit ist, desto mehr die Erziehung an das anknüpfen könne was schon da ist. Mit den Wahrnehmungen, die auf der Receptivität beruhen, werden nun die Begriffe nicht gegeben, sonst würden nicht aus derselben Masse von Wahrnehmung verschie|dene Systeme von Begriffen entwickelt werden können (das Volk und die Gelehrten haben einerlei Wahrnehmungen; in den verschiedenen Gegenden der Erde sind die Wahrnehmungen im Allgemeinen gleich; und doch wie verschieden die Begriffe!) Hier ist also Selbstthätigkeit nicht zu bezweifeln. Ist diese nun die einzige Genesis der Begriffe, so muß erst ihre Entwickelung abgewartet werden, und die Erziehung würde nur verderben, wenn sie ein System von Begriffen durch die Receptivität in den Menschen hineinbringen wollte. Die28 den Wahrnehmungen] der Wahrnehmung

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ser Unterschied findet Statt zwischen den verschiedenen Bildungsstufen in derselben menschlichen Gemeinschaft. Denn das Volk hat zwar Theil am System von Begriffen, producirt sie aber nicht selbst. Was ist nun der richtige Gang, den die Erziehung zur Bildung der Begriffe zu nehmen hat? Vorher müssen wir uns die Frage beantworten: Welches ist das Verhältniß der Begriffsbildung zu den sinnlichen Bildern, den allgemeinen Vorstellungen? Die einen sind offenbar die Basis der andern, denn nur da können sich Begriffe entwickeln, wo ein großer Vorrath von sinnlichen Bildern ist, und je größer dieser ist, desto mehr Reiz ist vorhanden, Begriffe zu bilden. Dies erhellt aus folgendem. Die Function des Begriffes bildet schon den Uebergang zur Wissenschaft. Nun aber finden wir selten Wissenschaft ohne eine große Erwerbung sinnlicher Bilder. So lange eine menschliche Gesellschaft auf ihre Heimath reducirt ist, ohne daß der Trieb erwacht, sich mit fremden Theilen der Erde bekannt zu machen, also ohne daß weder der historische | noch der Migrationstrieb aufkeimt, so lange hat sie keine Wissenschaft im doctrinellen und speculativen Character. Die Function der Begriffsbildung bedarf also eine große Menge sinnlicher Bilder, und thut hierzu die Erziehung etwas, so bringt sie von innen einen Reiz hervor, daß zur Begriffsbildung übergegangen werde. Aber nun hängt es vom Innern selbst ab, ob der Begriff sich bilde oder nicht. Setzen wir nun, es rege sich in den jungen Seelen der Begriff, so beobachten wir hier dasselbe, wie bei den ersten Versuchen der Sprache, daß nämlich etwas scheinbar Willkührliches in ihrer Begriffsbildung ist, das in der persönlichen Eigenthümlichkeit und in der einseitigen Beschaffenheit des Stoffes liegt, der ihnen dargereicht wird. Erst allmälig werden sie in das um sie her allgemein geltende System von Begriffen hineingezogen. Wenn wir fragen, was denn nun der Character der Veränderung sei, die hierbei vorgeht, so kann man sie ansehn als eine Correction des einzelnen, als eine freie Umbildung der Begriffe von Seiten des Kindes. Dieselbe Operation können wir von einer andern Seite betrachten. In den geltenden Begriffen einer menschlichen Gesellschaft ist eine Zusammengehörigkeit, und sie bilden ein System. In den Begriffen der Kinder haben wir zwei Factoren unterschieden worauf die Differenz beruht. Die Begriffsbildung der Kinder hat nämlich einmal etwas einseitiges, auf der andern Seite wirkt dabei die eigenthümliche Richtung | des Geistes, und dies ist ein Typus, der in allem sein muß, was das Kind versucht. Halten wir die Correction dagegen, so ist der pädagogische Einfluß: ein Einfluß auf die Gesetze, auf die Methode, wonach die Begriffsbildung geschieht. Diese Methode geht aufs Ganze, und ist daher nicht unendlich, was sie wäre, 3 von] vom

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wenn sie aufs einzelne ginge. Auf die beiden Puncte der Herbeiführung sinnlicher Bilder und der Methode bei Unterstützung der Begriffsbildung drängt sich also die pädagogische Thätigkeit auf diesem Felde zusammen. Kann und muß nun aber wohl das, was in abstracto etwas Verschiedenes ist, in der Wirklichkeit eins und dasselbe sein? Wir wollen diese Frage beantworten, indem wir vorzüglich auf den ersten Punct sehen, darauf nämlich, was die Erziehung thun kann, die Basis der Begriffsbildung zu vergrößern. Aber erst wollen wir uns den Gang unsrer Untersuchung wieder deutlich vor die Augen stellen. Wir wollten sehen, was in dieser Periode von selbst geschieht, und was von der Erziehung geschehen muß. Hier haben wir von der Spontaneität angefangen, welche die ersten Regungen des Bildungs- und des Darstellungstriebes in der Sprache und die übrigen Bewegungen in sich faßt. Die Darstellung des Innern geschieht durch die Sprache, deren musikalische Seite nicht von der logischen zu trennen ist. Hieran knüpft sich die Begriffsbildung, welche auf der Receptivität ruht, die wir vorhin liegen ließen. Wir betrachten also | jetzt das, was auf der Seite der Receptivität von selbst geschieht, und von der Erziehung in dieser Periode zu leisten ist, und werden sehen in wie fern dies zugleich den unterstützenden und verbessernden Einfluß in der Methode der Begriffsbildung zugleich äußert. Wie geht denn nun das Aufsammeln der sinnlichen Bilder in dieser Periode weiter? In der vorigen Periode sagten wir, das Bedeutende in der Sprache sei erreicht, wenn das Kind das Ich in Sprache und Bewußtsein aufgenommen hat. Darin liegt einmal) das Beharrliche im Verhältniß zu dem Wechselnden der Wahrnehmung, und 2) das Unterscheiden der beiden Richtungen des Bewußtseins selbst, der Empfindung und des Objectiven. Erst indem sich dieses allmälig befestigt, schreitet die Bestimmtheit der sinnlichen Bilder fort. Offenbar ist es, daß in der ersten Zeit die Thätigkeit des Sinnes doch nur ein Chaos producirt, und sich keine bestimmten Gegenstände sondern. Das Bestimmen des Ich ist erst der Anfangspunct für das Bestimmen der Gegenstände. Von hier müssen wir anfangen. Nehmen wir nun an, daß mit diesem Puncte zugleich die sinnlichen Bilder bestimmt werden, und die Gegenstände sich sondern, so geht die Aufsammlung jener Bilder nur chaotisch von Statten, und es ist keine Methode in der Folge der eingesammelten Bilder. Nun haben wir von Anfang an gesagt, daß das ganze Erziehungsgeschäft sich auf die beiden Puncte zurückführen lasse, Ordnung ins Chaotische zu bringen, und das Bewußtlose zum Bewußtsein zu erheben. Hier finden wir das Chaotische im Leben selbst entstehend. Kann | nun die Erziehung hier etwas thun, das Chaotische in ein Methodisches zu verwandeln? Unmittelbar nicht. Zwar thut man es auf eine gewisse Weise in dieser Periode, indem man

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dem Kinde zur Ergänzung dessen, was es wahrnimmt, das Fehlende in Bildern giebt. Fängt man aber zu früh hiermit an, so schadet man nur, wie dieses einer der mehrsten Grundsätze im Allgemeinen ist. Es ist wahr, daß man auf jenem Wege viel thun kann, die Masse der sinnlichen Bilder zu vergrößern; aber es ist nicht mehr Bereicherung der Masse als Ergänzung des Chaotischen. Sagt man entweder: «die Kinder müssen erst ein gewisses Naturgebiet kennen, ehe man zu einem andern fortschreitet», so wird doch dadurch das Chaotische nicht aufhören, denn im Leben selbst kann man nicht abhalten, Gestalten andrer Bilder zu gewinnen. Oder will man von den einfachen Formen zu den zusammengesetzten fortschreiten, so wird doch auch so durch das Leben das Chaotische befördert. Von jenen beiden Zwecken von Erziehung wird also auf diesem Wege keiner erreicht. Man lasse also die Bereicherung eben so chaotisch fortgehen wie die Anschauung. Dies kann uns zum Schema für alles Ähnliche dienen. Alles, was bloße Bereicherung ist, kann nicht die Anleitung sein, das Chaotische in ein Geordnetes zu wandeln, und das Unbewußte zum Bewußtsein zu bringen. Dem Extensiven steht hier nur das Intensive entgegen, das innere Durchschauen der Bilder, und nur auf diesem Wege können die beiden Zwecke der Erziehung erreicht werden. Chaotisch vermehren sich die Bilder im Leben; aber die Auffassung ist | auch etwas Chaotisches, und das Kind ist selten im rein betrachtenden Zustande, sondern es steht stets in einer Beziehung zum Gegenstande, und faßt ihn nur von dieser aus einseitig auf. Hier nun steht es in der Gewalt der Erziehung, das Chaotische im Auffassen eines einzigen Gegenstandes in ein Geordnetes zu verwandeln. Und auch hier fallen beide Richtungen der Erziehung zusammen. Denn sind die Kinder nur gewöhnt, einen einzelnen Gegenstand allseitig aufzufassen, so werden sie auch geneigt sein, ein ganzes großes Gebiet eben so methodisch aufzufassen, und so wird auch ihr Bewußtsein klarer. Dies ist die Tendenz aller Vorübungen in der Erziehung, die im Gebiete der Begriffsbildung vorangehn.

46. Vorlesung Die Methode Pestalozzi’s in seinem Buch der Mütter ist zu bezweifeln. Es müssen nur die Principien recht gefaßt werden. Wir haben gesagt: alles Ergänzen der Masse kann auch nur chaotisch geschehn, wie sie 10 Formen] ferner

10 zusammengesetzten] Zusammengesetzten

32 Vgl. Pestalozzi, Johann Heinrich: Elementar-Bücher. Buch der Mütter oder Anleitung für Mütter ihre Kinder bemerken und reden zu lehren, Heft 1, Zürich/Bern/Tübingen 1803 [SB 1451, 2692]; Sämtliche Werke 15,341–424

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selbst dem Kinde chaotisch wird, denn das Ordnen der Gegenstände geht schon auf die Wissenschaft, die erst später entwickelt werden kann. Sobald ein Gegenstand unter einem Verhältnisse zu einer Stimmung des Betrachtenden erscheint, so kann er nur einseitig aufgefaßt werden. Das übrige nun muß ergänzt werden. Dies kann nur dadurch geschehn, daß die Betrachtung, die eine bloß relative ist, in eine methodische verwandelt wird. Was ist aber die wahre Methode der Betrachtung, und ist sie für alle Gegenstände dieselbe? Die wahre Methode der Betrachtung | ist die, daß man jeden Gegenstand in seinem natürlichen Zusammenhange auffaßt, und da es hier auf die in den Gegenstand hineingehende Betrachtung abgesehn ist, so muß man dahin streben, daß die Kinder den innern Zusammenhang der Gegenstände einsehen. Den Kindern kommen Natur- und Kunstgegenstände vor. Aber ein Kunstgegenstand ist in sich selbst auf andre Weise bestimmt als ein natürlicher, obgleich auch dieser Gegensatz nicht absolut ist, denn man kann die Natur selbst als bildende Kunst ansehn, oder auch umgekehrt sagen, daß die Kunst Natur sei, weil sie diese nachahmt. Indeß werden Natur und Kunst in vielen Puncten auseinandergehn, und es ist immer ein Gegensatz zwischen der Construction der Natur und der Kunst. Es giebt aber eine Betrachtungsweise, die in beiden dieselbe ist, und auf die Differenz der Construction nicht Rücksicht nimmt, und dies ist die mechanische Betrachtungsweise, welche sich besonders an die äußere Gestalt hält. Aber besser als diese Betrachtungsweise ist die Erregung der Aufmerksamkeit auf die Constructionsprincipien des Gegenstandes. Denn durch die mechanische Betrachtungsweise wird den Kindern viel Unverständliches gegeben – bloße technologische Namen. Bei Naturgegenständen muß man aber auch Vorübungen zur Physiologie anstellen, und zeigen, wozu alles nöthig ist. Überhaupt muß man aber den Kindern nichts beibringen, was sie nicht verstehen können. Diese Maxime läßt sich jedoch nicht vollständig durchführen, da der Erzieher vieles selbst nicht verstehen, und also auch nicht das Mißverstandene mittheilen | kann. Es giebt also hier ein Maximum, worauf wir keinen Anspruch machen können. Offenbar kann hier alles nur Annäherung sein, und es giebt eine zwiefache Fortschreitung: die eine, welche aufs vollständige Verstehen geht, und die andre, welche auf das Fortschreiten im Auffassen dessen geht, was wieder für die andere Operation Problem ist. Dies geht in unserm ganzen Leben so. Es fragt sich aber: Soll man nicht die Operation so theilen, daß man das, was noch nicht verstanden werden kann, dem Leben überläßt, und nur das zu vervollkommnen sucht, was die Kinder schon aufgefaßt haben? Dann müßte die Erziehung alle Übun13 Den] Dem

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gen unterlassen, die auf ein mechanisches Auffassen gehn, weil man dies doch oft nicht erklären könnte. Doch dieses Verfahren würde nicht richtig sein, denn nur das Äußere lenkt den Menschen auf das Innere, und eine Gewöhnung, alle Gegenstände mechanisch ins Auge zu fassen, und alle Differenzen in möglichst kurzer Zeit wahrzunehmen, ist ein Hülfsmittel, das Verstehen des innern Zusammenhanges zu erleichtern. Alle Uebungen im mechanischen Auffassen sind also gar nicht zu verwerfen, und man lasse die Kinder z. B. den menschlichen Körper mechanisch auffassen, ohne auf das Physiologische zu gehen. Aber die Auffassung darf hier keinen Sprachapparat haben, weil die Sprache nur der Begriffsbildung dienen soll. Das bloß mechanische Anschauen kann keinen andern Zweck haben als nur die sinnliche Anschauung zu vervollkommnen. Bloße Namen und Namenerklärung zu geben, bewirkt nur eine δοξοσοφία, | und das Verstehen des Innern wird dadurch nur gehemmt. Das Nichtverstandene muß stets als ein Nichtverstandenes bemerklich gemacht werden, was durch den bloßen Namen so wenig geschieht, daß es sogar als ein Verstandenes erscheint, denn durch jenes Verfahren wird der Reiz im Verstehen selbst befördert. Wir müssen daher jenen mechanischen Uebungen solche zugesellen, in welchen ein merkliches Verstehen ist. Zwar kann das kindliche Alter nur wenig verstehen, aber unter den Naturgegenständen giebt es doch solche, wo man schon einem Kinde das Verhältniß der Gestalt und Verrichtung auf gewisse Art zur Anschauung bringen kann. So wird in den Kindern die Wißbegierde geweckt, und sie wollen dann das äußerlich Aufgefaßte auch verstehn. Im bloß mechanischen Auffassen liegt keine Fortschreitungsregel, weil es nur äußerlich ist. Daraus erhellt, daß dadurch allein der Zweck dieser Uebung nicht erreicht werden kann. Im organischen Auffassen liegt aber eine natürliche Fortschreitung, weil die Kinder von vorn herein das Verhältniß der Gestalt zur Verrichtung auffassen können: z. B. wenn ein Kind den menschlichen Körper erst mechanisch auffassen soll, so kann man entweder von den größern Theilen zu den kleinern fortschreiten, oder man macht einen einzelnen Haupttheil erst ganz deutlich. Beide sind verschiedene Fortschreitungen, und beide sind gleich zweckmäßig. Jene mechanische Anschauung ist also willkührlich und deshalb unwesentlich. Wir kommen nun zu der Untersuchung, über die Form welche | das, was die Erziehung in dieser Periode besonders thun kann, haben müsse. Den ganzen Zeitraum der Kindheit haben wir als propädeutisch angesehn, und gesagt, die Beziehung der Erziehung trete darin noch nicht auseinander. Diese Periode ist also die Periode der chaotischen Erziehung. Auf der andern Seite geht aber nach dieser Periode die bestimmte Form der Erziehung an, wo alles, was Uebung des Ver-

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stehens und Fertigkeit ist, gesondert wird. Sollen wir hier nun einen Sprung annehmen, und sagen, so lange, bis wir an diesen Wendepunct kommen, soll die Erziehung chaotisch bleiben, und dann mit einem Male völlig organisirt auftreten? Dann geht ja aber nachher eine gewaltige Revolution vor, welche die Quelle von großen Schwierigkeiten wird. Es scheint daher deutlich zu sein, daß wir auch hier Uebergänge annehmen, und sagen müssen, die Erziehung müsse hier an dasjenige anschließen, was das Leben bringt, aber auf der andern Seite eine Vorbereitung sein auf das, was mit den Kindern nachher angefangen werden soll. Die chaotische Form muß jedoch in so fern in dieser Periode vorherrschen, als man die Fähigkeit, sich anhaltend mit einem Gegenstande zu beschäftigen, bei den Kindern erst bilden muß. Aber auch hierzu muß man nur nach und nach etwas thun, indem man die Kinder auf eine Zeitlang mit einem und demselben Gegenstande [sich] beschäftigen läßt. –

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Es läßt sich hierüber keine Regel geben; nur einen Fehler kann man erkennen, und dann wieder auf den rechten Weg einlenken. Das Kennzeichen der verfehlten Thätigkeit ist nichts anderes | als das Mißbehagen der Kinder. Die absichtliche Thätigkeit des Anschauungsvermögens ist mit begriffen unter dem Gesichtspunct der Betrachtung. Hier muß man darauf achten, wie viel ohne Ueberreizung geschehen kann. Weil in dieser Zeit sich die verschiedenen Richtungen und Fähigkeiten erst entwickeln, so muß man die Kinder auch als indifferent ansehen gegen die verschiedenen Gegenstände. Die Fähigkeit der Kinder, sich anzustrengen, und eine gewisse Ausdauer zu haben, muß also nach allen Seiten hin ziemlich gleich sein. Nur gewisse an einzelnen Sinnen hangenden Thätigkeiten sind es, wo die Differenzen größer sind, und sich zeitiger entwickeln. An Auge und Ohr nun sind die Differenzen schon in den Kinderjahren entwickelt. Hat in Folge davon ein Kind gewisse Liebhabereien, denen es sich stets ergiebt, so ist dies etwas Krankhaftes, das man abwenden muß. Denn in dieser Periode zeigt sich das Gesunde in der Gleichförmigkeit der Entwickelung. Das Propädeutische ist Uebergang zur folgenden Periode. Soll dieser aber plötzlich sein oder nicht? Wir haben diese Frage noch in Rücksicht auf andre Puncte zu beantworten, denn die Vorbereitung auf den Unterricht liegt in den beschriebenen Vorübungen zur Begriffsbildung. Begriffe unterscheiden sich von Bildern dadurch, daß 3 einem] einen

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diese sich durch Uebergänge in einander verlieren, jene aber durch Gegensätze von einander geschieden sind. In den | Thätigkeiten sind Richtungen ausgesprochen, und bringen wir die Gestalten in Composition mit den Richtungen, so bereiten wir zur geistigen Thätigkeit überhaupt vor. Wir wollen jetzt jene Frage in Bezug auf die religiöse und gesellschaftliche oder sittliche Bildung beantworten. Bei der religiösen Bildung sind die Ansichten sehr verschieden, und haben sich in verschiedenen Zeiten entgegengesetzt entwickelt. In den frühern Zeiten glaubte man, es verstehe sich von selbst, daß, wie die religiösen Empfindungen in der Sprache ausgedrückt sind, so sie auch in den Kindern durch das Verkehren mit dieser erweckt werden müßten. Mit der Sprache lernten daher die Kinder schon Sprüche, die religiösen Sinn hätten. In der Folge ist eine entgegengesetzte Ansicht aufgekommen, wo man davon ausging, man müsse den Kindern nichts lehren, was sie nicht verstehen. Es sei daher jenes Erlernen religiöser Sprüche etwas ganz Mechanisches, und man müsse dagegen den Kindern alles Religiöse verbergen, bis sie es verstehen könnten, damit nichts Äußerliches in sie hineinkäme, bis das lebendige Gefühl sie beseele. Diese Ansicht hat lange geherrscht. Jetzt scheint man jedoch zur ersten zurückzukehren. Wir müssen uns über das Verhältniß beider Ansichten verständigen. Was den letzten Kanon betrifft: man soll den Kindern nichts beibringen, das sie nicht verstehn, so haben wir gesehen, daß dies nicht überall möglich ist. Vieles kommt mehr an der Leitung des Gefühls als des Verstehens zum Bewußtsein. Kurz | jener Kanon ist lebenszerstörend, und nicht ausführbar, und also keine richtige pädagogische Regel. Auch für den Menschen im Zustande seiner Vollendung hat das Religiöse nicht dadurch seinen Werth, was wir eigentlich verstehen nennen, sondern es knüpft sich mehr an das Gebiet der Empfindung an. Verstehen denn die Kinder wohl ihr Verhältniß zu ihren Aeltern und was Gehorsam und Liebe ist? Nein, das Verstehen kommt erst später; aber sie leben darin, und haben es. Das Verstehen tritt erst mit 13–14 Vgl. z. B. die religiöse Bildung im Kontext des Pietismus als Erziehung des Gemüts und des Willens (vgl. Francke, August Hermann: Kurtzer und einfältiger Unterricht, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und christlichen Klugheit anzuführen sind, Halle 1702); der Unterricht sollte schon im Kindesalter beginnen und sich zunächst auf katechetische Unterweisung, Bibellesen und Sprüchelernen beschränken. 14–16 Im Émile formuliert Rousseau: „Si j’avois à peindre la stupidité fâcheuse, je peindrois un pédant enseignant le catéchisme à des enfants“. Vgl. Collection complète 8,189; Œuvres complètes 4,554. Religiöse Bildung soll Rousseau zufolge erst einsetzen, wenn der menschliche Verstand fähig ist, sie zu begreifen.

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dem Sündigen ein, denn dann wird durch den Gegensatz die Reflexion gereitzt. Freilich haben die Kinder im religiösen Gebiet keinen solchen Besitz, und folglich fängt die Entwickelung des Religiösen nicht mit dem Verstehen an, und also ist kein Grund vorhanden, das Nichtverstehen-können als Grund anzugeben, daß die religiöse Entwickelung noch nicht angehen könne. Eigentlich religiöse Zustände kommen in diesem Lebensalter noch nicht vor, und so giebt es auch keine Thätigkeit der Erziehung in Bezug auf dieses Gebiet. Aber das Religiöse erscheint den Kindern im Leben von außen her, und wo nicht, so würde es verkehrt sein sie darauf hinzuführen. Was ist aber hier zu thun? Mag auch in der Familie selbst das Religiöse weniger hervortreten, so ist es doch in der Sprache eingewurzelt, und kommt in dieser Sprache vor, und so kommen auch den Kindern Schattenbilder des Religiösen vor, und erregen ihr Interesse in sehr hohem Grade. Dies ist überhaupt nicht leicht zu erklären, und kann auch nicht auf eine und dieselbe Art bei allen Kindern | erklärt werden. Besonders geschieht es, wenn sie religiöse Anlage in sich haben oder Sinn dafür, was ins Gebiet der Phantasie gehört. Soll man die Kinder nun mit allen ihren auf das Religiöse sich beziehenden Fragen abweisen? Das würde um so verkehrter sein, je mehr das Religiöse im Leben der Familie selbst hervortritt. In diesem Maße sind es nicht bloß Wörter, die ihnen in die Ohren tönen, sondern sie bemerken den Zusammenhang zwischen der Sprache und den Gemüthszuständen. Soll und kann man sie nun da abweisen, oder muß man nicht vielmehr versuchen, wie weit sich das religiöse Element auch ihnen mittheilen läßt? Es heißt ihnen wahrlich den Schlüssel zu ihrem eigenen Leben entziehen, wenn man ihnen die Gewalt des Religiösen in den Gemüthern der Erwachsenen zu verbergen sucht. Dieses Extrem also trägt eine Verschuldung in sich. Verfällt man aber in das andre Extrem, so daß das Religiöse nur mechanisch wird, so kann dies auch eine Verschuldung sein, indem man den Kindern den Sinn für die Zeit verdirbt, wo sie es recht genießen können. Es ist eine natürliche Neigung des Menschen, das ihm Bedeutendste mitzutheilen und fortzupflanzen, und so wäre es auch Verschuldung gegen die Kinder die freie Mittheilung des Wichtigsten hemmen zu wollen. Man muß also die Kinder nicht Sprüche und Gebete auswendig lernen lassen; haben aber die Kinder einen Drang dazu, so wage man | es nicht, sie zu hindern, und denke, daß, was nicht auf einem Hergebrachten beruht, sondern aus einem lebendigen Interesse hervorgeht, nicht schädlich sein kann. Die Kinder werden zwar nicht verstehen, was sie nachsagen, aber doch ahnen, [was] in den Gemüthern der Erwachsenen vorgeht, die ihnen 14 hohem] hohen

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die Sprüche vorsagen. So kann hier ein guter Grund gelegt werden. Uebrigens ist ja das Verstehen in Bezug auf Gott und Unsterblichkeit nicht einmal in uns selbst.

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Ueber die entgegengesetzte Ansicht, das Religiöse den Kindern zu verbergen, weil sie es nicht verstehen, ist das Allgemeine schon erklärt worden. Das Gefühl selbst läßt sich nicht abgesondert denken von einer Richtung aufs Verstehen. Es hat daher viel für sich, wenn man sagt: immerhin mögen die Kinder das Richtige empfinden, aber man leite sie noch nicht auf das Verstehen, denn dadurch entstehe nur Veranlassung zu falschen Ansichten im Verstande die den Skepticismus befördern. Wir kommen nämlich nie, wenn wir unsre religiösen Zustände in Begriffe umsetzen, ohne etwas Menschenähnliches im höchsten Wesen aus. Freilich kann man dieses bei völlig erwachten Gemüthskräften auf ein minimum reduciren, und sich bewußt werden, daß man Menschenähnliches in Gott setzt. Sobald wir uns aber diese Vermenschlichung der Gottheit auf einer niedrigern Stufe denken, so kann man leicht dahin kommen, daß man in der Folge dieses Menschliche erkennt, sich aber nicht anders helfen kann als daß man mit dem Menschlichen das rein Göttliche wegwirft. So entsteht die Freigeisterei. Eben so geht es bei den Kindern, wenn | die unvollkommenen Vorstellungen von Gott in ihnen constant und dann erkannt werden. Aber dies kann nicht erfolgen, wenn das Religiöse selbst in den Gemüthern tiefere Wurzel geschlagen hat. Die Schuld eines solchen Verderbens ist also nicht in einer frühen Mittheilung des Religiösen zu suchen, sondern darin, daß diese Mittheilung nicht tief genug gewesen ist, und nachher ausgerissen wurde. Wir haben also keine Ursache, das zu frühe Eindringen des Religiösen in den Gemüthern der Kinder zu verhüten, sondern nur darauf zu sehen, daß das unmittelbar Religiöse tiefere Wurzel schlage als die Vorstellungen von Gott, die sich nachher immerhin ändern mögen, wenn nur jenes bleibt. Wer dies mit unbefangenem Auge ansieht, der wird bemerken, wie das Religiöse in gewissen Kreisen auch oft auf kindische Weise wurzelt, und sich doch, wenn nur das übrige Leben gesund ist, an das sittliche so fest anhängt, daß es unverändert bleibt selbst bei nachher veränderten Vorstellungen von der Gottheit. Sobald also die Kinder fähig sind, ein sittliches Gefühl in sich aufzunehmen, so können sie auch ein religiöses aufnehmen. 19 daß] das

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Wir kommen jetzt auf die Erziehung für die Gesellschaft. Wenn die Kinderjahre vorüber sind, so entsteht in der Erziehung eine besondere Richtung auf die Gesellschaft, welcher die Kinder angehören werden, damit sie sich auch für diese angemessen darstellen mögen. Dies ist ein an und für sich | sehr schwieriger Punct, und wir müssen uns erst den Gegenstand selbst klar machen, um die Vorbereitung darauf im Zustande der Kindheit zu verstehen. Das Zusammenleben der Menschen ist überhaupt auf dem geschichtlichen Gebiet der Menschheit zusammengesetzt aus dem Natürlichen und Wesentlichen auf der einen Seite und aus dem Willkührlichen und Zufälligen auf der andern. Versetzen wir uns in Regionen, wo die Menschen Jahrhunderte lang auf einer Stelle sind, so werden wir finden, daß sie so zusammen bleiben, wie sie von Natur zusammen gehören und zusammen gekommen sind. In dem eigentlich geschichtlichen Gebiet aber gehen so viele störende Veränderungen vor, daß, wenn man eine große Menschenmasse ansieht, man nicht sagen kann, sie sei rein natürlich. Rein natürlich verbindet die Menschen die Sprache und die Constitution des Menschen selbst. Aber betrachten wir ein Ganzes im geschichtlichen Gebiet, einen Staat, so weichen alle einzelnen nach beiden Seiten hin ab. Menschen von derselben Sprache gehören nicht zum Ganzen. Diese Differenz ist aber auch überall schwankend, und so finden wir, daß die Bestrebungen zum Ausdehnen und zum Concentriren die Gründe aller Unruhen sind. Soll nun die Jugend zur Angemessenheit für ein solches Ganzes gebildet werden, so finden wir, es könne bei diesem schwankenden Zustande kein bestimmtes Maß und keine Formel geben. So wird unsre Aufgabe im Ganzen schwer. Freilich geht die Erziehung für die Gesellschaft erst an, wenn die Kinderzeit vorüber ist, aber auch hier ist kein Sprung möglich und deshalb | muß das Sein der Kinder für die Gesellschaft vorbereitet werden. Dieses seiner Art und seinem Maße nach zu bestimmen, ist nun überaus schwierig. Hier drängt sich uns nun erst der Gegensatz auf zwischen den Differenzen, die im Gebiete des historischen Lebens vorkommen, und dem Zustande der Menschen der außerhalb dieses Gebietes liegt. In der letzten Region wollen wir uns in das ganze Leben einer kleinen Gesellschaft, die stets auf derselben Stufe stehen geblieben ist, versetzen. Hier müssen wir sagen, giebt es in keinem Zeitpuncte der Erziehung irgend einen Unterschied, so daß in dem einen Zeitpuncte mehr auf die Gesellschaft Rücksicht genommen würde, als in dem andern, denn die Gesellschaft ist ja höchst einfach. Sehen wir aber auf die entgegengesetzte Form des menschlichen Daseins, die mehr zusammengesetzt ist, wie die unsrige, so trägt ja schon die Sprache einen bestimmten Character in sich. Doch trägt sie nicht den Character einer bestimmten Gesellschaft in sich, nicht den Character des

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Politischen, wie z. B. in Deutschland, wo eine Sprache mehrere Staaten umfaßt. Hier entsteht nun die Frage, ob der Mensch für sein Volk oder für seinen Staat gebildet werden soll. Dies ist schwer zu entscheiden. Wir sind freilich, so lange Deutschland existirt, in Lösung der Aufgaben begriffen, daß jene Frage keine Alternation erhalten soll, aber sie ist noch nicht gelößt, und jetzt sind wir eben so weit von ihrer Lösung entfernt wie sonst. Es ist bedenklich hierüber zu reden, denn die Politiker wollen den Menschen durchaus für seinen Staat bilden, denn die Einheit des Volks sei | eine eingebildete und leere, und nachher werde ja der Mensch doch in den Staat hineingezogen, und müsse mit ihm sein, um nicht wider ihn zu sein. Aber indem wir es gar nicht mit dem Politischen zu thun haben, sondern mit einem weit engern Kreise, so stehen wir zugleich auf einem viel höhern Standpuncte, denn wir können den Politikern nur sagen: Ja, wenn ihr nur die politischen Einheiten festhalten könnet, bis unsre Erziehung beendigt ist, so ist das recht schön; aber wenn nun z. B. ein Kind auf der Grenze wohnt, und mit abgetreten wird? Es ist also auf der einen Seite das Bestreben, das Erziehungswesen dem Staat unterzuordnen, auf der andern, es vom Politischen so viel wie möglich zu trennen. So lange nun der Zustand von Unsicherheit der politischen Bande dauert, so lange hat auch dieser Zwist in der Pädagogik kein Ende, und wir werden hier noch lange Kämpfe zu bestehen haben. Je mehr eine menschliche Gesellschaft in jenen Zustand verflochten ist, desto schwieriger ist eine Theorie über das Verhältniß der Erziehung zum Volk und Staat aufzustellen. So ist gegenwärtig von Seiten der Politik eine Reaction gegen das Deutschthum an der Tagesordnung, und sie haben auf ihrem Standpuncte Recht, denn in dem Interesse für die Einheit des Volks geht das Interesse für die politischen Differenzen zu Grunde. Haben aber jene Recht, so haben diese doch nicht Unrecht. Die pädagogische Richtung auf das Deutschthum ist äußerst jung und erst seit der Zerstückelung und Unterdrückung Deutschlands entstanden. Die Politiker fanden sie vortrefflich, und mit Recht. Nun sie aber ihren Zweck dadurch erreicht | haben, ist es auch nöthig, daß sie davon zurückkehren, und die einzelnen Staaten bestehen lassen wollen. Aber hierin ist viel Kurzsichtiges. Denn ist dieselbe Gleichförmig30 Die Orientierung auf das „Deutschtum“ erhielt zeitgenössisch vor allem durch Johann Gottlieb Fichtes „Reden an die Deutsche Nation“ (1808) [SB 671] einen prominenten Ausdruck (Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1–42, Stuttgart-Bad Canstatt 1962–2012, hier Abt. I, Bd. 10: Werke 1808–1812, edd. E. Fuchs/R. Lauth/H. G. v. Manz/I. Radrizzani/P. K. Schneider/M. Siegel/G. Zöllner, 2005, S. 97–298) Im Angesicht der französischen Besatzung Preußens wurde die Nation zu einer ideellen Größe, welche nur auf dem Wege einer Nationalerziehung erreichbar sein sollte.

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keit in allen deutschen Staaten, so wird der Particularismus verhindert, aber das politische Band wird darum doch nicht aufgelößt, sondern nur die Leichtigkeit der Opposition gefährdet durch die Einheit der Sitte. Allein es ist zu hoffen, daß sich diese verschiedenen Ansichten endlich ausgleichen werden.

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Das meiste scheint darauf zu beruhen, wie sich Volk und Staat zu einander verhalten. Das Volkssittliche muß in jedem Hauswesen lebendig sein, und so auch in den Kindern lebendig werden. Auf diese Weise gehört hierzu keine besondere Vorrichtung in dieser Periode der Erziehung. Je mehr aber Volk und Staat differiren, und der Staat ein vom Volksthümlichen verschiedenes Princip hat, desto eher verhält sich dies anders. Wenn ein Volk in eine Mehrheit von Staaten zerfällt, ohne daß ihr eine natürliche Eintheilung zum Grunde liegt, sondern es willkührlich ist, daß der Staat so wurde, wie er ist, so gestaltet sich die Frage, was der Staat in seiner Differenz vom Volksthümlichen sein könne. Im Staat und durch ihn werden immer Differenzen fixirt, die sonst nicht fixirt würden, und dies ist die politische Ordnung. Wenn aber außerdem der Staat different ist von der natürlichen Volkseinheit, so ist es seine Sorge ein Zusammenhaltendes und ein Trennendes zu formiren. Sehen wir auf dieses Element, so kann nicht leicht schon in dieser Periode der Erziehung eine Veranlassung entstehen, etwas, was sich auf | die politische Anordnung bezieht, hineinzubringen, denn dies ist dem kindlichen Leben fremd. Und doch finden wir dies in gewissen Verhältnissen. Nämlich überall, wo wir im Staate das aristokratische Element dominiren finden, d. h. angeborne und angeerbte Differenzen, da finden wir das Bestreben, dies so früh wie möglich in die Erziehung hineinzubilden. Es ist dies stets das Bestreben des Adels, das Bewußtsein von der politischen Standesverschiedenheit so bald wie möglich zu entwickeln. Beim ersten Anblick scheint dies unnatürlich, aber wir, die wir hier mit betheiligt sind, können nicht unpartheiisch darüber urtheilen. Wir müssen uns auf die Mitte zu stellen suchen, um zu sehen, was in diesem Puncte der Erziehung obliegt. Diese Differenzen können im kindlichen Alter noch nicht verstanden werden, das Bewußtsein davon kann nichts innerlich Lebendiges sein, sondern es wird nur mechanisch erreicht, und kann auch nur eine mechanische Haltung haben durch das Gefühl der Bedeutung, die auf die mechanische Seite gelegt wird. Auf diese Weise ist es ein störendes Element in der Erziehung, und wir können ganz frei fragen, ob es nicht besser wäre, dies von der Jugend entfernt zu halten, und ob sich nicht nachher doch dieses Ver-

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hältniß lebendig machen ließe. Die Erfahrung zeigt, daß dies ohne Schaden geschehen kann. Wo jene Hineinbildung schon früh geschieht, da geschieht sie entweder aus einer unbefangenen und unbewußten Lebensweise, aus einem Gefühl von innerer Nothwendigkeit, | das auf einer wirklichen Trennung der verschiedenen politischen Zweige beruht. Dies geschah vor 30 oder 40 Jahren, und war in der Ordnung der Dinge. Dasselbe kann aber auch unter andern Verhältnissen vorkommen, wenn die politischen Differenzen wankend geworden sind, und man nach Befestigungsmitteln sucht. Dann will man die künftige Generation recht früh in das Bewußtsein des Standes hineinzwängen. Dann wird aber etwas Verschrobenes daraus, und es entwickelt sich eine starke Opposition, wie jetzt. Hier ist die Erziehung aus politischen Principien zu bestimmen, und muß dahin sehen, daß die Differenz der Stände nicht so bald zum Bewußtsein kommt. Wenn wir von diesem Princip ausgehn, so müssen wir sagen, daß in die Periode der Kindheit nichts gehört, was die Entwickelung der Sitte positiv angeht, und daß sie sich vom Leben selbst in die Kinder hinüber bilden muß. Dasselbe gilt vom eigentlich Sittlichen und Moralischen, denn dieses ist auch nicht überall und zu allen Zeiten dasselbe, sondern auch hier giebt es eine Differenz zwischen dem Natürlichen und Volksthümlichen und dem Historischen und Willkührlichen. Dies ist die Antwort auf die Frage vom Propädeutischen zur zweiten Periode der Erziehung, wo die Bildung für Religion, Erkenntniß und das gesellschaftliche Leben in bestimmten Formen vorkommt. Wir gehen jetzt über zur | Zw e i t e n P e r i o d e d e r E r z i e hung selbst. Wir wollen einiges Allgemeine voranschicken. Die Erziehung in der Periode der Kinderjahre ist wesentlich häuslich, und deshalb sind darin die Geschlechter noch nicht von einander getrennt. Am Ende der Erziehung finden wir die Geschlechter verschieden ausgebildet, und auch nachher einen andern Lebensweg einschlagend. Folglich muß auch die Erziehung auseinander gehn. Diese Differenz der auseinander gehenden Erziehung der Geschlechter ist aber nicht in allen Theilen der Gesellschaft gleich stark, und die Erziehung braucht auch nicht in allen Theilen der Gesellschaft zu gleicher Zeit auseinander zu gehn. Unter uns ist der Zustand folgender. In der Erziehung der Volksmasse finden wir, daß auch nach vollendeten Kinderjahren beide Geschlechter nicht von einander getrennt werden, wogegen in den gebildetern Theilen der Gesellschaft dies bald geschieht, natürlich nicht im häuslichen Leben, sondern wie sich die Erziehung jedes Geschlechts besonders gestaltet.

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Nun entsteht die Frage: hat dies einen Grad von Allgemeingültigkeit, und worauf beruht es? Die eigentliche Volksmasse unterscheidet sich aber darin, daß die Geschlechter in ihrer Lebensweise nicht weit von einander gehen, und ihre Beschäftigungen gleichmäßig theilen. Weiber ersetzen die Stelle der Männer im Arbeiten. Dies muß aber auch einen innern | Grund haben, und dieser ist, daß die Geschlechtsdifferenz in der Masse nicht so heraustritt, wie in den gebildeten Theilen eines Volkes. Sehen wir auf die große Masse, so finden wir weniger, daß man eigenthümliche Ansprüche an das eine oder das andere Geschlecht macht, oder dem einen gewisse Fehler mehr zur Last legt als dem andern. Nun kommt es darauf an, wie in den öffentlichen Institutionen der Unterschied zwischen der Masse und dem gebildeten Theil eines Volkes anerkannt ist, und danach wird auch die Erziehung verschieden gestaltet sein können. Hierzu kommt noch das Bedürfniß; der Apparat zur Erziehung kann in der Masse nicht so zusammengesetzt sein, wie in den gebildeten Theilen der Gesellschaft. Man sieht dies gewöhnlich so an, als müsse das Volk seine Kinder bald zum Erwerb anhalten, und deshalb die Erziehung derselben schneller beendigen. Dies wäre ein beklagenswerther Zustand. Sehen wir aber darauf, daß man recht viel von allgemeiner Bildung in das Volk hineinzubringen sucht, und doch dadurch wenig Vorzügliches und Löbliches bewirkt wird, so müssen wir daraus abnehmen, daß die Bildungsfähigkeit selbst im Volke geringer, und kein Verlangen nach einer ausgebreiteten Bildung da ist. So wird durch den Mangel dieses Verlangens und durch jene äußerlichen Umstände, welche die rasche Vollendung der Erziehung nothwendig machen, diese | weniger umfassend. Denkt man nun daran, daß in den höhern Ständen mehr und länger erzogen wird, so entsteht die Frage, ob die erste Stufe der Erziehung von Kindern aus den höhern Ständen mit den Kindern des Volkes gleich oder verschieden sein soll? Auch hier hangt viel vom Politischen ab.

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50. Vorlesung Die ganze Ansicht vom Leben ist bei den untern Ständen nicht so verzweigt wie bei den höhern. Dieselbe Differenz der Stände findet bei der religiösen Bildung Statt. Auch die religiösen Empfindungen in der großen Masse sind weniger fein gespalten; sie faßt nur die Hauptpuncte in die Augen, und vieles erscheint ihr mehr mechanisch, oder wird von ihr gänzlich ignorirt. Dieser Unterschied der Bildung nach den Ständen geht also durch das ganze Gebiet der Erziehung, und 11 dem] den

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folglich ist die Frage allgemein, ob bei der Erziehung auf die Differenz zwischen den Ständen überhaupt Rücksicht genommen werden soll. Ehe wir zur Beantwortung dieser Frage schreiten können, müssen wir noch mehreres vorausnehmen. Es ist offenbar, daß jene Frage in praxi nicht vorkommt, wo die Erziehung nur Privatsache ist. Denn denken wir uns, daß die Erziehung in der einzelnen Familie fortgesetzt wird, so hat jeder nur diejenige Form von vorn an im Auge, in welche die Erziehung übergehn soll, und unter diesen | Umständen wird die Jugend der gebildeten Stände anders erzogen werden als die Jugend aus dem Volke. Grenze wird nur die natürliche Entwickelung selbst sein. Die Volkserziehung hat auch kein Interesse, sich hier der Erziehung der höhern Stände zu nähern, denn sie befördert die Jugend so bald wie möglich ins thätige Leben. Es ist also nur die Voraussetzung der öffentlichen Erziehung welche die Antwort auf jene Frage nöthig macht. Um sie zu beantworten, müssen wir auf die darin enthaltene Frage eingehn: Was werden die Wirkungen sein, die in der öffentlichen Erziehung aus dem einen oder dem andern System entstehen können, wenn man beide in ihrer Schärfe einander entgegensetzt? Auch diese Frage kann jetzt noch nicht beantwortet werden, sondern wir wollen vorher sehen, auf welche Principien die Antwort darauf sich stützt. Die eine Ansicht ist, der Unterschied der Bildung der Stände müsse so zeitig wie möglich eintreten, die andre, es müsse so lange wie möglich die Gleichförmigkeit fortgesetzt werden. Der Sinn der letzten Ansicht ist die größeste Opposition gegen eine specielle Bildung. Denn will man die Jugend aus allen Ständen so lange wie möglich zusammen behandeln, so liegt darin nichts anderes, als daß man sie sehr spät in einen besondern Gesichtskreis eintreten lassen wolle. Die andre Art, jene Frage zu beantworten, hat das Ent|gegengesetzte im Sinn, und will die specielle Bildung erweitern, und alles darauf richten. Hieraus geht noch eine andre Ansicht der Differenz zwischen beiden Ansichten hervor. Denken wir uns nämlich das eine als eine höhere Bildung, so werden bei einer verschiedenen Erziehung der Jugend der verschiedenen Stände die zu den niedern Ständen Gehörenden von jener höhern Bildung ausgeschlossen. Der zweiten Ansicht liegt also das ausschließende Princip zum Grunde, und die Beschleunigung der Erziehung auf das Specielle hin und der ausschließende Character sind identisch. Das letzte ist wieder etwas, das ins Politische hinübergreift. Doch können [wir] hier noch einen rein pädagogischen Entscheidungspunct finden. Dieser Punct entdeckt sich, 20 welche] welchen

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7–8 Vgl. SW III/9, S. 358: „in welche die Jugend übergehen soll;“

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wenn wir auf den Gegensatz zwischen dem Formellen und Materiellen in der Erziehung Rücksicht nehmen, welcher Gegensatz von allgemeiner Geltung auf dem religiösen und gesellschaftlichen Gebiet ist. Wenn wir die verschiedenen Puncte der Erziehung von materieller Seite betrachten, z. B. die Menge der Kenntnisse und die verschiedenen Empfindungsweisen, so kommt die Sache so zu stehen. Wenn man die Jugend der verschiednen Stände gleichförmig behandelt, so bekommt der eine etwas in sein Leben, das ihm nichts nützt, und der andre kommt dabei zu kurz. Z. B. die Kenntniß mehrerer Sprachen, deren Anfangsgründe zeitig | beigebracht werden müssen, bedarf die Volksmasse nicht, müßte sie aber, damit die Jugend nicht getrennt würde, mitlernen. Von materieller Seite betrachtet, ist dies verkehrt, denn der andre hätte mehr bekommen gekonnt in der Zeit welche mit dem Unterricht einer größern Masse hingeht. Eben so ist es in der gesellschaftlichen Erziehung. Aus diesem Gesichtspuncte muß man also für die Sonderung sein. Aber dies ist ein einseitiger Gesichtspunct, der nur gelten könnte, wenn man so zeitig zu bestimmen im Stande wäre, in welches Gebiet des Lebens der einzelne gehört. Je mehr man aber glaubt, dies durchaus nicht zeitig bestimmen zu können, desto mehr ist das Interesse der Gesellschaft dahin gerichtet, diese Sonderung zu verhüten, bis man beurtheilen kann, wozu der einzelne sich paßt. Es giebt aber noch einen andern Gesichtspunct. Man sagt nämlich: das Materielle ist überhaupt nur untergeordnet, und die Hauptsache ist das Formelle, die Leichtigkeit, welche in gewissen Operationen erworben wird, und auch dies geht durch alle Gebiete der Erziehung. Der so gebildete Mensch kann immer in ein verschiedenes Material geworfen werden, und er wird es sich doch zu unterwerfen wissen. Die Bestimmung des einzelnen im Leben beruht aber auf dem Materiale. Ist nun aber die Erziehung rechter Art, so daß das Materielle nur um des Formellen willen da ist, so wird der einzelne dieses zugleich erreicht haben, und dann wird es gleich sein, ob er das Material aufgefaßt oder nicht, und die | Uebung im Formalen wird ihm stets die Auffassung des Materialen erleichtern. Je mehr man also das Materiale vorwalten läßt, desto mehr wird die Erziehung etwas Mechanisches, denn durch die Erziehung soll nur das Leben des Menschen herausgebildet und die verschiedenen Functionen des Geistes sollen zur Einheit gebildet werden. Auf diese Weise muß das Materielle dem Formellen untergeordnet werden. So haben wir eine rein pädagogische Formel zur Entscheidung jener Frage gefunden, nämlich in so weit man allem Materiale einen eigenthümlichen formellen Zweck 4 Puncte] Puncte nach

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geben kann, der durch nichts anderes besser erreicht wird, so braucht man nicht zu berücksichtigen, in wie fern der Mensch das Materiale brauchen kann oder nicht, wenn er nur das Formale im Leben eben so gut brauchen kann. Freilich ist jene Frage nicht bestimmt zu beantworten, und die Praxis wird auch der Theorie nie folgen, und politische Rücksichten werden immer auf die Behandlung dieses Theils der Erziehung Einfluß haben. Mit dieser unbestimmten Vorstellung von dem, was im gemeinsamen Leben nach beendigten Kinderjahren geschieht, müssen wir nun zur Behandlung der Erziehung selbst in ihren verschiedenen Zweigen übergehen. Vorher müssen wir uns noch im Allgemeinen aus einer Anschauung von dem Anfangs- und Endpunct dasjenige, was zwischen beiden | liegt, construiren. Der Anfangspunct ist ein ziemlich gemeinsamer. Nach beendigten Kinderjahren sind noch keine großen Differenzen im Menschen herausgebildet. Der Endpunct der Erziehung ist aber gar nicht derselbe, denn diejenigen, welche erzogen werden sollen, theilen sich in zwei Classen. Die Erziehung der einen ist in zwei Entwickelungsperioden zerspalten, die Erziehung der andern ist mit der ersten beendigt. Wie nehmen aber an, wir wüßten nicht, ob der Zögling von der einen oder der andern Art ist, sondern das sollte sich erst im Verlauf der Erziehung entwickeln. Nun fragt es sich, ob diese Annahme im Allgemeinen richtig sei, und da findet sich, daß dies wirklich sehr verschieden ist, denn bei uns ist hier ein großer Unterschied zwischen den städtischen und ländlichen Verhältnissen, obgleich der niedrige Grad der ersten Classe mit der letzten gleich ungebildet sein mag. Es gehört wirklich ein Wunder dazu, wenn sich aus dem Landvolk einer entwickelt, der in die höhern Kreise übergeht, und auf diese seltnen Fälle ist hier nicht Rücksicht zu nehmen, weil wir vom Allgemeinen reden. Dagegen ist es ganz anders in den städtischen Lebensverhältnissen, weil diese sich sehr berühren, und es hier häufig geschieht, daß sich einer aus der niedern Classe in die höhere erhebt. Hier muß also schon eine verschiedene Behandlungsweise angehen, | und die Erziehung für die Städtebewohner anders sein als für das Landvolk. Bei jener tritt die Gefahr ein, daß bei zu zeitiger Sonderung eine Menge aufkeimender Talente unterdrückt werden könnte, und auch nur bei ihnen ist es wahr, daß sie manches Material nicht mögen brauchen können, und es ihnen nur in Rücksicht auf das dadurch erlangte Formale nützt. Es findet also ein Unterschied Statt zwischen der Erziehung der Städter und des Landvolks.

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Wir müssen noch ferner auf das Gemeinsame in der Erziehung eher sehen, als wir auf das Besondre kommen. Das Sittliche kann vom Materiellen nicht getrennt sein, und es ist also nicht möglich, ohne Uebereinstimmung mit den Wirkungen des Lebens den Menschen zur Sittlichkeit überhaupt zu erziehn. Die mächtigsten sittlichen Motive, z. B. das Freiheits- und Ehrgefühl, verhalten sich in dem einen Volke ganz anders zu einander als beim andern, und es giebt daher keine allgemeine sittliche Erziehung, sondern sie muß sich stets dem Volk und Zeitalter anschmiegen. Aber hier tritt wieder das Verhältniß des Volksthümlichen zum Geschichtlichen oder Politischen ein. Geht die Erziehung von der Familie aus, so muß in einem Volke der nationelle sittliche Character in jeder Familie sein, und sich in der Erziehung reproduciren. Das Politische hingegen ist nicht so tief eingreifend in jedes Hauswesen; es ist das, was der Jugend fremd bleibt, bis sie sich den Verzweigungen, welche die politische Ge|staltung des Volks hervorgebracht hat, nähert. So muß die sittliche Erziehung gleich beginnen, aber die Beziehung des Politischen kann erst später eintreten. Hier fragt sich zuerst, wie wir uns den Zweck der Erziehung in diesem Gebiete zu construiren haben, und dann müßten wir sehen, in wie fern daraus die Methode, zu diesem Zwecke zu gelangen, hervorgeht. Was den Antheil betrifft, den der einzelne an der Aufgabe des gemeinsamen Lebens nimmt, dasjenige, was sich auf Cultur bezieht, so haben wirs damit hier nicht zu thun, sondern mit der Art, wie er sich selbst bestimmen soll, damit seine Handlungsweise im Allgemeinen in Uebereinstimmung mit dem Ganzen sei. Jedes gemeinsame Leben z. B. eines Volks, besteht nur, wenn ein Trieb auf dasselbe in allen einzelnen ist, welcher das Gemeingefühl oder die Vaterlandsliebe ist. Dies ist der Punct der Gesinnung, und der erste Theil unsrer Aufgabe, daß der einzelne mit einem starken Gemeingefühl ins gemeinsame Leben trete. Der zweite Punct ist, daß ein solches gemeinsames Leben nur ist, in so fern die Thätigkeiten der einzelnen zusammenstimmen, und sich nicht etwa aufheben. Hier kommt es auf ein bestimmtes Verhältniß an, in welchem der einzelne gegen die andern einzelnen stehen soll. Indem alle zusammen das Ganze bilden, so scheint doch der eine die andern zu beschränken, in so fern der einzelne sich in der Abstraction für sich hingestellt ansieht, | und es kommt hier darauf an, entweder daß der einzelne nie in diese Abstraction komme, oder daß dieses Beschränktsein etwas ist, wozu er seine Einwilligung giebt. In diesen beiden Puncten zusammen, ist die ganze sittliche Aufgabe gefaßt. 38 daß] das

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Aber nun haben wir in Bezug auf den zweiten schon eine doppelte Auflösung, und es fragt sich, welche von beiden die richtige sei. Das was hier als Abstraction aufgestellt ist, ist nichts anderes, als was wir sonst wohl das Gefühl der persönlichen Freiheit nennen. Können wir nun sagen, daß es unter gewissen Umständen gut ist, wenn der Mensch zu diesem Gefühl gar nicht kommt, unter andern wieder gut, daß er dazu kommt, oder unter allen Umständen gut, daß er dazu kommt oder daß nicht? Der einzelne kann sich seiner nur bewußt sein, in wie fern er sich seiner freien Thätigkeit bewußt ist, und so ist dies eine nothwendige Basis, ohne welche es kein Gemeingefühl geben kann. Im Zustande der geselligen Unschuld, ist keiner durch den andern beschränkt, aber dieser Zustand ist nie vorhanden, sondern nur ein Punct, von dem alle Menschen ausgehn, und wonach sie hinstreben, ohne ihn zu erreichen. Der Mensch im Naturstande oder vielmehr im vorbürgerlichen mag jene Unschuld haben, darin ist das ganze Beisammensein instinctartig, aber auch ohne Gegensätze, und keiner hat das Gefühl einer Unbeschränktheit, denn keiner ist Obrigkeit oder Unterthan, und so kann der Schein einer | Beschränkung nie entstehen. Aber dies ist eigentlich gar kein Zeitverlauf. Wenn wir uns auf der andern Seite die bürgerliche Gestaltung im höchsten Grade der Vollendung denken, so daß jeder seine natürliche Stelle findet, worauf er sich wohl befindet, dann wird wieder der Schein der Beschränkung aufhören; aber hierhin gelangen die Menschen wieder nicht. Zwischen beiden Puncten aber muß der Schein der Beschränkung eintreten, weil der Fall nicht denkbar ist, daß jeder über seine Stelle zum Ganzen dasselbe Gefühl hat wie alle andern. Soll man nun sagen, es sei in gewissen Fällen gut, daß dieser Schein der Beschränkung nicht ins Bewußtsein kommt? Ja, wenn nur einige kein Gefühl vom unvollkommnen Zustande des Ganzen hätten. Der Mangel dieses Gefühls kann aber nie gut sein, weil sonst der Zustand der Gesellschaft nie vollkommen würde. So also kann es nie gut sein, daß dieser Schein der Beschränkung und das Gefühl der persönlichen Freiheit, verbunden mit dem Bewußtsein der Beschränkung derselben, nicht entsteht. Durch die Erziehung muß aber dieses Gefühl so geleitet werden, daß der einzelne doch jenen Zustand sich gefallen läßt. Hierin ist die Totalität der sittlichen Aufgabe ausgesprochen. Aber auch der zweite Punct (des Handelns) läßt sich auf den ersten reduziren. Warum soll sich der Mensch den beschränkten Zustand gefallen las7 allen] allem

15 vorbürgerlichen] verbürgerlichen

22–23 Vgl. Diesterweg, S. 10: „dann wird wieder der Schein der Beschränkung eintreten,“ und Vgl. Göttinger Nachschrift 80r: „Zwischen diesen beiden Punkten aber kann nichts anderes als dieser Schein der Beschränkung eintreten;“

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sen? Weil er Verbesserung wirken kann durch das Gemeingefühl. Wir können uns unsre Aufgabe auch so ausdrücken: der Mensch, wenn seine Erziehung vollendet ist, soll gelernt haben frei sein und gehorsam sein. | Denn das letzte ist eigentlich sich die persönliche Beschränkung gefallen lassen. Frei muß er sein, wenn das gemeinsame Leben aus ihm selbst hervorgehen soll, denn sonst ist er nur ein Werkzeug, das von andern getrieben und angestoßen werden muß. Nun wollen wir versuchen, die Methode zu finden, um dies zu erreichen. Wir müssen hier an das Resultat der bisherigen Betrachtungen anknüpfen. So lange der Mensch in den Kinderjahren nur in dem Hauswesen lebt, so bedarf er in der ersten Zeit nicht des Gehorsams. Zwar ist auch da schon eine Art von Gehorsam vorhanden, aber er ist nicht von derjenigen Art, wie derjenige, welcher ins gemeinsame Leben gehört, wenn der Mensch vollendet erzogen ist. Im Hauswesen darf eigentlich kein gesetzlicher Zustand sein, sondern hier tritt das belebende Princip nur auf unter der Gestalt eines herrschenden Willens. In der großen Gestaltung des gemeinsamen Lebens aber soll das Gesetz der herrschende Wille sein, und ehe dies nicht der Fall ist, existirt gar kein bürgerlicher Zustand. Denn wo die Regel herrscht, ist nur eine erweiterte Familie und noch kein gemeinsames Leben. Wo ein Organismus ist, muß das Gesetz herrschen, und wo gesetzliche Formen sind, da verräth der herrschende Wille das Mißtrauen in sich selbst. Die Erziehung kann also nicht in der Familie allein vollendet werden. Dies erhellt auch aus der Differenz der Geschlechter. Das weibliche Geschlecht nimmt keinen Antheil am bürgerlichen Leben, und also tritt bei ihm die Nothwendigkeit nicht ein, sich unter das Gesetz zu fügen. Davon zeigt sich aber als Folge, daß es ihm | an Gehorsam fehlt. Denn den innern Respect vor Gesetz und Recht haben die Weiber nicht. Beim Mann würde aber dieser Mangel das Leben zerstören, und daher kann die männliche Jugend nicht stets in der Familie erzogen werden. Oeffentliche Erziehung und wahrhaft bürgerliche Erziehung treffen auch in der Geschichte stets zusammen. Für die gesellschaftliche Erziehung ist also die Aufgabe diese, die männliche Jugend in Verhältnisse zu bringen, wo sich der Gegensatz von Gehorsam und Freiheit entwickeln muß, und in der Zeit der Jugend schon die ganze große Form des Lebens repräsentiren. Hier ist aber wieder kein plötzlicher Uebergang vom herrschenden Willen im häuslichen Leben unter das Gesetz thunlich, und als eine solche Mischung von beiden Elementen erscheint auch die ganze öffentliche Erziehung. 34 von] vom 15–17 Vgl. Diesterweg, S. 11: „sondern hier tritt das belebende Princip nur auf, unter der Gestalt des (gemeinsamen) herrschenden Willens.“

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Gesetzt, die Erziehung bliebe immer im häuslichen Leben, so würde doch der Gehorsam zurück- und ein Gefühl von Gleichheit hervortreten, welches der Ehrfurcht keinen Abbruch thut. Gehorsam ist nur da, wo die Gewalt wirkt, ohne vorhergegangene Ueberzeugung. Wenn nun im Ganzen oder in einzelnen Theilen der Erziehung andre an die Stelle der Aeltern treten, so haben sie nicht die natürliche Autorität für sich, sondern müssen sie sich erst erwerben. Wenn wir nun fragen, was hier Ersatz giebt, so müssen wir die verschiedenen Fälle untersuchen. Je weniger in der Gesellschaft das Individuelle heraustritt, desto weniger ist jene Aufgabe schwierig. Denn, wenn das Individuelle vorherrscht, so ist der einzelne Repräsentant der Gemeinheit, und desto leichter kann der eine die Stelle des andern vertreten. Ueberhaupt aber ist es um so schwieriger, sich jene Autorität | zu verschaffen, je mehr die Jugend auf dem Puncte steht, wo die väterliche Autorität noch vorherrschen sollte. Wo nun das Individuelle vorherrscht, da ist die Erwerbung der Autorität sehr schwierig, und doch ist diejenige Form des Staates, wo das Individuelle vorherrscht, die vollkommnere. Hier entsteht wieder obige Frage: was hier Ersatz gewähren soll? Es ist hier ein anderes, wenn der einzelne nur einen gewissen Theil der Erziehung für sich hat, oder, wenn er im Ganzen an die Stelle der Aeltern treten soll. In jenem Fall ist es viel leichter, sich Autorität zu verschaffen, denn da kann es wahrgenommen werden, daß eine besondere Virtuosität sehr hülfreich ist. Aber schwieriger ist es, wenn das Ganze der Erziehung in andre Hände übergeht als ein Ganzes, so daß die natürliche Autorität ersetzt werden soll. Da kann dieser Erfolg nur geschehen durch die möglichst größeste Annäherung an das ursprüngliche natürliche Verhältniß, durch Nachbildung der älterlichen Sorgfalt und Liebe. – Was das Entgegengesetzte, den Gegensatz zwischen Beschränkung und Freiheit, betrifft, so kommt es hier 1) auf das Verhältniß der beiden Glieder gegen einander an, in welchem Maße jedes herausgearbeitet, und in welchem Maße der Zögling in die Beschränkung gewöhnt, und die Freiheit in ihm entwickelt werden soll, und 2) dann auf die Form, wodurch dies geleistet werden soll. Ueber das erste können keine allgemeine Vorschriften gegeben werden, weil das künftige Leben nach der Erziehung darüber entscheidet. Was das andre betrifft, wie beides, die Entwickelung der Freiheit und die Gewöhnung in die Beschränkung, zu erreichen ist, so ist dies rein pädagogisch | wo eine bestimmte Technik hervortreten muß. Hier müssen wir von der Betrachtung des Lebens, das die Erziehung vorbereiten soll, ausgehen, 6 in] im

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und hier stellen sich uns zwei Gesichtspuncte dar. 1) die Beschränkung erscheint als die Bedingung der Freiheit. Sollten die Menschen zusammen leben, so kann jeder nur einen gewissen freien Spielraum haben, indem die andern durch ihn beschränkt sind. Aber dieser Gesichtspunct allein und einseitig gefaßt geht auf die Zerstörung des gemeinsamen Lebens aus, weil jeder das maximum der Freiheit zu erhalten suchen wird. Was ist denn aber das Positive, welches der negativen Beschränkung zum Grunde liegt, und was ist das Negative der Freiheit, die uns positiv erscheint? Daß die Beschränkung die Bedingung eines gemeinsamen Lebens ist, dies ist das Positive. Dieses entsteht nur durch die Selbstthätigkeit der einzelnen; diese ist bedingt durch die Freiheit des einzelnen; das Resultat des gemeinsamen Lebens ist aber dasjenige, um dessentwillen die persönliche Freiheit nöthig ist, und also ist hier die persönliche Freiheit die Bedingung des gemeinsamen Lebens. Daher kann auch z. B. in Despotien kein gemeinsames Leben aufkommen. Die Freiheit des einzelnen an sich erscheint aber auf der andern Seite als etwas Geringes in Bezug auf das große gemeinsame Leben, und so ist wieder Beschränkung Bedingung der persönlichen Freiheit, und diese ist wieder Bedingung dessen, wozu die Beschränkung führt, des gemeinsamen Lebens. Wird die Beschränkung ertragen als Bedingung der Freiheit, so wird sie nicht gewollt; sie muß aber | freiwillig ertragen werden in Bezug auf das gemeinsame Leben. Dieses Allgemeine wollen wir nun auf die Erziehung anwenden, und für sie allgemeine Maximen finden. Die Hauptpuncte sind: die fortschreitende Entwickelung der persönlichen Freiheit zu leiten, und die Bedingungen, unter denen allein ein organisches Zusammenleben bestehen kann, beliebt zu machen, so daß der einzelne mit seinem Willen hineingeht. Es müssen sich vor ihm die Resultate einer größern Gemeinschaft entwickeln, und er muß sie lieben lernen. Wir sehen beständig, und es ist eine bestimmte Erfahrung, daß es leicht ist, sobald die Jugend in Massen beisammen ist, den Organismus des Beisammenseins in jedem lebendig zu machen, mag die Form auch streng sein, wenn nur Liebe für dasjenige vorhanden ist, was unter dieser Form geschieht. Wo dies nicht ist, da lebt man nur unter unsichern Kunststücken. In der Erziehung ist es in diesem Punct eben so, wie im freien Leben selbst, und kann auch nicht anders sein. Zwar kann auch hier durch große persönliche Zuneigung viel erreicht werden auch ohne lebendiges Interesse am Gegenstand; aber dies ist etwas Ungewisses, weil das persönliche Verhältniß immer mehr verschwinden 28 seinem] seinen

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soll, denn in der künftigen Lebenszeit käme ja doch dieses Verhältniß nicht wieder. Eben so verhält es sich 2.) mit der Leitung der persönlichen Freiheit. Diese ist auch nicht sicher hervorzubringen, als in wie fern Thätigkeiten zum Grunde liegen, in denen sich die Freiheit manifestirt, und es wird | leicht sein, die Freiheit zu leiten, wenn Interesse an den Thätigkeiten vorhanden ist. Das Gefühl von Freiheit manifestirt sich nur in der Productivität, und ist zerstörend, wenn eine falsche Productivität an die Stelle der geforderten tritt. Die Unthätigkeit ist absoluter Mangel der Freiheit, und hier nähert sich der Mensch dem Mechanischen. Da muß denn das Selbstgefühl lebendig gemacht werden. Wo eine falsche Productivität entsteht, bedarf sie einer Leitung. Die Productivität schweift in der Jugend sehr leicht aus; doch kann dies nur bei einem Mangel an Interesse für den Gegenstand oder bei einem Mangel an Vertheilung der Gegenstände geschehen. Diesen Mängeln muß man abhelfen, denn alle andern Mittel zur Belebung der Productivität sind in sich selbst verkehrt und nachtheilig. Weder Belohnungen noch Strafen noch fremdartige Reitze können in der Productivität etwas hervorbringen. Denn indem es hier auf Leitung der freien Thätigkeit ankommt, so kann die Hervorbringung eines knechtischen Zustandes, d.i. Strafe, nie das rechte Mittel dazu sein. Mit den Belohnungen verhält es sich eben so, denn die freie Thätigkeit, dies Höchste, erscheint dann nur als das Mittel zur Belohnung. Ueberhaupt kann sich in beiden Fällen die Thätigkeit nicht einpflanzen, sondern entsteht schon als etwas Todtes. |

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Es kommt hier alles an auf Erregung eines Interesses 1) an demjenigen, was überhaupt das Motivirende und zugleich das Resultat ist, und 2) an dem Zusammenleben und ein lebendiges Gefühl daran, wie durch das Zusammenwirken weit mehr geleistet wird als durch die Kräfte der einzelnen. Durch andre Mittel wird das organische Leben nicht erreicht, und hier sehen wir auch, worauf es beruht, daß, sobald die Jugend aus der Familie heraustritt, irgend ein anderer die Stelle 21 den] dem

30 weit] weil

19–21 Vgl. SW III/9, S. 543: „Indem es hier auf Leitung der freien Thätigkeit ankommt, so kann die Strafe und die Belohnung nur einen knechtischen Zustand hervorrufen.“ 23–24 Vgl. Diesterweg, S. 15: „Ueberhaupt kann sich in beiden Fällen die lebendige Thätigkeit nicht einpflanzen,“

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der Aeltern ersetzen könne. Er muß nämlich fähig sein, ein solches Interesse zu erregen, und als Mittelpunct eines solchen Zusammenlebens sich realiter darstellen. Alle andern pädagogischen Kunststücke sind Nothbehelf und Flickwerk. Indem aber einer sich darstellt als einen solchen Mittelpunct eines Zusammenlebens wodurch das Dasein und die Thätigkeit gesteigert wird, so tritt er gegen die Jugend als eine lebendige Macht auf, und schützt dadurch zugleich seine eigene Autorität, indem er ein Interesse am Zusammenleben erregt. Er ist zugleich eine wohlthätige Macht, indem er das Leben der Jugend dadurch erhöht und steigert. Die natürliche Autorität geht im Wesentlichen von denselben aus. Die Autorität der Aeltern ist stets eine wohlthätige, da das Leben der Kinder auf allen Seiten von ihnen abhangt, und sie als dasselbe befördernd erscheinen. Bei dem, der ihre Stelle vertritt, muß das Resultat zu Hülfe kommen. Es ist nicht zu erkennen, daß die eigentlichen Motive, durch welche eine solche übertragene Autorität sich geltend macht, nicht überall die|selben sind, und das giebt der sittlichen Erziehung ein verschiedenes Colorit. Das Interesse, das in der Jugend erregt werden soll, setzt ein Interesse an demjenigen voraus, der als Mittelpunct ihres Lebens auftritt, aber es braucht nicht gerade dasselbe zu sein. Erstlich kann es ein reines Interesse der Liebe sein, der Freude am kindlichen Leben. Dies ist das, was am unmittelbarsten jeden in die Nähe der Aeltern bringt. Dann ist kein Unterschied, als daß das Interesse in den Aeltern an die Persönlichkeit gebunden ist. Das Interesse in den andern aber heftet sich an die Jugend überhaupt und besonders an diejenigen, zu denen der Erzieher geführt wird. Dann aber kann man sich denken ein Interesse an gewissen Gegenständen, an bestimmten Zweigen der menschlichen Thätigkeit, welches er auf die Jugend fortzupflanzen sich bemüht. Ein drittes kann das eigentlich technische, methodische sein, welches weder auf die Jugend selbst gerichtet [ist], noch auch an den Gegenständen haftet, sondern an der Kunst der Behandlung, der eigentlichen pädagogischen Virtuosität. Dieses letzte wird ein rein allgemeines sein, und in so fern dem ersten nahe kommen; aber es ist in sich doch ein anderes. Das Verhältniß wird sich in jedem dieser Fälle etwas anders gestalten. Was soll denn nun in diesem Ineinandersein von Leitung des Freiheitsgefühls und Bewirkung des Gehorsams eigentlich bewirkt werden? Auf den rechten Standpunct gestellt erscheint beides | als eines, und beides wird durch dasselbe erreicht. Hier müssen wir überall ausgehen vom Gesichtspuncte des geselligen Lebens, dem Zusammensein. Indem wir aber das Zusammenleben bilden sollen, so muß auch etwas dadurch bewirkt werden durch die zusammentreffende und überein11 denselben] Kj den Aeltern

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stimmende Thätigkeit. Dabei ist nun die erste Aufgabe, daß die Jugend gewöhnt werde, irgend etwas zu einer bestimmten Zeit und während derselben mit einer gewissen Beharrlichkeit zu verrichten. Dies bezieht sich nicht auf den Unterricht allein, sondern trifft alle Zweige des Lebens. Für das ganze Leben ist es höchst nachtheilig, wenn der Mensch nicht eine bestimmte Herrschaft über sich selbst in dieser Beziehung hat; nur in ihr kann er sich frei fühlen, sonst hat er immer das Gefühl der Abhängigkeit. Auch ist dies immer der wesentlichste Nachtheil der bloß häuslichen Erziehung. In der Familie darf das Gesetz nicht herrschen. Zwar muß man sich nicht «zur bösen Stunde quälen», aber das hat nur Wahrheit für eine gewisse Beschäftigung, die nicht in der Gewalt des menschlichen Willens steht, und Göthe hat die Productivität der Kunst im Auge gehabt bei jenem Ausspruch. Dies ist seiner Natur nach isolirt, in dem Maße aber, als etwas in die gemeinschaftliche Productivität fällt, ist es auch nöthig, sich an solche Freiheit zu gewöhnen, etwas zu einer bestimmten Zeit thun zu können. Das Gegentheil davon ist Fehler der Erziehung. Bei der weiblichen Erziehung fordern wir dies nicht; eher muß man umgekehrt sie ge|wöhnen, sich in jedem Augenblick ohne Unbequemlichkeit unterbrechen zu können, denn sie ist für das häusliche Leben bestimmt, in dem nicht das strenge Gesetz walten kann, und das auch aus lauter kleinen Einzelheiten zusammengesetzt ist. Aber der Mann der zu einem größern Umkreis seiner Thätigkeit berufen ist, da liegt es in der Natur der Sache, daß sich alles an eine gewisse Zeit bindet, wenn nicht allgemeine Unordnung entstehen soll. Diese Freiheit also muß sich jeder erwerben, wodurch er allein ein lebendiges Glied des Ganzen sein kann. Dieser höchst wichtige Punct fällt eben so sehr in das Gebiet des Gehorsams als der Freiheit. Das Unterworfensein [unter] allerlei Launen muß der Mensch als Abhängigkeit und das Fügen in die gesellige Ordnung als Freiheit fühlen, und dieses Gefühl muß in der Jugend erregt werden. Der zweite Punct von gleicher Wichtigkeit ist der, daß jeder gewöhnt werde, mit andern zusammenzuwirken, ohne ein persönliches Interesse an ihnen zu haben. Denn sobald die Jugend in ein größeres gemeinsames Leben eintritt, so sind im Augenblicke des Eintritts die Elemente einander relativ fremd, aber das Zusammenwirken muß mit diesem Augenblick da sein, abgesehen von allem persönlichen Interesse. Entstehen soll allerdings ein solches, und wird auch immer entstehen, da es der Natur angemessen ist, aber darinn, daß es sich erst entwickeln | muß, liegt schon die Indication, daß das Zusammenwirken nie vom persönlichen Interesse abhängig gemacht werden darf, und wenn man dieses versäumt, so thut man 2 werde] werden

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der Erziehung einen wesentlichen Schaden; sonst kommt die Willkühr und Laune wieder in das gemeinsame Leben. Die Abstufungen des persönlichen Interesses müssen unabhängig sein vom Zusammenwirken. Nur so wird die persönliche Freiheit erhalten. Das Leben in der Erziehung ist die Vorbereitung zum Leben in der Freiheit. Was in dem einen nothwendig ist, muß in dem andern auch gelten. Wodurch dieses möglich gemacht und vorbereitet wird: dies ist eine wichtige, aber schwierige Aufgabe. Auf der einen Seite muß man die Entwickelung des persönlichen Interesses begünstigen, auf der andern Seite aber nicht das Zusammenwirken davon abhängig werden lassen. Mit Freiheit muß der Mensch auch mit solchen, die er nicht liebt, zusammen wirken können. Neben der positiven Seite kommt nun auch die negative in Betrachtung. Mit dem persönlichen Interesse entwickelt sich auch etwas Abstoßendes, eine Antipathie. Das eine ist nicht ohne das andre; aber es ist auch nicht zu leugnen, daß Antipathien sich von selbst entwikkeln, wenn gleich sie untergeordnet sind. Wie sind nun diese zu behandeln? Wenn etwas rein Natürliches in dieser Erscheinung liegt, so muß man sie eben so walten lassen, wie | das persönliche Interesse, nur einmal in der Unterordnung unter das Gemeingefühl und zweitens in der Unabhängigkeit vom Zusammenwirken. Dies letzte wird als reine Entwickelung der Freiheit erscheinen. Auch in diesen dunkeln Naturverhältnissen muß die Kraft des Willens aufrecht erhalten werden, und dies wird der Fall sein, sobald das Interesse am Gemeinsamen das Herrschende ist. Fassen wir dies nun in eine allgemeine Formel zusammen, so stellt sie uns den vollständigen Kanon der sittlichen Seite der Erziehung dar, daß nämlich im Zusammenwirken zu irgend einem rein menschlichen Zweck die persönliche Zuneigung und Abneigung zwar frei entwickelt werde aber stets in der Unterordnung bleibe. Wir dürfen dies nun auf die persönliche Selbstliebe beziehen, so haben wir den ersten Punct darunter gefaßt.

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54. Vorlesung Alle andern Motive zur Hervorbringung eines sittlichen Zustandes außer den angeführten sind selbst unsittlich, worunter auch die Beziehung auf Glückseligkeit gemeint ist. Auch das Princip der Ehre ist unsocial und unsittlich, in welchem Sinne es gewöhnlich verstanden wird. Sagt man: die Ehre ist die gute Meinung anderer von einzelnen, und ist ein großes Gut, so ist dies wahr. Aber wo ist die Meinung andrer über den einzelnen anzutreffen? Doch nicht in den einzelnen,

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sondern es giebt nur in so fern eine Ehre, als es eine Organisation der | öffentlichen Meinung giebt, und in so fern kann sie auch in die Erziehung gebracht werden, jedoch nicht als Motiv. Wenn die öffentliche Meinung sich gegen dich ausspricht, so mußt du etwas gefehlt haben, und dann mußt du mit deinem Gewissen zu Rathe gehen. Sie ist zwar auch dem Irrthum unterworfen, aber doch unpartheiischer als der einzelne gegen sich. Es muß daher unter der Jugend auch eine Organisation der öffentlichen Meinung geben, und diese muß sich vor dem eigenen Gewissen des einzelnen bestätigen. Aber nimmt man die Sache wie gewöhnlich, daß der einzelne die Elemente der öffentlichen Meinung aus andern heraussuchen, und sie selbst sich construiren soll, so ist dies verkehrt. Es giebt nur eine öffentliche Meinung von Werth für den einzelnen, nämlich wenn sie sich frei entwickeln kann, und nicht von ihm erzwungen wird. Spricht sie sich vortheilhaft für ihn aus, so kann er mit Wahrscheinlichkeit glauben, daß er dem Geiste des Ganzen gemäß, dem er angehört, handelt. Will aber der einzelne durch Ueberredung oder Gewalt die öffentliche Meinung für sich erzwingen, so hat sie keine Gewalt und keinen Werth mehr, und die Sache wird auf den Kopf gestellt. Was für die Erziehung hieraus hervorgeht, ist folgendes. Man muß durch den ganzen Gang der Erziehung die Reizbarkeit des Gefühls für die einzelnen Elemente der öffentlichen Meinung mehr abzustumpfen als zu erhöhen suchen, nicht um das Ehrgefühl zu schwächen, sondern um den Gegenstand desselben rein zu erhalten. Alle Selbsthülfe in Bezug auf Kränkungen einzelner gegen | einzelne darf nicht gestattet werden. Denn wenn auch in einem Zusammenleben dadurch ein richtiger Gang der öffentlichen Meinung zu erreichen wäre, so wird doch auf diese Weise das Ganze aufgehoben. Auf diesem Gebiet verhält es sich eben so wie in bürgerlichen Leben, denn auch hier ist das größeste Verderben das Mißverstehn des Ehrgefühls, und so muß es auch in der Erziehung richtig geleitet werden. Nichts ist verkehrter, als wenn im geselligen Zusammenleben der Jugend der einzelne zur Selbsthülfe aufgefordert, und diese organisirt wird. Dies ist nur eine Analogie mit dem gemeinen Zustande, und hier müßte die Erziehung selbst eine andre Gestaltung der Dinge hervorbringen. Ja wenn wir uns eine bedeutende Energie des einzelnen für das Gemeinleben denken, so ist dazu die erste Bedingung, daß er unrichtige Urtheile zu verachten wissen muß, wenn er nur in seinem eigenen Gefühl über dieselben sicher ist. Wenn wir uns eine solche Geringschätzung falscher Urtheile nicht denken, so können die Erbärmlichsten der Gesellschaft die andern im besten Wirken aufhalten. Daher hat auch jenes Princip der Selbsthülfe nie da aufkommen ge14 ihn] ihm

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konnt, wo es ein kräftiges gemeinsames Leben gegeben hat, denn hier fühlt man die Verderblichkeit jener Ansicht am meisten. Wo sie minder oder gar nicht gefühlt wird, da ist man in einem gewissen Naturzustande, und hier ist auch nicht Ehrgefühl das wirkende Princip, sondern ein Halten auf Unverletzlichkeit, die man erhalten zu müssen glaubt. Wo aber ein gemeinsames Leben in einem großen Styl zusammengekommen ist, da finden wir | jenes Princip weit weniger herrschend. Je größer nun der Abstand der zu erziehenden Jugend von den Erziehern ist, desto mehr müssen diese die Organe des Gemeingefühls sein, und aussprechen, wie sich der einzelne gegen das Ganze verhält. Es ist ein Verderben, wenn die Jugend unter sich einen andern Maßstab für sittlichen Werth hat als die Erzieher, und diesem Uebel muß man zuvorkommen durch freie Entwickelung der öffentlichen Meinung in der Jugend und in den Erziehern. Wo aber Selbsthülfe ist, da wird die Verletzbarkeit des einzelnen durch den einzelnen gesteigert, und so kann keine öffentliche Meinung zu Stande kommen. Selbsthülfe darf im pädagogischen Leben nicht organisirt, ja nicht einmal tolerirt, sondern muß durch das Princip der wahren Freiheit besiegt werden. Und dies ist nicht schwer. Denn jener Zustand ist ein knechtischer, worin die Besten den Schlechtesten unterworfen werden können. Warum tolerirt aber der Staat die Selbsthülfe? Weil er das rechte Freiheitsgefühl nicht weckt. Sobald nur im Menschen das Uebergewicht der thätigen Zustände über die leidentlichen erweckt ist, so fällt die Selbsthülfe weg, und die wahre Freiheit erscheint. Nun wollen wir mehr ins Specielle gehn. Dieses Princip der Freiheit im richtigen Verhältnisse des einzelnen zum Ganzen ist das allgemeine Socialprincip, worauf alle Entwickelung beruht; es ist der Exponent in der geselligen Entwickelung, aber | auch an und für sich unbestimmt, und in jedem geselligen Zustande anders modificirt. Denn das Gefühl des Menschen schließt sich stets an das Gegebene an, und hier muß man die Fortschreitung anknüpfen. Wollte hier jemand sagen: in unserer Verfassung hat der Mensch keine unbedingte Freiheit, und da kann man ihn leicht durch die Erziehung in eine Richtung bringen, die er nachher nicht verfolgen kann: so ist dies eine leere Besorgniß, denn kein Mensch kann sagen, in welcher Form das maximum von Freiheit des einzelnen als eines organischen Theiles des Ganzen sei. Hier kann man weder die verschiedenen Formen der bürgerlichen Gesellschaft vergleichen, noch sagen: da, wo die bestehende Form am besten verwaltet wird. Dem Menschen wird also im rechten Freiheitsgefühl kein Ideal gegeben, das ihn feindselig gegen das Leben macht, denn die Freiheit des einzelnen ist ja nicht unbedingt, sondern nur gesichert in seiner Verbindung mit dem Ganzen.

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Die Erziehung muß nun aber nicht allein für den vorhandenen Zustand der Gesellschaft erziehn, sondern auch für einen bessern. Wird nun das Ehrgefühl zum sittlichen Princip gemacht, so hindert dies am meisten das Besserwerden, denn es setzt etwas Bestehendes voraus, ohne einen Keim des Vollkommenen zu haben. Je mehr man also am Bestehenden hält, desto mehr herrscht das Princip der Ehre. Dies besteht aus dem Uebergang zum Folgenden. | Das Freiheitsgefühl ist also das Socialprincip. Aber denken wir uns die Erziehung fortgehend bis zu dem Puncte, wo der einzelne in die Gesellschaft als ein thätiges Glied derselben eingehen soll, so wird er auf diesem Puncte vom gegebenen bürgerlichen Zustande ergriffen. Dies wäre ein großer Sprung, und doch darf auch hier kein Sprung sein. Wie weit darf man also dem jedesmaligen positiven Zustand der Gesellschaft auf die Erziehung selbst einen Einfluß gestatten? Hier finden wir in praxi zwei entgegengesetzte Maximen. Die eine spricht aus: man soll die ganze Verschiedenheit der politischen Verhältnisse und Stände schon in die Erziehung hineinbringen; die andre: man soll diese Differenz in der Erziehung ganz ignoriren. Am besten betrachten wir zuerst, wie es um diese beiden Extreme steht. Das erste führt ganz von der Idee eines Zusammenlebens der Jugend im großen Sinn ab, denn es ist dann nur ein Uebel, wenn die Jugend verschiedener Stände zusammen vereint ist. Consequenter Weise müssen aber auch die Lehrer von demselben Stande sein, von welchem die zu bildende Jugend ist. Dieses Verfahren schlägt aber ins Kastenwesen um, und hat nicht die Wirkung, daß die politischen Differenzen erhalten werden, sondern die einzelnen Theile der Gesellschaft werden auf diese Weise immer mehr von einander entfernt. Jenes Princip ist das Princip einer Anarchie, ob gleich es den umgekehrten Anschein hat. – Das zweite Princip ist das, die politischen Differenzen zu ignoriren. Dies | ist aber nur in dem Maße möglich, wenn man die Jugend von allen geselligen Beziehungen entfernt halten kann. Allein was geschieht für das Gemeinwesen, wenn die Jugend, welche die politischen Differenzen ignorirt hat, dann in dieselben hineingeworfen wird? Dieses Ignoriren wird überhaupt nur in den Mittelstufen der Gesellschaft möglich sein, giebt aber auch hier einen nachtheiligen Sprung. Beide Extreme können also nicht befolgt werden, wenn sie nicht die bürgerliche Gesellschaft unmittelbar begünstigt.

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Im Familienleben spiegelt sich stets der bürgerliche Zustand ab, also auch das Bewußtsein der politischen Differenzen, welches also auch

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in der Jugend nie ganz verschwinden kann. Jedes Zusammenleben der Jugend besteht aus verschiedenen Elementen, und auch aus solchen, die sich dem politischen Leben nähern, und diese wirken auch auf die Jugend, ohne daß man dies hemmen kann. In allen Zuständen einer bestimmten Thätigkeit, auch im Spiel, kann eine bestimmte Berücksichtigung der bürgerlichen Differenzen nur störend sein. In so fern eine Ahnung von den bürgerlichen Differenzen in die Jugend kommt, kann sie sich nur auf die Jugend unter einander beziehn, darf aber nie auf ihr Verhältniß zum Lehrer Einfluß haben. Dieser muß ihr in absoluter Ranglosigkeit erscheinen, und das muß von allen Erwachsenen gelten, welche in der Erziehung irgend eine leitende Stellung haben. Wenn es der Jugend auch nur einfallen kann, daß die ihre Erziehung | leiten, in der Gesellschaft in einem untergeordneten Verhältniß stehen, so ist die Autorität todt. Freilich ließe sich eine andre Rücksicht gegen das hier Gesagte aufstellen, nämlich daß die Jugend in dieser Zeit in den Staat selbst hineingebildet werden soll, daß ihr der Staat also nichts Fremdes sein darf, und daß ihr, je mehr sie sich dem Ende der Erziehung nähert, desto mehr das bürgerliche Leben vergegenwärtigt werden muß. Das erste Eintreten in die bürgerliche Gesellschaft ist aber stets ein untergeordnetes, und so kann derjenige, der in sie tritt, ohne Schaden als ein Neuling hineintreten; und man kann eher auf dieser Seite mehr thun als auf der andern. Der politische oder bürgerliche Zustand darf nicht einmal der Jugend besonders vergegenwärtigt werden, denn ihr darf in der Erziehung nichts vorgehalten werden als damit sie es erkenne, oder damit es ein Gegenstand ihrer Thätigkeit werde. Hält man der Jugend nun den Zustand der bürgerlichen Gesellschaft vor, so kann sie dabei keines von beiden, denn sie kann nicht einmal die Verhältnisse derselben schon genau fassen, geschweige denn handelnd auftreten, und man vermehrt nur die Anmaßungen der Jugend durch ein solches Vorhalten. Auch ist dies gegen das allgemeine sittliche Princip, denn wenn das Freiheitsgefühl in einer großen Gemeinschaft erweckt werden soll, so kann dies nur geschehen indem der Wille auch von unten auf dient, und bei | dem Verstande in die Schule geht, wie es denn höchst verderblich ist, wenn man dem Menschen eher einen Willen zumuthet, als er desselben fähig ist. Ein solches Entfernthalten der Jugend von dem Bewußtsein der Differenzen in der Gesellschaft findet aber in der jetzigen Gestaltung des Lebens ein großes Hinderniß. Wir sind hier von einem Extrem ins andre gegangen, von gänzlicher Abgeschnittenheit der Jugend vom Treiben der Erwachsenen zu einer zu großen Theilnahme derselben 19 desto] deßo

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an demselben, und so wie durch das erste Jugend und Alter trocken gemacht wurden, so geschieht es durch das letzte, daß die Erwachsenen in eine Art der Abhängigkeit von der Jugend kommen, und in dieser eine gewisse Anregung genährt wird. Die Jugend hört jetzt viel zu viel von dem, was die Erwachsenen bewegt. Dies kann nur durch ein großes Zusammenleben der Jugend verhindert, und nur dadurch kann sie vom Politischen geschieden werden. Wenn wir das Zusammenleben der Jugend aus dem nationalen Gesichtspuncte betrachten, so finden wir Bildungsplätze derselben, wo auf die Nationalität nicht Rücksicht genommen wird, besonders wo Nationalitäten zusammenstoßen. Ein Princip für solche Anstalten ist der Kosmopolitismus, welcher z. B. in den Philanthropinen das Nationale | unterdrückte, aber von kurzer Dauer war. Es giebt noch ein Princip für dergleichen: wenn nämlich eine Nation überhaupt in ihrer Cultur von andern abhängig ist, und noch keine technische Bildung für die Erziehung hat. Ein drittes Princip kann die Sitte im äußern Sinn sein, welche ein zusammenhaltendes Princip ist. Auch hier sind zwei Extreme gegeben, von denen das eine die Vernachlässigung aller Sitte in der Erziehung ist. Dieses gründet sich auf die Ansicht, daß die Sitte etwas Gemachtes ist, was keinen innern Zusammenhang hat, der also auch der Jugend nicht anschaulich gemacht werden kann, und was man ihr ersparen soll, bis sie selbst sich darin fügen muß. Freilich wohl – wenn nur die Sitte etwas willkührlich Gemachtes wäre! Das andre Extrem ist eine große Sorgfalt für die Anbildung der Sitte. Die Maxime hierbei ist, auch die politischen Differenzen in die Jugend hineinzubilden. Man meint: eben weil dies Sache der Gewohnheit ist, so kann man es nicht zeitig genug zur Gewohnheit machen, damit sich die Jugend den Eintritt ins Leben überhaupt erleichtere. Bei den Franzosen ist dies eigenthümlich classisch geworden, denn bei 8–13 Reinhold Bernhard Jachmann, der erste Schulleiter des reformpädagogischen Conradinums in Jenkau, und Wilhelm von Humboldt verstanden das Nationale als etwas über die Ständegesellschaft Hinausweisendes, das an Sprache, zum Beispiel die Deutsche Sprache, zurückgebunden ist. National bedeutet also nicht nationalistisch und stand auch nicht im Gegensatz zum Kosmopolitismus, den sie auf die Vielheit der Nationen und deren geselligen und kulturellen Verkehr gründeten. Demgegenüber überwiegt bei den Philanthropen mitunter ein reiner Kosmopolitismus, der an eine Einheitsstruktur von Aufklärung anknüpft und das Problem der Transformation bestehender Kulturen überspringt. 30– 2 Im französischen Republikanismus sieht etwa Michel Lepeletiers „Plan einer Nationalerziehung“ von 1794 (vgl. Erziehungsprogramme der Französischen Revolution: Mirabeau, Condorcet, Lepeletier, ed. R. Alt, Berlin/Leipzig 1949) die Einordnung der individuellen Interessen und Leidenschaften unter das Gemeinwohl vor, erzieherisch vermittelt über eine Art ‚Zivilreligion‘, welche die Nation als Einheit über Alles stellt. Im Gegensatz zu Condorcet weist Lepeletier nicht der Rationalität, sondern der Gewohnheit eine zentrale Rolle in der Erziehung zu, weshalb die Nationalerziehung für ihn auch so früh wie möglich – im Alter von fünf Jahren – einsetzen soll.

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ihnen wird unterrichtet nach den principes d’honnêteté Chretienne & civile. Uns ist eine solche Zusammenwerfung nicht natürlich, und daher bestehen bei uns die Extreme neben einander. Jene Voraussetzung, daß die Sitte etwas Gemachtes sei, ist falsch. Vieles zwar in unsern Ge|bräuchen ist Convenienz, aber dieses sind nur Einzelnheiten. Man muß sich vielmehr die ganze Sache im Zusammenhange in Anschauung bringen, und da hat die äußere Sitte wohl einen Grund, denn sie ist die äußere Erscheinung der geselligen Richtung, die davon ausgeht, wenn zwei Menschen zusammentreffen, das Interesse des einen dem Interesse des andern gleichzusetzen, was nicht anders geschehen kann, als wenn der eine dem andern ein unmerkliches Uebergewicht zuerkennt. Hier kann aber das Wesentliche und Natürliche von dem Corrumpirten wohl unterschieden werden, und dies zu bewirken, ist das zu leitende Zusammenleben der Jugend wichtig. Man darf die Sitte nicht vernachlässigen, denn sonst wird der Mensch roh, sondern sie muß in natürlicher Einfalt gepflegt werden. Wir wollen nun die Differenz der Erziehung der Volksmasse und der gebildeten Stände betrachten. Die ganze Erziehung hat den Zweck, Gehorsam und Freiheit in der Identität darzustellen, und dieser Zweck muß überall derselbe sein. Es ist nur eine verkehrte Ansicht, wenn man sagen wollte, die Volksmasse müsse nur zum Gehorsam gebildet werden und nicht zur Freiheit. Diese Maxime wird durch keinen bürgerlichen Zustand begünstigt, sondern kann nur vom Vorurtheil eines Theils der bürgerlichen Gesellschaft herrühren. Hält man es für gefährlich, im Volke das selbstständige Bewustsein in dem oben angegebenen Sinne zu entwickeln, so will man die Masse nur als Maschine nicht als leben|digen Theil des Ganzen behandeln. Dies kann aber nicht der Vortheil der Gesellschaft sein. Der Gehorsam wird auch im Volke durch Erweckung der Freiheit durchaus nicht unterdrückt werden, denn der Gegensatz zwischen Gebieten und Gehorsam geht durch alle Theile der Gesellschaft. Nur in einem corrumpirten Zustande läßt sich der Argwohn bei dieser Maxime rechtfertigen, sonst nicht. Eben so braucht hier keine differente Behandlung bei Berücksichtigung der politischen Differenzen einzutreten, denn bei der Masse ist die Jugend stets aus einer und derselben Sphäre. Dasselbe gilt von der Bildung der persönlichen Sitte des geselligen Lebens obgleich da freilich die Formen verschieden sind; doch von diesen haben wir auch oben nicht gehandelt. Wird nach diesen Principien verfahren, und ist in der Jugend ein unverdorbenes Material da, so kann es keine Reibungen geben, die eine außerordentliche Behandlung erfoderten. Da aber jene beiden Vordersätze in der Praxis nicht realisirt werden können, so entsteht die Frage: wie haben wir sittliche Abweichungen im Zusammenleben der Jugend zu behandeln und abzuwehren?

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Eigentliche Strafen sind hier nie anwendbar, denn sie beruhen auf dem Sinnlichen, dem Mangel alles Sittlichen, und können daher nicht bessern. Außer dem häuslichen Kreise sind sie wohl anwendbar, bis die sittlichen Motive hervorgerufen sind. Sie müssen berechnet sein auf die besondere Natur des störend wirkenden Sinnlichen und auf das reine Bedürfniß des Ganzen. Das Sinnliche und Leidenschaftliche trägt | in den verschiedenen Perioden der Jugend einen verschiedenen Character, weshalb verschiedene Modificationen der Strafe erforderlich sind, und es barbarisch ist, wenn der Gang der Strafen dem natürlichen Entwickelungsgange nicht folgt; das körperliche der Strafen muß zurücktreten, sobald ein gewisser Entwickelungspunct und eine gewisse Abhärtung des Körpers da ist, denn sollten sie dann noch wirken, so wäre der abhärtende Theil der Erziehung nicht gelungen. Wie kann aber die sittliche Entwickelung, wenn sie zurückbleibt, ergänzt, und ihr nachgeholfen werden? Hier ist keine andere Erweckung möglich, als die reine Mittheilung, so daß die Leitenden auf die Geleiteten wirken. Sittlichkeit in denen, welche die Jugend leiten, und die natürliche Aeußerung derselben in ihnen ist nöthig. So tritt hier also das Pädagogische zurück, und es wird auf das Leben selbst gewiesen. Was ist nun die natürliche Aeußerung des Sittlichen gegen das Unsittliche? Alles was eine abwehrende und zurückdrängende Tendenz hat, ist nur gegen den Ausbruch des Unsittlichen und die Oberfläche gerichtet, und dringt nicht ins Innere. Das Natürliche in jedem, dem das Unsittliche erscheint, ist der sittliche Unwillen, und je stärker dieser ist, desto mehr wird das sittliche Gefühl die Sittlichkeit erregen. Hier dürfen wir aber nicht isoliren das sittliche Gefühl der die Erziehung Leitenden von dem sittlichen Gefühl derer, die erzogen werden sollen, denn das giebt einen bedenklichen Zustand, indem, sobald nicht der Character der Gemeinschaft des sitt|lichen Gefühls da ist, die ganz falsche Ansicht entsteht, als ob es ein anderes sittliches Gefühl für die einen als für die andern gäbe. Sobald die Jugend sich eine eigene Regel des Sittlichen macht, und dasselbe von den sie Leitenden voraussetzt, ist das ganze sittliche Leben verdorben. Diese Ansicht trägt sich auch sehr leicht ins folgende Leben hinüber, und ist das Verhältniß zwischen den Herrschenden und Gehorchenden noch nicht geordnet, so entsteht daraus nur offener oder versteckter Krieg, und dies geschieht auch schon in der Erziehung. Denken wir uns nun, daß in einem größeren Zusammenleben der Jugend stets eine Differenz des Alters ist, und sich das sittliche Gefühl erst allmälig entwickelt, so müssen wir sagen, daß in der Jugend selbst eine Differenz entsteht zwischen de-

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nen, deren sittliches Gefühl entwickelt ist, und denen, deren Gefühl erst entwickelt werden soll, und daß jene dann herrschen. Wird dies gehemmt, so entsteht jener Gegensatz, wodurch das ganze sittliche Leben verdorben wird. Hier ist das einzig Natürliche und Richtige, daß die Aeußerungen des sittlichen Gefühls nicht allein von denen ausgehen dürfen, welche die Erziehung leiten, sondern daß in einer Gemeinschaft das sittliche Gefühl sich frei muß äußern können, wo es immer ist. Diese Aeußerung muß aber überall rein sein, und jeder der persönlich afficirt ist, muß Verdacht haben, sein Unwille sei wohl nicht rein. Auch dies ist ein Gesichtspunct, wonach alle Selbsthülfe verboten ist, denn in einem persönlich afficirten Zustande sind die Elemente nicht | mehr zu unterscheiden, und die Jugend hält hier den Unwillen für einen rein sittlichen, obgleich er ein persönlicher ist. Da sei es dann Grundsatz, daß, auch wo von keiner Cohibition die Rede ist, das Urtheil zurückgehalten werde, wo einer persönlich afficirt ist. Zweitens ist ein großer Unterschied zwischen der Reinheit des sittlichen Gefühls und der Ansicht eines gegebenen Falles. Diese ist Sache des Urtheils und der Menschenkenntniß und oft sehr complicirt. Die Ansicht der Thatsache ist hier Hauptsache. Die eigene Anerkennung des Unrechts ist aber nicht Ursache, daß der Zögling nicht wieder sündigt. Daher bedarf es einer eigenen sittlichen Nachhülfe, und hierher gehört die Zucht, welche das Unsittliche durch eine höhere Kraft dem Sittlichen unterwerfen soll. Jede solche Nachhülfe wird die Gestaltung entweder der Abhärtung oder der Entsagung annehmen. Sie geht aber in die Strafe über, wenn sie von dem, der ihrer bedarf, nicht gewollt wird, wenn dieses Nichtwollen auch nur momentan wäre. Wir haben festgestellt, daß die Äußerung des sittlichen Gefühls gegen das Unsittliche etwas Gemeinsames sein muß, und darin liegt, daß die sittliche Behandlung des einzelnen in einem gemeinsamen Leben nicht etwas Geheimes oder Isolirtes sein kann, sondern eben so öffentlich sein muß, wie es das Unsittliche war. Dies betrifft aber nur die jedesmalige Aeußerung des sittlichen Gefühls gegen das einzelne vorgekommene Unsittliche, und dies | ist zu unterscheiden von dem Gefühl gegen ein Individuum, das sich aus der ganzen Totalität des Lebens herausbildet. Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß die Jugend sehr reizbar ist gegen ein allgemeines Urtheil, welches ein allgemeines und permanentes Gefühl ausspricht. Ein solches darf man der Jugend unter sich und gegen einander gar nicht gestatten, und nur, wenn sich das Verderben in einem einzelnen sehr herausbildet, wird es schwer halten, das allgemeine Urtheil zurückzuhalten. Durch das eigne Beispiel der Zurückhaltung muß man die Jugend hier zu einer heiligen Ehrfurcht und Behutsamkeit anleiten, wodurch allein gegenseitige Liebe bestehen kann. Denn jedes allgemeine Urtheil hat den Character

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der Lieblosigkeit. – Nun haben wir aber in der öffentlichen Erziehung ein Verfahren, welches diese Regel zu verletzen scheint, nämlich die Censur. Dessen ungeachtet ist diese in der Praxis nicht so nachtheilig. Je mehr solche öffentlichen Urtheile sich in Characterschilderungen verlieren, desto nachtheiliger werden sie wirken; je mehr sie aber nur Zusammenstellungen des Factischen in einem Lebensabschnitt sind, desto vortheilhafter werden sie sein. Halten sie sich in diesen Grenzen, so kann niemand dadurch verletzt werden daß den mit ihm Lebenden das Gedächtniß von dem Erlebten aufgefrischt wird. Gegenseitigkeit gleicht hier alles aus. Ganz anders verhält es sich damit, daß es wohl besonders in entscheidenden Momenten sehr an der Stelle sein kann, daß der Erzieher einem einzelnen seine ganze Ansicht von ihm einmal | mittheilt; dies muß aber durch besondere Umstände hervorgerufen werden, wenn es nicht aus einem instinctartigen Gefühl hervorgeht. Allein auch hier ist Behutsamkeit nöthig, denn hier kommt alles an auf die Intensität von Liebe und Vertrauen in dem Verhältnisse zwischen Beiden. Selbst wenn der Zögling nicht die Wahrheit des Gesagten in sich fühlt, wird dies weniger gefährlich sein, wenn nur Liebe da ist, und der Zögling berichtigt, was er für nöthig achtet zu berichtigen; denn bei der Beurtheilung der Totalität eines einzelnen hört die Autorität auf, und der Erzieher muß selbst fordern, daß sein Urtheil berichtigt werde. Dies alles beruht darauf, daß unter allen Verhältnissen des geselligen Lebens der Jugend reine Wahrheit das erste Princip sein muß. Lüge und Unwahrheit wird oft durch die Behandlung der Jugend selbst hervorgelockt, denn gegen Gewalt kann nur List helfen. Wie soll denn nun der Wahrheitssinn selbst in der Jugend geweckt werden? Die Wahrheit kann nur durch sich selbst befördert werden, und alles kommt hier von dem reinen Wahrheitssinn des Erziehers selbst. Äußere Hülfsmittel können gar nichts thun, sondern es muß in der Jugend das Gefühl geweckt werden, daß es die Wurzel aller Niedrigkeit ist, sich von der Wahrheit zu entfernen.

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Die propädeutischen Gesichtspuncte waren, das Chaotische zu systematisiren, und durch Gewöhnung an Aufmerksamkeit und genaue Vergleichung Festigkeit in die Vorstellungen aller Art zu bringen. Zu dem letzten reichte | ein äußerer Faden hin, das erste aber konnte nur durch organische Grundlagen erreicht werden. Von diesem Punct aus wollen wir nun das ganze Gebiet des Unterrichts bis auf den Punct überschauen, wo die höhere Bildung eine gewisse Selbstständigkeit

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erlangt hat, die nicht mehr zur Erziehung gehört. Hier sind die Verfahrungsarten sehr manchfach, und es ist unmöglich, sie zu kritisiren; es mag daher nur das Allgemeine gesagt werden. Was zuerst das Material betrifft, so haben wir einen Anknüpfungspunct in dem, was früher vom Unterschied des Verfahrens mit denen gesagt worden ist, die auf einer niedern Stufe des Erkennens stehen bleiben werden. Auch in dieser Hinsicht kann die Erziehung eine gemeinschaftliche sein, wenn man nur das zu Gegenständen des Unterrichts macht, worin eine entwickelnde Kraft liegt. Vermöge dieses Princips muß zwar ein Unterschied gemacht werden zwischen den Volkschulen, und den Schulen für diejenigen, welche ein äußeres Recht zu einer höhern Bildung haben. Dieser Unterschied besteht aber nicht [nur] darin, daß die letzten schon von Anfang an Gegenstände aufnehmen müßten, welche die ersten nicht brauchten, sondern auch umgekehrt darin, daß die niedere Jugend manches aufnehmen muß, was die höhere nicht braucht. Hier scheint das eine an und für sich selbst so richtig zu sein wie das andre. Kann man es aber verantworten, daß schon durch die erste Anlage des Unterrichts ein solcher Unterschied als Vorherbestimmung festgesetzt wird? Will man hier nicht den natürlichen Unterschied der Naturanlagen bei höhern und niedern Ständen gelten lassen, so ist es unverantwortlich. Aber dennoch hat die besondere | Naturanlage eine so große Kraft, daß sie sich durcharbeitet, wenn sie nur keine positiven Hindernisse findet. Nun kann aber überall der höhere Sinn angereizt werden und es ist daher barbarisch, wenn die Gegenstände des Unterrichts der Volksmasse so abgegrenzt sind, daß höhere Talente nie erregt werden könnten. Das erste Princip ist also, daß die Gegenstände des Unterrichts, in denen die bildende Kraft liegt, für die Jugend der höhern und niedern Stände im Wesentlichen durchaus dieselben sein müssen. Welches sind aber diese? Es sind 3. Zuerst die Natur, in welche der Mensch gesetzt ist, und welche auch ohne Unterricht zu seiner Kenntniß kommt. Hierbei kommt es darauf hinaus, daß der Mensch das Leben im weitesten Sinne des Wortes verstehen lerne, worin freilich wieder verschiedene Stufen Statt finden. Wird dies überhaupt ausgeschlossen, so bleibt dasjenige, was von selbst kommt nur chaotisch, und wird nie geregelt. Jene Behandlung dieses ersten gemeinsamen Gegenstandes des Unterrichts knüpft sich an die sinnliche Anschauung, worin der Reiz zur Begriffsbildung liegt. Alle Begriffe sind aber in der Sprache niedergelegt, und auch das Verkehren mit den Gegenständen um uns wird nur durch die Sprache betrieben; auch die ganze intellectuelle Thätigkeit der Menschen liegt in ihr, und so ist die Sprache der zweite wesentli16 höhere] Höhere

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che Gegenstand des Unterrichts. Nun ist aber ein dritter derjenige, welcher die Klarheit von den Verhältnissen alles dessen, was dem Menschen dargeboten werden kann, | ins Bewußtsein bringt nach dem Grundsatze, daß überall nur so viel Erkenntniß ist wie Bewußtsein des Maßes. Auch diese Aneignung der Maaßverhältnisse kommt dem Menschen von selbst, denn er lernt Raum- und Zeitverhältnisse abschätzen, was jedoch unterstützt werden muß. In diesen drei Gegenständen ist alles erschöpft, denn darin geht der ganze Schematismus unsers Daseins auf. Was soll nun in Ansehung dieser drei Gegenstände für ein Unterschied gemacht werden in der Erziehung der Jugend der Volksmasse und derer, welchen eine höhere Bildung bevorsteht? Im Allgemeinen kommen wir auf das Vorige zurück, daß keine von jenen Hauptclassen irgendwo ausgeschlossen sein darf; aber die Bearbeitung des Materiales ist sehr verschieden nach der Zeit, die man auf jedes verwendet. Sehen wir zuerst auf die Sprache, so müssen wir sagen: jede Sprache für sich ist nur ein einzelnes, und das ganze Vermögen des Menschen zu sprechen ist nur in der Totalität der Sprachen. Nun wird aber das Verhältniß des einzelnen zum Ganzen nicht zur Anschauung kommen, wenn nur eine Sprache Gegenstand des Unterrichts ist, sondern nur durch Vergleichung mehrerer kann man den Schematismus des Ganzen fassen. Ignorirt der Mensch den Unterschied zwischen Einzelnem und Allgemeinem, so ist dies ein Mangel an Freiheit, denn er ist dann als ein Einzelnes an das Einzelne gekettet. Vergebens aber wird man versuchen, unter das Volk die Erlernung ver|schiedener Sprachen einzuführen, und es scheint also, daß die Volksjugend von jener Freiheit ausgeschlossen ist. Dies können wir nicht ändern, müssen es aber zu erleichtern suchen. Dies geschieht dadurch, daß in jeder Sprache selbst eine Manchfaltigkeit gesetzt ist, die zur Vergleichung Anlaß giebt, wodurch die Thätigkeit in der Sprache selbst hervorgerufen wird. Die gegebenen Differenzen sind zwischen der einzelnen Sprache, der Muttersprache, gegen die Sprachen anderer Völker und gegen die Gemeinheit des Sprechens, den Dialect. In dem letzten ist der Volksjugend die Vergleichung veranlaßt, nämlich damit beides, die reine Muttersprache und der Dialect, nicht gemischt sondern aus einander gezogen werde. Ist nun unter der Volksjugend ein besonderes Sprachtalent, so wird es sich durch diese Vergleichung schon entwikkeln. Hiermit coincidirt ein äußerer Punct, nämlich der äußere Mechanismus der Mittheilung der Sprache durch das Auge, das Lesen und Schreiben. Dies können wir nicht ansehn als etwas der Volksmasse Angehöriges, denn das Auffassen durch das Buchwesen ist dem 38 äußerer] äußeres

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Volke gar nicht eigen, wenn nicht in religiöser Hinsicht der Protestantism die Bibel zu lesen geböte. Auch die Gesetzgebung geschieht von den ältesten Zeiten an durch die Schrift, und folglich ist der Mensch auch als Staatsbürger an das Buchwesen geknüpft. Sagt man nun: die Jugend kann nur durch großen Zeitaufwand das Lesen und Schreiben lernen, so wäre es freilich besser, diese Zeit zu sparen, und diesen Unterricht durch einen lebendigen in der | heiligen Schrift und Gesetzkunde zu ersetzen. Denn das Lesen und Schreiben bleibt dem Menschen aus der niedrigen Classe stets schwerfällig. Um dies zu realisiren, muß die Kenntniß des Lesens und Schreibens durch etwas anders ersetzt werden. Was das Religiöse und Politische betrifft, so wird dabei ein Festhalten dessen vorausgesetzt, was im Bewußtsein ist, und dies wird durch die Gedächtnißübung bewirkt. Auch nach Platon stände die Sache so, daß die Schrift der Tod des Gedächtnisses ist. Dieses ist aber noch zu vielen andern Dingen gut, als um das Lesen und Schreiben zu ersetzen, und muß überhaupt geübt werden. Die Gedächtnißübung geht auch aus jenem Schematismus hervor: denn der Mensch erhält seine Vorstellungen auf eine chaotische Weise, und hierauf sollten sie organisirt werden. Diese Organisation der Vorstellungen wird nun vermittelst der Gedächtnißübung auf eine productivere Weise bewirkt als vermittelst des Lesens. Das Gedächtniß ist ja nur die Leichtigkeit dieselbe Thätigkeit zu reproduciren, die man einmal producirt hat. Besonders in Beziehung auf das Chaotische ist die Gedächtnißübung nöthig, weil der Mensch jenes nicht producirt hat, aber ein solches, wenn es durch sein Bewußtsein gegangen ist, leicht behält. Aber wie soll man nun das Gedächtniß üben? Und ist hier nicht ein größerer Aufwand von Zeit und Anstrengung als beim Erlernen des Lesens und Schreibens? Das letzte ist gleichgültig. Die Uebung des Gedächtnisses durch mnemonische Künste ist mißlich, denn um das zu behalten, was man behalten will, muß man erst das behalten, woran | man jenes behalten soll, und hier ist alles nur subjectiv. Es giebt keine bessere Gedächtnißübung, als daß man die mehr leiblich aufgefaßten Vorstellungen, in mehr selbstthätige zu verwandeln sucht. 27 größerer] größeres

29 um] nur

32 daß] das

13–14 Der Mythos von Theuth, dem Erfinder der Schrift, findet sich in Platons Phaidros (vgl. KGA IV/3, S. 380–384). 29 Mnemonik: Erinnerungskunst. Vgl. den Artikel „Mnemotechnik“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1–13, Darmstadt 1971–2007, hier Bd. 5, ed. J. Ritter, 1980, S. 1444–1448. Vgl. auch Yates, Frances: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Weinheim 1990

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Was das Erkennen der Natur betrifft, so knüpft sich das an die gegebenen Wahrnehmungen von der Außenwelt an. Hier ist offenbar, daß man den organischen Zusammenhang der Natur auch der Jugend des Volkes nicht entziehen kann, weil man sonst keine Begriffe in ihr entwickeln könnte; allein auch das Vorhandene läßt im organischen Zusammenhange viele Lücken. Hieran schließt sich, daß es wesentlich zur Befreiung des Menschen gehört, wenn er jedes einzelne in seinem Zusammenhange mit dem Ganzen erkennen lernt. Daher ist es auch im Unterricht der Masse ein wesentlicher Punct, daß ihr allgemeine Vorstellungen von dem Zusammenhange des Lebens überhaupt, auch von den klimatischen Differenzen mitgetheilt werden. Auf diese Weise muß man den Gesichtskreis der Jugend erweitern. Eine ausgeführte Geographie und Naturgeschichte ist jedoch zu weitläufig. Es dürfen nur die Anknüpfungspuncte gegeben werden, woran sich jene Kenntnisse anschließen können. Etwas ganz anderes und hieher nicht Gehöriges ist die practische Behandlung der Naturgegenstände, die Kenntniß von der Art, wie sie der Mensch benutzt. Alles Technologische hat keinen zu hohen Werth, und gehört gar nicht mit zum Gebildetsein, zur Ausbildung der Seele selbst, zur Erziehung. Was das dritte Hauptobject betrifft, die Kenntniß der Größen | oder Maßverhältnisse, worunter alles Aeußere der Gegenstände überhaupt begriffen ist, so ist das, woran wir anknüpfen, dem Menschen von selbst gegeben. Sobald dieses Gegebene seinen chaotischen und empirischen Character verliert, wird es Mathematik. Sie verwandelt das Chaotische in ein Gesetzmäßiges, und in so fern der Mensch dies schon von selbst thut, construirt er in sich die ersten mathematischen Elemente. Hier liegt auch der Gegensatz zwischen der discreten und der stetigen Größe und Zahl, indem jeder Gegenstand in seinem Umkreise eine stetige Größe, im Verhältniß mit andern aber eine discrete Größe ist. Aus diesen Elementen, wenn sie rein ihrer γένεσις nach als etwas unter Gesetze zu Bringendes behandelt werden, läßt sich die ganze Mathematik bis in ihre höchsten Puncte entwickeln, und nur die Anfangspuncte brauchen hier gegeben zu werden. In dem höhern Unterrichtskreise kann man nun gleich auf das Ganze Bezug nehmen, in den niedern aber muß man sich mit den ersten Elementen begnügen. Das Darstellen der Größenverhältnisse in der Abbildung wird mehr als Kunstfertigkeit angesehn. Ohne dieses, was die productive Seite des Auffassens selbst ist, läßt sich manches auch in den ersten Elementen nicht verständlich machen. Gemeinschaftlich zu beiden Fä12 den] dem

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chern, der mathematischen und physischen Seite des Unterrichts gehört als Probe für die Richtigkeit der Auffassung, daß das innere Bild äußerlich hingeworfen werde, und die Reduction des Arithmetischen, auf das Geometrische und umgekehrt, ist eben dieses Darstellen der Figuren. | Hier braucht nichts von der schönen Kunst hineinzukommen. Das sicherste Mittel festzuhalten und die Auffassung zu befördern, ist eben dieses sinnlich Darstellen in der Figur. Im Mathematischen hat das Figürliche die Gestalt einer conditio sine qua non. Können wir uns nun wohl eine bestimmte Grenze ziehen, wodurch der weiteste Umfang des Unterrichts, und die verschiedenen Abstufungen desselben bestimmt werden? Dies kann nur in einem untergeordneten Sinne geschehen. In dem höhern Kreise sind keine andern Grenzen gesetzt als die Naturgrenzen und das Hineintreiben in das practische Leben. Leichter ist es, die wesentlichen Abstufungen im Unterrichte zu zeichnen, wozu wir die Anfänge in dem Gesagten finden. Wenn wir z. B. gesagt haben, die Sprache müsse erlernt werden, so kann doch nur die Muttersprache diejenige sein, an welcher die ganze Spracherlernung fortgeht. Hier haben wir eine allgemeine Praxis, die einen Unterschied bildet zwischen dem Unterricht der Jugend aus der großen Masse und derer, die man höher bilden will, und dies ist das Erlernen der alten Sprachen. Hier muß man gar sehr das eigentlich Historische von dem innerlich Nothwendigen unterscheiden, denn für das eigentliche Bilden durch die Sprache haben die alten Sprachen keinen besondern Werth. Zwar legt man den hinein, daß man sagt, sie sei an sich vollkommen, welches Urtheil über ihre Vollkommenheit nur durch die Vergleichung mit vielen andern entstehen kann. | Aber dies ist auch wohl nur Idee als etwas Wesentliches, denn die eigentliche Vollkommenheit einer Sprache ist nur ihr Schematismus, die relative dagegen das Verhältniß ihrer logischen und musikalischen Elemente. Das Eigentliche des Sprachunterrichts ist aber, daß man entweder mit der Muttersprache andre Sprachen desselben Stammes vergleicht, wo jedoch die Differenzen nicht zu sehr von einander abstechen, oder daß man die Muttersprache mit den andern lebenden Sprachen zusammenhält. Diese sind aber ohne die römische Sprache gar nicht zu verstehn, und so werden wir in Bezug auf die Idee der Sprache auf die alten Sprachen überhaupt geführt, welche die Mütter der neuen geworden sind. Nun könnten wir noch weiter gehn, und auch die semitischen Sprachen lernen. Aber da sind wir wieder durch die Zugänglichkeit beschränkt, indem wir dies alles nicht leisten können. Jene Sprachen aber können wir lernen, und sie führen uns auch immer wieder in den Zusammenhang mit unsrer Cultur. Nun giebt es noch einen Punct, nämlich das Zurückgehn auf die Geschichte und die Bildungsstufen der Sprachen selbst. Dies trifft nicht allein dieses

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Object des Unterrichts, sondern auch die andern Objecte. – Im höhern Sprachunterrichte sollen die von den unsrigen ganz verschiedenen Sprachformen dieselben Stellen einnehmen, welche im Volksunterrichte die fremden Sprachen überhaupt einnehmen, d. h. man muß der Jugend der höhern Classe nur die Differenzen und einzelne Vergleichungspuncte der orien|talischen Sprachen beibringen. Ein ἀνάλογον der Unmöglichkeit der Erschöpfung werden wir finden, wenn wir auf das zweite Objekt des Unterrichts, die Naturkenntniß, sehen. Auch hier wird man stets etwas Neues innerlich und äußerlich hinzufügen können. Eine absolute Grenze ist also hier gar nicht zu ziehen. Wollen wir aber die Puncte der Abstufung bemerken, so ist es eine Art derselben, daß man bei den beiläufig erscheinenden Formen beiläufig ähnliche aus andern Zonen erwähnt. Dies ist hier die Basis der Bildung. Hier müssen wir zwei Betrachtungen combiniren: 1) die Kenntnisse der constanten Formen in der todten, lebendigen und organischen Natur (Geografie, Mineralogie, Botanik, Zoologie pp) was man gewöhnlich die Naturgeschichte nennt; 2) die Kenntniß der elementarischen Processe, welche im Ganzen formlos über den Einzelnen stehen als Gesetze, also die Naturkunde. Es läßt sich keine Ordnung im Bewußtsein denken, wenn diese beiden Betrachtungsweisen der Natur nicht unterschieden, und auf einander bezogen werden. Eben so muß man auch erkennen, wie die empirischen Beobachtungen der ersten allmälig in die Form der Wissenschaften übergegangen sind. In der Mathematik sind die Grenzen schon im Anfange dieser Vorlesungen angegeben worden. (Zu bemerken ist, daß das Unendlichkleine die Identificirung des discreten und concreten ist.) |

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Die Hauptsache ist nun die Untersuchung über die Methoden, wie bei Erweckung des Erkennens auf diesen verschiedenen Gebieten verfahren werden soll. Hier haben wir einen Anknüpfungspunct im Vorigen, 8–9 Oben auf S. 306–307 des Manuskripts wird die Natur als erster der drei Unterrichtsgegenstände gezählt, die Sprache als „der 2te“ und schließlich als „ein 3ter“ die „Aneignung der Maaßverhältnisse“ (die Mathematik). 19–22 Der Lehrplan der Berliner Wissenschaftlichen Deputation für den öffentlichen Unterricht von 1810, an dem Schleiermacher leitend mitarbeitete, unterscheidet zwischen Naturbeschreibung (für die drei unteren) und Naturlehre (für die drei oberen Klassen) und bezieht dabei diese beiden „Betrachtungsweisen der Natur“ systematisch aufeinander. Wie in der Pädagogik-Vorlesung von 1820/21 (vgl. den Beginn der 63. Vorlesungsstunde) mündet der Unterricht in der „Naturkenntniß“ auch im Lehrplan in der Physik.

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indem wir ein doppeltes Verfahren bei der Begriffsbildung bemerkten, ein mehr mechanisches und eines, das auf dem unmittelbar organischen Zusammenhange beruhte. Jenes begründet kein Erkennen, sondern ist nur die Ergänzung ins Weite und Kleine für die chaotische Entstehung der Vorstellungen im gewöhnlichen Leben. Stets wird aber das eine neben dem andern hergehen, weil wir 1) nie von dem innern Zusammenhange aus das einzelne in seiner Besonderheit construiren können, und 2) den innern Zusammenhang doch nur in der Continuität der Erscheinungen besitzen. Es kömmt hier alles darauf an, daß man das Verhältniß zwischen beiden Verfahrungsarten richtig anlegt. Je mehr man alles auf dasjenige zurückführt, was sich durch äußere Zusammenstellung erreichen läßt, desto mehr ist der ganze Besitz auch nur ein mechanischer, und das ganze Innere der Gegenstände kommt so nicht ins Bewußtsein. So ist z. B. der Besitz einer copia verborum in einer Sprache und ihrer grammatischen Regeln noch kein eigentliches Erkennen, und zeigt noch kein Sprachtalent. Offenbar ist aber jede Verfahrungsart einzeln behandelt ein Extrem, und wenn z. B. jemand das ganze Wesen der allgemeinen Grammatik und das Eigenthümliche jeder Sprache hätte, er aber den Körper der Sprache vernachlässigte, so wäre auch jenes keine eigenthümliche Erkenntniß, sondern nur | der Rahmen für dieselbe. Hier fehlt uns nun die Regel, wie wir uns zwischen beiden Extremen verhalten sollen. Im Allgemeinen läßt sich darüber nicht viel sagen, sondern jene Regel kann nur bei den einzelnen Objecten des Unterrichts aufgestellt werden. Aber es muß doch etwas Allgemeines geben und zwar Folgendes. Es ist in der natürlichen Unvollkommenheit unsers Erkennens gegründet, daß uns beides gesondert bleibt, die Construction von innen heraus und das einzelne Aeußere in der Erscheinung. Alle Fortschreitung in der Erkenntniß ist nur eine Annäherung an die Identification beider Processe. Es kommt hier auf die Stufe der Erkenntniß an, worauf man steht, und folglich scheint jene Frage gar nicht allgemein beantwortet werden zu können. Da aber auf der andern Seite im Menschen selbst ein pädagogisches Interesse und ein Trieb nach Entwickelung liegt, so läßt sich denken, daß durch dieses Interesse das Erkennen in Ganzen gefördert werden kann. Wenn wir nun von dem Hauptpunct ausgehn, daß alles Fortschreiten nur Annäherung ist an die Identification beider Processe, wie sollen wir denn beide einander unterordnen? denn dies ist nun einmal nöthig. Diese Frage kann nur von der Gesinnung aus in Bezug auf das Erkennen beantwortet werden, und man hat sie daher auch von verschiedenen Ansichten aus verschieden beantwortet. Die practische Ansicht ist daß der Mensch es überall im Leben mit dem einzelnen zu thun habe, und die innere Con|struction das eigentlich wissenschaftliche Gebiet bilde, und für das Leben selbst in seiner

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Gestaltung nur den Nutzen habe, daß man sich leichter über das Einzelne orientire. Die entgegengesetzte Ansicht ist, daß das Wesen alles Einzelnen eigentlich doch nur die Art sei, wie es das Allgemeine darstellt, und daß also jene Ansicht keinesweges practisch, sondern empirisch sei; daß man also, wenn man die Intelligenz erregen wolle, von der innern Anschauung ausgehen, und das Einzelne als Ergänzungsund Ausfüllungsmittel brauchen müsse. Wir müssen vorzugsweise auf das Letzte kommen, denn auf diese Weise geschieht die Entwickelung der geistigen Functionen unmittelbar, auf jenem Wege nur zufällig für die Erziehung. Eben so gewiß ist es, daß gerade weil beide Processe für uns noch nicht identisch sind, sondern weil wir uns der Identification nur nähern, eine innere genauere Betrachtung des Einzelnen auch immer tiefer in die Geheimnisse der Construction hineinführen wird, und auch so das Aeußere und Einzelne nicht zu vernachlässigen ist, dies gilt für alle Unterrichtsgegenstände. Wir kommen nun auf die einzelnen Fächer. Das eine materielle Hauptobject ist die Sprache, in welcher auch die ganze Geschichte des Menschen niedergelegt ist. Diese ist allerdings darin niedergelegt, aber nicht aus ihr allein entstanden, sondern das Resultat des Zusammenseins des Menschen mit der Natur und so unter|scheiden wir die Sprache an sich und die Geschichte, d. h. die Art wie dem Menschen so wohl im Einzelnen als im Allgemeinen alles das geworden ist, was in seiner Sprache niedergelegt ist. Die äußerliche Methode beim Sprachenlernen ahmt äußerlich nach, was unmethodisch ist, nämlich wie der Mensch seine Muttersprache lernt. Bei der Erlernung der Muttersprache aber wird die Intelligenz geweckt; die Erlernung einer fremden Sprache hingegen ist keine Entwickelung der Intelligenz mehr, denn der Mensch hat nun schon diesen Fortschritt gemacht. Was aber hier gewonnen werden könnte, daß nämlich die fremde Sprache, verglichen mit der Muttersprache, in ihrer Eigenthümlichkeit aufgefaßt würde, das kann auf jenem Wege gar nicht geschehen, und hier ist die Aufgabe ganz anders, wie sie auch an der Muttersprache ausgeübt werden kann, nämlich die Sprache von innen heraus zu construiren. Hierbei ist zweierlei zu beachten, nämlich 1) das Wesen der Sprache überhaupt, welches alle Sprachen gemein haben; 2) das Positive in der zu erlernenden Sprache und dasjenige, was wir in seinen innern Gründen noch gar nicht erforscht haben. Eben so verhält es sich auf dem Gebiete der Natur. Soll die Erkenntniß eine lebendige sein, so muß sie aus diesen beiden Elementen zusammengesetzt sein, und jedes von beiden muß auf seine natürliche Art erworben werden, nämlich das eine auf dem Wege der Construction von innen heraus, | und das 4 daß] das

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andere auf dem Wege der äußern Anschauung. Aber auch hier können zwei Methoden Statt finden, je nachdem wir einig sind, daß das Aeußere dem Innern untergeordnet ist, oder nicht, nämlich 1) daß man zuerst das Einzelne, oder 2) daß man zuerst den innern Zusammenhang erkennt. Gesetzt, es sei im Sprachgebiet eine Masse des Aeußern gegeben, und die Sprache soll nun von innen heraus construirt werden, so ist diese Construction die Anschauung von der Natur und dem Verhältnisse der verschiedenen Redetheile gegen einander, und dies muß entwickelt werden aus der Natur des organisch Einfachen in der Sprache, d. h. des Satzes, aber zugleich bezogen auf alle verschiedenen Modificationen, die dieser erlangen kann, wenn er in ein Verhältniß zu andern Sätzen gestellt wird. Zunächst sieht man natürlich auf die Elemente des Satzes, auf Hauptwort und Zeitwort, d.i. Subject und Prädicat. Aber die mitgebrachte Masse des Aeußern giebt zugleich Gelegenheit zu zeigen, wie Sätze eingeschoben, und wie ganze Sätze als Subject oder Prädicat betrachtet werden können. Macht man sich dies recht klar, so ist es etwas ganz Allgemeines für alle Sprachen, aber bis ins Innerste in jeder Sprache anders modificirt, und so kann nur auf eine comparative Weise die Anschauung von dem Wesen einer Sprache zu Stande kommen.

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Es kommt aber stets darauf an, das Specifische im Bau einer Sprache aufzufassen, wie nämlich jede Sprache | diesen oder jenen Gegenstand ansieht, und dies ist ihre logische Seite. Jede hat aber auch einen besondern Körper, und die Bedeutsamkeit der Wörter selbst, sogar wenn sie auf die Stammsilben zurückgeführt sind, ist uns immer etwas Positives, wenn auch die Stammsylben in einer und derselben Sprache einen natürlichen Zusammenhang haben. Dies ist der etymologische Theil der Sprache. Hierzu gehört 1) die Art, wie aus den einfachen Stämmen ganze Familien von Wörtern durch constante Gesetze gebildet werden, so daß, was zum Körper des Wortes hinzukommt, eine Beziehung hat zu dem Verhältnisse, worin das neue Wort zum Stammworte steht, wie dies bei den Abstracten, Adjectiven und Zeitwörtern der Fall ist. Je mehr solcher verschiedenen Wortfamilien man aufstellen kann, in denen sich das Verhältniß zum Stammworte offenbart, 30–32 Vgl. SW III/9, S. 500: „wie aus den einzelnen Stämmen ganze Familien von Wörtern durch constante Geseze gebildet werden, so daß was zum Stamm des Wortes hinzukommt“

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desto mehr kommt die Sprache in ihrem Bau zur Anschauung, wie sie sich nämlich aus den Stammwörtern gebildet hat. Das zweite, was schon entfernter liegt, und weniger nothwendig ist, ist die Zusammenstellung der Wurzelwörter selbst nach den Analogien der Bedeutung und des Tones, nur dadurch eine Ahnung zu bekommen von der Art, wie die einfachen Laute in der Sprache gebraucht werden. Dies letzte gehört mehr in den gelehrten Unterricht, das erste aber gehört zur klaren Vorstellung der Sprache, welche jeder haben muß, der die Sprache auch nur im Leben sicher handhaben will. Wir kommen nun zur musikalischen Seite der Sprache. | Diese bezieht sich auf die verschiedene Geltung der einzelnen Sprachelemente, d. h. auf die relativen Gegensätze der Länge und Kürze, ohne welche keine Sprache Statt finden kann. Schon die ursprünglichen Vorübungen in den Kinderjahren, welche eine Nachhülfe sind, für das chaotische Erwerben der Sprache, müssen den Sinn für das Rhythmische und Melodische in der Muttersprache schärfen, um so mehr, da dieses Element das logische unterstützt. Denn der Gegensatz des Tonlosen und Betonten hangt zusammen mit dem Stamm und dem organischen Zusatze in der Wortbildung. Noch weiterhin giebt es in der ganzen Rede einen Unterschied der Betonung der Gedanken selbst. Ferner hat eben dieses Musikalische einen Einfluß auf das Etymologische der Sprache. Nämlich durch die Art, wie die Beugungssylben und Vermehrungssylben bestimmt sind, können Zusammenstoßungen von Lauten entstehen, welche die Production hindern, und dies ist in jeder Sprache etwas anders wegen der Sprachwerkzeuge des Volks. So ist dies Rhythmische und Musikalische ein Princip von Ausnahmen, wo einzelne Unregelmäßigkeiten im Bau der Sprache selbst gebildet werden, um die Richtigkeit der Betonung nicht zu erschweren. Hieraus müssen alle Eigenheiten der Ausnahmen von den Sprachregeln begriffen werden, und daher ist die Betrachtung des Musikalischen sehr | wichtig, abgesehen davon, daß es in der Sprache einen großen Theil vom Leben selbst ausmacht, und sehr den Eindruck der Rede verstärkt. Indem wir aber die Sprache überall mehr auf den Menschen beziehen, und sie weniger als ein Naturproduct ansehn, so muß das Musikalische dem Logischen untergeordnet werden. Ist dies nun aber eine Methode, die überall befolgt werden kann, oder nur für den höhern Sprachunterricht gilt? Sobald von einer Erzie11 Geltung] Gattung

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10–12 Vgl. SW III/9, S. 501: „Zunächst bietet sich dar die verschiedene Geltung der einzelnen Elemente, der relative Gegensaz der Länge und Kürze, Betonung, Tonlosigkeit, sodann Wohllaut.“

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hung des Menschen für das Erkennen die Rede ist, also von einem bildenden Unterricht, so giebt es gar nicht verschiedene Potenzen und Abstufungen des Durchdringens der Gegenstände selbst, und die Verschiedenheit kann nur in der größern oder geringern Auseinandersetzung liegen. Jeder Unterricht bloß für das Bedürfniß gehört nicht hierher, sondern in die Betrachtung des Gegenstandes, der das Bedürfniß veranlaßt. So ist auch im Volksunterricht die Sprache auch in diesen Principien ein wesentlicher Gegenstand, und überall soll der Unterricht auf das vollkommenste wissenschaftliche Durchdringen des Gegenstandes ausgehn. Soll die Sprache Bildungsmittel sein, so muß man überall auf die angegebene Weise verfahren. Auch die Geschichte hat ihre Naturseite wie die Sprache, und hängt mit ihr genau zusammen. Durch die Geschichte soll der Mensch ein Bewußtsein bekommen von der Menschheit als Gattung und von ihrem zusammenhängenden Leben in seinen verschiedenen Modificationen. Auch dieses gehört wesentlich zur Befreiung des Menschen, | denn er muß die Einzelnheit seiner eigenen Art zu sein als solche kennen lernen, indem ihm andre Einzelheiten gegenüber gestellt werden; nur so kann er in dem einzelnen Leben wie er es lebt, dasselbe Gemeinsame finden lernen. Wenn wir den Umfang der Geschichte zeichnen wollen, so besteht sie im Nachbilden in der Vorstellung des ganzen Lebens welches die verschiedenen Völker und Geschlechter der Menschen von Anbeginn an bis heute geführt haben. Dies ist unendlich, aber jedes abgeschlossene Gebiet ist unendlich, und es kommt also hier auf die rechte Art und das rechte Maß an, dasjenige ins Bewußtsein zu bringen, wodurch die Unendlichkeit repräsentirt werden kann. Hier ist zuerst zu bemerken, daß diese Kenntniß bedingt ist durch die Kenntniß des Erdbodens selbst und der verschiedenen Verhältnisse, worin die Menschen auf ihm leben. Die Geographie also ist die Basis für den Geschichtsunterricht, und kann nur fruchtbar behandelt werden, in so fern das Ethnographische mit dem Geographischen verbunden wird. Auch dies knüpft sich an dasjenige, was dem Menschen von selbst in der Erfahrung entsteht. So wie ihm nur ein Theil der Erde zur Anschauung kommt, so will er den Umkreis fortsetzen, und da bieten sich ihm dar von der Tiefe nach der Höhe hinauf und hinunter die Verhältnisse, die aus dem Anschauen der Erde und des Wassers entstehen. Diese Betrachtung läßt sich von dem 7 im] in

15 ihrem] ihren

29–30 In ihrem Lehrplan von 1810 konzipierte die Wissenschaftliche Deputation für den öffentlichen Unterricht unter der Leitung Schleiermachers die Geographie als Propädeutik für den Geschichtsunterricht (vgl. oben S. 148–152).

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Wohnsitze des Menschen aus | fortsetzen, so weit man will aber die allgemeine Vorstellung von der Beschaffenheit der Erde selbst, von ihrer Kugelgestalt, muß vorangehn. Wie nun hier eine große Verschiedenheit der Grade, worin dies ausgeführt wird, sich darbietet, ist von selbst klar; aber überall muß, was Basis der Geschichte sein soll, angeknüpft werden. Auf jene folgt dann die Betrachtung von den klimatischen Differenzen und die Naturkenntniß, über welche der Mensch gestellt werden muß, als das alle Klimate begleitende Leben welches als das Erste und Allgemeinste über alles andre steht. Von hier aus können zuerst die geschichtlichen Differenzen entwickelt werden, von denen die größeste in dem Gegensatze des Fortschreitens und Stillstehens liegt, in dem Gegensatze der geschichtlichen und ungeschichtlichen Völker. Diese bilden den Umkreis, jene die lebendige Mitte, die das Fortschreiten immer weiter zu verbreiten sucht. Dann kann man die Vorstellung erwecken von den verschiedenen Abstufungen der menschlichen Bildung, von der Herrschaft des Menschen über die Natur bis zur freien Entwickelung der Intelligenz. Dies ist ein allgemeiner Rahmen (Grad), in welchen sich die großen Begebenheiten der allgemeinen Geschichte leicht einreihen, und eine allgemeine Skizze läßt sich von diesen Puncten aus von selbst entwerfen. Allein man hat hier beständig sehr entgegengesetzte Ansichten gehabt, und daran gezweifelt, ob überhaupt | für den Geschichtsunterricht dieser oder der entgegengesetzte der richtige Gang sei: Man hat nämlich gesagt, es sei eigentlich natürlicher, von dem Einzelnen und Kleinen zu dem Allgemeinen und Großen hinaufzusteigen. Das erste womit man auf die Jugend wirken könne, seien einzelne Züge, wodurch ihr erst anschaulich wird, was im Menschen steckt, und wodurch also ihr Interesse an der Geschichte vorbereitend erregt wird. Dies ist nicht zu leugnen, gehört aber nicht in den Unterricht, in so fern Geschichte gelernt werden soll, sondern vielmehr in die religiöse Seite der Erziehung. Ferner sagt man: es ist auch nicht möglich mit der Jugend einen solchen Gang vom Allgemeinen ins Einzelne zu gehen, denn jenes wird von ihr zu wenig verstanden, und man kommt zu spät ans Einzelne. Es hat freilich etwas für sich, daß das Allgemeine von der Jugend schwer verstanden wird, aber es ist nur wahr, in so fern von abstracten Allgemeinheiten die Rede ist, allein hier handelt es sich von allgemeinen Vorstellungen, die sogleich anschaulich gemacht werden, denn das Kind sieht ja die verschiedenen Menschen in ihren 23–25 Mit dieser Position setzt sich die Wissenschaftliche Deputation in ihrem Lehrplanteil, der sich dem Geschichtsunterricht widmet, kritisch auseinander und lehnt es ab, der zusammenhängenden Behandlung der Geschichte als Propädeutik Biographien voranzuschicken (vgl. oben S. 149).

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Beschäftigungen vor sich. Es ist offenbar, daß diese großen allgemeinen Vorstellungen auch ein größeres Interesse haben als die Einzelnheiten, denn alles Vergangene ist dem Kinde gleich, und man braucht daher nicht gerade mit den alten Markgrafen von Brandenburg anzufangen. Bei uns geschieht es verkehrter Weise, daß sich die Kinder | entweder selbst hineinleben in die alten Formen, oder die Erscheinungen der alten Welt ihnen nur Schattenbilder bleiben, die keine bleibende Wirkung hervorbringen. Folglich muß ihnen das Allgemeine in großen Zügen, und dann das Einzelne doch in solcher Allgemeinheit vor Augen gerückt werden, daß Vergleichungspuncte da sind, und was man ausführt Repräsentant des Ganzen sein kann.

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Wenn alle Geschichte nichts anderes in sich begreift als das ganze Leben des Menschengeschlechts auf der Erde und die Abstufungen der menschlichen Natur, und die Einwirkungen der Menschen auf einander und die äußere Natur, so muß aller geschichtliche Unterricht, ehe man dies zum Bewußtsein bringt, nur etwas ganz Leeres sein. Der wahre Geschichtsunterricht nimmt erst seinen Anfang wenn dies gefaßt werden kann, und ein gewisses Bewußtsein von der Kraft des Menschen da ist, d. h. mit dem Zeitpunct der ersten Pubertät. Dies ist aber die Periode, wo der Volksunterricht geschlossen wird, und daraus scheint zu folgen, daß der eigentliche Geschichtsunterricht der Jugend aus der großen Masse gar nicht zu Theil werden kann. Dies ist auch wahr, und wird wahr sein bis zu einer Zeit, wo die Erziehung länger dauern kann; beschleunigende Künste helfen hier nichts. Der ganze Proceß der den Geschichtsunterricht unterstützen soll, ist etwas Unvollendetes, also ist auch die Erkenntniß unvollendet, weil ein Ganzes nur in allen seinen Theilen verstanden werden kann. Die Kenntniß der Erde selbst führt auf die Gegenwart, nicht auf die frühern Veränderungen, und so muß aller Geschichts|unterricht auch mit der Kenntniß der Gegenwart anfangen. Aller Geschichtsunterricht kann zusammengefaßt werden in der Formel: er soll begreiflich machen, wie das geworden ist, was ist. Ohne dies ist kein geschichtliches Verstehen möglich, und daher kann auch die Gegenwart nicht historisch behandelt werden, weil man nicht weiß, wohin sie führt. Man muß also beim Geschichtsunterricht von dem Puncte, worauf wir stehen, zurückgehn. Wenn man dies nun thun will, so ergiebt 27 den] dem

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sich, daß sich das historische Ganze theilt, und man hat es als eine Hauptaufgabe angesehn, diese Theilung zweckmäßig zu machen. Das Chronologische oder Synchronistische aber muß die ganze Form des Unterrichts bestimmen. Wenn es nämlich wahr ist, daß jede geschichtliche Entwickelung nur in Bezug auf den Zielpunct zu verstehen ist, so muß die ganze Geschichte angesehen werden als eine Veranschaulichung darin, wie der gegenwärtige Zustand des menschlichen Geschlechts geworden ist. Nun aber geht die Geschichte selbst stoßweise, und bietet uns Puncte dar, welche im Ganzen einen Stillstand machen, und diese müssen eben so behandelt werden wie die Gegenwart. Wenn man auf diese Weise zuerst rückwärts und dann vorwärts geht, so ist dies das Wesentliche, und alles andere ist deswegen weniger bedeutend, weil, wenn man auch ins einzelne geht, alles weniger deutlich ist, und jede geschichtliche Reihe nur in Verbindung mit der Gegenwart wichtig ist. Also soll man die Geschichte ethnographisch lehren? Soll man zuerst die Erweiterung der Herrschaft des Menschen über die Natur, dann die | Geschichte der Geselligkeit d. h. die politische Geschichte, und dann die Geschichte der intellectuellen Entwickelung abgesondert vortragen? Sehen wir auf die Basis, welche uns die Kenntniß der Gegenwart durch die Geographie giebt, so ist hier schon die Vorstellung von der Trennung der Menschen gegeben, und nun könnte man die einzelnen Massen rückwärts verfolgen, so hätte man die Völkergeschichte. Eben so könnte man sich ähnliche Formen des Geschichtsunterrichts denken vermöge eines innern oder äußern Princips der Behandlung. Allein sehen wir darauf, daß die Geschichte gelehrt werden soll, wenn das sittliche Bewußtsein beim Menschen vorwaltet, so kann die Völkergeschichte nichts nutzen, sondern hier ist zunächst eine klare Anschauung erforderlich, und daher sei jeder Theil ein sinnlich zusammenhaltendes Ganzes. Dazu kommt die zweite Hauptregel, daß auch die ganze Art die Geschichte einzutheilen sich durchaus an das Bewußtsein des gegenwärtigen Zustandes anknüpfen lassen muß. Hier tritt freilich sogleich die Verwirrung in der Geschichte zwischen dem Natürlichen und Positiven entgegen, wie die jetzigen geschichtlichen Ganzen keinesweges durchaus natürliche sind, und daher sind oft aus richtigen Principien ganz verkehrte Methoden entstanden, z. B. daß der Staat, worin die Jugend lebt, der Mittelpunct des Geschichtsunterrichts sein müsse, und der Hauptpunct werde, an dem sich alles anknüpft; aber dieses leitende Princip verläßt uns sehr bald, weil alle jetzigen Staaten erst in neuern Zeiten zusammengeklebt sind. Zuerst muß die | Gegenwart selbst auf die geschichtliche Weise gefaßt werden, und da sind die gegenwärtigen 40 muß] muß man

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christlichen Staaten als eins betrachtet die erste Einheit und das Centrum. Die erste Frage ist nun: wie ist diese Verbindung entstanden? Dies führt uns an den Anfang der modernen Geschichte, wo das Ganze zerstiebt. Fragen wir wieder, woher diese Elemente gekommen sind, so kommen wir auf die alte Geschichte. So aufgefaßt, ist das Christenthum ein großes geschichtliches Motiv. Hierdurch werden wir in das asiatische Alterthum hinübergeführt, wo der Monotheismus herrschte. Ferner wurden durch das Christenthum die Elemente der alten Geschichte von neuem belebt, wodurch sich die germanischen und slavischen Völker cultivirt und gestaltet haben. Die hier nothwendigen Theilpuncte müssen nun beim Zurückgehen auf die Gegenwart aufgefaßt und dazwischen gestellt werden. Hiernach entsteht die Frage, ob noch etwas Besonderes nöthig ist, um die äußerlich leitenden Puncte, d. h. Namen und Zahlen, in der Geschichte bestimmter zu fixiren. Je mehr das Geschichtliche ins Kleine geht, wo man die Nothwendigkeit der großen wirkenden Kräfte für ein bestimmtes Resultat aus den Augen verliert, desto mehr hört die Kraft der eigentlichen geschichtlichen Idee, das Einzelne zu fixiren, auf. Bei der einzelnen, ins Kleine gehenden politischen Geschichte muß dasjenige, was man nicht auf organische Weise haben kann, dem Organischen untergeordnet, | d.h. auf mechanische Weise fixirt werden, damit es in der ganzen innern Regsamkeit einen Punct hat, worauf es sich bezieht. Dazu hilft, das Geschichtliche in einem äußern Rahmen darzustellen durch das Tabellarische, nur muß auch dieses so viel wie möglich selbstthätig sein, denn nur das Selbstproducirte hat Haltung, weil es nur wieder producirt zu werden braucht. Eine Bemerkung über den Geschichtsunterricht der großen Masse ist, daß doch der eine Hauptpunct, die religiöse Geschichte, in den Volksunterricht kommen muß, in so fern das Christenthum ein Gegenstand der Volksbildung ist. Doch ist dies nicht als eigentlich geschichtlicher Unterricht anzusehen, sondern hat nur eine fremde Beziehung, und überhaupt kommt ja das Christenthum dem Volke nie in allen seinen Umständen zur Anschauung. Und doch ist der Unterricht in der religiösen Geschichte ein Punct zur Vorbereitung der Erweckung des geschichtlichen Sinnes in der Masse, so wie sich im eigenen politischen Leben nachher die vaterländische Geschichte daran knüpfen kann. Die Darstellung des Gesammtlebens der menschlichen Gattung, die Geschichte, zerfällt in verschiedene Reihen, und jede von diesen muß nur im Verhältniße zur Totalität betrachtet werden. Dazu gehört zweierlei: 1) die richtige Massenkenntniß, und 2) die richtige Schranken17 den] dem

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kenntniß. Das erste gehört mehr zur Sinnlichkeit der Anschauung, das letzte zur richtigen Schätzung der thätigen intellectuellen Motive. | Ohne beides kann man gar keine geschichtliche Anschauung haben, und doch wird beides übersehen. Man behandelt z. B. besonders die Geschichte der classischen Völker, ohne darzustellen wie sich Griechenland und Rom als Masse zur ganzen Menschenmasse verhalten haben. Eben so, wenn man besonders bei entfernten Zeiten und fremden Völkern von ihren Thaten redet, so wird zwar dasjenige gezeigt, was in ihnen wirksam war, ihre Kraft; allein ihre Schranken bringt man nicht zur Anschauung, nicht, was für Hülfsmittel ihnen fehlten, und was für Kräfte bei ihnen noch nicht entwickelt waren. Freilich ist dies durchzuführen schwer, weil die geschichtliche Forschung selbst noch nicht vollendet ist (Böckh in seiner Staatshaushaltung hat viel gethan.)

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Die Kenntniß der Natur theilt sich auch in zwei große Zweige: 1) in die kosmische und 2) die organische Kenntniß, in Physik und Naturgeschichte, obgleich beide Namen nicht alles erschöpfen. Zu jener gehört die Kenntniß von den Weltkörpern, so viel wir davon ahnen können, die atmosphärischen Operationen und das ganze Spiel der allgemeinen Naturkräfte. Es ist offenbar, wie sich diese Kenntniß an das thätige Leben selbst anknüpft, denn wir leben in und von der Natur und für sie. Folglich darf auch im Unterricht der großen Masse dieser Gegenstand nicht ganz fehlen, denn das Volk lebt am meisten mit der organischen | Natur, und alle Verbesserungen können nur von einer solchen Kenntniß herrühren, und sind auch nur vom Volke ausgegangen aus einem gewissen Instinct. An den bloßen Instinct ist aber der Mensch nicht gewiesen, sondern alles Fortschreiten ist vom lebendigen Bewußtsein abhängig. Diese Kenntniß der Natur muß jedoch keinesweges auf den practischen Nutzen zunächst angewandt werden, denn das Practische geht auf dem Wege der Tradition fort. Nöthig ist jedoch jene Kenntniß der Natur überall, denn es ist widernatürlich, wenn der Mensch mit der Natur leben soll, und sie nicht kennt. – Auf der andern Seite ist nicht zu leugnen, daß die Kenntniß der Natur den größesten Umwälzungen unterworfen gewesen ist. Nun ist gewiß, daß der Volksunterricht, der im Großen betrieben wird, einen constanten Character haben muß, und man darin nicht immer etwas Neues vorbringen darf; wechselt aber die Wissenschaft, so 13 In Schleiermachers Bibliothek befand sich Boeckh, August: Die Staatshaushaltung der Athener, Bd. 1–2, Berlin 1817 [SB 302].

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wechselt auch der Unterricht, und so scheint sich die Kenntniß der Natur nicht zum Volksunterricht zu eignen. Dies betrifft aber nur die organische Natur und die Naturkräfte, in so fern man ihnen ein materielles Substrat unterlegt. Die mathematische Seite des Kosmischen steht dagegen sehr fest (z. B. das kopernikanische System) und über die Kenntniß dieser Seite ist stets eine Tradition im Volke vorhanden, und selbst Fortschritte, z. B. Wetterbestimmungen, sind von demselben ausgegangen. Hier ist also der Keim der Forschung | unter der Masse angelegt, und daher kann man diesen Gegenstand vom Unterrichte nicht entfernen. Zuerst wollen wir das Gebiet der organischen Naturkunde betrachten, weil dieses das constantere ist, denn nur künstliche Systeme haben hier gewechselt. Hier handelt es sich von der allgemeinen Beschauung und Beschreibung des individualisirten Lebens in seinen verschiedenen Formen. Da fällt zuerst in die Augen die Abstufung vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, dann die elementarische Relativität, d. h. das überwiegende Leben in der Luft, im Wasser und auf der Erde und die Mischungen, hierzu kommen die klimatischen Differenzen; und diese Hauptpuncte bestimmen verschiedene Reihen. Die ersten beiden Gesichtspuncte pflegt man auf einander zu reduciren, den dritten aber hat man stets als einen zweiten Hauptpunct anerkannt. Hier giebt es nun zwei Arten unterzuordnen. Wollte man aber die klimatischen Differenzen vorwalten lassen, wie einige gethan haben, so müßte man doch erst die Charactere der verschiedenen Gattungen zeichnen, welche nicht dem Klima untergeordnet sind. Folglich müssen die Gattungen vorwalten. Aber soll man vom Vollkommnern zum Unvollkommnern oder umgekehrt gehen? Hier findet sich eine Analogie mit der Geschichte. Es ist offenbar, daß der Wahrnehmung des Menschen schon im Leben die Geschöpfe gegeben sind, und indem man sie ordnungsmäßig vor Augen legen will, scheint es, daß man von den unvollkommnern Formen | des Lebens anfangen müsse. Aber die Abstufungen können doch nur recht verstanden werden durch die Vergleichung mit dem Menschen als dem vollkommensten der sichtbaren Geschöpfe. Allein wo zwei solche Methoden vor Augen liegen, deren jede schon ein bestimmtes Recht hat, da muß man sie combiniren, und so scheint der Rückgang vom Vollkommnern zum Unvollkommnern das erste Verfahren zu sein, worauf man auf eine 7–8 demselben] denselben

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22–24 Vgl. z. B. Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755), in: Ders.: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, ed. W. Rehm, 2. Aufl., Berlin/New York 2002, S. 27–59

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ausführliche Weise umkehrt, so daß man sich den Menschen als das maximum und Ende darstellt. So läßt sich die ganze Operation machen; aber bald kommt man bei dem ersten rückgängigen Wege darauf, die Hauptvergleichungspuncte festzuhalten, und bemerkt nun, daß die Abstufungen und elementarischen Beziehungen nicht gleich sind. Diese ganze Operation wird dadurch erschwert daß im Menschen eine Identität des geistigen und organischen Lebens ist. Von der letzten Seite ist die Vergleichung des Menschen mit den andern Geschöpfen und dieser unter einander leicht; in Ansehung des geistigen Lebens erkennen wir zwar auch einen Uebergang, aber die Grenzen sind hier nicht zu bestimmen, weil wir zu keiner Vorstellung von dem untergeordneten geistigen Leben kommen können. Diese Seite muß also im Unterricht stets im Schatten bleiben, und man muß stets die Vernunft mit der Sprache als das Unterscheidende des Menschen aufstellen. Dies kann man durch das ganze Gebiet des animalischen Lebens fortsetzen bis in die Mollusken. Im Pflanzenleben scheint kein Bewußtsein mehr zu sein, und wenn die Naturforschung hier von Leben redet, und | Leben und Bewußtsein nicht getrennt werden können, so muß man im Unterricht dies als etwas Unaufgedecktes darstellen, und sich nur an die organische Seite halten. Endlich kann man auch zu den Geschöpfen kommen, die Zwitter sind zwischen dem Vegetabilischen und Animalischen. – Nun kommt, indem man umgekehrt vom Unvollkommnern anfängt, alles darauf an, durch eine richtige Fortschreitung eine genaue Vorstellung von der manchfachen Entwickelung und Gestaltung des Lebens zu erregen. Hier ist man in einen zwiefachen Fehler gefallen: 1) ist man auf jedem Gebiete für sich den künstlichen Systemen gefolgt, die nur bei äußern Merkmalen stehen bleiben. Dies kann keine Naturanschauung geben, und das Willkührliche in den Bestimmungen eines solchen Systems ist etwas Zurückstoßendes. Denn wenn z. B. das Linneische System zum Grunde des Unterrichts gelegt wird, wo in den Gattungen selbst Ausnahmen vorkommen, und die zusammengestellten Gegenstände von der Natur gar nicht zusammengestellt sind, so muß Verwirrung entstehen. Für den Naturforscher ist dies sehr interessant, aber nicht zweckmäßig für den Unterricht, denn hier mögte auf diesem Wege das Ganze ein mechanisches Product werden. 2) Der andre Abweg ist, daß man alles nur fragmentarisch behandelt, indem man das sogenannte 1 den] dem

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30 Der schwedische Naturwissenschaftler Carl Nilsson Linaeus (Carl von Linné 1707– 1778) entwickelte die Grundlagen der modernen Taxonomie. Sein „Systema Naturae“ erschien 1735. In Schleiermachers Bibliothek befanden sich zwei Ausgaben von Linnés „Systema vegetabilium“ sowie Linnés „Philosophia botanica“ [SB 1152, 1153, 1154].

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Merkwürdige heraussucht. Was ist aber das Merkwürdige? Am Leben ist nur das Leben das Merkwürdige, und so muß man die verschiedenen Gestalten des Lebens aufsuchen. Jenes fragmentarische Verfahren ist nur Zeit|vertreib oder Geschäftsübung. So giebt es denn keinen wahren Unterricht als den, welcher die allgemeine Anschauung des Lebens zum Grunde legt, und dann seine Modificationen zeigt. Hier aber giebt es auch eine Duplicität, von welcher die ganze Anschauung abhängt, nämlich die Betrachtung der Processe und der Formen. Welche soll nun vorherrschen? Hier kann nur entschieden werden nach den allgemeinen Principien auf dem geschichtlichen Gebiet. Die Processe (z. B. der Blutumlauf) werden noch immer erforscht, und können nicht von den Kindern verstanden werden. Die Formen dagegen sind gegeben und feststehend, und nur die Ansicht von ihren Verhältnissen zu den Processen selbst ist wandelbar. Die Stetigkeit in der Entwickelung der Formen der organischen Geschöpfe, vom Vegetabilischen bis zum Animalischen, zur Anschauung zu bringen ist die Hauptsache. Dies ist freilich nur positiv, und man ist hier rein an das Aeußere gewiesen. Dennoch ist es immer eine große Forderung, den Unterricht über die Naturgegenstände in die Gesetze der Stetigkeit zu bringen, worüber noch nichts Genügendes geliefert ist. Freilich muß die Darlegung der anorganischen Formen vorangehn, welche sich an das Mathematische anschließen. Von diesen geht man zu den vegetabilischen und animalischen Geschöpfen über, und zeigt wie sich bei jenen alle wesentlichen Theile erst entwickeln, | bei den letzten aber zugleich gegeben sind, und so kann man die Natur ins Bewußtsein bringen, während auch der Beobachtungsgeist geschärft wird.

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63. Vorlesung Die Darstellung der Stetigkeit der Reihen ist also die Topik für die Naturgeschichte. Dabei kommt es an 1) auf das Elementarische, auf die wesentlichen Theile, und 2) auf das Ganze der Gestalt. Die anorganischen Formen schickt man als geometrische voran, und steigt dann hinauf bis zum Menschen, um einen Ueberblick zu gewinnen. Dies kann aber nicht geleistet werden ohne Anschauung, sondern es ist dazu ein Apparat nöthig, entweder Sammlungen oder Bilder. Das letzte ist offenbar das Leichtere. Ohne unmittelbare Anschauung würde man nie etwas Lebendiges im Bewußtsein hervorbringen. Allein eben wegen des Apparats kann dieser Unterricht nicht leicht in die Volksschulen aufgenommen werden, und so bleibt für das Volk 10 den] dem

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nur die Vorbereitung für die Betrachtung übrig. – Dasselbe gilt auf dem Gebiet der Physik, der practischen Naturkunde, von ihrer speculativen Seite angesehen. Hier wechseln die Ansichten immer noch am meisten, wie z. B. über Electricität und Magnetismus, und so kann von einer festen Methode noch gar nicht die Rede sein, denn diese kann nur aus dem höchsten wissenschaftlichen Standpuncte für jedes Gebiet hervorgehen. Auch hier kann nichts ohne Anschauung | gelehrt werden, welche 1) in der Natur selbst ist, und 2) durch Versuche vermittelst eines physikalischen Apparats bewirkt wird. Das erste läßt sich in keine feste Zeit hineinbannen, sondern die Gelegenheit muß da sein, und selbst dann kann man den Proceß nicht im Zusammenhange verfolgen, sondern man kann nur die Aufmerksamkeit darauf hinlenken, was in der Natur geschieht. In Volksschulen ist es auch unmöglich einen Apparat herbeizuschaffen, und deswegen muß hier dieses Gebiet ausgeschlossen werden, und man muß sich mit Vorübungen begnügen. In den höhern Bildungsanstalten ist freilich ein solcher Unterricht möglich, aber er wird nur von einer Hypothese ausgehen müssen. Diese Vorbildung bei der Jugend, die eine höhere Bildung erhalten soll, ist unerläßlich, damit sie zum Weiterfördern der Physik aufgeregt werde. Das Materielle also trage man nie mit Zuversicht vor, und gehe bei den einzelnen Phänomenen einen historischen Gang. Daraus folgt, daß auf das Materielle der wenigste Werth zu legen ist. Da aber die Naturwissenschaft durch den Versuch und die Beobachtung vollkommen werden kann, so muß sich der Unterricht vorzüglich auf diese beiden Puncte einlassen. So würden hier besonders drei Puncte zu beachten sein: 1) die Darlegung der Hauptphänomene, in denen sich uns die Kräfte offenbaren; 2) das Historische 3) die Kunst des | Versuchens und Beobachtens. In der Folge muß auch eine speculative Physik hinzukommen, was aber jenseits der Erziehung liegt. Das dritte Hauptobject ist das Mathematische. Hier sollte man denken, könne es keine schlechte Methode geben, weil man an der Mathematik gern ihre absolute Gewißheit rühmt. Außerdem ist seit kurzem für diesen Gegenstand viel gethan worden. Die erste Stufe hier 33 kurzem] kurzen 32–33 Vgl. z. B. Pestalozzi, Johann Heinrich: Elementar-Bücher. Anschauungslehre der Zahlenverhältnisse, Heft 1–3, Zürich/Bern/Tübingen 1803–1804, die sich in Schleiermachers Bibliothek befanden [SB 2477, 2692] – Die von Schleiermacher geleitete Wissenschaftliche Deputation für den öffentlichen Unterricht hatte ebenso vor Kurzem für „diesen Gegenstand“ „viel gethan“, indem sie mit ihrem Lehrplan von 1810, der in diesem KGABand auf den Seiten 108–173 zu finden ist, einen gegenüber den althergebrachten Lateinund Gelehrtenschulen veränderter Fächerkanon festlegte, mit dem erstmals ein mathematischer und naturwissenschaftlicher Unterricht verpflichtend wurde.

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beruht auf dem Auseinanderliegen der Behandlung der stetigen Größe (des Geometrischen) und der discreten (des Arithmetischen), die zweite auf dem Ineinandersein beider, dem unendlich Kleinen, und die dritte auf dem Historischen. Was jenes betrifft, so ist bei Behandlung der Arithmetik stets die Gefahr, daß sie zu sehr mechanisirt wird. Dies kömmt daher, weil man sich das Ziel steckt, mit großer Leichtigkeit zusammengesetzte Operationen zu lösen. Dies ist aber Nebensache, denn sie kommen selten im practischen Leben vor, außer wenn man, was ein Gemachtes sein soll, als ein positiv Empfangenes hat, und hier kann das Verfahren mechanisch sein, oder in der höhern Mathematik selbst, welche aber immer nur beim Allgemeinen stehen bleibt. Auch die Pestalozzische Methode bringt nur Fortschritt in die Fertigkeit mit kurzem Zeitverlust. Es kommt alles darauf an, die verschiedenen rein arithmetischen Operationen auf eine und dieselbe zu | reduciren, d. h. die Verhältnisse der Addition und Multiplication, der Subtraction und Division auf das Zählen nach verschiedenen Einheiten auf einander. Hat man dies klar gemacht, so ist diese ganze Operation fertig, und die Fertigkeit braucht dann nur als Gedächtnißübung getrieben zu werden. Dagegen muß an die Stelle der Uebung des Mechanischen treten als Vorbereitung auf das Geometrische die Algebra, die allgemeine Arithmetik, denn dies ist die Beziehung der discreten Größe auf die concrete. In dieser Hinsicht hat man jetzt einen richtigen Gang eingeschlagen, indem man die allgemeine Arithmetik nur als Vorübung angesehen hat zur wissenschaftlichen Geometrie. Hier beruht alles darauf, discrete Größen auf concrete zu reduciren. Was die Geometrie betrifft, so ist hier der Hauptpunct, daß bei aller Gewißheit des Einzelnen doch im Ganzen eine große Unklarheit beim gewöhnlichen Verfahren herrscht, daher die Gewißheit des Einzelnen doch kein Interesse erregt. Es ist auffallend, daß so wenige sie lieben. Dies kommt daher, weil man nicht die Fortschreitung von einem Satze zum andern mit derselben Klarheit sieht, wie freilich in der Zurückführung bei den Beweisen nachher geschieht. Indem das Theorem oder Problem selbst aufgestellt wird, so sieht der Schüler nicht, wohin er will, noch woher er kommt. Hier ist eine Methode nöthig, die alles | in einer größern Stetigkeit zeigt. Worauf kommt es aber bei der Geometrie an? Auf die verschiedenen Arten, den Raum zu begrenzen und dann auf die Reduction dieser Arten auf einander. In den ersten Grundzügen liegt hier schon der Fehler, z. B. in der Lehre von der Gleichheit und Ähnlichkeit. Dreiecke sind gleich, in so fern sie auf gleiche Weise entstanden sind, d. h. sie sind dann identisch, bei der Aehnlichkeit sind sie auch identisch, nur vergrößert. Die gegebenen Stücke lassen sich immer auf einander reduciren, und dies ist eben zu untersuchen und darzustellen. Gleichheit und Aehnlichkeit sind eigentlich eins und das-

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selbe. – Führt man nun die ganze Geometrie auf die bestimmten Begrenzungen des Raumes und auf die Reduction derselben unter einander zurück, so wird nichts da sein, wovon der Unterrichtende nicht wüßte, wie es dahin kommt. Denn alles, wohin man durch eine Construction kommen kann, muß schon in der Construction selbst liegen. Sobald jenes beides, das Arithmetische und Geometrische, richtig entwickelt ist, so liegt darin das Auflösen beider in einander, die höhere Mathematik. Das Historische gehört aber nur ins strengste wissenschaftliche Gebiet, und ist bei uns mit Recht aus dem Unterricht verwiesen. Fragen wir nun: was soll von diesem Unterricht in den Volksunterricht hinein? So ist die | gewöhnliche Praxis, daß das Volk nur in der Arithmetik unterrichtet wird, und zwar ist dies eine Vorübung zum Geschäftsleben. Freilich kann dies nicht anders sein, und es müßte mit uns ganz anders werden, wenn die Geometrie in den Volksunterricht aufgenommen werden sollte. Auf jeden Fall aber muß sie in die städtischen Volksschulen aufgenommen werden. Dieser Unterschied ist aber nur bei uns und unter unsern politischen Verhältnissen ein constanter. Noch einiges über das Verhältniß der Theile des Unterrichts zu einander. – Es zeigt sich darin ein verschiedener Character unter verschiedenen Völkern, daß auf eins von den drei großen Gebieten ein größerer Werth gelegt wird, je nachdem man die Sache nicht nur als Geschäft, sondern auch als Bildungsmittel betrachtet. So sagt man von der Mathematik, sie mache logischer als der Sprachunterricht. Eben so einseitig urtheilt man vom Naturunterricht. Das Wahre ist, daß alle drei gleichgeltende Gebiete sind. Solche verschiedene Ansichten müssen aber Statt finden, und hier muß es eine Ausgleichung geben. Diese findet sich im Großen darin, daß jene Ansichten wechseln. Der Nachtheil der Einseitigkeit kann nur gehoben werden, entweder wenn eine oberste Leitung da ist, die sich von aller Einseitigkeit frei hält, oder wenn im | pädagogischen Verfahren eine solche Freiheit herrscht, daß sich die Verschiedenheiten ausgleichen. Beides ist schwer, darum muß beides neben einander bestehn. Das letzte für sich ist dem Character der großen Oeffentlichkeit des Unterrichts entgegen, denn ist er ein Theil des politischen Lebens, so kann eine solche Freiheit nicht herrschen. Wird aber der Unterricht von oben geordnet, so läßt sich von einer gutgeordneten Akademie viel dafür erwarten, aber nicht von einer Staatsbehörde, denn hier kann nicht eine reine 22 von] an 34 Gemeint ist die „Freiheit“ „im pädagogischen Verfahren“.

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Organisation sein. Eben so war es nachtheilig, daß der Unterricht eine Zeit lang der Sache nach unter der Kirche stand, denn so wurde er nur philologisch. Eine freie pädagogische Thätigkeit ist also ein nothwendiges Ausgleichungsmittel, und so ergänzen z. B. die Privatinstitute das Mangelhafte. Dasselbe gilt von der Seite der Methode, welche übereinstimmen muß, was jedoch oft bei der häufigen Versetzung der Lehrer pp unmöglich ist. Jede von oben her gegebene Methode ist aber nicht vollkommen, sondern es muß ein freies Suchen geben, und daher sind Privatinstitute unentbehrlich. Auch muß es nationale Einseitigkeiten im Material und in der Methode geben, und so ist es heilsam, daß sich auch solche Erziehungsanstalten bilden, die sich auf die Verschiedenheit der Nationen nicht beziehn, z. B. in der Schweiz. | In dem angelegten Schema ist noch die religiöse Bildung übrig als die dritte zur sittlichen und wissenschaftlichen. Dieser Gegenstand kann am wenigsten die bestimmte Form der Erziehung annehmen, sondern alles beruht hier auf der unmittelbaren Einwirkung. Was in den Unterricht gehört, theilt sich in das Geschichtliche, das sich auf das Dasein der christlichen Kirche bezieht, und in das Katechetische, welches in das Gebiet der praktischen Theologie gehört. Aber auch dies ist für die religiöse Bildung nur untergeordnet, weil das Religiöse die innere Gemüthserregung, nicht der Gedanke ist. Hier kommt es darauf an, daß das Verhältniß zwischen dem Sittlichen und Religiösen aufgefaßt werde. Das Sittliche ruht auf dem Bewußtsein des Menschen von der Identität des Einzelnen und der Gattung, die sich im Nationalen spiegelt. Das Religiöse beruht auf dem Bewußtsein gewordenen Verhältnisse des Menschen zur ursprünglichen Quelle alles Lebens und Seins. Wenn dieses nicht etwas der menschlichen Natur Wesentliches ist, und als ein solches angesehen wird, so ist es ein Trug, und jede Ansicht, als ob man das Religiöse auf einer Seite zu guten Zwekken benutzen könne, auf der andern als etwas falsches betrachten müsse, ist ganz verkehrt. Das Bewußtsein des Menschen von seinen Verhältnissen zum höchsten Wesen muß vorausgesetzt werden, wenn über Erziehung | gehandelt werden soll. Denn dieses Bewußtsein muß doch auch entwickelt werden. Auf welche Weise aber? Weil das Religiöse rein innerlich ist, so kann dies nur auf eine formlose Weise durch das Innerste des Lebens geschehen und in den vertrautesten Verhältnissen. Es giebt also kein pädagogisches Mittel als das unmittelbare Verhältniß der Aeltern und derer, die ihre Stelle vertreten, zur Jugend, um auf die Erweckung des religiösen Elements zu wirken. Es muß aber im Menschen selbst entstehn, und zwar durch das gesellige Leben, indem er hier das religiöse Princip walten sieht. Aber auch dann wird es sich in dem Maße entwickeln, wie es in der Familie herrschend ist. Will man aber religiöse Uebungen zu einem pädagogischen Zweck

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im Hause selbst einrichten, so wird auch dies nur das mechanisiren, was am wenigsten mechanisirt werden kann. Wahrheit ist auch hier die erste Basis. Das Religiöse kann nur in zwei Formen zum Bewußtsein im Menschen kommen. Es unterscheiden sich im Leben Momente, wo die Entwickelung des Religiösen als gehemmt gefühlt wird, und die Unterscheidung dieser Momente ist das Gefühl der Frömmigkeit im Menschen selbst. – Fühlt der Mensch, er sei zuweilen nicht fähig, zum religiösen Bewußtsein aufzusteigen, so ist dies die Anlage zur | Frömmigkeit. Hierbei ist aber nichts zu machen, weil es das freiste innere Leben selbst ist, denn es ist die Rückwirkung des Bewußtseins auf sich selbst. Dieses Bewußtsein gehörig zu fixiren, ist nur das Werk des Erziehers. Man hat hier nur einen Punct als schwierig gefunden, und er ist der Mittelpunct. Sobald nämlich dieses Gefühl erwacht ist, so muß auch das Gefühl erwacht sein, daß dies etwas allgemein Menschliches ist. Nun ist keine religiöse Mittheilung möglich, als wenn diese Voraussetzung zugegeben wird, und auch die Erwachsenen gegen die Jugend bekennen, daß in ihnen ein solcher Gegensatz in der Erhebungsfähigkeit zum Religiösen besteht, und das scheint die Autorität der Erwachsenen zu schwächen, denn jenes sind die sündlichen Momente des Lebens. Die Jugend nimmt bald diese Zustände auch wahr, und richtet über sie auf eine Weise, wie dies in den andern beiden Gebieten gar nicht möglich ist. Das religiöse Gebiet ist aber das Gebiet der höchsten Gleichsetzung, weil vor Gott alle gleich sind, und sobald man hier nicht der reinen Wahrheit treu bleibt, so verdirbt man das innerste Gebiet des Einwirkens auf die Jugend, und dann geht eins mit dem andern verloren. Daher der Vorschlag, daß die Aeltern gar kein religiöses Leben mit den Kindern haben sollen, sondern nur die Geistlichen. So aber verliert das | Leben der Aeltern selbst den höchsten Character, wenn man das Religiöse daraus entfernen will. Hier ist aber nichts als das reine Zusammenleben das einzige. Wo das einen gottesdienstlichen Character hat, treten diese Schwierigkeiten nicht ein, und die gemeinschaftlichen religiösen Sammlungen sind etwas Heilsames und Schönes, aber nur, wenn sie innere Wahrheit im häuslichen Leben selbst haben. So aber wird die Aufmerksamkeit der Jugend auf den religiösen Gehalt der sie Leitenden rege, und die Achtung kann hier leicht verringert werden, je mehr Werth die Jugend selbst auf das Religiöse legt. Dies ist eine Schwierig2 wenigsten] wenigstens 13–16 Vgl. Göttinger Nachschrift, S. 97v: „So wie das Gefühl erwacht ist, ist auch das Bewußtsein erwacht, daß dieß in allen Menschen dasselbe sein muß. Es ist keine andere Entwicklung möglich, als daß diese Voraussetzung zugegeben wird.“

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keit der Sache, aber nicht der Behandlung. Denn wenn ein wirklich religiöses Leben in der Familie ist, so ist desto weniger zu besorgen, daß selbst jene sündlichen Momente, wenn nur im Ganzen ein religiöser Sinn herrscht, eine Verringerung der religiösen Achtung hervorbringen. So ist diese Seite diejenige, welche schon im Anfange der Erziehung das Ende in sich trägt, weil sie am meisten den Character der Gleichsetzung hat. Wenn wir nun von hier aus auf manche schwierigen Puncte im Vorigen zurückblicken, so können sich auf diese Weise die Bande des Gehorsams und der Unterwerfung von selbst lösen, und so wird die Selbstständigkeit auf der religiösen Entwickelung ruhen, auf der Gleichsetzung der Erzogenen und Erziehenden | vor Gott. So ist dies der rechte Schlüssel zu allem Uebrigen und der richtige Uebergang aus dem Zustande der Erziehung zur Selbstständigkeit, denn so wird der ganze Mensch seinem eigenen Bewußtsein von Gott untergeordnet.

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Manuskript Schleiermachers in sekundärer Überlieferung; SW III/9 (1849), S. 57 (Fußnote), S. 258–260 (Fußnote) In Fußnoten: Platz (1871), (1876), (1902), (1968). Ehrhardt/Virmond (2008); Winkler/Brachmann (2000), Bd. 1 Textgrundlage: „handschriftlich von Schleiermacher“ beschriebene Zettel (SW III/9, S. IX)

Schade wenn die Erziehung nach gleichmachen strebt und nicht zu Stande kommt; Schade wenn sie zu Stande kommt, besonders auch in Bezug auf die niederen Verhältnisse. Wenn die Erziehung die Differenz als zufälliges Product äußerer Verhältnisse und absichtlicher Einwirkungen betrachtet, und entgegen wirken will: würde sie entweder nicht immer siegen, oder die niederen Stellen würden leer stehen.

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Der Anfangspunkt ist die Geburt; Umfang der Kinderjahre; Grenze erstes Eintreten der Geschlechtsdifferenz in das Bewußtsein durch gegenseitiges Abstoßen; Charakter propädeutisch zur Bildung des Gehorsams, | der in der zweiten am meisten regiert und in der dritten dem Willen Plaz macht. – Mehr auf die Erhaltung gerichtet, als auf die Entwikklung. – Von Natur durch den Instinct an das Haus gewiesen. Uebergang durch Ammen in die französische Art, von da in die platonische. Der Grund der lezteren in der Voraussezung angeborner Stufendifferenz, die aber nicht angeerbt ist. Allein das Verhältniß der Intelligenz zur Sinnlichkeit entwikkelt sich noch nicht, sondern nur organische Talente. Und wenn es sich auch entwikkelte, könnte es nicht erkannt werden. Auch kann der Naturzusammenhang zwischen Aeltern und Kindern nicht durch das vaterländische Gemeingefühl ersezt werden. Der Uebergang aber zur öffentlichen Erziehung muß vorbereitet werden, welches ohne Störung nur geschehen kann bei gehöriger Durchdringung des häuslichen und öffentlichen Lebens. – Die Beziehung auf die drei Hauptrichtungen ist noch sehr be-

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1–6 Vgl. 10. Vorlesungsstunde, oben S. 373 7–22 Vgl. 36. Vorlesungsstunde, oben S. 454–456 9–10 Die zweite und die dritte Periode der Erziehung sind gemeint. 12–13 Vgl. SW III/9, S. 712: „ […] wie z. B. bei den gebildeteren aber corrumpirten Klassen des französischen Volkes, bei denen die Kinder noch während des Säugens aus dem Hause gegeben werden. Da ist gar kein Interesse an der Erziehung.“ 13 Vgl. Platon: Politeia, 5. Buch, besonders 460; Opera 7,25–26; Werke 4,400–403 22–34 Vgl. 37. Vorlesungsstunde, oben S. 456–459 22 Die „drei Hauptrichtungen“ der Erziehung widmen sich der Vorbereitung des Zöglings auf das Leben im Staat, der Kirche und der Wissenschaft. Letztere beschreibt Schleiermacher zunächst als das

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schränkt. Es kann noch im eigentlichen Sinn weder religiöse noch bürgerliche Erziehung geben. Aber doch entwikkelt sich das religiöse Bewußtsein, wenn es in der Familie regiert; und je mehr sich in dieser der Volkscharakter durch die Sitte spiegelt, leben sich auch die Kinder hinein nur unbewußt. Auch eigentliche Erziehung zum Erkennen giebt es noch nicht, wiewol die Fortschritte hier am größten sind und größer als je hernach. Der Charakter ist also so zu fixiren. Die positive Seite ist ursprünglich auf die Erhaltung dessen gerichtet was entwikkelt ist, woraus die weitere Entwikklung von selbst erfolgt und also die Sorgfalt für die Erhaltung sich steigert. Die Entwikklung ist ein Werk des Lebens, und die unterstützenden absichtlichen | Einwirkungen treten nur einzeln auf, in Masse bleiben sie der zweiten Periode aufbewahrt. Daher gehört auch in diese erst der positive Gehorsam. Der Gehorsam gegen Verbote ist aber auch hier wesentlich, da den Menschen der Instinct sehr bald verläßt. – Da die Entwikklung bis zum Ende der Kinderjahre so bedeutend ist, müssen wir uns die Periode theilen, da schwerlich alles nach Einer Regel kann behandelt werden. Einen Abschnitt dazu giebt a. Sprachfertigkeit. Freilich nicht bestimmt zu begrenzen, da die Gewalt über die Sprache das ganze Leben hindurch zunimmt. Der wesentliche Punkt aber ist, daß sie durch die Sprache der Begriffe fähig werden und dadurch der Gehorsam möglich ist. (Wiewol er leider immer der falschen Dialektik der Kinder bloßgestellt bleibt.) Es kann also eine wesentlich verschiedene Behandlung eintreten in jedem Gebiete wo sie Begriffe erhalten. b. Entwikklung des Assimilationsprocesses; der Zeit nach ziemlich mit jenem zusammenfallend, bedingt durch die Zahnbildung. Erst wenn ein Kind die gewöhnlichen menschlichen Nahrungsmittel vertragen kann, ist sein äußeres Leben in selbständige Berührung mit der ganzen Natur gebracht. Für diesen ersten Abschnitt haben wir vornehmlich zwei Fragen zu beantworten, 1) Was ist Gegenstand der Erhaltung? und 2) was vertritt die Stelle des Gehorsams und bereitet ihn vor? ad 1. der Geist verbirgt sich noch. Verstand ist an die Sprache gebunden. Liebe zeigt sich zuerst. Außerdem nur die durch die Organe bedingten Sinne.

Gebiet der Sprache in ihrem Zusammenhang mit dem Denken. Als vierte „Hauptrichtung“ kommt das gesellige Leben hinzu, das Schleiermacher zum Zeitpunkt seiner Pädagogik-Vorlesung von 1820/21 als „Supplement“ zum Gebiet der Sprache begreift (vgl. 6. Vorlesungsstunde, oben S. 362–363).

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Die Abbildung zeigt eine Seite der Nachschrift Sprüngli 1826 (Zentralbibliothek Zürich, Ms ZV 386, S. 17), unten S. 580, 8–583, 30

Textzeuge: Texteditionen: Besonderheiten:

Überarbeitete Mitschrift des Hörers Jacob Sprüngli; seit 1998 Zentralbibliothek Zürich als Depot des Instituts für Hermeneutik der Universität Zürich: Ms Z V 386 Keine Derzeit einzige handschriftliche Überlieferung der Pädagogikvorlesung von 1826

Pädagogik vorgetragen von Prof. Schleiermacher. 1826 |

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Einleitung. Pädagogik. Professor Schleiermacher Pädagogik). Wenn wir von E r zi e h u n g reden, kann man [dies] als ein bekanntes Wort voraus setzen. Als theoretisch: Ursprünglich erziehen die E l t e r n, die nicht nach T h e o r i e n erziehen, und die auch nicht a l l e i n erziehen, es ist das Erziehen bey ihnen vom übrigen nicht getheilt, mehrere sind da die ihnen beym Erziehen helfen und da bezieht man dann die Erziehungslehre gewöhnlich auf die welche den Eltern in der häuslichen Erziehung helfen, und es sich zum Beruf machen, dann öffentliche Anstalten, die auch einen Theil der Erziehung haben. Eine Lehre darüber scheint für diese nothwendig und ersprießlich zu seyn. E r z i e h u n g im engeren Sinne, und Unt erricht im engeren Sinn. Einwirkung auf Gesinnung. Das ganze Leben im Allgemeinen ist das erste, das andere Mittheilung von Kenntnissen.

5 Pädagogik Professor Schleiermacher] am Rand 14–17 Vgl. SW III/9, S. 3–4: „Für beide scheint offenbar eine Theorie darüber ersprießlich, ja nothwendig. Die Thätigkeit der einen bildet einen Gegensaz zu der der anderen. Denn was bei den ersteren mehr hervortritt, d a s E rz i e h e n i m e n g e r e n S i n n e oder die Entwikklung der Gesinnung und des ganzen geistigen Wesens im allgemeinen, das tritt bei den anderen mehr zurükk; und was wieder bei diesen mehr hervortritt, nämlich | d a s U n te r r i c h t en oder die Mittheilung von Kenntnissen und Fertigkeiten, das tritt mehr zurükk bei jenen. Für beides also sucht man in der Erziehungslehre eine Anweisung, eine Technik.“

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Jene Parallele nicht zu ziehen mit anderen Gegenständen der academischen Vorlesungen. Gewöhnlich ist ein großer Theil dieser Anwendung mit dem beschäftigt, was man Hauslehrer Klugheit nennt, Benehmen mit den Eltern darüber nur allgemeines anzugeben, das nicht viel hilft. Es entsteht hier die Frage, ob es nicht besser wäre wenn ein solches Verhältniß überhaupt [nicht] entstünde, es müßte Material genug in der Familie seyn um es für die öffentlichen Anstalten vorzubereiten, und die häusliche und öffentliche Erziehung müßten aufs engste zusammenhängen. Die Nothwendigkeit des Hofmeister Amtes hängt zusammen mit den Mängeln im politischen und häuslichen Leben. So lange dieses nothwendige Übel besteht, ist auch die Noth sehr groß, für einen jungen Mann muß ein Ersatz da seyn für die ihm mangelnde Erfahrung. Was aber da gegeben werden kann ist wieder nichts als Sammlung von Erfahrungen. Was die Anweisung für die Thätigkeit an ö f f e n t l i c h e n A n sta lten betrifft, wo der Unt e r r i c h t Hauptsache ist, da könnte man nicht sagen, daß es Zufall ist. Ein im Großen aber bestimmtes Gemeinwesen.. Aber wenn wir nun betrachten 1. wie das was der Erziehung im engeren Sinne an4–5 das nicht viel hilft] die nicht viel helfen

7 die] eine

2–9 Vgl. SW III/9, S. 4: „Und allerdings das Zusammentreten solcher Menschen mit den Aeltern, die ihnen fremd sind, muß eine Menge der schwierigsten Collisionen hervorbringen; weshalb denn auch ein großer Theil der Anweisungen in dem besteht, was man nach Analogie der Pastoralklugheit die Hauslehrerklugheit nennen könnte, Anweisungen, wie man sich in die Art der Aeltern zu fügen, oder von ihnen frei zu machen habe, und ähnlichem. Aber das sind Dinge in denen sich schwer rathen läßt; nur ganz allgemeine Säze kann man aufstellen, die nichts helfen, theils weil sie zu viele Ausnahmen erleiden, theils weil sie das schwerste, ihre Anwendung nämlich, nicht mitbestimmen. Wol also läßt sich fragen, ob es nicht viel besser wäre, wenn solche Verhältnisse gar nicht beständen, also ob nicht eigentlich in jeder Familie wie sie von Natur besteht, nicht nur in ethischer Hinsicht, sondern auch in Beziehung auf den Unterricht, das Material vorhanden sein müßte, die Kinder ohne fremde Hülfe aus dem älterlichen Hause den öffentlichen Unterrichtsanstalten wohl vorbereitet zuzuführen.“ 9– 11 Vgl. Schleiermachers Votum Nr. 17 vom 9. Juni 1810, oben S. 50–51 17–4 Vgl. SW III/9, S. 5: „Denn nicht leicht wird jemand ein so ausgebildetes Gemeinwesen denken können, wie unsere Staaten sind, ohne öffentliche Einrichtungen für die Unterweisung der Jugend; vielmehr scheint beides zusammen zu gehören. Aber wenn wir bedenken auf der einen Seite, daß was der Erziehung im engeren Sinne anheimfällt in solchen Anstalten, weil diese den Typus des Gemeinwesens an sich tragen, gewissermaßen schon durch Geseze muß bestimmt werden, Geseze aber vom Staate ausgehen: so scheint die Theorie dieser Erziehung in ein ganz anderes Gebiet zu fallen, nämlich in die Politik; wie denn auch Platon in seinem Buche vom Staate die Geseze für die Erziehung mit vorträgt.“ Vgl. Platon: Politeia, zur Erziehung besonders 376e–378e, 401b– 405a, 409d–412b, 423e–425c, 451c–468c, 535a–541b; Opera 6,246–250, 6,291–300, 6,308–314, 6,334–338, 7,7–42, 7,168–181; Werke 4,152–161 sowie zum Unterricht 514a–541b; Opera 7,127–181; Werke 4,554–637

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heimfällt, schon wieder durch Gesetze bestimmt und beschränkt seyn muß, von Gesetzen vom Staate her so fiele die Theorie in ein anderes Gebieth. So [bestimmt] Plato in seinem Staate die Gesetze des Unterrichts. Von den ältesten Zeiten her anerkannt, beydes gehört zusammen. Was nun aber den Unterricht betrifft, der hier in der Gesetzgebung fixirt werden kann, da hängt die Theorie über Mittheilung einer solchen Wi s s e n s c h af t und Kunst zu viel zusammen mit den Wissenschaften und der Kunst selbst. Dieser Theil die D ida kt ik oder Methodik ist mehr ein Anhang zu den Wissenschaften selbst, welche mitgetheilt werden sollen. Das Leben selbst wie es sich gestaltet spricht dafür. Wenn der Unterricht in einer Wissenschaft und Kunst so weit vollendet ist, daß man an die Mittheilung denken kann, so gibt es Anstalten wo die Methodik gelehrt, aber auch der Unterricht unmittelbar ausgetheilt wird[,] da schließt sich also die Technik an die Praxis an. Sehen wir den Gegenstand einmal von anderer Seite an. Das menschliche Geschlecht ist aus einzelnen Wesen, die einen Cyclus der Welt durchlaufen und wieder verschwinden. Auf solche Weise, daß wir uns immer die Zusammenlebenden theilen können in eine ä ltere und j ü n g e r e G e n e r at i o n . Allein wenn wir das menschliche Geschlecht betrachten in seinen größeren Massen, den Völkern, so sehen wir daß keins von beyden sich darinnen vollkommen gleich bleibt. Ob dieses Steigen und Sinken so gestaltet ist, daß wenn wir das Leben eines Volkes betrachten das Steigen die eine Hälfte einnimmt, das Sinken die andere oder ob sie abwechseln, müssen wir hier unentschieden lassen. Ein bedeutender Theil von der Thätigkeit jeder älteren Generation ist auf die jüngere gerichtet, und da wir diese Thätigkeit für unvollkommen halten, wenn sie nicht obigen Charakter trägt, so fragt man: Was will eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? und warum will sie und wie kann sie dem Zweck dieser Thätigkeit entsprechen? Auf diese Grundlagen vo n d e n Verhä lt nissen einer ä lt e r e n z u e i n e r j ü n ge r e n G e n e r at i o n müssen wir nun alles bauen, was in das Gebieth dieser Theorie fällt. Inndeß muß ich noch einmal darauf zurückkommen, weil es scheinen könnte, als sey diese Grundlage etwas Erschlichenes. Allerdings gibt es eine große Menge von Menschen die nur in dem Grade vollkommen sind, als sie dieß 24 das Steigen] das das Steigen

32 v o n ] Vo n

5–8 Vgl. SW III/9, S. 5: „Und was auf der anderen Seite den Unterricht betrifft, der hier das hervorragende ist und weniger abhängt von den Staatsgesezen: so steht die Theorie über denselben in viel zu genauer Verbindung mit Wissenschaft und Kunst, als daß sie von denselben könnte getrennt werden.“

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geübt haben, bey anderen findet dieß weniger statt. Ist unsere Voraussetzung also richtig, ist diese Thätigkeit nothwendig daß die Thätigkeit der älteren Generation auf die jüngere, die Erziehung in diesem Sinne ist, ist das Erziehen eine K u n s t , darf es eine Lehre darüber geben, oder ist es das nicht? Der Mensch ist ein Wesen welches den hinreichenden Grund seiner Entwicklung vom ersten Anfang seines Lebens bis zur Vollendung in sich trägt, das liegt im Begriff des Lebens und mehr noch im geistigen intellectuellen Leben. Wo ein solcher innerer Grund nicht ist sind auch keine inneren Veränderungen des Subjects oder nur solche von außen her, Veränderungen sind nur mechanischer Art. Nie aber schließt dieß aus daß solche Veränderungen des Lebens durch Äußeres nicht sollten auch modificirt werden. Die Gemeinschaft ist nichts anderes als der Begriff der Gattung und sagen wir daß die Summe aller Menschen zusammen die menschliche Gattung bildet, so haben wir mitgesagt daß die Entwicklung eines einzelnen Wesens bedingt ist durch die gleiche Natur in allen einzelnen Wesen und durch die Einwirkung der Einzelnen auf andere. Nun kann das Verhältniß zwischen beyden nähmlich zwischen dem inneren Entwicklungsprincip und den äußeren Einwirkungen verschieden gedacht werden. | Die Zustände des Lebens sind durch die Natur der einzelnen Wesen bestimmt und 2.) durch die Einwirkung der Wesen auf einander. Das Verhältniß zwischen diesen kann dem inneren Entwicklungsprincip und dem äußeren nach sehr verschieden gedacht werden. Je geringer man das anschlägt, was von den Einwirkungen abhängt, desto weniger ist sie als eine Kunst anzusehen, und eine Lehre darüber aufzustellen. Bey der jüngeren Generation ist die Einwirkung der älteren nicht so ein Minimum, daß man keine Theorie darüber aufstellen könnte. Das ist die erste Präliminärfrage. Wir haben hier zwey Wege uns diese zu beantworten ob der Mensch durch eigne Kräfte [wird,] der eine ist geschichtlich, der andere a priori aus Begriffen. Beym letzten über die Anknüpfungspunkte nicht einig, und eher nur aus der Erfahrung zu entscheiden. Daher der erste Weg der bessere. Wir finden frühe sehr ausgebildete Gemeinwesen, wo die Einwirkung der älteren auf die jüngere getrieben wird, ohne daß darüber eine Lehre 8 ein] kein 11 daß] daß nicht auch 26 weniger] eher 31–32 Beym letzten] Beym )ersten* 35 älteren auf die jüngere] jüngeren auf die ältere 11–12 Vgl. SW III/9, S. 7: „Darin liegt aber nicht, daß die Veränderungen eines lebendigen Wesens nicht dürften mitbestimmt und modificirt sein durch Einwirkungen von außen;“ 29 Vgl. SW III/9, S. 8: „Ist die Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere ein solches Minimum, daß es gar nicht der Mühe lohnt, sie als Kunst zu fassen? Das ist die erste Präliminarfrage.“

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aufgestellt wurde. In religiöser Hinsicht stehen wir in Zusammenhang mit dem J ü d i s c h e n Volk, in Wissenschaftlicher mit dem G riechis c h e n . Wenn wir auf das Jüdische Volk sehen, es war ein in sich gegründetes und hatte einen bestimmten Grad der menschlichen Entwicklung erreicht. Erziehung scheint da fast ganz in die Familie hineingefallen zu seyn, öffentliches nur in Beziehung auf das religiöse Gebieth. Aber nicht nach einem bestimmten Typus, Charakter, von einer Theorie ist nicht die Rede. Sehen wir auf die Griechen, so können wir den Punkt genau angeben, wo die Theorie anfängt. Die Erziehung schon von zartem Alter an öffentlich[,] hatte ihren Typus in jedem Staat und war in Verbindung mit der Gesetzgebung. Von einer Theorie finden wir eigentlich nichts früher als bey Plato. Wenn nun die Theorie viel später entsteht nach der Praxis, so ist der Charakter von Anfang der selbe, aber die Handlung ist bewußtlos, so lange die Theorie noch fehlt. Wenn wir also Völker finden auf verschiedenen Stuffen von Cultur, so können wir nichts sagen als [daß] die Thätigkeit denselben Werth hat aber noch nicht zum Bewußtseyn gekommen wenn keine Theorie noch da ist. Wenn wir uns den Menschen in Gedanken isoliren wollen, so isoliren wir das neugeborene Kind, es wird nicht bestehen können, das ist ein Übergewicht der äußeren Einwirkung über die innere Entwicklungskraft. Wie es mit der intellectuellen Entwicklung i s o l i r t gehen würde, darüber können wir uns schwerlich Antwort geben. Eine solche Differenz der Menschen eigentlich gar nicht zu denken. Die Differenz zwischen den einzelnen nie so groß, so daß [man] die Einwirkung des äußeren entbehren könnte. Menschen die durch Zufälle aus der menschlichen Gesellschaft entfernt worden seyen, beweisen wenig. Jede spätere Generation würde weit vor der früheren zurückbleiben wenn Eltern nicht auf die Kinder einwirken würden, und müßte ganz von vorn anfangen. Eigentlich muß jeder Mensch von vorn anfangen, aber es kommt darauf an wie bald er befördert wird. Dieß schließt sich also an die allgemeine sittliche Aufgabe an und rein ethischer Gegenstand ist. Je weniger wir diese beschleunigende Einwirkung als gering ansehen, desto mehr ist sie es[;] je mehr Geistiges in einer Generation realisirt ist desto weniger darf man sie dem Ungefähren überlassen. Parallele: Wenn wir fragen, 25 entbehren] enbehren

34 ist] ist und

7–8 Vgl. SW III/9, S. 8–9: „Daß sie dennoch einem sehr bestimmten Typus folgte, ist nicht zu bezweifeln; | aber von einer Theorie derselben war noch gar nicht die Rede.“ 11–12 Vgl. Platon: besonders Politeia und Nomoi 12–15 Vgl. SW III/9, S. 9: „Großes Gewicht also wurde bei diesen Völkern auf die äußeren Einwirkungen gelegt, und wenn die Theorie auch erst später entstand: so fehlte der erziehenden Thätigkeit doch nicht der Charakter der Kunst.“

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wie lange diese Einwirkung der älteren auf die jüngere Generation fortgeht, so können wir eigentlich keine bestimmten G renzen ziehen; es gibt eine Zeit, da beyde Gemeinschaften zu Einem Ziel zusammen wirken, indem die Einwirkung der älteren Generation sich mindert, und die der jüngeren sich mehrt, da hat Erziehung aufgehört. Der Staat besteht nur durch menschliche Handlungen fort, davon er ein Ganzes ist, soll er nun derselbe bleiben, so müssen auch diese Handlungen ihrem Typus nach gleich bleiben mit steigender Vollkommenheit. Dieses gemeinsame Leben ist so bedeutend, daß von einer gewissen Ansicht aus die gesammte sittliche Thätigkeit des Menschen darinn aufgeht. Theilen wir auch diese Ansicht nicht, so finden wir erklärlich, daß es nicht dem Ungefähren überlassen wird sondern daß über die richtige Gestaltung des gemeinsamen Lebens es eine Theorie gibt, welche die Einrichtung lehre, wie der Staat in der Einwirkung der Generationen fortbesteht und sich steigere. Beyde Theorien greifen in einander. (Ethik Politik Pädagogik) P o lit ik von dem Inneinandergreifen der Generationen in einem Staate, so muß die Pä da g og ik eng mit ihr verbunden seyn, als ausgebildete Wissenschaft muß sie neben ihr bestehen. Es läßt sich was vom Einzelnen zum Einzelnen geschieht unmöglich von dem was im Gesammtleben geschieht von einander trennen. Hier der Standpunkt für unseren hier zu behandelnden Gegenstand, r e i n m i t d e r E t h i k zusa m m enhä ng ende Wiss e n s c h a f t c o o r d i n i r t d e r P o l i t i k . Was aber das betrifft, daß es über das Verhältniß dieser zwey gegen einander zwey verschiedene Ansichten gibt, so beruht dieß auf dem Unterschied zwischen unserer als der christlichen Zeit und der heidnischen. | Unsere christliche Zeit gegenüber der frühern heidnischen macht den Unterschied in der Ansicht wegen dieser beyden Wissenschaften. Wir können die eine der anderen nicht subordiniren, denn Staat und Kirche müssen neben einander bestehen. Und ebenso nothwendig ist es daß das Gesammtleben in der Kirche von einer Generation auf die andere fortbestehe, wie das Gesammtleben im Staate. Nun ist die Frage: Haben wir die Aufgabe selbst schon festgestellt? nur im Allgemeinen, der Form nach, woraus wir selbst noch nicht die Regel ent4 wirken] wirken ist

11 nicht] nicht theilen

27–28 Vgl. SW III/9, S. 13: „Unsere Zeit, die christliche, kennt außer dem gemeinsamen Leben im Staate noch das Leben in der Kirche.“ 32–1 Vgl. SW III/9, S. 14: „Um aber die nähere Bestimmung der Aufgabe zu finden und das Princip zur Entwikklung der Theorie, haben wir die Erziehung zu betrachten als einen Proceß, der von einem Anfangspunkt bis zu einem Endpunkt fortschreitet, und bei dem die Beschaffenheit der Einwirkung einerseits von dem Anfangspunkt, andererseits von dem Endpunkt abhängig ist;“

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wickeln könnten. Welches die Einwirkung der älteren Generation auf die spätere seyn soll davon wissen wir noch nichts. Es ist nun nicht einmal damit genug, wir müssen noch fragen: Was kann dann daraus bewirkt werden? Indem nähmlich nun unsere Betrachtungen theoretisch im engeren Sinne sind, so ist es nothwendig, daß man wisse, was kann denn gemacht werden. Was gemacht werden soll muß auch gemacht werden k ö n n e n, wir müssen auf eine Zeit zurück kommen, wo diese Fragen in Eins zusammen fallen, das kann nur in der Ethik geschehen, welche hier vorausgesetzt wird. Wenn es ein allgemein anerkanntes ethisches System gäbe, so könnten wir nur Lemmata als erste Principien für unsere Theorie entlehnen. Lemma in einer untergeordneten Wissenschaft ist ein Satz aus einer höheren her. Wir müssen diese beyden Fragen von einander sondern. Für beyde Fragen mit bekannten Ausdrücken sich zu verständigen scheint es sehr leicht. Man könnte auf die 1. Frage was soll bewirkt werden antworten die S i t t l i c h k e i t im weitesten Sinne des Wortes und auf die zweyte[,] was kann[,] eben das selbe so weit in den Gesetzen der allmähligen Fortschreitung der menschlichen Natur liegt. Aber so würden wir die Frage nur weiter hinausschieben. Unsere Aufgabe hat auch ihre äuß e r e Seite. Ebenso müssen wir fragen: Wann f ä ng t diese Einwirkung a n und wann h ö r t s i e au f ? Es ist auf der einen Seite sehr leicht eine Antwort zu geben, aber merkt man dann auch, daß sie eben noch keine ist? Jeder ist geneigt auf die 1. zu antworten, wenn das Leben anfängt, wenn ein Kind geboren wird fängt das Leben an, aber nicht das menschliche, die nicht mit unserer Aufgabe zusammenhängt, die wir ja bloß auf das Geistige gestellt haben. Wann fängt also das menschliche Leben an, [kann] die Erziehung erst statt finden? – So ist es wenn wir nach dem Ende der Einwirkung der älteren Generation fragen. Eigentlich niemals, werden wir vielleicht sagen[;] das menschliche Leben ist aus diesen beyden Factoren beständig zusammengesetzt. Also sagen wir es hört erst auf mit dem Leben zugleich. Jeder einzelne kann durch andere sittlich gehemmt oder gefördert werden. Wir werden also sagen, sie hört erst auf mit dem Leben zugleich. Zu 4 werden?] werden.

23 ist?] ist.

26 haben] hat

28 Ende] Ende fragen

18–19 Vgl. SW III/9, S. 15: „Aber auf diese Weise würde doch nicht eine Einigung hervorgebracht sein, und wir müßten uns erst wieder darüber verständigen, was die Sittlichkeit sei, und welches die Geseze der Fortschreitung; und dies würde uns immer weiter führen und neue Fragen hervorrufen.“ 23–26 Vgl. SW III/9, S. 16–17: „Wir würden daher sagen müssen, Wenn das menschliche Leben anfängt, d. h. wenn es nicht mehr ein bloß animalisches ist, sondern durch Aeußerung der Intelligenz als ein menschliches sich bekundet, dann fängt die Erziehung an; denn unsere Einwirkung | soll ja ganz geistig sein.“

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dieser Ansicht wird ein anderer sagen: die Einwirkung dauert zwar fort, aber die Einwirkung wird einmal keine bildende mehr seyn. Der Mensch soll schon vollkommen gerüstet seyn zu der jedesmaligen Mitwirkung oder Gegenwirkung von innen heraus, ein Theil des sittlichen Lebens bleibt immer für jeden wenn einer auf den anderen einwirkt, aber sie gehören nicht mehr in unsere Theorie hinein. Wenn wir unsere Theorie gehörig beschränken wollen, so müssen wir annehmen, die eigentlich erziehende Einwirkung hat ein früheres Ende als die sittliche Einwirkung überhaupt. Wenn wir von dieser bestimmten Ansicht ausgehen, so fragen wir nach dem Punkt, wo Erziehung aufhört. Wenn der Mensch m ü n d i g ist könnten wir sagen. Politisch wird das Wort so gebraucht, daß ihm eine Selbstthätigkeit in Beziehung auf den Staat zukommt. Aber da wir gegenwärtig die Pädagogik der Politik nicht unterordnen können, so können wir diese Ansicht auch nicht annehmen. Betrachten wir den einzelnen nun in der kirchlichen Gemeinschaft so gibt es da eben einen solchen Punkt, der aber nicht mit diesem zusammentrifft; das Element, das Hauswesen beydes zeigt uns, statt des festen Punktes findet sich da ein a llmä hlig e s Verschw ind e n, die älterliche Autorität zieht sich allmählig zurück, und hat auf das Moralische keine solche Einwirkung mehr. So haben wir in Beziehung auf die äußere Seite unserer Aufgabe ebenfalls noch nichts ins Reine gebracht. | D a r f nun eine solche Thätigkeit darauf ausgehen aus einem Menschen zu machen, was man will, und ka nn sie es? Das erste geht hervor aus dem allgemeinen Unterschied zwischen Guten und Bösen den man voraussetzen darf. Das Böse finden wir aber doch an dem Menschen und müssen es ansehen als aus seinem Inneren dann von den Einwirkungen von außen entstanden. Hier wäre eine andere Aufgabe zu stellen. Wir müßten die Einwirkungen von außen so einrichten daß das Böse keinen Einfluß hätte vielmehr Gegenwirkung stattfände. Ob sie aus dem Menschen machen könne was sie will, begrenzen wir nur durch die Antwort auf die erste Frage. Wenn wir aber auch alles aufzählen was nicht in dem Menschen seyn soll, kommen wir doch auf das große Feld der menschlichen Verschiedenheiten. 9 überhaupt.] als Wiederholung ohne Einfügungszeichen am Rand: Erziehung hat ein früheres Ende als die sittliche Einwirkung. 15 annehmen] annehmen können 24 es?] es. 32 die Antwort auf die erste Frage] die erste Antwort 15–20 Vgl. SW III/9, S. 18: „Und wenn wir auf die Wurzel und das gemeinschaftliche Element der bürgerlichen und kirchlichen Gemeinschaft, das Hauswesen, zurükkgehen: so finden wir statt des festen Punktes ein allmähliges Verschwinden. Die älterliche Auctorität nimmt allmählig ab, bleibt aber noch von Einfluß nach der Mündigkeitserklärung. Auf diesem Punkt hört nicht gleich aller kindlicher Gehorsam auf.“

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Natürliche Anlagen des Menschen. Hier kommen wir auf eine entgegengesetzte Ansicht über dieselbige Sache. Man sagt: was zur menschlichen Natur gehört muß auch in jedem einzelnen Menschen seyn, er wäre [sonst] schon der Natur nach verstümmelt. In der l. Zeit des Lebens findet auch eine absichtliche Thätigkeit des Menschen selbst nicht statt und so behauptet man leicht, es sey die Schuld der Erziehung, wenn gewisse Thätigkeiten des Menschen selbst nicht zum Vorschein kommen. Führen wir dieß zum Extrem, so halten [wir es] als Al l m a c h t d e r E r z i e h u n g. In einem gewissen Sinne ist es wahr. Russische Armee. Elterliche Bestimmung eines Kindes zu einer künstlerischen Virtuosität. Hier wird alles dunkler und streitiger. Wenn wir das andere Extrem aufstellen, daß etwas Freventliches darinn sey, eine solche Willkühr an dem Menschen auszuüben, so würden wir auf eine Beschränktheit der Erziehung fallen, in der Formel: „Man kann aus einem Menschen nichts anderes machen als in dem Verhältniß in dem es ursprünglich in ihm angelegt ist.“ Jede Thätigkeit im einzelnen muß in einem gewissen Maße entwickelt werden können. Die Besonderheit jedes Menschen [ist] im gewissen Verhältniß, wie die inneren Gründe dieser Thätigkeiten gegen einander stehen, daß dieses Verhältniß unveränderlich sey. Wenn wir nun entscheiden wollten, so würden wir auf das psychologische und physiologische Gebieth kommen und sagen: So wie wir die Ethik bey der Pädagogik voraussetzen so die Anthropologie in so fern in ihr die physische Voraussetzung bestimmt seyn muß. Streitige Gegenstände in der Anthropologie. Auf dem Gebieth der angewandten Disciplin läßt sich deßwegen nichts anfangen weil die ersten Zustände des Menschen der Beobachtung entgehen. Ob in dem 1. Lebensanfange alle Menschen in Beziehung auf ihre Entwicklung gleich sind, so daß aus allen alles gemacht werden kann, oder ob jeder Mensch eine natürliche Anlage mitbringe, das wäre die Frage, und diese rein auf dem Gebieth der Anthropologie zu entscheiden ist noch nicht gelungen. Wir können nicht anders als ungenau bleiben, wenn wir nichts hierüber festsetzen, was aus dem einen und anderen folgt. Das Extrem der Allmacht der Pädagogik – was würde daraus für die Pädagogik folgen? Etwas ist hier immer etwas Unbestimmtes: Es ist nicht das gleiche wenn man sagt: Man kann jede 2 Man sagt:] Man sagt: Man sagt, 11 Vgl. SW III/9, S. 21: „Es wird behauptet, es könne – das organische vorausgesezt – wenn es der zwekkmäßigen Behandlung nicht ermangele, nicht fehlen daß ein Kind ein Musiker, Maler werde. Wenn man fragt, auch Dichter? so ist die Sache schon dunkler und streitiger, und man glaubt, das liege noch zu entfernt aus dem Bereiche der Kraft des Kindes.“ 17–20 Vgl. SW III/9, S. 22: „Die menschliche Natur ist in allen gleich; dagegen streitet nicht daß die Besonderheit der Menschen eine verschiedene ist.“

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Anlage in jedem Menschen zu jedem Grade der Vollkommenheit bringen, aber nur mit Hi n t an s e t z u n g der A nde ren oder ohne den letzten Zusatz. – Das erste angenommen fragen wir: Was soll den Erzieher bestimmen, welche Anlage er den anderen aufopfern soll? Hier finden wir keinen statthaften Entscheidungsgrund; denn wenn von der Rücksicht auf den Gesammtzustand der Gesellschaft die Rede ist, so kann da keine Combination statt finden wenn nicht der Erzieher zugleich der Regent ist. Der einzelne Erzieher kann dadurch nicht geleitet werden. Seiner reinen Vorliebe für dieses oder jenes [folgend], dann macht er den den er erzieht, zu einem Anhange von sich selbst, dieß findet einen ethischen Gegensatz[,] das gehört zu dem was nicht seyn darf. Hier würde die Erziehung auf Null gebracht werden, weil es an einem Entscheidungsgrund fehlt was man wollen soll. Wenn wir das Andere annehmen, daß wir ohne Nachtheil anderer Anlagen alle bis auf einen gewissen Punkt entwickeln. Es kommt dasselbe heraus. Will man aber alle ohne Ausnahme zu einer gewissen Vollkommenheit pädagogisch entwickeln, oder nur einige pädagogisch die anderen sich selbst überlassen, so liegt im letzten ein Widerspruch. Dann bringt dieß einer bestimmten Seite in dem Menschen keinen Nachtheil wenn die pädagogische Einwirkung nicht darauf gelenkt so auch auf der anderen Seite keinen Nachtheil wenn sie darauf gelenkt wird. Nimmt man das andere an, es soll die pädagogische Thätigkeit auf alle gerichtet werden, so hieße das Qs. v.R also es kann aus jedem Menschen die Virtuosität auf alle Seiten hin entwickelt werden, man kann aus jedem Menschen ein maximum machen, das müßte wieder eine gewisse absolut angeborne Gleichheit der Anlagen aller voraussetzen, welches wir kein Recht haben anzunehmen denn sonst müßte ein verschiedenes Verhältniß der zwey Factoren des innern und äußern eintreten. Das andere Extrem vom bestimmten Verhältniß der Anlagen. Daß jeder Mensch eine Verschiedenheit des Verhältnisses der Anlagen mitbringe. Die Wirksamkeit der Pädagogik beschränkt. Es kann nun nicht am Bestimmungsgrund fehlen. Aber dieses Verhältniß muß ich erst kennen, ehe ich die pädagogische Regel darnach einrichten kann. Passivität. Wenn dieses Verhältniß mit Sicherheit erkannt werden kann, so ist die Zeit der pädagogischen Bildsamkeit des Menschen größtentheils vorüber. Wenn es eine Pädagogik geben soll, muß es aber auch eine Bestimmung geben wodurch diese zwey Extreme gebunden werden. Aber wo soll diese herkommen? Wir können dabey nur an das was wirklich gegeben ist anknüpfen auf eine so theoretische Weise, wenn wir eine Theorie bilden wollen, da ist uns die Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzung gegeben. Die Päd3 Was] Was Was

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agogik muß sich auf diese Unentschiedenheit beziehen. So folgt der Canon: Sie muß sich so einrichten, daß sie nicht fehlt wenn das eine wahr ist und nicht wenn das andere wahr ist. Später zu entwickeln. Hier genügt, daß wir eine solche unbestimmte Formel haben. Wenn wir von der Voraussetzung ausgehen der A l lma cht der P ä da g og ik, so ist doch der Mensch ein lebendiges mit ursprünglicher Selbstthätigkeit in ihm, dieß muß sich auf alles Wesentliche der menschlichen Natur beziehen. Nun würde immer die pädagogische Einwirkung in Beziehung hierauf eine zwiefache Gestalt haben, einmal die Selbstthätigkeit hervorzulocken und wenn sie da ist zu leiten. Das erste bezöge sich auf die Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzung und gehört mit zu dem wesentlichen der Erziehung erregend zu wirken was in der menschlichen Natur ist dann aber auch was in die Erscheinung tritt leitend zu behandeln. Auf diesem Punkt drängen sich uns verschiedene Fragen auf: | Wenn es so steht, um die anthropologischen Voraussetzungen: welchen Grad von Allgemeinheit kann unsere Theorie haben, wird es möglich seyn eine Theorie einer allgemein gültigen Pädagogik aufzustellen für alle Zeiten und für alle Räume? Diese Frage muß ich verneinen und der Grund der Verneinung kann nicht ohne die Beantwortung der anderen Frage angegeben werden. Sie hängt zusammen mit der Frage: Was soll denn unsere Theorie für eine Gestalt haben? Rein empirisch, so daß alle Maximen Resultate der Erfahrung sind, oder soll sie speculativ seyn, so daß unsere Regeln alle aus dem Begriff der menschlichen Natur abgeleitet sind? Wenn wir das letztere bejahen könnten, so können auch die erste bejahen, so müßte sie auch allgemein gültig seyn. Wenn aber das erste der Fall wäre, dann wäre die Pädagogik etwas ganz oder absolut Specielles. Dieses letzte müßte ich 18–19 aufzustellen] auszustellen

24 alle] alles

25–1 Vgl. SW III/9, S. 26: „Ist aber das erste wahr, daß alle Maximen nur Resultate der Erfahrung sind: so wäre die Pädagogik etwas absolut specielles, und müßte bei jedem andern gegebenen verschieden sein und fortwährend sich ändern. Wenn wir die erste Frage läugneten: so wollen wir dadurch die zweite nicht bejahen in Bezug auf ihren ersten Theil. Denn wäre die Pädagogik etwas absolut specielles: dann könnte gar nichts dieser Theorie auf einen wissenschaftlichen Charakter Anspruch geben. Bloße Empirie kann nicht wissenschaftlich sein, wenn gleich eine Menge von geistreichen und scharfsichtigen Beobachtungen aufgestellt werden können. E s m u ß i m G e g e n t h e i l der P ä d a g o g i k d a s sp e c u l a t i v e z u m G ru n d e l i e g e n, da die Frage, wie der Mensch erzogen werden soll, nicht anders als aus der I d e e d e s g u t e n beantwortet werden kann. Aber darüber werden wir wol leicht uns einigen, daß was a u s d i e s e r I d e e unmittelbar ausgeht, eigentlich n u r d i e a l l g e m e i n e F o r m e l enthalten kann, die den Zusammenhang der Erziehungstheorie mit der ethischen Wissenschaft angiebt.“

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aber deßwegen keineswegs bejahen oder behaupten. Dieses Speculative und Empirische werden wir also auch wieder auf bestimmte Weise binden müssen. In die Theorie selbst soll aber etwas mehr als Ethisches hineinkommen, daher wir schon etwas Faktisches annehmen, ohne welches eine Theorie nicht statt finden kann. Jene allgemeine Formel, welche sagt, was die Erziehung aus dem Menschen machen soll: Sie soll bewirken, daß so wie [sie] ihn findet, er nur durch die Einwirkung auf ihn der Idee des Guten möglichst entspreche. Gehen wir von dieser Formel aus, so folgt für uns: Wie erzogen werden soll und Wer erziehen soll, ist nicht von einander zu trennen. Früher haben wir die Aufgabe so gestellt, es sey die Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere. Vom einzelnen ist nicht die Rede. Wenn wir annehmen, die erziehende Generation bilde schon eine Gesammtheit, die zu erziehende Jugend ist eben noch rein in Individuen einzeln zerstreut, die Erziehung muß also nothwendig bey dem einzelnen anfangen. Also können wir zweyerley sagen entweder: Die ganze ältere Generation soll unter der Form der Einheit die jüngere aber unter der Form des Aggregats der Einzelnheiten [seyn], und wir können sagen, es sey wieder nur unter der Form der Einzelnheiten daß die erziehende Generation ihr Geschäft übe. Im 1. Fall wird die Erziehung als ein Werk der Ö f f e n t l i c h k e i t und des G emeinw esens angesehen seyn müssen, im andern ein Werk der F am ilie. Die erstere Voraussetzung ist nirgends ganz und gar realisirt worden, als wirklich gegeben finden wir immer nur eine Theilung des Geschäfts zwischen der Familie und dem Gemeinwesen. Platonische Republik, da die Jugend von dem Allgemeinen aus erzogen wird. Nun ist offenbar wenn es hier auch immer Einzelne seyn werden, die im Ganzen das Geschäft führen, doch die Principien ganz entgegen gesetzt scheinen, in dem Fall wo die Erziehung von den Einzelnen der Familie ausgeht, da ist ihnen auch die Möglichkeit gegeben, in jedem einzelnen Falle anders zu verfahren, wenn hingegen öffentlich nach allgemeinen Regeln verfahren werden muß. Je größer das Übergewicht ist um desto mehr werden sich die 9 folgt] fogt 3–5 Vgl. SW III/9, S. 26: „So wie aber in die Theorie specielles hineinkommen soll: so werden wir auch f a c t i sc h e Vo ra u se z u n g e n annehmen, ohne welche die Theorie nicht bestehen kann.“ 32–2 Vgl. SW III/9, S. 28: „Wenn wir nun auch d i e s e b e i d e n E x tr e m e , re i n e S t a a t se rz i e h u n g , r e i n e F a m i l i e n e r z i e h u n g , n i c h t i s o l i r en können: so neigt sich doch die Erziehung immer bald mehr zu dem einen, bald mehr zu dem anderen; und je größer das Uebergewicht des einen über das andere ist: desto mehr werden sich auch die Methoden unterscheiden. Allgemeingültiges läßt sich nicht aufstellen, weil noch nicht ein bestimmtes Verhältniß des einzelnen zum Gemeinwesen hinsichtlich der Erziehung als ein allgemeingültiges anerkannt ist.“

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Methoden unterscheiden, und erst müßte ausgemacht werden, so soll das Verhältniß seyn zwischen dem Einzelnen und dem Gemeinwesen. Aber dieß ist nur ein So l l . Je weiter dieses Gegebene von jenem Verhältniß entfernt wäre, desto weiter entfernt müßte auch unsere Erziehung seyn von [ ]. Aber auch wenn wir auf den anderen Endpunkt sehen, was die Erziehung aus dem Menschen machen soll kommen wir auf ein solches Resultat. Wir wollen also die Idee des Guten als etwas bekanntes voraus setzen. Der Mensch kann der Idee des Guten nur als ein H an d e l n d e r entsprechen. Nun fragt sich wird er das gleich thun können, und wird er es gemeinsam thun können, wenn auch sein Verhältniß ganz verschieden ist zu dem Gemeinwesen. Ist das gemeinsame Leben etwas Lockeres im Leben des einzelnen wenig bestimmendes, dann tritt der einzelne als Handelnder weiter hervor, er soll der Idee des Guten gemäß handeln wenn es nicht schon bestimmt ist. Hier also nichts allgemein Gültiges aufzustellen, wenn wir nicht aufstellen können, wie das Verhältniß des gemeinsamen Lebens zum einzelnen der Idee des Guten gemäß aufzustellen wäre. Ist dieses Verhältniß nicht vorhanden, so müßten wir entweder das Erziehen aufgeben, oder wir müßten die Theorie auf eine andere Weise bestimmen, um sie dem Gegebenen anzupassen. Wir mögen auf den Einen Endpunkt oder den anderen sehen, so sehen wir daß es eine Theorie der Erziehung wenn sie auf jeden Fall unmittelbar angewendet werden soll, unmöglich geben kann. – Was sollen wir uns dann für einen Kreis stecken für die Gültigkeit unserer Theorie? Verschiedene Wege einzuschlagen um das Verfahren zu entwickeln, hier nur einer. Unsere Theorie hätte auf jeden Fall nur durch Sprache mitgetheilt werden können, nicht durch mathematische Zeichen, und ist an das Gebieth der Sprache gebunden, und ist auf einem anderen Gebieth nicht anzuwenden, wenn man zugibt, daß keine Sprache in die andere aufgeht, sondern jede Übertragung nur eine Annäherung ist, also jede einzelne Lehre würde auf dem Gebieth einer anderen Sprache einen anderen Werth haben. Das Gebieth der Sprache und das Gebieth der Volksthümlichkeit ist eigentlich eines und dasselbe. Jede Erziehungslehre in so fern sie schon anwendbar seyn soll, kann nur in dem Gebieth einer Nationalität festsitzen und das wäre das Gebieth ihrer Gültigkeit. So haben wir zugleich etwas mitgesagt, wovon wir nicht wissen ob wir es behaupten dürfen. Wenn wir sagen dieses das unserer Theorie gemäß wäre wollten wir zu Grunde legen, so liegt darinn daß durch 5 von] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl der Allgemeingültigkeit (vgl. SW III/9, S. 28) 11 zu] von 16 gemeinsamen] Gemeinsamen 24 Theorie?] Theorie. 25–27 Unsere Theorie hätte auf jeden Fall nur durch Sprache mitgetheilt werden können,] Unsere Theorie wäre auf jeden Fall nur durch Sprache mitgetheilt werden zu können, 28 ist] hat 29 andere] andere andere

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diese Erziehung dieses Gebieth der Nationalität eben so würde ausgefüllt werden wie wir es gefunden haben. Denn die Anwendbarkeit der Lehre auf mehrere Generationen beruht darauf, daß dieses Verhältniß dasselbe sey. Aber das menschliche Leben im Großen betrachtet, so findet sich [ ] | In früheren Zuständen sind die Völker weit mehr in sich abgeschlossen, hernach in größeren Massen aber doch so abgeschlossen, daß alles außer der Volksthümlichkeit als feindselig angesehen wird. Alles was außer der Nation liege würde also F eindselig k e i t gegen das Äußere seyn. Schwerlich. Später hat sich neben dem das allgemeine Menschengefühl entwickelt sie sehen das Fremde als solches an, mit dem derselbe Grad der Gemeinschaft nicht möglich wäre. Allein wenn wir den Fortgang des Culturpfads betrachten, so finden wir in jeder größeren Nation die größten Verschiedenheiten, einige Menschen, die noch den Haß gegen das Fremde in sich tragen, wogegen alle Stände so sehr dahinn neigen, das Volksthümliche zu verdrängen, daß sie sogar lieber einer anderen Sprache sich bedienen als der eignen, als ein Übergewicht über das Volksthümliche. Was haben wir nun auf uns genommen, wenn die Erziehung in den Grenzen einer Nationalität ihre Beschränkung haben soll? So sehen wir also wie auch hier wiederum unsere Aufgabe sich spaltet, und immer wieder den Anschein gewinnt, als könne sie nicht selbstständig seyn, und setzt nur etwas anderes voraus, was aus der Wissenschaft auf die sie sich bezieht als unentschieden angesehen werden kann. Kein Mittel zwischen diesen Extremen festzusetzen. Aber so wäre auch indifferent zu sagen, die Erziehung solle selbst das eine oder andere Gebieth bewirken. Hier entsteht uns wieder eine andere Aufgabe und eine die sehr schwer ist, das Resultat aber findet sich oft wider Willen ein. In unserem Ergebniß würde vieles in einer gewissen Unbestimmtheit bleiben müssen, daß es eine richtige Anwendung zulasse auf diejenigen Fälle wo sich die Erziehung mit der Erhaltung eines gegebenen Zustandes begnüge, und eben so eine Anwendung auf den entgegengesetzten Fall. Nun fängt offenbar der Einfluß dieser Betrachtungen auf 5 sich] Satz bricht am Ende der Seite ab, zu ergänzen wohl ein beständiger Wechsel. (vgl. SW III/9, S. 30) 14 Fremde] Feindselige 19 soll?] soll. 23–24 Vgl. SW III/9, S. 31–32: „Und selbst wenn wir auf eine bestimmte Ethik zurükkgehen wollten, wäre es möglich daß wir in dieser Beziehung in Ungewißheit gelassen würden. Eine allgemein anerkannte Ethik könnte uns freilich | sagen, eine Nationalität die alles fremde als feindselig haßt ist fehlerhaft, also in einem Zustand in dem sie nicht bleiben darf; aber sie würde uns eben so sagen, eine nationale Gemeinschaft welche ihr natürliches Band löset und im Zerstreuen begriffen ist, befindet sich in einem Zustand der nicht der rechte ist. Es läßt sich jedoch nicht erwarten, daß die Ethik irgend etwas zwischen diesen Extremen festsezen werde als ein allgemeingültiges mittleres.“

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die Erziehung erstaunlich zeitig an. Z. B. wir wollen unentschieden lassen, in wie fern was wir Volksthümlichkeit nennen etwas Angebornes ist oder nicht, so ist es offenbar daß es sehr zeitig durch die Umgebung befestigt wird, durch die ganze Lebensweise durch die Zeiteintheilung, die Sprache. Aber deßwegen ist klar, daß ihr schon entgegen gearbeitet werden kann, wenn man ein Kind zeitig mit fremden Menschen umgibt, und es von Anfang an sich in mehreren verschiedenen Sprachen bewegen läßt – so ist natürlich daß sich die Nationalität im Kinde sehr leicht verliert. Da entsteht zeitig die Differenz. Diese Fragen gehen in die unmittelbare Praxis ein. Haben wir die eine Regel aufgestellt, so haben wir dieß zu bewahren, und haben wir die andere Regel aufgestellt, so muß es uns gefallen. Tief im practischen Leben greift also diese Theorie ein. Wenn wir annehmen, daß der gemeinschaftliche Charakter der Menschen in Einem und demselben Volke etwas An g e b o r n e s sey, so gehört dieß zu den Ungleichheiten, die freylich uns wie dieß Angeborne hervorgebracht werden mit der Zeit. Wenn wir die Sache noch einmal von vorn herein betrachten, so finden wir noch eine größere Verschiedenheit als das Nationale nähmlich die verschiedenen Menschenrasen. Hier erscheint das Angeborne unzweifelhaft, physisch schon im Knochenbau. Am wenigsten einer Veränderung unterworfen, in dieser findet sich die N a tiona litä t und in dieser die p e r s ö n l i c h e n Ve r s c h i e d e n h e iten, die durch alle verschiedenen Nationalitäten hindurchgehen auch durch die Menschenrasen. Wenn wir auf das Te m p r am e n t sehen, so ist dieß offenbar ein An g e b o r n e s , weil es eben so sehr ein leibliches ist als ein psy ch i s c h e s , weil es physisch ist, [nicht] als krankhafte Abweichung anzusehen. Wenn wir hier die physiologische Frage ins Reine gebracht hätten und man könnte bestimmte Tempramente annehmen, so würde man schließen, es müßten diese überall vorkommen. Das verschiedene Verhältniß liegt darinn, daß wenn man die menschliche Seele im Großen betrachtet so sind in manchen die Verschiedenheiten größer in manchen geringer. Das Wesentliche in diesem müßte also auch überall vorkommen, und diese Verschiedenheiten des Tempraments neben einander da seyn. Nun dieses vorausgesetzt so entwickelt sich außer 9 leicht] leichter

27 ins] auf

31 betrachtet] betrachten

10–12 Vgl. SW III/9, S. 32: „Hat man nämlich in der Theorie festgestellt, die Nationalität sei zu bewahren: so müßte man dies frühe Anbilden fremder Nationalität tadeln. Im entgegengesezten Fall müßte man gerade dieses loben, und darauf sehen, daß es so allgemein als möglich gemacht würde.“ 24–27 Vgl. SW III/9, S. 33: „Sehen wir z. B. auf das was man im Menschen das Temperament nennt: so ist das offenbar etwas angeborenes und eben so sehr ein leibliches als physisches, aber doch so daß die Differenz an sich noch keine krankhafte Abweichung ist.“

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diesen nationalen Verschiedenheiten noch eine Menge von Verschiedenheiten, die wir nicht als etwas Ursprüngliches ansehen können. Wenn wir der Entscheidung dieser Frage von einer anderen Seite näher kommen: Ist das Verhältniß der erziehenden Einwirkung ein anderes zu den ursprünglichen Verschiedenheiten und ein anderes zu solchen die es nicht sind? Nicht leicht werden wir Gründe finden, die Frage zu bejahen, man müßte voraussetzen, unter alle Verschiedenheiten gehören dann auch die vorzüglich moralischen, wodurch der eine der Idee des Guten entspricht der andere nicht. Das letztere immer anzusehen als dasjenige dem die Erziehung entgegen wirken muß. Liegt die Sache so daß wir sagen können[:] Alle angebornen Verschiedenheiten sind nicht moralische und alle moralischen nicht angeborne – können wir nicht behaupten. So wie es angeborne Krankheiten gibt, wo die physische Erziehung entgegen arbeiten muß, so die Erziehung gegen geistige Krankheitsanzeichen. Wir sagen also hier haben wir einen Unterschied der mehr intressirt als jener, ob eine Verschiedenheit eine angeborne ist oder nicht. So wie sie den Geist des Menschen afficirt, so muß dem Bösen entgegen gewirkt werden. Mögen sie dieß seyn oder nicht so muß ihnen entgegen gewirkt werden. | Auf diese Weise fallen unsere zwey Hauptfragen die nach der ursprünglichen Voraussetzung oder dem Anfangspunkt und die nach dem Ziel der Erziehung oder dem Endpunkt zusammen, so müssen wir sagen der Mensch mag als Gegenstand der Erziehung dieser gegeben seyn wie er will, so muß dem entgegengewirkt werden, was dem Ziele, das der Erziehung vorangestellt ist, widerstreitet. Finden wir bey der Erziehung des Menschen etwas das dem Guten widerstreitet, so werden wir daher Erziehung zurechnen und sagen sie hätte entgegen wirken sollen von da an wo das wahrgenommen werden konnte. Verschiedenheit des Geschicks. Vollkommenere Erziehung und unvollkommenere, welche letztendlich erst später entgegenzuwirken anfängt. Dem angebornen wie dem später hinzukommenden Bösen soll die Erziehung also dann bey der ersten Wahrnehmung entgegen wirken. Nur noch eine Frage bleibt uns übrig. Wenn wir davon ausgehen, daß es keine festen Punkte für unsere Theorie geben kann, wenn wir nicht von einem Gegensatz des Guten und Bösen ausgehen können, daß es für die Erziehung als einem ethischen Proceß eine wirkliche Theorie geben kann, so würden wir hier den einen Canon feststellen können. Alles was ethisch angesehen eine Unvollkommenheit, eine negative Größe, dem muß entgegengewirkt werden. Aber ebenso: Alles was in der Entwicklung begriffen ist, und als ein ethisch positives anzusehen, muß durch Erziehung befördert werden, und Alles was in 6 sind?] sind.

25 vorangestellt] vorangestelt

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dem einen Menschen so ist und in dem anderen anders und nicht unter die Begriffe des sittlich negativen fällt, muß das so gelassen werden, wie die Erziehung es findet? Nur im ethischen Sinne zu beantwortende Frage. Wir können nur dieß Princip äußern: Alles was in der menschlichen Natur nicht böse ist, soll auch in der menschlichen Natur vorhanden seyn, und keine Eigenthümlichkeit die sich in einem einzelnen oder einer Masse entwickelt, ist etwas dem die Erziehung entgegen wirken müßte, wenn es nicht etwas Böses ist, alle Verschiedenheiten der Menschen die außerhalb des Bösen sind, die sollen auch seyn. Wenn nur der Mensch als ein Selbstthätiger Gegenstand der Erziehung seyn kann, so gehört alles was in der Entwicklung begriffen ist zu seiner Selbstthätigkeit. So gibt es in dieser Hinsicht für die Erziehung keine andere Regel, als wie für das sittliche Leben überhaupt. Wo die Erziehung in das freye sittliche Zusammenleben eingeht, so kommen wir in allen Beziehungen auf solche Punkte, wo wir verschiedene Eigenthümlichkeiten bemerken, aber noch nicht sagen können, daß sie durch Selbstthätigkeit hervorgegangen sind. Nur Unterschied des Grades. Der Mensch ist durchaus ein S elbstthä tig es, die Passivität nie etwas Reines, Mitwirkung oder Gegenwirkung; wir können nur annehmen einen Unterschied des Bewußten und des Unbewußten. Wir haben nach der ersten Entwicklung des Menschen die Pflicht, so wie er zum Bewußtseyn gebracht ist vorauszusetzen daß alles, was in dem Menschen ist, auch mit seiner Zustimmung geworden ist, früher können wir das nicht voraussetzen, weil das Selbstbewußtseyn in der Entwicklung begriffen. Hier wird es nur darauf ankommen, was für einen Kreis wir für den Gegensatz des Guten und Bösen ziehen, um darnach das ganze Verfahren der Erziehung zu bestimmen, da wir aber hier nicht eine allgemeine ethische Theorie aufstellen können, so können wir dieß auch nicht ausführen sondern es nur voraussetzen; die Begriffe zu berichtigen, wo sie unrichtig sind, fällt nicht mehr ins Gebieth der Pädagogik sondern ist basirt auf der sittlichen Einsicht wie sie ist. Wenn in einer Masse von Menschen manches nicht für Böse genannt wird was in anderen, so ist es nicht Fehler der Erziehung wenn sie der selben Einsicht, die im Ganzen waltet gemäß ist. Hier also wieder eine Beschränktheit gegen die Allgemeingültigkeit der Theorie unseres Gegenstandes für das Gebieth einer gegebenen sittlichen Einsicht. Je mehr wir überall auf diese Abhängigkeit unserer Theorie von der allgemeinen sittlichen Theorie hingewiesen werden desto mehr müssen wir zweyfelhaft werden ob sich etwas was sich der Mühe lohnt, ein großes Ganzes zu bilden, in unserer Theorie wird aufstellen lassen. 11 gehört] ist

12 ist] gehört

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Die sittliche Einsicht ist allerdings ein Wandelbares aber die Wandelbarkeit derselben ist im einzelnen, je mehr man aufs Ganze sieht, desto mehr tritt die Wandelbarkeit zurück. Zwischen einer Erziehung in einer Masse die noch nicht im Staate zusammen gewachsen ist und einer Erziehung des Menschen im Staate für den Staate ist der größte Unterschied. Darüber wird es vergeblich seyn eine Unterscheidung anzustellen, ob es recht sey daß der Mensch im Staate lebe oder ob die Erziehung nicht dahinn sich richten müsse, den Staat aufzuheben. | Wir müssen sagen darüber steht unsere sittliche Einsicht fest. Wenn wir Grenzen für die Allgemeingültigkeit unserer Theorie ziehen müssen so haben wir schon eigentlich die wesentlichen Punkte gefunden von welchen wir ausgehen müssen. In Beziehung auf den Anfangspunkt der Erziehung treten uns diese nicht so bestimmt hervor, besonders weil auch da wie die menschliche Natur erscheint ein gewisser Typus für uns so feststeht daß wir uns das Entgegengesetzte erst mit Mühe vergegenwärtigen müssen. Z. B. wenn es eine Differenz gibt in der Constitution der Persönlichkeit, die einen gewissen Cyclus bildet, und die wir hier ursprünglich ansehen müssen, so ist das ein Satz, der allerdings in gewissem Sinne allgemein gültig, aber es gibt ja dann menschliche Verhältnisse, wo diese Differenzen so zurücktreten, daß in der Praxis und der Theorie man darauf nicht Rücksicht nehmen kann, weil diese Verschiedenheiten nicht ganz heraustreten. Die Erziehung muß sich darauf einrichten, daß sie den Menschen abliefert an das Gesammtleben im Staat und der Kirche und des allgemeinen menschlichen Verkehrs als einen tauglichen in jeder Beziehung, keine Rücksicht zu nehmen auf die verschiedenen Differenzen des Staates, der Kirche u. s. w. Daher sehen wir einen Zustand voraus und beziehen alle unsere Regeln auf den, in welchem diese selbst schon entwikkelt sind. Aber hier nun etwas anderes, eine Theorie aufzustellen, die darauf keine Rücksicht nähme, daß der Mensch hernach im Staat leben soll auch nicht für eine solche Gesellschaft für die es noch keinen Staat gibt. Die Frage wie dieser Zustand hervorzubringen sey, würde nicht in die Erziehung fallen. Die Grenzen für die Gültigkeit unserer Theorie ziehen sich auf eine bestimmte Weise, ihrem Wesen nach etwas Natürliches und Nothwendiges, nicht etwas, daß erst ausgemacht werden muß. 2 ist] ist zurück 25–26 keine Rücksicht zu nehmen auf die verschiedenen Differenzen] auf die verschiedenen Differenzen keine Rücksicht zu nehmen auf die verschiedenen Differenzen zu nehmen 30 hernach] hernach hernach 9 Vgl. SW III/9, S. 39: „Daß aber für den Staat erzogen werden solle, darüber ist die Theorie nicht schwankend.“

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Wir müssen uns fragen, was hat nun hier die Erziehung zu leisten. Die Einwirkung anderer auf einzelne kann nie ein Ende nehmen. Wenn die Erziehung beendigt ist, so soll jeder einzelne seine Stelle einnehmen im Staat und der Kirche. Das Ganze Leben wird dadurch nicht erschöpft. Es bleibt uns noch übrig das allgemeine freye Verkehren der Menschen wobey auch jeder seine Stelle einnehmen und seine sittliche Thätigkeit ausüben soll. Es wäre z. B. noch zu fragen: Ist etwa das Wissen etwas das ganz im Staat oder der Kirche aufgeht, und sich darauf bezieht oder ist es etwas für sich? Verschieden geantwortet je nachdem man sich in der Ethik das menschliche Leben organisirt. Wir müssen es darinnen als wesentliches Element ansehen, daß jeder einzelne seinen jeweiligen Ort einnehme. Es findet auch hier diese Tradition statt von einer Generation auf die andere. Alles was man nun anführen könnte, würde gewiß in eines von diesen hineinfallen. Wir nehmen also vorläufig an wir hätten den allgemeinen Grund was durch Entwicklung werden soll, daß jeder in gewisser Zeit und gewissem Grade hiezu tüchtig sey, wenn die Erziehung fertig sey? Da kommen noch zwey Betrachtungen. So wie wir hier stehen, bringt uns nichts dahinn, daß nicht zwischen diesen beyden Forderungen irgend ein Widerspruch sich vorfindet. Wie oft tritt uns das entgegen daß zwischen Staat und Kirche ein Widerspruch eintritt wenn einer den Anordnungen des anderen nicht traut? Denn so wie diese zwey Gemeinwesen, welche diese Glieder haben in ein Verhältniß des Mißtrauens gegen einander treten so setzt das ein inneres Gefühl von solchem Widerspruch voraus, es mag richtig seyn oder unrichtig. Nicht selten finden wir daß der Staat mit einem gewissen Mißtrauen den freyen Verkehr im Staat hemmt (dasselbe Verhältniß zwischen der Kirche und der Wissenschaft und dem Staat und der Kirche). Es ist wieder nur die eigentliche wissenschaftliche Ethik welche gehörigen Grund hierüber geben kann. In dieser muß nun alles was die Menschen zu verrichten haben aus Einem Princip abgeleitet seyn, also zu untersuchen, in wie fern diese Zustände in diesem Princip gegründet sind. Da wir nun nicht zurückgehen können auf eine solch allgemein anerkannte Wissenschaft, was sollen wir da anfangen? Bald [sagt man] der Staat sey nur ein nothwendiges Übel, kein nothwendiger Grund einen solchen zu errichten, – da können wir nicht sagen wir haben ein wissenschaftliches Fundament worauf wir zurückgehen können. Wir müssen uns halten an unser innerstes Bewußtseyn von der Wahrheit der menschlichen Natur. Nun ist auch die wissenschaftliche Ethik noch nicht zu dieser Vollkommenheit gebracht so ist doch das Bestreben dieses wissenschaftlich zu gestalten 22 traut?] traut.

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immer eine Gewährleistung für die Wahrheit und Nothwendigkeit der Aufgabe. So müssen wir sagen was nun der wissenschaftlichen Darstellung fehlt, muß unterdessen der Glaube suppliren, das lebendige B e w u ß t s eyn d e r T h ät i gk e i t selbst, es muß die Aufgabe einer solch zusammenstimmenden Darstellung von allem was durch die sittliche Thätigkeit erreicht werden soll gelöst werden. Dann werden wir sagen wenn wir einen solch scheinbaren Widerspruch haben, so deutet das auf Unvollkommenheiten in solchen Zuständen. Aber wenn wir hievon ausgehen daß wir alle Ursache haben solche Unvollkommenheiten vorauszusetzen, was ist dann die Aufgabe der Pädagogik? Die Erziehung, welche die heranwachsende Generation so dazu bilden soll, daß sie tüchtig ist für den Staat wie er eben ist, so würde nur die Unvollkommenheit verewigt. | Wir wären hier in neuem Widerspruch. Unsere Theorie erscheint uns ja als ein Ausfluß aus unserer ganzen freyen Thätigkeit. Nehmen wir das Entgegengesetzte und gehen aus vom Bewußtseyn der Unvollkommenheit und sagen, eine jede Generation, wenn sie ihre Erziehung vollendet hat, solle den Trieb und das Geschick in sich haben, das Unvollkommene auf allen Gebiethen zu verbessern. Als dann bereiten wir uns wieder etwas Unbestimmtes. Können wir die Erziehung auf das Bestehende richten so haben wir eine gute Basis und können allgemein anwendbare Regeln finden, aber nehmen wir uns diese weg, und werden wir nur an die Vollkommenheit der Jugend gewiesen, so gerathen wir wieder in Widerspruch. Was sollen wir also thun, wenn unmöglich zu läugnen ist die Unvollkommenheit in den verschiedenen sittlichen Gebiethen? Wir müssen beydes offenbar mit einander vereinigen, und nur so können wir die richtige Auflösung finden. Das Erhalten und Verbessern scheint sich zu widersprechen, aber nur dem todten Buchstaben nach. Wenn wir auf das Leben sehen, so sehen wir wie beydes in der lebendigen Welt immer zusammen steht unter entgegengesetzten Formen. Das Verbessern indem es zugleich ein Zerstören ist, erscheint zuweilen auch als das Hervortretende, und das ist das Revolutionäre, oder als Erhalten. Das Revolutionäre, wo es groß ist und in Geschichtliches einschreitet. Das andere ist das Erhalten. Verbessern insofern es unter das Zerstörende [fällt], tritt nur einzeln hervor. Da ist doch ein bestän3 suppliren] suppiren 15–16 gehen aus] ausgehen 26 einander] einander zu

25 Gebiethen?] Gebiethen.

14–15 Vgl. SW III/9, S. 43: „Unsere Theorie erscheint dann als ein Ausfluß der Theorie, nach der die freie menschliche Thätigkeit gehemmt wird; und es würde unserer Theorie diese Formel aufgeprägt sein, Damit die jüngere Generation zur Zufriedenheit mit dem bestehenden hingeleitet werde, soll sie nie den Wunsch empfinden, die Unvollkommenheit zu verlassen.“

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diges Zerstören ebenfalls die Natur, und je mehr sich das Verbessern an sie anschließt, desto eher kann es mit derselben zusammen stimmen. Halten wir uns an die Anschauung des Lebendigen so können wir sagen es sey die eigentliche Aufgabe Alles Unvollkommene so zu verbessern daß das Revolutionäre darinn gar nicht hervortrete. Wo jenes vor diesem hervortritt, da hat es seinen Grund in dem Unsittlichen was vorangegangen ist. Hier sagen wir: Diese Formel wollen wir uns also stellen, die Erziehung soll so eingerichtet werden, daß beydes in die möglichste Zusammenstimmung komme, daß die Jugend erzogen werde tüchtig, um in das einzutreten was sie vorfindet, aber auch tüchtig um verbessernd einzuwirken. Je vollkommener sich dieses erreichen läßt, desto mehr wird der scheinbare Widerspruch aufgehoben werden. Noch etwas über die eigentliche Bedeutung unserer Theorie anknüpfend an eine alte Erscheinung. Plato in seinem respublica hat seinen ganzen Staat auf die Erziehung gebaut, so daß alles Übrige, Verwaltung und Gesetzgebung hinter jene zurücktritt und er stellt auf, wenn in einem Staat die Erziehung gehörig organisirt ist, so braucht man sich um weiter nichts zu bekümmern. Er geht davon aus, In der Erziehung sollen im Staat keine Veränderungen vorgehen, es soll der Staat bleiben wie er ist, weil die Erziehung sich gleich bleibt; Die ethische Wissenschaft hat er sich also als vollendet gedacht. Unter dieser Voraussetzung ist das Verfahren ganz richtig. Dabey setzt er voraus, daß die der menschlichen Natur einwohnende und erziehende Kraft ungeschwächt dieselbe bliebe und daß jede Generation das Gleichgewicht von Geschicke Regierenden und Gehorchenden bilden werde. Diese Constanz der menschlichen Natur und jene Vollendung der ethischen Wissenschaft vorausgesetzt ist diese Theorie vollkommen richtig. Hiebey ist nun mancherley, worinn wir nicht einstimmen können. Das wesentlich Verschiedene ist dieses, daß bey uns der Staat nicht mehr schlechthin der Innbegriff aller menschlichen Thätigkeiten ist, und daß kein Staat auf solche Weise isolirt ist, indem nicht darauf eingegangen wird daß der Einfluß eines Staates auf den anderen jene allgemeinen Regeln alteriren könne. Wollten wir davon die Anwendung machen, so müssen wir sagen, Wenn wir uns die ethische Wissenschaft vollendet denken und alle welche in diese eingeflossen sind als vollendet, so werden wir nicht Ein und dieselbe Form des Staates für alle Menschen unter allen Verhältnissen voraus setzen können, 2 es] sie

20 gleich] gleicht

31 nicht] nicht nicht

32 daß] das

34–36 Vgl. SW III/9, S. 46: „Denken wir uns die ethische Wissenschaft vollendet, und die Idee von Staat, Kirche, geselligem Leben und die Idee des Wissens wieder vollendet;“

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und das Maaß welches statt finden soll zwischen der zusammenhaltenden Kraft des Staates und der allgemeinen Berührung in welcher die Menschen gegenwärtig mit einander stehen, dieß gehörig regulirt, so daß man sagen könnte: Alles was in die Menschen eingeht aus dem allgemeinen menschlichen Verkehr muß mit der Idee des Staates zusammenstimmen. Nehmen wir eine solche erweiterte Voraussetzung an, können wir sagen, daß dann die Erziehung alles sey? und daß wenn wir nun die Erziehung so einrichten können die Unvollkommenheit des Bestehenden [ ] daß durch die Erziehung beyde Richtungen des Erhaltens und Vervollkommnens in die möglichste Harmonie gebracht werden, so ist nichts weiter nöthig, sondern es müßte dadurch bewirkt werden daß alle menschlichen Verhältnisse von einer Generation zur anderen immer sich vervollkommnen. (Alles was also im gegenwärtigen Zustande als Gegenwirkung versirt würde überflüssig erscheinen, und ebenso) dann würde [ ] Jeder von selbst würde den Ort in den verschiedenen Verhältnissen einnehmen der ihm seiner besonderen Beschaffenheit nach zukommt. Können wir sehen, daß die Sache von dieser Seite angesehen die Theorie der Erziehung das Princip wovon die Realisirung aller sittlichen Vervollkommnung ausgehen muß. Allerdings müssen wir sagen, daß es für das ganze Leben nichts Bedeutenderes gibt und daß alle Fehler hier vervielfältigen alle Unvollkommenheiten in den menschlichen Dingen, und wird hier nicht gefehlt, so negirt sich alles andere leicht. Darum stellt sich das Bild am klarsten vor Augen wenn man von einer isolirenden Fiction ausgeht, wie Plato sie sich machte. Aber von jedem Zustand dasselbe zu sagen. Auf einem anderen Punkte kommen wir zum gleichen Resultat. Sehen auf solche menschlichen Massen, in welchen noch das minimum der Entwicklung ist, so daß noch keine Fortschreitung bey ihnen zu bemerken ist, | so müssen wir sagen, da ist auch keine Erziehung sondern nur ein mechanisches Einwirken ohne eigentliches Bewußtseyn, ohne bestimmte Richtung ohne ideales Princip. Das findet sich in allen uncultivirten Zuständen daß die beständige Nachahmung der Leiter ist für die zukünftige Generation. Noch ein drittes, was eben so gewiß ist daß wenn wir uns auf den Standpunkt allgemeiner Verwirrung in den menschlichen Din7 dann] dann dann 9 Bestehenden] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl vorausgesetzt (vgl. SW III/9, S. 46) 12 alle] alle alle 15 würde] es folgt ein Spatium von etwa einer viertel Zeilenlänge 21 nichts] etwas 13–15 Vgl. SW III/9, S. 47: „Alles was als Gegenwirkung des ganzen erscheint würde überflüssig; es gäbe keine ungeregelten Zustände, keine Bevormundung wäre nöthig, weil jeder in Uebereinstimmung mit dem ganzen sein würde in Folge der Erziehung;“ 24–25 Vgl. Platon: Politeia

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gen stellen, und über die Ursachen nachdenken, so finden wir immer eine Menge von vielen Kleinigkeiten, die jede für sich nichts ist, aber es ist offenbar daß wenn nicht allmählig eine verkehrte Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere statt gefunden hätte, ein so veränderter Zustand [nicht] hätte eintreten können. Alle Schuld also auf die Verkehrtheit dieser Einwirkung zu schieben. Auf alle Weise also stellt sich uns hier die größte Bedeutung unserer Untersuchung vor Augen und wie alle Förderung der menschlichen Dinge immer darauf ausgehen kann, und bedingt darauf beruht. Damit haben wir uns mit der großen Bedeutung der Theorie nur die Schwierigkeit vorgehalten, und die gewöhnliche Art der Behandlung steht mit der Wichtigkeit nicht in Übereinstimmung. In neueren Zeiten allerdings manche Ausnahmen von dieser Regel; aber doch eine Regel, daß der Staat an die Nationalität als einem physischen gebunden sey. Die Ausnahmen sind im Zertheiltseyn eben desselben physischen Gebieths in mehrere moralische Grenzen oder mehrere physische Einheiten in Ein moralisches Ganzes. Schon aus Genesis solcher Fälle darzuthun, daß sie nur Ausnahmen sind. Die nationale Constitution vorzüglich ist dem Menschen angeboren. Es ist immer schon an jedem Punkt wo die Erziehung beginnt irgend eine Bestimmtheit vorher gegeben. Wenn wir vorher sagten, die Nationalität sey an den Staat gebunden, hier aber der Mensch finde hier schon die Anlage zu einer gewissen Volksthümlichkeit entwickelt bis auf einen gewissen Punkt, diese aber und der Staat gehören zusammen als Leibliches und Geistiges so soll man sagen, die Erziehung finde immer schon eine gewisse Bestimmtheit für ein solches moralisches oder physisches Ganzes zu der Zeit vor, da sie ihre besonderen Einwirkungen auf ihn richten kann. Was neulich als Endpunkt gesetzt wurde, wird hier Anfangspunkt. Was ist aber dann von diesem Standpunkt aus der Endpunkt? Durch die Beziehung auf etwas was schon ist angeregt worden zu beantworten der Mensch in seiner persönlichen Vollkommenheit betrachtet. Nach dem Ende der Erziehung läßt sich jeder einzelne im moralischen Ganzen durch Eigenthümliches in verschiedenen Graden von den anderen unterscheiden, so daß der Grad den Unterschied macht von seiner Stuffe der Bildung. Von dem jetzt aufgestellten Gesichtspunkt aus ist also die Darstellung einer individuellen 9 und bedingt darauf beruht] und beruht bedingt darauf 11 Schwierigkeit] Schwierigkeit uns 20 beginnt] beginnen 22 an] für 33 Ganzen] Ganzen sich 9 Vgl. SW III/9, S. 48: „Es beruht alle wesentliche Förderung des ganzen menschlichen Lebens auf der Erziehung.“ 12–15 Vgl. SW III/9, S. 48–49: „Der Staat als ein geistiges hat zu seiner Basis die Nationalität als das physische. Das ist die Regel, von der es | freilich auch Ausnahmen giebt,“

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Persönlichkeit das Ende der Erziehung. Nun laßt uns beyde zusammenstellen, nicht widersprechend anzusehen. Vermöge des ersten werden wir sagen: Die Erziehung soll den Einzelnen ausbilden in der Ähnlichkeit mit dem größeren moralischen Ganzen dem er angehört. Der Staat empfängt aus den Händen der Erzieher den Einzelnen und soll den Einzelnen empfangen als ihm analog Gebildeten, so daß er in das Gesammtleben als sein Eignes eintritt. Vermöge des anderen sagen wir: die Erziehung empfängt schon den Menschen von dem Staat in dieser Homogenität und soll ein einzeln Ausgebildetes Wesen vorstellen. Scheinbar widersprechende Aussprüche. Die Volksthümlichkeit nur als Anlage, Keim schon gegeben, der sich so entwickelt aber der Mitwirkung der Erziehung bedarf es doch; und ebenso die persönliche Eigenthümlichkeit, die nicht eingepfropft werden kann in keinem Punkte weil man dabey im Auge hat das im Menschen hervor zu bringende, was in ihm und allen anderen moralisch gegeben und dasselbe seyn soll. – Unser Leben zeigt daß das ganze Geschäft der Erziehung sich wieder auf diese Weise theilt. Der eine Punkt ist der univ e r s e l l e ; das andere müssen wir die indi v iduelle Seite der Erziehung nennen[,] dasjenige zu entwickeln wodurch einer in demselben Ganzen auf dieselbe Weise heraustritt, daß ein von allen anderen Unterschiedener ist. Wie sich diese Aufgaben gegen einander verhalten, welche wir der anderen unterordnen sollen, darüber zu entscheiden haben wir nicht genugsam Data, sceptisch zu entscheiden daß nach Verschiedenem Ausgehen das eine oder andere erfolgt. Wenn man davon ausgeht, daß das Physische die Volksthümlichkeit worinn ein Psychisches aber innbegriffen im Menschen schon gegeben ist und daß er zur gleichen Zeit von diesem nun umgeben ist und sich darinn bewegt, so sind hier schon die unabsichtlichen Einwirkungen so viele, daß man nicht nöthig hat die Erziehung darauf zu richten und daß man also diese ihr nun unterordnen kann. Sicher – bedenken wir daß viele Menschen in einem Volke nur als Masse erscheinen, so daß nur der Charakter einer gemeinsamen Beschäftigung in ihnen hervor tritt, so sagt man, hier sieht man daß der menschlichen Trägheit die Erziehung zu Hülfe kommen muß, welche die persönliche Eigenthümlichkeit unterstützen muß. Von der anderen Seite. Eben deßwegen weil die persönliche Eigenthümlichkeit nicht eingepflanzt werden kann, aber zur gleichen Zeit sehr schwer erkannt wird und nur allmählig so würde es überhaupt vergeblich [seyn] die Erziehung ganz vorzüglich darauf richten zu wollen, nur negativ daß dieser Entwicklung von innen keine Hindernisse in den Weg gelegt würden, und die Natur frey gelassen werde, wogegen die Tüchtigkeit für den Staat eine 33 daß] daß daß

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Menge von Thätigkeiten verlangt und von Resultaten von Thätigkeiten, wobey die positive Unterstützung der Erziehung und die Gegenwirkung nöthig ist das Verlangte zu leisten. In diesem Gesichtspunkt ist etwas wahres, und unmöglich eins von beyden ganz zu verwerfen. Das zweyerley, entweder gerade zu vereinigen oder theilen und sagen, das eine das beste für einige, das Andere für andere Gegenstände der Erziehung. Die Rücksicht auf diesen letzten Fall bringt uns auf eine andere Frage die entschieden seyn muß und abgemacht, wenn die Theorie in ihrer Anwendbarkeit soll weiter gehen können. Für die beyden Gebiethe die universelle Richtung der Erziehung und die individuelle läßt sich die Frage aufstellen: Sind die Menschen in diesen beyden Beziehungen einander gleich oder nicht d. h. ist in einem Volke das Verhältniß jedes einzelnen zum geistigen Zusammenhang des Staates oder zur Idee des Staates im Volke ein Gleiches oder nicht? Auf der anderen Seite[,] ist das Verhältniß für den einzelnen zur Idee einer individuellen Persönlichkeit dasselbe oder ein anderes? Wenn wir für beydes uns hier die Identität erklären so stellen wir ein System ursprünglicher Gleichheit aller Menschen auf, wenn wir uns für die Ungleichheit erklären, stellen wir auf der einen Seite eine Aristocratie des geistigen Vermögens und auf der anderen Seite eine Aristocratie der geistigen Bildsamkeit auf. Wenn wir sagen die Menschen verhalten sich ungleich zur persönlichen Tüchtigkeit für den Staat so kann ja der eine nicht dieselbe Stuffe erreichen wie der andere. Es gibt in einem Volk zwey Classen, wo die eine ein Unvermögen in Beziehung [auf die Idee] des Staates hat und die andere ein überwiegendes Vermögen. | Wenn wir dasselbe behaupten in Beziehung auf die individuelle Seite der Erziehung, so gibt es Einzelne Wesen die von Natur bestimmt sind, nur Masse zu seyn und eben so eine andere Klasse, in denen eine wirkliche persönliche Eigenthümlichkeit sich entwickelt. Die andere Ansicht erst auf bestimmte Weise darzustellen. Das System der Gleichheit braucht nicht so gefaßt zu werden, daß man sagt: Alle Menschen sind von Natur nicht nur dem Grade sondern dem Maaße nach dieselben, aber immer noch dabey anzunehmen ursprüngliche Unterschiede zwischen den Einzelnen, keine Abstuffungen sondern nur als allmählige Übergänge anzusehen. Auf diese Frage wie sich die beyden Richtungen der Erziehung gegen einander verhalten würde der Einfluß immer derselbe bleiben, und alles was in der Theorie der Erziehung vorkommen kann – nimmt man eine bestimmte Abstuffung an, so muß man auch eine solche Unterscheidung von Anfang an annehmen. Hier scheint es der Mühe [werth] zu verweilen, die Sache historisch 14 nicht?] nicht.

33 dem Maaße] der Maaße

34 aber] sondern

36 sich] sie

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zu betrachten. Wir haben im gemeinsamen und öffentlichen Leben der Menschen in verschiedenen Völkern und Zeiten Einrichtungen welche eine von diesen Ansichten bestimmt voraus setzen. Z. B. es ist offenbar daß überall wo es K n e c h t scha ft gibt, eine solche bestimmte Abstuffung angenommen wird und zwar nicht willkührliche Einrichtung sondern auf einer natürlichen Basis ruhend. Knecht nach der Erklärung der Alten ein lebendiges menschlich beseeltes We r k z e u g, weil er seinen Impuls immer von anderen bekommen muß. Offenbar in einem Staat dahinn zu arbeiten daß alle Impulse zu freyen Handlungen von der Idee des Staates ausgehen. Wenn dieß im Staat als feste Einrichtung besteht, es soll gewisse Menschen geben, denen kein freyer Impuls zugestanden wird, so kann man nur voraus setzen, daß diese der Idee des Staates nicht Genüge leisten könnten. Freylich in den verschiedenen Staaten die Knechtschaft vom Fremden her. Solche Menschen sollten entweder gar nicht im Verkehr des Staates vorhanden seyn, oder ihren Impuls von anderen bekommen. Dieß hängt zusammen mit einer anderen Maxime mit dieser daß das vollkommene Bürgerrecht an die nationale Ebenbürtigkeit beyder Eltern gebunden wäre. Wo aber eine Knechtschaft ist die nicht auf fremder Abstammung beruht, da ist innerhalb der Nationalität eine solche bestimmte Abstuffung. Und diesen Typus können wir weiter verfolgen, nicht gerade Knechtschaft, nur Ungleichheit in den bürgerlichen Rechten. Ist diese an die Geburt geknüpft so liegt die Voraussetzung zu Grunde, wie überall wenn sie an die Geburt geknüpft ist daß auf der einen Seite eine größere politische Capacität sey. Eigentlich nur wo keines von beyden statt findet, wo es keine innländische Knechtschaft gibt, und unter den Staatsbürgern keine Ungleichheit der Rechte, nur da ist ja Gleichheit vorhanden. Erwägen wir dieß[:] Es scheint als wenn die Voraussetzung der Ungleichheit viel allgemeiner wäre als die Voraussetzung der Gleichheit so wie wir selten so weit zurück gehen können, um zu sagen daß nun gar keine verschiedene Nationalität im Staat vorhanden gewesen ist. Wo solche Einwände sind, waren auch 17 Maxime] Maxime verbunden 24 wie] wie sie 25 sey.] als Wiederholung mit Einfügungszeichen am Rand: Also eigentlich nur da wo keines von beyden statt findet, wo es keine innländische 6–9 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1161a–b; Opera 2,64–65; ed. Bywater 171–172 32–1 Vgl. SW III/9, S. 55–56: „Allein es ist zu bedenken, daß wir selten geschichtlich so weit zurükkgehen können, um sagen zu können, es lag bei dieser politischen Ungleichheit nicht auch eine | Ungleichheit der Stämme zum Grunde. Meist sind es wol zwei Stämme gewesen, deren einer des anderen sich bemächtigte, und hieraus ist die Ungleichheit entstanden, wenn auch zuvor in dem Staate keine verschiedene Dignität gewesen ist.“

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ursprünglich zwey verschiedene Stämme. Nach dieser allgemeinen Betrachtung werden wir uns die Frage fest stellen und die verschiedenen Fälle unterscheiden können. Wir kommen hier wieder auf ein fremdes Gebieth. Die Sache [setzt] zuletzt auch physiologische Untersuchungen voraus. Was für verschiedene Resultate in Beziehung auf unsere Aufgabe je nachdem man die Frage so oder so beantwortet? Der 1. Fall wenn wir von der Voraussetzung der Gleichheit ausgehen, diese auf eine verschiedene Weise zu fassen, so würde angedeutet einmal daß allen ursprüngliches geläugnet wird, und die menschliche Natur als ein unbestimmtes mehr und weniger [erscheint]. Das eine Extrem die Annahme einer ursprünglichen Gleichheit so daß alle Differenzen des Maaßes in Bezug auf die Tauglichkeit des Menschen für den Staat nur Resultate der verschiedenen Bildung und Verhältnisse [wären]. Wenn wir dieses annehmen, was liegt der Erziehung ob? Man kann offenbar zwey verschiedene Wege einschlagen. Von der Theorie wird nun die Rede seyn wenn der Zustand des Ganzen schon ein solcher ist, daß sich Differenzen entwickelt haben; da sey sogar die Erziehung aus dem Spiel gelassen, würden diese durch ursprüngliche Verhältnisse veranlaßt gewesen seyn, durch die äußeren Verhältnisse die einen Menschen begünstigen, die anderen nicht – nun [tritt] die Erziehung als ein neuer Faktor hinzu, soll sie den äußeren Verhältnissen nachgeben, und auf den den schon die äußeren Verhältnisse begünstigen, muß auch eine größere pädagogische Thätigkeit gerichtet werden daß etwas zweyfaches aus ihm werde? Wogegen beym anderen ja doch kein bedeutendes Resultat herauskommen könnte, oder soll durch Erziehung ein Gleichgewicht herauskommen, gegen die Ungleichheit der äußeren Verhältnisse? Hier liegen zwey verschiedene Gesinnungen zu Grunde und wir werden die Sache so stellen können daß wir sagen die Voraussetzung von der wir ausgehen ist die demokra tische aber die Gesinnung der Erziehung, den Begünstigten noch mehr begünstigen zu wollen wäre eine ar i s t o k r at i s c h e, die Ungleichheit steigernd. Eine bestimmte Abstuffung würde am Ende auf künstliche Weise daraus hervorgehen. Kein anderer Maaßstab als nur ein vorläufiger um zwischen diesen beyden Maximen zu entscheiden, und nur auf die Idee des Guten zurückzugehen, die wir hier immer voraussetzen müssen. Wenn wir im 1. Fall von der Voraussetzung ausgehen, daß alle wirklich spätere Differenz Folge der Erziehung oder Verhältnisse sey; so entstehen die beyden Möglichkeiten, daß die Erziehung entweder den äußeren Verhältnissen entgegenwirkt oder mit ihnen 6 beantwortet?] beantwortet. 12 Staat] Staat sind 16 seyn] seyn als 23 gerichtet werden] richten 29 ausgehen] herausgehen 39 Verhältnissen] Verhältnissen entweder

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wirkt. Im letzten Fall würde kein Unterschied seyn ob man die Differenzen für angeboren annimmt oder für entstanden nach der Maxime daß man nichts durch die Erziehung stören darf als was dem Guten entgegen ist. Wollte man das andere annehmen, daß die Erziehung den äußeren Verhältnissen entgegen wirken soll. | Nehmen wir an das könnte gelingen, was würde daraus entstehen? Wenn wir von der gegenwärtigen Lage der Dinge ausgehen besonders im Staat, so wäre durch die Erziehung selbst eingeleitet ein höherer Wetteifer nach dem was eine höhere Abstuffung im Staat wäre im Gegensatz gegen die niederen. Bestehen beyde neben einander so würden Alle unzufrieden seyn, welche auf die höheren Verhältnisse des Staates vorbereitet auf die niederen Stuffen zurückgedrängt würden, daher bleibt hier nichts anderes übrig, als daß die Erziehung den äußeren Verhältnissen nicht entgegenwirke, sondern sie gewähren lasse nur in dem Fall nicht, wenn eine Erziehung in einer großen Opposition gegen diese äußeren Verhältnisse steht, und so gegen die Beschaffenheit seiner Natur zurück gehalten würde. Die Erziehung soll mit dem warten, was sich im Menschen selbst offenbart. Nun würden wir sehen daß das nicht auf solche Weise geschehen müsse daß im Einzelnen nicht gegen die Beschaffenheit seiner Natur Q R gehandelt würde. Wir betrachten die Voraussetzung einer ursprünglichen Ungleichheit der Menschen in eben dieser Beziehung. Hier zwey Fälle. Man kann annehmen diese Ungleichheit sey angeboren aber nur auf eine persönliche Weise, und dann wieder sie sey angeboren aber zugleich angestammt. Der große Unterschied muß leicht einleuchten. In der 1. Annahme entsteht die Aufgabe diese so bald als möglich zu erkennen, ist aber die Differenz a n g e s t a m m t , dann kennt man sie ja schon, und diese Voraussetzung ist die bequemste. Von Natur zu niederen und höheren Ständen bestimmt. Da kann vom 1. Anfang an die Erziehung getrennt werden und alle Schwierigkeit in Beziehung auf die Theorie ist dadurch gehoben. Es ist nicht zu läugnen daß in sehr vielen Menschen wo große Differenzen in der Gesinnnung statt finden eine stete Neigung ist, diese so anzusehen als ursprünglich an g est a mmt e, möglichst darauf zu halten und die Grenzen dürfen nicht überschritten werden. In einzelnen Fällen schon so weit, daß man verboten hat, denen von der Jugend der untergeordneten Classe gewisse Kenntnisse beyzubringen. Das heißt zu gleicher Zeit den einzelnen in seinem Verhältniß zum Staate aufopfern[;] die ethische Aufgabe wäre dann nur keine Disharmonie in ihm zu erregen. Wo diese Maxime herrscht, da findet sich auch in dem Maaße als ein Fortschreitungsprincip ist eine starke Op12 zurückgedrängt] zurückdrängen nisse] Kenntnisse nicht

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position gegen diese Anwendung und die untergeordnete Classe ringt dann um so stärker nach diesen verbotenen größeren Gütern. Dazu kommt noch eine andere Erscheinung: daß wenn diese Einrichtung offenbar durch alle Innstitutionen des Staates in der Voraussetzung einer angestammten Ungleichheit hindurch geht, so bekommt diese Voraussetzung einen großen Glauben besonders bey den Begünstigten, diese gerathen leicht in den Wahn, daß die Erziehung weniger bey ihnen zu thun habe, und daraus [folgt] die Nothwendigkeit daß der Staat die größere Tüchtigkeit nehmen muß, wo er sie findet, daher ein großer Widerspruch zwischen dem Verfahren des Staates im Einzelnen und den zu Grund liegenden Voraussetzungen was bis auf bestimmte Weise ausgeglichen dem Staat einen revolutionären und anarchischen Factor gibt. Das findet sich nun allenthalben, wo das aristokratische und demokratische Princip im Widerspruch liegen. Daher die Pädagogik eine der wichtigsten politischen Momente. Nun fragen wir, ob denn nichts Allgemeines wobey die Voraussetzungen gleichgültig bleiben, dann auch aus denselben entwickelt werden kann, denn sonst müßten wir einen ganz verschiedenen Weg einschlagen für diese verschiedenen Voraussetzungen. Das wäre nun nur noch zur Beschränkung der Allgemeingültigkeit unserer Theorie, und man müßte sagen die Erziehung muß ganz unterschieden seyn in solchen Staaten wo eine a n ge s t am m t e Ungleichheit nicht angenommen wird, und wo sie organisch wird durch die politischen Innstitute erhalten. Es wäre für uns freylich besser, wir müßten nicht hier gleich von Anfang an dieser Tendenz anschließend voranschreiten, und entgegen gesetzte Methoden neben einander durch gehen. Hier werden wir uns heraushelfen. Wenn wir die Geschichte im Allgemeinen betrachten so haben wir häufig in kleineren und größeren Staaten einen Übergang von der einen Voraussetzung zur anderen, aber immer nur auf gleichem Wege aber nicht umgekehrt. Das Umgekehrte liegt nur jenseits der eigentlichen geschichtlichen Zeit. (Ein besonders tüchtiger Menschenstamm, sein Wohnsitz wird ihm zu enge, einer verläßt ihn, unterwirft sich mit Streit einen anderen, beyde haben gelebt in der Voraussetzung der angestammten Ungleichheit. Nun entsteht der Übergang von zwey verschiedenen Fällen des Einen gegen den anderen. Auf solcher Begebenheit beruht meistens die Voraussetzung der angestammten Ungleichheit.) Setzen wir nun den Fall für den wir viel lebendiges anführen können, daß wo diese Voraussetzung bestanden hat, Staat und Erziehung darauf eingerichtet gewesen sind so kommt doch späterhin eine Zeit, wo sich dieses verliert und man in der Erziehung nicht mehr von dieser Voraussetzung ausgehen kann. Worauf 39 sind] ist

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deutet nun dieses? Offenbar darauf daß auch hier eine bedeutende Gewalt des geistigen Prinzips über die Natur sich zu erkennen gibt. Durch das geistige Princip sind die beyden Getrennten gleich geworden. Die Ungleichheit soll aber so geht es eine Zeit lang festgehalten werden, die Identität des höheren geistigen Princips trägt den Sieg davon über die natürliche Differenz. Denken wir uns was für Reibungen hiebey im Staat entstehen ehe er so zur Sache kommt und wir wollten fragen: Hätten diese nicht vermieden werden können? so werden wir wieder sagen daß die einzige Antwort wieder nur pä da g og i s c h ist und wieder die hohe politische Wichtigkeit unserer Theorie hervortritt. Denken wir uns daß von Anfang im Staat der Canon aufgestellt würde, daß die Ungleichheit als eine allmählig verschwindende müßte behandelt werden, so würden jene Reibungen vermieden, und die Lösung einer wichtigen politischen Aufgabe liege in der richtigen Organisation der Erziehung. Noch eine andere Betrachtung. Wenn wir uns dann auf den Standpunkt einer solchen politischen Ungleichheit stellen in die höhere Klasse hinein und in dieser dieselbe Gesinnung permanent setzen, die anderen zu unterjochen, und sagen, was als sehr allgemein geltend muß anerkannt werden, daß der Staat in dieser Form nur fortbestehen kann durch dasselbe Princip aus ders e l b e n Kr af t aus der er entstanden ist, so würden die Reibungen auch aufhören, aber die ganze Ungleichheit bliebe. Wir wollen der Voraussetzung einer angestammten politischen Ungleichheit treu bleiben und sagen[:] In den unterworfenen Stämmen kaum wirklich ein größeres Maaß von politischer Kraft, je weniger desto länger der Unterschied, so daß der andere sich im völligen Zustande der Sclaverey befinden kann auch ohne bürgerliche Rechte und lange diese beyden Principien in ihrer Kraft bestehen. | Aber der Widerspruch liegt darinn, daß man sagen muß: Ist nun der Staat als Einheit betrachtet etwas Gutes und Tüchtiges, so wird er sich auch als Einheit geltend machen, in das geringre Element wird nach und nach auch etwas vom politischen Leben hinein kommen. Ist das nicht der Fall, so muß der Unterworfene höchstens persönliche und häusliche Verhältnisse haben. (Sclaverey.) Darinn liegt die völlige Sicherstellung, aber ohne die Ungleichheit auf diesen Punkt zu treiben, kann keine völlige Sicherheit seyn. Diese Voraussetzung, daß die angestammte Ungleichheit als verschwindend solle behandelt werden, ist mit dem Glauben an eine politische Kraft eins und dasselbe. Haben wir nun damit genug, und sind wir dann für alle Fälle gerecht? Dieser Canon ist nur für den Zustand einer angestammten Ungleichheit aufgestellt, und gilt eigentlich nur für diesen. Gehen wir von der anderen 4 lang] lang aber

12 eine] eine die

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Seite aus von der Voraussetzung einer persönlich angestammten Ungleichheit und betrachten daß die Erziehung weder der natürlichen Einwirkung der äußeren Verhältnisse noch der Entwicklung der inneren Kräfte des Einzelnen entgegen arbeiten müsse, sondern sich mit diesen in Harmonie setzen müsse, so werden wir sehen, daß beydes auf Eins und dasselbe hinausläuft. Denn was im Staate besteht als Wirkung der noch fortgehenden angestammten Ungleichheit ist nun für die Erziehung eben nur ein solches äußeres Verhältniß, das Verschwinden angesehen als eine innere Kraft. Also haben wir etwas für alle diese verschiedenen Fälle gleich Gültiges gefunden, so daß wir die physiologischen Untersuchungen über die Differenz der unteren und anderen höheren lassen können in so fern als wir die Erziehung jedesmal nur auf ein gar großes Ganzes beziehen wollen. Unser Canon auf alle berechnet würde so lauten: (Wir denken uns alle diese großen natürlichen Verhältnisse als schon gegeben, nicht durch Erziehung erst zu erzielend.) Die Erziehung soll in Beziehung auf die einzelnen zu Erziehenden auf der einen Seite der inneren Kraft welche sich entwickeln will zu Hülfe kommen, und in Beziehung auf das Gewirkte die äußeren Verhältnisse gewähren lassen so doch daß in sofern diese charakterisirt sind als Zeichen und Folgen einer bestehenden fortgesetzten Ungleichheit die in der Erziehung behandeln als etwas das allmählig verschwindet. So wie wir von dem Factum ausgehen, daß die Ungleichheit der Menschen in dieser Beziehung (eine Ungleichheit der intellectuellen Capacität) ein Verschwinden seyn muß, so müssen wir sagen, unser [Canon] moralisch nothwendig und geht auf die ethische Voraussetzung zurück. Wir gehen von der Voraussetzung aus, daß alle Erziehung eine Ungleichheit voraus setzen muß, diese in so fern sie etwas äußeres ist soll immer mehr etwas Zufälliges haben; aus einer angestammten eine persönliche, halten wir den Canon fest, den wir entwickelt haben, so folgt, daß die Erziehung auf eine Verringerung dieser Ungleichheit hinarbeiten müsse. So würde die Möglichkeit folgen daß sie auch ganz aufhören könne – und dadurch würde eine Reaction in dem gemeinsamen Leben nothwendig werden – aber dieß fiele außerhalb unserer Grenze. Es ist offenbar daß diese Ungleichheit nicht von vorn herein zu erkennen ist, nicht angestammt, sondern erst später hervortritt, daher Erziehung auch nicht von Anfang an, sondern erst von dem Punkte da diese Ungleichheit zu erkennen ist. – 6 hinausläuft] hinausfällt sondern sich

20 die] daß

24 unser] davor daß

34–35 sondern]

6–9 Vgl. SW III/9, S. 63: „was aber im Staate besteht als Wirkung der noch fortdauernden angestammten Ungleichheit, das ist für die Erziehung nur ein solches äußeres Verhältniß das verschwinden soll. Dies kann aber nur geschehen in Folge der inneren Kraft, welche sich auch in d e n einzelnen entwikkelt die zu der niederen Klasse gehören.“

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Vielleicht lassen sich Principien der Wahrscheinlichkeit aufsetzen, und die Erziehung [würde] dadurch von Anfang an eine verschiedene seyn. Das wäre die eine Maxime, die andere: Oder man hielte sich unmittelbar an die Sache. So lang die Ungleichheit sich nicht zu erkennen gibt, so lange muß man al l e zu Erziehenden auf gleiche Weise erziehen, und erst später [würde] eine Trennung geschehen. Die letzte Maxime hat dem Anschein nach einen Vorzug, weil sie sich genau an die Voraussetzung hält, wodurch die erstere etwas bloß empirisches wird. Aber die erste Maxime nähert sich der Voraussetzung einer angestammten Ungleichheit, wogegen die andere, die Trennung in der Erziehungsweise erst successiv eintreten zu lassen, offenbar der Voraussetzung einer allgemeinen Gleichheit sich nähert. Also sind hier zwey verschiedene Arten von der Mitte aus zu operiren. A r i stokra tische und demokra t i s c h e Voraussetzung. Die Theorie soll sich an die Praxis anschließen. Wo das eine das schon Gegebene ist, da ist auch das das sich darnach am meisten nähert, der natürliche Übergang. Weil wir unserer Theorie auch gleichsam Anwendbarkeit sichern wollen so fragen wir wie steht es dann bey uns? In einer mittlern Lage. Im allgemeinen besteht bey uns dasjenige Verfahren, das sich einer Voraussetzung der ursprünglichen Gleichheit nähert. Denn betrachten wir die Menschen, die bey uns auf der höheren oder niederen Stuffe stehen so ist die Regel die: Erst eine gemeinschaftliche Elementarbildung und erst späterhin zwey verschiedene specielle Bildungen. Wir stehen also schon auf diesem Punkt und da ist uns unser Verfahren schon vorgeschrieben. Wenn wir aber betrachten wie die Eltern in der höheren Stuffe mit ihren Kindern verfahren, ehe die elementare Bildung vollendet ist, so ist es dann eine Ausnahme, wenn die Kinder der höheren Stände aus großen Häusern ihren Elementarunterricht in öffentlichen Schulen erhalten, sondern eher doch Privatim, da ist also eine Sonderung von dem entgegengesetzten Charakter herrührend der zwar nach der allgemeinen Maxime geschieht. Wie stand es vor einem halben Jahrhundert? Da war es Seltenheit wenn die vornehmen Kinder in öffentliche Schulen gingen, sondern alles im Häuslichen. Die Voraussetzung der angebornen Ungleichheit war damals sehr im Schwange, bey uns hat sie also abgenommen. Wir müssen also sagen, daß die Erziehung in dem Vorhandenen nichts stören soll, wenn wir sagen wollen wir müßten die Sache auf die Alten zurückführen. Woran liegt es dann, daß der Fortschritt nach dieser Seite 24 da] Da

34 abgenommen] angenommen

34–37 Vgl. SW III/9, S. 65: „Wenn nun die Erziehung nichts hemmen soll als das was gegen die Idee des guten ist: so werden wir sagen müssen, es sei gegen unseren Grundkanon, das heutige Verhältniß dem früheren wieder näher zu bringen und also die Zeit zurükkzuschrauben.“

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hin bis dahinn immer bis auf einen gewissen Punkt gehemmt ist? An der Unvollkommenheit unserer Elementarbildungsanstalten und dem unrichtigen Verhältniß zwischen ihnen und dem was die häusliche Bildung oder Erziehung mitbewirkt. Bey der ganzen Frage keineswegs allein auf den Unterricht zu sehen sondern auf die Erziehung im Ganzen auf die Ausbildung des G e mü t h s . Also etwas mehr, worauf wir in der Zukunft bauen können. Das ist der herrschende Typus, den wir schon vorfinden, in den wir die Theorie bauen wollen, an ihn haben wir anzuknüpfen, das Bestreben darauf zu richten, daß in den ersten dieser Abstuffungen die Einheit immer allgemeiner werde und sich des Ganzen bemächtige. | Also müssen die beyden Maximen noch von einer anderen Seite mit einander verglichen werden. Wir haben gesehen, welchen von unseren vorherigen Voraussetzungen die eine und die andere sich nähert. Welche aber am besten zu realisiren? Die Maxime der Ungleichheit nach Wahrscheinlichkeit im voraus zu beurtheilen ist etwas bloß Empirisches, und wenn man auch eine Formel fände, die überall Allgemeinheit hätte, so fänden sich dennoch große Ausnahmen. Die andere Maxime sie will die ganze Jugend von vorn gleich behandeln (wir wollen die ganze Jugend von vorn herein gleichmäßig behandeln und erst dann sondern, wenn die Ungleichheit hervortritt). Aber auch diese setzt empirische Beobachtung voraus. Hier das Urtheil immer unsicherer, wenn man auf die in der Mitte stehenden jungen Leute sieht. – Setzen wir die zweyte Stuffe als eine solche, wo das gemeinschaftliche Leben in der Theorie der Erziehung vorwaltet, so sehen wir da gehts nicht an, daß dieser Übergang zu verschiedener Zeit gemacht werde. Wenn es nun auch eine Zeit gibt wo man sagen kann, es wäre ganz auffallend wenn noch eine bedeutende Entwicklung zum Vorschein käme so darf man diese Zeit nicht zu weit hinausschieben. Die beyden Maximen in dieser Beziehung einander in diesem Punkte gleich. Von zwey solchen Abstuffungen soll die Erziehung eine Art und Weise geben wo das Urtheil wodurch einem seine künftige Le5 auf die Erziehung] von der Erziehung 5–6 auf die Ausbildung] von der Ausbildung 6 Gemüths.] als Wiederholung mit Einfügungszeichen am Rand: Nicht einzig auf den Unterricht zu sehen, sondern auf die Erziehung im Ganzen. 4–6 Vgl. SW III/9, S. 66: „I n d e m G ra d e a l s d a s h ä u s l i c h e L e b e n s i c h s i t t l i c h e r g es ta l te t u n d d i e h ä u sl i c h e E rz i e h u n g sor g s a m e r w i r d , d i e Vo l k s b i l du n g i m g a n z en a u c h si c h st e i g e rt : in dem Grade wird auch in der Masse der Kinder das unsittliche abnehmen und ein nachtheiliger Einfluß der ungesitteten auf die gesitteten weniger zu fürchten sein, also g e m e i n s a m e E l e m e n t a r b i l d u n g sich verbreiten.“ 29–30 Vgl. SW III/9, S. 67: „Wenn sich nun auch dessenungeachtet für die zweite Maxime eine Formel wird aufstellen lassen, um das Verfahren zu regeln: so wird diese auch wieder eine große Menge von Ausnahmen erleiden; so daß in dieser Beziehung gleichfalls d i e b e i d e n M a x i m e n si c h g l e i c h s i n d .“

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bensstuffe im voraus angewiesen wird, auf eine sichere Art gefunden wird. Eine sehr schwere aber wichtige Aufgabe. Viele von der ganzen Masse sind der niederen Lebensstuffe anheimgefallen nach einem falschen Urtheile, welche auf eine höhere Lebensstuffe gehörten. Einzelne gibt es, die sich erst späterhin empor schwingen, nachdem ihnen schon ihr Urtheil gemacht war. Hingegen viele können ihre Stelle nicht erhalten, wobey das Ganze leidet. Wichtig also ist es daß dieses Urtheil der erziehenden Generation mit der möglichsten Sicherheit gefällt werde damit diese Irrungen so selten als möglich seyen. Dieß eine unserer Hauptaufgaben, die uns zu lösen sind. Wir haben gesagt, daß die Erziehung zwey Vorhaben habe, den Einzelnen auszubilden für die großen Lebensgemeinschaften, in denen er thätig seyn soll, dann in ihm auszubilden die in ihm angelegte Eigenthümlichkeit als solche. In Beziehung auf den 1. Punkt haben wir uns die Frage beantwortet in Bezug auf das andere aber noch nicht. Offenbar ist dasselbe Recht eine Gleichheit und eine Ungleichheit anzunehmen für alle, wir können denselben Weg gehen wie vorhin. Man kann die Voraussetzung nehmen, daß in allen Menschen eine Eigenthümlichkeit sey und daß es nur Mißgunst der äußeren Verhältnisse und der Erziehung ist daß eine große Masse ist wo diese Eigenthümlichkeit nicht hervortritt. Voraussetzung die im großen Gesammtleben wird theoretisch mit der Zeit aufhören müssen. Also auch hier das in der Mitte. Gleichsam auf eine zufällige Weise angeboren[,] nicht angestammt. Für uns kein anderer Weg als dieses nur als neue Betrachtung anzusehen, nach welcher die beyden Abstuffungen der Erziehung für einander gesondert und jede für sich organisirt werden muß. Und daß die 1. eine solche seyn muß, wo nicht Rücksicht darauf 14 solche] diese

22 müssen] muß

23–24 Vgl. SW III/9, S. 68–69: „Man kann von der Voraussezung ausgehen, daß i n a l l en M e n s c h e n g l e i c h m ä ß i g d i e E i g e n t h ü m l i c h k e i t | sich finde, daß also in jedem Menschen eine eigenthümliche Art des Daseins zum Grunde liege: dann ist es nur Ungunst der Verhältnisse, wenn diese Eigenthümlichkeit des einzelnen nicht ausgebildet wird; o d e r von der entgegengesezten, daß e i n e U n g l e i c h h e i t a u c h h i e r s e i , u n d z w a r ei n e a n g e st a m m t e , indem ein Theil der Menschen bestimmt sei ohne Eigenthümlichkeit, bloß Masse zu bleiben, ein anderer Theil aber dazu, daß in ihm die Eigenthümlichkeit sich auf das bestimmteste ausbilde und den verschiedenen Charakter forterbe; o d er von der in der Mitte liegenden, daß es auch e i n e u r s p r ü n g l i c h a n g e b o r en e a b er n i c h t a n g e st a m m t e u n g l e i c h e E i g e n t h ü m l i c h k e i t gebe.“ 27– 3 Vgl. SW III/9, S. 70: „Und da auch die Ungleichheit der einzelnen als eigenthümliche betrachtet nur mit der Zeit sich entwikkelt: so würde z u e r s t in der Erziehung, so lange die Eigenthümlichkeit noch nicht erkannt ist, nicht sowol auf die einzelnen Anlagen Rükksicht genommen werden, sondern d i e E r z i e h u n g i m g a n z e n e i n e a l l g e mei n e sein; und e rst sp ä t e r würde e i n a n d e re r Ty p u s eintreten und vorzugsweise d a s H er v o r t re t e n d e r p e rsö n l i c h e n E i g e n t h ü m l i c h k e i t begünstigen.“

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genommen wird, ob die einen oder die anderen die Anlagen haben oder nicht wohl aber die z w e yt e , hernach ein bestimmter Unterschied eintritt. Die Erziehung hat also auf sich[:] Entwicklung für die persönliche Eigenthümlichkeit der Menschen und Tüchtigkeit für den Staat und die Kirche. Jede pädagogische Einwirkung wäre solche Ausfüllung eines Lebensmoments in dem zu erziehenden Subject welche ihre Richtung auf die Zukunft hätte. Auf der einen Seite ist es sehr leicht dieses zu sehen. Im Kind ist noch kein Bewußtseyn von dem Staat oder ähnlichem, aber es will irgend eine Lebensthätigkeit in jedem Moment. Von allen übrigen der pädagogischen Momente wäre da etwas hervorgebracht was es nicht will, ein Moment für das unmittelbare Bewußtseyn des Kindes eine Null. In Beziehung auf die Entwicklung der eigenthümlichen Natur ist es dasselbe. Diese ist in keinem Augenblick Null. Das Kind lebt auch in dieser Hinsicht nicht in der Zukunft sondern nur in der Gegenwart. Es kann also an der künftigen Entwicklung seiner Eigenthümlichkeit kein Intresse haben. In beyden Richtungen einen Widerspruch zu lösen. Die Erziehung erscheint ihrem Gehalt nach als etwas das der zu erziehende nicht wollen kann, als Aufopferung des Moments für einen künftigen. Sind wir befugt dieß zu machen? Es ist offenbar daß schon das allgemeine Gefühl sich dagegen ausspricht, denn je mehr dieser Widerspruch in der Erscheinung hervortritt, und die Zöglinge dem widerstreben, was mit ihnen vorgenommen wird, um desto mehr hält jeder die Methode der Erziehung für eine herbe. Wenn wir es nun rein theoretisch betrachten, so wird es wieder ethische Frage und der Ethische Standpunkt liegt in der Diction an die die Pädagogik sich anschließt: Ist es überhaupt etwas was zugestanden werden kann daß ein Lebensaugenblick dem anderen aufgeopfert werde und ein bloßes Mittel sey für einen anderen? Wenn wir unsere ganze Lebenseinrichtung betrachten wie sie im großen nur in der der menschlichen Natur einwohnenden ethischen Gesinnung entstanden ist, so finden wir ein bestimmtes Widerstreben gegen ein solches Verfahren. Die Ernährung, ein Act der einen Moment ganz ausfüllt und nichts weiter darinn ist als dieß, erscheint uns als eine Handlung die des Menschen unwürdig ist, wir ändern diesen Act in einen geselligen Moment, und humanisiren ihn so, indem er nicht den ganzen Act ausfüllt. Wir werden also auf jeden Fall das Negative auszusprechen haben. Aber wir können noch eine Sache heraus heben, die unmittelbar unseren Gegenstand betrifft. Der Mensch in d e r E r s c h e i n u n g angesehen ist wie alles Zeitliche in beständiger Veränderung begriffen (auch die innerste Lebensthätigkeit mitgesetzt). 25 herbe] Herbe

29 anderen?] anderen.

31 nur] nur da

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So wie wir uns zwey weiter aus einander liegende Lebensmomente nehmen, der eine in der Periode der Erziehung der andere in der Selbständigkeit des Lebens, da wird niemand gegen die Verschiedenheit etwas einwenden können. Nun: Isoliren wir einen solchen Moment als jeweils ein menschliches Daseyn, und das soll im gemeinsamen Leben durch das Zusammenleben gefördert werden. Es ist also ethische Aufgabe daß jeder Lebensmoment etc. [ ] | In jedem Lebensmoment soll der ganze Mensch wie er eben ist, gefördert werden. Je vollkommener in jedem Moment der ganze Mensch hervortritt desto vollkommener sein Leben. Wird aber ein Moment einem zukünfigen aufgeopfert, so ist die Aufgabe allgemein ethisch in einem solchen Moment ungelöst. Wie sollen wir aus dieser Disharmonie herauskommen, zumal wenn wir auf die Periode der Erziehung sehen, dieses noch viel größer erscheint wenn nach den allgemeinen Gesetzen der Natur die sich gleich bleiben in der Periode der Erziehung die größte Mortalität hineinfällt. Wenn man sich hier so helfen will, daß man sagt: Wenn auch das Kind ein Widerstreben empfindet, so muß man denken es komme eine Zeit, wo es dieses Verfahren gut heißt, diese Zeit ist aber eine vollkommenere, und im Glauben an diese zukünftige Zustimmung ignoriren wir dieses Widerstreben. Dieses nicht zu verwerfen, daß diese rechtfertigende Deduction nur in sofern gelten würde, als das Subject der Erziehung auch mit dem Materiale der Erziehung zufrieden wäre und daß man dieß nicht wissen kann. Nun verschwindet es ganz, wenn wir darauf sehen, daß das pädagogische Verfahren auch bey demjenigen gerechtfertigt werden soll, für den diese Zeit nicht mehr kommt. Hier also ein anderes Verfahren einzuschlagen, wir beruhigen uns damit nicht. Was für ein Resultat daraus? An den zuletzt aufgestellten Fall anknüpfen. Wir gehen davon aus, daß in Zukunft ein Zeitpunkt liegt, wo Billigung von Seiten des Zöglings kommt. Wird es erst dann kommen, wenn sie das in Ausführung bringen sollen was durch die Pädagogik in ihnen entwickelt worden ist? Wir müssen sagen daß dieses daß der Mensch ganz und gar in der Gegenwart lebt ist eine Beschränkung der zartesten Kindheit sondern bald tritt auch das ein, daß Vergangenheit und Zukunft mitgesetzt sind, die Entwicklung doch noch ziemlich gleich bleibt. Der Zeitpunkt der Billigung wird schon eher eintreten so wie die Zukunft auf gewisse Weise nahe gekommen ist. Wenn wir 7 etc.] es folgt ein Spatium von einer halben Zeilenlänge, zu ergänzen wohl als solcher gefördert werde. (vgl. SW III/9, S. 72) 32 ist?] ist. 35 sind] ist 34–36 Vgl. SW III/9, S. 74: „Die Rükkerinnerung an die Vergangenheit und die Voraussicht in die Zukunft entwikkeln sich nach und nach auf gleiche Weise.“

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voraussetzen daß die Erziehung einen gesunden Gang geht, so sagen wir je mehr sie sich diesem Endpunkt nähert, je mehr muß dieses Widerstreben aufgehört haben. Das Widerstreben erscheint also auch schon innerhalb der Periode der Erziehung als ein allmählig Verschwindendes. Diese Betrachtung kann das Vorige nicht aufheben, und wir können nicht sagen weil es allmählig verschwindet, so ist es in dem Augenblick wo es vorhanden ist ein Zustand welcher ethisch gebilligt werden könnte. Wir können aber nie sagen, daß in der pädagogischen Einwirkung die Beziehung auf die Zukunft aufhören könnte oder gar auf Vergangenheit zu richten [sey], sondern wir werden sagen müssen das was wir brauchten als das Mittel für dieß Bestreben, das [kann] wieder nur ein allmählig Verschwindendes seyn, weil das Widerstreben selbst ein solches ist. Wir werden nur dasselbe zu thun haben, wir haben meist nur dieß zu thun, was wir irgendwann vom Schema einer Befriedigung des Moments gesagt haben. Der Moment, der seine Beziehung in der Zukunft hat, muß zu gleicher Zeit Befriedigung haben für den Menschen, wie er in dem Moment ist. Je mehr sich dieses durchdringt, desto vollkommener ist die pädagogische Einwirkung. Um die Einwirkung der Erziehung vollkommener und sittlicher zu machen müssen wir etwas mehr auf die Gegenwart sehen, so würde aber die Erziehung t e c h n i sch unvollkommener. Die Aufgabe ist also eine s o l c h e Ve r e i n i gung b e y w elcher g a r ke i n e Au f o p f e r u n g s t at t f i n d et . Dieses scheint nur möglich zu seyn, wenn wir es in jene Beschränkung setzen bis in jene Zeit als die Zustimmung des Zöglings noch nicht gegeben ist, ist ein solches Verfahren das einzige, wobey die Erziehung etwas sittlich statthaftes ist. – Es bleibt dann das Leben, wo es unterbrochen wird doch ein solches, was als Zweck behandelt worden ist, und in der Existenz nur als ein Mittelding gesehen für das was in dem Moment nicht erschienen. Die richtige Consequenz ist, daß das ganze pädagogische Verfahren solch eine Reihe bildet, in welcher das eine in das andere übergeht ohne daß eine bestimmte Differenz eintrete. Denn wenn [wir an] die 7 Augenblick] als Wiederholung mit Einfügungszeichen am Rand: wo es vorhanden ist ein Zustand und 12 das] daß 12 seyn] seyn dürfe 21 sehen] seyn 27 doch] durch 27–30 Vgl. SW III/9, S. 75–76: „Dann bleibt das Leben des Zöglings, auch wenn es mitten in der Periode der Erziehung unterbrochen wird, ein solches das auf sittliche Weise | als Zwekk behandelt worden ist; und die pädagogische Einwirkung ist die Befriedigung des Daseins. Entweder liegt die Befriedigung unmittelbar in dem Moment oder in der Zustimmung.“ 32–2 Vgl. SW III/9, S. 76: „Denken wir uns nämlich die Zeit in der für den Zögling schon die Zukunft existirt, aber so, daß er noch nicht vollkommen in sie eingehen kann, jedoch Vertrauen hat zu denen die ihn leiten: so entsteht in ihm eine Ahnung von dem Ziele.“

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Zeit denken wo für den Zögling die Zukunft schon existirt mit einem Bewußtseyn ihres Gehalts – da braucht nun eigentlich im pädagogischen Verfahren um es auf eine Formel zu bringen nichts mehr zu seyn, was als bloße Befriedigung des bloßen Moments an sich erscheint. Denn die Art wie in der Seele des Zöglings die Zukunft in der Gegenwart gesetzt ist findet ihre unmittelbare Befriedigung in dem pädagogischen Verfahren. Es versteht sich aber daß in dieser Zeit die Momente in denen die pädagogische Einwirkung dominirt auch unterbrochen werden von solchen, wo die Seele des Zöglings ihre eigne Befriedigung findet. Gehen wir auf einen früheren Moment, wo die Zukunft des Zöglings noch nicht festgesetzt ist da ist die Befriedigung nicht in dem pädagogischen Gehalt eines Moments gesetzt, sondern in etwas anderem. Es scheint hier als könnte die Formel nicht dieselbige seyn. Wir müssen sagen[:] Indem es uns wieder schwierig scheint die Erziehung zusammenhängend aufzustellen, so fragen wir noch einmal ob diese Voraussetzungen auch richtig seyen. Im wirklich erscheinenden Leben ist dieses nun kein plötzlicher Punkt wo die Zukunft in das Bewußtseyn eintritt sondern ein allmählig verschwindender. Aber so muß der streitige Zusammenhang bleiben. Wie gelangen wir hier zu einer genügenden Auflösung? Davon auszugehen, daß auch in der späteren Periode der Erziehung wo die Zustimmung des Zöglings vorhanden ist, die dominirenden pädagogischen Einwirkungen nicht das ganze Leben ausfüllen, sondern Momente dazwischen liegen, in welchen die Befriedigung der Gegenwart ohne Hinsicht auf Zukunft hervortritt. Wir müssen also zurückgehen können auf den ersten Anfang und dann läßt sich irren. Hernach eine Formel finden die in den beyden Perioden dieselbe ist. 25–27 Vgl. SW III/9, S. 76–77: „Gehen wir nun im Gegensaz zu diesem Lebensstadium auf einen früheren Moment zurükk, wo die Zukunft noch nicht in dem Zögling gesezt ist: da können wir nicht sagen, daß die Befriedigung in dem pädagogischen Gehalt des Moments liege. Die Befriedigung der ganzen Lebensthätigkeit, wie sie unmittelbar an den Augenblikk anknüpft, wird da die Hauptsache sein ohne Rükksicht auf die Zukunft. Sonach hätten wir doch z w e i g a n z v e r s c h i e d e n e A b s c h n i t t e in dieser Beziehung; wobei noch überdies nicht zu übersehen ist, daß kein bestimmt und scharf hervortretender Punkt den Abschnitt bezeichnet in welchem die Zukunft mit in das Bewußtsein eintritt. Es scheint also als bedürften wir zweier verschiedener Formeln. Die erste würde aus zwei Gliedern bestehen, Der Moment sei ausgefüllt mit dem was als Vorbereitung auf die | Zukunft Befriedigung gewährt, und dem was Befriedigung der Gegenwart ist. Die zweite Formel würde nur ein Glied haben, Der Moment sei Befriedigung der Gegenwart. Und doch soll die Erziehung ein ganzes und vollkommenes sein, und jeder Moment sofern er sich isoliren läßt soll in derselben Formel aufgehen. Bedenken wir außerdem, daß die beiden Abschnitte im Leben nicht bestimmt auseinander treten: so ist in Beziehung auf die Lösung unserer Aufgabe um so mehr eine und dieselbe Formel mit demselben Gehalt postulirt.“

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Das Verhältniß zwischen dem 1. Anfang und der weiteren Entwicklung der Erziehung wo die Zustimmung des Zöglings als etwas schon Gegebenes vorhanden seyn kann, wird dieses seyn, daß was in dieser letzten Zeit bestimmt aus einander tritt, die Beschäftigung welche in der Zukunft ihren Zweck hat, daß dieses in der frühen Zeit ungetrennt an einander sey. An sich betrachtet: in der äußeren Erscheinung auf zweyfache Weise entweder als al l m äh l i ge r Ü b e r g a ng oder als bestim m t e Ab s t u f f u n g , die Bestimmtheit des Zöglings an einen bestimmten Moment beziehend[,] im wesentlichen beyde Eins und dasselbe. Was in dem kindlichen Leben die Befriedigung des Moments ist ohne eine Richtung auf die Zukunft ist Sp i e l im weitesten Sinn des Wortes, die Beschäftigung, welche ihre Richtung in die Zukunft hat ist Übung . Wenn die Erziehung mit allgemein sittlichen Forderungen, keinen Theil des Lebens bloß als Mittel zu betrachten übereinstimmen soll, daß von vorn herein die Übung nur in dem Spiel sey, bis sich die Übung in jedem Kind entwickelt. Wir finden diese Formel bey den Alten auch im Sprachunterricht. Ein und dasselbe Wort von Übung als Spiel und wo es den ernsten Charakter schon in sich trägt. Gymnastik sowohl die ersten Übungen als auch hernach die bestimmteren. So würden wir die Erziehung von jenem Widerspruch befreyen und mit der allgemeinen Ethischen Forderung in Übereinklang gebracht haben, der Zögling würde in vollkommenster Form als Mensch behandelt. Aber ist das möglich, die Übung an das Spiel zu knüpfen? Einmal kann alles was wir unter Spiel begreifen indem es eine Thätigkeit ist nur eine Thätigkeit entweder einer eignen Function oder mehrerer Beziehungen zu einander einer Einheit zusammengefaßt seyn. Dadurch schon an und für sich Übung weil es ein Gesetz aller menschlichen Thätigkeit ist daß eine Thätigkeit von einer bestimmten Art durch die Wiederholung erleichtert wird. Ist das was Anfangs schwer war leicht geworden so läßt sich specielles daran anknüpfen. | Denken wir das Spiel als ein progressives, so erscheint es immer als Übung. Das andere ist dieses: 17 es] die

24 begreifen] begreifen nur

6–9 Vgl. SW III/9, S. 77: „D i e Tre n n u n g dieser verschiedenen Momente geschieht allmählig; sie i s t ein e f o rt sc h re i t e n d e E n t w i k k l u n g und tritt vollkommen hervor, wenn die Zustimmung des Zöglings für die Rükksichtnahme auf die Zukunft gegeben ist. Ob nun hier eine bestimmte Abstufung zu machen sei, oder die Erziehung auch wie das Leben selbst einen allmähligen Uebergang bilde, wird sich erst später ergeben können.“ 17–18 Vgl. SW III/9, S. 78: „Es ist ein und dasselbe Wort, durch welches Uebungen bezeichnet werden die mehr das Spiel, und andere die mehr den Ernst andeuten.“ Gemeint ist das lateinische Wort „ludus“. 18–19 Vgl. SW III/9, S. 78: „Gymnastik und Musik, jedes ist beides, die spielende und die ernste Uebung, leichte Uebung des Spiels und ernste Beschäftigung.“

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Jedes Vermögen ist in dem Menschen als ein sich entwickelndes und er hat nur ein volles Bewußtseyn davon, wenn das Bewußtseyn diesen Charakter an sich trägt. Die ersten Augenblicke des menschlichen Bewußtseyns sind rein momentan – und auch bewußtlos. Sobald aber das Ansichknüpfen der Momente sich zeigt dann muß eine Vergleichung sich entwickeln und daraus entsteht das menschliche Bewußtseyn der menschlichen Kräfte als sich entwickelndes. Wenn aber das Spiel seiner Einrichtung nach Übung ist, so ist es im Zögling die vollkommenste Befriedigung des gegenwärtigen Zustands ohne Rücksicht auf die Zukunft. Ehe wir nun doch unsere weitere Theorie gründen können, müssen wir noch fragen in wie fern die pädagogischen Einwirkungen Einheit sind oder in sich selbst einen bestimmten Grund der Eintheilung der Sonderung enthalten. Hier gibt es verschiedene Gesichtspunkte, der natürlichste der eigentlich anthropologische – können wir hier und jetzt übergehen[;] die pädagogische Einwirkung ist auf das ganz natürliche des Zöglings gerichtet und das ist allerdings eine Einheit. Dagegen zerfällt diese wiederum in sich in eine Mannigfaltigkeit von Functionen und weil diese zusammenhängen muß jede von ihnen ein Gegenstand der pädagogischen Einwirkung seyn. Die Aufgabe wäre das Verhältniß in welcher diese Functionen des Lebens Gegenstände der pädagogischen Thätigkeit seyn sollen oder können. – Dieses muß den Grund enthalten zu der materiellen Theilung des ganzen Geschäfts und wird seine Erledigung erst später finden können. Ein anderer Gesichtspunkt. In wie fern die pädagogische Einwirkung Eins sey im Verhältniß zu dem was außer ihr auf den Zögling einwirkt. Wir haben schon bisweilen uns der Ausdrücke bedient von Mitwirkung als Charakter der pädagogischen Einwirkung, und von einer Gegenwirkung die wir beschreiben müssen. Hier aber ist es der Ort, die Frage in ihrer Allgemeinheit zu fassen. Wenn dieß wirklich sich so verhält, so kommen uns zwey pädagogische Thätigkeiten vor von ganz entgegengesetztem Charakter. Wo zwey derselben zusammengehören und nach gewissen Perioden geordnet werden sollen: Da müssen wir diesen Gegenstand noch einer theoretischen Prüfung unterwerfen. Wir können uns nicht anders helfen als wir fangen an, daß wir uns den Menschen denken von seiner Geburt an in der menschl i c h e n G e s e l l s c h af t aber ohne daß eine absichtliche zusammenhängende Einwirkung auf ihn geübt werde[,] auf eine chaotische Weise allen den Eindrücken überlassen wird, die der Moment mit sich bringt, und ohne daß die die auf das junge Gemüth wirken sich eines bestimmten Gesetzes bewußt werden. Wenn wir uns diesen Fall denken, so werden wir sagen müssen, es scheint keine richtige Antwort 25–26 was außer ihr auf den Zögling einwirkt] was außer dem Zögling auf ihn einwirkt

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darauf möglich zu seyn was daraus für ein Resultat entstehe. Denken wir uns die Menschen auf einer gewissen Stuffe intellectueller Ausbildung und also sittlich, so sagen wir es hätte unter solcher Voraussetzung ohne pädagogische Thätigkeit doch ein günstigeres Resultat hervorgehen können, als unter anderen Umständen, wenn es eine pädagogische Thätigkeit gibt, diese aber zu kämpfen hat gegen das was durch die Unsittlichkeit im jungen Gemüth erregt wird. Der einzige Unterschied der sich finden müßte läge nur auf einem bestimmten Gebieth, das was auf irgend eine Weise unter den Begriff des Technischen fällt, würde vernachlässigt werden wenn es keine pädagogische Thätigkeit gäbe, durch welche man das Gleiche im weitesten Sinne des Wortes als Zweck der Erziehung annimmt. Denken wir uns daß in einem frey gelassenen Leben in einer gewissen Zeit sich gewisse Neigungen im Zöglinge bilden, – so wie diese wirken, wird er seine zusammenhängenden Übungen in gewissen Functionen sich einrichten – autodidactisch. Wo bestimmte Anlagen [sind], würden sich diese auch ohne Erziehung entwickeln, nur etwas später. Wenn wir nun die andere Voraussetzung nehmen, daß die Umgebungen nicht auf einer solchen Stuffe der Vollkommenheit stehen, dann wird niemand läugnen, daß die Kräfte der Pädagogik eintreten müssen. Mit der Nachahmung verhält es sich offenbar so, daß das Unschöne immer mit der Nachahmung anfängt, und nur in dem Maaße als sich seine Eigenthümlichkeit auswirkt entsteht etwas in ihm was sich der Nachahmung entgegensetzt. Ehe dieser Zeitpunkt gekommen ist, würde die Nachahmung schon Resultate hervor gebracht haben, die hernach von der eignen Kraft aus nur sehr schwer überwunden werden können. Also verschiedene Gesichtspunkte des Geschäfts der Erziehung anzusehen je nachdem man von dem einen oder anderen Punkte ausgeht. Der eine Gesichtspunkt, daß die Erziehung im eigentlichen Sinne würde überflüssig seyn, wenn die erziehende Generation auf einer höheren Stuffe gleichmäßig stände, so würde man sagen das Wirken der Erziehung besteht bloß in der Gegenwirkung, das andere meint man würde von selbst entstehen. Der andere Gesichtspunkt ist der, wenn man davon ausgeht, daß was unter den günstigsten Umständen doch würde benachtheiligt werden, wenn eine absichtliche Einwirkung nicht erfolgt ist, was durch Uebung hervorgeht. Wenn man hievon ausgeht und sich den Begriff in seinem ganzen Umfange denkt, wird man zugeben, daß sich das nicht auf das Technische beziehe in dem engeren Sinne, sondern daß die ganze freye Thätigkeit als solche durch Uebung erhöht werde. Dieses Selbstbewußtseyn ist auch etwas der Natur nach in der Gesammtheit sich Entwickelndes und als solches in die Erscheinung tretend. Sowie man dieses festhält muß man 3 hätte] sey

32 das] daß

32 meint] meit

33 würde] wüde

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zugeben, daß [man] diese Entwicklung durch Einwirkung von außen begünstigen und hemmen kann. Sie fällt mit unter eben jenes Gebieth und von ihr ist auch zu sagen, daß ihre Erfahrung beschleunigt und gehemmt werden kann durch Einwirkungen von außen. Hieraus läßt sich das Entgegengesetzte aufstellen, daß die Erziehung aller Gegenwirkung entübrigt seyn kann, wenn sie in gehörigem Grade die Unterstützung desjenigen ist was das Wesen der menschlichen Seele ausmacht. Diese beyden Voraussetzungen haben ihren Grund in der Gesinnung. Aus diesem Gesichtspunkt angesehen sind sie so gegen einander zu stellen, die eine Maxime würde aussagen, Erziehung dürfe nur Erweckung des Guten seyn, in Beziehung auf beydes nur die Erweckung und Unterstützung des Guten, die Unterdrückung des Bösen natürliche Folge. Die andere noch entgegengesetzte Maxime: die Erziehung dürfe nur Gegenwirkung gegen das Böse seyn, zum Guten läge der Keim in der Seele selbst und würde durch das Zusammenwirken aller äußeren Kräfte entwickelt. Worinn liegt denn eigentlich der Unterschied zwischen diesen Maximen? Darauf hinaus, daß der Einen zu Grunde liegt die Voraussetzung von dem Angeborenseyn des B ö s en und der anderen die Voraussetzung des Angeborenseyns des G u t e n , denn die Theorie daß die Unterdrückung des Bösen schon die natürliche Folgerung seyn würde von der Erweckung des Guten setzt voraus daß das Böse nur auf eine secundäre Weise entstehe und dagegen die entgegengesetzte daß das Gute sich von selbst entwickeln werde wenn man das Böse unterdrückt. Wir können uns hier nicht auf diese Theorie einlassen. Wir fragen nur was für Folgen für unsere Aufgabe aus dem einen und anderen entstehen. Wenn wir die pädagogische Thätigkeit als das, was unser Gegenstand ist setzen, so steht sie in Relation zu dem was das besondere Leben des Zöglings ist und zu den übrigen Einwirkungen die auf ihn geschehen. Von Anfang an nicht zu sondern, erst später tritt beydes aus einander, die Persönlichkeit des Zöglings als ein Factor für sich, dann erst auf bestimmte Weise zu unterscheiden, wo alle diese Gegensätze schon im Gange sind. Es fehlt uns an allen Gründen auf die eine oder andere Seite zu treten und wir müssen sagen es kann seyn daß es einzelne gibt, von 3 beschleunigt] bescheunigt men?] Maximen.

10 Maxime würde] würde die Maxime

17 Maxi-

6–7 Vgl. SW III/9, S. 82: „w e n n si e i m h ö c h s t e n G r a d e U n t e r s t ü z u n g d e r S el b s t en t w i k k l u n g d e sse n i st w a s d i e S e e l e d e r m e n s c h l i c h e n N a t u r a u s ma c h t . “ 8–12 Vgl. SW III/9, S. 82: „Wir stellen sie einander gegenüber auf diese Weise. Na c h d e m e i n e n G e si c h t sp u n k t haben wir d i e M a x i m e , die Erziehung solle und dürfe nur die Erwekkung und die Unterstüzung des guten sein, und zwar in Beziehung auf die Vorbereitung des Hineintretens in die größeren sittlichen Lebensgebiete, und in Beziehung auf die Entwikklung der persönlichen Eigenthümlichkeit.“

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denen das eine vollkommen richtig seyn würde und andere von denen das andere vollkommen richtig seyn würde, keins von beyden als etwas allgemeines anzusehen. Daraus folgt[:] Die Erziehung soll zusammengesetzt seyn aus U n t e r s t ü t z u n g und aus Geg enw irkung en. Aber hier entsteht die Schwierigkeit daß wenn wir annehmen daß beydes ganz verschiedene Elemente der Erziehung sind, so gerathen wir in eine völlige Rathlosigkeit, [in einem] Moment das eine und das andere zu thun. So wie wir uns nun beyde Sätze aufstellen, so verschwindet uns die Theorie, denn es bleibt dann zufällig, was jeden Augenblick geschehen wird. Wir können nicht anders als diese Combination anzunehmen, das Wesen der Erziehung als in einanderseyn der beyden im Voraus zu bestimmen, daß wir eine Theorie der Erziehung haben nur dadurch daß wir ein bestimmtes Verhältiß zu einander finden und eine Regel nach welcher entschieden werden kann, welches von beyden eintreten soll, und das ist die wesentliche Aufgabe. Wir haben schon gesehen, wie das Vorige mit der Voraussetzung zusammenhängt die wir nicht glaubten entscheiden zu können. Etwas allgemeines voranzuschicken, daß wir dieß nicht als Aufgabe für die Erziehung sondern als eine allgemein ethische betrachten müssen. Die allgemeine sittliche Aufgabe würde da diese seyn. Wir können in dieser Beziehung nicht anders denken den menschlichen Willen als einen sittlichen Trieb auf die Totalität zu beziehen. Eine wirkliche That aber nur unter besonderer Form. Wir sollen also dem allgemeinen Willen einen speciellen Gehalt geben durch äußere Aufforderung oder eignen Willen. Wir werden sagen müssen[:] Es ist dieses eine Entscheidung indem die Erziehung aus verschiedenen Bestandtheilen zusammen gesetzt ist. | Wenn wir dieses betrachten in dem Lauf des Lebens, als in jedem Augenblick zugleich in der Form der Zeitlichkeit des Werdens gesetzt. Was der Zögling in jedem Moment wird, das ist seine innere Lebenskraft geistig und leiblich aber bezogen auf das was von außen einwirkt, die äußere Aufforderung. Die Aufgabe daher zwiefach – bald mehr die Thätigkeit des Zöglings und bald mehr die äußere Einwirkung zu berücksichtigen. In so fern wir nun unentschieden lassen ob sich das Gute oder das Böse als das Primitive oder Secundäre verhält. Wir müssen voraussetzen, daß die innere Beschaffenheit des Zöglings 25 indem] in dem

34 sich] sie

35–2 Vgl. SW III/9, S. 85: „Da aber in der inneren Thätigkeit so wie in der äußeren Einwirkung das böse und das gute sein kann: so werden wir als möglich voraussezen müssen, daß die innere Thätigkeit oder die innere Entwikklung des Zöglings eine Aufforderung enthalte bisweilen zur unterstüzenden bisweilen zur hemmenden Einwirkung. Eben so auch mit Beziehung auf die äußere Einwirkung auf den Zögling wird zuweilen eine unterstüzende zuweilen eine hemmende pädagogische Thätigkeit eintreten müssen.“

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eine Aufforderung enthält bisweilen zu Unterstützender bisweilen zu Gegenwirkender wenn sie dem [Guten] zuwider sind. Die Sache liegt also so daß wir in der Theorie die unterstützende und gegenwirkende Thätigkeit jede bestimmt für sich aufzustellen, und der Praxis zu überlassen haben, was nun in jedem Augenblick gethan werden soll. Die Theorie gibt dann eben das was das reale Bewußtseyn in der Praxis [gibt]. So werden wir sagen können, diese Schwierigkeit sey gelöst und nicht nur für diesen Gegensatz sondern für jeden, wo wir die Glieder so verbinden müssen, daß wir sagen was in dem Moment zu thun sey, hängt ab von den Aufforderungen die der Moment mit sich bringt. Mehr haben wir nicht gewonnen als daß diese uns dann im Anfang entstehende Unmöglichkeit nicht hindern könne anzunehmen, daß beydes in der Erziehung nöthig sey. Aber früher eine andere Dupplicität in unserer Aufgabe festgestellt. Die Erziehung hat die Aufgabe den Zögling an den Staat als einen tüchtigen abzuliefern und seine persönliche Eigenthümlichkeit mit zu entwickeln, einen jeden an alle die großen Lebensreihen als einen mit persönlicher Eigenthümlichkeit ihren Gesammtanlagen gemäß tüchtig Thätigen abzuliefern. In der pädagogischen Thätigkeit zu gleicher Zeit beydes nur in verschiedenen Beziehungen. Nun dieses beyde mit einander zu vergleichen. Wie verhalten sich die beyden Formen gegen einander? Verschiedene Beziehungen in welchen man das eine und andere für angebracht halten könne. Das Gute das nicht bestimmt werden soll und das Böse dem man entgegen wirken soll. Wie verhält sich beydes zu jenen Hauptaufgaben der Erziehung? In der persönlichen Eigenthümlichkeit in so fern sie als etwas Angebornes und Ursprüngliches gesetzt ist, kann das Böse nicht gesetzt seyn. Darüber haben wir uns schon erklärt. Es ist offenbar wenn man das Gegentheil sagen wollte, so würde man ein [ ] im Gegensatz des Guten und Bösen annehmen müssen. Dagegen sträubt sich die menschliche Natur. Wie in Beziehung auf die großen Lebensgemeinschaften. In denen finden wir auch für nicht mehr zu erziehende, sondern für die erzogenen Anstalten welche Gegenwirkungen in sich schließen gegen das Böse, – alle Strafgesetze im Staat, die religiöse Gemeinschaft alles was etwas von Reue, Buße erwecken soll; Sehen wir auf das allgemeine gesellige Verkehren da finden wir allgemeine Principien des Lobens und Tadelns. Hier hat dieses seinen 22 einander?] einander. 29 ein] es folgt ein Spatium von etwa 2 cm Länge, zu ergänzen wohl ursprünglich verschiedenes Verhältniß der Menschen (vgl. SW III/9, S. 87) 30 müssen] müßte 34 alle] Alle 30–31 Vgl. SW III/9, S. 87: „Dagegen sträubt sich unser Bewußtsein, da dieser Gegensaz dieselbe Allgemeinheit hat wie der Begriff der menschlichen Natur.“

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ursprünglichen Sitz und bezieht sich besonders auf das Verhältniß der Erziehung zu den großen Lebensgemeinschaften wogegen was den Einzelnen für sich ausmacht, darinn sey alles Ursprüngliche als gut gesetzt. Wenn es Gegenwirkungen in der Erziehung gibt so werden in das Eine Gebieth hineinfallen und nicht in das andere. In Beziehung auf jede Anlage zu einer gewissen Eigenthümlichkeit bedarf jenes freylich keiner Gegenwirkung[,] da sey nur Unterstützung – nur was diese Eigenthümlichkeit hemmen will dem ist entgegenzuwirken, wogegen im anderen Gebiethe diese Dupplicität statt findet. Wenn der Staat Strafgesetzen folgt, weil das Individuum mangelhaft erzogen wurde. So in der religiösen Gemeinschaft. So in Beziehung auf den allgemeinen menschlichen Verkehr. Wenn unter dem vollendeten Gouvernemént der Mensch im Leben freygestellt würde, wenn alle in Übereinstimmung leben, so könnte sich das gemeinschaftliche Gefühl nicht als Tadel und Lob aussprechen. Wäre diese Einwirkung gehörig in die Erziehung gelegt worden, so würde kein Platz mehr für sie seyn. – Nun noch eine ähnliche Vergleichung. Wir haben uns die Frage aufgegeben wie die einzelnen Lebensmomente der zu erziehenden anzusehen wären in Beziehung auf das Verhältniß der Gegenwart zur Zukunft. Gegensatz zwischen momentan befriedigter Lebensäußerung in Beziehung auf sich und in Beziehung auf die Zukunft. Entscheidung nach anderer Weise. Am Anfange der Erziehung beydes wie in einander. Je mehr sie sich ihrem Endpunkt nähert desto mehr müssen beyde aus einander treten. Wie nun der Gegensatz zwischen unterstützender und gegenwirkender Form der Thätigkeit sey in Beziehung auf diese Dupplicität? Hier eine Gegenwirkung nur möglich wo die aufgestellte Formel in ihrer Wirksamkeit auf irgend eine Weise gehemmt erscheint. Wenn beydes allmählig aus einander tritt, so ist auch kein Grund zu gegenwirkender Thätigkeit. Wenn nun im Zöglinge selbst oder durch äußere Einwirkungen ein Streit zwischen beyden gesetzt ist und Neigung da ist das eine dem anderen wirklich zu opfern und als Null zu setzen, dieß würde der Erziehung als Gegenwirkung auftreten. Nun haben wir den Grundsatz schon betrachtet in Beziehung auf den Gehalt der pädagogischen Thätigkeiten, so weit wir aus ihnen eine Anleitung haben darstellen können. Zurückzugehen auf die Art wie in uns entstanden – wie sich das uns jetzt zeigt, nachdem wir den Gegensatz auf den Innhalt bezogen haben. Drey Arten ursprünglich als möglich gedacht. Daß die Erziehung würde wollen ganz und gar als Gegenwirkung angesehen werden oder daß die Erziehung ganz könnte als Unterstützung auftreten und die Gegenwirkung an sich 6–7 freylich] feylich 14 leben] geben 15 Lob] Lob könnte 26 Dupplicität?] Dupplicität. 35 Anleitung] Anleitungen 40 auftreten] auftreten werden

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eintreten würde oder daß durch die Unterstützung des Guten das Böse schon von selbst könne gehemmt werden. | Die dritte daß beydes müsse mit einander verbunden werden. Wie stellen sich diese verschiedenen Ansichten jetzt gegen einander? Wir müssen fragen: Was sind dann außer der Erziehung das für Einwirkungen auf den Zögling, welche auch mitgesetzt werden sollen und denen überlassen wird was durch die Erziehung nicht geleistet wird? Diese Einwirkungen, welche bloß aus der äußeren Natur kommen können nur das Leibliche Animalische betreffen, da ist der Gegensatz des Nützlichen und Schädlichen ein anderer als der des Guten und Bösen. Davon abstrahiren wir und wir müssen sagen: Alle Einwirkung der äußeren Form nach [kommt] also von Einzelnen, die eben nichts anderes als Glieder jener größeren Lebensgemeinschaften sind, in die der Erzogene dann auch eintreten solle. Indem sie deren Glieder seyen, sollen sie zugleich deren Repräsentanten seyn. Nehmen wir an daß sie das sind, und daß alle Menschen die unter der bloßen Form des gemeinsamen Lebens, abgesehen von der einzelnen, pädagogischen Arbeit auf die jüngere Generation wirken, alle im Sinn und Geist ihrer Lebensgemeinschaft, so würde in ihrer Einwirkung nichts seyn dem in der folgenden Thätigkeit eine Gegenwirkung würde entgegengesetzt werden. Unter dieser Voraussetzung keine andere Gegenwirkung übrig als gegen etwas was sich durch die innere Lebensthätigkeit des Zöglings selbst entwickeln könnte als Gegenstand der Gegenwirkung. Unter dieser Voraussetzung wäre ein Widerspruch gesetzt zwischen der Selbstentwicklung des Einzelnen und der Gesammtheit aller Einwirkungen [die] auf ihn von außen wirken. Niemand [wird] Bedenken haben daß unter dieser Voraussetzung die Erziehung auch nicht nöthig haben wird als Gegenwirkung aufzutreten. Das Kleine müßte von dem Großen überwunden werden. Es beruht auf der Voraussetzung: Von der Vollkommenheit aller größeren Gemeinschaften ist die Erscheinung des menschlichen Lebens nur Annäherung zu dieser Vollkommenheit und unser Satz: Je vollkommener die Organisation der großen Lebensgemeinschaften ist und die Harmonie von einzelnen Gliedern derselben mit der Beschaffenheit des Ganzen um desto weniger muß die pädagogische Thätigkeit als Gegenwirkung einwirken. Hier kommen wir wieder auf eine genaue Beziehung zwischen unserer Aufgabe und dem gesammten Zustand jener größeren Lebensgemeinschaften. Je vollkommener diese ist, desto geringer bedarf die pädagogische Thätigkeit zu seyn als Gegenwirkung. Wenn man von dem ausgeht, daß die pädagogischen Thätigkeiten nur als Unterstützung auftreten, ob wir auch ein analoges Resultat erhalten, wenn es gleich 7 wird?] wird.

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in Beziehung auf seinen Innhalt ganz entgegengesetzt seyn wird? Aus dieser Voraussetzung aber Qso gesehenR daß uns dieser Unterschied am wenigsten absichtlich und methodisch zu seyn braucht, weil, wo jene großen Gemeinschaften in ihrer Vollkommenheit sind, wird auch Harmonie seyn zwischen Kirche und Staat und zwischen beyden und dem geselligen Verkehr. Im geselligen Verkehr ist eine übereinstimmende Sitte. Wer nun im sittlichen Verkehr an eine Theorie, Methode dabey denkt, so würde die Einwirkung auf die jüngere Generation nur Ausfluß auf diese seyn. Die Erziehung würde dann nur der der Sitte gemäße Umgang der älteren Generation mit der jüngeren seyn. Die Vollkommenheit des menschlichen Zustands aus zwey Momenten. Wenn wir das andere gesetzt haben, die Vollkommenheit, so besteht diese wieder aus zwey Theilen die Vollkom m enheit der Fo r m an sich betrachtet und dann die A n g emessenheit des Einze l n e n z u d i e se r E i n r i c h t u n g. Wenn wir sagen unter Voraussetzung einer solchen absoluten Vollkommenheit würde die Erziehung als besonderes Bestreben, worüber es eine Theorie geben müsse aufhören. Mangel zwischen Identität und Gleichgewicht zwischen diesen zwey Punkten und die Nothwendigkeit der Erziehung tritt ein. Je mehr wir uns denken, daß von der Angemessenheit der Einzelnen zur Idee des Großen fehlt, desto mehr Gegenwirkungen müssen geschehen, je mehr von der Vollkommenheit der Einrichtungen fehlt, desto mehr wird es nothwendig daß in die heranwachsende Generation etwas komme, was in der älteren Generation nicht ist oder mit dem Staat vorwärts schreite. Wir können uns dieß als einen Maaßstab ansehen wie unter verschiedenen Verhältnissen die Erziehung verschieden wird zu organisiren seyn. Wir stoßen hier auf eine Schwierigkeit die uns wieder auf einen andern Punkt führt. Wenn wir sagen das Mißverhältniß zwischen den Einzelnen und den Einrichtungen der Verfassung des Ganzen macht nothwendig die Erziehung unter Form absichtlicher Gegenwirkung und nach Regeln vorgerichteter Gegenwirkungen so entsteht die Frage: Von wem soll denn diese Gegenwirkung ausgehen? Es gibt überall eine solche Auswahl, in welcher dieser Zwiespalt nicht ist. Wir werden also sagen diese sollen eigentlich er1 wird?] wird.

22 fehlt] feht

3–7 Vgl. SW III/9, S. 90: „weil wo die großen Lebensgemeinschaften vollkommen sittlich gestaltet sind, eine Harmonie sein muß zwischen ihnen, also zwischen Staat, Kirche, dem geselligen Leben und dem Gebiete des Wissens. Alles ist eine Sitte geworden.“ 22–25 Vgl. SW III/9, S. 90: „ d e st o n o t h w e n i g e r i s t , d a ß i n d i e j ü n g e r e G en er a t i o n e t w a s h i n e i n k o m m e w a s i n d e r M a s s e n i c h t i s t , d a m i t d i e Ve r f a s s u n g v o l l k o m m e n e r w e rd e ; d a s a b e r w i rd a u f d i e S e i t e d e r u n t e r s t ü z e n d en T h ä t i g k e i t f a l l e n .“

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ziehen. Wie aber unter der anderen Voraussetzung? Und fragen ebenso wer soll da die Erziehung leiten, da müssen wir sagen wenn es uns was gelten soll der pädagogischen Thätigkeit ebenfalls zu folgen, so müssen wir annehmen, daß es in der erziehenden Generation eine solche Klasse gibt, die das Bessere, was noch nicht vorhanden ist, im Auge hat und wir werden sagen: Diese müssen erziehen. Das zuletzt erwähnte Vorzug der Erkenntniß, das erste Vorzug der Sittlichkeit. – Beydes [steht] auf solche Weise zu einander daß beyde aus Einer Quelle hervorgehen, und neben einander bestehen. Unter der ersten Voraussetzung ist eine besondere erziehende Thätigkeit noch frey, unter den letzten Voraussetzungen ist wirklich jemand da der die Erziehung leiten kann. Sagen wir aber im Allgemeinen wenn man in einer großen Masse einen Unterschied macht zwischen Ausgebildeten und Ungebildeten so werden die Erziehenden in der 1. Klasse seyn. Über das entsteht die Frage: | Wer soll aber diese erkennen? Der wird die Erziehung übernehmen, der erkennt und so kommen wir wieder auf die 1. Frage zurück von wem eigentlich die Erziehung ausgehen soll und wer erziehen soll? Wer soll erziehen? An und für sich betrachtet da der Mensch in der Familie geboren wird und in Beziehung auf seine physische Existenz von Anfang an schon Unterstützungen und Gegenwirkungen nothwendig macht diese aber vor aller Theorie von den Eltern ausgehen und dieses schon der Anfang der Erziehung ist, so ist ja das natürlichste dieses, daß wo die Erziehung anfängt, sie auch fortgeht, und überall die ersten Anfänge und der Fortgang des Ganzen muß von den Eltern ausgehen. Aber die Familie steht mit dem sittlichen Verkehr, mit dem Staat und der Kirche in Verbindung. So entsteht eine entgegengesetzte Ansicht. Nun sagt der Staat: Die künftige Generation wird für mich geboren und ich muß bestimmen ob und in wie weit die Eltern die Erziehung leiten können. Dasselbe wird die religiöse Gemeinschaft aus ihrem Standpunkt auch sagen. Und der allgemeine gesellige Verkehr, dieser sich am allerleichtesten damit ausgleiche und nur die Prätention [hat], daß die Jugend frühzeitig in den geselligen Verkehr hineinkomme. Wie sollen nun diese entgegengesetzten An2 wer] wenn

30 Eltern] Etern

1 Vgl. SW III/9, S. 91: „Wie ist es bei der anderen Voraussezung, daß die Leitung Unterstüzung der geistigen Thätigkeit sei, damit in die Jugend dasjenige gepflanzt werde, woraus Verbesserung der Institutionen hervorgehen könne?“ 6–7 Vgl. SW III/9, S. 91: „Die ersteren würden sich, in so fern sie nicht im Zwiespalt mit dem ganzen stehen, auszeichnen durch die Willenskraft; die anderen durch die Erkenntniß.“

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sprüche ausgeglichen werden? Wenn wir sagen weil die entgegengesetzten Ansprüche da sind, so sollen der Staat und die religiöse Gemeinschaft sich zurückziehen und voraussagen wir sehen daß es besser ist, wenn wir die Erziehung leiten würden und wollten darauf denken, daß der Staat durch Gesetze den nachtheiligen Folgen einer verfehlten Erziehung vorbeuge. Strafgesetze im Staat und Erziehung im Staat. Hievon muß eine große Unvollkommenheit übrig bleiben. Der Zwiespalt würde sich immer mehren so wie der Nachtheil für beyde. Die entgegengesetzte einseitige Maaßregel aus dem Gesichtspunkt des Staates er würde sagen[:] Es ist kein Kennzeichen daraus den zwey Klassen zu überlassen und wenn es auch möglich wäre und man sagte die Kinder der Gebildeten können ihre Kinder selbst erziehen hingegen die der Ungebildeten müssen sie dem Staat überlassen, so gäbe dieß einen unausweichlichen Zwiespalt zwischen beyden. Das wird nicht gehen, und der Staat würde die ganze Erziehung lenken. Platonische Republik. Aufhören des Hauswesens wo öffentliche Erziehung ist und die Verbindung von Mann und Frau vorübergehend unter den Gesetzen des Staates. Hier geht ein so wesentliches Element des menschlichen Lebens verloren, daß wir sagen müssen die sittliche Macht des Menschen würde zu stark dagegen wirken. Ein Auskunftsmittel liegt schon darinn daß wenn auch die Erziehung von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende Ein Ganzes bildet, darnach in zwey Perioden zerfällt, die wesentlich verschieden sind. Diese biethen ein Auskunftsmittel dar, die bloß physische Fürsorge die durch die Natur in die Angehörigkeit der Eltern gelegt ist gilt durch die erste Periode der Erziehung durch. Starke Indication darauf daß die 22 darnach] davor sich

24 die] und

1–14 Vgl. SW III/9, S. 92–93: „Z u e rst , wir nehmen an, daß Staat und Kirche, weil die entgegengesezten Ansprüche da sind und sie sich mit den Aeltern nicht einigen können, sich zurükkziehen, die Erziehung den Aeltern überlassen. Staat und Kirche begeben sich also des besseren was sie ausrichten könnten, nur daß der Staat durch Geseze den Mängeln welche aus der fehlerhaften Erziehung | hervorgehen entgegenarbeitet. Ist nun die Theilung von gebildeten und ungebildeten Staatsbürgern vorhanden, und eben so von frommen und weniger frommen: so würden gewiß, wenn auch für die ersteren jene Behandlung der Erziehung vortheilhaft wäre, die ungebildeten und weniger frommen die Erziehung verderben. Der Zwiespalt wird immer größer werden. Z w ei te n s , die entgegengesezte einseitige Ansicht – wir betrachten sie vorzugsweise vom Standpunkte des Staates; die Anwendung auf die Kirche macht sich von selbst – wäre diese. Wenn man den einzelnen Familien die Erziehung überläßt: so würden zwar einige dieser Pflicht genügen, andere dagegen in keiner Weise. Nun aber ist nicht möglich, wenn auch ohne Irrthum vorher erkannt werden könnte welche Familien gut erziehen würden und welche nicht, die Kinder der ersteren von der Familie selbst, die der anderen vom Staat erziehen zu lassen. Eine solche Trennung würde den Gesammtzustand erschüttern.“

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Erziehung in dieser 1. Periode dem Hauswesen angehöre, wogegen in der 2. Periode solche Aufgaben arbeiten von denen nicht anzunehmen ist daß alle Eltern sie werden lösen können und da der Staat nun sagt[:] Hier geht meine Aufgabe der Erziehung an und ich will diejenigen erkennen, wo ich die Erziehung den Eltern abnehmen könne. Sehr natürliche Auskunftsmittel. Der gegenwärtige Zustand der Erziehung ist auf diese Ausgleichung basirt. Es ist natürlich daß wir sagen müßten: Es gibt eigentlich keine Grenze der Erziehung es ist ein allmähliges Übergehen und keine Grenze zwischen den zwey Perioden der Erziehung. Wenn nun in der einen der Antheil der Familie überwiegt und dieses auf bestimmte Weise sich darstellen soll, so ist es natürlich, daß es gewisse Uebergänge gibt und ein Antheil der öffentlichen der häuslichen Erziehung noch angehört etc. – Dieses ein Punkt wo wir uns nicht darauf einlassen können wenn wir uns nicht ins Unendliche einlassen können, nähere Bestimmung geben zu wollen. Da müßten wir anfangen das ganze öffentliche Leben für sich zu betrachten und die bestimmten verschiedenen Formen des Staates zu betrachten. Dieses gäbe völlig politische Betrachtung, die uns über die Grenzen hinaus führen würde. Also nothwendig diese Untersuchung abzubrechen. Dieses wollen wir annehmen als die bestehende Gestalt an welche sich unsere Theorie anschließen muß, und späterhin können wir vielleicht auf diese Frage zurückgehen. Also ein relativer Gegensatz zwischen der häuslichen Erziehung der ersten Periode und der öffentlichen Erziehung in der anderen, und erst später werden wir zu der Frage zurückkehren können, um so auch davon genaures festzusetzen. Die Abstuffung der Erziehung in zwey verschiedene Perioden findet beynahe bey allen Völkern dieses Welttheils statt. Zuerst wollen nun die allgemeinen Maximen betrachten die aus den bisher aufgestellten Reihen sich entwickeln lassen und dann das Besondere. Ehe wir aber zur Behandlung dieses 1. allgemeinen Theils schreiten, müßten wir noch die Frage aufstellen: | Ob und in wie weit ist die Erziehung Eine und dieselbe für beyde Geschlechter? Oder muß sie von vorn herein unterschieden werden? Das Ziel jenes zweyfache, ihn tüchtig zu machen für die Gemeinschaft und Entwicklung der persönlichen Eigenthümlichkeit. Was das letzte betrifft so wird hierinn kein bedeutender Unterschied zwischen beyden Geschlechtern. Die Regeln bey der Einwirkung würden die gleichen seyn, wenn auch die Resultate anders 16 anfangen] anfangen müssen

22 zurückgehen] zurückgehen können

15–17 Vgl. SW III/9, S. 94: „Wollten wir hierüber entscheiden, dann wäre die Aufgabe, das öffentliche Leben zu betrachten und die verschiedenen Formen des Staats und des Hauswesens zu prüfen,“

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kommen würden; anders die Erziehung für die größeren Lebensgemeinschaften. Im Staate tritt das weibliche Geschlecht nicht hervor, sein Intresse am Staat weit geringer, in Absicht auf religiöse Gemeinschaft ist Religiosität nicht eben weniger beym weiblichen Geschlecht als beym männlichen aber mulier taceat in ecclesia. Hier also bedeutende Unterschiede. In Absicht auch auf den allgemeinen geselligen Verkehr, da müssen wir gleich einen bestimmten Standpunkt annehmen, denn Verkehr unter verschiedenen Zeiten und Völkern gar verschieden. Wir müßten zuerst fragen welches Verhältniß das richtige sey? Dieß nicht auf unserem Gebieth. Wir sehen wohl daß wir über diesen ganzen Punkt nicht in der Unentschiedenheit bleiben können. Denn wenn Erziehung und geselliger Zustand in seiner Einwirkung überhaupt auf einander einwirken, so ist es ja vorzüglich Erziehung was den geselligen Zustand bildet. Wir müssen suchen von einem anderen Punkte aus die Sache zu betrachten. Die Geschlechtsdifferenz selbst wenn sie als natürlich erscheint in allen Verhältnissen und die Erscheinung der Sache zum Grunde liege, so müssen wir hier bestimmt unterscheiden die l e i b l i c h e und ge ist ig e Kraft. Die leiblich e ist ursprünglich gegeben. Die ge i s t i ge erst allmählig entwickelt. So lang sie nur aus der leiblichen Erscheinung präsummirt werden muß, so kann es auch keine Bezugnahme darauf in der Erziehung selbst haben. Einen Zeitpunkt könnten wir finden wo die Erziehung dieselbe bleiben könnte. Doch diese Periode sehr zu beschränken, je mehr sie die einzelnen Thätigkeiten der Erziehung auf das leibliche richte, desto mehr müßte diese Gemeinschaft aufhören. Freylich ist es wahr daß das weibliche Geschlecht im öffentlichen Leben des Staates sich zurückzieht. Aber das Hauswesen doch das erste organische Element des Staates. Der Staat immer nur ein Aggregat von Hauswesen. Dieses also die erste Basis des Wohlergehens des Staates. Dadurch ist also an ihnen das Intresse des Staates nicht aufgehoben. Die große Masse des männlichen Geschlechts tritt auch nicht für den Staat hervor. Die Differenz der Geschlechter in dieser Hinsicht zu subsummiren unter die Differenz des B e r u f s . Von hier aus wieder eine Annäherung und [wir] sagen: Allgemein nicht festzustellen, daß die weibliche Erziehung eine andere seyn müsse im ganzen Gebiethe der Erziehung nahmentlich in dem wo die noch ungeschieden sind die auf einer hö20 leiblichen] leilichen

25 richte] ginge

28 Staates] Staates Staates

5 1. Korinther 14,34 12–14 Vgl. SW III/9, S. 96: „Denn da die Erziehung und der gesellige Zustand beständig auf einander wirken: so würden wir, wäre die Beziehung des weiblichen Geschlechtes zu dem geselligen Zustand unentschieden, keinen Maaßstab haben an welchen die für das weibliche Geschlecht aufzustellenden Erziehungsmaximen angelegt werden könnten.“

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heren oder niederen Stuffe stehen. Ob die Erziehung eine gemeinschaftliche ist, ist eine andere Frage, wir sagen nur nach demselben Typus. Aber noch weiter zu gehen. Indem das weibliche Geschlecht im Hauswesen eine pädagogische Thätigkeit ausübt und in die Erziehung zuerst thätig einwirkt so ist [dies] doch eine in Beziehung auf das Ganze leitende Thätigkeit. Ein Fall der häufig vorkommen kann, daß die ersten Elemente die der höheren Erziehung angehören doch in die Zeit hineinfallen können, wo beyde Klassen von einander noch unentschieden sind. Dann wieder das weibliche Geschlecht von dieser Erziehung nicht ausgeschlossen oder man müßte die Identität enger begrenzen. Wenn wir dieses Verhältniß der beyden Stuffen der Erziehung[,] gleichsam Vorahndungen der zweyten und Beziehungen darauf schon in der ersten QhabenR so könnte diese hineinfallen in die pädagogischen Thätigkeiten, die das Weib auszuüben hat, daher es am besten wenn es tingirt werde von demjenigen was eigentlich in die höhere Stuffe der Erziehung hineingehört. In sofern schon in der ersten Erziehung eine Vorübung für diese Wissenschaftlichkeit seyn müsse, so würde es nützlich seyn, wenn das Weib an diesen Vorübungen Theil nähme. So verringert sich uns der Unterschied sehr. Nun auf die Frage: Ist das Naturgemäß und wesentlich, daß in Staat und Kirche das weibliche Geschlecht so zurücktritt oder ist das nur w i l l k ü h r li c h ? Die Frage nicht leicht zu beantworten, auch in neueren Zeiten wieder aufgeworfen, eine Frage eigentlich außerhalb unserer Grenze, aber wir können uns kaum erwehren einen Versuch zu machen wie weit sich die Sache lösen läßt. Zwey große Erscheinungen, die Eine eine N a t u r b as i s , die Schwangerschaft, Gebären etc. die Bestimmung des weiblichen Geschlechts in Beziehung auf die Fortpflanzung ein partielles Zurücktreten aus dem öffentlichen Leben immer fordert; ihr öffentliches Leben durch die Natur auf gewisse Weise begrenzt; die andere geschichtlich. Wenn wir zurückgehen und uns die Entwicklung vorhalten, die das menschliche Geschlecht erfahren hat, so finden wir überall ein Zurücktreten des weiblichen Geschlechts bis nahe an Knechtschaft und wo höhere Bildung entwickelt und die Ungleichheit im Abnehmen je mehr hat sich ein Staat entwickelt. Daher könnte man sagen wir dürfen keine andere Grenze machen als die die Natur selbst gemacht hat. Wie kommen wir auf ein Resultat? Offenbar ein unbestimmtes. Festzuhalten von der einen Seite daß es eine Periode der Erziehung gibt, wo [es] für Geschlechtsdifferenz keine andere Unterscheidung geben kann als es sich an die natürliche Constitution anschließt. Daß aber von diesem Punkt aus sehr verschiedene Grade von Theilnahme finden können 1–2 gemeinschaftliche] geschlechtliche 12 QhabenR] wegen späterer Fadenheftung unsicher 15 in die] der 33 hat sich ein Staat entwickelt] sich ein Staat entwickelt hat 37 für] auf

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für das weibliche Geschlecht an dem was die weitere Bildung des männlichen Geschlechts betrifft. Wie nun die weibliche Erziehung so einzurichten, daß auf der einen Seite nichts geschieht was durch Naturbestimmung des weiblichen Geschlechts vergeblich gemacht wird, und daß alles geschieht was zu so pädagogischer Thätigkeit auf das Intresse des Geschlechts nöthig ist. Weiter im Allgemeinen nichts hievon.

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Wir haben auf die Differenz der pädagogischen Thätigkeiten zu sehen daß sie Unterstützung und Gegenwirkung sey in universeller und individueller Hinsicht was sich von außen und was sich von innen entwikkelt. Ob beydes nach verschiedenen Maximen zu behandeln ist, kann sich uns erst im Verkehr ergeben, im Allgemeinen haben wir keinen Grund sie anzunehmen. Die Voraussetzung daß die pädagogischen Thätigkeiten von zufälligen Einwirkungen von Resultaten umgeben sind. Offenbar je mehr sich dergleichen wiederholen, je tiefer sie eingreifen, desto stärker die Einwirkung, desto weniger kann im Gebiethe der unterstützenden Thätigkeiten gewirkt werden, desto weniger erreicht die Erziehung ihr Ziel. Hier zweyfache Möglichkeit um dieß zu verhüten, einmal daß überall wo ein solches abzuwendendes Bestreben erfolgt, alsdann sogleich eine Gegenwirkung eintritt welche stark genug ist, sie zu überwinden, als zweytes daß man suchen müsse jene Erscheinungen zu verhüten, daß sie gar nicht eintreten können. Das letzte scheint auf den 1. Anblick bey weitem das Vorzüglichere zu seyn. Denn das Verhüten kann nur dadurch bewirkt werden daß der Zögling auf eine gewisse Weise isolirt wird | und das ist keine Maaßregel die andere Thätigkeiten hinderte. Hingegen wenn man diese unberücksichtigt und die nachtheiligen Erscheinungen erst erfolgen läßt, alsdann auch eine bestimmte Gegenwirkung eintreten und keine unterstützende erfolgen kann. So scheint 29 erfolgen kann] kann erfolgen 4–6 Vgl. SW III/9, S. 100: „ a u f d e r a n d e re n S e i t e d e m w e i b l i c h e n G e s c h l ech t e s o v i el Vo rsc h u b g e l e i st e t w i rd a l s z u r Ve r b e s s e r u n g s e i n e r S t e l l u n g u n d s ei n e r E i n w i rk u n g a u f d i e k ü n f t i g e G e n e r a t i o n n o t h w e n d i g i s t , da m i t, w en n e s i m G a n g e d e r D i n g e l ä g e d a ß d i e U n g l e i c h h e i t n o c h w e i t e r a b n i mm t , d i e E r z i e h u n g n i c h t e n t g e g e n w i rke . “ 13–15 Vgl. SW III/9, S. 104: „Die Voraussezung ist diese, daß die pädagogischen Thätigkeiten von zufälligen Einwirkungen umgeben sind, von Reizen, die von außen auf den Zögling einwirken, oder aus seinem inneren entstehen, und die, weil die Idee des gemeinsamen Lebens in allen nicht gleich ist, dem was die Pädagogik bezwekkt oft widersprechen.“

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es als ob diese Methode bey weitem die vorzüglichere und beschleunigende wäre wozu noch das Resultat kommt, wenn einmal etwas im Zögling ist bewirkt worden was der Absicht der Erziehung zuwider ist, so ist doch immer eine Selbstthätigkeit dabey; die Erziehung daher immer in einer Opposition gegen seine Selbstthätigkeit das ist Unterbrechung desjenigen welches durch die unterstützende Thätigkeit ausgesprochen wird. Dieß die eine Seite der Sache. Nun auch die andere. Diese Verhütung kann nun auf eine andere Weise nicht bewirkt werden als durch ein relatives Isolirtwerden des Zöglings. Nun sind das Leben und die mannigfachen Einwirkungen desselben so complicirt, daß es nicht möglich würde, dieses durchzuführen wenn man nicht das System des Isolirens in gewisser Weise vollständig macht, so daß der Erzieher alle Einwirkungen berechnen könnte auf den Zögling, alle Umgebung mit der Erziehung zu identificiren. Die Schwierigkeit kann kein Grund dagegen seyn. Dieses 1. sofern es in ihm gegründet ist vorauszusehen würde noch schwieriger seyn. Jede Lebensthätigkeit aus zwey Factoren einem inneren und einem äußeren daher wenn die Veranlassungen solcher Erscheinungen verhütet würden so würden sie auch nicht zum Vorschein kommen. Aber diese Bezogenheit nun auf all die inneren Verhältnisse im Zögling welche sich erst allmählig entwickeln müssen macht die Schwierigkeit dieses Systems noch viel größer und ist die eigentliche Spitze desselben. Das Schwerste [ist] das beste und zu unternehmen. Man kann die Frage so stellen: Denkt man sich daß das ganze Leben auf diese Weise mit der Erziehung identificirt ist, und alle Umgebungen mit der Idee derselben in Harmonie gebracht werden[:] Was wird dieses besondere für eine Wirkung hervorbringen? Da glaub ich, wird die allgemeine Erfahrung und allgemeine Ahndung genug seyn, daß wir gestehen müssen, es geht so das Frische, Unmittelbare, Lebendige aus dem Leben verloren, die Freyheit die specielle Willensthätigkeit in sofern sie etwas persönliches ist. Dieß gedeiht nur in so fern alles was auf uns wirkt einen gewissen Schein der Freyheit hat, der in einer gewissen Zufälligkeit liegt, der so ganz entfernt liegt. Das Resultat würde dann dieses seyn daß dann durch ein solches System der Verhütung wenn es vollständig organisirt wird die eine Seite gewinnen würde (es würde nichts der Idee Widersprechendes in der jüngeren Generation sich gestalten), auf der anderen Seite verlieren weil die jüngere Generation hernach ins Leben als selbstthätig und mit einer gewissen Stärke der eignen Willenskraft ein9 sind] ist

18 verhütet] verhüten

26 werden] wird

31 gedeiht] Gedeiht

15–16 Vgl. SW III/9, S. 106: „und noch schwieriger wenn sich in dem Zögling selbst der Erziehung widerstrebendes entwikkelt.“

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treten soll und ferner bey weitem weniger würde erreicht werden können. Die Sache noch genauer. Wir setzen den Fall es würde ein solches System der Isolirung in der Erziehung durchgesetzt. Die Idee in der Platonischen Republik. Nun wollen wir annehmen die Erziehung sey vollendet, der Zögling hat gar keine Gewöhnung dem was ihm widerstreitet Widerstand zu leisten. Unter der Voraussetzung der absoluten politischen und religiösen Vollkommenheit ist ein Widerstreben nicht nöthig. Ist im freyen Leben auch nichts das dem [ ] widerstreitet – wohl. Ist dieß nicht der Fall, so kommt er ohne alle Übung auf den Schauplatz wo er seine freyen Thätigkeiten entwickeln soll. Da haben wir also etwas worauf die Erziehung nicht gearbeitet hat. Setzen wir voraus, daß unter solchen Umständen die Idee des Staates dem die Jugend angehört lebendig geworden, so ist sie es gewiß als etwas selbstthätiges, weil nichts der Erziehung Widerstreitendes entgegen gekommen ist. Diese ihre Bildung für die Idee des Ganzen ist daher nicht zureichend, es muß eine andere in ihnen entstehen. Auf der einen Seite verloren was auf der [anderen] Seite gewonnen wird. Nun ist zugleich das andere offenbar wenn wir sagten, von einer solchen Isolirung soll nichts vorkommen, erst hernach die gehörige Gegenwirkung zu leisten. Dadurch die Harmonie zwischen dem Erziehenden und dem zu Erziehenden beständig unterbrochen wird. Wie sollen wir nun entscheiden? Freylich schon am Wege daß wir werden beydes combiniren und auf eine andere Weise das ganze Gebieth zwischen beyden theilen müssen. Nun zu fragen wie wir diese Theilung anstellen sollen? Dazu müssen wir uns die ganze Sache noch einmal auf eine andere Weise vorstellen. Wenn wir uns auf den Punkt der Beendigung der Erziehung stellen, da soll der Grad von Einsicht der dem Einzelnen nach Maaßgabe des Amtes das er einnehmen wird zukommt, ihm festgestellt seyn, und ebenso der Grad von Willenskraft, den er veranlaßt ist mitzudenken. – Die Tugend und Verstand sollen in ihm selbstständig und in gehörigem Grad entwickelt seyn. Kennt er dieses was in irgend 8 dem] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl Zögling

28 ihm] davor soll

15–16 Vgl. SW III/9, S. 108: „Wenn wir noch weiter gehen und voraussezen, daß unter solchen Umständen die Idee des Staates von innen heraus in der Jugend lebendig geworden wäre, und daß in dieser Idee aller Kampf mit den Gegensäzen wol keine Stelle würde gefunden haben: so wird sie hernach die ganze Idee aufgeben müssen und in das gemeinsame Leben eingetreten eine neue entwikkeln.“ 31–6 Vgl. SW III/9, S. 108–109: „Kennt der einzelne nun nicht das böse was der Idee des gemeinsamen Lebens widerstreitet: so ist das ein Mangel an Einsicht, und seine Wirksamkeit würde erst nach einer Reihe nachtheiliger Erfahrungen dem ganzen förderlich sein. Ist seine Einsicht die rechte, und sie wird dies sein in dem Grade als die Idee des ganzen in ihm erwacht und er des Kampfes sich | bewußt ist; fehlt es ihm aber dann an Uebung im Streit: so wird doch das Leben ihm den Kampf anbieten, dem er nicht gewachsen ist. Leicht verleitet, wird er auch hier wieder seine Schwäche offenbaren.“

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einer Beziehung böse ist nicht gerade, so wäre das ein Mangel auf der Seite der Einsicht, Unwissenheit nachtheilige. Ist er nun im Streite gar nicht geübt und wirkt ihm nun dieses der Idee des Ganzen als etwas Unbekanntes entgegen, dann wird er den Widerstreit in seinem Bewußtseyn haben vorerst im Gemüth wenn auch nicht in der Einsicht, das würde also allerdings eine Schwäche seyn. Dieser muß vorgebeugt werden und gewiß muß dieses Abwenden der Unwissenheit und Schwäche beym Eintritt ins Leben vollendet seyn. Wann soll es aber anfangen? Nicht eher als wie die Erziehung in demjenigen versirt, wo etwas demselben Widersprechendes vorkommt und seinen Sitz hat. Vorher wird es | für alles eine Zeit geben, wo eine solche Bewahrung nicht nöthig ist. Im Allgemeinen stellt sich uns nur dieses dar, daß die Bewahrung, Behütung etwas Abnehmendes seyn muß, und daß sie schon muß ihr Ende gefunden haben vor dem Ende der Erziehung. Daß also das Freylassen des Lebens in seiner Einwirkung auf den Zögling eingetreten seyn muß in der letzten Periode der Erziehung und jede Uebung der Selbstthätigkeit im Kampf da ihren bestimmten und nothwendigen Ort habe. Von der anderen Seite angesehen scheint es als ob es eine Zeit geben müsse, wo das noch nicht im Zögling erwacht ist worauf die nachtheiligen Einwirkungen Einfluß haben können, und die Gegenwirkung noch nicht nöthig ist. Es gibt am Anfang der Erziehung eine Zeit wo alles Gebieth der Bewahrung fällt eine unnütze Sorge wäre, in dem noch keine üblen Folgen von dieser Einwirkung zu fürchten sind; und wieder am Ende der Erziehung die Uebung eingeleitet werden müsse. Es gibt so eine mittlere Gegend in der Erziehung, wo die Bewahrung ein heilsames Element seyn kann. Hier finden wir nun daß die Natur selbst damit zusammenstimmt, alle bestimmten Lebensthätigkeiten sind in ihrem ersten Anfang schwach, bedürfen der Schonung. Je mehr sie aber bestärkt sind, desto eher muß man versuchen sie dem Kampf auszusetzen. Das ist das Bild, das sich uns gestaltet für dieses Verhältniß in Beziehung auf die Zeit. Noch ein Beyspiel. Wir wollen sagen die Selbstsucht in dem Menschen ist etwas was der Idee des gemeinsamen Lebens widerstreitet. Solche Einwirkungen von außen durch welche die Selbstsucht erregt wird, würden eine Zeitlang dasjenige seyn was verhütet werden muß. Hernach würde eine Zeit kommen, wo man diese Einwirkungen zulassen müsse, daß die sittliche Thätigkeit dagegen streiten kann. So lang das Kind in keinen Gegensatz gegen seine Persönlichkeit gegen das gemeinsame Leben gestellt, so lang es keine Vorstellung von Eigenthum, oder vom Widerspruch zwischen seinem Willen und einem anderen 3 Ganzen] Ganzen entgegen 16 der Erziehung] des Zöglings Verwahrung 37 daß] davor um

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Willen, da wird alle Bewahrung in dieser Hinsicht unnütze Sorge seyn. So bald das nicht mehr der Fall ist und das Kind eignen Willen hat, da würde zuerst die Periode der Bewahrung eintreten, daß es keinen dem Gesammten entgegen tretenden Willen aus sich hätte, und immer nur in Gewöhnung dieser Harmonie bliebe, dann würde von diesem Anfangspunkt der Erziehung an eine 2. Periode eintreten wo man nicht hindern müßte, wenn dergleichen ihm von selbst unter Augen tritt. Nun uns das entgegengesetzte Gefühl in dieser Reihe entgegen zu setzen und zu stärken. Ehe irgend eine Funktion des Lebens in die Erscheinung tritt ist auch jede Behütung in Beziehung auf diese überflüssig. Von der Zeit an aber, wo sie in die Erscheinung tritt, und Gegenstand der Erziehung wird, da ist die erste Periode, wo die Bewahrung eintreten muß. Ebenso eine zweyte Periode wo die Bewahrung dann bald aufhört. Dieß in Beziehung auf die Zeit wenn die beyden Maximen die eine und die andere (aber nicht plötzlich einzutreten) die Oberhand haben. Ob aber nicht muß in Beziehung auf die Gegenstände, das Materiale der Erziehung, auch noch ein differentes Verhältniß obwalten, ist eine andere Frage. Zu einer Methode würde es nothwendig seyn, uns die Erscheinungen zu classificiren wo Gegenwirkung und Behütung anzubringen wären. 1.) eine völlige Vergleichung des ethischen Gebieths und dann noch ein Abriß aller anderen Gebiethe welche sich auf die verschiedenen Vermögen beziehen, die durch Erziehung erworben werden sollen. Ohne in dieses Einzelne zu sehen, etwas Allgemeines feststellen. Unter zwey Hauptformen, – die durch die Benennung des Unrichtigen, die andere des Unschönen. Beydes in allen den verschiedenen Gebiethen. Jeder wird sagen müssen Knauserey ist z. B. unschön, aber man wird nicht sagen können, da beginnt es, ebenso werden wir dasselbe sagen können in Beziehung auf das Gebieth der Fertigkeit – Verworrner Gebrauch der Sprache. Ein drittes gibt es nicht leicht zu diesen beyden, entweder unter der F o r m d e s G e d an k e n oder unter der Fo rm des G efühls. Ob es leicht sey im einzelnen Falle zu bestimmen was unter das eine und das andere gehört, ist eine andere Frage. Hilft uns aber diese Eintheilung? Es wird wenig Beobachtung dazu gehören, um sich zu sagen, daß das Unrichtige auf jedes Gebieth gebracht werden könne, um das Richtige 26–29 Vgl. SW III/9, S. 111–112: „Das unrichtige widerspricht bestimmten Gesezen, das unschöne aber dem was sich nicht unter bestimmte Formeln und Regeln bringen läßt, so daß man mit Bestimmtheit sagen könnte wo es | anfange und aufhöre. Ebenso im Gebiete der Fertigkeiten: was den Regeln einer Sprache widerspricht, ist unrichtig; aber ein holperichter Stil ist unschön.“ 30–31 Vgl. SW III/9, S. 112: „Denn jeder Widerspruch gegen eine pädagogische Thätigkeit wird entweder wahrgenommen unter der Form des Gedankens, also als das unrichtige, oder unter der Form des Gefühls, also als das unschöne.“

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von der Regel der widersprochen wird zu erläutern, ja daß es nicht möglich die Regel anzuschauen ohne zugleich durch den Widerschein einen Anfang des Unrichtigen zu bekommen. Auf diesem Gebiethe würde die Methode der Verhütung verkehrt seyn, weil sie mit der Methode selbst im Widerspruch sey und so [ist] das eine nicht ohne das andere. Auf dem Gebiethe des Sittlichen wenn da ein Geboth aufgestellt wird da ist zugleich Verboth, mit dem Richtigen eo ipso das Unrichtige. Ebenso wenn wir auf solche Fälle gehen, die sich dem anderen Gebiethe nähern. Wie ich nun z. B. in der Sprache in Absicht auf Construction die Regel gebe, so habe ich ihnen zu gleicher Zeit die ungleichen Fälle des Unrichtigen mit gegeben. Aber auf dem anderen Gebiethe findet das nicht statt, weil es sich vom anderen eben unterscheidet, es entzieht sich dem bestimmten Abmessen. Muster von schöner Schreibart – vorauszusetzen eine bestimmte Neigung das entgegengesetzte hervorzubringen. Diesem Triebe sind nun lauter vortreffliche Muster vorzulegen. Noch aus einem anderen Gesichtspunkte: Es kommt hier wieder auf einen Gegensatz an, in zwey verschiedenen Gestalten. Das Richtige und Unrichtige Schöne und Unschöne. Der eine Gegensatz ist der zwischen dem Guten und Nichtguten, Bösen, auf ethischem Gebiethe das eigentliche Gute und Böse auf technischem das Gute und Schlechte. Das eine Glied in einem anderen Verhältniß zu diesen Unterschieden als das andere. Wenn in irgend einer Beziehung in der Seele dieser Gegensatz noch nicht zum Bewußtseyn gekommen ist, so ist das U n s c h uld. Zwar ein Terminus, der sehr häufig gebraucht wird um die Methode der Isolirung zu rechtfertigen. – Der Jugend so lang als möglich die Unschuld bewahren. – Wenn diese Maxime im Umfang unseres Gebieths richtig wäre, so müßten die Unterscheidung aufheben. | Sehen wir auf das Ende der Erziehung und fragen: Kann es heilsam seyn, daß die Erziehung ihre Generation an welcher sie gearbeitet hat an die großen Lebensgemeinschaften abliefert im Zustand der Unschuld? Wir werden sagen müssen wie der Einzelne in dieses neue Gebieth tritt, in dem er ebenso festgehalten würde wie in der Erziehung dann könnte er ohne Nachtheil für das Ganze im Zustande der Unschuld bleiben. Aber es würde uns doch gleich ein Gebieth einfal33 er] sie 13–15 Vgl. SW III/9, S. 113: „Denn wenn ich z. B. jemandem das Muster einer schönen Schrift vorlege: so ist keine bestimmte Zahl der möglichen Abweichungen mitgegeben. Um unschönes hervorzubringen, muß eine besondere Neigung zum unschönen vorhanden sein.“ 27–28 Vgl. SW III/9, S. 114–115: „Wäre | diese Maxime unbedingt richtig: so müßten wir die obige Unterscheidung, zufolge der nicht durchaus die Maxime der Behütung befolgt werden kann, aufheben.“

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len, wo wir es verwerfen müssen, auf dem Gebieth der Erkenntniß müßten doch die Gegensätze entwickelt werden und in ihnen zu Bewußtseyn kommen. Das ist das richtige in der Erklärung daß was man den Sündenfall das Übergehen des Menschen in den Zustand der Erkenntniß genannt hat. Nun werden wir sagen müssen, es muß dieser Gegensatz in der höchsten Vollkommenheit entwickelt seyn in allen die das System der Behütung ausüben sollen und darauf kommen, daß dieses bis auf einen gewissen Grad hervorrufen können, oder daß wir es [für] möglich gehalten eine Classification der Menschen [zu] machen (Schuldige und Unschuldige). Offenbar, daß die letzten wenn man sie ganz von der Entwicklung der Erkenntniß zurückhalten würde, sich nicht unfrey fühlten, aber für die anderen würden diese die Absolut unfreyen seyn. Noch weiter zu gehen. Es wäre unter dieser Bedingung keine Gemeinschaft zwischen beyden möglich, weil diese nur durch die Rede geschehen kann, und diese den Gedanken ausdrückt. Auch von diesem Gesichtspunkt aus also das Extrem nicht festzuhalten. Je weiter ein Theil des Ganzen davon entfernt, durch den Gedanken in seiner strengen Form geleitet zu werden, desto eher sey es möglich (wo nicht rathsam) ihn auf dem Wege der Bewahrung (der Unschuld) zur Übereinstimmung mit dem Ganzen zu bringen. Zuerst Differenz durch das Ganze. Auf ursprüngliche Weise durch die Natur, Differenz zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht, das letztere versirt auf dem Gebieth viel weniger durch den Gedanken als durch das Gefühl geleitet zu werden. Bey ihm ein größeres Gebieth für die Anwendung dieser isolirenden Maxime als bey dem männlichen. Die Sache bedarf keiner großen Erläuterung. Verschiedene Neigung wenn wir die beyden verschiedenen Geschlechter auf gleicher Stuffe der Bildung [betrachten]. Beym männlichen nur die 5 genannt hat] gewesen wäre 7 die das System der Behütung ausüben sollen] in denen das System der Behütung ausüben soll 22–23 Geschlecht] Geschlechts 24 als durch das] und 5–10 Vgl. SW III/9, S. 115: „Vollständig muß nun dieser Gegensaz entwikkelt sein in denjenigen welche die Erziehung leiten und das Geschäft der Behütung ausüben, Sitte und Gesez feststellen. Entweder müßten wir annehmen, daß dies in einem gewissen Grade eine allgemeine Aufgabe, eine Thätigkeit aller erwachsenen sei, oder daß eine Classification zu machen sei, einige im Zustande der Erkenntniß um alles zu leiten, während andere im absoluten Zustande der Unschuld wären.“ 13–16 Vgl. SW III/ 9, S. 116: „Es wäre aber auch gar keine Mittheilung zwischen den ersten und den lezten möglich, wenn die Bedingung gestellt wäre, daß jene die Erkenntniß entwikkeln, diese nicht. Die Mittheilung kann nur durch die Rede geschehen; die Rede aber spricht die Gedanken aus; wo Gedanken sind wird auch Erkenntniß sein.“ 28–2 Vgl. SW III/ 9, S. 116: „so sehen wir immer bei dem männlichen Geschlechte die Neigung den Gegensaz des schönen und unschönen auf das Gebiet des richtigen und unrichtigen zurükkzuführen, also immer die strenge Form des Gedankens;“

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Neigung den Gegensatz des Richtigen und Unrichtigen zurückzuführen, beym weiblichen die ungute Neigung das Unrichtige auf das Unschöne zurückzuführen. Nun aber wie weit es rathsam sey, dafür ist die Entscheidung nur zu geben in dem vorher Gesagten. In wie weit der Zustand der erzogenen Generation ein solcher wo sich der Einzelne durch das Ganze gebunden fühlt, oder mehr frey erscheint. Je mehr das letzte desto mehr die Maxime der Behütung zurücktreten weil die Erscheinungen des Unrichtigen und Unschönen nicht fehlen werden. Jetzt auf den Punkt wo wir noch eine andere Differenz müssen in Betracht ziehen. Wir haben gesagt es müsse uns nicht gleichgültig seyn, ob die Erscheinungen gegen die Behütung oder Gegenwirkung von innen oder von außen sich entwickeln. Wie sind nun die beyden Fälle auch in bestimmter Beziehung zu dieser Dupplicität? Den relativen Gegensatz festgestellt zwischen dem Unrichtigen und Unschönen so ist die Methode der Gegenwirkung überwiegend für Unrichtiges[,] der Behütung für das Unschöne. Beydes ein verschiedenes Maaß für die beyden Geschlechter, beyde ein verschiedenes Maaß der Rathsamkeit je nach Maaßgabe des allgemeinen gesellschaftlichen Zustands. So weit die Sache festgestellt. – Wie wird es sich gestalten wenn wir nun auf diese zwey verschiedenen Fälle sehen? Nichts durch Einwirkung von außen ohne innere Thätigkeit[,] der Gegensatz immer nur relativ. Wir nennen das ein von außen bewirktes Überwiegen; So: wenn der äußere Impuls nicht gewesen wäre von innen heraus dasselbe sich nicht würde entwickelt haben und umgekehrt. Trägt es etwas aus in Beziehung auf diese zwey verschiedenen Verfahrungsweisen? Das Angeborne ganz aus dem Spiel und verwandeln es in die allgemeine Formel. Denken wir uns eine Neigung zum Unrichtigen oder Unschönen schon innerlich gesetzt, sie von da an in der Beziehung auf das bestimmte Gebieth der Behütung und Ausschließung etwas Überflüssiges. Von dem einen Gesichtspunkt angesehen was die Kenntniß der Sache anbetrifft, die von innen gegeben ist so ist alsdann die Behütung überflüssig. Wenn wir uns diese Neigung als thätig denken so wird von da an wo dieß innerlich gesetzt ist die Behütung ein so nothwendiges damit die Nei25 umgekehrt] umbekehrt

26 Verfahrungsweisen?] Verfahrungsweisen.

3–6 Vgl. SW III/9, S. 116–117: „Wie weit nun aber überhaupt ganz im allgemeinen | die Maxime der Behütung rathsam sei, das wird daraus erhellen, w i e w e i t d e r Z u s t a n d i n w e l c h e n d i e j ü n g e re G e n e ra t i o n e i n t r e t e n s o l l d e n e i n z e l n e n meh r d u r ch d a s g a n z e g e b u n d e n se i n o d e r f r e i l ä ß t . “ 26–27 Vgl. SW III/ 9, S. 118: „Das angeborene lassen wir aus dem Spiel, und verwandeln es uns bloß in etwas was die Erziehung in irgend einem Momente vorfindet.“

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gung nicht genährt würde. Dieß scheint ein Widerspruch zu seyn, aber es kommt nur darauf an daß die Erscheinung aus zwey verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet wird. Für den einen das eine Resultat, für den anderen das andere. Diese Methode auf diesem Gebieth nicht anwendbar. Doch läßt sich ein Versuch machen, so ein Widerspruch zu machen – das Bewußtseyn selbst und der auf den Willen wirkende Reiz. Wenn wir uns auf das Unrichtige und Unschöne beziehen, so kann das Unrichtige als solches eigentlich keinen Reiz geben. Der Reiz ist nicht im Gesetzwidrigen, sondern im Materiellen der Handlung. Sobald die Jugend in die Kenntniß des Gesetzes kommt, so ist das Gesetzwidrige gegeben aber noch nicht der Reiz dazu weil er einen anderen Ursprung hat. Fragen wir wie es mit dem Unschönen stehe so müssen wir dieselbe Antwort geben, wie in Beziehung auf das von Außen veranlaßte. Die Kenntniß selbst etwas nicht mit der Kenntniß des Schönen gegebenes, Bewußtseyn des Schönen. Dieß hat man aber nicht in seiner Gewalt. Beydes zusammen genommen das wozu der Reiz zum Unrichtigen seinen Grund haben kann und das woraus das Unschöne hervorgeht? Was könnte sich darnach Inneres auf solche Art entwickeln? Wenn sich von innen eine Neigung zum Unschönen entwickelt oder Neigung welche [nicht] den Widerwillen gegen das Unrichtige überwindet, so ist das etwas Krankhaftes. In wie fern das verhütet werden? Vor keiner pädagogischen Thätigkeit soll keine solche Neigung im Inneren entstehen, sondern sie zu hindern muß pädagogische Thätigkeit voraussetzen. Woher die Kenntniß dazu? Sie müßte eine allgemeine seyn, aus anderen Kenntnissen zu schließen was selbst nun im Inneren des Menschen gegeben ist. Alles wird hier auf die Constitution der Persönlichkeit zurückkommen. Insofern das Besondere aus einem Allgemeinen erkannt werden soll, muß auch das Allgemeine aufgestellt. Wir kommen auf ein Anthropologisches. | Was ist nun dieses Anthropologische? Offenbar das Tempra m e n t , d. h. die besondere Mischung der einzelnen Lebensfunctionen. Wir halten uns an die populäre Vorstellung. Wir haben die sogenann7 beziehen] bezieht 8 kann] kann eigentlich 18 hervorgeht] hervorgelt 24 voraussetzen] voraussetzt 26 ist] sind 5–7 Vgl. SW III/9, S. 118: „Der Widerspruch hebt sich auf, indem sich d a s B e w u ß t s e i n ü b er h a u p t , u n d d e r a u f d e n Wi l l e n w i r k e n d e R e i z t r e n n e n l ä ß t .“ 14–15 Vgl. SW III/9, S. 119: „Hier ist mit der Kenntniß des schönen nicht zugleich Kenntniß des unschönen gegeben; es müßte also verhütet werden daß ein solches Bewußtsein entstehe.“ 22–24 Vgl. SW III/9, S. 119: „Die Behütung würde darin liegen, daß so etwas vor der pädagogischen Einwirkung nicht entstände, sondern daß immer vorher schon die pädagogische Thätigkeit wirke.“

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ten vier Tempramente. Gibt es Kennzeichen woran man schon vorher, ehe noch sich etwas Verschiedenes entwickelt das Temprament selbst erkennen kann und gibt es Mittel der Entwicklung des Unschönen daraus vorzubeugen? In diesen Vorstellungen irgend etwas Reales. Jedes Temprament [kann] auf eine besondere Art des Unsittlichen ausschlagen, jedes seine eigne Art verrückt zu werden, Krankheitsformen[:] B l ö d s i n n phlegmatisch Ra serey cholerisch Tollheit sanguinisch Ti e f s i n n melancholisch. Allgemeine Indicien in gewissem Sinn zu vertheidigen. Die Vernunft so wie sie das zusammenhaltende Band der menschlichen Natur ist so ist sie es auch in Beziehung auf diese Modificationen den Erscheinungen der menschlichen Natur. Das Unsittliche aus den Tempramenten ist nicht Manifestation des Tempraments an sich sondern eines Mißverhältnisses zwischen den einzelnen Lebensfunktionen und der Vernunft. So wie wir dieß festhalten und fragen ist ein Verhüten möglich in dieser Beziehung? So folgt daraus es kann keine Aufgabe seyn, die Entwicklung des Tempraments selbst zu hemmen, die ganze Aufgabe darinn daß die Entwicklung der Vernunft unterstützt werden muß und darinn allein die Sicherheit daß nicht das Maaß zerstört würde. So die Sache von diesem letzten Punkt betrachtet. Weil die Vernunft etwas später ist ob man nicht auf die sinnlichen Lebensfunctionen wirken kann? Es sind immer in irgend einem Sinne äußere Gegenstände oder Verhältnisse an die sich das Unschöne anknüpft. Soll man die Berührung mit solchen Gegenständen, die Entstehung solcher Verhältnisse hemmen? Da würden wir zugleich dasjenige hemmen woraus sich die menschliche Thätigkeit überhaupt entwickeln soll und so viel verlieren als gewinnen. Es entsteht hier noch eine andere Frage, die wir aber unentschieden lassen. Ob diese Differenzen mehr l e i b l ich oder g eistig wären, oder schlechthin gleichmäßig. Hypothetisch die Frage zu spalten? In sofern etwas Leibliches dabey ist und entgegengewirkt werden könnte daß 30 daß] das 1–8 Vgl. SW III/9, S. 120: „Zuerst, G i e b t e s K e n n z e i c h e n , a u s d e n e n m a n , e h e n o ch d a s Tem p e ra m e n t e t w a s u n ri c h t i g e s o d e r u n s c h ö n e s e n t i w k k e l t h a t , d a s Te m p er a m e n t se l b st e rk e n n e n k a n n ? Zweitens, G i e b t e s M i t t e l , d a s u n s ch ö n e zu v e rh ü t e n ? Es könnte freilich noch gefragt werden, ob denn mit den Temperamenten das unschöne zusammenhange. Allein es ist nicht in Abrede zu stellen, daß jedes Temperament in eine besondere Art der Unsittlichkeit ausschlagen kann, ja daß jedes Temperament seine eigene Verrükktheit hat, d. h. die fix gewordene Krankheitsform dieser Constitution. Denn abgesehen von einzelnen physischen localen Ursachen, wenn das Temperament über das Maaß der Vernunft hinausgeht: so entwikkelt sich die Verrükktheit, verschieden nach den Temperamenten; bei den phlegmatischen zeigt sie sich als Blödsinn, bei den cholerischen als Raserei, bei den sanguinischen als Tollheit, bei den melancholischen als Wahnsinn.“

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das Temprament nicht bis zu einer gewissen Einseitigkeit sich entwickle, in welcher die Vernunftherrschaft untergeordnet erscheint, so in wie fern würde allerdings diese einzuschlagen seyn, damit die Vernunftentwicklung leichter fort gehen könnte? Wo es rein physische Gegenwirkungen gibt gegen die Einseitigkeit des Tempraments da ist richtig, daß man diese einwirken läßt, so wie sich das Temprament auf gewisse Weise vordrängt. Das geht ins Physiologische zurück. Indessen sogleich versucht man ob nicht auf der entgegengesetzten Seite etwas entspräche. Das rein Geistige steht gegenüber. Wenn wir wieder von unserem ursprünglichen Punkt ausgehen, das Unrichtige von Innen mit specifischem Reiz: Wohl das Physische wenn dazu mitwirkt daß der specifische Reiz sich nicht entwickelt. Soll man diesem Reiz zuvor zu kommen suchen? Hier würden wir auf das Rein Psychische Gebieth kommen. Können wir etwas thun [das] nun schon eher der Vernunft ihre Gewalt zusichert? Hier läßt sich das nur denken in sofern es auf einem anderen Gebieth geschieht. So wie wir es isoliren, so werden sagen müssen daß die Entwicklung der Lebensfunktionen doch voran geht, und die Beziehung auf die Intelligenz derselben nachfolgt. Aber Lebensfunktionen die sich erst später entwickeln. So der Geschlechtstrieb, und es gibt Vernunftthätigkeit ehe dieser eintritt. Dieses etwas einzelnes was in eine bestimmte Periode hineingehört. Hier ein Ort unserer Aufgabe der vielleicht einer eignen Behandlung fähig wäre. Im Ganzen aber werden wir sagen, daß überall die Entwicklung des animalisch Natürlichen vorangeht und die Entwicklung der Intelligenz nachfolgt. In so fern hier doch eine Priorität und eine Posteriorität statt findet so ist möglichst die Aufgabe so zu stellen, das Vermögen der Geschlechter in allen Lebensfunktionen auf solche Weise zu unterstützen, daß dadurch der krankhaften Entwicklung einzelner Fälle vorgebeugt würde. Formel ohne Gehalt, sie richtet [sich] aber hier auf das Verhältniß der verschiedenen Lebensfunktionen unter sich. So müßten wir eine Harmonie in dem Verhältniß der verschiedenen Lebensfunctionen. – Wir sehen in der richtigen Zusammenstimmung des Einzelnen die Sicherheit gegen die abnorme 4 könnte?] könnte.

15 zusichert?] zusichert.

11–12 Vgl. SW III/9, S. 122: „Wir haben als möglich hingestellt, daß physisch eingewirkt werden könne um den specifischen Reiz abzustumpfen.“ 29–32 Vgl. SW III/ 9, S. 123: „Wo l l e n w i r i m a l l g e m e i n e n d e r k ra n k h a f t e n E n t w i k k l u n g d e s R ei z es v o n d e r In t e l l i g e n z a u s e n t g e g e n w i rke n : so müssen wir, da es einen Zusammenhang und eine Verwandtschaft der einzelnen Functionen unter einander, und ebenso eine Beziehung und einen Einfluß der Intelligenz auf jene giebt, e i n e H a r m o ni e i n d e m Ve r h ä l t n i ß d e r v e rsc h i e d e n e n L e b e n s f u n c t i o n e n u n d d e r I n t e l l i g en z z u e r h a l te n su c h e n .“

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Entwicklung des Einzelnen. Hier geht ganz von selbst die präcavirende Methode über in die unterstützende. Jede solche Harmonie im Menschen überhaupt aber in jedem als Keim auf eigne Weise angelegt. Das bringt uns wieder zurück auf den Begriff des Schönen, die Anlage des Begriffs des Schönen, ist dieses zu unterstützen die Präcaution gegen die abnorme Entwicklung des Einzelnen. – Hier wieder auf die allgemeine Ansicht daß diese unterstützende Seite der Erziehung eben um so mehr die wesentliche und primitive ist, weil die andere selbst in sie zurückgeht, so wie die andere Seite der Methode. Präcaution und Gegenwirkung nur nothwendig wären beym Mangel an Zusammenstimmung im menschlichen Leben überhaupt. So auf unseren alten Satz zurück. In Beziehung auf das was sich von innen her krankhaft entwickeln könnte gibt es mit Ausnahme von derselben der auf physischem Wege vorgebaut werden kann keine andere Vorbeugung als die kräftige Zusammenstimmung der Entwicklung überhaupt. Physische Präcautionsmittel ob sie möglich und erkennbar sind, liegt wieder an einem bestimmten Ort, wenn von diesem hernach gesprochen wird so behandeln wir dieses. Finden wir daß der Ort auszufüllen ist, [ ] Aber in wiefern nun, wenn dem Temprament schon Krankhaftes sich von innen heraus entwickelt hat, Gegenwirkungen nöthig sind, das ist die Frage die ich zu beantworten habe. | Erst den Umfang dieser Thätigkeit zu betrachten und diesen Umfang zu zergliedern, indem wir einen Gegensatz aufsuchen, durch welchen [wir] den Umfang zertheilen, einen Theilungsgrund immer auf die Beendigung des ersten führen. Bekanntlich die Erziehung überhaupt als Gegenwirkung oder Unterstützung[,] als physisch als moralisch oder intellectuell, beruht auf der Opposition zwischen Leib und Seele. Es fragt sich in wiefern das in diesem speciellen Gebieth der Erziehung statt finde. Es ist mit dieser Theilung immer eine mißliche Sache wie sie zu unterscheiden und zu trennen. Der Mensch in seiner vollständigen Entwicklung betrachtet wenn da Gegenwirkungen nöthig sind, so zeigt das auf einen kranken Zustand. Betrachten wir 19 ist,] es folgt ein Spatium von knapp einer Zeilenlänge 18–19 Vgl. SW III/9, S. 124: „Vorausgesezt daß sich uns physische Präcautionen auch auf dem unmittelbaren Gebiete der Erziehung als nothwendig ergeben werden, so würden doch auch sie nur Hülfsmittel sein dürfen um die harmonische Entwikklung zu fördern. Sollten sie aber aus dem Gebiete der Erziehung auszuschließen sein, dann würden wir rein von der Intelligenz aus auch auf die animalische Seite des Lebens zu wirken haben.“ 33–3 Vgl. SW III/9, S. 125: „Ebenso ist es auf dem Gebiete der Erziehung. Wenn wir demnach unseren Gegenstand nach diesem Gegensaz ordnen und theilen wollten: dann würde jedesmal so oft sich etwas r e i n l e i b l i c h e s entwikkelte welches eine Gegenwirkung nothwendig machte, dies am bestimmtesten aus dem Gebiete der Erziehung fallen und in das der Arzneikunde eintreten.“

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die Sache im Gebieth der Erziehung selbst wenn wir uns so diesen Gegenstand ordnen wollten, so fällt das am bestimmtesten aus dem Gebieth der Erziehung heraus, der Artzt muß dann befragt werden. Zu große Ängstlichkeit darinn, gleich die Hülfe der Kunst zu fordern, Verwöhnung, Verweichlichung. Ebenso gibt es ein entgegengesetztes Extrem[,] die Hülfe der Kunst zu lange zu vernachlässigen, und auf eine Gegenwirkung der Natur zu rechnen, dann wird sich der Artzt beklagen, daß man ihn zu spät zu Hülfe gerufen habe. Also auszumachen das Verhältniß zwischen dem Erzieher und dem Artzt, wo der eine aufhört und der andere anfängt. Es scheint außer diesen zweyerley zu geben, ein gemischtes Gebieth wo beydes seinen psychischen oder [ ] Antheil hat und ein drittes dem ersten Gegenüber ohne leiblichen Antheil. Wann unterscheiden wir dieses? Gibt es etwas Geistiges was wir wahrnehmen können, ohne daß es zugleich ein Leibliches ist? Wir werden sagen müssen nein, wenn wir auch das aller Geistigste nehmen. Gesinnung, Denken, aus Sprache oder That. Alle Gesinnung als Eigenthümlichstes muß Handeln seyn zugleich. Alles Handeln hat seinen geistigen und seinen leiblichen Anfang eigentlich immer in Einem und demselben Punkt. Von der Gegenwirkung werden wir dasselbe sagen müssen. Ein rein psychisches können wir nicht zugeben, die Symmetrie gestört, was Verdacht erhebt, ob beydes wahr gesetzt sey, ob es auch ein rein leibliches und kein rein geistiges gebe. Da wird es nicht schwer seyn zu zeigen daß es kein rein leibliches gebe auf unserem Gebieth. Es kann ein so geschärftes Wahrnehmen in dieser Beziehung geben, daß auch das Gestörtseyn der leiblichen Funktion zuerst wahrgenommen wird durch die Wechselwirkung. Offenbar [etwas] ganz allgemeines. Dieser Gegensatz will uns nichts ganz Bestimmtes leisten, alles worauf wir unsere Thätigkeit richten können, ist gewiß Leibliches und Geistiges, so daß wir nur einen allmähligen Übergang haben, ohne einen bestimmten Grund zur Scheidung überhaupt zu finden. Nun scheint es also als ob dieser Gegensatz uns auf eine untergeordnete Stelle zurücktrete für diesen Theil unserer Aufgabe. Daß wir uns nach einem anderen umsehen müssen, den wir 12 oder] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl physischen (vgl. SW III/ 9, S. 126 ) 16 Vgl. SW III/9, S. 126: „Das Denken nehmen wir durch die Sprache wahr; die Gesinnung durch ihre eigenthümliche Aeußerung, sei sie Rede als Zeugniß, oder That als Beweis der Gesinnung. Beides ist leiblich. Es giebt kein Denken ohne Worte; denken und reden ist eines und dasselbe.“ 24–26 Vgl. SW III/9, S. 127: „Es kann auch ein so kräftiges und geschärftes Wahrnehmungsvermögen geben, daß auch das Gestörtsein der leiblichen Function erkannt wird durch die Aeußerungen die sich zunächst auf das Gebiet des geistigen beziehen und eine Störung des geistigen manifestiren.“

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mehr oder weniger spalten können, da werden wir mit Beseitigung der beyden Extreme eines rein Leiblichen und rein Geistigen [uns] auf das Gebieth ausrichten, wo beydes bey einander ist, und fragen was kann da vorkommen, wogegen eine Gegenwirkung eintreten müßte? Diese Frage so zu beantworten daß sie uns das Ganze auf eine bestimmte Weise theile. Daß unser Gesagtes nicht vergeben sey fragen[:] gibt es ein solches Ineinander des Leiblichen und Psychischen daß eine Gegenwirkung dagegen hervorgebracht werden muß? Da ergibt sich aus der ganz geläufigen Ansicht allerdings so etwas: diese Ansicht ist daß der Geist dasjenige sey was seiner Natur nach herrschen soll und das Leibliche soll sich dazu als ein Werkzeug verhalten. Wenn also das Verhältniß sich umkehrt daß das Geistige unter dem Leiblichen steht, so wäre das eine solche Erscheinung welche nie dieselbe ohne eine Gegenwirkung bliebe. Wenn wir fragen[:] Gilt denn dieses für das ganze menschliche Leben so können wir die Frage nicht unbedingt bejahen. Es gibt eine Periode wo offenbar die geistigen Funktionen noch ganz zurücktreten, und wo die leiblichen Funktionen nicht in solchem dienenden Verhältniß stehen. Diese Periode geht rückwärts bis an den verborgenen Anfang des Lebens, und erst in der weiteren Entwicklung kommt ein Punkt wo sie sich umzukehren scheint. Die plastische Kraft durch welche sich der Mensch im Mutterleibe bildet in ihren ersten Wirkungen etwas Leibliches, und das Leibliche erscheint wo das Geistige noch nicht erscheinen kann. Zu fragen wo dieses Verhältniß eintritt, und von der Herrschaft des Geists die Rede seyn könne? Wir werden sagen müssen[:] Gesetzt wir hätten diesen Punkt bestimmt so würden wir sagen können daß eine pädagogische Thätigkeit welche Gegenwirkungen hervorbringen will gegen ein Mißverhältniß in dieser Beziehung erst mit dem Punkt des Bezogenseyns eintreten könne[,] vorher nicht. Hier die aller nächste Aufgabe ob wir einen solchen Punkt bestimmen können. Von diesem an ist dieß wahr und können wir davon ausgehen. Diese Einwendung hier gefunden. Noch eine zweyte Einwendung. Es gibt doch hernach im späteren Leben wo die leiblichen Funktionen dienen sollen, Zeiten, Momente wo offenbar das Leibliche dominirt, ja wo wir es verlangen, daß das Geistige dem Leiblichen dienen soll, denn wenn wir sagen der Körper muß ernährt werden so kann das nur in einem bestimmten Moment geschehen, anstrengende Geistesthätigkeiten nicht damit zu verbinden und so das Geistige unter der Herrschaft des Leiblichen für diesen Moment. – Im Schlaf dominiren die leiblichen Thätigkeiten und die Thätigkeiten des geistigen nur unter der Form, daß das Leibliche aufgefaßt werden kann. Die Schlaftheorie nicht in 4 müßte?] müßte.

8 muß?] muß.

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die Pädagogik aber es gibt einen Übergang von einem ins andere. Dieses Verhältniß nicht etwas Zufälliges sondern etwas Periodisch wiederkehrendes und so anzusehen, daß sie ein solches periodisches Zurücksinken des ganzen Lebenszustandes auf jene Periode sey. In den Zuständen der Ernährung sollen die geistigen Thätigkeiten beschränkt werden und stehen so unter der Potenz der leiblichen oder es würden freye Geistesthätigkeiten damit verbunden werden dann physisch das Zurücksinken grenzen. | Es ergibt sich nun gleich ein bestimmtes Gebieth für die Gegenwirkungen mit dem wir es jetzt zu thun haben. Ins Gebieth von pädagogischen Gegenwirkungen gehört alles was man unter S tra fe nicht nur sondern B e l o h n u n g versteht, daher ein sehr wichtiger und umfassender Gegenstand. Und auch nur unter anderer Form erscheint uns die Gegenwirkung. Von einem gewissen Punkt an die Grundform des Lebens daß die geistigen Thätigkeiten dominiren das zwar nicht gleichmäßig[,] zwey Perioden des Lebens. Bestimmtes Intresse rein pädagogisch zu fordern daß diese beyden entgegengesetzten Zustände sich streng unterscheiden sollen, weil sonst in dieser Beziehung kein kunstmäßiges Verfahren statt finden könnte. Weil wir dieses postuliren und einverstanden daß alles Pädagogische dem Ethischen untergeordnet ist[,] so unterschieden ist dann dieses zu gleicher Zeit das physische? – Wir gehen von dem Einen Extrem aus, und sagen[:] Im Schlaf sind alle geistigen Thätigkeiten nur ein Spiel, die leiblichen dominiren, dieses geistige Spielen sollte also auch auf den Schlaf beschränkt seyn. Aber auch außer dem Schlaf unter den mannigfaltigsten Formen. Im Ruhen von allen bestimmten geistigen Thätigkeiten z. B. bey manchen in der Periode der Verdauung. Zerstreuung ein dem Willen entgegenstrebendes Hinabfallen dieses zufälligen Spiels der geistigen Thätigkeiten. Ethisch betrachtet wird es allgemeine ethische 15 das] daß

21–22 physische?] physische

4–8 Vgl. SW III/9, S. 130: „Darin freilich sind die periodisch wiederkehrenden Zustände in denen das leibliche vorherrscht von jener Periode des Lebens verschieden, daß in ihnen das geistige nicht ganz zurükktritt sondern sich manifestirt; denn auch im Schlaf tritt geistiges hervor, wenn auch auf unbewußte Weise; und auch in den Ernährungsmomenten soll immer noch geistiges sein. Aber die geistigen Thätigkeiten im Schlafe sind ein zufälliges Spiel, und wir haben sie durchaus nicht in unserer Gewalt; bei der Ernährung so l l das geistige zurükktreten.“ 13–14 Vgl. SW III/9, S. 130: „Es stellen sich uns auf diese Weise z w e i L e b e n sg e b i e t e dar, entgegengesezte Lebenszustände, solche Zustände die den Typus des geistig entwikkelten Lebens an sich tragen, und solche die jenseits desselben liegen.“ 19–22 Vgl. SW III/9, S. 131: „Alles pädagogische aber ist dem ethischen untergeordnet und muß ethisch begriffen werden. Daher fragen wir, o b e s a u c h e i n e e t h i sc h e F o r d e r u n g s e i , d i e s e z w e i G eb i e t e z u s o n d e rn .“

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Forderung seyn, daß jene Abstuffungen nicht über die Nothwendigkeit die durch die ungestörte Beschaffenheit der leiblichen Funktionen vorgeschrieben ist hinausgehen muß, sondern daß sie sich in dieser Beziehung auf ein Minimum begrenzt, und daß sie in diesen bestimmten Abstuffungen eingeschlossen bleiben soll. Alles was als Zustand der Zerstreuung angesehen kann ist etwas ethisch Negatives. Hier eine ethische Basis für unsere pädagogische Forderung. Einmal jedes Übermaaß vom Zurücktreten der geistigen Funktionen und jede Vermischung des entgegengesetzten Charakters den wir aufgestellt haben ist etwas was durchaus so wie es sich zeigt pädagogische Gegenwirkung erfordert. Daß es nun wenn es sich zeigt schon einen Fehler oder Mangel in der Entwicklung und in der Unterstützung der pädagogischen Thätigkeit voraussetzt, braucht nicht weiter entwickelt zu werden. Wir haben so ein einzelnes gefunden, aber wir wollten uns das ganze Gebieth innerhalb dessen alle pädagogischen Gegenwirkungen seyn müssen, theilen. Wenn wir fragen was ist es wodurch die Scheidung bestimmt [wird] zwischen den zwey entgegengesetzten Lebensperioden? Es ist das Einwirken, das Erscheinen des Willens daß in den geistigen Lebensfunktionen unter der Form des Bewußtseyns der Impuls liege, durch den auch die leiblichen Funktionen bestimmt werden, denn einen jeden Moment wo die ganze Lebens Einheit unter dieser Form des Bewußtseyns bestimmt wird als ein einzelner Moment, nennen wir immer einen Willensact. Wo ein solcher ist da ist auch der Typus dieser zweyten Lebensperiode vorhanden. So lange der Wille noch nicht erscheint, da ist auch der Typus noch nicht da und das Leben auf jener niederen Potenz. Freylich nicht als Moment zu finden, der eine bestimmte Begrenzung mache. Wenn der Wille zuerst erscheint so ist er noch kein Continuum, das soll eben dann unser Streben seyn. Wir haben hier nur das Verhältniß des Willens zur Totalität des Lebens anschaulich machen wollen und sein Verhältniß zur pädagogischen Thätigkeit als Gegenwirkung. Andere Theilung zu machen von der ersten Erscheinung des Willens bis zu seiner Vollkommenen Entwicklung in der er sich als continuum darstellt, und es gibt einen Lebenspunkt da wir dieses fordern, aber es ist Mangelhaftigkeit der Natur oder der pädagogischen Thätigkeit. Die Entwicklung des Willens also ein bestimmter Theil der pädagogischen Thätigkeit. 31–35 Vgl. SW III/9, S. 133: „So ergiebt sich uns eine neue Scheidung, so daß wir d r ei P e r i o d e n erhalten, die wir hier aber nicht sondern um schon eine Zeiteintheilung zu machen, sondern nur um das Verhältniß des Willens zur Totalität der Lebensentwikklung zu bestimmen. E s g i e b t e i n e P e ri o d e w o d e r Wi l l e n o c h n i c h t e r s c h e i n t ; e i n e a n d er e w ä h re n d d e r e r si c h e n t w i k k e l t , u n d e i n e d r i t t e w o e r e i n C o n t i n u u m g e w o rd e n i st , und wo wenn dies nicht der Fall ist, dies auf einen Mangel der Natur oder der pädagogischen Einwirkung zurükkweist.“

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Nun fragen wir, wenn wir von diesem Punkt anfangen, können wir sagen daß alles entweder Entwicklung des Willens oder Äußerung des Willens ist? Nicht leicht wird es jemand bejahen. Wir werden allemal uns dessen bewußt seyn, daß wir einen Unterschied machen, wenn wir in einem bestimmten Moment eintheilten zwischen der Vollkommenheit und Unvollkommenheit der Handlungen und zwischen der Vollkommenheit und Unvollkommenheit des Willens. Jede ganz klar so wie wir [sie] im Einzelnen zur Anschauung bringen. Wenn wir uns Kunstwerke induciren, so unterscheiden wir die Idee der Ausführung und die Ausführung selbst. Die erste kann vollkommen seyn die andere nicht etc. Kunst im weiteren Sinne des Wortes wozu mechanische Fertigkeiten gehören, damit ist es eben so beschaffen. Wenn wir eine Unvollkommenheit in der Ausführung und eine Vollkommenheit der selben voraussetzen wie kommt man von der ersten in die andere? Durch Übung. Nicht so [kann] der unvollkommene Wille in den vollkommenen ebenfalls durch Übung übergehen. Hier vorläufig zweyerley worauf wir zu sehen haben. Daß nichts Störendes in die Entwicklung des Willens eintrete und dann wenn es eintritt, man entgegenwirke und das was Fertigkeit ist. Sehen wir auf den Willen selbst so tritt uns wieder ein Unterschied entgegen den wir nicht übersehen können. Es gibt eine Beziehung des Willens auf den einzelnen bestimmten Moment und das ist der einzelne Wille; es gibt auch eine Beziehung des Willens auf die allgemeine Idee des Lebens, das ist der allgemeine Wille. Wie beydes gegen einander? Das letztere dasjenige was wir auch mit Gesinnung bezeichnen, das erste hat immer schon eine nähere Verwandtschaft mit dem, wodurch der einzelne Moment wirklich fertig wird d. h. auch jenes Gebieth der Ausführung und der einzelnen Fertigkeiten und wir können sie unterscheiden wie vorher zwischen der Entwicklung der Gesinnung und der Entwicklung der einzelnen Willensacte. Beyde haben wieder eine offenbare Beziehung auf einander. Wenn wir die zwey betrachten so haben wir eine Übereinstimmung der Lebensacte in beyden Beziehungen und wieder einen Widerspruch zwischen beyden. | Wenn die einzelnen Willensacte mit dem allgemeinen Willen zusammenstimmen, aber mit der ethischen Forderung überhaupt nicht, so sagen wir der Mensch habe schlechte Gesinnung. (Wenn aber solch einzelne Willensacte vorkommen, aber sie sind in den allgemeinen Willen des einzelnen Willen nicht aufgenommen dann pflegen wir zu 17–19 Vgl. SW III/9, S. 134: „zuerst, Es kann störendes in der Entwikklung des Willens vorkommen; daher muß die Erziehung darauf achten, daß nichts der Art in den Willen eingreife, und wenn doch störendes eingetreten ist, dagegen wirken; zweitens, Alles was Fertigkeit ist gehört zur Ausführung, und auch diese kann gestört werden, wogegen die Erziehung zu wirken hat.“

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sagen, der Mensch hat eine schlechte Gesinnung.) Wenn aber solche einzelnen Willensacte vorkommen aber sie sind in den allgemeinen Willen nicht aufgenommen, dann sagen wir der Mensch hat einen guten Willen, aber er weiß ihn nicht gültig zu machen. So für die ganze Lebensform ein dreyfaches, die Gesinnung, die einzelnen Willensacte, die Fertigkeit. In diese Triplicität muß alles geschlossen seyn. Hier haben wir mit der Gegenwirkung zu thun. Wir setzen den Fall es zeigt sich in der Periode der Erziehung was wir von schlechter Gesinnung oder einem Mangel an guter Gesinnung sagen. Es kann nicht wahrgenommen werden wenn nicht einzelne Willensacte vorkommen, die in solcher Gesinnung stehen. Wir können nie in den Fall kommen, daß der Mangel der Gesinnung primitiv dasjenige sey wogegen pädagogische Gegenwirkungen eintreten müssen. Das Primitive sind die einzelnen Willensacte, an denen sich erst der Mangel der Gesinnung zeigen kann. Vorausgesetzt, daß solche einzelnen Willensacte vorkommen, welche schon von sich eine Aufnahme der Gegenwirkung aufstellen ist hernach die G l e i c h gü l t i gk eit womit sie aufgenommen werden ein besonderer Gegenstand der Gegenwirkung oder nicht? Gesondert von diesen beyden steht das Gebieth der Fertigkeit im weiteren Sinn des Worts. Wieder auf zweyerley zu sehen. Wenn ein Willensact nicht auf eine entsprechende Weise vollzogen wird so kann das auf zwey Ursachen zurückgeführt werden[,] einmal auf einen Mangel an Fertigkeit oder Übung d. h. der Bestimmtheit des Zusammenhangs der leiblichen Funktionen mit dem Willen aber auch darinn, daß Gewöhnungen da sind welche auf eine positive Weise diesem Einfluß zuwiderlaufen. Also ein bloßer Mangel und ein bloßer realer Widerspruch. So die Frage: Ist dieß alles wirklich ein Gegenstand pädagogischer Gegenwirkung oder verhalten sich diese verschiedenen Punkte auch auf verschiedene Weise nach den eher aufgestellten Formen, daß sie die Gegenwirkung postuliren etc? Unterstützung Primitiv. – Das was wir als Gesinnnung und Fertigkeit bezeichnet haben bilden die 30 etc?] etc. 23–24 Vgl. SW III/9, S. 135: „d. h. der Uebereinstimmung des Zusammenhangs aller leiblichen Functionen mit denjenigen die den Impuls geben, also dem Willen;“ 27– 30 Vgl. SW III/9, S. 136: „Mit anderen Worten, Postuliren sie unmittelbare Gegenwirkung, oder wirkt die unterstüzende Thätigkeit indirect entgegen, oder endlich, muß man zu verhindern suchen daß das entstehe wogegen sonst eine Gegenwirkung würde nothwendig werden? Es wird am besten sein die Gegenwirkung in ihrer verschiedenen Anwendbarkeit auf die von uns aufgestellte Triplicität, Gesinnung, einzelne Willensacte, Fertigkeit, zu betrachten; es wird sich dann das Verhältniß eines jeden zur unterstüzenden, verhütenden und gegenwirkenden pädagogischen Thätigkeit daraus ergeben.“

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Extreme und sind einander am meisten entgegengesetzt. Fertigkeiten [fallen] schon in die Zeiten der Bewußtlosigkeit diese am meisten mechanisch[,] Gesinnung hingegen das allerfreyeste. So wird jeder gleich sagen, daß auf die Gesinnung durch Gegenwirkungen nichts ausgerichtet werden kann. Schwer einen so rein negativen Satz wie diesen in Worten deutlich zu machen, und man müßte eigentlich alle Gegenwirkungen erst logisch probieren. Nun müssen wir die Frage unentschieden lassen in wiefern das Böse etwas Positives oder Reales ist. Indessen wenn wir das auch unentschieden lassen müssen und den Fall setzen, daß die schlechte Gesinnung seyn könnte eine Begierde nach dem Bösen als solchem so thun wir am sichersten wenn wir dieses auch als einen möglichen Fall setzen. Kann nun dieses durch irgend etwas zerstört werden? Wenn man ihnen das Gegentheil allmählig mittheilen könnte, aber es wäre Unterstützende pädagogische Thätigkeit selbst, nicht Gegenwirkung. Die Äußerung der Mißbilligung wäre das nächste, doch immer nur etwas Ungleiches. Doch kann sie auch an sich etwas wirken – die Sc h am . Daraus [folgt] nichts, als daß er will daß die anderen seine Gesinnung nicht merken, sie selbst würde dieselbe bleiben. Alles was nun noch weiter abliegt von diesem Centrum der Intelligenz kann noch weniger die Gesinnung afficiren. So wie wir uns aber die schlechte Gesinnung als etwas Negatives denken, so ist eigentlich von diesem Gesichtspunkt aus Gegenwirkung nicht möglich sondern das Handeln weist auf Unterstüzung hin. Hier ein Gebieth was sich aller pädagogischen Wirksamkeit durch bloße Gegenwirkung entzieht und rein nur primitiv einer pädagogischen Wirksamkeit durch Unterstützung anheim fällt. Die Wirkung welche geäußerte Mißbilligung hervorbringt, schon keine reine Wirkung auf die Gesinnung mehr ist. Diese Äußerung an sich etwas was nicht seinen bestimmten Ort hat in der pädagogischen Thätigkeit selbst, sondern es ist eine ethische natürliche Reaction, woraus empfunden gleich die Mißbilligung und die Äußerung ist auch unwillkührlich. 1–3 Fertigkeiten [fallen] schon in die Zeiten der Bewußtlosigkeit diese am meisten mechanisch[,] Gesinnung hingegen das allerfreyeste.] Fertigkeiten schon in die Zeiten der Bewußtlosigkeit Gesinnung hingegen das allerfreyeste diese am meisten mechanisch. 9 unentschieden] entschieden 13 werden?] werden. 20 Intelligenz] Inelligenz 15–16 Vgl. SW III/9, S. 137: „Wir wollen aber dennoch versuchen, ob irgend etwas sich finde was diesem am nächsten liegend als intellectuelle Gegenwirkung bezeichnet werden könne. Man möchte etwa d i e A e u ß e ru n g d e r M i ß b i l l i g u n g nennen. Allein diese ist durchaus nur etwas negatives, und nur das darin enthaltene positive, die Billigung des entgegengesezten, ruft eine ethische Wirkung hervor; dies aber kommt auf das vorige, Unterstüzung, zurükk.“

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Was so rein aus dem Inneren heraustritt hat allemal etwas Starkes und Schönes[;] Äußerung der Mißbilligung als die Absicht doch wird die Aufmerksamkeit schon gespalten, was dem reinen Ausdruck der Wahrnehmung offenbar nachtheilig ist. Dieß führt uns zu dem 2. Punkt, nähmlich die Gegenwirkung in Beziehung auf einzelne Willensacte. Eine solche allerdings möglich und zwar auf mancherley Weise. Was [hemmt] den Zusammenhang des Willensacts durch die Erregung der Scham? Aber wir müssen hier nun mehr fragen. Daß dieses recht ist, die schlechte Gesinnung in eine gute zu verwandeln wie es wolle, da kann man fragen[:] Ob es denn heilsam sey, wenn einmal der Mangel der guten Gesinnung gesetzt ist, die Willensacte zurückzudrängen durch welche sie sich kund gibt. Rein ethisch betrachtet daß der Mensch zu seiner Vollkommenheit gelange, so werden wir sagen daß dadurch eigentlich nichts gewirkt würde denn die Gesinnung bleibt, und diese macht doch allein den Werth des inneren Menschen aus. Aber wenn auch nur auf indirecte Weise auf Gesinnung eine Wirkung hervorgebracht werden soll, dazu ist die Selbsterkenntniß ein ganz unentbehrliches Moment. Wenn sich die Freude am Guten einflößen läßt, so wird doch eigentlich nur ein gehöriger 8 Scham?] Scham. 1–4 Vgl. SW III/9, S. 139: „Wenn die Aeußerung der Mißbilligung in der Erziehung einen anderen Charakter hat als in dem Gebiete des Lebens überhaupt: so könnte dies doch keine verstärkte Wirkung auf die Gesinnung hervorbringen, sondern eher würde das Gegentheil eintreten. Nämlich es entsteht dann eine Differenz zwischen dem natürlichen, unwillkührlichen und dem absichtlichen; dies wird sich der Wahrnehmung des Zöglings nicht entziehen; er wird das absichtliche und das von innen heraus kommende unterscheiden; das leztere wird den stärksten Eindrukk machen, das absichtliche aber wird diesen verringern. Wo man Absichten merkt, da sind es auch die bestimmten Mittel die dieser dienen, auf welche die Aufmerksamkeit gelenkt wird; es tritt ein betrachtender Zustand ein, der dem reinen Aufnehmen des Eindrukks offenbar nachtheilig ist. Der Eindrukk der Mißbilligung wird um so größer sein, je weniger diese den pädagogischen Charakter an sich trägt, sondern rein als ein Act im gemeinsamen Leben erscheint.“ 7–8 Vgl. SW III/9, S. 139: „Gegenwirkung gegen einzelne Willensacte welche dem pädagogischen Bestreben zuwiderlaufen, haben wir schon als möglich gesezt, indem wir sagten daß die Mißbilligung die Scham erregen und so einzelnen Willensacten hemmend entgegen treten könne.“ 18–2 Vgl. SW III/9, S. 140: „Wenn es nun in Beziehung auf die Gesinnung keine Gegenwirkung giebt, und wir auf die unterstüzende pädagogische Thätigkeit zurükkgehen müssen, um von hier aus auf irgend eine Weise dem Zögling die Freude am guten und rechten einzuflößen: so kann doch ein innerer Widerspruch im Zögling begründet sein, ohne daß dieser Gegensaz bestimmt erkannt würde. Dies aber ist ein verworrener Zustand. Der Zögling selbst wird sich bald am guten erfreuen, bald der entgegengesezten Neigung sich zuwenden, ohne dieses Wechsels bestimmt sich bewußt zu sein, ohne eines oder das andere deutlich erkannt zu haben. So wie aber mit der Freude am guten zum Bewußtsein kommt daß das innere Leben eine andere Richtung hat, dann ist der Zustand klar und die ganze Operation kann sicher vor sich gehen.“

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Widerspruch im Menschen gegründet wenn wir annehmen könnten daß beydes bey der Jugend vorhanden sey und wechsle. Auf alle Weise muß allerdings die Selbsterkenntniß wach werden durch Erinnerung an die wirklichen Handlungen und eigentlich nur dadurch daß man die einzelnen Willensacte gewähren läßt weil sie die Nothwendigkeit der Selbsterkenntniß darbiethen. | Also in rein ethischer Beziehung wird es nie das Beste seyn, gegenwirkend gegen die einzelnen Willensacte zu handeln und sie durch positive Gegenwirkungen zurückzudrängen. Ein anderes ist sie in der Ausführung zu hemmen, nachdem sie schon innerlich vollzogen sind denn so ist schon der Zweck der Gegenwirkung erreicht; dann können allerdings noch andere Zwecke erreicht werden. Was würde diese Gegenwirkung gegen die Ausführung eigentlich bewirken können? Daß nicht durch die Ausführung selbst ein Minimum von Fertigkeiten zum bestehenden Zustand hinzukomme. Denn jede vollzogene Handlung erleichtert die Vollziehung einer ähnlichen in der Zukunft – so die Fertigkeit. Da hat die Gegenwirkung gegen die einzelnen Willensacte ihre vollkommne sittliche Realität denn die sittliche Verbesserung muß rein von innen durch die Gesinnung entstehen. Aber sie wird in ihrer Wirkung auf das Leben erleichtert je weniger schon entgegengesetzte Fertigkeiten zu überwinden sind. Nun noch einmal die Frage[:] Ob in Beziehung auf dieses Gebieth der einzelnen Willensacte noch eine andere Gegenwirkung möglich ist als die durch die Äußerung der Mißbilligung? Diese ist die natürlichste weil sie sich an den Ursprung des einzelnen Willensacts der Gesinnung hält und durch die Scham hindert daß der Willensact zu einer allgemeinen Anschauung gemacht wird. Nun kommen wir hier auf das Gebieth der St r a f e n und B e lo hn ung en, die wir als Gegenwirkung als i d e n t i s c h ansehen. Nun sind S tra fen nichts anderes als u n a n g e n eh m e Z u s t än d e , [die] mit der Vollziehung des Bösen verbunden werden, Belohnungen nur a n ge n ehme Zustände verbunden mit der Unterlassung des Bösen, es ist beydes völlig ein und dasselbe. Was die sittliche Dignität eines solchen Verfahrens? Offenbar hier eine Berechnung welche auf dem Gebieth des Sinnlichen liegt und das die Fertigkeit in solchem sinnlichen Calculus, das Angenehme und Unangenehme gegen einander abzuwägen. Der Zögling auf dem sinn36–1 Vgl. SW III/9, S. 142: „Wir mögen das böse als etwas negatives oder positives ansehen, so thut der Mensch doch immer das böse um des damit verbundenen angenehmen willen; es ist also ein si n n l i c h e s M o t i v dabei. Wenn wir nun eine sinnliche Gegenwirkung anbringen und den Zögling zu jener Berechnung veranlassen: so halten wir ihn auf dem sinnlichen Gebiete fest und begünstigen es daß alle seine Handlungen durch sinnliche Impulse geleitet werden.“

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lichen Gebieth festgehalten, und wir begünstigen das. Durch jede solche Application von Gegenwirkungen in sofern sie sich auf Vollbringung eines Willensacts bezieht, wird die sittliche Entwicklung gehemmt. Darinn keine völlige Ausschließung dieses ganzen Verfahrens der Gegenwirkung durch Strafe und Belohnungen. Sondern es ist das Minimum gesetzt damit, daß aber kein großer Nachtheil für die sittliche Entwicklung damit verbunden ist, denn von der Sache hier nur in Beziehung auf das Gebieth der Willensacte, noch nicht in Beziehung auf das Gebieth der Fertigkeiten. Die Anw end ung der G ewa l t bliebe immer noch übrig – die Ausführung der Willensacte durch ähnliche leibliche Kräfte zu hemmen. Aber das ist nichts als eine Hemmung des Willensacts in einer bestimmten Zeit. Diese Gegenwirkung nur in der äußersten Noth – (Zorn). Wenn man hiezu seine Zuflucht nehmen muß, da ist ein sicheres Zeichen, daß früherhin vieles ist versäumt worden, man hätte solche Neigungen nicht so weit sollen gedeihen lassen. G e w ö hn u n gen und F ertig keiten auch schon in der Zeit wo von Willensacten und Gesinnung noch nicht die Rede seyn kann. Wenn nun die Kinder z. B. nachtheilige Gewöhnungen annehmen, meist nur aus einem physischen Grund, da ist nur einer physischen Nöthigung zum Gegentheil eine Gegenwirkung möglich (krumme Richtung). Bey der Sprache da sind in dieser Zeit die Menschen am meisten im thierischen Zustande, die Einwirkung bey beyden nicht wesentlich verschieden. Bey den Thieren nur physischer Eindruck. Auf dieselbe Weise mit den kleinen Kindern und es gibt offenbar früher kein anderes Mittel, da ist die Gegenwirkung auch nicht Strafe, eine rein physische Einwirkung die mehr auf die organische Natur wirkt als auf die bewußte. Wenn diese Gegenwirkung zu weit ausgedehnt wird und später auch noch statt findet, so ist es fehlerhaft. Die erste Gegenwirkung die Erregung der Scham aus der Äußerung der Mißbilligung. Die Form kann direct auf die Willensacte und indirect auf die Gesinnung wirken. Wie weit können wir mit dieser hinunterlangen und wie weit mit der Gegenwirkung hinauf? Hier 11 hemmen] gehemmt

32 hinauf?] hinauf.

5–9 Vgl. SW III/9, S. 142–143: „Es soll nur festgesezt werden, daß stets das Minimum von Strafe und Belohnung als pädagogische Einwirkung gegen die Willensacte vorkommen dürfe, weil eben jede derartige Gegenwirkung immer das sinnliche unterstüzt und die rein sittliche Entwikklung hemmt. Betrachten wir das Gebiet der Gegenwirkung gegen einzelne Willensacte an sich, und wollen wir unsere pädagogische | Thätigkeit so einrichten, daß durchaus kein sittlicher Nachtheil entstehe: dann sind wir an keine andere Gegenwirkung gewiesen als an diejenige die in der Aeußerung der Mißbilligung liegt, und zwar auch diese nur in so fern sie vollkommen natürlich ist.“ 21 Vgl. SW III/9, S. 144: „wie z. B. bei einer krummen, schiefen Haltung des Körpers“

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tritt uns vor dem ersten Punkt bereits die Maxime entgegen daß in Beziehung auf die ethische Aufgabe schon die Erregung der Scham kein unbedingtes Mittel ist, weil nähmlich die eigentlich sittliche Entwicklung immer mit der eignen Überzeugung zusammenfallen muß, und man nie sagen [kann] daß die sittliche Entwicklung befördert sey, wenn nicht die eigne Überzeugung auch befruchtet ist. Aber wenn es darauf ankommt, einzelne Willensacte zu QreproducirenR, da muß man nur das frey halten, daß auf die Gesinnung durch die unterstützende Thätigkeit gewirkt würde. Ist jenes Hülfsmittel das was mehr intellectueller Natur ist, Erregung der Scham, auch eine Gegenwirkung die weiter abwärts angewendet werden kann in Beziehung auf einzelne Thätigkeiten, die wir als ein unbewußtes und eigentlich nicht gewolltes ansehen? Das nächste als Aufgabe ist das Gebieth des Bewußtseyns zu erweitern, welches unterstützend ist. In diesem Zustand wo der Wille eingetreten ist und doch noch Wirkungen aus der willenlosen Zeit übrig geblieben sind, da ist die Gegenwirkung auch nur eine secundäre. – Hier haben wir also die Wahl zwischen beyden Gegenwirkungen, die von dem intellectuellen Punkt aus, die andere vom mechanischen und es fragt sich wie sich dieß zu einander QverhältR. Die erste Frage ob es denn kein drittes zwischen beyden [gäbe] und da müssen wir sagen indem wir von dem mechanischen bewußtlosen Endpunkt anfingen fanden wir Gegenwirkungen indicirt die rein als physische Gegenwirkungen wirken sollten über die physische Gewalt oder die Unlust. Hier müssen wir wieder unserem alten Canon folgen, daß wir bey jeder pädagogischen Maxime untersuchen müssen, in wie weit es zugleich ethisch ist. Wenn wir also unter den Umständen sagen der Zögling ist so gekommen, daß er das wogegen der Erzieher glaubt gegen wirken zu müssen selbst nicht will so ist alsdann anzunehmen, daß er wo er nun doch im Moment seinen Willen nicht in Thätigkeit setzen kann, weil ihm ein Rückfall in den bewußtlosen Zustand kommt, daß er die rein physische Gegenwirkung selbst wollen kann, er kann sie als eine Kur ansehen, und muß es billigen, daß man diesen 13 ansehen?] ansehen. 20 es] es sich

19 QverhältR] wegen späterer Fadenheftung unsicher

9–13 Vgl. SW III/9, S. 145 (Zusatz): „Es berührt diese Frage nicht etwa nur die Zeit wo der Wille überhaupt noch nicht entwikkelt ist, sondern sie ist allgemein und betrifft alle diejenigen Zustände auch in der späteren Lebenszeit, w o e t w a s z u r G e w o h n hei t g ew o r d e n i st ; alle Gewohnheit auf eminente Weise ist etwas bewußtloses. Es ist aber von jedem in welchem Gesinnung ist, ein solcher Zustand zu mißbilligen, wenn ohne den Willen irgend etwas geschieht, was wenn es zum Bewußtsein gekommen wäre, gegen den Willen gewesen wäre.“

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Einwirkungen ihrer ursprünglichen Genesis gemäß begegne. Aber nicht eben so daß man sie durch eine Unlust regiere und ihm Gegenwirkungen beybringe. Dadurch wirft man ihn offenbar vom ethischen Standpunkt wieder zurück. Wir werden immer sagen müssen je mehr die Gegenwirkungen von der 2. Art rein in dem Gebieth als physische Einwirkungen zurück bleiben, desto reiner ist ethisch die pädagogische Thätigkeit. Wird im bewußten Zustand so gewirkt, so entsteht etwas dem wieder entgegengewirkt werden muß. | Hier sind wir auf einem Punkt wo die pädagogische Praxis einen Widerspruch darbiethet. Wir sehen es als nothwendige Vorbereitung für das ganze übrige Leben an, daß die Jugend gewöhnt würde der Lust und Unlust zu widerstehen. Absichtliche Übungen. In diesem Gebieth halten wir uns. Absichtliche Übung in diesem Widerstreit gegen die Lust und Unlust pädagogische Thätigkeit. Hier keine andere Auskunft daß nähmlich nie Lust und Unlust als bewußte, als Gegenwirkungen gebraucht werden sollen. Nun würde es scheinen daß wir sagen könnten, es gibt nur zweyerley Gegenwirkungen, E r r e gu n g de r Sc h am als ein zurückhaltendes Princip und p h ys i s c h e G e w al t . So lang das Leben noch so zart ist daß es physische Gewalt nicht verträgt, da ist die Gegenwirkung Null und es muß alles durch die unterstützende Thätigkeit geleistet werden. Hier also eine regelmäßige Fortschreitung. Anfangs keine, dann physische, dann mehr ethische Gegenwirkung. Die physische für den bewußtlosen Zustand die ethische da wo sich der Wille schon manifestirt. Die Erziehung zerfällt also von selbst in verschiedene Perioden, indem in den einen Prinzipien Thätigkeiten sind, die in den anderen noch nicht waren. Nun wenn wir darauf zurückgehen wie wir uns die Aufgabe gestellt haben, daß die ältere Generation die jüngere hineinstellen soll[;] wir fragen wenn das Verhältniß der Gegenwirkung richtig ist schickt sich das in die Gestaltung des gemeinsamen Lebens hinein, in das die Zöglinge hineintreten sollen? Da wir also mit dem 15–16 Vgl. SW III/9, S. 147: „Wir haben den Widerspruch gelöst dadurch daß wir sagten, Lust und Unlust, S t ra f e u n d B e l o h n u n g k ö n n e n u r i n s o f e r n i n An w e n d u n g k o m m e n a l s d u rc h si e n i c h t d a s B e w u ß t s e i n a f f i c i e r t w i r d ; sie sollen nie unter der Form des Bewußtseins als Gegenwirkung gebraucht werden.“ 27–31 Vgl. SW III/9, S. 148–149 (Zusatz): „Wenn wir auf die Aufgabe der Erziehung zurükk sehen, daß die jüngere Generation an die großen Lebensgemeinschaften abgeliefert werden soll, in denen sie selbständig zu handeln hat: so fragen wir, Wenn das von uns aufgestellte Verhältniß der verschiedenen Gegenwirkungen das richtige ist, schikkt sich dann dies in das gemeinsame Leben hinein, so daß nun E r|z i e h u n g u n d g e m e i n s c h a f t l i c h e s L e b e n oder freie Selbstthätigkeit als in einander ohne Störung übergehend, a l s e i n e R e i h e angesehen werden kann?“

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Aufgestellten unrecht gehabt. Denn in dem Gebieth der Erziehung haben wir die Gegenwirkung mit der Form der Lust und Unlust ausgeschlossen. Ohne Strafgesetze würde die bürgerliche Gesellschaft kaum bestehen können oder wollen wir sagen die Erziehung kann aus rein ethischen Beziehungen construirt werden aber die bürgerliche Gesellschaft nicht, Moral und Politik gehen nicht in einander auf ist der alte gefährliche Satz. Wir daher wohl den Satz aufstellen, daß es eine große Vollkommenheit wäre wenn die bürgerliche Gesellschaft mit Straflosigkeit bestehen könnte und daß eine Nation so vorgebildet wäre daß die Strafgesetze entbehrlich wären. Der Mangel an der Übereinstimmung nicht in der Idee selbst nur in der Unvollkommenheit der Ausführung und die Noth der Strafgesetze beruht darauf daß die Erziehung nicht das geleistet hat, was sie der Idee nach leisten soll? Den Zustand der Vollkommenheit können wir eigentlich nicht voraussetzen und das auch nicht in der Theorie. –Verhält es sich noch in der Wirklichkeit so daß ein so plötzlicher Abschnitt sey zwischen dem Austritt aus der Erziehung und dem Eintritt ins öffentliche Leben? Vor der gesetzlichen Mündigkeit oft schon ein Eintritt ins öffentliche Leben. Die Erziehung zwar der Natur nach ursprüngliches Verhältniß der Familie, hernach aber Staat und Kirche einen Antheil daran nehmen. Wir wollen nun dieß hypothetisch herstellen und fra8 mit] ohne

17–18 Leben?] Leben.

1–3 Vgl. SW III/9, S. 149: „Wir haben die Sache so dargestellt, daß nach und nach die J u g e n d v o n a l l e r G e g e n w i rk u n g f re i wird. Soll nun das gemeinsame Leben unmittelbar an die Periode der Erziehung als Fortsezung sich anknüpfen: so müßte a u c h i n d e m g em e i n sa m e n L e b e n k e i n e G e g e n w i r k u n g sein. Und doch, sobald die Jugend in das öffentliche Leben eintritt, tritt sie auch ein in ein System von Strafen und Belohnungen, in ein Spiel des Lebens wo Lust und Unlust beständig wechseln und als Motive angewendet werden. Was ist nun das unrichtige, unsere Construction der Gegenwirkung, oder das gemeinsame öffentliche Leben, oder unsere Behauptung daß die Erziehung und das öffentliche Leben, beides aus dem gemeinsamen ethischen Princip hervorgehend, eine Reihe bilden müsse?“ 6–7 In Schleiermachers Bibliothek befand sich Machiavelli, Niccolò: Opere di Niccolò Machiavelli, Bd. 1–6, Florenz 1782–1783 [SB 1198]. In der Schrift „Il Principe“ (hier Bd. 3, 1782) vertritt Machiavelli die Ansicht, dass Politik und Moral zwei gesonderte Sphären seien, wobei in staatlichen Angelegenheiten das Politische über dem Moralischen stehen müsse: „[…] perchè egli è tanto discosto da come si vive a come si doveria (1) vivere, che colui che lascia quello che si fa per quello che si doveria (2) fare, impara piuttosto la rovina che la preservazione sua; perchè un uomo che voglia fare in tutte le parti professione di buono, conviene che rovini fra tanti che non sono buoni. Onde è necessario ad un Principe, volendosi mantenere, imparare a potere essere non buono, ed usarlo e non usarlo secondo la necessità.“ (Opere 3,447; Edizione nazionale delle opere di Niccolò Machiavelli, 13 Vol., Bd. 1– 15, Rom 1997–2017, hier Apt. 1: Opere politiche, Bd. 1, 2006, S. 216)

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gen: Wenn es nun einen Theil der Erziehung gibt welcher unter der Leitung des Gemeinwesens steht, werden wir durch die Praxis rein aufstellen können, wie wir sie uns neulich organisirt haben? Da wird die Antwort seyn: Ein bedeutender Unterschied muß der Natur der Sache nach sich finden. Unsere Praxis gestaltet sich so daß es Strafen und Belohnungen im engeren Sinne in der Erziehung nicht geben soll, sondern nur von intellectueller Seite aus die Gegenwirkungen in der Mißbilligung bestehen, und von animalischer Seite die Gegenwirkungen mit physischer Gewalt. Nun eine Vergleichung der hä uslichen u r s p r ü n g l i c h e n eigentlichen Art mit der öf fent li chen. In der öffentlichen schon der Charakter des Gemeinwesens, besonders in Einem Punkt die G e s e t z l i c h k e i t . Irgend eine Form von öffentlicher Erziehung werden wir uns nicht denken können ohne Gesetzlichkeit. Wogegen in einer rein häuslichen Erziehung gar keine Gesetze seyn sollen. So entsteht der Fortgang. Gesetz und Strafe hängen mit einander zusammen. Aber so wie Gesetz entbehrt werden kann so die Strafe. Das Ungesetzliche der häuslichen Erziehung hängt mit der aufgestellten Praxis zusammen. Offenbar setzt das Gesetz immer schon eine Disharmonie voraus, die in der Familie nicht seyn kann, der Idee nach betrachtet, wogegen sie im öffentlichen vertreten ist. In der Familie ist das Leben des Menschen erst ein Theil der anderen und wird erst allmählig ein eignes, ursprünglich mit jenem identisch. So ist anfangs die Freyheit schlechthin null und die geordnete Einwirkung als Reizmittel auf die Erweckung der geistigen Thätigkeit das Ursprüngliche. Denken wir uns hernach die Freyheit schon in der Entwicklung begriffen, gebilligt von den Familiengliedern so ist es der Natur zuwider, daß dieses unter der Form des Gesetzes geschehen soll, denn Gesetzgeber und das Gesetz empfangende müssen immer ganz unterschieden werden, Obrigkeit und Unterthanen wie Väter und Kinder, weil da auch kein Gesetz ist, und da ist ein guter Staat. Das Gesetz ist immer eine allgemeine Bestimmung. – Je größer die Anzahl der zu Erziehenden desto größer muß die Ordnung seyn doch ohne Gesetz 7 die Gegenwirkungen] die Gegenwirkungen die Gegenwirkungen

10 mit] von

1–3 Vgl. SW III/9, S. 150–151: „Wenn es einen Theil der Erziehung giebt der unter Leitung des Gemeinwesens steht und also auch den Charakter des Gemeinwesens an sich tragen muß: wir das was wir theoretisch festsezten auch hier nun praktische | Geltung haben?“ 29–30 Vgl. SW III/9, S. 152: „Wo dieser Unterschied nicht ist, da ist auch eigentlich kein Gesez; und der Gegensaz zwischen Obrigkeit und Unterthanen ist nur dann ein begründeter, wenn in der Obrigkeit selbst der Gegensaz zwischen Gesezgeber und Vollstrekker enthalten ist und die Obrigkeit selbst unter dem Gesez steht; wo auch im bürgerlichen Leben die Leitung mit dem Charakter des väterlichen verbunden werden soll, da hört auch die Form des Gesezes auf.“

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müssen sie immer wieder der Wi l l k ü h r überlassen seyn. Die phy sisc h e G e w a l t der Eltern und die L i e b e sind ursprünglich gegeben, kein drittes soll dazwischen treten. Abschreckende und lockende Motive sagen nur daß sie auf ihre physische Übermacht nicht mehr vertrauen können und die Liebe nicht stark genug hervor tritt. Der Zögling wird mancherley Neigungen mit sich bringen die sich mit dieser Form nicht vertragen, und wenn es also nothwendig wird daß den Ausbrüchen solcher Neigungen entgegengewirkt wird so tritt das Gesetz und die Strafe ein, der Zögling muß erfahren daß er mit der Form des allgemeinen Lebens streitet. Unter dieser Voraussetzung bekommt die Sache eine andere Gestalt. Wie das Hau sw e sen sollte eigentlich auch das G e m e i n w es e n ohne Gesetz und Strafe bestehen. Der Staat mit seinem Intresse kann sich auf die Familien nicht verlassen. Die Erziehung bekommt in dieser Beziehung einen zweyfachen Charakter. In der häuslichen alles so daß die Praxis möglichst entstehe, in der öffentlichen ist es nicht möglich, daß es sollte Gesetz und Strafe seyn. Folgt beydes zusammen, so gibt es einen starken Abschnitt, in dem die Jugend auf einmal das Bewußtseyn des häuslichen Zustandes und die Urtheile von Gesetz und Strafe bekommt als Vorbereitung auf das Leben in dem Gemeinwesen. | Dieses ist dann der Übergang zwischen der häuslichen Erziehung und dem Leben im Staat selbst. Alsdann der Zustand der Zöglinge ein zweyfacher. So wie sie in die öffentliche Erziehung hineinkommen stehen ihnen Gesetz und Strafe vor. Durch diese allgemeinen Betrachtungen wir kommen auf einen Punkt, wo die Aufgabe sich uns darstellt als zu lösen durch eine mannigfaltige Organisation. Unterstü t ze n d e T h ä t i g k e i t . Erst diese unterstützende und entwickelnde Thätigkeit stellen wir uns hier eigentlich ihrem Gehalte nach erst vor Augen. Wir haben hier eine zweyfache Betrachtung. Wir müssen die pädagogische Thätigkeit auf zweyerley spalten einmal der Gegenstand 9 daß er] der

18 Bewußtseyn] Bewußtseyn es

30 spalten] gespaltet

12–13 Vgl. SW III/9, S. 154: „Dies würde aber eine absolute Harmonie aller Familien mit der Idee und dem Geiste des Staates voraussezen.“ 15–20 Vgl. SW III/9, S. 154– 155: „Die häusliche Erziehung hat den reinen ursprünglich ethischen Charakter, und es muß das Bestreben sein, daß die Praxis möglichst so sei wie wir theoretisch die pädagogische Thätigkeit als Gegenwirkung construirt haben. Die öffentliche Erziehung dagegen gestaltet sich ganz anders; in ihr hat wie im öffentlichen Leben Gesez und Strafe eine Stelle. Sind beide die häusliche und öffentliche Erziehung gesondert und nach einander: so ist dies ein schroffer Uebergang vom häuslichen in das gemeinsame Leben, weil nun auf einmal der Jugend das Bewußtsein einer Disharmonie und zugleich des Gesezes und der Strafe kommt. Es ist dies dann auch ein scharfer Abschnitt im Leben, und der Uebergang von der häuslichen Erziehung in die öffentliche oder gesezliche zugleich ein Uebergang | vom häuslichen Leben zum Leben im Staate.“

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der Erziehung ist ein L e b e n d i ge s d. h. schon wie uns das Leben hier gegeben ist in sich von selbst von Anfang an fortentwickelt. Nun fragt sich wozu und in wie fern ist demunerachtet eine solche Einwirkung nothwendig? 2) Der Gegenstand der Erziehung ist ein Einzelnes, welches aber sich in einem gesammten Zusammenhang vom homogenen Leben findet und worauf beständig schon von selbst Thätigkeiten geschehen, unter diese Einwirkungen gehören auch die der Eltern auf die Jüngeren, die sind nicht alle pädagogisch sondern das werden sie sobald sie absichtlich werden, sobald sie nicht absichtlich sind, so können sie entweder unbewußt dasselbe leisten und darauf ausgehen, aber sie können auch II. vom anderen Intresse ausgehen und das Verhältniß zur Idee und der Zweck der Erziehung erscheint dann als etwas Zufälliges. Also: Unerachtet [daß] von selbst ohne eine Absicht und Theorie solche Einwirkungen erfolgen die von derselben Natur sind ist dann wirklich außer dem noch die absichtliche Einwirkung, welche die eigentliche pädagogische Thätigkeit bildet nothwendig? Der eigentliche Gehalt derselben kann nur daraus hervorgehen, wenn wir 1.) auf die natürliche Selbstentwicklung sehen und fragen in wiefern diese genug ist, und was sie leisten kann und nicht und dann daß wir auf die Totalität der unabsichtlichen Einwirkungen sehen. Wenn wir uns die eigne Einwirkung betrachten so würden wir nie davon ausgehen uns den Zögling zu isoliren. Die Vernunft würde früher oder später zur Entwicklung kommen, wenn es auch gar keine Erziehung gäbe, was wir auch bey gewissen Völkern großer Massen sehen aber da [sind] nicht nur eine große Menge Thätigkeiten die beständig müssen gehemmt werden, sondern die Entwicklung wird unter dieser Voraussetzung immer eine ungenügende und unregelmäßig gestaltete, welche die Spuren des Mangels und der Unordnung an sich tragen und in dem Maaße als das Absichtliche eintritt werden Mängel ersetzt und Zusammenhang und Unterstützung hineingebracht. Und das sind die zu entwickelnden Punkte um zu sehen was die pädagogische Thätigkeit zu leisten habe. – Schwer zu entscheiden was sich von selbst entwickelt und was durch die Einwirkung der Menschen und ebenso dieselben welchen die pädagogische Einwirkung zunächst obliegt, sind auch die natürlichen und ursprünglichen Umgebungen eines jeden der erzogen werden soll. Sollen nun diese ihre Thätigkeiten in Beziehung auf den Zögling 4 nothwendig?] nothwendig.

9 werden] werden so werden sies

37–2 Vgl. SW III/9, S. 157: „Es fragt sich, Sollen diese ihre Thätigkeit für den Zögling i n a b s i ch t l i c h e u n d u n a b si c h t l i c h e theilen? oder soll ihre Thätigkeit bloß eine absichtliche sein, unserer Theorie ganz anheimfallend, so daß nur das rein zufällige, von anderen, welche nicht zur unmittelbaren Umgebung des Zöglings gehören, ausgehende der eigentlichen Erziehung gegenübersteht?“

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theilen, oder alles so gestaltet werden daß es in den Umfang der eigentlichen Theorie gehöre? Wenn der erwachsene Theil der Familie alles nach dieser bestimmten Theorie gestalten sollte, dann würde das ganze Leben nach einer bestimmten Regel müsse eingerichtet werden. Welche sind die Einwirkungen die ins Gebieth der Erziehung hineinfallen? Die einen: Alles wenn man sich dem bestimmten Augenblick überläßt ist etwas Zufälliges und da wird man mit sich nicht übereinstimmen, also wird es immer einer Correction zu unterwerfen, andere haben dieß geläugnet und andere Grenzen gezogen, daher am besten die Einwirkung selbst unter diese Correction zu bringen. Wir haben keinen bestimmten Grund in dem was vorher liegt und der Frage vorangeht, nun so oder so zu entscheiden, da ist das Natürlichste, auf das Resultat zu sehen und darnach zu beantworten. Wenn das ganze Leben der Jugend nach bestimmten Regeln geschieht und alle Einwirkungen so geschehen daß das rein Momentane nicht dabey statt findet, und alles durch die Theorie unter den Regeln erst durchgegangen ist, so wird uns das schon einem gewissen Verdacht geben, als ob dadurch das Leben von seiner Frische verliere, und wir können nur eine unbestimmte Vorstellung erhalten. Dagegen, wenn wir das andere hinzufügen und fragen wie wird es am Ende der Erziehung und im Übergang aus dem Zustande der Erziehung in die freye gesellige Thätigkeit aussehen so ist klar[:] Wenn der Mensch auf eine selbstständige Weise in alle die verschiedenen Wechselwirkungen eintritt, so gibt es ein verschiedenes System. Beruf und Geschäft, und ein anderes wo die Wechselwirkung keinen Regeln unterliegt alle freyen geselligen Verbindungen. Strenger Gegensatz zwischen dem Zustand welchen der Zögling verläßt und dem in den er übergeht. Das zweyte ist dieses daß unter dieser Voraussetzung die ganze Periode der Erziehung keine Vorübung enthält auf das Hineintreten in einen Zustand von freyer und geselliger Wechselwirkung. Die Erziehung so gestaltet ist mangelhaft weil sie einen Theil der Aufgabe nicht löse. Wenn wir das rein technisch finden, so käme dann der Zögling in ein Gebieth von freyer Wechselwirkung auf eine ganz ungeschickte und ungeübte Weise. Ist das als eine U n vo l l k o mm e n he it des Zög ling s oder des g e s e l l ig e n L e b e n s anzusehen, daß es eine solche Forderung macht? Es wäre schlimm wenn das letzte seyn sollte, daß man die Sache nicht unter gewisse Regeln sollte bringen können. Wir können es nicht anders ansehen als daß es eine relative Ertödtung sey aller auf einander folgender Generationen. Es wäre die offenbarste Verschiedenheit zwischen denen welche die Regel geltend gemacht, die hätten eine hohe Potenz eines menschlichen Lebens ausgeübt, die letzten müßten nach 2 gehöre?] gehöre.

35 macht?] macht.

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dieser Regel handeln und könnten diese Potenz gar nicht ausüben. Sie erschienen also nur jener Generation untergeordnet, Fortsetzung von jener. | Wenn die Subsummtion unter die Regel eben so eine freye Handlung ist als das Aussprechen der Regel selbst, so ist nur der zufällige Zeitunterschied der ihn von den anderen unterscheidet. Wohl! Aber wie kann eine solche Handlung eine eben so lebendige seyn? So wie ich an das vorige denke so ist das Gebieth freyer Wechselwirkung hergestellt. Da hätten wir die Bestätigung gefunden von dem wessen wir uns vorher nur unbestimmt bewußt waren. Unter der bloßen Subsummtion unter die Regel da ist kein eigentlicher Gebrauch der Freyheit. Also das Maximum von einer pedantischen Existenz wenn bey der Erziehung alle Einwirkungen unter Regeln sollten gebracht werden. Da thun wir also Einspruch, so soll es nicht seyn, sondern das Leben der Jugend während der Erziehung soll auch ein solches Gebieth enthalten wo ihre Umgebungen nur unter der Form des freyen Lebens auf die Jugend einwirken, damit eine Analogie da sey mit ihrem späteren Leben und eine freye Thätigkeit in ihnen selbst entwikkelt werde. Wie soll dieses von dem anderen getrennt werden? Hat es eine Ansicht gegeben welche nun dieses Gebieth nicht wollte, und alles unter Regeln setzt, so würden sie doch immer die Tendenz haben, daß dieses nur ein Minimum seyn sollte. Diese Ansicht scheint uns ein Irrthum weil sie auf eine unhaltbare Construction des Gesammt Lebens hinführt, so haben wir schon den Verdacht, daß dieß nicht das Minimum seyn müßte. Welche sind nun diejenigen Thätigkeiten welche unter die Form der freyen Thätigkeiten zu setzen sind und welche unter die geregelten? Allerdings nicht willkührlich, weil beydes nothwendig ist so muß auch jedes seinen bestimmten Ort haben. Wo sollen wir diese Differenz haben? Wenn wir uns das ganze menschliche Leben unter der Form des Gebundenen denken, so erscheint uns das Gesammtdaseyn des Einzelnen als ein Verringertes, also das Resultat dieses, daß die persönliche Eigenthümlichkeit in einer solchen Gestaltung des Lebens nicht recht hinaus treten kann da eigentlich sich dieß alles in dem Leben worinn sich am meisten die Persönlichkeit manifestirt, dasjenige ist, was dem Gebiethe des freyen Lebens am meisten angehört, und das worinn sich die am wenigsten manifestirt als am 9 wessen] was

27 geregelten?] geregelten.

7–9 Vgl. SW III/9, S. 160: „Offenbar nur dann, wenn mir die Sache schon vorschwebt ohne daß ich an die Regel denke. Dann ist aber auch das Gebiet freier Wechselwirkung wieder hergestellt.“

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meisten in das Gebieth des Gebundenen Lebens gehört. Im Mittelpunkt unserer Triplicität sind die einzelnen Willensacte. Wenn wir uns das Leben als ein Gebundenes denken so sind alle einzelnen Willensacte als etwas unvollständiges nur Anwendungen eines fremden Willensacts. Die einzelnen Willensacte eine Beziehung rückwärts auf die Gesinnung und auswärts auf die Fertigkeit. Die Unvollständigkeit nicht die welche die Beziehung des Willensacts auf die Fertigkeit ausdrückt aber nach einwärts auf die Gesinnung betrachtet da erscheint das verringert oder Null, denn die Gesinnung manifestirt sich da nur als Zustimmung dieser Regel nicht als ursprüngliche Production. Wir sagten damals Eigentlich keine Manifestation der Gesinnung als in einzelnen Willensacten. Können wir uns das Leben so theilen daß wir sagen es gibt Ein Gebieth da erscheint in den einzelnen Willensacten die Gesinnung? Das ist dasjenige wo die Freyheit erscheinen muß und umgekehrt. So hätten wir hier die Frage beantwortet. Aber diese Behandlung bis jetzt nur eine Formel, den Innhalt haben wir noch nicht entwickelt, daher bloß hypotetisch, wir wissen nicht können wir das Leben so theilen. Die Erziehung auf der einen Seite hat vorzüglich die Tendenz die Fertigkeiten der früheren Generation auf die spätere zu übertragen, das ist die ganze fortlaufende Tradition ohne welche jede Generation wieder von vorne anfangen müßte. Hier ist das natürliche Gebieth für ein bestimmtes technisches Verfahren, hier die unterstützende und [gegenwirkende] Thätigkeit der pädagogischen Form nothwendig, wenn dieses nicht da ist oder ohne daß die Form vom regelmäßigen Verfahren zum Bewußtseyn kommt, so ist das offenbar eine Abweichung von dem rechten Maaß das Laxe in der Erziehung. Auf der anderen Seite der Zusammenhang der einzelnen Willensacte in der Einheit der Gesinnungen und wir fragen was ka nn denn hier geschehen? so müssen wir sagen, was wir bey der Gegenwirkung sagten. Wenn wir dasselbe aus dem entgegengesetzten Gebieth so übertragen 14 Gesinnung?] Gesinnung da ist

23 und] und unterstützende

1–2 Vgl. SW III/9, S. 161: „Auf dem secundären Gebiete der Pädagogik, dem der Gegenwirkung, waren wir auf eine Triplicität gekommen; wir unterschieden die Gesinnung als die innere constante Lebensthätigkeit, die einzelnen Willensacte, die Fertigkeit.“ 12–15 Vgl. SW III/9, S. 162: „Können wir nun das ganze Leben so theilen daß wir sagen, In einigen Willensacten erscheint die Gesinnung – das wäre dann die Seite der freien Lebensthätigkeit –, in anderen erscheint mehr die Fertigkeit – das wäre dann die Form der gebundenen Lebensthätigkeit –, ohne daß dadurch ein nachtheiliger Einfluß entstände? Gewiß nicht. Es bleiben uns also die beiden Gebiete Gesinnung und Fertigkeit.“ 30 Vgl. SW III/9, S. 163–164 (Zusatz): „In Be|ziehung auf die Gesinnung ergab sich uns als Gegenwirkung gegen einzelne Willensacte nur die Mißbilligung; die Gesinnung selbst sollte gewekkt werden durch unterstüzende Thätigkeit.“

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wollten und ein regelmäßiges Verfahren anwenden, so würde das durchaus seinen Zweck verfehlen. Wir setzen voraus, irgend etwas könne geschehen, die Form würde sich dem Zögling immer aufdrängen, kann man ihnen entgegnen. Die Beziehung auf die Gesinnung kommt ihm nicht entgegen. Dafür hat er den Sinn noch nicht, die Form ihm immer die Hauptsache. Noch der Mechanismus auf ihn wirkt, gerade das Gegentheil von dem was geschehen soll. Z. B. die sittliche Gesinnung kennen wir im Zusammenhang mit dem Religiösen und in der religiösen Form. Erbauung nichts anderes als ein Verhältniß welches die Absicht die religiöse Gesinnung und [die] in die eingehüllte sittliche zu beleben. Dieß angewendet auf die bey denen diese Gesinnung schon entwickelt ist thut ihre Wirkung weil in jedem schon die Thätigkeit der Gesinnung entwickelt ist und durch die dann relativ die Belebung erfolgt. Ebenso im häuslichen Gottesdienst mit besonderer Tendenz auf die Kinder ehe in ihnen die fromme Gesinnung lebendig worden wäre so können sie nur den Eindruck eines bestimmten Mechanismus haben, und meinen daß man dieses an sich wolle, und der Mechanismus der Frömmigkeit hat meist den Grund in solchen frühen Opperationen. Ließe man aber die Kinder nicht theilnehmen bis auf dem Wege der freyen Einwirkung das Element in ihnen aufgeregt ist, dann wird die Wirkung entgegengesetzt seyn. Die freye Einwirkung des Lebens das erste. Das Übergewicht der freyen Einwirkung des Lebens auf die Jugend auf der Seite der Entwicklung der Gesinnung. Können wir so den ganzen Umfang der unterstützenden und entwickelnden pädagogischen Thätigkeit zusammenfassen und sodann sagen daß wir in der weiteren Entwicklung nichts zu berücksichtigen haben? Streng nicht anders zu entwickeln als von einer anthropologischen und einer ethischen Grundlage aus. Wir können uns die Frage nur so beantworten daß wir sie gegen das Leben wie es erscheint und die Forderung die es an den Menschen macht halten, indem wir ganz den Endpunkt der Erziehung sehen. Wenn wir die Gesinnung erweckt die Fertigkeiten der individuellen Natur entsprechend in dem Zögling aufgestellt, müssen wir ihn so in die Gesellschaft abliefern, wie sie ihn braucht? Der Mensch wird auf den verschiedenen allgemeinen Lebensformen stehen. Wenn wir auf das bürgerliche Leben sehen so kann das nur zwey Forderungen an den Menschen machen. Einmal daß der Gemeingeist in ihnen lebendig sey, 9 Erbauung] Ebauung

20 theilnehmen] theilnehmen lassen

27 haben?] haben.

2–4 Vgl. SW III/9, S. 164: „Könnten wir auch die Einwirkung auf die Gesinnung in die Form der methodischen Thätigkeit bringen, so würde die Form dem Zögling sich aufdrängen;“

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denn sonst kann er nicht selbstthätig wirken der Idee des Ganzen gemäß. Dieß ist offenbar etwas was auf der Seite der Gesinnung liegt, es ist ein innerer Vorgang woraus die einzelnen Willensacte in ihrer besonderen Form hervorgehen. | Dann verlangt die Gesellschaft auch von jedem einzelnen, daß er irgend eine Aufgabe (Beruf und G em e i n g e i s t ) der ganzen Gesellschaft leisten könne. Alles was die Gesellschaft von einem einzelnen fordern kann, muß in diesem Gebieth liegen, denn etwas zu bewirken auf eine bestimmte Weise geschieht vermittelst einer Fertigkeit so daß er in die Wirkungen der anderen eingreift. Wir finden neben dem Staat im Leben wie es jetzt vor uns liegt die Kirche. Was diese von jedem einzelnen Mitglied fordert ist überwiegend die Gesinnung, die überwiegende Gesinnung der christlichen Frömmigkeit. Da nun jedes Hauswesen in der christlichen Gesellschaft eben so gut ein organisches Element der Kirche ist als des Staates so muß sie auch gleich geschickt seyn, die Gesinnung der christlichen Frömmigkeit zu entwickeln wie den Gemeingeist der bürgerlichen Gesellschaft. Fertigkeiten aber fordert die religiöse Gemeinschaft als solche gar nicht, die bringt man erst nach der Seite hin wo wir uns schon das vorgehalten haben. Aufgabe der Erziehung hervorzubringen daß man diese Fertigkeiten könne verbinden wollen so wie die religiöse Gesinnung gestaltet wird. Wenn aber die religiöse Gemeinschaft Fertigkeiten erfordert in Beziehung auf die Art wie sie ihr gemeinsames Leben äußert, so sind das solche, die zugleich auf andere Weise werden erworben werden – mit Ausnahme des eigentlich technischen Gebieths sind es nur die Voraussetzungen, daß jeder noch in den anderen Lebensformen tüchtig seyn will. Nun das Gebieth der Erkenntniß noch unter der Form des gemeinsamen Lebens zu betrachten. Ohne eine solche keine constante Existenz der Erkenntniß zu gleich so als eine Macht in der menschlichen Natur. Hier theilt sich alles in diese zwey Seiten, das eine die Richtung auf das Erkennen an sich, die wissenschaftliche Gesinnung, das andere sind ebenfalls Fertigkeiten. Von allen Menschen ist die wissenschaftliche Gesinnung nicht zu fordern, diese braucht nicht in allen zu seyn, nur in einzelnen, die den gehörigen Einfluß ausüben. Keine wissenschaftliche Gesinnung gefordert, und doch keine Präcautionen zu machen gegen die 2 ist] liegt

15 Staates] Religiösen

19–21 Vgl. SW III/9, S. 166: „Fertigkeit als solche fordert die Kirche im eigentlichen Sinne nicht; sie sezt voraus daß wenn nur der Wille recht stark ist, die Fertigkeit von selbst sich anschließen werde. Wenn wir nun gleich im allgemeinen dies nicht zugeben können, so ist es doch besonders in Beziehung auf die Kirche anwendbar.“

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oder diese daß sie nicht auf alle übertragen werde. Aber freylich die Allgemeinheit der wissenschaftlichen Gesinnung nur unter der Voraussetzung daß auch der Gemeingeist stark genug sey, damit auch alle anderen Geschäfte dennoch erfolgen. Aber wie mans macht soll noch erfunden werden aber eben deßwegen weil nähmlich dieses nicht durch ein technisches Verfahren kann bewirkt werden sondern nur durch die übrige Einwirkung des Lebens wäre die wissenschaftliche Bildung im menschlichen Kreise, dann könnte sie noch durch deren freye Einwirkung erregt werden, so aber die Möglichkeit noch nicht da. Noch ein Gebieth, das an sich unbegrenzt, deßwegen nicht organisirt, Gebieth des freyen geselligen Verkehrs. Was fordert dieß von dem Einzelnen? Zunächst eine Menge von Talenten und Fertigkeiten, indem wir des ersten Ausdrucks uns bedienen, müssen wir diesen alteriren. Wenn in einem Menschen die Anlage ist eine große Fertigkeit in einem hohen Grade mit Leichtigkeit zu erwerben dann sagen wir daß er Talent habe. Wenn diese Gebiethe nicht als ein Werk der Mühe [erscheinen] sondern etwas was der Mensch mit Leichtigkeit in seiner Gewalt hat weil er auf den Gegensatz der Ordnung arbeitet. Hat dieses Gebieth nun nichts für sich, was in der Analogie mit der Gesinnung liegt? Wenn wir auf das Vorige sehen wie auf diesem Gebiethe die Fertigkeiten erscheinen sollen und was der Zweck sey so werden wir sagen daß der Si n n f ü r d as Sc h öne und A nmut ig e als nicht bloß aufnehmend sondern productiv gedacht das eigenthümliche Princip für dieses Gebieth sey, denn so viel gilt jeder in dem Geselligen Verkehr als er dieses hat, sonst gilt er nur als Organ nicht für sich. Der gesellige Verkehr in solcher Form nur aus dem Leben solcher Familien in welchen dieses Princip constant ist. Wenn wir uns beydes Ge s i n n u n g und F e r t i gk e i t in seinem ganzen Umfang denken so finden wir nichts was fordern könnten das nicht in dem anderen begriffen wäre. Also keine anderen Gegenstände für unsere pädagogi12 Einzelnen?] Einzelnen. 1–4 Vgl. SW III/9, S. 167: „Aber freilich die Allgemeinheit der wissenschaftlichen Gesinnung läßt sich nur zusammen denken mit einem wissenschaftlichen gemeinsamen Leben; es müßte dann der Gemeingeist auch stark genug sein, daß wenn jeder mit wissenschaftlicher Gesinnung begabt und in das wissenschaftliche Leben verflochten wäre, dennoch die anderen Geschäfte, die ohne wissenschaftlichen Sinn vollzogen werden können, trefflich ausgeführt würden.“ 16–18 Vgl. SW III/9, S. 167–168: „Die Gesellschaft fordert daß die Fertigkeiten nicht als ein Werk der Mühe erscheinen. Das gesellige Leben wird also vorzugsweise voraussezen daß Fertigkeiten ausgebildet seien. Aber das ist doch wol ein schlechtes geselliges Verkehr, dem das Princip des bürgerlichen und religiösen Lebens fehlt, oder das im absoluten Widerspruch mit der wissenschaftlichen Gesinnung steht. Es | wird im geselligen Leben die Beziehung auf diese Gebiete vorausgesezt.“

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sche Thätigkeit als was in der Menschlichen Gesinnung ist und was Fertigkeit ist. Die Gesinnung nun unter der Form der freyen Lebenseinwirkung. Fertigkeiten nur zur Vollkommenheit gebracht unter der Form des methodischen, des technischen Verfahrens. Wir gehen darauf zurück wie wir beydes verschieden charakterisirten. – Anders als unter der Form eines relativen Gegensatzes hatten wir den Unterschied nicht gefaßt. Nun entspricht das der Frage[:] Ob wir nun zuerst die entwickelnde pädagogische Thätigkeit in Beziehung auf die Gesinnung daran anknüpfen können so daß in unserer Theorie nicht weiter die Rede davon seyn könnte, und ob das mehr technische Gebieth die Entwicklung der Fertigkeiten die andere Form so ganz ausschließt, daß außer diesem technischen Gebieth gar nichts gewirkt werden könnte. Daraus würde folgen daß wir über die wichtigste Seite der Erziehung keine Theorie aufstellen können. Dieses Gebieth [führt] in das der Ethik zurück. Eine solche gänzliche Ausschließung ist sie möglich? Der Natur der Sache nach im häuslichen Leben nimmt die pädagogische Thätigkeit ihren Anfang. Wenn das der Fall ist, ist es wohl möglich daß da ein absichtliches und auf einen bestimmten Erfolg gerichtetes Verfahren gänzlich könne ausgeschlossen seyn. Zunächst dieses zu bemerken: Wenn wir die Einwirkung auf die Gesinnung anderer als bloß ethische Geschäfte ansehen, so findet [sich] dieß auch zwischen der ethisch gebildeten und der noch rohen und ungebildeten Generation selbst. Wenn also beydes gleich stehen sollte und die Thätigkeit welche die Erwachsenen auf die Jugend in der Familie richten soll nicht unterschieden seyn sollte, von der Thätigkeit auf andere Menschen so müßte das Bewußtseyn von einem eigenthümlichen Verhältniß zwischen Eltern und Kindern nicht anders als das gegen andere Menschen [seyn]. Dieses Verhältniß der Eltern wirkt aber immer mit; daher immer ihre Thätigkeit etwas besonderes. Hiezu noch die Beobachtung: Was für anderweitige Einflüsse auf die Gesinnung Vortheil oder Nachtheil bringen. Bey der Einwirkung auf Andere Menschen jeder nur auf den Moment gewiesen. Aber im Verhältniß zwischen Eltern und Kindern da ist es größtentheils in der Gewalt der Eltern, was für Einflüssen sie die Kinder aussetzen wollten, also 14–16 Vgl. SW III/9, S. 169: „die freien Einwirkungen würden dann in der Theorie der Erziehung in keiner Weise mehr berükksichtigt werden können, sondern ganz in das Gebiet der Ethik fallen; über die Einwirkungen auf die Gesinnung hätte die Ethik allein zu entscheiden, und nur die Fertigkeit würde pädagogisch zu behandeln sein. Aber dann würden wir auch über den wichtigsten Theil der Erziehung keine Methode aufstellen; denn sobald nur die Einwirkung ethisch richtig wäre: die Pädagogik hätte nichts mehr hinzuzufügen. Eine solche Ausschließung ist nicht möglich; der Gegensaz kann nur in seiner relativen Geltung zur Sprache kommen.“

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müssen sie in jedem Moment das Ganze im Auge haben, also das Fundament des Verfahrens, das sich schon wieder zum Methodischen hinneigt. | Hiernach scheint, daß die Differenz zwischen den zwey Haupttheilen der pädagogischen Thätigkeit als relativer Gegensatz stehen bleibt, und die Form der Wechselwirkung dominiren müsse das Verhältniß der Eltern ein mitwirkender Factor, und der entgegengesetzte Charakter, wenn er gleich methodisch ist, kann dabey nicht Null seyn. Nun würden wir zunächst dasselbe zu untersuchen haben in Beziehung auf den anderen Punkt ob je die Form des freyen Lebens dieselbe werden könnte auf die Einwirkung in der Entwicklung von Fertigkeiten. Wenn wir da anführten an das Naturverhältniß zwischen Eltern und Kindern und sagen da muß wenigstens die Entwicklung der Fertigkeiten beginnen so werden wir sagen wenn hier der Charakter des Technischen dominiren soll so liegt da daß im Ganzen alle Einwirkungen eine in sich selbst zusammenhängende Reihe bilden, in welcher eins aus dem anderen folgt und eins von dem anderen abhängt. Nun ist klar daß dieß noch einen gewissen Zusammenhang in Beziehung auf die Continuität in der Zeit habe. Wenn wir das häusliche Leben betrachten in seiner Totalität so ist es nicht möglich daß eine solche Organisation könnte durch das ganze Leben hindurchgehen. Außer dem daß dieß gegen die Idee der pädagogischen Thätigkeit selbst wäre, weil dann gar kein Spielraum für die freye Thätigkeit um diese zu entwickeln übrig bliebe so ist es auch mit den übrigen Obliegenheiten des Hauswesens nicht zu vereinigen. Zwischenräume zwischen den Zeiten wo die pädagogische Thätigkeit in ihrer ganzen Stärke auftritt. Wird man diese Einwirkung vorbey gehen lassen müssen? Nicht möglich und nicht recht. Hier immer eine homogene Thätigkeit, die aber nicht auf die gleiche Weise die Form des Technischen an sich trägt. Hier haben wir uns in so weit die Sache construirt daß es bey dem relativen Gegensatz bleibt, nur daß wir uns klarer die verschiedenen Elemente gesondert haben. – Wir haben zugegeben daß wenn wir von einem Zustand der menschlichen Dinge ausgehen sie nur in einer Zeit seyn kann und unser Verhältniß in ihnen auf einen solchen [hin] 10 je] je könnte 23 wäre] wäre Idee der pädagogischen Thätigkeit selbst seyn würde 27 müssen?] müssen. 4–6 Vgl. SW III/9, S. 170: „Wenn nun also auch, je ausschließender die pädagogische Einwirkung auf die Gesinnung sich bezieht, desto geringer darin das methodische und technische Verfahren hervortreten wird: so bleibt doch die Differenz zwischen diesen pädagogischen Einwirkungen auf die Gesinnung und den Einwirkungen im freien Leben; es bleibt auch der Gegensaz zwischen den freien pädagogischen und den methodischen und technischen Einwirkungen, aber eben als ein relativer.“

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gestalten daß wir zugeben müssen, daß Staat und Kirche ihre Ansprüche werden geltend machen an der Erziehung einen Theil zu nehmen. Dieß Bedürfniß tritt ein in so fern diese beyden Gemeinschaften nicht vollkommen die Voraussetzung gelten lassen, daß in dem häuslichen Leben alles vollständig in ihrem Sinn geschieht wo pädagogische Thätigkeit ist. – Zwey Fälle möglich: Entweder das Hauswesen selbst das Organ oder es kommen andere Organe hinzu. Dann eine besondere Form der pädagogischen Einwirkung. Gesetzt wir hätten zugegeben daß alle Einwirkung auf Gesinnung von Eltern nur die Form der freyen Einwirkung habe, so müssen wir sie doch von dem ersten unterscheiden. Auch von dieser Seite aus bekommen wir dasselbe Resultat. Daraus entsteht uns nun ein anderes zwiefaches; es wird im ganzen complexen Sinn der pädagogischen Thätigkeit eine untergeordnete Differenz eintreten und ein Unterschied seyn zwischen der freyen Lebensäußerung und zwischen dem worinn [sich] der untergeordnete manifestirte Charakter zeigt. Die Hauptfrage: Wenn die ganze unmittelbare pädagogische Thätigkeit in diese zwey Hauptzweige zerfällt wie verhalten sich diese der Zeit nach gegen einander? Sind sie gleichzeitig oder völlig in der Zeit getrennt oder nur relativ getrennt so daß der eine dominirt oder dem anderen untergeordnet ist und umgekehrt? Diese Frage können wir nicht beantworten ohne Rücksicht auf die natürliche Fortentwicklung des Lebens überhaupt indem wir den Anfangspunkt und dann den Endpunkt der Erziehung ins Auge fassen. Der Anfangspunkt ein solcher wo alles Zusammenwirken vom Erziehenden und Zögling eigentlich Null ist und also was in dem Zögling bewirkt werden kann ein relativ Bewußtloses ist. Denn allerdings vom ersten Anfang des Lebens an muß auch eine Thätigkeit auf dasselbe ausgeübt werden ohne die das Leben nicht bestehen könnte. Aber es ist kein von dem Centrum des Bewußtseyns ausgehendes Mitwirken oder Gegenwirkung von dem Zögling und auf seiner Seite die reine Passivität. Kann auf diesem Wege auf die Gesinnung und auf Fertigkeiten und oder auf eins von beyden gewirkt werden? Daß Fertigkeiten auch auf eine bewußtlose Weise entstehen können ist klar, aber Gesinnung? Da scheint ein D ilemma zu entstehen, nähmlich die Gesinnung ist durchaus ein Bewußtes und kann nicht bewußtlos seyn in sich selbst, da sie ist Bewußtseyn. Kann dann das Bewußtseyn aus Bewußtlosigkeit entstehen so wissen wir nicht ob 15 Lebensäußerung] Lebensäußerung ist 8–11 Vgl. SW III/9, S. 172: „Gesezt auch, alle Einwirkungen auf die Gesinnung, die von den Aeltern ausgehen, hätten nur die Form der freien Lebensthätigkeit: so würde doch in Folge des Eingreifens der großen Lebensgemeinschaften ein neuer Typus gegeben, worin das absichtliche also die Methode und das technische dominirt.“

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man es bejahen oder verneinen soll. Nun bleibt für unsere Frage der Ausweg. Wir können allerdings das Bewußtseyn als Minimum annehmen, damit das Leben in uns sey, aber es ist noch keine Gesinnung, und das Entstehen der Gesinnung würde (sich also an das schon vorhandene Bewußtseyn anknüpfen) die Form haben daß je in einem das Bewußtseyn sich anknüpfende Thätigkeit seyn würde. Dagegen keine Einwendung zu machen. Werden wir nun entscheiden können über die Gleichzeitigkeit oder Succession in den beyden Formen der pädagogischen Thätigkeit? Zunächst auf die Lebenszeit vor Entwicklung der Sprache zurückzugehen. Daß in dieser Zeit schon Fertigkeiten entwickelt werden ist klar. Gesinnungen werden wir auch nicht läugnen können – Liebe ist ja Gesinnung. Wo fängt diese pädagogische Einwirkung auf die Entwicklung der Gesinnung an? Wohl ganz gleichzeitig, sie sind in den Anfängen eins und dasselbe, die Differenz meist ein später Entstehendes. Mimisches Commercium der Mutter der Anfang von sich gegenseitigen Verständigungen, Anfang von Fertigkeit, und Entwicklung der Gesinnung. Dadurch bildet sich das Verhältniß zwischen Mutter und Kind daraus die kindliche Liebe. Wenn nicht zuerst gleichzeitig Gesinnung und Fertigkeit entwickelt so kann auch das öffentliche Leben mit der Erziehung nicht zufrieden seyn, es sollen aber auch beyde gegenseitig durch einander gestimmt seyn. Wenn wir uns ein Volk in seiner ganzen Ausbildung denken, so ist ein natürlicher Zusammenhang zwischen seinem eigenthümlichen Charakter[,] Gemeingeist, und zwischen der Art [wie] alles was zu den Menschen gehört auf eine eigenthümliche Weise getrieben wird. Es ist dieß eine wahre gegenseitige Bestimmtheit, je mehr die bestimmten Fertigkeiten in einander greifen und eine Harmonie des öffentlichen Lebens constituiren, desto mehr wird dadurch der Gemeingeist befestigt und er wirkt auf die Gesinnung zurück. Da haben wir also am Ende dieselbe Indifferenz wieder wie im Anfang. In der Zwischenzeit kann beydes aus einander gehen doch nur so daß es irgend eine Periode geben kann, der ausschließend die Thätigkeit auf die Gesinnung gewidmet wäre oder auch der Fertigkeit. | Wir werden diese unsere Frage so beantworten, daß eine Scheidung beyder Hauptzweige der pädagogischen Thätigkeit der Zeit nach etwas nicht Vorauszusetzendes ist, wohl aber daß es eine solche Theilung der Thätigkeit geben könne in jeder Periode der Erziehung daß es überwiegend sich auf den einen Endpunkt bezieht das andere auf den anderen. Eine zweyte Frage ist noch die: Wir haben gesehen 8 den] die 39–3 Vgl. SW III/9, S. 174: „Wir haben schon gesagt, daß die pädagogische Einwirkung auf die Gesinnung überwiegend der Form des freien Lebens sich nähere, die Einwirkung auf die Fertigkeit überwiegend methodisch und technisch sein solle.“

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wie die pädagogische Thätigkeit in so fern sie sich auf die Gesinnung bezieht überwiegend sich auf die Form der freyen Wechselwirkung bezieht aber nur überwiegend ein technisches Verfahren ist, auf jeder Seite auch Einen Antheil zum entgegengesetzten. Auf der Seite der Gesinnung das was im Leben selbst ohne Absichtlichkeit geschieht wenn es keine Erziehung gäbe, 2.) das was von dem Willen zu erziehen ausgeht, und nicht so völlig allgemein ethisch; Endlich auch dasjenige was ebenfalls kann sich an die strengere Form anschließen. Auf der anderen Seite haben wir nun gesehen, daß es auch pädagogische Einwirkungen die Bildung der Fertigkeiten bezüglich geben wird welche nicht innerhalb des eigentlichen technischen Verfahrens liegen[,] dann die Hauptmasse dieser Einwirkungen die diesen Charakter streng festhält. Hier sind die Reihen auf beyden Seiten nicht gleichmäßig gestellt. Wir halten uns zu der wichtigsten Frage, was denn das Hinzutreten der anderen dazu oder davon bringt? Wir können uns fingiren einen Zustand der menschlichen Gesellschaft wo es gar keine absichtliche Erziehung gibt, da würde immer derselbe Typus von Gesinnung in der folgenden Generation sich finden, wie in der leitenden oder absichtlichen Thätigkeit allein durch die freye Wirkung beyder auf einander im Leben. Wenn nun die absichtlichen pädagogischen Einwirkungen in dieser Beziehung hinzukommen was geschieht nun eigentlich mehr? Hier die Sache so zu stellen: Zunächst ist wohl offenbar, daß in Beziehung auf die Totalität der Aufgabe durchaus nur etwas Zufälliges erreicht wird, wenn wir uns die absichtliche Erziehung wegdenken. Es ist dann nicht das was die Thätigkeit bestimmt die Gesammtvorstellung von der zu erziehenden Generation, es ist das jedesmal momentan Gegebene. Das erste ist was die eigentliche Erziehung hinzubringt das zweyte ist der Zusammenhang. Auf dieser Seite ist auch die Vo l l s t än d i gk e i t Qnicht als Erfolg als Absicht offenbar schon ein zweytesR, sobald wir die Erziehung setzen so ist dieses Wollen. Im ersten Fall findet auch keine Beziehung einer Thätigkeit auf die andere statt, jede nur ihre Beziehung im sittlichen 2 auf die] der 15 bringt?] bringt. 17 immer] immer sich 29–30 Qnicht … zweytesR] Marginalie, wegen späterer Fadenheftung unsicher 32 jede] jeder 15–20 Vgl. SW III/9, S. 175: „Fingieren wir uns einen Zustand der menschlichen Gesellschaft, in dem es gar keine Erziehung giebt, oder doch absichtliche Erziehung nur als ein Minimum erscheint, z. B. unter den Ständen welche zu sehr beschäftigt und ohne Mittel die Kinder ohne Aufsicht, ohne Erziehung aufwachsen lassen: so wird doch immer derselbe Typus der Gesinnung in der jüngeren Generation entwikkelt werden, wie er in der älteren ist, und zwar bloß durch die freie Einwirkung im Leben, ohne alle Absicht.“ 28–31 Vgl. SW III/9, S. 176: „Also d as e r s t e w a s d i e a b s i c h t l i c h e E rz i e h u n g h i n z u b ri n g t , das ist d i e Vo l l st ä n d i g k e i t ; dieser Begriff aber gedacht nicht schon als Erfolg sondern als Absicht.“

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Bewußtseyn des Handelnden. Wenn ich ans Wesen des sittlichen Zusammenlebens denke, so habe ich nur die Aufgabe eine bestimmte Wirkung im anderen hervorzubringen und beziehe meine Thätigkeiten nicht auf das Resultat der anderen, und ich handle nur so daß sich die sittliche Aufgabe anschließe rein in Beziehung auf den Moment. Also ein Z u s am m e n han g d e r T h ätig keiten unter einander das zweyte was hier absichtlich entsteht. Nun wird sich noch ein dritter Zweig finden. Wenn wir uns den denken der der Gegenstand dieser Einwirkung ist, so wie sich ihm die ganze Grundlegung in beyden Fällen anders darstellt und er sie anders in sich aufnimmt. Verkehr als ein Anfang wo die freye Wechselwirkung statt findet. – Wir werden also sagen das ist der Hauptunterschied und was in Beziehung auf die Entwicklung der Gesinnung der Erzieher eigentlich leisten kann ist nur dieses in das was der eine thun kann um die Gesinnung im anderen zu erwecken und zu modificiren eine größere Vollständigkeit und einen bestimmten Zusammenhang hinein zu bringen, und daß von dieser ganzen Aufgabe die Gesinnung in ihm zu wecken der Zögling ein bestimmtes Bewußtseyn bekomme. Wenn wir nun von diesem ausgehen und wir denken in dieser Thätigkeit könnte nun auch das Technische die Oberhand gewinnen und fragen was würde das Resultat seyn, daß der Zögling glauben würde man wolle die Gesinnung in ihm erwecken, eben um irgend eines anderen Zweckes willen und je stärker diese Form hervor tritt um desto unfehlbarer ist diese Vorstellung weil in jedem technischen Verfahren dieser Gegensatz zwischen Zweck und Mittel hervortreten muß. Es ist unmöglich Wirkungen auf die Gesinnung hervorzubringen durch eigenthümliche Mittel die etwas anderes als Thätigkeit. Daher überall wo solche Mittel angewendet werden, wie Reizung durch sinnliche Motive, da bekommt es den Charakter, als ob die Gesinnung nicht um ihretwillen hervor gebracht 5 anschließe] ausschließe 21 würde] würde glauben

8 finden] finden sich

14 dieses] dieses daß

10–11 Vgl. SW III/9, S. 176–177: „Wenn sich die Einwirkung als freie Wechselwirkung darstellt, so nimmt er sie nur als eine Aeußerung der Billigung oder der Mißbilligung auf. Nun trägt zwar jede Aeußerung eine Richtung auf die Mittheilung in sich; aber dies ist bloß implicite gesezt, und tritt nicht besonders und bestimmt noch heraus. Denken wir uns aber die eigentliche Erziehung und also von Seiten derselben das Streben nach Vollständigkeit und Zusammenhang: so muß die Handlung des Er|ziehers auf den Zögling einen ganz anderen Eindrukk machen; er bekommt von der Beziehung der Handlung auf ihn ein stärkeres Bewußtsein. Im ersten Fall ist das Verhältniß worauf der Erfolg beruht mehr bewußtlos; im zweiten tritt stärkeres Bewußtsein hervor. Dies ist aber zugleich auch e i n st ä rk e re s B e w u ß t se i n v o n d e r S a c h e s e l b s t . Wenn ich ein Urtheil eines anderen bloß als Aeußerung ansehe, so macht das einen flüchtigeren Eindrukk, als wenn ich eine bestimmte Beziehung auf mich darin erblikke.“

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werden solle. Nun eben so auf der anderen Seite, wo es auf Entwicklung und Ausbildung der Fertigkeiten ankömmt, hier die in der eigentlichen Erziehung hervorgehende Form, die des technischen Verfahrens. Wenn wir fragen was denn hier als das Unterscheidende bleibt von jenem, so ist es offenbar die St ät i gk eit . Bey jener Form ein Streben nach Vollständigkeit; aber man ist nicht im Stand die Veranlassung nicht in einer bestimmten Ordnung hervorzuführen, die müssen sich von selbst finden wogegen auf diesem Gebieth der Übung, da muß die Stätigkeit hinzukommen. Daß durch die bestimmte Ordnung in jedem Act etwas bestimmtes hinzukomme zum Streben nach Vollkommenheit und Zusammenhang, daß das Einzelne auf bestimmte Weise in einander greife. Wo dieser Charakter nicht ist da ist das technische Verfahren unvollkommen. Es wird aber immer außerdem noch ein Raum seyn für Einwirkungen auf eben diesem Gebieth, die im freyen Leben vorkommen und den Charakter desselben an sich tragen. Was geht dann bey diesen wieder verloren? Nur die Ordnung des methodischen Verfahrens. Hier können wir uns das Ganze Verhältniß der beyden Reihen gegen einander ganz bestimmt einander gegenüber stellen. Es entsteht dabey die Frage sehr leicht, auf welcher Seite denn die Erziehung eigentlich mehr Kunst sey auf der Seite der Entwicklung der Gesinnung oder der Fertigkeit. Jeder von selbst geneigt zu sagen ganz bestimmt auf der Seite der Fertigkeit. Kunst ist ja nur wo Kunstwerk ist, und hier allein läßt sich ein solches zusammen stellen so wie jeder auf dem Gebieth des Unterrichts und der Übung den Schüler gleichsam als sein Kunstwerk aufstellt, wogegen auf der anderen Seite das gar nicht erscheint. Das allerdings. Aber nun von der anderen Seite werden wir sagen müssen die pädagogische Thätigkeit auf dem Gebieth der Fertigkeiten kann man in weit höherem Grad mechanisiren, sie [hat] alles bestimmtes in der Erscheinung dem Maaß unterworfen und also auch der Berechnung. Worauf kommt es auf der Seite der Entwicklung der Gesinnung an ein Maximum von Wirkung hervor zu bringen, so wird es darinn liegen daß man keine Gelegenheit vorbeylasse, daß jede Veranlassung wahrgenommen wird und nichts entgehe was in der Seele des Zöglings vorgeht, ungeachtet es nicht so bestimmt zur Erscheinung kommt wie auf dem anderen Gebiethe. Da werden wir sagen müssen daß auf dieser Seite die Vollkommenheit der Wirkung abhängt von dem was wir Beg eisterung nennen. Aber die Stärke des inneren Triebes bewirkt dieß, das man 5–7 Vgl. SW III/9, S. 178: „Ein Streben nach Vollständigkeit ist in Beziehung auf die Fertigkeit allerdings auch in dem freien Leben; aber man ist nicht im Stande die Veranlassung und Gelegenheit der Reihe nach und in bestimmter Ordnung herbeizuführen.“

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keine Gelegenheit vorbey lasse, und nur durch die beharrliche Richtung wird das Auge geschärft für die geheimen inneren Bewegungen. Wird es dann das höhere in der Kunst Virtuosität das Mechanische oder das fortwährende Geistige? Gewiß das letztere. – Aber wenn man vorzüglich auf das Kunstwerk sieht da müssen wir der einen Seite den Vorzug geben, sieht man aber auf den eigentlichen Geist, dann müssen wir dem anderen den Vorzug geben. | Wenn wir nun sagen die Erziehung ist eigentlich Kunst, so denken wir gleich daran, daß eine Kunst kann gelernt werden. Was kann nun gelernt werden? Gerade doch das was auf der Seite der Entwicklung der Fertigkeiten liegt. Entwicklung der Gesinnung hervorzubringen läßt sich weniger lernen, dazu gehört das Genie der Erziehung. Das das Wesentliche aus unserer letzten Untersuchung entwickelte. Wenn wir aber zur ausführlichen Behandlung der Sache übergehen und sich die Erziehung in verschiedene Perioden theilt, die Aufgabe in diesen vergleichen wollen so müssen wir noch zuerst näher bestimmen wie es steht um die verschiedenen Antheile der Familie auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Kirche und des Staates an der Erziehung. Zwey Extreme, entweder ganz in der Familie oder ganz Angelegenheit der großen Lebensgemeinschaften. Zwischen beyden eine Theilung die mannigfaltig unterschieden werden kann. Das letztere Extrem ist nirgends vollkommen realisirt, sondern nur in der Theorie aufgestellt, das erste Extrem ist nach der Strenge fast nirgends ausgeführt. Man kann z. B. von Nord America sagen daß der Staat sich um die Erziehung nichts bekümmert, zwar von einzelnen Staaten oder von einzelnen Communen her und wieder Anstalten, die aber nicht vom Centrum des Staates ausgehen. Bey uns haben wir überall eine Theilung. Wenn die Regierung die Form der Erziehungsanstalten gibt, so ist dieser Fall vorhanden. Wenn die Erziehung ganz von der Familie ausgeht, setzt dieß voraus daß die Regierung an eine Harmonie der 7 geben] geben wenn wir aber vorzüglich auf den Geist der Kunst sehen der andern Seite. 27 her] hin 25–28 Der Staat war in Nordamerika nur indirekt an Schulgründungen beteiligt, die hauptsächlich von den Gemeinden bzw. den Kommunen ausgingen. Dazu mussten Gelder durch eigens erhobene Steuern und Spenden eingenommen, ein Schulgebäude zur Verfügung gestellt und das geeignete Lehrpersonal ausgewählt werden. Erst auf dieser Grundlage war es möglich, eine staatliche Unterstützung für Schulen zu erhalten. Auch Gründungen der höheren Schulen gingen fast ausnahmslos von privaten, individuellen oder gemeinschaftlichen, nicht aber staatlich organisierten Anstrengungen aus. Vgl. Reed, Andrew/Matheson, James: A Narrative of the Visit to the American Churches, by the Deputation from the Congregational Union of England and Wales, Bd. 1–2, London 1835, hier Bd. 2, S. 171–241

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Familie glaubt, mit welcher die Familie zum zu Erziehenden steht, und daß sich die Familie zutraut, die Erziehung allein leiten zu können. – Das Verhältniß der Familie zum St aat des einzelnen organischen Elements zum Ganzen müssen wir hier zuerst in Betracht [ziehen] und dann in Beziehung auf die K i r c h e . Es wird zweckmäßig seyn, wenn wir beym Verhältniß zur Kirche anfangen. Religion das Princip der Kirche und von diesem Verhältniß gehen wir aus. Da wir uns hier zuerst an ein uns faktisch Gegebenes halten so fragen wir zuerst[:] Wie steht dieses Verhältniß eigentlich, welchen Antheil nimmt die Kirche an der Erziehung und worauf beruht dieser Antheil? Was das letzte betrifft, die kirchliche Gemeinschaft hat an sich betrachtet es lediglich mit der Gesinnung zu thun. Alles andere nur untergeordnet und nur Mittel. Die Kirche eine freye Gesellschaft in welcher keine äußere Nöthigung [ist], so finden wir eine vollständige Ursache dazu daß die Gemeinschaft sich auf die Familie in der Erziehung verläßt. Die Kirchengemeinschaft zwar als ein großes historisches Ganzes setzt auch wieder in ihrer ganzen Darstellung in so fern dabey ein Bewußtseyn des Ganzen vorhanden seyn muß ein historisches Leben voraus, das QunmöglichR von allen Mitgliedern auf diese Weise gelten kann, wenn nicht eine große Gleichheit der Bildung in allen Elementen vorausgesetzt wird. So wie man von der letzten Voraussetzung abweicht so wird ein Intresse in der kirchlichen Gemeinschaft seyn, daß dieses Bewußtseyn von der geschichtlichen Entwicklung der ganzen Gemeinschaft immer in einigen sey, durch die es im Ganzen erhalten wird. Das also der Grund worauf es beruht, wenn von der kirchlichen Gemeinschaft aus Bildungsanstalten entstehen für die welche das geschichtliche Leben des Ganzen bilden sollen, die theologischen Bildungsanstalten. Wo dergleichen sind da müssen sie so von der kirchlichen Gemeinschaft ausgehen, oder der Staat muß die Kirche repräsentiren. Von den Familien oder einem freyen Verbund von Familien können dergleichen Anstalten nicht ausgehen, außer unter der Voraussetzung einer fast gleichen aber diesen Punkt schon mit einschließenden Bildung im Ganzen. Das die beyden äußersten Punkte. Die kirchliche Gemeinschaft verläßt sich auf die Familien die sie bilden. Das andere auch natürlich daß die Anstalten um die kirchliche Tradition zu erhalten nun von der Gemeinschaft ausgehen. Aber der R e l i g i o n s u n t e r r i c h t von den Beamten der Kirche wird der Jugend ertheilt. Wo hat dieser seinen Ursprung? Auf der einen Seite zu erklären als Supplement der Familienerziehung. Auf jeden Fall wenn das Vertrauen das die Gemeinschaft in ihre einzelnen Glieder setzt ein 18 muß] muß auch 20–21 vorausgesetzt wird] voraussetzt aber von Beamten der Kirche

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ganz unumstrittenes wäre so müßte doch natürlich seyn, daß die Familie das in sie gesetzte Vertrauen gerechtfertigt habe. Das zweyte: So wie wir die Nothwendigkeit von theologischen Bildungsanstalten annehmen, um die geschichtliche Tradition sicher zu stellen, so gehen wir allemal dabey aus von einer Voraussetzung von der Ungleichheit der Bildung. Es ist [von] der Anstalt aus das verständlich zu machen was im öffentlichen Cultus nothwendig vorkommen muß. Aus diesen zwey Elementen der Antheil der Kirche an der Erziehung zu construiren. Wo die Kirche reformerisch einwirkt entsteht ein neuer Typus des öffentlichen kirchlichen Lebens, weil auf die Mittheilung der Rede ein größerer Werth gelegt wurde als eher, und eine gewisse Modification der Gesinnung, ein Intresse der Kirche an der Erziehung von Anfang an Theil zu nehmen, daher das Patronat der Kirche über das Schulwesen daß es mit der bestimmten Ausbildung des supplementarischen Religions-Unterrichts soll ausgeführt werden. Die Tendenz dieses Patronat aufzuheben ist geblieben, kann aber nur geschehen wenn die protestantische Gesinnung in der Familie fixirt ist. Anders wenn wir uns den entgegengesetzten Fall denken, daß das Gesammtleben erst entsteht nachdem die religiöse Gemeinschaft schon entstanden ist z. B. Colonisation. Die Sache auf pädagogischem Gebieth betrachtet zweyerley zu unterscheiden. Die A r t wie das Erziehungswesen behandelt wird wie es eben besteht, und dann die Art wie es in so fern es mangelhaft ist verbessert werden kann, das letztere würde in die Theorie der Lebensgemeinschaft und die des Staates im anderen Gebieth gehören. Diese Aufgabe aber darf nicht völlig außer unserem Gesichtskreis [liegen]. Das Erziehungswesen kann in der Form bestehen mit buchstäblicher Anhänglichkeit an die Norm und den Typus daß die Verbesserung dadurch nothwendig erschwert wird. Also jeder der an der Erziehung thätig Theil nimmt, wird es nur unter der Bedingung vollkommen thun können als er zugleich ein Bewußtseyn hat wie vollkommen oder unvollkommen der ganze Zustand des Erziehungswesens ist – jeder muß zu gleicher Zeit im Stande seyn, das Organ der 6–9 Vgl. SW III/9, S. 184: „Im christlichen Gottesdienst als Darstellung des religiösen Gesammtlebens ist das Zurükkgehen auf die Schrift unerläßlich: so muß d i e S c h r i f t , wenn sie nicht allen verständlich ist, v e rst ä n d l i c h g e m a c h t w e r d e n ; eben so d i e g es c h i c h t l i c h e E n t w i k k l u n g des Christentums, wenigstens mit Beziehung auf die Hauptpunkte. Aus diesen beiden Elementen muß der Anteil der Kirche an der Erziehung construirt werden, denn es muß der religiösen Gemeinschaft daran liegen, daß in der jüngeren Generation die religiöse Gesinnung entwikkelt werde in den Familien selber, daß aber was in diesen versäumt ist ergänzt werden könne, und daß jedem möglich genmacht werde, d a sj e n i g e z u v e rst e h e n w a s i m C u l t u s v o r k o m m t , und Theil zu nehmen an der Darstellung des religiösen Gesammtlebens.“ 23– 24 Vgl. SW III/9, S. 186: „Lezteres, in das Gebiet des Kirchenregiments gehörend, ist eigentlich wol eine politische Aufgabe;“

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Verbesserung zu seyn, wird es von der Kirche oder vom Staat ausgehen müssen und die Vollkommenheit der Praxis schließt die Vollkommenheit der Sachkenntniß in sich. | Wie verhält es sich im Verhältniß der bürgerlichen Gesellschaft mit der Erziehung? In der Praxis finden wir in dieser Beziehung zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten dieß sehr verschieden. Die Hauptpunkte worauf es dabey ankommt deutlich machen. Es fragt sich zuerst[:] Was die Gesinnungen und was die Fertigkeiten betrifft. Unter was für Verhältnissen wird [sich] der Staat in Beziehung auf die politische Gesinnung auf den Geist der Familien verlassen können oder nicht? Hier die Gesichtspunkte sehr verschieden. Ist die Regierung der Meynung daß die politische Gesinnung nur in wenigen seyn müsse und die große Masse nur auf mehr mechanische Weise thätig seyn müsse, aristokratisch was keineswegs das Monarchische ausschließt. Dann ist natürlich daß sie sich darum ob im Volke eine politische Gesinnung entwickelt wird oder nicht, gar nicht bekümmert. Geht sie aber von dem Gesichtspunkt aus so ist natürlich, daß die Idee immer die seyn muß, daß das Regieren selbst nur in den Händen dieser wenigen sey und leicht [entsteht] das Bestreben die Masse zu hindern, nicht etwa die jüngere Generation zu den Fertigkeiten zu bringen, daß sie Lust zum Regieren bekommen könnte. Wenn nun die Regierung voraussetzt eine durchgängige Übereinstimmung der erziehenden Generation mit dieser Ansicht dann wird alles in vollkommener Übereinstimmung seyn, und der Staat wird wenig Veranlassung haben sich um die Erziehung im Allgemeinen zu mühen, sondern nur in Absicht auf den aristokratischen Theil. Traut aber die Regierung der Masse schon ein Widerstreben zu, dann wird sie natürlich in Opposition treten und hemmend einwirken auf dasjenige was von den Familien ausgeht. Wo wir ein solches hemmendes Princip haben, da sehen wir eine Opposition zwischen der Regierung und der allgemeinen Richtung der menschlichen Natur, und das wird natürlich keiner billigen. Dieses Verhältniß spricht sich dann für das allerneueste aus. Was nun den aristocratischen Theil selbst betrifft so ist freylich wahr daß wohl vorauszusetzen ist, daß in den Familien selbst ein Intresse sey, sich auf diesem Standpunkt der Masse gegenüber zu erhalten. Nimmt es aber die Richtung daß sich die jüngere Generation auch die Fertigkeiten zum regieren zu erlangen sucht, dann ist es das beste. Glaubt aber der aristocratische Theil es sey hinreichend wenn nur die Anderen ausgeschlossen werden, dann müßte die Regierung dafür sorgen, daß die gehörigen Bildungsanstalten für die Aristokraten vorhanden wä11 nicht?] nicht. ordneten Masse

19 nicht] davor daß 37 sucht] suchen

35 der Masse gegenüber] mit der überge-

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ren. Von einem anderen Punkt auszugehen. Nun werden wir von der Voraussetzung ausgehen können, daß ohne weiteres alle Menschen würden auf die gleiche Stuffe einer politischen Wirksamkeit kommen, dann ist das Intresse des Staates dieses, daß alle die äußeren Umstände den vorzüglichen inneren Anlagen zu Hülfe kommen, und jeder Gelegenheit bekommt alles für den Staat zu werden was er seiner besonderen Beschaffenheit nach für ihn werden kann. Wird sich der Staat auf die Familien verlassen können in Beziehung auf die politische Gesinnung und Fertigkeiten? Wir finden das aristocratische Princip wo die Regierung fast ganz und gar in den Händen von Privatleuten ist und es geht doch alles wie es dem Geist und Bedürfniß des Staates angemessen. So in England, angewandte Universitäten aus den Erzbischöflichen Schulen entstanden und sind Privatanstalten, eigentlich nur drey vom Staat beaufsichtigte Erziehungsanstalten, alles andere Privatanstalten. Maximum vom Vertrauen des Staates an die Familien. Es rechtfertigt sich weil der Gemeingeist durch alle Klassen verbreitet ist, und weil man zuerst überall eine richtige Schätzung hat was in der Annehmlichkeit des Lebens beruht, und voraussetzen kann daß ein richtiges Urtheil ist über die Qualification derer die es unternehmen. – Bey einer großen Verschiedenheit von Individuen könnte dieß nicht statt finden wenn es nicht eine lebendige Circulation der Meynungen und Gesinnungen gäbe ein mannigfach verzweigtes reges öffentliches Leben. So entsteht in der Regierung selbst wenig Veranlassung sich in die Angelegenheiten der Erziehung zu mischen. Dem ungeachtet in diesem Lande die Erscheinung, wie die niedrigsten Klassen des Volkes so vernachlässigt worden sind, doch die Anstalten wieder mehr auf dem Wege des freyen öffentlichen Lebens. Gegenwirkung. Je mehr es in einem Volke ein öffentliches Leben gibt, das 26 worden] geworden 9–12 Vgl. SW III/9, S. 189: „Wir finden Staaten in denen noch ein mächtiges aristokratisches Princip waltet und doch die Regierung sich wenig um die Erziehung bekümmert. Weder bestimmte Vorschriften werden gegeben, was mit der Jugend geschehen solle, noch Verbote.“ 12–15 Platz (SW III/9, S. 189) verweist auf die University of Oxford und die University of Cambridge, sowie auf das Eton College, das Winchester College, die Harrow School, aber auch auf die Westminster School. 16–20 Vgl. SW III/9, S. 189–190: „Es rechtfertigt sich, weil der Gemeingeist durch alle Klas|sen verbreitet ist und weil die Schäzung der Lebensverhältnisse eine allgemeine ist, so daß jeder weiß was die Jugend braucht um im Leben eine den Anlagen gemäße Stellung einnehmen zu können.“ 23–27 Vgl. SW III/9, S. 190: „Man hat wol auch in neuerer Zeit erkannt, wie ungemein die niedrigsten Volksklassen vernachlässigt sind; und dennoch hat dies wenig Wirkung hervorgebracht in Bezug auf die Stellung der Staatsleiter zur Erziehung; sehr wenig ist von Seiten der Regierung geschehen, und wiederum nur auf dem Wege freier Association sind Bildungsanstalten für das Volk angelegt worden.“

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immer ein lautes Zeugniß abgibt wie es mit der Gesinnung und dem Bildungszustand geht, desto mehr wird immer die Regierung sich können in Beziehung auf das Erziehungswesen passiv verhalten. Wo es aber an dem öffentlichen Leben fehlt und dabey eine große Ungleichheit vorhanden ist und eine gewisse Passivität der Masse da wird die Regierung auf eine wirksamere Weise eintreten müssen, und nun fragen wir wird es wohl Umstände geben wo die Regierung besonders dafür sorgen muß, daß auch die politische Gesinnung erweckt und entwickelt würde? Dieß würde voraussetzen entweder daß ein Mangel von politischer Gesinnung in dem Volke wäre, oder daß sogleich eine der bestehenden Regierung entgegengesetzte politische Gesinnung bilde. Im ersten Fall wird sie ganz unterstützend zu Werke gehen müssen und zu dem was in der Familie geschieht noch etwas hinzufügen müssen. Im zweyten Fall wird sie suchen müssen die Erziehung den Familien zu entziehen von dem Punkt wo eine Entwicklung der politischen Gesinnung möglich ist. Da würde das unterstützende Einwirken des Staates ein den Familien Einfluß ausschließendes seyn. Nun noch mehr ein anderer Punkt: Unter welchen Umständen hat die Regierung eine bestimmte Aufforderung sich in die Erziehung einzumischen, was die Erweckung von Fertigkeiten betrifft? In einem Volke kann die Masse der künftigen Generation nur durch Ausbildung der eignen Kräfte bestehen, und wenn wir uns die natürliche Liebe der Eltern gegen die Kinder nicht als erstorben denken, so müssen wir annehmen, daß die Eltern dahinn sorgen werden den Kindern die nöthigen Fertigkeiten zu verschaffen. Es wäre ein Mangel | im Urtheil bey der erziehenden Generation welche die Regierung zum Eingreifen veranlaßt. Dieses können wir uns aber als ein solches Minimum denken daß es auf positive Weise die Organisation der Erziehung gar nicht trifft. Je mehr in einem Staat die Sache sich so stellt, daß die Regierung im Gebieth der Erziehung noch viel mehr thut, desto mehr muß man voraussetzen, daß in der Regierung ein ungünstiges Urtheil über die ganze Masse vorwalte und desto mehr das Bestreben die jüngere Generation der Einwirkung der Masse zu entziehen und den Entwicklungsgang von Seite des Staates einzuleiten. Das der Punkt auf welchem sich die meisten Völker unseres Welttheils schon seit geraumer Zeit befinden. In Beziehung auf das Verhältniß der Regierung zum Volke[:] je mehr das System herrschend ist daß die Regierung das Volk bevormundet desto mehr wird sie in das Erziehungswesen eingreifen, je weniger dieß der Fall und die Regierung überall immer nur im Nothfall ergänzend auftritt, desto eher wird sie die Erziehung ihren 2 Bildungszustand] Gesinnungszustand

20 betrifft?] betrifft.

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Gang gehen lassen. Je weniger in der Masse eine Einsicht in das was das Leben des Staates angeht ist, in das was die Regierung angeht, desto weniger kann sich der Staat in Beziehung auf Erziehung auf sie verlassen, das immer der letzte Punkt wo das bevormundende Verhältniß sich noch hält. Wenn wir uns nun aus dem Gesichtspunkt des Staates dieses als das höchste denken müssen im Einzelnen daß er geeignet sey in die Regierung im Großen einzugreifen, desto weniger werden wir einen Punkt sehen, wo es nicht sich denken läßt, daß ein gewisser Einfluß des Staates fehlen könne. Auf den Englischen Universitäten Professuren von königlichen Stiftungen, aber auch jeder andere kann eine stiften, wenn er das Geld dazu gibt. Denken wir uns einen großen Staat, so kann alles im Unterrichtswesen in Beziehung auf das Volk rein vom Volke ausgehen, wie es in Communen organisirt ist wo der gehörige Verstand in der Masse entwickelt ist. Eben so wenn wir höhere Bildungsanstalten für die höhere Jugend betrachten auch da ein gewisser Verband der Communen wird eine Provinz, die ein gemeinschaftliches Intresse hat. Aber wenn wir uns die höchsten Bildungsanstalten denken, auf welchen die geschichtliche Bildung im höheren Sinne des Wortes gelehrt wird so ist die Gesammtheit der Unterrichtenden nicht mehr in solchen Verbänden unter sich, da wird es das Natürlichste, daß sowohl die Regierung diese [ ] der Erziehung beaufsichtige, und die anderen die Regierung ansehen als die Gesammtheit der Sachkundigen, welchen das alles anvertraut werden müsse. Da ist es natürlich daß hier das Patrocinium der Regierung seinen festen Sitz habe. Je reiner das Verhältniß zwischen der Regierung und dem Volk und je geringer die Differenz der Bildung der Masse und der der Regierenden desto geringer wird die Einwirkung des Staates nöthig, aber 13 Volk] Volk kann 17 hat] haben 21 diese] es folgt ein Spatium von etwa 1 cm Länge, zu ergänzen wohl höchste Stuffe (vgl. SW III/9, S. 194) 9–11 Vgl. Thomas Campbell, der 1825 den Lordkanzler Brougham zur Gründung eines Aktienvereines anregte, aus dessen Erlös die Errichtung einer ersten Londoner Universität finanziert werden sollte: Campell, Thomas: Mr. Campbell’s letter to Mr. Brougham on the subject of a London University (Reprint), London 1825. 26– 3 Vgl. SW III/9, S. 194–195: „Je reiner das Verhältniß der Regierung zum Volke ist, je geringer die Differenz zwischen dem durchschnittlichen Gesammtzustande und der Bildungsstufe auf der die Regierung sich selbst befindet: desto geringer wird der positive Einfluß der Regierung selbst auf das Erziehungs|wesen sein; je reiner das Verhältniß zwischen Regierung und Volk, aber je größer die Differenz der Bildung: desto größer wird der Einfluß der Regierung sein, ohne daß im Volke der Wunsch wäre, es möchte anders sein. Je mehr aber jenes Verhältniß getrübt ist, desto stärker wird die Opposition sein, desto größer der Widerspruch zwischen dem was von der Familie, und dem was vom Staate aus geschieht; desto getrübter die Erziehung.“

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ohne alle Spuren daß irgendwo im Volk der Wunsch wäre, daß es anders seyn müßte, im Gegentheil desto unreiner die ganze Einwirkung der Erziehung. Je wandelbarer die Regierung in ihren Maximen ist, je mehr wird sich ihr Einfluß auf die Erziehung in Veränderungen zeigen. Wir müssen nun eine Maxime ansehen, von dieser den weiteren Gang unserer Untersuchung anfangen. Diese: Es ist in dem gegenwärtigen Zustande der einen bedeutenden Zeitraum umfaßt, und noch lange im Ganzen in derselben Formel bleiben wird das Isolirtseyn der einzelnen Staaten im Abnehmen, und ein allgemeines Gebunden- und Bedingtseyn derselben durch einander ist im Zunehmen. Wenn wir unsere Theorie so einrichten könnten, daß sie für diesen Zustand paßte, dann hätten wir ein hinreichendes Gebieth. Aber innerhalb derselben bedeutende Differenzen, da können wir einen zweyfachen Weg vorschlagen. Entweder gewisse Zustände ganz ausschließen als uns fremde oder unsere Theorie indem wir diese Differenzen beständig im Auge behalten entweder nur so weit im Einzelnen bestimmen als die Differenzen keinen Einfluß haben oder immer gleichmäßig Rücksicht nehmen auf die Hauptdifferenzen. Noch ein drittes möglich daß wir diese beyden Verfahrungsweisen mit einander combiniren. Das letztere ist uns nun von selbst ein zwiefaches geworden. Das Unbestimmtlassen muß immer nur nach unten zu erfolgen, in der Anwendung jede Maxime immer verschieden zu modificiren. Sofern wir die differenten Zustände als rein einzelne ansehen können (vorzüglich in dem Maaße als die in Raum oder Zeit beschränkt sind) so wird es recht seyn, das nur der Anwendung zu überlassen. In wie fern es nicht ist[:] Gibt es solche Differenzen die von unserem Wirkungskreis so weit abliegen, daß wir sie aus der Bildung unserer Theorie ausschließen müssen, das wäre richtig wenn wir sagen könnten: Hier sind zwey verschiedene Regionen die so verschieden sind daß jede ihre eigne Pädagogik haben muß. Denken wir uns recht streng den Gegensatz zwischen m o n ar c h i s c h e r und republika nischer Form, so würde man vielleicht Grund haben zu sagen die meisten Staaten müßten einen anderen Grad der Erziehung haben, wenn aber der Unterschied etwas zurücktritt dann wäre die so gesehene Verschiedenheit der Theorie nicht mehr nothwendig. Eben so wenn wir uns denken den Gegensatz zwischen dem Protestantismus und Katholicismus als Volksreligionen[,] wir denken uns diesen in seiner Schärfe aber zugleich in einer nationalen Sonderung – darinn würde es allerdings vielerley Beziehungen geben wo wir sagen müßten ein durch und durch katholisches Volk muß eine andere Pädagogik haben wenn 16–17 bestimmen] bestimmt 26 Gibt] davor wenn es solche Differenzen gibt, von denen wir sagen können sie liegen von unserem 32 Form] Form denken

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es sich Q R erhalten will als ein durch und durch protestantisches. Ist aber der Gegensatz zwar vorhanden so daß man nicht recht beurtheilen kann ob ein Nachlassen ist oder ein Zunehmen aber die nationale Sonderung ist nicht vorhanden dann wird auch eine solche Differenz der Pädagogik nicht mehr möglich seyn, im Gegentheil wird dann eine natürliche Polemik entstehen zwischen dem religiösen Intresse und dem politischen. | Hieraus sehen wir wenn wir uns an die gegenwärtige Weltlage halten daß wir keine Ursache haben eine solche bestimmte Sonderung zu machen, und einige Theile dieses Umkreises von unserer Theorie ganz auszuschließen. Geht aber das hervor unsere Absicht müßte seyn, eine Theorie aufzustellen welche eine allgemeine Gültigkeit hat für die gegenwärtige geschichtliche Periode, so werden für verschiedene Staaten und Nationen auch verschiedene Modificationen empfangen. An diese Betrachtung eine andere. Nähmlich soweit wir uns dieses festgestellt haben in Beziehung auf die Anwendbarkeit unserer Theorie, daß in unserem ganzen Kreise die Erziehung ursprünglich von der Familie ausgeht, daß aber die großen Lebensgemeinschaften ihren Antheil daran nehmen, und wir uns die Aufgabe gesetzt haben diesen Antheil näher zu bestimmen, so müssen wir vorher noch eine andere Ansicht aufstellen. In so fern es das Charakteristische der gegenwärtigen Periode ist daß der isolirte Zustand der einzelnen Staaten im Abnehmen ist, nun aber was wir als Intresse des Staates an der Erziehung im Allgemeinen bestimmt haben, daß es darauf beruhe den Gemeingeist zu wecken, was die Identität des Einzelnen mit der bestimmten Form im Staate ist, und die jüngere Generation so zu entwickeln, daß in ihr die Totalität derjenigen Fertigkeiten gefunden würde, welche nothwendig das allgemeine Leben im Staate so fortsetzen wie es ist, da scheint es als ob wir hier wieder eine Beschränkung anbringen müssen. Es ist offenbar je mehr ein Staat isolirt ist daß sein Bestehen im Zusammenhang darauf beruht, daß er sich streng alle äußeren Einflüsse abwehrte, so muß der Gemeingeist mehr Intensität haben, muß aber der Staat den äußeren Einflüssen nachgeben, darf der Gemeingeist diese Intensität nicht mehr haben. Dieses kann nicht anders in den Einzelnen repräsentirt werden als daß dem Gemeingeist etwas anderes gegenübersteht – das ist: das Bewußtseyn von der Zusammengehörigkeit des Einzelnen mit den anderen, welche den ganzen Völkerverband ausmachen. Annäherung an die Gesinnung die man eine Zeitlang K o s m o p olitismus genannt hat. Einige setzten sie vor den Patriotismus. In diesem Streite die erste Entwick1 sich] das folgende Wort ist unleserlich wegen eines Flecks, zu ergänzen wohl seinen Charakter (vgl. SW III/9, S. 196) 13 verschiedene] verschiedene verschiedene 28 fortsetzen] fortzusetzen 33 haben] stehen über )haben*

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lung dieses Verhältnisses das wir eben gezeichnet haben. Es gab eine Zeit wo das Isolirtseyn der einzelnen Staaten das Feststehende war. Gegensatz zwischen Patriotismus und Kosmopolitismus. So wie wir das letztere nicht mehr auf die Totalität aller menschlichen Gesellschaften beziehen sondern auf einen gewissen Kreis derselben, so ist das schon ein Gebundenseyn dieser entgegengesetzten Ansichten und es kommt nur darauf an zu bestimmen wie das Verhältniß gestellt werden muß in der Erziehung, damit die zu erziehende Generation in den Zustand eintreten könne, der eigentlich in der Entwicklung begriffen ist. Kann man wohl fordern daß die Staaten in so fern ihnen ein Einfluß auf die Gestaltung der Erziehung zusteht diesen selbst dazu anwenden sollen, den Patriotismus zu schwächen und den Kosmopolitismus zu begünstigen? Niemand wird es bejahen. Wir werden sagen müssen[:] In dieser Entwicklung so lang noch ein Schwanken statt findet, muß die Regierung immer die eine Seite repräsentiren. Dann fragt sich: Gibt es nun etwas anderes, was die andere Seite repräsentirt? Dieß finden wir nun oder haben es gefunden, und [es] beruht nur auf etwas gewöhnlichem was schon vorgekommen ist. Es ist ein solcher Zustand unmöglich ohne daß eine Mannigfaltigkeit von Verhältnissen zwischen den einzelnen Staaten entsteht. Wenn dieses nicht ist da ist nichts was die natürliche Neigung des Staates sich in sich selbst zu isoliren schwächen könnte, und diese Verhältnisse werden immer in der Region liegen welche wir geselligen Verkehr genannt haben. Der Regierung werden wir nichts anderes zumuthen dürfen, als daß sie den Einfluß auf die Erziehung nicht hemmt. Z. B. Das Verkehren der Einzelnen aus verschiedenen Völkern beschränkt durch verschiedene Sprachen, soll es entstehen so muß dieses bis auf einen gewissen Grad aufgehoben werden. Die Verschiedenheit der Sprachen keineswegs zu tilgen nur die durch sie entstehende Trennung muß aufgehoben werden. Zu unterscheiden eine a ct iv e und pa ssiv e Communication. Wenn in einem Volke nur diese Passivität ausschließend ist, so kann es auch nur eine sehr untergeordnete Stuffe einnehmen in der Lebendigkeit des Völkerverbandes. Active Communication wenn ein Volk die Verschiedenheit der Sprache in sich selbst hineinführt, die passive Communication wenn ein Volk zwar Menschen aus anderen Ländern unter sich aufnimmt, aber es ihnen überläßt die Sprache des Landes zu lernen, in welchem sie eben versirt. Auf dem letzten Wege keine entwickelte Bekanntschaft mit den Lebenszuständen von den anderen Völkern, sie ist nur im ersten möglich. Wir Deutsche haben immer auf die active Modification gehalten, um vielleicht 5 derselben,] am Rand folgt: „zwischen dem und den einzelnen Staaten die Q R zusammengesetzt ist“ 28 werden] werden muß

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nur zu leicht Elemente anderer Sprachen auch selbst in die unsrige aufzunehmen. – Der Staat hatte nun diese Leichtigkeit in Erlernung fremder Sprachen nur zu erleichtern. Wo dieses nicht ist da finden wir daß die Regierung weil sie einsieht das Volk steht nicht einmal im Völkerverband, da haben die Regierungen selbst zur Erlernung fremder Sprachen begünstigend auftreten müssen. Hier ein Punkt welcher hernach wird in vermeindlich pädagogischen Maximen positiv wirken – was sich auf das Verhältniß der jüngeren Generation zu dem ganzen Völkerverband bezieht. Das soll vorzüglich rein von dem Bedürfniß des Geselligen Verkehrs ausgehen, der hat seinen Ort in den Familien. Die Regierung braucht es nur nicht zu hemmen. Und wir werden sagen müssen dann wird [man] von selbst verstehen daß die Erziehung in diesem Punkt nur dem gegebenen Zustand folgen wird, vorangehen kann sie ihm nicht, das ist auch nicht nothwendig und nicht in der Natur der Sache. Dieser Zusammenhang ist auf natürlichem Wege entstanden, durch Zunahme der Bevölkerung. – Wir haben weil es uns nun darauf ankam die allgemeine Formel aufzustellen, immer nur vom Staat und der Kirche geredet, nur beyspielsweise. Nun sehen wir in Beziehung auf den gegenwärtigen Zustand daß hier noch ein anderes Lebenselement eintritt das sich sein Recht auf die Erziehung sichern will. | Aber allerdings [ist] nicht ein so organisirtes wie Staat und Kirche uns mitenthalten in dem Theil der Erziehung welche von der Familie ausgeht. Jetzt noch Eins in Beziehung auf einen Gegenstand der gegenseitigen Auseinandersetzung. In der Natur der Sache daß diejenigen Bildungsanstalten welche die größte Aufgabe sich stellen und woran nur diejenigen Theil nehmen können welche innerlich und äußerlich zu einer größeren leitenden Thätigkeit in dem allgemeinen Leben berufen sind, in der Natur der Sache daß diese am bestimmtesten vom Staate ausgingen. Nun aber indem wir hier das höchste der Bildung als den eigentlichen Gegenstand angesehen so können wir dabey nicht umhin die reine Idee des Wissens in welcher allein der allgemeine Zusammenhang aller Lebensverhältnisse in seinen Principien angeschaut werden kann, auf diese dabey eine besondere Rücksicht zu nehmen und das Verhältniß zwischen dieser und dem Staat ins Auge zu fassen um zu sehen wie der Antheil des Staates sich wieder verschieden organisiren kann, und was für verschiedene Maximen also in dieser Beziehung wieder aufzustellen wären. In Beziehung auf das Verhältniß in welchem die Erziehung ausgeht von der Familie und von dem gemeinsamen Leben war uns noch eine Frage übrig über das Verhältniß der Regierung im Staat zur höchsten Ausbildung der Erkenntniß in der 35 um zu] um zu zu

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Form der Wissenschaft. Wir kommen darauf weil wir sehen daß die verschiedenen großen Lebensgemeinschaften unter sich mit der Tendenz in der Familie übereinstimmten. Ein Mal in Beziehung auf das Verhältniß der politischen Gesinnung und des Cosmopolitismus; darinn liegt dieses daß beydes frey und unabhängig aber doch in Übereinstimmung mit einander ist. Was das Verhältniß der religiösen Gemeinschaft betrifft so halten wir [es] als mehr isolirt und scheint als ob es hier bloß darauf ankomme, daß eine Übereinstimmung statt findet zwischen Familie und Kirche. Wo die Regierung der Meynung daß es ihr gleichgültig seyn kann was für ein frommer Typus von Gesinnung traditionell werde durch Erziehung, und mit welcher Kraft dieser Aufrechterhaltung dieß Princips getrieben würde da wird ein Mißverhältniß zwischen beyden nicht eintreten. Aber wo dieses nicht ist, wo die Regierung die religiöse Gesinnung mit in Anspruch nimmt um die politische Gesinnung zu unterstützen da kann ein Zwiespalt entstehen zwischen beyden. Wo dieses sich findet wie kann es aufgelöst werden? Auch ohne Fehde durch etwas was identisch ist von gleichem Werth für beyde Theile, dieses ist nichts anderes als jenes Gebieth, nicht wodurch dieses auf evidente Weise vermittelt werden könnte, als durch eine vollständige Erkenntniß. Die Differenz der Ansichten dem Gefühl zu überlassen bringt eben die Fehden, die Erkenntniß hingegen nimmt das Allerallgemeinste des Menschen in Anspruch. Wir hatten gesehen, daß so wie man annimmt, daß die Wissenschaft ein wesentliches Element der ganzen menschlichen Existenz ist, so muß es auch eine Tradition derselben geben von einer Generation auf die andere und Vorbildung dazu muß offenbar auch in die Zeit der Erziehung fallen. Wovon soll denn diese ausgehen? Zuerst die Communication zwischen den am meisten dabey betheiligten zu gering als daß auf dem Wege einer freyen Association diese Bildungsanstalten entstehen könnten. Der Staat ist immer die allgemeine Communication und von da eine Volksbildung und es scheint also daß es nur von einem Staat ausgehen könnte, wenn wir aber nach dem Wie fragen, so kann hier ein Widerspruch entstehen, und dieser soll ausgeglichen werden. Das 9 Regierung] Erziehung

28 betheiligten] getheilten

13–16 Vgl. SW III/9, S. 201–202: „Wo a b e r d i e R e g i e r u n g d i e r e l i g i ö s e G e s i n nu n g i n An s p r u c h n i m m t u m d i e p o l i t i sc h e z u u n t e r s t ü z e n , d a w e r d e n a u f m a n n i g fa ch e We i se d i e Ve rh ä l t n i sse g e t rü b t , j e n e I n d i f f e r e n z h ö r t a u f , e i n Zw i es p a l t t ri t t e i n nicht nur z w i sc h e n d e n F a m i l i e n u n d d e r K i r c h e s o n |d er n zw i s ch e n d e n F a m i l i e n u n d d e m S t a a t e , ja auch zwischen Kirche und Staat in ihrem Einfluß auf die Erziehung. “

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kann nur geschehen wenn sich die Wissenschaft in Indifferenz befindet zwischen Staat und Volk, Staat und Kirche, Staat und Geselligem Verkehr. Wenn der Staat die wissenschaftliche Bildung selbst leiten will, so kommt dieser Widerspruch heraus, denn sobald eine solche Differenz der Ansicht entsteht, so ist sie Parthey; und wenn die Differenz entsteht, so ist sie Richter und Parthey zugleich. Das ist die Folge wenn die Regierung in ihrer Ansicht constant bleibt, wenn die Sache eine Zeitlang fortgegangen ist, ändert die Regierung ihre Maximen so wird ihr erstes seyn, den Gang der wissenschaftlichen Bildung umzukehren, und in den größten Widerspruch mit sich kommen. Schlagendes Beyspiel: Im Österreichischen Kaiserstaat war vor den Zeiten des Kaiser Joseff ein reines Verhältniß der Übereinstimmung gewesen zwischen Staat und Kirche in Absicht auf die leitende Erziehung und auch das Volk war mit keinem von beyden in Widerspruch. In Joseff war das Bewußtseyn von dem Verhältniß des Zustands zum Entwicklungsgang in den Europäischen Volksständen lebendig geworden, und brach nun auf eine revolutionäre Weise aus. Daher er den Einfluß des Staates auf die Bildungsanstalten und andere Principien aufstellte. Nach Joseff eine Reaction, zum Glück aber allmählig. (Was unter Joseff gelehrt worden war). Der Widerspruch in seiner grellen Gestalt. Versteinerungssystem Ruhe bey der sich aber nichts Freyes entwickelt. Von dieser Seite beruht das Wesentliche des Erziehungsgeschäfts bloß darauf daß die Regierung die Wissenschaft frey läßt, daß die Anstalten zur Tradition der Wissenschaft von ihnen ausgehen, daß sie sich aber aller Partheylichkeit für diese oder jene Methode enthält. Das ist allerdings schwer. (Für den Staat keine Wahrheit als auf der Geschichte gewachsen steht, daß sie nicht eine solche Gewalt erlangen um die freye Tendenz im Voraus zu hemmen.) Offenbar immer eine vergebliche Tendenz wo die geistige Form bis zu einem gewissen Punkte ge1 Indifferenz] Differenz

15 des Zustands] das dem Zustand

19–20 Vgl. SW III/9, S. 203–204: „Hätte man gewagt eben so plözlich wieder zurükk zu schreiten wie Joseph vorwärts strebte; hätte man die Wissenschaft die eben frei gelassen worden war, wieder eben so schnell fesseln und alles was unter Kaiser Joseph gelehrt worden war, eben so plözlich wieder wegräumen und die für die Wissenschaft angestellten Männer mit einemmal für untüchtig erklären können: dann würde | sich der Widerspruch in seiner ganzen grellen Gestalt gezeigt haben, ein Widerspruch der nicht ausgeglichen werden kann, weil das gebunden ist was allein ausgleichen kann – die Wissenschaft.“ 26–28 Vgl. SW III/9, S. 205: „Der Staat muß Vorsorge treffen daß Einzelheiten und Einseitigkeiten nicht solche Gewalt erlangen, daß die Tendenz die sie etwa haben, der Freiheit andere Formen zu produciren im voraus hemmend entgegen zu treten, zur Ausführung kommt und siegt.“

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wachsen ist sie dann hemmen zu wollen. Wenn aber nun der Staat die Wissenschaft ganz frey läßt ohne das was unter der Form der Wissenschaft gehemmt wird zu bedingen, um den Fortgang der Entwicklung und Tradition zu schützen, dann erhält sie sich das Princip[,] sich und dem Ganzen überall wo ein solcher partieller Zwiespalt eintritt. Die höchste Bedingung unter welcher eine zusammenhängende Ausübung dieses Erziehungsgeschäfts in einer Region statt findet. Die Theorie auch ein Product der Wissenschaft. Also ändern sich die wissenschaftlichen Ansichten so wird sich die Theorie auch ändern. Die Theorie steht also unter diesem Einfluß sie beherrscht aber an sich die Praxis nicht, sie ist immer später als die Praxis, die Praxis ist begründet und die Theorie muß sich erst Raum schaffen. | So wie aber in irgend einem Moment durch die Autorität des Staates auf eine plötzliche Weise eine bestimmte Theorie an die gegebene Praxis fest geknüpft wird so ist nichts anderes möglich, als entweder die Ve r s t e i n e r u n g oder eine Reihe von gewaltsamen Rea ct i o n e n , was eine Regierung nicht genug verhüten kann. Ruft sie selbst den Zwiespalt der Kräfte hervor, so vernichtet sie sich selbst, und überall wo dieses der Fall ist erscheint sie eben darinn nur in absoluter Schwäche, weil sie eben dadurch manifestirt daß sie keine Vereinigung der Kräfte ist. So wir überlegen daß die Wissenschaft frey ist. (Und dasselbe wird auch von der Kirche gelten, die Wissenschaft welcher sie gar nicht angehört, oder daß sie selbst der Wissenschaft bedarf und muß sie daher frey lassen, indem sie die Entwicklung der frommen Gesinnung in ihrem Grund hat, daß nie die Wissenschaft in Opposition mit ihr komme. Auf diesem Vertrauen ruht diese Harmonie.) Daß der freye gesellige Verkehr mit der Wissenschaft nicht in 7 Erziehungsgeschäfts] Erziehungsgeschäfts statt finden kann 1–6 Vgl. SW III/9, S. 205: „We n n a b e r d e r S t a a t d i e Wi s s e n s c h a f t g a n z f r e i l ä ß t, w ed er Dr u k k u n d H e m m u n g si c h g e st a t t e n d , a u c h n i c h t i n d e m F a l l da ß d i e Wi s s e n s c h a f t e i n e r i n d e r R e g i e ru n g be s t e h e n d e n R i c h t u n g e n t g e g e n i s t, n o ch S ch u z u n d P f l e g e ü b e n d , a u c h n i c h t i n d e m F a l l d a ß e i n e bes ti m m t e Ges ta l t u n g d e r Wi sse n sc h a f t d e n e n d i e d a s R u d e r d e r R e g i e r u n g h a n d h a b e n se h r z u sa g t ; w e n n d e r S t a a t s o g a n z u n p a r t e i i s c h i s t – w i e e r es d en n d o c h se i n m u ß – d a ß e r n u r d e n F o r t g a n g d e r E n t w i k k l u n g un d d e r Tr a d i t i o n b e sc h ü z t : d a n n e rh ä l t e r s i c h s e l b s t u n d d e m g a n z e n da s M i t t el j ed en i n n e re n Z w i e sp a l t z u h e b e n , d a s P r i n c i p d e r A u s g l e i c h u n g a l l er M i ß v e rst ä n d n i sse w e l c h e a u f d i e E r z i e h u n g n a c h t h e i l i g w i r ken .“ 22–26 Vgl. SW III/9, S. 206–207: „Die Kirche entwikkelt ja die religiöse Gesinnung, dieser muß sie vertrauen und darauf bauend die Wissenschaft sich frei entwikkeln | lassen, damit sie nicht eine Opposition dieser gegen sich selbst hervorrufe.“

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Opposition seyn wolle, leuchtet ein. Ruhig können wir über das Verhältniß der Theorie zur Praxis seyn. Anzuknüpfen bey dem Punkt von welchem wir im Fortschritt unseres Unternehmens ausgegangen. Daraus daß wir nun im Allgemeinen den Schematismus der primitiven unterstützenden und entwickelnden Erziehung herausQtrichternR wollten und geschaut wird auf den verschiedenen Antheil welchen in beyden Zeiten die ursprüngliche Anfangsposition in der Familie und den großen Lebensgemeinschaften nehmen muß. Wir hatten aber die Aufgabe selbst nur auf die allgemeinste Weise gelöst, indem wir eine andere Formel gebraucht haben. Durch die absichtliche pädagogische Thätigkeit doch die Entwicklung nur fragmentarisch und rapsodisch wäre daß sie weil ein entwickeltes Bewußtseyn auf bewußte Weise in das sich entwickelnde Bewußtseyn eintritt die Entwicklung des Bewußtseyns potencirt wird durch die pädagogische Einwirkung. Das zuletzt genannte fällt überwiegend ins Gebieth der Gesinnung hinein und wird da die dominirende Form. Auf diesen Punkt stellen wir uns zurück, und müssen uns nun auch etwas näher entwickeln den allgemeinen Gehalt seiner allgemeinen Formeln. Bey dem Gebieth der Fertigkeiten fangen wir an. Hier gibt uns die allgemeinste psychologische Grundlage eine Dupplicität an die Hand, das ist der relative Gegensatz zwischen Sp o n t an e i t ät und Receptiv it ä t , Selbstthätigkeit und Empfänglichkeit. Wir repräsentiren uns diesen in dem Leben wie es zuerst erscheint durch die Thätigkeit der Sinne als allgemeine Darstellung der Receptivität weil durch diese der Mensch eigentlich empfänglich wird etwas in sich aufnimmt und durch die freyen Bewegungen nach außen, die freye Muskelthätigkeit auf der anderen Seite. Das ist die Spontaneität ist die Thätigkeit durch welche einer etwas hervorbringt oder belebend außer sich hinstellt. Nur ein relativer Gegensatz denn keine Sinnesthätigkeit ohne Selbstthätigkeit, sonst gehen alle Eindrücke verloren, aber dieses hindert nicht daß nicht der Gegensatz sey in welchem sich alles zusammenfassen läßt, das ganze System der Fertigkeiten steht unter diesem Gegensatze. Durch die Sinne die ersten Eindrücke von der Außenwelt, und seinen eignen Zuständen. Was nun das Resultat von allem was sich an die15 Gesinnung] Erziehung über )Gesinnung* 29 Sinnesthätigkeit] Selbstthätigkeit 1–2 Vgl. SW III/9, S. 207: „So haben wir denn unser Augenmerk nur darauf hinzurichten, daß wir eine solche Theorie aufstellen, die zwar immer anknüpfend an das bestehende doch auch zugleich dem natürlichen sicher fortschreitenden Entwikklungsgang entspricht. Je mehr dies uns gelingt, desto weniger dürfen wir dann um die Praxis bekümmert sein, da wir die Ueberzeugung haben daß eine reine Continuität der Praxis, die aber zugleich Fortentwikklung der Theorie in sich schließt, daraus hervorgehen werde.“ 14–16 Vgl. SW III/9, S. 208: „Natürlich fällt das lezte überwiegend in das Gebiet der Gesinnung, das erste in das Gebiet der Fertigkeit.“

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sen ursprünglichen Anfangspunkt anschließt? Es ist die Welta ns c h a u u n g e i n e s j e d e n worinn die Totalität aller Eindrücke zu einem vollständigen Ganzen des Bewußtseyns auf seinen höchsten Punkt gesteigert gedacht wird, mit eingeschlossen die Totalität des Bewußtseyns von den Zuständen. Wenn wir uns dieß von dem ersten Anfangspunkt an an das letzte Ende construiren so werden wir nicht mehr in demselben Sinne sagen können, daß da seine Empfänglichkeit dominirt. Von der anderen Seite sind die freyen Regungen des Lebens in so fern die Willkühr sich dabey manifestirt der erste Punkt. Was ist dann das Ende davon? wenn wir uns dieses fortzusetzen denken. Es sind alle nach außen gerichteten Thätigkeiten des Menschen wodurch sein Antheil an der gemeinsamen Aufgabe des menschlichen Geschlechtes, in der fortgehenden Weltbildung und Beherrschung des menschlichen Geistes bestimmt wird. Hier werden wir wieder dasselbe sagen können, was vorher [galt]. Wir haben von dem Anfangspunkt diese Thätigkeiten als solche bezeichnet wo die Selbstthätigkeit dominirt. Wenn wir uns aber dieses letzte Resultat denken, so muß der einzelne Mensch nothwendig in die Gesammtthätigkeit der anderen eingreiffen, es erscheint vorwiegend unter der Form der Empfänglichkeit, daß er sich eine Bestimmung seiner Thätigkeit durch die Gesammtheit gefallen läßt, so daß in vielen Fällen der erste Impuls zu einer solchen Thätigkeit unter der Form einer solchen Zustimmung erscheint. Hier etwas paralleles wie vorher. Die Selbstthätigkeit tritt dabey nicht zurück. Dieses eher die höchste Selbstthätigkeit. Dieses zusammen genommen können wir sagen wäre die Totalität der Aufgabe unter der Beziehung der Fertigkeit. Alles unter das eine [oder] andere zu subsummiren. Nun werden wir sagen müssen wenn wir uns dieses in seiner Vollständigkeit denken so ist offenbar das andere Produkt auf der Seite der Gesinnung schon mit darinn enthalten, so daß wir sehen, daß nur eines mit dem anderen zu gleich werden kann, denn in der Art wie der einzelne in die Gesammtheit eingeht, da ist offenbar die Gesinnung mitgesetzt im bürgerlichen Leben und geselligen Verkehr. So werden wir sagen müssen wenn wir uns in einem Moment solche Thätigkeit des Bewußtseyns vollständig denken so wird dann die religiöse Gesinnung auch darinn müssen enthalten seyn. Eine andere Art von Einwirkung der Erziehenden auf die jüngere Generation wodurch 35 enthalten] ethalten 35–2 Vgl. SW III/9, S. 210–211: „Auf der anderen Seite, die Weltanschauung wird als ganzes angesehen und als Einheit nur in dem Maaß vollständig sein, als die Gesinnung vollständig ist. Dennoch bleibt | uns ungefährdet, daß wir sagen mußten, Es ist eine andere Art der Einwirkung auf die zu erziehende Generation, wodurch die Gesinnung, und wodurch die Fertigkeit entwikkelt wird.“

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nicht auf das Ganze und wodurch nicht auf die Fertigkeiten gewirkt wird. Nun zu unserem eigentlichen Gegenstand: Offenbar wird dieß beydes die Weltanschauung des einzelnen und sein Ort in der menschlichen Gesammtthätigkeit mit der Art wie er ihn ausfüllt unmöglich als gleich angesehen werden und bey allen gleich seyn. Die erzieherische Thätigkeit [kommt] immer unter dieser Ungleichheit zum Vorschein, nicht mit demselben Maaß, aber auch nicht so daß wir irgend woher ein Gesetz wüßten, nach dem diese Ungleichheit fortschreitend abnähme. Auf der anderen Seite werden wir sagen müssen wir würden es für gefährliche Einseitigkeit halten, wenn gesagt werden wollte die pädagogische Thätigkeit soll für dasjenige seyn, wovon diese Ungleichheit ausgeht. Dieses auf die ganze Gesammtthätigkeit der Erziehung in ihrer sittlichen Einwirkung den bedeutendsten Einfluß. Doch etwas näher daran. Es geht zurück auf das ob wir nun eine angeborne Ungleichheit der Menschen unter der Form der Anerbung oder unter einer allgemeineren annehmen müssen oder nicht. Die Frage schwer und nicht auf unserem Gebieth, aber die Ungleichheit immer verschieden wenn die eigentliche pädagogische Thätigkeit anfängt und es kommt darauf an wie man in der Erziehung diese schon vorhandene Ungleichheit zu betrachten habe. | Denken wir uns eine bürgerliche Gesellschaft welche ganz auf das Kastensystem gebaut ist, wo der Antheil an der Gesammtthätigkeit der Menschen im Staate auf bestimmte Weise erblich vertheilt ist, und die Nachkommen dieselbe Beschäftigung betreiben wie die Voreltern so werden wir sagen wenn das eine Einrichtung des Staates ist so ist die Erziehung dadurch gebunden. Aber wenn wir sagen es sollte ein solcher Zustand durch die Erziehung gesetzt werden, in dem die Maxime aufgestellt wird, wir wollen bey der Erziehung um einen Maaßstab zu finden was aus jemandem zu machen von dieser Voraussetzung ausgehen, daß der Sohn es nicht weiter bringen wird als der Vater, dann würde die erziehende Thätigkeit das ihrige thun um eine solche Thätigkeit hervorzurufen, das wäre eine Beschränkung, die würde die Individuen a priori unterwerfen. In jeder Generation wenn sie aus ihrer Bildungsperiode heraus ist finden sich die Ungleichheiten wieder auch wo man nicht sagen kann, daß die Erziehung sie hat hervorbringen wollen so entsteht die Frage[:] Wenn wir das als Resultat ansehen, was doch immer entsteht und sagen aber es soll nicht durch die erzieherische Thätigkeit selbst entstehen nicht durch den Antheil der Familie wie entsteht sie dann eigentlich? Dann durch die 28 aufgestellt wird] aufstellt 33 unterwerfen.] unterwürfen. als Wiederholung mit Einfügungszeichen am Rand: Sehen wir die Sache so an in jeder Generation wenn sie aus ihrer Bildungsperiode heraus ist.

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Art und Weise wie sich die Einzelnen selbst zu der pädagogischen Thätigkeit verhalten, [ist] der Ausdruck der Freyheit gegen die Einzelnen selbst. Was wir Freyheit nennen ist der Erscheinung nach wo die Erziehung anfängt nur ein Minimum, wo der einzelne als selbstständiges Glied in die Lebensgemeinschaften eintritt, soll sie vollständig seyn, während der Periode der Erziehung soll sie also ein Wachsendes seyn. Das zurückgreiffen auf das Leben selbst das durch die pädagogischen Einwirkungen unterstützt [wird]. Wenn sich die Ungleichheit bildet während der Erziehung so muß sie sich leiten von der Freyheit der Einzelnen selbst, die pädagogische Thätigkeit muß nichts thun als daß sie diese Freyheit selbst entwickle und dieß eigentlich auf keiner höheren Stuffe als auf der in welche er eintritt in das Gesammtleben, das rein von seinem Verhalten in der pädagogischen Thätigkeit das [ist] die Aufgabe der pädagogischen Thätigkeit. Sowohl die Weltanschauung als die Totalität von Thätigkeiten des Einzelnen in Beziehung auf die Gesammtthätigkeit des menschlichen Geschlechts sind dem Charakter und dem Grade nach wie sie als selbstständig im Leben eintreten in hohem Grade verschieden. Diese Verschiedenheit ist in der Periode der Bildung entstanden. Aber die Erziehung als Kunst hat das Ihrige gethan, erst wenn sie sich so gestaltet daß das in den verschiedenen Punkten wo sich ein Abschnitt bildet immer nachweisen läßt: der Antheil der sich weiter entwickelnden Freyheit des Einzelnen und das sey die Ungleichheit. Das ist die Aufgabe die wir in dieser Beziehung zu lösen haben rein auf ethische Prinzipien gestellt. Wie wo und welchem Maaß so Staatseinrichtung ist da ist es nicht die Erziehung die das macht. Das die Formel die wir in dieser Hinsicht aufzustellen hatten, das Geschehen der Erziehung theilen, daß bey jedem Abschnitt die Entwicklung der Ungleichheit, die bestimmende Aussicht auf die Region des Einzelnen im Gesammten, deutlich erkannt werden kann als von ihm selbst ausgehend und nicht als ihm aufgedrungen oder gewaltsam vorenthalten. Das bezieht sich auf die Erziehung als Eins angesehen, und ohne Unterschied auf dasjenige was von der Familie und das was vom Staat ausgeht, sondern dieses schon in seiner Einheit angesehen. Aus der Theilung entsteht uns noch eine andere Frage um das Ganze zu übersehen. Wie steht es wohl um diese zwey Hauptzweige von Fertigkeiten in Beziehung auf diese Ungleichheit? Werden wir sagen können daß in beyden Eins und dasselbe Maaß statt finde d. h. wer auf der höchsten Stuffe steht in Bezie19–23 Vgl. SW III/9, S. 212–213: „Wenn aber auf allen einzelnen Punkten der Entwikklung die Erziehung nachweisen kann, daß in dem einzelnen sowol die Weltanschauung als auch der Antheil den er an der Weltbildung nehmen kann, zwar in der Periode der Erziehung dem Charakter und dem Grade nach sich verschieden entwikkelt habe, aber ohne ihr Bestreben, sondern infolge der Freiheit | der einzelnen: so hat sie als Kunst das ihrige gethan und ihre Aufgabe gelöst.“

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hung auf seinen Einfluß auf das Geschäft der Weltbildung steht der immer von selbst auf der höchsten Stuffe in Beziehung auf die Weltanschauung und umgekehrt? Wenn wir fragen was ist nun[?] Nein wenn wir auf die Erscheinung sehen. Wer steht denn auf der höchsten Stuffe in Beziehung auf die überwiegend zur Spontaneität übertragenen Fertigkeiten? Der durch seinen freyen Willen den allgemeinsten Einfluß ausübt und dieser ist der welchen er auf den Willen anderer ausübt, d. h. der der am meisten regiert steht auf dieser Seite auf der höchsten Stuffe, auch in Beziehung auf die Weltanschauung? Das werden wir nach der Erfahrung verneinen. Fragen wir: Wer steht auf der höchsten Stuffe in Beziehung auf die Weltanschauung? Der sie am meisten systematisch ausgebildet hat, in welchem die Theile und das Ganze wesentlich Eins geworden sind, der welcher die höchste wissenschaftliche Welt Anschauung hat. Stehen diese auf der höchsten Stuffe der gegenüberliegenden Seite? Nein. Eine Ungleichheit. Ist sie auf der höchsten Stuffe auf beyden Seiten, so [ist] es zufällig und so müssen wir sie als etwas durchgehendes ansehen ob sie auf den untergeordneten Stuffen geringer oder auch gar nicht ist. Soll dann diese Ungleichheit durch die Erziehung hervorgebracht werden oder nicht? Es würde nicht eher gut stehen auf der Welt bis die Philosophen regierten, ein altes Wort, oder die welche regieren zumindest Philosophen wären. Wie der Ausspruch von beyden Seiten aufgenommen, so finden wir von Anfang eine Naivität Q R daß die Philosophen eine große Lust zu regieren, die Regierenden nie dieselbe Lust Philosophen zu werden, der eine Theil hier offenbar im Unrecht. So im Allgemeinen und in Beziehung auf den Einzelnen. Wie steht nun die pädagogische Thätigkeit zu dieser Ungleichheit? Wenn die Erziehung die Maxime aufstellt, denjenigen welcher auf der Seite der Weltanschauung Fortschritte macht auf der Seite des Willensverhältnisses zurückzuhalten, da würde sie die Ungleichheit hervorbringen, und wir würden sie ebenso wenig loben und den welcher während der Entwicklung sich auszeichnet daß er seinem Willen eine Geltung legendär zu machen weiß, da auf dem Gebiethe der Weltanschauung zurückzubringen so werden wir uns so verhalten müssen wie bey der ersten Frage. Dann würde die pädagogische Thätigkeit sich ein Mißverhältniß als ihr Ziel setzen. Hier eben so wie früher auch Fälle wo die erziehende Thätigkeit gebunden ist durch die 36 auch] auch hier 15–18 Vgl. SW III/9, S. 214: „Es entsteht also eine Ungleichheit; ob diese nun auf der unteren Stufe geringer ist oder nicht, das entscheidet nicht; sobald sie auf der höchsten Stufe ist, sehen wir sie als durchgehend an.“ 19–21 Vgl. Platon: Politeia 473d, 499b–d, 503b, 520a–521b; Opera 7,52–53, 7,100–101, 7,108, 7,138–141; Werke 4,444–445, 4,512–515, 4,524–525, 4,570–575

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im Staate bestehenden Einrichtungen. Denn wo das höchste Maaß unter der Form der Erblichkeit steht, da ist die erziehende Thätigkeit gebunden. Denn es mag sich die größte Vollkommenheit der Weltanschauung entwickeln bey anderen so wird sie nicht ihnen diese Willensmacht verschaffen können. Dieses abgerechnet soll sie auf dieser Seite sich so gestalten, daß sie nachweisen kann daß das relative Zurückbleiben nur das Product der sich entwickelnden Freyheit des Einzelnen ist, die reine Harmonie beyder Seiten zu ihrem Ziele. So würden wir die andere Seite beachten und auf eine Formel bringen müssen, diese ist die Seite der Gesinnung. | Wir müssen fragen von dem ersten Anfangspunkt an: Was in dieser Beziehung das Ende? Wie soll in Beziehung auf die Gesinnung der Mensch beschaffen seyn, wenn er aus der Erziehung entlassen wird und selbstständig wirkend auftritt? Die Erziehung kann nie wollen eine Ungleichmäßigkeit in der ersten Hinsicht befördern und also nicht voraussetzen, im Leben selbst aber hernach eine Ungleichmäßigkeit in der anderen Hinsicht constant, welche der Vollständigkeit des Individuums keinen Einhalt thut. Denn jede specielle Richtung (Beruf) schließt immer eine Entsagung in Beziehung auf anderes in sich was davon abhängt, daß der Einzelne sich in der organischen Verbindung mit der Gemeinschaft befindet. Daraus geht hervor wie allerdings die Fertigkeit in ihnen vollständig seyn kann, aber die Ausführung nothwendig als noch getheilt erscheint, und da kann diese Theilung eben auch statt finden. Das auf unsere vorige Frage beziehen und sagen[:] Wenn der einzelne hernach als ein selbstständiges Glied in das Ganze hineintritt, so muß er so hineintreten, daß er schon eine bestimmte Stelle in dem einnimmt, die Gemeinschaft muß schon über seine Stelle die er in ihm einnehmen soll überein gekommen seyn. Also fällt auch dieß in das Gebieth der Erziehung hinein, und diese specielle Richtung muß im inneren in derselben verbleiben. Wir haben schon gesehen, daß hier wieder die Erziehung nicht unabhängig ist, abhängig von der Gestalt des gemeinsamen Lebens. Dieses kann so seyn, daß die ganze Aufgabe Null ist, wenn der Beruf durch die Geburt bestimmt ist. Sie kann so seyn, daß 6 soll sie] soll sich

12 Ende?] Ende.

25 sagen] fragen

12–14 Vgl. SW III/9, S. 215: „Was nun die Frage betrifft über d a s g l e i c h m ä ß i g e od er u n g l ei c h m ä ß g e Ve rh a l t e n d e r S p o n t a n e i t ä t u n d R e c e p t i v i t ä t i m e i n z e l n e n : so muß man unterscheiden das was darin h ö h e r e P o t e n z ist, und das was durch U e b u n g en t st a n d e n e F e rt i g k e i t i m e i g e n t l i c h e n S i n n e i s t .“ 34– 4 Vgl. SW III/9, S. 216: „Sie ist auch sehr beschränkt, wenn der Eintritt in gewisse Verhältnisse Bedingungen unterliegt, über welche die Erziehung nicht zu gebieten vermag. Innerhalb unseres Gebietes, für welches die Theorie gültig sein soll, ist doch noch eine große Mannigfaltigkeit in Bezug auf die Wahl des Berufes, und die Erziehung kann nicht umhin Sorge zu tragen daß die einzelnen den ihnen angemessensten wählen.“

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wenn auch nicht Null, daß das was die Erziehung thun kann in bestimmte Grenzen eingeschlossen ist, wenn der Eintritt in die Gesellschaft an äußere Bedingungen geknüpft ist, welche herbeyzuschaffen die Erziehung nicht gebunden ist. Das allerdings eine schwierige Aufgabe, und diesen Punkt noch genauer constituiren. Es fragt sich: Setzt dieses voraus eine Kenntniß die jeder einzelne haben muß von den verschiedenen Stellen, die er in der bürgerlichen Gesellschaft einnehmen kann damit seine Selbstbestimmung ein Resultat dieser Kenntniß sey, oder gibt es auch eine Selbstbestimmung von dieser Kenntniß unabhängig, die zu billigen ist? Wenn man nur das erste sagen könnte, so würde die Aufgabe eine unendliche seyn, die sich in dieser Zeit nicht erfüllen ließe ohne anderen Theilen der Gesammtaufgabe zu schaden. Etwas zu dem 2. was hier einen Ersatz gibt, die S t ä rke nähmlich einer inneren Neigung die sich entwickelt für dieses oder jenes. Diese kann so stark seyn daß der Einzelne sich sagen kann, daß er doch keinen anderen wählen würde als diesen, wenn er auch alle anderen kennte. Allerdings dieses Urtheil immer ein unsicheres, und nahmentlich wenn die Wahl des Berufs des einzelnen nur eine gemeinsame Handlung seyn soll. Also diese innere Stimme ist nicht das einzige, noch ein Grund für die Zustimmung des Ganzen muß dazu kommen. Auf der anderen Seite[:] Wenn wir uns denken die vollständigste Kenntniß von allen Lebensverhältnissen und eine innere Neigung Null, so wird doch aus der Kenntniß keine Bestimmung hervorgehen, er wird indifferent seyn. Etwas davon ist nothwendig das stärkste aber nie alleine hinreichend. Die allmählige Entwicklung muß eben so eine gemeinsame Handlung (wie Q R [)] seyn sonst würde es der Gesellschaft an einem hinreichenden Grund fehlen zuzustimmen oder abzustimmen zu dem was der Einzelne beschlossen hätte, daher muß die Gesellschaft repräsentirt [seyn] in der Erziehung. Die Sache liegt so. In der Regel ist die Bestimmung des Berufs schon lang vorher geschehen, ehe der Einzelne als selbstständiges Glied in die Gesellschaft eintritt. Je mehr ein bürgerlicher Beruf eine ganz bestimmte Art von Fertigkeiten postulirt und nicht eher als bis diese in einer gewissen Vollkommenheit entwickelt sind, die selbstständige Wirksamkeit an sich ist, um desto mehr rechtfertigt sich dieses. Je mehr die ganze Vorübung so seyn könnte daß sie nicht in das Einzelne hinein eine Virtuosität sieht aber eine allgemeine Leichtigkeit sich diese zu entwickeln um 4 gebunden] verbunden 13 2.] 1. 26 wie] das folgende Wort ist wegen späterer Fadenheftung unleserlich; zu ergänzen wohl des Einzelnen (vgl. SW III/9, S. 217) 24–25 Vgl. SW III/9, S. 216: „B e i d e s m u ß a l s o d a s e i n , K e n n t n i ß d e r B e r u f s k r ei s e, i n n e re N e i g u n g z u e i n e m b e st i m m t e n B e r u f ; jedes für sich, die Neigung allein, selbst die stärkste, und die Kenntniß allein, selbst die vollständigste, genügt nie.“

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desto weniger wird eine frühere Bestimmung nöthig seyn. Es ist offenbar daß eine allzu frühe Bestimmung in dieser Hinsicht nie etwas wünschenswerthes ist, weil erst nach einer gewissen Lebensentwicklung eine solche innere Neigung zu diesem oder jenem eine Zielstrebigkeit haben kann. Also [ist] die pädagogische Aufgabe diese ganze Thätigkeit so lange als es der Zustand der bürgerlichen Gesellschaft und die Verhältnisse des Einzelnen zulassen in einer gewissen Allgemeinheit zu halten, um die Selbstbestimmung des Einzelnen nicht übereilen zu dürfen. Dieses allerdings auch nicht gleichmäßig und unter derselben bestimmten Form für alle gelten können, weil immer schon Vieles ausgeschlossen ist, je nachdem sich eine gewisse Unfähigkeit zu einer höheren Potenz der geistigen Thätigkeiten manifestirt oder je mehr sich die Fähigkeit entwickelt hat. Setzen wir den Fall es hat sich in einem eine solche Neigung für eine solche Geistesthätigkeit manifestirt, so ist nicht mehr nothwendig, daß man ihm die Übungen zukommen läßt, die ihn zu mechanischen Fertigkeiten geschickt machen können. Diese Aufgabe geht auch wieder hinaus auf die Theilung der Erziehung in verschiedene Perioden. Ob diese verschiedenen Grade solche Abstuffungen in der Erziehung anzunehmen zu Einer und derselben Formel führen wird wissen wir nicht. Erst auf der anderen Seite der Q R die Einzelnen hier nicht. Ebenso nach dem näheren Gehalt zu fragen in Hinsicht der Gesinnung. Hier die Mittel etwas beschränkter und die Wirksamkeit über eine gewisse Form nicht auszudehnen ohne das Ganze zu verunreinigen, und von dieser Q R aus nicht zu entfernen. Keine andere unmittelbare Einwirkung der absichtlichen Erziehung auf die Gesinnung als auf Veranlassung der eignen Willensacte wodurch sich etwas über die Gesinnung ausspricht und in Beziehung auf diese nur die Äußerung der Billigung und Mißbilligung und die Wirkung welche daraus hervorgeht. Worauf beruht nun die Wirkung welche aus der Äußerung der Billigung und der Mißbilligung entstehen kann? Zwey Gesichtspunkte. Es ist klar wenn ich einen anderen mir ganz gleich stelle, so kann seine Billigung oder Mißbilligung keinen Eindruck auf mich haben, wenn ich selbst mir einer bestimmten Billigung bewußt bin. Bin ich mir aber einer bestimmten Billigung vor der That nicht bewußt, sondern habe einen Verdacht 25 entfernen] enfernen; über der Zeile auf dem Punkt daß es

31 klar] Klar

18–21 Vgl. SW III/9, S. 218: „Und so führt uns auch dies schon auf die Nothwendigkeit einer Theilung der Erziehung in verschiedene Perioden, indem es verschiedene Grade und Formen giebt, unter denen das ganze auf den einzelnen mitwirkt; und in verschiedene Abschnitte, wo sich die Richtung des einzelnen näher bestimmt bis zu dem Punkt wo nun der bestimmte Beruf festgestellt ist. Wir können also erst später die Formeln für das Verfahren entwikkeln.“

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der Bewußtlosigkeit des Handelns, dann liegt in der Billigung oder Mißbilligung des anderen eine bestimmte Aufforderung den Act der Billigung oder Mißbilligung bey mir selbst aufzuholen, d. h. wenn ich mir gestehen muß ich habe bewußtlos gehandelt, so finde ich so eine Aufforderung mich zu prüfen ob ich in der Bewußtlosigkeit recht gethan oder nicht. Allerdings wenn wir hiebey stehen bleiben so werden wir sagen müssen daß die Äußerung der Billigung und Mißbilligung von großem Einfluß ist, wenn auch nur diese die Bewußtlosigkeit dadurch mehr beschränkt. Damit nicht zu sagen daß es ein Vorzug wäre, oder etwas Wesentliches wenn die bestimmte Überlegung allemal dem ersten Impulse vorangehe. Im Gegentheil. Wenn das überall wäre, so würde im ganzen Leben eine große Kälte herrschen, die kein Vorzug wäre. Was rein aus Überlegung entsteht, das entsteht aus einem Calculus und der Calculus nur etwas Begeisterungsloses. Das ist meine Meynung nicht. Aber wenn wir sagen daß dem Impuls keine Überlegung vorhergehen müsse. Kein Impuls ohne ein Gefühl und dieß hat allerdings eine große Mannigfaltigkeit in Beziehung auf die Klarheit, ein Maximum und ein Minimum, aber das Maximum wird deßhalb gar nicht Überlegung. Das also soll erreicht werden daß der Act ein solcher sey wie er seyn soll. Aber Je mehr die eigentlichen Impulse eines Menschen von klarem Bewußtseyn ausgehen, so werden wir sagen, die Überlegung liegt nur da, so werden wir ihm die Überlegung leicht erlassen können in Beziehung auf den ersten Impuls. Nehmen wir also dieß auf, so müssen wir sagen, daß wenn zu den natürlichen Einwirkungen des Lebens die Erziehung dieß hinzufügt, daß in dem Maaße als ein Impuls bedeutend ist nur darauf gehalten wird daß auch das Bewußtseyn darüber zur Klarheit komme, so wird sie schon ein sehr großes bewirkt haben. | Denn es geschieht nicht leicht in der Lebensperiode der Jugend daß sollten billigen die anderen menschliche Urtheile über das[,] was in dieser Lebensperiode als freywillige Handlungen geschieht [und] zum Bewußtseyn komme. Aber wir müssen dieses dazu nehmen daß die Bedürfnisse sich erst allmählig entwickeln und hier bedeutende Differenzen sind, das Bedürfniß entwickelt sich in einem mit größerer Leichtigkeit, im anderen kann es sehr zurückbleiben. Da wird wenig geholfen seyn, wenn das Urtheil anderer im Zögling zum Bewußtseyn 9 beschränkt] beschränkt wird

30 daß] daß nicht

20–23 Vgl. SW III/9, S. 219: „Wohl aber läßt kein Impuls sich denken ohne Gefühl, und dieses kann klar und unklar sein; aber Aufgabe ist es nun eben, das jedes Gefühl zur Klarheit erhoben werde, und je mehr alle Impulse eines Menschen von einem klaren Selbstbewußtsein ausgehen, desto mehr werden wir ihm die Ueberlegung erlassen können.“

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käme über das worüber er sich keine klare Rechenschaft mehr geben kann. Die Erziehung muß dieß wissen daß dieß zur rechten Zeit geschieht. Das ist nicht das einzige was daraus entsteht. Wenn der Fall anders ist, ich setze mir den anderen über mich, dann wird seine Äußerung seiner Billigung oder Mißbilligung noch eine andere Kraft haben als bloß mein eignes Urtheil aufzufinden. Nun ist überall das Verhältniß der Erziehenden zu den Zöglingen ein Verhältniß durch eine Ungleichheit. Aber es ist eine freywillige Veränderung des Zustands daß die Erziehenden sich dieß zerschlagen wenn sie nichts anderes wollen als das eine Urtheil herausfordern. Das herrschende ist das Verhältniß der Ungleichheit. Dieses ist ein zwiefaches. Von wem soll die Einsicht der pädagogischen Thätigkeiten ausgehen? Ich kann einen anderen einzelnen über mich stellen rein als einzelnen, das persönlich e Ansehen; ich kann ihn auch über mich stellen nicht als einzelnen sondern in Beziehung auf die Stellung welche er in der Gemeinschaft einnimmt, das Verhältniß des gemeinsamen Lebens zu dem einzelnen. Stelle ich den einzelnen rein als Person über mich, so ist dieß die A ut o r i t ä t , stelle ich mir ihn als Repräsentanten des Ganzen über mich, so sehe ichs dann als sein Urtheil, sein Gefühl als das Gemeinsame an, und das m e h r das erreicht werden kann ist die Subsummtion meines eignen Gefühls unter das gemeinsame Gefühl. Im ersten Fall nur unter die persönliche Autorität. Welches von beyden soll in der Erziehung gelten? Die zwey Endpunkte werden wir einander relativ entgegen zu stellen haben. Wenn der Mensch selbstständig in die Gemeinschaft eintritt, und ich denke seine Selbstständigkeit als etwas relativ Vollkommenes, so soll es keine persönliche Autorität für ihn geben, wogegen die Erziehung rein mit der persönlichen Autorität anfängt. Denn so lange das Leben in der Familie beschränkt ist, so gibt es nichts als die Autorität. Wir können zwar sagen, die Familie ist ein Organisches Ganzes, und die Eltern sind die repräsentirenden Organe des Ganzen, aber das Bewußtseyn ist nicht in der Kindheit, sondern in der Abhängigkeit der Kinder von den Eltern nur als persönliche Autorität erscheinend. Daher hängt der richtige Gang der Erziehung davon ab, daß zwischen denen die in der Familie die persönliche Autorität unter sich theilen keine Differenz sey. Wenn wir uns denken die persönliche Autorität als Null, so wird es von Anfang des Lebens 24 haben] müssen 6–10 Vgl. SW III/9, S. 219: „Das Verhältniß der erziehenden Generation zu der zu erziehenden ist ein solches Verhältniß der Ungleichheit, und eine freiwillige Veränderung des Standpunktes ist es, wenn die Erzieher sich auf den Fuß der Gleichheit mit den Zöglingen stellen; dies ist dann zwekkmäßig, wenn man die Absicht hat das eigene Urtheil des Zöglings herauszulokken.“

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an keine Mittel geben auf die Bildung der Gesinnung einzuwirken, sondern nur daß das eigne Urtheil in größerer Klarheit herausgefordert würde, aber eine eigentlich leitende Kraft wird es nicht geben. Soll diese seyn und als erste Bedingung aller pädagogischen Thätigkeit so müssen wir postuliren daß die persönliche Autorität in der größtmöglichen Kraft auftritt, wogegen aber wenn wir auf den Endpunkt sehen so folgt daraus: alsdann soll der Einzelne von aller persönlichen Autorität frey seyn, dann soll sein persönliches Gefühl und Urtheil in Übereinstimmung seyn mit dem gemeinsamen Gefühl und Urtheil sonst tritt er nicht als mitwirkendes sondern als gegenwirkendes Glied in die Gesellschaft ein. Hier ist die Sache so: Was auf die Entwicklung der Gesinnung Einfluß hat zerfällt in zwey Factoren, die persönliche Autorität und das Gemeingefühl diese sind im umgekehrten Verhältniß im Anfang und am Ende Q R die persönliche Autorität alles und das Gemeingefühl Null und umgekehrt; ein allmähliges Abnehmen der persönlichen Autorität und ein allmähliges Zunehmen des Gemeingefühls [sind] die Aufgaben der Erziehung. Dieser allmählige Übergang wird auch nicht Gestalt gewinnen können als nur unter der Bedingung daß es wieder gewisse Punkte gibt, wo das Verhältniß sich wieder als ein anderes manifestirt. Dieser kann nicht in Wirklichkeit treten so lange die Erziehung bloß in den Händen der Familie ist, denn dort ist zwar der ursprüngliche Sitz der persönlichen Autorität aber Gemeingefühl kann dort nicht seyn weil es nur eine mögliche Gemeinschaft ist, die Jugend das untergeordnete. Hier ist also ebenfalls eine Indication, die Erziehung zum Theil in eine andere Region zu versetzen, kein Gemeingefühl als wenn der Einzelne in solcher Gemeinschaft sich befindet wo er dieses schon findet beym Eintritt. Die Aufgabe gestaltet sich so ein solches gemeinsames Leben für die Jugend in der Periode der Erziehung zu organisiren, wodurch die Entstehung des Gemeingefühls bedingt ist, die Ableitung welche von der secundären Seite der Erziehung hergenommen. Es war aber die Ableitung vorzüglich von secundärer Seite der Erziehung fragmentarisch, keine andere Einwirkung auf die Gesinnung als durch die Äußerung der Billigung und Mißbilligung. Wollen wir QzustandeR kommen, nur auf die positive Seite, hier das Wesen der Erziehung darinn dasselbe immer auf die Art nur hervorzubringen, daß in diesen Einwirkungen durch Erziehung Ordnung und Zusammenhang hinein komme, und 12 hat] haben lich

14 Ende] das folgende Wort ist wegen späterer Fadenheftung unleser-

34–35 Vgl. SW III/9, S. 221: „Lassen Sie uns bestimmter die positive primitive Thätigkeit ins Auge fassen.“

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daß sie zu gleich eine Erhöhung des Bewußtseyns erwecke, das erste bezieht sich mehr auf die Seite der Fertigkeit, das letzte auf die Gesinnung. Dieses haben wir betrachtet 1. in Beziehung auf das bürgerliche Leben auf die religiöse Gemeinschaft und auf alles dasjenige was sich auf die Neigung der Erkenntniß bis zur Wissenschaft hinauf bezieht. Um den Gehalt dieser allgemeinen Formeln näher zu bestimmen müssen wir zurückkehren, was hier von selbst die freyen Einwirkungen des gemeinsamen Lebens in sich schließt. In jedem Hauswesen spiegelt sich immer das bürgerliche Leben ab. Offenbar in jedem Hauswesen so wie dem einzelnen das Verständniß darüber auch immer aufgeht. Ebenso wenn wir davon ausgehen, daß die Frömmigkeit etwas dem Menschen Natürliches ist, so läßt sich denken daß durch das bloße Wahrnehmen ihres Vorhandenseyns in der Familie der Sinn dafür und die Theilnahme muß entwickelt werden. Eben dasselbe gilt auch von dem fortschreitenden Verkehr in der Familie und [für] das freye gesellige Leben in Beziehung auf den Austausch der Vorstellungen. So das Bewußtseyn immer mehr geweckt ohne daß eine eigentliche Erziehung statt zu finden braucht, indem das innere Werk der Jugend sie auffordert sich an die Ältern zu wenden. Hier auf natürlichem Weg schon der Mangel der Gesinnung später was als Stumpfsinnigkeit erscheint muß verringert und aufgehoben werden. Doch lauter fragmentarische Momente, die durch nichts unter sich gebunden sind. Daher auf diese Weise nur einzelne leuchtende Momente[,] es überwiege immer eine Masse, wo die innere Einheit des Selbstbewußtseyns was wir Gesinnung nennen nicht zum Vorschein kommt. Was kann die Erziehung thun diesem abzuhelfen und die Jugend zu einem solchen Continuum zu machen wo die Beziehung auf diese Prinzipien des ganzen Lebens immer wieder zum Vorschein kommt? Wir gingen davon aus die Gesinnung manifestirt sich nur durch einzelne Willensacte die auf das Princip schließen lassen von dem der Impuls ausging. Auch jeder selbst wird sich seiner Gesinnung nur von den einzelnen Willensacten bewußt. Wenn also die Aufgabe darinn besteht, dieses Bewußtseyn zu einem Continuum zu machen, so würde sie darinn bestehen in jedem Augenblick Willensacte hervorzurufen und zu sehen auf welchem 10 auch immer aufgeht] aufgeht auch immer

28 kommt?] kommt.

14–19 Vgl. SW III/9, S. 221: „Dasselbe gilt auch in Beziehung auf das freie Verkehr; denn auch in der Familie ist ein freies Verhältniß der verschiedenen Glieder untereinander; und eben so wenig fehlt es in ihr an einem Austausch der Vorstellungen und mannigfacher Bezugnahme auf das Erkennen. Durch alles dieses wird das Bewußtsein gewekkt; die Kinder haben stets Aufforderung an die Aeltern sich zu wenden, und die Liebe und das Interesse der Aeltern veranlassen diese schon hinreichend, stets zu prüfen wie weit die Entwikklung des Bewußtseins gediehen sei.“

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Punkt der Scala die Entwicklung des Selbstbewußtseyns stünde. In der ganzen Entwicklung des Lebens läßt sich das nicht bewerkstelligen, ihr thätiger Antheil der Familie am Leben immer nur ein Minimum. Es muß etwas besonderes hier organisirt werden. Aber da die Gesinnung immer zugleich Theil des Princips des ganzen Lebens ist so wird es auch darauf führen, daß ein gemeinsames Leben im organischen Sinn müßte geschafft werden, worinn die Jugend beständig ein Theil ist und ihr Antheil an diesem ein wahres Continuum bildet. | Hier ist es nöthig auf den Begriff eines gemeinsamen Lebens bestimmter zurück zu kehren. Er kann auf zwiefache Weise gefaßt werden. Wenn mehrere zusammen treten zu einem bestimmten Behuf so bilden immer alle Thätigkeiten aller einzelnen die sich auf diesen Zweck beziehen ein gemeinsames Leben. Wenn wir uns aber das gemeinsame Leben sich organisiren denken durch das bloße Zusammenseyn ohne das Bewußtseyn eines besonderen Zwecks, so erscheint es bloß als das Aggregat von den Thätigkeiten der Einzelnen. Das letzte das größere und bedeutendere als das erstere. Man wollte das bürgerliche Leben so erklären als ein solch freywilliges Zusammentreten der Einzelnen zu einem bestimmten Behuf allein die Erklärung für die Sache unangemessen. So lange wir das gemeinsame Leben als Aggregat der Thätigkeiten der Einzelnen annehmen so haben wir das wahre Wesen noch nicht erreicht, denn [es gibt] keine Thätigkeit eines einzelnen welche nicht zugleich die Thätigkeit aller wäre. Keine Handlung der Totalität welche nicht zugleich die Handlung des Einzelnen wird. Aber was vom Handeln gilt, gilt auch vom Leiden. Sobald wir dieses gefaßt haben so werden wir sagen müssen, denken wir uns einen einzelnen in solchem Gemeinwesen so ist diese Beziehung auf das Gemeinwesen an sich schon ein Continuum und nicht in jedem Moment so thätig, daß ein Handeln auf das Ganze von ihm ausginge aber doch immer so daß die Thätigkeit aller anderen in ihm die seinige wird durch die lebendige Theilnahme daran. So wie wir die Aufgabe lösen, die Jugend in solchen Zustand zu setzen, so haben wir die andere mitgelöst. Hier kommen wir auf dieselbe Aufgabe die Erziehung zum Theil aus der Familie heraus zu verlegen, in dieser ein solches Gemeinwesen nicht, die lebendigsten Beziehungen immer die zwischen der Jugend und den Erwachsenen, die unter sich sind. Diese Verbindung bildet aber kein Gemeinwesen, also dieß nur durch ein relatives Heraustreten der Jugend aus der Familie und ein Zusammentreten zu einem Zweck erreicht wird. Nun drängt sich uns die Frage auf: Die Frage über das Verhältniß der beyden Geschlechter in dieser Beziehung. Offenbar wenn wir auf das Leben sehen wie [wir] es im ganzen Gebieth der Geschichte annehmen. Dieses sich gestaltet hat, daß das männliche Geschlecht einen ganz anderen Antheil an dem gemeinsa-

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men Leben hat und in anderer Beziehung zu den großen Lebensformen steht als das weibliche. Wenn wir alle die verschiedenen Punkte betrachten im Staat, da tritt das weibliche Geschlecht ganz zurück, in der religiösen Gemeinschaft schreiben wir ihnen einen starken Antheil zu aber überwiegend nur der Receptivität, das Hervortreten immer als Ausnahme und Unregelmäßigkeit. Dasselbe der Fall wenn wir auf das Gebieth der Gemeinsamen Förderung der Erkenntniß sehen. Da haben [wir] dasselbe. In den gebildeten Regionen der Gesellschaft hat das weibliche Geschlecht auch eine Receptivität dahinn; denn [es giebt] immer wissenschaftliche Zweige die ihnen fremd bleiben. Wenn z. B. Frauenzimmer sich auf entschiedene Weise mit Mathematik beschäftigen, so wird uns das ganz fremd erscheinen, aber das selbstthätige Heraustreten und hier wie dort beschränkt auf den Einfluß in der Familie den sie auf die Jugend haben. Aber das sich auch nur auf die erste Zeit beschränkt. Nur im geselligen Verkehr eine größere Gleichheit beyder Geschlechter, wo es nicht zurücktreten darf. Wenn die Gesinnung so vollständig sich nur manifestiren kann als Princip eines gemeinsamen Lebens als Gemeingeist so muß entweder eine Dißharmonie entstehen zwischen der Existenz des weiblichen Geschlechts in der Periode der Erziehung wenn es nachher wie das männliche an den Angelegenheiten des gemeinsamen Lebens Theil haben soll, oder wir werden nicht dieselben Mittel verwenden können um die Gesinnung der Jugend zu unterstützen, und diese [werden] natürlich zurücktreten. Diese Schwierigkeit hier eigentlich nicht aufzulösen. Nur zu erklären wie der gegenwärtige Zustand der Erziehung so ist daß wir auf ein Zurückbleiben des weiblichen Geschlechts schließen müssen, aber wie die Erfahrung zeigt daß das eigentlich nicht ist. Die männliche Jugend findet das gemeinsame Leben welches wir hier als ein wesentliches Element der Erziehung aufgestellt haben, in der Schule in der öffentlichen Organisation des Unterrichts wo sie sich von selbst zu einem Gemeinwesen bilden muß. Durch diese wird sie relativ aus der Familie herausgerissen. In der Familie sind ihrer Natur nach allerdings alle großen Lebensgemeinschaften repräsentirt. Sehen wir auf den innersten Kern des häuslichen Lebens, so in der Ehe[,] in der postuliren wir eine solche Identificirung beyder Theile daß sich in der Frau das ganze Leben des Mannes abspiegeln muß. Da ist nichts zu sagen als: In dem engeren Verhältniß welches sich ganz natürlich bildet zwischen den Töchtern und der Mutter liegt dieses, daß sie einen geschärfteren Sinn bekommen für die Art wie sich der Antheil des Mannes an den großen Lebensformen in dem Bewußtseyn der Frau abspiegelt, und daß dieß für sie die Lücke wird wodurch sich in ihnen ebenfalls die 34 so] so ist

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Fähigkeit auf demselben Weg das gemeinsame Leben in sich aufzunehmen entwickelt. Die Frau ist aber erst eine ganz andere und im weiblichen Geschlecht kommt dieß nicht eher zur Entwicklung als wie es selbst in dieses Verhältniß zum Mann tritt. Da entwickelt [sich] durch einen Sprung diese scheinbare Bewußtlosigkeit zum Bewußtseyn, was [sich] in der männlichen Jugend allmählig entwickelt. Allgemein nun so: Die pädagogische Thätigkeit (auf Gesinnung) nimmt zwey verschiedene Formen an in Beziehung auf die männliche Jugend und in Beziehung auf die weibliche. Der Punkt an welchem die Organisation des Gemeinwesens für die männliche Jugend eintritt, in der diese relativ aus der Familie herausgerissen wird wird der Einfluß der Familie auf die geschwächt, das weibliche Geschlecht hingegen wird darauf gewiesen und für sie wird die Art wie die größeren Lebensgemeinschaften in der Familie repräsentirt werden das Entwicklungsprincip. Hier noch: Es gewinnt das Ansehen als ob gerade dadurch alles was Schule heißt für das weibliche Geschlecht ausgeschlossen würde. Aber hier nur die pädagogische Thätigkeit als Entwicklung der Gesinnung. Wir haben diese Nothwendigkeit daß die Erziehung aus der Familie hinaustrete auch gefunden in Beziehung auf die Fertigkeit. Was die männliche Jugend anbetrifft so werden wir sagen wenn auch das Ausbilden der Fertigkeiten das nicht nothwendig macht einen Theil der Erziehung aus der Familie herauszubringen so würde doch die Entwicklung der Gesinnung dieses postuliren unter der Form daß die Jugend in ein gemeinsames Leben eintreten muß. Was die weibliche Jugend anbetrifft so wenn auch die Nothwendigkeit es mit sich bringt, wegen der Fertigkeiten auch ihre Erziehung aus der Familie herauszuverlegen, so müssen wir sagen daß auf die Entwicklung der Gesinnung nach der ursprünglichen Bestimmung des weiblichen Geschlechts dieß keinen Einfluß haben kann sondern daß dieses nur in der Familie gesucht werden muß, und daraus entsteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß das nur | als eine Sache der Noth angesehen werden muß, und nachtheilig seyn kann für die Entwicklung der Gesinnung so daß man sich dabey in Acht nehmen muß, wogegen für die männliche Jugend beydes zusammentrifft, und das verschiedene [muß] auch wirklich die Art seyn, wie sich die Sache wirklich verhält. Dadurch noch nicht der eigentliche Gehalt in der Fortschreitung der Entwicklung in der Gesinnung bestimmt. Wenn die Erziehung beendigt ist besteht dann auch mit Zustimmung der Gemeinschaften eine Ungleichheit der Einzelnen in Beziehung auf die Gesinnung? Wenn wir hier zum Grunde legen das vor uns liegende, die Art wie 1 sich] ihnen 24 Leben] Lebens nachleithig 40 Art] Art wie die Art

26 wegen] davor daß

32 nachtheilig]

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diese Gemeinschaften organisirt sind, so erscheint uns auf der einen Seite das Verhältniß gleich auf der anderen Seite eine bedeutende Differenz, nähmlich die bürgerliche Gesellschaft so wie die religiöse zerfallen wieder in einen relativen Gegensatz – indem es darinn leitende gibt und solche die geleitet werden. Wenn lauter solche wären in einer Generation, welche als leitende aufträten so würde es ein Mißverhältniß werden[,] noch mehr aber wenn lauter solche wären, die zu leiten wären. Wenn wir fragen, worauf diese bey beyden beruht. Nicht auf demselben, nähmlich – In der religiösen Gemeinschaft [liegt] gar nicht die Voraussetzung zu Grunde, daß eine ungleiche Entwicklung der Gesinnung die Basis wäre von diesem relativen Gegensatz der auf unserer Seite gar nicht zu berücksichtigen wäre. Es wird überall postulirt, daß die Gesinnung zugleich solle wirken auf andere, und dieß ein rein gegenseitiges Verhältniß – daß einzelne mehr zu wirken im Stande sind das zu repräsentiren was in allen dasselbe ist. Wenn dieses so besteht daß in den Laien die Gesinnung bloß als Receptivität gesetzt wird da würde das Vorhergesagte nicht gelten. Nun wollen wir uns an das Zuerst aufgestellte halten, weil die religiöse Gemeinschaft überall diesen Entwicklungsgang nimmt daß jede Ungleichheit als eine verschwindende erscheint, wenn die Geschichte überhaupt einer inneren Fortschreitung fähig ist. Nun aber auf der Seite der bürgerlichen Gemeinschaft? Wenn wir dasselbe aufstellen wollen als das es soll keine Ungleichheit seyn in dieser, die Gesinnung wird in allen als gleich gesetzt, so machen wir alsdann eine Voraussetzung, die wir in der gegenwärtigen Form des bürgerlichen Lebens fast nirgends realisirt haben, geltende Voraussetzung daß in der Masse die politische Gesinnung nur als Receptivität ist. Erst wieder weiter hier zu erforschen ob das ist was bleiben soll, oder ob durch Erziehung auch dieses allmählig verschwinden möge und die Gleichheit der bürgerlichen und religiösen Gemeinschaft wieder hergestellt wird. Das könnten wir nirgends her erfahren als aus der wissenschaftlichen Begründung der Sache in welcher allein der Begriff der Sache liegt welchem sich die Erscheinung immer mehr annähern soll. Indem wir das dahinn gestellt seyn lassen, so wird das müssen freygelassen werden und daraus folgt wo in der bürgerlichen Gemeinschaft eine Voraussetzung einer solchen Ungleichheit ist, da müsse die Erziehung auf dieser mit basiren aber nicht so daß die Möglichkeit ganz ausgeschlossen würde daß die Ungleichheit eine verschwindende seyn könnte. Nichts hilft uns heraus als die Formel, die wir schon gebraucht haben. Die Ungleichheit 5–9 Vgl. SW III/9, S. 227 „Es ist also eine Ungleichheit postulirt unter denen die in die Gemeinschaft treten. Worauf beruht diese? Das Verhältniß in Beziehung auf diese beiden Gemeinschaften ist nicht gleichmäßig.“

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und das Zurückbleiben einzelner QhinterR den anderen in Beziehung auf die Entwicklung der Gesinnung soll niemals nur als Werk der Erziehenden erscheinen, sondern es soll in der Freyheit derer die erzogen werden mit ihren Grund haben, als dann wird sich von selbst ergeben, daß wenn eine Generation aufwächst in welcher sich kein solch freywilliges Zurückbleiben findet dann wird auch die Ungleichheit aufhören. Hier kommen wir auf dieselbe Formel und die Nothwendigkeit gewisse Punkte zu setzen, wo dieses sich nun ausschließt. Das Auseinandergehen der Erzogenen vermittelt durch verschiedene Differenzen die aus ihnen selbst hervorgehen. Was die relig iöse G em e i n s c h a ft betrifft – wenn wir unsere Welt als die christliche setzen so ergibt sich von selbst daß die Unterschiede welche hier statt finden nicht von der Art sind, daß wir auf besondere Umstände Rücksicht nehmen müssen, denn auch die größte Verschiedenheit innerhalb christlicher Gemeinschaften als Gegensatz zwischen Priestern und Laien ist doch nicht so daß gesagt wird die Gesinnung steht bey den einen höher als bey den anderen. Hier ein solches Zurückbleiben nicht als dasjenige gesetzt woran wir anzuknüpfen hätten, sondern die mögliche Stelle, die in der Folge die Einzelnen in der religiösen Gemeinschaft einnehmen hängt nicht ab von einem höheren Grade der Gesinnung, sondern nur der Entwicklung von Fertigkeiten. Ist aber auch eine Differenz der Gesinnung im Gebiethe des Erkennens und ist eine Differenz der Gesinnung auf dem Gebieth des freyen geselligen Verkehrs? Hier müssen wir den Begriff etwas genauer in seinem ganzen Umfange betrachten. Überall das was wir Gesinnung nennen, die Einheit des Selbstbewußtseyns des inneren Impulses als in die Thätigkeit übergehend, diese manifestirt sich immer nur unter der Form der einzelnen Willensacte und wir hätten keine Wahrnehmung als in den einzelnen Willensacten durch Zusammenstellung das zum Grunde liegende innere Princip der Selbstthätigkeit zu erkennen. Alles was wir e r k e n n e n nennen kömmt nur durch Willensacte zustande, wenngleich wir als wir die Formeln theilten in solche auf der Seite der 27 übergehend] übergehend ist 7–10 Vgl. SW III/9, S. 229: „Wenn nun aber doch in gewisser Beziehung eine Ungleichheit in den einzelnen während der Erziehung sich entwikkeln wird: so werden wir auch hier an die aufgestellte Formel wie oben, wo wir dieselbe Formel mit Rükksicht auf die Differenz der Fertigkeit aufstellten, die Aufgabe knüpfen müssen, E s s i n d g ew i s s e A b sc h n i t t e f e st z u se z e n , w o d i e e i n z e l n e n d i e b i s a u f e i n e n g ew i s s e n P u n k t a u f g l e i c h e We i se e rz o g e n w u r d e n , a u s e i n a n d e r g e h e n ; diese Abschnitte aber müssen so gebildet werden, daß bei dem Uebergang zu einer höheren Stufe der Erziehung die erziehenden und die erzogenen ein übereinstimmendes gemeinsames Bewußtsein haben.“

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Receptivität und der Spontaneität das ganze Gebieth unter das erste gestellt haben, so liegt offenbar doch letztlich der Wille zu Grunde und die einfachste Wahrnehmung kann nicht ohne einen Willensact vollzogen werden aber zu einem wirklichen Moment werden sie nur, wenn eine Vorstellung daraus wird. Wenn wir uns fragen: Ist es eine andere Formel, unter welche diese Willensacte gestellt werden müssen wenn wir das Erkennen betrachten wie es sich bey den einen und anderen gestaltet, wie wird sich uns dann die Sache darstellen? Hier werden wir das was wir Wissenschaft nennen als das höchste setzen müssen und sagen dabey liegt eine andere Formel der auf das Erkennen gerichteten Selbstthätigkeit zum Grunde. Wenn Wissenschaft etwas ist was sich überliefern läßt, was durch Receptivität veranlaßt werden kann dann würde dem nicht so seyn. Aber die Wissenschaft muß dafür etwas selbst producirendes seyn, dabey allerdings auf Tradition [bauend], sie kann aber nur Anregung seyn. Wenn wir das Entgegengesetzte suchen das Minimum so ist das da wo das Erkennen nicht etwas in sich zusammen hängendes ist, sondern etwas Vereinzeltes, nur wenn jeder einzelne Act sich auf etwas von anderer Art bezieht da ist nun der Act des Erkennens vereinzelt. | Wo nun kein anderer Trieb ist auf das Erkennen der durch ein solches gestillt wird da ist eigentlich die Gesinnung auf die Beziehung Null. Denn alles Wissen alle Weltanschauung ist alsdann nichts wirklich Gewolltes, sondern die einzelnen Theile derselben in Beziehung auf etwas anderes[,] dieß das Minimum. Liegt etwas noch zwischen beyden? Die Sache so zu stellen: Gibt es einen Zustand wo das Erkennen zwar nur ein um seiner selbst willen gewolltes ist und zusammenhängendes ist aber doch nicht auf jeder Stuffe der Wissenschaft steht, so werden wir diesen Ort wohl sehr stark und auch ausgefüllt haben und gerade in demjenigen Gebiethe was wir nach unserer Weise uns ausdrücken[,] das der allgemeinen Bildung. Denn bey welchem Individuum alles was unter die allgemeine Rubrik des Wissens fällt nur in Beziehung auf ein anderes steht, da rechnen wir ihn unter die Ungebildeten. Aber wenn ein Streben ist, Wissen hervorzubringen, also eine Richtung auf das Denken an sich, da finden wir nicht überall die Richtung auf das Wissenschaftliche, sondern es ist ein Zusammenhang in welchem nur die einzelnen Momente auf andere bezogen werden aber ohne ein solches allgemeines organisirendes Princip wie das 25 beyden?] beyden.

30 ausdrücken] auszudrücken

32 ihn] sie

20–22 Vgl. SW III/9, S. 231: „Wo nun ein anderer Trieb ist auf Erkenntniß als der, der durch ein solches Erkennen gestillt wird, da ist eigentlich alle Gesinnung in dieser Beziehung Null.“

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Wissenschaftliche. Wenn wir uns das fixiren wollten so weit nöthig so ist das Minimum der m e c h an i s che, rein empirische Standpunkt, das Maximum der w i s s e n s c ha ftliche oder specula t iv e das was wir in die Mitte gestellt haben ist das hist orische. Nicht so zu verstehen als ob dadurch zugleich die Geschichte des Erkennens sollte bestimmt werden wiewohl in der Sprache sich eine gewisse Hinneigung dazu manifestirt. (Naturgeschichte, keine speculative Tendenz, sondern nur ein solches Wissen wo ein einzelnes auf einen einzelnen Act bezogen wird.) Nun auf das Gebieth des freyen geselligen Verkehrs ob da ebenfalls eine Differenz der Gesinnung stattfinde. Wenn wir hier uns alle verschiedenen menschlichen Zustände vor Augen halten, so finden wir freylich bedeutende Differenzen die aber nur extensiv erscheinen. Solche Zustände wo der gesellige Verkehr auf den Umfang der bürgerlichen Gemeinschaft beschränkt ist und andere wo der gesellige Verkehr einen größeren Umfang hat. Diese Differenz erscheint allerdings als etwas bloß extensives, wir haben eine Differenz in der Entwicklung des Bewußtseyns aber dabey zu Grunde liegend. Im ersten Fall ist die Differenz nicht entwickelt zwischen der politischen und allgemein menschlichen Zusammengehörigkeit und weil nun die politische Zusammengehörigkeit überwiegend das Leben dominirt, so kann auch die gesellige sich nicht darüber erheben. Nun ist dieses offenbar eine Beschränkung auch der Gesinnung denn hier können wir nicht verhindern von einem kommen des Bewußtseyns als des überwiegend passiven und die Liebe als des überwiegend thätig hervortretenden. Denn es wird schwerlich einen geselligen Verkehr über die politische Grenze geben, wenn nicht die Liebe daran gebunden wäre. Hier eine bestimmte Differenz aber sie trifft uns nicht mehr da auf unserem Gebieth diese Voraussetzung nicht mehr hergeht. So wie wir das gemeinsame Leben in seinem ganzen Umfang beachten so ist bey uns eine solche Beschränktheit nicht mehr. Dieses hier müssen wir fallen lassen. Gibt es aber nicht noch andere Differenzen? Form der überwiegenden Receptivität und der überwiegenden Spontaneität. Alles was dieses freye gesellige Verkehr constituirt, geht zurück auf das, was wir in einem weiteren Sinn Kunst nennen, weil darinn nur eine freye gegenseitige Darstellung constituirt wird. Wo in dieser Beziehung Productivität ist da ist eine andere Stellung im gemeinschaftlichen Leben als wo nur Receptivität ist. Ist dieses ein bleibender Unterschied welcher postulirt wird und ob wir hier mehr der Analogie folgen sollen zu dem was sich auf dem Gebieth des Erkennens zeigt, oder auf dem Gebieth der bürgerlichen Gemeinschaft dadurch auch auf diesem Gebiethe müsse die Ungleichheit erscheinen als in der Frey31 Differenzen?] Differenzen.

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heit des einzelnen selbst gegründet, und es müsse sich als ihr eignes Wollen aussprechen auf einem gewissen Standpunkt hier stehen zu bleiben. Was wir so ausgemittelt haben dem fehlt es wohl nicht an Klarheit aber an Einheit vielleicht und weil die Gesinnung überall die zum Grunde liegende Einheit ist so vermissen wir das hier auf eine bestimmte Weise und so mag sich die Aufgabe stellen, das auf eine höhere Einheit zurückzuführen. Indessen für uns nichts nothwendiges, die Aufgabe wäre rein e t h i s c h und wir müssen sie aus unserem Gebieth verweisen.

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Wie haben wir die Erziehung zu organisiren in Beziehung auf ihre Form, damit dem was wir aufgestellt haben Genüge geschehe, also damit die Möglichkeit da sey in der Organisation daß in jedem das Maximum könne entwickelt werden und die Ungleichheit möge daraus nicht entwickelt werden nicht als unmittelbare Tendenz der Erziehung selbst erscheint, sondern auf der einen Seite in der Form der Lebensgemeinschaften gegründet in welche der Einzelne eintreten soll, auf der anderen Seite aber als in der Freyheit der Einzelnen selbst begründet. Die Beantwortung der Frage muß uns den ganzen Schematismus der Erziehung geben, so daß wir hernach zum Einzelnen übergehen können. Drey Punkte in Betracht zu ziehen 1.) Am einen Ende ein Maximum des Einflusses der Familie und ein Minimum des Einflusses der größeren Lebensgemeinschaften und umgekehrt. Dieß gibt uns einen allmähligen Übergang, wo es einen Punkt geben muß, wo die zwey entgegengesetzten Factoren einander gleich sind. 2.) Zustand des einzelnen Menschen wo er für das Ganze seiner Bestimmung in Beziehung auf die Gemeinschaft auf die Lebensformen gleich Null ist und am Ende soll er seyn in vollkommener Angemessenheit zur Erfüllung seiner ganzen Bestimmung wie sie sich an seinem Ort organisirt. Auf der anderen Seite sehen wir die Nothwendigkeit einer Übereinstimmung zwischen denen die erzogen werden sollen und denen die erziehen in Beziehung auf den Punkt wo die Erziehung nun eine andere Richtung nehmen muß. Diese Übereinstimmung nicht etwas, was von selbst a priori da wäre, sie muß zum Bewußtseyn beyder Theile werden, darum die Nothwendigkeit in der Erziehung Abschnitte zu 30–33 Vgl. SW III/9, S. 235: „D ri t t e n s. Wir haben aber auch die Nothwendigkeit gefunden, daß der Erzieher und der Zögling übereinstimme in Beziehung auf die Punkte wo die Erziehung eine andere Richtung nehmen soll in Rükksicht auf die Stellung die der Zögling im öffentlichen Leben einnehmen kann.“

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machen. Ursprünglich zurück auf eine Formel welche die vereinigen. Am Anfang der Erziehung auch die Selbstständigkeit des Menschen Null, also auch wieder allmählige Entwicklung der Selbstständigkeit. Nun haben wir zwey Punkte von wo aus bestimmte Abschnitte indicirt sind. | In der Erziehung muß ein Punkt eintreten wo sich das Subject der Erziehung und die Erziehenden verständigen über ihre besondere Lage in dem gemeinsamen Leben als selbstständig. Zwey verschiedene Theilungspunkte und die Erziehung [gliedert sich] so in drey Abschnitte: 1.) Wo die Erziehung ausschließend im Inneren der Familie geschlossen ist. Der dritte fängt an mit dem Punkt wo sich der einzelne über seine künftige Bestimmung verständigt hat, die eigne pädagogische Thätigkeit nur noch partiell; zwischen diesen die mittlere Periode der Erziehung die uns dadurch charakterisirt ist, daß am Anfang derselben der Einfluß der bürgerlichen und religiösen Gesellschaft auf die Erziehung eintritt, und daß sich während derselben die Selbstständigkeit in Beziehung auf die Weltanschauung sowohl als auf die vom Willen ausgehenden Actionen so weit entwickeln daß hernach das Urtheil des Zöglings über sich selbst kann als ein bestimmendes Element aufgenommen werden. Diese Eintheilung [ist] erst noch in allen seinen Gliedern etwas näher zu betrachten, ehe wir zur weiteren Entwicklung der Aufgabe in den einzelnen Theilen übergehen. Wenn wir die ganze Erziehung betrachten in Beziehung auf ihren Endpunkt in Hinsicht auf die Entwicklung der Fertigkeiten und dann auf die Entwicklung der Gesinnung und betrachten wie uns der Zustand erscheinen wird am Ende des 1. Abschnitts der Erziehung so folgt daraus solche Fertigkeiten die einem besonderen Beruf angehören haben in dieser ersten Periode keinen Anlaß entwickelt zu seyn; denn alsdann könnte auch schon das Urtheil eintreten über die künftige Laufbahn aber die Selbstständigkeit muß sich erst anfangen zu entwickeln im gemeinsamen Leben und nicht im Inneren der Familie. Von dieser Seite die erste Periode der Erziehung rein propädeutisch, woraus folgt, 23 Endpunkt] Endpunkt nimmt 4–8 Vgl. SW III/9, S. 235–236: „Vi e rt e n s. Wir haben zwei Punkte von wo aus uns bestimmte Abschnitte indicirt sind; zuerst, E s k a n n n i c h t a l l m ä h l i g g e s c h e h e n , d a ß d e r S ta a t u n d d i e K i rc h e e i n e n b e st i m m t e n E i n f l u ß e r h a l t e n a u f d i e E r zi e h u n g , so n d e rn d e r Z ö g l i n g m u ß i n e i n e m b e s t i m m t e n M o m e n t i n e i n g em ei n s a me s L e b e n e i n g e f ü h rt w e rd e n ; sodann, D e r P u n k t w o s i c h d a s S u b j e ct d er E rz i e h u n g u n d d i e e rz i e h e n d e n v e r s t ä n d i g e n ü b e r d i e B e r u f s w a h l , k a n n m i t d e m e rst e n P u n k t n i c h t z u s a m m e n f a l l e n . Die Verständigung wird erst später zu Stande kommen, | erst dann wenn das gemeinsame Leben der Jugend zur Anschauung gekommen ist; jener Einfluß des gemeinsamen Lebens muß aber schon früher beginnen.“

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daß dieses die Periode ist, wo überhaupt in der zu erziehenden Jugend die Gleichheit dominirt und die Ungleichheit man mag sie nun für erst durch die Erziehung entstehend oder für persönlich angeboren oder angeerbt ansehen, entweder noch nicht existirt oder noch nicht zur Erscheinung kommt, so soll uns diese Periode an ihrem Ende die Zöglinge darstellen, woraus folgt, wenn sie das nicht leistet, daß da schon eine bedeutende Ungleichheit in ihnen erscheint, so werden wir das müssen als einen Mangel ansehen, welcher auch außer der Erziehung seinen Grund haben kann. Wovon wird also der gute Erfolg in dieser Periode der Erziehung abhängen? Offenbar davon wie allgemein verbreitet eine gewisse Gleichmäßigkeit von allgemeiner Bildung in den Familien einer Gesellschaft ist, dann werden die Zöglinge auch in hohem Grad einander gleich seyn, wo dieß fehlt und gewisse Klassen der Gesellschaft in allgemeiner Bildung hinter den anderen stehen, da wird allerdings ein Mangel entstehen; aber also wird auch ein Überfluß entstehen können. Wenn wir dieselbe Voraussetzung annehmen, gleichmäßig verbreitete Bildung, aber neben dieser auch noch eine besondere Bildung, so soll diese eigentlich für die Kinder in der Erziehung Null seyn, sonst wird eigentlich auch hier daraus ein Überfluß werden ohne inneren Grund und wodurch eine Ungleichheit für die künftige Generation wird vorbereitet. Nun betrachten wir diese erste Periode in Beziehung auf die Gesinnung so folgt daraus der ganze Gesichtskreis des Zöglings wo die Erziehung in dieser Periode ganz in den Händen der Familie ist, ist auch kein anderer als die Familie und was sich durch den freyen geselligen Verkehr an dieselbe anhängt, da wird eine Ungleichheit seyn, aber das wird mit zu den Cautelen gehören daß aber der gesellige Verkehr soll weniger Einfluß auf die Erziehung haben, weil sie schon eine Ungleichheit hervorbringt, die Erziehung [geht] ganz von der Familie aus. Was haben wir hierinn? Der Keim der religiösen Gesinnung liegt im Verhältniß der Kinder zu den Eltern, wie es die Sprache mehr oder weniger anerkennt, „ein frommes Kind“, „pietas“. Der Keim der religiösen Gesinnung darinn schon mitgegeben, daß sie schon selbst könnte entwickelt seyn ist nicht vorauszusetzen, weil es noch an den Handhaben dazu fehlt, das Kind aber damit beschäftigt so viel es kann durch die Sinne von der Welt in sich aufzunehmen, da muß das Übersinnliche aber relativ zurückstehen. Ebenso folgt daraus daß der Keim der politischen Gesinnung 8 welcher] welcher seinen Grund davor als

23 Gesichtskreis] Gesichtskreises

33 daß]

31–32 Vgl. SW III/9, S. 238: „man denke nur an der Römer pietas und an den im Leben gewöhnlichen Ausspruch, ein frommes Kind, womit gesagt sein soll, daß das Abhängigkeitsverhältniß von den Aeltern in einem Kinde dominire.“

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nun schon in dieser Periode gelegt wird aber ebenfalls ohne alle Entwicklung, nähmlich das Verhältniß der Gleichheit in jeder Familie mehrere zu erziehende, das ist die Basis des Gemeingefühls wie es sich im Verhältniß der Einzelnen ausspricht, ferner das Verhältniß der Ab h ä n g i g k e i t die Basis zum Verhältniß in welchem der Einzelne gegen das Gesetz oder die Sitte steht in größerer Lebensform. Wir haben beydes zwar einander entgegengesetzt. Aber sobald es ein organisirtes gemeinsames Leben der einzelnen geben wird, so tritt nun das eine rein in die Stelle des anderen. Wenn wir die Familie ansehen als organisches Element der bürgerlichen Gesellschaft und integrirenden Bestandtheil des Volkes, so müssen wir in derselben den volksthümlichen Charakter setzen, und sagen daß dieser indem die Jugend aus der Periode der Familie hinaus entwickelt zu werden anfängt, eben so mitentwickelt wird aber ohne zum Bewußtseyn zu kommen, daß darinn noch ein größerer Charakter liegt. In Beziehung auf alle Differenzen welche sich am Ende der Erziehung einfinden, ist also die erste Periode der Erziehung rein propädeutisch. Bey der zweyten Periode folgt daraus es tritt ein gemeinsames Leben ein und die Erziehung bekommt partiell einen öffentlichen Charakter durch den hinzutretenden Einfluß der bürgerlichen und kirchlichen Gesellschaft, welche nicht auf ordnungsmäßige Weise realisirt werden kann ohne daß die Jugend in größeren Massen zusammentritt als es in der Familie gegeben ist. Könnte dieß noch nicht den völligen Charakter des gemeinsamen Lebens finden, diese Form wird immer wie eine erweiterte Familie zu erscheinen haben, so daß die welche den Staat und die Kirche repräsentiren, nur scheinen in die Stelle der Eltern zu treten, aber allerdings auf eine verringerte Weise, weil der physische Einfluß zwischen Kindern und Eltern nicht da ist, und dem Kind außer der Familie dieses doch als etwas Willkührliches erscheint und immer wenn die Sache demungeachtet richtig getroffen ist seine eigne Willkühr anfängt sich zu entwickeln. Da ist also auch schon die Form des Gesetzes indicirt, darinn die Vorarbeit an den Anthteil an jeder größeren Lebensgemeinschaft. | Nun soll in dieser Periode vorbereitet werden die Entscheidung des Einzelnen über seinen besonderen Anthteil an dem öffentlichen Leben wenn er selbstständig hineintritt. Dieß setzt voraus in Beziehung auf die bürgerliche Gesellschaft daß in einem gewissen Grade alle die verschiedenen Verhältnisse in welchen der Einzelne in der Gesellschaft stehen kann, der zu erziehenden Jugend zum Bewußtseyn gebracht werden damit sich die bestimmte Neigung entwickeln und daran heften kann und diese Vollständigkeit um so eher je weniger in der bürgerlichen Gesellschaft a 25 eine] eine eine

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priori Grenzen gestellt sind wo solche sind, da desto früher eine Trennung in der Erziehung weil die einen sich auf etwas vorzubereiten haben was den anderen nichts hilft. Indem nun der Gegenstand dieser Operationen alle diese verschiedenen Beschäftigungen sind, welche in der bürgerlichen Gesellschaft vorkommen, und die Basis dazu allein die verschiedenen Talente welche erfordert werden, so sehen wir wie auf einer verständigen Ansicht des Verhältnisses welches hier statt findet die Vollständigkeit der Erziehung in dieser Beziehung beruht. Denn die Beschäftigungen lassen sich unendlich theilen. Aber nicht so die Talente. Wenn wir darauf zurückgehen was wir festgestellt haben, daß von denen welche in der Gesellschaft regieren auch die Correction der Gesellschaft ausgehen müsse, das Prinzip dieser Correction aber nur in der wissenschaftlichen Bildung liegt und durch diese nur sicher gestellt werden kann, so ist die Frage übereinstimmend von dem Zögling und dem Erzieher zu beantworten ob er eine Tüchtigkeit fühlt, in dieses Gebieth des Regierens einzugehen, wozu die wissenschaftliche Bildung nöthig ist, also muß ihnen diese auch vorgeführt werden. Der wissenschaftliche Geist kann eben in diesen Perioden nicht entwickelt, nur vorbereitet werden und in dieser Beziehung diese Periode auch propädeutisch, aber nicht in Beziehung auf alle einzelnen Beschäftigungen der Gesellschaft die von dieser Differenz nicht berührt werden, sondern in denen jeder sofern er sie betritt als ein Regierter anzusehen ist. Nun wird die Vorbereitung des wissenschaftlichen Geistes durch nichts anderes bewirkt als daß Zusammenhang in den einzelnen Acten des Erkennens hervorgebracht wird. Das ist aber nun das Unterscheidende dieser Periode, und hier sind wir auf dem Punkt [wo] uns das Verhältniß der drey Perioden gegen einander noch von einer anderen Seite erscheint. In der ersten rein propädeutischen Periode ist es nicht anders möglich als daß die einzelnen Acte des Erkennens rein fragmentarisch sind, aber nur vollkommen vereinzelt wenn keins auf den anderen bezogen wird. Diese Vereinzelung mit dem Ausdruck el e m e n t a r i s c h [bezeichnet], so werden wir sagen in der ersten Periode der Erziehung dominirt bloß das elementarische und damit jener mechanische Charakter (der Gesinnung und des Verhaltens etc). In der zweyten Periode dominirt der historische Charakter, wo Zusam6 wie] die

27 einander] einander uns

6–8 Vgl. SW III/9, S. 240: „Die zwekkmäßige Einrichtung der Erziehung beruht demnach auf einer verständigen Ansicht der hier stattfindenden Verhältnisse und auf einer angemessenen Anordnung und möglichen Vollständigkeit der Uebung.“ 20–23 Vgl. SW III/9, S. 241: „nicht aber in Beziehung auf dasjenige was nicht den wissenschaftlichen Geist voraussezt, und das jeder sich angeeignet haben muß, der in irgend ein bürgerliches Geschäft eintritt, wo er ein regierter ist.“

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menhang gebracht wird in die Acte des Erkennens als solche und diese werden die Vorbereitung zur Entwicklung des wissenschaftlichen wenn in dieser Zeit der wissenschaftliche Geist sich regt. Hier sehen wir daß das Ende dieser Periode das ist nach welcher keine gemeinsame Erziehung für alle möglich ist. Für die in welchen sich der wissenschaftliche Geist nicht regt muß nun schon angehen das Vorbereiten auf ihren bestimmten Lebensberuf, für die anderen die Vorbildung auf ihren wissenschaftlichen Standpunkt den sie in der Gesellschaft einnehmen wollen. Hier haben wir Entwicklung des Bewußtseyns in Beziehung auf das Erkennen[,] eine bestimmte Fortschreitung an welcher sich die drey Perioden der Erziehung charakterisiren. Die II. Periode bestrebt den Zusammenhang ins Bewußtseyn zu bringen, und also dem Leben die historische Beziehung zu geben, zugleich Vorbereitung, ob sich die Richtung auf das Wissenschaftliche regen werde. Eben so daß bey dem Ende der selben der Zögling über den Entschluß seiner künftigen Lebensbahn mit bestimmt, daß in dieser Zeit die Entwicklung der Selbstständigkeit bis auf einen gewissen Punkt erfolgen wird und nicht nur um dieses Einen Moments willen, sondern weil von diesem Punkt an indem eine Anerkennung der Selbstständigkeit darinn liegt und auch diese forteifern muß, und der Einfluß der pädagogischen Einwirkung nur noch partiell seyn kann. Dieses [führt] noch auf etwas anderes. Indem diese Periode zugleich den Zögling in ein gemeinsames Leben versetzt und in dem selben sich das Gemeingefühl entwickelt wird dieß befördert daß im einen Fall ein Leben auch anfängt die Form des Gesetzes sich anzubilden auf der anderen Seite die persönliche Autorität noch fortdauert und es in dieser Hinsicht einen Übergang von einem ins andere enthält, so muß also die Entwicklung nicht nur der Selbstständigkeit des Individuums für sich betrachtet, sondern auch die Gesinnung des Individuums im gemeinsamen Leben betrachtet in diese Periode fallen. Diese darf aber nur in einer gewissen Allgemeinheit stehen bleiben, denn der Sinn für das Eigenthümliche einer bestehenden bürgerlichen Gesellschaft kann sich nur entwikkeln einerseits aus der Vergleichung vermittelst des schon in einer gewissen Vollständigkeit entwickelten historischen Bewußtseyns und andererseits wird eine Theilnahme am öffentlichen Leben der bürgerlichen Gesellschaft selbst und zwar unmittelbar. Diese wenn sie nun noch auf der Seite der Receptivität liegt, kann doch in diese Periode noch nicht fallen, das gemeinsame Leben der Jugend unter sich ist das in dieser Periode dominirende damit sich in derselben der Gemeingeist entwickelt. Also die bestimmte Entwicklung der politischen Gesinnung muß so weit als nothwendig ist um in das gemeinsame Leben 18 dieses] diesen

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selbstständig einzugreifen der dritten Periode vorbehalten werden. Dagegen verhält es sich anders, wenn wir auf das Religiöse sehen. Soll in der dritten Periode der eigentlich specifische Charakter des Zöglings als solchem, der Gehorsam zurücktreten und die Selbstbestimmung mehr Raum gewinnen so muß auch ein solches Princip derselben gelegt seyn, was sich indifferent verhält gegen alle die verschiedenen Beziehungen in die der Zögling hernach selbstständig eintreten soll, und wo schon in der III. Periode seine Selbstbestimmung anfängt. Ist aber auf der anderen Seite richtig daß die Gesinnung immer zu gleicher Zeit in der Form des Gemeingeistes sich entwickeln muß so können wir dieses allgemeine Princip nur unter dieser Form entwickeln wollen und nur durch die religiöse Gemeinschaft können wir das entwickeln, das C h r i s t l i c h e ist so etwas Gemeinschaftliches. Da ist nur die religiöse Gemeinschaft etwas schlechthin allgemeines; nicht selbst an irgend einer anderweitigen Form einzelner Gemeinschaften fügend. Wo die Religion politisch ist, da kann die religiöse Gemeinschaft dieß nicht leisten, ebenfalls wenn sie mysteriös behandelt wird und in die große Masse nur fragmentarisch kommt, hat sie nicht Kraft als eigentliche Gesinnung zu wirken. Die religiöse Gesinnung wird dem Gemeingeist bey uns in allen anderen Beziehungen das gehörige Maaß geben damit alles was einzeln behandelt wird unter sich stimmt. So auch das richtige Maaß für das Verhältniß zwischen dem Individuum in seiner Einzelnheit betrachtet und seiner Theilnahme an den größeren Lebensgemeinschaften. Also ist das daraus folgende vereinte Intresse alles im menschlichen Leben Organisirten und daß in dieser II. Periode an deren Ende schon eine Anerkennung der Selbstständigkeit erfolgt, auch die religiöse Gesinnung entwickelt sey, so weit daß man sie als das Princip durch welches die Selbstständigkeit muß geleitet werden ansehen kann. | Dann hindert nichts mehr den Eintritt der Jugend in die religiöse Gemeinschaft selbst sondern nur dann kann im Gegentheil die weitere Fortentwicklung des religiösen Princips erfolgen. Resultat für diese II. Erziehungsperiode: Sie ist propädeutisch in Beziehung auf diejenigen welche hernach noch in die wissenschaftliche Bildung übergehen, in welchen sich während dieser Zeit der wissenschaftliche Geist regt, und die sich selbst nun mit Zustimmung des Ganzen in diese Laufbahn begeben können. So ist aber abschließend die allgemeine Bildung für diejenigen welche im bürgerlichen Leben an dem Regieren keinen solchen Antheil nehmen wollen, doch die wissenschaftliche Bildung ihnen nothwendig werde damit ihre Thätigkeit zugleich die Principien jeder etwa nöthigen Corectur enthalten könnte, sondern in der II. Pe15 anderweitigen] anderweitiger

37 abschließend] abschießend

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riode tritt erst die Vorbereitung auf ihren Beruf ein in den sie Ende dieser Periode eintreten. Aber keineswegs ist sie schon abschließend in Beziehung auf den Beruf den diese erwählen. Dagegen ist diese II. Periode völlig abschließend für die eigentliche religiöse Richtung und das Ende derselben der Punkt wo die Jugend in die Gemeinschaft auf eine selbstständige Weise aufgenommen wird so daß dieses als das erste erscheint was sich in der Erziehung vollendet. Hier nicht unangemessen obgleich nur im Allgemeinen dem Einwurf vorzubeugen, der oft gemacht wird, daß wir uns hier zu sehr nach dem Bestehenden gerichtet hätten; und noch einmal unsere Theorie zu prüfen, ob die Aufnahme in die religiöse Gemeinschaft nicht später erfolgen sollte; denn es könnte zwar das geleistet werden daß die religiöse Gesinnung am Ende der II. Periode so weit entwickelt wäre, daß sie einen Einfluß auf das Gemüth ausüben könnte, um so mehr da ihr Zusammenhang im Bewußtseyn entwickelt ist. Aber es sey nicht nothwendig, daß damit schon die vollständige Aufnahme in die religiöse Gemeinschaft verbunden sey, sondern so wie hernach noch eine Vorübung statt finde vor dem definitiven Eintritt ins bürgerliche Leben so könnte sie hier auch noch fortgehen, und der selbstständige Eintritt in die religiöse Gemeinschaft gleichzeitig erfolgen mit dem Eintritt in die bürgerliche Gemeinschaft. Darüber noch folgendes: Allerdings muß der Eintritt in die religiöse Gemeinschaft ebenfalls wieder ein gemeinsamer Act seyn und die gemeinsame Zustimmung haben des in diese Aufzunehmenden und der Gemeinschaft selbst. Die natürliche Form ist zu sagen diese Aufnahme könne richtiger Weise nur erfolgen, wenn beyde Theile eine gehörige Sicherheit haben können über das Urtheil das diese fällen wenn aber nähmlich dieses Aufnehmen erst nach der III. Erziehungsperiode eintreten soll unter der Voraussetzung daß in Beziehung auf die Aufnahme in die bürgerliche Gesellschaft diese Sicherheit noch nicht da sey, so sollte man glauben, daß sie nun in Beziehung auf die religiöse Gemeinschaft noch nicht da seyn könne und daß weder die Gemeinschaft eine solche Zuversicht haben könne zu dem Gemüthszustande dessen der in sie aufgenommen werden soll, noch der Aufzunehmende eine solche Zuversicht zu seiner Hineingehörigkeit in die Gemeinschaft daß es erscheinen kann als sey der Standpunkt der Sache die wir betrachteten etwas Präcipitirtes. Hier müssen wir verschiedene Fälle unterscheiden. Wenn in derselben Masse, welcher die Jugend angehört, und also im gegenwärtigen Zustande der geschichtlichen und christlichen Welt wie das häufig der Fall ist daß in demselben Staate mehrere Religionsge24 diese Aufzunehmenden] dem diesen Aufnehmenden

25 diese] diese die

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meinschaften existiren, so fragt sich ob wir hier auch eine angeborne oder eine angeerbte Vorherbestimmtheit für einen einzelnen annehmen wollen. Vom Angeerbten kann hier nicht die Rede seyn, das Angeborne müssen wir immer aus unserer Untersuchung lassen, und zufrieden seyn zu sagen daß wie die Erziehung in Beziehung auf eine bestimmte Richtung bedingt ist, dann immer auch schon eine solche bestimmt sich findet. Aber wenn darüber einen Entschluß zu fassen er hier gezwungen sey, in welche Religionsgemeinschaft der Einzelne eingehen wolle, müsse [er] doch die gehörige Kenntniß von Allem haben, und so lange er diese nicht habe, so könne auch in ihm selbst keine rechte Zuversicht seyn. Da müssen wir [annehmen] wo eine solche Mehrheit [von] Religionsgemeinschaften im Bereiche der Jugend gleichmäßig liegt, da allerdings eine größere Reife zu der Selbstbestimmung zu gehören scheint und der Fall in dieser Beziehung ein verschiedener. Indessen geben auch dieses zu so fragt sich immer ist dann die Sache zu beurtheilen so wie wir sie vorher sehen aus dem Standpunkt einer genauen Kenntniß des Ganzen oder rein aus dem Standpunkt des Zöglings der die Selbstbestimmung hervorbringen soll? Offenbar nur aus dem letzten zu beurtheilen, sonst müßten alle Religionsgemeinschaften die im Staat neben einander sind, einen gleichen Antheil haben an der Bestimmung jedes Einzelnen und der Act nicht nur ein gemeinsamer wäre zwischen dem Einzelnen aufgenommenen und Einer Gemeinschaft, sondern zwischen den Einzelnen und allen Gemeinschaften die in seinem Bereich sind. Dieses letztere etwas ganz Unthunliches. Wir haben zwar diese zwey Fälle unterschieden als präsentirten sie etwas Verschiedenes aber wir werden nicht behaupten wollen, daß nach einem anderen Princip verfahren werden müsse, in dem einen oder anderen Falle. Denn fast würden wir sagen müssen, daß die Jugend von allen Gemeinschaften eine vollständige Kenntniß haben müsse um vollständig begründet zu seyn zum Urtheil. Also muß das Princip das dem Bedenken zum Grund liegt etwas Unrichtiges in sich haben. Worinn liegt denn dieses? Darinn daß wir die Sache so gestaltet haben als wenn der Entschluß auf einer Vergleichung beruhen müsse. So wie man diese Maxime aufstellt so begründet [man] den Scepticismus gegen den man kein Mittel in der Hand hat. Wir können ja das Gleiche von der Wahl des Berufs sagen, und von der bürgerlichen Gesellschaft. Da würde also eigentlich das Leben darüber hingehen ehe der Entschluß gefällt werden könnte. Der Entschluß kann also auf diese Weise nicht begründet werden, sondern nur durch ein sich natürlich entwickelndes Verhältniß zwischen dem 1 auch] auch wollen

23 zwischen] zwischen zwischen

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Einzelnen und der Gemeinschaft, welches ihm zur Zustimmung in Beziehung auf dieselbe wird, und wo sich diese nicht entwickeln will durch die Vorbildung, da hat man sodann die Aufnahme auszusetzen. Wenn dieser Fall als ein häufiger gesetzt würde so müßte entweder eine große Schwäche in der Gemeinschaft gesetzt werden daß sie die Kunst nicht hätte, sich die Jugend in ihrem Gebiethe anzueignen, oder ein Mangel in der Thätigkeit der Gemeinschaft für die Jugend sey. Wir müßten annehmen, daß es solche gäbe, in welchen nähmlich die Anlage zum Religiösen in hohem Grade abgestumpft wäre oder ganz und gar fehlte. Wir wollen diese Verschiedenheiten nun näher ansehen. Wir müssen sagen eine große Unvollkommenheit der religiösen Gemeinschaft oder der pädagogischen Einwirkung von ihnen aus ist nicht das, was wir voraussetzen, sondern indem wir die Theorie für die pädagogische Einwirkung auch in dieser Beziehung aus ihren Principien aus einander setzen wollen, so setzen wir voraus, daß die Gemeinschaft diese Principien realisiren könne. | Es würde also nur übrig seyn der Fall, wenn in der gewissen Quantität die eine Berücksichtigung verdient sich nachweisen ließe, daß eine Unempfänglichkeit für das religiöse Leben in der Jugend sey welche der Kraft der Gemeinschaft widerstrebe und die pädagogischen Bemühungen unwirksam mache. In diesem Falle kann der Act der Aufnahme in das Gemeinsame nicht so erfolgen wie wir ihn construirt haben, als dann müßte er aufgehoben werden. Die Natur der Sache erfordert haben wir gesagt daß in dieser Zeit der religiöse Geist so weit entwickelt seyn müsse, daß die Aufnahme erfolgen könnte. Ist dieß in dieser Majorität nicht der Fall, so müsse so lange eine Ausnahme gemacht werden bis sich das wieder ändert. Unter dieser Bedingung kann der Fall eintreten daß die religiöse Gemeinschaft die Aufnahme verweigern kann bis zur Aufnahme in die bürgerliche Gesellschaft. Aber das setzt voraus daß die religiöse Gemeinschaft in dieser Hinsicht völlig frey werden kann und die Aufnahme in diese nicht durch irgend eine fremde Bedingung mit bestimmt sey. Da kommen wir auf einen Punkt, wo es im gegenwärtigen Zustand noch nicht ist wie es seyn soll. Der Preußenstaat verlangt schon die erfolgte Aufnahme in die religiöse Gemeinschaft ehe die Aufnahme in die bürgerliche Gemeinschaft angeht. Denn die Aufnahme in die religiöse Gemeinschaft wird durch fremde Bedingungen bestimmt. Wo das nicht der Fall ist (Nord America) da finden wir 1 welches] welches sich 37–1 Vgl. SW III/9, S. 245: „In den Nordamerikanischen Freistaaten haben auch in dieser Beziehung die Verhältnisse sich ganz anders gestaltet, Staat und Kirche sind getrennt, beide in vollkommener Freiheit. Das nachtheilige was uns daraus hervorzugehen scheint, ist eben nur ein Schein; es ist das uns ungewöhnliche.“

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auch die Praxis in dieser Beziehung anders. Das ein Resultat welches uns für die religiöse Gemeinschaft sehr nachtheilig scheint, das es wenigstens für unsere Gemeinschaft wäre, da Staat und Kirche bey uns nicht absolut getrennt sind. Also müssen [wir] die pädagogischen Einwirkungen in Beziehung auf das religiöse Gebieth in dieser II. Periode der Erziehung so verstärken daß am Ende dieser Periode nie Bedenken gegen die Aufnahme in die religiöse Gemeinschaft statt halten können. Allgemeine Übersicht der III. Periode. Diese in jeder Beziehung die vollkommen abschließende, die pädagogische Einwirkung am Ende derselben Null. Das Wesentliche an derselben[,] weil sie damit anfängt, daß der Einzelne seine Lebensbahn sich bestimmt unter Zustimmung des Ganzen[,] ist[,] daß sie eine Beziehung auf diese hat. Dann ist sie schlechthin und ganz technisch (das Wort im weiteren Sinne als gewöhnlich.) Wir sagten von der II. Periode da könnte der individuelle Charakter des Gemeingeistes in Beziehung auf die Volksthümlichkeit noch nicht zur Entwicklung gekommen seyn. Es ist also auch die Vorbildung für das politische Leben in den bestimmten Staaten was wir unter dem Ausdruck des Te c h n i s c h e n begreifen müssen. Aber dieß führt noch auf einen Punkt, wo wir noch ein mal auf die vorigen Perioden zurücksehen müssen. Für die I. Periode haben wir festgestellt, daß darinn der Einfluß der Familie ausschließend seyn soll, dazu gehört daß der gesellige Verkehr noch möglichst geringen Einfluß auf die Jugend haben müsse. Nun ist [es] nicht anders möglich als daß erst im Einfluß dieses Elements sich der politische Sinn und Geist ausbilden kann, denn nur unter dieser Form kann er sich entwickeln, denn in den Staat selbst unmittelbar kann die Jugend in dieser Periode noch nicht hineinsehen. Ein solcher Einfluß des Geselligen Verkehrens muß in dieser II. Periode der Erziehung gegründet werden daß sie zugleich zur Vorübung dienen könnte, damit in der III. eine feste Richtung auf das Leben und den gegebenen Staat entsteht. Auch in Beziehung auf dieses Gebieth die Frage[:] In wie fern die Zustimmung auf der Vergleichung beruhen müßte oder [ ] Wir sehen hieraus weil es so sehr in der Natur der Sache liegt wie sich noch immer in einem großen Theil des Geschichtlichen Gebiethes eine bedeutende Annäherung an das Kastenwesen findet. So immer noch bey uns in der großen Masse der Landleute und kleineren Gewerbsleute besonders in den kleineren Städten. Fragen wir, worinn würden die Mittel liegen um von einer Generation zur anderen die 32 oder] es folgt ein Spatium von knapp einer Zeilenlänge, zu ergänzen wohl auf einem natürlich sich entwickelnden Verhältniß zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. (Vgl. oben S. 679–680, 40–1) 38 von] Von

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Ähnlichkeit mit dem Kastenwesen zu verringern? Bedingt durch das was wir öffentliches Leben [nennen] durch das allmählig eine bestimmte Theilnahme an den verschiedenen Zweigen des bürgerlichen Lebens durch einander [entsteht]. In der I. Periode die Erziehung im Inneren der Familie eingeschlossen so streng daß der Einfluß des geselligen Verkehrs solle ausgeschlossen seyn. Sehen wir, daß das in dieser II. Periode nicht mehr soll, so entsteht die Frage wie der Übergang [erfolgt]? Daß die Basis immer seyn muß das Bewußtseyn von dem Verhältniß der Jugend zu den Erwachsenen[,] die Ungleichheit zwischen beyden, und daß so fern die Jugend immer darinn bleibt, und nicht etwa von den Menschen hinaus gelockt wird. Hier nur ein allmäliger Übergang, die Jugend wird receptiv seyn. Im Allgemeinen uns noch die III. Stuffe zu charakterisiren. Nicht mehr ganz und gar Erziehung – Entwicklung der Selbstständigkeit gewisser Maaßen anerkannt, – in ihnen die pädagogische Thätigkeit selbst sich schon auf jenen Act beziehen muß und ganz technisch sey im weiteren Sinne des Wortes. In der II. Periode ein größeres Zusammenseyn der Jugend die nothwendige Form; dieses darf in der III. Periode keineswegs aufhören, vielmehr soll sie den Übergang bilden in das größere gemeinsame Leben. Wir haben auch so gesehen, daß der Gang der Erziehung selbst nicht mehr für alle derselbe seyn kann, daß von hier aus mehr die Jugend aus einander geht und das gemeinsame Leben sich spalte. Daraus die Vorstellung von kleineren Kreisen, in welchen die Jugend zusammen ist, gleich in dem Beruf den sie sich gewählt. Wenn wir uns denken in der II. Periode der Erziehung das Zusammenseyn der Jugend in Beziehung auf das was in derselben geleistet werden soll, da wäre noch keine Differenz nothwendig könnte sie da ganz und gar zusammen seyn, aber begrenzt durch die Localität. In der III. Periode wird | allerdings diese Begrenzung nicht statt finden. Denn es könnte seyn daß die Anzahl derer die den gleichen Unterricht bräuchten zu gering [wäre] und sie sich [auf] verschiedene Localitäten vertheilen werden. Aber es ist dem klaren Innhalt vorher. Dieses gibt die Vorstellung von special-Innstituten um die Jugend zu bilden zu jedem einzelnen künftigen Beruf. Hier wird aber jeder von selbst sehen, daß die wesentlichste Aufgabe die ist die Thei1 verringern?] verringern.

5 eingeschlossen] ausgeschlossen

24 ist] sind

1–4 Vgl. SW III/9, S. 247: „Das gesellige Verkehr sezt ein öffentliches Leben voraus, wenn es vollständig sein soll, und nur durch das öffentliche Leben entsteht Theilnahme an den verschiedenen Berufsarten und Bestimmtwerden derselben durch einander.“ 30–32 Vgl. SW III/9, S. 249: „In der dritten Periode darf diese Beschränkung durch die Localität nicht mehr stattfinden, sondern aus verschiedenen Localitäten werden verschiedene in die einzelnen nur kleineren Kreise eintreten.“

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lung auf die rechte Weise anzustellen, nähmlich hier öffnen sich von selbst zwey verschiedene Gesichtspunkte. Einmal die Stellung der einzelnen wenn sie als selbstständige Mitglieder eines bürgerlichen Lebens eintreten ihrer Potenz nach, die einen solche deren Berufsweise das mit sich bringt, daß ihr Antheil an der Leitung der bürgerlichen Aufgaben hier nur ein Minimum seyn kann, und andere deren Antheil an der Regierung als ein bestimmter Theil erscheint. Dann aber lassen sich wieder unterscheiden in jeder dieser Abstuffungen eine Menge von verschiedenen Berufsweisen. Soll man bloß bey jener Unterscheidung stehen bleiben, oder diese auch in Betracht ziehen und wie weit? Die einander entgegengesetzten Punkte vorauszustellen und zu befragen. Hier offenbar: Wenn der Gesichtspunkt der verschiedenen Thätigkeiten, Beschäftigungen ganz vernachlässigt wird als dann kann die Erziehung nicht auf so bestimmte Weise vorbereitend seyn für den gewählten bestimmten Beruf: wird aber dieses geltend gemacht soweit möglich, und die Praxis ausschließend gerichtet wird auf den gewählten speciellen Beruf: Alsdann [werden] alle diejenigen die auf einer und derselben politischen Stuffe sollen walten, aber durch ihren speciellen Beruf von einander verschieden sind ebenso weit von einander getrennt als diejenigen die auf verschiedenen politischen Stuffen stehen wollten. Das Bewußtseyn dominirt von diesen verschiedenen Beschäftigungen und darauf das ganze Leben bezogen. Aber das Bewußtseyn vom Verhältniß dieser verschiedenen Stuffen gegen einander verschwindet. Das Ineinanderwirken dieser zwey Stuffen ist das was das ganze bürgerliche Leben bildet. Also geht auch daher die lebendige Anschauung des bürgerlichen Lebens im politischen Sinne verloren, und das Bewußtseyn kann nicht auf die gehörige Weise geleitet werden. So gestaltet würde die III. Periode der Erziehung mangelhaft seyn in Rücksicht auf die politische Gesinnung verloren. Darinn ein gewisses Maaß, damit das Bewußtseyn von den Wechselwirkungen des Staatslebens nicht völlig unentwickelt bleibe. Wir können nicht läugnen daß sich häufig ein System geltend machen will welches der mechanischen Thätigkeit der Vorbereitung zum Beruf die andere Seite völlig aufopfert, sofern es mit Bewußtseyn geschieht, so ist es ein durchaus illiberales System. Geschieht es ohne Absicht – ist es ßάναυσο2. Je mehr das Geschäft nicht allein in mechanischen Fertigkeiten ruht, desto weniger wird ein solches Verfahren zweckmäßig seyn. Können wir uns hieraus einen Canon bestimmen? Das Vorherige nur auf das Gebieth der Fertigkeiten das Gebiet der Gesinnung nur aufs 10 diese] jene 35 ohne] mit

10 weit?] weit. 16 gerichtet] Gerichtet 38 Vorherige] Ausherige

17 speciellen] Speciellen

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Politische. Abgesondert betrachten diejenigen Fertigkeiten welche als Basis des künftigen Lebens betrachtet von solcher Art sind, daß sie eine höhere politische Stellung nicht begünstigen. Vorausgesetzt es gibt solche, so wird die Erziehung in Beziehung auf sie anders müssen werden als in Beziehung auf die die einen solchen Antheil begünstigen. Die Fertigkeiten der zuerst erwähnten Klasse diejenigen die am meisten mechanisch sind, die Fertigkeiten der II. Klasse, diejenigen die überwiegend geistig sind. Für die ersten allerdings eine Theilung der Geschäfte etwas Nothwendiges. Aber sie darf nicht das Ganze dominiren, entweder noch ein anderer Zusammenhang oder sie [ist] in der Zeit so getheilt, daß in der einen Zeit die Gesinnung darinnen, in der anderen Fertigkeit. Wenn wir diejenigen Fertigkeiten betrachten darnach welche einen bestimmten Antheil an der Leitung der bürgerlichen Angelegenheiten möglich machen und diese als die geistigen ansehen hier [kann] eine specielle Theilung entweder gar nicht oder erst eintreten, wenn die politische Gesinnung im Bewußtseyn gehörig entwickelt ist. Die Sache auch so, daß auf dem Gebiethe der mechanischen Fertigkeiten die Theilung der Jugend in Innstitute von specieller Bestimmung Zeitweise eintreten könne und müsse, daß aber in den höheren geistigen Bildungsanstalten eine solche Trennung nicht statt finden dürfe, damit das in seiner Vollständigkeit erhalten werde. Wir haben gesagt daß die II. Periode in Beziehung auf religiöse Gesinnung schon die definitive sey und die Jugend am Ende derselben in die religiöse Gemeinschaft müsse aufgenommen seyn. Nun scheint in der III. Periode von solcher Einwirkung nicht die Rede seyn zu können. Wenn wir dieses so fassen als Vorbild, so können wir nicht läugnen daß der Zustand der Generation in dieser Periode einen besonderen Charakter annimmt, daß die Jugend in religiöser Beziehung schon als selbstständig vorkommen wird, während sie in allen anderen Beziehungen noch immer unter der Leitung der erziehenden Generation steht. Das religiöse Verhältniß als das höchste. | Wenn wir nun ins antike Leben zurücksehen so wird das nicht so aussehen, das religiöse Leben dem bürgerlichen subordinirt. Unterschied zwischen zwar der Hellenischen Erziehung und der Jüdischen beyde Theokratisch aber in der Jüdischen das religiöse nicht untergeordnet. So sehen wir bey uns kann es nicht anders als entgegengesetzt seyn, das Verhältniß zum höchsten Wesen muß das höchste seyn in dieser Beziehung wäre die Jugend selbstständig in der untergeordneten wäre sie noch im Gebieth der Erziehung. Kann dieses so seyn, und wie? ohne Disharmonie in den ganzen Zustand hineinzubringen und eine Vereini12 Fertigkeiten] Fertigkeiten die

24 scheint] scheint es

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gung, die Neigung zur Annäherung mit sich führt, und je mehr die Selbstständigkeit geltend gemacht wird die pädagogische Einwirkung leistet und umgekehrt. Auch wo die größte persönliche Freyheit herrscht bleibt doch gewöhnlich die Unterordnung des Einzelnen unter den allgemeinen Willen und nur die religiöse Gemeinschaft ist nicht anders als ein vollkommenes Zusammenstimmen von Einzelnen, weßwegen man sich hüten muß, die Zwänge der Gemeinschaft zu genau zu bestimmen, wo eine Unterordnung des Einzelnen unter den allgemeinen Willen ist, da bleibt beständig der Gehorsam daß die Form des Gesetzes an die Stelle der persönlichen Autorität tritt. Dieß nur ein relativer Gegensatz. Auf der anderen Seite ist natürlich daß die freye Selbstständigkeit auf das größte hervortritt hier es keiner besonderen Vorübung in Beziehung auf ein Äußeres bedarf, und da am ersten hervortreten könnte, wo bey den einzelnen Willensacten etwas Momentanes zu überlegen ist, und das auf dem religiösen Gebieth der Fall. Soll aber der Wille gestimmt werden mit einer Menge von Rücksichten, so kann dieß nie gleich unter Überlegungen zu Stande kommen. Wir wollen dieses immer so lassen wie es sich uns von selbst gewiesen hat und sagen das Hervorgetretenseyn der Selbstständigkeit wird gerade in sich schließen um so mehr als überall das Religiöse im Einzelnen das Princip der Demuth und der Unterwürfigkeit ist. Es wird nähmlich aus der religiösen Selbstständigkeit in allen anderen Beziehungen, sowohl auf das fortdauernde Verhältniß in der Familie als auf die Vorbereitung zu dem eigentlichen bürgerlichen Zustande diese Selbstständigkeit damit nun die allgemeine Folge haben daß das sichfühlen und die Autorität ein freyer Entschluß ist, und aus ächter Einsicht und richtigem Gefühl vom Verhältniß des Einzelnen zum Ganzen entstanden; und daß nun anfangen kann was hernach das ganze Leben hindurch fortdauern muß, daß jeder einzelne, häufig in dem Fall ist in dem er weiß, daß er mehr Theilnahme an einem allgemeinen Willen der eine Überzeugung ausspricht die nicht die seine ist und sein Bestreben, in der Bildung einer Überzeugung begriffen ist, daß er nicht verlange daß diese Überzeugung die Basis ist und 24 Zustande] Zustande so wird

31 Bestreben,] Bestreben, seine Ü

15–17 Vgl. SW III/9, S. 257: „Dagegen, wo es darauf ankommt die Willensacte mit einer großen Menge von Rükksichten zu vereinigen: da wird der einzelne nur immer nach längerer Ueberlegung also später dazu gelangen sich selbst zu bestimmen; nicht alle werden auch zu gleicher Zeit damit zu Stande kommen.“ 21–26 Vgl. SW III/ 9, S. 257: „Aus der religiösen Selbständigkeit wird in allen anderen Beziehungen doch nur folgen, daß das sich fügen unter die Autorität, sei diese eine persönliche oder gesezliche, ein freier Entschluß ist, hervorgehend aus dem richtigen Gefühl von dem Verhältniß des einzelnen zum ganzen;“

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nicht verlange, seine Überzeugung in dem allgemeinen Willen geltend zu machen. Kein bürgerliches Verhältniß zu finden ohne diese Dupplicität. So findet sich in allen Formen des bürgerlichen Lebens die strengste Disposition wie in den freyesten Demokratischen Regierungsformen. Überall der Einzelne muß ohne den gemeinsamen Willen handeln, und daran arbeiten seine Überzeugung im allgemeinen Willen geltend zu machen. Für den einzelnen Menschen keine nachtheiligere Lage als wenn er ohne Übergangszeit ganz vorzüglich darauf einzusehen habe daß sie die freye Selbstständigkeit verringere, wenn er auf einmal in einen selbstthätigen Zustand übergehen sollte aus dem wo seine Überzeugung gelten soll in einen solchen wo seine Überzeugung noch nicht gelten kann. Dieß erst im Allgemeinen die bestimmten Punkte dieser III. Periode. Noch einiges zu diesem. In Beziehung auf das Ganze Gebieth der Fertigkeiten [hat] diese III. Periode den Charakter nicht mehr allgemein zu seyn sondern technisch. Aber in der einen Klasse von Fertigkeiten die nur mit einer niederen politischen Stellung zusammenhängen eine größere Theilung möglich und rathsam ist. In Beziehung aber auf diejenigen welche eine hohe Stellung im bürgerlichen Verhältniß schon in sich schließen eine solche Theilung nicht rathsam sey damit nicht das Bewußtseyn des [ ] verloren gehe. Die Vorbereitung aber auf das Wissenschaftliche auch zusammen zu halten. Dieses eine so wichtige Sache, auch für unsere gegenwärtige Zeit. Nicht zu läugnen daß eine stete Tendenz statt findet unsere allgemeinen Wissenschaften ebenfalls in solche specialisirte Schulen zu zertheilen, wodurch auch nachtheilige Folgen entstünden, und diese höheren Wissenschaften mechanisirt werden wie alle anderen. Wir gingen davon aus[:] Nur in der Wissenschaft die Principien zu einer Übersicht der menschlichen Verhältnisse in ihrem Zusammenhang aus welchen alle Correction von der regierenden Elite ausgehen kann. Darinn liegt daß was sich in unserer Praxis seit langer Zeit auf das bestimmteste ausgesprochen hat, daß wir aus der Klasse derer die am meisten zu regieren genommen haben Bil-

12 erst] Erst 13 Periode] Punkte 20 des] es folgt ein Spatium von etwa 3 cm Länge, zu ergänzen wohl gemeinsamen Charakters (vgl. SW III/9, S. 251) 23 Tendenz] Tendenz ist 7–12 Vgl. SW III/9, S. 257–258: „Nun müssen wir gestehen, es könnte für den einzelnen keine ängstlichere Lage geben, als wenn er ohne einen solchen Uebergang wie die dritte Periode bildet, aus einem Zustande wo seine Ueberzeugung gar nicht galt plözlich in das bürgerliche Leben eintreten sollte, aus der Unselbständigkeit in die Freiheit, in einen Zustand wo er seine Ueberzeugung geltend machen darf. Dazu würde die Kraft wol feh|len; wenn er auch eine Ueberzeugung hätte, würde er nicht im Stande sein sie geltend zu machen.“

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dung voraussetzen, da die diese Bildungsanstalten durchgegangen sind. Wenn man fragt was haben da z. B. einer der einst mit regieren soll und nur dadurch daß er einen bestimmten Einfluß auf die Jugend ausübt und der andere der die Streitigkeiten der Bürger schlichtet, was haben diese wohl mit einander gemein? Wenn ihr wollt so gut als nicht s, wenn ihr die Geschäfte in ihrer Vereinzelung betrachtet. Wir werden beydes immer mit einander vereinigt finden, die Richtung und eine völlige Eingenommenheit für einen gewissen Standpunkt. Wer eigentlich davon ausgeht, daß nichts besser seyn kann als es ist, und jene Verbindung nur eine Verschlimmerung wäre. | Es kann nicht anders geschehen als daß die beyden Beschäftigungen vollkommen mechanisirt wer1 voraussetzen] voraussetzt 5–6 Vgl. SW III/9, S. 252 (Zusatz): „Aber so angesehen muß man auch davon abstrahiren, daß in ihnen das Princip zur Verbesserung der bürgerlichen Gesellschaft liege. Ist das bestehende schon vollkommen, dann mag jeder nur seinen speciellen Beruf vor Augen haben; es kann die Rükksicht auf das ganze, in so fern es der Verbesserung bedarf, zurükktreten. Ist man aber noch nicht auf dem Gipfel der Vollkommenheit, dann kann eine solche Vereinzelung nur unrichtig sein.“ 10–12 Vgl. SW III/9, S. 252– 253: „F eh l t d i e A l l g e m e i n h e i t i n d e r B i l d u n g , so f ä l l t a l l e s a u s e i n d e r [ s i c ! ] ; di e Wi s s en s c h a f t a u s i h re m Z u sa m m e n h a n g g e r i s s e n h ö r t a u f Wi s s e n s c h a ft zu s ei n , s i e w i rd Tra d i t i o n , u n d d i e G e s c h ä f t e d e r e n G r u n d l a g e d i e Wi s s e n s c h a ft s ein so l l t e , w e rd e n m e c h a n i si rt . Der Richter hat nichts zu thun als nach dem Gesez das Recht zu sprechen; er soll nur das Gesez auf die einzelnen Fälle richtig anwenden. So angesehen ist das Rechtsprechen ein logischer Mechanismus, der durch Uebung sich leicht zur Fertigkeit bringen läßt. Freilich wird auch durch die Praxis bei einem so me|chanisch gebildeten ein Urtheil über den Werth der Geseze allmählig sich entwikkeln: es ist aber dann nur auf dem Boden der Empirie erwachsen, und es wird nicht damit zugleich der richtige Maaßstab für die nothwendigen Verbesserungen an die Hand gegeben, der allein auf dem Gebiete der Wissenschaft zu finden ist. – Ebenso ist es mit dem öffentlichen Unterricht. Auch bei dem Pädagogen der auf die Wissenschaft sich nicht stüzen kann, wird allerdings ein Urtheil sich bilden über den Gesammtzustand, wenn er doch mit dem Leben noch in Verbindung steht; aber erst nach langer Erfahrung, erst dann wenn sein Einfluß auf das ganze schon in Abnahme ist. Freilich hört man oft von denen welche diese Richtung nehmen, so sei es nicht gemeint; mit jeder besonderen Bildungsanstalt wolle man auch eine allgemeine vereinen. Allein es ist nicht möglich, wenn die Specialschule dominirt, daß nicht die mit ihr verbundene allgemeine Bildungsanstalt von der einseitigen Richtung sollte angestekkt werden. Ganz anders ist es, wenn alle Specialschulen vereint sind und das rein wissenschaftliche für alle dasselbe ist. In den Lehrern die die Wissenschaft als solche vortragen, kann das einseitige nicht Wurzel fassen; die Zuhörer welche schon eine besondere Richtung genommen haben, werden das einzelne nur in seinem größeren Zusammenhang erblikken; alles ist dem Mechanisiren entgegenwirkend. Will man Specialschulen begründen, aber verhüten daß einseitige nur auf Empirie beruhende Urtheile sich bilden: dann muß wenigstens hernach in der Periode der Selbständigkeit ein öffentliches Leben, in welchem die einzelnen Richtungen jedem sich zeigen, und das die einzelnen in Beziehung zu dem ganzen sezt, die aus den Specialschulen heraustretenden aufnehmen. Es würde dann allerdings die Bildung viel früher und gründlicher können bewerkstelligt werden und der Mangel sich leichter ausgleichen.“

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den. Es wird alles bloße Tradition wenn es aus dem Geschichtlichen Zusammenhang herausgerissen ist. Auch nicht zu läugnen, daß hernach in der Praxis allmählig ein Urtheil über die Güte der Gesetze oder ihre Mangelhaftigkeit entsteht. Aber es hat da einen anderen Gehalt als auf dem Boden der Empirie. So auch im öffentlichen Unterricht sobald man das gesammte Leben kennen zu lernen sucht so wird sich ein sicheres Urtheil entwickeln, daß der beobachten kann wie vortheilhaft der Unterricht eingerichtet ist. Freylich hört man oft so wäre es nicht gemeint, sondern man wolle durch jene solche Bildungsanstalt auch eine allgemeine Bildungsanstalt vereinigen. Anders wenn diese Spezialschulen vereinigt sind da kann die Neigung zu Einseitigkeit in der Behandlung in denen die da mittheilen sollen nicht liegen. Unmöglich etwas verderblicheres als solche wissenschaftliche Specialschulen, da wo ein öffentliches Leben noch fehlt. Wenn wir diese III. Periode mit ihrem Endpunkt vergleichen und fragen ob in Beziehung auf denselben das zu fordernde zustande sey so haben wir zweyerley aufgestellt, einmal die pädagogische Thätigkeit unter der pädagogischen Einwirkung der Eltern als ein abgeschlossenes Lebensganzes betrachtet aber gesagt es müsse ja nicht die Form des ganzen Lebens tragen, in allen Theilen seyn, wo alles unmerklicher Übergang ist. Nun liegt der unmerkliche Übergang darinn daß alle persönliche Autorität sich immer weiter zurückzieht, so daß sie am Ende dieser Periode als bestimmtes Element wirklich verschwinden kann und dagegen nun die persönliche Selbstständigkeit sich immer mehr geltend macht und auch schon im pädagogischen Verhältniß das eigne Urtheil immer größeren Einfluß gewinnt. Betrachten wir diese Form des gemeinsamen Lebens der Jugend in der III. Periode so folgt daraus es wird dieses nur leisten wenn auch schon da dem Urtheil des Einzelnen ein gewisser Einfluß zugeht, wenn ein Verhältniß zwischen denen welche hier die erziehende Generation repräsentirt und dem Erzogenen kein anderes Verhältniß als in der vorhergehenden Periode findet ist die Aufgabe nicht gelöst. Übergang in gesellschaftliche Existenz womit dem einzelnen Urtheil ein größerer Einfluß gestattet ist. Es scheint zu Unbequemlichkeiten zu führen, wenn die Jugend ins öffentliche Leben eintritt und bestimmt ist am Regieren Theil zu nehmen so muß sie doch unterworfen seyn und eine Stuffe einnehmen welche dem eignen Urtheil wenig Bedeutung nur einräumt bis sie sich in den be2 daß] daß sich

37 einräumt] eingeräumt ist

20–21 Vgl. SW III/9, S. 254: „Wir müssen aber immer uns erinnern, daß nur durch allmähligen Uebergang die Entwikklung sich vollendet.“

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stimmten Geschäftskreis eingelebt hat. Die III. Periode als fortgehende Erziehung betrachtet fordert eine solche bestehende Freyheit der Selbstbestimmung. Es fordert aber auch einen Fortgang des Zustands des sich Gebunden Wissens. [Über] diese verschiedene Behandlung der Erziehung in dieser III. Periode eine allgemeine Entscheidung nicht zu geben, es hängt von der Größe der Differenz ab von dem Verhältniß in welches hernach der Einzelne als Mündiger ins bürgerliche Leben tritt und dem Verhältniß in welches er als Anfänger in den bestimmten Geschäftskreis tritt. Hat das bürgerliche Leben einen bestimmten Typus angenommen, in welchem es eine lange Periode seiner Existenz durchläuft und es findet sich in einem Zustand der Ruhe, dann muß die Vereinigung der höchsten Bildungsanstalten in diese Übereinstimmung hineinführen. Aber auch nicht daß nicht sollte im Staat selbst ein stärkeres Bewußtseyn entstehen daß wenn auch diese Übereinstimmung nicht entwickelt sey, daraus kein Nachtheil entstehen könne, sondern die Gewalt des Ganzen immer hinreichend sey, um die Einzelnen in der Ordnung zu halten. Ist aber das gemeinsame Leben im Schwanken, so ist eine Neigung, daß der Einfluß der Einzelnen auf das Ganze sich zuerst steigert, und so treten sie wohl mit zu großen Ansprüchen auf die Einwirkung auf das Ganze ins öffentliche Leben hinein. Doch ist natürlich daß jetzt eine Gährung ist in Beziehung auf die Principien der Erziehung. Alle Ansichten die aus einem solchen Zustande hervorgehen berücksichtigen wir bey unserer Theorie nicht. Die Abschnitte die wir gemacht haben sind aus der Natur der Sache her. Wir gingen dabey von verschiedenen Beziehungen aus, und da wäre es wunderbar, wenn die Punkte verschiedener Beziehungen aus immer sollten genau zusammenfallen. Eben so haben wir immer auf das Ende der Erziehung Rücksicht genommen. Es ist natürlich daß die spätere Periode in Beziehung auf einige Stände und Klassen früher [beginnt] in Beziehung auf einige später. Daß z. B. die Zeit der Aufnahme in die religiöse Gemeinschaft und der Anfang der III. Erziehungsperiode nicht immer genau zusammenfallen. Alles bezieht sich demungeachtet auf die Punkte von denen wir ausgegangen sind, sie fallen nur in einen bestimmten Raum, fallen aber keineswegs immer genau zusammen. Wenn wir bey Behandlung der einzelnen Abschnitte 1 eingelebt] hereingelegt

4 diese] Diese

19 steigert] scheidet

22–24 Vgl. SW III/9, S. 255: „Die Theorie der Erziehung bezieht sich auf den natürlichen Zustand des ganzen; solche Zustände sind nur vorübergehende Mängel; wir werden erst in der Entwikklung der dritten Periode selbst Gelegenheit nehmen auch diese Zustände zu berükksichtigen.“

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auf verschiedene Beziehungen kommen werden wird das Nähere zu sagen seyn. |

Erste Periode.

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Wir haben sie propädeutisch charakterisirt – ins Innere der Familie hineinfallend; sie soll begrenzt werden durch das Eintreten in einen solchen Zustand in welchem die Erziehung zugleich eine öffentliche ist – in der Schule. Natürlich daß hier eine große Differenz in dieser Zeit statt findet in den verschiedenen Ständen. Wo man sich in der Familie selbst mehr mit den Kindern beschäftigt hat, wird die Erziehung selbst in der Familie länger bleiben können. Wo aber die Eltern ganz in der Berufsthätigkeit aufgehen, und sich innerhalb der Familie Hülfe zu schaffen das Vermögen nicht haben, so erfolgt da das Eingehen in die öffentlichen Anstalten früher. Einen allgemeinen Grenzpunkt nicht zu bestimmen. Was setzen wir aber innerhalb dieser Periode? Der Charakter propädeutisch, worinn die eigentlichen pädagogischen Einwirkungen immer in Beziehung auf die Ausbildung der Fertigkeiten nur auf fragmentarische Weise auftreten, und eine bestimmte Regel dabey zu Grund liegt, so bilden sie doch kein organisches Ganzes, sie sind den freyen Wechselwirkungen des Lebens untergeordnet, dieses der den ganzen Abschnitt dominirende Charakter daß die absichtlichen pädagogischen Thätigkeiten sich an die Einwirkungen der Familie anschließen. Aller bestimmte Unterricht auf verschiedene Gegenstände, Zweige, wird aus dieser Periode ausgeschlossen. Auch hier eine bestimmte Unterscheidung zwischen den unwillkührlichen Einwirkungen und den absichtlichen nicht zu machen, das Zusammenleben ist eine Indifferenz von diesem. Es solle erst aus dem Zusammenleben in welchem sich erst die persönliche Eigenthümlichkeit der Individuen manifestirt die Kenntniß derselben entstehen die hernach der Organisation der absichtlichen Thätigkeiten und der Beziehungen derselben auf eine anschließende Bestimmung der Individuen im künftigen Leben zum Grund liegen müssen, dagegen müssen wir sagen daß eben deßwegen für die ganze Art des Zusammenlebens nun insofern es von Seite des Erziehenden auch mittheilende Äußerung ist weil es von den absichtlichen Thätigkeiten nicht verschieden ist, dieß hier mit hineinziehen. Ein unterstützendes Zusammenleben in jedem einzelnen Act woraus sich erst die Prämissen zur Organisation absichtlicher Thätigkeiten in der II. Periode ent11–12 Familie] Familie keine

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wickeln müssen. Eben dieses deßwegen die Basis alles Folgenden und aller absichtlichen pädagogischen Einwirkungen. Wenn hier das Verhältniß des Erziehenden zu denen die erzogen werden verfehlt wird so wird dadurch eine Erziehung in den folgenden Perioden unmöglich gemacht. Wir haben es hier zu thun mit der Periode der Kindheit, begrenzt durch das Eintreten in die eigentliche organisirte Erziehung, die ihrem wesentlichen Charakter nach eine öffentliche ist. In dieser Beziehung haben wir einen Unterschied gemacht zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht. Für die Knaben in der Natur der Sache, daß sie in ein gemeinsames Leben von größerem Styl hineintreten müssen, für das weibliche Geschlecht nicht, dieses eigentlich immer in der Familie, eine mehr persönliche Erziehung der Töchter aber oft eine Sache der Noth. Demungeachtet ist im Umfang dieses Abschnitts kein wesentlicher Unterschied in Beziehung auf die Geschlechter zu machen. Auch für die Töchter muß ein Abschnitt eintreten, wo das bloß fragmentarische in der Erziehung aufhört, und sie in einen Zusammenhang unter einander gebracht werden. Geschieht dieß in der Familie wird ein allmähliger Übergang seyn aus dieser Periode in die folgende. – Können wir diesen ganzen Abschnitt als ein ununterbrochen fortgehendes uns construiren, oder gibt es innerhalb desselben einen Absatz in der Natur der Sache gegründet? Die Frage aus dem bisherigen. Wir halten [uns] da immer an die beyden entgegengesetzten Formen, die ganze Erziehung unter der Form der allmähligen Entwicklung zu betrachten – und das Ganze in Abschnitte zu theilen. Wir haben hier gerade einen solchen Punkt der physischen Entwicklung, von der größten Bedeutsamkeit weil ein ganz anderes Verhältniß eintritt und andere Mittel für das einwirkende Zusammenleben nach demselben als vor demselben [da sind,] die A neig nung de r S p r a c h e – größere Sicherheit in der Auslegung ihrer eignen Äußerungen und alsdann ist die Sicherheit in dem System der Wechselwirkung. Auch das nicht plötzlich sondern allmählig – aber in einem 7 In] davor mit Einfügungszeichen über der Zeile Wir haben 21 gegründet?] gegründet.

19 Periode] Familie

11–13 Vgl. SW III/9, S. 262: „das weibliche Geschlecht dagegen müsse die Repräsentation der großen Lebensgemeinschaft in der Familie finden; die öffentliche Erziehung der Töchter auch in Beziehung auf Entwikklung der Fertigkeit sei Sache der Noth.“ 29–31 Vgl. SW III/9, S. 263: „Jedem muß gleich klar sein daß eine viel größere Sicherheit und Bestimmtheit im Zusammensein mit den Kindern stattfinden kann sobald ihnen die Sprache gegeben ist, weil wir von da an weit sicherer wissen ihre Aeußerungen auszulegen, und weil die Sprache dann in das System der Wechselwirkung eintritt, während sie vorher nur Reizmittel war, also einseitige Einwirkung.“

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gewissen Zeitraum eingeschlossen, als Thatsache betrachtet auch in dieser Beziehung eine große Verschiedenheit vorkommend. Zwey entgegengesetzte Formen. Manche Kinder fangen zeitig an abgebrochen zu reden aber lange nichts zusammenhängendes, andere die lange keinen Versuch machen, hernach aber ist die Entwicklung bis zur zusammenhängenden Sprache weit schneller – Charakterverschiedenheiten und das die erste Thatsache woran sich solche bestimmt manifestiren. Das Factum selbst daß die Kinder beginnen sich die Sprache anzueignen in seinen ersten Anfängen von zweydeutiger Auslegung ist. Man muß zweyerley unterscheiden. Das eine die organische Operation die articulirten Töne hervorzubringen, das andere die Verbindung dieser Operation mit der des Vorstellungsvermögens, des Bewußtseyns überhaupt des geistigen Wesens der Sprache. Viele Versuche können allerdings bloß das erste seyn, andere bloß das zweyte. Wenn wir die ganze Operation betrachten, so ist sie keineswegs etwas Momentanes. Was dann der eigentliche Hauptpunkt? Drey wesentliche Elemente. Das erste die o r g an i s c h e O p er a ti o n die Bildung articulirter Töne, dann die E n t w i c k l u n g d e r Op e r at i on de s Bew ußt sey ns bis auf den Punkt einen Satz zu bilden und in der Sprache auszudrücken, davon verschieden die Auffassung des grammatischen Mechanismus in der Sprache. Das letztere können wir nicht als den Punkt der uns innerhalb unseres Abschnitts die Grenze zweyer Abtheilungen geben soll bestimmen, | da nun viele Menschen nie damit recht zustande kommen indem viele nicht zur grammatischen Vollkommenheit gelangen. Eben so das erste Element die rein organische Operation das Bilden articulirter Töne kann das Hervorragende auch wieder nicht seyn. Wenn wir uns das vom II. Element getrennt denken, so wäre es ein Abschnitt für einen Star oder Papagey etc. Dieser Zusammenhang läßt sich nicht trennen. Den Punkt setzten wir als die Grenze, wo das Kind denkt bis es durch die Sprache sich ausdrückt. Periode da die propädeutische Erziehung einen bestimmten Charakter, weil eben nun erst das bestimmt menschliche als höheres Mittel der Gemeinschaft ins Zusammenleben eingetreten. Vor der Aneignung der Sprache bis auf diesen Punkt der Aneignung der Sprache ist die Gemeinschaft immer etwas Unsicheres. Keine Sicherheit des Verständnisses und keine Sicherheit der Auslegung was eine große Unsicherheit ins ganze geistige Zusammenleben bringt. Daraus von selbst auch der ganze Charakter der ersten Abtheilung dieser Periode die Behandlung der Kinder bis zur Sicherheit hieraus allein sich hinreichend bestimmen lasse. Wenn wir den Gehalt des 1. Abschnitts uns vor Augen stellen so müs1 Zeitraum] Raum die] erste die die

4 zusammenhängendes] zusammenhängendes reden

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sen wir besonders auf den Anfangspunkt zurückkehren. Die Geburt ist es wohl, vor der Geburt für die Mutter rein medicinische Regeln. Die erste Frage ist[:] Was geht mit dem Kinde für eine Veränderung in der Geburt dem Anfang aller Erziehung vor? Das Leben ist schon da gewesen auch in der Form der willkührlichen Bewegungen auch Ernährungsprocesse doch in einem Zustande der vollkommensten Passivität. Die wesentlichen Lebensthätigkeiten sind die Respiration und der Blutumlauf. Dieses betrifft rein das physische des Lebens. Hier tritt in die wesentlichen Operationen die eigne Thätigkeit ein die wir nicht willkührlich nennen können. Das Gemeinschaftlichste des Lebens die Cirkulation wird noch fortgesetzt von der Mutter bedingt. Das Wesentliche ist nun die unmittelbare Communication in die das Kind mit der Welt tritt. Das Kind nimmt auch für sich schon Einwirkungen aus der ganzen umgebenden Welt auf. Wir haben zweyerley vorzüglich zu betrachten: Die weitere richtige Entwicklung der angefangenen Thätigkeit des Lebens so weit sie einer Unterstützung bedarf, dann die Frage[:] Ob und wie eine pädagogische Einwirkung nothwendig ist, das richtige Maaß herzustellen in Beziehung auf die Einwirkungen welche das Kind aus der umgebenden Welt empfängt. Was das erste betrifft so ist die 1. Lebensunterstützung die Ernährung durch die Muttermilch. Wenn wir die Erfahrung nicht für uns hätten, daß die natürliche Ernährung nicht oft gestört ist durch Anomalien, so würde hier nur zu bestimmen seyn, wie lange diese Ernährung fortdauern soll, und auf welche Weise der Übergang gemacht werden soll zu vegetabilischen oder animalischen Stoffen. So aber müssen wir auch die Ausnahmen in Rechnung bringen und fragen was in solchem Fall zu thun ist. Zuerst finden wir es verwerflich ursprünglich aus allgemeinen ethischen Gründen, wenn dieser natürliche Gang der ersten Ernährung auf willkührliche Weise gestört wird, dadurch auch das Grundverhältniß zwischen Mutter und Kind alterirt und die erste physische Basis der natürlichen Liebe wird weggenommen. Zu gleicher Zeit schwerlich zu denken daß dieses gehemmt würde ohne daß das Zusammenseyn der Mutter mit dem Kind geschwächt würde und hierinn liegen die meisten freyen Einwirkungen, die die geistigen Thätigkeiten zuerst hervorbringen. Darinn der Grund zu einem Mangel, von dem man nachher nicht weiß woher er komme. Ist aber die Mut3 Veränderung] Veränderung vor

8 der Blutumlauf] des Blutumlaufs

1–2 Vgl. SW III/9, S. 265: „Als den A n f a n g sp u n k t können wir nur die Geburt sezen. Was die Mutter vor der Geburt zu beobachten und zu thun habe, darüber können wir vom pädagogischen Standpunkt aus nichts bestimmen. Es ist freilich von großem Einfluß auf das Kind, wie die Mutter während der Schwangerschaft lebt: allein das unterliegt rein sittlichen Regeln, und näher medicinischen.“

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ter außer Stande, die Ernährung zu besorgen was gibt es für einen Ersatz? Die Substitution anderer Muttermilch oder die Substitution anderer Nahrungsmittel? Die medicinische Ansicht müssen wir hier bey Seite lassen, die Ärtzte darinn nicht einig. Die pädagogische Entscheidung will eine andere als die medicinische. Es ist allerdings ein ursprünglich individuelles Verhältniß zwischen der Mutter und dem Kind, dem kein vollkommner Ersatz gegeben werden kann, aber der Fall würde ein anderer seyn, wenn die Mutter sich durch eine Person substituiren ließe, die von der möglichst größten Ähnlichkeit mit ihr wäre in aller Rücksicht. Aber die Personen die sich dazu hergeben sind meist aus niedrigen Ständen, meist solche die uneheliche Kinder hatten. Der Einfluß der heftigen Gemüthsbewegungen nach Ärger auf den Proceß der Milcherzeugung ist physisch schädlich, das ist eine Erfahrung. Hier die Frage[:] Ob nicht in Beziehung auf diesen Fall die Substitution anderer Milch etwas gefährliches schiene? Wenn uns dieses Factum so klar gegeben ist und hinweist auf einen solchen Zusammenhang daß die Qualität der Milch mit ein Resultat ist von der Gemüthsbeschaffenheit so fragt sich ob das Factum nicht noch eine andere Seite hat, daß durch die Milch nicht auch eine Anlage zu Gemüthszuständen ins Kind übertragen kann. Es kommt auch von dieser Seite die Erfahrung daß die Ammen auch in geistiger Beziehung in vielen Fällen die Stelle der Mütter vertreten, daß die Kinder einige Züge der Ammen annehmen, so auch im Inneren, im psychischen Gebieth. Geht man noch etwas weiter von einem Standpunkt psychologischer Aristocratie und sagt, wenn wir annehmen daß die Individuen wenn sie zur Reife des Lebens gekommen sind daß damit auch eine gewisse Beschränkung der ethischen Ebene gegeben ist, pflanzt sich diese Beschränkung fort. Ist eine Stuffe der ethischen Entwicklung mit gegeben so fragt sich ob nicht auch durch einen so großen Zusammenhang diese Beschränkung sich fortpflanzen könne. Die Form im Großen scheint dafür zu seyn. Wir müssen fragen[:] Wie zeigt sich das in den verschiedenen Klassen der Gesellschaft? Wir finden dieß freylich wo eine gewisse ethische Beschränkung dominirt sich auf die folgenden Geschlechter fortpflanzen, und auch die erste Periode [hat] ihren Antheil daran. | Es gibt keine Sicherheit daß nicht eine Anlage zur Beschränkung und Gemeinheit sich auf diesem Wege entwickele und das Geschäft der weiteren Erziehung erschwere. Das daraus folgende von dieser Seite angesehen immer als gewagtes Unternehmen, nicht unter allen Umständen gleich, nur nach Maaßgabe der Differenz zwischen der Mutter und der Amme. Nun ist aber noch etwas anderes: Nähmlich daß offenbar das Zusammenseyn des Kindes mit der Mut25 sagt] sagen

28 Ist] Das

29 ob] ob sich

34 fortpflanzen] fortpflanzt

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ter dadurch geschwächt wird, und ein Zusammenseyn mit einer anderen Person entsteht, und daß eine Theilung der Liebe die aus diesem Zusammenseyn sich entwickelt. So lange die Ernährung durch die Milch dauert, nimmt die Amme allerdings die erste Stelle ein, die Mutter die zweyte und dieß kehrt nur nach und nach wieder um, dadurch können auch Fälle eintreten wo die Amme länger bleiben muß, und der nächste Abschnitt der Erziehung muß dann immer schon im Voraus leiden. Hier eine Menge von Geistigen Momenten die immer ungewiß sind ohne daß einer für sich allein eine positive Entscheidung geben könnte, die aber und also Bedenken erregen[,] in Beziehung auf die Entwicklung der Erziehung sehr bedeutend, und welche gegen die Stiftung eines solchen Verhältnisses sprechen. Hat der andere Fall, daß das Kind ohne Muttermilch genährt wird, hat er weniger gegen sich? Hier ist offenbar von geistiger Seite nichts aufzubringen, es müßte jemand die Hypothese aufstellen, daß ein Kind das nicht durch mütterliche Milch genährt, auch das Menschliche in sich selbst nicht so schnell entwickeln würde. Die Erfahrung ist aber nicht für die Hypothese, wir sind bloß auf das Physische gewiesen und wir fragen: Ist das physische so bedeutend, daß man jenes Bedenken dadurch wird beseitigen können? Allerdings jedes andere Nahrungsmittel das man der Muttermilch substituirt dem ersten Lebenszustande des Kindes weniger angemessen, und mit großer Vorsicht hier zu verfahren. Allein diese Vorsicht hat man doch in seiner Gewalt, aber schon die nachtheiligen Einwirkungen, von einer durch Gemüthszustände alterirten Milch hat man nicht in seiner Gewalt. Da ist die reine Vorsicht leichter auszuüben. Wenn die Mutter ihrem Kind so viel Zeit widmet als sie es sonst thun würde, so wird [sie] immer diese richtige Vorsicht ausüben können. Verlangt der Artzt ausdrücklich für das Kind Muttermilch, und ist die Mutter es nicht im Stande, dann ist es freylich ein anderes, aber selten. Die der Muttermilch ähnlichste ist die animalische und wenn diese mit vegetabilischen Stoffen vermischt wird, so wird so der Gesundheit alles Genüge geschehen können. – Das Nächste nach der Ernährung sind die Processe, welche bey der Geburt zugleich sich entwickeln, die Respiration und der Blutumlauf, die bey der Geburt entstehen indem das Kind in den Zusammenhang mit der Atmosphäre gebracht wird. Die Aufgabe besteht nicht diese Processe zu unterstützen, sind sie entstanden so gehen fort nach Maaßgabe der Lebenskraft überhaupt und sind die ersten Manifestationen derselben. Aber allerdings ein plötzlicher Übergang durch die Geburt aus einem Maximum einer Gleichförmigkeit der Umgebung in einen unregelmäßigen Wechsel. Da scheint die Aufgabe zu entstehen für die secundäre, 20 können?] können.

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behütende pädagogische Thätigkeit der Erziehung – ob man diesen Wechsel dem das Kind ausgesetzt wird nicht im Ganzen einschränken müsse. Entgegengesetzte Maximen, einmal eine weichlichere Behandlung in der Erziehung und eine derbe. Die erste wird so aussehen: daß man den Wechsel auf die größte möglichste Gleichheit mit dem Zustand vor der Geburt bringen müßte und jedem Wechsel in der Atmosphäre etwas entgegenstellen das ihn vermeidet. Die andere: daß weil das Leben bestimmt ist in diese Wechselwirkung mit der ganzen äußeren Welt zu treten, und neue Processe entstanden wären so müsse man das ganz der Natur selbst überlassen. Welche von beyden die richtige? oder wie kommt man dazu eine Mittlere zu substituiren? Wenn wir die Sache an sich betrachten so folgt daraus eigentlich fort das eine, auf daß der Mensch seine eigne Atmosphäre hat und sich in derselben auch seine eigne Temperatur bildet. Offenbar daß jeder Mensch vermöge seiner Ausdünstung von einem eignen Dunstkreis umgeben ist. Bey den Kindern in höherem Grade der Fall, weil ihr Blutumlauf ein stärkerer ist, die Temperatur eine höhere. Die Natur hat hier selbst dafür gesorgt. Die Frage[:] In wie fern das ganze Leben ein solches daß es hier den ruhigen Gang der Natur gewähren läßt, oder in wie fern in diesen Neigungen sind die eine besondere Berücksichtigung verdienen? Wenn wir die Frage nicht umsonst beantworten sollen sondern sie unter Bedingungen stellen so sind wir schon auf dem Wege den schroffen Gegensatz zwischen diesen Maximen auf eine bestimmte Weise zu vermitteln. Wir sehen Anfangs ziemlich auf das Leibliche aber wie es unmittelbar in Verbindung mit dem Geistigen steht. Da wird uns der Gegensatz von Empfänglichkeit und unmittelbarer Selbstthätigkeit am besten leiten. Beym letzten zu beginnen. Auf diesem Gebieth haben wir den Gegensatz zwischen der vollkommenen und der unvollkommenen Thätigkeit die aus dem inneren Mittelpunkt des Lebens selbst ausgeht, dieser Gegensatz ist im ersten Zeitraum erst in der ersten Entwicklung begriffen, und vorher existirt [er] noch gar nicht, nicht als ob die Thätigkeiten, die unvollkommen bleiben, etwas Willkührliches wären, sondern weil die Willkühr noch nicht existirt, hier nicht von Willkühr zu reden, bis der Proceß der Bildung der Sprache eingeleitet ist. Indessen muß man das im weiteren Sinne nehmen. Die eigentliche Aneignung der Sprache daß die Kinder die articulirten Töne mit nähmlichem Bewußtseyn der Erziehung auf die Gegenstände hervorbringen. Geht immer ein pantomimisches sich verständigen voran, Bewegungen, die nichts anderes sind als Zeichen. Diese offenbar der erste Anfang der Willkühr. In allem Vorhergehenden ist offenbar das was seiner Natur nach Willkühr ist nur die Wir21 verdienen?] verdienen.

38 hervorbringen] hervorbringt

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kung eines momentanen Reizes, ohne [daß] ein einem bestimmten Willen Analoges zu betrachten ist. Hier erscheint uns diese Entwicklung als allmähliger Übergang, wie sich das Bewußtseyn entwickelt so entwickelt sich die Willkühr. | Diese Entwicklung erfolgt von selbst. Was hat die Erziehung dabey zu tun, unterstützend oder zurückhaltend zu wirken? Es ist meist offenbar das eigentliche Beschleunigen so daß man zu diesem Übergang nichts thun kann, als daß man die bezeichnenden Bewegungen hervorlocke und die Entwicklung des Bewußtseyns dadurch fördere. Wenn wir auf den Gegensatz achten den wir uns überall vor Augen gestellt, [der] zwischen freyer Wechselwirkung im Leben und absichtlicher pädagogischer Thätigkeit ist, so folgt daraus wo das rechte Maaß am wirklichen Zusammenleben mit den Kindern ist wird auch schon das Bewußtseyn und Willkühr hervorgelockt werden. Die persönliche Einwirkung der Mutter, der vollkommene Ausdruck der Liebe wodurch sie auf das Kind zu wirken sucht, und von selbst das im Auge hat die erste Willkühr auffassen zu wollen und zu beschleunigen. Diese Seite der Spontaneität der anderen, Receptivität untergeordnet, denn es muß erst eine dunkle Ahndung aufgegangen seyn, von dem was die Mutter will, die Empfänglichkeit ehe die Selbstthätigkeit hervortritt. Wir haben es also hier zuerst mit etwas anderem zu thun. Das erste Willkührliche, was hinaus tritt, und mit der Receptivität in keinem unmittelbaren Zusammenhang steht, sind die Bewegungen der Extremitäten, auf welche hernach alle unmittelbare Thätigkeit ausgeht. Offenbar kann das Kind sich leicht Schaden zufügen durch die freyen Bewegungen, wie sie vom momentanen Reiz ausgehen, daher das System, die Entwicklung dieser Bewegungen zu hindern – das Einschnüren der Kinder, sonst ganz allgemein nun großen theils abgekommen, das eben kein Vortheil; die Glieder frey zu lassen, die Vorsicht aber nicht zu ausschließlich anzuwenden; es sind nun die schädlichen Gegenstände zu entfernen an denen sich die Kinder Schaden thun können. Das wonach zuerst die Kinder streben sind die freyen Bewegungen der Hände um Gegenstände zu greifen. Hier der umgekehrte Fall, wir nehmen, es ist rein die Spontaneität aber der Zweck der deutlich zum Grunde liegt ist die Receptivität, sie wollen sich der Gegenstände bemächtigen, um sie auf sich wirken zu lassen, und dieß entwickelt sich allein je nachdem die Sinne als äußere Organe der Receptivität sich entwickeln. Die 1. bestimmte Lebensthätigkeit die auf dem Gebieth der Willkühr liegt, ist das Einsaugen der Nahrung, in diesem ursprünglich die 1. Lebensthätigkeit eingeschlossen, und da schließt sich die Entwicklung der Selbstthätigkeit an, indem die Kinder alles an den Mund bringen. Da kann also eine Behü14–15 vollkommene] unvollkommene

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tung nothwendig seyn, aber darum nicht Hände und Arme unbeweglich zu machen[,] es ist zu besorgen daß dadurch der Entwicklungsproceß gehemmt würde, weil er Hindernisse anknüpft, an denen er sich bricht. Die II. Bewegung ist die freywillige Ortsveränderung, allerdings erst später theils als reine Freyheitsäußerung, theils aus Absicht sich zu Gegenständen hinzubewegen, an diesem Bestreben lockt man die Ortsveränderung hervor. Je länger die Beine zusammengeschnürt wurden, desto mehr die Lust an freyer Bewegung zurückgedrängt. Hier zeigen sich die ersten ursprünglichen Verschiedenheiten. Es gibt Kinder welche die Zwischenstuffe fast ganz unbenutzt lassen, sondern sich mehr ruhig lassen bis sie Kraft genug haben um zu gehen, wogegen andere früher zu solchen Bewegungen schreiten, [es] hernach aber schwer haben ordentlich zu gehen. Für diese eine Hülfe indem man sie in eine Lage bringt worinn ihnen keine andere Bewegung als die des Gehens möglich ist – Laufbänke, jetzt nicht mehr Recht im Gebrauch. Widerlicher Zustand in den man die Kinder versetzt, sie können nicht ihren natürlichen Gang gehen, nach ihrer Willkühr daß ihre Ortsveränderungen von dem Verlangen geleitet werden Gegenstände zu sehen und zu greifen. Der Zusammenhang der Bewegung mit dem ersten natürlichen Impuls wird aufgehoben. Das Beste daß man das Kind so viel wie möglich sich selbst überläßt. Die beschleunigenden Thätigkeiten liegen im natürlichen Verhältniß zwischen dem Kind und der Mutter sowohl als seinen Wärterinnen. In diesem Zeitraum pflegen die Kinder viel getragen zu werden, und dieß ist nothwendig weil sie ihren Ort nicht verändern können, doch bald ein Verlangen die Kinder gehen zu lassen ohne die Arme, so ein Mittelweg zwischen tragen und gehen – gewiß gut, wenn man dabey sieht, daß die Kinder in ihrer natürlichen Lage sind. Die Vorliebe in künftigen Jahren zu einer verbiegenden Haltung des Körpers kommt meistens aus früherer Art, wie wenn man die Kinder am Bande führt, und ein beständiges Herumbiegen entsteht. Da ist also noch diese die richtige Cautel, daß man nicht zu Beschleunigungsmitteln seine Zuflucht nehme, die dem natürlichen Verhältniß der Glieder schadet. Mit dem Unschönen ist auch immer das Ungesunde verbunden. (Drücken der Brust.) Hier die Frage[:] Ob nicht die Kinder besser daran wären, nur wenn man sich weniger bekümmerte, sondern man sie sich selbst 12 andere] andere sich 14 keine] eine kommt das 34 ist] daß da

17 nicht] nicht nicht

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10 Vgl. SW III/9, S. 274 (Zusatz): „Manche Kinder lassen die Zwischenstufe des Kriechens fast ganz unbenuzt,“

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mehr überläßt, und das freye Spiel der Liebe einer Hemmung bedürfte, die etwas Absichtliches seyn müßte? Aber die Sache von einer anderen Seite anzusehen, daß Mutter und Wärterin mit einem Kinde mehr leben hat zugleich den größten Einfluß auf die geistige Entwicklung. | Dafür spricht die Erfahrung. Es kommt nur darauf an daß an sich nichts arbeitet was die natürlichen Verhältnisse alterirt, damit die Beschleunigung durch freye Wechselwirkung im Leben nicht alterirt werde. Nur in dieser Wechselwirkung des Lebens ist die erste Entwicklung der Liebe und das Fundament alles Sittlichen und zu gleicher Zeit der geistigen Verständigungen. Wenn man dieses hemmen wollte, so wäre dieses etwas ganz Analoges mit dem Einschnüren. Das Isoliren wäre ein geistiges Beschnüren. Was von dieser Hemmung gesagt wurde müssen wir noch auf einen anderen Gegenstand beziehen. Es ist immer dieses die Bekleidung der Kinder und da fragt sich wie diese eingerichtet werden solle, wenn man dieses von ihr abwenden müsse. Man ist sehr leicht auch zum entgegengesetzten Extrem übergegangen und hat gesagt es sey etwas Unnatürliches, daß die Kinder bekleidet würden, und das hinge nur zusammen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen oder der Temperatur wegen. Das ist allerdings wahr. Aber es ist ein anderer Punkt den man dabey zu berücksichtigen hat, es ist ein gewisser Widerstand den die ersten Menschen empfunden haben, ein ganz nacktes Kind anzufassen, etwas instinktartiges worauf beruht es. Offenbar eine sehr specielle Einwirkung, wodurch die Berührung hervorgebracht wird, welche wir uns freylich abstumpfen können, aber es ist nicht zu läugnen (magnetisch galvanisch electrisch) daß ein bestimmtes Spiel des Nervenreizes durch die unmittelbare Berührung entsteht, vor welcher man eine gewisse natürliche Scheu hat. Daher die Haut des Kindes mit solchen Gegenständen zu umgeben, die den Lebensprocess der Haut nicht hemmen dürfen, aber zu gleicher Zeit etwas zwischen die unmittelbare Berührung des Lebendigen bringen, daher wird es nur darauf ankommen, daß die Bekleidung erst dem Stoffe nach so gewählt werde, daß sie diesen Proceß nicht hemme, und nicht fest sey, daß sie Bewegung hemmen. Wir haben hier noch etwas zu bemerken, das analog. Das ist alles was zur Reinlichkeit 22 haben] waren

35 das] daß

1–2 Vgl. SW III/9, S. 276: „und ob nicht das freie Spiel das von der Liebe der Mutter und der nächsten Umgebung ausgeht, und das zu vielfacher Beschäftigung mit den Kindern und zur Einwirkung auf sie veranlaßt, einer Hemmung bedürfte? Allein das wäre auch wieder etwas unnatürliches.“ 16 Vgl. SW III/9, S. 277: „wenn man als erste Bedingung dies stellt, daß die freie Bewegung der Kinder nicht gehemmt werden darf?“

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gehört. Hier ist auch das Wesentliche ursprünglich daß vermieden werden soll daß fremde Stoffe den Menschen unmittelbar berühren. Hier haben wir einen großen Gegensatz wenn man die Kinder sich selbst überläßt. Beobachtet man sie nach einiger Zeit, so findet man schon bey einigen eine Gleichgültigkeit gegen die Unreinigkeit bey anderen einen Pedantismus in Beziehung auf die Reinlichkeit. Es ist schwer zu entscheiden wie dieser Gegensatz entsteht, aber es scheint gewiß zu seyn aus vielen Beobachtungen daß es nicht bloßes Werk der Gewöhnung, und die Kinder nicht allein dadurch unreinlich werden, und jener Pedantismus nicht bloß von dem Act ausgeht. Da ist auch etwas dem man bis auf einen gewissen Grad seinen Gang lassen muß denn dabey etwas Inneres zum Grunde, was man aber als Zeichen ansehen muß um das Kind in seiner natürlichen Art und Weise desto eher kennen zu lernen. Die Äußerung der Liebe gegen die Mutter ist das erste was in dieser Art zum Vorschein kommt. – Das Ernährungsgeschäft welches das Kind darinn befestigt. Blicke und Mienen der Mutter, wodurch aus Bewußtlosigkeit die Mutter den Geist des Kindes erregt. Hier haben wir den reinen Erfolg der Wechselwirkung welche nun eigentlich nichts absichtliches – natürliche Äußerung der Mutter und natürliche Erwiderung des Kindes. Ist hier schon ein Ort, eine absichtliche pädagogische Thätigkeit an dieß rein natürliche anzuknüpfen? In Beziehung auf dieses ursprüngliche Erziehen allerdings nicht, sie ist keiner Erweiterung fähig bis zur Aneignung der Sprache. Aber das Verhältniß des Kindes zur Mutter kein Ausschließendes sondern es gehört der Familie an, aber die Mutter gleichsam das Centrum. Es soll sich auch Liebe zu den übrigen Gliedern gestalten. – Das wird sich im Erfolgen des Lebens von selbst entwickeln. Das Entwickeln des Ge2 daß] daß nicht

10 ausgeht] ausgeht, liegt

12 denn] sondern

15–18 Vgl. SW III/9, S. 278–279: „Wir wenden uns nun zu dem m e h r g e i s t i g e n a u f S e i te n d e r S p o n t a n e i t ä t . Alles was man hier anführen kann, geht aus von dem ursprünglichen Verhältniß der Mutter zu dem Kinde. D i e A e u ß e r u n g e n d e r L i e b e d e s Ki n d es g e g e n d i e M u t t e r si n d d a s e rs t e was hier vorkommt. Das geistige geht hier freilich aus der Indifferenz zwischen geistigem und leiblichem hervor; das Ernährungsgeschäft bindet das Kind an die Mutter, es ist die Fortsezung des früheren gemeinsamen Lebens. Auch in diesem ursprünglichen Sein des Kindes muß geistiges liegen, denn Affecte der Mutter haben Einfluß auf den Fötus, geistige Eindrükke die auf die Mutter wirkten ehe das Kind geboren war, wirken nach auf das Gemüth des Kindes. Eine Basis der Art ist immer vor|handen. Ebenso geht hernach die erste geistige Circulation vor sich durch das leibliche vermittelt: es sind die Blikke und Mienen der Mutter, sie erwekken das schlummernde Bewußtsein; die unwillkührlichen Pantomimen des Kindes als Nahahmung [Diese Verschreibung wurde bei den „Druckfehlern“ auf S. XXVII verbessert in: „lies Nach- statt Nah-“] davon sind die ersten Aeußerungen des erwachenden Bewußtseins.“

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dächtnisses ist hier das sich Anschließende. Das Anknüpfen des gegenwärtigen Moments ein Analogon. Diese Entwicklung erfolgt ganz von selbst und ist die allmählige Setzung des Ich, die aber bestimmt erst mit der Sprache zugleich hervortritt. Zu dieser Entwicklung der Erinnerung hier noch gar nichts beyzutragen. Hier zeigt [sich] aber bald das Gedächtniß als Wiedererkennung der früher gesehenen Personen. So entwickelt [sich] allmählig das Bewußtseyn der gemeinsamen Liebe, welche der Grund aller Gesinnung ist und des ganzen sittlichen Daseyns. Wir finden in der Wirklichkeit daß sich zeitig auch in den Kindern Ausdrücke von Abneigung zu erkennen gäben. Nach dem vorigen könnte das nicht statt finden[,] schon daß etwas Fehlerhaftes in der Familie sey. Die erste Einwirkung wird also postulirt als Gegenwirkung durch etwas Fehlerhaftes – momentane und permanente Abneigung. Die ersten die gewöhnlichen, die zweyten die selteneren. Wenn letztere ist ohne wiederholte Reizungen so muß sie einen anderen Grund haben als nur eine Beleidigung. Das kann kein anderer seyn als ein physischer. Gegen Personen welche ursprünglich der Familie angehören kann das nicht leicht statt finden, aber gegen andere bekannte Personen. Die müssen wieder rein physisch als etwas Instinktartiges ihren Grund haben, in der atmosphärischen Ausdünstung die von einem einzelnen ausgeht – es ist eine Basis von Schuld es entsteht eine Gewöhnung an solche Abneigung. Widerwärtigkeit. Daher rathsam daß man dieses so viel wie möglich vermeide, und darauf achte ob sie häufig wiederkehrende Zeichen von solcher Abneigung geben. Wenn es aber nicht abgewendet haben, so muß man das ansehen als das erste Schicksal in das Leben des Kindes und es ist eine Verweichlichung, wenn man nur deßwegen ein häusliches Verhältniß um dessentwillen aufheben wollte. Die Aufgabe ist das rein physische durch das geistige zu überwiegen und das durch die Gesammtliebe in der Familie. Was die momentane Abneigung betrifft hat sie immer ihren 4–5 Erinnerung] Erinnerung und 1–2 Vgl. SW III/9, S. 279: „das Anknüpfen des gegenwärtigen Moments an den vorangegangenen analogen.“ 4–5 Vgl. SW III/9, S. 280: „Da nun aber auch diese Entwikklung nur allmählig in der unmittelbaren Wechselwirkung hervortritt: so kann man r e i n t ech n i s ch e M i t t e l n i c h t a n w e n d e n , sondern muß dies dem natürlichen Gang überlassen, bis die Sprache dem Kinde verständlich wird. Es ist aber auch dieser rein natürliche Gang der beste und sicherste;“ 21–22 Vgl. SW III/9, S. 281: „We n n man diese unwillkührliche Abneigung a u c h n i c h t a l s K e i m d e r S c h u l d ansehen kann, so ist es d o c h d i e B a si s d a z u ; e s e n t st e h t daraus die Gewöhnung an ein solches Verhältniß der Antipathie, woran sich alles was später von Persönlichkeit und S e l b s t s u c h t ausgeht, anreiht und fortleitet.“ 30–3 Vgl. SW III/9, S. 281: „Die m o m en t a n e n Abneigungen sind von ganz anderer Art, sie haben ihren Grund immer darin, wie ein Kind eine Lebenshemmung die ihm widerfährt auf den einzelnen bezieht.“

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Grund in einzelnen Momenten von einem entgegengesetzten Charakter der dem gewöhnlichen[,] und das Kind eine Lebenshemmung erfährt. | Hier allerdings ein Ausdruck der Selbstthätigkeit des Kindes der sich nach dem Eindruck auf Receptivität gründet. Bey welcher Seite soll man dieß anfassen? Soll das was einwirkt fortwirken lassen oder nur den Ausdruck der Rückwirkung dämpfen? Jede hemmende Einwirkung der Erziehung immer nur eine secundäre ist, welche nicht die ursprüngliche pädagogische Thätigkeit seyn darf. Es ist der erste Grundfehler welcher begangen werden kann in der Erziehung wenn man die Kinder zu solchen Zeichen der Abneigung reitzt. Neckereyen gegen Kinder höchst verderblich. Die erste Versündigung gegen Kinder, es ist eine Reitzung zur Leidenschaftlichkeit. Es ist nicht eine positive pädagogische Methode, es liegt dieß noch in den allgemeinen theoretischen Processen worauf die Theorie beruht. Nun aber läßt [sich] das wieder unter den Gegensatz bringen der Verweichlichung auf der einen Seite und der falschen Abhärtung auf der anderen. Wenn man das fortgehen läßt, und hernach noch mit Gewalt darein fährt, und ihnen etwas Unangenehmes anthut, was ist das anderes als daß man sie abhärtet, gegen die Einwirkung welche die Äußerungen der Abneigung hemmen sollen? Die Strafe soll ein pädagogisches Mittel seyn, das Kind nicht dagegen abgehärtet werden. Aber auch nicht verweichlicht soll es werden denn nachher ist man nicht mehr im Stande es vor Lebenshemmungen zu bewahren. Es kommt schon im ersten Abschnitt vor daß die Kinder immer etwas wollen, was man ihnen nicht gewähren kann – wo sie also Hemmungen erfahren müssen, das ist in dieser Zeit unvermeidlich. Geschieht dieß nur als Hemmung, so ist da kein Unterschied zwischen diesem Nothwendigen und jenem Willkührlichen. Sie müssen diese Hemmung nothwendig als aus 1 Grund] Grund immer

21 sollen?] sollen.

26 gewähren] gewähren seyn

12–15 Vgl. SW III/9, S. 282: „Es ist dies die erste wesentliche Versündigung die man sich gegen die Kinder zu Schulden kommen läßt, denn es ist eine Reizung zur Leidenschaftlichkeit und deren Ausdrukk; an diesem finden Menschen häufig Wohlgefallen, und deshalb suchen sie diesen Ausdrukk der Leidenschaft hervorzulokken. Nun aber ist dies Wohlgefallen ein unsittliches; die Aeußerung an der man Wohlgefallen findet, ist etwas leidenschaftliches, von der gereizten Persönlichkeit ausgehendes; will man nun auch eigentlich nicht die Leidenschaft als solche, sondern nur die Aeußerung der Selbstthätigkeit: so ist es doch unsittlich an einer leidenschaftlichen Selbstthätigkeit seine Freude zu haben, und eben so unsittlich eine solche hervorzulokken. Wir haben hiemit nicht sowol eine positiv technische Erziehungsvorschrift gegeben, sondern nur die ethische Forderung ausgesprochen; wird hier die ethische Beziehung übersehen, so wird der erste Grundstein der Erziehung umgestürzt, und es werden dann hemmende Einwirkungen nothwendig.“

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der Liebe selbst erfahren, es muß sich in der Art, wie die Lebenshemmung verfährt, kund thun, von Zeichen der Liebe begleitet, damit im Kinde von partiellen eine scheinbare zweyfache Rückwirkung entsteht, so daß der Eindruck der Hemmung durch den der Liebe aufgehoben wird. So werden sie nie auch eine momentane Abneigung entwickeln. Nun haben wir II. zu sehen auf dasjenige der Spontaneität was sich nicht unmittelbar aus der Liebe, was sich mehr aus den sinnlichen Affecten der Lust und Unlust entwickelt. Wenn wir auf den ersten Anfang zurückgehen so folgt daraus hier fängt alles an mit dem Bedürfniß und der Befriedigung des Bedürfnisses, aber in der Form der Bewußtlosigkeit, rein als Instinct, aber doch so daß der Zustand des Bedürfnisses die Unlust repräsentirt und der Act der Befriedigung des Bedürfnisses die Lust. Das letzte [endet] endlich nach der Befriedigung des Bedürfnisses, nicht mit ihr selbst. Nach der Befriedigung des physischen Bedürfnisses von der Muttermilch hat die erste Liebe seinen Grund – bey Thieren auch, die Befriedigung das rein animalische; das zweyte aber daß der Zustand des Wohlbefindens in das verwandelt wird was schon den Keim des Intellectuellen in sich trägt, ist das rein menschliche. Solch befriedigtes Bedürfniß [versetzt] Mutter und Kind in ein solches Spiel, hier das menschliche am ersten und das Geistige tritt im Auge zuerst hervor. Wird hier nicht rein naturgemäß gehandelt, so wird die I. Basis des geistigen Bewußtseyns gestört. Wenn das Kind zu lange im Zustand des Bedürfnisses gelassen wird, so bekommt das was die Unlust repräsentirt schon eine Heftigkeit die sich auf den Act der Befriedigung herüberträgt. Lockt man das Kind dazu, so geht ebenfalls das Natürliche ab, und dann kann der Zustand nicht eintreten welcher die erste geistige Entwicklung in sich schließt. Dieser Punkt ist also unmittelbar die Basis aller geistigen Entwicklung. Nun aber tritt hier noch ein anderer Punkt ein. Sehen wir auf eine spätere Zeit so wird es dann nothwendig daß die Kinder sich gewöhnen, das Bedürfniß der Ernährung nur in bestimmten Zeiträumen und auf eine periodische Weise zu befriedigen. Wird das ein plötzlicher Übergang, so entsteht daraus eine Alteration der natürlichen Entwicklung. Es soll der Ernährungsproceß weder übereilt werden noch das Bedürfniß zu dringend werden, auf der anderen Seite soll dieses Periodische in den Proceß eingeleitet werden. Wir haben Ursache dieses Periodische als etwas Natürliches anzusehen es ist zu allgemein als daß es etwas rein Willkührliches, Conventionelles wäre. Diese Voraussetzung bis auf einen gewissen Grad richtig. Wenn aber während dieser I. Periode der Ernährung ein entgegengesetztes Verfahren statt fin7 was sich nicht unmittelbar aus der Liebe] was sich aus der nicht unmittelbar der Liebe 10 aber] Aber 18 Intellectuellen] Intillectuellen 38 es] es als

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det, so kommt das daher, daß das erste nicht recht betrachtet wird, weil ein jedes Zeichen des unangenehmen Gefühls beym Kinde als Zeichen des Bedürfnisses nach Nahrung angesehen wird – stillen. Je mehr hernach die Zeit eintritt wo die Ernährung der Muttermilch nicht mehr das einzige ist, so sind diese das was den Übergang bildet wo das Periodische eintritt. Zugleich mit der Zahnbildung hört die Nährung an der Mutterbrust auf, und das Kind fängt an andere Nahrungsmittel zu empfangen – aber allmählig. Wir finden im Menschen ein Losgerissenseyn vom [ ] was verbunden ist mit der Losreißung der Lust von dem gestillten Bedürfniß. Hier ein bestimmter Kreis von Nahrungsmitteln und die Stillung des Bedürfnisses ist zugleich das gänzliche Aufhören des Triebs. Der Mensch ist nicht begrenzt in Beziehung auf die Nahrung; der Wohlgeschmack ist unabhängig von der Befriedigung des Bedürfnisses. Diese Losreißung kann früher oder später erfolgen. Solle man sie beschleunigen oder hemmen oder der Natur überlassen? | Man könnte denken, daß weil es etwas menschliches ist man es zu beschleunigen habe. Alle die Erweckung des Humanen muß beym Geistigen anfangen, und in Beziehung auf das Animalische müssen die Kinder bis zum Geistigen im Zustand der dem Instinct am nächsten kommt gelassen werden. Diese Nährung ein reiner Naturproceß. Anderes später um der Lust willen mehr oder anderes als Gewalt der sinnlichen Motive. Je mehr diese entwickelt werden ehe das Geistige erwacht ist, desto größere Gewalt erhält schon hier die Sinnlichkeit über das Geistige. Beschleunigung also etwas Unnöthiges. Wenn sie auch nicht um ihrer selbst willen [geschieht], so gibt es hier doch viel Praxis, welche dasselbe Resultat hervorbringt. Wohlgeschmack als Motiv, um die Kinder zu locken oder zu beschwichtigen. Wenn sich die Geschmacklüsternheit in den Kindern zeitig entwickelt so nachher der Geschlechtstrieb schnell und heftig – und dieses zu verhüten. Wenn man der Natur ihren Lauf läßt, so wird eine solche zeitige Entwicklung der Lüsternheit auch nicht erfolgen. Die Nahrungsmittel welche den Kindern am zuträglichsten sind, sind solche, welche die Geschmacksnerven am wenigsten reizen, oder man braucht also nur auf diesem Wege zu bleiben, aber freylich durch Süßigkeit alterirt man gewöhnlich die Lust des Kindes. Wenn man hier nur die allgemeine Maxime im Auge hat, daß man nichts entwik3 angesehen wird] ansieht 9 vom] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl Instinkt (vgl. SW III/9, S. 286) 16 überlassen?] überlassen. 24 Beschleunigung] Bescheunigung 31 zeitige] zeitliche 10–12 Vgl. SW III/9, S. 286: „Die Thiere haben einen bestimmten Kreis von Nahrungsmitteln, und mit der jedesmaligen Befriedigung des Bedürfnisses erlischt der Trieb.“

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keln soll, was man hernach zügeln oder zerstören muß, so kann man hier nicht zweifeln was zu thun. In dieser Zeit fängt auch der Nervenreiz in Beziehung auf den allgemeinen Sinn sich zu regen an, der besonders in den Operationen der Haut seinen Sitz hat. Praxis, die sich sehr einfach aus dem Spiel mit den Kindern entwickelt. Unart, der Nervenreiz durch das Kitzeln. Alles so rein willkührliche in der Erregung der Lebensprocesse ist immer etwas verdächtiges, dessen Folgen man nicht berechnen kann. Ziemlich allgemeine Erfahrung, daß die Reizbarkeit in den Lebensräumen in den Kindern zu zeitig erregt wird. Was die Unlust betrifft so ist eigentlich nicht natürlich daß es bey den Kindern andere gibt in diesem Zeitraum als körperliche Empfindungen die mit der alterirten Gesundheit zusammenhängen. Da soll man aber keine anderen Mittel dagegen gebrauchen als die welche sich auf die Wiederherstellung der alterirten Gesundheit beziehen, nicht aber medicinisch, das richtige diätetische Verfahren. Kann man die Ursache nicht genau erkennen, so muß man die Sache sich selbst überlassen und nur die allgemeinen Mittel anzuwenden, nie ein specifisches Mittel denn es entsteht hieraus leicht eine Gewöhnung die der richtigen sittlichen Entwicklung entgegensteht, die erste Verweichlichung gegen die man nicht genug warnen kann. Wenn die Gewohnheit entstanden ist, das Intresse anderer an der Unlust rege zu machen, so ist der erste Grund gewagt die Selbstständigkeit zu hemmen, und den Menschen von anderen abhängig zu machen. Wenn wir übergehen zu dem was auf der Seite der Receptivität liegt so haben wir es in diesem ersten Zeitraum zunächst nur zu thun mit der Entwicklung der Sinne. Alle weiteren Operationen des Sprachvorgangs sind noch durch die Sprache bedingt. Hier in Beziehung auf das Pädagogische ein Unterschied zwischen den Sinnen in welchen ein Übergewicht ist in Beziehung ihrer Operationen auf die Wahrnehmung und Empfindung über die Beziehung derselben auf die Empfindung und zwischen denen bey welchen es sich umgekehrt verhält. Die ersten sind das G esicht und G e h ö r t e . G e s i c h t die erste Vermittlung alles Mathematischen, Auffassung der Außenwelt, so wie auf der anderen Seite das Ohr die erste 28–29 ihrer] auf die 20–23 Vgl. SW III/9, S. 288: „Es entsteht sonst auch hier eine Gewöhnung welche der sittlichen Aufgabe entgegen wirkt, daß nämlich die Kinder gegen jede Unlust etwas wollen gethan haben; es ist dies der Grund zur Verweichlichung, vor welcher man warnen muß. Beweiset man ohne Unterschied dem Kinde bei jedem auch dem kleinsten Uebel ein ängstliches Interesse: so wird dadurch die Selbständigkeit gehemmt. Dagegen je mehr die Kinder gewöhnt werden die Unlust mit sich selbst abzumachen, desto natürlicher kann sich die Selbständigkeit entwikkeln.“ 25–27 Vgl. SW III/9, S. 288–289: „alle wei|teren Operationen der Auffassung sind durch die Sprache bedingt.“

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Vermittlung alles Logischen, aller Auffassung der Inneren Welt, wie sie durch die Sprache sich offenbart. Großer Kreis von Wahrnehmungen wo die begleitende Empfindung indifferent ist und neben der Wahrnehmung so verschwindet daß sie relativ bewußtlos ist, kein Eindruck auf das Gesicht oder Gehör daß nicht zugleich eine Empfindung dabey ist aber die Differenz des Angenehmen und des Unangenehmen tritt dabey ganz zurück. Dann gibt es freylich andere wo die Empfindung stärker hervorgeht – zu großes Licht oder Dunkel. So wie aber dieß eintritt so wird die Wahrnehmung geschwächt, also immer das umgekehrte Verhältniß. Bey Geschmack und Geruch haben [wir] ein Übergewicht der Empfindung über die Wahrnehmung. Allerdings eine eigne Bewandtniß mit dem Gefühl (Tastsinn). Er ist ebenfalls von bedeutender Wahrnehmungsgewalt und kommt den Operationen des Gesichts und Gehörs auf mannigfache Weise zu Hülfe. Den Anfang des Sehens bey den Kindern müssen wir uns vorstellen, daß sie alles als eine Fläche sehen. Wir erkennen die Tiefe durch eine Menge von complicirten Wahrnehmungen, das Kind sieht nur die von Umrissen gesonderten Farben. Wodurch bekommt es nun zuerst die Vorstellung von der Entfernung und Größe der Gegenstände? Offenbar durch den Tastsinn, das Greifen nach den Gegenständen und die Zeit welche vergeht ehe es auf diesem Weg den Gegenstand erreicht. Allein weil der Kreis den die Kinder durchmessen können, klein ist, und man ihnen nur erste Gegenstände nahe bringen kann so sind die Resultate sehr gering, erst beym Gehen entsteht ihnen das Maaß für die Entfernung. Der Tastsinn in dieser Periode offenbar eine untergeordnete Stelle. Nach dieser Charakteristik der Sinne [entsteht] die Frage wie man die Entwicklung derselben zu behandeln habe? | Wenn man diese Operation sich selbst überläßt, so ist das eine pädagogische Trägheit. So wie es ein Zusammenleben gibt mit dem Kinde so ist [es] immer nur [dies] auf dem diese pädagogische Thätigkeit ruht. Aber Null des Zusammenlebens wenn man sich bloß als Zuschauer zu anderen beträgt, unsittlich. Die Operation auf die Sinne kann durch pädagogische Thätigkeit geleitet und beschleunigt werden daß sie ganz andere Resultate gibt als wenn man sie sich selbst überläßt. Vorzüglich die höheren Sinne, Gesicht und Gehör haben abgesehen daß sie zu gleich Empfindung und Wahrnehmung wirken noch eine andere Dupplicität – sie sind absolutes Gemeingefühl wenn man sie nur von ihrer 5 Gehör] Gesicht

25 Periode] Stelle

30–32 Vgl. SW III/9, S. 290: „Das Zusammenleben aber als bloßes Zuschauen ist Null, also schon nach allgemeinen ethischen Principien nicht zu billigen, denn das erste Gebot ist das der Liebe, die sich nur erweiset als Thätigkeit, indem man dem anderen zu Hülfe kommt. Es ist also e i n e E i n w i rk u n g n a t ü r l i c h u n d s i t t l i c h p o s t u l i r t ; “

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mathematischen oder mechanischen Seite ansieht, aber sie haben auch eine artistische Seite, in dieser Beziehung sind sie Tal ente in der Entwicklung des Sinnes eine Indication ob das Talent da ist. Die mathematische Seite des Gesichts ist die Schätzung der Größe und Entfernung. Darinn verschiedene Grade der Fertigkeit, nicht daß einer in größerer Entfernung etwas sieht was der andere noch nicht sieht sondern das Augenmaaß, das ist das Gemeingut, und darinn eigentlich alle Menschen gleich weit, weil hier nichts von dem Individuellen (Talent) hinzukommt, und liegt ganz im Gebiethe des Mechanismus. Dagegen der Sinn für die Differenz in Beziehung auf alles was wohl gestaltet ist die Seite die mit der Kunst zusammenhängt – nicht alle darinn gleich weit, weil diese sich schon in der ersten Entwicklung auf sehr ungleiche Weise manifestirt. So mit dem G ehör. Das richtige Vernehmen und Abschätzen der Differenzen von Höhe und Tiefe, Länge und Kürze des Tons die rein mechanische Seite des Sinnes. Aber das Wohlgefallen an der Zusammenstimmung in der Harmonie, und den gemessenen Tönen und auch schon ganz elementarisch betrachtet an dem gemessenen Tone in Vergleich mit dem bloßen Schall ist die artistische Seite des Sinnes. Was sollte man in Beziehung auf die Entwicklung dieser zwey Sinne thun oder was soll man hemmen? Das letztere im natürlichen Gang der Dinge. Das Kind kommt aus der Dunkelheit bey der Geburt und das Auge öffnet sich erst dem Lichte, und ist dann noch sehr zart und soll nicht zu starkes Einwirken empfangen. Sobald aber die Operation der Wahrnehmung beginnt, und das Kind anfängt Gegenstände zu erkennen, so wird es auch zugleich Trieb, und dann wird es eben so nothwendig, es nicht in zu großer Dunkelheit zu halten weil es sich dann zu sehr anstrengt um zu sehen. Schon die natürliche Indication daß die pädagogische Thätigkeit zuerst sich darinn zeigt und erhält, daß diese Organe nur Empfindungsorgane bleiben. Das ist die eine Grenze. Wenn wir das andere Extrem betrachten – die artistische Seite der Sinne so haben wir die Erfahrung hieraus daß dieses Talentartige sehr ungleich in der ersten Entwicklung sich zeigt, also keine bestimmte Voraussetzung für die pädagogische Theorie, es würde die pädagogische Thätigkeit da also ganz willkührlich seyn und darum verwerflich, also kann die Thätigkeit für 9 hinzukommt] hinzubekommt

15 Tons] Tons die mechanische Seite,

28–30 Vgl. SW III/9, S. 292: „Hier zeigt sich die pädagogische Thätigkeit zunächst darin, daß man die Organe in derjenigen Sphäre erhalte in der sie als Wahrnehmungsorgane sich ungestört entwikkeln können, und demnach vor zu großem Lichtreiz und vor zu großer Dunkelheit schüze, damit sie nicht bloße Empfindungsorgane werden.“

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uns beobachtend seyn da die Cautele die Entwicklung der Sinne auf eine solche Weise zu leiten [hat] daß diese Beobachtung nicht gehindert werde. Was die artistische Seite, das Talent in diesem Sinn betrifft so kann davon hier nicht die Rede seyn, desto mehr die mechanische Seite davon so weit zu entwickeln als es ohne Hülfe der Sprache möglich ist, es kommt einmal auf das Unterscheiden der sinnlichen Eindrücke an welche auf die Sinne gemacht werden und dann auf das Unterscheiden des Maaßes. Schwer zu unterscheiden in wie weit sie Ähnlichkeit und Verschiedenheit wahrnehmen, das genauere allerdings erst in die folgende Periode hinein. Nur zu sorgen, daß die Eindrücke nicht über das Maaß hinausgehen, wo die Erkenntnißseite darinn vorliegt, was bey dem Gesicht noch wesentlicher ist als bey dem Gehör. Dann für einen gehörigen Wechsel der Eindrücke zu sorgen. Was das Maaß betrifft so ist hier einer der wichtigsten Gegenstände das Maaß für das Gehör, durch dieses bildet sich der Tact, diesen hat jeder Mensch als Lebenselement in sich in der Respiration und Circulation. Er kommt aber auf diese Weise auch am spätesten zum Bewußtseyn da hingegen das bestimmte Maaß in den äußeren Eindrücken zuerst diesen Sinn bildet, daher ein Instinct daß man den Kindern in dieser Zeit viel vorsingt, die gemessenen Töne können sie unterscheiden. Dadurch [entsteht] der erste Grund zur Auffassung der Ordnung und des Maaßes, und je mehr dieß hervorgerufen werden kann desto mehr wird sich der Eindruck befestigen. Was das Gesicht betrifft so geht hier das Wiedererkennen der Eindrücke unmittelbar von den persönlichen Verhältnissen aus, die Kinder kennen zuerst die Mutter und erkennen ihre Gestalt wieder und so geht auf die übrigen Glieder über, nun muß man ihnen auch schon andere Gegenstände zum unmittelbaren Gebrauch geben, etwas zum Handhaben, die ersten Willensäußerungen, erkennen der Gegenstände. So wie hernach die willkührlichen Bewegungen anfangen sich zu entwickeln und die Kinder kriechen und gehen so bildet sich zugleich das Maaß der Bewegung und das Augenmaaß aus. Was den Tastsinn betrifft so führt dieser hier noch weniger zum Erkennen der Gegenstände. Zwar eine natürliche Neigung die Gestalten zu berühren, aber nicht vorauszusetzen, da da ein Erkennen damit verbunden sey. Es gehört aber zur bestimmten Entwicklung des Menschen auf diesem Gebieth daß sie greifen wollen und handhaben, dadurch erst zum Bewußtseyn ihrer 11–13 Vgl. SW III/9, S. 293: „In dem ersten Entwikklungsstadium hat man nur dafür zu sorgen, daß die Differenz der Eindrükke dem Auffassungsvermögen des Kindes adäquat sei;“

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Wirksamkeit auf Gegenstände [kommen]. Dafür zu sorgen daß sie das gehörig nähren können. | Dadurch können sie allerdings unbewußt schaden[,] zu verhüten, allein dieß nicht zu verhindern. Die Wirkung der Gehöreindrücke auf die Stimmung ist in dieser Zeit ein bedeutendes Moment – die Eindrücke nicht das Maaß zu überschreiten aber nur das Extrem desselben im Auge zu haben – blendendes Licht und unangenehme Töne, wogegen die Einwirkungen der Stimme beruhen schon auf dem wirklich musikalischen? Darinn liegt also kein Widerspruch gegen obige Regel. Man bedient sich bey den Kindern des Gesangs, um sie einzuschläfern. Gewisse Einförmigkeit im ganzen Lied einschläfernd. Aber auch zum Aufheitern. Sieg des Hörens der nöthigen Aufmerksamkeit für die Töne wodurch etwas errungen wird über die eigne von innen ausgehende Stimmung und so haben wir hier den Kreis, in welchem sich hier das Leben bewegt gemessen. Sind hier noch eine Menge von Cautelen anzuführen, aber absichtlich habe ichs unterlassen; nur das Verhältniß der Glieder fortwirken zu lassen und die natürliche Heiterkeit der Stimmung zu erhalten suchen. Nur eines noch hervorzuheben: Es sind besonders die Eindrücke durch das Gehör welche den Schreck hervorbringen, und so gibt es noch eine Bildung von Gesichtseindrücken mit Gehöreindrücken, ungewohnte Töne der Stimme können schon Schreck hervorbringen, und wenn Entstellung der Gesichtszüge hinzukommt, dann kann man ihnen auch Furcht einjagen. Beydes aufs äußerste zu vermeiden. Der Zustand des Schrecks ist immer ein momentanes Aufheben der Besonnenheit und er soll eigentlich in der Folge und eher nicht statt finden. In der vollkommenen Reife des Lebens ist allerdings das weibliche Geschlecht dem Schreck mehr ausgesetzt. Hier ist Reizbarkeit der Nerven. Aber es kann im Kind schon der Grund dazu gelegt seyn. Wenn die Kinder immer könnten und dürften erhalten werden in einem Zustand gespannter Aufmerksamkeit dann würde sie nicht leicht etwas erschrecken, gespannte Aufmerksamkeit schwächt gegen andere Eindrücke ab. Aber dieß würde hier nachtheilig seyn. Auch die ersten Stuffen des geistigen Lebens müssen sich ohne Überreitzung entwikkeln. Das Leben muß sich nur in einer gewissen Ruhe in diesen ersten 8 liegt] liegt kein

22 hinzukommt] hinzukommen

1–3 Vgl. SW III/9, S. 295: „Dies muß man also nähren. Wenn gleich die Kinder bei diesen Versuchen Gegenstände zu handhaben, Schaden verursachen und sich selbst Schmerzen bereiten können: so darf man deshalb diesen Versuchen nicht entgegentreten; nur wird man möglichst Sorge tragen müssen daß der Nachtheil nicht eintrete. Ganz verkehrt wäre aber in den Fällen wo das Kind Schaden angerichtet hat, es zu bestrafen. Das Kind kann den Zusammenhang nicht auffassen, verfährt also auf ganz unbewußte Weise, und die Strafe wäre dann eine Grausamkeit.“

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Zügen entwickeln. Deßwegen die einzig richtige Maaßregel, daß man sie so weit es geht vor dem Sc h r e c k bewahre, und wenn sie einen Schreck bekommen haben, daß man ihnen gleich etwas entgegengesetztes gebe, was diesen Umstand aufhebt. Noch viel weniger etwas vorzunehmen, was F u r c h t einflößt. Das das erste worinn schon eine sittliche Beziehung ist, nichts was so sehr der Entwicklung des Sittlichen entgegenwirkt als die Furcht, die meisten Übel der Menschheit aus der Feigheit erzeugt. Das natürliche Verhältniß zwischen den Kindern und den Erwachsenen soll durchaus das Vert ra uen seyn, das Bewußtseyn das beständig wiederkehren soll, dann bleiben sie auch in der Liebe. Mit der Furcht aber eine Null gegen das Bewußtseyn desselben, der erste Anfang der Selbstsucht. Vorzüglich darauf bezieht sich daß man sich hüten muß Verlangen in ihnen zu erregen, welches man nicht befriedigen kann. Entsteht es von selbst so ist das der erste Anfang von P r ü f u n g wo sich das Verhältniß des sittlichen Charakters des ganzen Zustands manifestirt, aber anders wenn man es absichtlich hervorbringt, alles Absichtliche von der Art muß vermieden werden. Überall also muß man in den Eindrücken die man hervorruft, darauf sehen daß nichts dieß natürliche Verhältniß störe und die Kinder nichts als Lebenshemmung fühlen, weil dadurch sich die Opposition entwickelt. Wenn wir das ganze sittliche Leben betrachten so folgt daraus die Vollkommenheit desselben besteht eben darinn daß die Opposition wieder aufgehoben wird aber nicht in demjenigen was geschehen muß ihn aufzuheben. Der Gegensatz entwickelt sich doch nur vermöge des Bösen und darum kein Grund die Entwicklung des Gegensatzes absichtlich zu fördern, desto mehr muß man suchen sie hinauszuschieben und das Bewußtseyn dieser Übereinstimmung zu erhalten. Wenn wir als die Grenze dieses Abschnitts gesetzt das Aneignen der Sprache so müssen wir fragen was geschehen kann und muß um diese zu entwickeln. Daß die Kinder auf die Töne merken und vorzüglich die menschliche Stimme (der Sinn specifisch für diese entwickelt). Auf die Töne merken und Töne hervorbringen ist zuletzt gleichzeitig, aber ihr Bestreben articulirte Töne hervorzubringen lehnt sich oft an die Nachahmung an. Nun hier zweyerley, was die Sprache bildet. Es sind die articulirten Töne das Ma t erielle und die Verbindung derselben mit den Vorstellungen das eigentlich Log ische. An11–12 Vgl. SW III/9, S. 296: „Sobald die Furcht entsteht, wird das Vertrauen aufgehoben und die Liebe ausgetrieben: es zeigt sich der Widerspruch, das Bewußtsein des Gegensazes wird entwikkelt, und die Selbstsucht entsteht, welche nichts anderes ist als die Persönlichkeit unter den Gegensaz gebracht, also zur Opposition.“ 32–33 Vgl. SW III/9, S. 298: „Es vernimmt zunächst nur die articulirten Töne, ohne sie selbst hervorbringen zu können;“

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eignung der Sprache nur in dem Maaße als beydes zusammen ist. Nun die Sprache nicht das erste Bedeutsame, das erste ist [ ] | Was ist in 2 ist] Satz bricht am Ende der Seite ab, zu ergänzen wohl das Pantomimische. (vgl. SW III/9, S. 298) 1–2 Gemessen an Platz fehlen an dieser Stelle zwei Druckseiten, die die mechanischen und logischen Elemente der Sprachaneignung darlegen. Entweder hat der Schreiber einen großen Teil einer Vorlesungsstunde versäumt oder die Passage wurde von Platz später eingefügt. Vgl. SW III/9, S. 298–300: „Was in dem Ausdrukk des Gesichts liegt, fühlen sie recht gut; Bewegungen des Zorns, des Unwillens, Aeußerung der Freude unterscheiden sie genau. Wie bei ihnen selbst die erste Willensäußerung in ihren Bewegungen ist: so erkennen sie auch den Willen anderer zuerst in den Bewegungen anderer und in diesen sich selbst. Will man ihre Aufmerksamkeit auf Gegenstände lenken, so ist dies bloß durch absichtliche Bewegung zu bewerkstelligen. Soll nun das Kind von der Auffassung des pantomimischen e i n e n S c h ri t t w e i t e r geleitet werden, zunächst zur A u f f a s s u n g u n d N a c h a h m u n g d e r a rt i c u l i r t e n T ö n e : so kommt es darauf an, beides die Gegenstände durch deren Bewegung zunächst die Aufmerksamkeit erregt wird, und die articulirten Töne zusammenzuführen. Erst wenn dieser Proceß im Gange ist, daß das Kind zugleich auf den Gegenstand und auf den Ton der zur Bezeichnung des Gegenstandes dient, merkt und beides verbindet und auf ein|ander bezieht, beginnt auch allmählig das Aneignen der Sprache. Das erste was sich nun entwikkelt, ist ein mehr b ew u ß t l o s es N a c h a h m e n . Die eigentliche Entwikklung schreitet fort, indem die Sprachwerkzeuge ausgebildet werden; die Aufmerksamkeit auf die feineren Unterschiede der Gehörwerkzeuge wird gespannt. Hier tritt eine Differenz ein. Die Eindrükke auf das Gehör welche die Consonanten hervorbringen, sind etwas sehr kleines im Verhältniß zu den Eindrükken der gemessenen Töne; daher die Verwechslung der Consonanten die ähnlich klingen oder eine ähnliche Bewegung erfordern sehr gewöhnlich ist. Da kann man natürlich und muß in dem Nachahmungsproceß den Kindern zu Hülfe kommen und den Proceß richtig leiten; nur immer unter der Bedingung das absichtliche nie zu lange fortzusezen. Es ist übrigens auch nicht so viel daran gelegen, wenn in der ersten Production solche Verwechselung vorkommt oder eine Unfähigkeit einzelne Sprachelemente hervorzubringen: nur muß je mehr ihr Bewußtsein erwacht, ihnen selbst das mangelhafte und falsche begreiflich gemacht werden. Am allerwenigsten darf man aber, wie wol häufig geschieht, das fehlerhafte nachsprechen, weil eine Nachahmung der Art das Gefühl für die Unterscheidung des richtigen und unrichtigen abstumpft: dies Unterscheidungsvermögen kann aber nur durch den Ausdrukk der Billigung oder Mißbilligung angespannt werden. Gleichgültigkeit derer welche mit den Kindern leben, gegen das falsche und mangelhafte, macht diese selbst gleichgültig. – D e r A n f a n g d e r S p r a c h a n e i g n u n g ü b e rh a u p t b e g i n n t n u r, w e n n z u d i e s e n m e c h a n i s ch en E l em e n t e n d a s l o g i sc h e h i n z u k o m m t ; d i e s g e s c h i e h t , wie wir gesagt haben, w en n d i e G e g e n st ä n d e u n d d i e T ö n e z u g l e i c h d e s K i n d e s A u f m er k s a mk ei t fe sse l n . Offenbar wird nun hier im Anfang eine große Verwirrung herrschen, indem man ihm nicht deutlich machen kann was eigentlich so genannt werden soll, der ganze Gegenstand oder nur ein Theil desselben, und ähnliches. Eine genaue Beobachtung ist hier erforderlich, damit man jede entstehende Verwirrung | erkenne, um ihr entgegenwirken zu können. Schon hier werden sich in der Aneignung der Sprache die Differenzen des Talentes zeigen, bei einigen die größte Leichtigkeit in der Aneignung, bei anderen die größte Langsamkeit verbunden mit den häufigsten Verwirrungen. Es ist deshalb besonders nothwendig dem schwachen zu Hülfe zu kommen und ihn zu unterstüzen, obwol die Differenzen sich nicht ganz werden ausgleichen lassen.

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dieser Hinsicht der entscheidende Einfluß der Sprache? Vermittelst der Sprache 1.) Eine Überzeugung zu bilden, wodurch die Opposition aufgehoben wird 2.) dann eine Überredung durch Hoffnung, und 3.) eine durch Furcht. Die Überzeugung kann nicht anders bewirkt werden als durch die Sprache. So wie es schon Beziehungen der Bewegungen gibt so werden sich auch Versprechungen und Drohungen dem Kinde verständlich machen lassen, und es läßt sich fragen ob diese pädagogische Thätigkeit in Beziehung darauf in dieser Periode erfolgen soll. Allerdings aber was für eine? Da kommen wir in ein Dilemma. Auf der einen Seite die gegenwirkende pädagogische Thätigkeit immer eine secundäre, die ursprüngliche eine entwickelnde und fördernde. Offenbar immer etwas zu versäumen wenn man eine solche Opposition sich begründen läßt, woraus hernach theils der Ungehorsam theils der Eigensinn sich entwickeln. Wir haben gesagt die entwickelnde sey die primäre. Ist eine solche in Beziehung auf den Willen möglich in dieser Zeit, wo es noch keine Wirkung durch die Sprache gibt? Nicht zu läugnen daß sich eine Lust und ein Verlangen in den Kindern erregen läßt. Da würde die Frage die seyn, ob nicht das die eigentliche Form sey die Opposition zu beseitigen, in den Kindern einen anderen Willen zu entwickeln und so ihren Willen auf einen anderen Gegenstand abzuziehen. Je früher das geschieht desto weniger kommt die Opposition bey ihnen zum Bewußtseyn. Dadurch wird der in der Entwicklung begriffenen Freyheit kein Nachtheil beygeführt, und keine Verunreinigung in den Willen gebracht (wenn die Kinder nur aus Furcht oder Hoffnung gehorchen, nicht Gehorsam, nur Lust.) Keine Lust in ihnen zu erregen für einen Gegenstand von welchem man unter anderen Umständen wieder ablenken würde. Aber so wie es solche freye Thätigkeit gibt, so wird man immer sie 7 Kinde] Kinde werden

10 Dilemma] Lemma

14 sich] sich hernach

Wir sind hiemit an das Ende des ersten Abschnittes gekommen, und die zulezt genannten pädagogischen Einwirkungen bilden den Uebergang zu dem zweiten Abschnitt; denn alles was auf Entwikklung des Sprachvermögens in dem ersten Abschnitt vorkommen kann, ist propädeutisch für die Aneignung der Sprache selbst, deren Entwikklung im zweiten Abschnitt vor sich geht. Eine ähnliche Bewandtniß nun hat es mit der Wi l l e n s e n t w i k k l u n g . Es fragt sich, was in dieser Beziehung schon im ersten Abschnitt geschehen soll, in so fern der Wille als anfangendes Streben nach Selbständigkeit und als in Opposition gegen die pädagogische Thätigkeit betrachtet werden kann. Sobald die willkührlichen Bewegungen sich mit Bewußtsein consolidiren, und sobald bezeichnende Bewegungen auch schon vor der Sprache vorkommen: so ist eigentlich auch Willensäußerung da, und es ist immer möglich daß das Kind seinen eigenen Willen dem älterlichen und erziehenden Willen entgegen habe. Es wird auch dies einer pädagogischen Thätigkeit unterliegen, deren Qualität wir aber nur genauer erkennen, wenn wir uns klar gemacht haben was in Hinsicht auf die Entwikklung des Willens der entscheidende Einfluß der Sprache ist.“

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auf eine Thätigkeit führen können, wozu ihre Selbstbestimmung sich hinzufügt, wie sie ohne dieß in der pädagogischen Tendenz des Abschnitts liegen. Hier würden wir uns bemüht haben und die Regel aufgestellt haben daß das beste Mittel sey, der bestimmten Willensäußerung eine andere zu substituiren, je früher desto besser, auf jeden Fall aber kann die Willensäußerung so vollständig seyn, so muß man nichts positives thun, sondern gleich diese ablenkende Thätigkeit daran knüpfen. Noch ein anderer Fall möglich. Wenn man will daß die Kinder etwas thun sollten, und der erziehende Wille der ursprüngliche ist und sie wollen es nicht das ist etwas anderes. Hier ist um so mehr als eine bestimmte Verständigung vor Entwicklung der Sprache [besteht] eine große Vorsicht zu gebrauchen, um diesen Fall zu verhüten. Es kommt schon alles darauf an, die Form in welcher sich der Erziehende ausspricht, zu bestimmen, und zu unterscheiden. Eine ze r s t ö r e n d e Thätigkeit soll nie ausgeübt werden. Daß man den Kindern einen Willen frage wies gefällt, und erst wenn sie sich weigern, sie bestimmen, da entsteht E i ge n s i n n . In dieser Sache des Ernstes nicht zu spielen. Dann ebenso nothwendig was einmal so ausgesprochen ist, das muß auch zur Ausführung kommen, sonst verlieren die Kinder den Glauben an den gebietenden Willen, und durch Zeichen der Unlust oder Schmeicheley suchen sie den Willen des Erziehenden nach dem ihren zu lenken, daraus Fehler der Erziehung. Dieß die zwey 13–18 Vgl. SW III/9, S. 303: „Die Form in der sich der erziehende Wille ausspricht, ist zwiefach, die gebietende befehlende Form, und die bloß erregende d. h. fragende oder vorschlagende Form. Wo man mit der lezteren angefangen hat, da wäre es ein Widerspruch hernach zu gebieten und auf die eigentliche Willensrichtung keine Rükksicht zu nehmen. D i e e rst e R e g e l ist hier diese, N i c h t s d a r f m a n d e n K i n der n zu er s t v o r s c h l a g e n w a s m a n n a c h h e r i n e i n e n B e f e h l v e r w a n d e l n w i l l oder muß. Wenn wir etwas vorschlagen: so wollen wir nur die Selbstthätigkeit die Selbstbestimmung hervorlokken; diese aber zerstören wir wieder, wenn wir in dem Fall daß die Kinder nicht wollen, befehlen; es entsteht Eigensinn und wir erregen in den Kindern einen Widerwillen gegen unseren Willen. Alle Nekkerei haben wir schon aus dem pädagogischen Kreise verbannt, selbst wenn die pädagogische Thätigkeit nur in der Form des Spieles mit den Kindern auftritt: wieviel mehr auf dem Gebiete des Ernstes.“ 22–1 Vgl. SW III/9, S. 303–304 (Zusatz): „Den aufgestellten zwei Hauptregeln | kommt noch eine d ri t t e zu Hülfe, Eben deswegen weil das einmal befohlene durchaus geschehen muß, so darf man n i c h t s b e f e h l e n w a s n i c h t n o t h w e n d i g z u b e f eh l e n i s t. Es ist dies die ganz nothwendige Compensation, schon aus rein ethischen Principen zu rechtfertigen, auch wenn es gar keine eigentlich pädagogische Thätigkeit gäbe. Man soll jedes Menschen Selbständigkeit achten, und nie soll der einzelne dem einzelnen in dieser Beziehung entgegentreten, sondern nur wenn er es im Namen des ganzen dem beide angehören, thun kann. Nun wird das Kind in den Fällen wo es sich um einen Befehl handelt, als ein solches gesezt in dem schon Selbstthätigkeit ist: so muß es auch demgemäß geachtet und behandelt werden. Was geboten werden muß, das ist hier das was die Aeltern aus dem Standpunkt des ganzen, dem auch die Kinder angehören, gebieten können. Die pädagogische Thätigkeit ist hier die Anwendung des allgemeinen ethischen Princips.“

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Hauptregeln, denen eine dritte zu Hülfe kommen soll. Wir sehen daß es gleich bleiben muß auch im folgenden Abschnitt dieser Periode bis der Zeitpunkt eintritt, wo man fragen kann: Ist auf die Üb erzeug u n g der Kinder zu wirken in Beziehung auf etwas das ihnen geboten oder verboten ist? Es wird nur die Äußerung eine andere Form und Bestimmtheit gewinnen. Wir werden dieses müssen gelten lassen für den folgenden Abschnitt.

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II. Abschnitt der I. Periode.

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Die Aneignung der Sprache sehen wir als schon gegeben an, daß das Kind Thatsachen seines Bewußtseyns geben, Sätze bilden kann, wenn auch nicht in grammatischen Formen. In Beziehung auf diesen Punkt nur Eins noch zu berühren. Es ist nicht zu verkennen, daß sich der Typus des menschlichen Verstandes, die Subsummtion des Einzelnen unter dem Ganzen bey dem Kinde in der Aneignung der Sprache zuerst auf eine ganz bestimmte Weise entwickelt. Beydes eigentlich Eins und dasselbe, daß die Gegenstände Vorstellungen werden im Bewußtseyn, und ausgesprochen durch das Wort. Das ist das Subsummiren des Einzelnen unter das Allgemeine. Damit hängt zusammen daß sobald Regeln für die Beugung der Sprache beginnen die Kinder auch die Regelmäßigkeit suchen, aber anders als sie in der Sprache gegeben ist, sie können die verschiedenen Fälle noch nicht unterscheiden, sie machen sich ihre eigenthümliche Grammatik die nicht die wirkliche ist. Dieß ist nur der zweyte Theil, die Fortsetzung von der Art wie sich die erste Aneignung der Sprache die Production der articulirten Töne entwickelt. Da offenbar zweyerley zu unterscheiden. Einiges rein aus der Nachahmung oder mit dem freyen Spiel der Werkzeuge. Daher eigenthümliche Töne der Kinder, freye rein Spracherfindende Thätigkeit des Menschen. Derselbe Proceß hernach in Beziehung auf die Beugungen. Soll man den Proceß so wie möglich beschleunigen daß das Kind bald in die Regeln der Sprache hineinkömmt? Wenn man mit den Kindern in ihrer Sprache spricht, so fehlt man da eine Wirkung im Großen, man verspricht ihnen, was man hernach nie hält, in ihre Sprache einzugehen. | Die Kinder bekommen dadurch ein Bewußtseyn daß sie die Erwachsenen beherrschen. Aber wenn man auf der anderen Seite den Kindern keinen einzigen Fehler durchläßt ohne ihn zu korrigiren, so ist das eine pedantische Übertreibung. Die Kinder sprechen viel rein 23 die] die die

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um zu sprechen, oder um gewisse Zwecke zu erreichen. Im ersten Fall sollte man ihnen immer das Richtige neben das Unrichtige, im letzten Fall ist natürlich daß man sicher sie auf die Sprache richte, dasselbe ist wenn man ihnen unnützer Weise etwas vorsagt. Es kommt darauf an daß man die Lust in ihnen erhält, daß sie sprechen um zu sprechen. Das erste Verhältniß der Gleichheit auf welches sie bestehen, sie wollen daß man sich mit ihnen unterhalten soll. Neues Verhältniß und neuer Einfluß auf die Kinder, Gegenstand welcher große Beachtung verdient. Wo die Familie vollständig ist, Eltern, Geschwister und helfende Personen, da ist es immer nachtheilig wenn die Lebensordnung so ist, daß nur die letzten (die Dienstboten) im Falle sind diesem Verlangen nachgehen zu können. Dadurch immer eine Vorliebe, und viele Eltern abgegangen. An das pantomimische Spiel beym Säugen muß die Unterhaltung durch Sprache sich anschließen. Natürlicher Weise der Vater auch, sonst tritt er zu sehr zurück, und seine pädagogische Thätigkeit bekommt dadurch einen herben Charakter – besondere Gunst. Von diesen Sprachversuchen um zu Sprechen muß die erste Kunst ihres eignen individuellen ausgehen, weil sie dann am meisten 1–4 Vgl. SW III/9, S. 306: „Sprechen sie um zu sprechen: so sollen sie dann auch sprechen lernen; und in diesem Fall kann man c o rri g i r e n und lasse ihnen nie einen Fehler durchgehen. Sprechen sie aber um etwas zu erlangen: so ist die Sprache nur Mittel und tritt in den Hintergrund; sie wollen durch ihr Sprechen die Aufmerksamkeit der erziehenden auf das lenken was ihr Verlangen ist. Sehen sie nun daß die Aufmerksamkeit sich nicht auf ihr Verlangen sondern auf die Redeweise richtet: so erregt das ihren Unwillen. Dies ist nie zu billigen.“ 7–9 Vgl. SW III/9, S. 306–307 (Zusatz): „Es tritt hier zuerst das Verhältniß der Gleichheit ein. Aber auch in diesem Fall darf man nicht von der allgemeinen Maxime abgehen, daß sich die Kinder stets des Verhältnisses der Unterordnung bewußt bleiben. Wenn die Ordnung des Lebens es fordert, so muß man sie abweisen mit ihrem Begehren Unterhaltung anzuknüpfen; aber auch dies | würde, wenn es zu oft geschähe, die Entwikklung hemmen: also muß man dazu Zeit finden ohne durch die Willkühr der Kinder sich von der bestehenden Ordnung abbringen zu lassen. Es knüpft sich in Folge der Unterhaltungen ein neues Verhältniß an, von großer Wichtigkeit für die Entwikklung.“ 12–2 Vgl. SW III/9, S. 307: „Es wird dadurch bei den Kindern eine große Vorliebe hervorgerufen gegen diese ihnen doch ursprünglich fremden, und die Liebe zu den Aeltern tritt zurükk. Die Mutter hat das erste Recht. Wir haben gefunden, daß sich an das pantomimische Spiel zwischen Mutter und Kind in der Periode des Säugens das erste Sprachspiel anschließen muß: es ist also auch der Mutter Beruf dies fortzusezen; und sie darf es sich nicht nehmen lassen sich mit dem Kinde zu unterhalten, sobald die Periode der Sprachentwikklung beginnt. Ebenso muß der Vater auch daran Theil nehmen; er würde sonst nicht nur zu sehr in den Hintergrund treten, sondern seine pädagogische Thätigkeit würde auch einen zu herben Charakter annehmen. Freilich wird in den meisten Fällen der Vater weniger dazu Zeit haben; das wird aber dadurch ersezt, daß so oft es geschieht, dies für die Kinder eine besondere Ehre ist. Die Wichtigkeit dieser Sprachübungen, die sich an die Unterhaltung mit der Umgebung anknüpfen, leuchtet wol noch mehr ein, wenn wir bedenken daß hier für die Kinder, indem sie dann überwiegend in dem Zustande der Ruhe sind, die Quelle der Entwikklung des individuellen sich öffnet.“

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im Zustand der Ruhe sind, und also ist das auf alle Weise ein sehr wichtiger Punkt. Zunächst darauf zu sehen was am Ende dieses [Abschnitts] eintreten soll: Der Übergang in die größere Jugendgemeinschaft welche den öffentlichen Jugendunterricht genießt. Dabey eine bestimmte Ordnung nothwendig, an die wir bis jetzt nicht gedacht. Soll sie hernach plötzlich eintreten oder allmählig? Unter Ordnung verstehe ich hier eine gewisse Zeiteintheilung und das Gebundenseyn gewisser Thätigkeiten an bestimmte Zeiten. Offenbar alles plötzliche Übergehen etwas Gewaltsames und der Natur nicht gemäßes also geeignet, Störungen hervorzubringen. Jeder solcher Fortschritt muß sich aber zu gleicher Zeit an eine physische Entwicklung anknüpfen. Die ist uns hier gegeben. Der 1. Gegensatz der Lebensthätigkeiten ist der zwischen Schlaf und Wachen. Bey den Kindern in der ersten Periode nicht an bestimmte Ordnung gebunden. Das Wachen anfänglich nur eine Unterbrechung des Schlafes. Die Ordnung darinn fällt in der Zeit ziemlich mit der Aneignung der Sprache [zusammen]. Nun muß die Entwicklung der Ordnung langsam vor sich gehen. Wie Ernst und Spiel in dieser Periode so zuletzt unentschieden bleiben so ist auch keine gänzliche Zeitordnung im Anfang. Die Kinder [tragen] eine andere Kleidung wenn sie schlafen als wenn sie wachen, der Ernährungsproceß auch zu einer bestimmten Zeit. Im eigentlich psychischen Gebieth aber muß diese Ordnung später eintreten. Die Kinder bedürfen Dienste. Die Dienenden erscheinen als Mittel, die denen gedient wird [als] der Zweck. Daher offenbar eine Umkehrung des eigentlichen Verhältnisses wenn sie sich einbilden, daß die Ältern zu ihrem Dienst da sind. Daher Mütter oft das Kind ganz selbst bedienen. Es kommt alles darauf an, daß sie so bedient werden, daß sie jenen falschen Schluß nicht annehmen können. Die Dienste die ihnen geleistet werden müssen von ihnen angesehen werden als Theil der Familienordnung. Das Herrschen der Kinder am besten vermeiden, wenn die Dienstboten alle an eine bestimmte Zeit gebunden seyen, nur daß der Schein verschwinde, als ob der Impuls von den Kindern ausgegangen. Nun den anderen Endpunkt zu betrachten, diesen: Wenn hernach jenes öffentliche Leben bey den Kindern angeht, so treten sie da in einer gewissen Selbstthätigkeit auf, sie sind für etwas verantwortlich. Diese Selbstständigkeit muß sich nach und nach in ihnen entwickeln. Daher müssen sie immer mehr von den Dienstleistungen der anderen unabhängig seyn. Diese Unabhängigkeit muß ihnen als ein Vorzug erscheinen. Das der erste Grund zum Bewußtseyn der persönlichen Freyheit welcher sich nur in diesem Verhältniß des Einzelnen dem er angehört 19 bleiben] bleibt

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entwickeln kann. Fühlt er sich immer von anderen abhängig so kann er zwar das falsche Bewußtseyn einer Herrschaft erlangen aber nicht das der persönlichen Freyheit. Das darf eben nicht eine besondere pädagogische Thätigkeit seyn, woraus das hervorgeht, sondern das muß aus der Ordnung im Hause hervorgehen. Die Kinder müssen sich nicht als Zweck oder als Ausnahme ansehen. In solchen Kasten wo die Familie keine dienenden Glieder hat und die Kinder lediglich an sich selbst gewiesen sind, da erwacht dieses Bewußtseyn der persönlichen Freyheit früher. Wir sehen deßwegen daß in den höheren Ständen diese verkehrte Mischung des Selbstbewußtseyns ist, daß sich beydes ein Bewußtseyn des Herrschens und ein Bewußtseyn der persönlichen Abhängigkeit mit einander verbindet. Das die unter uns und neben anderen Ländern vorkommende Standesverhältnisse, daß die rein persönliche Freyheit nicht die Basis davon ist, und sie beydes gleichmäßig für Vorzüge halten. Daher die Differenzen der Lebensverhältnisse in dieser und der folgenden noch nicht zum Bewußtseyn kommen dürfen, sondern erst am Ende der II. Periode entwickelt werden müssen. Ein dritter Punkt dieser. Wenn das Schulleben angeht, dann dieß ein bestimmter Gegensatz zwischen Ernst und Spiel. Das Leben in der Schule und dasjenige im Hause, was sich an die Schule anschließt, ist bestimmt Ernst und Geschäft, wogegen dann das Spiel eintritt. | Soll dieser Gegensatz plötzlich werden? Oder soll er vorbereitet werden? Wir werden das letzte vorziehen, so daß wir sagen die bestimmte Form welche das Geschäftsleben der Kinder hernach in der Schule bekommt, die kann es im Hause nicht haben. Wenn wir die Sache aus einem anderen Gesichtspunkt ansehen, so ists so: Im Bewußtseyn des Erziehenden hat von Anfang alles eine Beziehung auf diesen Gegensatz gehabt, denn wenn wir nun im ersten Abschnitt vor der Aneignung der Sprache Rücksicht genommen haben auf die Entwicklung von Fertigkeiten und diese als Zweck der Einwirkung auf die Kinder untergelegt, so was Q R der, aber nicht in den Kindern, sie muß allmählig in die Kinder übergehen. Das Materielle davon noch nicht zu entwickeln. Zuerst mit der Form. Halten wir uns zunächst an die Aneignung der Sprache. Anfangs bey den Kindern nicht den Charakter der 16–17 dürfen] müssen tenflecks

31 was] das folgende Wort ist unleserlich wegen eines Tin-

26–32 Vgl. SW III/9, S. 311: „Im Bewußtsein der erziehenden freilich hat jeder Antheil an der Leitung der Kinder eine Beziehung auf diesen Gegensaz gehabt; aber bei den Kindern war diese Beziehung noch nicht zum Bewußtsein gekommen: nun soll es allmählig geschehen.“ 33 Vgl. SW III/9, S. 311: „Dies wird erreicht zuvörderst dadurch, d a ß m a n i n d i e se m A b sc h n i t t d e n B e g ri f f d e r Z w e k k m ä ß i g k e i t u n d di e Gew ö h n u n g a n e i n z w e k k m ä ß i g e s Ve rf a h r e n s i c h e n t w i k k e l n l ä ß t .“

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Zweckmäßigkeit theils freye Production theils Nachahmung beym Kinde. Offenbar je weiter sich dieser Proceß entwickelt desto mehr muß der Zweck, daß ihre Sprache identisch werden sollte mit der der Erwachsenen, dieser Zweck muß ihnen bewußt werden je weiter die Aneignung fort schreitet. So wie wir gesehen haben, daß die Ordnung erst später kommen kann und zunächst in der leiblichen Seite des Lebens, so ist noch ein zweytes daß noch nicht statt findet, wenn die Kinder den Begriff der Zweckmäßigkeit erhalten sollen, daß bestimmte Punkte ihnen selbst erscheinen, wie durch ihre Thätigkeit, die in der Mitte sind zwischen Spiel und Übung, jedes mal erreicht werden soll, sondern es ist noch mehr dem Zufall überlassen was erreicht wird. So bald man hier solche Zwecke erreichen will von gewissen Übungen in bestimmter Zeit, so bringt man einen Unmuth ins Leben des Kindes hinein, und dieses muß verhüthet werden. In dieser Zeit soll es also immer mit Gemüth wohl erzogen werden und nun muß es sich zeigen auf welchem Gebiethe die Kinder am schnellsten vorwärts kommen. Alle Thätigkeiten der Kinder immer noch ein nicht rein aus einander treten von Spiel und Übung. Noch in der Indifferenz zwischen beyden bis der Charakter der folgenden Periode sich anfängt auszubilden. Gibt es aber und sollte es keine Mittelglieder geben zwischen diesem Charakter und dem Schlaf, so daß ihre ganze Wachzeit in solchem Zustand einem Mittelding zwischen Spiel und Übung vergeht? Beständig der Einfluß derer, die auf sie erziehend wirken, denn die Kinder sollen immer in dieser geleiteten Thätigkeit bleiben, und nie rein mit sich selbst leben, so lange sie wachen. Das scheint etwas unnatürliches zu seyn, und schon je mehr das Zusammenleben mit den Erziehenden den Charakter der Zweckmäßigkeit annimmt, desto mehr sollte ein Mit sich selbst leben bey den Kindern hinaus treten. Was soll dieses für einen Innhalt haben? Zweyerley als möglich voraus[zusetzen], nähmlich das reine Spiel mit irgend einem Apparat, dann eine bloß innere Thätigkeit, die sich nicht nach außen wendet. Diese muß hier im folgenden Leben einen immer größeren Theil einnehmen. Wie soll sich dieses gestalten? Je mehr schon reines Spiel bis die Kinder für sich allein treiben vorkommt, desto mehr muß sich der Gegensatz zwischen Spiel und Übung setzen. Wir müssen ein solches Glied nothwendig setzen, einen Gegensatz zwischen rein allein Leben 22–23 vergeht?] vergeht.

29 haben?] haben.

14–17 Vgl. SW III/9, S. 312: „Der eine hat zwar eine größere Portion von Geduld als der andere; aber keiner wird sich des Unmuthes erwehren können, wenn der Zwekk nie erreicht wird. Bestimmte Zwekke können nun eben noch nicht in dieser Periode erreicht werden, da man doch zuvor ihre Anlagen gründlicher muß kennen lernen; was geschieht, ist mehr versuchsweise.“

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und dem pädagogisch absichtlichen Zusammenleben. Wenn man davon ausgeht, daß die Kinder in dieser Periode nie allein seyn sollten, so ist das etwas Unnatürliches. Das Zusammenseyn mit den anderen ermüdend oder zerstreuend wenn sie immer mit denselben oder immer mit anderen Personen leben. Beydes ist unrichtig. Das Ermüdende ein Mißverhältniß gegen die kindlichen Kräfte. Das Zerstreuende schwächt die Tüchtigkeit. Soll es die einigende Form haben oder nur eine von beyden? Das reine Spiel erhält sich von selbst als ein in der Folge nothwendiges. Es fragt sich, soll es die andere Form auch haben, ein stilles Alleinbeschäftigtseyn, nur wieder ohne Beschäftigung mit einem äußeren Apparat? Hier eine gefährliche Lebensform – Müßiggang. Der soll eigentlich gar nicht statt finden, aber er ist es dann eigentlich. Der Müßiggang ist nichts anderes als ein Schein des Wachens ohne eigentlich wahr zu wachen. Die absolute Gleichheit des Gehalts zwischen der Seelenthätigkeit im wachen Zustande und der des Schlafes. Träumen im wachen Zustand. Diese Form des Müßiggangs soll nicht vorkommen. Gibt es aber ein Alleinbleiben beym Kinde welches kein Müßiggang ist, dann ist es das, was wir zunächst entwickeln müssen. Eine absolute Unthätigkeit nicht nachzuweisen sondern nur ein Minimum allein kann uns es so betrachten. Ob es nicht einen Zustand geben kann, der nach Außen keine Thätigkeit manifestirt, aber doch keineswegs so ein Minimum ist, so müssen wir es bejahen, und können zweyerley solche Zustände nachweisen. Der eine der Contemplation, ein Zurückgezogenseyn in sich selbst, worinn aber überall eine ideale Lebendigkeit, Beziehung zwischen dem was in der inneren Wahrnehmung ist und den größten, höchsten Ideen, z. B. dem Zustand der Andacht, der keine Thätigkeit nach außen zu manifestiren braucht. Die speculative Thätigkeit die aber in der Werkbildung begriffen ist gehört allerdings auch hieher. Das zweyte allgemeine die imaginative Thätigkeit, die in ihrem Maximum betrachtet in einer Conception irgend eines Kunstwerks besteht – das innere Spiel der Phantasie findet sich in allen Menschen mit einer inneren Productivität. Also nur die Frage, da diese Zustände wesentlich sind, nur bey verschiedenen Menschen in verschiedenem Maaß vorkommen, ob dazu in dieser Zeit ein Analogon ist. Ein körperliches Analogon aus dem leiblichen Leben zu Hülfe zu nehmen. Das Aufnehmen 11 Apparat?] Apparat. 16 Schlafes] am Rand folgt: die absolute Gleichheit des Gehalts zwischen der Seelenthätigkeit eines wachenden Zustandes und eines 18 kein] ein 24 Contemplation] contemplation 28–29 Vgl. SW III/9, S. 314: „Aber auch die speculative Thätigkeit, in so fern sie noch nicht in einer Werkbildung begriffen ist, läßt sich hier anführen, nur ist sie nicht so allgemein.“

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der Nahrungsmittel der erste Process, der | ist eine solche relativ äußere Ruhe. So ist [es] auch bey der Aufnahme von Wahrnehmungen auf der einen Seite und der wirklichen das sind zwey Punkte, die einen solchen Mittelzustand zwischen sich haben, den ersten Proceß der innern Verarbeitung. Diese Production nach außen in dem eignen Leben, wodurch die Wahrnehmung auf die Zukunft producirt wird. Diese Periode von der Aneignung der Sprache bis zum Ende der Kindheit ist die wo das Kind in eine gewisse Ordnung gebracht wird welche die Grundlage fürs ganze Leben gibt. Wenn hier das individuelle der Kinder sich anfangen soll zu entwickeln so sehen wir, wie von höchster Bedeutung der intellectuelle Proceß seyn kann. Dagegen sehen wir wie es oft in Müßiggang ausgeht, eine Analogie von Schlaf, der wirkliche Müßiggang bringt eine Schlaffheit hervor, wogegen jener eben das innerlich Tragende ist. Daher die Nothwendigkeit beydes zu unterscheiden. Dieß eine der wichtigsten Aufgaben der erziehenden Thätigkeit in dieser Periode. Man muß die Kinder bey diesem Proceß des inneren Sinnes schützen, aber dabey zu unterscheiden, ob sie im natürlichen Zustand oder im wirklichen Müßiggang sind. Dazu kein anderes Mittel (Rechenschaft zu geben sind sie noch nicht fähig – mehr mit Bildern als in Worten) als daß man Acht gibt, ob die Kinder im Zustand der Langenweile sind, das erste Product des Müßiggangs. Diese hat ihre physiognomischen Zeichen, nicht anzugeben weil sie vom Temprament ausgehen. Aber das als Zeichen von Art von Unzufriedenheit das die Langeweile bewirkt Mißmuth und hingegen Heiterkeit, die das freye intellectuelle Spiel hat, wird man leicht unterscheiden, und dem ersteren Einhalt zu thun suchen, das andere gewähren lassen. Der wahre Zustand der Kinder also in diese zwey Elemente getheilt, eine Thätigkeit in welcher der Gegensatz von Spiel und Übung noch nicht von einander getrennt ist, und in das Element der rein inneren Verarbeitung. In dieser ist bloß die Selbstentwicklung des Lebens und keine pädagogische Thätigkeit nur die Sorge daß es nicht in Müßiggang ausarte. In jener liegt alle Einwirkung der pädagogischen Thätigkeit in dieser Periode. Diese haben wir uns näher zu beschreiben. Was die allgemeine Beschreibung des Zustands be10 wie] wie dieser 2–6 Vgl. SW III/9, S. 315: „Die wirkliche Assimilation in das eigene Leben vermittelt auf ähnliche Weise das Aufnehmen von Wahrnehmungen und die späteren Productionen. In dem Zeitraum mit welchem wir es jezt zu thun haben, ist jene aufnehmende Thätigkeit am stärksten; die ganze umgebende Welt kommt ja in das Kind hinein und ordnet sich in ihm in einer bestimmten Form. Wollten wir nun diesen Prozeß hemmen, so könnte die Wahrnehmung und die Assimilation nicht die befruchtende und ernährende Kraft ausüben.“

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trifft noch etwas: In dem Kinde selbst soll allmählig gegen Ende dieser Periode die Opposition zwischen Spiel und Ernst bestimmt aus einander treten. Aber erst allmählig soll er sich entwickeln, also in den Kindern noch nicht, jede Thätigkeit ihnen vollkommen gleichartig. Aber in den Erziehenden doch nicht dasselbe, da immer weniger, daran immer etwas wodurch sie bestimmte pädagogische Thätigkeit hineinbringen. Das andere von der Art daß es ihnen mehr als Spiel erscheint. Daher darauf zu sehen daß die Übung den Charakter des Spiels nicht verliere und was ihnen als Spiel erscheint soll doch zu gleicher Zeit den Charakter der Übung bekommen. Im Spiel [soll] immer eine gewisse Fertigkeit geübt werden, und wenn sie das Spiel in Anübung von Fertigkeiten sehen, nicht zu viele Forderungen von der Form der Erziehung zu machen. Wozu soll nun also diese Zeit benutzt werden, so müssen wir auf das Ende derselben sehen. In jedem einzelnen Act soll die Beziehung auf das allgemeine Ende der Erziehung überhaupt liegen. Wenn wir uns denken wie weit muß ein Kind entwickelt seyn um mit rechtem Nutzen und ohne Nachtheile in den Zustand der größeren Gemeinschaft in den öffentlichen Unterricht überzugehen, so kommt es da auf das Formale und das Materiale an. Von anderen Formeln haben wir schon einen bedeutenden Punkt berücksichtigt, nähmlich im öffentlichen Unterricht herrscht durchaus O r d n u n g und ohne diese kein Gedeihen, weil eine größere Masse derer zusammen ist. Daher soll der Sinn an die Ordnung in dieser Zeit allmählig hervorgebracht werden. Sonst bietet man den Kindern wenn sie in die öffentliche Erziehung treten desto schwierigeren Stand je mehr am Ende dieser Charakter davon fehlen würde. Wir haben schon zugegeben, daß so wie jeder Lebensmoment ein natürlicher Theil des Lebens für sich ist, und jeder in diesem seinen eigenthümlichen Charakter soll genossen werden und nicht als Mittel für einen späteren angesehen: so könnte man leicht sagen: Wenn [man] die ganze Periode verwenden will, damit die Kinder hernach in der Gewöhnung an Ordnung in die Schulzeit übergehen, so hat man diese Zeit der späteren aufgeopfert, die Ordnung hier noch ein Zwang. Daher könnte man sagen man sollte den Kindern den Zwang ersparen und es darauf ankommen lassen. Schon das gemeinsame Leben übt eine wunderbare Gewalt aus, so daß Kinder die zu größter Bildung kamen, sich der Ordnung fügten. Wenn sich dieß zeigt so kann man dieß nicht anders ansehen als daß eine desto schnellere Entwicklung erfolgt als sie vorher gehemmt war. Was wird also die wahre Vermittlung seyn? Wenn in dieser Periode wo die reine Familienerziehung vorwaltet die Gewöhnung an die Ordnung auf solche Weise betrieben 24 hervorgebracht werden] hervorzubringen

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wird, daß das Kind sie als Zwang empfindet, dann wäre es gefehlt, als wenn sie allmählig geschieht, die Zustimmung des Kindes [erhält] daß die Kinder selbst zusagen im Resultat wahrscheinlicher erscheint, dann ist man in dem Übergang von einem Zustand in den anderen. Die Zeit wo die Mutter das Kind säugt ist die wo die übrigen Hausgeschäfte mehr oder weniger QverblassenR, da hat das Kind gewisse billige Ansprüche an fast die ganze Zeit der Mutter. Ist diese Phase vorüber, dann tritt ein großer Wechsel ein, also wird es von selbst mit allen seinen Lebensäußerungen in die Ordnung des Hauses hineingeführt. In diesem Wechsel zwischen Selbstthätigkeit und dem Leben mit anderen ist schon die ganze Ordnung der Familie abgebildet. Hier kann keine Erscheinung von Zwang statt finden, wenn man nicht die Kinder vorher schon verwöhnt hat, daß man ihnen ein Herrschen einräumt. Hier nun der ethische Charakter, die allmählige Gewöhnung an Ordnung muß so erfolgen daß [sich] die Fröhlichkeit der Jugendzeit nicht verringert sondern erhöht. Erst mit der Aneignung der Sprache fängt das Gedächtniß an sich auf eine bestimmte Weise auszubilden. Wie die Sinnesb i l d e r überhaupt nur zusammengenommen die Wahrnehmung ausmachen – so ist das bestimmte Wiedererkennen immer erst an das Wort als das Zeichen des Denkens geknüpft und das bestimmte Wiedererkennen des einzelnen Gegenstandes in Bezug auf die allgemeine Vorstellung wird | erst durch die Aneignung der Sprache fixirt. Nun offenbar auch die Reflexion nicht als ein absichtlicher Zustand aber als ein Wirkliches begleitet, auf dieselbe Weise an die Entwicklung der Sprache gebunden, daß das Kind seine eignen Zustände erst von dieser Zeit an bestimmt unterscheidet. Mit dem Gedächtniß ist auch die Erwartung, das Vorausschauen in die Zukunft verbunden, beydes entwickelt sich parallel mit einander, indem eines durch das andere bedingt ist. Es ist die Ordnung im Leben wodurch erst eine bestimmte Erwartung möglich ist – wir müssen also sofern daß die Ordnung könnte als Zwang erscheinen, dieß entgegnen, daß sie die einzige Bedingung [ist] unter welcher diese Funktion der geistigen Thätigkeit möglich ist. Von einer bestimmten Erwartung hängt ja auch alles bestimmte Wollen ab. Wir haben früher gesehen, daß es im 6 da] das

10 In diesem Wechsel] Dieser Wechsel

32 welcher] welcher sich

2–4 Vgl. SW III/9, S. 318: „Wi r d a b e r d i e G e w ö h n u n g a n O r d n u n g a l l m ä h l i g f i x i r t, v o n e i n e r p h y si sc h e n L e b e n sf u n c t i o n a u s g e h e n d u n d ü b e r e i n s t i m m en d m i t d e r a l l g e m e i n e n N a t u ro rd n u n g u n d v e r b u n d e n m i t d e r B i l l i g u n g d e r K i n d e r: so w i rd k e i n e A u f o p f e r u n g e i n e s M o m e n t s e r f o r d e r t , u n d ei n n a t ü rl i c h e r U e b e rg a n g v o n e i n e m P u n k t z u m a n d e r e n f i n d e t s t a t t . Es ist auch offenbar, daß dies von selbst erfolgen wird, wenn nur in dem Familienleben die gehörige Ordnung herrscht.“

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ersten Abschnitt wenig oder kein bestimmtes Wollen gab, dieser Wille wird erst mit der bestimmten Erwartung hervor gehen. In dieser liegt daß von einer Thätigkeit aus das oder dieß geschehen würde. Aber alle Sicherheit der Erwartung hängt von der Ordnung ab. Je mehr sich in dieser Zeit eine bestimmte Willensthätigkeit entwickelt desto mehr muß dem Kind die Ordnung als etwas Willkommenes erscheinen und dieß wird desto weniger Zwang seyn je mehr sie sich an die eigne Willensthätigkeit anschließt. Wenn man diese zurückhält, und die Kinder in einem Zustand von Passivität hält (wenn man auf die kleinste Annehmlichkeit im Zustande sieht) dann wird ihnen die Ordnung zur Last, weil das Unerwartete immer die Erwartung erhöht. Daher das ein bestimmtes Kennzeichen ob die ganze Erziehung hier auf die rechte Weise fortschreitet. Unlust an der Ordnung ist ein Boden für Passivität und zeigt einen ganz verkehrten Gang der Erziehung an. Ist ihnen die Ordnung zuwider dann kann man mit der inneren Verkehrtheit bestimmt rechnen. Alle weitere Entwicklung des Wissens ist natürlich zunächst an die Sprache gebunden, und dieses beydes wird in beständiger Verbindung mit einander zu fördern seyn. Hiebey kommt es nicht nur noch auf die Erweiterung der Vorstellungen von Gegenständen [an] sondern indem in der Sprache auch schon zwey Hauptformen liegen, das Hauptwort und das Zeitwort (alle Bezeichnung von Thätigkeiten oder Veränderungen), so sind es nicht bloß die sinnlichen Gegenstände welche dem Sprachreichthum ihren Innhalt geben, sondern auch Erfahrung und Beobachtung, durch diese allein können Veränderungen wahrgenommen werden, ein Gebieth wo es keiner pädagogischen Thätigkeit zu bedürfen scheint, sondern es ist der Trieb selbst der in der Sprache seinen Leiter gefunden hat der natürliche Fortschritt der Sprache und die Gegenstände von außen. Nun dabey zwey Fragen. Eine in Beziehung auf das Wissen an sich, ist eine ganz allgemeine: Soll eine pädagogische Thätigkeit hinzukommen, welche die Schranken aufhebt an die das Kind gebunden ist durch die Beschaffenheit der Außenwelt in welcher es sich allein bewegt und so auch das Entfernte in seinen Wirkungskreis kommt? Die andere mit dieser verbundene bezieht sich auf die Sprache als solche in wiefern 15 dann] daß 24 Beobachtung,] als Wiederholung mit Einfügungszeichen am Rand: so müssen auch nicht die sinnlichen Gegenstände allein der Sprache ihren Reichthum geben, sondern es sind Erfahrungen 25 wahrgenommen] wahrgenommen wahrgenommen 33 kommt?] kommt. 26–28 Vgl. SW III/9, S. 321: „Der innere Trieb, der in der Sprache seinen Leiter und in der äußeren Umgebung die Quelle von Gegenständen findet, scheint sich von selbst weiter entwikkeln zu müssen.“

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für die Aneignung der Sprache durch den unmittelbaren Lebenskreis bestimmt wird, ob nicht auch hier schon die Erziehung zu Hülfe kommen müsse, und mehrere Sprachen in die Übung der Kinder bringen. Diese Frage nicht allgemein weil die Bedingung fast einer Mehrheit von Sprachen überhaupt nicht allgemein ist. Der Gegenstand selbst aber ist analog mit dem vorigen, das Fremde in den Kreis der Kinder zu ziehen. Die Frage auf ein Allgemeines zurückzuführen und von diesem aus können wir eine gemeinschaftliche Antwort für beydes finden. Ob überhaupt schon in dieser Zeit eine Bezugnahme auf das Fremde ihren Ort habe (fremd hier was von selbst in den Wahrnehmungskreis des Kindes nicht kommen würde). Ist die Frage im Allgemeinen zu verneinen dann haben wir eine gemeinschaftliche Antwort für beyde Fragen, wo nicht so müssen wir einen anderen Gesichtspunkt aufstellen. (Denken wir an die einseitigen Maximen der Erziehung die wir uns vorher gefunden haben.) Gehen wir aus von der Thätigkeit der Sinne in der Wahrnehmung, so können wir nicht läugnen die bloße Receptivität ruft immer die Spontaneität hervor, diese ist auf unserem Gebieth nichts anderes, eine Productivität in Beziehung auf sinnliche Eindrücke (Phantasie im engeren Sinne). Diese schafft freylich nichts, aber [sie] ist ein Spiel mit empfangenen Sinneseindrücken, ein freyes Spiel der Combination mit den Elementen des Wahrgenommenen. Diese Thätigkeit ist auch eine dem Menschen natürliche, und weil sie auf den realen Lebensverhältnissen in den Functionen des geistigen Lebens beruht, so ist sie wesentlich. Die Selbstthätigkeit kann nicht in einem gewissen Gleichgewichte mit dem Aufnehmen entwickelt werden in eigentlichen Handlungen, sie hält sich an das Nächste, an diese Thätigkeit der Sinne, und daher finden wir, die Kinder häufig in einer Art von Dichten sowohl in Absicht auf Gegenstände als Veränderungen. Nun offenbar daß man keine Thätigkeit die sich von selbst entwickelt aus der Leitung der Erziehung ganz ausschließen darf. Nimmt die Erziehung diesen Gang so ist sie etwas rein nichtiges, gehört weder ins System der empfangenen Eindrücke, und hat keine Verwandtschaft mit den Thätigkeiten welche sollen ausgeübt werden. Mangel an Ökonomie wenn eine Thätigkeit sich mit dem bloß Leeren beschäftigt und sich aufreibt. Wenn man die fremden Gegenstände nicht selbst in den Kreis der Kinder bringen kann, so kann man es nicht anders, als wenn man diese Thätigkeiten selbst ins Spiel setzt und so bekommt [man] eine Richtung 21 der] der der 28 die] die daß 29 Veränderungen.] als Wiederholung mit Einfügungszeichen am Rand: (Die Leitung dieser Thätigkeit darf man nicht ganz aus der Erziehung auszuschließen).

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aufs Reale. Daher scheint die Frage von einer Seite beantwortet werden zu können – ja zu müssen, wenn nicht noch eine fruchtbarere Beschäftigung für jenen Trieb [sich] denken läßt. Durch Bilder und Erzählungen außerhalb des Hauses ihre eignen Erfahrungen überall an die Kinder anfüllen. Jener ursprüngliche Trieb der Kinder nicht anders als nachdem die allgemeine Form der Vorstellungen aufgenommen ist das Aufsteigen vom Besonderen zum Allgemeinen und wenn es nicht da ist es zu suchen. So wird aber bey der Wahrnehmung vorbey hinaus gespielt. Diese Antwort will nur zu der einen von unseren Fragen stimmen. Zu der die Sprache betreffenden nicht. Hier gehen die Kinder einen umgekehrten Gang. Anfangs das Sprechenwollen bey ihnen eine Productivität, sie erfinden sich ihre Zeichen selbst. Aber weil die Sprache etwas Gemeinsames so geben sie sich immer mehr in diese Sprache hinein. Aber dann bekümmern sie sich auch weiter nicht, sie nehmen die Sprache nicht als Einzelheit, sondern als Einheit. Woher also diese Versuche, den Kindern in dieser Periode schon andere Sprachen beyzubringen? In unserm Leben gibts eine zweyfache Richtung auf fremde Sprachen, die eine durch den allgemeinen Weltverkehr in der Gegenwart bedingt, die andere durch den Zusammenhang der Gegenwart mit Vergangenheit. Die letztere gehört dem historischen Standpunkt an, unsere Cultur nur im Zusammenhang mit der früheren. Bedürfniß welches nur für diejenigen im Leben einen Werth hat, welche auf dem geschichtlichen Standpunkt stehen sollen. Das andere gehört dem Cosmopolitischen Standpunkt an, und dieser bezieht sich uns wesentlich nur auf zwey verschiedene Functionen, auf die die | einen Antheil an der Regierung haben, die andere Function der große Geschäftsverkehr in so fern er in den großen Welthandel übergeht. Verkehr der Völker zu gegenseitigem Austausch. Hier fragt sich[:] Ist irgend ein Grund vorhanden diese Beziehungen schon in der Kindheit geltend zu machen? Von Seite des Cosmopolitischen Standpunktes gar nicht. Diese ohne diese beschränkte Verbindung mit fremden Sprachen gehört nur zu dem technischen des einzelnen Geschäftes, das wird leicht erworben werden können, sobald das Geschäft schon bestimmt ist, die frühere Erlernung der Sprache bringt 7 Besonderen] Allgemeinen allgemeinen

31 diese] dieß

1–5 Vgl. SW III/9, S. 323: „So scheint die Frage bejaht zu sein, ja bejaht werden zu müssen; denn jener Trieb soll vorbildend sein: w i e d a s S p i e l d e r P h a n t a s i e s i c h z u e r s t e i n e We l t se l b st b i l d e t , so so l l si e – a l s l e b e n d i g e g e i s t i g e K r a f t – di e w a h r e Wel t a u f n e h m e n i n i h re r Vo l l st ä n d i g k e i t . D a h e r finden wir in der Erziehung allgemein, und es ist auch ein richtiger Instinct, daß man die Sinne der Kinder und ihr Combinationsvermögen anzufüllen sucht mit B i l d e r n f r e m d e r G e g e n s tä n d e u n d E rz ä h l u n g e n d e sse n w a s a u ß e r d e m K r e i s e i h r e r E r f a h r u n g l i e g t.“

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die Bestimmung dazu auch nicht hervor. Bey vielen kann die Erlernung einer fremden Sprache verbunden seyn mit dem Wechsel eines solchen Geschäftes. Das liegt so weit ab daß es durchaus weiter hinaus gesetzt werden muß, um nicht die pädagogische Thätigkeit unnötiger Weise complicirter zu machen. Bey Antheil an der Regierung finden wir, daß wir kein anderes Resultat als wie wir es uns a priori würden gegeben haben, wo man am meisten eine angeborne Ungleichheit voraussetzt – wo das nicht der Fall ist da denkt man auch weniger daran, und gerade weil es so ist, bekommen die Kinder schon ein Bewußtseyn dieser Ungleichheit zwischen ihnen und anderen Kindern, wenn sie in zwey Sprachen sich verständigen können, die anderen nur in einer und je natürlicher auf diejenigen einen großen Werth legen, wenn ihnen dieser Vorzug erscheint, d. h. in der fremden Sprache. Je mehr man diese Meynung von dieser Ungleichheit erhalten will desto rathsamer. Es ist offenbar daß verschiedene Sprachen nicht ein und dasselbe System von Vorstellungen haben sondern daß die allgemeinen Vorstellungen auf eine andere Weise auf das begrenzt sind, die Differenz verschieden je nachdem die Sprachen einander verwandt sind, oder in der Entwicklung der Cultur einen unnatürlichen oder differenten Gang genommen haben. Schon dieses daß mehr Sprachen die untergeordneten Begriffe durch besondere Wörter ausdrücken während andere Zusätze dazu nehmen[;] das ist eine wichtige Differenz. In der einen Sprache der Ausdruck mehr definirt, in der anderen mehr ein einfaches Zeichen, an welchem von der Operation nichts mehr zu finden ist. Es ist nothwendig offenbar daß durch nothwendige Dupplicität der Sprache die andere Operation dadurch mehr gehemmt wird als gefördert, und sehen wir darauf daß es auch das System von menschlichen Handlungen ist welches in der Sprache niedergelegt ist und wir nicht läugnen können daß hier die Differenz am stärksten ist weil sich der Nationalcharakter darinn ausdrückt, so sehen wir daß der Ausdruck hier gehemmt wird. In dem hier das Auffassen zu glei30 Nationalcharakter] )Na* Bewegung 13–15 Vgl. SW III/9, S. 325: „Wo m a n m e h r e r e S p r a c h e n in gewissen Klassen neben der Muttersprache d e n K i n d e rn b e i z u b r i n g e n s i c h b e s t r e b t , d a i s t a u c h g ew ö h n l i ch d i e N e i g u n g d i e U n g l e i c h h e i t f o r t z u p f l a n z e n . Dies erfordert aber noch eine Erörterung, damit es nicht als einseitige Parteimeinung erscheine. Man sagt, daß nicht sowol diese Neigung jenes Bestreben hervorrufe, sondern man unterrichte in fremden Sprachen um den Reichthum an Vorstellungen durch diese Operation zu vermehren.“ 31–3 Vgl. SW III/9, S. 326: „Weil aber das Auffassen fremder Handlungsweisen und Charaktere einen bedeutenden Einfluß hat auf die eigene Handlungsweise und den eigenen Charakter, und ebenso weil das Auffassen einer fremden Sprachbildung mit der Entwikklung der eigenen Sprache in sehr genauer Verbindung steht: so kann i n s o f rü h e r Z e i t , in der ein festes Auffassen noch nicht stattfindet, n u r v er w i r r e n d sein f re m d e S p ra c h e n z u e r l e r n e n . “

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cher Zeit in wesentlicher Verbindung stehe mit der Handlungsweise oder dem Charakter so hat sie auch hier einen Einfluß, und in allen wesentlichen Beziehungen einen nachtheiligen. Dieses Bestreben kann also unmöglich bestehen mit Berücksichtigung auf die rechte logische und ethische Fortentwicklung. Ja noch eins wird daraus folgen[:] Je mehr ein Volk in der Verbindung mit anderen selbstständig auftritt, desto mehr macht es an die anderen die Zumuthung, daß der Verkehr durch seine eigne Sprache vermittelt werden soll oder durch die Vermittlung einer anderen die einer historischen Sprache. Wenn ein anderer in meiner Sprache redet so bekommt man damit daß der sich unterordnet. Und ganz natürlich[:] Rede ich mit einem anderen in seiner Sprache so gebe ich ihm einen Vorzug über mich. Die Meynung von angeborner Ungleichheit in Beziehung der Einzelnen zur regierenden Function in Verbindung mit der Bereitwilligkeit, die Selbstständigkeit des Volkes lieber auf einem untergeordneten Standpunkt zu erhalten als jene Ungleichheit auch des Staates fahren zu lassen. Es hat einen gewissen Schein und immer eine intressante Erscheinung wie leicht Kinder von mäßigen Gaben zwey Sprachen sich spielend anüben, aber [dies ist] ein nachtheiliges Experiment für Verstandes und Charakterentwicklung, und wenn Zweck dabey ist, so müssen wir auch den eher mit einem gewissen Verdacht ansehen als ihn begünstigen. Dabey den allgemeinen Canon anzubringen, den wir für diese Zeit festgestellt haben, daß das Hervortreten einer gewissen Ordnung nur allmählig hervortreten wird. Ein systematisches und ständig weiter Fortschreitendes würde etwas anticipiren was seinen rechten Nutzen erst in der späteren Zeit haben kann; dagegen je mehr man diese Erweiterung dem Zufall überläßt, desto mehr dafür zu sorgen, daß das zerstreut Vorkommende combinirt werde, was zugleich die beste Vorübung des lebendigen Gedächtnisses ist, welches nicht in der absoluten Operation steht, sich etwas bekannt zu machen, sondern ein Festhalten dessen was vorkommt in der Totalität des Lebens ohne jedesmal bestimmt zu wissen wozu. 2) zu unterscheiden das unmittelbare Bekanntmachen der Gegenstände selbst und zwischen dem bloßen Auffinden derselben durch Relationen. Für diese Periode zwey verschiedene Stuffen. Das letzte für die freye Combination, in dieser Zeit schon auf das Reale zu lenken, das erste mehr für die unmittelbarste Auffassung. Denn wie mehr die Kinder sich ergänzen, was die Erzählung unbestimmt läßt kann man noch nicht erfahren und ist dem Zufall überlassen, weil sie noch nicht die Fertigkeit des Beschreibens haben, was sie aber wahrnehmen, da kann man sie darauf führen diese hervortretenden Punkte zu unterscheiden und einen Instinct zu erwer41–1 erwerben] erwirbt

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ben für wesentliche und zufällige Merkmale. Nichts verkehrteres als wenn man sieht die Kinder aus den höheren Ständen mit den vortrefflichsten Bilderbüchern umgeben mit Gegenständen aus allen Welttheilen, dagegen kennen sie die Gegenstände nicht welche sie umgeben. Das etwas Gewöhnliches, aber es legt den Grund zu Ungründlichkeit. Sie haben zuerst Leichtigkeit hernach Gegenstände von den Bildern wirklich zu erkennen, weil das Bild | ihnen das erste Sehen wieder ins Gedächtniß ruft; aber die Vorstellung von einem bloß oberflächlichen Gegenstande deßwegen nicht immer richtig. Wogegen diese Unbekanntschaft mit den umgebenden Gegenständen derselben Art in einer Indifferenz gegen das was sich von selbst darbiethet ihren Grund hat, und wenn wir jene Ungründlichkeit und diese Unachtsamkeit betrachten so [muss] man das als ein nachtheiliges Verhältniß verwerfen. Die Bilder allerdings für diesen Zeitpunkt wo Spiel und Übung sich noch nicht unterscheiden, ein Spiel das von selbst zur Übung wird. Aber wenn man ihnen die wirkliche Welt nicht gleichmäßig hinführt, so entsteht der Nachtheil, daß die Kinder, die von Bildern Bescheid wissen, nicht einmal die Neigung haben, das was sie in der wirklichen Welt umgibt aufzufassen. Die Bilder der bloßen Oberfläche muß man also nothwendig durch körperliche Bilder ergänzen und dann vorzüglich auf die Achtsamkeit und die richtige Wahrnehmung dessen was ihnen gegeben wird drängen. Nur immer mit Berücksichtigung daß man noch auf nichts systematisches ausgeht und der natürlichen Richtung der Aufmerksamkeit der Kinder nachgeht mit dem Bestreben sie zu ergänzen. Nach diesen Grundsätzen auch einen anderen Gegenstand zu behandeln der natürlicher Weise in dieser Zeit auch schon anfängt, nähmlich die Z ah l und was damit zusammenhängt. Vor Entwicklung des Sprachvermögens ist es schwer zu denken daß das Kind sollte die Zahl festhalten, sondern ein physischer Unterschied zwischen mehr und weniger. Dann aber entwickelt sich das Intresse der Kinder so wird sich das Intresse des Eigenthums das sie haben entwikkeln, die Genauigkeit der Abschätzung, die sie an der Zahl intressirt und die bestimmte Vergleichung dadurch. Nun ist aber nicht nöthig mit der Ausbildung der Zahlen zu warten bis die Kinder mit dem Zählen umzugehen wissen, vielmehr muß man sie zählen lassen an unmittelbaren Gegenständen so daß sie durch Wegnehmen und Hinzuthun die Zahlen hervorbringen können. Das hängt nun zusammen 30 weniger] mehr 8–9 Vgl. SW III/9, S. 328: „Die Vorstellung von einem bloß auf der Fläche gesehenen Gegenstande kann nicht die richtige sein; man erkennt den Gegenstand wenn er vorkommt wieder, aber er selbst löscht das Bild aus.“

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mit der Beschäftigung mit den Sprachzeichen. Im Allgemeinen schwer die Frage zu entscheiden, ob die Kinder ehe sie am öffentlichen Unterricht theil nehmen, mit den Sprachzeichen bekannt werden. Beym eigentlichen Volke es ist nicht möglich, aber bey den gebildeten Klassen das Gegentheil gewöhnlich. Das verschiedene Ausübungen, welche nicht einen entgegengesetzten Grund haben, sondern durch die Umstände motivirt sind, daß hier in einem höheren Grad kann vorgearbeitet werden. Aber fragt man: Ist es ein wesentlicher Vorzug, wenn die Kinder zeitig lesen lernen, so kann ich auch diese Frage verneinen, besser die unmittelbare Beschäftigung mit der lebendigen Sprache ohne die Zeichen gehörig Wurzel fassen zu lassen. Aber es ist durch die jetzige Lage der Dinge sehr schwer zu erreichen. In den gebildeten Klassen wo das Lesen mit zum Leben gehört, da bekommen die Kinder unvermeidlich eine Begierde zu Lesen und Gewaltsamkeit wenn man das hemmen wollte. Man sollte die Zeichen aufsparen bis das Bedürfniß wirklich eintritt. Ja auch in den öffentlichen Schulen sollte der Unterricht noch viel länger ohne Buche getrieben werden. Viel wahres an dem alten Platon Ausspruch daß die Schrift der Untergang des Gedächtnisses ist. Ein lebendiges Gedächtniß für den ganzen Reichthum des Lebens ein so entschiedener Vorzug daß man sagen [kann] es gibt wenig im pädagogischen Unterricht was die Erziehung mehr nähren kann. Wo man also die Kinder nicht eine große Zeit sich zu überlassen nöthig ist da ist ein Leben mit ihnen im Gespräch bey weitem wichtiger als daß sie mit den Sprachzeichen umzugehen pflegen. Das Beschreiben der Gegenstände oder der Bilder und die Beschreibung sich wieder geben lassen, die Kinder in lebendige Sprachthätigkeit setzt, indem man die Kinder veranlaßt zu erzählen, ist etwas Bedeutenderes, wodurch man bestimmt daß die Auffassung mit Klarheit und Gleichgewicht zwischen dem Auffassen und Mittheilen ungestört bleibt. Es ist ganz etwas anderes und der specielle Zweck nicht erreicht, wenn man die Kinder lesen läßt und dieses wieder mittheilen läßt, da tritt das Gedächtniß an Zeichen (Localgedächtniß) ein, ein untergeordnetes Hülfsmittel gegen das lebendige Gedächtniß, nur das Handeln zu behalten ohne zu wissen auf welchem Blatte es steht. So nun auch mit den Zahlen. Die Operation des Zählens an die Zahlzeichen zu binden dieß sey ein zu bedeutendes Übergewicht in der Entwicklung, unsere Zahlen an die Decaden gebunden, freylich auch unsere Benennungen an das decadische System aber das wird nicht so erklärt als an den Zahlzeichen. So lange als möglich in dieser Periode 12 gebildeten] geselligen 17–19 Vgl. Platon: Phaidros; KGA IV/3, S. 384–386

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muß eine lebendige Übung sowohl in Beziehung auf die Sprache als auf die Zahl ohne die Zeichen zu Hülfe zu nehmen vorwalten lassen. Wenn nun doch ausgenommen unsere Volksklassen, das Lesen und Schreiben immer schon vor dem öffentlichen Unterricht eine Wichtigkeit habe möchte ich doch das Verhältniß umkehren und sagen man sollte mit dem Schreiben anfangen und das Lesen erst an das Schreiben knüpfen. Das Schreiben eine bestimmte Species des Zeichnens | und durch dieses das Augenmaaß zu entwickeln. Die Hervorbringung von Bildern durch die Hand ist das Productive Gegenstück zum richtigen Sehen, und sowie man anfängt das Auffassungsvermögen durch Bilder zu üben, so muß man gleich das daß sie Bilder machen hinzufügen. Dazu auch meist große Neigung. Aber keinen Sinn für Richtigkeit und Unrichtigkeit, weil diese Art aufzufassen immer eine freye Combination hervorruft. Die Kinder fangen z. B. leicht an die menschliche Gestalt zu zeichnen aber auf die abentheuerlichste Weise, das Bild statt des Bildes eigentlich nur symbolisches Zeichen für ihre inneren Bilder in der Phantasie. Etwas wesentliches daß die Harmonie zwischen der inneren Thätigkeit und der äußeren festgestellt werde. Nur indem man den Kindern die Neigung beybringt an leichten Gegenständen doch mit Genauigkeit und Richtigkeit [sich] zu versuchen, das ist etwas sehr richtiges in dieser Periode. An die Periode knüpft sich die Bildung der Sprachzeichen durch die Hand unmittelbar an, weil das wirklich symbolische Zeichen sind, so die Bildung der Sprachzeichen aus dem Zeichnen heraus. Das setzt die Analyse der Elemente der Wörter[,] Buchstaben voraus, die einzelnen Buchstaben beziehen sich doch gewiß nur auf die Schrift, die Rede kennt das nicht, erkennt nur Sylben. Darum wenn man damit anfängt das nichts lebendiges für die Kinder hat, mit Sylben anzufangen und die Verhältnisse der Sylben zu einander so erfassen lehren und dann erst die Kenntnisse der Buchstaben in Verbindung bringen mit diesem Hervorbringen der Zeichen. So allein kann ihnen das etwas Lebendiges werden. Wenn ich sagte so lang wie möglich sollte man Zahl und Sprache leiten ohne die Zeichen zu Hülfe zu nehmen aufschieben so habe ich damit schon die Verschiedenheit der Verhältnisse mit ausgesprochen. Hier war im Allgemeinen ganz nothwendig den gewöhnlichen Gang bey uns zu hemmen. Wir sind viel zu sehr Buch- und Buchstabenmenschen geworden und zwar bis ins Volk hinein. Vor etwa 20 Jahren fragte man bey uns ob das Volk lesen und schreiben solle, die Antworten haben gezeigt wie sich das Vorurtheil zeigte daß man erst durch Lesen und Schreiben Mensch werde. Zwar zum Regieren ist das Lesen und 7 Schreiben] Lesen 13 aufzufassen] auffallend über auf)zufassen* unmittelbar 36–37 geworden] geworden sind

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Schreiben durchaus nothwendig (wenn freylich nothwendiger das Unterschreiben). Der Bauer hat aber Antheil am Regieren wenn er nur seinen Schulze wählen muß. Aber das nur geboten durch die bestehende politische Form und das nicht zu billigen, daß diese in solchem Grad und solcher Allgemeinheit an dem Zeichensystem hängt. Sondern in großen Staaten kann vom Centrum aus nur durch Schrift gewirkt werden, und solche Staaten wären ohne Schrift gar nicht möglich – Abstuffung der Despotie. Aber wenn wir auf das Volk sehen so hat das unmittelbar mit dem Centrum nichts zu schaffen, wenn es die Gesetze nicht durch das Gouvernement, sondern durch die lebendige Mittheilung erführe, dann käme doch sicher das Bedenken ob ich dafür oder dagegen wäre. So lange aber wesentliche Verkürzung wenn er nicht lesen und schreiben kann. Dem unerachtet würde ich sagen wir müssen das aus keinem anderen Gesichtspunkt ansehen als [dem] schon technischen, nicht aus den Augen der wahren Bildung der Vollkommenheit. Das Allgemeine Vorurtheil dafür halte ich für etwas sicher Unrichtiges und Verkehrtes, und auch besonders in der Erziehung der mittleren Klassen wird so sehr viel Wesentliches versäumt. Obgleich die gebildeten Stände das Lesen lernen schon in dieser Periode fallen lassen, so haben wir dennoch hier nichts weiter zu sagen. Über die richtige Methode des Lesens immer viel gesprochen. Auch einerley ob die Kinder ein Paar Wochen mehr oder weniger mit dem Lernen zubringen, es ist ja da noch kein methodischer Unterricht. Was aber unseren gegenwärtigen Standpunkt betrifft so ist der angegebene Gang auch deßwegen wichtig damit die Kinder sich nicht zu zeitig an das Vernehmen der Rede durch das Auge gewöhnen. Also folgt, daß gerade durch das Vermögen, die Rede aufzufassen in dieser Zeit bis auf einen gewissen Punkt geübt werden muß, nur auf mündlichem Wege, und dieser offenbar der Natur am angemessensten. Wenn man die Rede durch Gespräche und Erzählungen nachher wieder von ihnen hören wollte, und das Gedächtniß durch das Fixiren der Worte übt, so ist das eine ganz ursprüngliche Art der Gedächtnißübung. Was soll man aber erzählen? Einmal Rücksicht zu nehmen auf die allmählige Entwicklung des ganzen Begriffssystems welches in der Sprache ist, 1–2 Unterschreiben] Unterzuschreiben

30 Rede] Kinder

5–12 Vgl. SW III/9, S. 334: „Zwar in einem großen Staate kann nicht ohne die Schrift regiert werden – es müßte denn ein solcher sein in dem alles durch Despotie bestimmt wird –; es kann der Natur der Sache nach von dem Centrum aus in die Entfernung nur durch die Schrift gewirkt werden. Aber das Volk hat mit dem Centrum nichts zu schaffen. Wenn es die Geseze nicht aus dem Gesezesblatt sondern auf lebendige Weise erführe, aber verantwortlich gemacht würde das Gesez aufzufassen und zu befolgen: so stände ich sehr an für oder gegen das Lesen und Schreiben zu entscheiden.“

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auf das Mittheilen und Wiedergeben dessen was in der Sprache die unmittelbare Erfahrung repräsentirt. Wir haben auch Rücksicht zu nehmen auf die freye Production welche auch schon in den weiteren Erfahrungen sich die Sprache anzueignen thätig ist freylich nur ein Spiel mit den articulirten Tönen oder so auch dann Spiel der Phantasie (Vorstellung die an das Sprechen gehört oder an Bilder). Dieses der erste Keim aller Kunst, daß da die Erziehung zu Hülfe kommen muß. Ein verschiedener Grad des Bedürfniß und Neigung bey den Kindern wird sich dabey sehr zeitig entwickeln. Diese freye Combination soll gewisser Maaßen abgeleitet werden durch Bilder und Beschreiben, allein nur ein Übergang und erschöpft das Ganze nicht. In den meisten Kindern eine entschiedene Neigung zu dem Fabelhaften nachdem wovon sie nichts Analoges in der Erfahrung haben. | Die alte Praxis wollte noch dieser Neigung Befriedigung geben, durch die Kindermährchen – neuerdings hat man gegen dieses gewährt. Allein das ein natürlicher Punkt auf welchem sich die Kinder befinden und dem man auch sein Recht widerfahren lassen muß. Man ist in dieser Polemik mal zu sehr vom Standpunkt des eignen Lebens ausgegangen, – Was [ist] nun etwas nichtiges den Kindern? Die richtige Ansicht muß sich an den Zustand des Kindes selbst anschließen, und da müssen wir von einem Punkt ausgehen, der für die moralische Bildung wichtig ist. Die Kinder fixiren den Unterschied zwischen dem Wirklichen in ihren Vorstellungen und dem Nichtwirklichen noch nicht, für sie besteht die Realität von beyden noch gleich, das entwickelt sich erst allmählig und trägt sie in die Wirklichkeit hinein. Wenn wir uns den Punkt denken, wo wir uns die Entwicklung des Willensvermögens vorstellten, so haben wir hier den Punkt. Man kann dieß bey lebhaften Kindern sehen, daß sie sich etwas vorstellten, was geschehen wäre und erzählten es als etwas Geschehenes, aber es ist nicht geschehen. Ob die nach innen gerichtete Thätigkeit von einem äußeren Eindruck ausgehe ist in dieser Zeit völlig gleichgültig. Auch die Relation des Träumens oder des Wachens nehmen sie nicht wahr. Doch kann mit allen diesen Spielen der Phantasie für sie kein Nachtheil geschehen – sie verlieren von selbst den Glauben an die Realität dessen was bloß aus dem Spiel der Phantasie hervorgegangen ist. Alle diese Productionen 18–19 Vgl. SW III/9, S. 336: „warum man die Kinder mit etwas nichtigem beschäftigen solle, was in sie nur den Keim zur Superstition hineinlegen und sie der wirklichen Welt entfremden könne.“ 25–27 Vgl. SW III/9, S. 336: „Denken wir zurükk an den Punkt wo wir die Entwikklung der Sinnesvermögen uns veranschaulichten, so zeigte sich uns da etwas ähnliches. Die bestimmte Unterscheidung von Gegenständen ist dem Gesicht auch nicht gleich anfänglich gegeben, nur nach und nach entwirrt sich das Chaos.“

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sind aus der gesunden Condescendenz zum kindlichen Zustand entstanden. Die Phantasie will ihre Nahrung haben, aber nicht bis dahinn zu versparen, wo die Kinder den Unterschied der Wahrheit und Dichtung bestimmt auffassen können. Dann würden sie das gar nicht mehr wollen, dann wäre die erste Thätigkeit die Phantasie in Bewegung zu setzen verloren gegangen. Es fehlte so die erste Basis, und kann ohne diese nicht viel daraus hervorgehen, wenn man die Phantasie nur mangelhaft nährte. Dieser Punkt hat auch ethische Wichtigkeit. Aber zunächst alles zu beseitigen, was in die Bildung der Fertigkeiten hineingehört. Es ist nur noch übrig was uns an das G y mna st is c h e anschließt, Übung der körperlichen Kräfte und Fertigkeiten. An der Übung der Sinne haben wir schon etwas dergleichen. Da ist ja auch ein körperliches damit möglich geworden und hier dieselbe Richtung. Es kommt immer darauf an, die Schärfe der Sinnesvermögen zu entwickeln und die Abschätzung dessen, was durch die Sinnesthätigkeit geschieht. Darauf [kommt] alles in Beziehung auf Gesicht und Gehör an[,] man muß durch selbstthätige Übung, aber immer mit dem Charakter dieser Periode. Nun haben wir auch dasjenige System von Thätigkeiten was an willkührliche Bewegungen sich anschließt. Unmittelbare Behandlung der Gegenstände und freywillige Ortsveränderung. Das eine schließt sich mehr ans Gehen an, das andere mehr an das Greifen der Gegenstände, wie es sich in der 1. Zeit von selbst entwickelt. Hinzu [kommt] daß der Mensch die Gegenstände behandelt mit der Hand in seine Gewalt bringt und bearbeitet, darinn alle Industrie und mechanische Kunstfertigkeit. Von der anderen Seite sind die Kraft und die Schnelligkeit in den Bewegungen dasjenige was der Grund alles Gymnastischen ist. Nun fragt sich, in wie weit soll hier ebenfalls die Erziehung etwas hinzuthun oder hemmen, was von der natürlichen Entwicklung und den inneren Lebensvorgängen ausgeht? Wir bemerkten daß wir in dieser Periode noch keine bestimmte Rück25 sind] ist 6–8 Vgl. SW III/9, S. 337–338: „Und nicht nur der Sinn für diese erste Nahrung der Phantasie würde verloren sein, sondern auch die erste Uebung und Kräftigung der Phantasie würde versäumt sein, und man könnte dann zu ihrer Entwikklung nicht eher wieder etwas thun, als bis in den Kindern ein gewisser Kunstsinn sich entwikkelt hätte. Allein auch dann ist nicht darauf zu rechnen, daß sich diese Kunstrichtung besonders ausbilden und etwas tüchtiges hervorbringen würde; sie würde mangelhaft bleiben, weil die natürliche Basis | fehlte.“ 16–18 Vgl. SW III/9, S. 338: „es kommt darauf an die Schärfe der Sinnesvermögen, das Auffassen, das Abschäzen durch selbstthätige Uebung zu fördern; aber alle diese Uebungen, selbst im Zeichnen und Schreiben, bei denen das leibliche so stark hervortritt, haben doch ihre nähere Beziehung immer auf das Erkennen, das Wissen, auf die ursprünglich geistigen Functionen.“

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sicht genommen haben auf die Di f f e renz de r G eschle cht er und diese erst wichtig mit dem Anfang der II. Periode wo die öffentliche Periode des Lebens für das männliche Geschlecht eine bestimmte Veränderung ist, für das weibliche Geschlecht nur Sache der Noth, damit etwas Physisches, daß sich deutlich zwey verschiedene Richtungen der Geschlechter aufscheiden. Wenn das eigentliche Knabenalter angeht so zeigt sich eine gewisse Neigung sich von den Mädchen zu sondern, wenn gleich auf bewußtlose Weise. Dieß hängt [damit] zusammen, daß nur der psychische Unterschied zur Entwicklung kommt. Dieß habe ich nur eingeschaltet, um den Canon zu rechtfertigen, daß alles, was gymnastische Übung ist anfangen muß bey dem wobey auf die Verschiedenheit der Geschlechter keine Rücksicht zu nehmen ist. Aber freylich so, daß die Trennung in der II. Periode vorbereitet würde. Nun gibt es zwey verschiedene Richtungen in der Entwicklung der körperlichen Vermögen, das eine die auf die Gew a ndt heit, das andere auf die St är k e . Das erste ist ein a llg em eines, das letzte muß hernach bestimmt bey der männlichen Jugend hervortreten. Bey der weiblichen hat sie weniger Bedeutung. Was wird daraus folgen? Daß die Entwicklung der körperlichen Fertigkeiten nicht beginnen muß mit dem was eine eigentliche Richtung auf die Kraft hat, sondern mit dem was Richtung hat auf die Gewandtheit. Dieser Canon hängt zusammen mit dem allgemeinen das wir unserer Periode zum Grund gelegt haben, nähmlich daß alles in dem unentschiedenen Mittel von Spiel und Ernst sey. Wenn die Kräfte vermehrt werden sollen so müßte d i e Üb u n g A n s t r e n g u n g s e yn . Alles dieß liegt außer unserem Mittel. Man kann es doch in dieser Zeit sehr versehen. Auch bey den allergewöhnlichsten körperlichen Übungen, dadurch daß man sie bis zur Anstrengung übt. Die körperliche Lebenskraft bedarf immer noch einer gewissen Schonung. Der Fall ist nicht selten, daß in den stärksten Kindern der Keim zu Krankheiten gelegt wurde dadurch daß man die körperliche Anstrengung übertrieb. Daher Vorsicht, dieß wird erreicht werden wenn man die Kinder ganz gleich behandelt. In jeder einzelnen Familie sind die beyden Geschlechter in einer gewissen Gleichheit. Dann ist die Sonderung beyder Geschlechter in dieser Periode von der Natur nicht indicirt, so auch nicht in den Übungen. Dagegen aber Gleichheit in Beziehung auf die Gewandtheit in allen Bewe10 daß] da

22 das] den

25–26 Vgl. SW III/9, S. 339 (Zusatz): „alles was Anstrengung ist liegt außer diesem Mittel unseres allgemeinen Kanons. A l l e s w a s d u r c h p ä d a g o g i s c h e T h ä t i g k e i t i n d i e s e r P e ri o d e si c h e n t w i k k e l t , d a rf n i c h t a n d e n P u n k t d e r A n s t r e n g u n g k o m m e n .“

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gungen. Da haben wir immer zwey entgegengesetzte Punkte von denen wir ausgehen. Das eine sind die Bewegungen der Sinneswerkzeuge das andere die Bewegungen der körperlichen Gliedmaaßen, also die Übung des Körpers ist aus diesen beyden zusammengesetzt und je mehr die Übung beyde zugleich in Thätigkeit setzt desto besser ist sie. | Es kömmt also darauf an, ein richtiges Verhältniß zwischen beyden zu setzen, das Spiel der Kinder zu benutzen zur Übung der Sinneswerkzeuge und zur Erreichung eines Grades der Gewandtheit zum Gebrauch der Gliedmaaßen. Nun ist doch das gewöhnlich die erste Basis alles eigentlichen Spiels daß gewisse Gegenstände den Kindern zur Handhabung gegeben werden. Es müssen solche seyn, daß wenn sie gehandhabt werden können sie eine freye Gestaltung daraus hervorbringen können, so wie die Übung der Gliedmaaßen Vorbereitung ist auf das was Kunst ist – Tanz. Bey den Mädchen tritt nachher mehr die Anmuth und Zierlichkeit hervor, bey den Knaben die Kraft. Da ist für dieß die Übung nothwendig um das Klotzige zu verhüten. Je mehr sich diese entwickeln und je richtiger sie werden, desto mehr Tendenz dazu und Willensbestimmungen entstehen in diesem Inneren und also eine Hauptfrage wie sich die Erziehung dazu verhalte. Darauf zu sehen, daß die Kinder noch einen langen Zeitraum von Gehorsam durchzumachen haben, dann daß doch am Ende der Wille zu seiner vollen Selbstständigkeit und Anerkennung gelangen muß, da hat von da an wo er sich bestimmt äußert eine zwiefache Aufgabe auszugehen, ihn in diesem Gehorsam festzuhalten und dann die Anerkennung desselben vorzubereiten. Hier fragt sich, da offenbar der Wille der Kinder sich bildet [ob] Oppositionen entstehen und wie sie zu behandeln sind? Offenbar darf man den Willen selbst nicht unterdrücken, das ist schon Anerkennung des Willens. Das eine sehr negative Vorstellung, daß die Äußerungen des Willens nicht sollen unterdrückt werden. Aber es lassen sich doch noch sehr verschiedene Verfahrungsweisen denken. Nähmlich es scheint daß wenn man den Willen nicht unterdrücken soll, so muß er geleitet werden, ein schon anerkannter Wille wird geleitet durch Gründe, ein Wille dem es an allem anderen fehlt, könne nicht anders berichtigt werden als durch die eigne Erfahrung, das die zwey entgegengesetzten Weisen. Keine von diesen beyden Maximen ist eigentlich consequent und durchgeführt, die Kinder müßten den ganzen Zusammenhang des Lebens schon kennen, in wie weit er auf sie Wirkung hat, wenn sie Gründe 34–36 Vgl. SW III/9, S. 342: „ein Wille der aber nicht anerkannt ist, kann nur geleitet werden durch Erfahrung.“

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annehmen wollten. Und auch den Nachtheil, daß man die Kinder dadurch auffordert zu solchen Combinationen, die sie doch nicht verfolgen können, so nehmen sie das als ihr Recht in Anspruch, ins Unbestimmte zu combiniren (raisonniren) sind sie doch gleichsam durch die Erziehung begünstigt. Die andere Maxime wäre gut genug, wenn die eigne Erfahrung nun die beste ist und gebrannte Kinder scheuens Feuer. Aber indem nun diese Maxime auf einem Anerkennen des Willens ruht, so läßt sich’s schwerlich denken ohne eine damit verbundene Verminderung der Aufsicht – dann hat man auch den Schaden nicht in seiner Hand, wie man auch sonst den Schaden nicht immer in seiner Hand hat, wenn man sie handeln läßt – also sehr viel damit gewagt. Es gibt indeß ganz bekannte Regionen der Herrschaft wo bald eine große Annäherung an die eine oder andere vorherrscht. Haben wir nun noch nichts anderes als einen solchen Wechsel? Die Aufgabe wenn sie soll consequent gelöst werden scheint hier so gestellt werden zu müssen Wenn kein Widerspruch seyn soll zwischen den beyden Factoren so daß man muß dieses zu erreichen suchen, daß die Kinder gehorsam seyn wollen; so wie dieses der Fall ist, so ist damit nicht aber die Anerkennung ihres Willens ja nicht einmal die allmählige Fortschreitung desselben ausgeschlossen, sondern wenn man diesen frey läßt, so ist man da vollkommen sicher, wo man keine Forderung macht, so wird ihr Wille es anerkennen. Kann man das erreichen, so ist alles in der Ordnung. Wie ist also dieses zu bewerkstelligen? Hier das Sicherste daß man sich wieder denkt eben dieses erreichen [zu] wollen, durch eine von beyden Maximen: die Übereinstimmung ihres Willens mit dem Erziehenden Willen durch Gründe oder durch Erfahrung. So wird uns bald das Resultat entstehen, daß in Beziehung auf diesen Punkt keine Entgegensetzung statt findet, sondern sie in einander fallen. Der Zustand der Abhängigkeit der natürliche Zustand der Kinder, der in welcher ihr ungestörtes freyes Wohlbefinden allein gedeihen kann. So wie man sie also die Erfahrung 15 gelöst] gelöst zu

23–24 bewerkstelligen?] bewerkstelligen.

16–22 Vgl. SW III/9, S. 343: „We n n k e i n Wi d e r s p r u c h s e i n s o l l z w i s c h e n p e r ma n e n t em G e h o rsa m u n d a l l m ä h l i g e r A n e r k e n n u n g d e s Wi l l e n s: s o mu ß ma n zu e rre i c h e n su c h e n d a ß d i e K i n d e r g e h o r s a m s e i n w o l l e n . Mit dieser Forderung ist keineswegs die Anerkennung ihres Willens ausgeschlossen; denn wo man kein Gebot oder Verbot gegeben hat, da geht des Kindes Wille seinen Gang und wird dann anerkannt; wo man geboten und verboten hat, da wird des Kindes Wille wenn jene Forderung erreicht ist, den Gang gehen den man vorgezeichnet hat: und so ist eine vollkommene Sicherheit gegeben in der zwiefachen Entwikklung des Willens.“

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machen läßt daß ihr fröhliches Leben im großen Zusammenhang mit dem Gehorsam steht, so wird das in ihnen selbst zum Grund werden[,] sie werden keines anderen bedürfen. Wie nun Gehorsam wieder zu erreichen, so haben wir die Antwort auf ganz ethischen Principien beruhend; daß das Gedeihen des menschlichen Lebens überhaupt wesentlich auf der Liebe aufbaue und auch die Fröhlichkeit der Kinder durch nichts anderes bedingt ist als daß sie sich in dem Elemente der Liebe bewegen. Durch den Ungehorsam nehmen sie offenbar selbst dieses weg, weil sie die Übereinstimmung stören. Dazu bedarf es keiner Anstalt welche als Belohnung oder Bestrafung posirt. Ebenso [nicht] das Fröhliche oder positive Element der Entziehung der Fröhlichkeit eintreten, sondern nur dieß daß der Zustand der Disharmonie recht klar werde und das unmittelbare Ethische der Ausdruck | der Mißbilligung sein Recht bekäme. Wenn nicht schon eine Opposition eingewurzelt ist, so liegt es ganz außer der Natur, daß einem Kind der Ausdruck der Mißbilligung gleichgültig sey. Nun wird es nur darauf ankommen in was für Fällen nun die Freylassung des Willens eintreten kann. Die Antwort liegt in den Elementen schon in Beziehung auf den Charakter aller Lebensmomente in diesem Abschnitt. Man kann den Willen der Kinder frey lassen überall wo man voraussetzen kann, sie werden keine Erfahrung machen, welche ihnen wesentlich schädlich seyn könnte. Dabey kann man sich dieses vorbehalten in solchen Fällen, wo etwas Nachtheiliges dabey herauskommen kann. Das zweyte ist dieses: man soll durchaus den Willen der Kinder nicht freylassen so, daß die Idee welche den einzelnen Thätigkeiten zu Grunde liegt, in ihrer Anwendung gestört würde. In Beziehung auf das Vorige folgt daraus in dem die Lebensthätigkeit in dieser Periode in der Indifferenz zwischen Spiel und Ernst liege so würde die Freyheit auf das fallen was auf der Seite des Spiels liegt, aber ich möchte gerade das Umgekehrte sagen. Spiel soll ihnen gerade Übung werden, ihre spielenden Thätigkeiten sollen nichts rein Übungsloses werden. Was regellos kann durchaus nicht entwickelnd seyn. Die Ausübung dieser Maxime wird beytragen sie in dieser Erfahrung zu halten daß sie sich beym Gehorsam befinden, die regellose Thätigkeit bringt Langeweile hervor, es zerfällt alles ins unendlich kleine, und das gibt die Erfahrung des Unendlichen als eines nichtigen. Dagegen so wie man alle ihre Thätigkeiten zu regelmäßigen macht, desto mehr werden sie überall sich selbst befriedigt finden. Dieses scheinen eigentlich in Beziehung auf die ganze Willensleitung in dieser Zeit die beyden Hauptmomente zu seyn. Das Formelle daß die Wil23 vorbehalten] vorzubehalten

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lensentwicklung der Kinder in der Liebe erhalten werde, das Materielle daß die Selbstthätigkeit sich nicht an dem manifestire was an sich selbst Null ist. Auch die inneren sinnenden und betrachtenden Zustände nicht zu vermindern, das nur im unwillkührlichen Spiel von äußeren Addressaten, innere Gebiete – dieses wohl zu unterscheiden. Wenn sie in dieser regellosen Thätigkeit aufgehen, so soll man diese Übung in der Nichtigkeit in ihren ersten Anfängen unterdrücken. Ich würde ohne weiteres zur II. Periode übergehen, aber noch eine bedeutende Frage zu beantworten, aus der Erfahrung heraus, für die ich keinen Ort finde wenn die Theorie immer aus sich selbst entwickelt werden könnte. In welchem Verhältniß die Kinder in dieser Zeit entwickelt seyn sollen zu dem religiösen Element. – Es ist bekannt daß in diesem Zeitraum für das Kind noch nichts eigentlich geschehen kann. Wir mögen ausgehen von welchen Principien wir wollen so folgt daraus daß die Vorstellung des höchsten Wesens immer zusammenhängt mit der Vorstellung der Welt, diese kann in den Kindern nicht seyn, ja in ihnen ihre Realität nicht haben. Aber die Frage aus der Erfahrung [zu sehen] weil das Leben des Kindes ganz in die Familie tritt, und wir in dieser die Frömmigkeit als constantes Element denken müssen, es vorauszusetzen, daß die Kinder in eine Berührung dadurch kommen. Wie sollte man hiebey auf die Kinder Rücksicht nehmen? Das die Seite von welcher die Frage unvermeidlich wird. Nun auch durch Praxis schon Theorie. Da sehr häufig, daß das religiöse Element in den Kindern angeregt wird, daß sie zu Handlungen angeleitet werden, welche ihrem Werth nach nichts sind, wenn sie nicht Äußerungen des religiösen Gemüthszustands sind. Soll man dieses gestatten oder verwehren? Vorsichtsmaaßregeln um sie von der Theilnahme daran auszuschließen oder sie absichtlich hinzuziehen? Hier sind die Ansichten und die Praxis weit von einander abweichend. Das eine Element worauf die eine Handlungsweise den meisten Werth legt ist: die Kinder können die religiösen Vorstellungen in dieser Zeit noch nicht fassen, läßt sie also mit den Zeichen der religiösen Vorstel25 welche ihrem Werth nach] wenn ihrem Werth

27 verwehren?] verwehren.

3–5 Vgl. SW III/9, S. 346: „Damit man aber dies nicht mißverstehe, müssen wir noch einmal daran erinnern, daß man die rein innerlichen sinnenden betrachtenden und zurükkrufenden Zustände der Kinder nicht unterdrükken dürfe. Nämlich diese Zustände sind oft begleitet von einem unwillkührlichen äußeren Spiel; dies ist aber gar nicht dasjenige worauf die Seele gerichtet ist. Diese regellose Spielerei und Tändelei bei innerer Erregtheit ist wohl zu unterscheiden von dem reinen Spiel, bei welchem eben die Harmonie des inneren Zustandes mit der äußeren Haltung die Regellosigkeit nicht aufkommen läßt, sondern die Regel giebt.“

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lungen Verkehr treiben vordem sie den Sinn haben, so gewöhnt man sie mit Worten die für sie keinen Sinn haben umzugehen und leitet sie zu Handlungen[;] Morgen- und Abendgebete[,] so kann das bey ihnen nur ein Mechanismus, wodurch hernach die wahre Entwicklung des religiösen Elements mehr verhindert wird indem sie glauben es schon zu haben. Das ist eine Ansicht, und das Prohibitive darinn ist offenbar sehr wohl begründet, die andere Ansicht diese, daß auf der einen Seite die Kinder erst allmählig in dieser Zeit zu unabhängigem Daseyn gelangen[,] in Gemeinschaft des Daseyns am meisten mit den Müttern sind. Sagen diese es ist uns so natürlich daß wir die religiösen Bewegungen unseres eignen Lebens in sie hinüberlegen, so scheint es als würde ein natürlicher Entwicklungsproceß gehemmt, wenn man dieses auf gewaltsame Weise hindern will. Da wird sich also fragen, wie sich diese beyden Ansichten gegen einander verhalten, und welches die richtige Ausgleichung zwischen beyden sey. | Wenn wir das Nähere betrachten zwischen den verschiedenen Maximen in Beziehung auf die Entwicklung des Religiösen so ist genau genommen nicht ganz von demselben zu reden, denn die eine hat es offenbar mehr mit dem Inneren der Empfindungen des Gemüthszustandes zu thun, die andere mehr mit der Vorstellung. Wenn wir die Lebensentwicklung des Menschen vom ersten Anfang seines Lebens betrachten so ist es eine Erregung des noch Schlummernden durch das thätige Analoge. Dieses geht zuerst von der Mutter aus, und entwickelt sich dann über die ganze Familie. Betrachten wir die Sache von der entgegengesetzten Seite und wollen sie auf die Maxime anwenden, daß man den Kindern nicht Schein QstattR Realität geben solle, nähmlich Worte, wozu sie Vorstellungen noch nicht haben so ist das richtig, wenn man die eigentliche Vorstellung nimmt. Aber wenn wir fragen wie lange, müßten wir die Entwicklung des religiösen Princips aussetzen, bis die Vorstellung einer vollkommenen Idee komme, so müßten wir sagen: Niemals. Wenn wir die religiösen Vorstellungen betrachten die die Kinder in diesem Alter gewiß auffassen, so werden sie sich wenig unterscheiden von 22–24 Vgl. SW III/9, S. 348 (Zusatz): „Diese Erregung geht von der Mutter aus und verbreitet sich dann über die ganze Familie. Wenn nun das religiöse Element in der Familie ein herrschendes ist: so müßte man ja die ganze religiöse Darstellung zurükkhalten, wenn jenes nicht zur Wahrnehmung des Kindes kommen dürfte, und man würde die religiöse Entwikklung des Kindes selbst aufhalten, wenn das religiöse Princip nicht allmählig zuerst von der Mutter dann von der Familie überhaupt in das Kind übergehen sollte. Ein ganz unnatürlicher Zustand würde also auf diese Weise gesezt, und nicht nur das eine, die Entwikklung der Frömmigkeit, sondern alles andere gelähmt; denn die Religion ist in allem und tritt weniger als etwas besonderes hervor.“ 27–2 Vgl. SW III/9, S. 348–349: „Wollte man aber nun deshalb die Entwikklung des religiösen Princips so lange aussezen bis die Vorstellungen von Gott Realität haben:

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dem was wir ihnen als Mährchen gegeben haben. Also kein Grund dieser Periode das Religiöse vorzuenthalten. Ein anderer Punkt der, daß ihnen leicht könnte das Religiöse bloß mechanisirt werden. Das wäre allerdings der größte Nachtheil, wenn das was im Menschen das Lebendigste seyn soll, ihnen gleich von Anfang an als ein todtes erscheint. Daher die religiöse Mittheilung nicht in Formeln die der Jugend noch gar nichts darbiethen, eben so wenig an bestimmte Zeiten und Orte zu binden. Einige glaubten das Kind müsse den Gang der Menschheit in sich ausbilden – Heiden, Juden und Christen, es muß aber alle Erregung des Kindes aus dem gemeinsamen Leben ausgehen, für diese der Polytheismus nur eine alte Geschichte, an welcher die Kinder noch keinen Theil haben können. Noch schlimmer mit dem gesetzlichen Monotheismus, weil der das eigentliche Element verfälscht, und in das Sinnliche vertauscht. Viel mehr die Sache so zu stellen: Müssen wir uns überzeugen, daß in demselben Maaß als das religiöse Princip in der Familie lebendig ist, es sich in dem Leben mit den Kindern manifestiren muß, so brauchen wir nur die Regel zu befolgen, daß die Erziehenden nichts unterdrücken sollen, was sich von innen heraus entwickelt. Man müßte schon vom ersten Anfang unseres Abschnitts anfangen, der Mutterliebe Gewalt anthun, wenn [sie] ihre frommen Gemüthszustände nicht dem Kind äußern könnte. Aber was kann denn das Kind davon lebendig in sich auffassen? Offenbar die Analogie zwischen dem allgemeinen Zustande in Beziehung auf das höchste Wesen und dem des Kindes zu seinen Eltern, da hat das Kind im Vater unser eine Analogie. Damit verbindet sich noch ein 21 dem] das

25 Kind] Kind eine Analogie

dann könnte man nie anfangen; denn immer | liegt etwas unangemessenes in jeder Vorstellung. Es ist eben die Sprache, als durchaus für das endliche bestimmt, irrational gegen diese Idee, sobald sie weiter entwikkelt werden soll. Die Entwikklung schreitet nur fort durch negative Kriterien. Das reale worauf man zurükkgeht bleibt also jenes innerliche. Allerdings die religiösen Vorstellungen der Kinder in diesem Alter unterscheiden sich wenig von dem was wir ihnen in dem Mährchen gegeben haben; sie schließen sich daran an. Sowie in diesen fingirte Wesen vorkommen, so reihen sich an diese Fictionen die Gebilde ihrer Phantasie von einer höheren Geisterwelt, ihre Vorstellungen von Wesen die das höchste Wesen begleiten; Feen Gnomen Engel werden sich erstaunlich in ihnen assimiliren und gleichen Werth haben. Und an ihrer Vorstellung von dem Verhältniß Gottes zu den Menschen wird viel auszusezen sein. Aber was ist denn alle Erkenntniß, was sind alle Vorstellungen welche die Kinder in dieser Zeit auffassen? An und für sich betrachtet immer nichts anderes als Uebergänge, nie den Gegenständen adäquat; und nirgends sind sie auf dem Punkt auf dem sie stehen bleiben können. Wenn wir nun bei allen Gegenständen dasselbe Fortschreiten in Uebergängen zur Wahrheit finden: so ist gar nicht möglich daß das religiöse Gebiet nicht sollte demselben Gesez unterworfen sein. Wi r h a b e n a l s o k e i n e n G r u n d d e n K i n d e r n d a s Re l i g i ö se v o rz u e n t h a l t e n .“

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anderes, nähmlich eine Ausgleichung des Unvollkommenen, was im Verhältniß des Kindes zu seinen Eltern ist. Wenn wir uns denken den natürlichen Gang, daß der Gehorsam der eigne Wille ist, und sich an dem Gehorsam auch seine persönliche Freyheit entwickelt, so wird als dann das Kind nie den Eltern etwas verbergen wollen, denn das ist schon eine Opposition. Damit hängt zusammen daß das dem Kind als Unvollkommenheit erscheinen muß, wenn die Eltern nicht was in dem Kinde ist wissen, oder es unrichtig auffassen. Hier hat das Kind eine Auffassung die Idee des höchsten Wesens als die Ausgleichung dieser Unvollkommenheiten zu fassen. Dieß die Realitäten, die das religiöse in diesem Alter haben kann, die aber von einem unendlichen Werth sind. Es ist eine allgemeine Klage, daß so wie sich die Kinder die Sprache angeeignet haben, und andere Vorstellungen und Gedanken hervorbringen können, sie auch bald dahinn kommen, dieß zu ihrem Vortheil zu benutzen indem sie Vorstellungen erregen die der Wirklichkeit nicht gemäß sind, von denen sie aber einen Vortheil erwarten – die U n w a h r h e i t . Wie begegnet man denn dem? Damit wenn man den Kindern nicht Unrecht thun will, bestimmt unterscheiden daß die das rein als Gesichtspunkt ansehen, einen gewissen Zweck zu erreichen, aber die Unwahrheit ihnen noch selbst nicht klar wie uns. Also dieß noch nicht als eigentliche Lüge im sittlichen Sinn zu fassen. Man muß sich also dagegen vorsehen worauf man aber halten muß ist dieses, daß wenn man sie nähmlich etwas fragt daß aber damit geschehen ist daß uns dann die Wahrheit sagen, dann haben sie das besondere Bewußtseyn ob etwas geschehen ist oder nicht. Das Eintreten der religiösen Elemente kann dieß fördern, so wie die Vorstellung der absoluten Wahrheit des höchsten Wesens nur irgend Wurzel faßt, so entwickelt sich das bestimmte des Höchsten an der Wahrheit, und je größer ihnen die Analogie hervortritt zwischen dem 11–12 Vgl. SW III/9, S. 351 (Zusatz): „Und gerade dies ist für das Kindesalter von dem höchsten Werth für die Entwikklung des sittlichen.“ 22–25 Vgl. SW III/9, S. 352: „Wenn sie in solchen Fällen auch unwahr sind, so ist das etwas sehr schlimmes und sezt voraus daß pädagogische Fehler zum Grunde liegen; oft bestimmen frühere Erfahrungen sie die Wahrheit nicht zu sagen, nämlich daß sie wissen, die Aussage der Wahrheit komme ihnen theuer zu stehen. Wenn man keine falsche Vorstellung von der Strafe hat, so wird man einen solchen Weg gar nicht einschlagen der die Kinder aus Furcht zur Unwahrheit führt. Man sollte es sich allgemein zur Regel machen, nicht zu strafen für das was man von ihnen erst erfahren muß; man begiebt sich sonst des Vortheils etwas von ihnen zu erfahren. Läßt man nach erforschtem Thatbestand in solchen Fällen wo es darauf ankommt daß sie aussagen was sie wissen, auch dann wenn sie unrecht gehandelt haben, nur das eintreten was in der Sache nothwendig selbst liegt, ohne Strafen anzuwenden: dann werden sie nie die Sache wissentlich verfälschen. Falsche Relationen werden sie freilich machen, so lange die Scheidung zwischen dem in ihnen entstandenen und dem von außen sich darbietenden von ihnen noch nicht gemacht werden kann; die Entwikklung dieses Gegensazes muß man abwarten.“

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Verhältniß des Kindes zu den Eltern und zu dem himmlischen Wesen, desto eher wird sich das rückwärts hinübertragen, daß es ein Unmögliches [ist] daß die Eltern durch die Kinder getäuscht werden. Sie bekommen etwas, und sehen einen Widerschein von den sich in ihnen entwickelnden Vorstellungen und Allwissenheit und eine bestimmte Regulatur für dieses ganze Verhältniß auf keine Weise zu finden. Auch eine allgemeine Erfahrung daß kindliche Frömmigkeit und Wahrheitsliebe überall parallel geht. Dieses alles hat es zu schaffen mit dem was wir dem Religiösen zugestehen müssen, daß es nicht mechanisirt werde. Hierauf immer streng zu halten. So wie die Mütter das gestalten, etwas Religiöses mit den Kindern zu einem Momente vorzunehmen obwohl sie selbst nicht religiös gestimmt sind, dann wird der Grund zu mechanisiren des Religiösen gelegt. Aber eine Mutter wird nicht leicht ihr Kind zum schlafen legen ohne religiöse Empfindung so wird sie richtig berühren. Hernach die Mittheilung an das Kind ergehen lassen aber nie mechanisch seyn und an das Kinde gehen. | Mancherley abentheuerliche Fragen darüber von den Kindern von einer ganz anthropopatischen Voraussetzung. Das kann nicht anders seyn. Das hängt damit zusammen daß sich die Vorstellungen über diese Gegenstände in der Phantasie nicht zu unterscheiden wissen. Mit dem sittlichen generellen Leben des Religiösen wird in solchem Gemüth ihre Vorstellung anschließen müssen an ihre sinnliche Production und Reproduction überhaupt. Aber auch keine Nothwendigkeit dieses in den Kindern zu nähren, und sie aber ablenken und sagen: Das wissen wir selbst, das könntest du noch nicht verstehen, dadurch wird man das Religiöse nicht etwa hemmen. So kann sich dann auch die Vorstellung des Kindes immer mehr vergeistigen.

8–10 Vgl. SW III/9, S. 353: „E i n g a n z a n d e r e s B e d e n k e n i s t d i e s e s , d a ß d e n Ki n d er n d a s re l i g i ö se l e i c h t k ö n n t e m e c h a n i s i r t w e r d e n , sofern sie an Formeln festgehalten werden die für sie keine Realität haben und also etwas todtes sind. Das aber würde den größten Nachtheil hervorrufen, wenn dasjenige was in dem Leben des Menschen das lebendigste sein soll, von Anfang an als ein todtes mitgetheilt würde. Dagegen müßte auf das allerbestimmteste gewarnt werden. Damit hängt aber auch zusammen daß die religiöse Mittheilung eben so wenig wie sie an Formeln gebunden sein darf, an bestimmte Zeiten und Orte gebunden werde.“ 25–27 Vgl. SW III/9, S. 355: „Man kann ihnen ganz der Wahrheit gemäß sagen, entweder daß man selbst nicht wisse was sie erfahren möchten, oder daß wenn man es ihnen auch erklären wollte, sie dennoch es nicht verstehen könnten. Man wird dadurch nicht alle sinnlichen Vorstellungen hemmen, aber sie doch auch nicht durch Worte befestigen, sondern verhüten daß das Bewußtsein sich festwurzelt, daß die Kinder in diesen Dingen immer in Opposition mit den Aeltern stehen oder daß die Aeltern überall mit den Kindern in denselben sinnlichen Vorstellungen befangen sind. Auf diese Weise hält man sich die Bahn frei, die Vorstellungen immer mehr zu vergeistigen.“

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Mit der öffentlichen und großen Gemeinschaft in der Schule geht sie an, freylich ist dieß in einigen Gegenden so in anderen anders bestimmt, wenn auch die Schulzeit an einen physischen Proceß angeknüpft wird so ist es der wo die Zähne wechseln das auf eine körperliche Umbildung hinweist. In den höheren Ständen gehört davon mehr noch zur Familienerziehung. Daher noch einige Punkte nennen. Von dieser Zeit an trennen sich die Geschlechter mehr von einander, was auf die wenn auch dunkle Geschlechtsentwicklung hindeutet. Die Erziehung des weiblichen Geschlechts ganz in der Familie, indem sie für das öffentliche Leben nicht bestimmt sind, aber einen Theil könnten und müßten sie doch daran haben, wo in der Familie ihnen nicht die Entwicklung zugegeben wird, der sie bedürften. Dieses allerdings sehr verschieden. In der Masse sind die öffentlichen Schulen allerdings mit einander vermischt, was allerdings auf einen Mangel der Anstalten hindeutet. In Beziehung auf die Differenz der Geschlechter hätten wir also im Voraus auf dreyerley zu sehen: Auf die Verbind ung desselbe n m i t d e m m än n l i c h e n i n k l e i n e r e n S chula nst alt en, dann auf die besonderen Mädchenschulen mit dem schon weiter entwickelten Unterricht und endlich auf d i e h äusliche Erziehung der T ö c h t e r, indem doch nicht alle geneigt sind, sie an dem öffentlichen Theil nehmen zu lassen. Was die eigentlichen Volksschulen betrifft wo bey uns beyde Geschlechter häufig verbunden, so werden wir da über besonders das weibliche Geschlecht nichts zu sagen haben[;] da keine besondere Methode oder Berücksichtigung, sondern nur zu beantworten in wie fern dieses ein Zustand ist, der geduldet werden soll oder nicht. Dann wieder Rücksicht zu nehmen auf die Mädchenschulen in den Städten[,] da könnte allerdings eine andere Handlung eintreten dem verschiedenen Geschlechtcharakter gemäß. Wenn wir davon ausgehen, daß dieses nur die Stellvertretung des häuslichen Unterrichts ist, und es eine Verbindung verschiedener Familien ist in einer gemeinschaftlichen Localität, so wird daraus folgen daß doch der ganze Charakter der Behandlung mehr der Familie ähnlich sey. Daher der eigentliche Typus der weiblichen Fortbildung wird also doch nur zu suchen seyn in der Familienerziehung. Demnach auf das Ende der weiblichen Erziehung hinzuweisen. In der häuslichen Erziehung kann die Strenge des äußeren Lebens und Ordnung nicht eintreten, es ist also auch über die ganze Behandlungsweise weniger bestimmtes zu sagen. Die weibliche Erziehung also immer eine Nac h la ssung von der Strenge und Ordnung, die in der männlichen Erziehung herrschen soll doch 5 der] der der

23 über] über den

29 gemäß.] gemäß. Allein wenn wir etc.

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muß die Schulbildung vorangehen. Nur Eins das als ein besonderer Gegenstand erscheint: Die Vorbildung der weiblichen Jugend für das Hauswesen. Diese kann gar nicht anders als in der Familie gegeben werden. Und wenn auch dahinn gehörend einfaches, wie der Unterricht in den weiblichen Handarbeiten in öffentliche Anstalten verpflanzt worden ist, so kann er da weit weniger vollkommen gegeben werden, weil es hier ganz besonders auf die Aufsicht über den eigentlichen Mechanismus ankommt, also nur als nothweniges Übel durchzulassen. Dieß geht am besten in der Form der häuslichen Erziehung. Die männliche Erziehung muß immer das Maaß seyn wonach auch das weibliche zu betrachten. In Beziehung auf die andere Differenz zwischen den Regionen im gesellschaftlichen Leben welche gleich mit dem bestimmten Unterricht in den ersten Elementen des öffentlichen Lebens anfängt und denen die noch einen großen Theil des Unterrichts innerhalb der Familie ertheilen lassen so fragt sich ob wir hierauf Rücksicht nehmen müssen. Die strenge Form kann nie so vorwalten im häuslichen Leben wie in der öffentlichen Schule. In dem häuslichen Leben hat die Form des Gesetzes durchaus nicht ihren Ort in dem die elterliche Autorität sich keinem Gesetz unterwerfen darf. Daraus folgt eine größere Nachlassung in allem was fest stehen soll, und eine größere Modificabilität eines jeden Verfahrens nach den Umständen und besonderen Rücksichten, der eigentliche Charakter des Geschäfts, nachdem der Unterschied zwischen Ernst und Spiel, sich nicht so entwickelt in der häuslichen Erziehung wie in dem öffentlichen Leben also gibt uns das öffentliche den eigentlichen Typus an. Wir werden von hier an fürs erste auf das größere gemeinschaftliche Leben der Jugend in der Schule hinweisen. Freylich wird da jedem einfallen, daß da das erste sey zu bestimmen in welchem Verhältniß die Schule zu dem in der übrigen Zeit fortdauernden häuslichen Leben der Kinder stehen müsse, eine Frage worüber die Pädagogen bis jetzt sehr verschieden sind – nicht einfach zu beantworten. Es fragt sich ob denn die Theilung überall dieselbe ist, es wäre leicht möglich daß auch die Sache könnte ganz anders seyn. Wir werden es ganz natürlich finden wenn wir nur an die Differenz der Geschlechter denken, das männliche ist offenbar gewisser Maaßen für öffentliches Leben bestimmt, das weibliche nicht, daher der Beginn ins öffentliche Leben gleich im Anfang einen anderen Charakter haben[,] anders ist [es] für 23–24 sich nicht so entwickelt] entwickelt sich nicht so

26 auf] an

36–2 Vgl. SW III/9, S. 359: „Da wäre also schon eine bestimmte Scheidung vorausgesezt; es müßte nämlich schon der Anfang des öffentlichen Lebens einen ganz anderen Charakter haben für diejenigen die für das öffentliche Leben bestimmt sind, als für diejenigen die nur vorübergehend in dasselbe eintreten.“

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die Zöglinge die ihr ganzes Leben für ein öffentliches Leben bestimmt sind, und für die die gar nicht. | Aber die Sache in größerem Umfang zu betrachten. An etwas früheres zu erinnern, daß wenn in Beziehung auf den Staat und die Kirche wir eine Theilung der ganzen Massen, welche eine zu erziehende Generation bildet annehmen, einige in der regierenden Klasse andere in der regierten, diese Sonderung, die gleich nach dem Ende der Erziehung eintritt, so muß sie [von] der Erziehung auch vorbereitet seyn. Die letzte Periode muß diesen Unterschied schon fest setzen, die zweyte Periode aber in Beziehung auf welche noch nicht Rücksicht genommen werden kann so folgt daraus: ein großer Theil von der ganzen jetzigen gebildeten menschlichen Gesellschaft ist nicht auf dem Punkte, daß die Meynung und Anerkennung eines Angeerbten überall erloschen wäre, aber außerdem gibt es Differenzen welche dem Angeerbten sehr nahe stehen weil die Ansprüche auf den Eintritt in der regierenden Klasse auch an äußere Umstände gebunden sind. Daher ist es wohl unvermeidlich daß in denjenigen Regionen wo dieses der Fall ist, auch schon in dieser Periode darauf wird Rücksicht genommen werden müssen, und Kenntnisse mitgetheilt, welche unter der Präsummtion eines solchen Eintritts in die in irgend einem Sinne leitende Klasse eine wahre Bedeutung haben. Da also ein Unterschied schon in dieser Periode zwischen einer solchen Erziehung welche den Charakter dieser Periode ganz rein gibt und einer solchen, welche schon etwas von der künftigen Periode mit aufnimmt. Dieses erschwert allerdings die Behandlung unserer Periode in der Kürze, weil sie eine größere Mannigfaltigkeit gibt. Behandlung der Jugend auch ganz zusammenfallen. Nun fragt sich, da wir gesehen haben, daß bey dieser Klasse die häusliche Erziehung länger vor sich geht, ob die Sache sich so stelle daß ganz zusammenfiele mit dem längeren Zurückhalten derselben in der häuslichen Erziehung. Aber das ist eigentlich nicht so, sondern wenn wir nun das Geschichtliche vergleichen dann es bey uns eine Zeit gegeben wo die Meynung der angeerbten Vorzüge noch mehr Geltung hatte daß es da eine Zeit gab, wo deßwegen diese Stände ihre Jugend gar nicht in der Gemeinschaft mit den übrigen in den öffentlichen Schulen wollten unterrichten lassen. Das hat sich allmählig anders gestaltet theils durch eine richtigere Einsicht theils weil im großen Theil dieser Klasse die Mittel fehlen doch eine häusliche Erziehung zu erhalten. Die Annäherung hat die Ansprüche an die öffentlichen Anstalten verändert, indem sie dieser Voraussetzung doch 5 Massen] als Wiederholung mit Einfügungszeichen am Rand: (die die zu erziehende Generation bilden), über der Zeile angenommen haben 26 Behandlung] Bhldg 38 Erziehung] Erziehung die Mittel

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Genüge leisten mußten. Ob dieß recht ist ist nicht zu behaupten – aber dieser Unterschied zu schwierig fest zu halten. Vieles was bey uns allgemein gilt, erscheint nicht so (daß eine vollständige Trennung der höheren und niederen Stände sey) sondern was aus dieser Vermischung [folgt] wird in die Erziehung hineingebracht und ist als eine Sache der Noth zu erleben. Was kommt daher für unsere Beobachtung heraus? Es gibt für dieses Alter also große Anstalten gemischter Erziehung für die Jugend. Aber sie haben nicht denjenigen Einen Charakter. Die einen sind von der Art, daß sie den eigentlichen wesentlichen Charakter ganz rein halten, und auf jene Differenz keine Rücksicht nehmen wo die Bildung die reine Volksbildung ist, die berücksichtigt wird, die anderen solche, wo man auf diesen Unterschied Rücksicht nimmt, so, daß deßwegen an allen versucht wird, solche Fertigkeiten zu entwickeln, die eine Bedeutung haben für die regierende Klasse. Das erste ist die reine Tr i vi al s c h u l e Volksschule (der Ausdruck in gewissem Sinne nur ein ethymologischer) die zweyte die g emischt e, wo in die Volksschule schon Elemente der höheren Schule mit hineinkommen. Es fragt sich[:] Wie bezeichnet sich denn dieser Unterschied? Und wie sind diese verschiedenen Anstalten in dem Gange des großen öffentlichen Volkslebens zu vertheilen? Es liegt da sehr nahe, daß man sagt die reine Volksschule ist streng auf dem Lande. Die Volksschule die schon Elemente der höheren in sich trägt ist die städtische. Allein das eigentlich nicht gelten zu lassen. Es ist die Differenz auf einen Zustand berechnet, der nicht mehr überall der herrschende ist. Es kommt hier der Unterschied zwischen Stadt und Land, Ackerbau und Gewerbe in Berücksichtigung. Aber diese Formen nicht überall so streng geschieden und die Bildung selbst und der ganze Lebenscharakter nicht so streng geschieden, sondern in nur gewissen Theilen von Deutschland und in den Slawischen Ländern, wo nur die höhere Bildung auch die Gewerbsbildung etwas von Fremden eingemischtes ist – in dem die Nation zu viel in den müßigen Adel und den sclavischen Bauern getheilt ist da tritt dieser Unterschied stärker hervor, aber in den sehr bevölkerten und gebildeten Gegenden von Deutschland in 3 Trennung] Trennung sey

5 wird] wollen

1–6 Vgl. SW III/9, S. 360: „Ob das gut ist? Ich weiß es nicht; ich möchte eher das Gegentheil behaupten und sagen, Ihr behaltet eure angeerbten Vorzüge und die Präsumptionen der Sicherstellung eures Vermögens: lasset diese in den Familien gelten und lasset uns für die Schule den Charakter der Periode ganz rein halten. Indessen ist es nun bei uns nicht so; und wie es zu geschehen pflegt wenn die Theorie zuerst eines Gegenstandes sich bemächtiget, daß man ein aus Gewohnheit geltendes aus höheren Gründen erklären will: so scheint man es auch hier zu machen. Eigentlich ist es nur Sache der Noth gewesen.“

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d e n d e u t s c h e n L än de r n verwischt sich dieses schon viel mehr. Es ist eine bloß politische Unterscheidung die auf die Bildung und das Volksleben keine Anwendung findet. Wir hätten also so einen zu beschränkten Gesichtspunkt. Also von dem strengen Unterschied zwischen Stadt- und Landschule zu abstrahiren. Das Verhältniß derselben zur häuslichen Erziehung festzustellen. Wir haben die ganze Öffentlichkeit des Unterrichts aus zwey Gesichtspunkten betrachtet, einmal als Vorbereitung auf die Öffentlichkeit des Lebens überhaupt dann auch weil die entwickelnde pädagogische Thätigkeit kunstgerecht werden müsse, und nur von einem Sachkundigen geleitet werden könnte, so haben wir nicht vorausgesetzt, daß diese überall in der erziehenden Generation anzutreffen sey und von dieser Seite wäre sie Sache der Noth. Hieraus geht hervor daß eine Scheidung zwischen dem Leben der Jugend in der Schule und dem häuslichen Leben ist. Das erste kann in dem anderen nicht eigentlich fortgesetzt werden, bis die Zöglinge zu einer stetigen Entwicklung gediehen sind, so daß sie auf diesem bezeichneten Weg selbst fortschreiten können. Das gibt die allgemeine Maxime daß in den Volksschulen der eigentliche Unterricht muß abgeschlossen seyn indem er in dem häuslichen Lebensraum nicht kann fortgesetzt werden. Diese Maxime leidet hernach ihre Beschränkung. Es ist eine sehr gewöhnliche und herrschende Ansicht so wie das öffentliche Leben in der Schule anfängt, wenn der Unterricht das Zuvorstehende ist so stellt man die Frage auf, ob die Schule eine Unterrichts- oder auch Erziehungs-Anstalt seyn soll? Diese Frage etwas wunderliches. Freylich wenn man den Unterricht rein als etwas Materiales betrachtet so werde ich die Frage bejahen, aber betrachten wir ihn im Zusammenhang mit dem Vorhergehenden in seiner formalen Beziehung, so ist er ja ein Theil der Erziehung, eine Entwicklung der Kräfte vermittelst deren Kenntnisse gewonnen und Fertigkeiten eingeübt werden. Es kann nicht die Rede seyn daß die Schule nur Unterrichtsanstalt nicht Erziehungsanstalt wäre, sonst kommt man in den schlechtesten Mechanismus hinein. Wenn man aber meint, daß die Frage nur meint, ob die elterliche Autorität überhaupt diese theilend oder in sie aufnehmend die Schule selbst sie einverleibe und die elterliche Autorität theilen oder in sich aufnehmen, dann muß ich sie 17–21 Vgl. SW III/9, S. 362: „Und nur in einigen Beziehungen, in so fern späterhin nothwendig wird daß die Jugend ihre Kräfte auf eigene Hand versucht, erleidet diese Maxime Beschränkung. Darüber aber kann erst in der Folge das nöthige gesagt werden, für den Anfang dieser Periode gilt die Maxime in ihrem ganzen Umfang.“ 32– 1 Vgl. SW III/9, S. 363: „Wenn man aber es nur so mit der Frage meint, daß auch die erziehende Thätigkeit sich solle über die Schule hinauserstrekken und die älterliche Autorität theilen, also die Autorität eigentlich schwächen: so muß ich das gänzlich verneinen.“

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verneinen. Würde ich sie bejahen, so müßte man es einrichten wie in der Platonischen Republik – aber immer nur Extreme, nie zu realisiren. | Es ist wahr es sollen diejenigen welche die Erziehung in der Schule leiten sollen auch in ethischer Hinsicht auf höherer Stuffe als die ganze Masse der Erziehenden und auch als die Eltern [stehen]. Wäre es also nicht vortheilhafter auch die ethische Erziehung in diese Hände zu bringen? Die Frage demungeachtet nicht zu bejahen. Betrachten wir die Sache im Zusammenhang mit dem Vorigen, so hat bis jetzt die ganze ethische Entwicklung an der Familie gehaftet, das Band ist in seiner natürlichen Festigkeit, und wenn es so sollte zerrissen werden, und die Jugend in seiner ganzen ethischen Abhängigkeit an einen oder mehrere geknüpft, die ihnen ursprünglich fremd sind, so ist es natürlich daß der Gehorsam sein Fundament nicht hätte so würde aus der Unterordnung der Familie unter dieses neue Verhältniß eine Verwirrung in ihnen entstehen in die sie sich erst hineinbilden müßten. Solche Prätensionen machen die welche das Volksschulwesen mit lebendigem Eifer betreiben. Sie stimmen aber nicht mit der Natur der Sache überein, und es entstünde ein Deficit der Erziehung daraus, die die wahre Entwicklung mehr hinderte. Dagegen wenn gefragt wird[,] soll die Schule keinen Einfluß auf die Jugend ausüben, aber nur wenn das was ihnen geschieht als unmittelbar durch den Unterricht erworben wird? Damit hat es keine Noth, daß sie einen großen Einfluß ausüben sollte. Das thut sie aber von selbst als ein geistiges öffentliches Leben, und nur innerhalb der Zeit in welcher die Kinder ihr angehören. Dieses bestimmt uns die zu beachtenden Punkte. Es wird nun die Frage nicht überflüssig seyn, was die hä usliche Erz ieh u n g für sich in dieser Periode zu leisten habe, aber allerdings wird immer dieß neue Element der Schule die Hauptsache seyn. Wenn wir den Punkt recht treffen wollten, von welchem aus dieß zu construiren ist, so würden wir uns weiter von unserer ursprünglichen Idee entfernen, wenn wir nur auf das Materiale sehen wollten, sondern es ist doch eine andere Thätigkeit in der Entwicklung nicht nur der Fertigkeiten was in der Schule zu leisten ist sondern auch der Gesinnung in so fern sie aus dem öffentlichen Leben hervorgeht. Die Frage des Materialen betreffend wird sich so gestalten. Was sind von der Beziehung auf das Ende der Erziehung ausgehend die Gegenstände an welchen nun die Kräfte und Fertigkeiten gelenkt und geübt werden sollen? Dann was ist nun der Einfluß der Schule auf die Gesinnung? wie ist sie zu gestalten damit hier das meiste geleistet und alles Nachthei12 fremd] geknüpft 32 nicht] nicht auf

15 entstehen] entsteht 16 welche] welche die machen die 37 gelenkt und] gelenkt und und

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lige vermieden werde? Hier zurück auf das allgemein Gesagte, daß in dieser Region vorläufig ganz abstrahirt wird von dem politischen Punkte, ja von dem intellectuellen auf den der politische wesentlich basirt wird. Dieß in jeder Generation welche als leitende oder als geleitete erscheinen. Indem wir hievon abstrahiren so wollen wir auch in der ganzen Behandlungsweise keine Differenz hierinn aufstellen, und daß wir denen die in der Zukunft bloß in der geleiteten Klasse stehen bleiben, nichts von dem vorenthalten wollen, was in dieser Periode für die zweckmäßig ist die in der Folge in die leitende Klasse übergehen. Wenn wir anders handeln wollten so würden wir ja gerade auf die Differenz Rücksicht nehmen. In dieser Beziehung sind wir noch auf keinen festen Punkt gekommen und nicht etwa nur unser Volk, sondern mit Ausnahme der neuen Welt von allen Europäischen Staaten, nur jene sind ohne alle Rücksicht auf alle erblichen Unterschiede entstanden – es hat sich freylich in anderen Staaten abgestumpft, die Theorie später als die Praxis, man hat in der Praxis angefangen diese erblichen Unterschiede zu vernichten aber darinn kein fester Zustand. Weil in der Praxis dieses erbliche nicht mehr statt findet so darf durch eine absichtliche Verschließung einer höheren Entwicklung keiner gewaltsam zurückgehalten werden, um auf einen solchen Punkt zu gelangen der ihnen den Übergang in die bildende Klasse eröffnet. Sobald in der bürgerlichen Gesellschaft die Administration nicht mehr ausschließend in den Händen einer erblich bevorachteten Klasse ist, so ist der politische Unterschied eigentlich aufgehoben, und sobald in der Gesellschaft in ihren höheren Klassen eine litterarische Bildung da eingedrungen ist so ist ein leitendes Princip das, das von dem erblichen Vorzug gar keine Notiz nimmt. Das Kastenwesen vorzüglich nur da, wo es eine öffentliche Gedankenmitthei6 hierinn] hierinn wollen

9 leitende] geleitete

13 allen] allen allen

1–5 Vgl. SW III/9, S. 364: „Wir dürfen nur nicht übersehen daß wir in Beziehung auf die Volksschule von dem politischen und intellectuellen Unterschied abstrahiren, daß die einen die leitenden, die anderen geleitete werden.“ 11–18 Vgl. SW III/9, S. 364– 365: „Wir sind in dieser Rükksicht noch nicht auf einen festen Punkt gekommen, und dies gilt von allen eu|ropäischen Staaten. Nur in der neuen Welt ist es anders. Die Staaten Nordamerikas sind ohne den erblichen Unterschied zu machen entstanden, und die Erziehung weiß also nichts davon. Man hat schon seit langer Zeit angefangen den erblichen Unterschied zu vernichten in Bezug auf alles reale und wesentliche im politischen Leben, so daß man das äußerliche nur noch lassen wollte. Aber es treten beständig noch Reactionen ein; und diese erstrekken sich besonders auf das Erziehungswesen. Es giebt eine gewisse Eifersucht die vom aristokratischen Princip des Staates ausgeht und den erblichen Unterschied auch möchte in die erste Erziehung hineinbringen. Den zur geleiteten Klasse gehörenden soll nichts dargeboten werden was sie qualificiren könnte einmal in den leitenden Zustand überzugehen.“

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lung nicht gibt. Das eine allgemeine Erfahrung. Seit es einen durch Verdienst erworbenen Adel gibt, ist das rein Erbliche umgestoßen. In die Volksschule darf kein solches hemmendes Princip hineinkommen, daß man sagte: Man darf gewisse Thätigkeiten nur in den Regionen einüben wo die leitende Klasse erst sich entwickeln soll. Ein solches hemmendes Princip dürfen wir nicht statuiren. Um die Sache von diesem Punkte aus auf eine bestimmte Form zu bringen, so müssen wir gleich auf das letzte Ende der Erziehung hinsehen und wenn wir fragen[:] Was ist es wodurch der Einzelne sich qualifizirt der leitenden Klasse anzugehören und fragen[,] was kann dazu in dieser Periode geschehen auf diesem Wege der Entwicklung dann werden wir dasjenige finden was wir nicht ausschließen dürfen. Wenn wir uns diese Frage vorlegen, so werden wir sagen müssen es ist hier immer zweyerley ein Intellectuelles und ein Ethisches, woraus das zusammen gesetzt ist, es sind nur diese zwey Gewalten wodurch eine Leitung ausgeübt werden kann, die E i n s i c h t und der Willen. Was also geschehen kann in dieser Periode, dieses beydes so zu entwickeln daß sich jede weitere Entwicklung daran anschließen kann, das darf man sagen daß die Volksschule muß sich anschließen an dasjenige, was die Kinder mit hineinbringen, ihre Thätigkeit auf die Entwicklung der Einsicht und des Willens zu richten daß sich jede weitere Entwicklung daran anschließend und sie ihre Zöglinge ebenso in eine mechanische Thätigkeit als in die höhere individuelle Bildung übergeben kann. | Aber es gibt eine gewisse Menschenfreundliche Form in die sich das Princip der Behinderung der Beschränkung einbildet, welche wir auch berücksichtigen müssen. Man sagt: Wenn man in der Jugend aus dem Volke zu viel Kräfte entwickelt die hernach keinen Spielraum haben in dem Leben welches ihnen hernach bevorsteht so bringt man ein Mißverhältniß hervor und macht sie unglücklich und so auf der anderen Seite wenn man in diesem Entwicklungsproceß ihnen Kenntnisse beybringt, von denen sie in ihrem Leben keine Anwendung machen können so hat man die Zeit verdorben, und bringt nur eine leere Eitelkeit hinein. Nun das klingt sehr schön. Aber näher zu untersuchen. Wenn wir absehen von einem mehr oder weniger sclavischen Zustand so folgt daraus es gibt keine Kraftentwicklung welche nicht sollte in jeder Lebensweise einen Spielraum finden, und selbst wenn wir auf den sclavischen Zustand sehen, so werden wir das auf jedem Markt finden, daß ein Sclave in dem viel Kraft entwickelt ist, anders bezahlt wird als ein anderer, das auf jeden Fall eine bekannte Voraussetzung. Und wenn so viele Klagen im Leben gehört werden, daß die Menschen klagen, 23–25 Vgl. SW III/9, S. 366: „Nun giebt es eine gewisse menschenfreundliche Form, in welche sich das Princip der Beschränkung des Volksschulwesens einhüllt,“

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sie fänden für ihre Kräfte keinen Spielraum, so liegt das nur darinn daß sie nicht genug und nicht gehörig entwickelt sind. Denn zu ihrer Entwicklung gehört das, daß sie anzuknüpfen wissen und ihren Spielraum finden. Die Klage wird nur gegründet seyn in Beziehung auf todte Kenntnisse und Fertigkeiten aber nicht in Beziehung auf Kräfteentwicklung. Daraus müssen wir nun gestehen daß wir die Praxis nicht immer werden einer richtigen Theorie angemessen finden und wir einen guten Grund haben zu diesen Sätzen und Befunden. Das Princip festzustellen fragte ich zuerst[,] was bringen zu folge des bisher Gesagten in beyden Beziehungen die Kinder in die Schule mit, und was kann in dieser Region an dieses Mitgebrachte angeknüpft werden um dem Princip vollkommen zu genügen? Das die Fragen auf welchen die ganze weitere Entwicklung der Sache beruht. Wenn wir auf den Umfang dessen was in der Volksschule zu leisten ist, Rücksicht nehmen, und wir darüber einig sind, daß keineswegs der Einfluß der Familie dadurch ganz aufgehoben werden kann, und darauf nun sich frägt, wie das Ganze unter beyden sich theilen müsse, so scheint ganz leicht gesagt werden zu können, einmal weil ein secundäres Motiv wenigstens gewesen ist, daß in der Familie nicht mit demselben Vortheil alle Fertigkeiten können erworben werden, daß in der Schule wir diese zu leiten haben, und sie also ganz auf der Seite des Unterrichts und der Übung steht, und daß aber was auf der Seite der Gesinnung liegt in der Familie zu leisten sey. Dies letztere können wir nicht zugeben, weil wir sagten es sey die Gemeinschaft der Jugend nicht eine Sache der Noth, sondern ein Übergang in das öffentliche Leben. Es ist offenbar, daß dieß einen wesentlichen Einfluß auf die Gesinnung haben muß. Wenn wir also im Gegensatz gegen Unterricht und Übung den Einfluß auf die Gesinnung eigentlich Erziehung im engeren Sinn nennen, so muß auch die Schule erziehen. Das scheint eine gewisse Unregelmäßigkeit in die Construction zu bringen, wenn sich nicht finden sollte, daß der Familie auch etwas übrig bleibt von Unterricht und Fertigkeiten. Wenn wir bedenken daß für einen großen Theil der Jugend diese Periode schon das Ende der Erziehung von einer Seite ist, umso früher nähmlich als sie dann schon sich ihren Beruf bestimmen wie dieß bey allen Kindern in der Klasse der Landbevölkerung und der niederen Gewerbe der Fall ist, so finden wir, daß alsdann eine andere Unterweisung wieder für sie angeht, die wieder in die Familie hineinfällt, und überwiegend an den häuslichen Kreis gebunden wird. Wenn wir dieß als einen überwiegend häufig möglichen Fall ansehen, daß die Kinder in dieser Klasse zu dem Geschäft übergehen wie Eltern, so folgt daraus mit Hinsicht darauf bekommen 4 wird] ist über )wird*

12 genügen?] genügen.

33 Erziehung] Erziehung schon

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sie in dieser Zeit die wahre Tradition von dem Geschäftsleben, in das sie hernach übergehen, und das ist etwas zum Unterricht Gehörendes, das sie in der Familie empfangen. In den höheren Ständen finden wir etwas Analoges, nähmlich da ist eine Wahrscheinlichkeit daß die Kinder in solche Lebensverhältnisse übergehen, wo sie mit ihren persönlichen Relationen nicht ganz in dem nationalen Kreise eingeschlossen bleiben, und wo ihnen eine Bilingualität nothwendig ist, aber nur in Betracht des gemeinschaftlichen Gebrauchs. Nun finden wir die allgemeine Praxis abgesehen ob die Kinder dieser Stände an der Volksschule Theil nehmen oder nicht, daß sie die genaue Lebenskenntniß einer anderen Sprache in der Familie empfangen, und so haben wir auf beyden Seiten ein Gegengewicht. Wenn wir die Theilung von dieser Seite machen wollen, so folgt daraus der S chule kommt a lle s z u , w as e i ge n t l i c h U n t e r r i c h t u nd Übung ist mit Ausnahme der speciellen Geschäftskenntniß, die sich auf einen wahrscheinlichen künftigen Beruf bezieht, die in dem Familienleben von selbst erfolgt, so daß wir unentschieden lassen, ob darauf eine besondere pädagogische Thätigkeit zu wenden ist; und ebenso hat die Schule die Verpflichtung, dasjenige auf dem Gebieth der Gesinnung zu entwickeln was sich unmittelbar auf das Öffentliche in seinem Gegensatz gegen das Familienleben bezieht, wogegen also der Familie übrig bleibt, die Gesinnung weiter zu entwickeln und zu fördern in dem religiösen und allgemeinen ethischen Standpunkt. So möchten wir sagen, die Theilung geschehe so, daß das Niedrigste und Höchste doch der Familie bleibe, und sich also an das bisherige anschließe, dagegen die mittlere Region in die Schule hineinfalle. (Somit wäre also betrachtet die Theilung QCorrealitätR.) Wir haben die Sache noch von einer anderen Seite zu betrachten. Wir haben gesagt, daß mit dieser Periode erst angeht der strengere Gegensatz davon, was Ernst ist, und eigentliche Übung und dem, was Spiel ist und freye Thätigkeit. Wann soll die Theilung in dieser Beziehung gemacht werden? Wir haben schon gesehen, daß gerade je weniger man in der Familie das Geschick und die Muße voraussetzen kann das zu leisten, wodurch eine regelmäßige Übung und Unterweisung erworben werden muß. Um so weniger darf sich auch die Schule auf das | häusliche Leben verlassen, und so scheint als ob alles, was regelmäßige Übung [ist] durchaus der Schule anheim fällt, und wenn ebenso das, was auf der anderen Seite im Gegensatz nur Spiel und freye Thätigkeit ist daß das dem häuslichen Leben anheimfällt, uns die Basis für eine Frage entsteht, die uns zu der bestimmtern Aufgabe, den Umfang des Unterrichts und der Übung hinüberführt. Hat dieses seine Richtigkeit, daß die regelmäßigen 7 Bilingualität] Billingualität

35 Schule] Schule umso weniger

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Übungen der Schule anheimfallen und das Spiel der Zeit zu Hause, und ist der strenge Gegensatz ein solcher, daß dadurch auch die Gegenstände in dieser Beziehung völlig gesondert werden und also durchaus die Kinder sich nicht mit wesentlichen Gegenständen beschäftigen könnten, mit denen sie sich in der Schule beschäftigen? Es hat dieß verneinend zu beantworten viel für sich. Man kann sagen, durch eine spielende Thätigkeit mit denselben Gegenständen würden die Kinder das zum Theil vordenken was in der Schule gewonnen wird, und sich gewöhnen, mit den Gegenständen auf gewöhnliche Weise umzugehen, die das Spiel mit sich bringt. Es würde dadurch die Ähnlichkeit zu groß mit der früheren Periode und dadurch müßte eigentlich eine Art Widerwillen entstehen gegen die große Strenge in der Schule, wenn dieselben Gegenstände zunächst auch die einer leichten spielenden Thätigkeit wären. Und es wäre zweckmäßiger, das ganz zu sondern, so daß die Thätigkeit mit gewissen Gegenständen in der Schule nicht unterschieden wird durch eine häusliche mit denselben Gegenständen unter einer anderen Form. Alsdann könnte keine Erinnerung sich so leicht entwickeln an die ungezwungene Art wenn die Gegenstände ganz andere wären. Als allgemeine Maxime würde sich dieß aufstellen lassen. Doch müssen wir untersuchen, ob sie nicht nothwendige Modificationen erleidet. Setzen wir dieselben Gegenstände, so kommen diese den Kindern auch in dem häuslichen Leben vor, und wir können sie von den spielenden Thätigkeiten derselben nicht ganz ausschließen. Ein Beyspiel: Denken wir uns das Lesenlernen geschehe in der Schule auf eine regelmäßige Weise, und nun würde gesagt, die Kinder zu Hause müssen kein Buch zur Hand bekommen. Wird in Familien nicht gelesen so ist keine Kunst dieß zu halten. Es ist wahr wenn sie zu Hause mit den Büchern mehr spielen, so verderben sie sich und gewöhnen sich Ungenauigkeiten an. Wenn aber dieß immer wieder von selbst sich darbiethet zu Hause, so könnte doch die Maxime nicht gehalten werden, besonders je weniger in der Familie auf die Kinder geachtet werden kann. Das beschränkt sich also von selbst und man muß nur sichern dieß für den regelmäßigen Fortgang in der Schule so wenig schädlich zu machen als möglich; aber freylich werden Nachtheile daraus entstehen, welche müssen aufgehoben werden. So viel stellen wir fest, daß allerdings alles w a s s t r e n g e u n d r e ge l m äß i ge Ü b u n g i s t in da s Ge biet h de r S c h u l e hineinfällt, und daß je mehr die Beschäftigungen der Kinder zu Hause von denen die der Schule angehören streng gesondert sind, um desto ungestörter wird der Zweck der Schule erreicht werden kön4 Kinder] Kinder durchaus 5 beschäftigen?] beschäftigen. achten 35 welche] welche werden

32 geachtet werden]

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nen. Es fragt sich[,] w i e s t e h t e s z u e rst und besonders im A llg e m e i n e n b e t r ac h t e t u m d e n A n theil a n der Ent w icklung d er G es i n n u n g, d e n w i r d e r Sc h u le zug eschrieben? Hier ist der Hauptunterschied der: Wir haben gesehen, daß in der Familie das eigentliche Gesetz ein unnatürlicher Zustand ist, sondern die elterliche Autorität ist eine solche, welche an die Subsummtion der einzelnen Fälle unter das Allgemeine unter der Form der Gesetze nicht gebunden. Wenn wir das Zusammenseyn einer Masse von Jugend in der Schule betrachten, so kann das nicht geschehen ohne die Form des Gesetzes. Hiedurch wird also eine Fortschreitung bedingt in der praktischen Subsummtion des Einzelnen unter das Allgemeine. Wenn wir diesen Zustand als einen neuen ansehen in welchen die Kinder eintreten und fragen[,] werden sie das ansehen als eine Verbesserung ihres Zustands oder eine Verschlimmerung desselben so müssen wir davon ausgehen daß ihnen alles als eine Verbesserung erscheinen muß, was Kraftäußerung von einer neuen Art hervorlockt. Dieß ist offenbar eine Kraftäußerung von einer neuen Art, daß sie überall in ihrem Betragen das Gesetz sich sollen gegenwärtig erhalten und in den einzelnen Fällen demselben seine Wirksamkeit verschaffen aus sich selbst heraus, und in sofern ist nicht vorauszusetzen, daß sie [dies] werden als den Zustand der Verschlimmerung ansehen, es wird alles nur darauf ankommen, daß ein richtiges Verhältniß statt finde in Beziehung auf die Theilung der Zeit zwischen dem strengen Zustande der Übung und dem freyen im häuslichen Leben und auf der anderen Seite daß die Handhabung des Gesetzes und also die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Schule nicht einen solchen Charakter annehme, daß ihnen das als ein schlimmerer Zustand erscheint. Hier kommen wir also auf den Hauptpunkt, der in dieser Hinsicht hier zu beachten ist, nähmlich wenn wir uns das construiren so folgt daraus, daß die streng e Reg e l m ä ß i g k e i t aber verbunden mit einer gewissen Milde in der Handhabung der eigentlich wesentliche Charakter ist, durch welchen die Schule einen Einfluß a uf d i e G e s i n nung haben muß. Wenn aber eines von beyden fehlt, so wird dieß nicht nur nicht erfolgen, sondern es wird ein ganz entgegengesetztes nothwendig erfolgen, nähmlich wenn die strenge Regelmäßigkeit da ist, es fehlt aber die Milde, so werden die Kinder ihren Zustand als Verschlimmerung fühlen, denn sie sind alsdann in einem knechtischen Zustand, wogegen im anderen 3 zu g e s c h r i e b e n ?] z u g e sc h ri e b e n .

19 seine] seiner

37–5 Vgl. SW III/9, S. 370: „fehlt die strenge Regelmäßigkeit: so kann die Schule durch die Form des Gesezes gar nichts wirken; es kann nicht fehlen daß die ungebundene Thätigkeit einer größeren Masse in eine Zügellosigkeit ausartet, die sich in der Familie nicht würde entwikkelt haben.“

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Fall so kann auch die Schule durch den strengeren Gegensatz und die Form des Gesetzes nichts wirken, und alsdann bleibt nur der freyere Spielraum, den die ungebundene Thätigkeit durch die größere Masse gewinnt, und da fehlt nicht daß nicht die Schule sollte eine Zügellosigkeit entwickeln. Das sind die beyden Extreme von denen eins nothwendig eintritt, und die beyde für das bürgerliche Leben verderblich sind. Es ist aber offenbar, daß es keine vortheilhafte Entwicklung der Gesinnung gibt in Beziehung auf den allmähligen Übergang in die bürgerliche Selbstständigkeit von dem kindlichen Zustand aus als den der Wirkung einer strengen aber auf eine milde Weise gehandhabten Regelmäßigkeit. Eine solche muß ihrer Natur nach eine Freude an dem gesetzlichen Zustande hervorbringen, und dieß ist die beste Basis für eine jede Stelle, die in Zukunft der Einzelne in dem öffentlichen Leben wird einzunehmen haben, | nähmlich Unterschied der verschiedenen Abstuffungen. Es entsteht daraus alles, was durch die Vereinigung der Kräfte, die innere strenge Regelmäßigkeit verwendet möglich wird ohne das Bewußtseyn einer gestörten freyen Thätigkeit und das ist ja der Keim zu einem vollkommenen Selbstbewußtseyn in Beziehung auf das Verhältniß des Einzelnen zu dem Ganzen, wogegen freylich wenn man dieß wollte als etwas ansehen was auf der Seite der Gesinnung geleistet werden kann, so wäre das wieder ein Irrthum und übereilt zu sagen: wenn man im Stande ist, den öffentlichen Schulen den Charakter zu geben, so wäre es am wünschenswerthesten, daß die Kinder ganz würden aus der Familie herausgerissen werden. Denn die Entwicklung der Gesinnung nach dem religiösen Standpunkt und dem allgemein ethischen kann nur in der Familie erfolgen, weil sie nur auf der Lebensmanifestation des Einzelnen zu dem Einzelnen beruht. Noch ein Paar Worte über diesen wichtigen Gegenstand. Der Lehrer in der Schule repräsentirt den Gegensatz ebenso gut wie in dem bürgerlichen Leben die Obrigkeit. Das geschieht durch die Form seiner ganzen auf die Masse gerichteten Thätigkeit. Nun aber das Materielle dieser Thätigkeit geht in den Gegenständen des Unterrichts und der Übung auf, und also ist nie der Einzelne in seiner Totalität angesehen der Gegenstand seiner Thätigkeit sondern immer nur in einzelnen Functionen. Aber die eigentliche Entwicklung des Ethischen ist nichts anderes als daß der ganze Mensch, der vollständig und erwachsen mit der Kraft der Liebe auf den ganzen Menschen der erzogen werden soll wirkt und eine solche Entwicklung kann nur geschehen durch das Bewußtseyn eines solchen Verhältnisses. Dieß ist in der Schule nicht möglich, weil da überall in dem Unterricht nur die einzelnen Functionen hervortreten, sondern es ist rein nur die Art und 14–15 Vgl. SW III/9, S. 370: „gleichviel ob in der regierten oder regierenden Klasse.“

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Weise, wie die Kinder in der Entwicklung dieser Functionen behandelt werden, worinn sich das ethische Princip zeigen kann. Aber da kann der Einzelne nur in Fällen der Ausnahme hervortreten. Denn die übende Thätigkeit wird auf die ganze Masse gerichtet, und so lange die gelingt, so hebt sich der Einzelne nicht hervor, und also nur in dem Fall der Hemmung oder Störung wird der Einzelne ein besonderer Gegenstand der Thätigkeit und da soll zugleich ein ethisches Verhältniß immer eintreten. Aber dieß soll so wenig als möglich der Fall seyn. Das glaube ich nie, daß man eine solche Substitution mit Nutzen erreichen kann. Man hat freylich die Sache oft so gestellt, und das ist ein Princip das vielen Erziehungsvorstellungen zum Grund liegt, daß man sagt die Schule muß zunächst wenn sie die Kinder ganz aufnimmt das Familienleben nachbilden. Aber in demselben Maaß als das möglich [ist] hört auch die Schule auf, eine Volksschule zu seyn und es fällt der ganze Gegensatz zwischen dem häuslichen Leben und der Schule hinein, und sie trennt sich dann von selbst und besteht aus zwey verschiedenen Bestandtheilen. Aber nur so läßt sich die Sache denken, aber die Theorie wird nicht geändert; denn es tritt eine zwiefache Wirksamkeit ein. Denn das Gebieth der Schule gehört in das eine und in das andere nicht, und das Zusammenbestehen von beyden ist nothwendig, sie mögen so oder so getrennt seyn. Bey dieser Theilung bleibt immer nur ein relativer Gegensatz zu berücksichtigen, daß nicht vollständig zusammen gewirkt wird sondern in einzelnen besonders in Beziehung auf den Anfang gegen einander. So dieß mit der häuslichen Erziehung vorauszusetzen, daß die secundären Thätigkeiten in der Erziehung, die [sind, die] das verbessern sollen. Ist früher in der Jugend kein bestimmter Gegensatz zwischen Ernst und Spiel, so ist keine richtige Übung da, da wird dann der Übergang in die Schule ein plötzlicher. Hier wäre also die Frage zu stellen: Was für Mittel anzuwenden sind, um hier alles Einzelne in Übereinstimmung mit dem Ganzen zu bringen. Eine Ausweichung aus der Ordnung ist eine Verletzung des Ganzen, da handelt es sich also um die S tra fen die dadurch scheinen nothwendig zu werden. Es gibt keine andere Veranlassung von Strafen als die Verletzung der Ordnung. In solchem Zusammenseyn wie in der Schule, ist es immer gegen die Ordnung, wenn der einzelne mit seiner Thätigkeit nicht zu rechter Zeit und nicht 32 u m d i e] v o n d e n 9–10 Vgl. SW III/9, S. 371: „Eine Substitution der Familie kann also die Schule nicht sein.“ 24–26 Vgl. SW III/9, S. 371: „Schon am Anfang kommt das Kind nicht in jeder Beziehung so in die Schule wie es sein sollte. Daher d i e s e c u n d ä r e n E i n w i r k u n g en .“

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im rechten Grad eintritt. Sieht man von diesem ab, so ist eigentlich nichts was Veranlassung zu Strafen geben könnte, es bleibt nichts anderes übrig als was sich auf Fähigkeiten und die vorhandene Grundlage bezieht. Es ist nicht möglich daß alle Kinder im gleichen Zustande in die Schule kommen, und diese Ungleichheit gleichsam vertragsmäßig, sie soll durch das Zusammenleben der Massen allmählig verschwinden. Wollte man sagen: Für Unfähigkeit sollen die Strafen Reizmittel nicht Ausdruck des Tadels seyn, so wird man das nie rechtfertigen können, daß das eine richtige Art von Reizmittel sey. Strafen sollen unangenehme Empfindungen [hervorrufen]. Diese haben freylich einen Reiz als eine Thätigkeit postulirt wird um sich von demselben los zu machen. – Dabey bey einer Strafe nicht die Rede – ist sie gegeben so ist noch das Unangenehme da, keine unmittelbaren Reizmittel sondern nur die Thätigkeit für die Zukunft so abzuhalten. Überall gibt es andere Reizmittel die im unmittelbaren Zusammenhang stehen mit der stärker zu entwickelnden Thätigkeit, die sogleich kräftiger als ein Reizmittel [sind], das unmittelbar einen deprimirten Zustand hervorbringt, – das dann sich die Thätigkeit nicht auf dieselbe freye Weise entwickelt – die Folge wird seyn[:] Je mehr ein System von Strafen organisirt ist, desto mehr wird sich ein knechtischer Sinn entwickeln. Thut die Sache ihre Wirkung so dominirt die Furcht. Es ist offenbar daß wenn überhaupt Fehler des einzelnen oder ein Zurückbleiben desselben in der Entwicklung der Fertigkeiten von der Art sind, daß man es nicht gerade als Mangel des Willens ansehen kann, so ist alles was Strafe ist um so weniger indicirt, weil das immer nur eine Wirkung auf den Willen hervorbringen kann, sondern da ist aufgegeben den Mangel aufzusuchen da wo er liegt, er liegt dann im M a n g el d e r Ve r s t än d i gu n g. Dann ist die didactische Thätigkeit aber [als] kein solches Reizmittel anzuwenden. Dieß System hat seinen nächsten Grund in einer Art von Trägheit oder Unbeholfenheit der Lehrer. Daher[:] Je mehr das pädagogische Geschäft mit Lust getrieben wird, desto weniger wird man auf Strafen bauen und umgekehrt. Wenn wir also hier auf das Gebieth zurückgehen, von dem wir anfingen, so folgt daraus daß auf den Willen des Einzelnen eigentlich ge24 sind] ist 1–4 Vgl. SW III/9, S. 372: „E s g e h t d i e s v o m Wi l l e n a u s : i n d i e s e m F a l l t r i t t di e S tr a fe ei n ; n i c h t a b e r d a n n w e n n e s si c h um F ä h i g k e i t e n h a n d e l t o d e r um d i e s ch o n v o rh a n d e n e G ru n d l a g e . “ 12–14 Vgl. SW III/9, S. 372: „Wenn aber die Unfähigkeit sich erst einmal geäußert hat und die Strafe tritt als Reizmittel ein, unangenehme Empfindungen erregend: so könnte sie doch nur mittelbar wirken für ein anderes Mal; je früher aber in dieser Periode, desto mehr dominirt die Gegenwart, es tritt die Wirksamkeit des Reizmittels dann nicht ein.“

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wirkt werden muß unmittelbar durch die Gewalt des Ganzen, ohne daß eine specielle Richtung gegen ihn genommen wird. Das im Allgemeinen nicht genug anerkannt was für eine große Wirkung die | Gewalt des Ganzen auf den Einzelnen ausübe. (Anstalten für solche die in der Familie verwahrloset werden erfreuliche Erfahrung[.]) Die fördernde Thätigkeit der Erziehung muß nur zeitig genug auftreten und allgemeiner Canon: al l e b e w u ß t rectif icirende T hä t ig keit k a n n v er m i e d e n w e r d e n , we n n d ie unterstüt zende T hä t ig k e i t z e i t i g ge n u g e i n t r i t t . Z. B. es sollen Kinder zu rechter Zeit mit einer Arbeit fertig werden, bekümmert sich der Aufseher nicht eher als bis es geschlagen hat, dann wird es zu spät seyn und die rectificirende Thätigkeit muß eintreten, warnt er aber und spornt er an, dann unterstützt er sie und das wird nie ohne seine Wirkung bleiben. Natürlich wenn die Regelmäßigkeit mit dieser Milde, welche die pädagogische Thätigkeit mehr in die Unterstützung legt verbunden ist und mit der Genauigkeit der Aufsicht, so wird man überall im Stand seyn, den Willen in einem wohl organisirten Ganzen von der Form der Freudigkeit zu erwerben und stärken ohne zu dem hier bestimmenden Hülfsmittel aus Strafen seine Zuflucht nehmen zu müssen. Will man hier sagen das klingt als würde man ohne alle Strafe fertig werden? Denken wir an eine spätere Periode oder höhere Regionen, so sollen der Strafen noch weit weniger vorkommen und schneidet man sie hier schon ab, so scheinen sie gar keinen Ort zu haben. Beachten wir die Sache im Allgemeinen aus ethischen Principien und fassen sie im bürgerlichen Leben. Die Sache aus allgemein ethischen Principien betrachtet wird niemand gleich Lobendes sagen können, nur auf zwey Punkte zu sehen. Gehen wir ins Innere des Hauswesens und denken uns einen Mann der in der Nothwendigkeit war seine Frau zu strafen so erscheint uns das als die niedrigste Stuffe im gemeinsamen Leben und beyde haben Schuld daran. Betrachten wir ein Gemeinwesen und vergleichen einen Zustand wo eine harte Gesetzgebung ist, Vergehungen mit schweren Strafen belegt verglichen damit ein anderes wo der Strafcodex von geringerem Umfang ist so wird uns das als Ende und ein Fortschritt erscheinen. Zeichen daß man mit milderen Hülfsmitteln auskommen kann. Je mehr ein Verhältniß ein wahrhaft ethisches ist, ein freyes Zusammenwirken, desto weniger geben wir einem sol20 werden?] werden. 10–11 Vgl. SW III/9, S. 374: „wenn nun derjenige der die Aufsicht hat, sich nicht eher darum bekümmert bis der Moment da ist:“ 25–27 Vgl. SW III/9, S. 374: „Und in der That, a u s re i n e t h i sc h e n P ri n c i p i e n b e t r a c h t e t m ö c h t e n i c h t s z u m L o b e d e r S t r a f e g e sa g t w e rd e n k ö n n e n ; auch nicht mit Beziehung auf das gemeinsame Leben und irgend ein Gemeinwesen.“

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chen Hülfsmittel Raum. Gehen wir auf die andere Seite auf den ersten Anfang zurück und fragen, wenn die Strafen immer mehr abnehmen sollen, wo ist dann eigentlich ihr erster Ort wo sie zu dulden sind? Zweyerley: Einmal wo ein ethisches Verhältniß noch nicht da ist sondern erst erweckt werden soll, überall wo ein knechtischer Zustand ist da ist kein ethisches Verhältniß. Denken wir uns aber daß die Thätigkeit in einem solchen nicht bloß eine ökonomische ist, immer in einer Masse von Sclaven die größt möglichste Thätigkeit hervor zu locken, sondern etwas mehr darinn [liegt], so kann es nur dieses seyn, daß etwas ethisches daraus werden soll. Dann haben die Strafen ihren Ort, wo es noch an der Verständigung fehlt, da können sie nur phy s i s c h wirken. In der Periode hinter uns kann es solche physische Einwirkung geben. Das gehört in den Zustand wo die Kinder noch müssen abgerichtet werden. Die Strafe überall nur für den Mangel von Gemeinschaft. Wo kein ethisches Verhältniß ist da ist ein Mangel der Gemeinschaft des Willens. Überall durch die Strafe ein Zeichen von der Unvollkommenheit der Gemeinschaft. Nun ist eine solche Gemeinschaft mit der wir es zu thun haben die eine gesetzliche Form hat und den Zweck die freye Thätigkeit zu finden in wahrer Gemeinschaft und da sollten die Strafen wegbleiben als Ausnahme ansehen. Die Aufgabe die entwickelnde Thätigkeit an solchem Punkte anzufangen, daß die Methode der Strafe erschwert wird, die Strafe kann immer nur eintreten, wo Mangel an Verständigung oder Gemeinschaft des Willens gegeben ist und zugleich doch ein bestimmter Zweck selbst muß erreicht werden um der anderen willen. Nie kann man glauben, daß die Strafe auf irgend eine Weise wirklich bessern ka nn, denn das Höchste, was sie hervorbringt ist ein Sporn auf eine intellectuelle wenn auch sittliche Thätigkeit aber nur um dem sinnlichen Willen dem unangenehmen Zustande zu entgehen nicht sittliche Beschränkung nur eine Zurückhaltung auf den Punkt der Übergewalt sinnlicher Motive. Die Strafe also nur zu entschuldigen eine bestimmte Wirkung zu erreichen die auf eine andere Weise wegen des Zustands des Einzelnen nicht erreicht werden konnte nicht als Erziehungsmittel. Jeder solche Fall ist ein Zeichen daß auf das Individuelle gewirkt werden muß. So setzt die Strafe immer ein Versehen auch von der anderen Seite voraus, das Versehen kann früher in der Familie gelegen haben, und so kann die Strafe in diesem Ganzen gesetzt werden. – Wenn nur die Regelmäßigkeit und Ordnung in ihrer ganzen Wirksamkeit gesetzt wird, so wird man in solchen einzelnen Fällen etwas Momentanes zu erreichen auch o h n e St r af e auskommen können. In dieser Beziehung noch eine Frage: Wir haben gesehen in der Familie hat das Ge3 sind?] sind.

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setz keinen Ort in der Schule ist ein Gesetzlicher Zustand. Im bürgerlichen Leben ist die erste Forderung des Gesetzes; daß die Strafe muß angedroht und bekannt geworden seyn – sonst despotischer Zustand. – Zugegeben daß in einzelnen Fällen müsse gestraft werden, auf welchem Punkte steht dann die Schule zwischen der Familie und dem Staate, soll sie die Gesetzlosigkeit der Familie aufnehmen oder die strenge Form des Staates nachahmen, soll es Strafgesetze in den Erziehungsanstalten geben oder nicht? Ich kann mich nur für die negative entscheiden. Wenn es solche Strafgesetze gibt, so liegt darinn die Voraussetzung, daß der Fall als untergeordnete Regel eintritt. Diese Voraussetzung unrichtig. Man könnte hier keineswegs die Form des Staates anwenden, man müßte fast auf bestimmte Weise den Gesetzgeber und den Richter unterscheiden und es müßte der Anwalt in die Mitte treten, rechtes Handeln in der Form der Strafgesetzgebung des Staates. Wenn man sagt: Die allgemeine Bekanntmachung der Strafe als Gesetze hätte doppelten Nutzen, die Lehrer im Zaum zu halten daß sie nicht über das Maaß hinausgehen – und daß die Zöglinge keinen Grund haben sich zu beschweren. Es so vorzüglich kommt darauf an, daß man den Zöglingen sagen kann: Ihr habt euch das zugezogen. Auf das erste sollte keine Rücksicht zu nehmen seyn – nur im leidenschaftlichen Zustand der Fall. Dieser sollte nicht vorausgesetzt seyn und tritt da nicht das ethische Motiv ein so wird auch die Erinnerung an das Gesetz nichts bewirken, so wie das Gesetz wenn es da ist der Lehrer als straffällig erscheint, und das am meisten zu verhüten. Darauf kommt nichts an weil wenn die Strafen nur ethisch wirken sollen, was ihnen Q R ist daß sie es wissen. Die Rechtfertigung der Strafe liegt in dem Ihr wißt daß ihr Unrecht gethan habt, und das soll euch hindern es künftig wieder zu thun. Ob sie die Gestalt in der das gewirkt wird kennen oder nicht ist gleichgültig. Wogegen nicht geläugnet werden kann, daß in dieser Beziehung nichts nachtheiliger wirkt als wenn durch öftere Bekanntmachung solcher Strafgesetze die Überlegung entsteht, als wäre die richtige Voraussetzung die Unordnung. Triumph das Verbotene zu thun und sich damit doch der Strafe zu entziehen. (Daß die die eine solche Anstalt einrichten voraussetzen daß solche Einwirkungen entstehen – was nachtheilig auf die Zöglinge einwirkt.) | Wollte man die Nothwendigkeit voraussetzen daß gestraft 23–26 Vgl. SW III/9, S. 376: „Wenn ein Gesez da ist, und der Lehrer straft nicht: so erscheint er selbst dem Zögling als Gesez übertretend; überschreitet der Lehrer das Maaß: so erscheint er den Schülern wiederum als strafwürdig; und gerade das ist das allerschlimmste. Was die Zöglinge anlangt: so kommt darauf gar nichts an, ob sie die Strafe vorauswissen. Die Strafe, wenn sie doch einmal angewendet wird, soll ethisch wirken;“

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werden müßte und fragen worinn die Strafe bestehe, so wird man auf dasselbe Resultat kommen daß eigentlich das meiste keineswegs als Strafe könne angewendet werden ohne andere sittliche Nachtheile hervorzubringen. Fängt man von den k ö r p erlichen S t rafen an so ist offenbar daß eine Abhärtung gegen den Schmerz mit zu der vollständigen persönlichen Ausbildung gehört. Wenn die Strafe durch öftere Wiederholung diese Abhärtung hervorbringt, so bewirkt sie von dieser Seite etwas Gutes aber hört auf als Strafe zu wirken. Soll sie als solche fortwirken, so müßte sie diese Wirkung nicht hervorbringen. Man postulirt also dabey eine Empfänglichkeit wie die bey Empfindungen die man eigentlich überwinden soll. Man müßte also dieß verhindern daß die Jugend sich gegen den Schmerz abhärte. Gehen wir höher hinauf, so wäre die nächste Stuffe eine Bera ubung d er Fr e y h e i t – eine Strafform aus der Analogie mit dem körperlichen Verfahren hervorgedrungen, aber sie müssen doch ihre Zeit zubringen womit, während sie ihrer Freyheit beraubt sind? Die La ng ew eile als Strafe bey den Kindern nicht anwendbar da das Spiel der Phantasie so lebhaft bey ihnen, daß man sich nie dafür [aus]sprechen kann daß sie Langeweile haben, aber man begünstigt diese Neigung zum Spiel der Vorstellungen und dieß legt den Grund zur Zerstreuung. Hier entsteht also eine für den Unterricht nachtheilige Verwöhnung. Noch höher wird gewöhnlich der E h r t r i e b als Strafe gebraucht. Dieser in den unteren Klassen allerdings zu erregen, weil sie noch für den knechtischen Zustand zu viel Empfänglichkeit haben. Es ist das was der reinen Strafe der bloßen Wirkung, der ausgesprochenen Mißbilligung, am nächsten steht. Aber es würde bey der größeren Gemeinschaft der Jugend alles darauf ankommen ob man es in seiner Gewalt hat daß sich nicht unter ihnen selbst eine andere einer öffentlichen widersprechende Ehre ausbildet, daß sie sich etwas darauf zu gute thun sich aus dem was den Charakter ausspricht nichts zu machen. Wir müssen zugeben, daß gerade dieß daß die Ehre eine lebendige Vorstellung werde, die natürliche und beabsichtigte Wirkung der größeren Gemeinschaft überhaupt ist. Aber wenn man das vorzüglich sucht in solchen Fällen wo eine Opposition ist zwischen dem Urtheil der Leitenden und dem eben erwachenden Urtheil der Zöglinge, so begünstigt man dadurch eine solche falsche Entwicklung. Soll der Zweck 2 daß] daß man

12 sich] sich nicht

31 gerade] Gerade

26–30 Vgl. SW III/9, S. 378: „Aber bei der Masse ist es leicht, daß sie eine eigene Ansicht von der Ehre sich bilden, daß sie nämlich sich zur Ehre rechnen das Urtheil des Lehrers zu verachten und ihr Urtheil darüber zu stellen.“

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durch die Gemeinschaft erreicht werden so soll man sich dafür also hüten, und das mit der größten Vorsicht zu gebrauchen. Es müßte erst eine völlige Übereinstimmung hervorgebracht seyn zwischen dem Urtheil das von dem Lehrer ausgeht und dem der Klasse. Aber hat man das bewirkt so wird derselbe Ehrtrieb schon ein wirksames Mittel seyn um den Abweichungen zuvorzukommen. So würden wir von der untersten Stuffe der körperlichen Behandlung aus zu der höchsten gekommen seyn. Wie stellt sich uns nun die ganze Sache dar? Das letztere eigentlich die natürliche Wirkung, und darinn eigentlich keine besondere pädagogische Wirkung. Wie nun mit dem untersten? Auch das eine natürliche Wirkung, aber von dem Zorn [aus], einem leidenschaftlichen Zustand, wir begreifen es, und entschuldigen es, wenn wir den anderen körperlich bestrafen, aber soll das in Form des Gesetzes vorkommen? Wir sehen da steht die Erziehung auf der niedrigsten Stuffe auf welcher das bürgerliche Leben steht, wenn es so geartet ist, daß das Gemeinwesen die Sorge der Privatrache übernommen habe um sie zu mildern. Man muß gestehen, es gibt kaum ein Mittelding zwischen diesen beyden Positionen und nur das natürliche Verhältniß zwischen Kindern und Eltern kann es übertünchen, daß man es nicht so sieht daß das Schlagen da als ein Zwingen erscheint oder als Büttel. Also auch an den Volksschulen sollten die körperlichen Strafen immer mehr verschwinden. Was aber in der Mitte liegt zwischen beyden ist überall noch vielmehr etwas Willkührliches, und in dieser Willkühr liegt eben, daß es sich so leicht könnte in das entgegengesetzte kehren und das Gegentheil von dem bewirken was es bewirken soll. Nun noch ein Blick auf einen allgemeinen Zusammenhang. In so fern wir in der Schule nicht überall ein Verhältniß haben zwischen den Einzelnen und dem Lehrer sondern das eines gemeinschaftlichen Lebens, so fragen wir, was macht denn die Ausübung der Strafe auf die Masse für einen Eindruck der sie nicht widerfährt? Zweyerley, was beydes nicht wünschenswerth ist: Je mehr sich ein Gemeingeist bildet (was eben geschehen soll) so ist natürlich daß alle die Empfindung des Gestraften theilen weil es ihresgleichen ist, alle leiden mit, zwar folgt daraus jedes Vergehen ist eben so gut eine gemeinsame Schuld weil wenn der Gemeingeist auf einer höheren Stuffe stünde die Vergehungen nicht vorhalten würden aber das ist doch nicht in dem selben Verhältniß und es entsteht dadurch eine Unterbrechung der ruhigen und heiteren Stimmung was immer ununterbrochen erhalten werden soll, in welcher allein die pädagogischen Zwecke erreicht werden können. Und die Ausübung der Strafe ohne eine Störung der Aufmerk1 dafür] Dafür soll man sich 13 bestrafen] behandelt

3 erst] Erst

7 aus] Aus

10 untersten?] untersten.

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samkeit und gemeinsamen Thätigkeit kann nicht gedacht werden. 2.) Wenn der Gestrafte in der Versuchung ist zu glauben daß ihm Unrecht geschieht, und es schwer ist abzuwenden, so würde dieß auch zu besorgen seyn, daß sich ein allgemeines Gefühl von Unrecht ausbildete, welches in jedem einzelnen Fall ein Minimum ist, aber durch die Übung mit jedem Mal wächst, und also das Allernachtheiligste ist. Also eine nachtheilige Wirkung auf das Ganze, die man schwerlich hindern kann, als dadurch daß man das Urtheil der Mißbilligung zu einem allgemeinen zu machen wisse – hat man das erreicht, dann kann man eo ipso die übrigen Strafen entbehren. So werden wir auch von diesem Punkt auf dasselbe Resultat geführt, daß man sehen muß, keiner anderen Strafen als dieser zu bedürfen. Das Gemeinsame und Öffentliche soll gerade wirken, daß sich das sittliche Gefühl ausbilde (das sittliche im engeren Sinn). Diese Ausbildung wird nur in diesem Sinn ohne Störung vor sich gehen können. Wo der Erzieher straft ohne daß es ihm gelungen wäre sein sittliches Gefühl zum allgemeinen zu machen wird die Strafe nachtheilig auf die Ausbildung des sittlichen Gefühls wirken. Das Ziel welches hier in Beziehung auf die Gesinnung zu erreichen ist, ist nichts anderes als die Erweckung einer heiteren Liebe zur Ordnung und Gesetzmäßigkeit. Darauf muß sowohl der ganze Gang und die innere Ordnung abzwecken und alles was als solche Ausnahme diese rectificirende Thätigkeit umleitet so ungeachtet sey daß dieses seinen ungestörten Fortgang behaupte. Nicht in allen Volksschulen ohne Strafe auszukommen sondern daraus folgt je weniger noch das sittliche Gefühl geweckt wird, desto nothwendiger wird es ihm irgend etwas anderes zu substituiren. Aber man muß immer suchen daß das ganze gemeinsame Leben auf die Erweckung des sittlichen Gefühls hinarbeite, über diese Nothwendigkeit so schnell wie möglich weg zu kommen. Gehen wir auf die andere Seite und fragen was soll in Rücksicht auf Fe r t ig keit und Kennt niß in der Volksschule geschehen, so kommen wir auf ein unterschiedenes streitiges Gebieth. | Der Streit hat zwey verschiedene Quellen. Die eine ist die von der Differenz der bürgerlichen Verhältnisse ausgehende O pposit ion g e g e n d i e E n t w i c k l u n g de r M as s e und auf der anderen Seite ein Streben d i e E n t w i c k l u n g d e r M as s e zu beschleunig en, was nur in den Wünschen seinen Grund hat so desto schneller auf diejenigen körperlichen Differenzen zu wirken, die man gerne hinwegbringen möchte, so wird dadurch, daß ein Partheygeist auf der einen Seite entsteht, immer auch einer auf der anderen Seite entwickelt und da10 entbehren] entbehren kann chen] Kj ständischen

19 erreichen] wirken über )erreichen*

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durch die weitere Entwicklung des Erziehungswesens gestört. Die zweyte Quelle des Streits die verschiedene Ansicht darüber w a s mög l i c h s ey w i r k l i c h z u e r r e i c h e n , damit man nicht auf etwas hinarbeite, was zu machen unmöglich sey. In dieser Beziehung entgegengesetzte Maximen, aber die Aufgabe sie überall mit einander zu vereinigen. Die Theorie soll allerdings unmittelbar anwendbar seyn, nichts aufstellen, wofür es keinen Anknüpfungspunkt des gegebenen gäbe, aber nicht das Gegenwärtige zum unumstößlichen Urbild machen, darauf hinzuarbeiten, daß die Wirkung unterwürfiger Verhältnisse möglich werde. Was das erste betrifft so müßten wir unsere allgemeine Erklärung wiederholen, daß wir die Theorie der Erziehung erst ganz von allem Einfluß politischer Partheyansichten frey erhalten müssen wozu wir keine andere Maxime gefunden haben als daß jede Ungleichheit die als eine angestammte angesehen werden kann nothwendig in der weiteren Entwicklung als Element des Staates und rein in dem sich dieser fortbildet immer mehr verschwinden muß. Also nur diese Maxime aufstellen. Nichts was zu erreichen möglich ist soll um dessen Willen nicht geleistet werden damit die Differenz zwischen den Leitenden und Geleiteten im Staate in einer gewissen Spannung bleibe. Was ist dasjenige was wirklich erreicht werden kann? Das ist aber keineswegs eine leichte Frage, nähmlich als erste Basis das: Wir haben schon immer von jedem Punkte aus auf den Endpunkt der Erziehung hinausgesehen. Nun ist in der menschlichen Realität alles nur als ein wirksames, also alle Kenntnisse und Fertigkeiten sind nur etwas Wirkliches geworden, wenn sie an dem Punkt, wo die Erziehung aufhört noch ein Wirksames sind, und also in dem gemeinsamen Leben noch ein Wirksames bleiben. Was aber auch ein Wirksames seyn würde während des ganzen der Erziehung, aber nachher aufhören müßte, von dem würden wir doch nicht sagen können, daß es wirklich ein Erreichtes sey. Das ist der Canon, den wir als Grundlage aufstellen, darnach zu beurtheilen, w as i n d i e Volksschu le g ehört und w a s n i c h t . Aber man muß gar sehr unterscheiden das Ma teria le und das F o r m a l e in der pädagogischen Thätigkeit wozu die Jugend angeregt wird. Hernach könne das Materielle keinen Werth mehr für sie haben; ist aber dadurch formaliter etwas erreicht worden, das immer noch fortwirkt, dann ist die Behauptung doch kein Schein gewesen. Diese Maxime an einem Beyspiel zu erläutern in den gemischten Schulen. Man hat häufig aufgestellt als gemeinsamen Unterrichtsgegen13 jede] jede Jede

16 fortbildet] fortbildet muß und

33–34 angeregt] aufgeregt

9–10 Vgl. SW III/9, S. 381: „daß wenn Verhältnisse eintreten welche die Aufhebung der Differenzen begünstigen, dies dann auch möglich sei.“

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stand daß die Jugend wenigstens Eine von den kl a ssischen S pra ch e n e r l er n e n müsse, für die niedere Klasse behält diese Sprache gar keinen Werth. Dafür dieses: Die Beschäftigung hört freylich hernach auf, aber es ist dadurch eine Ve r s t an d esbildung erreicht worden welche im ganzen künftigen Leben fortwirkt. Das könnte man auch auf andere Gegenstände anwenden – und man muß fragen in wie fern diese Maxime je anders beschränkt werden kann. Offenbar nur in dem Fall wenn es sich nachweisen läßt, daß der formale Zweck nicht anders erreicht werden kann als durch die Beschäftigung mit einem solchen Material das hernach wegfällt. Jeder muß zugeben, daß rein logisch betrachtet diese Beweisführung eine unendliche ist und daraus folgt es geht die Aufgabe hervor überall die formalen Zwecke an solchem Material zu erreichen welches möglichst als solches auch im künftigen Leben fortwirkend ist, und es müßte ein besonderer Fall der Noth eintreten, wenn man in den Unterricht einen solchen Stoff vertreten würde um einen formalen Zweck zu erreichen, der hernach von keinem Einfluß mehr seyn wird, da man wüßte daß das Materiale nachher rausfiele. – Wo eine solche Ausübung besteht ist etwas aus einem ganz anderen Verhältnisse hinüber gezogen – nähmlich daß man die Sache richtig beurtheilte und dabey zum Grunde von Gewöhnung an ein Bestehendes [macht], was aber nicht mit vollkommenem Rechte besteht, und also auch in der Theorie gar keine Gnade finden kann. Das wird die Basis seyn um uns die gesammte Aufgabe der Schule zu construiren. Es ist überhaupt der Unterschied daß Ackerbau und Gewerbe von gar keiner Haltbarkeit nun aber auch die Gewerbe nachfolgen auf das Land, also beständige Annäherung, und auf diesen Unterschied keine Rücksicht zu nehmen. Sehen wir also auf die Masse die hier soll erzogen werden so müssen wir das von dem Endpunkt ansehen daß sie in die verschiedenen Gewerbe hernach eintreten. Was sie da zu verrichten haben sind mechanische Geschicklichkeiten, dazu kann die Schule eigentlich nichts thun, die Tradition hierüber gehört wieder ins Gebieth der Fertigkeit was der Familie anheimfällt. Die Schule hat es also mit dem allgemein menschlichen zu thun. Wenn man davon ausgeht das als einen absoluten Gegensatz aufzustellen, den Unterschied zwischen einer leitenden und regierten Klasse, dann sind letzte im Gesammtleben abgesehen von ihrem besonderen Leben 12 überall] überall Überall

26 nachfolgen] nachfolgen sich

23–24 Vgl. SW III/9, S. 383: „Unser Grundkanon, daß die Entwikklung der Kräfte auf dieser Stufe überall an einem solchen Stoff versucht werden müsse der im künftigen Geschäftsleben seinen Werth behält, wird zugleich die Basis sein um uns die ganze Aufgabe der Volksschule zu construiren, und um uns D a s G e s a m m t g e b i e t d e r m i t z u th e i l en d en K en n t n i sse abzustekken.“

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Null – sie wären nur Organe der Regierenden, von keiner Bildung an sich. Gesetzt aber wir wollten von diesem Extrem ausgehen, so folgt daraus sie sind lebendige Organe, und wenn sie ganz und gar regiert werden so können sie doch nicht anders als vermöge ihres eignen Willens regiert werden. Es gibt eben einen Einfluß durch die Empfindungen und einen durch die Vorstellung. – Sollen sie durch die Empfindung durch Hoffnung und Furcht geleitet werden so wäre das das wirkliche Maximum was zu denken wäre, der vollkommen knechtische Zustand. – Wo der besteht, da ist auch die Volksbildung gleichsam Null. | Die Menschen sollen aber so gebildet werden, daß ein Einfluß vermöge der Vorstellung auf ihren Willen statt findet. Hier wird das was unmittelbar erreicht werden müßte eine solche Ausbildung des Vorstellungsvermögens seyn – [daß] ein Zusammenhang begründet wäre zwischen den Regierenden und den Regierten. In wie fern nun der Staat ein Ganzes ist aus Familien, und die Einzelnen wieder Familien begründen, so regieren sie nun in den Familien und haben einen Antheil an der politischen Seite, sie haben überall einen Theil des Gemeingutes zu verwalten, weil der Staate aus den Vermögen der Familien besteht. Freylich leidet das Ganze nicht wenn einer sein Vermögen schlecht regiert, es verändert nur seinen Ort. Allerdings wahr, aber jeder wird sagen, daß die nicht Unrecht haben welche behaupten werden im Staate müsse zweckmäßig regiert werden, müsse eine gewisse Stabilität des Eigenthums seyn, der Staat müsse eine beständige Sicherheit haben, wo er es zu finden habe, es geht doch die frühere Disposition verloren, wenn es nicht an einem bestimmten Orte zu finden ist. Also der Wohlstand des Einzelnen die Basis von dem Wohlstand des Ganzen. Die Jugend soll also so abgeliefert werden, daß sie im Stande ihr Eigenthum für sich und im Zusammenhang mit dem Ganzen zu verwalten was man im gemeinsamen Leben praktischen Verstand nennt. Dagegen eine andere Frage ob diese Entwicklung in die Praxis der Erziehung hinein fällt, mit der wir es hier zu thun haben. Es gehört zum Wesen der reinen Volksschule, daß auf derselben keine Unterweisung mehr erfolgt, die eine Einzelne wäre, die eigentliche Volksjugend beendigt zwar nicht ihre Erziehung in der Volksschule, sondern treibt aus derselben wieder in die Familie zurück, und bekommt die Ausbildung für ihr Gewerbe. Die allgemeine Verstandesbildung soll also in dieser Periode geleistet werden, die Jugend soll zu verständigen Menschen gebildet werden. Selbst die politische Partheyopposition gegen den größeren Innhalt der Volksschule wird nicht so weit gehen dieß zu läugnen. Wie ist nun dieß zu erreichen? Was die rechten Mittel dazu? Da ist eine Hauptfrage die: Wenn wir den relativen Unterschied annehmen zwischen der regierten Klasse und der lei-

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tenden und den letzten die gehörige Erkenntniß und die Bildung welche die Wissenschaft zur Basis hat ausschließlich zuschreiben gehört es zum eigentlichen Charakter der regierten Klasse daß sie in Beziehung auf das allgemeine Verkehren die Entwicklung – das litterarische – völlig Null sey oder nicht? Da ist der erste Punkt der Opposition. Wir haben es nicht nöthig, uns auf viel einzulassen. Es ist das litterarische seinen ersten Elementen nach in die allgemeinen bürgerlichen Requisiten übergegangen, und wer nicht lesen und schreiben kann bedarf zu jedem Act eines besonderen Vormunds, und hat nicht den vollständigen Genuß seiner persönlichen Selbstständigkeit. Durch diese Einrichtung wird unser ganzes politisches Leben in seiner Natur verwaltet und da es so verflochten ist, ist die Frage entschieden, und ist ein Thermometer geworden die Entwicklung des Volkes zu schätzen. Über die Sache zu entscheiden würde uns zu weit führen. Ist einmal das Minimum gegeben so läßt sich auch das nicht mehr festhalten und nehmen wir hinzu daß wenn die Verwaltung der Familie an irgend einem Gewerbe hängt und innerhalb des Gewerbs jeder an dem allgemeinen Verkehr Theil hat, so kommt dadurch schon ein Standpunkt heraus, der freylich andere Elemente in sich schließt, wie daraus folgt der allgemeine Verkehr ruht wieder größtentheils auf der Schrift und so zu halten daß die Fähigkeit durch die Schrift am allgemeinen Verkehr Theil zu nehmen eine conditio sine qua non für diese Ausbildung des Verstandes in Beziehung auf den künftigen Antheil am gemeinsamen Leben [wird]. – Kein Recht kann vorhanden seyn, irgend einem Individuum dieses vorzuenthalten, und also allerdings in das Gebieth der Volksschule aufzunehmen. Aber Lesen und S c h r e i b e n sind an sich eigentlich nichts als mechanische Hülfsmitt e l und dadurch haben wir eigentlich nichts an und für sich, außer in Besitz eines mechanischen Hülfsmittels zu etwas anderem. So müssen wir es freylich als etwas nothwendiges [ansehen], etwas das in Beziehung auf die Aufgabe der Volksschule eine sehr untergeordnete Stuffe einnimmt. Diese mechanische Fertigkeit soll dann in der möglichst kurzen Zeit erworben werden. Wir müssen das als zweckmäßige Richtung anerkennen, sie wenn es mit großen Massen eingeübt werden kann, in der möglichst kurzen Zeit zu bewerkstelligen. Unmöglich uns hier einzulassen auf eine Kritik der verschiedenen Methoden die hier aufgekommen sind, wohl aber die Principien. Aber vor der Hand den Gegenstand liegen zu lassen weil die Principien nicht speciell sind, sondern nur die sollen alles was einen mechanischen Bestandtheil hat in der Volksschule gelten lassen. Wir wollen also den ganzen Umfang dessen was in der Schule liegen muß feststellen. Auf das entgegenge12 und da es] ist

28 eigentlich] eigentlich dadurch

34 sie] davor daß

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setzte Ende zu gehen und fragen ob wir ein Princip aufstellen können, und gewisse Gegenstände aus dem Bereich der Volksschule völlig auszuschließen. Wir haben nichts anderes wovon wir ausgehen könnten als den relativen Gegensatz zwischen Re g ierenden und Reg ierten. Alles was das Verhältniß eines Volkes und eines Staates [betrifft] gehört rein ins Gebieth der Regierung hinein, nur die Verbündeten des Staates können im Verhältniß des | Staates mit anderen Staaten unterhandeln. Nur im Verhältniß des Staates zu den anderen Staaten liegt die nothwendige Aufgabe sich in anderen Sprachen als der Landessprache zu verständigen. D i e A u s b i l d ung des S p ra chv ermög ens i n d e n v e r s c h i e d e n e n Sp r ac h f o r m en, etwas aus der Volksschule auszuschließendes. Es scheint doch dieß auch seine Grenzen zu haben. Gegenwärtig kein Gewerbe, was nicht seinen auswärtigen Zusammenhang hätte. Allein die Gewerbsinnhaber sind durch Sitz der Natur, haben sie einen Zusammenhang mit den Ausländischen so muß sich der zu ihnen begeben, oder sie führen den Zusammenhang durch Mittelspersonen in der Handelswelt. Jeder Staat aber hat seine Grenzen, wo er mit anderen zusammen trifft und die Welt zwischen beyden nicht mit dritten verwurzelt [ist]. Aber nicht im Allgemeinen als Princip aufzustellen, daß in den Grenzgegenden des Staates die Jugend in den benachbarten Sprachen müsse unterrichtet werden. Immer eine Erniedrigung wenn gesagt wird um der Muttersprache willen müssen wir ihre Sprache kennen, da es kein Gesetz von ihrer Seite gibt. Das Volk eigentlich sitzend jeder muß sich für das Band bemühen. Gehen wir gerade in unserer Gesellschaft bis auf einen gewissen Punkt und schauen nach dem Objectiven, Kriege so ist es etwas was zu den Vorzügen unseres Volkes gehört, uns mit anderen Völkern in ihrer Sprache in Richtigkeit zu unterhalten, aber auch wieder mit großem Nachtheil und daß die Sprache da etwas gewesen, das die Franzosen nach Deutschland gelenkt hat. Aber keineswegs mit dem Preis solcher Cautelen sondern weil es nicht in der Aufgabe liegt muß man die fremden Sprachen aus der Volksschule ausschließen – es hieße diese Bildung an einem Stoff versuchen, welcher ihnen hernach wieder verschwinden solle: Ob die Verstandesbildung die aus der comparativen Sprachbildung entsteht zu der practischen Bildung dieser Zeit gehört muß man verneinen. Die Principien dieser Vergleichung liegen rein im Gebieth der Wissenschaft und diese ist hier nicht die eigentliche Auf15 sich] sich ihnen

24 bemühen] bemühen muß

14–17 Vgl. SW III/9, S. 388: „Allein die Gewerbsinhaber die ihre Bildung nur in der reinen Volksschule empfangen haben, sind an ihre Heimath und an ihren Wohnsiz meist gebunden und verkehren mit dem Auslande höchstens durch Mittelspersonen.“

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gabe. Es ergibt sich nun aus diesem relativen Gegensatz noch eine andere Frage. Das erste dieses. Die Regierenden stehen nothwendig auf dem geschichtlichen Standpunkt, man mag dabey mehr von der Wissenschaft oder mehr von der practischen Seite ausgehen, es hängt dieses mit irgend einem Antheil am Regieren zusammen. Ohne Geschichte findet kein gesundes Urtheil statt. Nun fragt sich: Ist die Geschichte deßwegen ein ausschließendes Eigenthum der regierenden Klasse, und soll die Kenntniß derselben von der regierten ausgeschlossen seyn? Wenn wir von dem Standpunkt der Kirche ausgehen, so folgt daraus wenn irgend die Jugend soll auf eine selbstthätige Weise in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen werden und einen Kreis von religiösen Vorstellungen haben, so ist davon das Geschichtliche gar nicht auszuschließen. Man könnte sagen das Volk kann die positive Religion haben, ohne ihre Entstehung zu kennen, aber diese positive Religion ist immer selbst Geschichtlich und die Geschichte kann ihnen nicht entzogen [werden]. Kann sie diese lebendig haben, wenn sie zwischen dem Zeitpunkt der Urgeschichte des Christenthums und der jetzigen Zeit nichts anderes hätten als die Vorstellung einer verflossenen Zeit? Das Geschichtliche soll hernach übergehen in die Gemüthsleitung. Denken wir uns den Fall, der jetzt fast überall statt findet, daß das Volk in einer Dupplicität von Religionen lebt so kann es über diesen Gegensatz doch nicht ganz in Unwissenheit gelassen werden. Die Religion müßte eben auch ein todtes für das Volk seyn. Dadurch würden wir überall noch einen näherliegenden Gesichtspunkt haben: Hier die katholischen und die evangelischen der Zusammenhang der Reformation. So gäbe es zwey große Punkte über die das Volk einiges Geschichtliches haben muß. Gehört dann zu der practischen Verstandesbildung irgend etwas Geschichtliches? Fangen wir von dem Minimum an so folgt daraus die G edä chtni ßbildung gehört dazu das Vermögen zu combiniren und zu unterscheiden muß einen Stoff haben, es muß ein Stoff für die Thätigkeit des Verstandes da seyn und dazu gehören immer die Rechtsverhältnisse nothwendig mit, und es ist die erste Bedingung von einem selbstständigen Handeln in der bürgerlichen Gesellschaft, das Bekanntseyn mit den Rechtsverhältnissen, diese [hängen] hingegen wieder mit den geselligen Verhältnissen zusammen so sieht man wie sich hier von selbst ein geschichtliches Element gebildet. Denken wir uns die Volksbildung in einer fast unbeweglichen Zeit so ist eigentlich in den Verhältnissen des Volkes kein Reiz über die Kenntniß der Gegenwart hinauszugehen. Gehen wir davon aus, daß das Volk eigentlich nicht litterarisch ist, so folgt daraus das Mittel den Stoff in dem Gedächtniß festzuhalten ist die 12 haben] haben soll

19 Zeit?] Zeit.

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mündliche Tradition, die hat aber ihre natürlichen Grenzen. Wenn wir vom Verhältniß der erziehenden Generation, und der zu erziehenden ausgehen, so ist das was gegeben ist eine Übertragung dessen was in dem Leben der erziehenden Generation gelegen hat, auf die zu erziehende daß sie die Erfahrung und die Geschichte der unmittelbar vorhergehenden Geschlechter in sich aufnehmen. Während eine Generation erzogen wird sind noch bedeutende Überreste von der Tradition welche die erziehende Generation aufgenommen hat, also eine Tradition die zwey Geschlechter umfaßt. Es ist schwer eine Tradition weiter hinauszuführen als bis aufs dritte Geschlecht (seit Menschengedenken). Denken wir uns das Volk in einer Zeit wo innerhalb dieser Tradition bedeutendes Leben gewesen ist und Veränderungen vorgefallen sind, da wird das unmittelbare Leben schon mehr hineinbringen in die Jugend und mehr Geschichtliches entwickeln. Im Familienleben scheint uns der Ort, wo diese Tradition gehegt wird. Wie soll sich nun die absichtliche pädagogische Thätigkeit dazu verhalten? | Sie (die Schule) soll ein Princip seyn, welches die Ungleichheit verändert, und die auf der niederen stehen, auf die einer höheren stellen. Die Generation mit einer ärmlichen Tradition steht aber offenbar auf einer niederen Stuffe, als die eine reichere Tradition haben also sollte man diesen wenigstens ein Supplement geben und sie jenen näher bringen. Die Schule hat soweit ein geschichtliches Bewußtseyn zu entwickeln bis auf einen solchen Punkt in die Vergangenheit zu dringen wo sie eine geschichtliche Bewegung findet, die auf die Gestaltung der Gegenwart einen gewissen Einfluß gehabt hat. Das ist gerade das was dem geschichtlichen Zustand des Volkes entspricht, so kommt es zu einem lebendigen Bewußtseyn seiner Verhältnisse, damit wird er sich größtentheils beruhigen. Nehmen wir dieß zusammen mit der Aufgabe auf der Seite der Kirche so bekommen wir zusammen genommen ein nur fragmentarisches Geschichtliches, was aber ins Leben des Volkes eingehen muß. Das älteste Geschichtliche ist die Erscheinung des Christenthums, aber ganz nicht unmittelbar um des Geschichtlichen willen sondern uns Gemüthsleitungen dazu aufgehen, also die Geschichtliche Form nur die conditio sine qua non. Der nächste geschichtliche Punkt ist der Zeitpunkt der Kirchenverbesserung. Da folglich hat die Geschichte schon einen geschichtlichen Werth weil es die Quelle ist woraus die gegenwärtigen religiösen Verhältnisse entstanden. Der dritte Punkt würden diejenigen historischen Elemente seyn, aus welchen die gegenwärtigen Verhältnisse sich gebildet haben[,] es müßte dann seyn daß die neuesten so neu wären daß die Tradition selbst darüber hinausgeht. Das die Art wie man sich das geschichtliche Gebieth für die 38 Elemente] Elteme

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Volksschule umsäumen muß, doch [mit] Rücksicht auf die verschiedenen Bildungsstuffen die man vorfindet, wo das Volk schon auf einer gewissen Bildung steht ist das geschichtliche Intresse und die Tradition höher. Wir sind hier auf eine andere Entscheidung als die gewöhnliche gekommen, wo man nähmlich das Vaterländische als den eigentlich geschichtlichen Stoff angibt. Das ist auf der einen Seite zu viel auf der anderen Seite zu wenig. Nun sind wir darauf gewiesen was auf den Ort den das Volk in der Zukunft einnehmen soll, folgt. Haben wir hier ein geschichtliches Gebieth gefunden so muß jeder sagen das hat keinen rechten Gehalt, wenn nicht auch der Sc h au p l at z der Geschichte mit gegeben wird, denn es wäre die Geschichte allerdings eine bloße Abstraction, also eine rege Verbindung des Geschehens mit dem G eog ra phischen. Nun fragt sich wovon soll denn diese Verknüpfung ausgehen? Wollten wir dabey die geschichtlichen Punkte die vom kirchlichen Bedürfniß ausgehen [heranziehen], kommen wir in fremde Erdtheile hinein und dazu brauchen [wir] eine Vorstellung und ein allgemeines Erdbild. Gehen wir vom letzten aus, so wird das das Centrum wovon alles ausgeht. Bedürfniß daß das öffentliche Bewußtseyn sich über das Ganze erstrecke. Aber entgegengesetztes Intresse. Wir haben hier ein vaterländisches Geographisches aufgegeben, was sich vermittelt durch den historischen Punkt der uns aufgegeben ist. Aber ist es möglich wenn dieß aufgegeben ist wenn auch nur als alleiniges Supplement das allgemeine Erdbild in seinen wesentlichen Bestandtheilen auszuschließen? Das ist nicht möglich. Ein geordnetes und ein chaotisches kann nicht zusammen bestehen. Wo in einen Stoff ein organisirendes Princip eingreift da muß es das Ganze organisiren, sonst wird es ein empirisches. Dabey läßt sich aber recht gut alles Analoge ausschließen. Wir werden auch hier uns den freyen Spielraum lassen müssen, und sagen das ist das Minimum welches die Volksbildung leisten muß daß sie ordnet und vervollständigt das Geographische in Beziehung auf den Zusammenhang mit dem allgemeinen Erdbild. Wo ein größerer geschichtlicher Reiz ist da entsteht ein größeres geographisches Bedürfniß. Man kann es immer nur als eine neidische Maxime ansehen, wenn dieses Gebieth der Volksjugend soll vorenthalten werden. 30 die] das 28–29 Vgl. SW III/9, S. 395–396: „Dabei freilich läßt sich auf der einen Seite doch eine Ausführung der Darstellung welche das allgemeine Erdbild sich zur Aufgabe macht, im Umfange gleich und analog dem zunächst gegebenen namentlich auf das Vaterland sich beziehenden Stoff ausschließen, denn das würde | weiter gehen als es die Gesammtheit der anderen Erziehungsgegenstände und der Volksbedürfnisse gestattet.“

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Bildung des praktischen Verstandes das Hauptverständniß und Ausbildung der Sittlichkeit schließen sich unmittelbar an einander. Was durch die Sinne wahr genommen wird ist auf irgend eine Weise als Größe anzusehen und den Gesetzen der Größe unterworfen. So wie diese angewendet werden so sind damit zu gleicher Zeit die Regeln der Combination und Eintheilung gegeben von wo dann das Einzelne und Allgemeine zu subsummiren ist. Das was nun zunächst die Verstandesbildung ausmacht. Freylich ist die Größe immer nur das äußere der Wahrnehmung, das Innere ist nichts anderes als die eigenthümliche Art und Weise der Kräfte wovon ein wahrnehmbarer Gegenstand die Erscheinung ist und so zwey Fälle: auf der einen Seite das M a t h e m at i s c h e auf der anderen Seite das Phy sica lische. Zu gleicher Zeit haben wir das Extrem und haben wir die Gegenstände zugleich mit dem anderen Gesichtspunkt die Grenzen mitgegeben. Sehen wir auf das Physicalische so wie man sich von dieser Voraussetzung eines Gegebenseyns entfernt und von vorn herein construiren wolle, so befindet man sich auf dem Gebieth der speculativen Wissenschaft, und dieses hier auszuschließen. Mit dem Mathematischen werden wir es leichter haben, und die Erkenntniß besser einzuschränken. Wie weit hier das Mathematische Erkenntniß sey oder nicht ist uns hier gleichgültig. Wenn wir uns unsere Aufgabe recht klar machen wollen, so müssen wir die zwey Hauptzweige noch etwas näher betrachten. Es ist etwas Allgemeines daß als Gegenstand der Volksbildung das Rechnen als gesetzmäßiges Verfahren mit der Zahl angesehen wird hingegen das Messen, das gesetzmäßige Verfahren mit der concreten Größe vernachlässigt wird. Zu dem kein Grund, unsere negative Cautele führt ins unrechtliche. In allen Gewerbsarten ist das Messen ebenso nothwendig als das Zählen. | Woher diese Einseitigkeit? Nicht leicht zu sagen. Aber eine gemeinsame Quelle dieser Mängel ist die eine lange Zeit hindurch bestandene Mangelhaftigkeit der Methode, das Geometrische wird dem Arithmetischen aufgeopfert der Zeit wegen. Was das Physikalische betrifft so haben wir es hier mit zwey verschiedenen Gegenständen zu thun mit denjenigen Dingen welche unter der Form des Lebens Erscheinungen eines Complexus von verschiedenen Künsten und Functionen sind und von denen welche uns als Product der allgemeinen Naturkräfte unter der Form des Todten erscheinen und dem gegenüber denen die Thätigkeit der allgemeinen Kräfte die sich uns als Erscheinungen manifestiren. Da dasjenige was sich am unmittelbarsten an die Sinnesausbildung anknüpft, die Künste der Erscheinungen des Lebens – Nat u r ge s c h i c h t e . Dagegen die eigentliche Physik die 2 Sittlichkeit] Kj Sinnlichkeit

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Kenntniß der Naturkräfte und Erscheinungen überhaupt als das was schon eine gewisse Tendenz zur Wissenschaft findet, und im späteren Leben von keinem unmittelbaren Einfluß ist. Hier finden wir wieder eine Menge von verschiedenen Begrenzungen und die verschiedenen Intressen, aus welchen so oder so begrenzt werden kann. Fragen wir aber wie werden wir den nach dem vorigen Festgestellten zu begrenzen haben? Von dem was sich an die unmittelbare Ausbildung der Sinne anschließt werden wir so viel aufnehmen in das Gebieth der Volksbildung als sich bey den vorhandenen Hülfsmitteln nach der gegebenen Zeit bis zu einer wahren Verstandesbildung durchführen läßt, – kein vielseitiges Princip in unserer Bestimmung. Die Grenze immer nur im Maaß welches uns gegeben ist, keine willkührliche hineinzubringen. So lange nicht die Methode bis auf einen solchen Grad vervollkommnet ist, daß die gegebenen Gegenstände hinreichen, so lange wird die Volksbildung immer etwas fragmentarisches bleiben – und da der Zusammenhang des künftigen Lebens ins Auge zu fassen. – Aber dann alles wesentlich fragmentarisch, wenn das Wissenschaftliche abgeht? möchte man fragen. Aber fürchte es verneinen [zu müssen]. Unser Standpunkt allerdings ein untergeordneter, aber in seinen Grenzen könnte er auch ein in sich vollendeter seyn, es ist auch wahrscheinlich immer etwas anderes was bey diesem Schluß zu Grunde gelegen. Das Absichtlich Fragmentarische haben wir ja ausgeschlossen. Also sehen wir wie viel darauf ankommt die Methode zu verbessern, um die intellectuellen Vorzüge zu einer gewissen Zeit stärken zu können. Von jeher immer neue Versuche. Alle pädagogischen Bestrebungen haben immer zugleich diese Richtung genommen. Sehen wir aber auf den Effect, so folgt daraus wir sind immer weit zurück. Auf dem Gebieth der höheren Bildung ist man darinn noch eigentlich eher zurück, – was in der Billigkeit gegründet ist, und das Bestreben zur Besserung der Methode billig zuerst auf den Cyclus der Volksbildung. Läßt sich da etwas feststellen, ist es etwas besonderes für jedes einzelne Gebieth – oder allgemeine Principien anzunehmen? Behauptet man es läßt sich etwas darüber aufstellen so bringt man es mehr unter den Begriff der Erkenntniß, sagt man es läßt nichts darüber feststellen so bringt man es unter den Begriff der Kunst. Pest a lozzis c h e Bestrebungen hatten diesen Charakter als ob damit etwas Allgemeines zum Grund gelegen was man auf alle Gegenstände anwenden könne und als ob sie für das Gebieth der Volksbildung ausschließend berechnet wären. Aber sieht man auf die Ausbildung und auf den Gang den die Sache genommen hat, so folgt daraus es ist nichts rechtes herausgekommen oder es ist noch ein Willkührliches und eine Er3 ist] sind

33 es] sie

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findung gewesen. Das große Intresse und die Anpreisung haben sich größtentheils verloren, und es erscheint der Erfolg als eine Tendenz die eine Zeitlang ein gewisses Intresse erzeugen kann, hernach schläft man wieder ein weil die andere Seite des Bewußtseyns erwacht. Die geistreichsten Vertheidiger der Methode sehr weit von einander abgegangen. (Das Mechanisiren der Erziehung – Kernausdruck aus seiner Methode – kein Verdienst aber Pestalozzi mag den Ausdruck oder sich selbst nicht recht verstanden haben). Viele von seinen Übungen haben allerdings den Charakter des Mechanisirens. Diese hat man aber bald wieder aufgegeben. Auf der anderen Seite ein Bestreben für etwas sehr Wahres, nicht willkührliches oder vereinzeltes – aber es ist nicht recht herausgekommen, und es müßte erst noch viel anderes bearbeitet und auf seine ersten Principien zurückgeführt werden. Wir suchen uns abgesehen davon nun die Frage vorzulegen, was ist denn hier das rechte Princip? Wir haben es nun mit der Vergleichung der Bildung zu thun in so fern sie sich auf den rechten Gebrauch der Sinne und der Fertigkeit der Sinne anschließt. Ist das ein so in sich abgeschlossenes Gebieth daß wir daraus folgern das muß seine eigne Methode für sich haben? Wenn wir da zuerst auf unsere früheren Gegenstände G e s c h i c h t e so fragmentarisch und E rdkunde wie wir sie angeschlossen haben zurückgehen, so folgt daraus die Geschichte scheint auf einem anderen Gebiethe zu liegen. Aber die Erdkunde hat es auch mit anderen Gegenständen und Zahlen zu thun, da würden wir sagen können [daß] keine wesentlichen Verschiedenheiten in den Principien der Methode seyen. | Den Grund hiezu finden wir leicht[,] er ist ethisch. Er hat keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der Sinnesbildung. Wir müssen aber die Frage noch unbeantwortet lassen um die übrigen Gegenstände bey einander zu haben, und dann die 1 haben] hat

6 aus] aus der

6–8 Zum „Mechanisieren“ äußert sich Johann Heinrich Pestalozzi in „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Ein Versuch den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unterrichten, in Briefen“ (Bern/Zürich 1801): „Indem ich also alle Theile der staubichten Schulpflichten nicht bloß oberflächlich in die Hand nahm, sondern vom Morgen | acht Uhr bis Abends sieben Uhr, wenige Stunden unterbrochen, immer fort trieb, stieß ich natürlich alle Augenblicke auf Thatsachen, die das Daseyn der physisch-mechanischen Gesetze, nach welchen unser Geist alle äusseren Eindrücke leichter oder schwerer aufnimmt und behält, bescheinen. Ich organisirte auch meinen Unterricht täglich mehr auf das Gefühl solcher Regeln, aber ich war mir ihres Grundsatzes wahrlich so lang nicht bewußt, bis der Vollziehungsrath Glayre, dem ich das Wesen meines Thuns vorigen Sommer einmahl verständlich zu machen suchte, zu mir sagte: Vous voulez méchaniser l’éducation. Er traf den Nagel auf den Kopf, und legte mir bestimmt das Wort in den Mund, welches das Wesen meines Zweckes und aller seiner Mittel bezeichnet.“ (S. 31–32; Sämtliche Werke 13,196)

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Frage mit Nutzen über die Gesammtheit der Methode und die Grenzen in welchen eines oder das andere Gebieth eingeschlossen ist. Was gehört denn noch weiter in den Cyclus der Volksbildung? Was wir bis jetzt aufgestellt haben liegt offenbar mehr auf dem Gebieth der Receptivität. Also würde daraus folgen wie steht es mit dem Gebieth der Spontaneität? Die zwey Kreise. Der eine geht aus mehr von der körperlichen Thätigkeit in Beziehung auf die äußerlichen Dinge. Der andere fügt sich mehr an das Intellectuelle, aber natürlicher Weise auch an das was eine Wirkung nach außen begründet. Das wird uns allerdings mittelbar oder unmittelbar zurückführen auf den Gebrauch der Sprache. Alles zusammengenommen läßt sich in einem weiteren Sinne unter den Ausdruck Gymnastik zusammenfassen im geistigen und leiblichen Sinne. Das die uns noch übrigen Gegenstände, die geistige Gymnastik, die es zu thun hat mit der richtigen Anwendung der Sprache, welche aus der logischen Richtigkeit und der grammatischen zusammen gesetzt ist und dann die leibliche Gymnastik – alles was durch mehr körperliche Thätigeit und Bewegungen hervorgebracht wird. Dieses Geistige nennen die Griechen in ihrer Pädagogik Musik. Gehen wir davon aus, daß wir Sprache und Gedanken überhaupt nicht und zumal auf dieser Stuffe nicht von einander trennen können, so haben wir hier schon den ersten Hauptpunkt worauf es ankommt. Indem wir aber die Verstandesbildung auf das Praktische richten so haben wir zu sehen auf die Ausbildung der Urtheilskraft und der Begriffe. Alle Urtheile aus der Theilung und der Verknüpfung der Begriffe. Überall ist das Theilen der Begriffe und die Subsummtion der Gegenstände unter diese Begriffe eine rein menschliche Thätigkeit. Zwey Processe, das Heraufsteigen von dem Einzelnen zum Allgemeinen und das Heruntersteigen von dem Allgemeinen zu dem Einzelnen. Die zweyte Operation ist die der C o m b i na t ion, wo es darauf ankommt, die Grenzen der selben festzustellen. Hier kommen wir auf zwey Mängel welche die große Masse zu bewirken pflegen, der A berg l a u b e , die Leichtigkeit Combinationen zu machen welche nicht gemacht werden können, das andere der Sc hlendria n, die Abneigung Combinationen zu machen die nicht schon gemacht worden sind, bey10 zurückführen] zurückkommen 23 sehen] haben

16 gesetzt ist] setzen

18 wird] werden

18 Vgl. z. B. Platon: Politeia 401d–403c; Opera 6,292–296; Werke 4,228–235 25– 26 Vgl. SW III/9, S. 400–401 (Zusatz): „Nun ist aber überall die Theilung der Begriffe und die Subsumtion der Gegenstände unter die so getheilten Begriffe eine rein menschliche Thätigkeit, die nicht mehr von dem nur äußerlich gegebenen ausgeht, denn die Begriffe werden von den Menschen producirt; man kann sich aber nicht anders darüber verständigen als wenn man an ein gegebenes also ein|zelnes anknüpft;“

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des hat seinen Grund in dem Mangel am richtigen Maaß und clarem Bewußtseyn. Dieses ist eigentlich die practische Logik oder Dialectik des Volkes, die ausgebildet werden muß. Fragt man an was für Gegenständen diese Operationen geübt werden sollen, so müssen wir zurückkommen zu unserem ersten Anfangspunkt. Hier die Haupttendenz, den ganzen Complex von Begriffen auf eine solche Weise zum Bewußtseyn zu bringen, daß überall der Innhalt einer Aussage auf diesem Gebiethe richtig aufgefaßt werden kann, und das Unlichte einleuchtend gemacht wird. Hier müssen wir zweyerley unterscheiden. Das ganze Gebieth des Wahrnehmbaren besteht einestheils aus natürlichen Gegenständen, und andererseits aus Gegenständen die schon Producte menschlicher Thätigkeit sind. Die Frage welchen man den Vorzug geben muß ist schon entschieden indem wir alles was zum Geschäftsleben gehört in der Erziehung mehr der Familie angehört. Also werden wir überwiegend auf die nat ürlichen G eg enst ä nde zurückgeführt. Da eine Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine nothwendig. Auf der anderen Seite schließen sie sich an an den fortgesetzten Sprachunterricht. Durch die Sprache die Verhältnisse bezeichnet welche in der Combination vorkommen. Die Kenntniß und richtige Ausbildung der Sprache und die des Combinations und des Urtheilsvermögens müssen wieder zusammenfallen, so daß dieß wieder Ein zusammengehöriges ist, was sich auf diesem Gebieth uns in einander verflochten darstellt. Nun kommt [es] darauf an eine Mannigfaltigkeit, Verknüpfungen und Subsummtionen hervorzubringen, also nothwendig das Fre m d e mit hinzuzunehmen, um den Reichthum der Fälle zu vermehren. In der Sprache nicht nur die natürlichen Dinge und die Veränderungen, sondern auch die menschlichen Thätigkeiten und in der Sprache kommt alles das vor, was das Verhältniß einzelner menschlicher Thätigkeiten zu dem Maaß ausdrückt, was Lob und Tadel in Beziehung auf eine Thätigkeit aussagen. (Das ein sehr nothwendiges Gebieth, wo es auf die richtige Deutung und den richtigen Gebrauch der Vorstellungen ankommt. Natürlich gibt es hier auch seine Grenzen. Man kann nur das zum Bewußtseyn bringen und zum Mittel brauchen, wohin das Vermögen der Jugend reicht. Dieß ein anderer Zweig der praktischen Verstandesbildung. Dieses zusammen bildet den eigentlichen Kern dessen was ich die geistige Gymnastik genannt habe. Je lebendiger dieses praktische System von Vorstellungen in der Jugend wirkt, und sie darinn eine Fertigkeit in der richtigen Combination erlangt haben, desto mehr werden sie ge6 den] davor daß 6 solche] solche solche 13 alles] allen 23 verflochten] verflochten sich 30 aussagen] aussagt

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schickt seyn, um ihrer Rolle in der Gesellschaft selbstthätig gerecht zu seyn. Die Vermögen die einmal aufgenommenen Vorstellungen und Regeln festzuhalten d. h. die Übung des G e d ä cht niß müssen wir auch hinzunehmen. Hiebey die Frage: Gibt es besondere | Thätigkeiten zur Übung des Gedächtnisses oder soll man voraussetzen daß dieses Festhalten von selbst entstehen wird? Nicht auf einfache Weise zu beantworten. – Ich glaube je mehr es als nothwendig erscheint, besondere Thätigkeiten zur Übung des Gedächtnisses vorzunehmen, desto mehr muß etwas Fehlerhaftes in den Einrichtungen seyn. Wenn z. B. Gegenstände die gewöhnlich Analogie mit einander haben gegen einander gestellt [werden] um die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten aufzunehmen so liegt darinn von selbst daß so eine Wiederholung des Gegenstandes geschieht und wenn man dann allmählich von dem Anwesenden auch zu dem Abwesenden übergeht, so wird man davon immer ein Maaß haben in wie weit die sinnlichen Bilder behalten wurden. So in Beziehung auf die Verknüpfung der Gegenstände. Zwar ist damit nicht ausgemacht, daß dasjenige ins Gedächtniß aufgefaßt wird was in der großen Menge an Wiederholung vorkommt. Soll man 1 gerecht] geschickt senden

7 wird?] wird.

12 um] und

14–15 Anwesenden] anwe-

17–4 Vgl. SW III/9, S. 403–404: „Auf dieselbe Weise ist es auch zu halten in Beziehung auf die Verknüpfung des Zeichens mit dem Gegenstande. Wenn man dem Kinde zu viel vorlegt, so verwirrt es sich; geht man aber auf die richtige Weise zu Werke und häuft nicht eine zu große Menge von Zeichen und Vorstellungen: so wird diese Operation in der allmähligen Fortschreitung ganz ruhig ohne besondere Hülfsmittel ihren Gang gehen. – Allein es ist damit n i c h t g e n u g , d a ß d a sj e n i g e | i n d a s G e d ä c h t n i ß a u fg en o m m en w i rd , w a s i n e i n e r re g e l m ä ß i g f o r t s c h r e i t e n d e n R e i h e v o r k o m m t ; denn das hat seine Haltung an unendlich vielen Punkten. I m L e b e n a b e r k o m m t d a s mei s t e e i n z e l n u n d c h a o t i sc h v o r, und auch das soll festgehalten werden. Ist es gut zum Behuf der Gedächtnißübung auch chaotisches zu geben, z. B. eine Menge unzusammenhängender Wörter auswendig lernen zu lassen? Von dieser Seite aus begünstigt und beschönigt man das M e m o r i r e n . Mir scheint es durchaus z w e k k w i d r i g zu sein. Denn sowie man das in der gewöhnlichen Weise zum Ziel hinstellt und absichtliche Uebungen vornimmt, so hilft es wieder nichts; es kommen die Gegenstände doch so im Leben nicht vor; ja es bleibt auch diese Zusammenstellung nichts chaotisches: denn die Kinder verknüpfen wieder auf ihre Weise, sie machen sich eine natürliche Mnemonik. Sondern dies ist etwas was außerhalb der Schule in dem freien Leben der Kinder seine Geltung hat; sollen die Kinder geübt werden das späterhin im Leben chaotisch vorkommende festzuhalten: so kommt es darauf an, daß sie, sei es innerhalb oder außerhalb der Schule, angehalten werden das im freien Leben ihnen begegnende zu reproduciren. Das ist die einzig zwekkmäßige Vorbereitung. Je mehr sie darin geübt werden, desto aufmerksamer werden sie sein auf die vorübergehend sich ihnen darbietenden Gegenstände. Nun ist freilich das ein Gegenstand den man weder der Schule noch der Familie ganz allein wird überlassen können. Es verknüpft sich hier Ernst und Spiel.“

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durch chaotisches ihr Gedächtniß üben aber so wie das absichtliche Übung wird so hilft es nichts, so kommen die Gegenstände die zugleich wieder verschwinden im Leben nicht vor. Im freyen Leben der Kinder hat dieß seine natürliche Geltung. Wir kämen nun auf diejenigen Zweige der Gymnastik welche wir schon leibliche zu nennen hätten, nähmlich solche Übungen welche sich auf dasjenige was im Gebieth der Kunst liegt beziehen. Da erst die Frage[:] Was und wie weit gehört es nun wohl eigentlich hieher? Wir haben uns die Frage im Allgemeinen ob das Volk ein Antheil an Kunst haben soll, nicht vorgelegt, aber eine Entscheidung folgt, wenn man eine Analogie annimmt. Wir sagten das Volk als solches könne keinen Antheil haben an der Wissenschaft – und so werden wir sagen können eben so wenig an der Kunst. Haben wir ein Recht diese Parallele anzustellen? Wir haben keinen Anknüpfungspunkt dafür als unseren Gegensatz. Wenn wir auf das gesammte Leben eines Volkes sehen ist dann Kunst ein regierendes Princip oder etwas das immer regiert wird so können wir ohne Bedenken das erste annehmen. Wird sie regiert, so wird sie verderben, und ihrer Natur nach ist sie etwas regierendes, übt eine bestimmte psychagogige Thätigkeit aus, gehört zu dem was mit regiert, die hervorbringenden Künstler gehören in der Gesellschaft zu denen die leiten – von den Dichtern anerkannt. Das Volk in so fern es nur erzogen wird kann an keiner Ausübung der eigentlichen künstlerischen Productivität einen Theil haben, jeder erhebt sich dadurch aus der regierten Klasse und tritt in eine höhere Region ein; aber etwas muß doch in der Bildung des Volkes seyn, was mit diesem Gebieth eine solche Verwandtschaft hat, daß ein künstlerisches Talent sich dabey entdecken müßte, und dergleichen schließt sich ganz natürlich und nothwendig an die uns schon gegebenen Punkte an. Das Analoge der allgemeinen Kunstlehre in der Volksschule ist die Gesangslehre und die Zeichnungslehre. Schon lange strebte man das Zeichnen auszuschließen. In der Musik beruht das Meiste auf dem rythmischen ja selbst die metrischen Differenzen werden ja auf Zahlen zurückgeführt, Scala für die Höhe und Tiefe, das Zeichnen aber offenbar durchs Messen. Also immer als ein Satz aufzustellen, überall wo man in [ ] versirt, daß einer nur so viel versteht, als er selbst machen kann. Es liegt dieß im natürlichen Verhältniß von Receptivität und Spontaneität und von Sinnesthätigkeit und Hervorbringung der Gegenstände – daher keiner weiteren Erörterung bedürftig. Betrachten 3 verschwinden] verschwindet 14 anzustellen?] anzustellen. 35 aufzustellen,] aufzustellen, dann aufzustellen ist 36 in] es folgt ein Spatium von etwa 4 cm Länge, zu ergänzen wohl logischen Kombinationen (vgl. SW III/9, S. 406)

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wir alles Zusammengehörige so kann man nicht sagen, daß dieses ein in dem künftigen Volksleben mehr verschwindender Gegenstand wäre, als das Musikalische in seinem Zusammenhange mit dem Rythmischen. Diese Gegenstände in einem gewissen Zeitraum zu vollenden also eine Einseitigkeit die in dem Vermögen ihren Grund hat. Fragen wir Was denn der Punkt von dem man ausgegangen die Gesangslehre einzuführen, so folgt daraus überwiegend das religiöse Intresse, und allgemeine Erfahrung daß in dem evangelischen Deutschland man hierinn früher angefangen hat und weiter gediehen ist als in dem katholischen. Nun ist freylich Musik für das Volk ein Element des Genusses für das Volk mit dem Tanz verbunden in allen Festlichkeiten und Erholungen des Volkes. Allein es ist offenbar das kirchliche Intresse für den Kirchgesang und in Verbindung damit für die häusliche und Privat-Andacht. Also zu loben. Aber die Zeichnung ihrer geometrischen Seite nach ist eben so durch das Intresse des Gewerbslebens bedingt, weil nun die Thätigkeit des Mechanischen als des Meßkünstlerischen, immer von der eignen Productivität abhängt. Und die Richtigkeit in der Hervorbringung der Figuren muß immer parallel seyn mit der Einsicht der Verhältnisse von denen da die Rede ist. Ein geometrisch geübtes Auge und Hand ein wesentliches Erleichterungsmittel. Anders mit der Zeichnung als eigentliche Kunst, und vorzügliche Nachbildung der lebendigen Gestalten angesehen wird. Die hat kein solches unmittelbares Intresse. Da ist das Intresse rein künstlerisch im Sinn für das Wohlgefällige und Schönheit. Dadurch wird ein Volk der Barbarey entrissen und darinn zeigen sich die ersten Spuren eines edleren Daseyns. Allgemeines menschliches Intresse diesen Keim zu erwekken und beleben. Wenn wir den Zustand des gemeinen Volkes so wie er sich äußerlich darstellt betrachten, so zeigt sich ein wirklicher Contrast worinn das Ebenbild von dieser Einseitigkeit [liegt] | und zeigt wie die pädagogische Thätigkeit dem Gegebenen entgeht. Es gibt in unserem Vaterland viele Gegenden wo man unserem Volk musikalisches Talent nicht absprechen kann, in vielen von eben diesen Gegenden findet man oft einen Widerspruch eine Geschmacklosigkeit in der Bekleidung, Einseitigkeit im Leben, was wir im Volk auch finden. Je mehr man sich den Gegenden nähert, wo es noch einen Einfluß der 7 Intresse] Itresse 4–5 Vgl. SW III/9, S. 406: „Wi l l m a n n u n d a s Z e i c h n e n w i e d i e M e ß k u n s t a u s dem Vo l k s u n t er r i c h t a u ssc h l i e ß e n , so sc h l i e ß t m a n a u s w a s i m k ü n f t i g e n L e b e n s b e r u f n o t h w e n d i g v o rk o m m t . “ 34–1 Vgl. SW III/9, S. 408: „Je mehr man sich den Gegenden nähert, wo es noch einen gewissen Einfluß der antiken Tradition geben kann, z. B. den südlichen Gebirgsländern: desto weniger finden wir diesen Contrast;“

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mutigen Gebirgsrassen geben kann, um desto mehr ist dem Volk ein Sinn für die Form geweckt. Aufgegeben ist der Gegenstand klar genug, und es ist nicht nöthig ihn in eine abgesonderte höhere Region [zu] verweisen. Wir können also dieß nicht als Gegenstand allgemeiner Volksbildung aufstellen, aber als Ziel der Volksbildung nothwendig. Dann folgt uns die der Gymnastik im Allgemeinen. Das Geistige und Leibliche in der engsten Verbindung und bildet den Übergang von dem rein Geistigen wo das Logische dominirt zu dem rein Leiblichen. Das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. Wenn wir fragen[:] Was für körperliche Fertigkeiten gehören nun in das Gebieth der öffentlichen pädagogischen Thätigkeit, und wie sollen die behandelt werden? so kommen wir freylich auf unsere Frage zurück. Die Geschäftstradition gehört nicht in das Gebieth der Schule sondern auch in diesem Alter muß [sie] der Familie anheim fallen. Die gegenwärtige Praxis scheint damit in Widerspruch – ich meine Indust ries c h u l e n , ihr Gegenstand mechanische Fertigkeiten, es ist die Geschäftstradition welche aufgestellt wird also die Praxis im Widerspruch mit dem Canon. Haben wir Grund die Regel zu beschränken oder müssen wir die Praxis wie sie jetzt ist als etwas nachtheiliges ansehen? In einer Reihe von Jahren bey uns Q R, der Geg ens t a n d natürliche Stoffe. Es ist nicht zu läugnen, daß diese Anstalten eine allgemeingültige Wirkung hervorgebracht haben. Das scheint gegen unseren Canon zu sprechen. Aber die Volksjugend geht wenn die Zeit der Schulbildung vorüber ist in das Geschäftsleben, das zertheilt sich mannigfaltig. Wenn die Zeit der Schulbildung vorüber ist geht der Zögling in das Geschäftsleben über. Dieß verzweigt sich. Je mehr die Geschäfte ins Große gehen desto mehr wird die Arbeit der Einzelnen in einen kleinen Raum eingeschlossen. Specielle Thätigkeit gehört in die Zeit der Schulbildung nicht hinein. – Fragen wir: Was wird denn eigentlich in den Industrieschulen getrieben, so folgt daraus einerseits sind sie Vereinigung der weiblichen Jugend zum Behuf der ihnen angewiesenen Handarbeiten und da sollen sie in den Ort hinein den wir schon gezeigt haben, daß [sie] dieß thun für sie nur Sache der Noth ist. Bey Knaben wird keines von den eigentlichen Gewerben 4 als] als als 25 mannigfaltig.] als Wiederholung mit Einfügungszeichen am Rand: Wenn die Zeit der Schulbildung vorüber ist geht der Zögling in das Geschäftsleben über. Dieß verzweigt sich. 20–21 Vgl. SW III/9, S. 409: „Es ist in ihnen ein öffentliches Leben, eine gemeinsame Thätigkeit; die Gegenstände aber sind mechanische Fertigkeiten zum Behuf der Bearbeitung natürlicher Stoffe.“

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getrieben in das sie nachher übergehen. Das solche mechanischen Thätigkeiten, Füllarbeiten, Nebenbeschäftigung, eine große Masse zweckmäßig sie ausfüllen sollen, Geflechte, Papparbeiten. So folgt daraus das ist ein Zweig der leiblichen Gymnastik die gehörige Genauigkeit und Kraft der mechanischen Handhabung. Je mannigfaltiger der Stoff ist, an dem sie geübt werden, desto besser ist es. Nun aber wenn wir mehr das betrachten, daß man in der Volksbildung zunächst die Gesangslehre eingeführt hat, weil sie von einem ethischen und religiösen Intresse ausgeht, und die Zeichnung noch nicht, weil diese mehr von einem ökonomischen Intresse ausgeht. Auf der anderen Seite auch von einem ethischen aber mehr von einer sinnlichen und untergeordneten Art – so werden wir nicht loben können daß man das früher eingeführt hat als diese Zweige. Aber es gibt noch ein anderes gymnastisches, das nur den Körper selbst zum Zweck hat was im eigentlichen Sinn so von den Alten die leibliche Gymnastik genannt wird, die Fertigkeit in solchen körperlichen Bewegungen, welche nur den menschlichen Leib an sich zum Zweck und Gegenstand haben, und keine Wirkung auf äußere Gegenstände hervorbringen sollen, [die] nicht mechanischer Art sind. Wir sehen hier ein eignes Gebieth: Die verschiedene Art den Leib selbst sogleich im Raum, und die einzelnen Glieder in seinem Verhältniß zum Ganzen zu bewegen. Virtuosität eine doppelte, nähmlich die Kraft und die Gewandheit. (Kraft, daß das Verhältniß zwischen dem Resultate und der darauf gerichteten Zeit – Leichtigkeit –. Beydes zusammen genommen die Virtuosität auf dem gymnastischen Gebieth.) Nun ist offenbar daß in diesem Alter mehrheitlich in der männlichen Jugend ein Trieb ist zu dergleichen freyen Bewegungen, es ist die überströmende Lebenskraft, es ist etwas ganz instinctartiges. In Beziehung hierauf die entgegengesetztesten pädagogischen Ansichten mit einander gewechselt. Gehen wir zurück in die Zeit wo alle gymnastischen Übungen, welche die Knaben selbst trieben als Ungezogenheiten angesehen wurden, wurden sie verworfen, hernach wurden sie tolerirt als etwas, was die Jugend für sich treibe, wo bey man nicht zu ängstlich zu seyn brauche für Sitte und 7 betrachten] gebetrachten 12 Art] Art und auf der anderen einen ethischen 29 gewechselt] gewesen über gew)echselt* 31 als] als etwas als 33 treibe] als Wiederholung mit Einfügungszeichen am Rand: (man darf nicht zu ängstlich seyn in Beziehung auf Sittlichkeit und Gesundheit) 1–3 Vgl. SW III/9, S. 410: „Andererseits giebt es Industrieschulen, namentlich für Knaben, in denen nichts von den eigentlichen Gewerben getrieben wird in die sie nachher übergehen können, sondern nur solche Nebenbeschäftigungen und mechanische Thätigkeiten, die den leeren Raum den die eigentlichen Gewerbsthätigkeiten späterhin übrig lassen zwekkmäßig ausfüllen sollen, und die unter dem Namen Füllarbeiten in technologischer Sprache bekannt sind.“

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Gesundheit; hernach ein Gegenstand welcher absichtlich geübt wurde eher nur unter der Form des Spiels unter sich und zuletzt wurden sie zu einem eigentlichen Gegenstand der Volksbildung. Da hatte die Sache ihr Maximum erreicht, und weil sie sich damit nicht begnügt, sondern auf ein anderes Feld übergesprungen war so hat sie auch ihr Ende gefunden und es scheint als ob sie wieder von vorne anfangen müßte. Es fällt einem zuerst ein, was in dieser Hinsicht für ein bedeutender Unterschied seyn sollte zwischen der Gegenwärtigen Zeit und dem Alterthum. Da waren die gymnastischen Übungen ein Gegenstand der größten Jugendgemeinschaften und wurden unter gehöriger Aufsicht getrieben, sie waren ein ordentlicher Gegenstand der Übungen, und die diese Übungen zu leiten hatten standen in der Reihe der Erzieher und wurden als Künstler angesehen. Die Gymnastik war vor allem auf die Entwicklung der Gesundheit und körperlichen Kräfte und auf der anderen Seite auf die doppelte Virtuosität im Gebrauch derselben [gerichtet]. Ein bedeutender Unterschied ist es allerdings, – die Jugend des Alterthums nicht mit unserer Volksjugend zu vergleichen, sondern es war bey denen die Jugend der höhern Stände, denn die mechanischen Geschäfte wurden dort von den Sclaven getrieben, die freyen Bürger hatten keinen unmittelbaren Antheil daran. Von hier aus könnte man sagen[:] Das Verhältniß so zu stellen: dann würde folgen daß andere Gründe als dieses Beyspiel sollen angeführt werden, wenn [sie] an der eigentlichen Volksbildung angewendet werden sollten, und bey uns nur bey der Jugend | welche für eine höhere Bildung bestimmt ist. Das Beyspiel aber ist so nur auf die Gründe zurückzuführen welche damals statt fanden. Was ohne körperliche Bewegung, ohne gehörigen Zusammenhang mit dem Freyen – das Princip wird doch dasselbe im Alterthum und jetzt seyn. Wenn wir aber auf das Volk besonders sehen, so folgt daraus es hat bey uns eine zweyfache Bestimmung, einmal den Kreis von militärischen Übungen durchzumachen, alles zu üben was nöthig im Fall das Vaterland einer Vertheidigung bedarf, dann ist die Volksjugend bestimmt zu verschiedenen Gewerben, Ackerbau und andere wie 21–30 Vgl. SW III/9, S. 412: „und so möchte es scheinen daß auch unter uns zwar die Kinder der vornehmeren den gymnastischen Uebungen obliegen müßten, nicht aber die Jugend des Volkes. Jedoch wir wollten nicht an das Alterthum erinnernd dies Beispiel als Autorität aufstellen, dem in jeder Beziehung nachzufolgen wäre, sondern nur auf die Gründe zurükkführen die schon damals die Gymnastik herrvorriefen. D a s P r i n c i p , d a ß o hn e k ö rp e rl i c h e B e w e g u n g u nd o h n e Z u s a m m e n h a n g m i t d e r fr ei e n A t m o sp h ä re d e r M e n sc h si c h n i c h t k r ä f t i g a u s b i l d e n k ö n n e , w i r d d o c h a u ch h e u t e n o c h d a sse l b e se i n , u n d e s i s t n u r i n s e i n e r g r ö ß e r e n A u s d e h n u n g a n z u w e n d e n .“

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die zu sitzenden Lebensmomenten führenden, Letztere angesehen als ein schwächendes Princip – gegen dieses im voraus zu arbeiten, dazu schwerlich eine andere allgemeine Methode als in dieselbe Lebenszeit ehe dieß eintritt eine desto größere Masse von wohlthätigen Bewegungen im Freyen hervor zu bringen. Auch bey den arbeitenden Klassen ist es in Zeiten der Erholung heilsam [solche] Gewöhnungen hervorzubringen, daß dadurch wieder ein Gegengewicht gegen den Nachtheil der sitzenden Lebensmomente entsteht das ist ein anderer Nutzen. Die Jugend soll eine Lust erhalten an regelmäßiger Bewegung im Freyen. Dieses allerdings für die Volksjugend ein wichtiges Element. Andere Frage über die Art wie dieß geschehen soll. Auch ist hier auf Übungen zurückzugehen und die Sache darnach zu beurtheilen. Zuerst dieß zu bemerken: Wir haben es aufgestellt als das erste Princip, daß in diese Periode die strenge Entwicklung des Gegensatzes zwischen Anstrengung und Arbeit und zwischen Spiel und freyer Thätigkeit hineinfalle. Soll die leibliche Übung als Anstrengung und Arbeit getrieben werden so gehört sie in das Gebiet der Schule oder als Spiel dann in die Familie. Wenn es darauf abgesehen wäre, die körperliche Geschicklichkeit und Gewandtheit zu einem eignen Geschäft zu seyn, dann wäre es natürlich daß die Übung und Umfang dazu als Arbeit getrieben werden müßte, aber dieß nicht der Fall, als Geschäft nur für die Schnelläufer und Seiltänzer, als Spiel von daher nicht daß man dieß in die Schule legen müßte. Aber in der Schule zweyerley[,] einmal was mit in der Natur der Sache liege, daß eine größere Gemeinschaft der Jugend bestehen müsse in diesem Alter und dann in wie fern es Sache der Noth ist, weil in der Familie nicht Gelegenheit ist, gewisse Wirkungen hervorzubringen. Aber zu sagen es wären so viele Generationen gewachsen daher solche Anstalten, aber immer Tradition von Spiel unter der Jugend, wir würden also sagen, es wäre nicht der richtige Zustand dieses zu einem Gegenstand der einzelnen schulischen Gemeinschaft zu machen, es ließe sich nicht begründen, das richtige wäre diese Tradition zu erfüllen durch fortgehende Übung, aber in die Zeit der Erholung also mehr in die Familie als die große Gemeinschaft zu verweisen. Wenn man die Sache so sich überläßt, so ist offenbar nicht zu läugnen, daß zur Freudigkeit von leiblichen Übungen immer eine größere Anzahl gehört, dabey nicht zu läugnen daß die Sache von selbst die Richtung nimmt, daß wirklich dabey von Übung die Rede ist doch zu gleicher Zeit sie als eine Darstellung zu behandeln, die jugendliche Freude an dieser Darstellung, daß der jugendliche Körper sich darstelle als in einer Mannigfaltigkeit von Bewegung. Das 9 erhalten] ehalten 11 ist] muß 33 Erholung] Eholung

31 begründen] überlassen über )begründen*

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gehört von selbst in die Region des Spiels, das spricht dafür daß der Gegenstand so müsse behandelt werden. Aber die größere Anstalt die dazu gehört macht es daher immer rathsam die Jugend dabey unter Aufsicht zu stellen es würde dadurch allein der Nachtheil aufgehoben, welchen der Einfluß derer die bey einer gewissen größeren Menge da von einer sittlichen Mißbilligung ist – daher die Jugend der höheren Stände unter dieser Besorgniß unter allen früheren Generationen bey uns bedeutend gelitten hat und von allen diesen Übungen und Spielen ausgeschlossen gewesen ist – sie kann nicht leicht in seiner großen Anzahl seyn – im Leben verschwindet sie bald. Die Aufgabe offenbar diese die Jugend zu diesen Übungen in größeren Massen zu vereinen und zu gleicher Zeit sie nicht ganz sich selbst zu überlassen; hier wird eine Art von M i t t e l z u s t an d [eintreten] zwischen dem Ernst der Schule und dem was rein innerhalb der Familien geschieht. Unter der letzten Form kann die Aufgabe nicht gehörig gelöst werden. Stellt man sie aber unter die strengste, so muß auch jeder das Mißverhältniß fühlen und in dieses Extrem ist man offenbar hineingerathen in der letztvergangenen Zeit. Dabey findet nun eine große Verschiedenheit von Formen statt, von welchen sie getrennt werden können, und ein mannigfaltiges Verhältniß in welches diese Region gesetzt werden kann gegen die Schule – und gegen die Familie. Das schwierigste was immer wir uns denken daß die Möglichkeit da sey, die Sache so zu organisiren und diese wird nun nicht leicht fehlen, in vielen Fällen wird nun eine Aufsicht nöthig seyn, die Leitung der Tradition zu überlassen. Der Aufsichtsführende mag der eigne Lehrer in der Schule oder ein anderer seyn, | so wird die Schwierigkeit immer seyn, das rechte Zeitmaaß für diese Spiele zu finden. Wir haben freylich den Satz schon aufgestellt, daß die eigentliche Volksschule weniger Anspruch machen dürfe auf die Zeit außer der Schule, so daß der eigentlichen Gymnastik nur wenig Raum würde übrig bleiben. Nun würde es also darauf ankommen, den noch zu benutzen, in kürzeren Zeiträumen mehr Übung hineinzubringen, die Wirkung auf Gesundheit haben, in Bewegungen die Fortschreitung von wirklichen Übungen; aber daß der Schule nichts von ihrem Recht verlorengehe, auch nicht daß die Jugend durch die Übung zu sehr angestrengt und minder zur Arbeit kann, auf der anderen Seite daß die Jugend nicht aus der Familie 6 ist] ist aufzuheben 18–25 Vgl. SW III/9, S. 413: „Die Form der Organisation dieses gemeinschaftlichen Lebens der Jugend kann eine sehr v e rsc h i e d e n e sein, und das Verhältniß zur Familie und zur Schule sehr mannigfach; die Möglichkeit ist unläugbar, die Tradition ist oft schon in der Jugend selbst vorhanden, die Jugend selbst tritt auf die leichteste Weise in Masse zusammen und ordnet sich willig; es bedarf nur der Aufsicht,“

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herausgerissen werde. Wenn wir also den ganzen Kreis ausgemessen haben, der hier auszufüllen ist, so können wir die Frage wieder aufnehmen. G i b t e s h i e r d i e ß ge m e i n s c haf tliche Princip des Ve r f a h r e n s u n d d e r M e t h o d e o d e r muß ma n sie na ch v ersc h i e d e n e n G eg e n s t än d e n s o n d er n ? Alles unter einem gemeinsamen Begriff, dem der Fertigkeit, bey allen außerdem dieselbe Beziehung auf das was wir noch aus dem Gesichtspunkt der Receptivität zu betrachten haben. So ist also wirklich ein Gemeinsames gegeben, und es kommt uns darauf an von diesem auszugehen, und das bestimmen was von diesem aus sich bestimmen ließe um hernach zu sehen wo das Specifische angeht – die Anwendung der allgemeinen Principien auf den Gegenstand – das scheint sich von selbst zu verstehen. Wenn wir fragen: Wo sollen wir denn das Princip hernehmen? so haben wir schon etwas sehr allgemeines aufgestellt, nähmlich dieses: Wir haben gesagt: Man müßte eigentlich in der Erziehung keinen Moment ganz und gar der Zukunft aufopfern, jeder müsse etwas für sich seyn, deßhalb wenn man es genauer analysirt: Es darf nichts die Zeit an sich erfüllen was lediglich als Mittel zu einem anderen als Zweck unternommen wird sondern es muß jedes schon Zweck für sich seyn. Darinn würde offenbar das Princip liegen Alles was Unterricht ist auf solche Weise zu organisiren, daß je d e T h ätig keit a uch a ls Zw eck a n s i c h k ö n n e an ge s e h e n w e r d e n u n d eine Bef riedig ung a n s i c h b r i n g e . Es ist eine allgemeine Thatsache, daß so wie die Continuität des Bewußtseyns sich nur allmählich entwickelt, und es eine Zeit gibt, wo sie noch nicht besteht – so nimmt nur allmählich zu die Beziehung eines jeden Moments auf die Vergangenheit und die Zukunft; nun ist offenbar daß in diesem Alter die Beziehung auf die Vergangenheit immer die lebendigere seyn wird weil diese in sich faßt was schon gegeben ist, sie gehört dem wirklichen Leben an, d. h. Continuität des Bewußtseyns, weil sie in die Gegenwart mit aufgenommen ist. Aber für die Zukunft hat dieses Alter noch wenig Sinn, ihm nicht die Zumuthung zu machen etwas um der Zukunft willen zu thun, alle Motive dazu werden immer schwach seyn, und dabey dann zu fremdartigen Mitteln hier Zuflucht zu nehmen, dieß ist doch so viel als möglich zu vermeiden. Wenden wir dieß auf den Unterricht an, so haben wir ein festes Princip wovon wir ausgehen müssen. Nur auf bestimmtere Weise zu fassen: Wir haben überall uns eine Periode, einen Abschnitt des ganzen Geschäfts construirt, immer die Methode gehabt anzuknüpfen an das was schon beendet war, auf der anderen Seite um zu sehen auf das Ende des Abschnittes, auf den Zustand der muß vorausgesetzt werden wenn die Jugend soll in den folgenden 10 sehen] sehen zu sehen

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übergehen. Wenn wir nun sagen die einzelnen Thätigkeiten sollen construirt werden allein aus diesem letzten Gesichtspunkt so würden wir alsdann auf das vollkommenste gegen unser Princip verstoßen. Für die Erziehenden wieder sehr gut, aber die Jugend würde das schlecht aufnehmen, weil sie für die Zukunft keinen Sinn hat, verstößt gegen den Charakter der Jugend und geht nicht aus dem Princip des gemeinsamen Lebens und Thätigkeit zwischen dem Erzieher und Zögling hervor. Wenn wir sagen die Erzieher müssen das beständig im Auge haben in welchem Zustand sie die Jugend abliefern müssen, aber für die Jugend muß es nichts anderes seyn als die natürliche Anknüpfung an das was vorher dagewesen ist, und als solches eine Befriedigung in sich selbst haben, und aus dem was sie gegenwärtig thun muß sich nun etwas anderes entwickeln. Es muß für sie eine befriedigende Frucht [seyn] von dem was sie vorher gethan. Die Aufgabe[:] Die ganze Reihe der nothwendigen Übungen auf solche Weise einzurichten daß alles was die Zeit an sich erfüllt, seine Befriedigung in sich selbst aus seinem Zusammenhang mit dem vorhergehenden erhalte. Das das reine Princip einer Continuität in der Stuffenfolge der Entwicklung unter der Form | daß jede Thätigkeit ein etwas in sich selbst absolutes sey, und nicht als ein noch unbekanntes der Jugend gegeben werde. So wie man diese Cautele feststellt und das Positive die [ ] reichhaltige Entwicklung des vorher schon da gewesenen, so hat man das eigentliche Princip für das was da gewesen ist, der Gegenstand mag seyn welcher er ist. Wir werden auf dasselbe Resultat kommen, wenn wir von einem anderen Punkt aus gehen. Nähmlich daß eigentlich im Wesentlichen durch das bloße Leben unter den Menschen dasselbe nur in einem geringeren Grade zu Stande kommen muß, was durch die absichtlichen pädagogischen Einwirkungen in einem höheren zu Stande kommt. Das hat eine allgemeine Geltung, und man könnte nur sagen, daß im Einzelnen noch nichts von dem bekannt würde was nicht gerade in ihrem Wirkungskreis liegt. Geht man davon aus, so ist die Folge daß die p ä d ago gi s c h e E i n wi r kung im Wesentlichen darinn bestehe, d e m w as du r c h d as Le b e n v on selbst erf olg t durch O r d n u n g u n d Z u s amm e n h an g e ine g rößere Int ensit ä t zu g e b e n . Daraus geht hervor, daß Ordnung und Zusammenhang das ist was gesucht werden muß. Die Gegenstände an denen diese geübt werden müssen in der Lebenseinrichtung schon liegen und da kömmt der andere Canon zum Vorschein, daß man keinen Le hrstof f zu w ä h l e n h at , d e r i n d e m f o l ge n den Leben v erloren g eht. 13 entwickeln] entwickelt wohl möglichst

21 die] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen

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Wenn wir sagen Ordnung und Zusammenhang sind die Wesen wodurch die Lehre von den unabsichtlichen Mittheilungen sich unterscheidet, so muß dieß das P r i n c i p d e r M ethode seyn. Denn diese bildet den eigentlichen Unterschied. Ordnung ist nur da, wo sich jedes auf ein voriges bezieht, und wo in dieser Beziehung eine bestimmte Formel ist. Der größte Zusammenhang ist da wo das eine unmittelbar aus dem anderen hervorgeht. Da haben wir das Princip der Fortschreitung und der Art und Weise derselben, und sagen wir das soll hier aufgestellt werden als Princip einer besonderen Volksschule, so haben wir das ganze Princip[;] von diesem Punkt an die einzelnen Gegenstände in einem ununterbrochenen Zusammenhang bis auf das Ende dieser Regionen hinzuführen. Hier wird also darauf ankommen – und das ist das Specielle in Beziehung auf die einzelnen Gegenstände – daß man von demjenigen ausgeht, was durch die vorige Periode schon soll bewirkt worden seyn, und daß man das Ziel beständig im Auge behält, das in dieser Periode erreicht werden soll, und so für jeden einzelnen Gegenstand die natürliche Fortschreitung entspricht. Alles was man thut um in der Methode Fortschritte zu machen, brachte nur mit dieser Ansicht Gewinn, sey sie ausgesprochen oder nicht (diese Ansicht). Das war nicht immer der Fall, denn wenn die Erziehung etwas von der Kunst in sich trägt, so gibt es Künstler, die Instinct haben für die Ausübung aber nicht wissen, die Gründe, warum sie so verfahren, Wissenschaftlich darzulegen. Was von anderen Seiten aus geschah, war immer verkehrt. Es ist nicht unnütz solche Punkte aufzustellen, die sich anschließen an frühere Betrachtungen und Regeln. Zuerst: Wir haben den Canon aufgestellt, daß so wie ein größeres gemeinschaftliches Leben angeht, es unmittelbar durch das Erziehenwollen erst hervorgebracht wird. So muß der Gegensatz zwischen dem Ernst und Spiel sich bestimmter gestalten. Wenn man durch die mangelhaften Resultate der bisherigen Methode dahinn kam zu bemerken, daß das anders seyn würde, wenn die Jugend ein größeres Intresse an den Gegenständen hätte, so schloß man die Abneigung bezöge sich auf den eingetretenen größeren Ernst, und diesen müsse man mildern und dem Unterricht in dieser Periode mehr oder weniger das Ansehen eines freyen Spiels geben. Das wäre von seinen ethischen Principien verkehrt, nichts anderes als eine Schmeicheley, in dem man eine Neigung bey der Jugend voraussetzt, die etwas Abnormes wäre. Daher diese Bestrebungen sich bald verloren. Auf der anderen Seite hat man gemeint, der Fehler, daß auf den Schulen nicht geleistet werde, was am Ende da seyn sollte, läge an den Lehrern und ihrem Verfahren. Nun ist wahr, daß bey allen Geschäften die mit solcher Assiduität 27–28 Erziehenwollen] Eziehenwollen

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müssen getrieben werden die die sie betreiben sich leicht an einen gewissen M e c h an i s m u s gewöhnen, der nicht anregend seyn kann. Da sagt man, man muß suchen, mehr Geist in den Unterricht zu bringen, und den hat man gesucht im Gegensatz gegen jenes Extrem in dem, worinn sich in mehrerer Beziehung die freyeste Geistesthätigkeit manifestirt, in dem scheinbar Zufälligen der inneren Production, in den Einfällen, und je geistreicher der Unterricht sey, je mehr solch einzelne hervorspringende Punkte, um so mehr wäre das Intresse belebt. Das Intresse hier ist nicht das an der Sache, sondern an der Individualität dessen der sie vorträgt, es kann nur auf das persönliche Verhältniß des Lehrers zu den Zöglingen einen Einfluß haben. | Fragen wir: Läßt sich erwarten, daß wenn man nach dem aufgestellten Princip handelt, diese Nachtheile nicht eintreten werden, die man durch solch erkünstelte Methoden beseitigen wollte? Das läßt sich vollständig darthun. Sehen wir darauf wie in diesem Zeitraum im eigentlichen Knabenalter sich die Welt immer mehr anfängt aufzuschließen, so muß auch in dem Leben selbst immer mehr die Übung ganz entstehen, daß in der Ordnung und Regel die Kraft der Menschen liege und daß es nur so viel Sicherheit in der Anwendung der Kräfte gäbe als Ordnung und Regel. Richtet man den Unterricht so ein, daß diese Wahrnehmung andeute, was aus dem Leben entstehen kann aber aus dem Unterricht nicht, so geht das verloren, und die Wahrnehmung hat keinen Einfluß auf den Unterricht. Je mehr aber das Leben der Schule den eigentlichen Ernst ausmacht, und in seiner Formel das ganze künftige Leben darstellt, desto sicherer ist das festzustellen, daß wenn diese Principien hier walten die Jugend dadurch desto mehr Freude an der Sache selbst haben wird. Denn was sind das Wohlbefinden und der behagliche Zustand? Nichts anderes als das Bewußtseyn der Kraft und das Gelingen zusammen. Das Gelingen ohne das Kraftbewußtseyn ist das Fade, jenes ohne dieses ist eine unfruchtbare Anstrengung die Ermüdung nach sich zieht. In dieser Thätigkeit, die dieses beydes vereinigt, da liegt das meiste Wohlbefinden, und erhält man die Jugend darinn, so kommen jene Nachtheile nicht. Richtet man alles im Unterricht so ein, daß Kraftübung und -äußerung da ist und sie des Gelingens sicher ist, desto weniger wird man in einen solchen Nachtheil kommen, und daraus folgt alle Fehler im Unterricht sind was von beydem, dann kommt keine persönliche Kraftäußerung zu Stande, oder sie ist nicht so eingerichtet daß sie gelingen kann. In der menschlichen Kraftäußerung ist das in einander seyn von Empfänglichkeit und Selbstthätigkeit. Je mehr man dieß einseitig isolirt, um so weniger kann ein wahres Bewußtseyn von Kraftäußerung da seyn, je 27 sind] ist

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mehr alles rein mechanisirt wird, um so mehr ist der bloße Proceß von außen nach innen eine Thätigkeit, je mehr die Willkühr regiert die Ungleichheit von Ordnung und Zusammenhang, um so mehr ist dieß bloß ein an sich vereinzelter Proceß von innen nach außen, der nicht das Bewußtseyn von Kraft hervorbringen kann. Der erste Punkt ist also der: Wenn wir sagen der ganze Proceß der vollendet werden soll in dieser Periode muß dazu bestimmt werden daß er als eine ununterbrochene Fortschreitung sich entwickelt, so kommt es darauf an, ihn in solche Elemente aufzulösen, die jenes Lebensprincip noch in sich haben in denen diese Verbindung noch ist, und nicht in solche, die hernach nur wie ein mechanisches fortwirken können, und von diesem aus dem Gesetz der Continuität sein freyes Spiel zu lassen, und das folgen zu lassen, was in diesem am meisten begründet ist, z. B. denkt man an den Sprachunterricht wie er in dieser Periode anfangen kann, wo man eben in der Volksschule die ersten Elemente hineingelegt hat, es ist dann das einfachste lebendige Element in der Sprache, das muß zunächst aufgefaßt und hervorgebracht werden in seinen verschiedenen äußeren Formen. Wir werden nichts anderes sagen können als: Das erste Element ist der einfache Satz, der ist etwas Lebendiges, in welchem die Einheit von Gedanken und Worten ein wirkliches Ganzes bildet, das Wort ist an sich nichts, es ist bloß ein Abstractes; und noch mehr wenn wir sagen daß das Wort in seine Lautelemente zerfällt, und das wäre das Ursprüngliche, so fängt man mit Todtem an. Da ist kein Bewußtseyn von einer lebendigen Productivität hineinzubringen, sondern es wird alles ein Lebloses mechanisches Auffassen. Wollte man damit anfangen, so nähme man eine Menge Fehler mit auf, die nicht rectificirt werden können, wenn nicht von jenen Elementen noch etwas ist. Da könnte man sagen das sey eine verkehrte Maxime, dann hätten die Kinder nicht die richtige Vorstellung von den Sprachelementen und producirten diese falsch, und man ließe das seyn und finge gleich mit der Satzbildung an, so brächte man alles Falsche in die Sprache hinein. Das ist keine wesentliche Folge, sondern von dem lebendigen aus, wo die wirkliche fortschreitende Thätigkeit, kann man eben so gut rückwärts gehen als vorwärts, und wenn man in den Satz selbst die Beugungen der beyden Hauptbestandtheile des Satzes unterscheidet so liegt die grammatische Entwicklung darinn, und hat man dieß durch einen gewissen Cyclus durchgeführt, so wird man schon zu dem Einzelnen übergehen. Fängt man aber mit dem Todten und Abstracten an wo bey den Kindern nicht gegenwärtig ist die lebendige Anwendung, so kann da keine wirkliche Productivität seyn. Da ist also die eigentliche Hauptsache, daß man mit den Kindern ausgehe von dem Ziel, das man erreichen will zu dem Anfangspunkt, daß man nicht den rechten Punkt überspringt, sondern alles

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was wirklich Abstractes vorkommen muß, das muß schon in der Beziehung auf das Lebendige vorkommen. Noch auf einen anderen Gegenstand angewendet: Nehmen wir das Rechnen so wie es in dieß Gebieth gehört, das an der Zahl haftet, es ist nichts anderes als: es sind alles verschiedene abgekürtzte Formen für das Zählen vorwärts und rückwärts, denn alle eigentlich arithmetischen Aufgaben liegen darinn, das Ganze besteht in der Auffassung für die Methoden dieser abgekürtzten Processe. Das Zählen an sich ist nichts anderes als die beständige Wiederholung der Einheit wo aber jede Wiederholung ihren besonderen Nahmen bekommt, um von den anderen unterschieden zu werden. Das ist etwas Todtes. Fängt man damit an, so ist man auf dem rein mechanischen Wege. Anfangen muß man bey dem Lebendigen, das ist hier nichts anderes als die Beziehung auf Gegenstände, es muß die Nothwendigkeit und Natürlichkeit des Zählens in der Beziehung auf die Gegenstände liegen, und so muß die Operation mit wirklichen Gegenständen anfangen. Dann kann man erst zu dem Abstracten in den Zahlen kommen. Die Kinder müssen anfangen von wirklichen Gegenständen die arithmetischen Aufgaben zu lösen. So wie die Sache diese Form hat, so ist es eine lebendige Thätigkeit und so kömmt darauf an, diese in ihrer Ursprünglichkeit zu fassen. Dann werden sich die verschiedenen Typen der Rechnungsweise von selbst in ihrer gegenseitigen Beziehung entwickeln, und dann wird man mit den Zahlen hernach an und für sich arbeiten können, und so wie man die natürliche Fortschreitung nicht verfehlt, und keine Sprünge macht, so ist man des Gelingens sicher. | Betrachten wir mehrere der neuen Methoden, so finden wir die beyden Fehler häufig, daß sie über den lebendigen Anfangspunkt hinausgingen und mit dem todten anfingen. Nun kann hernach die Regelmäßigkeit in der Fortschreitung und der Genauigkeit in der Aufeinanderfolge den Schein einer raschen Entwicklung das lebendige Intresse hervorbringen. So bey der Pestalozzischen Rechnungsmethode. Aber es hält auf die Dauer nicht, weil es erstlich ursprünglich von dem eigentlich Lebendigen getrennt ist, hernach aber deßwegen die Fortschreitung von einem solchen unendliche Langeweile machen muß daß das Intresse, das erregt wird durch die Leichtigkeit fortzugehen, sich verzehrt an dem Mißverhältniß von dem Weg der durchlaufen wird und dem Resultat. Wenn man das Princip so faßt, so entsteht gleich ein Dilemma, aus dem das Princip selbst den Ausweg gibt. Die Auffassung [und] Hervorbringung müssen bey einander seyn, und die 39 müssen] muß 31 Schleiermacher bezieht sich auf Pestalozzi (1803–1804) [SB 2477, 2692].

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Fortschreitung vom Einfachen zum Zusammengesetzten ist Übung der Fertigkeiten, und so hat jedes seinen Grund, und es ist in jedem einzelnen eine Vervollkommnung bis ins Unendliche möglich. Wo diese Operation schneller geht, so ist sie vollkommener. Da fragt sich: Wie soll das Verhältniß gestellt [seyn] zwischen diesem Intensiven und dem Fortschreiten in Beziehung auf das Ende der ganzen Bildungszeit? Da ist eine Maxime man soll nicht von einer Übung zur anderen schreiten bis die erste zur Vollkommenheit gelangt ist (Zeichnen – Original.) Daraus entsteht ein Mißverhältniß mit der Aufgabe. Man kommt so nicht zu Ende. Sagt man, man muß von der einen Aufgabe zu der anderen fortschreiten, so wie das längere Bestehen auf der größeren Vollkommenheit kein lebendiges Intresse mehr gewährt, so kann man in ein Schleudern hinein kommen. Allerdings eine Schwierigkeit in dem Dilemma was die Fortschreitung betrifft. Denn es ist sehr natürlich, daß es Reactionen gibt, wenn eine einseitige Maxime bis auf einen gewissen Grad ist getrieben worden. So hat man in der jüngstvergangenen Zeit mehr auf den Glanz und Schein gesehen, auf eine schnellere Fortschreitung zu entwickelteren Aufgaben und darüber die gründlichen Elemente versäumt. Kann aber alles Allgemeines in dieser Beziehung aufgestellt werden? Überall im Unterricht muß es Abschnitte geben, wo man zum Vorigen zurückkomme. Diese müssen zum Correctiv dienen in Beziehung auf das Versäumte – aber sie können das nur, nur wenn man sich die Negation von diesem Extrem schon zur Regel gemacht hat. Dann können diese Wiederholungen ihren Nutzen haben daß man sieht wo eine unzureichende Vollkommenheit in den ersten Übungen ist. Offenbar ist in der Jugend die Neigung größer, es bis zur Vollkommenheit zu bringen. In der Fortschreitung selbst in der die Einfachheit immer wieder vorkommt, fehlt es nie an Gelegenheit das zu bemerken, dann wird es nothwendig dem Einzelnen solche Nachholungen aufzugeben; und diese werden auf irgend eine Weise außer der Schulzeit zu legen seyn. In Beziehung auf alles was in der Familie selbst anticipirend erscheint – sey es gleichgültig was für eine Methode gebraucht wird – weil der Gegensatz zwischen Ernst und Spiel noch nicht festgestellt sey. Zugleich ist es eine ganz andere Sache in der Familie wo die Anzahl der zu Unterrichtenden gering ist. Nun soll hier in der Schule die größere Strenge seyn, diese erfordert auch eine größere Gleichförmigkeit. Denn so wie der Einzelne müßte besonders behandelt werden so wird es nicht mehr möglich seyn die Strenge in der Ordnung festzuhalten. In einer großen 3–4 Vgl. SW III/9, S. 424: „Man kann auf einem einzelnen Punkte fest stehen bleiben und bloß intensiven Fortschritt bezwekken; man kann das einzelne schneller beseitigen um den extensiven Fortschritt, das Aneignen des ganzen Gegenstandes zu befördern.“

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Menge ist aber immer die Ungleichheit etwas nothwendig vorauszusetzendes. Wenn wir uns das Princip der Continuität in der Fortschreitung in irgend einem Stande auf das aller consequenteste durchgeführt denken, wie werden die Störungen zu beschwichtigen seyn, wo die Ungleichheit das QObigeR hervorbringt? Auf den ersten Anfang zurückgesehen finden wir es kann keine solche Gemeinschaft entstehen, wenn nicht eine Maxime bereitsteht, über das was man von den Kindern fordert, ehe sie in die Gemeinschaft treten. Es wird aber immer schwer seyn, das mit Genauigkeit festzuhalten – es wird solche immer geben die mehr mit bringen als andere und so ist eine Ungleichheit. Diese werden unbeschäftigt seyn müssen, während die anderen das meiste erwerben oder die anderen werden nicht nachkommen. Der Aufgabe wird nie aus dem Wege zu gehen seyn, daß man fragen muß wie soll der Nachtheil verhütet werden, der aus der Ungleichheit der Subjecte entsteht? Wie wird es aussehen wenn die Volksschule ihre Jugend ausleitet an das Geschäftsleben? Sollen alle vollkommen gleich aus derselben herausgehen? Es wird das niemand wünschen und verlangen, es liegt die Ungleichheit in der Natur und ist in der Gesellschaft einer der bedeutendsten Hebel. Je größer die Gleichheit wäre desto weniger wäre ein Bedürfniß zur Gemeinschaft und so mehr die Neigung sich zu isoliren. Wir haben nicht nöthig Formen zu suchen wenn wir Verfahren aufstellten wodurch die definitive Ungleichheit unmöglich gemacht würde, sondern nur auf die Weise die Ungleichheit so wenig wie möglich nachtheilig gemacht werde in Be ziehung a u f d a s f o r t w äh r e n d e B e ys am m e nse y n und den F ortschritt d e s G a n z e n . Hier auf die zwey entgegengesetzten Punkte zu sehen. Es lassen sich nähmlich zwey entgegengesetzte Maximen denken. Die eine man muß am meisten für diejenigen sorgen, die am schnellsten fortschreiten die werden am meisten auszurichten im Stande seyn in der menschlichen Gesellschaft. Die langsamer fortschreitenden von der Natur schon bestimmt auf der niedrigen Stuffe zu bleiben. Das die Maxime der B e gü n s t i gu n g d e s Ta lents durch die A rt de s Ve r f a h r e n s . Die andere: Man muß sich für die am meisten beschäftigen, welche am meisten zurück sind. Weil die anderen sich selbst helfen können. Die M a x i me d e r U n t e r s t ützung d er S chw a chheit. Wa s ist wohl die richtige? So wie wir uns eine nur von beyden einseitig befolgt denken, so muß auf der einen Seite die Ungleichheit immer mehr zunehmen, | beym umgekehrten nimmt dieses zu, daß für die Kräftigeren diese Gemeinschaft Null wird. Was ist hier die natürliche Ausgleichung da wir das eine nicht billigen können und nicht das 5 hervorbringt?] hervorbringt. gehen.

15 entsteht?] entsteht.

17 herausgehen?] heraus-

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andere? Wenn wir sagen wollten: man muß suchen die überschießende Kraft in einigen, da sie sonst würde in Unthätigkeit seyn zur Unterstützung der Schwachen zu benutzen, so würde diese Entwicklung der Ungleichheit gehemmt, für die schneller Fortschreitenden aber entsteht dadurch eine Übung in dem was sie in der Folge in der Gesellschaft werden zu leisten haben, auf die Schwächeren zu wirken. Eine andere Ausgleichung schwerlich aufzustellen, wodurch beyden genügt werden kann. Aber das nur eine ganz allgemeine Formel, die auf besondere Weise ich nicht billige was man die Methode des w echselse i ti g e n Un t e r r i c h t s heißt. Hier scheint nur alles mechanisirt zu werden. Da ist die Grundlage ein Übel, nur in so fern dieses geschehen kann ohne ein die Methode abminderndes und in ihrem Wesen alterirendes zu seyn, möchte ich sie annehmen. Wir werden hier alles vorige anknüpfen können. Denn wenn einige so zurück bleiben daß man sagen muß es würde bedenklich seyn fortzuschreiten, und es ist eine Nachhülfe nöthig, so haben wir gesagt diese Nachhülfe sey außer die Schule zu legen. Bey dieser Nachhülfe diejenigen in Thätigkeit zu setzen für die anderen welche die überwiegendste Fortschreitung erreicht haben denn die anderen bekommen dadurch die beste Anschauung für die Differenz zwischen diesen und jenen. Es bringt die Stärke zu einer gewissen Klarheit des Bewußtseyns, wenn sie in die Mittheilung übergehen und practisch zeigen sollen, wie die Lücke zwischen der größeren Unvollkommenheit und dem größeren Gelingen auszufüllen ist. Nun folgt daraus wenn die Anzahl der Zurückgebliebenen sehr klein ist, dann wird es gut seyn es zu einer Privatsache zu machen doch immer unter der Controlle des Lehrers, ist sie aber groß, dann ist es natürlich, daß die Fortschreitung zu einem neuen Gegenstand im Allgemeinen noch nicht geschehen kann und daß dann gerade hier die Resolution und Nachhülfe der weiter Fortgeschrittenen in Thätigkeit gesetzt werden. Allerdings aber liegen hiebey noch andere Voraussetzungen zu Grunde ohne welche daraus schwerlich was gedeihliches entstehen könnte, das sind e t h i s c h e . Auf der einen Seite muß 10 heißt.] am Rand: Lankastrischer Unterricht 8–10 Vgl. die in England von Joseph Lancaster und Andrew Bell eingeführte Methode des „wechselseitigen Unterrichts“: Bell, Andrew: An Experiment in education, made in the Male Asylum of Madras, London 1797; The Madras School or Elements of tuition, Part 1–3, London 1813; Lancaster, Joseph: Improvements in education, as it respects the industrious classes of the community; containing, among other important particulars, an account of the institution for the education of one thousand poor children and of the new system of education, on which it is conducted, London 1806. Für die Rezeption der Methode in Deutschland siehe Natorp, Bernhard Christoph Ludwig: Andreas Bell und Joseph Lancaster. Bemerkungen über die von denselben eingeführte Schuleinrichtung, Schulzucht und Lehrart, Essen/Duisburg 1817.

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vorausgesetzt werden, daß keine Aufgeblasenheit und Selbstgefälligkeit entstehen, auf der anderen Seite daß sich nicht eine Autorität dadurch bildet, welche dem Verhältniß aller unter einander nachtheilig werden könnte. Das erste wird wenn man die Sache zweckmäßig einrichtet nicht leicht der Fall seyn. Man muß immer darauf achten, daß in der schnelleren Entwicklung in so weit sie auf Naturgaben beruht, immer viel Bewußtloses sey. Beruht die Entwicklung auf einer größeren Thätigkeit des Willens, dann ist auch viel weniger Gefahr, daß Selbstgefälligkeit daraus entstehe, eine Tüchtigkeit der Gesinnung bedarf nur einer gewissen Aufsicht um nicht auszuarten. Die bestimmte Anschauung von der nur natürlichen Verschiedenheit kann am meisten solches hervorbringen. Aber da kann man etwas auf die Bewußtlosigkeit rechnen, sie werden sehen wie wenig sie selbst davon wissen wenn sie [es] mittheilen sollen, und erscheinen sich selbst wieder als Anfänger, und es bedarf nur einer gewissen Aufgeschlossenheit der Lehrer, daß das seine rechte Wirkung nicht verfehle. Was den zweyten Punkt betrifft daß sich nicht eine Autorität bildet, findet seine Grenze schon darinn wenn das Verhältniß kein bleibendes ist, sondern nur in gewissen Zeiträumen eintritt so wird die Erinnerung daran bald vertilgt. Denn damit sich nicht eine solch persönliche Autorität bildet, wird es gut seyn in Beziehung auf die persönlichen Verhältnisse zu wechseln. Hiebey noch eine Frage betreffend die Methode: In wie weit soll dann wenn man auf das constante Zusammenleben in der Schule sieht das Bewußtseyn der Ungleichheit unter den Einzelnen festgehalten und begünstigt werden? Die Frage verfrüht in Beziehung auf eine gewöhnliche Praxis, nähmlich die einer Rangordnung unter den Schülern, welche sich auf die Entwicklung legt. Wenn man das als eignes Bildungsmittel ansieht liegt ein falsches Motiv darinn, und setzt damit die Vergleichung und damit die Eigenliebe ins Spiel, wogegen man auf der anderen Seite sagen muß, es wäre sehr gut dieses nicht wirklich zu machen in so fern es auf der Differenz der Naturgaben beruht. Daher sey es heilsam dasselbe wirklich zu machen in wie [fern] es auf der Treue und Willigkeit zur Anstrengung beruht. So wie dann Bestimmung aus den Erfolgen hervorgehen soll, kann das eine vom anderen nicht gleich gesondert werden. (Dagegen doch die Überzeugung der Lehrer). Wo eine Ungleichheit eintritt, da ist es bedenklich, eine Willkühr zu befolgen, weil der Lehrer selbst in eine Ungleichheit 27 legt] legen

35 gesondert] sondert

20–22 Vgl. SW III/9, S. 430: „Was den z w e i t e n Punkt betrifft, daß sich keine nachtheilig wirkende Autorität bilde: so findet das von selbst seine Grenze darin, daß das Verhältniß kein bleibendes ist, sondern nur in einzelnen Abschnitten eintritt.“

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sich setzt was dem Achtungsverhältniß Abbruch thun muß. Dagegen scheint es natürlich daß auch in dieser Hinsicht die Gemeinschaft nicht als bewußtlos darf erscheinen – das gänzliche Unterlassen einer solchen Bemerkung scheint auch wieder sein Bedenkliches zu haben. – Nur noch über einige besondere Punkte in der gewöhnlichen Praxis meine Meynung. Das erste betrifft die Sorge[:] Wenn bey uns es gefordert wird von zwey verschiedenen Seiten aus die Kenntniß und den Gebrauch der Buchstabenschrift überall unter dem Volk zu verbreiten, und das Lesen und Schreiben in der Schule erst gelehrt wird. Die nähmlich sehr weit verbreitete Praxis die Buchstaben in der Familie zu verlangen. Hier hat man ein Geschichtsbuch als Material gebraucht. | In der c a t h o l i s c h e n Ki r c h e findet es freylich nicht statt aber in der e v a n g e l i s c h e n wo die h e i l i ge Sc hrif t allen eigentlich offen steht, und da diesen empfohlen wird da ist es die Kirche, welche den Wunsch hat, daß alle lesen können. Der zweyte Hauptpunkt ist der, daß die K e n n tn i ß d e r Ge s e t z ge b u n g die Kenntniß der Buchstaben erfordert. Welches ist nun von beyden das Richtige? Es ist keine Kunst beydes mit einander zu vereinigen, sehr leicht ein Wechsel, das eine und andere. Was das Lesen der Bibel in der Schule betrifft so liegt das Alte Testament wohl sehr weit von dem was die Absicht der evangelischen Kirche ist vom Gebrauch der Bibel ab, es wird auch kaum eine rechte Fertigkeit auf diesem Wege gegeben, wegen der vielen fremden Nahmen. Das Neue Testament ist freylich die zum Grund liegende Idee in unserer Kirche daß dieß allen bekannt werde. Allein wir wissen wie schwer dieß ist ohne eine Anleitung, die doch immer etwas Wissenschaftliches voraussetzt, ein richtiges Verständniß. Wird das unterlassen, so werden diese heiligen Bücher der Jugend schon zeitig zum todten Buchstaben. Das wird ihnen zwar hernach belebt werden, wenn sie in den eigentlichen Religionsunterricht hineinkommen, aber es ist schwer, nicht zu vergleichen mit dem verderblichen Mechanismus der durch das oft todte Lesen entsteht. Die Ehrfurcht vor dem Buche sollte gegen einen solchen Gebrauch desselben einnehmen. In einer früheren Periode hatte man dieß berücksichtigend an sogenannte Schulbibeln gedacht, Auszüge zum Gebrauch der Schulen. Bey solchen Auszügen kommt freylich sehr viel auf das Princip an, nachdem man sie macht und es ist dabey große Vorsicht nöthig. Allerdings ist das wiederholte Hin und Herreden darüber etwas mißliches, 6–9 Vgl. SW III/9, S. 431 (Zusatz): „Wenn bei uns gefordert wird von zwei Seiten aus, die Kenntniß und den Gebrauch der Buchstabenschrift überall unter dem Volke zu verbreiten, und doch die Kinder der großen Masse das Lesen erst in der Schule erlernen: woraus sollen diese Uebungen genommen werden?“

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und daher das Ganze mißlich. Aber etwas anderes was man häufig im Gebrauch findet: Volksmäßig behandelte biblische Geschichten aus dem Umkreise des Neuen Testaments stehen gerade auf dem Standpunkt der Jugend, das gibt eine erwünschte Bekanntschaft mit den Gegenständen und Personen. Nur haben wir die eigentliche G es c h i c h t e aber aus dem Gebieth der Volksschule ausgeschlossen. Ein ganz anderes aber ist ein eigentlicher Geschichtsunterricht und eine Auswahl von vaterländischen Geschichten, wobey sich das traditionelle Bewußtseyn damit einschließt. Da ist eine Analogie der Form – verbindet man beydes so hat man ein Material (für das man die Form hat) welches nun nachher nicht wieder verloren gehe. Das wäre also die Fortschreitung vom ersten Anfang an welche auf diesem Gebieth zu machen wäre. Wenn wir aber sagen der Gebrauch der Sprache zum Lesen verhält sich zum Gebrauch der Sprache zur eigentlichen Mittheilung wie Receptivität und Spontaneität, so muß also nothwendig ein Zusammenhang seyn zwischen beyden Übungen. Der Gebrauch der Sprache geht aber dem Volke ganz verloren außer im Kreise des Geschäftslebens, die Geschäftstradition liegt aber außerhalb der Schule, der Ort dazu ist die Familienordnung, welche immer bleibt. Das muß also auch mit einer Productivität getrieben werden. So stellt sich also für das Schreiben eine solche Fortschreitung dar, daß daraus folgt es muß angefangen werden bey den logischen Elementen, hernach übergehen in den Gebrauch der Sprache zum Behuf des täglichen Lebens. So haben wir im Schreiben und Lesen einen solchen Cyclus der nichts ausschließt was in Zukunft hier so lebendig bleibt, und auf die künftige Bestimmung Rücksicht nimmt, ohne jedoch von der formellen Form der Übungen nachzulassen. So hätten wir also den eigentlichen Kreis der Volksschule durchgemacht. Wir haben aber 2–5 In Schleiermachers Bibliothek befanden sich: Feddersen, Jacob Friedrich: Biblisches Lesebuch für Kinder von reifem Alter, Leipzig 1782 [SB 654]; Hebel, Johann Peter: Biblische Geschichten. Für die Jugend, Bd. 1–2, Stuttgart/Tübingen 1824 [SB 2382]; Kohlrausch, Friedrich: Die Geschichten und Lehren der Heiligen Schrift alten und neuen Testaments, zum Gebrauch der Schulen und des Privatunterrichts, Bd. 1–2, 2. Aufl., Halle 1812 [SB 2433], sowie 3. Aufl., Halle 1816 [SB 2434]. 11– 13 Vgl. SW III/9, S. 433 (Zusatz): „Vo ra n g e h e n m u ß d i e s e n U e b u n g e n i m L e s en d i e g ei s t i g e G y m n a st i k , d. h. Uebung die sich auf das lebendige logische Verständniß der Sprache bezieht, damit der Verstand durch das lebendige Wort geübt und so das Verständniß des geschriebenen eingeleitet werde. Zwekkmäßige Bücher, die ihren Stoff aus dem Cyklus entnehmen den wir oben für die geistige Gymnastik bezeichnet haben, sind deshalb zum Grunde zu legen um die Verstandesübungen fortzusezen. Und nur in Verbindung mit diesem Material und sich anschließend an Leseübungen aus Büchern welche die Verstandesbildung zu fördern geeignet sind, werden die Uebungen im Lesen aus biblischen Geschichten und dem vaterländischen Geschichtsbuche ihren Zwekk erfüllen. Es ist dies die einzig richtige Fortschreitung die auf diesem Gebiete zu machen ist.“

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gleich Anfangs gesagt, daß es auch eine andere Form derselben gebe, die schon etwas von der höheren Bildung mit in sich führe, und das, was wir bey der großen Masse des Volkes voraussetzen im Wesentlichen aber den Charakter der Volksschule beybehalte. In so fern hier die Rede ist von höheren Kenntnissen so wird das erst vorkommen wenn wir diese höhere Bildungssphäre in ihrem ganzen Zusammenhang betrachten. Einmal beruht die doppelte Form der reinen Volksschule und derjenigen welche mit Elementen der höheren Bildung besetzt ist bey uns auf dem Unterschied zwischen der lä ndlichen und s t ä d t i s c h e n L e b e n s w e i s e . Je mehr dieser Unterschied noch besteht, desto mehr werden die Formen neben einander seyn. Wenn man aber diesen Unterschied als einen verschwindenden ansieht so wird diese Dupplicität auch mehr verschwinden und dann also eintreten neben der größeren Ausgleichung dieser zwey Klassen unter sich eine strenge Sonderung der beyden Klassen. Das erste wäre aber weniger der Fall als es scheinen müßte. Es ist offenbar wenn der Unterschied zwischen dem ländlichen und städtischen geringer wird so erfolgt offenbar ein Hinaufsteigen des ländlichen, eine Erweiterung des ganzen Cyclus der Bildung. In wie fern es zweckmäßig ist Elemente der gelehrten Bildung hineinzubringen wir bis jetzt nicht beurtheilen können. | Die Erziehung ist allerdings immer ein gleichmachendes Princip, gegenwirkend gegen die von einer anderen Seite her sich entwickelnde Ungleichheit; sie ist gleichmachend, in so fern sie erhebend ist. – Der Hauptgesichtspunkt von dem wir ausgingen war die Richtung der ganzen Generation um die Regierenden und Regierten. Der Unterschied ist nur relativ weil in jeder Form schon ein regierendes Princip liegt, und das absolute der Verschiedenheit schon aufgehoben ist. Aber je weiter sich das Mitregieren so herunter verbreitet, desto mehr 11–15 Vgl. SW III/9, S. 434–435: „Gehen wir aber davon aus, daß man diesen Unterschied mehr und mehr als einen ver|schwindenden ansehen muß, und daß die Gesezgebung und der Gang der Gewerbe ihn aufhebt: so wird auch diese Duplicität verschwinden. Wenn aber nun diese beiden Formen in eine verschmolzen werden: so scheint dann ein Mittelglied zwischen Volksschule und höheren Bildungsanstalten zu fehlen und eine vollkommnere Sonderung, eine Steigerung des Gegensazes einzutreten.“ 29–7 Vgl. SW III/9, S. 435: „Je weiter sich das Mitregieren herunter verbreitet: desto mehr müssen innerhalb desselben Abstufungen entstehen, s o d a ß a l s o n i c h t d e r U n t e r s c h i e d v o n d em g es c h i c h t l i c h e n S t a n d p u n k t d e r R e g i e r e r f e s t z u h a l t e n i s t , s o n d er n d er U n t er s c h i e d z w i sc h e n d e m A n t h e i l a n d e r R e g i e r u n g d e r l o c a l i s t , u n d d e m j e n i g e n w e l c h e r si c h a u f e i n g rö ß e r e s p o l i t i s c h e s G a n z e e r s tr ek k t . Wenn nun die regierte Klasse herauf gebildet wird: so wird auch dieser Unterschied immer geringer werden, und es wird bei der Volksbildung darauf Rükksicht zu nehmen sein, daß einzelne aus der Volksschule zu einer höheren Bildungsstufe übergehen werden.“

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müssen Abstuffungen entstehen, so daß wir nicht daraus folgern, daß der geschichtliche Standpunkt dieser sey, auf dem jemand stehen muß, aber wenn wir uns noch etwas weiter hinaus denken und die Commune vor allem noch stärken, so wird dann auch dieser Unterschied wieder geringer werden und es wird immer bey der Volksbildung Rücksicht genommen werden müssen, in eine solche Richtung der Gesellschaft übergehen zu können. Etwas wichtigeres als dieser Unterschied zwischen der reinen Volksschule und der die schon höhere Elemente in sich aufgenommen hat, ist daß wir fragen: Wenn die Volksschule ein so bestimmt organisirtes Ganzes ist welches einen eignen Typus der Bildung festhält aber ganz auf demselben Standpunkt des Regiertwerdens und Mitwirkens zum allgemeinen Wohl auf dem Wege der Geschäftsführung wie können wir bewirken daß dieß durch einen solchen Übergang möglich sey? Wenn das ganz wenig besetzt wird und die Volksschule vollkommen in einen Typus abgeschlossen so liegt alsdann in der öffentlichen Erziehung ein hemmendes Princip, statt daß sie ein Förderungsmittel für die weitere Entwicklung seyn sollte. Es fragt sich also: Was ist hiegegen zu machen? Die Tendenz auf Gerathewohl andere Elemente in diesen Kreis einzuführen und die Jugend erst daran zu versuchen ist etwas Bedenkliches, weil sie dem festen Ganzen zu sehr Abbruch thut, und wenn wir fragen worauf beruht denn das Vertrauen des Volkes zu den öffentlichen Bildungsanstalten, so folgt daraus je mehr sie noch in einem beschränkten Kreise leben und in dem sich Regierenlassen bewegen, um so mehr beruht dieß Vertrauen der Gleichmäßigkeit in welcher sie selbst gebildet wurden, jede auffallende Neuerung hebt dieß Vertrauen einige Zeit auf. Ein solcher Zwischenzustand ist immer etwas revolutionäres. Wie läßt sich die ganze Organisation aber so einrichten oder verwalten, daß sie beyden Aufgaben genügt? Wir müssen eine Form als die Grundform annehmen, das sey die wie wir sie uns bis jetzt gezeichnet haben. Viele Volksschulen entsprechen dieser nähmlich nicht. Aber das muß nicht ein so unbewegliches werden daß es ganz jede fortschreitenden Elemente hemmte. Hier können wir nicht anders als wir müssen die Sache in größerem Zusammenhang betrachten. Es ist immer ein natürliches Sachverhältniß zwischen dem Gang der Volksentwicklung überhaupt und den Fortschritten der Erziehung. In dem ersten ist ebenfalls etwas Periodisches, ein regelmäßiger Gang, und dann treten auf einmal im allgemeinen Leben solche Entwicklungsknodten ein wo sich hier auf einmal etwas Neues gestaltet. Wie verhält sich das Bildungswesen der heranwachsenden Generation in dieser Form? So lang [ ] 33 als] als als 40 lang] es folgt ein Spatium von reichlich einer halben Zeilenlänge, zu ergänzen wohl die Entwicklung des Volkes ihren ruhigen Gang geht, wird es (vgl. SW III/9, S. 437)

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nur einzeln seyn, daß sich einzelne aus der Volksklasse zu einer höheren Stellung klassificiren. Wir müssen den Zusammenhang der Volksklasse mit der bürgerlichen Gesellschaft so organisiren, daß beyde ihr Recht bekommen. In diesem Zustande ist es nicht eine veränderte Organisation welche besonders aus der Berücksichtigung solcher Ausnahmen hervorgehen muß. Wenn nun alles was eigentliche Entwicklung ist vom Volke mehr von dem Privatleben und der freywilligen Vereinigung der Kräfte ausgeht, wird es hiemit auch so der Fall seyn und daraus folgt es muß der Volksschule zur Seite stehen eine solche Vereinigung der Kräfte um einzeln hier die Entwicklung zu begünstigen. | Wenn alles mehr von der Regierung ausgeht, dann wird diese die Anstalten treffen müssen, ausgezeichnete Einzelne die sich zur höheren Ausbildung qualificiren in dieser Beziehung zu begünstigen. Wenn wir uns die Volksschule getheilt denken in die ländliche und städtische so werden wir eine große Ungleichheit finden. In Beziehung auf die ländliche wird nicht daran gedacht, daß da einzelne seyn können die sich zu höherer Ausbildung qualificiren, und ist in ihnen nicht der Trieb, daß sie einen eignen Weg einschlagen, so gehen viele so der Gesellschaft in gewisser Hinsicht verloren. In der städtischen Volksschule haben wir die entgegengesetzte Erscheinung. Ein Hinzudrängen zur höheren Bildung vermittelt durch die Elemente der höheren Bildung – hierinn der Grund daß so viele schlechte Individuen sich dahinn drängen wegen des Scheins der Leichtigkeit des Auffassens. In unserem gegenwärtigen Zustande also liegt ein Mißverhältniß. Auf der einen Seite zu wenig für die Begünstigung ausgezeichneter Einzelner, auf der anderen Seite zu sehr der Übergang in die höheren Bildungsanstalten erleichtert ohne daß ein richtiges gemeinsames Urtheil da zum Grunde läge. Da wäre eine größere Ausgleichung der beyden Schulen zu wünschen. Der Fehler liegt darinn daß man die städtische Volksbildung und die ganzen städtischen Gewerbe hier höher hält als die ländlichen. Dieß führt uns auf Gegenstände die noch weiter entfernt scheinen. Zuerst muß es bewirkt werden durch das rechte Verhältniß derer welche unmittelbar das Lehramt zu führen haben zu dieser Aufgabe. Dieses hat man freylich immer allgemein angesehen, wenn gleich nicht in dieser allgemeinen Beziehung daß die da lehren nicht nur mehr wissen sondern auch mehr lehren müssen als sie eigentlich zu lehren haben. Wir haben vorausgesetzt wir können keine solche streng angestammte Ungleichheit annehmen. Das kann sich nicht eher zeigen als in dieser Periode des Schulunterrichts und niemand kann es wahrnehmen als der Lehrer. Also muß ihnen das Ge2 klassificiren] klassificirt

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schick einwohnen die verschiedenen Grade der Fähigkeiten der Einzelnen einzuschätzen, und ihr Urtheil muß Gültigkeit haben um unterstützende Maaßregeln herbeyzuführen. Wie wird eine solche Urtheilsfähigkeit erworben? Dazu keine bestimmte Methode und Formel, es ist eine Sache der Menschenkenntniß, daß kann nur erworben werden im Umgang mit den Menschen selbst weil es Produkt der Erfahrung ist – 2. wenn wir uns denken es tritt das Bedürfniß ein, den ganzen Unterrichtskreis der Volksschule zu erweitern so wäre ein großes Übel, wenn damit müßte eine gänzliche Veränderung des ganzen Personals verbunden seyn, also sollten die Lehrer auch eine solche Erweiterung zu leisten fähig seyn, ihr Wissen sollte über den bestimmten Cyclus des zu leistenden hinausgehen, ein Punkt, dem wieder von anderen Gesichtspunkten aus so widersprochen wurde. Man hat gesagt, es werde hiebey solche geben welche besonders in diesem beschriebenen Kreis so zufrieden sind wenn sie sich darüber hinaus heben. Nimmt man es rein practisch so folgt daraus es läßt sich nicht nachweisen daß die Unzufriedenheit eine nothwendige Folge wäre von dieser über das uebliche hinausreichenden geistigen Entwicklung, auf der anderen Seite macht jeder seine Kräfte gerne gelten in der Welt, dazu ist ja aber zugleich das ganze übrige Leben. Dieses muß nicht im Beruf geschehen, sondern auch im übrigen Leben aber der Beruf nimmt doch viel Zeit weg von dem übrigen Leben [und] leistet selber Genugthuung. Worauf scheint also dieses zu deuten? Je mehr man Ursache hat, eine steigende Entwicklung vorauszusetzen, desto mehr muß [dieß] auch schon in der Generation die das Leben bildet Regel geworden seyn, und um desto mehr im Volk selbst Gelegenheit in den geselligen Verhältnissen [seyn] ein höheres Maaß von Kräften geltend zu machen, und dieses hat das Verhältniß vielmehr so zu stellen, daß daraus folgt der Volksschullehrer muß der gebildetste und entwickeltste Mann im Volke seyn, aber seiner ganzen geistigen Beschaffenheit nach ist es nicht nöthig daß er noch einem anderen Kreis angehört denn für das Volk muß seine Thätigkeit in Anspruch genommen werden. Wenn man freylich annehmen muß, daß die heranwachsende Generation fortschrittlicher wird so ist es gerade dieser Überschuß den der Volksschullehrer in seiner Gewalt hat. Je weniger im Volk selbst Entwicklung ist, um desto weniger darf auch der Schullehrer haben, mit einem Wunder gehts nicht zu daß eine größere Entwicklung gefor11 ihr] sein

31 er] über der Zeile seiner geistigen Beschaffenheit nach

13–16 Vgl. SW III/9, S. 439: „Man hat nun gesagt, Je mehr die Lehrfähigkeit über den bestimmten Kreis hinausgeht, desto weniger werden die Lehrer mit dem beschränkten Kreise zufrieden sein, sondern sich nach einem höheren sehnen.“

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dert wird. Wenn man nun von diesem Maaßstab ausgeht, so folgt daraus daß die Forderungen an den Schullehrer steigen, je mehr das geistige Leben im Volk selbst steigt, aber natürlich werden im Volke selbst dann solch Individuen zu finden seyn, die das leisten was hier zu verlangen ist und nun zurück auf die Frage die hier die entscheidende ist, nämlich[:] Bedarf es also nachdem die ganze Bestimmung übersehen haben besonderer Anstalten zur Bildung derjenigen welche das Lehramt in der Volksschule bilden sollen und wie müssen diese beschaffen seyn, wenn es solche geben solle? | Diese Untersuchung liegt eigentlich außer unserem Kreis, doch gehört hinein da es doch auch Bildungs- und Erziehungsanstalten sind. Wir haben hier die Frage nur im Allgemeinen zu beantworten. Es hat Zeiten gegeben wo dergleichen Anstalten gar nicht waren. Man kann aber nicht sagen, daß das Volk in diesen Zeiten rückwärts gegangen wäre, aber es waren dieß Zeiten, wo eine rasche Entwicklung weder vorauszusehen war, noch wirklich eintraf. Fragen wir also kann man solche Anstalten entbehren, so möchte ich antworten sie lassen sich aber unter der Voraussetzung daß eben eine Fortschreitung nicht zu erwarten sey, aber auch unter dieser Voraussetzung möchte ich nicht sagen daß es der beste Zustand sey, wenn es an solchen Anstalten fehlt, nur zu entschuldigen durch den M an ge l an M i t t e ln oder Impulsen. Hiebey auf zweyerley[,] darauf daß der Lehrer das inne hat was er in der Jugend erwecken soll, und daß er die Fähigkeit hat auf die Jugend in dieser Beziehung zu wirken. Das erste kann man immer voraussetzen daß das erste die erwachsene Generation auch wirklich besitzt. Was aber nun die Fähigkeit auf die Jugend zu wirken betrifft so müssen die doch alle Eltern auch haben, und die werden doch nicht dazu gebildet, es entwickelt sich von selbst, es ist eine bestimmte Form der allgemeinen menschlichen Gesellschaft. Wenn man also voraussetzt daß sich das alles im Kreis der Familie von selbst entwickelt, kaum besondere Anstalten für die Schule, da ist nur ein Unterschied der größeren Masse und strengeren Ordnung, welches letztlich schon Erleichterung ist, und ebenso wenn die Masse die lebendige Einwirkung auf die Einzelnen erschwert so ist doch in der Menge selbst ein belebendes und bewegendes Princip und jeder kommt in der Gemeinschaft weiter als für sich selbst. So können wir sagen[:] Jeder der seinen Behuf als Vater einhält so sollte man denken es sollte keine große Anstrengung seyn müssen zum Schullehrer. Da kann man sagen: Besondere Anstalten dazu können entbehrt werden, und ersetzt werden durch die geschickte Auswahl von denen, in denen die nöthigen Bedingungen vorhanden seyn müssen. Aber das gilt freylich nur unter 34 selbst] selbst liegt

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dieser Voraussetzung. Wenn hingegen eine bedeutende Fortschreitung in der Entwicklung [ein]tritt, dann ist auch die Differenz größer zwischen denen in der erwachsenen Generation die dem am nächsten stehen was die kommende Generation wird zu leisten haben und der Totalität der Masse, doch die Auswahl geringer und überläßt man die Sache sich selbst so entsteht ein Mangel, durch eine Fürsorge zu beheben und die liegt im Entstehen solcher Anstalten. Gehen wir von dieser Voraussetzung aus und uns die zwey Maximen wieder vorhalten so folgt daraus zuerst ja das ist wahr wenn man einmal annimmt, solche Anstalten müssen da seyn, weil sonst nicht Männer genug da seyn würden denen man die Leitung der Kinder anvertrauen kann, so werden sie sich überfrachten wenn sie so beschaffen sind daß ihnen bey ihrem Geschäfte eine zu große Menge von Kenntniß übrig bleibt, in dem sie die erworbenen Künste nicht benutzen können. Diese Maxime scheint aber den QverdächtigenR Charakter nur hemmend zu haben. Das ist aber eigentlich nicht, wenn man recht versteht, die Maxime bedeutet nur daß die Entwicklung soll auf die Gegenstände selber gerichtet werden welche im natürlichen Gange der Fortentwicklung liegen. Das allgemeine Princip will ich auf einige besondere Fälle anwenden um deutlicher zu werden. Wenn wir auf die verschiedenen Unterrichtsgegenstände die wir der Volksschule angewiesen haben zurückgehen so finden wir, daß sie da anders behandelt werden müssen, als wo es auf eine eigentlich Wissenschaftliche Erkenntniß abgesehen ist. Wir haben A r i t h m e t i k und G e o met rie in den Volksunterricht hineingezogen aber so, daß niemand hat einfallen können daß die Arithmetik [so] verfahren soll daß wir uns den Begriff der discreten Größe aufstellen und mit der Buchstabenrechnung etc. anfangen. Das wäre die wissenschaftliche Art, aber dieß führt zu nichts, daß wir in der Arithmetik uns den Begriff der discreten Größe aufstellen als dasjenige womit wir eigentlich handeln sollen und so mit der Geometrie – das wäre die Wissenschaftliche Art, aber wenn man sagt, da soll aber der Volksschullehrer weiter seyn, und er selbst soll das Wissenschaftliche davon innehaben um das populäre daran vorzubringen, das ist etwas was nicht in dem Bedürfniß liegt, aus dem wir uns die besonderen Bildungsanstalten construirt haben. Ebenso haben wir von der N at u r ge s c h i c h t e und allem was dazu gehört auf bestän17 bedeutet] beeutet

28 dieß] dazu

28 wir] man

30–31 Geometrie] Arithmetik

14–16 Vgl. SW III/9, S. 442: „Wenn wir nun in Beziehung a u f d i e B e s c h a f f e n h e i t d e r Vo r b e r e i tu n g sa n st a l t e n f ü r Vo l k sl e h re r die Maxime aufstellen, daß sie nicht die Lehrer auf eine solche Weise ausbilden mögen daß diesen bei Ausübung ihres Geschäfts ein Stachel bleibt, weil sie die erworbenen Kenntnisse nicht verwenden können: so wollen wir damit nicht denen zustimmen welche den Fortschritt hemmen wollen.“

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dige Weise Erfahrungen zu machen gehandelt und dem S prachunt e r r i c h t . Wollte man da sagen um den recht zu treiben muß der Volksschullehrer die allgemeine Grammatik inne haben so liegt das ganz außerhalb der Aufgabe des selben[,] nähme er ganz andere Kenntnisse hinein und die Fortschreitung unmittelbar wird niemand eine unmittelbare Anwendung davon fordern, also kann das nicht die allgemeine Aufgabe seyn. Also liegt nicht im Beruf solcher Anstalten, daß sie eigentlich wissenschaftliches mittheilen sollen. | So wie einer das wissenschaftliche in sich aufgenommen, und in diesem Charakter [wirkt], so ist es unangemessen dem ganzen Zustand der Gesellschaft daß er hernach in einem solchen Kreis einer Beschäftigung bleiben soll, und ist das doch geschehen so ist es eben ein Mißv erst ä ndniß, das dabey zum Grunde liegt oder eine E i te lkeit derer die solche Anstalten leiten. Mit Nichten sieht das aus wie eine hemmende Maxime. Man könnte fragen: Soll man nicht jedem Menschen so viel geben als er auffassen kann, und was würde die eigentliche wissenschaftliche Ausbildung der Volksschullehrer schaden? Es wird ihnen freylich nichts schaden, es würde nichts schaden wenn alle Bauern es eben so gut inne hätten es gehört eine andere Art von Gesellschaft dazu so daß sie nicht ungetheilt diese Kenntnisse in anderer Beziehung auf einer anderen Stuffe als andere die jene nicht haben. Ich habe nichts dagegen ab e r der Zustand der Gesellschaft dann zu verändern, daß keine Mißverhältnisse entstehen. Sind also erst von oben herunter die Wissenschaften für alle, dann laßt sie auch zu den Volksschullehrern zum Volke kommen. Da ist die Sache anders gestaltet. Das Mißverständniß ist dieses daß man sich den Lehrstand zu sehr als eine besondere Klasse denkt und das Lehren immer auf die ersten Principien zurückführt das ist etwas Unrichtiges. So wie man davon ausgeht, kann man den Satz aufstellen. Es ist einer ein schlechter Lehrer wenn er nicht das vollkommen in seinen innersten Gründen inne hat was er lehren soll. Aber das Lehren ist nur Erw eit erung und bestimmte G e s t a l t u n g de r M it t h e i l u n g, dieses ist also allgemein und kann gedacht werden in ihrem Lehren. Das Lehren aber in Beziehung auf die allgemeinen Principien gedacht, da ist das Lehren nicht das ursprüngliche, sondern das Lehren aus Pincipien. Die wissenschaftliche Richtung und Bildung ist etwas für sich, aber nicht was 20 ungetheilt] ungeheilt 33–35 Vgl. SW III/9, S. 443–444: „Das Wissen | der innersten Gründe geht hervor aus einer Beschäftigung mit den Principien; bezieht es sich auf die Principien: so ist das Verkehr mit diesen die Hauptsache, und nicht das Lehren; dies ist nicht der wesentliche Ausdrukk des Verkehrs mit den Principien, sonst würde folgen daß niemand sich wissenschaftlich beschäftigen könne ohne zugleich zu lehren.“

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man allen Menschen anmuthen kann, nicht eher als bis alles vorherige da ist, das Lehren aber muß beständig und überall seyn aber nur nach Maaßgabe was Mittheilbares in einem gewissen Kreise ist. Hier würden also die Ansichten so aus einander gehen, daß die eine sagen müßte[:] Es gibt eine bestimmte Auswahl des menschlichen Geschlechts in jedem Volke die dieß geleistet die Wissenschaft zu haben und auch zu lehren durch alle Stuffen der Gesellschaft. Die andere sagt: Es gibt in einem Volk zwar sich relativ von den übrigen sondernde Abtheilungen welche zugleich verschiedene Stuffen der geistigen Entwicklung darstellen, innerhalb dieser eine bestimmte Tradition. Diese soll durch die Lehrer gewirkt werden, wo die Erkenntniß nicht das Wissenschaftliche ist da soll auch das Lehren nicht wissenschaftlich seyn, sondern [es] beruht nur auf dem lebendigen Innehaben dessen was gelehrt werden soll, das Lehren aber nur eine Fähigkeit, das was in diese Klasse hineingehört zweckmäßig mitzutheilen, da beruht es nur auf dem klaren und vollständigen Innehaben dessen was da gelehrt werden soll, nicht daß man es auf einer höheren Stuffe habe, diese Lehrer sollen es nur so inne haben, daß sie der Mittheilungen fähig sind, aber das beruht nicht auf dem Wissenschaftlichen Innehaben. Es ist noch ein Punkt zu berücksichtigen, der von bedeutendem Einfluss auf diese mögliche Erweiterung der Volksschulen, das ist nähmlich der Termin, in welchem die Jugend aus der Bildungsanstalt heraustreten soll. Wir haben nur die Grenzen ohne weitere Bestimmung so gesetzt, für diese das Ende der Schulbildung zugleich der Übergang in die Geschäftsbildung. Aber die Jugend zeitig aus der Schule herauszunehmen, desto weniger ist daran zu denken daß der Kreis der Volksschule erweitert werden kann, das ist nun aber politische Sache oder durch freye Einwirkung der Eltern. Es hängt dieß zum Theil mit dem was gewöhnlich in Beziehung auf das persönliche Verhältniß der Jugend wenn sie in das Geschäftsleben ein[tritt] zusammen mit dem was in kirchlicher Bildung gefordert wird. Wir sind also mit dem Übergang von der eigentlichen Volksschule [beschäftigt,] auf der anderen Seite mit der Geschäftsbildung haben wir hier nichts zu thun. So muß die Familienwirkung fortgesetzt werden, und das Gewerbe tritt ein wo das Theoretische aufhört. Wie verhält sich in Beziehung auf diese Periode die Bildung der Jugend die nicht zu der eigent35–36 Vgl. SW III/9, S. 445–446: „Nach dem Austritt aus der Volksschule ist die Erziehung überhaupt noch nicht beendet, sie geht wieder über in die Familie: aber es tritt nun überwiegend das eigentlich technische der Geschäftsbildung ein; mit diesem haben wir es hier nicht zu thun, es geht über die zweite Periode hinaus und fällt der | dritten anheim. Die Theorie der Erziehung kann aber überhaupt auf dieses technische, das rein in das mechanische Geschäftsleben hineinfällt, nicht Rükksicht nehmen.“

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lichen Volksmasse gehört? Wir haben uns die Sache im Allgemeinen so vorgestellt, daß auf einer Seite weil hier der Unterricht anknüpfen will an die frühere Verstandesbildung die Fortschreitung müsse dieselbe seyn. Auf der anderen Seite weil das Ende ein anderes ist sondern sich eine höhere Ausbildung an diese anschließt so könnte es auch eine Rückwirkung auf diese Periode geben. Hier lassen sich Fragen aufstellen ob nicht der Unterschied auch noch ein größerer, und mehr in die ganze Bildungsweise hineingehender seyn könne. Hier zurück auf die allgemeine Eintheilung in Beziehung auf die Bestimmung der Jugendzeit, die wesentliche Differenz die zwischen denen welche in der Klasse der Regierung bleiben, und die wir zu den Regierten gehörig [zählten]. Zwar nur relativer Gegensatz aber so wie wir ihn gefaßt haben, steht uns doch fest gleich so wie das Regieren selbst in der bürgerlichen Gesellschaft selbst große Abstuffungen vorfindet, so folgt daraus die Masse die uns übrig bleibt ist uns zu groß als daß alle auf das politische sehen könnten. | Zwischen denjenigen, welche den Ackerbau treiben und denen welche durch den Besitz der Wissenschaft an der Leitung Theil nehmen liegt noch eine bedeutende Klasse in der Mitte. Der Unterschied zwischen Stadt und Land müßte immer geringfügiger werden. Sondern abgesehen von den unmittelbar und politisch Regierten gibt es eine Klasse welche einen bedeutenden Einfluß auf eine große Menge von anderen Menschen ausübt dadurch daß sie die Gewerbe [betreiben] aber in einem größeren Styl, mit größerem Aufwand von Kräften, so daß sie mechanische Arbeiten unter sich haben. Dieses ist immer schon mit dem Vertrieb durch Handel auf eine oder andere Weise verbunden und hat einen Anknüpfungspunkt für die außerhalb des Staates liegenden Verhältnisse, wozu auch andere Bildungselemente erfordert werden. Es läßt sich schwer durchführen und gibt nie reine 16 alle] alle können

17 treiben] treibenden

29–7 Vgl. SW III/9, S. 447–448: „Es läßt sich auch schwer durchführen, wenn ein solcher Einfluß wie der eines Fabrikherrn auf seine Arbeiter nicht auf der Differenz der Bildung beruht; denn bloße Abhängigkeit von Privatverhältnissen kann nicht auf eine ruhige und heitere Weise ertragen werden: es wird immer Zwang oder Willkühr sich geltend machen wenn nicht ein Unterschied der Bildung das ganze Verhältniß auf eine natürliche Weise gestaltet.We n n n u n j e n e d i e a u f d e m h ö c h s t e n g e s c h i c h t l i c h e n S t a n d p u n k t st e h e n , e i n e n ä h e re B e z i e h un g z u r Wi s s e n s c h a f t h a b e n , un d d i e s e d i e i m G e w e rb sl e b e n re g i e re n , e i n e n ä h e r e B e z i e h u n g z u m pr a k t i s ch en H a n d e l n : so e i g n e t j e n e n e i n e g rö ß e r e f o r m a l e , d i e s e n | e i n e g rö ß er e m a te r i a l e B i l d u n g . Die höhere formale Bildung soll in den Bildungsanstalten gepflegt werden die im Boden der Wissenschaft wurzeln; in der Mitte zwischen diesen und der Volksschule liegt dann das was wir I I . D i e B ü r g e r s c h u l e im höheren Sinne des Wortes nennen.“

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Verhältnisse, wenn ein solcher Einfluß wie der eines Fabrikherren auf seine Arbeiter auf keinem Unterschied der Bildung beruht. Das die Ansicht der Sache von Seiten dessen welcher hier den Standpunkt der mit dem Regieren etwas Analoges hat, so wie die Beziehung auf die Verhältnisse des Handels und Geschäftsbetriebes im Großen – größere Formale und größere Materiale [Bildung] hierinn liegt die Beziehung dessen was wir B ü r ge r s c h u l e im höheren Sinne nennen wollen. Zwischen der Volksschule und denen welche im Boden der Wissenschaft wurzeln; wie die Abgrenzung? In Beziehung auf die Volksschule die Frage zu beantworten liegt es in der Natur der Sache daß bis auf einen gewissen Zeitpunkt die Jugend welche für die Bürgerschule bestimmt ist, den selben Gang vorher gehe, oder ist schon ein gewisser Unterschied von Anfang dazu nöthig, und in Beziehung auf die Wissenschaften soll in dieser mittleren Periode die Wissenschaft ganz ausgeschlossen seyn? Die Frage nur zu beantworten mit Hinsicht auf einen gegebenen Bildungszustand und einen vorhandenen Typus nach dem die Bildung der Jugend getrieben wird. Diejenigen denen der natürliche Ort die Bildung der Jugend ist durchlaufen einen größeren Kreis als die Jugend der Volksschule. Aber dann geht ihre technische Bildung an, indem sie in irgend einen Zweig des Handels bestimmt hineintreten wovon die allgemeinen Principien im Kreise der Schulbildung liegen. Hingegen den anderen steht die Bildung auf Universitäten noch bevor. Aber nun hängen die Kenntnisse welche diejenigen erworben haben müssen die in die höheren Gewerbe übergehen an der Wissenschaft, an der Naturwissenschaft auf der einen Seite an der Sprachwissenschaft, wenn auch nur neuere Sprachen, – freylich auch auf eine nicht streng wissenschaftliche Weise zu erwerben – auf empirische Weise durch Übung, und so [entsteht] eine Kenntniß von allen Materialien und Processen welche in den verschiedenen Gewerben vorkommen ohne wissenschaftliche Naturkunde zum Grunde sondern so daß dieses nur eine Erweiterung ist dessen was von dieser Art auch schon in der Volksschule vorgekommen ist. Hier sehen Sie wohl daß die Frage auf der einen oder anderen [Seite] nur bedingt zu beantworten ist. Je leichter es ist aus dieser Klasse überzugehen oder mit dem thätigen Leben in dieser Klasse zu verbinden, desto wünschenswerther wird es seyn, daß auch dieser Theil der Jugend alle leitenden Principien in seine Gewalt bekommt. Je strenger dieß aber gesondert ist 30 ohne] oder 36–37 Vgl. SW III/9, S. 449: „daß auch dieser Theil der Jugend, der zunächst für das höhere Gewerbsleben bestimmt ist, in den Besiz aller leitenden Principien gesezt werde.“

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desto weniger ist es nöthig für Wissenschaft zu bilden. Dazu noch: Je mehr es für nothwendig gehalten wird daß alle die einen Antheil am Regieren bekommen sollen die Wissenschaftliche Laufbahn müssen durchgemacht haben, desto mehr würde jenes vorausgesetzt daß denen welche im höheren Gewerbsleben versiren die wissenschaftlichen Principien mitgegeben würden, damit sie in jene Klasse übergehen können. Es hängt also viel von den politischen Verhältnissen ab wie sich diese höhere Volksklasse gestalten wird. So viel im Allgemeinen: Je mehr auf der einen Seite eine Unangemessenheit statt findet zwischen der Form und dem Zuschnitt der Bildung und dem was hernach im eignen Leben vorkommt, desto mehr wird sich Todtes im übrigen Leben finden. Je mehr aber ein streng dem Bedürfniß angemessener Typus in verschiedenen Formen festgehalten wird, desto mehr wird die Erweiterung der bürgerlichen Verhältnisse und die Annäherung der verschiedenen Klassen an einander erschwert. Aber dieß nur allgemeine Formeln, nach denen man beurtheilen kann, welches unter den verschiedenen Verhältnissen der vernünftigste Gang der Bildung ist. Im ganzen nördlichen Deutschland stehen wir auf dem Punkt einer Änderung. Da ist es nothwendig daß man auf die Principien geht worauf dieß beruht. Die Principien der historischen Bildung [und] die Kenntniß der allgemeinen Sprachen sind bisher so allgemein getrieben worden, daß [sie] bis in die Volksschule gekommen sind, wogegen aus dem allgemeinen Unterrichtssystem die Naturkenntnisse ausgelassen gewesen und ganz in die technische Bildung verwiesen worden sind. Was ist daraus entstanden, und was ist das Princip davon gewesen? Zweyerley nachtheiliges daraus entstanden: daß vieles von dem Unterrichtsstoff mit dem sich die Jugend beschäftigt hat hernach völlig todt für sie ist. „Man zöge diese Bildung vor wegen seiner größeren formalen Kraft, möge der Stoff dann wenig gebraucht werden“aber nach diesem Princip wurde nicht von Anfang an gehandelt. | Wir haben einen anderen Canon aufgestellt, keinen Stoff zu unterrichten der hernach wieder verschwindet. Also ein nachtheiliger Zustand der Gewerbe in welche die Jugend überginge wäre die zweyte nachtheilige Folge. Was hat denn bey dieser Handlungsweise zum Grund gelegen so folgt daraus es hat bey uns diese Methode nicht eben ihren ersten Grund gehabt aber eine neue Befestigung bekommen durch die Reformation. In den evangelischen Gegenden ein fest gewordener Typus, wobey zum Grunde lag, daß man das als die allgemein menschliche Bildung aufstellen wollte, woraus die Reformation ihren ersten Ur29 gebraucht] gebrauchen

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sprung genommen hatte, auf der anderen Seite hatte man eine große Sorglosigkeit in Beziehung auf die materielle Entwicklung des Volkes von dem Gewerbe aus was auf der anderen Seite der Grund und eine Bewußtlosigkeit die in politischen Stuffen ihren Grund hatte auf dem diese Klasse stand. Was wird gewonnen, wenn die eine oder andere bis zu gewissen grammatischen Elementen generell in den sogenannten lateinischen Schulen getrieben wird so können wir nicht sagen daß der Erfolg groß sey das Materielle geht bald verloren, das Formale, die Kenntniß von dem Bau der Sprache was zurück ginge auf den Zusammenhang des Grammatischen mit dem Logischen, die Wurzel aller formalen Bildung. Aber soll man darüber Rechenschaft geben, weßwegen dazu eine alte Sprache den Vorzug habe vor der Muttersprache (Wenn diese im Unterricht recht getrieben würde), so glaube ich nicht daß man sich Rechenschaft darüber geben kann. Man kann sagen eine Sprache deren Gesetze so leicht zu durchschauen sind, wie die Lateinische einen großen Vorzug haben müsse vor einer Sprache wie der unsrigen, die eigentlich zweyfachen Ursprungs ist, allerdings aber ob nun das wirklich in die mittleren Schulen schon mit hineinge18 wirklich] wirklich schon 1–11 Vgl. SW III/9, S. 451–452: „Auf der anderen Seite war eine große Sorglosigkeit in Beziehung auf die materielle Entwikklung des Volkes hinsichtlich der Gewerbe der zweite Grund, eine Bewußtlosigkeit in der Gesammtaufgabe der pädagogischen Thätigkeit, zusammenhängend mit dem niedergedrükkten Zustand in welchem in Folge politischer Verhältnisse die Gewerbetreibenden sich noch befanden. Es blieb ganz dem Zufall überlassen, ob es geschähe oder nicht, daß sich ein umfassenderes Gewerbsleben, eine höhere Gewerbsthätigkeit von dem bloß mechanischen Gewerbsleben aus entwikkeln würde. Als sich neue Kräfte entwikkelten, führte man sie nicht alsbald in die Bahn einer gesunden pädagogischen Entwikklung, und das bloß mechanische in den engsten Grenzen umschlossene Gewerbstreiben war ohne Interesse für diejenigen die im Besiz der leitenden Principien waren. D er Zu s t a n d i st a l so e i n u n v o l l k o m m e n e r ; d i e a l t e n S p r a c h e n a l l e i n u n d f ü r a l l e g l e i c h m ä ß i g z u m G ru n d e d e r a l l g e m e i n m e n s c h l i c h e n u n d g es e l l s c h a ft |l i c h e n B i l d u n g z u l e g e n , i st e i n d e m L e b e n n i c h t a n g e m e s s e n e r B i l d u n g st y p u s. Dasjenige woraus zunächst diese Art der Bildung hervorgegangen war, ist offenbar ein unhaltbares und ungenügendes, und was Veranlassung zu ihrer Verbreitung gab, ein unzulässiges und schädliches gewesen. Andere Gründe sind erst später untergelegt worden, und auch der Grund daß die alten Sprachen der geeignetste Stoff für die allgemeine Bildung seien, hat sich nicht in der Erfahrung bewährt. Eine Veränderung des Bildungstypus ist in jeder Weise indicirt. Zur B e g r ü n d u n g d i e s e s U r t h ei l s fügen wir dieses hinzu. Was kann wol dadurch gewonnen werden, wenn die eine oder die andere der alten Sprachen in den niederen sogenannten lateinischen Schulen getrieben wird? Man bringt es gewöhnlich doch nur bis zur Einübung der grammatischen Elemente. Der Erfolg davon ist ein sehr geringer; das Materiale anzuwenden giebt es hernach keine Gelegenheit. In formaler Beziehung wäre der Nuzen die Kenntniß des Baues der Sprache, des Zusammenhanges des grammatischen und logischen. Freilich ist dies der Grund aller formalen Bildung;“

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hört, und von der besonderen Beschaffenheit der Sprache ein wahrer Nutzen gebracht wird, das stellen wir dahinn. Da müßte [man] auch immer sagen, wenn man da die lateinische Sprache ganz wegließe dagegen die Muttersprache als Unterrichtsgegenstand weiter triebe und damit diejenigen Kenntnisse verbinde die im Gewerbsleben selbst der Grund von aller Regel der Mathematik sind so würde in Beziehung auf das Formale bald viel mehr erreicht werden. Doch noch einen anderen Gesichtspunkt hier zu bewerkstelligen. Wir sind von dem Grundsatz ausgegangen daß es einen angestammten Unterschied in Beziehung auf die Entwicklungsfähigkeit nicht geben wird. Wenn die Sprachen des Alterthums die Basis der gelehrten Bildung sind, so könnte sich der eine und andere qualificiren zu höherer Bildung, sonst kommen die Qualitäten nicht zum Vorschein. Allerdings etwas [wahres] aber immer soll ein Verhältniß zwischen Zweck und Mittel [seyn], und es ist eine Art von Opfer das die anderen alle darbringen müssen. Es kann und wird ein ausgezeichnetes Talent zu den eigentlichen intelligenten Stuffen in der Gedankenentwicklung – das Unterscheidende der wissenschaftlichen Bildung liegt eigentlich in der Art wie die Operation des Denkens vollbracht wird. Wenn wir die Sache so betrachten so folgt daraus es sey eine bessere Richtung die man gegenwärtig einschlägt, in dem man sagt daß für die höhere Gewerbstreibende Klasse seyen die alten Sprachen keineswegs die eigentlichen Elemente ihrer Bildung, das liege im zweckmäßigen Unterricht der Muttersprache und der Mathematik der Basis alles Physikalischen. Wie entwickelt sich uns denn von hier aus der ganze Typus? Wir haben hier wiederum auf unsere Weise auf der einen Seite die Vergleichung anzustellen über den Cyclus der Bildung wie bisher auf der anderen Seite mit dem Ziel der öffentlichen Bildung mit der Bestimmung die wir uns vorgezeichnet haben. Soll ein Unterschied statt finden zwischen dieser und der gehobenen Bildung so würden [wir] dann auch hier noch anzuknüpfen haben an die Art wie diese Gegenstände im allgemeinen Volksunterricht behandelt werden, als auf die ersten Principien zurückzugehen. Wir müssen hier unterscheiden die zwey Hauptgebiethe des Sp r achunt errichts der seiner Ansicht nach formal ist und das Reale üben, das formale das physica6 sind] ist 28 Ziel] Cyclus 35–1 das formale das physicalische und das reale das naturkundliche] das naturkundliche das formale, das physicalische und das reale 10–13 Vgl. SW III/9, S. 453: „Wenn man nun festhalten muß, daß die Kenntniß der alten Sprachen die Basis der wissenschaftlichen Bildung ist, aber auch aus der Masse Individuen sich zu dieser Entwikklungsstufe hinaufschwingen können: so scheint auch der mittleren Klasse besonders dieses Mittel woran sich die Liebe zu den Wissenschaften offenbaren kann, vorgehalten werden zu müssen.“ 33 Vgl. SW III/9, S. 454: „weniger auf die ersten Principien der Wissenschaft zurükkgehen.“

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lische und das reale das naturkundliche so daß sich beydes auf einander bezieht. In der Sprache sind die allgemeinen Principien nichts anderes als die l o gi s c h e n . Aber kein solches Zurückgehen wie es der eigentlichen wissenschaftlichen Bildung geziemt, da muß das logische selbst nicht so als ein Gegebenes gestellt werden, sondern es muß begreiflich gemacht werden aus höherem metaphysischen Zusammenhang, aber freylich den Zusammenhang des Grammatischen und Logischen müssen wir im Auge behalten, diesen hatten wir auch in der Volksbildung, hier also nur eine Erweiterung. Ebenso haben wir es mit der Mathematik gehabt daß in Beziehung auf das Arithmetische das Zahlensystem und in Beziehung auf die Geometrie die Formenlehre getrieben werden aber ohne auf die wissenschaftlichen Principien zurück zu gehen. Auf demselben Wege würde man hier auch fortzugehen haben; denn in der eigentlichen wissenschaftlichen Mathematik verschwindet jene Methode ganz, und die eigentliche Geometrie erscheint als ein unendlich kleines und ist aus ganz anderen Gesichtspunkten aufzufassen; denn die höhere Mathematik hat es doch gleich mit dem Krummen zu thun in allen seinen Modificationen, und alles gerade liegende erscheint bloß als Hülfslinie nicht als für sich. Hier gibt es ein Wissenschaftliches in der höheren Bedeutung, was ganz ausgeschlossen werden kann. | Das läßt sich vollkommen leisten nach einem anderen Weg als dem in der Volksschule. Eben so wenn wir auf das Arithmetische sehen, so folgt daraus wenn wir das Verfahren mit der Zahl vergleichen mit der sogenannten Buchstabenrechnung, so erscheint die letztere nur als A bkürzung der ersten, in dem ein Unendliches von concreten Größen gefaßt wird, doch etwas anderes wenn die Buchstabenrechnung von discreten Größen hergenommen wird, diese wissenschaftliche Behandlung kann hier ganz ausgeschlossen werden. Wenn der Sprachunterricht auf diese Weise fortgesetzt wird mit solchen Übungen die zugleich logisch und wo es darauf ankommt, richtige Gedankencombinationen auszuführen in größerem Umfang und das Vermögen das Unrichtige zu erkennen geübt wird, also nicht ohne grammatische und logische Critik – aber immer hier schon Annäherung an das eigentlich Wissenschaftliche, ohne daß es eben Gegenstand des Unterrichts wäre und das ohne das medium der alten Sprachen. Das ist offenbar je mehr [Raum] auf mittleren Schulen den alten Sprachen eingeräumt wird desto mehr wird dem Mathematischen und den realen Kenntnissen entzogen. Hier zwey ganz verschiedene höhere Kenntnisse, das was mehr Neigung zum Mathematischen, Naturgeschichtlichen in seinem ganzen Umfang hat, das andere mehr zum Metaphysischen – also werden beyde Arten von Talenten Gelegenheit haben, sich zu entwickeln wenn sie da sind; da kann man nun sagen daß es Schuld der Methode sey, wenn

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man sagen wollte[:] Ja ein solches höheres Talent komme nun erst am Ende heraus, das würde nur die Schuld der Methode seyn; denn in Beziehung auf die Fortschreitung kommt es nicht darauf an, wie zeitig der Unterricht anfange sondern er muß der Entwicklung gemäß seyn. Was nun das M at e r i al betrifft so hatten wir in der Volksschule ein zweyfaches, das G e s c h i c h t l ic h e und das G eog ra phi sche, woran sich das N a t u r h i s t o r i s c h e anschloß bisher nur fragmentarisch in Beziehung auf die beschränktere Bestimmung. Nun würden wir also dießes beydes hier ebenfalls zu erweitern haben wie in einem Stande wo schon mehr oder weniger kosmopolitische Vermögen eintreten, nothwendig ist. Es scheint aber als ob hier noch ein Gegenstand hinzukommen müßte das P h ys i k al i s c h e und das Chemische. Alle Operationen, mit denen der Gewerbsbetrieb in so fern er nicht rein mechanisch ist, versiren in diesem Gebieth und haben es mit Naturkräften und hauptsächlich mit dem chemischen Proceß in seinen verschiedenen Gegenständen zu thun. Das also ein neu hinzukommender Gegenstand; rein wissenschaftlich kann und soll mehr nicht betrieben werden, er entsteht uns hier nur in dem wir auf den Endpunkt sehen. Aber daß wir diese Gegenstände aus dem Gebiethe der Volksschule ausschließen hat den Grund nur in dem fragmentarischen Charakter des Ganzen, denn das Physicalische und Chemische schließen sich eben so sehr auf der einen Seite an das Ganze an, wie das Naturhistorische; denn wenn wir die Geographie mit dem Bild der ganzen Erde beginnen, und die climatischen Differenzen mit in Anschlag bringen, so gibt es keine sinnliche Anschauung als auf die Verschiedenheit der Atmosphäre, Wirkung von Licht und Wärme, also Physikalische und Chemische Processe. Damit haben wir auch die Bestimmung auf welche Weise diese Gegenstände hier betrieben werden müssen, nähmlich rein von diesem Gesichtspunkt aus, immer anschließend an das ursprüngliche Geschäft der Sinnausbildung wenn aber ein ziemlich ausführlicher Grad von Ausführung dieser Gegenstände sich denken läßt. Noch ein neues Element kommt in dieser Zeit hinzu. Das Mittheilen der Kenntniß über die Sprachen wo natürlich nur von den lebenden Sprachen und von denen die in Verkehr kommen die Rede seyn kann da können zweyerley Maximen aufgestellt [werden] in Beziehung auf den Umfang die eine die der Sp arsa mkeit die andere der Ve r b r e i t u n g . Es kommt hier auf die richtige Methode an. Je länger diese zum Ziel führt, desto schneller wird man in den Wirkungskreis 37 Vgl. SW III/9, S. 458 (Zusatz): „Man kann sich nämlich an eine bestehende Form haltend eine Hauptsprache lehren, von der man glaubt daß sie im Geschäftsleben die allgemein verbreitetste ist; oder man hält es für zwekkmäßiger mit jedem Volke in seiner eigenen Sprache Verkehr möglich zu machen. Es kommt alles auf die Methode an in der die einzelnen Gegenstände getrieben werden.“

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gezogen. Es läßt sich hier ein Verfahren denken ohne Vernachlässigung des Wissenschaftlichen schnell zum Ziel führend. Wir können nähmlich die lebenden Sprachen eintheilen in G erma nische und Ro m a n i s c h e . Natürlich nicht rein vom wissenschaftlichen gefordert, aber doch durch die Verhältnisse unterschieden. Die Germanischen schließen sich an die Muttersprache an, die N ordischen wozu D ä n i s c h S c h w e d i s c h [ ge h ö r t ] . Die Eng lische ist die gemischteste von allen. Die Romanischen bilden einen Kreise für sich, sie können auch in comparativer grammatischer Anleitung umfaßt werden – unter den Romanischen das Sp an i s c h e , Port ug iesische, It a lienis c h e und F r an z ö s i s c h e . Ein großer Vorzug ist wenn man es durch eine Methode dahinn bringen kann, sich an die Maxime der Verbreitung anzuschließen. Dieß ist auch in politischer Hinsicht wünschenswerth. Nun lassen sie uns die Sache von dem anderen Punkte ansehen, in den wir das Ende dieser Bildung einbeziehen. Es sollten aus der so gebildeten Jugend diejenigen hervorgehen, welche Handel und Gewerbe in größerem Umfang und Commerciellem Gewinn betreiben. Solche haben [für] viele von ihnen Abhängige also ein bedeutendes Gewicht in der Commune der sie angehören, und es ist zu erwarten, daß sich das öffentliche Vertrauen der Bürger auf sie wende. Sie werden also von dieser Seite immer eines politischen Einflusses sich erfreuen. Auf der anderen Seite in der Staatsverwaltung müssen viele Kenntnisse denjenigen welche die Staatsaufsicht | über diesen Theil des öffentlichen Wohles zu führen haben und denen welche die Gewerbe betreiben gemeinschaftlich seyn. Es gibt auch viele administrative Thätigkeiten wozu keine höhere wissenschaftliche Laufbahn von nöthen ist. Wenn aber diese Forderung doch gemacht wird, so kommt es größtentheils daher weil es an solchen Anstalten bisher gefehlt hat. Geschieht aber diesen Anstalten ihr Recht, so wird der Staat einen großen Theil seiner Beamten von hier nehmen können. Daraus entsteht um so mehr die Aufgabe, die Unterrichtsmethode unbeschadet der Gründlichkeit möglichst abzukürzen. Die Erweiterung der allgemeinen Volksbildung ist am größten in diesen Anstalten in Beziehung auf die N a t u r k u n d e . Es kommt aber hier nur auf eine Cla ssif ica t i o n an, welche empirisch ist, es wird zugleich darauf ankommen von oben herab, den Behörden, ein Princip aufzustellen. Das untergeordnete Zusammenfassen bis in die Arten der Gattung hinein. Je mehr wir für diese mittlere Bildungsstuffe das Empirische nicht nur erweitern und veredeln nach dem Begriffe, desto mehr bleibt das Charakteristische der höheren Bildung ausschließend das specula t iv e. Es müssen in diesen mittleren Bildungscyclus so viel Vorstellungen hineinkommen als ohne das Speculative zu erwerben geschehen kann. Diesem scheidenden Princip gegenüber werden wir freylich die Auf-

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gabe stellen, ob nicht die Möglichkeit gelassen sey von dieser Bildungsstuffe aus einen Übergang in die höhere Bildung zu finden. Die größte Umfassung des aus einander gesetzten finden wir in den Anstalten der neuen Zeit besonders in denen welche man die polytechnischen genannt hat. Der Nahme ist passend. Nur das Poly deutet zu sehr auf das fragmentarische. Es soll hier nicht bloß als Aggregat zusammengebracht werden das was in der Natur des Bildungsprocesses schon liegt sondern auch das wodurch er vervollständigt werden kann. In Beziehung auf das Gebieth der Naturkunde ist ein übler Zustand das, daß der wissenschaftliche Zustand auf den man bey der Anlage der Bildung doch sehen muß noch sehr wandelbar und schwankend ist. In der letzten Zeit wenn wir von Linné anfangen haben die Natursysteme so schnell gewechselt daß man zweyfelhaft ist, woran man sich halten soll. So auch in der Naturwissenschaftlichen Physik. Für eine eigentliche speculative Naturwissenschaft ist das gar kein Anfang, in dem was man auch sonst wissenschaftliche Physik nennt, hat man die wesentlichen Naturprocesse in ihren verschiedenen Thätigkeiten dargestellt und die Naturkräfte hypothetisch aus ihnen construirt – mechanische und chemische Physik. Mit was soll man hier anfangen? Jede Entscheidung ist hier willkührlich. Das höchste wäre auch hier das Comparative, das Zusammenstellen der einzelnen Hypothesen, woraus die Thätigkeiten entstünden einzelne Phänomene aus diesem oder jenem Gesichtspunkt zu betrachten. Es müssen nähmlich auf dieser Bildungsstuffe eine Reihe von Abstuffungen seyn, und dieß Comparative muß das Höchste seyn. Hat man dieß im Auge, so wird es mehr gleichgültig seyn, wie man auf den untergeordneten Stuffen verfährt. Es muß nur die Anknüpfung an das Gegebene statt finden. Dasjenige System zu Grunde zu legen, was am meisten in das Technische schon hineingehört, und dann in welchem System am meisten das Princip einer Stuffenweisen Entwicklung wäre. Daher was am meisten nach innen Systematisch entwickelt ist. Ist ein System an7 das] daß

23 diesem] diesem oder diesem

2–5 Die zu Schleiermachers Zeit international angesehenste Schule dieser Art war die Pariser École polytechnique, die 1794/95 gegründet wurde und im Zuge der einsetzenden Industrialisierung als Vorbild galt für die Errichtung polytechnischer Schulen in Deutschland, wie in Nürnberg (1823) und Karlsruhe (1825). 12–14 In Schleiermachers Bibliothek befanden sich Linné (1790) [SB 1152], (1797) [SB 1153] und (1825– 1826) [SB 1154]. In Konkurrenz zu Linnés Natursystem stand der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon mit seiner „Histoire Naturelle, générale et particulière“ (Paris 1749–1804). Vgl. auch: Holbach, Paul Henri Thiry de: Système de la Nature ou Des Loix du Monde Physique et du Monde Moral, Bd. 1–2, London 1770 sowie Lamarck, Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet de: Encyclopédie Méthodique: Botanique, Bd. 1–8, Paris 1783–1808

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tiquirt so wird nichts mehr darauf bezogen, es entstehen aber immer neue Aufgaben. Dasjenige System, in welchem am meisten von den gegebenen Erscheinungen aufgenommen ist, wird den Vorzug verdienen, und also verdiente dieses nach beyden Gesichtspunkten den Vorzug. Für das Erlernen fremder Sprachen fehlt die Anknüpfung an die frühere Bildung. Da gibt es einen Anfang von vorn, da fragt sich, welche Methode soll man einschlagen? Die Analogie mit der Muttersprache, wobey das unmittelbare Leben zu Hülfe kommt, oder mit der wissenschaftlichen Erklärung der Sprache. Ich entscheide mich mehr für das erste. In Beziehung auf die nordischen Sprachen kann der Unterricht in der Muttersprache angeknüpft werden. Da ist dieser Weg schon indicirt. Was die Romanischen Sprachen betrifft so kommt auch hier das unmittelbare Leben zu Hülfe, indem sich theils in der Sprache des gemeinsamen Lebens und des technischen Lebens solche Elemente eingefügt haben. Da wird es immer für einen solchen empirischen Unterricht Anknüpfungspunkte geben, indem gleich das Lebendige vorgehalten und gleich die Aufgabe gestellt wird, Sätze zu bilden und zu decomponiren, so haben wir das Princip, wovon ein dem Unterricht der Muttersprache ähnlicher Unterricht ausgehen kann. Wenn wir auch nur zwey Hauptabtheilungen des Unterrichts statuiren die h ö h e r e , welche auf einem zusammenfassenden Princip ruht, und die bey welcher der Unterricht nur eine Erweiterung der Volksbildung ist, | so wird natürlich ein kleinerer mehr durch äußere Umstände begünstigter Theil der Jugend den ganzen Bildungskreis durch machen. Die anderen werden in der Mitte stehen bleiben zwischen diesen und denjenigen welche aus der Volksbildung unmittelbar in die mechanischen Thätigkeiten übergehen. In der neueren Zeit suchte man hier – und das ist wohlthätig – eine Ergänzung möglich zu machen, eine Na c h b i l d u n g ( n ac h h e l f e n d e S chule) für diejenigen, welche schon in das technische Leben eingetreten sind. Es läßt die Möglichkeit einen Theil der Kenntnisse nachzuholen, welcher auf der unteren Stuffe dieses Bildungs-cyclus verlangt wird, so daß die, in welchen noch mehr Bildungs- und Entwicklungsstoff ist als in der Schule zum Vorschein gebracht werden konnte, noch auf eine höhere Stuffe kommen können. Da aber der Gegenstände und des Stoffs so viele sind, so ist es die Hauptaufgabe und das unserem Zeitalter aufgegebene Studium, auf abkürzende aber die Gründlichkeit mehr befördernde als beeinträchtigende Methoden bedacht zu seyn. 7 einschlagen?] einschlagen. 2–4 Vgl. SW III/9, S. 462: „also würde immer das System das in die Praxis aufgenommen ist den Vorzug verdienen.“

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Noch einiges über den Umfang und den Gebrauch der verschiedenen Unterrichtsweisen in diesem Gebieth. Zunächst in Beziehung auf die M u t t e r s p r ac h e . Wenn wir davon ausgehen, was im ganzen Zusammenhang am Ende dieses Unterrichtscyclus vorkommt und dahinn zurückgekommen sind, daß es eigentlich das Fundament aller Bildung, welche nicht den höheren wissenschaftlichen Charakter hat seyn soll, so ist natürlich daß alle Unterrichtsgegenstände sich auf eine solche höhere steigern müssen, daß was der Extensiven gar nichts, sondern nur der wissenschaftlichen Behandlung fehle. Es ist hier durchaus das was wir Mittelstand im Allgemeinen nennen, dessen Bildung zu berücksichtigen, und zwar noch mehr als dieß; denn wo es noch einen angebornen Unterschied von politischer Bedeutung [gibt], so folgt daraus daß nicht alle diesem politischen Stande Angehörigen [sich] die wissenschaftliche Bildung aneignen, so wird auch ihre Beschäftigung eine solche erfordern. Wenn wir hievon ausgehen, so werden wir in Beziehung auf den Unterschied in der Muttersprache keine Grenzen zu stecken haben, sondern daraus folgt es soll die vollkommenste Kenntniß und Fertigkeit hier erreicht werden. Es wird sich also auch an den Unterricht in der Muttersprache auf der einen Seite alle Productivität darinn die nicht gerade zu wissenschaftlich ist anschließen und auf der anderen Seite alles was wesentlich Critik in Beziehung auf den Gebrauch der Sprache ist und in so weit es auf den Principien beruht, so werden auch die Principien der Interpretation und die eigentliche Kenntniß derselben hier mitzutheilen seyn. Da können wir uns das Ganze darstellen indem wir uns zwey Zielpunkte setzen, auf der einen Seite das vollständige Verständniß alles dessen was in der Muttersprache lebt, 2) die vollständige Fertigkeit sich selbst der Sprache mit vollkommener Sicherheit zu bedienen. Es gehört das vollkommene Verständniß dazu – also schließe ich die Kennt4 am] das

15 erfordern] erfordert

7–15 Vgl. SW III/9, S. 465: „A l l e U n t e rri c h t sg e g e n s t ä n d e d e r m i t t l e r e n B i l du n g s s tu fe s o l l en si c h e x t e n si v g a r n i c h t , i n t e n s i v n u r d a d u r c h v o n d e r Wi s s e n s c h a ft u n t e rsc h e i d e n , d a ß e s i h n e n a n d e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n B e g rü n d u n g u n d B e h a n d l u n g f e h l t . Die mittlere Stufe soll das Fundament aller Bildung sein die nicht auf dem höheren streng wissenschaftlichen Charakter beruht; sie ist nicht nur für den eigentlich sogenannten Mittelstand bestimmt, sondern erweitert sich und greift hinein in die sogenannten höheren Stände. Nämlich in einem Staate, wo es zwar noch einen angeerbten Unterschied giebt, aber dieser allein doch nicht entscheidend ist und nicht an sich schon in jeder Beziehung berechtigt an der Regierung Theil zu nehmen, werden bei weitem nicht alle die durch ihre Geburt schon den höheren Ständen angehören, wenn sie nicht Theil an der Regierung nehmen wollen, wozu eine höhere wissenschaftliche Bildung unerläßlich ist, sich diese höhere Kenntniß aneignen; sie werden also aus der mittleren Sphäre ihre Bildung entnehmen.“

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niß der älteren Sprachen hier aus, diese wird immer etwas Gelehrtes seyn. Nun gibt es einen Zusammenhang zwischen den früheren und späteren Sprachzuständen, und daraus folgt ein vollkommenes Verständniß wäre nicht möglich als mit der Geschichte zusammengenommen, allein hier erscheint die einzelne Sprache nur als Beyspiel in Beziehung auf Sprachwissenschaft. Dieses wissenschaftliche muß also aus diesem ganzen Cyclus ausgeschlossen bleiben. Also hier eine Grenze die sich von selbst schon bestimmt wie ich es gethan, was aus dem gegenwärtigen Zustand der Sprache verständlich ist, wenn es auch nicht mehr so im Gebrauch seyn sollte, das ist als das Lebende anzusehen und mit heranzuziehen; so wird es sich von selbst ergeben, daß der neue Schwung unserer Sprache ungefähr von der Zeit d er Re f o r m a t i o n der eigentliche Grenzpunkt wäre. Die bleibende Productivität im Geschichtlich gewordenen wird viel spalten wenn man weiter zurückgeht weil alles vorher als Cyclus nicht in der Muttersprache producirt wurde. Also wenn wir uns hier die vollkommenste Erweiterung dieses Cyclus denken, so werden wir eine allgemeine Litteratur der Muttersprache mit hinzuzuziehen haben, wodurch eine Anschauung an einzelnen Stücken beygebracht wird, eben dieses wird zugleich die Übung in der Interpretation enthalten; denn das vorher gesagte könnte scheinen als ob die Interpretation in ihrem höchsten Princip soll vorgetragen werden, sondern nur von da an was wir schon auf den unteren Stuffen der Bildung als Verbindung der Logik und Grammatik als etwas Gegebenes bekommen haben. Gewiß läßt sich wieder in Beziehung auf die Methode ein zweyfaches denken, nähmlich ein größeres Fortschreiten indem wir von den frühesten Zeitpunkten anfangen und die Entwicklung der Sprache verfolgen. Aber auch von dem Gegenwärtigen anfangen und durch Rückwärtsgehen mit anzufügen. Wenn wir zwischen beyden zu wählen haben so wird man sich sehr leicht im Geist dieser ganzen Bildungsweise für das letztere erklären – das erste mehr für wissenschaftliche Bildungsweise, das letzte für eine mehr practische. Hier das überwiegende das was eigentlich ins Leben eintritt das erste eigentlich nur subsidarisch, um das neue besser verstehen zu können. | Der zweyte Zielpunkt wäre eine vollkommene Fertigkeit sich der Sprache zu allen Zwecken zu bedienen. Hier wird es darauf ankommen, daß wir uns eine Grenze stecken, angemessen dem was wir auf Seite der Receptivität gesagt haben. Der in der Sprache selbst liegende Unterschied zwischen der prosaischen und poetischen Composition gibt die Frage ob die poetische mit in den Unterricht hinzuzuziehen wäre. Die Poesie ist aber ein specifisches Talent, mit Entwicklung dessen wir es auf dieser Stuffe 26 wir] man

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der Bildung nicht zu thun haben; aber als Subsidium für das Verständniß glaube ich kann man solche Übungen immer zulassen, es muß dabey nur mehr auf die gr am m at i s c h e Form als die künstlerische Form gesehen werden; nicht auf den künstlerischen Gehalt mehr auf die künstlerische Form. Es ist aber schwerlich möglich und nicht rathsam, dieß mehr Receptive und mehr Productive ganz von einander zu trennen, so ist es hier nicht möglich eine Anschauung hervorzubringen in Beziehung auf die äußere grammatische und künstlerische Form der Poesie ohne eigentlich eine nachbildende Selbstthätigkeit. Nur auf diese untergeordnete Weise aber sind solche Übungen zuzulassen. Was aber die p r o s a i s c h e C o m p o s i t i o n betrifft so ist hier wieder ein bedeutender Unterschied in der Ausübung, der aber in Beziehung auf den Unterricht noch sehr übersehen worden ist, zwischen der überl e g t e n u n d a l l m äh l i g ausge b il d e t e n C omposition und der aus dem S t e g r e i f . Hier nur ein relativer Gegensatz. Man mag sich die Veranlassung aus dem Stegreif denken wie man will, so ist doch nie etwas absolut Augenblickliches da, selbst beym Gespräch, ist das Sprechen doch das Vorangehende und die Vorbereitung für das was man selbst reden will. So wie wir dieß ins Auge fassen, daß es hier mit auf die Virtuosität des Gesprächs ankommt und beherzigen was sich über den sich immer noch entwickelnden bürgerlichen Einfluß dieses Standes der hier gebildet werden soll sagen läßt, so wird jeder fühlen daß das ein sehr bedeutender Zweig der Bildung, und daß wir beydes nur als mit und durch einander fortschreitend begreifen können. Als vor einer kleinen Reihe von Jahren nach den freyen Restaurationswerken die Rede war von einer neuen Einrichtung in Deutschland war es allgemeine Empfindung aller Verständigen daß es fast überall fehlen würde an solchen, die ein leidliches Geschick haben würden in solchen Versammlungen aufzutreten. Hier Veranlaßung zu 15–19 Vgl. SW III/9, S. 468: „Wenn ein Gespräch zu einer längeren Rede Veranlassung giebt: so wird während des Auffassens derselben der hörende schon vorbereitet, die Rede des anderen ist schon die Entwikklungszeit für die eigene Gegenrede; es ist auch hier eine successive Entwikklung, nur in engeren Zeiträumen.“ 25–4 Vgl. SW III/ 9, S. 468: „Als in Folge des Instaurationskrieges die Rede war von neuen Einrichtungen, und die Hoffnung einer neuen Gestaltung der Verfassungsverhältnisse Deutschlands angeregt wurde, so daß man allgemeine Berathungen erwartete: da war die Meinung aller verständigen, daß es sehr fehlen würde nicht an solchen die eine Einsicht in die Regierung des Staates, wol aber an solchen die nur einigermaßen das Geschikk hätten in den öffentlichen Verhandlungen zu reden. Auf der einen Seite ist überall wo entgegengesezte Meinungen öffentlich besprochen werden eine Neigung zur Leidenschaftlichkeit, auf der anderen Seite eine Ungeübtheit in dem Gebrauch der Sprache. Es ist natürlich daß Versammlungen der Art im Anfange kein genügendes Resultat geben können. In dem Entwikklungsgange der verschiedenen Völker liegt es unwiderleglich, daß es Vermittelungen zwischen dem Volke und der Organisation der Verwaltung, der Regierung, geben muß.“

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leidenschaftlichen Ausbrüchen, je länger einer an großen Styl und Form der Geselligkeit gewohnt ist. Dieß nun wieder vorbey, aber nur vorübergehend, es liegt im Entwicklungsgang, welchen den Völkern da sie vieles von uns haben. Früher oder später wird es doch dahinn kommen, aber nothwendig wird durchaus auch auf den Gegenstand im Unterricht mehr Sorgfalt verwendet. Hier kommt es also ganz vorzüglich an auf einen Stuffenweisen Übungsgang wo immer beydes mit einander verbunden wird, die Übung darinn einen dargebotenen Gedankengang in der Schnelligkeit richtig aufzufassen, das Wesentliche von dem Zufälligen zu unterscheiden, und seine Gedanken darüber zu ordnen und mitzutheilen. Wenn wir schon früher immer von analytischen Übungen geredet haben, verbundene Gedanken aus einander zu legen so sieht man wie sich dieses an das frühere unmittelbar anschließt, es ist nur eine Vereinigung von beyden. Hier freylich das Schwierige dieses daß immer nur Einer der unmittelbar Thätige seyn kann, aber das Critische, und ein allgemeiner Gedankengang wird immer statt finden. Es gibt nichts was so sehr die eigne allgemeine geistige Bildung zurückhält als dieser Mangel an Geschick im Gebrauch der Sprache. Wenn wir auf den früheren Zustand unserer Mittelschule zurücksehen, wie so viel auf ältere Sprachen verwendet wurde, und dabey die kunstmäßige Übung der Muttersprache vernachlässigt wurde so muß man es natürlich finden daß wir ein ungeschicktes Volk geworden sind, und wenn man vergleicht einen Deutschen mit einem Engländer oder Franzosen von gleichen Ansprüchen auf Bildung, wo bey den letzten nie solche Anwendungen der alten Sprachen mit diesem Bildungsprincip gewesen sind, so sieht man den großen Unterschied. Diese wissen mit ihren Sprachen umzugehen. Es ist eine lange Zeit uns dieß zum Vorwurf gemacht worden, daß unsere Gelehrten viel wissen aber nichts von sich zu geben verstünden. Da ist nun – wenn schon nur ein relativer Gegensatz – doch der Unterschied so bedeutend daß daraus folgt es kann ein hoher Grad von Virtuosität auf dem ersten Gebieth mit gänzlichem Ungeschick auf dem anderen seyn, und keiner kann den anderen noch ergänzen. Das sind ganz verschiedene Dinge, und es ist eben ein Übel daß in Beziehung auf besondere Stände, daß hernach so viele besondere Vorübungen nöthig sind, das zu erreichen was eigentlich jeder gebildete Mensch durch seine Schulen sich angeeignet haben sollte, das richtige Verhältniß zwischen der mündlichen Production und dem nachher ausgearbeiteten Schriftlichen als mit Sorgfalt einzuführen. | Das erste hiebey immer wichtiger als das letztere. Über den Ges c h i c h t s u n t e r r i c h t ist zu bemerken: Zwischen alter und neuer Ge19 auf] uns

25 solche] von einer solchen

31 kann] kann es

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schichte hier der Hauptunterschied. Welcher der Grenzpunkt? Das gewöhnliche daß man mit der christlichen Zeit die neuere Geschichte beginnt. Aber in Absicht auf practische Richtung kann nicht alles innerhalb der christlichen Zeit gleiches Intresse haben. Allmähliges Erweitern der Behandlung. Also ein starkes Hervortreten des Neueren und Zurücktreten des Älteren. Der Abschnitt wo es sich am bestimmtesten zeigt würde nur der seyn, was wir gar die neueste Geschichte nennen. Vom 15. und 16. Jahrhundert an. Dieß gibt uns einen Unterschied in der Behandlung der Geschichte hier in der Bürgerschule im Vergleich mit der Gelehrten; hier kann die Alte Geschichte in einer Analogie stehen mit der fragmentarischen Volksbildung überhaupt, später aber die Hauptpunkte practisch herauszuholen. Ob verschiedene Methoden. Gehen wir davon aus, daß es auf das Verstehen des gegenwärtigen Zustands ankommt, so entwickelt sich daraus die Methode im geschichtlichen Unterricht welche hier die angemessenste ist. Der gegenwärtige Zustand spiegelt sich auf das bestimmteste im geographischen Unterricht ab. Von diesem Bild des gegenwärtigen Zustandes müßte eigentlich der geschichtliche Unterricht ausgehen. Wo dieses Bild des gegenwärtigen Zustandes zunächst das Princip für die neuere Geschichte ist, so würde folgen wenn vom früheren Abschnitt die Rede ist, [daß] ebenso ein Bild des damaligen Zustands das Princip seyn müßte, und dieses eine solche Reihe von historischen Punkten fixirte, und indem man diese mit einander vergleicht, so würde der nacherzählende Geschichtsunterricht die Combination zweyer solcher darstellen. So wird im ganzen Unterricht die Richtung auf die Gegenwart festgehalten und ebenso die Beziehung auf das Geographische, bestimmte Erdvertheilung und eine Bewahrung welche genetisch zu erklären wäre. Das von wissenschaftlicher Behandlung des Geschichtlichen welche immer philosophischen Zusammenhang hätte, noch weitest entfernt. Nun in Beziehung auf den Unterricht in den verschiedenen Zweigen der Nat u r k u n d e . Da scheint sich nun eine bedeutende Schwierigkeit darzubieten. Nähmlich hier in Beziehung auf die eigentliche N a tu r l e h r e scheint wenig ausgerichtet werden zu können ohne Versuche und Beobachtungen und in Beziehung auf die Naturgeschichte ebenso wenig ohne ein Vorzeigen der Gegenstände, sey es in Absicht auf Natur oder abbildliche Weise. Beydes erfordert einen Apparat, und [der liegt] für einen großen Theil dieser Bildungsanstalten außerhalb ihres Vermögens. Vor längerem noch bedeutender hö24 Geschichtsunterricht] Geschichtsunterricht Unterricht

35 ohne] auf

38–3 Vgl. SW III/9, S. 473: „So wenig ein Unterricht in der Geographie ohne Karten einen günstigen Erfolg haben kann, so wenig ein Unterricht in der Physik ohne Experimente und in der Naturgeschichte ohne Naturgegenstände.“

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herer Unterricht wo geographischer Unterricht ertheilt wurde ohne Karten, dasselbe Kunststück mit der Physik als so im Naturgeschichtlichen. Je mehr hier überall das Schema, das allgemeine sinnliche Bild die Hauptsache ist, desto weniger ist die Anschauung zu entbehren so wie es in der Naturgeschichte auf das Schema des Gestaltens[,] in Physik auf das der Veränderung ankommt. Auf diesem Gebieth muß [es] eine große Mannigfaltigkeit in Beziehung auf die Begrenzung geben indem im Wesentlichen der Cyclus der Unterrichtsgegenstände und die Behandlung derselben überall in den Volksschulen und den wissenschaftlichen Anstalten dieselben seyn müssen, aber die QAblohnungR durchaus nicht dieselbe seyn kann. Hier wird also eine Beschränkung statt finden nach den äußeren Umständen, und in den meisten Hülfsmitteln immer die richtige Auswahl zu treffen. Hier kann eine verschiedene Ansicht stattfinden. Nähmlich in der Volksschule mußten wir das Princip aufstellen daß sich aller Unterricht auf diesem Gebieth zunächst an das Gegenwärtige anschließe, und nur subsidarisch und complementarisch an das was sich an das allgemeine Erdbild anschließt. Soll man hier gleich verfahren, und von Hülfsmitteln nur gerade nehmen was da ist, oder die Auswahl mehr nach der allgemeinen Fortschreitung vornehmen, um diese mehr in ihrem Zusammenhang verstehen zu können; und für jede Klasse von Gegenständen das Charakteristische? Wenn wir die Aufgabe in ihrem Wesen auffassen wie in der Volksbildung offenbar die Verstandesentwicklung sich an die Übung der Sinne anschließt und die letzte die vorzügliche bliebe, und Verstandesübung vorzüglich hervortreten soll, so kann man nicht im Zweifel seyn, so specifisch die Hülfsmittel seyn mögen, so müssen sie doch so verwendet werden, daß eine möglichst zusammenhängende Anschauung entsteht. Wenn man z. B. sagen wollte: In höheren Anstalten kann man ein vollständiges Naturgeschichtliches Museum haben, aber mit einer Fauna oder Flora der Umgegend findet die Jugend einen gehörigen Kreis von Anschauungen, man muß der Jugend immer den Hauptunterschied der 10 müssen] muß Charakteristische.

15 aufstellen] anstellen

16 an] auf

22 Charakteristische?]

6–11 Vgl. SW III/9, S. 473–474: „Es wird also auch in Beziehung auf die Fülle des Apparates eine Verschiedenheit eintreten; einige Anstalten werden | reichlicher damit ausgestattet sein. Je mehr Apparat aber eine Anstalt herbeischaffen kann und zwekkmäßig benuzt, desto weiter wird sie auch in die Kenntniß der Gegenstände hineinführen können.“ 29–3 Vgl. SW III/9, S. 474: „Wenn nun solche Anstalten auch nicht ein vollständiges naturgeschichtliches Museum haben können: so sollen sie sich doch auch nicht begnügen mit der Fauna und Flora der nächsten Umgebung; selbst die speciellste Kenntniß des nahen und einheimischen reicht zur Bildung nicht hin, und gerade das was die nächste Umgebung darbietet zu sammeln, wird Lieblingssache vieler Zöglinge sein.“

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Klassen zur Anschauung bringen. Sammeln wird die Jugend immer lieben da kann man das anheim geben, diese Thätigkeit muß in der Schule selbst nicht bevormundet werden. Schwieriger das eigentlich Physicalische, Vorrath von Hülfsmitteln und Geschicklichkeit in der Anstellung von Beobachtungen und Versuchen. In der Idee wohl aufzustellen, aber erst nach mehreren Generationen von Lehrern würde sich ein hinreichender Vorrath finden von Lehrern die das leisten können. Hier fehlt aber die richtige Abstuffung. Die wirksamen Naturkräfte sind eigentlich doch solche welche beständig vor Augen liegen. Ein mehr entfalteter Unterricht in dieser Beziehung wird immer mehr in höheren Anstalten statt finden können. | Noch eine Frage übrig, das Bild dieses ganzen Bildungswesens beysammen zu haben: In der Volksschule hatten wir aufgestellt daß die Schule sich nicht verlassen müsse auf eine reine T hä t ig keit der J u g e n d a u ß e r d e r s e l b e n . Gilt das auch hier oder wenn es sich anders modificiren muß, auf welche Weise soll es geschehen? Nehmen wir zusammen was auf diesen Bildungsanstalten soll geleistet werden, so werden wir es nicht leisten können ohne eigentlich in der Schule so viel Zeit zu verwenden als das Maaß das man der Jugend in der Schule biethen zu dürfen glaubt. Soll und darf man noch bedeutenden Anspruch machen auf die Zeit außerhalb der Schule? Dieser Gegenstand, auch für die Gelehrtenschulen eine Wichtigkeit aus doppeltem Gesichtspunkt betrachtet [zu] werden, aus dem Gesichtspunkt der S c h u l e und dem der L e h r e r, macht man Anspruch auf die Thätigkeit der Jugend außer der Schulzeit so daß die Producte wieder von den Lehrern kommen sollen so muß man zu viel von der Schulzeit auf Behandlung dieser Arbeiten verwenden und den Fortschritt dieser Bildung hemmen. In Beziehung auf die Jugend ein mannigfaltiges Intresse was hier zur Sprache kommt. Ist der Unterricht so eingerichtet daß in der Schulzeit selbst die Jugend überwiegend im Zustand der Receptivität ist, dann würde natürlich eine erstaunliche Einseitigkeit entstehen, wenn nicht ein Gegengewicht von überwiegender Productivität in eine andere Zeit fiele. Da aber auf diese ernsten Gegenstände unmöglich so viel Productivität gewendet werden kann, so ist es nothwendig dieses Gleichgewicht größtentheils in die Schule selbst zu legen. Freylich kann durch eine productive Thätigkeit in der Schule nicht dasselbe erreicht werden, wie durch eine Productivität außer der Schule – das Falsche sogleich zu verbessern – wogegen die Anschauung eines falschen Weges eine heilsame Erfahrung ist; zur eignen Selbstkenntniß kann die Jugend nicht anders gelangen als vermittelst einer Productivität, worinn sie ganz sich selbst überlassen ist, und dieß 2 lieben] sammeln

16 geschehen?] geschehen.

30 Jugend] Jugend sich

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nur Ausnahmsweise in der Schule zu leisten. Auch etwas ganz anderes in Gemeinschaft thätig zu seyn, hier würde also keine Vorübung für die anschließende Thätigkeit kommen. Einen Theil dieser Übungen muß man hineinlegen. Wir werden immer sagen müssen daß in so fern dabey eine Thätigkeit des Lehrers mit in Anspruch genommen wird, die auch außer die Schulzeit fällt, in demselben Maaß jene Productivität Q R sey. Die Aufgabe also: So viel Zeit aber nicht mehr als man außer der Schulzeit der freyen spielerischen Thätigkeit und dem Familienleben noch entziehen zu dürfen glaubt sie der Schule zu entziehen, daß möglichst wenig Arbeit für den Lehrer dabey entsteht. Denn so nur gewinnen wir hier die steigende Virtuosität der Lehrer. Man könnte allerdings sagen wenn schon angeführt worden ist daß auf dieser Bildungsstuffe auch schon eine ziemliche Zahl von denen hervorgehen können, welche an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen, und die Bildung ein ausgleichendes Princip werden sollte, so könnte man fragen ob es rathsam sey, hier einen so bestimmten Unterschied zu machen zwischen den einen und anderen von denen die einen von den alten Sprachen ausgeschlossen wären. Es wäre was anderes wenn die alten Sprachen nur ein specieller Gegenstand seyn sollten für die Theologen und in gewissem Maaße die Juristen, dann könnte die Kenntniß davon als Vorbildung immer weniger gebraucht werden. Wenn aber die Organisationen der höheren Bildungsanstalten auf den alten Sprachen ruhend bleiben sollen, so scheint als dann der Unterschied eben zu groß zu seyn. Daraus folgt wenn man alles zusammen nimmt, so verschwindet das größtentheils; denn die Sprachkenntniß gibt doch einen allgemeinen Bildungsgegenstand, und man muß glauben daß ein so Vorgebildeter sich hernach auch leicht die Kenntniß der alten Sprachen bis auf einen gewissen Grad verschaffen wird, und es ist möglich diesen Grund auch in diese Bildungsstuffe schon zu verlegen. Und dieser Unterschied wird dadurch gering daß überall in der ganzen Abhandlung die 15 teilnehmen] annehmen

31 Abhandlung] Ahandlung

1–4 Vgl. SW III/9, S. 477: „Es ist etwas ganz anderes in einer großen Gemeinschaft, in Gegenwart vieler, wo wenn auch Einer besonders hervortritt die anderen in begleitender Productivität erhalten werden, thätig zu sein, und etwas ganz anderes mit der Productivität im Leben selbst. Die Productivität in der Gemeinschaft allein wäre gar keine Vorübung für das praktische Leben, und eine solche Vorübung wird man doch gern in die frühere Lebenszeit legen.“ 7–10 Vgl. SW III/9, S. 477: „D i e Z e i t w e l c h e ma n a u ß e r d e r S c h u l e d e r f re i e n T h ä t i g k e i t u n d d e m F a m i l i e n l e b e n e n t zi e h e n z u k ö n n e n g l a u b t , so l l m a n z u e i n e r p r o d u c t i v e n T h ä t i g k e i t b en u zen , a b e r so d a ß d e r L e h re r so w e n i g a l s m ö g l i c h g e n ö t h i g t i s t a u ß er d er S c h u l e d i e Z e i t die ihm zur eigenen Vervollkommnung dienlich ist zu o p fe r n .“

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Leichtigkeit liegt aus dem einen Cyclus in den anderen überzugehen. Über diesen Gegenstand noch etwas anzuführen – in der Mitte zwischen der Volksbildung und der höheren Bildung am rechten Ort: Es läßt sich in diesem Bildungskreis nochmalig Zusammengehörigkeit und Erweiterung nach der Localität und nach Maaßgabe der Hülfsmittel denken, im Allgemeinen haben wir auf zwey vorzügliche Abtheilungen gesehen, die die immer mehr eine bestimmte Erweiterung der Volksbildung wäre, die andere [die] erst in einem größeren Zusammenfassen von Kenntnissen endigte. Wir können nicht anders als zu gleicher Zeit in Betracht ziehen wie sich dem politischen Maaß und der Wirtschaft nach das Verhältniß gestaltet zwischen denen die an der einen und denen die an der anderen Bildung Theil nehmen. Die allgemeine Volksbildung ohne Ausschluß für alle – außer für die höhere Schule bestimmten – sie richtet sich natürlicher Weise nach dem Zusammenleben, und wird rein locale Anstalt, steht im Verhältniß mit der bürgerlichen Gemeinde. | In großen Städten hat die Bürgergemeinde auch wieder ihre besonderen Anstalten. Immer wird hier das Maaß der politischen Zusammengehörigkeit auch das Maaß für die Schule seyn – Communalanstalt. Wenn wir die Bürgerschule betrachten so ist offenbar daß aus jeder solchen Commune nur eine kleine Anzahl seyn wird welche an dieser Anstalt Theil nimmt. Daraus entsteht nun daß diese Schule sich gleich wie eine Kreisschule verhält, und sich wiederum an die politische Theilung anschließt. Denken wir an die höhere Abtheilung dieses Bildungskreises so werden wir sehen, daß daran schon viel weniger werden Theil nehmen können weil der Unterricht mehr Hülfsmittel erfordert, mehr Zeit erfordert, und sie die Jugend weniger wird daran Theil nehmen lassen können – hier im engeren Kreis, da beginnt eine solche Bildung gewissermaßen parallel neben der wissenschaftlichen Bildungsanstalt, die wir als die eigentliche G e l e h r t e n s c h u l e bezeichnen. Wenn nun die Frage beantwortet werden soll, in wie fern der bürgerliche Beruf bestimmt wird durch den Eintritt in die öffentlichen Bildungsanstalten: so bestimmt der 5 Erweiterung] Erweiterung der Hülfsmittel denken 9 Kenntnissen] Kenntnissen erst 17 Anstalten] Gemeinden 19 Wenn] Betrachten 20 daß] daß offenbar 21 nimmt] nehmen 3–6 Vgl. SW III/9, S. 478: „Indem wir darauf hindeuteten, daß in den Bildungskreisen mit denen wir es bisher zu thun hatten manche Abkürzungen und Erweiterungen nach Maaßgabe der Localität und der Bildungsmittel sich denken ließen, haben wir schon den Uebergang aus einer niederen Sphäre in die höhere im Auge gehabt.“ 23– 28 Vgl. SW III/9, S. 479: „An der höheren Abtheilung des mittleren Bildungskreises werden im Verhältniß zur Gesammtheit noch viel weniger Theil nehmen können, i n j e d em e i n z el n e n K re i se w i rd z w a r e i n e B ü rg e r s c h u l e d e r u n t e r e n S t u f e a b e r n i ch t d er h ö h e re n S t u f e sein können. Der Bezirk einer solchen höheren Bildungsanstalt ist also größer und nähert sich einer größeren politischen Abtheilung.“

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Eintritt in die allgemeinen Volksschulen nichts für die Zukunft, denn wenn auch solche Jugend dann für das höhere Leben bestimmt ist, so wird das ohne Schaden seyn, sie wird unterstützt diese Periode schneller durchlaufen. Der Eintritt in die untere Form der Bürgerschule, wie wir sie uns construirt haben wird ebenfalls nichts ausschließen, es wird noch möglich seyn, daß die Jugend die geschlossen diesen Bildungskreis durchgemacht hat sich hernach theilt [in] die die in die höhere Bürgerschule und niedere[,] ein anderer Theil derselben Jugend kann von da in die Gelehrtenschule gehen; aber auch aus der höheren Form der Bürgerschule wird dieser Übergang in jedem Moment zu machen seyn und es muß alsdann schon leicht seyn daß einer der dieses durchgemacht hat, die Elemente der alten Sprache bald nachholt. Doch diese Leichtigkeit des Übergangs auf der einen Seite[,] dieser Parallelismus zwischen der Gelehrtenschule und der höheren Gewerbs- oder Realschule, wird die Ungleichheit schon aufheben, dieser Übergang also auch durch äußere Einrichtungen möglichst zu erleichtern. Dieses führt auch noch auf einen anderen Punkt. Wenn sich das so verhält, daß auch schon in der unteren Abtheilung dieser Bildungsstuffe die Jugend die dazu gehört nicht aus einer und derselben Localität seyn wird, so tritt eine Ungleichheit ein zwischen den Schülern selbst, wenn einige aus dem Ort der Schule sind – Familienleben – bey anderen ist es nicht der Fall – von anderen Orten her. Da die Aufgabe dieses zu ersetzen: das Familienleben eine Correktur, oder sie müssen doch die übrige Zeit irgendwo seyn. Es lassen sich hier zwey verschiedene Wege einschlagen: dieß die Angelegenheiten der Eltern die eigentlich dafür sorgen bey denen die diese Kinder adoptiren – so ist nichts weiter zu sagen, aber man hat auch gesagt dieses wäre eine Sache des Gemeinwesens und es wäre nicht billig es den Eltern selbst zu überlassen, noch es richtig ihnen ganz zu überlassen. Da ist die andere größere Betrachtung hinzu gekommen, in wie fern die Schule nicht nur Unterrichts- sondern Erziehungsanstalt seyn müsse. Die Schule müsse sich selbst zu gleicher Zeit als Familie oder als Ergänzung der Familie betrachten. Hier noch eine Betrachtung: In der eigentlichen Volksschule hatten wir Ursache vorauszusetzen eine Unfähigkeit, innerhalb und außerhalb der Familie sich viel mit der Jugend zu beschäftigen. Da wäre nothwendig daß auch außer dem Unterricht in der Schule auf alles sittliche sehr müßte gesehen werden um einen 35 außerhalb] außerhalb in 25–26 Vgl. SW III/9, S. 480: „Man kann nämlich sagen, e s s e i d i e S a c h e d e r A e l te r n , F a m i l i e n a u sz u w ä h l e n d i e i h re K i n d e r für die Schulzeit an dem fremden Ort gleichsam a d o p t i re n .“

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erziehenden Impuls zu haben für das was in der Familie fehlt. Demungeachtet sagten wir damals es müsse das Familienleben außer der Schulzeit fortdauern und es bliebe eine nothwendige Ergänzung. Hier ein anderer Gesichtspunkt. Für einen Theil der Schüler hört doch das natürliche Familienleben auf. Soll die Schule ganz an die Stelle der Familien treten für die welche ihre Familie nicht an dem Orte haben? Das das entgegengesetzte Extrem. Es ist zu fragen ob zwischen diesen zweyen was in der Mitte liegt – nicht zu verneinen. Die Schule müßte solche Familien anbiethen. Auch geht es an daß die Schule eine Veranstaltung für das übrige Leben für einige einrichtet und in dieser Beziehung zwey verschiedene Formen neben einander bestehen. Nun werden wir erst über die Sache entscheiden können. | 1.) Ist es möglich daß die Schule ein wirkliches Familienleben für ihre Zöglinge einrichtet? Im Wesentlichen wohl zu verneinen. Wohl ein häusliches Zusammenleben – und ein Zusammenleben unter Aufsicht wie die väterliche. Aber nicht ein Familienleben wo der weibliche Einfluß mit dazu gehört. Da fehlt die ganze eine Seite des Familienlebens. Nun hat man freylich gesagt es läßt sich dieß so denken daß die Lehrerfamilien ein Ganzes unter sich bilden und zu einer gewissen Öffentlichkeit sich constituiren so daß die Schüler eine wahre Gesammtheit unter sich bilden. Die ersten Versuche von dieser Art die ich kenne sind schon wieder eingegangen, und auf jeden Fall keine lange Dauer ihnen zu weissagen. Wenn es nur etwas Zufälliges wo sich solche Familien in so vertrautern Verhältnissen befinden, daß es Familienleben und gemeinschaftliches Leben mit einander ist, – ein einziger Todesfall kann es aufheben. Sonst müßte es allerdings das schönste seyn, was die schwierige Aufgabe am vollkommensten löste. Weil man nun demgegenüber eine Grenze absehen muß, Q R wie verhalten sich die zwey Familien zu einander? Wenn es lediglich ein Verhältniß ist das von 21–26 Vgl. SW III/9, S. 482: „Allein verschiedene Versuche der Art sind wieder aufgegeben worden, und es möchte auch wol zu den seltensten Fällen gehören, wenn ein Verhältniß vieler Familien zu einander, durch und durch auf Vertrauen und Liebe gegründet, Achtung und Bewahrung der Familieneigenthümlichkeit und gleichmäßige Ausbildung eines gemeinsameren geordneten Lebens voraussezend, längeren Bestand haben sollte. Ve r h ä l tn i s s e g e b i e t e n e s o f t d a ß d i e S c h ul e s e l b s t d a s F a m i l i e n l e b e n e r s e ze und Erziehungsanstalt im engeren Sinn des Wortes werde. D a n n f r a g t s i c h ni c h t meh r, w a s d a s b e st e se i ; so n d e rn w i e d a s w a s d a s n o t h w e n d i g s t e i s t a m zw ek k mä ß i g st e n e i n g e ri c h t e t w e rd e n k ö n n e .“ 29–7 Vgl. SW III/9, S. 481: „Wenn die Verbindung der Aeltern mit einer Familie am Orte der Schule günstig und die Einverleibung der Kinder in ein fremdes Familienleben Sache des Vertrauens ist: so läßt sich nichts dagegen einwenden. Die älterliche Liebe läßt sich ja recht gut auf andere Kinder ausdehnen. Wenn aber eine solche Verbindung fehlt und die Aeltern der Zöglinge ein Verhältniß das Sache des Vertrauens sein soll, an Anerbietungen knüpfen müssen die oft nur auf pecuniäre Vortheile berechnet sind: so muß die Schule die Vermittlerin machen und die Garantie übernehmen.“

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dem Vertrauen der Eltern ausgeht, daß sie ihre Kinder einer anderen Familie anvertrauen, so wüßte ich nicht was dagegen einzuwenden wäre, daß die elterliche Liebe noch auf ausländische übrig bleibt – so viele Beyspiele daß niemand darüber zweifeln kann. So wie man aber anderweitig uneigennützige Motive bey diesen Leuten voraussetzen muß, dann ist es meistens werth daß es noch eine andere Garantie gebe, daß der Zweck erreicht werde. Dann wird es immer ein Verhältniß des Vertrauens wieder werden – zwischen der Schule und den Familien welche die fremden Kinder bey sich aufnehmen. In diesem Vertrauen würde die äußere Garantie liegen. Nun fragt sich auf der anderen Seite was ist von einem solchen Zusammenleben der männlichen Jugend zu halten, wobey nur eine männliche Leitung und Aufsicht statt findet? Offenbar ists sehr möglich daß ein Fall der Noth eintreten kann, wo dergleichen errichtet werden muß, wenn es an Familien fehlt welche die Kinder bey sich aufnehmen können. Wenn die Schule nicht mehr einer bestimmten Localität angehörte, dann wird es auch zugleich in dieser Beziehung vollkommen gleichgültig wo sie ist. Je leichter mit dem Seyn in der Schule immer auch schon Leben im Freyen verknüpft werden kann desto gesünder, daher man gewünscht hat, solche Schulen auf dem Lande anzulegen. Das hat allerdings viel für sich – so läßt es sich auch denken von der höheren Realschule. Da fehlt es nun allerdings an Familien – da fragt sich nun wenn der Fall der Noth eintritt, was ist als das natürliche Resultat zu erwarten, gibt es Mängel denen gar nicht abzuhelfen ist oder können wir ihnen schon so frey vorschlagen, daß daraus folgt es ist in dieser Beziehung völlig gleichgültig das eine wie das andere? Wenn es hier ankommt auf eine Vergleichung zwischen dem häuslichen Leben und dem Zusammenleben in einer größeren Menge so ist es freylich unbillig wenn man das eine gut, das andere schlecht betrachtet sondern man muß jedes für sich betrachten. Diese größeren Anstalten sind eigentlich nicht als Ergänzung anzusehen, sie sind Nachkömmlinge der ehemaligen K l o sterschulen. Ein häusliches Leben das des Vertrauens verdient immer vorgezogen zu werden. Aber was einmal da und nothwendig ist, nur am besten und zweckmäßigsten einzurichten. Es ist nie natürlich daß eine Menge von jungen Leuten Eines Alters so bey einander leben, und alles bedarf einer größeren Forderung, um die schädlichen Folgen aus dem Wege zu räumen oder ihnen vorzumauern. Denn nie kann genug gesorgt werden für eine beständige Aufsicht, die aber auch nur Aufsicht seyn soll, keine Beschränkung der Freyheit. Gut daß auch in Beziehung auf die 2 anvertrauen] anvertraut 5 uneigennützige] unnützige 33 vorgezogen zu werden] vorzuziehen

26 andere?] andere.

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übrigen Lebensverhältnisse eine unmittelbare Entwicklung davon entsteht daß nothwendig der Einzelne indem er sich in eine große Organisation fügt, etwas von seiner Willkühr hingeben muß. Im Ganzen reden wir von einem Alter, wo die Verhältnisse der beyden Geschlechter noch von keiner Bedeutung sind, wo sie sich von einander zu sondern pflegen. In dieser Neigung bey der Jugend für sich zu seyn, ist eine Beschränkung für diese Anstalten. In Beziehung auf alles was zur leiblichen Gymnastik gehört gewährt das größere Beysammenseyn eine größere Leichtigkeit. Im Familienleben in diesem Alter Neigung die J u g e n d m i t i n d i e G e s e l l s c h af t s v e r h ä ltnisse hineinzuziehen, auf der einen Seite vortheilhaft, so daß die Jugend das Bewußtseyn ihres untergeordneten | Verhältnisses erwirbt, ein Vortheil wenn das in der Familie auf die rechte Weise geschieht in größeren Gemeinschaften ist dieses wo möglich zu ersetzen – Einseitigkeit in Gewöhnung und Unbeholfenheit für das gemeinsame Leben. Nimmt man dazu daß hernach noch eine Periode kommt, wo die Jugend wieder mehr auf sich selbst gewiesen ist, so ist es für die Ausbildung vortheilhaft wenn diese Unterweisung nicht zu groß ist. Dagegen für die eigenthümliche Ausbildung der Jugend in Beziehung auf a lles w a s a uße r h a l b d e s U n t er r i c h t s ist, wäre die größere Masse allerdings vortheilhaft die nun auf der anderen Seite auch im Familienleben zu suchen ist. Die meisten Anstalten leiden gerade daran daß man sich zur Maxime macht dieses zu verhüten. Allerdings ist die Aufsicht bey dieser Form nicht zu streng zu führen. Der Mißbrauch soll hier nie den Gebrauch aufheben. Nur kurz über die allgemeine Erfahrung daß in solchen Anstalten die Neigung zu den h e imlichen S ünden nicht auszurotten ist[,] hier nicht durch bestimmte Anstalten, aber eine natürliche Anstrengung und von körperlichen Reizungen entfernte Lebensweise, Liebe zur Regelmäßigen Thätigkeit, und eine beständige ungezwungene Aufsicht müssen hiebey das beste thun. 5 sind] ist 14–15 Vgl. SW III/9, S. 484: „Nur nachtheilig kann es für die männliche Jugend sein, wenn die Bildungszeit zumal auch in den späteren Jahren sie zu sehr dem geselligen Leben in größeren Familienkreisen entfremdet. Diesen Nachtheil kann man nur vermeiden wenn man den Zöglingen gestattet außerhalb der Anstalt Familienverbindungen anzuknüpfen und fortzusezen, in denen ihnen die Möglichkeit gegeben ist sich für das gesellige Leben vorzubereiten; nur muß dann dafür gesorgt werden, daß dieses Leben außer der Anstalt nicht zur Unordnung Zerstreuung und Eitelkeit Veranlassung gebe.“ 22–23 Vgl. SW III/9, S. 484: „D i e E n t w i k k l u n g d e r E i g e n t h ü m l i c h k e i t w i r d i n h o h em Gr a d e d u rc h d i e se s a u c h g e se l l i g e Z u s a m m e n s e i n b e f ö r d e r t , z u ma l w en n m a n e rst d a h i n w i rd g e k o m m e n s e i n , w a s m a n b i s j e z t n o c h i m mer g e s u c h t h a t z u v e rh ü t e n , g e g e n se i t i g e C o m m u n i c a t i o n z w i s c h e n den en d i e i n d e n A n st a l t e n u n d d e n e n d i e i n d e r F a m i l i e l e b e n z u e r öf f n en .“

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Sehen wir noch einmal auf das Ende dieses Bildungscyclus so tritt das in die Zeiten wo die von der Kirche ausgehende Bildung und Unterweisung auch ihr Ende erreicht, und die erste Stuffe der Mündigkeit beginnt. In diese Zeit schon gehört eine gute Lösung der früher bestandenen absoluten Unterordnung und Zunahme der freyeren Disposition hinein, damit der Sprung mit nachtheiliger Wirkung hier nicht wirke. Das hat keine Beziehung auf die Schule, da der rein gesetzmäßige Zustand. Ordnung etwas unerläßliches, aber es hat seinen Ort im übrigen Leben, es macht sich in der Familie von selbst, es wird in der Regel in dieser Jugend jüngere Kinder vielleicht ebenfalls geben, Übermacht über diese. Im größeren Zusammenleben kann es auch nicht anders seyn, als daß eine Differenz des Alters vorhanden ist. Da fragt sich[:] Soll die größt mögliche Altersgleichheit vorhanden seyn oder eine solche Analogie daß ältere und jüngere mehr bey einander sind und auf einander wirken? Das (1) [hat] für sich daß die Gleichen auch am wenigsten in schwer zu schlichtende Verhältnisse kommen, wogegen wenn sie von verschiedenen Altern bey einander sind, diese Differenz etwas Unbestimmtes hat. Das aber offenbar kein Unterschied des Besseren und Schlechteren, nur Schwerer und Leichter. Das Schwierige aber nicht zu scheuen. Es gibt nun auch Anstalten, wo man dieses was natürliche Nachbildung des Familienlebens seyn sollte, wenn man ältere und jüngere zusammen läßt, sehr übertrieben und eine Form hineingebracht hat, welche die Analogie mit dem Familienleben stört. Läßt eine Anstalt sich hier nicht die gehörige Freyheit des näheren Zusammenseyns der Jugend dann zu ändern nach den gehörigen Verhältnissen so wird sie nie ihren Zweck vollkommen erreichen. Ist die Form des Ganzen einer solchen Anstalt eigentlich immer ein Zusammenleben von Gleichen so sieht man daß der Typus sich auch in den einzelnen Theilen wiederholt – es kann nicht fehlen wenn man auch den Typus der Gleichheit zum Grunde legt, sich doch wieder Differenzen entwickeln – es gehört mit zu der Wahrheit im Menschen dieses Anerkennen von einer jeden größeren geistigen Kraft und so bilden sich immer unter den Zusammenlebenden Autoritäten. 4–7 Vgl. SW III/9, S. 484–485: „F e rn e r b i e t e t d a s F a m i l i e n |l e b e n , zumal wenn wir mehr auf das Ende der zweiten Periode sehen, e i n e n a n d e r e n Vo r t h e i l , der in Beziehung auf die L ö su n g d e r A u f g a b e , daß d i e U n t e r o r d n u n g und die E n t w i k k l u n g d e r S e l b st ä n d i g k e i t sich nicht ausschließen, sondern ein allmähliger Uebergang von jener zu dieser sich bilde, von großer Wichtigkeit ist.“ 17–18 Vgl. SW III/9, S. 485: „bei verschiedenem Alter dagegen können schwer zu schlichtende Differenzen eintreten.“ 27–29 Vgl. SW III/9, S. 485: „Ist die Einrichtung getroffen daß die älteren mit den jüngeren zusammenlebend über diese die Aufsicht führen: so können jene ihr Ansehen mißbrauchen, Willkühr üben, diese sich einschüchtern lassen. In solchen Fällen muß eine Aenderung des Verhältnisses eintreten, zugleich aber auch, da eine fehlerhafte Gesinnung zum Grunde liegt, auf diese eingewirkt werden.“ 31– 32 Vgl. SW III/9, S. 486: „Es gehört zum Charakter der Jugend“

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In Beziehung auf diese sich von selbst entwickelnden Differenzen wird es gleichgültig seyn, wie die Einrichtung ist. Eine willkührliche oder mechanisch festgesetzte Unterordnung eines Theils der Jugend unter einander ist nachtheilig. Solche Anstrengungen sind überall für einen der größten Mißbräuche gehalten worden. Anstrengung in den einen Einschüchterung in den anderen. Zweyerley ist wichtig[:] Einmal die sich von selbst bildenden Differenzen soll man gewähren lassen, so weit als man sieht daß sie sich in dieser Reinheit erhalten, und wiederum ist es natürlich schon aus dem in der Schule herrschenden Princip daß es ein anvertrautes Ansehen geben kann, welches denen sich durch Sittlichkeit sich auszeichnenden über die anderen ertheilt wird – aber nie als etwas gesetzmäßiges, sonst ist das nicht mehr die Nachahmung der Familie der älteren Geschwister über die jüngeren. So wie man dieses festhält, so wird man glaube ich alle Verhältnisse in solchen Anstalten zum Vortheil aller benutzen können – ohne daß eine nachtheilige legalisirte Praxis entsteht. | Die Form scheint mir keine andere zu seyn als die völlige Disposition. Noch ein Punkt in dieser Beziehung zu behandeln; nähmlich soweit wenn wir uns die Jugend in der Schule übrigens in der Familie denken als besonders in einem solchen Zusammenleben ist es zu gestatten oder nicht daß außer dem was im Unterricht im Gebieth der Schule selbst liegt, nun noch die Zöglinge b esonderen Unterricht darinn worinn sie einander nicht gleich sind genießen? Wenn man den ganzen öffentlichen Unterricht aus dem Gesichtspunkt ansieht daß er nur den häuslichen ergänze, so kommt es lediglich auf die Eltern an was sie die Kinder lernen [lassen] wollen. Aber gehen wir davon aus, daß die Schule mit diesem Alter nicht eigentlich Sache der Noth ist[,] hier schon Richtung auf größeres gemeinschaftliches Leben [hat] wie in der früheren Periode so sieht man daß das nicht die einzig richtige Ansicht ist, sondern daß die Unterrichtsanstalten ein Recht haben müssen in dieser Beziehung mitzubestimmen. Wenn wir für die erste Periode festgestellt haben, daß die Zeit der Arbeit ganz auf die Schulzeit festgestellt ist, so können wir das hier für diese Periode nicht annehmen oder es müßte Erholung und Vorbereitung und Wiederholung ebenfalls in die Gemeinschaft hineinfallen. Es muß hier immer ein gewisses Maaß herrschen, eine Communication zwischen den El12 das] das wäre 16–17 Vgl. SW III/9, S. 486: „Die Form aber die hiebei zum Grunde liegen muß ist die völlig freie Disposition, ob man die gleichen zusammenstellen will, oder ältere und jüngere verbinden.“

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tern und den Lehrern. In öffentlichen Anstalten nur als nothwendiges Übel anzusehen, nie zu begünstigen. Wir haben diese Bildung welche schon eine Menge von realen Kenntnissen in sich schließt und die Volksschule nicht als streng auf einander folgend ansehen können. Die Volksjugend welche nur die Bildung in der Volksschule nimmt beschließt ihre Unterrichtszeit früher, diese zweyte Stuffe aber später. Soll nun alle pädagogische Thätigkeit für die Volksschüler wenn sie die Schule verlassen aufhören, außer was hernach in der Familie fortgesetzt wird? Diese Frage auch aufzulösen in Beziehung auf die Jugend der Realschule. Soll das gemeinschaftliche Leben in der Schule nur eine solche Zwischenzeit zwischen dem häuslichen Leben vor der Schule und dem geschäftlichen Leben in der Familie nach der Schule [seyn]? Je mehr gemeinschaftlicher Sinn desto mehr wird man auch eine solche Gemeinschaft bey uns zu unterhalten suchen. Also politisch. Inconsequenz das gemeinschaftliche Leben mit der Jugend fortzusetzen wenn es keine Gemeinschaft im öffentlichen Leben gibt. Wenn wir beyde Klassen betrachten so können sie in Beziehung auf ihre Entwicklung sehr weit aus einander seyn. Das Wesentliche dabey ist immer ein frühes Übergehen ins Geschäftsleben. Dadurch die Jugend in ein Hauswesen – fremdes, was nicht alles befriedigt, daher auch das Bedürfniß nach Gemeinschaft. Zweyerley übrig. Einmal eine Gemeinschaft als Fortsetzung eines Unterrichtslebens – Fortentwicklung oder Wiederholung und Erneuerung dessen was in der Schule aufgenommen ist. Von solchen Vorstellungen finden wir allerdings Spuren, aber noch fragmentarisch und neu, unsere Ha ndw erksschule ganz von diesem Charakter, Ergänzung der vorhergegangenen Schulen die noch nicht ihr ganzes Gebieth ausfüllen. In solchen können eben gewisse Elemente getrieben werden, Formenlehre größtentheils, und vielleicht in Beziehung auf einige Gewerbe auch die Kenntniß und Behandlungsweise der Naturkörper. Wenn die allgemeine Schule dahinn kommt dieß in ihren Kreis aufzunehmen, dann werden solche Anstalten als Nachhülfe überflüssig ausgenommen wenn sie sich mehr theilen. Durch diese Anstalten könne die Jugend immer von neuem gemischt werden mit näheren Geschäftsgenossen. Wir folgern daraus daß das etwas zu begünstigendes ist und zwar selbst für den Fall daß es in der Gesellschaft kein öffentliches Leben gäbe so könne man dieß ansehen nur 8 verlassen] verläßt

29 auch] auf

1–2 Vgl. SW III/9, S. 487: „Ebenso ist es nur ein nothwendiges Uebel wenn in den Erziehungs- oder Pensionsanstalten selbst die Zöglinge auf Verlangen der Aeltern außer der Schulzeit oder wol gar außer der Anstalt selbst noch besonderen Unterricht genießen sollen den andere nicht genießen können: dies stört mannigfach das reine Verhältniß, und darf nie begünstigt werden.“

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als längere Fortsetzung der Schule. In so fern haben diese Anstalten eine allgemeine Gültigkeit. Nicht zu läugnen daß die Gemeinschaft einen gewissen unfertigen Charakter annehmen wird, beschränkte [sich] der Gemeingeist auf das specielle Gewerbe in der Jugend – in so fern wäre sie eine schlechte Vorbereitung für irgend einen Theil des gemeinsamen Lebens. Wenn gleich dieses einen gewissen Grund hat so muß es nothwendiger Weise sein Gegengewicht haben. Nun liegt es ebenso in der Natur der Sache daß ein fortgesetztes Gemeinschaftsleben der Jugend möglich ist in einer zweyten Form – in einem Geschäftsleben in Rücksicht auf Spiel und freye Thätigkeit. Diese beyden Formen werden reine Correlate und müssen sich ergänzen. Wenn [es] dann erst eine Einseitigkeit gibt, so kann man der letzten unmittelbar so etwas nicht nachsagen wenn die Jugend in der Zeit der Muße in größerer Anzahl unter Aufsicht zusammen ist – Vergessen des Geschäftslebens. Unmittelbar nichts Nachtheiliges und man könnte also denken wenn die Gewerbsschulen einer Nachhülfe des allgemeinen nicht mehr nöthig wären und man nicht rathsam fände allgemein specielle Schulen anzulegen, so werde dem Bedürfniß einer fortwährenden Gemeinschaft genügt durch diese gymnastische Gemeinschaft. | Nur eins hiebey – daß eine solche Vereinigung eine gewisse Gleichheit in den geselligen Formen wenigstens voraussetzt weil ohne diese keine wahre Vereinigung statt finden soll, es repräsentirt alsdann das Gebieth der freyen Geselligkeit. Da keine andere Grenze als die der S it te. Wo noch eine große Differenz der Sitte – Trennung der verschiedenen Zustände sey – entweder zöge eine Änderung in den Zustand der ganzen Gesellschaft, oder es ginge durch diese Principien die Vereinigung wieder unter. Das neu entstehende wird den kürzeren gegen ein Gegebenes ziehen. Die große Differenz des gesellschaftlichen liege eigentlich nicht innerhalb des Kreises den wir hier vor Augen haben. Wenn also die Frage ist was in dieser Beziehung zu begünstigen ist, so liegt das wohl zu Wege; nähmlich es läßt sich eine Formel darüber aufstellen aber nicht ohne eine gewisse Unbestimmtheit und Schwierigkeit in der Anwendung. Diese allgemeine gym n as t i s c h e Ve r e i n ig ung der Jugend muß in der Analogie mit der in der Gesellschaft bestehenden Sitte organisirt seyn, so daß sie wie alles pädagogische auf die Zukunft gerichtet ist – immer eine Annäherung zu einer größeren Gleichheit aber ohne solche Grenzen die noch ganz feststehen gegen die herrschende Sitte einrei12–15 Vgl. SW III/9, S. 556: „Die Gemeinschaft der freien Thätigkeit und des Spiels hebt die Trennungen die sich auf das Geschäftsleben beziehen wenigstens momentan auf; sie macht ein Vergessen des besonderen Berufes und Standes in der Zeit der gemeinsamen freien Thätigkeit möglich; sie schwächt dadurch den nachtheiligen Einfluß den die Gemeinschaft des Gewerbes auf den Gemeingeist hat.“

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ßen zu wollen. Das die Sache des practischen Talents, dabey [liegt] Kl u g h e i t zu Grunde, genaue Regeln nicht zu geben. Die Anwendung im Großen mehr vom Politischen als dem unmittelbar Pädagogischen. – Also doppelte Gemeinschaft: Hat eine solche Gemeinschaft einen überwiegend gymnastischen Charakter so muß deßwegen auch eine größere Freyheit darinn statt finden, und weil dieß in der Natur der Sache liegt, so wird sich in dem Maaße in welchem die Jugend sich entwickelt zeigen in wie fern die Richtung auf ein größeres gemeinsames Leben in ihnen ist oder nicht. – Noch über die Sache selbst. Privat Unterricht. 1.) die in die Zeit des Geschäftslebens hineinfallenden fortgesetzten Schulübungen der Nachhülfe beweisen eine unvollkommene Einrichtung der Schulen, Q R die Wiederholungen in dieser Schule. Wenn zu lang die Jugend die in das Geschäftsleben eintritt mit einem einzelnen mechanischen Theil sich abgibt, dann freylich kann es seyn daß sie eine Zeitlang im Geschäft sey ohne mit solchen Thätigkeiten zu thun zu haben wodurch die Anwendung der in der Schule erlernten Kenntnisse nothwendig wird und dann ein solches Zwischenprodukt der Wiederholung aufgegeben. Das Bestehen solch specieller Anstalten in Beziehung auf große Vereinzelung ist etwas ans Gewerbsleben sich anschließendes, so daß wir hier über das Materiale nichts sagen dürfen. – Doch immer müssen sie das Geschäftsleben nicht begrenzen – in eine solche Zeit wo die Hülfe der Jugend nicht gebraucht wird, aber die Zeit der Muße ebenfalls nicht zu beschränken, die richtige Eintheilung der Zeit unter den drey Gliedern die Hauptsache – Charakter der Schule, strenge Gesetzmäßigkeit und Ordnung auf dasselbe wie in der allgemeinen Schule zu Grunde. Was die wissenschaftliche Bildung betrifft so sollen die daraus hervorgehen als Leitende auftreten im künftigen Leben, der Wissenschaft und der Tradition der Kenntnisse überhaupt und bürgerlichen Gesellschaft. Es wird sich also wieder auf die selbe Weise wie vorher zeigen lassen was hiezu gehört. Anzuknüpfen an den Anfangspunkt und Endpunkt und dann den Raum auszufüllen. Auf welchen Punkt muß man zurückgehen, die wissenschaftliche Bildung anzuknüpfen – Ort der Principien, diese aufzufinden und sie anzuwenden, nicht mit17 dann] dann und 24–25 Vgl. SW III/9, S. 559: „Auf die richtige Eintheilung der Zeit mit Beziehung auf diese drei Glieder, Geschäft Unterricht freie Thätigkeit, kommt alles an.“ 28– 30 Vgl. SW III/9, S. 488 (Zusatz): „i m b ü rg e r l i c h e n L e b e n , i n d e r Wi s s e n s ch a ft u n d d e r Tra d i t i o n d e r K e n n t n i sse , u n d i n d e r K i r c h e .“ 34–1 Vgl. SW III/9, S. 488: „Hätten wir gesagt, der Ort wo die Principien mitgetheilt werden: so konnte daran ein Mißverständniß sich knüpfen. Es giebt hier keine Mittheilung; Mittheilung der Principien beruht nur auf Autorität, diese hat in der Wissenschaft keine Geltung, nur eigene Ueberzeugung. Diese kann nur von innen heraus kommen, also die Principien müssen eigentlich selbst gefunden werden.“

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zutheilen. Hier nur aufzufinden. Woran sollen wir anknüpfen? Auf eine allgemeine frühere Betrachtung zurück, [sie] beruht auf der Ansicht von der Bildung überhaupt und muß verschieden ausfallen, wenn es eine Ansicht gäbe als ob ein angestammter Unterschied wäre zwischen denen welche die Leitenden in der Gesellschaft sind und den Geleiteten dann wäre der Unterschied schon bey der ersten pädagogischen Bildung erhalten: nimmt man aber an daß sich diese Differenz erst allmählich bildet, so tritt dann auf jeden Fall ein späterer Anknüpfungspunkt ein und aus dem Verlauf der größeren Bildung tritt dann diese Auswahl zurück. Das erste findet auf unserem Gebieth gar nicht statt. Zwar hie und da noch Meynung von einem angestammten Unterschied aber nur in Beziehung auf den Staat, aber nicht in der Erkenntniß sondern irgend etwas Anderem. Es ist natürlich daß es unter der Generation die vorangeht einen Theil gibt der die Richtung nimmt denjenigen welche die bürgerliche Gesellschaft leiten sollen auf eine andere Weise die Mittheilung von Principien zu bilden und dieses letztere in den übrigen Gebiethen anheim zu geben. Dieses hat statt gefunden aber für uns nicht eine vergangene Zeit; eine solche Ausnahme zum großen Nachtheil denen in denen eine solche angestammte Differenz vorausgesetzt wird. Können und müssen wir dieß abläugnen, daß gleich vom ersten Anfang die pädagogische Thätigkeit an denjenigen unterschieden werden könnte, welche einen solchen Beruf innerlich haben so wird freylich die Frage entstehen[:] Wann ergibt sich das? Wir wollen den entgegengesetzten Punkt ins Auge fassen und annehmen es solle gelten, daß die ganze Jugend ohne Ausnahme den ganzen Bildungskreis den wir uns jetzt beschrieben haben – Realkenntnisse, durchgemacht haben, und erst am Ende man die bestimmte Überzeugung auf gesicherte Weise gewonnen. Bey den einen die Neigung zur Gewerbsthätigkeit bey einigen aber zur wissenschaftlichen Ausbildung. Läßt sich dieß annehmen und ausführen? | Wenn 8 bildet] bidet 30–6 Vgl. SW III/9, S. 489–490: „We n n e s si c h a u s f ü h r e n l i e ß e , d a ß d i e J u g e n d , a u ß e r d en e n d i e sc h o n f rü h e r a u s d e r Vo l k s s c h u l e u n d d e r n i e d e r e n B ü r g er s ch u l e i n d i e m e c h a n i sc h e G e w e rb st h ä t i g k e i t ü b e r g e h e n , g e m e i n s c h a ftl i c h i n d e r h ö h e re n B ü rg e rsc h u l e u n t e r r i c h t e t , u n d d a ß n a c h Vo l l e n d u n g d i e s e s C y k l u s e n t sc h i e d e n w ü rd e , w e l c h e i n d i e G e s c h ä f t s thätgkeit übergehen könnten, und welche für die wissenschaftliche A u s b i l d u n g F ä h i g k e i t u n d N e i g u n g h ä t t e n : so w ä r e d a s d a s s i c h e r s t e , und es würde dann das neue höhere Bildungsreis auf die vorhergegangene reale Bildung gepropft. Je länger das Zusammenleben dauert, desto gründlicher kann Beobachtung angestellt werden; je länger das gemeinschaftliche Fortschreiten genährt wird, zu desto sichrerer Selbstkenntniß kommt die Jugend; desto fester würde also auch die Ueberzeugung und die Uebereinstimmung sein, desto seltener würde die Nothwendigkeit eintreten daß Individuen die wissen|schaftliche Bahn in Folge ihrer Untüchtigkeit nach großem Zeitverlust verlassen.“

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es sich ausführen ließe, so wäre es ursprünglich wohl das sicherste, je länger der gemeinschaftliche Fortgang gewährt und Beobachtungen über die Jugend können aufgestellt werden und sie selbst [ ] um desto fester müßte die Überzeugung seyn, und nicht die Besorgung eintreten, es könne sich ereignen, daß mehr oder weniger dazu untüchtig werden und zurückgehen müssen, was allemal ein Verlust wäre. Läßt es sich ausführen d. h. wenn wir den Zeitraum betrachten von dem wahrscheinlichen Ende der realen Bildung an bis zu dem letzten Ende des Erziehungsverhältnisses, dem Punkt wo eine vollständige Selbstständigkeit eintreten müßte, in diesem Zeitraum die ganze Aufgabe zu lösen wäre, ob nicht dann Zeit zu bekommen wäre? Hier nicht a priori zu antworten. Wir müssen wiederum auf die gegebenen Zustände zurück. Da finden wir allerdings mancherley Beschränkungen in den äußeren Kenntnissen. Sehen wir nun die eigne Thätigkeit im gemeinsamen Leben in welche die Jugend übergehen soll, so finden wir die auf der einen Seite im St aat s d ienst , im D ienste der Wiss e n s c h a f t und dem D i e n s t e d er K irche. Die selbstständige Thätigkeit hier erfordert in Beziehung auf das Positive individuell bestimmter Zustände in welchen sich die Gesellschaft befindet eine Vorübung, der man auch noch einen Raum gönnen muß. Was gewinnen wir so für eine Zeit? In den verschiedenen Staaten nicht gleichförmig der Zeitpunkt der Mündigkeit bestimmt. Die Sache auf zweyerley Art gespalten. Man könnte sagen: Denn die natürliche Folge daß der ganze Bildungskreis mit diesem Zeitpunkt müsse beendigt seyn, das Lehren und Lernen nicht mehr statt [findet]– Sonderung auf die höheren Berufszweige. Auf der anderen Seite könnte gesagt werden es sey natürlich daß alsdann uns diese Vorübungszeit geschlossen sey und die vollkommen freye Thätigkeit in den verschiedenen Berufszweigen anfangen müsse. Fragen wir was von beyden ist denn vorzuziehen so folgt daraus innere Gründe nicht anzugeben, mehr von äußeren abhängig, also vorzüglich von der Bildung eines eignen unabhängigen Lebens und Hausstandes in der Gesellschaft und das was dazu gehört[,] von Seite eines eingeschränkten Wohllebens angesehen würde die ältere Generation sagen[:] Wir müssen wünschen daß alsdann die Berufsthätigkeit angehe damit die Vorsorge für die Jugend aufhören möge; bey wohlhabendem Stande würde das nicht der Fall seyn aber die jüngere Generation [würde sagen:] wenn sie einen Sinn hätte. Im Ganzen wird es uns immer so erscheinen daß im geringeren Reichthum der Klasse welcher diese Jugend angehört ein beschränkendes Princip liege, dann die Jugendzeit enger zusammenzudrängen, ja ein 3 selbst] es folgt ein Spatium von etwa einer viertel Zeilenlänge Vorübungszeit dann

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Maaßstab für die Wohlhabenheit der Gesellschaft. Nun ist hier allerdings noch ein Umstand zu berücksichtigen: Sollte ein Zusammendrängen ausgeübt werden und der kürzeste Zeitraum der liebste seyn, soll dieses mehr eintreten in Beziehung auf die allgemeine Bildungszeit oder mehr auf die Vorübungszeit zu den speciellen Geschäfts[ ] Es kommt alles darauf an wie man sich das Verhältniß zwischen beyden denke. Geht man von der Vorstellung aus, daß Theorie und Praxis in Opposition stehen, so werden wir sagen[:] Die allgemeine Bildungszeit hat es ganz mit der Theorie zu thun, die specielle Vorbereitungszeit soll die Jugend wieder an die Anstrengung der Dinge und Verhältnisse damit gewöhnen. Geht man aber davon aus, daß die Theorie nur das Innerste von der Praxis ist, dann würde man sagen können, wenn man nur der allgemeinen Bildung ihren gehörigen Raum läßt, so kann man hernach die Vorübungszeit einschränken. Diese zwey Ansichten immer noch zu gleich vorhanden und im Staat mit einander. Freylich unter sehr verschiedenen Verhältnissen auf denen größtentheils der Zustand dieser Angelegenheit beruht werden diejenigen welchen von Seiten der Gesammtheit die Leitung der pädagogischen Thätigkeit anvertraut ist der Meynung seyn von dem Gegensatz der Theorie und der Praxis dann freylich suchen sie der Praxis schon einen Raum zu verschaffen in der allgemeinen Bildung, um in Beziehung auf die gegebenen Verhältnisse in der Gesellschaft [diese] zu verunreinigen. Sind sie der Meynung, daß man die Theorie ruhig könne gewähren lassen, es wird sich dann mit der Praxis fast leicht äußern, dann suchen sie der allgemeinen Bildung so viel Zeit als möglich zu geben und sie rein zu halten. Aber Opposition von Seite der Oberen. So immer zwey Parteyen welche sich um den Rang streiten. Frage ich: Können wir von unseren Voraussetzungen etwas hierüber entscheiden? Allerdings haben wir zweyerley woran wir knüpfen können. Einmal haben wir gesagt es müsse ein gewisses Gleichgewicht [ ] | Productivität. Diese ist aber immer Praxis. Je eher in der Bildung dieses gleich gültig ist, desto mehr muß der Gegensatz zwischen Theorie und Praxis aufgehoben seyn. Freylich alle werden es nicht gelten lassen, das sey eine andere Praxis, hernach eine empirische etc. Der andere Punkt. Wir 5 mehr] mehr auf die Vorübung 5 Geschäfts] es folgt ein Spatium für die zweite Worthälfte, zu ergänzen wohl –zweigen. 19 seyn] sind 30 Gleichgewicht] Satz bricht am Ende der Seite ab, zu ergänzen wohl zwischen Receptivität und Productivität seyn. 31 eher] eher dieß 21–22 Vgl. SW III/9, S. 491: „die allgemeine Bildung wird dann sehr leicht durch die enge Beziehung auf die Anwendung alterirt.“ 26 Vgl. SW III/9, S. 491: „dann erhebt sich aber oft eine Opposition von Seiten der Geschäftsführenden und die Klage daß keine Tüchtigkeit für den Beruf entwikkelt werde.“

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müssen aus der pädagogischen Thätigkeit die ganze Jugend so abliefern daß diese nicht nur dem Zustand des Lebens angemessen ist sondern daß auch in ihr die Fähigkeit liegen müsse den gegebenen Zustand zu verbessern. So gibt man zu daß die Theorie einen beständigen Ort im ganzen künftigen Leben haben müsse. Ist dieses eingesehen und klar, daß eine solche unmittelbar auf das theoretische sich beziehende Productivität keinen Gegensatz bildet zu der Praxis die auf Bestimmungen beruht, dann würde wohl eine Einwilligung über die Sache von diesem Gesichtspunkt aus möglich seyn, und nur das v ers c h i e d e n e M aaß d e s Woh l s t an d e s könnte eine verschiedene Behandlung bestimmen. Wenn wir nun auf die vorausliegende Aufgabe sehen, die leitenden Principien in eine ganze Generation hineinzubringen und ihnen Kraft durch diese als ihre Organe verschaffen zu müssen so folgt daraus es sey ein unwürdiger Zustand der Gesellschaft, wenn hier ein äußeres Princip seine Gewalt ausübt, in einem äußeren Unvermögen gegründet. Geschichtlich betrachtet sind immer Bemühungen angewendet worden diesem abzuhelfen, Anstalten; dieser bedrängende Impuls geht von dem Zustand der Familien aus, dem die Jugend angehört. Versuche auf zweyfache Weise. Einmal in dem man ein bestimmtes Alter gestellt hat, vor dem es nicht gestattet seyn soll in diesen leitenden Geschäften aufzutreten, die auszuweisen deren äußere Bildung es nothwendig macht. Das andere was ein entgegengesetztes daß man sagt, tritt der Fall oft ein, daß diejenigen deren Jugend sich innerlich betrachtet am meisten dazu eignet in diese Positionen einzugehen nicht das gehörige von äußeren Hülfsmitteln haben so erfordert der Gemeingeist daß man ihnen zu Hülfe kommt. Hievon sind alle öffentlichen Beneficien immer ausgegangen. Zwischen beyden Maaßregeln kein Widerspruch. Die erste eine abhaltende gegen ein Andrängen von solchen die nicht vollkommen dazu qualificirt sind, die andere nothwendig diejenigen die vollkommen dazu qualificirt sind in den Stand zu setzen für das Ganze thätig zu seyn, und bis der Wohlstand ein gehöriges Maaß erreicht hat, wird beydes eintreten müssen. Dann wird der gehörige Raum der Ausbreitung beyden dem 10 Wo h l s ta n d e s] Wo h st a n d e s wird dann

23 tritt] trit

30 dazu] zuzu

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21–22 Vgl. SW III/9, S. 492: „dadurch werden diejenigen die durch äußere Umstände beschränkt sind eine so lange Zeit ihrer Bildung zu widmen, ausgeschlossen.“ 33– 2 Vgl. SW III/9, S. 492–493 (Zusatz): „Auf diese Weise wird es möglich sein für die allgemeine Bildung und die Vorbereitung auf den Beruf die nothwendige Zeit zu gewinnen; und d i e a l l g e m e i n e F o rm e l w e l c h e w i r i n B e z i e h u n g a u f d e n A n f a n g s u n d E n d p u n k t a u f st e l l e n , i st d a n n d i e se , D i e w i s s e n s c h a f t l i c h e B i l d u n g s s t u f e b eg i n n e so b a l d si c h d i e B e |f ä h i g u n g d e r I n d i v i d u e n s i c h e r m a n i f e s t i r t h a t ; i h re D a u e r se i n i c h t b e sc h rä n k t , i h r E n d p u n k t n i c h t b e d i n g t d u r ch ä u ß ere U m st ä n d e . “

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allgemeinen Bildungsgut der speciellen Bildung auf die Berufszweige gegönnt werden können. Wir finden eine Differenz nach verschiedenen Seiten: Einmal als ein Ganzes die ganze allgemeine wissenschaftliche Bildung und hernach als ein Besonderes für sich und zum Theil über die Periode der Erziehung hinaus gehend die besondere Vorbildung für die einzelnen Zweige des thätigen Lebens. Statt dessen bey uns im Deutschen Unterrichtswesen ist allgemeiner Typus die Eintheilung in die Gymnasien und Universitäten und aus diesen die Innstitute. Die Gymnasien enthalten eigentlich eine Tradition von wissenschaftlichen Kenntnissen aber ohne die wissenschaftlichen Principien die aus Philosophie hervorgehen. Diese Principien selbst und die specielle Anwendung auf die allgemeinen Wissenschaften werden auf den Universitäten gelehrt, und auf denselben auch schon die Vorbildung für die verschiedenen Zweige des öffentlichen Lebens aber nur in theoretischer Form. Wogegen hernach die practische Vorbildung mit den Innstituten selbst verbunden ist. Wenn also was wir aufgestellt haben eine Zweytheilung war, so ist dieses eine Dreytheilung, die Universitäten aber unter I und II Theil. Dagegen finden wir anderwärts eine andere Form, wo unser Mittelglied die Universitäten wie bey uns ganz fehlen und eine Dichotomie statt findet, aber doch so, daß Gymnasium ebenfalls die wissenschaftliche Tradition enthält, und hernach folgen auf diese gleich Specialschulen, theoretische Vorbildung für die verschiedenen Zweige, aber denen ist dann ein Vortrag über die wissenschaftlichen Principien zugesellt. Da schließt sich dann an die theoretische auch gleich die practische Vorbildung an, dieß überwiegend die französische Form, und es gehört zum ganzen Zustand zwischen beyden Nationen auch ein ähnliches Verhältniß in diesem Gebiethe. | In dieser Beziehung noch ein innerer Kampf bey uns. Jetzt bey dieser allgemeinen Übersicht was gleich hieher gehört ist der erste Grund dieser ganzen Differenz, nähmlich der liegt nun in dem verschiedenen Werth, welcher auf die wissenschaftlichen Principien in ihrer Anwendung gelegt wird und was historisch damit zusammenhängt [hat] das größte Gewicht, auf der anderen Seite auf die alten Sprachen als Fundament unserer Cultur, die höhere Schätzung von beyden hängt zusammen mit der Vorliebe für Universitäten. Geringste historische Bildung und weniger alte Sprachen hängen zusammen mit 37 hängen ] hängt 27–29 Vgl. SW III/9, S. 494: „B e i u n s hat sich auf der einen Seite immer mehr die A n h ä n g l i ch k ei t a n d i e e i n m a l b e st e h e n d e E i n r i c h t u n g fixirt, auf der anderen Seite ist immer mehr eine H i n n e i g u n g z u j e n e n S p e c i a l s c h u l e n e n t s t a n d e n , a l s o ei n Ka m p f z w i sc h e n d i e se n b e i d e n F o rm e n . “

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der Vorliebe für Specialschulen. Zunächst zu entwickeln das Verhältniß der Art wie unsere Gymnasien construirt sind. Nähmlich eine wissenschaftliche Tradition so wie wir sie schon in der vorigen Bildungsanstalt hatten, nur ohne die alten Sprachen aber mit Ausschluß der eigentlichen streng wissenschaftlichen Formen. Wenn wir sollten jetzt eine Construcion des Ganzen anlegen aus dem bisher entwickelten, so haben wir zweifelhaft gelassen ob die allgemeine Bildung der Realschule genügen könne. Zwar ist offenbar daß wenn man von dem Gegebenen ausgeht, wie unsere Gymnasien von den ersten Elementen anfangen, so ist nicht möglich daß da eine Thätigkeit für Aufregung speculativer Principien eintreten könne weil es nicht für diese Jugend ist. Die Gymnasien waren die allgemeinen Schulen für alles was über die Elementarschule hinausging und nach dieser Bestimmung ihre Construction zu beurtheilen. Das konnten sie nicht anders als mit der Tradition, die auf das Q R ausging, verfahren und nun gingen successive diejenigen aus den Schulen hinaus, die in die niederen und dann in die höheren Gewerbe gingen, und zuletzt blieben die der Wissenschaft sich widmenden. Da erst in der letzten Klasse etwas Wissenschaftliches, Logik, das die älteste Form. Hernach nicht gleich gesehen daß damit nichts anderes geschehen würde als nur die practische Übung für die QBetrachtungR von Vorstellungen und die Eintheilung von Gesammtvorstellungen aber daß Logik eigentlich die specifischen Principien nicht in sich schließe. Diese den Universitäten vorbehalten und man hat immer mehr Erfahrungen daß die Logik als eigentlicher Unterrichtsgegenstand auch ganz aus den Gymnasien vertrieben ist, als die wissenschaftlichen Principien erst auf den Universitäten. Da soll also alles wieder speculativ QsummirtR werden, und zu gleich die historischen Kenntnisse welche sich auf die besonderen Zweige des öffentlichen Lebens beziehen mitgetheilt werden. Was betrifft das erste? Wie verhalten sich unsere Gymnasien in gegenwärtiger Form zu der vorigen von uns gezeichneten Bildungsschule? Offensichtlich eigentlich im Wesen dasselbe nur daß die alten Sprachen mit hineingezogen sind so daß die Realkenntnisse dabey zurück treten. Sagen wir also wir setzen uns hinaus in eine Zeit wo es eine große Anzahl von höheren Realschulen gibt in welchen die wissenschaftliche Tradition noch weiter getrieben wird als auf unserem Gymnasium aber nicht die alten Sprachen, was [ist] dann der Zweck[,] entweder daß eben jene Realschulen schon parallel gehen solchen Innstituten die die alten Sprachen noch hinzufügen oder daß man erst nach der vollständigen Realbildung die alten Sprachen eintreten läßt auf besondere Weise, in zwischen den Realschulen und den Universitäten liegenden Anstalten? Hier ist nicht 15 das] das folgende unleserliche Wort heißt wohl geschichtliche

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leicht eine allgemeine Entscheidung zu geben. Das erste scheint einen gewissen Überfluß in sich zu enthalten, wobey vorausgesetzt wird daß die Richtung auf die vollendete wissenschaftliche Bildung schon früher verschieden sey – etwas wozu es in der Regel nicht hinreichenden Grund gibt. Überfluß von Anstalten auf der anderen Seite Mangel an gehörigen Gründen zur Vertheilung der Subjecte in die eine und andere; also natürlicher das andere. Wenn Fortschreiten in der mathematischen Kenntniß hinzutreten sollte dann würde eine Zusammenziehung der höheren Realschulen und des Gymnasiums statt finden und einsehen daß man da zu gleicher Zeit größere Vorkenntniß in der Realwissenschaft mit den Wissenschaften gebe. Nun fragt sich bey dieser gegenwärtigen Lage der Sache wie sollen wir unsere weitere Entwicklung einrichten? Es kommt hier zunächst an auf die neuen Elemente welche in Beziehung auf die allgemeine Wissenschaftliche Bildung aber vor dem Eintritt der Mittheilung specieller Principien noch hinzu kommen sollen zu entscheiden, dabey aber nur das [was] auf einander folgt oder zusammen QgehörtR unentschieden zu lassen. | Zunächst in Beziehung auf das Materielle des Gymnasiums was muß zu den vorher aufgetheilten Elementen in Beziehung an dem höheren Antheil an der Leitung des Gemeinwesens, wobey die Wissenschaft im höheren Sinne des Wortes vorausgesetzt werden muß, hinzukommen? Hier haben wir zweyerley Gesichtspunkte zu fassen, nähmlich die eine Gruppe die wo immer ein solch künftiger Antheil an der allgemeinen Leitung der Angelegenheiten vorausgesetzt wird, da muß allerdings auch ein tieferes geschichtliches Leben vorausgesetzt werden. Um die Zukunft zu construiren gehört daß man die Gegenwart aus der Vergangenheit construirt habe, damit man wisse was für Principien dabey thätig sind. Dann aber gehört allerdings um die Zukunft zu construiren daß die richtige Idee von dem womit gearbeitet werden soll vorhanden sey. Das die speculative Seite, hängt zusammen mit der Idee des Guten an und für sich und diese in ihrer bestimmten Modification hängt zusammen mit der Idee des Wahren, dann die Nothwendigkeit der Speculation der höheren Wissenschaften für die allgemeine Leitung der menschlichen Dinge. Gehört dieß erst in spätere Periode hinein so fragt sich ist in dieser Beziehung etwas noch mehr in unserer Periode hinzuzufügen? Bey der vorigen Bildungsform die Ansicht die Hauptrichtung auf das allgemeine Verkeh21–22 hinzukommen] davor was muß 7–11 Vgl. SW III/9, S. 495: „Nur dann wenn es gelingt in kürzerer Zeit als bisher die Realkenntnisse und die Sprachen mitzutheilen, so daß also die Methode gleich kunstgemäß für den Cyklus der Real- und Gymnasialkenntnisse entwikkelt würde, möchte eine Zusammenziehung der Realschulen und Gymnasien eintreten;“

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ren wobey die Verhältnisse mit anderen Staaten zu Grunde liegen, also auch Geschichtliches mehr zu finden als in der allgemeinen Volksschule. Aus dieser Bildung [geht] schon Leitung des Gemeinwesens hervor. Das die derart zum Grunde liegende Idee, das Geschichtliche im eigentlichen Sinne und Philologie, die Sprachkunde beschränkten wir auf die lebenden Sprachen des allgemeinen Verkehrs, und in der Geschichte ein Übergewicht der älteren über die neuen. Hier kommt die Ergänzung jener Form in seinem ganzen Umfange. Ein Studium der Geschichte rein für sich ohne die einseitige Relativität in Beziehung auf die Gegenwart. Aber auch ohne die Fähigkeit speculativer Principien zum Leben zu bringen vorauszusetzen. Ebenso eine Erweiterung der Sprachkunde. Nach we l c h em Princip? Sollen bloß diejenigen alten Sprachen [vorkommen] welche das historische Element unserer allgemeinen Cultur sind, oder Erweiterung der Sprachen daß sie ein Ganzes werden, so daß die Differenz aller Sprachen aufgefaßt würde? Sie sehen daß die Praxis in Beziehung auf den bewußten Punkt schon entschieden hat mit wenigen Differenzen. Ob aber die Theorie eben so entscheiden muß? Die Theorie kann freylich sagen wenn die Sprachkunde zu gleicher Zeit eine Vorübung seyn solle zu dem Auffassen speculativer Principien so wird sie das bey einer solchen Beschränkung nicht leisten, daraus zu fordern daß die ganze wesentliche Verschiedenheit in der Sprachbildung mitgetheilt werde – das dann Vorübung um das Denken in seinen wesentlichen Bestandttheilen zu fassen so daß hernach die speculative Betrachtung erleuchtet wird. Sagt man aber die classischen Sprachen haben dabey eine eigne Verwandtschaft und die anderen dabey nicht nöthig so ist das eine einseitige Entscheidung. Die semitischen Sprachen bestimmen auf ganz andere Weise was als Material und Form der Sprache hervortritt, eine Differenz wozu sich in den classischen Sprachen und ebenso in den neuen kaum eine leise Andeutung findet. Denken wir in dem Chinesischen Sprachschatz den Hauptunterschied zwischen nomen und verbum auf andere Weise gefaßt, grammatisch nicht festgestellt so ist das eine ganz andere Form des Sprachvermögens – aber wenn nicht mit 30 in] In 7–8 Vgl. SW III/9, S. 496: „Auf der wissenschaftlichen Bildungsstufe sind die neuen Elemente Ergänzung dessen was auf der vorigen Stufe bloß relativ gegeben war zu seinem ganzen Umfang;“ 16–17 Vgl. SW III/9, S. 497: „Die Praxis hat die Erweiterung der Sprachkunde auf die alten klassischen Sprachen beschränkt, und zwar weil diese das historische Fundament unserer Bildung sind.“ 33–3 Vgl. SW III/9, S. 498: „Wenn die Vergleichung der zum indogermanischen Sprachstamme gehörenden Sprachen mit dem semitischen Sprachstamm und den ostasiatischen Sprachen ganz aus dem Auge gelassen wird: so wird der Gesichtskreis sehr beschränkt, und es fehlt an einer Anschauung, die dem Verständniß der speculativen Principien überaus förderlich ist. Freilich wenn die Methode nicht abgekürzt wird, so ist an eine solche Erweiterung nicht zu denken.“

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der Methode bessere QÄußerungR geschehen wird und eben so viel dieß geben wird wie bey den alten Sprachen so wird es unmöglich seyn einen so weiten Gesichtspunkt zu fassen. Dieses hinzuzufügen nach Maaßgabe daß sich Zeit gewinnen läßt durch Erweiterung von abgekürzten Methoden. | Wenn wir auf die Thätigkeit im künftigen Leben sehen, so wird es hinreichen diejenigen Sprachen aufzufassen auf welchen unsere Bildung ruht. Man hat den Gedanken aufgeworfen, ob nicht unsere eig ne ä lt e r e S p r a c h e uns näher liege als die älteren fremden. Erwägt man die Sache unpartheiisch so folgt daraus daß unsere alte Litteratur in Beziehung auf [ ] weiter von uns entfernt ist als die Römische und Griechische. Eine solche Allgemeingültigkeit wird unsere Litteratur nicht erlangen, und nur Besitzthum der eigentlichen Philologie seyn. Ein anderer Gedanke den man auch aufgeworfen, ob nicht neben den classischen Sprachen auch die H e b r äi s c h e S pra che ein allgemeiner Lehrgegenstand im Umfang unserer Gymnasialbildung seyn soll. Versuche in der Praxis, viel Gutes nicht davon zu erwarten. Mit dieser Sprache bekanntlich nicht förderlich fort, auch bey denen die sie für ihr Quellenstudium gebrauchen. Was die anderen Sprachen betrifft so muß ich erinnern an die allgemeinen Grundsätze, daß alles Todte und alle Fortschreitung in materiellen Kenntnissen abgesehen vom lebendigen Gebrauch müssen vermieden werden. Also bey dem Studium der alten Sprachen kein anderer Weg als den ich in Beziehung auf die Muttersprache und die neuen gezeigt. Daher der Anfangspunkt dieses Studiums leicht zu zeigen. Das bloß Mechanische leichter in früheren Jahren, wo Spiel und Ernst noch nicht aus einander treten, aber nicht der gelehrte Sprachunterricht so frühe. Wenn in Beziehung auf die anderen Bestimmungen der Jugend Sprachkunde durch den Gebrauch der Muttersprache auf die rechte Weise geleitet ist, ebenso auch gleichzeitig mit den neueren, wodurch nur das comparative Verfahren noch etwas erleichtert würde, auch die Kenntniß der alten Sprachen kann angeleitet werden. Keine Zeit bloß als Mittel für eine spätere. Keine Schwierigkeit die beyden Hauptformen der Grammatik tabella6 sehen] sieht 10 fremden] fremden und eine nähere 12 auf] es folgt ein Spatium von etwa 2 cm Länge, zu ergänzen wohl das gegenwärtige öffentliche Leben 22 Fortschreitung] Forschreitung 15–18 In seinem Votum vom 10. Juli 1814 (Nr. 46, § 18, oben S. 241, 27–32) lehnte Schleiermacher einen Unterricht im Hebräischen mit der Begründung ab, dass das Gymnasium keine Spezialschule für Theologen sei. 34–4 Vgl. SW III/9, S. 502: „Haupt- und Zeitwort kann man zwar tabellarisch, aber weil immer gleich mit der Anwendung verbunden, lebendig mittheilen und zum unmittelbaren Gebrauch; das mehr receptive, die Analysis der Säze, und das mehr productive, die Composition derselben nach den vorliegenden Sprachformen, ist zu verbinden.“

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risch aufzutheilen. Dadurch wird sogleich die Sprache lebendig weil sie nicht unmittelbar theilen konnten[,] gleichzeitig zu verbinden das Receptive die Analysis und das mehr Productive nach Maaßgabe der tabellarisch vorliegenden Sprachformen. Dieß führt noch auf einen anderen Punkt, die G e d äc h t n i ß ü b u ng als einzelnen Unterrichtsgegenstand. Eine Sache wobey aufs Psychologische zurückgegangen werden muß. Die reinen Gedächtnißübungen, wobey das ins Gedächtniß aufgefaßte eigentlich auch als etwas gleichgültiges aufgefaßt werden muß, sind offenbar auch etwas Todtes. Es ist dabey auf unserem Gebieth eine doppelte Beziehung in Betracht zu nehmen, einmal das Gedächtniß als besonderes Vermögen überhaupt bis auf einen gewissen Grad zur Fertigkeit zu entwickeln, dann auch eine Leichtigkeit des Festhaltens in Beziehung auf den ganzen Umfang der Gegenstände welche in den Lehrcyclus hineingehören. Geht man davon aus, das Gedächtniß als besonderes Vermögen zu betrachten so hat man dabey schon recht, das specifische besteht vollkommen, und ebenso in Beziehung auf das letztere. Ich kann aber keinen bestimmten Unterschied finden zwischen der Operation des Auffassens und der des Festhaltens. Momentan und Beharrlich aber auch das Festhalten nur durch momentanes Auffassen zu üben. Das Festhalten entsteht aus dem momentanen Auffassen bloß durch das fortwährende Intresse, das Festhalten das natürliche Product des Intresses, das Festhalten zur Virtuosität zu bringen z. B. in großen Zahlenreihen der Jugend beyzubringen. Starkes Gedächtniß und starke Urtheilskraft, sagt man sind selten beysammen, in so fern im Gedächtniß nur das Intresse eines Mechanismus währt, so ist es so, aber haftet es nur am Gegenstand, dann ist natürlich daß jeder eine Fertigkeit des Festhaltens bekommt für diejenigen Gegenstände mit denen man sich aus festem Willen beschäftigt. Auch in Beziehung auf die Sprachen wo das Auffassen auf einem Festhalten 14–17 Vgl. SW III/9, S. 503: „Betrachtet man das Gedächtniß als besonderes Vermögen: so muß dies allerdings mit allen anderen geistigen Vermögen gleichmäßig entwikkelt werden, und ebenso wird niemand läugnen daß das was gelehrt wird müsse behalten werden.“ 20–22 Vgl. SW III/9, S. 503: „So kommt denn alles darauf an, daß nur momentan aufgefaßt werde; a u s d i e se m m o m e n t a n e n A u f f a s s e n v e r b u n d e n mi t fo r t d a u e rn d e m In t e re sse e n t st e h t d a n n d a s F e s t h a l t e n , d a s G e d ä c h t n i ß . Das Festhalten ist nothwendige Folge des Interesses an einer Sache, das Gedächtniß selbst ist nichts anderes als das momentane Product des natürlichen Interesses.“ 29–2 Vgl. SW III/9, S. 504: „Wenn es nun auch in Beziehung auf die todten Sprachen unumgänglich nothwendig ist daß das Auffassen so bald als möglich in ein Festhalten übergeht, zumal da dieser Unterrichtsgegenstand mehr nur in den Lehrstunden vorkommt und weniger in dem gemeinsamen Leben außer der Schule: so wird doch dies am besten und sichersten durch eine zwekkmäßige Methode des Sprachunterrichtes überhaupt sich erreichen lassen.“

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beruht, da ist dieses möglichst baldige Übergehen des Auffassens in gelungenes Festhalten etwas Wünschenswerthes. Zeichen von schlechter Methode wenn man Ausdruck von Gedächtnißübungen hat, die Gedächtnißübungen müssen nach und nach überflüssig werden. Weiter ins Einzelne zu gehen gestattet die Zeit nicht. Nur über Einen Punkt, damit nicht ein Mißverständniß aus dem Gesagten sich festsetze. Fragen wir abgesehen von der gegenwärtigen Behandlung der Sprachen wieder und auf den unmittelbaren Gebrauch geachtet: Wie weit soll denn nun die alte Sprachkenntniß getrieben werden? so könne sehr leicht aus dem am Ende vorgetragenen von dieser Gleichheit des Auffassens und der productiven Thätigkeit die Meynung entstehen, daß jeder zuletzt eben so vollkommen Griechisch und Lateinisch schreiben könne als er Griechisch und Lateinisch versteht. Das kann aber nach näherer Untersuchung nicht das allgemein zu fordernde seyn. Die Litteratur sich bis auf einen gewissen Grad anzueignen, und daraus sich nach und nach eine Kenntniß vom Bereich der Sprache zuzuschreiben da wird das Gleichgewicht der eignen Production aufhören und zurücktreten, da muß ein umgekehrtes Verhältniß eintreten. Anfangs zur Lebendigkeit muß die eigne Production überwiegend seyn, hernach aber zurücktretend, nur als Ergänzung das Festhalten des individuellen Sprachgebrauchs in jedem Gebieth zu erleichtern. | Es ist eine Erscheinung im Gebrauch der alten Sprachen daß man beym Lesen eines Wörterbuchs bedürfe, wollten wir aber schreiben so würden sich uns die Worte nicht darstellen, das die natürliche Folge, wenn das eigne Schreiben in der Sprache außer Übung kommt. Was den eigentlichen gelehrten Gebrauch der lateinischen Sprache im schriftstellerischen Gebrauch betrifft, gehört noch nicht hieher. Also ganz natürlich daß bis auf einen gewissen Grad diese Production muß getrieben werden. M e t r i s che Übung en z. B. auch nicht zu tadeln aber nur als durchlaufende Posten die nicht in die Schlußrechnung kommen. Es wäre klar das wir nicht klagen können, daß wir im großen Überfluß die großen Dichter in unserer Zeit haben, wenn ihnen einfallen sollte in Griechischer oder Lateinischer Sprache dichten [zu] wollen. Dagegen bringen wir es lange nicht weit genug im eigentlichen Auffassen der Sprache im Großen. Hier entgegengesetzte Maximen, die das Wahre verrücken. In Beziehung auf das Lateinische 35–2 Mit dem Ciceronischen ist der Ciceronianismus gemeint, das Bestreben lateinisch schreibender Autoren, den rhetorischen Stil Ciceros nachzuahmen und diesen als maßgebliches Ideal anzusehen. Der römische Rhetoriklehrer Quintilian (um 35 – um 96 n. Chr.) gilt als der theoretische Begründer des Ciceronianismus. Mit dem Attischen spielt Schleiermacher auf den Attizismus an, eine Bewegung in der Rhetorik, die im Gegensatz zur eindrucksvollen und ausgeschmückten Sprache des Asianismus, den schlichten und sachlichen Prosaautoren Athens folgte. Hauptvertreter des Attizismus waren der römische Gaius Licinius Macer Calvus (82–47 v. Chr.) und der griechische Dionysios von Halikarnassos (um 54 – nach 7 v. Chr.), sowie Lukian von Samosata (um 120 – nach 180 n. Chr.).

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das Ciceronische [das] Ziel[,] im Griechischen nach der Analogie das erste Ziel das Attische, das eine Einseitigkeit. Das ist eine einzelne Periode der Sprache da hat man die Sprache nicht, wenn man nur diese hat. Hernach hat man es wieder auf historische Weise gehalten, so daß man glaubte die Jugend sollte den Bereich der Sprache von Anfang an mit Homer beginnen. Aber man machte dann den ganzen Cyclus nicht durch, nähmlich die byzantinischen Schriftsteller. Dann noch die Vergleichung des Chrestomatischen mit dem Lesen ganzer Schriftsteller. Es muß eine Auswahl statt finden, wie diese zu bewerkstelligen. Hier können wir einer Stuffenleiter folgen in der Praxis. Lange nur Einen Repräsentanten für die Prosa und Einen für die Poesie, in Latein Cicero und Vergil, in Griechisch Xenophon und Homer. Offenbar für den Zweck sehr gute Schriftsteller. Es wird schwerlich möglich seyn wenn die Repräsentanten so vervollständigt werden ganze Werke von größerem Umfang durchzugehen, [so] scheint es billig zu seyn als ein chrestomatisches Verfahren. Dieses kann freylich auch zu weit getrieben seyn. Der Ausdruck bedingt durch den Gedanken und dieser durch den Zusammenhang. Wo es einen geschlossenen Zusammenhang gibt, kann schwerlich ein klares Verständniß seyn ohne sie durchzunehmen, z. B. Fragmente aus einer Rede etwas Unzulässiges. Wo ein solcher Zusammenhang weniger statt findet, da ist die Nothwendigkeit nicht vorhanden einen so großen Umfang durchzumessen, und es gibt Schriftsteller – Pausanias[,] Strabo – wo man nicht viel lesen muß, um sie ganz zu kennen, auch den Homer was die Prosa betrifft (nicht die dichterische Composition). Richtet man eine solche Auswahl nach Grundsätzen ein, in welchen [man] aus Liebhaberey zu viel thut, so wird man nie bedeutendes leisten können in kurzer Zeit. Ein anderer Punkt ist die Fortschreitung [in der] außer der eigentlichen Schulstunden liegenden Zeit. In der allgemeinen Volksschule leider darauf nicht zu rechnen, hernach haben wir gesehen, daß in solch eigner Thätigkeit auch ein Übergang zu der eignen analogen Beschäftigung [liegt] wenn der Bildungscyclus wird durchlaufen seyn. Nun wird der Vortheil fast wieder aufgehoben wenn hernach ein bedeutender Theil von den Schulstunden wieder auf die Critik der häuslichen Übungen verwendet wird, ein Punkt über den die Ansichten verschieden sind. Es scheint schon in der Natur der Sache zu liegen je weiter die Selbstthätigkeit sich entwickelt, sie auch mehr darf und soll in Anspruch genommen werden. Anstalten mit weniger Schul23 sie] ihn 2–3 Vgl. SW III/9, S. 506: „denn auf diese Weise fesselt man an eine einzelne Periode der Sprache, und man kann nicht sagen daß man die Sprache im ganzen aufgefaßt habe, wenn man nur eine Stufe der Entwikklung derselben erstiegen hat.“

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stunden und mehr eignen Arbeitsstunden unter gehöriger Aufsicht. So kann sich auch viel bestimmter die Differenz der Einzelnen bilden und auch jede eigenthümliche Richtung die ein jeder nimmt, woraus hernach großer Einfluß auf die Bestimmung des Berufs [entsteht] und früher noch auf die Behandlung der Einzelnen einwirkt. Hier also den Charakter aufgestellt von der philologischen Seite aber abgesehen von allem was die speculative Beziehung des Sprachstudiums ist, und die eigentliche gelehrte Behandlung der einzelnen Sprachen so wie sie als Critic und weitere Ausführung der Grammatik auftritt. Was hier erreicht werden soll ist die Leichtigkeit im Gebrauch der Schriftsteller und der Tact in Vergleichung der Sprachen mit einander. – Da wir nun den Geschichtsunterricht betrachten sollen [ ] die beschränkte an die Gegenwart gebundene und die weitere Ausführung auf den realen Bildungsstuffen, aber nur mit Übergewicht der neueren Geschichte über die Alte. In diesem Gebieth die eigentlich speculative Behandlung der Geschichte. Aber dem unerachtet folgt daraus was hier hinzu kommt ist nicht nur die alte Geschichte im Zusammenhang der Kenntniß mit den alten Sprachen, woraus beydes nothwendig mit einander verbunden seyn muß. So wie durch das Hinzukommen der alten Sprachen die comparative Sprachkenntniß nun einen größeren Maaßstab gewinnt und die Charaktere der alten und neuen Sprachen sich gegen einander stellen in dieser Grundverschiedenheit so wird auch hier von selbst, je mehr die Welt der neuen Geschichte mehr schon feststeht eben so eine comparative Geschichtskunde uns mehr und mehr entstehen, dann auch auf der vorausgehenden Stuffe schon müßte [sie] gegeben werden nach den Grundzügen die ich gezeichnet habe. | Nun aber ist offenbar ein großer Unterschied zwischen der Formation in den alten und neuen Staaten. Dieß zum Bewußtseyn zu bringen, was aber überwiegend an der sinnlichen Anschauung haftet, so werden sich hierinn diese entgegengesetzten Charaktere neben einander stellen und es wird sich die Gesammtvorstellung der alten Zeit in ihren entgegengesetzten Elementen und der neuen Staaten in ihrer Entwicklung gegen einander stellen. Bild vom geschichtlichen Verlauf der Völker, wobey die Grundzüge fest aber die individuellen Verschiedenheiten im Vergleich mit einander aufgefaßt würden, wobey das einzelne mehr verschwindet und der Charakter des frühesten geschichtlichen Unterrichts wird sich 12 sollen] es folgt ein Spatium von etwa einer viertel Zeilenlänge, zu ergänzen wohl haben wir schon zwei Stuffen unterschieden, nähmlich 22 wird] wird sie 14–15 Vgl. SW III/9, S. 509: „Die dritte Stufe würde auch noch etwas a u s z u s c h l i e ß e n haben, nämlich d i e sp e c u l a t i v e B e h a n d l u n g d e r G e s c h i c h t e , welche der Universität zu überlassen ist.“

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verwandeln in das Hervortreten des Ganzen und Unterdrücken des einzelnen. Ein Übergang zu der eigentlichen periodischen Behandlung der Geschichte von dem bloß empirischen Auffassen der Gegebenheiten ist in diesem synthetischen Pragmatismus, dieser comparativen Anschauung gegeben, und so der Geschichtsunterricht ein Mittel zu entdecken wieviel Anlage zu einer reinen und strengeren wissenschaftlichen Betrachtungsweise in den einzelnen ist oder nicht. – Das G eog r a p h i s c h e muß sich auch hier enger mit dem Physiologischen verbinden, Betrachtung des Erdbildes im Großen. Je mehr der ursprüngliche Charakter [vorherrscht] daß nur die zwey Extreme auf der einen Seite die Kenntniß dessen was unmittelbar ins Leben eingreift und das Erdbild in seinen allgemeinen Grundzügen das einzig zu berücksichtigende war, und nun das einzelne in seinen Ort im Ganzen eintritt, desto mehr ist dieses vorbereitet, was hier am meisten wesentlich ist, das ist ein zusammenhängendes Erdbild welches die verschiedenen geschichtlichen Zeiten repräsentirt und zwar nicht allein in Beziehung auf die politische Geographie sondern auch in Beziehung auf die Veränderung welche die Cultur auf dem Erdboden hervorgebracht hat – wodurch zu einer Zeit eine geschichtliche Ansicht der Kenntnisse selbst mit entsteht und anschaulich wird wie und durch was für Mittel man von der Kenntniß der Gegenwart in die Kenntniß der Vergangenheit hinaufgestiegen ist. In dieser geschichtlichen Geographie schließt sich an die Entwicklung der Erdoberfläche dasjenige an was an dieser durch den Menschen geschehen ist, das letzte erscheint als Fortsetzung des ersten indem eine neue Kraft, nähmlich die Intelligenz den Naturkräften eine andere Richtung gibt und es bildet so das Erdbild ein Supplement zu der eigentlich geschichtlichen Anschauung. In diesem in einander greifen von Geschichte und ethnographischer und politischer Geographie wo die Wirkungen der Cultur mit hervortreten, das ist die Betrachtungsweise welche nun schon einen Übergang zum eigentlich Speculativen bildet, und es ist dadurch die Kenntniß des einzelnen so geordnet daß es hernach mit Leichtigkeit zur Anwendung der eigentlich speculativen Principien beurtheilt werden kann, ob nun in dem zu gleich alles in größerer Vollständigkeit geschieht, worauf das practische Leben kaum einen bestimmten und wesentlichen Einfluß hat. – Wenn wir das eigentliche N a turst ud i u m betrachten so ist hier eigentlich nichts neues hinzugekommen zu dem was wir schon der Realbildung zugeschrieben haben. Dadurch 2–5 Vgl. SW III/9, S. 511: „Ein Uebergang zu der eigentlich philosophischen Behandlung der Geschichte von der bloß empirischen Auffassung der einzelnen Hauptsachen ist in diesem synthetischen Pragmatismus, in diesem comparativen Zusammenschauen gegeben.“

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daß hier [nicht] Bezug darauf genommen werden soll, daß die Jugend für die wissenschaftliche Bildung soll vorbereitet werden. Das Auf einander folgen würde hier einen Gegenstand haben welcher rein ruhte während im anderen Fall mehr oder weniger neue hinzukämen. Gehen wir von der Voraussetzung eines Parallelismus aus so folgt daraus für das höhere industrielle Leben ist hier ein größerer Reichthum von Einzelnheiten nothwendig als für die wissenschaftliche Vorbildung und es könnte desto mehr gewonnen werden für den philologischen Theil. Dieses Verhältniß enthält den Grund warum man das neben einander bestehen dem auf einander folgen der beyden Hauptzweige vorzieht. Nur muß es so geschehen daß der Übergang dann in höhere Grade erleichtert seyn muß und der Typus in beyden Haupt Anstalten. In einem das Übergewicht des Philologischen und Speculativen im anderen ein größeres Übergewicht des Physikalischen und also des Practischen und eine größere Beziehung auf die unmittelbar practische Thätigkeit die darauf folgen soll. Dann geht die Aufgabe [dahinn] diesen verschiedenen Typus parallel in der Fortschreitung zu halten, daß mit Leichtigkeit im bürgerlichen Beruf die einzelnen in das eine oder andere übergehen können. So wird man dann zurück auf dasselbe hinaus kommen, ob man dem wovon wir jetzt gehandelt noch einen höheren Cursus für die Realbildung folgen läßt oder ob man verschiedene Anstalten neben einander hat. Im ersten wäre die Hauptschwierigkeit daß wenn die alten Sprachen eintreten sollten nachdem die Vorbildung in ihrem letzten Stadium wäre dann ein Mißverhältniß entstünde, weil die ersten | Elemente erst alsdann müßten nachgeholt werden. Allerdings auch im Kreis der Realbildung kann ein Gebrauch von alten Sprachen bloß unter der Form von Hülfskenntnissen statt finden, an welche sich hernach die Behandlung der alten Sprachen anschließen könnte. In dieser Beziehung kein bedeu18 daß] daß sich 2–9 Vgl. SW III/9, S. 515: „Nehmen wir die Frage auf von dem N e b e n e i n a n d e r b e s t eh en beider Bildungsstufen o d e r dem A u f e i n a n d e r f o l g e n : so leuchtet ein daß im l e zt er e n F a l l h i e r e i n G e g e n st a n d g a n z ru h e n würde, eben d i e N a t u r k u n d e, denn sie wäre schon auf der früheren Stufe absolvirt. Wenn wir dagegen v o n d er Vo r a u s s e zu n g d e s P a ra l l e l i sm u s ausgehen: so würden wir sagen, für das praktische Leben i n i n d u st ri e l l e r H i n si c h t würde e i n e g r ö ß e r e R ü k k s i c h t n a h me a u f d a s N a t u rg e b i e t und eine größere Fülle von Einzelheiten aus diesem Gebiete nöthig sein; i n d e n G y m n a si e n a b e r w ü r d e d i e P h y s i k i n k ü r z e r e r We i s e g el e h r t w e rd e n k ö n n e n , um Raum für die Philologie zu gewinnen.“ 29– 5 Vgl. SW III/9, S. 516: „Mit einem Wort, es ist zwischen der einen und anderen Form dieser Bildungsanstalten kein bedeutender Unterschied; es kommt nur darauf an, daß zunächst neben den richtig organisirten Gymnasien zwekkmäßig eingerichtete Realschulen in hinreichender Anzahl begründet werden; das Verhältniß der Anstalten beider Art wird sich dann immer mehr von selbst ausgleichen und die eine die andere fördern.“

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tender Unterschied zwischen dem einen und anderen Umkreis[,] es kommt nur darauf an, daß wir jenes erst nachholen, und Anstalten mit Real-Charakter bilden, damit ein richtiges Verhältniß zwischen diesen Formen entstehe, dann wird sich auch ihr Verhältniß gegen einander immer mehr ausgleichen. Worüber noch etwas hinzuzufügen ist die Anleitung der eignen Behandlung der Sprache und Gedanken. Von Anfang an habe ich dieß als wesentlich mit einander verbunden dargestellt und wir haben beydes nicht von einander gesondert, Übungen in fremden Sprachen haben wir als eigne Behandlung der Sprache aufgestellt, und so wie von Anfang an das Logische verbunden war mit der Behandlung der Muttersprache so ist auch in der Fortsetzung dieses beydes nicht von einander zu trennen. Welche Behandlung soll nun dieses bekommen in Beziehung auf [ ] Offenbar nur das erste zu finden. Sowohl im höheren practischen Leben als in Beziehung auf die wissenschaftliche Thätigkeit ist allerdings eine größere Leichtigkeit in der Behandlung der Sprache durchaus nothwendig, in jedem Zweige des höheren Staatslebens wird dieß erfordert, nur in dem einen mehr schriftlich in dem anderen mehr mündlich. Weil wir aber nicht nur auf das Bestehende sondern in die künftige Generation auch die Principien der Verbesserung legen sollen, so scheint es nur ein besonderer Mangel, wenn man hier nur die schriftliche Behandlung nicht die mündliche im Auge hat. Recitationen und Declamationen nur Übung im Vortrag nicht in der mündlichen Behandlung der Sprache. Viele schreiben ganz gut, aber sie sind nicht im Stande zu sprechen – auch umgekehrt gibt es welche aber seltener. Die Einseitigkeit ist auch in Beziehung auf das Bestehende etwas Verwerfliches. Ohne Hinsicht auf den Erfolg ist es daher ein Mangel an Bildung, wenn einer nicht im Stande unmittelbar vor jedem der vorkommt seine Gedanken auf die gehörige Weise mitzutheilen. Je mehr aber bey uns die schriftliche Behandlung gestiegen ist, daß man fürchten muß es habe seinen höchsten Punkt erreicht, und Einleitungen schon gemacht sind zum Gegentheile so ist es schon in Beziehung auf das Bestehende nothwendig. Beyde Übungen haben angefangen mit dem Zusammenhang des Denkens mit dem Sprechen, also dem rein Logischen. Schon in der Realschule haben wir die Behandlung der Sprache gesetzt, philologische Behandlung einzelner 11 Behandlung] Bhldg 14 auf] es folgt ein Spatium von etwa einer viertel Zeilenlänge 30 Behandlung] Bhldg 35–36 Behandlung] Bhldg 13–14 Vgl. SW III/9, S. 516–517: „Welche Richtung nun soll dieser in der That sehr bedeutende Unterrichtszweig bekommen, sowol in Beziehung auf das praktische Leben in welches die | Jugend eintreten wird, als auch in Beziehung auf die wissenschaftlichen Principien zu deren Verständniß die Gymnasialbildung die Vorstufe ist?“

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Schriftsteller, auf den Antheil der freyen Composition der Phantasie an der Ausbildung der Gedanken und ebenso die musikalische Seite der Sprache Rücksicht zu nehmen. Für den näheren Zweck der überwiegend realen Bildung war hier nichts weiter zurückzuführen. Hier nun das richtige Auffassen, dann die eigne Thätigkeit der schon künstlerischen Mittheilung der Gedanken, gehört mit zu dem höheren Einfluß auf das Ganze. Zu diesen Übungen muß nun hinzukommen die Richtung auf die Ausschmückung der Gedankenreihen im Vortrage und die Berücksichtigung des Wohlklangs in der Behandlung der Sprache. Wenn wir nun das Mündliche und Schriftliche unterscheiden wollten, so kann in dem einen Falle dasselbe vorgelesen und auf der anderen Seite ist eben das Mündliche das was im unmittelbaren Leben vorkommt ohne eine solche abgeschlossene Thätigkeit. Setzen wir den Unterschied so: Allerdings daß dieses neue Element im mündlichen Vortrage ebenso wesentlich als im schriftlichen aber es ist leichter es zu berücksichtigen, eher von einer solchen abgeschlossenen Thätigkeit absteht. Offenbar wird auch die Übung hierinn bey dem Schriftlichen anfangen müssen, erst beym mündlichen wird die Fertigkeit entwikkelt werden mit einer gewissen Schnelligkeit. Hier nicht zu läugnen daß wir in unserem öffentlichen Unterrichtswesen noch nicht auf dem rechten Fleck stehen, auf den mündlichen Vortrag nicht gesehen, und die Art der schriftlichen Behandlung nicht genügend den Zweck zu erreichen. Das kommt daher, daß dieß dem sonst selbst ständigen Zweige der Rhetorik angehört. Nach der Natur der Sache aber kann das nichts abgerissenes seyn. Jede Aufgabe also die durchaus abgerissen ist und keinen Zusammenhang hat kann unmöglich zum Ziel führen. Es ist nicht möglich wenn so Aufgaben auf Gerathewohl gegeben werden, daß etwas anderes als oberflächliche Behandlung entstehe. Es ist also offenbar daß nur eine solche Aufgabe zweckmäßig ist welche Zusammenhang hat mit dem was im Studium selbst vorkommt, oder so im gewöhnlichen Leben vorkommt, daß man voraussetzen kann die Jugend habe sich schon damit beschäftigt. Die Aufgaben liegen 9 Behandlung] Bhldg

28 Behandlung] Bhldg

13–17 Vgl. SW III/9, S. 519: „Wenn nun der Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Rede im wesentlichen darin liegt, daß es für diese eine längere Vorbereitung giebt und eine innere abgeschlossene Thätigkeit, für jene aber die längere abgeschlossene Vorbereitung fehlt – denn darin wird wol nicht die wesentliche Differenz zu suchen sein, daß eine Rede oder ein Vortrag ohne vorliegendes Concept gehalten, oder von dem Concept abgelesen wird; es kann auch eine Rede, nicht vorher aufgeschrieben aber im Geiste vollkommen vorbereitet und anscheinend frei vorgetragen, nur ein Ablesen sein –: so wird das neue Element leichter zu berükksichtigen sein bei der schriftlichen Conception, bei der immer die Möglichkeit gegeben ist das einzelne nach Maaßgabe des ganzen zu ändern und Harmonie in das ganze hineinzubringen.“

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gewiß zu frühe was zweyfachen Nachtheil bringt, einmal unmöglich daß dieses so bearbeitet werden könne, daß man eine kunstmäßige Behandlung der Sprache leisten könne und 2) wenn man die Jugend veranlaßt über Dinge zu reden, die über ihnen sind, so nährt man Anmaßung bey ihnen. | Also nur solche Gegenstände die mit dem Studium zusammenhängen. Stoff muß da seyn, nur gehörig behandelt und geordnet muß er werden. Das Zweyte dieß, wenn man die Sache so behandelt, daß die Aufgabe hingestellt, und gehörige Zeit gelassen wird aber nicht mehr von der Sache die Rede als bis die Aufgabe nun fertig ist, so ist auch das ein springendes Verfahren. Da entbehrt ja die Jugend die ihnen nothwendigen Anleitungen. Die Sache soll ehe sie fertig ist, von verschiedenen Punkten zur Sprache kommen, so gleich häufig das Ganze in gewissem Umfang zu übersehen, ehe man das Ganze ausarbeitet. Dann bekommt man dadurch Veranlassung schon in dieser Operation der Sammlung und Anleitung der Glieder, allen das zu Gute führen [zu] lassen was allen gefehlt hat. Also erst ein Panorama, Skize. So freylich keine solche Masse von Aufsätzen wie in unseren höheren Schulen. Das hilft aber auch nicht, die Behandlung ist da nur fragmentarisch oberflächlig und dabey kommt wenig heraus. Was das Mündliche betrifft so ist das eine allgemeine Folge daß wir bey weitem weniger als andere Nationen die Fertigkeit haben auf eine gehörige Weise zu reden. Je mehr aber das öffentliche Reden nicht mehr auf einen bestimmten Styl beschränkt ist sondern die Anleitung gegeben, daß es im öffentlichen Leben [ ] so kann wohl niemand an der Wichtigkeit der Sache zweifeln. Aber offenbar eine Übung von Fertigkeiten welche ganz in diesen Kreis hineingezogen werden. Das gilt von der Realschule in der letzten QAusdehnungR. Hier zu unterscheiden und es kommt alles auf die Beobachtung unseres allgemeinen Canons an, keinen Sprung zu machen. Etwas muß in allen Schulen vorkommen, in allen ja die dialogische Form, im anderen Unterricht freylich kann das Antworten nur in einzelnen Sätzen ge8 behandelt] bhldt

24 Leben] es folgt ein Spatium von etwa einer viertel Zeilenlänge

14–20 Vgl. SW III/9, S. 520–521: „Nachdem die Aufgabe gestellt ist, müßte eine S k i z ze | von jedem einzelnen gegeben werden; diese Skizzen werden untereinander verglichen, diejenigen welche am gehaltreichsten zu sein scheinen, hervorgehoben, kritisirt, abgekürzt, ergänzt, je nachdem dies oder jenes erforderlich ist. Schon in Folge dieser Operation kommt das gute was einzelne geleistet haben allen übrigen zu gute. Dann erst, wenn der Stoff übersichtlich gesammelt, die Anordnung der Gedanken und die einzelnen Theile beurtheilt wären, könnte man an die Ausführung selbst gehen. Auf diese Weise wird freilich nicht eine solche Masse von Aufsäzen geliefert werden können wie in vielen unserer höheren Lehranstalten der Fall ist; allein ein einziger Aufsaz so vorbereitet und demgemäß bearbeitet, wird mehr Nuzen bringen als eine Masse nur fragmentarisch und willkührlich ausgeführter Arbeiten.“

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sprochen werden. Aber die Fertigkeit kann nur im fortschreitenden Unterricht in der Behandlung der Muttersprache [geübt werden]. Das Sprechen fremder Sprachen gehört auch in dieser Beziehung meiner Ansicht nach nicht in den öffentlichen Unterricht. Das kommt nur im Privatleben vor. Dabey häuffig diejenigen zu [kurz] kommen die in den Familien dieß nicht haben. Aber Übungen in dem mündlichen Vortrag in der Muttersprache müssen durchaus ihre eigne Stelle haben. Hier nun die verschiedenen Formen, worauf man zu sehen hat. Einmal eine größere Annäherung oder weitere Entfernung von dem Proceß der bey der schriftlichen Behandlung vorgeht. Das unmittelbare Reden über etwas darf dafür nicht anders vorkommen als in Beziehung auf einen Gegenstand der wirklich behandelt wird. Aber nie kann das in der Natur gegründet seyn, nie etwas zu sprechen aufzugeben worüber man nie gedacht, sophistische Kunst, da entsteht ein gewisser Mechanismus aus der leeren logischen Topik oder nur Zusammenführung von Phrasen. Mehr analog mit dem Verfahren in schriftlichen Aufsätzen ist im Vortrag des mündlichen Redens[;] dort man Zeit hat darüber zu denken, aber doch ohne schriftliche Zeichen. Es ist eine Knechtschaft wenn man nicht anders kann als die alte Entwicklung der Gedanken [zu] sehen. Je mehr man sich daran gewöhnt diese Hülfe bey sich zu haben, desto mehr entwöhnt man [sich] der Sache, man soll sich selbst hören, nie die Buchstaben vor sich sehen, damit zugleich auch die Berücksichtigung des Musikalischen in der Sprache eintreten könne. | []

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Ende aller Pädagogik. Übergang in die öffentliche Thätigkeit. Nachholung anderer Gegenstände. – Erziehung im engeren Sinn. Einfluß der pädagogischen Thätigkeit sowohl auf die Entwicklung der Gesinnung als auf die Leitung betrachten. Zweyerley worauf zurückzugehen. Die Belebung des religiösen Princips und auf der anderen Seite des Gemeingeistes. Das erste geschieht durch Veranstaltung der christlichen Religionsgesellschaften theils durch Familie das andere durch 24 könne.] Es folgt ein Spatium von etwa einer viertel Seite 19–20 Vgl. SW III/9, S. 522: „Freiheit vom Buchstaben ist die erste Bedingung für den der sprechen will; und eine Art von Knechtschaft ist es, wenn man auch nur eine kürzere Gedankenreihe nicht anders für sich selbst oder für andere produciren kann als so, daß man die Gedanken vor sich geschrieben sieht.“

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Erweiterung der Familie und theils durch die Ordnung auf den gemeinsamen Anstalten der Jugend. Für diejenigen welche an den letzten keinen Theil haben fehlt in dieser Beziehung was von den wirksamsten Elementen wofür es kaum einen Ersatz gibt. Es ist nur als ein Überrest anzusehen aus einer schon vergangenen Periode, wenn noch immer hie und da in vornehmen Familien diese Beyspiele vorkommen daß man eine Scheu hat vor öffentlicher Erziehung. Der in der Familie selbst waltende besondere Gemeingeist des einzelnen Standes tritt dafür ein, das wird ein entgegentreibendes, kein erwerbendes Princip seyn, Stammesgeist, diese Ausnahmen sollten immer seltner werden. Was die Entwicklung des religiösen Princips betrifft sowohl durch die Vorstellung der Kirche als die Einwirkung des Familienlebens so ist das ein Gegenstand, über welchen seiner Natur nach hier wenig gesagt werden kann. Das Geschäft welches im Verhältniß der Kirche größtentheils durch den öffentlichen Gottesdienst getrieben wird ist [eine] besondere Disciplin, die Einwirkung der Familie ist etwas, das sich von der Theorie entfernt, alles technische zu vermeiden. Hier nur die Regel der absoluten Wahrheit, daß man sich jedesmal dem hingebe, was der Augenblick mit sich bringt. Wo ein religiöses Leben in der Familie ist, da wird es auch seinen Ausbruch finden, es gibt keine andere Einwirkung als die Darstellende Mittheilung. Wenn der religiöse Geist in der Familie schwach ist, so wird sich auch die Gesinnung der Jugend nicht entwickeln können, wenn nichts anderes von außen die Stelle ersetzt. Indem man annehmen muß, daß in dieser Beziehung eine Ungleichheit in den Familien statt finden muß, muß dann nicht im öffentlichen Leben ein Ding [als] Complement hinzu gegeben werden, in der Schule, das hat sich hie und da gebildet und mehr oder weniger erhalten. Eine in vielen Anstalten herrschende Sitte, daß der öffentliche Unterricht mit Gebet oder ähnlichem begonnen und beschlossen ist bey anderen nicht, bey anderen auf weite Zeiträume verstreut. Etwas Allgemeines festzusetzen ist schwierig, die Sache ist individuell, für sie die Wahrheit nöthig. Im todten Buchstaben kein Canon[,] muß nur nicht ausarten, und vor plötzlichen Veränderungen in dieser Beziehung muß man sich hüten. Dieß muß von der Zeit des Unterrichts nicht zu viel hinwegnehmen. Erweckung des 33 nur] nur nur 9–10 Vgl. SW III/9, S. 536: „und darin kann nicht ein ersezendes sondern nur gegenwirkendes Princip liegen, so daß sich der Standesgeist an der Stelle des Gemeingeistes entwikkelt.“ 32–33 Vgl. SW III/9, S. 532: „Die erste Bedingung der Wirksamkeit solcher Andachtsübungen ist auch hier die Wahrheit. Daher hat man darauf zu achten daß sie in keiner Weise zu einem todten Buchstabendienst und Mechanismus hinabsinken.“

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Religiösen haben wir nur in die Kirche und Familie gelegt. Aber der Religionsunterricht, Complement zu dem könnte ganz gespart werden. Nur ein Rest daß die Anstalten mehr oder weniger Kirchenanstalten [seyen], Rest aus früherer Zeit. Es ist kaum anders möglich als daß dieser Unterricht den wesentlichen paränetischen Charakter des Lutherischen verliert und einen theologischen bekommt, was nichts allgemeines seyn muß. Wie die Erfahrung zeigt, so ist schwerlich ein anderes Bild aufzunehmen, als daß man wenig gewinnt bey einem solchen Gymnasialen Religonsunterricht, [der] entweder ins Theologische übergeht, oder etwas Trockenes und Todtes und etwas Schwankendes und Unsicheres. Anders wenn dem öffentlichen Leben – Also kein Fortschritt, nur ein Mißverständniß, wenn man hier den alten Rest wieder herstellen will. Nimmt man dazu, daß das Hervorheben dieses Gegenstandes mit einer bestimmten Modification des religiösen Intresses zusammenhängt, so scheint sie noch nachtheiliger, indem hier etwas Einseitiges in das Pädagogische hineintritt, Opposition gegen den anderen Typus, mit welchem das religiöse Intresse in den Familien selbst getrieben wird. 2.) Wie die Einwirkung auf die Gesinnung hervorzubringen ist durch den Gemeingeist. Wir beziehen den Ausdruck Gemeingeist immer auf eine bestimmte Verbindung der Menschen unter einander, vornehmlich auf den bürgerlichen Zustand und verstehen darunter die Art wie das Intresse für den bürgerlichen Zustand in einer besonderen Form in den Einzelnen sich kräftig erweist also als etwas in Allen dasselbe. Also der Gemeingeist immer etwas Selbstisches, es ist die zusammengesetzte Persönlichkeit, das Lebensprincip es ist, es wird nicht unmittelbar sittliche Gesinnung erweckt, wenn der Gemeingeist erweckt wird, sondern nur die Persönlichkeit des Ganzen. Und was man Gemeingeist, Patriotismus genannt 10 übergeht] über

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6–7 Vgl. SW III/9, S. 533: „S o g e w i n n t d e r R e l i g i o n s u n t e r r i c h t g a n z d a s A n s e h e n e i n e r Vo r ü b u n g f ü r d e n k ü n f t i g e n B e ru f : dann müßte er aber auch nur für Theologen sein und nicht ein allgemeiner.“ 11 Vgl. SW III/9, S. 533–534: „Das aber leidet keinen Zweifel, wenn die öffentlichen Anstalten zugleich Erziehungsanstalten sind, dann müssen sie auch hierin die Stelle der Familie | vertreten, und zur Erregung und Entwikklung des religiösen Princips in dem Grade und in der Art beitragen wie dies die Aufgabe der Familie ist.“ 16–18 Vgl. SW III/9, S. 534: „e i n e b e s ti mm t e A u f f a s su n g d e s C h ri st e n t h u m s, n i c h t v o n a l l e n d e r K i r c h e a n g e h ö r en d en Gl i ed e rn a n e rk a n n t , f i n d e t m e h r o d e r w e n i g e r E i n g a n g u n d w i r d i n d e n S ch u l e n b e v o rz u g t , u n d d i e S c h u l e , d i e d a s a u s g l e i c h e n d e Pr i n zi p s t et s i m A u g e h a b e n so l l t e , ru f t e i n e O p p o s i t i o n h e r v o r gegen einen Typus den das religiöse Leben in einem andern Umkreise gewonnen hat, und gegen das oft recht wirksame religiöse Leben in den Familien.“ 27–28 Vgl. SW III/9, S. 535: „denn nur die selbstische Richtung des ganzen wird hervorgerufen;“

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hat ist oft nur das gewesen. [ ] ein Product der Intelligenz, da ist auch der Gemeingeist nur eine besondere Modification des ethischen Princips; und nur das Intresse der Gesellschaft und das Intresse daß sie sich auch in Beziehung nach außen wirksam zeigen, ist dann sittlich. So verhält sich beydes zusammen[,] das Religiöse das Sittliche in so fern es auf der Idee Gottes beruht, der Gemeingeist in dem er auf der Idee der Welt beruht. | Muß diese Wirkung erfolgen theils in der Familie theils im öffentlichen gemeinsamen Leben der Jugend, so setzen wir hier eine Familie voraus, deren Lage so ist, daß die Jugend an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten einen großen Antheil nehmen wird. Hier also ein Leben und Gesetz das sich auf das Ganze bezieht in den Familien vorauszusetzen, und nur nach und nach die Jugend dafür empfänglich wird. Beruht auf der Natur der Intelligenz, dafür absichtlich wenig zu thun. Das ein häufiges Vorurtheil, daß wenn die Jugend sich in einer überwiegend sittlichen Erziehung unempfänglich zeigt für die Einwirkungen die unmittelbar aus dem Leben kommen, daß dadurch viel ausgerichtet werden kann durch besondere mittheilende Veranstaltungen, Ermahnungen etc. Denen schreibt man gern zu viel Kraft in der Erziehung zu. Entweder liegt der Fehler im Individuum, dann wird [es] ein schwach Einwirkendes bleiben, wenn sich nicht noch Eins in dem öffentlichen Leben löst, oder der Fehler liegt im Familienleben selbst. Hierinn [scheint] also nichts besonders technisches zu seyn sondern nur das allgemein Ethische. In vielen Fällen wird es eine leidenschaftliche Art in Beziehung auf das Afficirtseyn geben, welche nicht heilsam ist der Jugend mitzutheilen, aber das nicht technisch, das allgemein ethisch. Wie wird die Ordnung und Einrichtung in den öffentlichen Anstalten zur Erweckung der Gesinnung durch den Gemeingeist 2.) wirken? Hier eine Betrachtung über den gegenwärtigen Zustand der Dinge. Hie und da findet sich noch eine Neigung die Jugend auf ausländischen Anstalten einen Theil ihrer Bildung vollenden zu lassen, das Princip fremder Sprachen zum Grunde. Französi1 gewesen.] es folgt ein Spatium von etwa 2 cm Länge, zu ergänzen wohl Der bürgerliche Zustand ist 23–24 Vgl. SW III/9, S. 537: „Liegt der Fehler in der Familie selber, dann muß auf sie correctiv gewirkt werden: dies ist aber eine ethische Aufgabe.“ 32–1 Vgl. SW III/9, S. 538: „Großentheils fällt der Eintritt in ausländische Anstalten in eine spätere Lebensperiode und dient dann nur zum Abschluß der Bildung, oder es ist dabei nur auf die Erlernung fremder Sprachen abgesehen, wie bei der deutschen Jugend die in den Anstalten der französischen Schweiz ihre Bildung genießt.“ Die preußische Übernahme des in der Schweiz gelegenen frankophonen Fürstentums Neuenburg (Neuchâtel) im Jahr 1707 durch Friedrich I. führte dazu, dass in einem Teil Preußens Französisch gesprochen wurde.

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sche Schweitz. Das Mittel [liegt] außer allem eigentlichen Zwecke. Das Ausländische muß sich dem Einzelnen einprägen, Bezug eines Nationalgeistes, aber Deutschland besonders betreffend die Theilung der verschiedenen Staaten[,] Gemeingeist derselbe, die bürgerliche Regierung verschieden, aber auch ein zwiefaches Intresse. In der sittlichen Erziehung sind wir so sehr ein Ganzes, daß es natürlich ist, eine Freyheit der Auswahl zu gestatten, Auszeichnung der einen Anstalt. Was hier das richtige Verfahren in Beziehung auf Gesetzgebung und was das Richtige in Beziehung auf die Tendenz welche die Eltern selbst in dieser Rücksicht haben können? Wenn der Staat sein Erziehungssystem in sich selbst abschließt, je mehr der Einfluß wird den das Sittliche des gemeinsamen Lebens auf das darauf folgende öffentliche bürgerliche Leben ausübt, in dem Fall wo er voraussetzen kann daß ein entgegengesetzter Typus sich befestigen würde. Wo eine Volksthümlichkeit ist wäre eine Aberration wenn [es] ein Bestreben gegen eine solche öffentliche Erziehung geben sollte. Indessen dieß nur beyläufig, und hier nicht der Gemeingeist auf ein bestimmtes bürgerliches Leben sondern nur so als möglich abzuwenden, daß nicht die besondere Verfassung eines einzelnen Staates Einfluß habe auf die Erziehung sondern der Gemeingeist in Beziehung auf die Jugend für sich abgesehen vom künftigen Staatsleben. Hier auf der einen Seite unläugbar daß ein solcher Gemeingeist ein bedeutendes sittliches Moment ist und daß je mehr er in solchem Ganzen lebendig ist, desto mehr man eine große Menge von Motiven sparen kann, deren Einfluß zweydeutig ist. Abweichung die erste: daß unter der Jugend die sich der höheren wissenschaftlichen Bildung widmet, ein Corporationsgeist [sich] entwickelt in Opposition gegen die übrigen, Gemeingeist der hernach nicht in den Gegenstand des öffentlichen Lebens übergreift, nachher nachtheilig wirkend. Es liegt am Gang im öffentlichen bürgerlichen Leben eine so große Gewalt, daß [sich] diese nachtheiligen Einflüsse wieder aufheben. Immer etwas darinn, dem entgegen gewirkt werden muß, immer etwas Rohes darinn. Das zweyte dieses daß nicht selten in dem Ganzen selbst sich ein Gegensatz bildet und die Jugend sich unter sich geschlossen den Lehrern gegenüber stellt, die gefährlichste Opposition des öffentlichen Unterrichts. Der Fehler muß immer in der Anstalt selbst und den Maximen oder dem Betragen der Lehrer seyn; so wie man diese Ausartung vermeidet, so wird ein wohlgeleiteter Gemeingeist das beste thun, wo der waltet, da wird man wenig anderes gebrauchen. So ist in Beziehung auf die Stellung dieser wissenschaftlichen Jugend zu den übrigen und die Lebensansicht dieser Zeit unmittelbar wenig zu thun, weil es kein häufiges Zusammenseyn einer solchen wissenschaftlichen Jugend mit anderen gibt, durch ihre ganze Lebensweise von denen getrennt. Immer die Erfahrung, daß je mehr

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die wissenschaftliche Bildung behandelt als ein abgeschlossenes Besitzthum für sich – was allerdings etwas verkehrtes ist, ihren Werth nur in der Wirksamkeit der menschlichen Gesellschaft – desto mehr ein so falscher Corporationsgeist. Ich glaube dieser wird sich nicht entwickeln, wenn die höhere Realbildung in der richtigen Tendenz auf das Wissenschaftliche den gehörigen Umfang wird erlangt haben, es ist offenbar daß [man] in anderen Ländern, wo man diesen Weg früher eingeschlagen hat[,] England Frankreich – nie so an diesen Übeln gelitten hat wie bey uns. Dieses Bewußtseyn etwas besonderes zu seyn wurzelte durch den ganzen Unterricht. Obere und niedere Klassen, in den niederen noch solche zu niederen Gewerben übergehen, dieser Unterschied nimmt jetzt ab, was ein gutes Zeichen ist. Nun freylich auch an die Ausnahmen zu denken, das Allgemeine der Entwicklung der Gesinnung betrachten kann auch nur aus der allgemeinen Ordnung hervorgehen. Wie muß die Erziehung in dieser Periode behandelt werden? Schon im Allgemeinen und in Beziehung auf die frühere Periode [gilt] der Grundsatz daß eigentlich mit Strafen die den Charakter von etwas Willkührlichem an sich tragen | nichts ausgerichtet ist, alle Strafen bringen Motive, die hernach wieder fort müssen. Aber es liegt in der Natur solcher Ausnahmen, daß diese Äußerungen nicht die gehörige Wirkung hervorbringen. Hier müssen wir von einander sondern alles was sich auf die Arbeiten bezieht und das was sich auf das Betragen bezieht. Ist das erste etwas Muthwilliges so fällt es in die andere Klasse ein, Trägheit etwas Unsittliches. Das erste würde dahinn führen daß das Individuum herausgenommen werden müsse – öffentliche Prüfungen und Zeugnisse. Für die Lehrer beydes überflüssig, sie sollen für die Schüler seyn, sie müssen ihre Stellung gegen einander schon kennen, Prüfungen die sich nicht auf den Austritt sondern das Fortleben und die periodischen Abschnitte beziehen, – diese Prüfungen erreichen ihren Zweck nicht, wenn auch alle Angehörigen zugegen und alle den Unterricht auffassen könnten. Das Öffentliche 11 zu] zu zu 18–19 Vgl. SW III/9, S. 542 (Zusatz): „ja es giebt keine Strafen die nicht Motive voraussezen oder in das Gemüth des zu bestrafenden einpflanzen, welche nachher wieder eliminirt werden müssen. Von bleibender und durch sich selbst richtig einwirkender Kraft ist nur die Aeußerung des sittlichen Urtheils, die Mißbilligung. “ 23–24 Vgl. SW III/9, S. 543–544: „N u r i n B e z i e h u n g a u f d a s m u t h w i l l i g e Z u r ü k k b l e i b e n würde also S tr a f e eintreten dürfen; e i n u n v e rs c h u l d e t e s Z u r ü k k b l e i b e n w ü r d e e i n a n d e r e s Ve rf a h re n n o t h |w e n d i g m a c h e n . A b e r a u c h i n B e z i e h u n g a u f d a s s i t t l i ch e B e t ra g e n se l b st w ü rd e d a ra u f z u a c h t e n s e i n , o b d i e U e b e r tr et u n g e n w e l c h e e i n e B e st ra f u n g n a c h s i c h z i e h e n s o l l e n a l l e i n i n d e m Z ö g l i n g i h r e n G ru n d h a b e n , o d e r o b n i c h t i n d e r A n s t a l t s e l b s t u n d i n d e r Ar t w i e d a s In d i v i d u u m b e h a n d e l t w i r d d e r F e h l e r l i e g t .“

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bringt eine andere Stimmung hervor als das gemeinsame thätige Leben und daher nicht zu urtheilen, auch der einzeln hergenommene Moment befähigt nicht zum Urtheil, jeder wird zugeben daß man offenbar ein sehr unrichtiges Urtheil der einzelnen unter einander fällen würde, wenn man auf einen Tag gehen wollte. So möchte man zweifelhaft seyn, ob nicht die öffentlichen Prüfungen ganz auszuschalten wären. Neuerlich eine andere Form, daß der Unterricht in gewohntem Gang und zu manchen Zeiten den Angehörigen zugänglich ist, aber auch in dieser Beziehung scheint die unmittelbare Anschauung ein schwaches Complement zu seyn zu dem was die Lehrer für ein Zeugniß geben müssen. Keine leichte Sache daß sich ein übereinstimmendes Urtheil bey einer großen Anzahl von Lehrern bildet über einen Einzelnen. Das Verhältniß des Einzelnen zu der Masse darinn gar nicht vorausgesagt, keine Vorstellung in welchem der Zögling zu den übrigen steht. Indessen gibt es andere Mittel dazu gar nicht, und man müßte sagen, daß zur rechten Zeit die Betrachtung der Lehrer vorzüglich sich darauf hinlenken müßte ob es rathsam ist, daß ein Individuum in die höchste Laufbahn der Bildung hineingeführt wird. Nun aber 2.) was die nachtheiligen Ausnahmen betrifft in Beziehung auf die Entwicklung der Gesinnung so ist offenbar daß dieses von der größten Bedeutung ist. Denn wenn es freylich für das Ganze nachtheilig ist wenn solche Individuen sich dazu entscheiden die von Natur nicht geschickt dazu sind, so ist das nur ein geringes dagegen wenn schlechte Subjecte mit allen Hülfsmitteln ausgestattet werden, welche in der wissenschaftlichen Bildung liegen, auf das Ganze zu wirken. Hier fragt sich also: Gesetzt es ist alles angewendet worden was der Typus des Ganzen zuläßt, die natürlichen Äußerungen des sittlichen Urtheils haben sich unwirksam bewiesen. In wiefern kann nun die Ausschließung aus einer Anstalt verfügt werden, und in wie fern kann [dies] die Ausschließung aus der Laufbahn selbst nach sich ziehen? Wir machen eine Anticipation, indem wir von der letzten Periode reden. In den Universitäten die Ausschließung von der Anstalt zugleich die Ausschließung von der Laufbahn, die Nothwendigkeit zu einem anderen Beruf, selten, nur bey unverkennbarer Schlechtigkeit, immer wird es etwas gemildert. Folge von zu harten Strafgesetzen, Willkühr der Gesetze. Die Härte [besteht] darinn daß eine Änderung der ganzen Lebensbahn in so vorgerücktem Alter verhängt wird, gelinder eine solche Maaßregel je früher sie eintrete. Schein eines Eingreifens in die Elterlichen und Vormundschaftlichen Rechte. Doch ist nie dieser Ausschließung eine so große Bedeutung beygelegt worden, immer gesetzliche Mittel, ein Individuum in eine andere gleichartige Anstalt aufzu30 ziehen?] ziehen.

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nehmen, dieses vollkommen richtig. Mangel unserer Gesetzgebung, nicht Kraft genug, der Unsittlichkeit der Jugend entgegen zu wirken, weil die Anstalten zu sehr isolirt sind, nicht in Verbindung mit der Gesetzgebung. Was noch zu sagen ist []

5 ist] an dieser Stelle endet die Überlieferung

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Textzeuge: Texteditionen:

Besonderheiten:

Kompilierter Nachschriftentext in sekundärer Überlieferung; SW III/9 (1849), S. 547–582 Platz (1871), (1876), (1902), (1968); Keferstein (1887) (Auszug), (1889) (Auszug); Braun/Bauer (1910) (Auszug), (1911) (Auszug), (1927) (Auszug), (1967) (Auszug), (1981) (Auszug); Weniger/Schulze (1957), Bd. 1, (1966), Bd. 1, (1983), Bd. 1; Lichtenstein (1959) (Auszug), (1964) (Auszug), (1983) (Auszug); Winkler/Brachmann (2000), Bd. 2 Ergänzung der Pädagogikvorlesung 1826 nach Abbruch der Aufzeichnungen Sprünglis

Uebergang zur drit t en Periode.

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Vo r b e r e i t e t w i r d d e r U e b e r gan g schon dadurch daß allmählig die Selbstbestimmung zunimmt, damit das Eingehen | in Verhältnisse wo die Selbstbestimmung überwiegend ist, nicht ein Sprung sei. Die Selbstbestimmung beginnt schon von dem Augenblikk wo die Kirche die Mündigkeit ausgesprochen hat. Wenn nun die A bna hme der p e r s ö n l i c h e n A u t o r i t ät u n d d i e Z una hme der S elbst bes t i m m u n g eben so wol in Beziehung auf das Leben in den öffentlichen Anstalten als in der Familie stattfindet: so darf man doch gerade hier nicht den Unterschied zwischen der Schule und dem häuslichen Leben übersehen. In der Schule, in der durchaus ein gesezlicher Zustand sein muß, muß stets die gesezliche Ordnung aufrecht erhalten werden, und nur ein Mißbrauch wäre es wol, wenn man die Zunahme der Selbstbestimmung darein sezen wollte, daß die Schüler der oberen oder der ersten Klassen nach Willkühr am Unterricht Theil nehmen, Aufgaben lösen, oder nicht. Soll der K an o n den wir als nothwendig aufgestellt haben in Beziehung a u f d i e a llmä hlig sich entw ikke l n d e g r ö ß e r e Se l b s t än d i gk e i t au c h a uf die S chule a ng ew e n d e t werden: so kann er nur seine Erfüllung finden in Beziehung auf die intellectuelle Thätigkeit, in dem Zunehmen selbständiger Arbeiten; in anderer Beziehung kann von der Anwendung desselben in den öffentlichen Anstalten gar nicht die Rede sein, wenn diese nicht zugleich die Stelle der häuslichen Erziehung übernommen haben. Im h ä u s l i c h e n L e b e n kann aber eben so wenig die Selbstbestimmung so zunehmen, daß es den älteren Kindern gestattet sein sollte Anordnungen und Befehle welchen die Glieder des Hauses nachkommen müssen, unbeachtet zu lassen; aber ein A bnehmen des Bef ehlens v o n S e i t e n d e r A e l t e r n wird eintreten müssen, da mit die mora l i s c h e S e l b s t b e s t i m m u n g i n d e n K i ndern g ew ekkt w erde, und diese sich gewöhnen auch ohne Befehl das was an sich nothwen-

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dig ist zu thun. Daß den älteren Kindern in Beziehung auf die jüngeren manches übertragen werden kann, haben wir schon gesagt; es liegt darin auch die beste Art das Vertrauen zu beweisen und so die einen oder anderen auszuzeichnen ohne positive Belohnungen. | D a s Au s s c h e i d e n au s d e n A n s t a lten sowol des mittleren als des höheren Bildungskreises, aus den Realschulen und den Gymnasien, wird theils ein Eintreten in einen höheren Bildungskreis zur Folge haben, so daß das Erziehungsgeschäft in der dritten Periode noch fortgesezt wird; theils ein Eintreten in das praktische Leben selber, so daß dann für diejenigen die unmittelbar aus der Schule in das Leben übertreten die dritte Periode einen besonderen Charakter annimmt. D e r Te r m i n des Ausscheidens fällt in der Regel in die Zeit zwischen der kirchlichen Mündigkeit und der bürgerlichen Volljährigkeit; er sollte eigentlich an keine andere Bedingung gebunden sein als daran, daß vollständig geleistet sei was der Beruf erfordert. Dann muß aber auch schon entschieden sein welchen Beruf der ausscheidende wählen wolle und könne, und es muß demnach gegeben sein: E i n e U e b e r s t i m m u n g d e r A e l tern oder Vormünder und d e r Zö g l i n ge s e l b s t ü b e r d e n e i nzuschla g enden Beruf . Auf pädagogischem Gebiete ist nicht zu entscheiden wie diese Uebereinstimmung zu Stande komme; wir müssen sie voraussezen. Wenn sich die betheiligten Parteien nicht einigen können: so liegt die Entscheidung auf dem sittlichen und bürgerlichen rechtlichen Gebiete. E i n e R e c h e n s c h af t s ab l e gu n g der Lehranstalt an die Aeltern über dasjenige was die Jugend geleistet hat. Es muß also eine Art und Weise geben, wie die öffentlichen Lehranstalten bekunden, in welchem Grade der einzelne dem vorgestekkten Ziele nahe gekommen sei; und hiedurch muß zugleich ein Mittel gegeben sein daß die Aeltern sich ein Urtheil über die Zwekkmäßigkeit der Anstalt und über die Befähigung ihrer Kinder zum wissenschaftlichen Beruf bilden können. Daß nun d i e ö f f e n t l i c h e n P r ü fung en bei der Ent la ssung diesen Zwekk wenig erreichen, ist aus dem über die Zwischenprüfungen gesagten abzunehmen. Für die Lehrer selbst soll es eigentlich einer solchen Prüfung nicht bedürfen; und wenn sie dennoch stattfindet: so beweist dies nur theils daß man ein anderes | Verfahren bis jezt noch nicht aufgefunden hat, das vollkommen geeignet ist, das Verhältniß in welchem die Jugend zu den Forderungen des Berufes stehe darzulegen und eine Entscheidung zu geben wenn sich die Lehrer in dem Urtheil über die Schüler nicht einigen können; theils daß die öffentlichen Anstalten in einem solchen Verbande mit der Regierung stehen, daß sie genöthigt sind den Anordnungen welche in dem Interesse des Staates liegen und von der öffentlichen Verwaltung ausgehen, nachzukommen. Ob diese Stellung nun eine in der Natur der Sache liegende

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sei, ob also bei der Entlassung aus den Anstalten auch gegeben sein müsse E i n e Re c h e n s c h af t s ab l e gu n g d e r Lehra nsta lt a n den S t a a t , um darzuthun, in welchem Verhältniß die Jugend stehe zu den Forderungen welche der Staat in seinem Interesse an diejenigen stellt welche in die öffentliche Thätigkeit übergehen wollen: das ist eine Frage die an der Grenze unseres Gebietes liegt. Diejenigen Anstalten welche ihre Zöglinge für irgend einen Privatberuf vorbereiten, haben eine solche Rechenschaft nicht abzulegen. Die Schulen überhaupt stehen ihrem Wesen nach gar nicht in unmittelbarer Beziehung zur Regierung oder der verwaltenden Geschäftsführung im Staate; und wenn es das natürlichste ist und im gegenwärtigen Entwikklungsgange unausbleiblich, daß es außer den öffentlichen Anstalten, die als Staatsstiftung anzusehen sind und unter unmittelbarer Leitung desselben stehen, reine Privat-Erziehungsanstalten giebt: so ist nicht abzusehen wie es der fortschreitenden Bildung irgendwie förderlich sein könnte daß die einen den Unterricht nach Methode und Umfang, und die Organisation der Erziehung überhaupt allein nach den Grundsäzen der Wissenschaft und mit Beziehung auf die Forderungen die in der Natur des Wissens liegen, zu gestalten berechtigt sind, die anderen aber noch besondereren Anforderungen des Staates nachkommen müssen. Es ist auch wol kein Grund vorhanden daß die Privatanstalten sich in ein specielleres Verhältniß zur Staatsverwaltung sezen sollten; sie haben keine Verpflichtung auf den Staat Rükksicht | zu nehmen wenn sie die Zöglinge entlassen; und wenn man sagen wollte, daß in den öffentlichen Anstalten diese Rükksichtnahme schon um deswillen geboten sei weil sie ja die Jugend für die öffentliche Thätigkeit vorbildeten: so ist zu entgegnen, daß das was der öffentliche Dienst erfordert in den Eintritt in diesen gehört, und nicht in den Austritt aus den Schulanstalten.

Dr it t e Per iode.

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Diesen lezten Theil der Erziehung theilen wir in zwei Theile, indem wir zuerst die fortschreitende Entwikklung der ersten und zweiten Bildungsstufe und sodann die der dritten Bildungsstufe ins Auge fassen. |

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Vo l l e n d u n g d e r E r z i e h u n g derer w elche a us der Vo l k s s c h u l e u n d d e r B ü r ge r s c hule in da s mecha nische u n d t e c h n i s c h e G e w e r b s leben überg ehen. Wir können die allgemeine Volksbildung und diejenige Bildungsstufe die eine Menge von realen Kenntnissen, wie sie in der sogenannten höhern Bürgerschule oder Realschule zusammengefaßt sind, erfordert, nicht als streng auf einander folgend ansehen. In der Regel werden in der zweiten Periode diejenigen die zu dem Volke gehören schon in Folge der äußeren Verhältnisse nur in der Volksschule ihre Bildung empfangen; diejenigen die einem höhern Bildungskreise zugewiesen werden, treten von vorn herein aus der Familie in die Bürgerschule ein, und nur in besonderen Fällen wird aus der Volksschule in die Bürgerschule der Uebergang gemacht werden. Auf jeden Fall liegt es in der Natur der Sache, daß für die Volksjugend die ihren Unterricht nur in der Volksschule genießt, die Unterrichtszeit früher abgeschlossen wird; aus der Bürgerschule werden die Zöglinge erst in einem späteren Alter treten. Es beginnt somit die dritte Periode für die einen früher, für die anderen später. Jedoch ist diese Differenz der Zeit nicht eine so bedeutende und nicht etwas so wesentliches daß in Folge derselben der Bildungsgang der einen als durchaus verschieden von dem der anderen modificirt werden müßte. Beide T heile, die Jug end d e r Vo l k s s c h u l e u n d d e r B ü r ge r s chule, tret en na ch Beendig u n g d e r z w e i t e n P e r i o d e z u r ü k k in da s F a milienleben; es ist für sie eigentlich das gemeinschaftliche Leben, das nicht nur in Beziehung auf den Unterricht, also in Beziehung auf die Entwikklung der Fertigkeiten, sondern auch in Beziehung auf die Entwikklung der Gesinnung für sie organisirt war, zu Ende und es beg innt für beide d a s e i g e n t l i c h e B e r u f s l e b e n o d e r a uch die specielle Vorber e i t u n g a u f d e n b e s t i m m t e n B e r uf. | S o l l n u n al l e p äd ago gi s c h e T hä t ig keit für beide T heile sobald sie die Schule verlassen haben a ufhören, ausgenommen die Einwirkungen welche von der Familie und von dem Leben überhaupt, namentlich in so fern es den Beruf betrifft, ausgehen? Dann ist jenes gemeinschaftliche Leben in der Schule eigentlich nur ein Zwischenzustand zwischen der Zeit der Kindheit, die allein in der Familie verlebt wird, und dem geselligen bürgerlichen Leben; ein Zwischenzustand zwischen der Zeit vor der Schule und nach der Schule. Das gemeinschaftliche Leben erscheint also eigentlich nur als eine Sache der Noth, nicht begründet in einem gemeinschaftlichen Gesammtleben. Wenn in einem Volke der Sinn für ein größeres umfassenderes gemeinschaftliches öffentliches Leben fehlt: dann ist das gemeinschaftliche Leben in der Schule auch nur ein zwischeneingekommenes vorüberge-

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hendes; je mehr aber der Sinn für größere Gemeinschaft in der Gesellschaft erwacht ist: desto mehr wird man es natürlich finden das gemeinschaftliches Leben in der Schule fest zu begründen und nachher zu erhalten und fortzusezen. Verschiedene politische Ansichten liegen dieser Differenz zu Grunde. Aber eine Inconsequenz ist es, wenn es kein gemeinschaftliches Leben in der Gesellschaft giebt in welches nach Beendigung der Erziehung die Jugend übergehen kann, ein solches zu begründen; und wiederum es ist inconsequent, wenn es ein öffentliches Leben giebt, das gemeinschaftliche Leben der Jugend zu unterbrechen, so daß es zwar in der Schule beginnt, nach der Schulzeit aber während der Vorbereitung auf den speciellen Beruf sistirt wird, und erst wieder mit dem Eintritt in eine selbständige Berufsthätigkeit fortgesezt werden kann: es wäre dies ein Rükkschritt vor dem Ziel. Wenn nun ein öffentliches gemeinschaftliches Leben noch nicht besteht: so ist doch dies eben nicht der vollkommenste Zustand, und hemmendes Princip nur würde es sein, wenn man jede sich darbietende Gelegenheit zur Bildung eines gemeinsamen Lebens der Jugend nach beendigter Schulzeit vernachlässigen wollte, statt sie zu benuzen um ein gemeinsames Leben | in der Gesellschaft vorzubereiten. Besteht aber schon in einem Volke ein öffentliches Leben: dann würde es unverantwortlich sein zu diesem die Jugend nur in der Schule vorzubilden, die Stätigkeit des Ueberganges zu unterbrechen. Nur so ist in jedem Fall die Frage zu beantworten, Wa s i s t z u t h u n u m n ac h vo l l e n d eter S chulbildung da s g e m e i n s c h a f t l i c h e L e b e n d e r J u ge n d so w ie es in der N a t ur der Sache liegt einzurichten? Beide Klassen, die Jugend der Volksschule und der Bürgerschule, können zwar in Beziehung auf ihre Entwikklung sehr verschieden sein, aber in den meisten Regionen wird die Verschiedenheit doch nur in verschiedenen Uebergängen heraustreten, und eine größere Gleichheit zwischen beiden Klassen stattfinden im Vergleich zu der Jugend der wissenschaftlichen Bildungsstufe, von der jene wesentlich sich dadurch unterscheiden daß sie ungleich früher in das Geschäftsleben übergehen, sei es Akkerbau, Gewerbe, Fabrication oder Handel. Die Jugend wird dadurch wieder einem Hauswesen zugewiesen, größtentheils einem fremden: dies kann nicht alle Bedürfnisse befriedigen und bedarf eines Supplements, das wol am besten in einem gemeinsamen Leben der Jugend selber gegeben sein möchte. Zweierlei bietet sich uns dar. Erstens. E i n ge m e i n s am e s L e b e n al s F ort sezung des v ora n g e g a n g e n e n L e b e n s i n d e r Sc h u l e , in so fern es sich a uf d i e E n t w i k k l u n g d e r F e r t i gk e i t , d e n Unterricht, bezieht; also eine Gemeinschaft des Unterrichtes, theils als Wiederholung und Er-

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neuerung, theils als Fortentwikklung des in der Schule aufgenommenen. Von Veranstaltungen die diesen Typus haben finden sich Spuren; aber alles derartige ist bei uns nur etwas sehr fragmentarisches, in den meisten Gegenden unbekanntes und vollkommen neues. Anfänge finden wir in unsern Han d w e r k s s c h ulen: sie haben diesen | Charakter, sind aber meistentheils Ergänzungen des vorhergegangen Schulunterrichts, indem dieser theils selbst nicht das ganze Gebiet der nothwendigen Kenntnisse umfaßte, theils nicht vollständig benuzt wurde. Es können in diesen Handwerksschulen allgemeine Elementargegenstände vorkommen, das geometrische in populärer Fassung als Formenlehre, Kenntniß und Behandlung der am meisten vorkommenden Naturkörper, Zeichnen und dergleichen. Wenn aber die Schule in Folge zwekkmäßiger abgekürzter Methoden das Gesammtgebiet des Unterrichts erweitert und alles in ihren Kreis zieht was zur allgemeinen Volksbildung nothwendig gehört: dann würde die Nachhülfeschule überflüssig werden, und wenn doch Unterrichtsanstalten auch nach der Schulzeit für zwekkmäßig erachtet würden, dann müßten sie über den Elementarunterricht hinausgehen und eine höhere Fortbildung bezwekken, oder sich beschränken auf einzelne technische Zweige. So würden sich die Anstalten theilen und auf die verschiedenen Berufsarten berechnet werden. In dem Fall würden aber nun d i e s e An s t al t e n , mag ihre Einrichtung diese oder jene sein, da zu d i e n e n d ie J u ge n d i n e i n e gr ö ß e re G emeinscha ft zu bring e n ; und wenn auch nur in kürzeren Zeiträumen ein Zusammensein für den Zwekk der Fortbildung stattfände, so würde diese Gemeinschaft doch vortheilhaft auf die sittliche Haltung der Jugend aus dem Gewerksstande einwirken und manchem Uebel in Beziehung auf das gesellige Leben steuern; und selbst wenn in einem Staate kein öffentliches Leben sich ausgebildet hat, auch nur als Fortsezung der Schule, also ganz abgesehen von der Vorbildung für ein gemeinsames öffentliches Leben, sind diese Anstalten zu begünstigen. Anstalten der Art haben eine allgemeine Gültigkeit und sind nicht bloß zufällig; aber da sich mit der fortschreitenden Bildung der Unterricht in den eigentlichen Schulen erweitern und eine allgemeine Bildung mehr und mehr Grundlage des gemeinsamen Lebens werden wird: s o s t e h t z u e r w ar t e n d aß d ie A nsta lten f ür G ew erbsb i l d u n g , seien es eigent|liche Handwerkschulen oder höherer Art, s i c h s p e c i al i s i r e n w e r d e n . Es ist nicht zu läugnen, daß dann diese Anstalten nur ein beschränktes gemeinsames Leben darbieten können; es wird das gemeinschaftliche Leben in ihnen einen gewissen einseitigen Charakter annehmen und einen beschränkenden Gemeingeist hervorrufen, indem es sich überwiegend auf das specielle Gewerbe bezieht. So angesehen wären sie e i n e s chlecht e Vorbereitung a uf

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d a s ö f f e n t l i c h e L e b e n : in diesem soll ein Gemeingeist herrschen der die entgegengesezten Interessen ausgleicht; in ihnen aber würde der Zunftgeist sich leicht ausbilden und kräftigen können, welcher Anlaß giebt zu Reibungen der verschiedenen Gewerbsgenossenschaften, zum großen Nachtheil des gemeinsamen Lebens. Da aber diese Anstalten nothwendig sind, so können sie nicht um dieses möglichen Nachtheiles willen beseitigt werden; sie müssen mehr und mehr sich verbreiten, selbst in der Form die an sich dem Gemeingeist nicht förderlich zu sein scheint. N u r m u ß d an n a n ein G eg eng ew icht g e d a c h t w e r d e n , u n d e s m u ß e i n ge meinsa mes Leben der G e w e r b s j u g e n d o r gan i s i r t w e r d e n d a s seinem Wesen na ch d e n G e m e i n ge i s t f ö r d e r t . Zweitens. E i n ge m e i n s am e s L e b e n a ls F ortsezung des v o r a n g e g a n g e n e n L e b e n s i n d e r Sc h ule in Beziehung a uf d i e f r e i e T h ä ti gk e i t u n d d as Sp i e l . Wenn jene Gemeinschaft, die mit Beziehung auf ein bestimmtes Gewerbe gebildet ist, die Jugend sondert: so hat die Gemeinschaft im Gebiet der freien Thätigkeit eine gegenwirkende Kraft. In dieser Beziehung sind diese beiden F orm e n d e r G e m e i n s c h af t reine Correlate; sie müssen sich g eg ense i t i g e r g ä n ze n . Die Gemeinschaft der freien Thätigkeit und des Spiels hebt die Trennung die sich auf das Geschäftsleben beziehen wenigstens momentan auf; sie macht ein Vergessen des besonderen Berufes und Standes in der Zeit der gemeinsamen freien Thätigkeit möglich; sie schwächt dadurch den nachtheiligen Einfluß den die Gemeinschaft des Gewerbes auf den Gemeingeist hat. Daß unmittelbar größere Vereinigungen der Jugend nach|theilig wirken sollten, kann man nicht sagen. Ja man muß annehmen daß dem Bedürfniß der Gemeinschaft vollständig genügt werden könne durch Begründung eines gemeinschaftlichen Lebens der Jugend zum Behuf gymnastischer Uebungen und freier Thätigkeit überhaupt; denn diese Gemeinschaft würde bestehen auch wenn Handwerksschulen nicht mehr nöthig wären in Folge der Vervollkommnung der Volks- und Bürgerschule, und Specialschulen zu gründen nicht zwekkmäßig schiene. Nur das ist zu bemerken, daß eine solche Vereinigung eine gewisse Gleichheit wenn auch nicht in der intellectuellen doch in der sittlichen Entwikklung und in den geselligen Formen voraussezt. Es reprä sentirt a lsda nn d i e s e G e m e i n s c h af t f ü r d i e J u ge n d d as G ebiet der G esellig k e i t . Wo a l s o n o c h i m b ü r ge r l i c h e n Leben eine g roße D iff e r e n z d e r S i tt e u n d Tr e n n u n g d e r K la ssen der G esellscha ft s t a t t f i n d e t , d a w ü r d e e i n e al l ge m e i ne Vereinig ung der Jug e n d i m m e r e i n e ge w al t s am e R e ac t ion g eg en diesen Zus t a n d s e i n : sie würde entweder wirklich eine Veränderung der Sitte hervorbringen und eine Gemeinschaft des ganzen geselligen Lebens,

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ein öffentliches Leben begründen, oder durch das trennende Princip selbst wieder zerstört werden. Das leztere ist das gewöhnliche. Irgend ein neu entstehendes steht immer zurükk in dem Kampf gegen ein gegebenes und lange Zeit bestehendes, wenn dies nicht schon seine Auflösung in sich trägt. Nun liegen freilich die großen Differenzen der gesellschaftlichen Klassen nicht innerhalb des Kreises den wir hier vor Augen haben. Die Jugend der höheren Stände nimmt nicht Theil an dem gemeinsamen Leben der Volksjugend, und nur in der Bürgerschule wenn diese eine umfassendere Bildung gewährt, knüpft sie Gemeinschaften an mit der Jugend innerhalb unseres Gebietes; und dann ist das schon ein Zeichen daß die Differenz überhaupt in Abnahme ist. Aber dennoch, abgesehen von den höchsten Differenzen, innerhalb des Kreises selbst der die Jugend der Volksschule und Bürgerschule umfaßt, liegen so | bedeutende Differenzen, daß eine vollkommene Gemeinschaft nur allmählig sich herausbilden kann. Wi e i s t d e m n ac h d as vo r h an d ene zu beha ndeln, da mit d i e g e w ü n s c h t e G e m e i n s c h af t ohne Rea ction herv orzub r i n g e n z u St an d e k o m m e n k an n ? Es läßt sich eine Formel dafür aufstellen, jedoch nicht ohne eine gewisse Unbestimmtheit auf der einen Seite, und nicht ohne Schwierigkeit der Anwendung auf der anderen Seite. Nämlich die Formel würde diese sein, Die a llg emeine u n d d e m H au p t m at e r i al n ac h g y mna stische Vereinig ung d e r J u g e n d m u ß i m Ve r h äl t n i ß m it der in der G esellscha f t b e s t e h e n d e n Si t t e o r gan i s i r t s e i n , a ber – wie alles pädagogische stets das was im Gange der Entwikklung liegt berükksichtigen und die ausgleichenden Principien vermitteln soll – so daß sie eine g r ö ß e r e A n n äh e r u n g z u r G l e i c h h eit und minder beg renzt e n G e m e i n s c h af t d ar s t e l l e o h n e die noch f est stehenden G r e n z e n e i n r e i ß e n z u w o l l e n . Es wird sich dann in dieser Vereinigung das vorhandene ausgleichende Princip schon abspiegeln, und sie selbst eine Vermittlung sein zur Realisirung desselben in einem größeren Umkreise. Die besondere Anwendung solcher allgemeinen Formeln für die einzelnen Fälle ist Sache des praktischen Talentes, der Klugheit; genauere Regeln lassen sich darüber in unserer Theorie nicht geben. Die Leitung im großen geht vom politischen, nicht vom pädagogischen aus; es wird also hauptsächlich hier ankommen auf die Wirksamkeit derjenigen Zweige der Staatsverwaltung die auch in dieses Gebiet der Gestaltung des Lebens der Jugend eingreifen. Regeln sind für diejenigen die unmittelbar die Leitung in Händen haben schon aufgestellt, aber sie werden wol noch zu modificiren und zu bessern sein. D i e E i n r i c h t u n g d e r z w i e f ac hen G emeinscha ft f ür die J u g e n d können wir vom pädagogischen Standpunkt aus nur ganz im allgemeinen beschreiben.

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D i e G e m e i n s c h af t d e s U n t e r r i c h t s ist theils begrün|det auf Wiederholung des Schulunterrichts, also Nachhülfe; theils specielle Anwendung der Unterrichtsgegenstände auf den Beruf. Das Bes t e h e n a l l g e m e i n e r A n s t al t e n zur Wiederholung und Nachhülfe beweiset e n t w e d e r e i n e u n vo l l k o m m ene Einricht ung der S c h u l e , ein unrichtiges Verhältniß derselben zu dem Leben nach der Schule. Denn wird nur in die Schule nichts aufgenommen was nicht seine Anwendung im Geschäftsleben und im Leben überhaupt findet, aber das im Leben nothwendige auch gründlich gelehrt: so wird das in der Schule erlernte von selbst schon im Leben geübt werden. O der es beweist dies Bestehen auch eine u n vo llkommene O rg a nisa t i o n d e s G e s c h äf t s l e b e n s und eine unverständige Unterweisung in demselben. Eine zu lange Beschäftigung mit einem einzelnen Zweige des Gewerbes, rein mechanische Einübung vereinzelter Fertigkeiten kann nicht dazu dienen die in der Schule erworbenen Kenntnisse anzuwenden; erforderlich ist eine genaue Bekanntschaft mit dem ganzen Gewerbe. – D a s B e s t e h e n ganz s pecieller A nst a lten die sich auf die Vereinzelung gewisser Geschäfte beziehen, schließt sich an die jedesmalige Theilung der Gewerbe im bürgerlichen Leben an. Es kann in dieser Beziehung eine große Verschiedenheit stattfinden; es richtet sich hier alles nach dem Zustande des Gewerbslebens. Ueber das materiale ist also nichts zu sagen. Angelegt müssen solche Anstalten so sein daß sie das Gewerbsleben nicht beschränken, und der Unterricht in ihnen muß in die Zeit fallen wo die Hülfe der Jugend in dem Geschäfte nicht gebraucht wird; eben so wenig dürfen sie die ganze Zeit der Muße hinwegnehmen, es muß Raum übrig bleiben für die Gemeinschaft der freien Thätigkeit, der gymnastischen Uebung. Auf die richtige Eintheilung der Zeit mit Beziehung auf diese drei Glieder, Geschäft Unterricht freie Thätigkeit, kommt alles an. Aber dann müssen diese Anstalten immer den Charakter der eigentlichen Schule, der strengen Gesezmäßigkeit und Ordnung, den Charakter ernster pädagogischer Thätigkeit an sich tragen. D i e G e m e i n s c h af t d e r f r e i e n T h ät ig keit wird nur | dann ihre wahre Existenz haben, wenn ein öffentliches Leben sich bildet, oder doch eine Richtung daraus da ist. Da aber dies etwas sich allmählig entwikkelndes ist, so wird es in der Jugend eher sein als im Leben der erwachsenen. Je zwekkmäßiger die Schulanstalten eingerichtet sind, um so mehr muß schon in ihnen die Idee eines öffentlichen Lebens gewekkt sein. Hat nun die Gemeinschaft einen überwiegend gymnastischen Charakter: so muß auch, weil dies dann gar nicht auf der Seite des Geschäftes liegt, eine größere Freiheit darin stattfinden. In dem Maaß als sich freiwilliger Antheil der Jugend daran zeigt, wird sich auch zeigen in wie fern die Richtung auf ein öffentliches

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Leben größer oder geringer ist. Es kommt freilich noch hinzu die Liebe der Jugend zu dem Gegenstande selbst, die Neigung zu gymnastischen Uebungen; nach Maaßgabe dieser Verschiedenheit läßt sich wieder eine Spaltung der Jugend in Beziehung auf die Neigung zu dieser oder jener Art und Form der gymnastischen Uebung denken, und dies ist ein gutes Mittelglied wenn die Richtung auf ein gemeinschaftliches Leben noch nicht in einer gemeinsamen Sitte ihre Haltung findet. I n d a s e i n z e l n e d e r t e c h n i s c hen Uebung en die innerh a l b d e r d r i t t e n P e r i o d e f al l e n , k önnen w ir nicht eing ehen. Die pädagogischen Einwirkungen in Beziehung auf geselliges Leben, bürgerliches, religiöses Leben werden aus dem früher gesagtem sich von selbst ergeben, in der allgemeinen Charakteristik der dritten Periode ist das Verhältniß dieser verschiedenen Beziehungen schon entwikkelt; es bleibt nur übrig D a s Ve r h äl t n i ß d e r U n t e r o r d n ung der Jug end zu fixiren. Es läßt sich aber in dieser Beziehung im allgemeinen kein anderer Kanon aufstellen als der den wir für das lezte Stadium der Schulbildung in Beziehung auf die | sittliche Entwikklung gegeben haben. Die S e l b s t ä n d i gk e i t m u ß al l e r d i n gs zunehmen, a ber der G eh o r s a m d o c h w al t e n . Nur fallen die einzelnen unter die Botmäßigkeit der öffentlichen Gesezgebung, sowol in Beziehung auf ihr Verhältniß zu dem gemeinschaftlichen Gesammtleben, als auch in Beziehung auf ihre Stellung in einem einzelnen Familienleben dem sie in Folge ihres Gewerbes oder Berufes sich angeschlossen haben. Es wird aber die Gesezgebung nur dann ihren Zwekk erfüllen, wenn diese Verhältnisse die hier zur Sprache kommen wahrhaft geändert sind und ein wirklich lebendiger Gemeingeist waltet; dadurch wird auch am besten ein Corporationsgeist und eine Opposition der Jugend gegen ihre Vorgesezten verhütet. Nur in dem Maaße als die Vorgesezten und die Jugend ein ganzes bilden und in lebendiger Gemeinschaft stehen, wird Ruhe stattfinden. Die Zwistigkeiten rühren immer her von den verschiedenen Ansichten über das richtige Verhältniß der älteren leitenden Generation zu der jüngeren. Wenn einmal die Abnahme des Gehorsams im Gange ist; wenn ein Zwiespalt zwischen der älteren und der jüngeren Generation entstanden ist: so macht diese immer mehr Ansprüche auf größere Freiheit, jene will weniger zugestehen. Beide Theile gehen dann immer mehr auseinander; es tritt von der einen Seite Anmaßung, von der anderen Willkühr und Mißtrauen ein: wahre Einigung ist dann nicht möglich, und nur das Band der äußeren Ordnung und die Gewalt hält nothdürftig zusammen. Beständige Arbeit und gemeinschaftliche Thätigkeit, wie wir diese für die Jugend angewiesen haben, ist das beste Mittel einer leeren Anma-

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ßung vorzubeugen; sowie dagegen wenn in der älteren leitenden Generation das Bewußtsein der steten Bewegung und Fortschreitung der menschlichen Dinge fest geworden ist, auch das Mißtrauen nicht leicht entstehen wird. Es gilt dies auch in Beziehung auf den Theil der Jugend welcher den wissenschaftlichen Bildungskreis durchmacht. In Beziehung auf den E n d p u n k t d e r d rit ten Periode für diejenigen die in das Gewerbsleben übergehen, | können wir keine näheren Bestimmungen geben. Es wird die größte Verschiedenheit stattfinden. Ab e r i m al l ge m e i n e n h at d ie T heorie a uf die Wi d e r s p r ü c h e h i n z u w e i s e n d i e i n d e r Pra xis übera ll herv o r t r e t e n w o d as E n d e d e r e i ge n t l i c hen Erziehung szeit nur t h e i l w e i s e m i t d e r A n e r k e n n u n g d e r S elbstä ndig keit v erb u n d e n i s t . Es ist ein Widerspruch zu erklären daß die Erziehung vollendet sei, und sogar in gewissen Fällen nach vollendeter Erziehung einzelnen eine Leitung anderer anzuvertrauen und Arbeit in öffentlichen Geschäften, und doch die Selbständigkeit abzusprechen und die Fähigkeit in den eigenen Angelegenheiten etwas zu vertreten an ein gewisses Alter zu knüpfen, das oft erst lange nach dem Endpunkt der Erziehung erreicht wird. Die Gesezgebung in Beziehung auf die Großjährigkeit ist schwerfällig und ändert sich nicht leicht. A lle S t a a t e n d i e e i n e U m w äl z u n g e r f ah ren ha ben, ha ben den Te r m i n d e r G r o ß j äh r i gk e i t f r ü h e r ge sezt, und die a nderen S t a a t e n w e r d e n au f d i e L än ge s i c h d em a uch nicht entziehen können. Wir gehen nun über zu der höchsten Bildungsstufe.

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Ueber den Streit zwischen den Universitäten und den Specialschulen ist schon gesprochen. Wenn wir unsere Universitäten betrachten: so ist offenbar daß durch sie das Princip dargestellt ist, daß in diesem lezten Stadium der Erziehung d i e A n l e i t ung zur Wissenscha f t u n d d i e b e s o n d e r e l e z t e Vo r b i l d u ng f ür diejenig en v ers c h i e d e n e n G e s c h äf t e w e l c h e d i e h öchst e Leitung der öff e n t l i c h e n An ge l e ge n h e i t e n i n s i c h s chließt v erbunden ist . Ist diese Verbindung natürlich und schlechthin nothwendig? Nein; sie erscheint nur als zufällig. Die rein wissenschaftliche | Bildung, die Anleitung zur Speculation und zwar in Beziehung auf den ganzen Complexus der Wissenschaft, in so fern sie nothwendig ist für alle in denen die Principien zur Leitung liegen sollen, könnte etwas für sich bestehendes sein; und wenn das auf die rechte Art geordnet wäre, so könnte die Trennung der Specialschulen nichts schaden. Man giebt aber gewöhnlich vor, es sei ein Vortheil daß die speculativen und

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positiven Wissenschaften, die wissenschaftliche Ausbildung und die Vorbereitung auf das Amt gleichzeitig betrieben werden können; alle seien auf diese Weise vereinigt die sich hernach in die verschiedenen Geschäftszweige vertheilen; eine Vielseitigkeit werde dadurch gegeben, die nicht erreicht werden könnte, wenn man die Bildungszeit und das philosophische Studium nicht so ausdehnen wollte wie es die Kräfte der meisten nicht zuließen. Aber damit hat man zugegeben d a ß d i e Ve r b i n d u n g e i n e Sac h e der N oth ist, hervorgerufen durch äußerliche Verhältnisse die wie sie an sich schon ein Uebel sind selbst wieder ein Uebel begründen. Zumal wenn die Sache so liegt wie auf unseren deutschen protestantischen Universitäten, auf denen die Jugend in Beziehung auf die Anordnung ihrer Studien schon als vollkommen mündig und selbständig angesehen wird. Man hat keine Garantie daß diese Selbstbestimmung für die wissenschaftliche Thätigkeit das rechte trifft; und so ist denn auch dies das gewöhnliche, daß alsbald nach der Inscription überwiegend die meisten zu den besonderen positiven Wissenschaften eilen, die höhere wissenschaftliche Bildung gering schäzend oder auf das kürzeste absolvirend. Nur durch die unbestimmte Gewalt der Tradition die sich auf den Anstalten fortpflanzt wird dem Uebel auf sehr unzulängliche Weise abgeholfen. D i e g e ge n w är t i ge F o r m d e r U niv ersitä t en ist a lso dem Zw e k k n i c h t gan z e n t s p r e c h e n d . Auf dieser lezten Stufe der pädagogischen Einwirkungen muß eine andere Art und Weise der Bildung eintreten als die auf der Stufe der eigentlichen Schulbildung gebotene; aber es kann nicht behauptet werden daß die jezige Organisation der Universitäten diese | Aufgabe vollkommen und gut löse. Es sind auch die Universitäten in einem beständig wankenden Zustand in Beziehung auf ihre Verfassung, so daß das Bewußtsein über ihre Zwekkmäßigkeit verloren ist. Sie sind ursprünglich aus Specialschulen zusammengeflossen und führten schon ihren Namen ehe man ihnen eine Universität zuschreiben konnte; und auch noch gegenwärtig wächst so von außen die Universalität: denn so wie aus vier Welttheilen fünf geworden sind, so haben auch manche Universitäten den vier Facultäten schon eine fünfte zugesellt. O r g an i s at i o n d e r U n i ve r s i t ä ten im a llg emeinen. D i e p h i l o s o p h i s c h e F ac u l t ät i s t die Ba sis. Alle auf der Stufe der Gymnasialbildung mitgetheilten Kenntnisse sind der nothwendige vorauszusezende Stoff; die speculative Erkenntniß, auf der Schule vorbereitet, wird nun auf der höchsten Stufe der Entwikklung ausgebildet. Das philosophische Studium, die Totalität des Wissens umfassend, muß aber ein anderes sein für diejenigen die sich der Philosophie

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ex professo widmen wollen, ein anderes für diejenigen die in den verschiedenen Fächern als Lehrer auftreten wollen, ein anderes für die in das Geschäftsleben übergehenden. Für die lezten kann bloß der Zusammenhang der Totalität des Wissens, aber speculativ, gegeben werden, das systematische des Wissens. Es ist offenbar daß wir hierin etwas von den katholischen Universitäten nachzuahmen haben: alle nämlich müssen diese Stufe durchgemacht haben, sie mögen zu einem Beruf übergehen zu welchem sie wollen; alle müssen dies allgemeine erst aufgenommen haben, sonst geht der wesentliche Charakter der Universitätsbildung verloren. Wenn diese Einrichtung bei uns Eingang fände: dann würde sich ein bestimmter Abschnitt inner|halb der Universitätsstudien bilden, alle würden ein ungetheiltes ganze sein so lange sie in den philosophischen Studien versirten, und erst nach Vollendung derselben würden die einzelnen in die vier Facultäten auseinandergehen. | An d a s p h i l o s o p h i s c h e St u d i u m s chließen sich die einze l n e n F a c u l t ät s w i s s e n s c h af t e n an , zunächst natürlich die Tendenz die Einheit der besonderen Wissenschaft zu erkennen. Demnach ist der Zy k l u s d e r e i n z e l n e n Wi s s e n s c ha f ten welche die besondere Facultät umfaßt im Zusammenhang darzustellen. Wenn diese Aufgabe auf die zwekkmäßige Weise gelöst wird, so ist für die Wahl und Anordnung der richtige Weg vorgezeichnet; denn ist der Zusammenhang der einzelnen Disciplinen vorher richtig dargestellt und aufgefasst: dann ergiebt sich die Anordnung des Studiums von selbst, und es würde die gänzliche Freiheit in der Wahl der Collegia eher zu entschuldigen sein. Dies scheint von der methodischen Seite angesehen dasjenige zu sein was auf unseren Universitäten noch klarer hervortreten müßte: die Ausbildung des philosophischen Studiums in so fern es ein allgemeines ist und die Ausbreitung desselben sofern es ein besonderes ist, und das Aufeinanderfolgen der Facultätswissenschaften, beginnend mit der allgemeinen Uebersicht der einzelnen Disciplinen. An die einzelnen Facultäten schließen sich die S emina rien an, die besonders für künftige theoretische Lehrer bestimmt sind.

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Wa s d i e s i t t l i c h e Se i t e u n d d i e d am it zusa mmenhä ng ende Disciplin betrifft: so zeigt die Erfahrung daß man auch hier nicht auf den wünschenswerthen Punkt gekommen ist. | Wir müssen drei Formen unterscheiden: erstens die ev a ng elisc h e n Un i v e r s i t ät e n i n D e u t s c h l an d ; zweitens die ka tholis c h e n Un i v e r s i t ät e n ; drittens d i e U n i versit ä t en in Eng la nd.

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Die Differenz zwischen ihnen ist auch in Beziehung auf das Studium sehr groß. Die englischen Universitäten legen auf Vorlesungen wenig Werth, richten durch diese auch wenig aus; es ist mehr auf einen fortlaufenden Proceß der Selbstthätigkeit abgesehen, weshalb auch auf den Anstalten eine große Anzahl von Personen beschäftigt wird welche das Studium der einzelnen leiten. Auf den wesentlichen Unterschied in Beziehung auf die katholischen Universitäten, daß nämlich das Studium der Philosophie allgemein vorangeht vor der Einzeichnung in eine besondere Facultät, haben wir schon aufmerksam gemacht. Dagegen haben unsere Universitäten den Vorzug daß das Studium weniger mechanisirt wird, und daß Lehrer und lernende sich einer größeren Freiheit erfreuen. Und so treten denn auch in Beziehung auf das sittliche, die Disciplin, bedeutende Unterschiede hervor. Auf den Universitäten in England, welche aus den bischöflichen Schulen hervorgegangen sind, besteht ein Zusammenleben und Zusammenwohnen der Jugend; sie sind in kleinere Gesellschaften vertheilt wie in den Alumnaten unserer Gymnasien. Es ist natürlich daß bei einem solchen Verhältniß schon eine festere allgemeine Ordnung stattfinden muß, also auch größere Strenge und weniger Selbständigkeit. In einem Lande wo so hohe bürgerliche Freiheit herrscht und wo die Jugend dies vor sich sieht, ist auch das Bewußtsein von der Nothwendigkeit eines gesezlichen Zustandes bei allen die sich über die rohe Masse erheben weit stärker, und die Aufrechthaltung einer strengen Gesezlichkeit wird um so williger ertragen. Wo aber die öffentlichen Anordnungen den Schein der Willkühr an sich tragen, da ist bei der Aussicht in die Selbstbestimmung einzutreten besonders bei der Jugend eine Neigung sich von der Willkühr zu befreien, eine Neigung zur Ungesezlichkeit; daher die Widersezlichkeit mit der | man auf unseren Universitäten unter verschiedenen Formen immer zu kämpfen hat. Bei dem Zusammenfluß der Jugend aus den verschiedenen Ländern waren Verbindungen natürlich, sie stellten sich dar zunächst als Gemeinschaft der zu einer Nation gehörenden, als Nationen, und hatten alle ursprünglich nur diesen Zwekk. Hieraus sind allmählig alle die O p p o s i t i o n e n entstanden w e l c h e die bestä ndig en Reibung e n v e r a n l aß t e n , indem die öffentliche Gewalt mit sich selbst uneins war. Auf der einen Seite war das Bewußtsein, wie nöthig es sei ein Streben nach Selbständigkeit und Freiheit gewähren zu lassen bei denen die ihre Selbständigkeit bewähren sollten; auf der anderen Seite war die Besorgniß, daß die Ungesezlichkeit besonders bei denen die einst den gesezlichen Zustand vertreten sollten zum Schaden des ganzen gereichen möchte. Daher das Schwanken und der große Wechsel in den Maaßregeln.

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Wo r i n n u n l i e gt d as U e b e l u n d w ie ist ihm a bzuhelf en? Der Keim zu diesem nicht wünschenswerthen Zustande liegt zum Theil in den Anstalten selbst, in dem Mittelzustande derselben, in welchem einerseits pädagogische Einwirkung Leitung Erziehung noch als nothwendig anerkannt wird, andererseits Ansprüche auf Freiheit und Selbständigkeit nicht abgewiesen werden können; einerseits Minderjährigkeit, andererseits gewissermaßen schon anerkannte Volljährigkeit. Je weniger die Verhältnisse eines solchen Mittelzustandes einer durchgreifenden gesezlichen Bestimmung und Anordnung unterworfen werden, desto stärker treten die an ihm haftenden Uebelstände hervor. Sodann aber ist eben so wenig zu verkennen daß auch darin ein Grund des Uebels liegt, das die Universitäten als Anstalten angesehen und demgemäß benuzt werden die einen Charakter der Erziehung und Bildung fördern sollen der nicht in jeder Beziehung dem Wesen der Universität entspricht. Es möchte aber nun wol nicht gerathen sein dem | Uebel dadurch abhelfen zu wollen daß man den Typus der englischen Universitäten oder der katholischen den unsrigen aufprägt. Stände es bei uns mit dem öffentlichen Leben wie in England: so würden leicht die Schwierigkeiten sich heben lassen, und es wäre auch dann nicht nöthig die dortigen Universitäten zum Muster zu nehmen und ein klösterliches Zusammenleben zu begründen. G ründlich s c h e i n t h i e r d u r c h n i c h t s an d e r e s als v on seit en eines öf f e n t l i c h e n L e b e n s au s ge h o l f e n w e r den zu können. In England ist ein schon zur völligen Gestaltung gekommener freier bürgerlicher Zustand; auf der deutschen Seite das innere Ringen nach demselben, damit verbunden ein beständiger Wechsel. Dies sind eigentlich die beiden Haupttypen der Organisation der europäischen Nationen, welche den Kern der ganzen Cultur des menschlichen Geschlechtes in sich schließen. Es liegt also in der Natur der Sache daß diese Hauptdifferenzen auch in den wissenschaftlichen Anstalten hervortreten, und bis dahin wo auch unter uns sich ein öffentliches Leben wird ausgebildet haben, wird es immer nur Sache der Klugheit sein in den einzelnen Fällen das richtige zu treffen und das ungesezliche und schwankende zu mäßigen. Was aber d i e Dif ferenz der Univ ersit ät e n k a t h o l i s c h e r- u n d e van ge l i s c herseits betrifft: so lieg t d i e s e i n d e r D i f f e r e n z d e s We s e n s beider Kirchen. Die Grundsäze der katholischen Universitäten sind dem Wesen nach mit den Grundsäzen der katholischen Kirche gleich; die größere Freiheit der evangelischen Universitäten hängt zusammen mit und ist Postulat der evangelischen Kirche. So lange der Gegensaz zwischen beiden Kirchen fortbesteht, so lange wird auch der Gegensaz zwischen den katholischen und evangelischen Universitäten fortbestehen. Es nähern sich freilich von Zeit zu Zeit beide einander, bald die katholischen

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Universitäten den evan|gelischen, bald diese jenen: dies geht aber nur bis auf einen gewissen Punkt, dann manifestirt sich das Gegentheil. Wir haben al l ge m e i n e G r u n d s ä ze schon aufgestellt nach denen die Erziehung in der dritten Periode, namentlich in Beziehung auf den Theil der Jugend in welchen das wissenschaftliche Princip zu seinem Recht kommt, geleitet werden muß. Die Anwendung derselben auf unsere Universitäten unterliegt aber großen Schwierigkeiten, und es ist so lange diese Anstalten sich in diesem Schwanken das im Zustande der öffentlichen Angelegenheiten begründet ist befinden, nur im einzelnen und durch einzelne Abhülfe möglich; darüber lassen sich jedoch nicht allgemeine Vorschriften geben. Wenn wir nun die Maximen geltend machten, J e m e h r d i e I n tellig enz a usg ebildet w ird a u f d e n v e r s c h i e d e n e n B i l d u n gs s tuf en, desto w enig er ka nn i r g e n d e t w as d u r c h f r e m d ar t i ge Mot iv e a usg ericht et w erd e n ; a l l e Wi r k u n ge n au f d as s i t t liche können nur v om G em e i n g e i s t au s ge h e n , vo n e i n e r bestimmt en O rdnung und d e m E i n f l u ß d e r s e l b e n au f d e n e inzelnen; nur die f reie und k r ä f t i g e A e u ß e r u n g d e s s i t t l i c h e n Urtheils muß v orw a lten: w i e i s t e s w o l m ö gl i c h bei dem dermaligen Zustande der Verhältnisse im großen und einzelnen d i e J ug end a uf der Univ ersit ä t d i e s e n s i t t l i c h e n F o r d e r u n ge n gemä ß zu leit en? Die Jugend wird auf der einen Seite factisch als sich selbst bestimmend angesehen. Denn so wie Studenten unabhängig sich selbst überlassen für sich wohnen, den Gang und die Ordnung ihrer Studien selbständig bestimmen, und keine Aufsicht da ist in wie fern sie diesen Studien obliegen: so liegt darin eine factische Anerkennung einer völligen Selbständigkeit. Sie stehen also in sofern in der Analogie mit den selbständigen Staatbürgern. Auf der anderen Seite sind sie nicht unter die selben Geseze gestellt und haben bloß die Rechte der Minderjährigkeit; es besteht für sie eine eigne Gesezgebung und Handhabung der Geseze. E s s i n d e i ge n t l i c h z w e i Vo r r e c h te f ür die Jug end a uf den Un i v e r s i t ät e n | i n j e z i ge r Z e i t , d a s Vorrecht der Minderj ä h r i g k e i t , ein Vorrecht in so fern damit die Gelindigkeit der Strafen verbunden ist, u n d d a s Vo r r e c h t d e r G roßjä hrig keit . Sieht man auf die Wirkung die diese Vorrechte haben: so muß man gestehen, es ist ein Uebermaaß was nicht in der Natur der Sache liegt und daher nachtheilige Folgen hervorbringen muß. Daher ist es so natürlich daß man diese Zeit als die Zeit eines gelinden Rausches ansieht, von dem man überzeugt ist er werde bald von selbst verfliegen wenn die Berechtigung aufhört. Man sollte consequent sein. Man müßte die Jugend wenn man ihr factisch die Rechte der Volljährigkeit giebt auch unter das Gesez für die volljährigen stellen und ihr die damit verbundenen Pflichten auferlegen und sie damit auch die Beschwerden und

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Unbequemlichkeiten fühlen lassen; oder wenn man sie nach dem Gesez der Minderjährigkeit beurtheilt, dann müßte dies auch in der ganzen Einrichtung hervortreten und nicht gestattet sein daß sie vollkommen frei und selbständig sich bestimmen. Das erste wäre ein Sprung, der die Zöglinge auf einen Punkt stellte von dem sie nachher wieder zurükk müßten wenn sie in die besonderen Geschäfte des Berufs eingehen, in Verhältnisse in denen sie jedenfalls unter Leitung stehen werden; das andere wäre der natürliche Uebergang in diesen späteren Zustand. Un d d e n n o c h , i s t e s w o l w ü n s c h e nsw ert h da ß die a ka d e m i s c h e F r e i h e i t b e s c h r än k t w e r d e ? Die akademische Zeit erscheint im Verhältniß zu dem ganzen übrigen Leben als eine in ihrer Art einzige Freiheitsinsel, nachher nicht wieder zu finden. Ein doppeltes liegt dem zum Grunde. D a s e r s t e i s t rein ein hist orisches. Die Entstehung dieser An|stalten hängt nämlich zusammen mit einem großen allgemeinen Schwung, in dem der Hauptpunkt war die Verbindung zwischen den wenigen in der leitenden Generation in denen der Geist der Wissenschaft erwacht war, und einer großen Masse der Jugend. Denn daraus daß in der scholastischen Periode die Lehrer große Massen der Jugend an sich zogen, sind die Universitäten entstanden. Sie wurden selbständig und ein anerkanntes geachtetes Corpus; wir erinnern nur an die Pariser Universität. D a s zw eit e ist dieses. D ie En t w i k k l u n g d e s s p e c u l at i ve n P r i n c ips fällt in diese Lebensperiode der Universitätsbildung hinein; ausschließende Herrschaft ist ihm vindicirt, diese soll schon in der Entwikklungszeit sich geltend machen; daher mannigfache Bevorrechtigungen. Sobald nun aber äußerlich die Macht dieses Princips als des allein leitenden im Leben wieder zurükktritt und die einzelnen in Verhältnisse eingehen in denen anderen Einflüssen Raum gegeben ist: so verschwinden natürlich Bevorrechtigungen die nur dann an ihrer Stelle sind wenn das höchste leitende Princip auch die Seele erfüllt und das Leben gestaltet. D ieser G r u n d i s t d e r i d e al e , und aus dem Zusammenfallen und Zusammenwirken desselben mit dem historischen erklärt sich, wie unter allen Wechseln die akademische Freiheit sich dennoch immer wieder emporgerungen hat. Wo beides sich am stärksten zeigt, wie im Gebiet des Protestantismus: da wird es am schwersten halten von dieser Form loszukommen. Und so wird es wol noch eine Zeit lang bleiben, der Sprung auf der einen Seite, der Rükkschritt auf der anderen, beides als Auszeichnung des akademischen Lebens. S o s o l l t e d e n n n u r d as P r i n c i p zu seiner recht en G elt u n g k o m m e n , d as P r i n c i p d e r Wi s s enscha f t a ls da s höchs t e l e i t e n d e : dann würde man auch steuern können. Die ächte historische und ideale Lebensansicht sollte sich nur auf dieser Stufe

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recht durchdringen: dann würde das ganze Leben so geistig befruchtet werden, daß nicht allein kein Nachtheil aus der größeren Freiheit entstände für das akademische Leben, sondern daß auch für die Zukunft der Grund zu einer höhern | edlen Selbständigkeit gelegt würde, die sich auch in die gesezlichen Formen mit der rechten Freiheit fügen würde. Wenn überdies die früheren Bildungsstufen ihre rechte Organisation erlangen, die Auswahl der Studirenden auf gehörige Weise gemacht, und der Eintritt in das Geschäftsleben so erleichtert wird daß nur diejenigen zu dem akademischen Leben kommen die sich innerlich dazu berufen fühlen: so wird aus der größeren Freiheit während der akademischen Laufbahn kein Nachtheil entstehen.

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ist sehr plözlich. Es fängt alsbald der gesezliche Zustand an, die bestimmte persönliche Unterordnung; das ganz empirische der einzelnen Fächer folgt zugleich auf die Beschäftigung mit den höchsten speculativen Principien, oder doch auf die theoretische Behandlung der Gegenstände im großen. Man hat dies gewissermaßen dadurch zu mildern gesucht, daß man in das Gebiet der Universität praktische Uebungen wenigstens für das Ende der akademischen Laufbahn hineingezogen hat: dies bildet allerdings eine Art von Uebergang. D enn o c h a b e r s i n d d i e P r i n c i p i e n r i c ht ig er v ermög e deren ma n d a s a k a d e m i s c h e L e b e n u n d d i e u nmittelba re Vorbereit ung a u f d a s p r ak t i s c h e L e b e n vo l l k o m men v oneina nder trennt , da ohnedies schon die Zeit zu den akademischen Studien zu beschränkt ist, auch zwekkmäßiger zu sein scheint daß die Seele eine Zeit lang ganz auf die höchsten Principien und die strengste Wissenschaftlichkeit gerichtet werde. Die Aufgabe einen allmähligen Uebergang zu bilden muß anders gelöst werden. B e t r a c h t e t m an d e n U e b e r gang selbst : so ka nn ma n bed e n k l i c h w e r d e n ü b e r d i e N o t h wendig keit und Zw ekkmä ß i g k e i t d e r U n i ve r s i t ät s b i l d u n g überha upt. Wenn wir das philosophische Studium als die höchste Ent|wikklung ansehen, zu welcher hinauf die geistige Entwikklung geleitet wurde, und zu welcher in dem ganzen Bildungsgange des einzelnen immer angestrebt wurde, wobei aber nun schon viele in der Mitte des Laufes abfielen und nach anderen Seiten hingingen; sehen wir auf dem Gipfel selbst und von ihm herab den rükkwärts gehenden Proceß: so zeigt sich uns in der Gestaltung der vier positiven Facultäten kein vollkommenes Abbild von dem was im philosophischen Studium als dem organischen Complex des Wissens muß aufgefasst sein; jedes einzelne Fach

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kommt wieder auf das Gebiet des empirischen geschichtlichen zurükk. Das höhere wird dadurch aus dem Auge gerükkt. Und wenn die Praxis selbst beginnt: so ist an eine Einwirkung dessen was man durch die Pricipien gewonnen hat gar nicht zu denken. Es tritt eine vollkommene Selbstverläugnung ein, es geht ein Verweilen bei einer Menge untergeordneter Geschäfte an, und die wenigsten von denen die jenes Studium durchgemacht haben, kommen dahin einen Einfluß auf die Gestaltung des gemeinsamen Lebens im großen auszuüben, wobei sie die höchsten Principien anwenden könnten. Wenn nun die Realbildung auch immer weiter sich ausbreitet, und wie wir eben sagten, in Folge dessen gerathen sein möchte daß ein großer Theil der öffentlichen Angelegenheiten verwaltet werde von denen die diese höchste Bildungsstufe nicht erstiegen haben: so wird allerdings die Anzahl der studirenden Jugend verringert werden, weil bei einer solchen Organisation des Gemeinwesens wie wir sie vorausgesezt haben dann viele sich nicht mehr werden berufen fühlen in den höchsten Bildungskreis einzutreten; es werden auch dann nicht die meisten genöthigt sein in eine Praxis einzugehen die zwar Bildung aber keine speculative voraussezt und das Leben in der Wissenschaft mehr hemmt als fördert. Aber dennoch werden auch dann nur die wenigsten späterhin zur Ausübung eines Einflusses im großen gelangen. Betrachtet man das disparate in der studirenden Jugend in ihrem Streben nach den höchsten Principien; sieht man auf die unmittelbare Ausübung, in der die | Anwendung dieser Principien unmöglich ist; erwägt man, wie selbst den wenigen die hernach zur Leitung der gemeinsamen Angelegenheiten kommen die höchsten Principien aus den Augen gerükkt werden, so daß sie auf eine Weise handeln als hätten sie nie den höchsten Bildungskreis betreten: so könnte dies alles uns fast zu dem entgegengesezten Extrem führen und uns geneigt machen zu sagen, es sei zwekkmäßiger Specialschulen ohne philosophisches Studium einzurichten, das speculative als ein besonderes Talent zu behandeln, das philosophische Studium selbst aber aufzusparen für diejenigen die dazu den besonderen Beruf haben. Dies scheint um so mehr sich zu empfehlen, da die Erfahrung lehrt daß von den wenigen welche auf diesem Gebiete sich auszeichnen die meisten doch ursprünglich andere Studien verfolgten und nur in Folge eines überwiegenden inneren Triebes der Philosophie ganz sich widmeten. E s spricht a lso sehr v iel f ü r d i e E i n r i c h t u n g w i r k l i c h e r Sp e c ia lschulen; und denken wir uns daß die Universitäten rein von dem politischen Gesichtspunkt aus als Mittel für den Staat organisirt werden sollen: so möchte niemand dafür stehen daß sich nicht einmal eine Staatsweisheit geltend machen könnte welche die Sache so umkehrte. Der öffentliche Dienst könnte dabei sehr wol bestehen. Wenn wir bedenken wie in England

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das Studium der Philosophie betrieben wird, und daß wer tiefer eindringen will lieber nach Schottland geht, von denen aber die der Philosophie sich geweihet haben die wenigsten in den öffentlichen Staatsdienst kommen, und das Land dennoch so ausgezeichnete Staatsmänner hervorgebracht hat und so reich ist an ihnen; bedenken wir ferner, wie auch die christliche Lehre einen hohen Grad der Ausbildung erreicht hatte ehe noch christlich philosophische Schulen gestiftet waren: so zeigt sich überall das höchste wissenschaftliche als Gegenstand der öffentlichen Erziehung entbehrlich. Gehen wir gar zur medicinischen Facultät über, von der es zweifelhaft ist ob sie des besonderen Schuzes des Staates bedürfe: wozu bedürfen die Mediciner des philosophischen Studiums? Bei sehr wenigen | wird es unmittelbar gepflegt, wenige arbeiten auf eine Organisation der Wissenschaft hin. Im ganzen waltet eine Empirie vor deren Gründe man nicht einmal weiß, denn es giebt wol nichts worüber man so sehr in Unklarheit wäre als über den Zusammenhang zwischen den Krankheiten und den Heilmitteln; dieser folgen schnell auf einander die einseitigsten Hypothesen, und dies ist doch ganz gegen den organischen Zusammenhang: so daß man sagen muß, bei der Ausübung der Arzneikunst selber könnten wol die höchsten wissenschaftlichen Principien noch mehr entbehrt werden. Was wollen wir nun sagen? E s i s t ein richt ig er Inst inct der d e s s e n u n ge ac h t e t d i e ö f f e n t l i che Erziehung a uf diese We i s e g e s t al t e t h at ; und wenn wirklich zu besorgen wäre daß kein Zusammenhang zwischen den höchsten Principien und dem praktischen Leben stattfände, und das man jene daher ganz aufheben möchte: so sollte man dies doch ganz geheim halten. Geben wir auch jenen Zusammenhang preis, sehen wir aber auf den Zustand der menschlichen Dinge im großen, auf die allgemeine Bildung der europäischen Völker: so können wir den Einfluß der höchsten Wissenschaft auf die Cultur nicht verkennen. Alles würde tiefer sinken auf eine untergeordnete Stufe hinab, wenn das philosophische Studium vernachlässigt würde oder nur in denen lebendig wäre in denen das speculative ein specifisches Talent ist. Wir haben hiefür eine große Erfahrung, die Verpflanzung der europäischen Cultur nach Amerika. Nicht nur ist diesem Erdtheil zu gute gekommen was die europäische Bildung errungen hat in Folge des Einflusses der höchsten Principien auf die Gestaltung des menschlichen Lebens: sondern die Mängel die dort überall hervortreten deuten darauf hin, daß selbst in einem Zustande der uneingeschränktesten politischen Freiheit das Leben in seinen höchsten Beziehungen nicht wahrhaft sittlich sich auszubilden vermag, wenn nicht in einem Volke das höchste Princip seine eigene selbständige Stätte gefunden hat. Ursprünglich ging in Amerika alles

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aus von dem ersten praktischen Bedürfniß, | den Boden zu bearbeiten; es mußte ein solch gedrükkter gewaltsamer Zustand wie der vor den ersten amerikanischen Freiheitskriegen vorangehen, um nur einigermaßen die bürgerliche Gesinnung zu erwekken. Wissenschaft ist dort gar nicht heimisch gewesen, und fast zweihundert Jahre lang war die Entwikklung des menschlichen Geistes zurükkgedrängt. Bei dem schnellen Umschwunge der Dinge freilich mußte nun auch diese Entwikklung beginnen; aber zunächst waren hervorragende Tendenzen die praktische Politik, die Empirie, die Bildung des Naturprocesses; das Studium der Philosophie herrscht auch jezt noch nicht. Der kirchliche Zustand zeigt am meisten, bis zu welchem Grade auf diesem Gebiete die höchsten wissenschaftlichen Principien sich entbehren lassen. Das speculative Interesse wird sich aber auch Bahn machen, wenn nur erst die allgemeine Basis des gemeinschaftlichen Lebens fest und gesichert gelegt sein wird. Könnte man dies nicht mit Sicherheit voraussehen: so müßte jedem bange werden, und die Besorgnis wäre natürlich, daß nicht nur alles was Kunst und Wissenschaft heißt rein im Gebiete des mechanischen bleiben, sondern auch daß es an der festen Basis und Stüze der rechten wahrhaft allgemein menschlichen Gesinnung fehlen werde. Das politische Leben kann dann wol bestehen, wie die Erfahrung das hinlänglich bestätigt; jeder Staat ist selbstsüchtig und kann seine Zwekke verfolgen, wenn nur der bürgerliche Gemeingeist die einzelnen durchdringt, mag es dann auch an der wahrhaft allgemein menschlichen Gesinnung fehlen. Und doch ist selbst der bloß bürgerliche Gemeingeist zumal bei föderativen Staaten nicht ausreichend; schon das föderative System mag auf die Dauer nur allem Wechsel der Verhältnisse Stand halten wenn ein höherer Gemeingeist waltet. Die wahrhaft sittliche Gemeinschaft, welche nie ohne die richtige Gesinnung sich entwikkeln kann, wird nimmermehr zu Stande kommen wenn die alles leitenden Principien nicht gegeben sind. Nun wird zwar die Gesinnung nicht unmittelbar von der Wissenschaft sondern von der Religion aus gebildet; allein die Verwandtschaft von Philosophie und Reli|gion, nicht in Beziehung auf die Form also als Erscheinung angesehen, sondern in Beziehung auf das zum Grunde liegende Princip, ist so groß daß wenn nur das eine zuerst sich entwikkelt auch das andere sich ausbilden muß. Es ist an sich klar, daß das speculative Princip allgemein verbreitet eine treffliche Stüze wird für das religiöse. Freilich dem nur auf das praktische gerichteten Blikk entzieht sich dieser Zusammenhang oft ganz und gar; aber dem Wesen des Protestantismus liegt die Ansicht zum Grunde, daß das eine nicht bestehen kann ohne das andere. Al s o g a n z ab ge s e h e n vo n d e r n ac hherig en A usübung im p r a k t i s c h e n L e b e n i s t d i e e i ge n t l i c h e S tüze der höheren

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Cu l t u r, d i e Si c h e r s t e l l u n g d e s a llg emeinen menschlichen Zu s t a n d e s d ar i n ge ge b e n , d aß d ie öffent liche Erziehung d i e s e n G a n g ge n o m m e n h at und daß ihr diese Spize ist aufgesezt worden. Auch im Mittelalter schon ist es ein und das selbe Bestreben gewesen, das speculative Talent zu erregen, das Interesse am speculativen zu verbreiten, und auf eine Verbesserung des allgemeinen menschlichen Zustandes hinzuarbeiten, in dessen Entwikklung und Gestaltung wir noch begriffen sind. Wenn sich nun aber die höhere Cultur allgemein wird verbreitet haben; wenn aus der allgemeinen Gährung der wahrhaft sittliche allgemeine menschliche geordnete Zustand auf der ganzen Erde sich wird entwikkelt haben: werden dann vielleicht die speculativen Bewegungen aufhören? Der Wechsel der speculativen Systeme wird dann wol sein Ende erreicht haben, obgleich man den Punkt und die Form gar nicht bestimmen kann; mag sich dies nun gestalten wann und wie immer: so wird es doch keinen Einfluß haben auf die Behandlung der Philosophie in den höchsten Bildungsanstalten und auf die Stelle die das speculative Princip in der öffentlichen Erziehung einnimmt. Wenn die Gegenwart auch nicht mehr so viele Richtungen zeigte um das ganze Gebiet der Philosophie zu übersehen: so würde man in der Vergangenheit hinreichenden Stoff finden. Wir wollen in dieser Be|ziehung keinem Skepticismus irgendwie Raum geben, aber auch die Entwikklung nicht hemmen die schon auf diesem Culturgebiete im Gange ist, und die bestimmte Stufenleiter der Verwaltung unabhängig machen von der Stufenleiter der öffentlichen Erziehung und des öffentlichen Unterrichts; auch gern zugeben daß es eine Menge von Aemtern und Würden im Staate und in der Kirche giebt die sich nicht an die höchste speculative Bildung anschließen. Wir können uns um so mehr darüber beruhigen, als auch dann wenn die von Natur zu Herrschern bestimmten am wenigsten diese Stufe durchmachen das allgemeine sich wol befinden kann. So möchte also auch gleichgültig sein für den Dienst im Staate und in der Kirche, woher die Kenntnisse gekommen sind und ob das speculative Princip in der Seele ist, wenn nur der Proceß immer im Gange ist. Zeigt sich auch nicht offenkundig der praktische Einfluß auf Staat und Kirche, so wird doch immer der mittelbare und indirecte Einfluß auf den allgemeinen Zustand der menschlichen Dinge sich nie verkennen lassen und die Hauptsache bleiben. S t e l l e n w i r u n s an d as E n d e des a ka demischen S t udiu m s wie es heute ist: so ist zwar ein Uebergang aus dem freien akademischen Leben in die Berufsthätigkeit gegeben. Denn wenn nach dem eigentlichen philosophischen Studium der Kreis der sogenannten positiven Wissenschaften durchlaufen ist, so geht alsbald die Vorübung f ü r d e n ö f f e n t l i c h e n D i e n s t an; die Jugend tritt in ein Stadium ein

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das man als das Stadium des vollständigen Erlöschens der Erziehung ansehen kann, und das wiederum schon vorbereitet ist, indem wol der größte Theil doch auf diesen Punkt gekommen im Erziehen begriffen gewesen ist. So reicht sich beides die Hand. Allein es tritt doch ein zu großer Gegensaz ein in Beziehung auf die ganze Art und Weise des Lebens; und wenn auch die größere Strenge im Berufsleben bestimmten Gesezen sich zu fügen und auch den Normen der Sitte sich zu unterwerfen, ein heilsames Gegengift ist gegen die Gewohnheit Abweichungen von den geselligen Verhältnissen während des akademischen Lebens sich | zu gestatten: so erfordert doch die Gerechtigkeit zu sagen, daß der auf dieser Stufe gewöhnlich herrschende Geist der Entfernung von der gesellschaftlichen Ordnung dadurch am wenigsten auf die rechte Bahn zurükkgeleitet werden mag – daß es auch unbillig ist – wenn man nur vollkommene Unterordnung fordert, keine Freiheit gewährt. Es muß auf der anderen Seite auch zu Hülfe gekommen werden; u n d n i c h t s i s t ve r d e rblicher a ls w enn die er s t e n S t u f e n d e s ö f f e n t l i c h e n D i e n stes, auf denen doch zugleich die ersten öffentlichen Beweise der Ausübung der Selbstthätigkeit im Berufsleben gegeben werden, i n e inen nur zu sehr serv il e n Zu s t a n d h i n ab d r ü k k e n . Sehen wir auf diejenigen die schon früher in die niederen mechanischen Gewerbsthätigkeiten übergegangen sind: so finden wir auch da anfangs den servilen Zustand, aber auch stets eine Reaction dagegen und oft auch noch in späterer Zeit die Neigung sich von der gesellschaftlichen Ordnung zu entfernen. Wo ein rein mechanisches Geschäft die ganze Thätigkeit des Menschen in Anspruch nimmt, da ist ein serviler Zustand fast natürlich, wenn wir uns die durch bloßen Mechanismus geleiteten denen die auf der höheren Stufe stehen gegenüber gestellt denken. Aber je höher die Entwikklung der geistigen Kräfte gestiegen ist, desto mehr soll ein solcher Zustand verschwinden. Wo das öffentliche Leben den Charakter an sich trägt, daß die Jugend welche in den öffentlichen Dienst treten will genöthigt ist ihren Vorgesezten den Hof zu machen und damit ihr Glükk; wo sie plözlich sich muß einschnüren lassen in eine äußere Sitte welche die Differenz der politischen Stände an der Stirn trägt; wo sie der ganzen Strenge der bürgerlichen Abstufungen sich schmiegsam unterwerfen muß: da ist ein Ueberrest von Barbarei, der verschwinden müßte weil er herrührt von dem Mißverhältniß zwischen der geistigen Entwikklung auf dem wissenschaftlichen Gebiete und der politischen Gestaltung. Je mehr die politische Entwikklung fortschreitet: desto mehr muß es dahin kommen, daß der Staat – nicht unter denen auf der einen Seite auswählend welche von äußerlichen | Verhältnissen bedrängt sich ihm anbieten und durch Bedürfnisse genöthigt sich von ihm abhängig machen, nicht unter denen auf der anderen Seite die

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durch äußere Vorzüge, durch Persönlichkeit sich ihm empfehlen – die tauglichen Subjecte die ersprießliche Dienste zum Wohl des ganzen leisten können sich s u c h e n muß. Das Ende der Erziehung und der Uebergang in die öffentliche leitende Thätigkeit muß als ehrenvoll erscheinen, und von Anfang an auch der einzelne schon geehrt werden der seine Fähigkeit leitend aufzutreten documentirt hat. Wenn bei diesem Uebergang wo die Erziehung aufhört in das vieler Eindrükke empfängliche Gemüth mit der Sorge für die Zukunft noch der Keim der Schmeichelei und der Unterwerfung gelegt wird: so ist dies das schlechteste Ende das die Erziehung nehmen kann. Nur zu häufig zeigt es sich noch; desto mehr müssen wir uns Glükk wünschen, wenn wir auch in dieser Beziehung hinter vielen Völkern zurükkstehen, daß doch auf der anderen Seite bei uns durch die höhere wissenschaftliche Entwikklung der Grund zu einer Bildung gelegt ist welche dem servilen Zustande widerstrebt: und dies Widerstreben ist, wenn es in seinen natürlichen Grenzen gehalten wird, eine der schönsten Früchte der geistigen Entwikklung, der Wissenschaft. Möge es auf alle Weise gepflegt werden | und stets den größten Einfluß auf das Leben ausüben; möge es dahin kommen, daß vollkommene Harmonie sei zwischen dem was in dem Gange unserer Bildung das Ziel ist, und der Art und Weise wie wir zu dem Ziel gelangen können, damit der Geist von allen Banden in denen er gefesselt gehalten wird, befreit den Sieg erringe.

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Analyse der Schreibmaterialien Schleiermachers Für die von Prof. Dr. Oliver Hahn durchgeführte Röntgenfluoreszenzanalyse wurden drei Manuskriptseiten Schleiermachers ausgewählt: 1.

2.

3.

Die erste Seite von Schleiermachers Jahresbericht über seine Tätigkeit in der Berliner Wissenschaftlichen Deputation 1810: GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 2, Bl. 2r (vgl. in diesem KGABand, oben S. 212–213 und S. 2) Schleiermachers eigene Antwort auf seine Frage an die Wissenschaftliche Deputation: „Soll auf den gelehrten Schulen ein besonderer ReligionsUnterricht ertheilt werden?“: GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 28r (vgl. oben S. 55–56) Die erste Seite von Schleiermachers „Allgemeine[m] Entwurf zum Religionsunterricht auf gelehrten Schulen“: GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 109r (vgl. oben S. 75–76).

Die Abbildungen 1 bis 3 (unten S. 892–893), die Hahns Bericht unter Punkt „3. Ergebnis und Diskussion“ bietet, zeigen die ausgewählten drei Manuskriptseiten Schleiermachers in der dargestellten Reihenfolge.

Röntgenfluoreszenzanalyse der Schreibmaterialien Friedrich Schleiermachers Oliver Hahn BAM Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (FB 4.5)

1. Motivation Eisengallustinten gehören zu den wichtigsten Schreibmaterialien überhaupt. Unzählige Texte, Manuskripte, Notenhandschriften vom Mittelalter bis zur Neuzeit sind überliefert. Auffällig ist die Farbpalette des Materials. Sie reicht von schwarz über braun bis hin zu gelblichen Farbtönen. So ist davon auszugehen, dass die ursprünglich schwarzen Eisengallustinten nur noch teilweise ihren ursprünglichen „Farbton“ bewahrt haben. Anhand einer kleinen Studie sollte geklärt werden, ob auch Friedrich Schleiermacher Eisengallustinte für die Niederschrift seiner Manuskripte verwendete. Eisengallustinten werden durch Mischen von natürlichem Eisenvitriol1 mit Gallapfelextrakten2 hergestellt. Durch Oxidation mit dem Luftsauerstoff entsteht daraus die schwarze, schwer lösliche Eisengallatverbindung. Üblicherweise enthalten die Tinten neben weiteren organischen Materialien, wie Gerbstoffen, ein wasserlösliches Bindemittel, z. B. Gummi arabicum. Zur Extraktion der Galläpfel werden Lösemittel wie Wasser, Wein oder Essig verwendet. Da es sich bei den Ausgangsmaterialien überwiegend um natürlich vorkommende Rohstoffe handelt, können die Tinten materialtechnologisch stark variierende Zusammensetzungen aufweisen. Einerseits enthalten die Galläpfel unterschiedliche Mengen an Gallussäure, anderer1

Eisen(II)sulfat (aufgrund seiner Farbigkeit und seines glasartigen Aussehens als „Grüner Vitriol“ bezeichnet) ist die am häufigsten genannte Eisen liefernde Zutat in Tintenrezepturen. In mittelalterlichen Schriften werden jedoch auch andere, aus antiken Quellen abgeleitete Namen wie „atramentum“ und „chalcantum“ verwendet (Krekel 1998, S. 29). 2 Die krankhaften Bildungen an Blattknospen, Blättern und Früchten verschiedener Eichenarten, hervorgerufen durch die Eiablage von Schlupfwespen, werden als Galläpfel (Gallusäpfel) bezeichnet. Sie enthalten Gallussäure und weitere verschiedene Gerbstoffe in unterschiedlichen Mengen. Um den Gehalt an Gallussäure für die Tintenherstellung zu erhöhen, wurden die Galläpfel erhitzt (gebrannt).

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seits werden neben den Galläpfeln auch andere gerbstoffliefernde Komponenten verwendet. Das eingesetzte Vitriol besteht nicht nur aus Eisensulfat, sondern enthält meist auch weitere anorganische Komponenten wie Kupfer-, Mangan-, Aluminium- und Zinksulfat. Organische Schreibmaterialien, wie Ruß- bzw. Bistertusche, Dornentinte oder auch Sepia enthalten diese anorganischen Komponenten nicht oder nur in sehr geringen Konzentrationen und können so eindeutig von Eisengallustinten unterschieden werden. Eine zerstörungsfreie Analyse der anorganischen Bestandteile ermöglicht somit eine eindeutige Zuordnung.

2. Experiment 2.1 Prinzip der Röntgenfluoreszenzanalyse Als Fluoreszenz wird ein atomarer Prozess bezeichnet, bei dem ein angeregtes Atom durch Abgabe von Strahlung wieder in den Grundzustand zurückkehrt. Bei der Röntgenfluoreszenzanalyse (RFA) erfolgen die Anregung des Atoms und die Fluoreszenzemission im Bereich der Röntgenstrahlung. Zu Beginn des Röntgenfluoreszenzprozesses wirkt die Primärstrahlung auf die Elektronenhülle des Atoms ein. Dabei wird ein kernnahes Elektron aus der Elektronenhülle des Atoms herausgeschlagen und das Atom dadurch vom Grundzustand in einen energetisch höheren, einen angeregten Zustand überführt. Aus diesem Anregungszustand kehrt das Atom wieder sehr schnell in den Grundzustand zurück, indem ein Elektron aus einem höheren Energieniveau der Elektronenhülle den Platz des herausgeschlagenen Elektrons einnimmt. Die Energiedifferenz zwischen beiden Zuständen wird bei diesem Prozess in Form von Röntgenstrahlung abgestrahlt. Da für jedes Element nur ganz spezifische Energieübergänge möglich sind, kann aus der Energieverteilung der abgestrahlten Röntgenfluoreszenzstrahlung das angeregte Element identifiziert werden. Mit einem geeigneten Detektionssystem wird die Energieverteilung der Röntgenfluoreszenzstrahlung in Form eines Spektrums sichtbar gemacht. Neben der qualitativen Elementanalyse ist auch eine halbquantitative bis quantitative Analyse möglich, da die Signalintensität Rückschlüsse auf die vorhandene Menge erlaubt. Diese ist jedoch nicht trivial, da sie von vielen Parametern, wie Probenmatrix, Eindringtiefe der Strahlung in die Probe und Absorption der Primär- wie Fluoreszenzstrahlung durch die Probe, abhängig ist.

Oliver Hahn: Röntgenfluoreszenzanalyse

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Röntgenfluoreszenzanalyse der ersten Manuskriptseite von Schleiermachers Jahresbericht über seine Tätigkeit in der Wissenschaftlichen Deputation 1810 (GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 2, Bl. 2r). Fotos: Oliver Hahn

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2.2 Mobile Röntgenfluoreszenzanalyse Die Analyse der Eisengallustinten erfolgte mit dem mobilen Röntgenfluoreszenzgerät Mikro-TAX (ehemals Röntec GmbH, jetzt Bruker Nano GmbH). Mit Hilfe einer Polykapillarlinse wurde der Anregungsstrahl auf eine Größe von 70 µm (im Durchmesser) fokussiert. Das Gerät ist so konzipiert, dass an Luft gemessen werden kann. Die Anregungsröhre (in diesem Falle mit Molybdän als Targetmaterial) und der Detektor befinden sich in einem Messkopf, der in einem Abstand von 0,5 cm an die Oberfläche des Objektes herangebracht wird. Mit Hilfe einer xyz-Schrittmotoreinheit kann dieser Messkopf an eine beliebige Stelle positioniert werden. Zur exakten Positionierung des Messflecks markiert ein Laserspot das Ziel des Anregungsstrahls. Eine CCD-Kamera überwacht die Positionierung.

3. Ergebnis und Diskussion Die nachfolgenden Abbildungen 1 bis 3 stellen jeweils Röntgenfluoreszenzspektren des Schreibmaterials und des zugehörigen Papieruntergrundes dar. Bei allen drei gemessenen Schreibmaterialien handelt es sich eindeutig um Eisengallustinten.

Abb. 1: RFA Spektren des Schreibmaterials (rot) und des zugehörigen Papieruntergrundes (grün) von Sig. 176-alt-II/2, Blatt 2

Oliver Hahn: Röntgenfluoreszenzanalyse

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Abb. 2: RFA Spektren des Schreibmaterials (rot) und des zugehörigen Papieruntergrundes (grün) von Sig. 176-alt-II/18, Blatt 28

Abb. 3: RFA Spektren des Schreibmaterials (rot) und des zugehörigen Papieruntergrundes (grün) von Sig. 176-alt-II/18, Blatt 109

Alle drei Spektren belegen, dass es sich bei den Hauptkomponenten des Schreibmaterials um Eisen (Fe) und Zink (Zn) handelt, ein eindeutiger Hinweis auf Eisengallustinten. Auch die Nebenkomponenten Kalium (K), Mangan (Mn) und Kupfer (Cu) gehören zu den Eisengallustinten. Das Calcium (Ca) stammt wahrscheinlich aus dem Papier. Der Befund des Arsens ist nicht eindeutig, es ist eventuell erst später in irgendeiner Form aufgebracht worden.

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Aufgrund der signifikanten Zinkkonzentration erscheinen die drei Tinten von ähnlicher Zusammensetzung zu sein. Hier ermöglicht jedoch aufgrund der Probenheterogenität und weiterer Parameter nur eine aufwendige quantitative Analyse eine eindeutige Aussage.

4. Literatur Oliver, Hahn/Maurer-Zenck, Claudia: Die Tinten des ZauberflötenAutographs: Möglichkeiten und Grenzen neuer Analyseverfahren. Ein Nachtrag zur Chronologie und eine biographische Pointe, Acta Mozartiana 50 (1/2.), 2003, S. 2−22 Malzer, Wolfgang/Hahn, Oliver/Kanngießer, Birgit: A fingerprint model for inhomogeneous ink paper layer systems measured with micro X-ray fluorescence analysis, in: X-Ray Spectrometry 33, 2004, S. 229−233 Hahn, Oliver/Kanngießer, Birgit/Malzer, Wolfgang: X-Ray Fluorescence Analysis of Iron Gall Inks, Pencils, and Colored Pencils, in: Studies in Conservation 50, 2005, S. 23−32 Dedner, Burghard/Hahn, Oliver/Wolff, Timo: Kap. 2.2: Ergebnisse der Tintenanalysen, in: Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Akademie der Wissenschaften, Bd. 7, ed. B. Dedner, Darmstadt 2005, S. 89−102

Verzeichnisse

Abkürzungen a. c. acc

anni currentis accepi

BBAW Bd. Beilag

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Band Beilagen

Circulir c.

Circuliren currentis

d. d. Dec. / Decbr. Decr. eod. Ew. / Ewr. Exped./exp.

de dato December Decretum eodem Ewer (Euer) expeditum

GStA PK

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin

HA H. H. Hhn / Hn. / Hrn Hochw. huj.

Hauptabteilung Herren Herrn Hochwürden huius

i. e.

id est

KGA korr.

Kritische Gesamtausgabe korrigiert

mdt / mund MS mut. mut.

mundiert Manuskriptseite mutatis mutandis

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Verzeichnisse

Octbr.

October

pp p. p. pr. praes / praesent

perge perge praemissis praemittendis prioris (anni) praesentatum

r rem / remiss Rep. Resp. Rth / Rthlr

recto remissum Repositur respondeatur Reichsthaler

Scrib SB SN s. v. SW

scribe / scribatur Schleiermachers Bibliothek (KGA I/15) Schleiermacher-Nachlass sub voce Sämmtliche Werke

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Seitenwechsel Ergänzung der Herausgeberinnen und Herausgeber Lemmazeichen Streichung unsichere Lesart Rede der Herausgeberinnen und Herausgeber Hervorhebung im Original

Literatur Das Literaturverzeichnis führt die Schriften auf, die in Schleiermachers Text sowie in den Apparaten und der Einleitung der Bandherausgeberinnen und -herausgeber genannt sind. Die jeweiligen Titelblätter werden nicht diplomatisch getreu reproduziert. Folgende Grundsätze sind besonders zu beachten: 1. Die Verfassernamen werden in der heute gebräuchlichen Schreibweise angegeben. In gleicher Weise wird bei den Ortsnamen verfahren. 2. Ausführliche Titel werden in einer sinnvollen Kurzfassung wiedergegeben, die nicht als solche gekennzeichnet wird. 3. Werden zu einem Verfasser mehrere Titel genannt, so bestimmt sich deren Abfolge nach Gesamtausgaben, Teilausgaben und Einzeltiteln. Gesamtausgaben und Teilausgaben werden chronologisch, Einzeltitel alphabetisch angeordnet; bei letzteren ist das erste Wort unter Übergehung des Artikels maßgebend. 4. Bei anonym erschienenen Werken wird der Verfasser in eckige Klammern gesetzt. Läßt sich kein Verfasser nachweisen, so erfolgt die Einordnung nach dem ersten Titelwort unter Übergehung des Artikels. 5. Bei denjenigen Werken, die im Rauchschen Auktionskatalog der Bibliothek Schleiermachers und in den Hauptbüchern des Verlages G. Reimer aufgeführt sind, wird nach den bibliographischen Angaben in eckigen Klammern die Ausgabe „SB“ (Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, besorgt von Günter Meckenstock, Schleiermacher-Archiv 10, Berlin / New York 1993; 2. Auflage in: KGA I/15, S. 651–912) mit der Listennummer hinzugefügt. 6. Anhangsweise werden die im Band angeführten Archivalien zusammengestellt, geordnet nach Archiven und deren interner Systematik.

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Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe, Bd. 1–4, Leipzig 1793–1801

Literatur

901

—: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. 1–5,1, Leipzig 1774–1786 [SB 8: Bd. 1–4], zitiert als Adelung: Wörterbuch Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (Textausgabe). Mit einer Einführung von Hans Hattenhauer und einer Bibliographie von Günther Bernert, Frankfurt / M./Berlin 1970 Aristoteles: Opera [gr./lat.], Bd. 1–2, Leiden 1590 [SB 74] —: Analytica priora et posteriora [gr.], ed. W. D. Ross, Oxford 1964 —: Ethica Nicomachea [gr.], ed. I. Bywater, Oxford 1988 —: Politica [gr.], ed. W. D. Ross, 12. Aufl., Oxford 1992 Arndt, Ernst Moritz: Fragmente über Menschenbildung, Bd. 1–3, Altona 1805 Bahl, Peter / Ribbe, Wolfgang: Die Matrikel der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin 1810–1850, Teil 1: Die Matrikel für das 1. bis 23. Rektoratsjahr (1810 bis 1833), Berlin / New York 2010 Bauer, Johannes: Schleiermachers Konfirmandenunterricht, Langensalza 1909 Bell, Andrew: An Experiment in education made in the Male Asylum of Madras, London 1797 —: The Madras School or Elements of tuition, Part 1–3, London 1813 Benner, Dietrich: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, 3. Aufl., Weinheim / München 2003 Bernhardi, August Ferdinand: Ansichten über die Organisation der gelehrten Schulen, Jena 1818 Boeckh, August: Die Staatshaushaltung der Athener, Bd. 1–2, Berlin 1817 [SB 302] Brinkmann, Malte: Pädagogische Übung. Praxis und Theorie einer elementaren Lernform, Paderborn 2012 —: Üben – elementares Lernen. Überlegungen zur Phänomenologie, Theorie und Didaktik der pädagogischen Übung, in: Dem Lernen auf der Spur. Die pädagogische Perspektive, edd. K. Mitgusch / E. Sattler / K. Westphal / I. M. Breinbauer, Stuttgart 2008, S. 278– 294 Buffon, Georges-Louis Leclerc de: Histoire naturelle, générale et particulière, Bd. 1–44, Paris 1749–1804 Buttmann, Philipp Karl: Griechische Grammatik, Berlin 1810 —: Griechische Schul-Grammatik, Berlin 1812 [SB 391]

902

Verzeichnisse

Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelungs und Campe’s Wörterbüchern, Braunschweig 1813, zitiert als Campe: Ergänzungsband Campell, Thomas: Mr. Campell’s letter to Mr. Brougham on the subject of a London University, which appeared in „The Times“ of Feb. 9.: Together with suggestions which appeared in the April number of the New Monthly Magazin (Reprint), London 1825 Diesterweg, Friedrich Adolph Wilhelm: Sämtliche Werke, Bd. 1–17, edd. H. Deiters u. a., Berlin 1956–1990 —: Proben von Schleiermacher’s Vorlesungen, in: Rheinische Blätter für Erziehung und Unterricht, Bd. 11, Essen 1835, S. 3–15, zitiert als Diesterweg Dilthey, Wilhelm: Süvern, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 37, Leipzig 1894, S. 206–245 — / Heubaum, Alfred: Urkundliche Beiträge zu Herbarts praktischer pädagogischer Wirksamkeit, in: Neue Jahrbücher für Pädagogik, Dritter Jahrgang 1900, Leipzig 1900, S. 325–350 Ehrhardt, Christiane: „Erwachsen“ oder „kindlich“? Religionspädagogische Aspekte des Verhältnisses Christentum / Judentum bei Schleiermacher, in: Christentum und Judentum. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009, edd. R. Barth / U. Barth / C.-D. Osthövener, Berlin / New York 2012 (Schleiermacher-Archiv, Bd. 24), S. 368–384 — / Virmond, Wolfgang: Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung von 1820/21. Ein Aschenputtel in neuem Licht, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 83, Heft 3, 2007, S. 345–359 Erziehungsprogramme der Französischen Revolution: Mirabeau, Condorcet, Lepeletier, ed. R. Alt, Berlin/Leipzig 1949 Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation, ed. Brandenburgischer Provinzialsynodalverband, 2. Bd., Verzeichnis der Geistlichen in alphabetischer Reihenfolge, 2. Teil, Malacrida bis Zythenius, Berlin 1941 Feddersen, Jacob Friedrich: Biblisches Lesebuch für Kinder von reifem Alter, Leipzig 1782 [SB 654] Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, edd. E. Fuchs / H. Gliwitzky / R. Lauth / P. K. Schneider, Bd. 1–42, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012 —: Reden an die deutsche Nation, Berlin 1808 [SB 671]

Literatur

903

Fichte und Schleiermacher, edd. M. Corali / R. Dinkler, in: Quellen zur Geschichte der Erziehung, Bd. 11, Leipzig / München 1927 Francke, August Hermann: Kurtzer und einfältiger Unterricht wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und christlichen Klugheit anzuführen sind, Halle 1702 Gebhardt, Bruno: Humboldt als Staatsmann, Bd. 1–2, Stuttgart 1896–1899 Gedike, Friedrich: Lateinische Chrestomathie für die mittlern Klassen, aus den klassischen Autoren gesammelt, Berlin 1793, 3. Aufl., 1803 —: Lateinisches Lesebuch für die ersten Anfänger, Berlin 1782, 19. Aufl., 1824 [SB 2344] Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1810– 1906, Anhang: Sammlung der für die Königlichen Preußischen Staaten erschienenen Gesetze und Verordnungen von 1806 bis zum 27sten Oktober 1810 mit Ausschluß der in der ersten Abtheilung des zwölften Bandes der Myliusschen Edikten-Sammlung schon enthaltenen Verordnungen aus dem Jahre 1806, Berlin 1822, zitiert als Gesetz-Sammlung Grove, Peter: Friedrich Schleiermacher: Filosofi, Teologi, Pædagogik. Udvalgte Tekster [Philosophie, Theologie, Pädagogik. Ausgewählte Texte], ins Dänische übersetzt von P. G. edd. in Zusammenarbeit mit Anders Moe Rasmussen und Peter Widmann, Århus, Forlaget Philosophia 2010 Hahn, Oliver / Czichos, Horst: Was ist falsch am falschen Rembrandt? Mit High-Tech den Rätseln der Kunstgeschichte auf der Spur, München 2011 Handbuch der Deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1–6, edd. Ch. Berg u. a., München 1987–2005 Hebel, Johann Peter: Biblische Geschichten. Für die Jugend, Bd. 1–2, Stuttgart / Tübingen 1824 [SB 2382] Heinsius, Theodor: Teut oder theoretisch-praktisches Lehrbuch des gesammten Deutschen Sprachunterrichts, Bd. 1–4, Berlin 1806– 1811 Herbart, Johann Friedrich: Johann Friedrich Herbart’s Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge, Bd. 1–19, edd. K. Kehrbach / O. Flügel, Langensalza 1887–1912, Aalen 1989 —: Johann Friedrich Herbarts Pädagogische Schriften, edd. O. Willmann / Th. Fritzsch, Bd. 1–3, Osterwieck / Leipzig 1913–1919 —: Pädagogische Schriften, Bd. 1–3, ed. W. Asmus, Düsseldorf / München 1964–1965, 2. Aufl., Stuttgart 1982

904

Verzeichnisse

Heubaum, Alfred: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, in: Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, ed. W. Rein, Bd. 7, 2. Aufl., Langensalza 1908, S. 675–724 Heyse, Johann Christian August: Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch. Mit Bezeichnungen der Aussprache und Betonung der Wörter nebst genauer Angabe ihrer Abstammung und Bildung, 14. Aufl., neubearbeitet, vielfach berichtigt und vermehrt von Prof. Gustav Heyse und Dr. Wilhelm Wittich, Hannover 1870 Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1–13, edd. J. Ritter/K. Gründer/G. Gabriel, Darmstadt 1971–2007 Holbach, Paul Henri Thiry de: Système de la Nature ou Des Loix du Monde Physique et du Monde Moral, Bd. 2, London 1770 Horatius Flaccus, Quintus: Opera [lat.], ed. D. R. Shackleton-Bailey, Berlin / New York 2008 —: Satyren [lat.], erklärt v. L. F. Heindorf, Breslau 1815 [SB 938] Horstmann, Wilhelm: August Ferdinand Bernhardi (1769–1820) als Pädagoge. Ein Beitrag zur Pädagogik der Reformzeit, Leipzig 1926 Humboldt, Wilhelm von: Gesammelte Schriften, Bd. 1–17, Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin / Leipzig 1903–1936 —: Werke in fünf Bänden, edd. A. Flitner / K. Giel, 6. Aufl., Darmstadt 2002 — / Humboldt, Caroline von: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Bd. 1–7, ed. A. v. Sydow, Berlin 1906–1916 Jakobs, Friedrich: Elementarbuch der griechischen Sprache für Anfänger und Geübte, Jena 1809 Johannsen, Friedrich: Ueber das Bedürfniß und die Möglichkeit einer Wissenschaft der Pädagogik, Jena 1803 [SB 995] Kade, Franz: Schleiermachers Anteil an der Entwicklung des preußischen Bildungswesens von 1808–1818, Leipzig 1925 Kant und Schleiermacher als Pädagogen. Eine Auswahl aus ihren Schriften, ed. H. Barckhausen, in: Pädagogische Schriftsteller, Bd. 17, Bielefeld 1914, 2. Aufl., 1920 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 8. Aufl., Hamburg 1999 Kiel, Gerhard: Die Problematik repressiver Erziehungsmaßnahmen bei Schleiermacher, in: Pädagogische Rundschau 5, 1971, S. 317–330

Literatur

905

Kinzel, Ulrich: Übung und Freiheit. Versuch einer Aktualisierung von Schleiermachers Bemerkungen über „Zucht“, in: Neue Sammlung 35, Heft 2, S. 65–87 Kohlrausch, Friedrich: Die Geschichten und Lehren der Heiligen Schrift alten und neuen Testaments, zum Gebrauch der Schulen und des Privatunterrichts, Bd. 1–2, 2. Aufl., Halle 1812 [SB 2433], 3. Aufl., 1816 [SB 2434] Korte, Petra: Selbstkraft oder Pestalozzis Methode, in: Der historische Kontext von Pestalozzis „Methode“. Konzepte und Erwartungen im 18. Jahrhundert, edd. D. Tröhler / S. Zurbuchen / J. Oelkers, Bern / Stuttgart / Wien 2002, S. 31–46 Lamarck, Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet: Encyclopédie Méthodique: Botanique, Bd. 1–8, Paris 1783–1808 Lancaster, Joseph: Improvements in Education, as it respects the industrious classes of the community; containing among other important particulars, an account of the institution for the education of one thousand poor children and of the new system of education, on which it is conducted, London 1806 Lenz, Max: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1–4, Halle 1910 Lexikon des Mittelalters, Bd. 1–9, ed. R.-H. Bautier, München / Zürich 1980–1998 Linné, Carl von: Philosophia botanica, 3. Aufl., Berlin 1790 [SB 1152] —: Systema vegetabilium secundum classes ordines genera species cum characteribus et differentiis, editio decima quinta quae ipsa est recognitionis ab Jo. Andrea Murray institutae tertia procurata a C. H. Persoon, Göttingen 1797 [SB 1153], editio XVI., curante C. Sprengel, Bd. 1–3, Göttingen 1825–1826 [SB 1154] Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, edd. W. Killy u. a., Bd. 1–15, Gütersloh 1988–1993 Locke, John: Some Thoughts Concerning Education, London 1693 Lohmann, Ingrid: Lehrplan und Allgemeinbildung in Preußen. Eine Fallstudie zur Lehrplantheorie F.E.D. Schleiermachers, Frankfurt / M./Bern / New York 1984 Machiavelli, Niccolò: Edizione nazionale delle opere di Niccolò Machiavelli, 13 Vol., Bd. 1–15, Rom 1997–2017 —: Opere di Niccolò Machiavelli, Bd. 1–6, Florenz 1782–1783 [SB 1198] Menze, Clemens: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover / Dortmund / Darmstadt / Berlin 1975

906

Verzeichnisse

Mielityinen, Mari: Das Ästhetische in Schleiermachers Bildungstheorie. Theorie eines individuellen Weltbezugs unter Einbeziehung der Theorie des Ästhetischen bei Schiller, Würzburg 2009 Natorp, Bernhard Christoph Ludwig: Andreas Bell und Joseph Lancaster. Bemerkungen über die von denselben eingeführte Schuleinrichtung, Schulzucht und Lehrart, Essen /Duisburg 1817 Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit, Jena 1808 Niz, Andreas Christoph: Kleines griechisches Wörterbuch in etymologischer Ordnung zum Gebrauch für Schulen, Berlin 1808 Paul, Jean: s. Richter Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, edd. A. Buchenau / E. Spranger / H. Stettbacher, Bd. 1–29, Berlin 1927–1996, Nachdruck 1997–2013 —: Elementar-Bücher. Anschauungslehre der Zahlenverhältnisse, Heft 1–3, Zürich / Bern / Tübingen 1803–1804 [SB 2477, 2692] —: Elementar-Bücher. Buch der Mütter oder Anleitung für Mütter ihre Kinder bemerken und reden zu lehren, Heft 1, Zürich / Bern / Tübingen 1803 [SB 1451, 2692] —: Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwiklung des Menschengeschlechts, Zürich 1797 —: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Ein Versuch, den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unterrichten, in Briefen von Heinrich Pestalozzi, Bern / Zürich 1801 Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, Bd. 1–19, 4. Aufl., Altenburg 1857–1865 Platon: Opera [gr./lat.], ed. Societas Bipontina, Bd. 1–12, Zweibrücken 1781–1787 [SB 1490] —: Werke in acht Bänden [gr./dt.], ed. G. Eigler, 2. Aufl., Darmstadt 1990 —: Dialogi selecti [gr.], ed. L. F. Heindorf, Bd. 1–4, Berlin 1802– 1810 [SB 1491] —: Libri IV [gr.], Georgias, Apologia Socratis, Charmides, Hippias maior, Scholarum in usum, ed. L. F. Heindorf, Berlin 1805 [SB 1492] Prenzler, Wilhelm: Schleiermacher und der Religionsunterricht in den preußischen Gymnasien, Erlangen 1909 Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland, Bd. 21, Berlin 1874

Literatur

907

Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, ed. H. Kemper, Teil 1: Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus, Weinheim 2000 Reed, Andrew / Matheson, James: A Narrative of the Visit to the American Churches, by the Deputation from the Congregational Union of England and Wales, London 1835 Refardt, Edgar: Historisch-biographisches Musikerlexikon der Schweiz, Leipzig 1829 Reichenbach, Roland: „La fatigue de soi“. Bemerkungen zu einer Pädagogik der Selbstsorge, in: Michel Foucault. Pädagogische Lektüren, edd. N. Ricken / M. Rieger-Ladich, Wiesbaden 2004, S. 187–200 Richter, Johann Paul Friedrich (Jean Paul): Werke, Bd. 1–6, ed. N. Miller, München 1960–1963 —: Levana oder Erziehlehre, Bd. 1–2, Braunschweig 1807 Rolle, Hermann: Schleiermachers Didaktik der gelehrten Schule. Im Zusammenhang seines philosophischen Systems dargestellt, Berlin 1913 Rousseau, Jean-Jacques: Collection complète des œuvres, Bd. 1–30 in 15, Zweibrücken 1782–1784 [SB 1625] —: Œuvres complètes Bd. 1–5, 2. Aufl., Paris 1986-1995 —: Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen, aus dem Französischen übersetzt v. M. Mendelssohn, Berlin 1756 [SB 1626] Seneca, Lucius Annaeus: Tragoediae [lat.], ed. Societatis Bipontinae, Zweibrücken 1785 —: Tragoediae [lat.], ed. O. Zwierlein, Oxford 1988 Schleiermacher: Werkausgaben Schleiermacher, Friedrich: Sämmtliche Werke, Berlin 1834–1864, zitiert als SW SW

SW

I/12

Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, ed. L. Jonas, Berlin 1843 III/3 Reden und Abhandlungen, der Königl[ichen] Akademie vorgetragen. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse, ed. L. Jonas, Berlin 1835

908

SW

Verzeichnisse

III/9 Erziehungslehre. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, ed. C. Platz, Berlin 1849

—: Kritische Gesamtausgabe, Berlin / New York 1980 ff., zitiert als KGA KGA I/1

Jugendschriften 1787–1796, ed. G. Meckenstock, Berlin / New York 1984 KGA I/3 Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802, ed. G. Meckenstock, Berlin / New York 1988 KGA I/4 Schriften aus der Stolper Zeit (1802–1804), edd. E. Herms / G. Meckenstock / M. Pietsch, Berlin / New York 2002 KGA I/5 Schriften aus der Hallenser Zeit 1804–1807, ed. H. Patsch, Berlin / New York 1995 KGA I/6 Universitätsschriften; Herakleitos; Kurze Darstellung des theologischen Studiums, ed. D. Schmid, Berlin / New York 1998 KGA I/7,1 Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/ 22), Teilband 1, ed. H. Peiter, Berlin / New York 1980 KGA I/9 Kirchenpolitische Schriften, ed. G. Meckenstock, Berlin / New York 2000 KGA I/11 Akademievorträge, ed. M. Rössler, unter Mitwirkung von L. Emersleben, Berlin / New York 2002 KGA I/15 Register zur I. Abteilung. Addenda und Corrigenda zur I. Abteilung; Anhang: „Günter Meckenstock, Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, zweite, erweiterte und verbesserte Auflage“, unter Mitw. v. Blumrich, Elisabeth / Hoffmann, Matthias / Mann, Stefan / Teifke, Wilko, Mit einem Nachtr. v. Mekkenstock, Günter, Berlin / New York 2005 KGA III/1 Predigten. Erste bis vierte Sammlung (1801–1820) mit den Varianten der Neuauflage (1806–1826). Anhang: Günter Meckenstock, Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers, ed. G. Meckenstock, Berlin / New York 2012 KGA III/2 Predigten. Fünfte bis siebente Sammlung (1826–1833). Anhang: Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinden (Berlin 1829), ed. G. Meckenstock, Berlin / New York 2015

Literatur

909

KGA III/6 Predigten 1820–1821, ed. E. Blumrich, Berlin / New York 2015 KGA IV/3 Platons Werke, erster Teil, erster Band. Einleitung, Phaidros, Lysis, Protagoras, Laches, edd. L. Käppel / J. Loehr, Berlin / New York 2016 KGA V/2 Briefwechsel 1796–1798, edd. A. Arndt / W. Virmond, Berlin / New York 1988 KGA V/3 Briefwechsel 1799–1800, edd. A. Arndt / W. Virmond, Berlin / New York 1992 KGA V/8 Briefwechsel 1804–1806, edd. A. Arndt / S. Gerber, Berlin / New York 2008 KGA V/9 Briefwechsel 1806–1807, edd. A. Arndt / S. Gerber, Berlin / New York 2011 KGA V/10 Briefwechsel 1808, edd. S. Gerber / S. Schmidt, Berlin / New York 2015 KGA V/11 Briefwechsel 1809–1810, edd. S. Gerber / S. Schmidt, Berlin / New York 2015 —: Werke. Auswahl in vier Bänden, edd. O. Braun / J. Bauer, Leipzig 1910–1913, 1911, 2. Aufl., 1927–1928 (Nachdruck Aalen 1967, 1981) zitiert als Braun / Bauer Schleiermacher: Briefe Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 1–4, edd. L. Jonas / W. Dilthey, 2. Aufl., Berlin 1860–1863, zitiert als Briefe Friedrich Schleiermacher’s Briefwechsel mit Joachim Christian Gaß, mit einer biographischen Vorrede, ed. W. Gaß, Berlin 1852, zitiert als Briefwechsel mit Gaß Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Sein Wirken. Familien- und Freundesbriefe 1804 bis 1834. In neuer Form und mit einer Einleitung und Anmerkungen, ed. H. Meisner, Stuttgart / Gotha 1923, zitiert als Briefe ed. Meisner Schleiermacher: Einzelbände Schleiermacher, Friedrich: Ausgewählte Pädagogische Vorlesungen und Schriften, ed. H. Schuffenhauer, Berlin 1965 —: Erziehungslehre. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, ed. C. Platz, Langensalza 1871 (Bibliothek Pädagogischer Klassiker, Bd. 5), zitiert als Platz —: F. E. D. Schleiermacher. Ausgewählte pädagogische Schriften von F. E. D. Schleiermacher, ed. E. Lichtenstein, Paderborn 1959, 2. Aufl., 1964, 3. Aufl., 1983, zitiert als Lichtenstein

910

Verzeichnisse

—: Friedrich Schleiermacher, ed. R. Wickert, Langensalza 1912 (Greßlers Klassiker der Pädagogik, Band 28) —: Gedanken zu einer Theorie der Erziehung, in: Grundlagen und Grundfragen der Erziehung 19, ed. H. Friebel, Heidelberg 1965 —: Pädagogik. Die Theorie der Erziehung von 1820/21 in einer Nachschrift, edd. Ch. Ehrhardt / W. Virmond, Berlin / New York 2008, zitiert als Ehrhardt / Virmond —: Pädagogische Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor Schulze hrsg. von Erich Weniger, Bd. 1–2, Düsseldorf / München 1957, 2. Aufl., 1966, Frankfurt / M. 1983–1984, zitiert als Weniger / Schulze —: Schleiermacher als Pädagog, ed. H. Keferstein, Jena 1887, 2. Aufl., 1889, unter verändertem Titel [Schleiermachers pädagogische Schriften und Äußerungen] Leipzig 1902, zitiert als Keferstein —: Schleiermachers Pädagogische Schriften. Mit einer Darstellung seines Lebens, ed. C. Platz, 2. Aufl., Langensalza 1876 (zweite und erweiterte Auflage der Erziehungslehre von 1871), 3. Aufl., 1902, 1968 (Neudruck der 3. Auflage von 1902), zitiert als Platz —: Schriften, ed. A. Arndt, Frankfurt / M. 1996 —: Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe, Bd. 1–2, edd. M. Winkler / J. Brachmann, Frankfurt / M. 2000, zitiert als Winkler / Brachmann —: Die Volksschule. Abdruck aus Schleiermachers pädagogischen Schriften, Hamburg 1947 Schollenberger, Hermann: Sängerpfarrer Jakob Sprüngli, 1801–1889. Ein Lebensbild, Zürich 1922 Schulreform in Preußen 1809–1819. Entwürfe und Gutachten, bearbeitet von Lothar Schweim, Weinheim 1966, zitiert als Schweim Schurr, Johannes: Schleiermachers Theorie der Erziehung. Interpretationen zur Pädagogikvorlesung von 1826, Düsseldorf 1975 Schwartz, Paul: Die Gründung der Universität Berlin und der Anfang der Reform der höheren Schulen im Jahre 1810, in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 20, Berlin 1910, S. 151–208 Schwarz, Friedrich Heinrich Christian: Erziehungslehre, Bd. 1–2, Leipzig 1802–1804 [SB 1791] Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, ed. K. Rutschky, Frankfurt / M. 1982 Seidenstücker, Johann Heinrich Philipp: Bemerkungen über die Deutsche Sprache. Eine Vorarbeit zu einer kritischen Grammatik der Hochdeutschen Sprache, Helmstedt 1804

Literatur

911

Spranger, Eduard: Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910 Stein, Karl vom und zum: Briefe und amtliche Schriften, Bd. 1–10, ed. W. Hubatsch, Stuttgart 1957–1974 Sünkel, Wolfgang: Schleiermachers Begründung der Pädagogik als Wissenschaft, Düsseldorf 1964 Süvern, Wilhelm: Johann Wilhelm Süvern, Preußens Schulreformer nach dem Tilsiter Frieden. Ein Denkmal zu seinem 100. Todestage dem 2. Oktober 1929, Berlin / Leipzig 1929 Tenorth, Heinz-Elmar: Lehrerberuf und Lehrerbildung, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3 (1800–1870), Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches, edd. K.-E. Jeismann / P. Lundgreen, München 1987, S. 250–270 Thiele, Gunnar: Die Organisation des Volksschul- und Seminarwesens in Preußen 1809–1819, mit besonderer Berücksichtigung der Wirksamkeit Ludwig Natorps, Leipzig 1912 —: Süverns Unterrichtsgesetzentwurf vom Jahre 1819, mit einer Einleitung neu herausgegeben von Gunnar Thiele, Leipzig 1913 Verzeichniß der Studierenden auf der Königlichen Universität zu Berlin / Nebst Anzeige ihrer Ankunft, Vaterlandes, Studien und Wohnungen auf das halbe Jahr von Ostern bis Michaelis 1826, ed. J. F. A. Wernicke, Berlin 1826, zitiert als Wernicke Vierhaus, Rudolf: Friedrich Daniel Schleiermacher, in: Berlinische Lebensbilder, Bd. 3: Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, edd. W. Treue / K. Gründer, Berlin 1987 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 60), S. 77–88 Virmond, Wolfgang: Schleiermachers Konfirmandenunterricht. Nebst einer bislang unbekannten Nachschrift, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, edd. A. Arndt / U. Barth / W. Gräb, Berlin / New York 2008 (Schleiermacher-Archiv, Bd. 22), S. 653–746 Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten, ed. W. Virmond, Berlin 2011, zitiert als Virmond Wagner, Johann Jakob: Philosophie der Erziehungskunst, Leipzig 1803 [SB 2095]

912

Verzeichnisse

Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755), in: Ders.: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, ed. R. Walter, 2. Aufl., Berlin / New York 2002 Winkler, Michael: Geschichte und Identität. Versuch über den Zusammenhang von Gesellschaft, Erziehung und Individualität in der „Theorie der Erziehung“ Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers, Bad Heilbrunn 1979 —: Schleiermachers Beitrag zur preußischen Erziehungsreform, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, edd. A. Arndt / U. Barth / W. Gräb, Berlin / New York 2008 (Schleiermacher-Archiv, Bd. 22.), S. 497–516 Wißmann, Erwin: Religionspädagogik bei Schleiermacher, Gießen 1934 (Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus, Heft 15) Wolfes, Matthias: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Teil I und Teil II, Berlin / New York 2004 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 85/I, 85/II) Yates, Frances: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Weinheim 1990 (Art of memory; 1966) Zeuch-Wiese, Ilona: Die Erziehung der Erzieher. Zur Institutionalisierung der Elementarschullehrerausbildung in Preußen. Geschichte und Funktion der Königsberger Normal-Institute 1808–1813, Berlin 1984

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Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin: Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher

Nachlass Nachlass Nachlass Nachlass

Nr. Nr. Nr. Nr.

439 441 442 510

Literatur

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Archiv der Superintendentur Friedrichswerder in Berlin: A 7, 1: Acta betreffend den ConfirmandenUnterricht auch die Listen der Confirmanden 1803 ff. Archiv des Verlags Walter de Gruyter in Berlin: Briefwechsel Carl Platz – Verlag Reimer: Walter de Gruyter GmbH & Co. Archiv: Platz, C., Prediger in Friedland (Kreis Lübben), später in Berlin, 2 Briefe 19.10.1847, 8.4.1872 Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam: Pr. Br. Rep. 37 Herrschaft (Alt)Friedland Nr. 195: Kirchenvisitationen und Nachweis des Einkommens der Pfarrer in Friedland und Kunersdorf, 1818–1850 Pr. Br. Rep. 37 Herrschaft (Alt)Friedland Nr. 196–197: Patronat über die Pfarre zu Friedland, 1838–1848 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin: GStA PK, I. HA, Rep. 74, Staatskanzleramt, J. I, Nr. 3: Die wissenschaftlichen Deputationen des Departments für den öffentlichen Unterricht, 1810–1814 GStA PK, I. HA, Rep. 74, Staatskanzleramt, L. IV. Gen., Nr. 7: Die Prüfung der zur Universität abgehenden Schüler und der von der Universität abgehenden Studenten, 1812–1819 GStA PK, I. HA, Rep. 74, Staatskanzleramt, L. V. Brandenburg, Nr. 9: Das Kurmärkische Landschullehrer- und Küster-Seminar, ingleichen das Seminarium für gelehrte Schulen, 1811–1822 GStA PK, I. HA, Rep. 74, Staatskanzleramt, L. IV. Gen., Nr. 14: Die Einrichtung wissenschaftlicher Prüfungskommißionen, 1816– 1817 GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern 1810–1817, Abt. X, Nr. 1: Die Organisation der wissenschaftlichen Deputation in Berlin und Ernennung der Mitglieder und des Direktors, März 1810–Januar 1817 GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern 1810–1817, Abt. X, Nr. 2: Die Erstattung der Haupt-Berichte, 1810–1811 GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern

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Verzeichnisse

1810–1817, Abt. X, Nr. 4: Die Prüfung der Schul-Amts-Candidaten vor Publication des Ediktes vom 12. July 1810 GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern 1810–1817, Abt. X, Nr. 5, Vol. I: Die allgemeine Prüfung der Schul-Amts-Candidaten, 1810–1813 GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern 1810–1817, Abt. X, Nr. 8, Vol. 1: Die Prüfung der bei höheren Schulen anzustellenden Lehrer, 1810–1812 GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern 1810–1817, Abt. X, Nr. 11: Die Abiturienten-Prüfungen vom November 1810–1816 GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern 1810–1817, Abt. X, Nr. 12: Die Gutachten über philologische Gegenstände, 1810–1816 GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern 1810–1817, Abt. X, Nr. 14: Die Gutachten über mathematische Gegenstände, 1810–1816 GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern 1810–1817, Abt. X, Nr. 18: Die Lehrpläne für gelehrte Schulen und die Schulbücher, 1810–1816 GStA PK, I. HA, Rep. 76 alt, wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern 1810–1817, Abt. X, Nr. 23, Vol 1: Die Reform des Seminarii für gelehrte Schulen in Berlin und die der wissenschaftlichen Deputation übertragene Aufsicht und Leitung desselben, Januar 1812– Mai 1813 GStA PK, I. HA, Rep. 76 VI, Ministerium der Geistlichen- Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, Geistliche und Unterrichtsabtheilung, Sekt. 1, Gen. X, Nr. 11: Die Einrichtung der wissenschaftlichen Deputationen, 1809–1816 GStA PK, I. HA, Rep. 76 VI, Ministerium der Geistlichen- Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, Geistliche und Unterrichtsabtheilung, Sekt. 1, Gen. Z, Nr. 1, Bd. 1: Die Prüfung, Anstellung, Vereidigung, Entlassung und Besoldung der gelehrten Schulamtskandidaten und der Lehrer und Direktoren bei den Gymnasien und höheren Schulanstalten sowie bei den Stadt- und

Literatur

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Bürgerschulen, welche zu den Elementarschulen nicht gerechnet werden, März 1809–Dezember 1822 GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII, Ministerium der Geistlichen- Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, Geistliche und Unterrichtsabtheilung, (Specialia, Öffentliche Bildungs- und Unterrichts-Sachen, Potsdam), Sekt. 15 bb, Nr. 1, Bd. 1: Das LandSchullehrer-Seminarium zu Potsdam, Mai 1810–Dezember 1817 GStA PK, I. HA, Rep. 76 VII neu, Ministerium der Geistlichen- Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, Geistliche und Unterrichtsabtheilung, Sekt. 1A Teil II, Nr. 14, Bd. 1: Die Aufsicht und Leitung der städtischen Erziehungs-, Lehr- und Schulanstalten und die zu diesem Behuf angeordneten städtischen Schuldeputationen, 1809–1812 GStA PK, I. HA, Rep. 76 Va, Kultusministerium, Sekt 2 Tit. 13, Nr. 1, Bd. 2: Die von der Universität zu Berlin halbjährlich eingereichten Tabellen, Dez. 1819–Dez. 1822 GStA PK, X. HA, Brandenburg, Rep. 2 B, Regierung zu Potsdam, II. Abteilung Kirchen- und Schulwesen, Nr. 1733 GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Die Wissenschaftliche Deputation zu Königsberg, Sekt. 5, Titel 23, Nr. 2, Bd. 1 Depot des Instituts für Hermeneutik der Universität Zürich, Zentralbibliothek Zürich: Ms Z V 384: Hermeneutices et critices praecepta, vorgetragen von Prof. Schleiermacher, (206 Seiten), Wintersemester 1826–27 Ms Z V 385: Theologia moralis, vorgetragen von Prof. Schleiermacher, (219 Seiten), Wintersemester 1826–27 Ms Z V 386: Pädagogik; Praktische Theologie, 2 Vorlesungen, (126 bzw. 88 Seiten), Sommersemester 1826 Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen Cod. Ms. F. Frensdorff I,1: Anonyme Nachschrift von Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung. (155 Seiten). Wintersemester 1820– 21

Register

Personen Das Register verzeichnet alle historischen Personen, die im vorliegenden Band genannt sind. Die Namen werden in der heute gebra¨uchlichen Schreibweise angegeben. Nicht aufgefu¨hrt werden die Namen biblischer, literarischer und mythi¨ bersetzern, die nur in biblioscher Personen, die Namen von Herausgebern und U graphischen Angaben vorkommen, sowie die Namen der an der vorliegenden Ausgabe Beteiligten. Recte gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf Personen, die im Schleiermacherschen Text bzw. die sowohl im Text als auch im Apparat der Bandherausgeberinnen und -herausgeber genannt sind. Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf Personen, die in der Einleitung oder im Apparat der Bandherausgebenden genannt sind. Adelung, Johann Christoph 217.219 Altenstein, Karl Freiherr vom Stein zum XL.L.LXVII.LXXIX Aristoteles 348.351 Arndt, Ernst Moritz L.329 Aurelius Victor 129 Bartholdy, Georg Wilhelm (Bartholdi) XXXIX.XLI.XLIII.38.46.212.215 Basedow, Johann Bernhard 347 Bauer, Heinrich 216.217 Beckedorff, Ludolph von L.LI.353 Bell, Andrew 793 Bellermann, Johann Joachim 187 Bernhardi, August Ferdinand XXVIII.XXX.XXXI.XXXIX.XL. XLIII.XLIV.XLV.XLVI.XLVII.LIV. 18.19.22.25.26.27.40.41.42.47.60. 61.71.82.84.88.89.93.96.108.124. 130.136.137.139.140.168.170.171. 174.179.180.182.185.186.200.206. 216.220 Bindemann, Moriz LXXXII Blanc, Ludwig Gottfried XXV. XXVI.XXVII Bolte, Johann Heinrich 82 Braune, Julius LXXXII Bredow, Gottfried Gabriel XXXIX. 38.190.191

Brinckmann, Karl Gustav von 24 Brougham 644 Brunnemann, Karl Heinrich 213 Buttmann, Philipp Karl 133 Calvus, Gaius Licinius Macer 843 Campbell, Thomas 644 Campe, Joachim Heinrich XIX Cäsar (Caesar) 68.129 Cicero 28.68.125.129.131.843.844 Claudius 219 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de 509 Curtius Rufus, Quintus 129 Dannemann, C. F. 200 de Wette, Wilhelm Martin Leberecht LXVII Demosthenes 134 Diesterweg, Friedrich Adolph Wilhelm LXXVIII.XCV.XCVI.XCVIII.100 Dilthey, Wilhelm XLV Dionysios von Halikarnassos 843 Dohna-Schlobitten, Carl Friedrich Ferdinand Alexander Graf zu XXI. XXIII.XXVI.XXVII.XXVIII.XLII. XLIV.108 Erasmus von Rotterdam 133 Erfurdt, Carl Gottlob August 214

Personen Erman, Paul XXXVIII.XLIII. 18.26.47.63.68.71.92.93.179.186. 188 Euklid (Euklides, Euclides) 122. 125.141.142 Euripides 82 Eutrop (Eutropius) 129 Eylert, Rulemann Friedrich L Fichte, Johann Gottlieb LII.489 Frank 219 Franz I. von Frankreich 99 Friedrich I. von Preußen 854 Friedrich, Caspar David XLV Friedrich Wilhelm III. von Preußen XXI.XXIII.XXIV.XXV.XXX. XXXVII.XXIX.XLIX.L.LII.LIII. LXXIX.LXXXI.5.9.10.38.102. 188.226.227 Gaß, Joachim Christian XXIV. XXXIV.XLV.LV.LXXVIII.108 Gedike, Friedrich XIX.128.129 Gellert, Christian Fürchtegott 242 Giesebrecht, Adolph Friedrich 174. 175.190.191.192.193.195.213.214 Gotthold, Friedrich August 53.221 Haller 242 Hamann, Johann Michael 53 Hanisch 82 Hardenberg, Karl August von L.225.227.232 Heindorf, Ludwig Friedrich (Heindorff) 131.134.188 Heinrich VII. von England 195 Heinsius, Theodor 219 Herbart, Johann Friedrich XXXVII. LII.LIX.50.51.53 Herz, Henriette XLV Hirt, Aloys XXXIX.38 Homer 124.125.132.133.134.322. 844 Horaz (Horatz) 98.99.125.130.197. 198.209 Hüllmann, Karl Dietrich 51.54 Humboldt, Caroline von XXV Humboldt, Wilhelm von XXI.XXII. XXIII.XXIV.XXV.XXVII.XXVIII.

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XXXI.XXXVII.XXXVIII.XXXIX. XL.XLV.XLVI.3.4.5.6.7.8.17.18. 19.20.21.22.24.33.38.39.40.41.43. 45.50.71.102.103.104.113.509 Ideler, Christian Ludwig XXXIX. 38.188 Jachmann, Reinhold Bernhard 347. 509 Jacobs, Friedrich (Jakobs) 133 Jahn, Friedrich Ludwig XXXI.19. 25.26.27.213 Johannsen, Friedrich XIX Jonas, Ludwig LVI.LXXVI. LXXXIII.LXXXIV Joseph II. von Österreich (Joseff) 650 Kalb, Philipp Leonhard XCIX Kannegießer (Kannegieser) 196. 197.199.213.214 Kant, Immanuel 404 Karl V. 99 Karl der Große 347 Karsten, Dietrich Ludwig Gustav XXXIX.38 Kirnberger, Johann Philipp 470 Klamroth, Karl Heinrich Ludwig XCV Klaproth, Martin Heinrich XXXIX. 38 Kleist, Heinrich von 242 Knickhahn 253 Koch, Friedrich Gustav 82.84.86. 213.214 Kotzebue, August von LXVII Lancaster, Joseph 793 Leclerc de Buffon, Georges-Louis 813 Lepeletier, Louis-Michel 509 Linné, Carl von 531.813 List, Johann Friedrich 96.97.98. 100.101.213 Livius, Titus 129. 209.241.252 Locke, John 353.404 Lucan 130

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Register

Ludwig XVI. von Frankreich 333 Lukian von Samosata 843 Machiavelli, Niccolò 621 Marggraf 213.214 Marheineke, Philipp Konrad (Marheinecke) LXVII Merkel, Friedrich Theodor von 16 Metternich, Klemens Wenzel Lothar Fürst von XLIX Moritz, Karl Philipp (Moriz) LXXXII.219 Mylius XXXVI Natorp, Ludwig Bernhard Christoph XXXII.XXXIII.XLVII.XC.223. 225.227.232.793 Nauck, Gottfried Carl 101 Neander LXVII Nepos, Cornelius 129 Nero 219 Niana, Hermann 82 Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig (Nikolovius) XXIII.XLVI.XLVII. 102.176.212.216 Niz, Andreas Christoph 133 Nordmann 213 Ohl, Hermann Leberecht LXXXII Ovid 129.240 Pausanias 844 Pestalozzi, Johann Heinrich 122. 249.347.453.481.534.774.790 Phaedrus 129 Platon LXXIX.333.370.455.470. 476.516.541.546.556.593.599.729. 748 Platz, Carl (Karl) Johann Friedrich LVI.LVII.LXI.LXII.LXIV.LXX. LXXI.LXXIII.LXXVI.LXXVII. LXXVIII.LXXXII.LXXXIII. LXXXIV.LXXXV.LXXXVI. LXXXVII.LXXXVIII.XCI.XCII. XCIII.XCVI.XCV.XCVI.XCVII. XCVIII.XCIX.C.CI.CII.CIII.CIV. CVI.CVII.CVIII.CIX.319.470. 642.711 Plautus 130

Quintilian 843 Rangnik 214 Reily LXXX Reimer, Georg Andreas XV.LVI. LXXXIV Reimer, Georg Ernst LXXXIV. LXXXV Reinbach 218 Ritter, Johann Wilhelm XXXIX.49 Römer (Roemer) 213 Rousseau, Jean-Jacques 302.381. 392.404.485 Rühs, Friedrich 188 Sallust 131.241 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph XIX Schlegel, Friedrich 219 Schleiermacher, Charlotte XVIII. XXVII Schleiermacher, Henriette Charlotte Sophie (Willich) XVIII.XX Schneider, Johann Gottlob XXXIX. XLIII.38.190.191.193 Schoder, Gustav 83.213 Schopenhauer, Johanna XLV Schubring, Carl Julius LXXXII Schuckmann, Kaspar Friedrich von XXIV.XXVII.XLV.XLVI.XLVIII. XLIX.LII.LIII.102.188 Schultz L Schulze, J. K. H. XXI.213.214 Schwarz, Friedrich Heinrich Christian XIX.312 Seidenstücker, Johann Heinrich Philipp (Seidenstüker) 218.219 Seneca 68.130 Silius Italicus 130 Snethlage, Bernhard Moritz L Sophokles (Sophocles) 132.134.197 Spalding, Georg Ludwig XXX. XXXI.XXXVIII.XLVI.4.5.6.18.26. 27.35.40.47.69.70.71.94.98.100. 174.179.182.183.185.186.187.188. 192.193.195.197.199.206.212.215 Sprüngli, Johann Jakob (Jacob) LXXXVI.LXXXVII.LXXXVIII. CIV.CV.CVI.CVII.545.861

Personen Sprüngli, Johann Jakob (sen.) CIV Sprüngli, Katharina CIV Statius, Publius Papinius 130 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum XXIV.XXXIV.XXXV. XXXVI.LIV Stephan 219 Stockfisch 21.25 Strabo (Strabon) 844 Stutz, Konrad CIV Sueton (Suetonius) 131 Süvern, Johann Wilhelm XXVIII. XXXII.XXXIII.XLV.XLVI.XLVII. XLVIII.XLIX.LI.LII.LIV.3.4.5.8. 103.176.177.178.227.234.241.250. 251 Tacitus 125.131.194.241 Taylor, Brook 144 Terenz 130 Tillich, Ernst Gotthelf Albrecht 245 Tralles, Johann Georg XXXVIII. XLIII.4.5.18.26.47.62.71.179.184. 186.214 Twesten, August XXVI Uhden, Johann Daniel Wilhelm Otto XXVIII.XLIV.103.176

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Vergil (Virgil) 844 Voß, Luise von LV Wächter (Waechter) 213.214 Wagner, Johann Jakob XIX Willdenow, Karl Ludwig (Wildenow) XXXIX.XLI.XLIII.38.49.188.212. 215 Wißmann, Erwin (Wissmann) XXIX.16.54 Wittgenstein, Wilhelm Ludwig Georg Fürst zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein XLIX Wolf, Friedrich August XXXVIII. XXXIX.5.6.18.31.38.85.187.212 Wolfart LXXIX Woltmann, Johann Gottfried XXXI.XXXVIII.XLIV.20.21.26.38. 47.58.71.72.74.90.91.92.179.185. 188.206 Xenophon 134.844 Zeller, Carl August XXXIII.223 Zelter, Carl Friedrich 119 Zeune, Johann August 214 Zöllner, Johann Friedrich XIX.XX. 214