Kritische Gesamtausgabe: Band 12 Über die Religion (2.-)4. Auflage. Monologen (2.-)4. Auflage 9783110921298, 9783110144734

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Kritische Gesamtausgabe: Band 12 Über die Religion (2.-)4. Auflage. Monologen (2.-)4. Auflage
 9783110921298, 9783110144734

Table of contents :
Einleitung des Bandherausgebers
I. Historische Einführung
A. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern
B. Monologen. Eine Neujahrsgabe
II. Editorischer Bericht
Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, (2.–)4. Auflage
Zueignung der zweiten Ausgabe
Zueignung der dritten Ausgabe
Vorrede zur dritten Ausgabe
Inhalt
Erste Rede. Rechtfertigung
Erläuterungen zur ersten Rede
Zweite Rede. Über das Wesen der Religion
Erläuterungen zur zweiten Rede
Dritte Rede. Über die Bildung zur Religion
Erläuterungen zur dritten Rede
Vierte Rede. Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum
Erläuterungen zur vierten Rede
Fünfte Rede. Über die Religionen
Erläuterungen zur fünften Rede
Nachrede
Anmerkungen zur Nachrede
Monologen. Eine Neujahrsgabe, (2.–) 4. Ausgabe
Vorrede zur zweiten Ausgabe
Vorrede zur dritten Ausgabe
Darbietung
I. Betrachtung
II. Prüfungen
III. Weltansicht
IV. Aussicht
V. Jugend und Alter
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Namensregister
Register der Bibelstellen

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe I. Abt. Band 12

w DE

G

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Hermann Fischer und Gerhard Ebeling, Heinz Kimmerle, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge

Erste Abteilung Schriften und Entwürfe Band 12

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1995

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Über die Religion ( 2 . - ) 4. Auflage,

Monologen ( 2 . - ) 4. Auflage

Herausgegeben von Günter Meckenstock

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1995

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche

Bibliothek



CIP-Einheitsaufnahme

Schleiermacher, Friedrich: Kritische Gesamtausgabe / Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Im Auftr. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hrsg. von Hermann Fischer ... — Berlin ; New York : de Gruyter. Teilw. hrsg. von Hans-Joachim Birkner. — Abt. 1., Schriften und Entwürfe. NE: Birkner, Hans-Joachim [Hrsg.]; Fischer, Hermann [Hrsg.]; Schleiermacher, Friedrich: [Sammlung] Bd. 12. Über die Religion (2.—) 4. Auflage, Monologen (2.—) 4. Auflage / hrsg. von Günter Meckenstock. — 1995 ISBN 3-11-014473-5 NE: Meckenstock, Günter [Hrsg.]

© Copyright 1995 by Walter de Gruyter Sc Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis Einleitung des Bandherausgebers I. Historische Einführung A. Über die Religion. Reden an die Gebildeten Verächtern B. Monologen. Eine Neujahrsgabe II. Editorischer

VII VII unter

ihren VIII LXIII

Bericht

LXX

Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, (2.-) 4. Auflage Zueignung der zweiten Ausgabe Zueignung der dritten Ausgabe Vorrede zur dritten Ausgabe Inhalt Erste Rede. Rechtfertigung Erläuterungen zur ersten Rede Zweite Rede. Über das Wesen der Religion Erläuterungen zur zweiten Rede Dritte Rede. Über die Bildung zur Religion Erläuterungen zur dritten Rede Vierte Rede. Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum Erläuterungen zur vierten Rede Fünfte Rede. Über die Religionen Erläuterungen zur fünften Rede Nachrede Anmerkungen zur Nachrede

181 216 250 298 313 318

Monologen. Eine Neujahrsgabe, (2.—) 4. Ausgabe Vorrede zur zweiten Ausgabe Vorrede zur dritten Ausgabe Darbietung I. Betrachtung II. Prüfungen III. Weltansicht IV. Aussicht V. Jugend und Alter

323 325 326 328 329 340 357 371 384

1 3 8 10 13 14 35 41 129 150 176

VI Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis Namensregister Register der Bibelstellen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

des

Bandherausgebers

Der vorliegende Band enthält die Letztfassungen zweier Druckschriften Schleiermachers, die seinen literarischen Lebensweg begleitet haben.1 Seine Reden „Über die Religion" und seine „Monologen" stehen am Anfang seiner öffentlichen schriftstellerischen Wirksamkeit. In früheren Bänden der Kritischen Gesamtausgabe sind diese Erstausgaben der „Reden"2 und der „Monologen"3 ediert worden. Der vorliegende Band bietet beide Druckschriften in der Letztfassung. In einem Variantenapparat werden jeweils die abweichenden Lesarten der zweiten und dritten Auflage mitgeteilt. Zusammen mit den bereits kritisch edierten Erstfassungen sind damit alle Druckfassungen lückenlos dokumentiert.

I. Historische

Einführung

Nach seiner Predigerzeit an der Berliner Charite 1796—1802 war Friedrich Schleiermacher (1768-1834) von Mai 1802 bis August 1804 reformierter Prediger in Stolp in Hinterpommern, dann Theologieprofessor und Universitätsprediger an der Friedrichs-Universität zu Halle an der Saale, bis er im Dezember 1807 nach Berlin übersiedelte, wo er das Doppelamt als reformierter Prediger an der Dreifaltigkeitskirche (ab 1809) und als Theologieprofessor an der neugegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität (ab 1810) bis zu seinem Tod innehatte. Die Reden „Über die Religion" und die „Monologen" erschienen 1799 bzw. Anfang 1800 beide anonym. Mit diesen Erstlingsschriften erzielte Schleiermacher die größte Breitenwirkung. Beide fanden große Beachtung, die „Reden" als Dokument einer romantischen Frömmigkeit, die „Monologen" als Zeugnis einer individuell gebildeten Sittlichkeit. Auch wenn sie nach Form und Gehalt sehr unterschiedlich sind, ist ihre Bearbeitungs- und Rezeptionsgeschichte erstaunlich ähnlich. Beide Druck1

2

3

Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors beziehen sich auf Friedrich Schleiermacher. Wird in dieser Einleitung des Bandherausgebers aus Schriften Schleiermachers oder anderer Autoren zitiert, so werden Hervorhebungen bei der Zitation nicht eigens ausgewiesen. Vgl. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1/2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796—1799, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1984, S. 185—326. Zu Entstehung und erster Aufnahme der „Reden" vgl. KGA 1/2, LM-LXXVM. Vgl. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1/3, Schriften aus der Berliner Zeit 1800—1802, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1988, S. 1—61. Zu Entstehung und erster Aufnahme der „Monologen" vgl. KGA 1/3, XV-XL.

VIII

Einleitung des

Bandherausgebers

Schriften erfuhren zu Schleiermachers Lebzeiten vier Auflagen, beide wurden nach seinem Tode im 19. Jahrhundert in der Letztfassung und im 20. Jahrhundert in der Erstfassung vielmals aufgelegt und gelesen. Schleiermacher arbeitete beide Druckschriften in der zweiten und dritten Auflage jeweils stärker um, während er sich in der vierten Auflage mit kleineren Korrekturen begnügte.

A. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern Schleiermacher veröffentlichte 1806 im Verlag der Berliner Realschulbuchhandlung seines Freundes Georg Reimer die zweite Ausgabe seiner Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" ohne Autornennung auf dem Titelblatt, nachdem er 1799 die Erstausgabe beim Berliner Verleger Johann Friedrich Unger anonym publiziert hatte. Im Meßkatalog „Allgemeines Verzeichniß der Bücher ..." ist die Erstauflage unter dem Titel „JJeber Religion. Reden an die aufgeklärten Verächter derselben" als bereits zur Ostermesse 1799 erschienen angezeigt.4 Doch kam sie erst in der zweiten Jahreshälfte 1799 in den Buchhandel.5 Die Anonymität der Verfasserschaft wurde nicht lange gewahrt. Über den Freundeskreis hinaus wurde Schleiermachers Name bald auch literarisch genannt.6 Schleiermacher selbst bestätigte diese Zuschreibung literarisch 1803 in der Vorrede seiner „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre"7 und 1806 in seiner namentlich gezeichneten Jenisch-Rezension8, außerdem publikumswirksam 1806 in seiner „Erklärung gegen die Redaction der N[euen] Leipz[iger] Lit[eratur] Zeit[ung]"9. Während Schleiermacher die Behauptung, er sei der Verfasser der anonymen Schrift „Ueber Offenbarung und Mythologie", scharf verneinte, bejahte er seine Verfasserschaft der Reden „Über die Religion". Diese Erklärung ist „Halle den 16. Juni 1806" unterschrieVgl. Wichmann von Meding: Bibliographie der Schriften Schleiermachers nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten, Schleiermacher-Archiv 9, Berlin/New York 1992, Nr. 1799/5 5 Vgl. KGA 1/2, LX « Vgl. Z. B. KGA 1/2, LXXVI und KGA 1/3, XXXV 7 Vgl. Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, Berlin 1803, S. IV (s. Anm. 158) 8 Vgl. Rezension von „D. Jenisch: Kritik des dogmatischen, idealistischen und hyperidealistischen Religions- und Moral-Systems", in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Jg. 3, Jena/Leipzig 1806, Bd. 2, Nr. 101 vom 29. April 1806, Sp. 200 (s. Anm. 141) 9 Vgl. Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, Jg. 3, Jena/Leipzig 1806, Nr. 54 vom 28. Juni 1806, Sp. 454-456. 4

Historische Einführung

IX

ben. Die in der zweiten Auflage hinzugefügte und auf den 29. August 1806 datierte Dedikation des Buches an Karl Gustav von Brinckmann ist mit „F. Schleiermacher" unterzeichnet und dadurch die Autorschaft geklärt. Die zweite Ausgabe der „Reden" erschien zur Michaelismesse 1806.10 Die zweite Ausgabe der „Reden" hat im Oktavformat einen Satzspiegel von 8 cm Breite und 15,1 cm Höhe. Sie umfaßt 372 arabisch paginierte Seiten Haupttext einschließlich „Zusaz"• Dem Haupttext gehen das unpaginierte Titelblatt, das unpaginierte Widmungsblatt, die römisch paginierte Dedikation (IV—VIII), das römisch paginierte Inhaltsverzeichnis (IX) und das unpaginierte Druckfehlerverzeichnis voran. Die römische Paginierung ist fehlerhaft, weil das Titelblatt und dessen leere Rückseite nicht mitgezählt worden sind. Die jeweils 16 Seiten umfassenden Druckbogen sind durch Buchstaben (A bis Ζ und Aa) gezählt; jede Seite hat normalerweise 27 Zeilen. Der Dreiviertelbogen des Vorspanns ist nicht markiert. Die handschriftliche Druckvorlage ist nicht erhalten. Die dritte vermehrte Ausgabe von Schleiermachers Schrift „Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" erschien im Jahr 1821 wiederum im Berliner Verlag G. Reimer, erneut ohne Autornennung auf dem Titelblatt. Der dritten Ausgabe ist zusätzlich zur ersten Dedikation eine weitere Zueignung an Karl Gustav von Brinckmann beigegeben, die das Datum „Berlin, im November 1821" trägt. An diese zweite Zueignung, die keinen Namenszug hat, ist mit neuem Seitenbeginn die „Vorrede zur dritten Ausgabe" angeschlossen, die „Berlin, im April 1821" datiert und mit „Dr. F. Schleiermacher" unterschrieben ist. Den Vorspann mit römischer Seitenzählung beschließt nach den beiden Dedikationen und der Vorrede das Inhaltsverzeichnis. Die dritte Auflage umfaßt 18 römisch paginierte und 461 arabisch paginierte Seiten bei einem Satzspiegel von 8,5 cm Breite und 15 cm Höhe. Der Text der Reden hat einen normalen Seitenumfang von 30 Zeilen. Die Erläuterungen zu den Reden und zum Epilog, der jetzt „Nachrede" heißt, sind kleiner gesetzt und haben einen Seitenumfang von 38 Zeilen. Nach den Erläuterungen zur „Nachrede" folgt noch ein Druckfehlerverzeichnis. Die Druckbogen im Oktavformat sind durch Großbuchstaben (A—Z) und Buchstabenkombinationen (Aa—Ff) gezählt. Die von Schleiermacher ausgearbeitete Druckvorlage ist nicht erhalten. Die dritte Ausgabe wird im Meßkatalog als zur Michaelismesse 1821 erschienen gemeldetn, doch widerstreitet dieser Termin dem Dato Vgl. Meding: Bibliographie, 11 Vgl. Meding: Bibliographie,

Nr. 1806/6 Nr. 1821/5

χ

Einleitung

des

Bandherausgebers

tum der Zueignung. Die Hauptbücher des Verlages Georg Reimer, vormals Realschulbuchhandlung Berlin, die ab 1809 erhalten sind, geben eine präzise Zeitangabe für die Auslieferung der ersten Exemplare. Demnach erhielt Schleiermacher von der dritten Auflage der „Reden" erstmals am 16. Dezember 1821 zwei Exemplare und letztmalig ein Exemplar am 3. Juli 1829.12 Die vierte Auflage der „Reden" erschien mit der Jahresangabe 1831, erneut im Berliner Verlag G. Reimer. Auf dem Titelblatt fehlt immer noch Schleiermachers Autorenname, der wiederum unter der ersten Dedikation an Brinckmann und unter der Vorrede steht. Wie schon in der dritten Auflage folgen in der vierten Auflage auf Titel- und Widmungsblatt die beiden Dedikationen an Karl Gustav von Brinckmann sowie die „Vorrede zur dritten Ausgabe". Das Inhaltsverzeichnis steht erneut am Ende des Vorspanns. Die vierte Auflage umfaßt im Oktavformat 14 Seiten römisch paginierten Vorspann sowie 322 arabisch paginierte Seiten Text und Erläuterungen. Titelblatt, Widmungsblatt und Inhaltsverzeichnis sind unpaginiert. Die vierte Auflage hat kein Druckfehlerverzeichnis. Der arabisch paginierte Textteil hat 16 Seiten starke Druckbogen, die durch arabische Ziffern von 1—20 gezählt sind. Haupttext und Erläuterungen sind wiederum in unterschiedlichen Schriftgraden gesetzt. Die Seiten des Haupttextes haben normalerweise 35 Zeilen, die der Erläuterungen 45 Zeilen von jeweils 9,3 cm Breite; die Seitenhöhe beträgt jeweils 15,5 cm. Eine handschriftliche Druckvorlage ist nicht erhalten. Die vierte Auflage ist im Meßkatalog für die Michaelismesse 1830 angekündigt und zur Ostermesse 1831 als erschienen verzeichnet,13 Nach Auskunft des Hauptbuchs Reimer erhielt Schleiermacher von der vierten Auflage 1831 schon am 29. November 1830 vier Exemplare. Die dritte und vierte Auflage der „Reden" sind hinsichtlich des Honorars nicht abgerechnet worden.

1. Schleiermachers Bearbeitung der „Reden" Das Schwergewicht der Bearbeitung liegt auf der zweiten Rede, in der dritten Ausgabe der zweiten Ausgabe steht der Religionsbegriff dritten Ausgabe der Kirchenbegriff. Die fünfte zweiten als auch in der dritten Ausgabe stärker 12

13

in der zweiten Ausgabe auf der vierten Rede: In im Vordergrund, in der Rede ist sowohl in der geändert.

Vgl. Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer. Im Anhang eine Liste der nichtliterarischen Rechnungsnotizen der Hauptbücher Reimer, Schleiermacher-Archiv 10, Berlin/New York 1993, Nr. 2542 Vgl. Meding: Bibliographie, Nr. 1831/11

Historische Einführung

XI

α) Zweite Auflage 1806: Schleiermachers bisher nur teilweise publizierter Briefwechsel mit seinem Verleger und Freund Georg Reimer14 enthält für die Zeit seiner Hallenser Professur viele Hinweise auf literarische Projekte, so auch auf die Bearbeitung der „Reden" und die Drucklegung der zweiten Auflage. Reimer teilte Schleiermacher am 29. Januar 1805 mit, daß er den Restbestand der „Reden" (168 Exemplare) und die Publikationsrechte vom Verleger der Erstausgabe gekauft habe.15 Schleiermacher zeigte sich im Februar 1805 über die Größe des Restbestandes verwundert: „Der Verlagsvorrath der Reden ist größer als ich dachte, da Unger die Auflage so sehr klein angegeben hat; mit dieser Arbeit wird es also noch ein Paar Jahre Zeit haben, was mir auch im Grunde bei dem Drang von Arbeiten recht lieb sein kann."16 Schleiermacher war allerdings an einer Neuauflage durchaus interessiert, wie seine Beschwerde darüber zeigt, daß die „Reden" im Buchhandel schwer erhältlich seien.17 Er sprach bereits im Spätsommer 1805 das Projekt einer Neuauflage an, zunächst aber ohne Resonanz beim Verleger.18 Doch am 15. März 1806 machte Reimer die Neuauflage der „Reden" plötzlich sehr dringend: „Ich will dir nemlich nur sagen, daß ich sogleich, oder wenigstens bei deiner Herkunft das Manuscript zu den 14

Im Schleiermacher-Nachlaß /= SN], der im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften verwahrt wird, sind Reimers Briefe an Schleiermacher unter der Nr. 358 und Schleiermachers Briefe an Reimer unter der Nr. 761/1 archiviert. Zitate aus diesen Briefen werden in Gestalt eines Lesetextes geboten. Herzlich danke ich meinen Berliner Kollegen Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, die mir eine Transkription dieser Briefe zur Verfügung stellten. 15 Vgl. Reimer: SN 358, Bl. 69v '« SN 761/1, Bl. 14r 17 Reimer widersprach dieser Beschwerde am 7. September 1805: „Du hast einmal vor einiger Zeit auch wegen der Reden angefragt, ob solche nicht auf dem gewöhnlichen Wege des Buchhandels zu beziehen seyen, und meinst die Schuld daß solches schwer zu erhalten wäre sei meinem Commissionair beizumessen; allein dieser ist schlechthin ausser aller Schuld; da er die Verschreibungen gewiß sofort und richtig besorgt; sie kann allein an den Commissionairs der Besteller liegen." (SN 358, Bl. 73v—74r) Reimer trat Schleiermachers Besorgnissen wegen des Bücherabsatzes und Kontostandes am 23. November 1805 beruhigend entgegen (vgl. SN 358, Bl. 79r—v). Schleiermachers Geldsorgen waren damals dauerhaft; über Jahre hatte er sich von seinem Freund Brinckmann Geld geliehen; diese Schulden übernahm Reimer im Januar 1806 (vgl. SN 761/1, Bl. 38v-39r). 18

Schleiermacher mahnte Reimer am 9. September 1805: „Wie es aber mit den projektirten neuen Auflagen der Predigten und Reden werden soll möchte ich gern bald erfahren. Ich rechne sicher darauf daß das Alles, wie es auch werde mündlich geschieht." (SN 761/1, Bl. 28v; vgl. Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen 1= Briefe] 4,117) Schleiermacher wiederholte dieses Thema am 8. Oktober 1805: „Was wir nun wegen des künftigen Jahres mündlich verabreden wollten wegen der Reden und Predigten p. hoffe ich schriftlich von Dir zu hören." (SN 761/1, Bl. 32r)

XII

Einleitung

des

Bandherausgebers

Reden erhalten muß; da ich zu meinem Schrecken vor einigen Tagen erfahre, daß fast kein einziges Exemplar mehr vorräthig sei; es muß beim Umziehen, oder wie sonst, ein Päckgen mit 50—60 Exemplaren verlorengegangen seyn; doch das thut auch nichts; nur macht es den ungesäumten und schnellen Abdruck erforderlich. Ueber die äussere Einrichtung, in wiefern sie bleiben, oder geändert werden soll, wollen wir hier noch sprechen; nur laß mich das Manuscript unfehlbar zu deinem Hierseyn haben."19 Schleiermacher wies dieses Ansinnen in seinem Antwortbrief vom 18. März 1806 als Zumutung zurück, weil er für die „Reden" eine größere Überarbeitung plante. „Bist Du ganz des Teufels lieber Freund, mir so etwas zuzumuthenf [...] daß ich in nicht einmal 14 Tagen [...] die Reden durchstudiren und durcharbeiten soll an denen ich gar nicht wenig zu ändern gedenke. Denn es muß manche Confusion klar gemacht und mancher Auswüchsling weggeschnitten werden, wenn sie eine gediegene Darstellung werden sollen welche einen zweiten Abdruk wirklich verdient. Indeß habe ich sie schon an die Tagesordnung gelegt und Morgen will ich den Anfang machen. Ganz kann ich sie Dir unmöglich fertig bringen, aber vielleicht kann ich sie in Berlin vollenden. Kurz ich will gern mein mögliches thun."20 Durch den plötzlichen Termindruck konnte Schleiermacher nicht mehr den Ratschlag und die Anregungen von Freunden einholen. Daß er nun auf wohlwollende und förderliche Hinweise verzichten mußte, empfand er als Mangel. So äußerte er sich am 24. März 1806 brieflich gegenüber Ehrenfried und Henriette von Willich: „Auch hat Reimer jezt ganz plözlich, weil der lezte Rest Exempl. unglüklicher Weise verloren gegangen, eine neue Auflage der Reden verlangt [...]. Wäre jenes nicht so plözlich gekommen, so hätte ich Dich und andre Freunde um Bemerkungen über einzelne Stellen gebeten. Die erste Rede habe ich eben durchgearbeitet und nur Eine Stelle bedeutend geändert, aber sehr viele kleine Aenderungen fallen mir unter die Hände, was doch das unangenehmste ist. In großen Aenderungen werde ich überhaupt sehr bedenklich sein, damit das Buch ja nichts von seinem Charakter verliere. Meinen Namen seze ich wieder nicht darauf; es kommt mir vor, als ob die Anonymität ordentlich zum Stil des Buches gehörte. Wer namentlich auftritt, kann so gar nicht reden"11. 19

20 21

Reimer: SN 358, Bl. 88r—v. Reimer hatte sich bereits auf Schleiermachers Brief vom 21. Februar 1806 die Stichworte „wegen Reden und Predigten" notiert (SN 761/1, Bl. 43v). SN 761/1, Bl. 45 r; vgl. Briefe 4,125 Briefe Friedrich Schleiermachers an Ehrenfried und Henriette von Willich geb. von Mühlenfels 1801 — 1806, Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin, Neue Folge 9, ed. H. Meisner, Berlin 1914, S. 156; vgl. Briefe 2,57

Historische

Einführung

XIII

Gegenüber Joachim Christian Gaß (1766—1831) äußerte Schleiermacher am 25. April 1806 sowohl seine inneren Bedenken als auch die äußeren Mühen, die ihm die Zweitauflage der „Reden" damals machten, „deren Drukk gleich nach der Messe anfangen soll. Könnte ich Ihnen nur recht klagen, wie wenig ich noch in diese Arbeit, die erste der Art in meinem Leben, hineinkommen kann. Fast hätte ich Lust sie gar nicht wieder drukken zu lassen. Es ist nun grade sieben Jahre her, daß sie geschrieben wurden, und es kommt mir vor, als ob sich seitdem soviel verändert hätte, daß die ganze Anlage des Buches jetzt nicht mehr paßt. Soll es aber dasselbe bleiben, 50 muß es auch durchaus den Charakter behalten, für jene Zeit gemacht zu sein; und da ich diese nicht mehr vor mir habe: so habe ich auch keinen sichern Takt darüber, was stehen bleiben und was geändert werden soll. Wäre das Buch immer nur für jene Zeit gut und vollkommen gewesen: so würde ich nichts ändern als Einzelheiten, die, wenn auch in noch so großer Anzahl, nur Kleinigkeiten sind. Allein das kann ich leider nicht rühmen, sondern ich fühle sehr bestimmt, daß nicht nur unnüze Schwierigkeiten genug darin sind, sondern auch nicht wenig verschuldete Veranlassungen zu Mißverständnissen. Wie ich diese zu heben habe, ist mir im Ganzen ziemlich klar; wie ich aber dabei den ursprünglichen Ton des Buches immer bewahren und mich auch hüten soll, wenn ich einmal ins Umarbeiten hineinkomme, doch nicht mehr als nöthig und heilsam ist zu verändern, darüber habe ich noch gar keine feste Zuversicht. Mit der ersten Rede bin ich fertig, da ist es noch angegangen. Von der zweiten aber muß die erste Hälfte bedeutend umgearbeitet werden, und ich fürchte, es wird mit der dritten nicht besser gehen. Nur die beiden lezten hoffe ich, sollen mir weniger Arbeit machen. Wenn ich Sie jezt hier hätte, lieber Freund, um das Buch mit Ihnen durchzugehen und Ihnen die Verbesserungen mitzutheilen, das wäre mir viel werth. Theilen Sie mir wenigstens recht bald Ihre desideria mit, so viel Ihnen davon gegenwärtig ist."22 In seiner Antwort vom 2. Mai 1806 formulierte Gaß seine Wünsche für die Bearbeitung knapp. „Ueber Ihre neuen Arbeiten freue ich mich gar sehr und sehe der neuen Ausgabe der Reden mit sehnlichem Verlangen entgegen. Etwas besonders über einzelne Stellen kann ich Ihnen nicht sagen, es würde dieß auch nur die erste Rede betroffen haben, mit der Sie schon fertig sind. Nur den Wunsch kann ich nicht unterdrükken, daß die hohe Begeisterung, mit der diese Reden ursprünglich geschrieben sind, bei dieser Bearbeitung nicht verlorengehen möge. Sie gehört zum Gegenstande selbst wie zur Form des Ganzen und hat gewiß zunächst am Meisten auf die Gemüther gewirkt."23

22 23

Briefwechsel mit }. Chr. Gaß, ed. W. Gaß, Berlin 1852, S. 44f Gaß: SN 287/1, Bl. 26v (bis „Bearbeitung", Fortsetzung fehlt); Briefwechsel mit Gaß 48. Im Brief vom 7. Juni 1807 teilte Gaß unter dem 30. Juni 1807 Schleiermacher kurz

XIV

Einleitung

des

Bandherausgebers

Schleiermacher begann seine Überarbeitung der „Reden" am 19. März 1806. Er erstellte sein Manuskript wohl hauptsächlich aus korrigierten Druckbogen der Erstausgabe,24 Er gab im Mai 1806 bei einem persönlichen Treffen in Leipzig Reimer einen ersten Teil des Manuskripts. Wohl noch im Mai begann bereits die Drucklegung in Berlin, die so ablief, daß Reimer selbst die Druckfahnen korrigierte und die dann hergestellten Aushängebogen zur Korrektur nach Halle an Schleiermacher schickte. Den Wettlauf mit dem Drucker verlor Schleiermacher zunächst. Reimer forderte am 4. Juni 1806 die Fortsetzung an, weil der Buchdrucker die vorliegende Portion bereits gesetzt habe, schlug aber zugleich vor, zunächst einen Manuskriptvorrat zu bilden, damit es nicht immer wieder zu Stockungen käme.15 Mit der Übersendung der ersten beiden Aushängebogen26 verband Reimer am 28. Juni eine dringende Mahnung: „Daß Du mit der Revision der Reden noch so wenig vorgeschritten bist, war mir doppelt unlieb zu hören; doch weniger wegen der Reden, so sehr ich mich auch auf ihre Erscheinung freue, als wegen des Plato-Bandes, wegen dessen Heraus-

24 25

26

seine Eindrücke hinsichtlich der Neuausgabe der „Reden" mit. „Ueber die neue Ausgabe der Reden bin ich Ihnen auch noch schuldig zu sagen, wie sie für mich gar sehr an Klarheit gewonnen haben und ganz besonders gilt dieß von der zweiten, deren größere Hälfte als ganz neu ausgearbeitet gelten darf. Es bleibt mir dabei nichts zu wünschen übrig." (SN 287/1, Bl. 45r; vgl. Briefwechsel mit Gaß 71) Am 20. Februar 1811 berichtete Gaß: „Daß ich Ihrer in Gnadenfrei gedacht habe, war unvermeidlich, da ich überall gefragt ward und daß ich dabei mit aller Wärme und Liebe für Sie sprach, war auch wohl natürlich und Sie werden mir dies auch nicht übel deuten wollen. Glauben Sie nicht, daß die Leute — ich meine die Geistlichen — so weit zurükk sind, daß Sie völlig von ihnen mißverstanden werden könnten. Der alte Bischof [Dober?J hat Ihre Reden gelesen nach der ersten Ausgabe; warum sollte ich ihm nicht die zweite empfelen, die ihm gewiß mehr zusagen wird." (SN 287/1, Bl. 64r; vgl. Briefwechsel mit Gaß 89) Vgi. SN 761/1, Bl. 57r Vgl. Reimer: „Das Manuscript zu den Reden, was Du mir mitgabst ist bereits abgesetzt, und nun quält mich der Buchdrucker; allein ich bitte Dich dennoch nicht eher Manuscript zu schicken, als bis Du so viel vorgearbeitet hast, daß Du sicher bist nachher mit dem Buchdrucker gleichen Schritt zu halten, denn sonst giebts neuen Aufenthalt, und der Druck wird weniger gefördert als vielleicht beym spätem Wiederanfang, da nicht jederzeit ein neuer Setzer eintreten kann." (SN 358, Bl. 93v) Schleiermacher antwortete darauf im Juni 1806: „Mit den Reden, lieber Freund, mußt Du den Buchdrukker schon noch vertrösten, lndeß sobald ich die zweite Rede fertig habe schikke ich Dir wenigstens das Manuscript magst Du es dann gleich weiter absezen lassen oder nicht." (SN 761/1, Bl. 48r) Vgl. Reimer: „Hiebet, lieber Freund, erhälst Du [...] die beiden fertigen Aushängebogen der Reden. Den ersten davon wirst Du doppelt finden, und daraus ersehen, nach Vergleichung beider, daß meine Nichtachtung Deiner Orthographie mich genöthigt hat den ersten Bogen umdrucken zu lassen, da ich mich nicht entschließen konnte, das Buch so auszugeben, selbst wenn ich auch nicht hätte annehmen dürfen, daß Du mich zum Umdruck des Bogens würdest genötigt haben." (SN 358, Bl. 95r)

Historische

XV

Einführung

kommen vor dem Schluß des Jahres nun meine Hofnung sehr schwankend wird"27. Schleiermacher wehrte dieses Drängen am 6. Juli 1806 deutlich ab: „Die Reden nehmen mir fast alle Zeit weg, die ich von meinen Collegien ersparen kann. Wenn ich nicht bedeutende Veränderungen darin zu machen hätte würde ich eine zweite Auflage gar nicht gewünscht haben. Ein großer Theil der zweiten Rede wird ganz umgearbeitet, und Du kannst leicht denken daß das mehr Zeit und Mühe erfodert als noch einmal so viel Bogen neu zu schreiben. Wenn ich irgend Ruhe genug habe sollst du die 2te Rede in Acht Tagen bekommen. Mit der dritten weiß ich noch nicht recht wie es steht: an den lezten beiden aber soll weniger Arbeit sein. Ich kann aber doch nicht darauf rechnen eher als in der Mitte August fertig zu werden."28 Diese Terminplanung hat Schleiermacher ziemlich genau eingehalten. Die gründliche Umarbeitung der zweiten Rede nahm den Juni und Juli in Anspruch.19 Ab Ende Juli lieferte Schleiermacher portionsweise sein Manuskript nach Berlin.30 Diesen erneuten Wettlauf mit dem Setzer konnte Schleiermacher siegreich beenden.31 Die Zueignung der „Reden" an seinen Freund Brinckmann schickte Schleiermacher als letzten Manuskriptteil am 29. August 1806 nach Berlin.32 Im August mußte Schleiermacher gleichzeitig auch noch den Druck der zweiten Ausgabe seiner „Predigten", der in Dessau erfolgte33, überwachen. Dieses Ineinander verschiedener Arbeitsgänge und zweier literarischer Projekte brachte für ihn große Belastungen. Überhaupt ging die Drucklegung nicht reibungslos vonstatten. Es gab viele Druckfehler, und Schleiermachers eigenwillige Orthographie machte Mühe. Er bat Reimer am 6. Juli: „Leider sehe ich noch hie und da ein tz und ck; ich bitte Dich 27

Keimer:

28

SN 761/1, Bl. 49v

SN 358, Bl. 95r

29

Die Umarbeitung der zweiten Rede machte Schleiermacher größere Mühe; so schrieb er an Gaß im Sommer 1806: „auch bei den Reden über die Religion sitze ich noch immer an der zweiten fest." (Briefwechsel mit Gaß 51)

30

Am 26. Juli nahm Schleiermacher mit der nicht ganz vollständigen zweiten Rede seine Manuskriptlieferungen an Reimer wieder auf (vgl. SN 761/1, Bl. 53r, auch 51r). Reimer bestätigte am 30. Juli den Erhalt des Manuskripts (vgl. SN 358, Bl. lOOr).

31

In einem undatierten Brief von Mitte August schrieb Schleiermacher an Reimer: „Dein lezter Brief, lieber Freund hat mir fast bange gemacht daß der Sezer der Reden mich könnte eingeholt haben. Hier hast du nun Alles bis auf den Zusaz und die Vorrede welche lezte ich wahrscheinlich in eine Zueignung einkleiden werde. Diese Kleinigkeit folgt gewiß mit der nächsten Post." (SN 761/1, Bl. 56r) Im undatierten Brief, der den „Zusaz" enthielt, stellte er die „Zueignung" mit der nächsten Post in Aussicht (vgl. SN 761/1, Bl. 61r). Am 30. August berichtete Reimer, daß er eben den „Zusaz" erhalten habe (vgl. SN 358, Bl. 108r).

32

„Hier die Zueignung. (SN 761/1, Bl. 58r)

33

Vgl. SN 358, Bl.

lOlr

Auf dem

Titel

kommt

nun nichts hinzu

als Zweite

Ausgabe."

XVI

Einleitung

des

Bandherausgebers

wenn ich dergleichen stehen lasse es doch ja zu streichen,"34 Reimer ließ wegen Schleiermachers Schreibweise den ersten Bogen umdrucken.35 Insgesamt ging die Drucklegung im August so rasch voran, daß sich die Briefe und Sendungen häufig kreuzten. Am 12. August schickte Reimer fünf Aushängebogen nach Halle, „unter denen der umgedruckte Bogen Α befindlich", und erhielt gleichzeitig den Bogen Η „zur Correctur"36. Am 16. August bestätigte Schleiermacher den Eingang dieser Sendung, so daß er nun die Bogen bis Ε in Händen habe. „Fünf Aushängebogen habe ich erhalten allein nicht nur der Bogen A war darunter sondern auch noch einmal Β so daß der Bogen Ε mein lezter ist. Was ich bis jezt in Händen habe macht mir Freude und ich bin mit der Umarbeitung ziemlich zufrieden, so zerstükkelt und zerstreut ich auch daran arbeiten mußte."37 Reimer erwartete am 17. August bereits den Bogen L aus der Setzerei. „Die Aushängebogen hast Du hoffentlich richtig erhalten; der Druck ist aber schon viel weiter vorgeschritten, und ich erhalte heute noch wohl den L. Bogen, allein es thut auch Noth um fertig zu werden vor der Reise."38 Am 23. August berichtete Reimer nach Halle: „Der Druck der Reden geht rasch vorwärts, so daß ich gestern doch schon den 13ten Bogen zur Correktur gehabt habe. Ich will Dir hiebet doch bemerken, daß ich auf ein paar Stellen gestoßen bin, wo mir die Construction fremd und mithin der Sinn dunkel blieb. Ich habe sie nicht angezeichnet, aber bei nochmaligem Lesen werde ich schon wieder darauf stoßen. Ich fürchte fast daß an diesen Stellen entweder Einschaltungen mangelten, oder auch nach der Einschaltung Stellen des älteren Druks zu durchstreichen vergessen worden. Auf mehrere Stellen nemlich bin ich auch gestoßen, wo ein solches Uebersehen ganz klar war, und wo ich denn auch die nöthigen Aenderungen traf. Ich wünsche Du mögest meine Besorgniß ungegründet finden. Bald sollst Du auch wieder mehrere Aushängebogen erhalten."39 Am 26. August schickte Reimer die sieben Aushängebogen F bis M.40 Schleiermacher schaffte nicht immer gleich deren Durchsicht,41 Die letzten Aushängebogen schickte Reimer wohl am 8. September.42

34 35 36 37 38 39 40 41 42

SN 761/1, Bl. 49v-S0r Vgl. Reimer: SN 358, Bl. 95r und lOlr Reimer: SN 358, Bl. lOlr SN 761/1, Bl. 57r Reimer: SN 358, Bl. 103r Reimer: SN 358, Bl. 105r Vgl. Reimer: SN 358, Bl. 107r Vgl. SN 761/1, Bl. 62r Vgl. Reimer: „Du erhälst hiebei noch Aushängebogen. Mir gebricht es an Zeit hier noch alles davon durchzusehen, und Du kannst, wenn nicht früher doch wenigstens auf der Reise daran gehen. Was nun noch rückständig ist will ich hier revidiren, oder

Historische Einführung

XVII

Das Aufspüren und Beheben der Druckfehler erwies sich teilweise als schwierig. Vermutlich gegen Ende August hatte Schleiermacher eine Reihe von Druckfehlern aufgelistet.43 In einem weiteren nicht datierten Brief von Ende August oder Anfang September monierte Schleiermacher einige gesperrte Wörter; außerdem fiel ihm der Druckfehler „Verhüllung" statt „Vorstellung" auf.44 Über die große Zahl von Druckfehlern zeigte sich Reimer in seiner Antwort vom 3. September erschrocken: „Aber wie bin ich erschrocken vor der großen Reihe der Druckfehler! und noch ist der nicht einmal darunter dessen Du in Deinem vorigen Briefe gedachtest, nemlich Verhüllung statt Vorstellung und das Verzeichniß geht nur bis Bogen G! Und doch habe ich jeden Bogen mit Metger, Jösting oder Heinrich gelesen, und manchen mit einem von diesen zweimal. Ich weiß wohl, daß ich mitunter nicht aufmerksam genug in Festhaltung des Sinns bin; allein daß es mehreren zugleich so ergangen ist, ist doch arg; und sogar bedeutende Fehler gibt es darunter."45 Reimers Verdacht, ein oder zwei Stellen seien nicht korrekt46, bestätigte Schleiermacher am 3. September: „Zwei Stellen habe ich gefunden die auch mir verdächtig sind. Die eine ist in den Perioden von Seite 142 Zeile 23 bis Seite 143 Zeile 2. Nothdürftig läßt sich der Fehler wieder gut machen, wenn man Zeile 26 nach dem ,wir' einrükt ,weil'. Doch vielleicht findest Du in dem Manuscript das richtigere: es ist in der alten Ausgabe Seite 101. — Die andere ist Seite 175 Zeile 18 hier müssen mehrere Worte fehlen. Ich weiß nicht kürzer zu helfen als wenn man lieset: ,also weit entfernt daß sie jezt schon von ihr los sein sollten, wollen sie nicht einmal die einzige Gelegenheit ergreifen, die ihnen p. In der alten Ausgabe Seite 131. Findest Du für leztere im Manuscript keine leichtere Heilung so müßte wol ein Carton gemacht werden. Die übrigen anzuzeigenden Drukfehler die ich mir bemerkt habe sind diese"47. Am 10. September schickte Reimer die beiden Blätter mit den unsicheren Stellen zur Korrektur an Schleiermacher zurück, damit möglicherweise Kartons gedruckt werden könnten.4* In seinem Antwortbrief lieber gleich so sorgfältig corrigiren, daß ich die Revision erspare." (SN 358, Bl. lllr-v) « Vgl. SN 761/1, Bl. 60r 44 Vgl. SN 761/1, Bl. 69r 45 Reimer: SN 358, Bl. 110r 46 Vgl. Reimer: SN 358, Bl. 108r 47 SN 761/1, Bl. 62r. Es folgt noch eine Liste mit acht Druckfehlern, von denen zwei noch im Drucktext korrigiert, während die anderen sechs ins Druckfehlerverzeichnis aufgenommen wurden. Zu den beiden ausführlichen Korrekturanweisungen vgl. unten 104,35-37 und 127,7f. 48 Vgl. Reimer: „Ich halte es doch für Besser, lieber Freund, Dir die beiden Blätter zu übersenden, welche die unsichern Stellen enthalten. Es sind die nemlichen, welche mir aufgefallen waren, und ich war im Begrif Dir eine von beiden durch ein ,weil' oder

XVIII

Einleitung

des

Bandherausgebers

vom 12. September traf Schleiermacher für diese beiden Stellen die endgültigen Regelungen.49 Dann war der Druck abgeschlossen. Die zweite Ausgabe der „Reden" erschien zur Michaelismesse 1806 unmittelbar vor Ausbruch des für Preußen so katastrophalen Krieges gegen Napoleon. Am 15. September 1806 berichtete Schleiermacher an Ehrenfried von Willich: „Die Reden sind nun fertig, und Du wirst sie wahrscheinlich in einigen Wochen bekommen können. Sehr verlangt mich, zu erfahren, wie Du sie nun finden wirst, nach meiner Ueberzeugung hat das Ganze sehr an Klarheit gewonnen und verhältnißmäßig nur wenig von dem Glänze des ersten Gusses verloren."50 Die Bearbeitung stellte Schleiermacher vor große Schwierigkeiten. In seiner Zueignung an Brinckmann spricht Schleiermacher die Überlegungen an, die ihn bei der zweiten Ausgabe leiteten. Die Erstfassung der „Reden" sei auf ihre Zeitlage so eigentümlich und unaufgebbar bezogen, daß ein historisierendes Bewahren erforderlich sei. Die Situationsgebundenheit habe nicht verwischt werden können, „ohne das Ganze so völlig umzubilden, daß es wirklich ein anderes geworden wäre. Daher habe ich mir in dieser Hinsicht nichts erlaubt als Einzelheiten zu ändern, welche allzuleicht bei denen welche an die Sprache des heutigen Tages gewöhnt sind, und die das gestrige nicht kennen, Mißverständnisse verursachen konnten"51. Während Schleiermacher hier nur Einzelkorrekturen einräumt, beansprucht er aber wenig später, daß er für die Verbesserung der Stilreinheit und der Darstellungsklarheit „nicht ganz geringe Anstalten getroffen habe"52. Daß Schleiermacher gegen alle Bedenken, die wegen des erfolgten Kulturwandels und der damit verbundenen Distanzempfindungen berechtigt seien, überhaupt einer Neuauflage zustimmte, legitimiert er mit dem Hinweis, daß der Autor mit der Publikation seine

49

50 51 52

,da' zu verbessern, allein die Stelle schien mir auch dadurch noch immer nicht ganz in Ordnung und die Periode sehr unrein und gebrochen; eine andere Emendation wollte ich aber nicht wagen. Richte Du es nun selbst ein [...]. Wegen der andern Stelle schlage ich folgende Aenderung vor ,also weit entfernt, daß sie sollten die einzige Gelegenheit ergreifen wollen, die ihnen ... kommen, sind sie vielmehr, wie sie solche mitnehmen werden' pp. und so hast Du es auch vielleicht gemeint, indem bloß vergessen worden das ,nicht einmal' zu durchstreichen." (SN 358, Bl. 113r) Vgl. dazu: „Was die erste Stelle betrifft Seite 142 und 143 der neuen Ausgabe so ist mir nun kein Zweifel mehr daß die wahre Verbesserung die ist Seite 143 oben die lezten Worte ,die einzelnen Menschen' zu löschen denn diese sind überflüssig gemacht durch die in dem Zusaz noch übergeschriebenen Worte ,und im Einzelnen'. [...] Mit der zweiten Stelle hast Du vollkommen recht nur daß ich nicht allein vergessen das ,nicht einmal' auszustreichen [...] sondern auch das ,sie sind' umzustellen" (SN 761/1, Bl. 63r) Briefe an Ehrenfried und Henriette von Willich 166; vgl. Briefe 2,67 Unten 6,7-11 Unten 7,4

Historische Einführung

XIX

literarischen Besitzrechte an das Publikum übertragen habe.53 In seinem „Zusaz"54 geht Schleiermacher auch auf den erfolgten Kulturwandel und die neuen Entwicklungen ein. Schleiermacher sah sich mit der doppelten Anforderung konfrontiert, die Zeitgebundenheit der Erstausgabe zu erhalten und zugleich konzeptionelle Korrekturen anzubringen. Die Interessenüberlagerung, historisierend die Erstausgabe zu bewahren und zugleich gedankliche und darstellerische Mängel zu korrigieren, führte zu einer Überarbeitung, deren Charakter nicht leicht erkennbar ist. Die größten Änderungen hat Schleiermacher in der zweiten Rede vorgenommen. a) Aufbau: Schleiermacher hat die zweite Rede teilweise neu gegliedert. Die Grobgliederung in drei große Blöcke (Einleitung, Wesensbestimmung, Anwendung) ist beibehalten. Die einleitende methodische Überlegung zur reinen Wesensschau55 ist in der Zweitausgabe nur wenig verändert. Auch die beschließende Anwendung56, die die vollzogene Wesensbestimmung gegenüber traditionellen Bestimmungen von Religion dadurch bewährt, daß dogmatische Aussagen zu Wunder, Eingebung, Offenbarung, Gnadenwirkung und Heiliger Schrift erörtert57 und Verstehenshinweise zu Gott5S und zur Unsterblichkeit59 gegeben werden, ist bei identischem Aufbau nur in Einzelheiten anders gefaßt. Der Hauptteil zur Wesensbestimmung der Religion ist dagegen mehrfach stark geändert. In der Erstausgabe beginnt Schleiermacher negativ mit der Unterscheidung der Religion von Metaphysik und Moral60 und entfaltet die affirmative Wesensbestimmung der Religion61 mittels der Leitbegriffe Anschauung und Gefühl. Zunächst nutzt Schleiermacher diese Leitbegriffe, um nach der programmatischen Definition62 „das all63 gemeine Bild der Religion" zu zeichnen als Anschauen des Universums64 und als Fühlen des Universums65. Sodann stellt Schleiermacher in einem zweiten Gang66 genauer „das Einzelne dieser Anschauungen Vgl. unten 5 , 2 6 - 6 , 2 Vgl. unten 313,1-318,11, besonders 55 Vgl. KGA 1/2, 206,3-207,35 56 Vgl. KGA 1/2, 239,29-247,11 57 Vgl. KGA 1/2, 239,29-242,35 58 Vgl. KGA 1/2, 242,36-246,8 59 Vgl. KGA 1/2, 246,9-247,11 5» Vgl. F. Schlegel: Ideen, in: Athenaeum 3, 4-33; ΚΑ 2, 256-272 "0 Vgl. F. Schlegel: Ideen Nr. 8. 112. 125. 150; KA 2, 257. 267. 269. 271. Vgl. dazu auch KGA 1/2, LXIXf.

154 155

XXXVIII

Einleitung des Bandherausgebers

Das Projekt der Zweitausgabe war Brinckmann vertraut.161 Vermutlich bei Schleiermachers Besuch in Berlin im Frühjahr 1806 hatten beide über dieses literarische Unternehmen und seine schwierigen Erfordernisse gesprochen. Doch war die Zueignung der Zweitausgabe an Brinckmann „unangekündigt und wol unerwartet"162. So fragte Brinckmann brieflich am 15. Oktober 1806 noch ahnungslos bei Schleiermacher an: „Ist derin die neue Ausgabe der Reden schon heraus, und hast Du hellenistisch dabei an mich gedacht?"163 Brinckmann wünschte sich ein besonders schönes Druckexemplar auf Velin. Die Freundschaftsgabe wollte Schleiermacher ihm durch Ehrenfried von Willich zustellen lassen. Doch die Kriegswirren im Herbst 1806 hemmten die Verbindung.164 So wies Schleiermacher erst am 22. Dezember 1806 Brinckmann auf die Zueignung hin: „Daß ich bei der zweiten Auflage der Reden nicht nur velinistisch sondern auch noch auf andere Weise ganz frech Deiner gedacht habe, wirst Du doch nun hoffentlich wissen. Wenn ich die Recension Deiner Ansichten gelesen gehabt hätte, als ich die Zueignung schrieb: so hätte ich gewiß mit ein paar Worten auf das schöne Mißverständniß gedeutet."165 Die „Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung" hatte im Mai 1806 eine polemische Rezension der Brinckmannschen Schrift „Filosofische Ansichten"166 veröffentlicht.167 Der Berliner Privatgelehrte und spätere Geschichtsprofessor Heinrich Luden (1780— 1847)168 bemängelte hier entschieden das Fragmentarische und Modische der Brinckmannschen „Ansichten". Gegen Ende desselben Briefes spricht Schleiermacher den Wunsch aus: „Dich bald ruhig irgendwo zu sehn, ist mir ein sehr lieber Wunsch, aber nur unter den in der Zueignung festgesezten Bedingungen."169 In seinem Brief vom 16. September 1807 bedankte sich Brinckmann für die Übersendung der „Reden" bei Schleiermacher. „In einem Augenblick, wo alle schriftliche Mittheilung zwischen uns unmöglich geworI«1 Vgl. unten 6,20f i" Unten 5,1 163 Brinckmann: Briefe an Schleiermacher 75 164 Im Dezember 1806 schrieb Schleiermacher an Ehrenfried von Willich: „Auch weiß ich noch immer nicht, ob das Dedications Exemplar von den Reden über die Religion für Brinkmann, welches Reimer Dir zur Besorgung zuschikte, angekommen ist, und ob Du es an ihn hast befördern können." (Briefe an Ehrenfried und Henriette von Willich 173) Briefe 4,129 '66 Brinckmann: Filosofische Ansichten, Bd. 1 [einziger], Berlin 1806 167 Vgl. JALZ, Jg. 3, Jena/Leipzig 1806, Bd. 2, Nr. 125 vom 27. Mai 1806, Sp. 385-390 168 Ygi κατι Bulling: Die Rezensenten der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens 1804—1813, Claves Jenenses 11, Weimar 1962, S. 122. 377 169 Briefe 4,130; vgl. den Schluß der Zueignung, unten 7,19—22

Historische Einführung

XXXIX

den, überraschte mich auf eine recht wohlthätige Weise die neue Bearbeitung Deiner Reden, mit der schönen Zueignung an Deinen verlassenen Freund. Auch ohne meinen Dank dafür zu erhalten, wirst Du überzeugt gewesen sein von der innigen und aufrichtigen Freude, welche mir dies ehrenvolle Denkmal unsrer brüderlichen Vertraulichkeit nothwendig gewähren mußte."170 Am 23. Januar 1808 äußerte Brinckmann sein Mißfallen über die kürzlich veröffentlichte Beurteilung „der Reden, wo gewiß Mißverständniß obwaltet. Ich habe diese sehr aufmerksam gelesen, aber mit keinem reinen Genuß; denn alle Augenblicke hätte ich den Verf[asser] festhalten mögen, um ihm Vordersätze abzustreiten, auf die er ganz sorglos weiter bauet."171 Brinckmann hat hier die „Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung" im Sinn, die im Juni 1807 eine von de Wette verfaßte Rezension der „Reden" publizierte.171 Nachdem Brinckmann im Mai 1808 Preußen verlassen hatte173, 174 wurde der Briefkontakt spärlicher und brach 1812 ab. Erst im August bzw. November 1818 wurde die Verbindung aus Schweden von Brinckmanns Seite erneuert.175 In seinem Anwortbrief vom 31. Dezember 1818 verknüpfte Schleiermacher die „Reden" mit der im Entstehen begriffenen Glaubenslehre. „Eine Dogmatik, die ich mich endlich überwunden habe zu schreiben, weil ich glaube daß es Noth thut, über deren Ausarbeitung aber das künftige Jahr leicht noch hingehen möchte, wird Dir zeigen, daß ich seit den Reden über die Religion noch ganz derselbe bin, und in diesen hast Du ja doch auch den Alten wieder erkannt. Dasselbe geistige Verständniß des Christenthums in derselben Eintracht mit der Speculation und eben so von aller Unterwerfung unter den Buchstaben befreit soll hier, aber in der strengsten Schulgerechtigkeit, auftreten."176 Am 19. Februar 1822 schickte Schleiermacher die dritte Auflage der „Reden" an Brinckmann. In seinem Begleitbrief wertete Schleiermacher diese Neuauflage seines Jugendwerkes als doppelten Identitätshinweis; „daß ich es noch einmal habe durchsehn und ausgeben wollen wird zeigen, daß ich mehr derselbe geblieben bin als die Menschen glauben wollen; und daß die Welt es noch lesen will, beweist doch, daß sie sich

Brinckmann: Briefe an Schleiermacher 77 Brinckmann: Briefe an Schleiermacher 82 172 Vgl. unten bei Anm. 185 173 yg/ Hilma Borelius: Art. „Brinkman, Carl Gustaf von", in: Svenskt Biografiskt Lexikon, Bd. 6, Stockholm 1926, S. 283-292, hier 284 174 Vgl. Andreas Arndt/Wolfgang Virmond: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Schleiermacher-Archiv 11, Berlin/New York 1992, S. 107f 175 Vgl. Brinckmann: Briefe an Schleiermacher 91 — 94 176 Briefe 4,241 170 171

XL

Einleitung

des

Bandherausgebers

auch nicht so sehr geändert hat, als mir selbst vorkommen will."177 Diese Briefstelle kann als Einschränkung der „Vorrede zur dritten Auflage" verstanden werden, wo Schleiermacher den Wandel der geistigen und religiösen Situation durchaus hervorhebt.17* Wie in den „Reden" selbst, so stellte Schleiermacher auch in diesem Brief die enge Verbindung zur Glaubenslehre her: „Ich wollte meine Dogmatik wäre auch fertig: Du hättest dann zusammen was sich gegenseitig ergänzt und könntest mir sagen, wie sich der oft grell genug hervortretende scheinbare Widerspruch, der für die Meisten doch nicht hinreichend gehoben sein wird, und die innerste Einheit, welche nur Wenige, die mich genauer kennen, heraus finden können, gegen einander stellen, und Dir zusammenklingen. [...] Die Anmerkungen, mit denen ich die Reden ausgestattet, wirst Du freilich von sehr verschiedenem Inhalt und Gehalt finden. So speculativ auch einige sind und so practisch andere, so haben sie doch alle ihre Beziehung auf den Text und ihre Veranlassung in der Zeit; und ich konnte mir es nicht versagen bei dargebotener Gelegenheit über die Art, wie bei uns die kirchlichen Angelegenheiten behandelt werden, einige Winke zu geben."179 In seinem Antwortbrief vom 16. Oktober 1822, den er allerdings nicht abschickte, drückte Brinckmann seine Freude darüber aus, „daß uns der Sinn für das Heilige, mitten unter babylonischer Gedankenverwirrung des neumodischen Mittelalters, so treu geblieben ist. Ich bin recht stolz auf die Zueignung dieser merkwürdigen Schrift" 18°. Über die Aufnahme der dritten Auflage liegen noch private Äußerungen von Joachim Christian Gaß vor, der am 28. Mai 1821 Schleiermacher außer um ein Exemplar der gerade im Druck befindlichen „Glaubenslehre" ebenfalls um eines „von den Reden, die auch neu erscheinen"181, bat. Am 5. Februar 1822 meldete Schleiermacher: „Die Reden sind fertig"182. Nach Erhalt der „Reden" äußerte sich Gaß am 21. Juni 1822 sehr lobend über diese dritte Auflage. „Das Buch hat in aller Absicht sehr gewonnen und kommt sehr gelegen mit Deiner Glaubenslehre zugleich. Was mich aber am meisten angezogen hat, da ich mit dem Inhalt der Reden selbst längst vertraut war, ist die neue Ausstattung mit den Erläuterungen, die einen wahren Schatz von herrlichen Mittheilungen enthalten und wodurch das Buch gewiß auch denen näher kommen wird, die sich noch immer dagegen gesträubt haben. Für Deine freimüthigen Aeußerungen über die heillose Verwirrung, worin man unsre

'177 178 179 180 181 182

Briefe 4,288 Vgl. unten 10,11-18 Briefe 4,288 Briefe 4,290 Gaß: SN 287/1, Bl. I51v; vgl. Briefwechsel mit Gaß 190 SN 750, Bl. 15v; vgl. Briefe 4,287

Historische

Einführung

XLI

kirchlichen Angelegenheiten nicht nur fortbestehen läßt, sondern immer weiter hinneinzieht, muß Dir ein jeder Freund des Guten, auch das ganze protestantische Deutschland danken. Ich will nur wünschen, daß sie die Aussöhnung, wovon Du mir schreibst nicht stören mögen. Es ist mir aber bei manchen Stellen ganz bange geworden, denn es zeigt sich immer mehr, in welchem engen Bunde die moderne Frömmigkeit mit dem engherzigen Aristokratismus steht und wie jene von diesem gebraucht wird als Erschlaffungsprinzip und um die intellektuelle und sittliche Kraft von ihrem rechten Punkt abzuleiten. Gesagt muß indeß so etwas mal werden und wo nur eine Stimme sich hören läßt, werden auch andre nicht fehlen, denn ich hoffe doch, wir werden den Punkt bald erreicht haben, von welchem nur Umkehr möglich ist. Die angebliche Umtreiberei ist doch nur die spanische Wand, hinter welcher sich eine ganz andre verstekkt; ich denke aber diese Wand wird sich noch leichter umblasen laßen, als die Mauern von Jericho. — Die nachlässige Correktur des Drukks Deiner Reden und das schlechte Papier — viel schlechter als bei der zweiten Auflage — habe ich doch unserem Freunde Reimer in der Anzeige nicht ganz können hingehn laßen. Alle Welt klagt über das graue Papier seiner Verlagssachen und über die theuern Preise"183. Gaß veröffentlichte eine Rezension der dritten Auflage in der Zeitschrift „Neue theologische Annalen".184 Die öffentliche Aufnahme der „Reden" ist vornehmlich durch einige Rezensionen dokumentiert. Die „Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung" publizierte am 5. und 6. Juni 1807 eine ausführliche Rezension, die der zweiten Auflage der „Reden" gewidmet und mit dem Kürzel „tt." gekennzeichnet ist.185 Der Autor der Rezension ist Wilhelm Martin Leberecht de Wette.186 Die Rezension, die Schleiermacher einmal namentlich nennt187 und außerdem einmal sehr direkt auf ihn als „Übersetzer des Piaton"188 anspielt, will keine umfassende Kritik der „Reden" liefern, sondern konzentriert sich vorrangig auf Schleiermachers Begriff der Religion. „In das Detail der Untersuchung (die Rede über die Bildung zur Religion, über Kirche und Priesterthum, über die Religionen) dem Vf. zu folgen, hält Ree. für überflüssig, da, wenn die Theorie im Allgemeinen beurtheilt ist, diese Entwickelungen im Einzelnen es zugleich mit

183 184 185 186 187 188

Gaß: SN 287/1, Bl. 154r-155r; vgl. Briefwechsel mit Gaß 191f Vgl. unten bei Anm. 247 Vgl. /ALZ, Jg. 4, Jena/Leipzig 1807, Bd. 2, Nr. 131-132 vom 5 . - 6 . Juni 1807, Sp. 433-448 Vgl. Bulling: Rezensenten 156. 378 Vgl. de Wette: JALZ 441 de Wette: JALZ 448

XLII

Einleitung des

Bandherausgebers

sind."189 So zieht er außer der zweiten Rede nur knapp die fünfte Rede heran. Der Aufbau der Rezension ist übersichtlich. Nach einer einleitenden allgemeinen lobenden Würdigung stellt de Wette den Schleiermach ersehen Religionsbegriff dar, wobei er zunächst dessen grundlegende allgemeine Züge190 und sodann dessen Einzelzüge191 schildert. Während de Wette zunächst seine eigenen Fragen und Einwände geklammert in die ausführlichen Zitate, für die er verschiedentlich die Nachweise versäumt, einschiebt, gewinnen bei den Einzelzügen seine kritischen Anfragen und Gegenvorstellungen ein solches Gewicht, daß er sie zumeist in größeren Blöcken den Zitaten und Berichten entgegensetzt. An den Schleiermacherschen Religionsbegriff schließt de Wette kontrastierend seinen eigenen Religionsbegriff an192; das Urteil zwischen beiden überantwortet er dem Leser. Nach einer Bemerkung zum Kirchentyp193 beurteilt de Wette abschließend die Veränderungen der zweiten gegenüber der ersten Auflage™. Die Rezension beginnt mit einer Lobeshymne: „Eine Schrift von so viel Originalität in jeder Hinsicht, in Gedanken und Darstellung bis auf den mit Freyheit selbstgebildeten Styl, von so genialer Anlage und kräftiger, geistreicher Ausführung, von dieser Wichtigkeit des Gegenstandes; eine Schrift, die so bedeutend und wirksam eintrat in die Reihe revolutionärer Erscheinungen im wissenschaftlichen Gebiet, gehaltvoller und reifer, aber anspruchsloser und weniger Aufsehen erregend, als so manche andere; die so viele Mißdeutungen erfuhr, und wohl hie und da mit partheyischem, jugendlich warmem Enthusiasmus, aber selten oder wohl gar nicht mit ächter verständiger Würdigung aufgenommen ward: eine solche Schrift verdient wohl bey ihrem unverhofften, erfreulichen zweyten Erscheinen, nachdem jene revolutionäre Gährung einem ruhigeren Zustande Platz gemacht hat, und die ihr und allen neuen Ansichten ehedem entgegentretenden feindlichen Kräfte wo nicht befreundet, doch besänftigt sind, mit einem ruhigen, gerechten Urtheil begrüßt zu werden, wenigstens mit einem solchen, das mit Achtung und unbefangenem Sinne gefällt wird."195 Das Eigentümliche des Schleiermacherschen Religionsbegriffs sieht de Wette in dessen negativ-polemischer Ausrichtung, die Religion von

189 150 191 192 193

194 195

de Wette: JALZ 445 Vgl. de Wette: JALZ 433-437 Vgl de Wette: JALZ 437-443 Vgl. de Wette: JALZ 443-445 Vgl. de Wette: JALZ 445f Vgl. de Wette: JALZ 446-448 de Wette: JALZ 433

Historische Einführung

XLIII

allen vermischenden lndienstnahmen durch andere Geistestätigkeiten zu befreien. Seine Darstellungen begleitet de Wette ausführlich mit eigenen kritischen Bemerkungen. Er macht auf Undeutlichkeiten des Schleiermacherschen Gefühlsbegriffs196 und auf Unstimmigkeiten der Zuordnung von Wissen, Handeln und Religion197 aufmerksam; de Wette bemängelt Schleiermachers amoralische Behandlung des Individuellen198 und seine zu geringe Beachtung der Kunst199; de Wette hält Natur und Menschheitsgeschichte als Phänomenbereiche der Religion für schwankend und zweideutig, ja die Verknüpfung von Religion und Geschichte für schädlich200; er kehrt Schleiermachers Zuordnung von Welt und Gott um, indem er das Weltbewußtsein auf das Gottesbewußtsein gründet201; de Wette führt die religiösen Erfahrungen der Ergebung an gegen die Zentralstellung der Kontemplation202; er beurteilt Schleiermachers Auffassung von Judentum und Christentum als unzureichend: „Wir sehen, daß des Vfs. Theorie nicht für die Erscheinungen der Religion in der Erfahrung ausreicht, sie faßt sie nur stückweise, nicht als volle organische Ganze: muß sie nicht einseitig und unvollständig seynf"20i Mit dieser Schlußfrage leitet de Wette zum eigenen Religionsbegriff über. Seinen eigenen Religionsbegriff formuliert de Wette durch Bezug auf den Gottesbegriff: Die Religion „ist der Glaube an Gott. Gott ist Alles, durch ihn und in ihm ist Alles, er ist der Mittelpunct, aus dem Alles ausgeht, und in den Alles zurückkehrt. Die Religion ist subjectiv das, was objectiv Gott ist; sie ist das All des Menschen, das, durch das und in dem Alles in ihm besteht, Anfangs- und End-Punct von Allem, das, worin Alles seine Einheit findet."204 Gegen Schleiermachers segmentarischen Religionsbegriff, der die Religion als eigenständige Geistesfunktion neben Handeln und Wissen stellt, vertritt de Wette die Auffas-

196

Vgl. de Wette: JALZ 436 Vgl. de Wette: JALZ 43Sf 198 Ygl de Wette: JALZ 438. Außerdem: „Diesen Weltvergötterungsversuchen des Vfs. ist es zuzuschreiben, wenn ihm das Einzelne sogar als nichts erscheint, wenn er mit Menschen spielt, wie mit Schatten, und Individualitäten, wie chemische Compositionen entstehen und sich wieder auflösen läßt." (442) 199 Vgl. de Wette: JALZ 435. 442. Die Kunst sei „nur negativ und andeutungsweise" (447) ins Verhältnis gezogen. 200 ygl de 'Wette: „Die Ausbeute der Religion aus der Anschauung der Natur und Geschichte ist {...] entweder keine, oder sehr schwankend und unsicher" (JALZ 441); vgl. außerdem 442. 201 Vgl. de Wette: JALZ 441, wo die Schleiermachersche Formel ,Ohne Welt kein Gott' (wörtlich: „keinen Gott [...] ohne Welt" Β 173; unten 124,41f) durch die Formel ,Ohne Gott keine Welt' kontrastiert wird. 202 Vgl. de Wette: JALZ 441f 203 de Wette: JALZ 443 2M de Wette: JALZ 443 197

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Einleitung

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Bandherausgebers

sung, daß die Religion über allen Gemüts- und Geistesfunktionen stehe. „Da die Religion das Ganze des Gemüths ist in seiner Totalität und Indifferenz: so kann in diesen ihren Erscheinungen im Besonderen auch jedes Besondere hervortreten, Wissenschaft, Moralität, Kunst, alle Thätigkeiten des Gemüths werden von ihr ergriffen und in Dienst genommen. Ein Besonderes wird zur Totalität, zur Welt erhoben."205 Die Erscheinung der Religion ist demnach jeweils individuell-positiv. „In diesen Erscheinungen ist die Religion eben so Gedanke, als Gefühl, eben so Foderung und Thätigkeit, als Anschauung und Ruhe; aber als ein Streben zur Totalität und Indifferenz wird sie sich im Glauben concentriren. Diese Erscheinungen müssen aber immer unvollkommene mißlungene Versuche seyn, da sie Gott in der Welt und im Besonderen suchen, wo er nie zu finden seyn wird, und immer Ein Besonderes zum Ganzen, zum Mittelpunct desselben, erheben; nur das darin offenbarte Streben ist wahr, nicht das Gefundene. Man kann daher diesen ganzen Spielraum religiöser Thätigkeit das Reich der Mythe nennen, insofern Mythe ein höheres, einem niederen fremden, Stoffe eingebildetes, nur als Andeutung geltendes, ist."106 Auch Schleiermacher mythologisiere Natur und Geschichte. Nur knapp behandelt de Wette den von Schleiermacher geschilderten Kirchentyp und die damit zusammenhängende Bekehrungsfrage. Auch hier scheint ihm ein augenfälliger Beleg für die „Einseitigkeit der Theorie des Vfs."207 vorzuliegen. Schleiermachers Kirchentyp sei nämlich der der Kontemplation; in einer solchen Kirche habe Mission und Bekehrung keinen Platz; doch gebe es durchaus andere Verhältnisse von Religion und Geselligkeit. Hinsichtlich des Verhältnisses von zweiter zu erster Auflage beobachtet de Wette manche Veränderungen und Zusätze besonders in der zweiten Rede. „Diese Änderungen sind bedeutend und wesentlich; sie sollen nicht nur manches deutlicher machen, sondern hie und da bemerkt man auch, daß der Vf. seiner Theorie nachgeholfen hat."208 Den tiefgreifenden konzeptionellen Wandel sieht de Wette mit manchen Inkonsequenzen verbunden. „Die Einseitigkeit der in der ersten Ausgabe frey hingestellten Theorie, ist hie und da gehoben, oder doch versteckt. Unumwunden war dort die Religion aufgestellt als jene Contemplation, wie sie es in der Vorstellung des Vfs. wirklich ist, und überall im Buche noch erscheint, jetzt ist sie auf das unmittelbare Gefühl Gottes zurückgeführt, aber nur da, wo im Allgemeinen von dem, was Religion sey, ge10>

de 20« de 207 de 208 de

Wette: Wette: Wette: Wette:

JALZ JALZ JALZ JALZ

444 445 445 446f

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XLV

sprachen wird, sonst hätte das ganze Buch umgearbeitet werden müssen. [...] Auch viele Paradoxien sind verwischt, die aber consequent und eigentümlich waren"209. Zwar seien die Verhältnisbestimmungen der Religion zu Metaphysik und Moral genauer entwickelt und sei der Gottesbegriff deutlich aufgewertet worden: „Durch diese Veränderungen aber hat das Werk viel Fremdartiges erhalten, und ist nicht mehr von gleichem Guß. Nach der ersten Ausgabe trägt es das Gepräge eines originellen Geistes, kühn und schroff hingestellt in seiner Einseitigkeit; jetzt sind die Ecken hie und da ein wenig abgeschliffen. Auch die Darstellung hat manches Fremdartige erhalten; in den neuen Zusätzen zeigt sich die Dialektik des Übersetzers des Piaton, und seine platonisirende Sprache."210 Schleiermachers abschließenden „Zusaz" mit seinen religiösen Zeitbezügen bemängelt de Wette als zu „mystisch und geschraubt geschrieben"211. Insgesamt schätzt de Wette die erste Ausgabe deutlich höher ein als die zweite. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn die erste Ausgabe unverändert wieder zum Abdruck gekommen wäre oder wenn der Autor nur „verbessernde, erklärende und berichtigende Anmerkungen"212 dazugegeben hätte. „So hätten wir treu und rein jene merkwürdige Erscheinung der Zeit, als ein Denkmal ihres Strebens und Bildens."2·13 Das Bearbeitungsverfahren ergänzender Anmerkungen in der dritten Auflage dürfte durch diese Rezension angeregt worden sein. Schleiermachers Reden „Über die Religion" in der zweiten Auflage sind Gegenstand einer Schmähschrift mit dem Titel „Katechismus der wahren Religion für die Verächter der (positiven) Religion von Friedrich Schleiermacher, Doctor und Professor der christlichen Theologie an der Universität zu Berlin, aus dessen Reden über die Religion entworfen und mit kurzen Erläuterungen und Fingerzeigen versehen von Christian Timotheus". Diese pseudonym publizierte Schrift214 erschien 1818 ohne Angabe eines Druckortes. Sie umfaßt 47 Seiten. Unter Hinweis auf die antiken Sophisten wird Schleiermacher des Atheismus beschuldigt. So heißt es im Vorwort: „Denn wer sollte es bestreiten, daß derselbe ohne 209

de Wette: JALZ 447f o de Wette: JALZ 448 2 " de Wette: JALZ 446 212 de Wette: JALZ 448 de Wette: JALZ 448 214 Irrtümlich schreibt Christian Gottlob Kayser (Vollständiges Bücher-Lexikon enthaltend alle von 1750 bis zu Ende des Jahres 1832 in Deutschland und in den angrenzenden Ländern gedruckten Bücher, Bd. 5, Leipzig 1835, S. 450} Schleiermacher die Autorschaft dieser Schmähschrift zu. Die von Kayser abhängigen Nachschlagewerke (z. B. Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1700—1910, Bd. 146, München 1985, S. 80) folgen dieser Zuschreibung. 2]

XLVI

Einleitung

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Scheu das Daseyn des lebendigen Gottes, welchen die Christen anbeten, läugnet, durch die vernunftwidrigen Grundsätze des traurigen Panlogismus den Unterschied zwischen Sündenschuld und sittlichem Werth völlig aufhebt, die christliche Religion mit den ungereimten und sinnlosen Fabeln der rohesten Völker in Eine Klasse setzt, in den positiven Grundlehren des Christenthums nichts als leere Mythologie erblickt, den eigentlichen Begriff der Unsterblichkeit durch seine panlogistischen Träume und Ungereimtheiten völlig aufhebt, und sich eben dadurch deutlich und klar als einen Sophisten des neunzehnten Jahrhunderts ankündiget."215 Diese Schmähschrift verfährt so, daß sie in den vier Paragraphen ihrer Einleitung216 und in den 56 Paragraphen ihrer Fundamentalartikel217 jeweils zu bestimmten Stichworten Zitate aus der zweiten Auflage der „Reden" ohne jede Rücksicht auf die Kontexte zusammenstellt und durch eingeschobene Bemerkungen kommentiert. Der Pseudonyme Verfasser will keine ernsthafte Auseinandersetzung mit Schleiermacher führen, sondern ihn durch seine tendenziöse Schmähschrift anschwärzen. In einem resümeeartigen Anhang bringt die Schmähschrift ein verdeutschtes Zitat aus einer Philosophiegeschichte Johann Jakob Bruckers2ls über den spinozistischen Atheismus.219 Diese vielleicht in Dresden erschienene Schrift fand in der von Ludwig Wachler herausgegebenen Zeitschrift „Neue theologische Annalen" im September 1818 folgende Beurteilung: „Eine knabenhafte, eigentlich bübische Schmähschrift, welche kaum den Schlechteren und Schlechtesten unter denen, gegen Schi, und seine Freunde besonders ergrimmten Geheimen gefallen dürfte. Schleiermacher'sche Worte aus dem Zusammenhange herausgerissen, mit hämisch-albernen Auslegungen und Zusätzen begleitet, wie nur Frechheit, wetteifernd mit Unwissenheit eines meuchlerischen Sykophanten hervorbringt, sollen den Vorwurf oder die Anklage des Atheismus gegen einen Mann begründen, dem als Denker Achtung gebührt, und der als Mensch und Beamter in wohlverdienter Achtung steht. Daß ein solches Schandbüchlein nicht recensirt werden kann, versteht sich von selbst."210 Abschließend bedauert der Rezensent denjenigen, dem mit einer solchen Schmähschrift ein Gefallen erwiesen werden sollte. Hier dürfte der Dresdner Oberhofprediger Christoph Friedrich Ammon (1766—1850) gemeint sein, mit dem Schleiermacher 1818 eine literarische Kontroverse um die lutherisch-refarmierte Kir-

215 216 217 218 219 220

Timotheus: Katechismus 4f Vgl. Timotheus: Katechismus 7 - 9 Vgl. Timotheus: Katechismus 9—45 Vgl. Brucker: Institutiones historiae philosophicae, Leipzig 1747, S. 677 Vgl. Timotheus: Katechismus 45—47 Neue Theologische Annalen, Frankfurt am Main 1818, S. 751/"

Historische

Einführung

XLVII

chenunion in Preußen ausfocht.221 Die Schmähschrift dürfte in diesen konfessionspolitischen Streitigkeiten um die Unionsbildung ihre Veranlassung und ihren Ort haben. Zur dritten Auflage der „Reden" liegen zwei Rezensionen vor. Die erste erschien im September 1822 in der Zeitschrift „Heidelberger Jahrbücher der Literatur" und ist mit den hebräischen Buchstaben ο und ρ signiert 222 Verfasser ist Karl Heinrich Sack (1790-1875) 223 Diese Rezension gibt keine inhaltliche Darstellung der „Reden", sondern erörtert kontrovers zentrale Thesen Schleiermachers. Die Gesamttendenz der Rezension ist wohlwollend-kritisch. Zusammenfassend lobt sie die religiöse Kraft und tadelt die philosophische Erklärung. „Das Vortreffliche und Grosse in diesen Reden glaubten wir selbst am sichersten und ruhigsten ahnen zu lassen, indem wir die unserer Ansicht nach irrige Anschauung in Folgerungen aufdeckten, welche sie nur deshalb hier weniger zu Tage legt, weil ein tieferer Geist der Religion, glücklicherweise nicht in Uebereinstimmung mit ihrer philosophischen Erklärung, eine reinere Entfaltung des Lebens hervorgebracht und in mannigfaltigen Abstufungen hervorgelockt hat, als die meisten Leser dieses Buches ersehen können."124 Die „Reden" seien mit dem kühnen Unternehmen vergleichbar, eine Brücke von kindlicher Liebe zu warmer Menschlichkeit zu schlagen über dem Abgrund einer glaubenslosen Zeit, wobei allerdings in bestimmten Passagen der spekulative Geist erkältend wehe.225 Sack verweist einleitend auf die neuen Akzente, die das zu rezensierende "Werk in der dritten Auflage bekommen hat. „Es ist mit erklärenden und berichtigenden Anmerkungen begleitet, welche offenbar den Zweck haben, früheren Mißverständnissen zu begegnen, und die hierin niedergelegte religiöse Ansicht des Verfassers in Uebereinstimmung mit 221

Ammons Schrift „Bittere Arznei für die Glaubensschwäche der Zeit. Verordnet von Herrn Claus Harms, Archidiaconus an der Nicolaikirche in Kiel, und geprüft von dem Herausgeber des Magazins für christliche Prediger" (Hannover/Leipzig 1817) veranlaßte Schleiermacher zu seinem Sendschreiben „An Herrn Oberhofprediger D. Ammon über seine Prüfung der Harmsischen Säze" (Berlin 1818). Daraus entspann sich eine literarische Kontroverse, in deren Verlauf zunächst Ammon seine „Antwort auf die Zuschrift des Herrn D. Fr. Schleiermacher, o. ö. Lehrers d. Theol. a. d. Universität zu Berlin, über die Prüfung der Harmsischen Sätze, von dem Herausgeber des Magazins für christliche Prediger" (Hannover/Leipzig 1818) und dann Schleiermacher seine „Zugabe zu meinem Schreiben an Herrn Ammon" (Berlin 1818) veröffentlichten. Vgl. dazu KGA 1/10.

222

Vgl. Heidelberger Jahrbücher der Literatur [= HJL] 15, 1822, H. 9, Nr. 53, S. 833848 und Nr. 54, S. 849 Vgl. Briefe 4,304 Sack: HJL 15,848 Vgl. Sack: HJL 15,849

223 224 225

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Einleitung

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Bandherausgebers

seinen anderweitig ausgesprochenen theologischen Lehren darzustellen. [...] Anziehend ist es aber ohne Zweifel, einen so trefflichen Geist, als den Verfasser, in dem Bestreben zu beobachten, die jugendliche Fülle und zum Theil unenthüllte Individualität eines begeisterten Werks zu der Klarheit und Bestimmtheit gereifterer Wissenschaft und Erfahrung hinzuführen."216 Sack hält den „pantheistischen Schein, welchen die Reden in ihrer früheren Gestalt und zum Theil noch in der jetzigen an sich tragen"217, durch Schleiermachers Dogmatik und Predigten für widerlegt. „In seiner Dogmatik legt sich nun das Bestreben dar, die Idee Gottes zu reinigen von allen anthropomorphischen Umhüllungen mit ausdrücklicher Bezeugung ihres Unterschiedes von der Idee der Welt; und eben dies Anstreben des möglich reinsten Bewußtseyns von Gott als dem ewigen schaffenden Quell alles Seyns und Lebens ist auch die Richtung des homiletischen Wirkens des Verfassers."129, Doch setzt sich Sack kritisch mit Schleiermachers Bestimmung des Wesens der Religion als Anschauung und Gefühl des Universums auseinander. Er sieht bei Schleiermacher die Differenz von Weltbewußtsein und Gottesbewußtsein vernachlässigt. „Das Verletzende scheint uns darin zu liegen, daß das Vermittelnde der Welt als eines Ganzen für das Gefühl von Gott so bedeutend gesetzt wird, daß dies Gefühl sich gar nicht hinreichend zu bezeichnen fürchtet, wenn es die Welt nicht unter der Idee des Universums mit Gott vereinigt; dagegen es uns sehr religiös zu seyn scheint, in jedem Gefühl der Wirkung Gottes durch die Welt auch seinen Unterschied von der Welt mitzufühlen."119 Auch wendet sich Sack gegen Schleiermachers Gleichbehandlung der personalen und nichtpersonalen Gottesvorstellung. „Diese Ansicht behauptet also nicht nur die Unzulänglichkeit unserer bildlichen Vorstellungen von Gott, sondern auch die Gleichgültigkeit und Entbehrlichkeit derselben für eine gewisse Richtung des religiösen Sinnes."130 Dagegen behauptet Sack die Unverzichtbarkeit des personalen Elements in der Gottesvorstellung. Sack wendet sich gegen die völlige Subjektivierung der Religion, wie er sie in Schleiermachers These beschlossen sieht, die Religion sei „das höhere Gefühl, das der Einheit alles Endlichen in Gott inne wird, und alles höhere Gefühl dieser Einheit ist Religion"231. Durch die Zentralstellung des Gefühls werde alle Religion in Religiosität verwandelt.

126 227 228 229 230 231

Sack: Sack: Sack: Sack: Sack: Sack:

HJL HJL HJL HJL HJL HJL

15,833 15,834 15,834 15,835 15,835f 15,837

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„Indem also das Gefühl des Endlichen als das Vermittelnde des Unendlichen angesehen wird, muß dieses auch uns selbst etwas schlechthin Subjectives werden, und kann für uns keine höhere Objectivität erlangen, als in dem wiederum unsicheren Schein, den unser Gefühl auf unsern Verstand wirft. Nach dieser Ansicht ist alle Religion wesentliche Religiosität, und ein Objectives und von religiöser Wahrheit ausser dem subjectiv mit allem Endlichen zugleich gefühlten Ewigen giebt es gar nicht."232 Konsequenterweise müßte der Titel „Über die Religion" geändert werden in „Über die Religiosität" 233 Bei der Erörterung der Frage, wie das Zustandekommen des höheren Gefühls gedacht werden könne, macht Sack auf Dunkelheiten in Schleiermachers Gefühlsbegriff aufmerksam, die wohl nur durch die Annahme zu beheben seien, Religion sei in allen Menschen als Anlage vorhanden. Damit verliere Schleiermacher seine Argumentationsbasis gegen die durch Bildung bestimmten Religionsverächter, wie Sack in einer fingierten Verteidigungsrede zeigt.234 Die Religion werde dadurch gerade in den Bildungsgedanken integrierbar, und die Gleichgültigkeit der Verächter bestehe fort. Werde „Religion als Anlage ohne Bezug auf Sittlichkeit"235 verstanden, so werde auf die praktische Bedeutung der Religion verzichtet und aller Wert in die religiösen Empfindungen und Phantasien gesetzt. „Jene Richtungen sind die nothwendigen Folgen der Idee, daß die Religion das höhere Gefühl sey, und in der subjectiven Entwickelung des Menschen und des Menschengeschlechts aus sich selbst wurzele. Eine andere und höhere Ansicht entsteht, wenn in der Anerkennung nicht nur der subjectiven Beschränktheit, sondern des subjectiven Verderbens der menschlichen Natur das Verlangen und die Wahrnehmung eines Objectiven sich entwickelt, welches neuschaffend, neueinigend als die wahre religio oder Wiederbindung des Getrennten, Gottes und der Menschen, des Gefühls und des Verstandes dasteht."236 Gegen Schleiermachers Subjektivierung der Religion betont Sack deren Einigungsfunktion, „daß uns die religiösen Vorstellungen nicht bloß Uebersetzungen aus dem Gefühl zu seyn scheinen, und die Religion nicht allein im Gefühl ihr Wesen zu haben, sondern in neuer Einigung aller menschlichen Seelen- und Lebenskräfte zu bestehen scheint."237 Sack verwirft sowohl den Supremat des Subjektiven wie des Objektiven. Seine Leitidee ist die einer objektiven Herzensreligion. Er stellt das 232 233 234 235 236 237

Sack: HJL Vgl. Sack: Vgl. Sack: Sack: HJL Sack: HJL Sack: HJL

15,837 HJL 15,838 HJL 15,839f 15,841 15,841 15,836f

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Einleitung

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objektive Offenbarungswort Gottes und den subjektiven Herzensglauben ins Zentrum seines eigenen Religionsbegriffs.238 Von diesem Zentrum aus stuft er die Schleiermachersche Auffassung von den nichtchristlichen Religionen als zu hoch und die Schleiermachersche Auffassung vom Christentum als zu gering ein.139 Aber auch das Verhältnis zum Judentum müsse anders bestimmt werden. „Dieselbe Ansicht, die uns eine objective Einheit der Religion im Christenthum und in den Formen der Alten zeigte, führt uns noch viel bestimmter zur Anerkennung des Einen göttlichen Worts im Judenthum und Christenthum."Z40 Die Annahme eines objektiven göttlichen Worts gibt nach Sack auch der Auffassung von frommer Gemeinschaft und Bildung zur Religion andere Akzente, als Schleiermacher sie setzt. Sack kontrastiert Schleiermachers und sein eigenes Bildungsverständnis: „Im ersten Falle wird der religiöse Unterricht für die Bildung zum Glauben eigentlich nur das gegenseitige Bilden des Verstandes und Gefühls durch die Religiösität des Lehrers anerkennen, im zweiten wird das Klarwerden des göttlichen Worts in seinem einfachen Lichte das Ziel aller Begriffsentwickelung seyn, weswegen weniger eine besondere Aufregung des Gefühls als eine Einladung des Herzens zum Glauben der begleitende Character dieses Unterrichts seyn würde."241 Im Blick auf die Verfaßtheit und Leitung der Kirche hält Sack bei Schleiermacher die religiöse Individualität des Geistlichen für überbewertet; demgegenüber sieht er selbst den Auftrag des Predigers in der wahren Mitteilung des göttlichen Offenbarungswortes.242 Trotz aller kritischen Verwahrungen lobt Sack die religiöse Intention und Kraft der „Reden".243 Zu dieser Rezension hat Schleiermacher in seinem Brief vom 28. Dezember 1822 an Karl Heinrich Sack Stellung genommen. Schleiermacher akzeptiert die Entgegensetzungen nicht, die Sack aufmacht und durch die er die eigene Position profiliert. Schleiermacher sieht den Vorwurf des pantheistischen Scheins mit der Behandlung von personaler und Vgl. Sack: HJL 15,841-843 «» Vgl. Sack: HJL 15,843-845 240 Sack: HJL 15,845 «ι Sack: HJL 15,847 242 Vgl. Sack: HJL 15,847 243 In seiner Gedächtnisrede 1835 sah Karl Heinrich Sack auch in den „Reden" das innige kirchliche Interesse Schleiermachers wirksam. Obwohl die „Reden" mehr aus einem allgemein-wissenschaftlichen als aus einem christlich-apologetischen Standpunkt verfaßt zu sein scheinen, „so läßt sich doch auch Entstehung und Charakter dieses Werks nur aus einem Eindrucke von der im Christenthum offenbar gewordenen tiefen Gemeinschaft der Gemüther erklären" (Vorlesung zum Gedächtnisse Schleiermacher's, gehalten den 12. Februar 1835 vor mehreren Docenten und den Studirenden der evangelisch-theologischen Fakultät in Bonn, in: Theologische Studien und Kritiken 8, Hamburg 1835, H. 4, S. 860f). 238

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nichtpersonaler Gottesvorstellung verknüpft. Da Gott als eine unendliche Person verstanden werde, sei die Bildhaftigkeit der personalen Gottesvorstellung evident. Allein der praktische Umgang mit ihr sei fraglich und laufe auf die Alternative hinaus, entweder das Bildliche in der Gottesvorstellung festzuhalten oder es aus ihr zu entfernen. Hinsichtlich der Religion akzeptiert Schleiermacher nicht die Differenzsetzung von Subjektivem und Objektivem, insofern auch die objektive Religion subjektiv sein müsse. „Denn das Subjective ist ja eben deshalb das Objective, weil es die göttliche Offenbarung in dem Menschen ist, wie ich in der Einleitung zur Dogmatik genauer auseinander sezen konnte, als in den Reden, und Ihr Objectives, was Sie unter Religion verstehen, muß auch selbst subjectiv sein. Oder was wollten Sie mit einer Religion, die nicht Religiosität wäre?"244 Auch die dritte Gegensatzbildung akzeptiert Schleiermacher nicht. „Das Lezte ist nun der Gegensaz zwischen Wort und Geist, sofern Sie sagen, ich erhebe den Geist mit Verwerfung des Wortes; dies kann mir deshalb gar nicht einfallen, weil ich Wort und Geist gar nicht von einander zu trennen weiß. Denn der Geist wird immer Wort und das Wort kommt immer nur aus dem Geist hervor. Wie könnte ich also wohl das agens rühmen wollen auf Kosten des actus?"245 Als einzige wichtige Differenz gesteht Schleiermacher Sack zu, „daß Ihr Christenthum mehr judaisirt, als das meinige."246 Zweitens wurde die dritte Auflage der „Reden" im September 1822 in der von Ludwig Wachler herausgegebenen Zeitschrift „Neue Theologische Annalen" rezensiert.147 Diese in der Gesamttendenz sehr zustimmende Rezension, die mit dem Kürzel „Ad" gezeichnet ist, stammt von Joachim Christian Gaß.248 „Den Inhalt der Schrift selbst und die Ansicht, welche sie von der Religion aufstellt, dürfen wir wohl im allgemeinen wenigstens bei unsern Lesern als bekannt voraussetzen und eine Beurtheilung derselben kann hier nicht mehr erwartet werden. Dagegen kann und will Referent das Bekenntniß nicht zurückhalten, daß er einer mehr als zwanzigjährigen vertrauten Bekanntschaft mit diesen Reden, wie mit den übrigen spätem Schriften ihres Verfassers, diejenige beruhigende Ueberzeugung von dem Wesen der Religion und des Christenthums verdankt, die ihn in seinem Leben, wie in seinem Beruf so sicher geleitet und bei jeder wiederholten Betrachtung sich ihm erfreulich bestätigt hat."249 Briefe 4,305 Briefe 4,305 246 Briefe 4,305 247 Vgl. Neue Theologische Annalen [sowie Theologische furt am Main 1822, S. 786-795 248 Vgl. Briefwechsel mit Gaß 191 24> Gaß: NTATN 790 244 245

Nachrichten = NTATNj,

Frank-

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Einleitung

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Die Rezension, die Schleiermacher erst im Schlußabschnitt namentlich erwähnt, beginnt mit einer knappen Charakterisierung der Eigenart und des Anliegens der „Reden" sowie der Aufnahme, die deren erste und zweite Auflage fanden.250 Mit der Erstauflage sei Schleiermacher zum Repräsentanten einer neuen Theologie der jüngeren Generation geworden. Durch den weiteren Werdegang und die weiteren Publikationen sei Schleiermacher bestimmt gewesen, „der Theologie in der evangelischen Kirche eine neue Richtung zu geben, deren Folgen sich gewiß weit über sein irdisches Leben, wie lange es ihm Gott auch noch fristen möge, hinaus erstrecken werden"251. Für die dritte Auflage geht Gaß ausführlich auf das auch von Schleiermacher in seiner Vorrede angesprochene Problem ein, daß der kulturelle Kontext der „Reden" sich markant verändert habe. Gaß verweist auf die erhellenden Erklärungen, die „Reden" und „Glaubenslehre" gegenseitig leisten.252 Er stellt fest, daß Schleiermacher entgegen seiner Behauptung in der Vorrede sehr wohl an vielen Stellen die „Reden" verändert und verbessert habe 253 Inhaltlich geht Gaß allein auf die in dieser dritten Auflage hinzugefügten Erläuterungen ein.254 Er teilt knapp die Zahl und die Themen der Erläuterungen zu den fünf Reden mit. Er zitiert die Erläuterung Nr. 4 zur dritten Rede und Nr. 26 zur vierten Rede. In allen Erläuterungen findet Gaß wichtige Hinweise und Ausführungen sowohl zum Verständnis des Textes als auch zu bedeutenden Sachthemen. „Und so schließen wir die Anzeige dieser Schrift, die unsern Schleiermacher zuerst verherrlicht hat, mit dem Wunsch, wie mit der Hoffnung, daß sie immer mehr in das deutsche Gemüth eindringen möge, dem vorzugsweise der große Beruf geworden ist, die Kirche Christi neu zu beleben und das sich zu diesem Beruf auch ferner stellen wird. Was das Aeußere des Buchs betrifft, so fügen wir ungern hinzu, daß die Correctur des Drucks hätte sorgfältiger und das Papier füglich besser seyn können; denn einem Werk solcher Art innerlich, sollte auch der Schmuck nicht fehlen äußerlich."25S In der öffentlichen theologischen Diskussion kam die alte Streitfrage, ob Schleiermacher in den „Reden" einen pantheistischen Standpunkt vertrete, auch durch die in der dritten Auflage zugefügten Erläuterungen nicht zur Ruhe. Die Hochschätzung Spinozas in den „Reden"256 Vgl. Gaß: NTATN 786 - 788 Gaß: NTATN 789 252 Vgl. Gaß: NTATN 788 - 790 2« Vgl. Gaß: NTATN 790f 254 Vgl. Gaß: NTATN 791-795 2« Gaß: NTATN 795 256 Vgl. unten 58,1-9 250

25'

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und die Erörterungen zum Pantheismus in der „Glaubenslehre"257 schienen nicht so recht zueinander zu passen. Schleiermachers Erläuterungen in den „Reden" wurden als kosmetische Operationen betrachtet und konnten die Pantheismusvorwürfe nicht zum Verstummen bringen. Allenfalls wurden die Anfeindungen künstlicher vorgetragen. Der Bonner Philosophieprofessor Johann Friedrich Ferdinand Delbrück (1772—1848) beispielsweise griff 1826 in seiner Streitschrift „Philipp Melanchthon. Der Glaubenslehrer" Schleiermacher ohne Namensnennung als „Spinoza's Jünger"258 an, indem er zweimal die „Reden", auf deren zweite Auflage 1806 er zurückgeht, als Dokument des Spinozismus und Pantheismus zitiert. In seiner Streitschrift erörtert Delbrück kritisch-polemisch einige Lehrstücke Melanchthons. Dessen Prädestinationslehre nimmt Delbrück zum Anlaß, in einer „Einschaltung" die Lehre Spinozas in markanten Zügen erläuternd darzustellen259, weil dieser der wirkliche Schutzherr für das "Wiederauftreten der von Delbrück bekämpften „Lehre von Vorherbestimmung, Knechtschaft des Willens, unabänderlicher Notwendigkeit"260 sei. In der zeitgenössischen Theologie fehle es nicht an Versuchen, „die Satzungen verhängnißlehriger Schulweisheit mit den kirchlichen künstlich zu verflechten, um sie mit einem heiligen Scheine zu umkleiden"261. Delbrück bescheinigt der Lehre Spinozas abschließend eine einnehmende Geschmeidigkeit, „Allen Alles zu werden. Offenbar nämlich hegt sie ein epikurisches Element, wodurch sie die Sinnlichkeit, ein stoisches wodurch sie die Vernunft besticht, ein ungöttisches, wodurch sie die Irdischgesinnten, ein frommes, wodurch sie die Himmlischgesinnten lockt."262 Ihre Überzeugungskraft durch logische Bündigkeit erweise sich an dem, der „die Stimme des Herzens zum Schweigen gebracht, und sich mit seinem Gewissen abgefunden hat"263 und nun ihre Grundsätze anerkenne. An dieser Stelle zitiert Delbrück die skandalträchtige Lobeserhebung Spinozas264 mit dem einführenden Hinweis, „daß jener namhafte Ungenannte in einer Anwandlung koryb antisch er Begeisterung kein Bedenken trägt, den Spinoza unter die Heiligen zu versetzen"265.

257 258

259 260 261 262 263 264 265

Vgl. Der christliche Glaube, Bd. 1, Berlin 1821, S. 67~69; KGA 1/7,1, 53,13-54,11 Delbrück: Christenthum, Bd. 2. Philipp Melanchthon. Der Glaubenslehrer, Bonn 1826, S. 124 Vgl. Delbrück: Christenthum 2,79-133 Delbrück: Christenthum 2,3 Delbrück: Christenthum 2,78 Delbrück: Christenthum 2,127 Delbrück: Christenthum 2,127 Vgl. Delbrück: Christenthum 2,127f mit dem Zitat Β 68, unten 58,2-10 Delbrück: Christenthum 2,127

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Einleitung

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Bandherausgebers

Eine Eigentümlichkeit, durch die Spinozas Lehre Zustimmung gewinne, ist nach Delbrück die Leugnung eines postmortalen Lebens. „Wie viele Menschen giebt es, denen der Glaube an ein Leben nach dem Tode und einen Zustand der Vergeltung verhaßt ist, weil sie dadurch sich und andere, wie im Genüsse, so im Gebrauche, des irdischen Daseyns gestört und gehemmt sehn. Entschlaget euch dieses Glaubens, sagt Spinoza's Jünger: denn freylich ist der Karakter eines religiösen Lebens die Unsterblichkeit, aber nicht eine solche, wie ihr sie euch einbildet"266. An dieser Stelle zitiert Delbrück aus den „Reden" deren Interpretation der Unsterblichkeitsidee.267 Das Zitat kommentiert er mit dem Satz: „Durch diesen Trostspruch werden, wie die schmeichelnden Hoffnungen, so die quälenden Befürchtungen, die über das Grab hinausreichen, erstickt."26* Gegen Delbrücks Anwürfe wehrte sich Schleiermacher moderat in einem Brief vom 22. September 1826, der als „Zugabe" zu den drei Sendschreiben von Karl Heinrich Sack, Karl Immanuel Nitzsch und Friedrich Lücke veröffentlicht wurde.269 Schleiermacher sah sachlich keinen Anlaß, „seinem Buche zu Hülfe kommen"270 und Delbrücks Streitschrift entgegentreten zu müssen. Dieser habe die dritte Auflage der „Reden" ignoriert und für seine Spinozismus- und Pantheismusvorwürfe aus Schleiermachers sonstigen Schriften keinen Nachweis beigebracht. „Sonst aber hätte ich wol Ursache genug, mich über den guten Delbrück zu beklagen, nicht nur daß er mich ohne allen Grund und gegen alles billig vorauszusetzende einen Spinozisten nennt, sondern noch mehr, daß er ohnerachtet seiner persönlichen Kenntniß von mir sich so ausdrückt, daß seine Leser werden glauben müßen, er halte mich für einen der schlechtesten und verächtlichsten Jünger Spinozas."271 Die moralischen und politischen Insinuationen hält Schleiermacher für unverantwortlich, schreibt sie aber nicht bösem Willen, sondern der „Leidenschaftlichkeit des wohlgemeinten Eifers"272 zu.

266 267 268 269

270 271 272

Delbrück: Christenthum 2,123f Vgl. Delbrück: Christenthum 2,124 mit Zitat aus Β 177, unten 128,28-30 Delbrück: Christenthum 2,124 Vgl. Erklärung des Herrn Dr. Schleiermacher über die ihn betreffenden Stellen der Streitschrift. Aus einem Briefe an einen Freund am Rhein, in: Karl Heinrich Sack/Karl Immanuel Nitzsch/Friedrich Lücke: Ueber das Ansehen der heiligen Schrift und ihr Verhältniß zur Glaubensregel in der protestantischen und in der alten Kirche. Drei theologische Sendschreiben an Herrn Professor D. Delbrück in Beziehung auf dessen Streitschrift: Phil. Melanchthon, der Glaubenslehrer. Nebst einer brieflichen Zugabe des Herrn D. Schleiermacher über die ihn betreffenden Stellen der Streitschrift, Bonn 1827, S. 213-216 Erklärung 213 Erklärung 215 Erklärung 216

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Veranlaßt durch diesen offenen Brief, von dem er offensichtlich vor der Publikation Kenntnis erhielt, erläuterte Delbrück am 19. Oktober 1826 Schleiermacher den Sachverhalt, daß er in seiner Streitschrift nicht aus der vorliegenden dritten Auflage, sondern aus der zweiten Auflage der „Reden" zitiert: „Daß ich in dem vierten Abschnitte gedachter Streitschrift nicht die neueste Ausgabe Ihrer Reden über die Religion anführte sondern die früheren von 1806, geschah deswegen, weil ich bis dahin Ihre in jener ausgesprochene Ablehnung der spinozischen Lehre, in Beziehung auf das was ich in dieser als die Angel ansehe, nicht in Uebereinstimmung zu bringen vermochte mit den Grundgedanken auf denen Ihre Glaubenslehre (vielleicht mit Unrecht) mir zu beruhen scheint. Um mich einer Erörterung dieses schwierigen Punktes zu überheben, die offenbar in jenem Abschnitte übel angebracht gewesen wäre, oder vielmehr gar nicht Raum finden konnte, kündigte ich den eingeschalteten Aufsatz ausdrücklich an als einen bereits vor Jahren und zwar zunächst für mich allein geschriebenen. Hierdurch wurde ich berechtigt die spätere Ausgabe Ihrer Reden unberücksichtigt zu lassen. Ich wurde hierzu sogar genöthigt, um einem Kampfe mit Ihnen auszuweichen, der gar nicht in meinem Plane lag, da ich ihn einem andern Platze vorbehalten hatte. Der eingeschaltete Aufsatz sollte sich ausprägen als Selbstgespräch und als Herzensergießung eines einsamen Denkers, dem man anmerkt daß die Worte der Heiligsprechung Spinoza's sich von lange her seinem Gedächtnisse tief eingegraben"273. Delbrück spielt hier auf den nächsten Band seiner Streitschriftenreihe „Christenthum" an.27* Durch seine wissentliche Unschicklichkeit, Schleiermachers Namen zu verschweigen, aber auf die „Reden" hinzuweisen, wollte Delbrück nur auf die in der Lobeserhebung Spinozas artikulierte Denkart aufmerksam machen, ohne persönliche Beziehungen herzustellen 275 In seinem Antwortschreiben vom 2. Januar 1827 bemängelte Schleiermacher die historische Inkonsequenz, daß Delbrück in seinem Aufsatz nicht insgesamt die Perspektive von 1806 eingenommen habe.276 Schleiermacher hielt es nicht für unstatthaft, daß sich Delbrück auf die zweite Auflage der „Reden" bezieht, aber für ungeschickt, zumal Delbrück nirgendwo anmerke, daß Schleiermacher in der dritten Auflage bestritten habe, ein Spinozist zu sein.277 Delbrücks Einschätzung, Schleiermachers Ablehnung des Spinozismus stimme nicht mit dem Fun-

Briefe 4,366f Delbrück: Christenthum, Bd. 3. Erörterung einiger Hauptstücke Schleiermacher's christlicher Glaubenslehre, Bonn 1827 275 Vgl. Briefe 4,368f 27* Vgl. Briefe 4,372 277 Vgl. Briefe 4,376 273 274

in Dr. Friedrich

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dament der „Glaubenslehre" zusammen, rief bei Schleiermacber nur Unverständnis hervor. „Ich habe den Spinoza seit ich ihn zuerst gelesen, und das ist nun fünfundreißig Jahre her, aufrichtig bewundert und geliebt, aber sein Anhänger bin ich auch nicht einen einzigen Augenblick gewesen; und sowol mit seiner Verherrlichung in den Reden, als mit der bekannten Stelle in der Einleitung zu meiner Glaubenslehre hat es genau die Bewandniß, welche Lücke und Twesten angeben."278 Die Zeitschrift „Kritische Prediger-Bibliothek", die von Johann Friedrich Kohr herausgegeben wurde, publizierte in Schleiermachers Todesjahr 1834 eine umfängliche Rezension der „Reden", die zwar an der vierten Auflage der „Reden" orientiert ist, aber in der Regel auch die Erstauflage heranzieht und verschiedentlich Vergleiche zwischen diesen beiden Auflagen anstellt.279 Diese Rezension, die mit keinem Namen oder Kürzel gezeichnet ist, wurde vermutlich von Johann Friedrich Röhr (1777—1848) verfaßt. Ihre Gesamttendenz ist kritisch-polemisch. Daß erst so spät dem „weithin berühmten Buche" eine Rezension gewidmet werde, begründet der Rezensent anfänglich damit, „daß die früheren Ausgaben desselben über ihre Entstehung hinausreichten und daß bei Lebzeiten des Verfs. fortwährend manche Modificationen der darin ausgesprochenen Ansichten erwartet werden konnten, ehe sie ihm selbst völlig genügten. Da er aber in dieser letzten Ausgabe unverändert bei ihnen bleiben zu wollen erklärte, so schien es doch erforderlich zu werden, sie einer unparteiischen Prüfung zu unterwerfen. Leider aber kam es zufälliger Hindernisse halber nicht eher dazu, als nach dem persönlichen Abscheiden des Verfs."280 Durch die Beurteilung soll die trotz vielfältiger Lektüre doch von vielen bisher verkannte bzw. ihnen unbekannte Religion Schleiermachers ins Licht gestellt werden. Die Rezension, die den Geist eines von Kant inspirierten Rationalismus und eines auch kirchlich deutbaren Vernunftglaubens atmet, greift Schleiermachers Religionsbegriff als irrig und trügerisch an. Sie beantwortet die Frage, warum das Buch in Leserkreisen eine solche Verbreitung und Zustimmung fand, mit dem Hinweis darauf, daß „das Buch, welches dieses bewirkte, zum Täuschen durch und durch auf das Künstlichste eingerichtet ist."281 Schleiermachers Vortrag sei „absicht-

278

279

280 281

Briefe 4,375; vgl. Friedrich Lücke: Sendschreiben an Delbrück, S. 110—114 und August Detlev Christian Twesten: Vorlesungen über die Dogmatik der Evangelisch-Lutherischen Kirche nach dem Compendium des Herrn Dr. W. M. L. de Wette, Bd. 1, Hamburg 1826, S. 255f Anm. Vgl. Kritische Prediger-Bibliothek /= KPBj 15, Neustadt an der Orla 1834, S. 9571009 KPB 15,957 KPB 15,990

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lieh"282 und „klüglich"283 undeutlich. Schon der Buchtitel sei eine Irreführung, als solle die Religion „in aller ihrer Reinheit, Würde und Kraft vorgetragen, vertheidigt und eingeschärft werden"284, während doch einem „stets lebensfrohen Naturalismus"285 das Wort geredet werde und das Buch den wahren Zweck verfolge, „eine epikureisch-naturalistische Denk-, Empfindungs- und Lebensart als die einzig echte Religiosität aufzustellen und zu empfehlen"286. Täuschender noch als der Inhalt sei die Form der Reden. Der „mächtige Redner"287 und große „Dialektiker"288 verfahre durchaus „persuasorisch"289, alles „durch ein gewisses zauberisches Helldunkel umnebelnd"290. Durch allerlei meisterliche Kunstgriffe wolle Schleiermacher den Leser überreden, „daß epikureische Lebensklugheit wahre Weisheit des Lebens und wirkliche Irreligion echte [...] Religion sei."291 Gerade angesichts der Talente und der Verstandeskultur Schleiermachers seien sein Libertinismus und seine Freidenkerei zu geißeln.292 Wo das Herz des Rezensenten schlägt, wird dort deutlich, wo er Schleiermachers Angriff auf die Vernunftreligion polemisch abwehrt und deren unbestimmte Allgemeinheit, ihren Verzicht auf Positivität und ihre Verknüpfung mit der Sittlichkeit verteidigt.293 Seinen Widerspruch erregt nicht nur diese „ganz unkluge Bekämpfung der Vernunftreligion"294, sondern auch das Verständnis von Judentum und Christentum295, wie es in der fünften Rede, der „in sich schwächsten Rede"296, vorgetragen werde. „So wenig Schi, die Vernunftreligion kannte, weil sein eigentümliches geistiges Wesen in dem Vorherrschenden von Verstand und Phantasie aufging, eben so wenig hat er namentlich Jesum Christum jemals recht kennen gelernt, wie sehr er ihn auch in seinen Predigten als Erlöser auf der Zunge führte."297

KPB 15,975 KPB 15,972 284 KPB 15,990 285 KPB 15,990 286 KPB 15,990 287 KPB 15,991 288 KPB 15,1007 289 KPB 15,999 290 KPB 15,999 291 KPB 15,1000 292 Vgl. KPB 15,1004 293 Vgl. KPB 15,994-996 294 KPB 15,996 295 Vgl. KPB 15,996-998 29« KPB 15,994 297 KPB 15,998 282 283

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Einleitung des

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Die Rezension gibt anfänglich einen knappen Bericht über die vier Auflagen, wobei die Selbstaussagen Schleiermachers über die Art seiner Umarbeitung referiert werden.29S Hinsichtlich des Textbestandes wurde offensichtlich nur die vierte mit der ersten Auflage verglichen299 Da nicht die Geschichte des Buches dargestellt, sondern dessen Beurteilung geliefert werden solle, so sei ein Vergleich der Letztausgabe mit der Erstausgabe sinnvoll und ausreichend. Durch den Vergleich ließen sich Änderungen und Eigenart besonders gut herausheben. Bet einem späteren knappen Vergleich der verschiedenen Auflagen300 wird die anonym erschienene Urausgabe empfohlen, weil hier Schleiermacher seine Religionsauffassung relativ offen geäußert habe. In den folgenden Auflagen sei das Anstößige dem Buchstaben nach gemildert worden, ohne daß „der Geist des Buchs"301 sich in Wahrheit geändert habe. Bei Schleiermachers Ausführungen zum Gottesglauben und zum Unsterblichkeitsglauben ist die Rezension an „der verhältnißmäßig einfachem und reinem Urausgabe"302 orientiert. Auf das große Abweichen der vierten Auflage am Ende der zweiten Rede gegenüber der ersten Auflage wird hingewiesen und eine Steigerung der „traurigen Zweizüngelei"303 festgestellt. Der Plan der fünf Reden wird als für Schleiermachers Überzeugungsabsicht höchst zweckmäßig geschildert.304 Die großen Spannungen zwischen den „Reden" und der „Glaubenslehre" werden besonders betont,305 Trotz mancher bedeutender Überarbeitungen sei die Wesensbestimmung der Religion unverändert. Aus der zweiten Rede erhebt der Rezensent folgenden Religionsbegriff Schleiermachers: „Religion besteht im Anschauen des Universums bei allem Besondern und Einzelnen in der Natur und im Leben, sammt den mit und aus solchem Anschauen sich regenden Gefühlen, wobei man übrigens weder an einen persönlichen Gott, noch an individuale Menschenunsterblichkeit zu denken hat."306 Dieser Religionsbegriff bedeute einen unbestimmten Pantheismus.307 Nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem Geiste nach bleibe dem Schleiermacherschen Religionsbegriff „die Ausschließung des persönli-

298 299

300 301 302 303 304 305 306 307

Vgl. KPB 15,957- 959 Die Aussage zum Textverhältnis von dritter und vierter Auflage ist ausgesprochen vorsichtig; die vierte Auflage sei „wahrscheinlich ganz unverändert" (KPB 15,959), sie sei „daher auch nicht ,Ausgabe', sondern nur ,Auflage' genannt." (959) Vgl. KPB 15,1000-1002 KPB 15,1001 KPB 15,979 KPB 15,982 Vgl. KPB 15,991-994 Vgl. KPB 15,1001 f KPB 15,960 Vgl. KPB 15,962

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chen Gottes und der Unsterblichkeit des menschlichen Individuums"308 wesentlich eigen. Der Rezensent stellt ein rein physisches Verständnis des Weltalls und entgegen manchen Äußerungen Schleiermachers „die Morallosigkeit seiner Religion"309 fest. Aus den moralischen Redensarten spräche eine gewisse „Schalkhaftigkeit"310, und der Fantheismus sei genauer genommen Naturalismus. Der Rezensent beurteilt das Gefühl als das Hauptstück in Schleiermachers Religionsbegriff. Für diese Zurückstufung der Anschauung spreche, daß Schleiermacher trotz aller Anstrengung das religiöse Anschauen nicht hinreichend bestimmen könne.311 Auch sei eine Anschauung des Universums „in sich selbst ein völliges Unding"312. Anschauen habe immer „einen sinnlich begrenzten Gegenstand" und beziehe sich immer „auf das Erkennen dessen, was ist und geschieht"313. Das Universum als Gesamtheit der Sinnenwelt könne vom menschlichen raumzeitlichen Anschauungsvermögen nicht umfaßt werden. Der Universumsbegriff sei metaphysisch und gehöre nach Schleiermachers eigener Einteilung zur Erkenntnis und nicht zur Religion. Die Schleiermachersche Aussage, Anschauen des Universums sei die höchste Formel für die Religion, könne gar nicht ernst gemeint sein.314 Das Fühlen habe ansonsten immer Vorrang vor dem Anschauen. Nicht die der Erkenntnis zugehörige Anschauung und das Gefühl seien verwoben, sondern Phantasie und Gefühl. Deshalb lautet das Ergebnis: Schleiermacher „habe das Anschauen des Universums nicht für die Hauptsache der Religion nach seinem Sinne gehalten, es aber doch aus irgend einer Ursache dafür erklärt, indem es das Ostensible dieser Religion und gleichsam ein gutes Aushängeschild für dieselbe war."315 Ist nun das Fühlen des Universums als Hauptstück der Religion entdeckt, so muß dieses Fühlen genauer bestimmt werden. Nach der üblichen Unterscheidung von pathologischen, ästhetischen und moralischen Gefühlen sei das von Schleiermacher beschriebene religiöse Fühlen ohne alles moralische Gefühl316, es habe nur beiläufig ästhetische und vorherrschend pathologische Qualität317. Durch seine Schilderung des religiösen Augenblicks zeige Schleiermacher, daß seine Religion vorzüg308 309 310 3,1 312 313 314 3'5 316 317

KPB 15,963 KPB 15,965 KPB 15,965 Vgl. KPB 15,966 KPB 15,968 KPB 15,969 Vgl. KPB 15,970 KPB 15,971 Vgl. KPB 15,972 Vgl. KPB 15,973

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lieh „Momentanreligion"318 sei; in ihr walte „ein freier und freudiger Sinn"319. Der Rezensent resümiert, „daß eine solche Art von Religion, so wie nach ihrem negativen Bestandtheile Naturalismus, so nach dem affirmativen Epikureismus, und demnach, im Ganzen betrachtet, epikurischer Naturalismus, genannt zu werden verdient."320 Schleiermachers Satz von der einen Kirche und den vielen Religionen sowie seine Behandlung der Kirche unter dem Leitbegriff der Geselligkeit zieht der Rezensent zur Bestätigung seiner Epikureismus-These heran; „denn die glaubenslosen Weltgenießer haben und brauchen keine Geschlossenheit und Gesetzlichkeit eines Vereins in ihrer Religion, sind aber überall gern und leicht unter einander gute Gesellen."321 Diese Einschätzung werde auch untermauert durch Schleiermachers Lobrede auf Friedrich Schlegels „wollüstigen sogleich Anfangs gebührend verabscheuten und jetzt zur Ehre Deutschlands verschollenen und ganz vergessenen"322 Roman „Lucinde". Schleiermachers Ausmalung des religiösen Augenblicks sei die Präformation solcher Lobrede. In seiner „Schätzung und Censur dieser sogenannten Religion" lautet das Urteil des Rezensenten, „daß sie ihres Namens in keiner Hinsicht werth ist. Ihrem negativen Theile nach enthält sie, wie wir wissen, entschiedene Leugnung des Glaubens an Gott und Unsterblichkeit, ohne welchen es nach dem allgemein geltenden und mit Recht giltigen Sprachgebrauche eine Religion nicht gibt."323 Auch in ihrem affirmativen Teil sei Schleiermachers Lehre ungenügend,324 Selbst wenn die Mängel des Anschauungsbegriffs beiseite gesetzt würden, könne doch der Universumsbegriff die Religion nicht umfassen. Gott und Unsterblichkeit seien konstitutiv für die Religion. Außerdem tadelt der Rezensent, „daß der objective Grundfehler der Religion Schl's. in seinem Ausschlüsse des Moralischen liegt."325, Schleiermachers Religion sei „nur geeignet für Glückliche"326, sie übergehe das Phänomen des Leidens und der Trostbedürftigkeit. Der Rezensent sieht die Moral als unentbehrliche Grundlage für die Religion und beide wesentlich verbunden. Er bemängelt an Schleiermachers Lehre, „daß sie sich nicht ohne Verstellung und Lüge öffentlich

318 319 320

322 313

324 325 326

KPB 15,974 KPB 15,975 KPB 15,975 KPB 15,977 KPB 15,977 KPB 15,978. Für seine Leugnung eines persönlichen ein Gewebe von allerlei Sophistereien" (979) an. Vgl. KPB 15,982f KPB 15,983 KPB IS,983

Gottes führe Schleiermacher

„nur

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vortragen und vertheidigen läßt."317 Epikureischer Naturalismus und Lossagung von der Moral seien nicht öffentlichkeitsfähig. Zur Lösung des Rätsels, „wie und wodurch der Verf. zu einer solchen Denkart in Absicht auf Religion sich verirrt habe"3ZS, biete die erste Zueignung der Schrift an Brinckmann im Jahr 1806 den Schlüssel: Die mit der Befreiung aus dem Herrnhutertum verbundene „Umänderung seiner religiösen Denkart war also Uebergang von einem Extreme zum andern, vom Aberglauben zum Unglauben"329. In der abschließenden Erörterung330 ihres Wertes wird den „Reden" zunächst hermeneutische Bedeutung für die anderen Schriften Schleiermachers zugemessen, weil sie einen authentischen Maßstab liefern, „um andere die Sache der Religion angehende Schriften des Verfs. darnach zu erklären und zu beurtheilen"331. Der in den „Reden" ersichtliche Geist des Unglaubens, der Amoralität, des epikureischen Naturalismus sei auch in den anderen literarischen Äußerungen Schleiermachers zu finden. Sodann lasse sich aus den „Reden" durchaus Neues und Wichtiges lernen.332 Unabhängig vom Grundirrtum des epikureischen Naturalismus fänden sich erhellende Aussagen z. B. über Protestantismus und Katholizismus oder Supranaturalismus und Rationalismus. Schließlich seien die „Reden" eine Warnung an Leser und Nachahmer vor Schleiermachers trügerischer Religionslehre.333 Dessen Selbstaussagen zur zweiten und dritten Auflage und das Fehlen einer Vorrede zur vierten Auflage seien als Andeutung einer Selbstdistanzierung Schleiermachers von seinem Jugendwerk, das in eklatantem Widerspruch zu seinen amtlichen Aufgaben stehe, zu verstehen. „Hätte er das mit nicht sattsamer Besonnenheit und Selbstbeherrschung früher hingesprochene Wort später zurücknehmen können, er hätte das gewiß mit Freuden gethan"334. So habe Schleiermacher wohl „für das übereilte Jugendproduct"335 lebenslang büßen müssen. Im Rückblick auf Schleiermachers Lebenswerk schätzten schon die Zeitgenossen die Bedeutung der „Reden" für die Entwicklung der Frömmigkeit im protestantischen Deutschland sehr hoch ein. Mit ihnen habe Schleiermacher nicht nur seine literarische Tätigkeit begonnen, sondern auch die Frömmigkeit nachhaltig geprägt. Gerhard Friedrich Abraham 327 328 329 330 331 332 333 334 335

KPB 15,985 KPB 15,987 KPB 15,988 Vgl. KPB 15,1002-1009 KPB 15,1002 Vgl. KPB 15,1004-1006 Vgl. KPB 15,1006-1009 KPB 15,1008 KPB 15,1009

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Einleitung des

Bandherausgebers

Strauß (1786—1863), im Doppelamt Theologieprofessor sowie Hof- und Domprediger in Berlin, 1833/34 Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität336, hob in seiner Trauerrede die epochale Bedeutung Schleiermachers hervor und würdigte den Verstorbenen als einen „der ersten und bedeutendsten Wiederhersteller der evangelischen Gottesgelahrtheit nach Form und Inhalt"337. Strauß sah die epochale Wirkung Schleiermachers in den „Reden" konkretisiert: „Es erschienen die Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Wir alle, die wir Zeugen ihrer Einwirkung in die Zeit waren und dieselbe als Jünglinge an uns selbst erfuhren, denken nie ohne Rührung an das allgemeine Zucken, das bei den Blitzen seiner Worte durch die Gemüther fuhr, an das freudige Staunen, das sich unser bemächtigte und an das hoffnungsvolle Hineinschauen in eine neue Zeit, die sich ankündigte. Schleiermacher hatte, einer der Ersten, die Aufgabe seiner Zeit erkannt, und darum fielen ihm so viele Herzen zu."338 Für die Rezeptionsgeschichte der „Reden" ist wichtig, welche Textfassung den späteren Ausgaben nach Schleiermachers Tod zugrunde gelegt wurde.339 Hier gab es eine Verlagerung von der Letztfassung im 19. Jahrhundert zur Erstfassung im 20. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert wurde zehnmal die Textfassung der vierten Auflage von 1831 gedruckt: 1834, 1843 zweimal, 1859, 1868, 1878, 1880, 1889, 1895, 1899. Abweichend legte Lommatzsch seiner Ausgabe von 1888 den Text der zweiten Auflage von 1806 zugrunde. Außerdem sind zwei Ausgaben, die den Text der Erstausgabe bieten, besonders zu nennen: die kritische Ausgabe von Bernhard Pünjer 1879 und die Säkularausgabe von Rudolf Otto 1899. Pünjers Ausgabe erfüllt allerdings nicht die Ansprüche an eine kritische Edition. In seinem Variantenapparat erfaßt Pünjer die Abweichungen der zweiten und dritten Auflage nicht vollständig, die Abweichungen der vierten Auflage überhaupt nicht. Abweichungen in Schreibweise und Zeichensetzung sowie Korrekturen von Druckfehlern weist er nicht nach. Er normiert die Schreibweise und nimmt häufig Korrekturen auch gegen das Druckfehlerverzeichnis vor. Er gibt keinen textkritischen Apparat und keinen Sachapparat. Die Säkularausgabe der Erstauflage, die Rudolf Otto 1899 veranstaltete, wandelte die Rezeption völlig. Im 20. Jahrhundert dominierte eindeutig die Erstauflage. Deren Textfassung 336

337

338 339

Vgl. Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Unwersität zu Berlin, Bd. 3, Halle an der Saale 1910, S. 485 Strauß: Rede gehalten im Sterbehause, in: Gerhard Friedrich Abraham Strauß/Friedrich August Pischon/Henrich Steffens: Drei Reden am Tage der Bestattung des weiland Professors der Theologie und Predigers Herrn Dr. Schleiermacher am 15ten Februar 1834 gehalten, Berlin 1834, S. 6 Strauß: Rede 7 Vgl. Meding: Bibliographie, Nr. 1799/5

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wurde sowohl in den meisten Einzelausgaben als auch in den Werksammlungen wiedergegeben. Bisher gab es insgesamt 31 Ausgaben mit dem Text der Erstausgabe; allein die Ausgabe von Otto erlebte sechs Auflagen. Außerdem wurde zweimal der Text der vierten Auflage zugrunde gelegt. Ab 1887 gab es sechs verkürzte Ausgaben sowie ab 1912 eine größere Anzahl von Textauszügen.

B. Monologen. Eine

Neujahrsgabe

Schleiermacher veröffentlichte 1810 im Verlag der Berliner „Realschulbuchhandlung" seines Freundes Georg Reimer die zweite Ausgabe seiner Schrift „Monologen. Eine Neujahrsgabe", deren Erstausgabe er zum Jahresbeginn 1800 beim Berliner Verleger Johann Carl Philipp Spener anonym publiziert hatte. Trotz der stilistischen und sachlichen Überarbeitungen ist der Umfang der Schrift von der Erstfassung zur Letztfassung nur wenig gewachsen. Die zweite Ausgabe hat einen Umfang von 126 arabisch gezählten Seiten im Duodezformat. Die Druckbogen sind durch die Großbuchstaben „A" bis „F" gekennzeichnet. Eine Textseite hat normalerweise 25 Zeilen bei einem Satzspiegel von 7 cm Breite und 11,7 cm Höhe. Nach dem Titelblatt ist eine unpaginierte „Vorrede zur zweiten Ausgabe" hinzugefügt, die mit „Berlin im April 1810. Dr. Fr. Schleiermacher" unterschrieben ist.340 Der Meßkatalog „Allgemeines Verzeichniß der Bücher ..." meldet die zweite Ausgabe der „Monologen" als zur Ostermesse 1810 erschienen:.341 Nach Auskunft der Hauptbücher des Verlags Georg Reimer, vormals Realschulbuchhandlung Berlin, erhielt Schleiermacher von der zweiten Ausgabe der „Monologen" am 16. April 1810 sechs Exemplare sowie 50 Reichstaler Honorar. Von dieser Ausgabe bezog er am 26. Juni 1819 ein weiteres Exemplar.342 Die dritte Ausgabe der „Monologen" erschien 1822 erneut im selben Verlag, nun unter dem Verlagsnamen G. Reimer. Der „Vorrede zur zweiten Ausgabe" ist eine ebenfalls unpaginierte „Vorrede zur dritten Ausgabe" hinzugefügt, unterschrieben mit „Berlin im December 1821. S.". Der Text umfaßt 126 arabisch paginierte Seiten im Duodezformat 340

341 342

Zu dem von Schleiermacher seit 1808 literarisch geführten Doktortitel vgl. Wichmann von Meding: Schleiermachers theologische Promotion, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 87, Tübingen 1990, S. 299-322 Vgl. Meding: Bibliographie, Nr. 1810/1 Vgl. Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek, Nr. 2525

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Einleitung des

Bandherausgebers

mit normalerweise 26 Zeilen. Die Druckbogen sind wiederum durch die Großbuchstaben „A" bis „F" gekennzeichnet. Der Satzspiegel ist 6,9 cm breit und 11,6 cm hoch. Die beiden Vorreden sind in einem größeren Schriftgrad mit 24 Zeilen gesetzt. Die dritte Ausgabe ist im Meßkatalog als zur Michaelismesse 1821 erschienen verzeichnet.343 Diese Angabe kollidiert mit dem Datum der Vorrede „December 1821". Laut Hauptbuch Reimer bekam Schleiermacher am 2. Februar 1822 sechs Exemplare der dritten Ausgabe. Im Juli 1829 erhielt er nach Verkauf dieser Ausgabe 100 Taler Honorar.344 Die vierte Ausgabe kam 1829 erneut im Berliner Verlag G. Reimer heraus. Dem Text sind das Titelblatt und die beiden Vorreden der zweiten und dritten Ausgabe vorangestellt. Die 6 römisch und 104 arabisch gezählten Seiten im Duodezformat haben einen Satzspiegel von 7,2 cm Breite und 12,4 cm Höhe. Die Druckbogen sind durch die Großbuchstaben „A" bis „E" markiert. Die beiden Vorreden sind in einem größeren Schriftgrad mit 26 Zeilen pro Seite gesetzt. Die Textseiten umfassen normalerweise 29 Zeilen. Die vierte Ausgabe ist im Meßkatalog zur Ostermesse 1829 angekündigt, nach dem Leipziger „Verzeichniß der Bücher und Landkarten" in der zweiten Jahreshälfte 1829 erschienen 345 Die Hauptbücher Reimer verzeichnen, daß Schleiermacher von der vierten Ausgabe am 11. Dezember 1829 zwei Exemplare und schon im Juli 1829 ein Honorar von 100 Reichstalern bekam.346

1. Schleiermachers Bearbeitung der

„Monologen"

Zur Bearbeitung der „Monologen" und zur Drucklegung der zweiten, dritten und vierten Ausgabe gibt es keine Brief Zeugnisse. Die Art der Bearbeitung muß aus den vorliegenden Druckfassungen selbst ermittelt werden. In seiner „Vorrede zur zweiten Ausgabe" versichert Schleier mach er, „daß noch immer alle darin geäußerten Gesinnungen so vollkommen die meinigen sind, wie nur irgend ein Bild aus früherer Zeit dem älteren Manne gleichen kann und darf."347 Dieses Bild wolle er in der ursprünglichen Gestalt mitsamt ihren Darstellungsmängeln erhalten, weil jede 34' Vgl. Meding: Bibliographie, Nr. 1822/3 344 Ygl Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek, Nr. 2526 345 Vgl. Meding: Bibliographie, Nr. 1829/7 346 ygl Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek, Nr. 2527 *47 Unten 325,11-13

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Überarbeitung die innere Wahrheit und freundliche Aufnahme des Büchleins gefährde. Neben kleinen Änderungen des Ausdrucks wolle er nur einige Undeutlich ketten beseitigen.348 Die Ergebnisse, die ein Textvergleich der vier Ausgaben erbringt, weisen allerdings auf eine stärkere Bearbeitung hin. Während Schleiermacher die „Reden" in der dritten Ausgabe mit umfänglichen Erläuterungen versieht, beschreitet er bei den „Monologen" diesen Weg nicht. Die Erstausgabe dient als Grundtext, der nur durch kleine und kleinste Ergänzungen, Streichungen und Umstellungen geändert ist. Bei diesem konservativen Verfahren sind manche Eingriffe zur selben Stelle über mehrere Ausgaben verteilt. Schleiermacher kann mit dem Einschieben oder dem Weglassen eines einzigen Wortes neue Sinnakzente setzen.349 Erst ein genauer Vergleich der einzelnen Sätze und Wörter läßt den Wandel von der Erstfassung zur Letztfassung erkennen.350 Die Mehrzahl der Änderungen sind sprachlich-stilistischer Art. Hier läßt sich Schleiermachers Bestreben feststellen, eine möglichst große Reinheit, Faßlichkeit, Eindeutigkeit, Genauigkeit, Angemessenheit, Korrektheit, Stimmigkeit und Schönheit des Ausdrucks zu erreichen. Schleiermacher will philosophische Kunstwörter vermeiden351, die Satzgefüge übersichtlicher und die Sinnbezüge faßlicher machen352. Er will sprachlichen Mißverständnissen möglichst vorbeugen353 und seine Aussage möglichst genau formulieren35*. Er will seine Gedanken möglichst angemessen ausdrücken355 und dabei einer Aussage den korrekten Modus geben356. Er bemüht sich um stimmige Bildvergleiche357 und eine schöne Sprachgestalt358. Doch auch viele inhaltlich-konzeptionelle Änderungen lassen sich beobachten. Dabei zielt Schleiermacher immer mehr auf eine Vermittlung mit den imaginierten Gegnern. Während er in der Erstfassung der „Monologen" seine Eigentümlichkeit scharf gegen andere LebensauffasVgl. unten 325,19-22 Vgl. die Aussage zum Gewissen unten 342,16f mit KGA 1/3, 17,4f 350 Yg[ Günter Meckenstock: Der Wandel der „Monologen" Schleiermachers, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, edd. G. Meckenstock/ ]. Ringleben, Theologische Bibliothek Töpelmann 51, Berlin/New York 1991, S. 403 — 418 351 Vgl. z. B. unten 329,2 352 Vgl. z. B. unten 388,9 353 Vgl. z. B. unten 377,29 354 Vgl. z. B. unten 350,30 355 Vgl. z. B. unten 363,9 356 Vgl. z. B. unten 389,24-28 357 Vgl. z. B. unten 388,9-12 358 Vgl. z. B. unten 388,17 348 349

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sungen und Verhaltensweisen profiliert, hebt er in den späteren Ausgaben durch feinste Formulierungsänderungen das Verbindende immer stärker gegenüber dem Trennenden hervor. Die Abgrenzung soll das Gemeinsame nicht gefährden, das Trennende eine nicht verletzende moderate Gestalt erhalten. Bedächtiges Abwägen, Vergleichen und Einschränken ersetzt die schroffe Entgegensetzung. Durch alle Ausgaben greift Schleiermacher die Physiokratie und Nützlichkeitsidee der Aufklärung an. Er bemängelt an der Aufklärung, daß sie sich mit der sozialen Herrschaft über die äußere Natur und deren genußvollen Nutzung zufriedengebe, daß sie den Menschen nur als Sinnenwesen auffasse und damit dessen eigentümliche Bildung verhindere. In seiner Kritik sucht Schleiermacher das eigene Anliegen differenzierter zu formulieren.359 Hinsichtlich der inhaltlichen Änderungen weisen die zweite und die dritte Ausgabe unterschiedliche Schwerpunkte auf. In der zweiten Ausgabe ist der Wandel bei der Verhältnisbestimmung von Geist und Körperwelt, von Innen und Außen markant. Während in der Erstausgabe die Prädominanz von Geist und Willen herausgestellt wird und damit Schleiermachers Konzeption der sittlichen Individualität, die die Selbstbestimmung ins Zentrum rückt, ein radikal idealistisches Gepräge hat, bekommt die Außenwelt in der zweiten Ausgabe eine eigene Realität zugebilligt und gewinnt das soziale Leben stark an Bedeutung.360 Die ontologische Beschreibung eines strikten Nebeneinanders von selbstgenügsamem Geist und Welt verändert die zweite Ausgabe zur ethischen Aussage über die Zuwendung des Geistes zur Welt. In der dritten Ausgabe arbeitet Schleiermacher den Unterschied zwischen dem idealistischen Urbild und der faktischen Gestalt seiner eigentümlich gebildeten Individualität deutlicher hervor. Damit will er dem durchaus naheliegenden Mißverständnis entgegentreten, er schildere die tatsächliche Verfaßtheit seiner eigenen Person und betreibe somit rühmende Selbsterhebung. Um einer entsprechenden Mißdeutung der „Monologen" vorzubeugen, schränkt er die bedingungslose Selbstbejahung ein und zeichnet lobrednerische Einzelzüge in helle Grautöne um, indem er Grade des Abstandes von der Vollkommenheit angibt.361 In der vierten Ausgabe faßt Schleiermacher deutlicher die begrenzende Kraft der Natur gegenüber der Sittlichkeit.362 Bei unveränderter

359 360 361 3"

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

z. z. z. z.

B. B. B. B.

unten 359,29-360,4 mit KGA 1/3, 30,14-19 unten 334,7-18 mit KGA 1/3, 10,8-20 unten 376,lf unten 377,32 - 378,3

Historische

Einführung

LXVII

Kritik an der physiokratischen Intention der Aufklärung nimmt in der vierten Ausgabe das Lob Schleiermachers für die technische Naturbeherrschung zu.363

2. Die Aufnahme der

„Monologen"

Die „Monologen" wurden aufgenommen als programmatisches Dokument einer Ethik der Individualität.364 Mit diesem Gedanken trat Schleiermacher Kant und Fichte überbietend gegenüber. Die geistige Individualität propagierte er als Zentralgedanken der Ethik. „Mir ist der Geist das erste und das einzige: denn was ich als Welt erkenne, ist sein schönstes Werk, sein selbstgeschaffener Spiegel."365 Dieses ethische Programm entfaltete er durch die Darstellung seiner eigenen Weltsicht, seiner eigenen Lebenserfahrungen, seiner eigenen Gefühle, Hoffnungen und Wünsche. Diese Darstellung der eigenen Lebenserfahrungen hatte dabei exemplarischen Charakter. So wie er sollten alle Menschen ihre Individualität entwickeln und entfalten. Im Verwandten- und Freundeskreis verwies Schleiermacher auf die „Monologen" als ein treffendes Abbild seines inneren Lebens.366 Besonders in seiner Freundschaft zu Karl Gustav von Brinckmann waren die „Monologen" Ausdruck gemeinsamen Lebensgefühls und Anknüpfungspunkt gemeinsamer Erinnerung. Brinckmann wies in seinem Brief vom 12. Mai 1804 darauf hin, daß er in seinen „Arabesken"367 Gedanken und Partien der „Monologen" in poetischer Umgestaltung aufgenommen habe. „Ich werde sehen, ob Du die Monologen genug studirt hast, um die Arabesken zu erkennen, die ich eigentlich aus ihnen entlehnt habe."36S Schleiermacher antwortete am 1. August 1804: „So wenig liebe ich mich nun übrigens nicht, daß ich unsere übereinstimmenden Gedanken aus den Monologen in dem verschönernden und verklärenden Spiegel Deiner Poesie nicht hätte wieder erkennen sollen."369 Als Brinckmann nach längerer Unterbrechung von Stockholm aus den Briefwechsel wieder anknüpfen wollte, schrieb er am 24. November 1818 an Schleiermacher: „Ich empfand nämlich vor geraumer Zeit lebhafter als je das Bedürfniß einer innigem Wieder-Vereinigung mit den Vertrauten meiner Jugend. Vgl. unten 358,35-359,2 Zur ersten Aufnahme der „Monologen" vgl. KGA 1/3, XXI-XXX1X 365 Monologen, Berlin 1800, S. 15f; KGA 1/3, 9,37-39 366 yg/_ Schleiermachers Brief vom 3. August 1809 an Charlotte von Kathen (Briefe 2,247) 367 Vgl. Brinckmann: Gedichte, Bd. 1, Berlin 1804, S. 169-315 368 Brinckmann: Briefe an Schleiermacher 61 369 Briefe 4,98 363 364

LXVIII

Einleitung des Bandberausgebers

Ein zufällig erneuerter Briefwechsel mit Niemeyers befeuerte diesen Wunsch noch mehr, und ich freute mich dabei nicht bloß meiner ehemaligen, sondern meiner noch fortblühenden Geistesjugend. Du erinnerst Dich doch, daß wir von jeher übereinkamen, es sei im Grunde niederträchtig alt zu werden, und ich hoffe, daß Du, schon an Jahren jünger als ich, dem Vorsatz einer ewigen Jugend unverändert treu geblieben bist."370 Schleiermacher antwortete am 31. Dezember 1818: „Und noch erfreulicher kam mir Deine Frage nach der ewigen Jugend entgegen."371 Am 28. November 1819 berichtete Schleiermacher an die Gräfin Luise von Voß, daß Leopold von Plehwe an Schleiermachers Geburtstag „mit der Thümenschen Familie aus den Monologen Jugend und Alter gelesen. Was ich da eben schrieb, scheint gewaltig nach dem Alter zu schmecken. Die Jugend ist aber auch schon dahinter her um sich lustig darüber zu machen, und im Ernst ist sie noch keineswegs gesonnen das Feld zu räumen."372 Für die dritte und vierte Ausgabe liegen keine eigenen Rezensionen vor. Die zweite Ausgabe wurde einmal besprochen. Im Oktober 1814 publizierte die „Allgemeine Literatur-Zeitung" in ihren Ergänzungsblättern eine durchaus zustimmend-lobende Rezension.373 Der Rezensent erörtert zunächst allgemein, wie ein Mensch dargestellt und sein Leben geschildert werden könne. Er kontrastiert zwei Arten, nämlich erstens eine Schilderung des Äußerlich-Konkreten, die aber nur das jederzeit Veränderliche erfaßt, und eine Schilderung des Wesentlich-Inneren, die auf die „herrschende Lebensrichtung"374 eines Menschen geht. „Ein Muster der Selbstschilderungen dieser bessern Art hat Schleiermacher in diesen ,Monologen' gegeben. Sie erschienen zuerst im Jahre 1800, und konnten 1810 eben darum, weil sie die wesentliche Eigenthümlichkeit, die innere Persönlichkeit ihres Verfassers, die durch den Zuwachs an Jahren und die veränderte äußere Lage nicht verändert werden konnte, darstellten, bis auf einige Kleinigkeiten im Ausdrucke und einige genauere Bestimmungen unverändert abgedruckt werden."37S Der Rezensent sieht als Adressaten der „Monologen" Schleiermachers Freunde. „Ihnen muß dieß Büchlein eine unschätzbare Gabe gewesen seyn. Sie konnten fortan nicht mehr an Einigem im äußern Leben ihres Freundes, das mit Andern nicht in Einklang zu stehen schien, Anstoß nehmen:

370 371 371 373

374 375

Brinckmann: Briefe an Schleiermacher 93 Briefe 4,240 Briefe 2,366 Vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung 1= ALZ], Halle/Leipzig blätter, Nr. 119, Oktober 1814, Sp. 950- 952 ALZ 951 ALZ 951

1814, Bd. 4.

Ergänzungs-

Historische Einführung

LXIX

denn sie erkannten nun sein Inneres, das Alles in Einheit hält. Aber auch Fremde mußte dem Vf. dieß Büchlein zu Freunden gewinnen. Denn überall sucht das Liebebedürftige Herz Menschen, in denen die Menschheit lebendig ist, und einigt sie sich und giebt sich ihnen hin, wo sie sich ihm auf eine Weise kund thun, an deren Wahrhaftigkeit zu zweifeln ihm Frevel dünkt."376 Die Rezeptionsgeschichte der „Monologen" ist ähnlich verlaufen wie die der „Reden". Im 19. Jahrhundert wurde fast ausschließlich der Text der Letztausgabe wieder abgedruckt, im 20. Jahrhundert vornehmlich der der Erstausgabe. Nach Schleiermachers Tod folgten im 19. Jahrhundert 17 Drucke dem Text der vierten Ausgabe von 1829; zwei Ausgaben (1887 und 1899) boten den Text der dritten Ausgabe von 1822; keine Ausgabe legte den Text der Erstausgabe zugrunde. Das änderte sich mit Beginn des 20. Jahrhunderts. Die kritische Ausgabe, die Friedrich Michael Schiele im Jahr 1902 veranstaltete und die nicht allen philologischen Ansprüchen genügt, hat die Erstfassung als Basistext. Die Abweichungen der zweiten und dritten Ausgabe sind in einem Variantenapparat, die Abweichungen der vierten Ausgabe im Vorwort des Herausgebers listenmäßig ziemlich vollständig erfaßt. Textkritischer Apparat und Sachapparat fehlen; Änderungen der Schreibweise bleiben in der Regel unberücksichtigt. In der zweiten Auflage dieser kritischen Ausgabe hat Hermann Mulert teilweise von Schiele stammende Sachanmerkungen hinzugefügt. Sowohl in den Einzelausgaben als auch in den Werksammlungen dominierte ab 1902 die Erstfassung. Im 20. Jahrhundert wurde die Erstfassung bisher insgesamt zwanzigmal, der Text der Letztfassung von 1829 nur dreimal (1922, 1923 und 1924) gedruckt. Verschiedentlich wurden aus den „Monologen" Auszüge publiziert.377

376 377

ALZ 952 Vgl. Meding: Bibliographie, Nr. 1800/1. Über die dort genannten acht Publikationen von Auszügen hinaus vgl. Deutsches Lesebuch. Eine Auswahl deutscher Prosastücke aus dem Jahrhundert 1750—1850, ed. H. v. Hofmannsthal, 2. Aufl., Bd. 1, München 1926 (Nachdruck Frankfurt am Main 1952. 1977), S. 184-187

II. Editorischer

Bericht

Der vorliegende Band folgt den „Allgemeinen editorischen Grundsätzen für die l. Abteilung",378 Da bei beiden Druckschriften, die der Band enthält, für die 2. bis 4. Auflage keine handschriftlichen Druckvorlagen erhalten sind, werden auch keine Manuskripte kritisch ediert und kommen die Editionsregeln für Handschriften nicht zur Anwendung. Die in der Einleitung des Bandherausgebers teilweise erstmalig publizierten Briefe werden in einem einfachen Lesetext mitgeteilt. Der vorliegende Band gibt die Reden „Ober die Religion" und die „Monologen" jeweils nach dem Textbestand der Letztfassung wieder. In einem Variantenapparat sind die Abweichungen der 2. und 3. Auflage gegenüber der 4. Auflage notiert. Die 2. Auflage ist durch den Buchstaben B, die 3. Auflage durch C und die 4. Auflage durch D gekennzeichnet. Dieser Variantenapparat hat nach Funktion und Inhalt den doppelten Charakter von Textmitteilung und Nachweis. Trotz der Vielzahl, Unterschiedlichkeit und Verschränktheit der Mitteilungen ist eine lesefreundliche Gestaltung des Variantenapparats angestrebt. Er soll aus sich selbst verständlich sein und eigenständig so gelesen werden können, daß eine qualifizierende Beurteilung der mitgeteilten Varianten möglich ist. Die Mitteilungen sind nach Art, Ort und Quelle möglichst gebündelt. Textkritischer Apparat und Sachapparat, die unter dem Variantenapparat angeordnet sind, gelten auch für den Variantenapparat. Wenn der textkritische Apparat oder der Sachapparat Mitteilungen für den Variantenapparat geben, ist dieser in den auf dem Innenrand notierten Zeilenzähler der Seite einbezogen. Die Seitenzahlen der Quellentexte werden als Marginalien jeweils auf dem Außenrand vermerkt. Die Seitenzahlen der 4. Auflage sind recte ohne das Sigel „D" angegeben. Die Seitenzahlen der 2. und 3. Auflage sind jeweils kursiv unter Hinzufügung der beiden Sigel „B" und „C" notiert. Bei allen drei Auflagen ist der jeweilige Seitenbruch im Text durch einen senkrechten Strich gekennzeichnet. Ein Seitenbruch, der in eine Worttrennung fällt, wird durch einen senkrechten Strich ohne vorangehendes Trennungszeichen mitgeteilt. Das Fehlen des Worttrennungszeichens im Quellentext wird im textkritischen Apparat durch ein Spatium vor dem Seitenbruchstrich angezeigt. Beim Zeilenbruch, für den ein nach rechts fallender Schrägstrich steht, wird entsprechend verfahren. Die Textausgabe „Sämmtliche Werke" ist so berücksichtigt, daß der Sei378

Vgl. KGA in,

IX-XllI

Editoriseber

LXXI

Bericht

tenbruch zwar im Text nicht durch einen Strich markiert, aber auf dem Rand der betreffenden Zeile die jeweilige Seitenzahl nach dem Sigel „SW" (ohne Nennung von Abteilung und Band) angegeben ist. Typographische Schwankungen, die keine sachliche Bedeutung haben (z. B. zusätzliche Leerzeile zwischen Absätzen oder unterschiedlicher Buchstabenabstand beim Sperrdruck), werden stillschweigend vereinheitlicht. Dem Band sind acht Abbildungen beigegeben. Die Titelblätter der Letztfassungen von „Reden" und „Monologen" sind jeweils auf der Rückseite der edierten Titelseiten faksimiliert,379 Außerdem sind in insgesamt sechs Abbildungen zwei Karikaturen wiedergegeben, auf die in den Anmerkungen Nr. 123 und 152 zur Einleitung Bezug genommen wird.iS0 a) Über die Religion.

Reden an die Gebildeten

unter ihren

Verächtern:

In der 3. und 4. Auflage hat Schleiermacher die fünf Reden jeweils durch „Erläuterungen" und die Nachrede durch „Anmerkungen" ergänzt, die nicht als Fußnoten unter dem Text, sondern als Endnoten am Schluß jedes Kapitels in kleinerem Schriftgrad zugefügt sind. Die Verbindung vom Text zu diesen Endnoten ist durch Hochzahlen hergestellt, die in jeder Rede fortlaufend durchnumeriert sind. Verständlicherweise fehlen diese Hochzahlen in der 2. Auflage; darauf ist im Variantenapparat nicht einzeln hingewiesen. Apparate. Aus der Perspektive der hier maßgeblichen 4. Auflage beziehen sich die Verweise und Anspielungen, die Schleiermacher auf seine Dogmatik „Der christliche Glaube" vornimmt, zumeist auf deren 2. Auflage. Der Sachapparat weist gemäß den Erfordernissen des Sinnzusammenhangs die 2. Auflage oder die 1. Auflage oder auch beide Auflagen nach. Schreibweise. In der Druckgestalt weicht die 2. Auflage darin von der 3. und 4. Auflage ab, daß die 2. Auflage die Umlaute durch zwei Strichelchen über α, ο und u kennzeichnet, während die 3. und 4. Auflage über den Vokalbuchstaben ein kleines e setzen. Diese unterschiedliche Gestaltung der Drucktypen hat Folgen für die Schreibweise, wenn Umlaute am Anfang eines Wortes stehen, das groß geschrieben wird. Während in der 2. Auflage die Großbuchstaben Ä, Ö und Ü gedruckt sind, haben die 3. und 4. Auflage die Schreibweise Ae, Oe und Ue. Im textkritischen Apparat werden nur die abweichenden Schreibweisen der Großbuchstaben notiert. 379 380

Vgl. unten 2 und 324 Vgl. unten LXX1V-LXXIX

LXXII

Einleitung

des

Bandherausgebers

Schleiermacher hat offensichtlich in der 2. Auflage am stärksten darauf geachtet, daß die ihm eigentümliche Schreibweise und Interpunktion auch vom Setzer eingehalten wurde. Seine sparsame Zeichensetzung ist programmatisch gewollt.38* Am 6. Juli 1806 mahnte Schleiermacher bei Reimer die Beachtung seiner Schreibweise an.3S2 Diese Mahnung wiederholte Schleiermacher noch einmal am 26. Juli 1806: „Ich empfehle Dir ja die lnterpunctation und das Ausmerzen aller tz und ck nebst dem wichtigeren Unterschiede zwischen ss und ß."383 Der Vergleich der Auflagen zeigt, daß die Zahl der Kommata von der 2. zur 4. Auflage deutlich wächst. In der 2. Auflage wird häufig „kk" geschrieben, z. B. bei „Blikk" oder „Augenblikk"; die späteren Auflagen begnügen sich zumeist mit einfachem „k". In der 2. und 3. Auflage wird zumeist „Stuffe" geschrieben, in der 4. Auflage „Stufe". Die 4. Auflage schreibt substantivierte Adjektive zumeist groß, die 2. und 3. Auflage schreiben sie zumeist klein. Derselbe Sachverhalt liegt bei „alles" vor. Auf Einzelnachweise im Variantenapparat wird bei folgenden regelmäßigen Abweichungen verzichtet: Die 2. und 3. Auflage bieten die Wortform „nemlich"3S4 sowie die Wortform „ahnden"385 bzw. „Ahndung", die 4. Auflage hat durchgehend die Wortform „nämlich" sowie die Wortform „ahnen" bzw. „Ahnung". Seitenzahlen. In der 3. Auflage ist die Seitenzählung mehrfach fehlerhaft: Das Zahlenpaar 363/364 kommt doppelt vor; dafür sind die Seitenzahlen 367 und 368 ausgelassen; die Paginierung springt von Seite 366 nach 369. Außerdem ist die Seitenzahl 403 in 401 verschrieben, ferner die Seitenzahl 411 in 413. Alle diese Seitenzahlen sind in den Marginalien stillschweigend korrigiert, ohne daß im textkritischen Apparat ein Einzelnachweis erfolgt. Dagegen sind die Korrekturen einzeln im textkritischen Apparat nachgewiesen, die bei den sechs Erläuterungen zur dritten Rede im Variantenapparat vorgenommen sind; die 3. Auflage gibt nämlich die Seitenzahlen, die die Erläuterungen auf den Text rückbeziehen, irrtümlich jeweils durch die entsprechenden Seitenzahlen der 2. Auflage an. Marginalien. Die Seitenzahlen der „Sämmtlichen Werke", die ohne Nennung von Abteilung und Band auf dem rechten Seitenrand kursiv angegeben sind, beziehen sich auf SW 1/1 (Berlin 1843). 38· Vgl. Briefe 4,78f; 3,381 382 Vgl. oben bei Anm. 34 383 SN 761/1, Bl. 53v 384 Die Ausgabe Β hat ausnahmslos die Wortform „nemlich". Die Ausgabe C dagegen hat außerdem die Wortform „nämlich" (unten 46,15; 107,29; 128,10; 258,23; 269,9; 284,11) und die Wortform „nehmlich" (unten 200,4; 253,12f; 267,8; 313,3f; 315,1; 317,18). 385 In Ausgabe C kommt abweichend einmal „Ahnen" vor (unten 61,17).

Editorischer Bericht

LXXIII

b) Monologen. Eine Neujabrsgabe: Schreibweise. Wie umfangreich der Anteil der Setzer an der vorliegenden Textgestalt ist, läßt sich nicht entscheiden. Wie bei den „Reden" läßt sich auch bei den „Monologen" in der 4. Auflage eine Tendenz zur Normierung beobachten. In der 4. Auflage werden häufiger Doppelkonsonanten wie „kk" und f f " geschrieben, ζ• Β. bei „Blikk" oder „Begriff"; die früheren Auflagen begnügen sich öfters mit einfachem Konsonanten „k" oder „f". Die Zahl der Kommata nimmt von der 2. Auflage zur 4. Auflage zu. Marginalien. Die Seitenzahlen der Ausgabe „Sämmtliche Werke", die kursiv auf dem rechten Seitenrand ohne Angabe von Abteilung und Band mitgeteilt sind, beziehen sich bei den „Monologen" auf SW III/l (Berlin 1846). *

*

*

Die Herausgeberkommission übertrug mir im April 1991 die Edition des vorliegenden Bandes. Bald nach der Beauftragung verstarb im September 1991 plötzlich Hans-Joachim Birkner. Ihm gilt mein dankbares Gedenken. Am 1. Februar 1994 wurde ich sein Nachfolger in der Leitung der Kieler Schleiermacher-Forschungsstelle. Mein Dank gilt auch der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, die mich 16 Jahre lang vom Pfarrdienst beurlaubte und mich großzügigerweise wohl zum dienstältesten Hilfsprediger in Deutschland werden ließ, und der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel, die schließlich die Voraussetzungen für eine neue Professur für Systematische Theologie schuf. Meine Berliner Kollegen Prof. Dr. Andreas Arndt und Dr. Wolfgang Virmond standen mir wiederum mit neuen Briefmaterialien hilfreich zur Seite. Dr. Erich Fuchs und Dr. Hermann Patsch (beide München) gaben mir wertvolle Quellenhinweise. Bei Fahnenkorrektur und Fahnenrevision, beim Klebeumbruch, bei Umbruchkorrektur und Umbruchrevision unterstützten mich mit großem Engagement Hanne-Lore Heße, HannsChristoph Picker, Dr. Martin Rößler und Dr. Dirk Schmid. Ihnen allen gehört mein herzlicher Dank. Kiel, im März 1995

Günter

Meckenstock

Zeitgenössische

Karikatur (vgl. oben Anm. (22% verkleinert)

123)

Ausschnitt

(160%

vergrößert)

Zeitgenössische Karikatur (vgl. oben Anm. 152) (63% verkleinert)

Ausschnitt

(seitenverkehrt,

um das Lesen der Schriftzüge (33% verkleinert)

zu

erleichtern)

Ausschnitt

(20%

vergrößert)

Ausschnitt

(seitenverkehrt,

20%

vergrößert)

Ueber die Religion Reden 5

an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Vierte Auflage. Berlin, bei G. Reimer. 1831.

1 Ueber] B: Über 6 - 9 Vierte ... 1831] B: Z w e i t e Ausgabe. Berlin. In der Realschulbuchhandlung. 1806. C: Dritte vermehrte Ausgabe. Berlin 1821. G e d r u k t und verlegt bei G. Reimer

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Weimer. 1 8 3 1.

An

Gustaf von Brinkmann.

111; Β 1; C 111; SW 135

5

10

15

20

25

Laß es Dir auch unangekündiget und wol unerwartet dennoch gefallen, Freund, daß bei ihrer zweiten Erscheinung diese Schrift Dir besonders dargebracht werde. Denn nicht ungeschikt ist sie schon durch ihren Inhalt Dich an jene Zeit zu erinnern, wo sich gemeinschaftlich unsere Denkart entwikkelte, und wo wir losgespannt durch eigenen Muth aus dem gleichen Joche, freimüthig und von jedem Ansehn unbestochen die Wahrheit suchend, jene Harmonie mit der Welt in uns hervorzurufen anfingen, welche unser inneres Gefühl uns weissagend zum Ziel sezte, und welche das Leben nach allen Seiten immer vollkommener ausdrükken soll. Derselbe innere Gesang, Du weißt es, war es auch der in diesen Reden, wie in manchem andern, was ich öffentlich gesprochen, | sich mittheilen wollte; hier jedoch nicht so, wie in wahren Kunstwerken höherer Art, auf eine ganz freie | Weise; sondern Thema und Ausführung war mir abgedrungen von der Zeit und den Umgebungen, und stand in der genauesten Beziehung auf die, welche mich zunächst hören sollten. Dieses Verhältniß nun macht die Gabe welche ich Dir darbringe unbedeutender als sie vielleicht sonst sein würde, so daß ich hoffen muß, die schöne Erinnerung, zu welcher ich Dich auffordere, soll länger leben, als dieses Denkmal seiner Natur nach vermag. Denn sehr vergänglich muß ein Werk sein, welches sich so genau | an den Charakter eines bestimmten Zeitpunktes anschließt, eines solchen zumal, wo mit dieser Schnelligkeit, wie wir es jezt in Deutschland gesehen haben, die Schulweisheit nicht nur, sondern auch die herrschende Gesinnung und Empfindungsweise wechselt, und der Schriftsteller nach wenigen Jahren einem ganz anderen Geschlecht von Lesern und Denkern gegenübersteht. Darum hätte ich mich fast widersezt dagegen, diese Reden, nachdem sie ihren ersten Umlauf gemacht, zum zweiten Male auszusenden, wenn ich nicht gefürchtet hätte, ob mir wol einseitig noch ein Recht zustände

15 die,] B: die 1 7 f muß, ... Erinnerung, ... auffordere,] ß: muß ... Erinnerung ... auffordere 2 6 f Reden, ... gemacht,] B: Reden ... gemacht 1 — 10 Karl Gustav von Brinckmann (Brinkmann, Brinkman) und Schleiermacher waren seit ihrer gemeinsamen Studienzeit 1787—1789 an der Friedrichs-Universität zu Halle an der Saale lebenslang befreundet. Brinckmann, der bereits die Erstausgabe der „Reden" überschwenglich gelobt hatte, äußerte seine Freude über die Zweitausgabe und deren Zueignung an ihn (vgl. Historische Einführung XXXVIIlf). 6 Anspielung auf die Erziehung in der Herrnhuter Brüdergemeine, die Brinckmann 1775 — 1785 und Schleiermacher 1783—1787 im Pädagogium von Niesky und im Seminarium von Barby erhielten.

V; Β ill; C ν

C vi ΒIV

SW 136 vi

6

Über die Religion

Β V auf solche Art | über dasjenige abzusprechen, was einmal in den freien C VII Gemeinbesiz Aller hingegeben | war. O b ich nun aber bei dieser zweiten Ausstellung das rechte getroffen magst Du beurtheilen. Was zuerst jenen allgemeinen Charakter betrifft der Beziehung auf den Zeitpunkt, in welchem das Buch zuerst erschien, so mochte ich diesen nicht verwischen, 5 ja ich bemerkte auch, zu meiner Freude gestehe ich Dir, daß ich es nicht konnte, ohne das Ganze so völlig umzubilden, daß es wirklich ein anderes geworden wäre. Daher habe ich mir in dieser Hinsicht nichts erlaubt als Einzelheiten zu ändern, welche allzuleicht bei denen, die an die Sprache des heutigen Tages gewöhnt sind, das gestrige aber nicht kennen, 10 Mißverständnisse verursachen konnten, zumal wo es auf das Verhältniß der Philosophie zur Religion ankam, und das Wesen der lezteren durch ihren Unterschied von der ersteren sollte bezeichnet werden. Was ich dagegen gern ganz verwischt hätte, wenn es mir möglich gewesen wäre, ist das nur allzustark dem ganzen Buch aufgedrükte Gepräge des unge- 15 Β VI übten Anfängers, dem die Darstellung immer nicht so klar | gerathen will als der Gegenstand ihm doch wirklich vor Augen steht, und der | VII die Grenzen des Sprachgebietes, in welchem er sich zu bewegen hat, nicht bestimmt erkennt. Du erinnerst Dich, was wir über das Leztere, als wir uns neulich 20 C viii; sw 137 sahen, gesprochen haben. | Deiner Hülfe, die ich mir damals erbat, habe ich leider entbehrt, und gewiß zum Nachtheil meiner Arbeit. Indeß kannst Du nun aus dem, was an dieser geschehen ist, ziemlich genau beurtheilen, in wiefern wir einig sind über die Grenzen der Prose, und das in ihr nicht zu duldende Poetisirende, und in wiefern ich Recht hatte 25 zu sagen, daß oft schon durch eine Aenderung in der Stellung der Worte das richtige Verhältniß könne wiederhergestellt werden. Meines Wissens habe ich nichts irgend Bedeutendes mein Gefühl in dieser Hinsicht Beleidigendes unbewegt gelassen, und mich bei keiner Aenderung beruhiget, die jenes Gefühl nicht befriediget hätte. 30

4 Zeitpunkt,] B: Zeitpunkt 7 konnte,] B: konnte 9 denen,] B: denen 10 das gestrige aber] B: und die das gestrige 18 Sprachgebietes, ... hat,] B: Sprachgebietes ... hat 20 Leztere] B + C: leztere 21 Hülfe, ... erbat,] B: Hülfe ... erbat 25 Poetisirende] B + C: poetisirende 2 8 f Bedeutendes ... Beleidigendes] B + C: bedeutendes ... beleidigendes 20—27 Als Schleiermacher aus seinem Stolper Pfarramt in seine Professur nach Halle übersiedelte, war er im September/Oktober 1804 in Berlin und traf dort auch Brinckmann, der ihm am 14. August 1804 geschrieben hatte: „Ueber die Grundsäze des prosaischen Styls muß ich hier sehr ausführlich mit Dir sprechen." (Briefe an Schleiermacher 65). Eine persönliche Begegnung fand vermutlich auch bei Schleiermachers Aufenthalt in Berlin Anfang April 1806 statt.

Zueignung

der zweiten

Ausgabe

7

Was aber die an vielen Stellen sehr unklare Darstellung betrifft, so war mir das Buch seit mehreren Jahren fremd genug geworden, so | daß ich glaube sie jezt eben so sehr gefühlt zu haben als irgend ein Leser. Daß ich nicht ganz geringe Anstalten getroffen habe um hierin soviel 5 irgend möglich war zu bessern, wird Dir schon eine flüchtige Vergleichung zeigen. In wiefern ich meine Absicht erreicht habe, darüber habe ich jezt noch kein rechtes Urtheil sondern erwarte das Deinige. Zu manchen Mißverständnissen, deren das Buch so vielerlei ganz wunderliche erfahren | hat, mag die Veranlassung in jener Unvollkommenheit gelegen 10 haben, und diese können nun wol gehoben werden. Nichts aber sollte mir weher thun, als wenn in der Art, wie nun aufs neue über dies Buch wird geurtheilt werden, jenes große Mißverständniß nicht mehr hervorträte, an welchem wir uns oft ergözt haben, | daß wir nämlich mit unserer Denkart immer von den Ungläubigen für Schwärmer, von den Aber15 gläubigen aber und von denen die in der Knechtschaft des Buchstaben sich befinden, für Ungläubige gehalten werden. Denn wenn mein Buch dieses Zeichen nicht mehr an sich trüge, so hätte ich es, anstatt daran zu bessern, gänzlich verunstaltet. | Lebe wol, und möge das Schiksal uns bald wieder zusammenführen, 20 Nur sei auch diese Gunst nicht die Folge einer solchen Ruhe von der nur feigherzige Gemüther etwas Angenehmes und Erfreuliches zu erwarten fähig sind. Halle, den 29. August 1806. F. Schleiermacher.

5 bessern,] B: bessern 11 f Art, ... werden,] B: Art ... werden 15 Buchstaben] B.Buchstabens 18 bessern,] B: bessern 21 Angenehmes und Erfreuliches] B + C: angenehmes und erfreuliches 19—22 Preußen war gegenüber Napoleon während des 3. Koalitionskrieges 1805 neutral geblieben im Sinne seiner Neutralitätspolitik seit dem Baseler Frieden von 1795 und war dafür mit der Übereignung Hannovers belohnt worden. Schleiermacher verurteilte 1806 die Haltung der preußischen Politik (vgl. seinen Brief vom 25. April 1806 an Joachim Christian Gaß, Briefwechsel mit Gaß 45), hielt den Krieg gegen Napoleon für unvermeidlich (vgl. seinen Brief vom 20. Juni 1806 an Charlotte von Kathen, Briefe 2,63 f) und sehnte ihn herbei (vgl. seinen Brief an Ehrenfried von Willich vom 15. September 1806, Briefe 2,67). Der 4. Koalitionskrieg 1806/07, der für Preußen zur Katastrophe wurde, brachte für Schleiermachers Lebensweg tiefe Einschnitte. Schleiermacher traf Brinckmann erst 1833 in Stockholm wieder.

Β VU

c ix

viii

Β vui sw 138

Noch einmal, mein geliebter Freund, übergebe ich Dir dieses Buch. C X Was ich darüber den Lesern | überhaupt zu sagen habe, das kannst auch Du als solcher unten finden. Dir aber, dem auch ich wie Deutschland und seine mannigfaltigen geistigen Bewegungen fremder geworden bin durch lange Trennung — denn alles was Dir eine geschwäzige Litteratur über die baltische See hinüberbringt, giebt doch nicht das klare Bild, das sich in demjenigen gestaltet, der unmittelbar anschaut und mitlebt — Dir wünsche ich vorzüglich dadurch wieder nahe zu treten, so daß die verblichenen Züge meines Bildes sich Dir wieder auffrischen mögen und Du nun den Ehemaligen wieder erkennst, wenn gleich in der Zwischenix zeit Dir Manches vorgekommen sein mag, was Dir fremd | erschien. Und wie wir damals als Jünglinge nicht gern wollten eines Einzelnen Schüler sein, sondern alle Richtungen der Zeit auf unsere Weise aufnehmen, und dieses Buch wie meine andern früheren schriftstellerischen Erzeugnisse weder an eine Schule sich anschließen wollte noch auch geeignet war eine eigne zu stiften: so bin ich auch in meiner unmittelbaren Wirksamkeit auf die Jugend demselbigen Sinne treu geblieben, und habe mir, nicht verlangend, daß die Söhne schlechter sein sollten als die Väter, nie ein anderes Ziel vorgesezt als durch Darstellung meiner eignen Denkart C XI auch nur Eigenthümlichkeit | zu wekken und zu beleben, und im Streit mit fremden Ansichten und Handlungsweisen nur dem am meisten entsw 139 gegenzuwirken, was freie geistige Belebung zu hemmen droht. Beide Bestrebungen fandest ja auch Du in diesem Buche vereint, und so ist auch in dieser Beziehung durch dasselbe mein ganzes Lebensbekenntniß ausgesprochen. Ich kann Dir aber dieß Buch nicht senden ohne eine wehmüthige Erinnerung auszusprechen die auch in Dir anklingen wird. Als ich nämlich daran gehen mußte es aufs neue zu überarbeiten, schmerzte es mich

10 Ehemaligen] C: ehemaligen C: dies ... wemüthige 18 sein] C: seien

11 Manches] C: manches

26 dieß ... wehmüthige]

19 Ziel] C; Zeil

3 Gemeint ist die „Vorrede zur dritten Ausgabe". 5 Brinckmann hatte im Mai 1808 Preußen verlassen und war seit 1810 ständig in Schweden. 14 Anspielung wohl auf Schleiermachers Druckschriften „Monologen" (1800) und „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" (1803).

5

10

15

20

25

Zueignung

der dritten

Ausgabe

9

tief, daß ich es dem nicht mehr senden konnte, mit dem ich zulezt viel darüber gesprochen, ich meine F. H . J a c o b i dem wir beide so Vieles verdanken und mehr gewiß als wir wissen. Nicht über Alles konnte ich mich ihm verständigen in wenigen zerstreuten Tagen, und M a n c h e s 5 würde ich eigens für ihn theils hinzugefügt theils weiter ausgeführt haben in den Erläuterungen. H a b e ich mich ihm aber auch nicht ganz können aufschließen: so gereicht es doch zu dem liebsten in meinem Leben, daß ich noch kurz vor seinem Hingang sein persönliches Bild auffas|sen und mir aneignen, und ihm meine Verehrung und Liebe X 10 konnte fühlbar machen. | Lebe wol, und laß auch das Land Deiner Erziehung und Entwikke- c xu lung bald etwas von den anmuthigen und reifen Früchten Deines Geistes genießen. Berlin, im November 1 8 2 1 . |

2 Vieles] C: vieles

3 Alles] C: alles

4 Manches] C: manches

1—4 Seine Herbstreise 1818 mit Georg Reimer und Leopold von Plehwe führte Schleiermacher Ende September auch nach München. Dort waren die drei Reisenden mehrfach zum Mittagessen bei Friedrich Heinrich Jacobi eingeladen (vgl. Briefe 2,347). Da Schleiermacher in seinen Gesprächen mit Jacobi eine Verständigung über ihre philosophisch-theologischen Differenzen nicht erreichen konnte (vgl. Briefe 4,243), bemühte er sich brieflich um eine Verdeutlichung seines Standpunktes (vgl. Briefe 2,349—353).

cxiu;swi40

Vorrede zur dritten Ausgabe.

Als mein Freund der Verleger mir ankündigte, die Exemplare dieser Reden wären vergriffen und es bedürfe einer neuen Auflage: so war ich 5 fast erschrekt, und hätte wünschen können, er möchte eine Anzahl im Stillen abgedruckt haben ohne mein Wissen. Denn ich war in großer Verlegenheit, was zu thun sei. Den Abdruk weigern, wäre wol ein Unrecht gewesen gegen die Schrift und gegen mich; denn es würde von den meisten sein ausgelegt worden, als mißbilligte ich sie und möchte sie 10 gern zurüknehmen. Aber wozu auf der andern Seite ihn gestatten, da die Zeiten sich so auffallend geändert haben, daß die Personen, an welche C Xiv diese Reden gerichtet sind, gar nicht | mehr da zu sein scheinen? Denn XI ge|wiß, wenn man sich bei uns wenigstens, und von hier sind doch auch ursprünglich diese Reden ausgegangen, umsieht unter den Gebildeten: 15 so möchte man eher nöthig finden, Reden zu schreiben an Frömmelnde und an Buchstabenknechte, an unwissend und lieblos verdammende Aber- und Uebergläubige; und ich könnte, zufrieden, daß Voß sein flammendes gezogen hält, dieses ausgediente Schwerdt nicht unzufrieden mit seinen Thaten aufhängen in der Rüstkammer der Litteratur. Indeß in 20 4 Gemeint ist der Verleger Georg Andreas Reimer (1776—1842), mit dem Schleiermacher wohl seit 1800 in näherer, später freundschaftlicher Beziehung stand. Reimer gab der 1749 gegründeten und 1800 von ihm erworbenen Buchhandlung der Königlichen Realschule oder Realschutbuchhandlung im Jahr 1819 seinen Namen Georg Reimer. 16—18 Vgl. Schleiermachers briefliche Äußerung an Brinckmann vom 31. Dezember 1818: „Sonst ist freilich in unserer deutschen Welt in dieser Hinsicht ein wunderliches Wesen; nachdem die Leute sich so lange von der flachen Aufklärung haben gängeln lassen, werden sie nun theils katholisch, theils geben sie sich in die buchstäblichste Orthodoxie hinein, theils werden sie wunderliche Frömmler. Man muß es nun der närrischen Welt lassen, daß sie aus einem Extrem in das andere übergeht; allmählig findet sie sich doch wieder zurecht." (Briefe 4,241). 18 f Johann Heinrich Voß (1751 —1826) äußerte sich literarisch im Sinne eines aufgeklärten kämpferischen Protestantismus. In der von Heinrich Eberhard Gottlob Paulus herausgegebenen Zeitschrift „Sophronizon" ([Bd. 1], H. 3, Frankfurt am Main 1819, S. 1 — 113) veröffentlichte er den polemischen Beitrag „Wie ward Friz Stolberg ein

Vorrede

5

10

15

20

25

zur dritten

Ausgabe

11

welchem Maaß nach meiner Ueberzeugung eine Schrift ist sie einmal öffentlich ausgestellt, ihrem Urheber noch gehört oder nicht, darüber habe ich mich schon in der Zueignung erklärt; und so war ich auch bedenklich zu sagen, daß diejenigen, welche dies Buch noch suchten — ob es aber solche gebe oder nicht, das zu wissen ist eigentlich die Pflicht SW 141 und die Kunst des Verlegers — gar kein Recht an mich hätten, ja um so weniger dürfte ich dies, da ich noch jezt eben indem ich meine Dogmatik schreibe, ein und anderes Mal veranlaßt gewesen bin, mich auf dieses Buch zu berufen. Dieses nun überwog, wie ja immer überwiegen soll, was irgend als Pflicht erscheinen kann; und es blieb nur die Frage, wie ich irgend | dem Buche noch helfen könnte unter den gegebenen Umstän- C XV den. Auch hierüber konnte ich nicht anders entscheiden und kein anderes Maaß anlegen als bei der zweiten Ausgabe geschehen war; und ich wünsche nur, daß man auf der einen Seite die größere Strenge, welche dem reiferen Alter und der längeren Uebung geziemt, nicht vermisse, auf der andern aber auch nicht Forderungen mitbringen möge, die ich nicht erfüllen konnte. Denn da nun einmal die Form, welche jener Zeit der ursprünglichen Abfassung angehört, beibehalten werden mußte, so | konnte ich auch nicht alles ändern, was dem mehr als Fünfzigjährigen XII nicht mehr ganz gefallen kann an dem ersten Versuch, mit welchem der Dreißigjährige öffentlich auftrat. Denn es wäre eine Unwahrheit gewesen, wenn ich, der jezige, in die damalige Zeit hineinschreiben wollte. Darum sind der Aenderungen in der Schrift selbst zwar nicht wenige aber alle nur sehr äußerlich fast nur Castigationen der Schreibart, bei denen indeß auch mein Zweck nicht sein konnte alles Jugendliche wegzuwischen. Weshalb mir aber vorzüglich willkommen war noch einmal auf dieses Buch zurükzukommen, das sind die vielen zum Theil sehr

19—21 Fünfzigjährigen ... Dreißigjährige] C: fünfzigjährigen ... dreißigjährige rükzukommen] C: zurükkzukommen

2 7 zu-

2 noch] C: nach Unfreier?" gegen seinen Jugendfreund Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750—1819), der am l.Juni 1800 in Münster zur katholischen Konfession übergetreten war und am 5. Dezember 1819 über der Abfassung seiner Verteidigungsschrift „Kurze Abfertigung der langen Schmähschrift des Herrn Hofraths Voß wider ihn" (Hamburg 1820) starb. Diese von seinem Bruder Christian Graf zu Stolberg (1748—1821) vollendete und herausgegebene Verteidigungsschrift beantwortete Voß mit der Streitschrift „Bestätigung der Stolbergischen Umtriebe nebst einem Anhang über persönliche Verhältnisse" (Stuttgart 1820), worin er seiner Kritik am römischen Katholizismus schneidende Schärfe gab. 3 Vgl. S,26—6,2 7 Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche, Bd. 1 —2, Berlin 1821-1822 / = C G 1 / , jetzt KGA 7 / 7 , 3 - 2 8 f Vgl. z. B. KGA 1/7,1,30,24f; 1,60,30

Über die

12

Religion

CXVl wunderlichen Mißdeutungen die es erfahren hat, und die Widersprüche die man zu finden geglaubt hat zwischen diesen Aeußerungen, und dem was man von einem Lehrer des Christenthums nicht nur erwartet, sondern was ich auch als solcher selbst gesagt und geschrieben. Diese Mißdeutungen aber haben ihren Grund vorzüglich darin, daß man die rheto5 rische Form, so stark sie sich in dem Buche auch auf jeder Seite ausspricht, doch fast überall verkannte, und auf die Stellung welche ich in SW 142 demselben genommen, und welche doch auch nicht bloß auf dem Titel angedeutet ist als ein müßiger Zusaz, sondern überall will beobachtet sein, keine Rüksicht genommen. Hätte man dieses nicht vernachläßigt, 10 so würde man wol alles haben zusammenreimen können, was hier geschrieben steht mit andern, fast gleichzeitigen sowol als bedeutend späteren Schriften, und mich nicht fast in einem Athem des Spinozismus und des Herrnhutianismus, des Atheismus und des Mystizismus beschuldigt haben. Denn meine Denkungsart über diese Gegenstände ist damals 15 schon mit Ausnahme dessen was bei jedem die Jahre mehr reifen und XIII abklä|ren in eben der Form ausgebildet gewesen wie sie seitdem geblieben ist, wenn gleich Viele welche damals dieselbe Straße mit mir zu C XVII wandeln schienen auf ganz andere Wege abgeirrt | sind. Jenen Mißdeutungen nun vorzubeugen, und auch die Differenzen zwischen meiner je- 20 zigen und damaligen Ansicht anzugeben, zugleich aber auch gelegentlich Manches zu sagen, was nahe genug lag und nicht unzeitig schien, dazu sind die Erläuterungen bestimmt, welche ich jeder einzelnen Rede hinzugefügt habe, und so ist es mir, vorzüglich um der Jüngeren willen, die mir befreundet sind oder es werden möchten, besonders lieb, daß die 25 neue Ausgabe dieser Reden zusammentrifft mit der Erscheinung meines Handbuchs der christlichen Glaubenslehre. Möge dann jedes auf seine Art beitragen zur Verständigung über das heiligste Gemeingut der Menschheit. Berlin, im April 1821.

30 Dr. F. Schleiermacher.

22 Manches] C: manches

Inhalt.

I. Rechtfertigung Erläuterungen II. Ueber das Wesen der Religion Erläuterungen III. Ueber die Bildung zur Religion Erläuterungen IV. Ueber das Gesellige in der Religion, oder über Kirche und Priesterthum Erläuterungen V. Ueber die Religionen Erläuterungen Nachrede Anmerkungen

XIV; Β IX; C XV11I

Seite 1 — 25 — 30 — 121 — 142 — 169 — — — — — —

174 213 247 299 313 319

2 Rechtfertigung] B: Apologie 3 Erläuterungen ... 25] fehlt in Β 3 25] C: 36 4 30] Β41 C: 43 5 Erläuterungen ... 121] fehlt in Β 5 121] C: 175 6 142] B: 178 C: 204 7 Erläuterungen ... 169] fehlt in Β 7 169] C: 244 9 174] B: 220 C: 250 10 Erläuterungen ... 213] fehlt in Β 10 213] C: 307 11 247] B: 282 C: 353 12 Erläuterungen ... 299] fehlt in Β 12 299] C: 429 13 Nachrede] B: Zusaz 13 313] B: 363 C: 448 14 Anmerkungen ... 319] fehlt in Β 14 319] C: 456

Erste Rede.

1; Β 1; C 1; SW 143

Rechtfertigung.

C2 Β2

SW 144 2

Es mag ein unerwartetes Unternehmen sein, über welches Ihr Euch billig wundert, daß noch einer wagen kann, gerade von denen, welche sich über das Gemeine erhoben haben, und von der Weisheit des J a h r hunderte durchdrungen sind, Gehör zu verlangen für einen so gänzlich von ihnen vernachläßigten Gegenstand. Auch bekenne ich, daß ich nichts anzugeben weiß, was mir nur einmal jenen leichteren Ausgang weissagete, meinen Bemühungen Euren Beifall zu gewinnen, vielweniger den erwünschteren, Euch meinen Sinn einzuflößen, und die Begeisterung für meine Sache. Denn schon von Alters her ist der Glaube nicht jedermanns Ding gewesen; und immer ha|ben nur Wenige die Religion erkannt, indeß Millionen auf mancherlei Art mit | den Umhüllungen gaukelten, welche sie sich lächelnd gefallen läßt. Aber zumal jezt ist das Leben der gebildeten Menschen fern von allem, was ihr auch nur ähnlich wäre. J a ich weiß, daß Ihr eben so wenig in heiliger Stille die Gottheit verehrt, als Ihr die verlassenen Tempel besucht; daß in Euren aufgeschmükten Wohnungen keine anderen Heiligthümer angetroffen werden, als die klugen Sprüche unserer Weisen und die herrlichen Dichtungen unserer Künstler, und daß Menschlichkeit und Geselligkeit, Kunst und Wissenschaft, wieviel Ihr eben dafür zu thun meint und Euch davon anzueignen würdiget, so völlig von Eurem Gemüthe Besitz genommen haben, daß für das ewige I und heilige Wesen, welches Euch jenseit der Welt liegt, nichts

2 Rechtfertigung] B: Apologie 4 noch einer] B: jemand noch 7 ich, daß] B: ich daß 15 allem,] B: allem 17 aufgeschmükten] C: aufgeschmückten 18 anderen] B + C: andere 1 9 f unserer ... Geselligkeit] B: Eurer Weisen und die leichten Dichtungen Eurer Künstler, und daß Menschheit und Vaterland 21 meint] B: meint, 22 Besitz] B + C: Besiz 11 f Vgl. 2 Thess 3,2

5

10

15

20

Erste Rede

15

übrig bleibt, und Ihr keine Gefühle habt für dies, und von diesem. Ich weiß, wie schön es Euch gelungen ist, das irdische Leben so reich und vielseitig auszubilden, daß Ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und wie Ihr, nachdem Ihr Euch selbst ein Weltall geschaffen habt, nun über5 hoben seid an dasjenige zu denken, welches Euch schuf. Ihr seid darüber einig, ich weiß es, daß nichts Neues und nichts Triftiges mehr gesagt werden kann über diese Sache, die von Weisen und Sehern, und dürfte ich nur nicht | hinzusetzen von Spöttern und Priestern, nach allen Seiten ß 3 zur Genüge besprochen ist. Am wenigsten — das | kann Niemandem C3 10 entgehen — seid Ihr geneigt, die Leztern darüber zu vernehmen, diese längst von Euch ausgestoßenen und Eures Vertrauens unwürdig erklärten, weil sie nämlich nur in den verwitterten Ruinen ihres Heiligthumes am liebsten wohnen, und auch dort nicht leben können, ohne es noch mehr zu verunstalten und zu verderben. Dies alles weiß ich; und den15 noch, offenbar von einer innern und unwiderstehlichen Nothwendigkeit göttlich beherrscht, fühle ich mich gedrungen zu reden, und kann meine Einladung, daß gerade Ihr mich hören mögt, nicht zurüknehmen.

20

25

30

Was aber das Lezte betrifft, so könnte ich Euch wohl fragen, wie es denn komme, daß, da Ihr über jeden Gegenstand, er sei wichtig oder gering, am liebsten von denen belehrt sein wollt, welche ihm ihr Leben und ihre Geisteskräfte gewidmet haben, und Eure Wißbegierde deshalb sogar die Hütten des Landmanns und die Werkstätten der niedern Künstler nicht scheuet, Ihr nur in Sachen der Religion alles für desto verdächtiger haltet, wenn es von denen kommt, welche die Erfahrenen darin zu sein nicht nur selbst behaupten, sondern auch von Staat und Volk dafür angesehen werden? Oder | solltet Ihr etwa, wunderbar genug, zu beweisen vermögen, daß eben diese die Erfahrenem nicht sind, vielmehr alles andre eher haben und anpreisen, als Religion? Wol schwerlich, Ihr besten Männer! Ein solches un| berechtigtes Urtheil also nicht sonderlich achtend, wie bil|lig, bekenne ich vor Euch, daß auch ich ein Mitglied dieses Ordens bin; und ich wage es auf die Gefahr, daß ich von Euch, wenn Ihr mich nicht aufmerksam anhöret, mit dem großen Haufen desselben, von dem Ihr so wenig Ausnahmen gestattet, unter eine Benennung ge-

8 hinzusetzen] B:

hinzusezzen

10 Leztern] B: L e z t e r e n B: H e i l i g t h u m s

C:

hinzusezen

9 N i e m a n d e m ] B + C:

1 1 a u s g e s t o ß e n e n ] B + C: a u s g e s t o ß e n e n ,

18 Lezte] B + C: lezte

auch] B : b e h a u p t e n , und

2 2 n i e d e r n ] B: niederen

12

Niemanden

Heiligthumes]

2 5 nicht n u r . . .

2 6 — 2 8 zu beweisen . . . eher] B : v e r m ö g e n zu b e w e i s e n , d a ß

sie es nicht sind, und d a ß sie e h e r alles a n d e r e

3 1 — 1 d a ß ich . . . w e r d e ] B : w e n n ihr

m i c h nicht a u f m e r k s a m a n h ö r e t , mit d e m g r o ß e n H a u f e n desselben u n t e r eine B e n e n n u n g g e w o r f e n zu w e r d e n

3 2 f d e s s e l b e n , . . . g e s t a t t e t , ] C : desselben . . . g e s t a t t e t

3 2 f Ihr . . . Ihr] C : ihr . . . ihr

Β4 sw 145 3 C4

16

Über die Religion

w o r f e n werde. Dies ist wenigstens ein freiwilliges G e s t ä n d n i ß , da meine S p r a c h e mich w o l nicht leicht sollte verrathen h a b e n , und n o c h weniger, h o f f e ich, die L o b s p r ü c h e , die meine Z u n f t g e n o s s e n diesem Unternehm e n spenden werden. D e n n was ich hier betreibe, liegt so gut als völlig a u ß e r ihrem Kreise, und dürfte dem wenig gleichen, was sie am liebsten 5 sehen und h ö r e n m ö g e n ! 1 . S c h o n in das Hülferufen der Meisten über den U n t e r g a n g der Religion s t i m m e ich nicht ein, weil ich nicht w ü ß t e , d a ß irgend ein Z e i t a l t e r sie besser a u f g e n o m m e n hätte als das gegenwärtige; und ich h a b e nichts zu schaffen mit den altgläubigen und b a r b a r i schen W e h k l a g e n , wodurch sie die eingestürzten M a u e r n ihres jüdischen 10 Z i o n s und seine gothischen Pfeiler wieder e m p o r s c h r e i e n m ö c h t e n . DesB 5 wegen also, und auch sonst hinreichend bin ich mir b e w u ß t , | d a ß ich in allem, was ich E u c h zu sagen habe, meinen Stand völlig verläugne; w a r u m sollte ich ihn also nicht wie irgend eine andere Zufälligkeit bek e n n e n ? D i e i h m erwünschten Vorurtheile sollen uns ja keinesweges hin- 15 dern, und seine heilig gehaltene Grenzsteine alles Fragens und M i t t h e i C 5 lens sollen nichts gelten zwischen uns. Als M e n s c h | also rede ich zu Euch von den heiligen Geheimnissen der M e n s c h h e i t n a c h meiner Ansicht, von dem w a s in mir war, als ich n o c h in jugendlicher S c h w ä r m e r e i das U n b e k a n n t e suchte, von dem w a s , seitdem ich d e n k e und lebe, die inner- 20 ste Triebfeder meines Daseins ist, und was mir a u f ewig das H ö c h s t e bleiben wird, a u f welche Weise auch n o c h die Schwingungen der Z e i t und der M e n s c h h e i t mich bewegen mögen. U n d d a ß ich rede, rührt nicht SW 146 her aus einem vernünftigen Entschlüsse, auch nicht aus H o f f n u n g oder 4 Furcht, n o c h geschiehet es aus sonst irgend einem will|kührlichen oder zufälligen G r u n d e ; vielmehr ist es die reine N o t h w e n d i g k e i t meiner N a tur; es ist ein göttlicher Beruf; es ist das, was meine Stelle in der Welt b e s t i m m t , und mich zu dem m a c h t , der ich bin. Sei es also weder schicklich n o c h r a t h s a m , von der Religion zu reden, dasjenige, was mich also Β 6 drängt, er|drükt mit seiner himmlischen G e w a l t diese kleinen R ü k sichten. Ihr w i ß t , d a ß die G o t t h e i t durch ein unabänderliches Gesez sich selbst genöthigt h a t , ihr großes Werk bis ins Unendliche hin zu entzweien, jedes b e s t i m m t e D a s e i n nur aus zwei entgegengesetzten T h ä t i g keiten zusammenzuschmelzen, und jeden ihrer ewigen G e d a n k e n in zwei

2 leicht] B : sonderlich 3 f Lobsprüche, ... werden] B: Lobsprüche meiner Zunftgenossen C: Lobsprüche ... werden 4 hier] fehlt in Β 5 f dürfte ... am liebsten ... mögen!] Β : möchte ... gern ... wollen. 15 ja keinesweges] B: deshalb 19 war,] Β : war 2 0 was, seitdem ... lebe,] B: was seitdem ... lebe 23 rede,] B + C: rede 25 aus sonst] B : einer Absicht zu Liebe, oder sonst aus 2 6 Grunde;] ß : Grunde: 28 f s c h i c k l i c h . . . dasjenige,] B + C: schiklich ... dasjenige 3 2 Ihr] kein Absatz in Β 33 genöthigt] B: genöthiget 3 4 entgegengesetzten] B + C: entgegengesezten

25

30

35

Erste

5

10

15

20

25

30

35

Rede

17

einander feindseligen und d o c h nur durch einander bestehenden und unzertrennlichen Zwillingsgestalten zur W i r k l i c h k e i t zu bringen. D i e s e ganze k ö r p e r l i c h e Welt, in deren Inneres einzudringen das h ö c h s t e Z i e l | Eures Forschens ist, erscheint den Unterrichtetsten und B e s c h a u l i c h s t e n unter E u c h nur als ein ewig fortgeseztes Spiel entgegengesezter K r ä f t e . J e d e s Leben ist nur die gehaltene E r s c h e i n u n g eines sich i m m e r erneuenden Aneignens und Z e r f l i e ß e n s , wie jedes D i n g nur d a d u r c h sein bestimmtes D a s e i n hat, daß es die entgegengesezten U r k r ä f t e der N a t u r a u f eine eigenthümliche Art vereinigt und festhält. D a h e r a u c h der G e i s t , wie er uns im endlichen L e b e n erscheint, s o l c h e m Gesez m u ß u n t e r w o r fen sein. D i e menschliche Seele — ihre vorübergehenden H a n d l u n g e n s o w o h l als die innern E i g e n t h ü m l i c h k e i t e n ihres Daseins führen uns dara u f — hat ihr Bestehen vorzüglich in zwei entgegengesetzten T r i e b e n . Z u f o l g e des einen näm|lich strebt sie sich als ein Besonderes hinzustellen, und somit, erweiternd nicht minder als erhaltend, was sie u m g i e b t an sich zu ziehen, es in ihr L e b e n zu verstrikken, und in ihr eigenes Wesen einsaugend aufzulösen. D e r andere hingegen ist die bange Furcht, vereinzelt dem G a n z e n gegenüber zu stehen; die Sehnsucht, hingebend sich selbst in einem größeren aufzulösen, und sich von ihm ergriffen und b e s t i m m t zu fühlen. Alles daher, was Ihr in Bezug a u f E u e r a b g e s o n d e r tes Dasein empfindet oder thut, alles was | Ihr G e n u ß und Besiz zu nennen pfleget, w i r k e t der erste. U n d wiederum, w o Ihr nicht a u f das b e s o n dere Leben gerichtet seid, sondern in E u c h vielmehr das in Allen gleiche, für Alle dasselbige D a s e i n sucht und b e w a h r t , w o | Ihr d a h e r O r d n u n g und Gesez in E u r e m D e n k e n und H a n d e l n a n e r k e n n t , N o t h w e n d i g k e i t und Z u s a m m e n h a n g , R e c h t und Schiklichkeit, und E u c h d e m fügt und hingebt, das w i r k e t der andere. S o wie nun von den körperlichen D i n g e n kein einziges allein durch eine von den beiden Kräften der leiblichen N a t u r besteht, so hat auch jede Seele einen T h e i l an den beiden ursprünglichen Verrichtungen der geistigen N a t u r ; und darin besteht die Vollständigkeit der lebenden Welt, daß zwischen jenen entgegengesezten E n d e n — an deren einem | diese, an dem andern jene ausschließend fast alles ist, und der Gegnerin nur einen unendlich kleinen T h e i l übrig läßt — alle Verbindungen beider nicht nur w i r k l i c h in der M e n s c h h e i t vorhanden seien, sondern auch ein allgemeines B a n d des B e w u ß t s e i n s sie

8 entgegengesezten Urkräfte] B: Urkräfte 10 endlichen Leben] B: Endlichen lebendig 13 vorzüglich] B: nur 14 sie] B: sie, 16 eigenes] B + C: eignes 17—19 Furcht, ... Sehnsucht, ... selbst] B + C: Furcht ... Sehnsucht ... Selbst 19 einem größeren] B: ihm 21 alles] fehlt in Β 23 gleiche,] B + C: gleiche 28 leiblichen] B: materiellen 30 Verrichtungen] B: Functionen 22 Ihr] C: ihr

C6

Β7

SW 147 5

c 7

Β8

18

CS

SW 148; Β 9 6

C9

Über die Religion

alle umschlinge, so daß jeder Einzelne, ohnerachtet er nichts anderes sein kann als was er ist, dennoch jeden anderen eben so deutlich erkenne als sich selbst, und alle einzelne Darstellungen der Menschheit vollkommen begreife. Allein diejenigen, welche an den äußersten Enden dieser großen Reihe liegen, sind von solchem Erkennen des Ganzen am weitesten entfernt. Denn jenes aneignende Bestreben, von dem entgegenstehenden zu wenig durchdrungen, gewinnt die Gestalt unersättlicher Sinnlichkeit, welche, auf das einzelne Leben allein bedacht, nur diesem immer mehreres auf irdische Weise einzuverleiben, und es rasch und kräftig zu erhalten und zu bewegen trachtet; so | daß diese in ewigem Wechsel zwischen Begierde und Genuß nie über die Wahrnehmungen des Einzelnen hinaus gelangen, und immer nur mit selbstsüchtigen Beziehungen beschäftigt, das gemeinschaftliche und ganze Sein und Wesen der Menschheit weder zu empfinden noch zu erkennen vermögen. Jenen Anderen hingegen, wel|che von dem entgegenstehenden Triebe zu gewaltig ergriffen und der zusammenhaltenden Kraft entbehrend, selbst keine eigenthümlich bestimmte Bildung gewinnen können, muß deshalb auch das wahre Leben der Welt eben so verborgen bleiben, wie ihnen nicht verliehen ist, bildend hinein zu wirken und etwas eigenthümlich darin zu gestalten; sondern in ein gewinnloses Spiel mit leeren Begriffen löset sich ihre Thätigkeit auf; und weil sie nichts jemals lebendig schauen, sondern abgezogenen Vorschriften ihren ganzen Eifer weihen, die alles zum Mittel herabwürdigen und keinen Z w e k übrig lassen, so verzehren sie sich in mißverstandenem H a ß gegen jede Erscheinung, die mit glüklicher Kraft vor sie hintritt. — Wie sollen diese äußersten Entfernungen zusammengebracht werden, um die lange Reihe in jenen geschlossenen Ring, das Sinnbild der Ewigkeit und Vollendung, zu gestalten? Freilich sind Solche nicht selten, in denen beide Richtungen zu einem reizlosen Gleichgewicht abgestumpft sind, aber diese stehen in Wahrheit niedriger als beide. Denn wir verdanken diese häufige, wiewol oft und von Vielen höher geschäzte Erscheinung nicht | einem lebendigen Verein beider

5 solchem] B: jenem 10 trachtet; so] B + C: trachtet. So 15 zu] fehlt in Β 16 und der ... entbehrend] fehlt in Β 1 8 f wie ... ist] B: und es ist ihnen nicht verliehen 2 0 gestalten; sondern] B + C: gestalten. Sondern 21—23 und weil ... so verzehren] Β: an ein unbestimmtes Ideal hängen sie sich mit vergeblichem Eifer, und weil sie nichts jemals lebendig schauen, verzehren 23 Zwek] C: Zweck 25 hintritt. — ] B: hintritt. 27 Vollendung,] B + C: der Vollendung 28—2 in denen ... Mittelmäßigkeit] Β: an denen keine Störung des Gleichgewichts dieser Triebe zu bemerken ist. Aber diese sind, wiewol oft und von Vielen höher geschäzt, doch der Wahrheit nach am niedrigsten zu würdigen. Denn das Wesen dieser Erscheinung ist nicht ein lebendiger kräftiger Verein, sondern nur die träge Mittelmäßigkeit 31 lebendigen] C: lebendigen kräftigen 3 einzelne] Β + C: einzele

5

10

15

20

25

30

Erste

Rede

19

Triebe, sondern beide sind nur verzogen und abgerichtet zu träger M i t telmäßigkeit, in der kein Uebermaaß hervortritt, weil sie alles frischen Lebens ermangelt. Ständen nun gar Alle, die nicht mehr an den äußersten Enden wohnen, | auf diesem Punkte, den nur zu oft falsche Klugheit 5 mit dem jüngern Geschlecht zu erreichen sucht: so wären Alle vom rechten Leben und vom Schauen der Wahrheit geschieden, der höhere Geist wäre von der Welt gewichen, und der Wille der Gottheit gänzlich verfehlt. Denn in die Geheimnisse einer so getrennten oder einer so zur Ruhe gebrachten Mischung dringt kaum der tiefere Seher. Nur seiner 10 Anschauungskraft müssen sich auch die zerstreuten Gebeine beleben; für ein gemeines Auge hingegen wäre die so bevölkerte Welt nur ein blinder Spiegel, der weder die eigene Gestalt belehrend zurükstrahlte, noch das Dahinterliegende zu erblikken vergönnte. D a r u m sendet die Gottheit zu allen Zeiten hie und da Einige, in denen sich beides | auf eine fruchtba15 rere Weise durchdringt; sei es nun mehr als unmittelbare G a b e von oben oder als das Werk angestrengter vollendeter Selbstbildung. Solche sind mit wunderbaren Gaben ausgerüstet, ihr Weg ist geebnet durch ein allmächtiges einwohnendes Wort; sie sind Dolmetscher der Gottheit und ihrer Werke, und Mittler desjenigen, was sonst ewig wäre geschieden 20 geblieben. Ich meine zuerst diejenigen, die eben jenes allge|meine Wesen des Geistes, dessen Schatten nur den Mehresten erscheint in dem Dunstgebilde leerer Begriffe, in ihrem Leben zu einer besonderen eigenthümlichen Gestalt | ausprägen, und eben darum jene entgegengesezten T h ä tigkeiten vermählen. Diese suchen auch Ordnung und Zusammenhang, 25 Recht und Schiklichkeit; aber weil sie suchen, ohne sich selbst zu verlieren, so finden sie auch. Sie hauchen ihren Trieb nicht in unerhörlichen Wünschen aus, sondern er wirkt aus ihnen als bildende Kraft. Für diese schaffen sie, und eignen sich an; nicht für jene des Höheren entblößte thierische Sinnlichkeit. Nicht zerstörend verschlingen sie, sondern bil30 dend schaffen sie um, hauchen dem Leben und seinen Werkzeugen überall den höheren Geist ein, ordnen und gestalten eine Welt, die das Gepräge ihres Geistes trägt. So beherrschen sie vernünftig die irdischen Dinge, und stellen sich dar als Gesezgeber und Erfinder, als Helden und Bezwinger der Natur, oder auch als gute D ä m o n e n , die in engern Kreisen 35 eine edlere Glükseligkeit im Stillen schaffen und verbreiten. Solche beweisen sich durch ihr bloßes Dasein als Gesandte Gottes, und als Mittler zwischen dem eingeschränkten Menschen und der unendlichen Mensch4 f den nur ... sucht:] fehlt in Β 9 kaum] B: nur 11 so bevölkerte Welt] B: Welt so 13 Dahinterliegende] Β + C: dahinterliegende 23 darum] B : dadurch 25 f weil ... so] B: was sie suchen, 2 7 bildende] B: eine bildende 3 4 oder ... Kreisen] Β : als gute Dämonen, die

9f Vgl. Ez 37,1-14

Β ίο

SW 149 7

CIO

Β 11

20

C Ii; Β 12 SW 150 8

B13

C12

Über die

Religion

heit. A u f sie d e m n a c h m ö g e hinblikken wer unter der G e w a l t leerer Begriffe gefangen ist, und m ö g e in ihren Werken den Gegenstand seiner unverständlichen Forderungen erkennen, und in dem einzelnen, was er bisher verachtete, den Stoff, den er eigentlich | b e a r b e i t e n soll; sie deuten ihm die verkannte S t i m m e G o t t e s , sie söhnen ihn aus mit der Erde und mit seinem Plaze a u f derselben. N o c h weit m e h r aber bedürfen die b l o ß Irdischen | und Sinnlichen solcher Mittler, durch welche sie begreifen lernen, was ihrem eignen T h u n und Treiben f r e m d ist von d e m höheren Wesen der M e n s c h h e i t . Eines solchen n ä m l i c h bedürfen sie, der ihrem niederen thierischen G e n u ß einen andern gegenüberstelle, dessen Gegenstand nicht dieses und jenes ist, sondern das E i n e in Allem und Alles in E i n e m , und der keine andere G r ä n z e n k e n n t als die Welt, welche der Geist zu umfassen gelernt hat; eines solchen, der ihrer ängstlichen rathlosen Selbstliebe eine andere zeigt, durch die der M e n s c h in und mit dem irdischen L e b e n das höchste und ewige liebt, und ihrem unstäten und leidenschaftlichen Ansichreißen einen ruhigen und sichern Besiz. E r k e n net hieraus mit mir, welche unschäzbare G a b e die Erscheinung eines Solchen sein m u ß , in welchem das h ö h e r e G e f ü h l zu einer Begeisterung gesteigert ist, die sich nicht m e h r verschweigen k a n n , bei w e l c h e m fast die einzelnen Pulsschläge des geistigen L e b e n s sich zu Bild und W o r t mittheilbar gestalten, und welcher fast unfreiwillig — denn er weiß wenig davon, o b J e m a n d zugegen | ist oder nicht — was in ihm vorgeht, auch für Andre als Meister irgend einer göttlichen Kunst darstellen m u ß . Ein Solcher ist ein w a h r e r Priester des H ö c h s t e n , indem er es denjenigen n ä h e r bringt, die | nur das E n d l i c h e und G e r i n g e zu fassen g e w o h n t sind; er stellt ihnen das H i m m l i s c h e und Ewige dar als einen G e g e n s t a n d des Genusses und der Vereinigung, als die einzige unerschöpfliche Quelle desjenigen, w o r a u f ihr ganzes T r a c h t e n gerichtet ist. S o strebt er, den schlafenden Keim der besseren M e n s c h h e i t zu w e k k e n , die Liebe zum H ö h e r e n zu entzünden, das gemeine Leben in ein edleres zu verwandeln, die Kinder der E r d e auszusöhnen mit dem H i m m e l , der ihnen gehört, und das Gegengewicht zu halten gegen des Zeitalters schwerfällige Anhänglichkeit an den gröberen Stoff. Dies ist das h ö h e r e Priesterthum, welches das Innere aller geistigen G e h e i m n i s s e verkündigt, und aus dem

1 hinblikken] B: hinblikken, 3 einzelnen] B: Einzelnen 4 Stoff,] B + C: Stoff 8 ist] B: ist, 9 solchen] B: Solchen 12f Gränzen ... Welt, ... solchen] Β: Grenzen ... Welt ... Solchen 15 höchste und ewige] B: Höchste und Ewige 23 Andre] B: Andere 24 Solcher ... Höchsten] C: solcher ... höchsten 2 5 f Endliche und Geringe ... Himmlische und Ewige] C: endliche und geringe ... himmlische und ewige 28 er,] B + C: er 30 Höheren] B: Höchsten C: höheren 30 edleres] B: höheres 24 Vgl. Gen 14,18

5

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Erste

Rede

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Reiche Gottes herabspricht; dies ist die Quelle aller Gesichte und Weissagungen, aller heiligen Kunstwerke und begeisterten Reden, welche aus-| gestreuet werden aufs Ohngefähr, ob ein empfängliches Gemüth sie finde und bei sich Frucht bringen lasse. 5 M ö c h t e es doch je geschehen, daß dieses Mittleramt aufhörte, und das Priesterthum | der Menschheit eine schönere Bestimmung erhielte! M ö c h t e die Zeit k o m m e n , die eine alte Weissagung so beschreibt, daß keiner bedürfen wird, daß man ihn lehre, weil alle von G o t t gelehrt sind! Wenn das heilige Feuer überall brennte, so bedürfte es nicht der feurigen 10 Gebete, um es vom Himmel herabzuflehen, sondern nur der sanften Stille heiliger Jungfrauen, um es zu unterhalten; so dürfte es | nicht in oft gefürchtete Flammen ausbrechen, sondern das einzige Bestreben desselben würde sein, die innige und verborgene Gluth ins Gleichgewicht zu sezzen bei Allen. Jeder leuchtete dann in der Stille sich und den An15 dern, und die Mittheilung heiliger Gedanken und Gefühle bestände nur in dem leichten Spiele, die verschiedenen Strahlen dieses Lichtes jezt zu vereinigen, dann wieder zu brechen, jezt es zu zerstreuen, und dann wieder hie und da auf einzelne Gegenstände verstärkend zu sammeln. D a n n würde das leiseste Wort verstanden, da jezt die deutlichsten Aeußerun20 gen nicht der Mißdeutung entgehen. M a n könnte gemeinschaftlich ins Innere des Heiligthums eindringen, da man sich jezt nur in den Vorhöfen mit den Anfangsgründen beschäftigen muß. M i t Freunden und Theilnehmern vollendete Anschauungen austauschen, wie viel erfreulicher | ist dies, als mit kaum entworfenen Umrissen hervortreten müssen in die 25 weite Oede! Aber wie weit sind jezt diejenigen von einander entfernt, zwischen denen eine solche Mittheilung statt finden könnte, mit solcher weisen Sparsamkeit sind sie in der Menschheit vertheilt, wie im Weltenraum die verborgenen Punkte, aus denen der elastische Urstoff sich nach allen Seiten verbreitet, so nemlich, daß nur eben die äußersten Gränzen 30 ihrer Wirkungskreise zusammenstoßen — damit doch nichts ganz leer

35

SW ist 9

ß 14

C 13

Β 35

sey — aber wohl nie einer den andern antrifft. Weise freilich: denn um SW 752 so mehr richtet sich die ganze Sehnsucht | nach Mittheilung und | Gesel- C14; 10 ligkeit allein auf diejenigen, die ihrer am meisten bedürfen; um so unaufhaltsamer wirkt sie dahin, sich die Mitgenossen selbst zu verschaffen, die ihr fehlen.

12 oft] fehlt in Β 16 Lichtes] B: Lichts 22 Anfangsgründen] B: Elementen 24 f hervortreten ... Oede] B: herausbrechen müssen in den leeren Raum 25 f diejenigen ... könnte,] B: diejenigen, zwischen denen eine solche Mittheilung statt finden könnte, von einander entfernt! 31 sey] Β + C: sei 2 - 4 Vgl. Mt 13,3-8

7i Vgl. Jer 31,34; Hebr 8,11 und Joh

6,45

22

Über die Religion

Eben dieser Gewalt nun unterliege ich, und von eben dieser Art ist auch mein Beruf. Vergönnet mir, von mir selbst zu reden: Ihr wißt, niemals kann Stolz sein, was Frömmigkeit sprechen heißt; denn sie ist immer voll Demuth. Frömmigkeit war der mütterliche Leib, in dessen heiligem Dunkel mein junges Leben genährt und auf die ihm noch verschlos- 5 sene Welt vorbereitet wurde; in ihr athmete mein Geist, ehe er noch sein Β16 eigentümliches Gebiet in Wissenschaft und | Lebenserfahrung gefunden hatte; sie half mir, als ich anfing den väterlichen Glauben zu sichten und Gedanken und Gefühle zu reinigen von dem Schutte der Vorwelt; sie blieb mir, als auch der Gott und die Unsterblichkeit der kindlichen Zeit 2 10 dem zweifelnden Auge verschwanden; sie leitete mich absichtslos in das thätige Leben; sie zeigte mir, wie ich mich selbst mit meinen Vorzügen und Mängeln in meinem ungetheilten Dasein heilig halten solle, und nur durch sie habe ich Freundschaft und Liebe gelernt. Wenn von andern Vorzügen der Menschen die Rede ist, so weiß ich wohl, daß es vor Eurem 15 Richterstuhle, Ihr Weisen und Verständigen des Volks, wenig beweiset für seinen Besiz, wenn einer s a g e n kann, was sie ihm gelten; denn er C 25 kann sie kennen aus Beschreibungen, | aus Beobachtung Anderer, oder wie alle Tugenden gekannt werden, aus der gemeinen alten Sage von ihrem Dasein. Aber so liegt die Sache der Religion und so selten ist sie 20 selbst, daß, wer von ihr etwas ausspricht, es nothwendig muß gehabt haben, denn gehört hat er es nirgend. Besonders von allem, was ich als ihr Werk preise und fühle, würdet ihr wohl wenig herausfinden selbst in den heiligen Büchern, und wem, der es nicht selbst erfuhr, wäre es nicht ein Aergerniß oder eine Thorheit? | 25 ß 17; SW 153 Wenn ich nun so durchdrungen endlich von ihr reden und ein Zeug11 niß ablegen muß, an wen soll ich mich damit wen|den, als an Deutschlands Söhne? Oder w o irgend wären Hörer für meine Rede? Es ist nicht blinde Vorliebe für den väterlichen Boden oder für die Mitgenossen der Verfassung und der Sprache, was mich so reden macht; sondern die in- 30 nige Ueberzeugung, daß Ihr die Einzigen seid, welche fähig und also auch würdig sind, daß der Sinn ihnen aufgeregt werde für heilige und

1 Eben kein Absatz in Β 1 nun unterliege ich] B: liege ich unter 2 mir,] B + C: mir 10 auch] fehlt in Β 11 — 13 absichtslos ... solle] B: ins thätige Leben; sie hat mich gelehrt, mich selbst mit meinen Tugenden und Fehlern in meinem ungetheilten Dasein heilig zu halten 1 6 f beweiset ... gelten] B: beweiset, wenn einer sagen kann, wie er sie besizt 18 Beobachtung] B: Beobachtungen 21 selbst] fehlt in Β 21 daß,] B + C: daß 22 nirgend] B: nirgends 23 f würdet ... in den] B: findet Ihr wohl wenig in 24 wem,] B: wem 2 6 f durchdrungen ... Zeugniß] B: von ihr durchdrungen endlich reden und ein Zeugniß von ihr 31 Einzigen] B + C: einzigen 25 Vgl. 1 Kor

1,23

Erste

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Rede

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göttliche D i n g e . J e n e stolzen Insulaner, von vielen ungebührlich verehrt, kennen keine andere L o s u n g als g e w i n n e n und g e n i e ß e n ; ihr E i f e r für die Wissenschaft ist nur ein leeres Spielgefecht, ihre L e b e n s w e i s h e i t ein falscher Edelstein, künstlich und täuschend zusammengesetzt, wie sie pflegen, und ihre heilige Freiheit selbst dient nur zu oft der Selbstsucht um billigen Preis. Nirgend ja ist es ihnen E r n s t mit d e m , was über den | handgreiflichen Nuzen h i n a u s g e h t 3 . D e n n aller W i s s e n s c h a f t h a b e n sie das Leben g e n o m m e n , und brauchen nur das todte H o l z zu M a s t e n und Rudern für ihre gewinnlustige L e b e n s f a h r t . Und eben so wissen sie v o n der Religion nichts, a u ß e r das nur J e d e r A n h ä n g l i c h k e i t predigt an alte G e b r ä u c h e und seine Sazungen vertheidi|get, und dies für ein durch die Verfassung weislich ausgespartes Hülfsmittel ansieht gegen den E r b f e i n d des Staates. Aus andern Ursachen hingegen wende ich mich weg v o n den Franken, deren A n b l i k ein Verehrer der Religion k a u m erträgt, weil sie in jeder H a n d l u n g , in jedem W o r t e fast ihre heiligsten Geseze mit F ü ß e n treten. D e n n die rohe Gleichgültigkeit, mit der M i l l i o n e n des Volks, wie der wizige Leichtsinn, mit dem einzelne glänzende Geister der e r h a b e n sten T h a t der G e s c h i c h t e zusehen, die nicht nur unter ihren Augen vorgeht, sondern sie alle ergreift und jede Bewegung ihres L e b e n s b e s t i m m t , beweiset zur G e n ü g e , wie wenig sie einer heiligen Scheu und einer w a h ren A n b e t u n g fähig sind. Und was verabscheuet die Religion mehr, als den zügellosen U e b e r m u t h , w o m i t die H e r r s c h e r des Volks den ewigen Gesezen der Welt T r o z bieten? Was schärft sie m e h r ein als die b e s o n n e n e und demüthige M ä ß i g u n g , w o v o n ihnen auch nicht | das leiseste G e f ü h l etwas zuzuflüstern scheint? W a s ist ihr heiliger als die h o h e N e m e s i s , deren furchtbarste Handlungen jene im T a u m e l der Verblendung nicht einmal verstehen? | W o die wechselnden Strafgerichte, die sonst n u r einzelne Familien treffen durften, um ganze Völker mit E h r f u r c h t vor d e m himmlischen | Wesen zu erfüllen, und a u f J a h r h u n d e r t e lang die W e r k e der D i c h t e r dem ewigen Schiksal zu w i d m e n , w o diese sich tausendfältig vergeblich erneuern, wie würde da eine einsame S t i m m e bis zum L ä c h e r lichen ungehört und u n b e m e r k t verhallen? N u r hier im h e i m a t h l i c h e n L a n d e ist das beglükte K l i m a , welches keine Frucht gänzlich versagt; hier findet Ihr, wenn auch nur zerstreut, alles, was die M e n s c h h e i t ziert, und alles, was gedeiht, bildet sich irgendwo, im Einzelnen wenigstens, zu seiner schönsten Gestalt; hier fehlt es weder an weiser M ä ß i g u n g noch an stiller B e t r a c h t u n g . H i e r also m u ß auch die Religion eine Frei-

1 vielen] B: Vielen 4 zusammengesetzt] B: zusammengesezt 5 zu oft] fehlt in Β 6 dem,] C: dem 9 für ihre gewinnlustige] B: bei ihrer gewinnlustigen 10 predigt] ß: prediget 11 Gebräuche] Β + C: Gebräuche, 20 Genüge,] B: Genüge 25 zuzuflüstern] B: zuzurufen 32 Nur ... heimathlichen] B: Allein ... väterlichen 3 4 f alles, ... alles, was gedeiht,] B + C: alles ... alles was gedeiht

C 16

ß 18

SW 154 12

C17 ß 19

24

Β 20 c 18

SW 155 13

Β 21

C 19

Über die

Religion

statt finden vor der plumpen Barbarei und dem kalten irdischen Sinne des Zeitalters. Nur daß Ihr mich nicht ungehört zu denen verweiset, auf die Ihr als auf R o h e und Ungebildete herabsehet, gleich als wäre der Sinn für das Heilige wie eine veraltete Tracht auf den niedern Theil des Volkes übergegangen, dem es allein noch zieme, in Scheu und Glauben von dem Unsichtbaren ergriffen zu werden. Ihr seid gegen diese unsere Brüder sehr freundlich gesinnt, und mögt gern, daß auch von andern höheren Gegenständen, von Sittlichkeit und Recht und Freiheit zu ihnen geredet, und so auf einzelne | M o m e n t e wenigstens ihr inneres Streben dem Besseren ent|gegengehoben und ein Eindruk von der Würde der Menschheit in ihnen gewekt werde. So rede man denn auch mit ihnen von der Religion; man errege bisweilen ihr ganzes Wesen, daß auch dieser heiligste Trieb desselben, wie verborgen er immer in ihnen schlummern möge, belebt werde; man entzükke sie durch einzelne Blize, die man aus der Tiefe ihres Herzens hervorlokt; man bahne ihnen aus ihrer engen Beschränktheit eine Aussicht ins | Unendliche, und erhöhe auf einen Augenblik ihre niedrige Sinnlichkeit zum hohen Bewußtsein eines menschlichen Willens und Daseins: es wird immer viel gewonnen sein. Aber ich bitte Euch, wendet Ihr Euch denn zu ihnen, wenn Ihr den innersten Z u s a m menhang und den höchsten Grund menschlicher Kräfte und Handlungen aufdekken wollt? wenn der Begriff und das Gefühl, das Gesez und die T h a t , bis zu ihrer gemeinschaftlichen Quelle sollen verfolgt, und das Wirkliche als ewig und im Wesen der Menschheit nothwendig gegründet soll dargestellt werden? Oder wäre es nicht vielmehr glüklich genug, wenn Eure Weisen dann nur von den Besten unter Euch verstanden würden? Eben das ist es aber, was ich jezt zu erreichen wünsche in Absicht der Religion. Nicht einzelne | Empfindungen will ich aufregen, die vielleicht in ihr Gebiet gehören; nicht einzelne Vorstellungen will ich rechtfertigen oder bestreiten: sondern in die innersten Tiefen möchte ich Euch geleiten, aus denen überall eine jede Gestalt demselben sich bildet; zeigen möchte ich Euch, aus welchen Anlagen der Menschheit sie hervorgeht, und wie sie zu dem gehört, was Euch das Höchste und Theuerste ist; auf die Zinnen des Tempels möchte ich Euch führen, daß Ihr das ganze Heiligthum überschauen und seine innersten Geheimnisse entdekken könnet. Und wollet Ihr mir im Ernst zumuthen, zu glauben, daß diejeni-

5 niedern] hoben, B: ihm C: höchste

B + C: niederen 10 f Besseren entgegengehoben] Β + C: besseren entgegenge1 3 f dieser ... desselben] Β: der heiligste Trieb 1 5 f der Tiefe ihres Herzens] 3 2 f Euch, ... gehört,] B + C: Euch ... gehört 33 Höchste und Theuerste] und theuerste 35 überschauen] B : übersehen, C : überschauen,

3 4 ( Vgl. Mt 4,5

5

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Rede

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gen, die sich täglich a m m ü h s a m s t e n mit dem Irdischen a b q u ä l e n , a m vorzüglichsten dazu geeignet seien, so vertraut mit d e m H i m m l i s c h e n zu werden? d a ß diejenigen, die über dem nächsten Augenblik b a n g e b r ü t e n , und an die nächsten G e g e n s t ä n d e fest gekettet sind, ihr A u g e a m weitesten über die Welt erheben k ö n n e n ? und d a ß , w e r in dem e i n f ö r m i g e n Wechsel einer todten G e s c h ä f t i g k e i t sich selbst n o c h nicht gefunden h a t , die lebendige G o t t h e i t a m hellsten entdekken werde? Keinesweges ja werdet Ihr das behaupten wollen zu Eurer S c h m a c h ! U n d also k a n n ich nur Euch selbst zu m i r einladen, die Ihr berufen seid, den g e m e i n e n SW 156 Standort der Men|schen zu verlassen, die Ihr den b e s c h w e r l i c h e n W e g in ß 22 die Tiefen des mensch| liehen Geistes nicht scheuet, um endlich seiner 14 inneren Regungen und seiner äußeren W e r k e Werth und Z u s a m m e n h a n g lebendig anzuschauen. Seitdem ich mir dieses gestand, h a b e ich mich lange in der zaghaften Stimmung desjenigen b e f u n d e n , der, ein liebes K l e i n o d vermissend, nicht wagen wollte, n o c h den lezten O r t w o es verbor|gen sein k ö n n t e , zu durchsuchen. D e n n , wenn es Z e i t e n g a b , w o Ihr es n o c h für einen B e w e i s besonderen M u t h e s hieltet, E u c h theilweise von den Sazungen der ererbten Glaubenslehre loszusagen, w o Ihr n o c h gern ü b e r einzelne G e g e n stände hin und wieder sprächet und hörtet, wenn es nur d a r a u f a n k a m , einen jener Begriffe auszutilgen; w o es E u c h d e m o h n e r a c h t e t n o c h w o h l gefiel, eine G e s t a l t wie Religion schlank im S c h m u k k e der B e r e d s a m k e i t einhergehen zu sehen, weil Ihr gern wenigstens dem holden G e s c h l e c h t ein gewisses Gefühl für das Heilige erhalten wolltet: so sind d o c h jezt auch diese Z e i t e n schon längst vorüber; jezt soll gar nicht m e h r die R e d e sein von F r ö m m i g k e i t , und auch die Grazien selbst sollen mit unweiblicher H ä r t e die zarteste Blüthe des menschlichen G e m ü t h e s zerstören. An nichts anders k a n n ich also die T h e i l n e h m u n g a n k n ü p f e n , w e l c h e ich von Euch fordere, als an E u r e Verachtung selbst; ich will E u c h z u n ä c h s t nur auffordern, in dieser Verachtung recht gebildet und v o l l k o m m e n zu sein. L a ß t uns d o c h , ich bitte E u c h , untersuchen, w o v o n sie eigentlich ausgegangen ist, o b von irgend einer klaren A n s c h a u u n g oder von e i n e m unbestimmten G e d a n k e n ? o b von den verschiedenen Arten und Secten der Religion, wie sie in der G e s c h i c h t e v o r k o m m e n , o d e r von einem allgemeinen Begriff, den Ihr E u c h vielleicht willkührlich gebildet h a b t ? O h n e l f Irdischen ... Himmlischen] C: irdischen ... himmlischen 9 selbst ... seid,] B + C: Selbst ... seid 15 der,) B + C: der 19 wo Ihr noch] B: und 20 ankam,] B + C: ankam 21 jener] B: ihrer 21 f noch wohlgefiel,]'B: wohlgefiel, C: noch wohlgefiel 22 Religion] B: Religion, 23 einhergehen] B: umhergehen 23 wenigstens ... Geschlecht] B: dem holden Geschlecht wenigstens 25 auch] fehlt in Β 27 des ... zerstören] Β: der menschlichen Fantasie ver|[23]derben 29 zunächst] fehlt in Β 33 klaren] B: einzelnen 36 Begriff,] C: Begriff

C20

26

Über die

Religion

C 21 Z w e i f e l w e r d e n E i n i g e sich | zu d e m L e z t e r e n b e k e n n e n ; a b e r d a ß dies n u r n i c h t a u c h h i e r , w i e g e w ö h n l i c h , die m i t U n r e c h t r ü s t i g e n B e u r t h e i l e r s i n d , d i e i h r G e s c h ä f t o b e n h i n t r e i b e n , u n d sich n i c h t die M ü h e g e n o m SW 157 m e n h a b e n , e i n e g e n a u e K e n n t n i ß d e r S a c h e , w a s sie r e c h t ist, zu e r w e r 15 b e n . D i e | F u r c h t v o r e i n e m e w i g e n W e s e n o d e r ü b e r h a u p t d a s H i n s e h e n

5

a u f d e n E i n f l u ß d e s s e l b e n in die B e g e b e n h e i t e n d i e s e s L e b e n s , w a s I h r V o r s e h u n g n e n n t , und d a n n die E r w a r t u n g eines künftigen L e b e n s n a c h d i e s e m , w a s I h r U n s t e r b l i c h k e i t n e n n t , h i e r u m d r e h t s i c h d o c h E u e r allgemeiner Begriff? Diese beiden von E u c h weggeworfenen

Vorstellungen

Β 24 m e i n t I h r d o c h , w ä r e n s o o d e r a n d e r s | a u s g e b i l d e t , die A n g e l a l l e r R e l i -

10

g i o n ? A b e r s a g t m i r d o c h , I h r T h e u e r s t e n , w i e h a b t I h r n u r dieses g e f u n d e n ? D e n n A l l e s , w a s in d e m M e n s c h e n v o r g e h t , o d e r v o n i h m a u s g e h t , kann aus einem zwiefachen Standorte angesehen und erkannt werden. B e t r a c h t e t I h r es v o n s e i n e m M i t t e l p u n k t e a u s , a l s o n a c h s e i n e m i n n e r n W e s e n : s o ist es e i n e A e u ß e r u n g d e r m e n s c h l i c h e n N a t u r , g e g r ü n d e t in

15

einer von ihren nothwendigen H a n d l u n g s w e i s e n oder Trieben, oder wie I h r es n e n n e n w o l l t , d e n n i c h w i l l j e z t n i c h t ü b e r E u r e

Kunstsprache

r e c h t e n . B e t r a c h t e t I h r es h i n g e g e n v o n a u ß e n n a c h d e r b e s t i m m t e n H a l t u n g u n d G e s t a l t , die es h i e u n d d o r t a n g e n o m m e n h a t : s o ist es ein Erzeugniß der Zeit und der Geschichte. Von welcher Seite habt Ihr nun C22

20

die Religion, diese g r o ß e geistige E r s c h e i n u n g , angesehen, d a ß Ihr a u f j e n e V o r s t e l l u n g e n g e k o m m e n seid, als a u f d e n g e m e i n s c h a f t l i c h e n I n h a l t alles dessen, w a s m a n je mit diesem N a m e n bezeichnet hat? Ihr w e r d e t schwerlich sagen, durch eine B e t r a c h t u n g der ersten Art. D e n n , Ihr G u ten! alsdann m ü ß t e t Ihr doch zugeben, diese G e d a n k e n wären irgend wie

25

w e n i g s t e n s in d e r m e n s c h l i c h e n N a t u r g e g r ü n d e t . U n d w e n n I h r a u c h Β 25 s a g e n w o l l t e t , d a ß sie so w i e m a n sie j e z t a n t r i f f t , n u r a u s M i s d e u t u n | g e n oder falschen Beziehungen eines nothwendigen Strebens der M e n s c h h e i t e n t s t a n d e n w ä r e n : s o w ü r d e es E u c h d o c h z i e m e n , d a s W a h r e u n d E w i g e d a r i n h e r a u s z u s u c h e n u n d E u r e B e m ü h u n g e n m i t d e n u n s r i g e n zu v e r e i nigen, damit die menschliche N a t u r von dem Unrecht befreit

werde,

w e l c h e s sie a l l e m a l e r l e i d e t , w e n n e t w a s in i h r m i s k a n n t o d e r m i s l e i t e t SW 158 w i r d . B e i a l l e m w a s E u c h heilig ist — u n d es m u ß j e n e m

Geständnisse

16 z u f o l g e e t w a s H e i l i g e s f ü r E u c h ge|ben — b e s c h w ö r e ich E u c h , v e r a b -

4 Sache, ... ist,] B: Sache wie sie liegt 9 von Euch weggeworfenen] B: Euch verhaßten 10 wären] B + C: wären, 12 oder ... ausgeht,] B: oder durch ihn 13f werden. Betrachtet] B: werden, betrachtet 18 rechten] B: richten 19 hat:] B: hat, 21 die Religion, diese ... Erscheinung,] B: diese ... Erscheinung 23 diesem Namen bezeichnet] B: dem Namen der Religion benannt 27 antrifft,] C: antrifft 29 ziemen,] B + C: ziemen 29—31 das Wahre ... befreit werde] B: Euch mit uns zu vereinigen, um das Wahre und Ewige darin herauszusuchen, und die menschliche Natur von dem Unrecht zu befreien 30 herauszusuchen] C: herauszusuchen, 33 jenem] B: diesem

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Erste Rede

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säumt dieses Geschäft nicht, damit die Menschheit, die Ihr mit uns verehrt, nicht mit dem größten Recht auf Euch zürne als auf solche, welche sie in einer wichtigen Angelegenheit verlassen haben. Und wenn Ihr dann findet, aus dem, was Ihr hören werdet, daß das Geschäft schon so gut als gethan ist: so darf ich, auch wenn es anders endiget als Ihr meintet, auf Euren D a n k und Eure Billigung rechnen. — Wahrscheinlich aber werdet Ihr sagen, Euere Begriffe vom Inhalt der Religion | seien nur die C 23 andere Ansicht dieser geistigen Erscheinung. Von dem Aeußeren wäret Ihr ausgegangen, von den Meinungen, Lehrsäzen, Gebräuchen, in denen sich jede Religion darstellt, und mit diesen laufe es immer auf jene beiden Stükke hinaus. Aber eben ein Inneres und Ursprüngliches für dieses Aeußere hättet Ihr | vergeblich gesucht, und darum könne also die Reli- Β 26 gion überall nichts anders sein, als ein leerer und falscher Schein, der sich wie ein trüber und drükkender Dunstkreis um einen Theil der Wahrheit herumgelagert habe. Dies ist gewiß Euere rechte und eigentliche M e i nung. Wenn Ihr demnach in der T h a t jene beiden Punkte für den Inhalt der Religion haltet, in allen Formen, unter denen sie in der Geschichte erschienen ist: so ist mir doch vergönnt, zu fragen, o b Ihr auch alle diese Erscheinungen richtig beobachtet und ihren gemeinschaftlichen Inhalt richtig aufgefaßt habt? Ihr müßt Euren Begriff, wenn er so entstanden ist, aus dem Einzelnen rechtfertigen; und wenn Euch jemand sagt, daß er unrichtig und verfehlt sei, und auf etwas anderes hinweiset in der Religion, was nicht hohl ist, sondern einen Kern hat von trefflicher Art und Abstammung, so müßt Ihr doch erst hören und urtheilen, ehe Ihr weiter verachten dürft. Laßt es Euch also nicht verdrießen, dem zuzuhören, was ich jezt zu denen reden will, welche gleich von Anfang an, richtiger aber auch mühsamer, an die Anschauung des Einzelnen sich gehalten haben. | Ihr seid ohne Zweifel bekannt mit der Geschichte mensch |licher C 24; 17; SW1S9 Thorheiten, und habt die | verschiedenen Gebäude der Religionslehre Β 27 durchlaufen, von den sinnlosen Fabeln üppiger Völker bis zum verfeinertsten Deismus, von dem rohen Aberglauben der Menschenopfer bis zu jenen übelzusammengenähten Bruchstükken von Metaphysik und Moral, die man jezt geläutertes Christenthum nennt; und Ihr habt sie alle ungereimt und vernunftwidrig gefunden. Ich bin weit entfernt, Euch

2 f nicht mit ... haben] B: Euch nicht als solchen, welche sie in einer wichtigen Angelegenheit verlassen haben, mit dem größten Rechte zürne 4 f das Geschäft ... gut als] B: es schon 13 sein] B: seyn 1 7 f Formen, ... vergönnt,] B + C: Formen ... vergönnt 18 diese] B: ihre 19 beobachtet] B + C: beobachtet, 23 trefflicher] B + C: treflicher 25 verdrießen,] B: verdrießen 3 0 f Religionslehre ... üppiger] B: Religion ... wilder 32 dem rohen ... Menschenopfer] ß: der rohen Superstition unseres Pöbels 35 entfernt,] B + C: entfernt

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Über die

Religion

hierin widersprechen zu wollen. Vielmehr, wenn Ihr es nur damit aufrichtig meint, daß die ausgebildetsten Religionssysteme diese Eigenschaften nicht weniger an sich tragen als die rohesten; wenn Ihr es nur einsehet, daß das Göttliche nicht in einer Reihe liegen kann, die sich auf beiden Seiten in etwas Gemeines und Verächtliches endiget: so will ich 5 Euch gern die Mühe erlassen, alle Glieder, welche zwischen diesen äußersten Enden eingereiht sind, näher zu würdigen. Mögen sie Euch alle als Uebergänge und Annäherungen zu dem Lezteren erscheinen; jedes glänzender und geschliffener aus der Hand seines Zeitalters hervorgehend, bis endlich die Kunst zu jenem vollendeten Spielwerk gestiegen 10 ist, womit unser Jahrhundert die Geschichte beschenkt hat. Aber diese Vervollkommnung der Glaubenslehren und der Systeme ist oftmals eher Alles, nur nicht Vervollkommnung der Religion; ja nicht selten schreitet Β 28; c 25 jene fort ohne die geringste Gemeinschaft | mit | dieser. Ich kann nicht ohne Unwillen davon reden; denn jammern muß es Jeden, der Sinn hat für Alles, was aus dem Innern des Gemüths hervorgeht, und dem es Ernst ist, daß jede Seite des Menschen gebildet und dargestellet werde; wie die hohe und herrliche oft von ihrer Bestimmung entfernet ward, und ihrer Freiheit beraubt, um von dem scholastischen und metaphysischen Geiste barbarischer und kalter Zeiten in einer verächtlichen Knechtschaft gehalten zu werden. Denn was sind doch diese Lehrgebäude für sich betrachtet anders, als Kunstwerke des berechnenden Verstandes, worin jedes Einzelne seine Haltung nur hat in gegenseitiger Beschränkung. Oder gemahnen sie Euch anders, diese Systeme der Theolo-| 18; SW 160 gie, diese Theorien vom Ursprünge und Ende der Welt, diese Analysen von der Natur eines unbegreiflichen Wesens; worin Alles auf ein kaltes Argumentiren hinausläuft, und auch das Höchste nur im Tone eines gemeinen Schulstreites kann behandelt werden? Und dies wahrlich, ich berufe mich auf Euer eigenes Gefühl, ist doch nicht der Charakter der Religion. Wenn Ihr also nur die religiösen Lehrsäze und Meinungen ins Auge gefaßt habt: so kennt Ihr noch gar nicht die Religion selbst, und Β 29 was Ihr verachtet, ist nicht sie. Aber warum | seid Ihr nicht tiefer eingedrungen bis zu dem, was das Innere dieses Aeußeren ist? Ich bewundere C 26 Euere freiwillige Unwissenheit, Ihr gutmüthigen For|scher, und die allzu-

6 f Glieder, ... sind,] B: welche dazwischen liegen 7—10 Mögen ... hervorgehend,] B: Sie erscheinen alle als Übergänge und Annäherungen zu dem lezteren; jedes kommt etwas geschliffener aus der Hand seines Zeitalters 8 Lezteren] C: lezteren 12 u. 13 Vervollkommnung] C: Vervollkomnung 14 jene] B: sie 1 5 f Jeden ... Alles,] B + C: jeden ... alles 18 hohe und herrliche] B: Hohe und Herrliche 19 ihrer Freiheit beraubt] B: ihre Freiheit verlor 26 Alles] Β + C: alles 28 wahrlich) B + C: warlich 3 2 verachtet,] B + C: verachtet 34—2 die allzuruhige ... vorgelegt] Β: Euere allzuruhige Beharrlichkeit bei dem was zunächst da ist und Euch angepriesen

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ruhige Genügsamkeit, mit der Ihr bei dem verweilt, was Euch zunächst vorgelegt wird! Warum betrachtet Ihr nicht das religiöse Leben selbst? jene frommen Erhebungen des Gemüthes vorzüglich, in welchen alle andern Euch sonst bekannten Thätigkeiten zurükgedrängt oder fast aufgehoben sind, und die ganze Seele aufgelöst in ein unmittelbares Gefühl des Unendlichen und Ewigen und ihrer Gemeinschaft mit ihm? Denn in solchen Augenblikken offenbart sich ursprünglich und anschaulich die Gesinnung, welche zu verachten Ihr vorgebet. Nur wer in diesen Bewegungen den Menschen beobachtet und wahrhaft erkannt hat, vermag dann auch in jenen äußeren Darstellungen die Religion wiederzufinden, und wird etwas Anderes in ihnen erblikken, als Ihr. Denn freilich liegt in ihnen allen Etwas von diesem geistigen Stoffe gebunden, ohne welchen sie gar nicht könnten entstanden sein; aber wer es nicht versteht, ihn zu entbinden, der behält, wie fein er sie auch zersplittere, wie genau er auch Alles durchsuche, immer nur die todte kalte Masse in Händen. Diese Anweisung aber, Euren eigentlichen Gegenstand, den Ihr in dem ausgebildeten und vollendeten, wohin man Euch wies, bisher nicht gefunden Β 30 habt, vielmehr in jenen zerstreuten und dem Anschein nach ungebildeten Elementen zu suchen, kann Euch doch nicht befremdlich sein, die Ihr mehr oder minder mit der Philosophie | Euch zu schaffen macht, und sw 161; C 27; 19 mit ihren Schicksalen vertraut seid. Wiewol es sich nämlich mit dieser ganz anders verhalten sollte, und sie von Natur danach streben muß, sich im geschlossensten Zusammenhang zu gestalten, weil nur durch die angeschaute Vollständigkeit jede eigenthümliche Erkenntniß sich bewährt und ihre Mittheilung gesichert wird: so werdet Ihr doch auf ihrem Gebiet oft eben so müssen zu Werke gehn. Denn erinnert Euch nur, wie Wenige von denen, welche auf einem eigenen Wege in das Innere der Natur und des Geistes eingedrungen sind und deren gegenseitiges Verhältniß und innere Harmonie in einem eigenen Lichte angeschaut und dargestellt haben, wie dennoch nur Wenige von ihnen gleich ein System ihres Erkennens hingestellt, sondern vielmehr fast Alle in einer zarteren, sollte es auch sein zerbrechlicheren, Form ihre Entdekkungen mitgetheilt haben. Und wenn Ihr dagegen auf die Systeme seht in allen Schulen, wie

1 verweilt,] C: verweilt 3 f alle andern ... bekannten] B: alle ... bekannten einzelnen 4 zurükgedrängt] B + C: zurückgedrängt 5 aufgelöst] B: aufgelöst ist 7 solchen Augenblikken] B: diesen 9 beobachtet ... vermag] B: wahrhaft beobachtet hat, kann 10 wiederzufinden] B: wiederfinden 11 Anderes] B + C: anderes 11 erblikken,] B: erblicken C: erblikken 13 — 15 versteht, ... Alles] B + C: versteht ... alles 18 zerstreuten ... nach] B: dem Anschein nach zerstreuten und 21 Schicksalen] B + C: Schiksalen 23 sich im ... gestalten] B: ein System zu bilden 25 ihrem] B: diesem 28 sind] B + C: sind, 2 8 f deren ... und innere] B: ihr ... ihre innere 31 hingestellt] B: gebildet 31 f zarteren, ... zerbrechlicheren,] B: zarteren — ... zerbrechlicheren —

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Über die Religion

oft diese nichts anders sind als der Siz und die Pflanzstätte des todten Β 31 B u c h s t a b e n s ; weil nämlich — mit seltenen A u s n a h m e n — der | selbstbildende Geist der hohen B e t r a c h t u n g zu flüchtig ist und zu frei für die strengen F o r m e n , durch die sich aber a m besten diejenigen zu helfen g l a u b e n , welche das Fremde gern auffassen und sich einprägen wollen: 5 würdet Ihr nicht, wenn J e m a n d die Verfertiger dieser großen G e b ä u d e der Philosophie o h n e Unterschied für die Philosophirenden selbst hielte, | C28 an ihnen den Geist ihrer Forschung wollte kennen lernen, würdet Ihr nicht diesem belehrend zurufen: „Vorgesehen, Freund! d a ß du nur nicht etwa an solche gerathen bist, welche nur nachtreten und z u s a m m e n t r a - 10 gen, und bei dem, was ein Anderer gegeben hat, stehen bleiben! D e n n bei diesen würdest du ja den Geist jener Kunst nicht finden; sondern zu den Erfindern m u ß t du gehen, a u f denen ruhet er ja g e w i ß . " Dasselbige nun m u ß ich hier Euch zurufen, die Ihr die Religion suchet, mit welcher es sich ja um so mehr eben so verhalten m u ß , da sie sich ihrem ganzen 15 SW 162 Wesen nach von allem Systematischen eben so weit entfernt, als die Phi20 losophie sich von | N a t u r dazu hinneigt. B e d e n k e t auch nur, von w e m jene kunstreichen G e b ä u d e herrühren, deren W a n d e l b a r k e i t Ihr verspottet, deren schlechtes E b e n m a a ß E u c h beleidigt, und deren M i ß v e r h ä l t n i ß gegen ihre kleinliche Tendenz E u c h fast lächerlich ist! E t w a von den 20 Β 32 H e r o e n | der Religion? N e n n t mir d o c h unter allen denen, die irgend eine neue O f f e n b a r u n g heruntergebracht haben zu uns, oder es auch v o r g e b e n , einen Einzigen, von dem an, welchem zuerst von einem R e i c h e G o t t e s das Bild v o r s c h w e b t e , w o d u r c h gewiß, wenn durch irgend etwas im G e b i e t e der Religion ein System k o n n t e herbeigeführt werden, bis zu 25 dem neuesten M y s t i k e r oder S c h w ä r m e r , wie Ihr sie zu nennen pflegt, in dem vielleicht n o c h ein ursprünglicher Strahl des innern Lichtes glänzt, C 29 — denn, daß ich die Buchstaben|theologen, welche glauben, das Heil der

2—7 — mit ... Unterschied] B: der Geist sich noch immer nicht will festhalten lassen in Akademien, noch der Reihe nach in bereitwillige Köpfe ausgießen, vielmehr verfliegt er oft schon auf dem Wege aus dem ersten Munde in das erste Ohr. Wenn nun Jemand ohne Unterschied die Verfertiger dieser großen Gebäude der Philosophie 5 Fremde] C: fremde 7 hielte,] B + C: hielte, und 8 ihrer Forschung] B: der Wissenschaft 9 nicht diesem ... „Vorgesehen] B: ihm nicht ... Vorgesehen 9 f nicht etwa] B: etwa nicht 11 dem,] B + C: dem 13 gewiß."] B: gewiß. 17 nur,] C: nur 19 Mißverhältniß] B + C: Misverhältniß 20 fast] B: so 20 ist!] B + C: ist? 22 f oder es auch vorgeben,] fehlt in Β 26 oder Schwärmer ... pflegt] fehlt in Β 2 7 f glänzt, — ] B: glänzt, 28—3 die ... mitzähle] B: der Buchstabentheologen nicht erwähne, welche glauben das Heil der Welt und das Licht der Weisheit in einem neuen Kostüm ihrer Formeln, oder in neuen Stellungen ihrer figurirenden Beweise zu finden 28 glauben,] C: glauben 1 - 3 Vgl. 2 Kor 3,6

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Welt und das Licht der Weisheit in einem neuen G e w a n d ihrer F o r m e l n , oder in neuen Stellungen ihrer kunstreichen Beweise zu finden, u n t e r diese nicht mitzähle, das werdet Ihr mir nicht verdenken — n e n n t mir unter jenen allen einen Einzigen, der es der M ü h e w e r t h geachtet h ä t t e , sich mit solcher sisyphischen Arbeit zu befassen; sondern nur einzeln bei jenen Entladungen h i m m l i s c h e r Gefühle, wenn das heilige Feuer ausströmen m u ß aus dem überfüllten G e m ü t h , pflegt der gewaltige D o n n e r ihrer Rede g e h ö r t zu w e r d e n , welcher verkündiget, d a ß die G o t t h e i t sich durch sie o f f e n b a r t . G e n a u so ist Begriff und W o r t nur das, freilich n o t h wendige und von dem Innern unzertrennliche, H e r v o r b r e c h e n n a c h A u ß e n , und als solches n u r verständlich durch sein Inneres und mit ihm zugleich. | G a r aber L e h r e mit L e h r e v e r k n ü p f e n , das thun sie nur gele- ß 33 gentlich, wenn es gilt, M i ß v e r s t ä n d n i s s e zu h e b e n o d e r leeren Schein aufzudekken. Und erst aus vielen solchen Verknüpfungen werden allmählig jene Systeme z u s a m m e n g e t r a g e n . D e s h a l b nun m ü ß t Ihr E u c h j a nicht an dasjenige zunächst halten, was gar nur der wiederholte, vielfach g e b r o c h e n e N a c h h a l l ist von j e n e m ursprünglichen L a u t e ; sondern in das Innere einer f r o m m e n Seele m ü ß t Ihr E u c h versez|zen, und ihre Begeiste- SW 163; 21 rung m ü ß t Ihr suchen zu verstehen; bei der T h a t selbst m ü ß t Ihr j e n e Licht- und W ä r m e - E r z e u g u n g in einem dem | Weltall sich hingebenden c 30 G e m ü t h 4 ergreifen: w o nicht, so erfahrt Ihr nichts von der Religion, und es ergeht E u c h wie d e m , der zu spät mit dem entzündlichen S t o f f das Feuer aufsucht, welches der Stein dem Stahl e n t l o k t hat, und dann nur ein kaltes, unbedeutendes S t ä u b c h e n g r o b e n M e t a l l e s findet, an dem er nichts mehr entzünden k a n n . Ich fordere also, d a ß Ihr von allem sonst zur Religion gerechneten absehend E u e r A u g e n m e r k nur a u f die inneren Erregungen und S t i m mungen richtet, a u f w e l c h e alle Aeußerungen und T h a t e n gottbegeisterter M e n s c h e n hindeuten. Erst wenn Ihr a u c h dann nichts W a h r e s und Wesentliches daran e n t d e k t , noch eine andere A n s i c h t von der S a c h e gewinnt, j e d o c h hoffe ich es zur guten S a c h e o h n g e a c h t e t Eurer K e n n t nisse, Eurer Bildung und Eurer Vorurtheile; wenn sich a u c h dann nicht 4 f jenen ... solcher] B: ihnen ... dieser 5 befassen; sondern] B + C: befassen. Sondern 10 unzertrennliche,] B: unzertrennliche 11 Außen] B + C: Aussen 12—15 Gar ... zusammengetragen.] fehlt in Β 12f verknüpfen, ... gilt, Mißverständnisse] C: verknüpfen ... gilt Misverständnisse 16 wiederholte,] B + C: wiederholte 17 Laute; sondern] B + C: Laute. Sondern 24 kaltes,] B + C: kaltes 27 die] B: diese 2 9 f Erst ... daran] B: Wenn Ihr dann aber auch hierin nichts wahres und wesentliches 29 f Wahres und Wesentliches] C: wahres und wesentliches 31 f jedoch ... Vorurtheile] Β: wie ich es ohngeachtet Eurer Gelehrsamkeit, Eurer Kenntnisse und Eurer Vorurtheile dennoch zur guten Sache hoffe 32 sich] D: sie

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Über die Religion

Β 34 E u r e I kleinliche Vorstellung erweitert und verwandelt, die ja nur von einer übersichtigen B e o b a c h t u n g erzeugt w a r d ; w e n n Ihr auch dann n o c h diese R i c h t u n g des G e m ü t h s auf das Ewige verachten k ö n n t , und es E u c h lächerlich scheint, Alles, was dem M e n s c h e n wichtig ist, auch aus diesem G e s i c h t s p u n k t e betrachtet zu sehen: dann freilich will ich verloren haben, und endlich glauben, Eure Verachtung der Religion sei Euerer N a t u r g e m ä ß , und dann h a b e ich E u c h nichts weiter zu sagen.

sw 164 22 Β 35

C 32

Besorget nur nicht etwa, ich m ö c h t e am E n d e doch n o c h zu jenen gemeinen M i t t e l n meine Z u f l u c h t n e h m e n , E u c h vorzustellen, wie nothwendig die Religion doch sei, um R e c h t und O r d n u n g in der Welt zu erhalten, und mit dem Andenken an ein allsehendes Auge und an eine unendliche M a c h t , der Kurzsichtigkeit m e n s c h l i c h e r Aussicht und den engen S c h r a n k e n menschlicher G e w a l t zu H ü l f e zu k o m m e n ; oder wie sie eine treue Freundin und eine heilsame Stüze der Sittlichkeit sei, indem sie mit ihren heiligen Gefühlen und ihren glänzenden Aussichten dem s c h w a c h e n M e n s c h e n den Streit mit sich selbst und das Vollbringen des G u t e n g a r m ä c h t i g erleichtere. So reden freilich d i e j e n i g e n , welche die besten Freunde und die eifrigsten Vertheidijger der Religion zu sein vorgeben; ich aber will nicht entscheiden, gegen welches von beiden in dieser G e d a n k e n v e r b i n d u n g die meiste Verachtung liege, gegen R e c h t und Sittlichkeit, welche als einer Unterstüzung bedürftig vorgestellt werden, oder gegen die Religion, welche sie unterstüzen soll, oder auch gegen E u c h , zu denen also gesprochen wird. D e n n mit welcher Stirne k ö n n t e ich, wenn anders Euch selbst dieser weise R a t h gegeben werden soll, E u c h w o l zumuthen, d a ß Ihr mit E u c h selbst in E u r e m Innern ein loses Spiel treiben, und durch etwas, das Ihr sonst keine U r s a c h e hättet zu achten und zu lieben, Euch zu etwas Anderem solltet antreiben lassen, was Ihr ohnedies schon verehrt, und dessen Ihr E u c h be|fleißiget? O d e r wenn E u c h e t w a durch diese R e d e n nur ins O h r gesagt werden soll, was Ihr dem Volke zu Liebe zu thun h a b t : wie solltet dann Ihr, die Ihr dazu berufen seid, die Andern zu bilden und sie E u c h ähnlich zu m a c h e n , damit anfangen, d a ß Ihr sie betrügt, und ihnen etwas als heilig und wesentlich nothwendig hingebt, was E u c h selbst h ö c h s t gleichgültig ist, und was nach E u r e r Ueberzeugung auch sie wieder wegwerfen k ö n n e n ,

4 scheint,) B: scheint 4 Alles, ... ist,] B + C: alles ... ist 6 glauben,] B: glauben 7 dann ... Euch] B : habe Euch dann 8 etwa,] B: etwa 9 f vorzustellen, ... sei,] B + C: vorzustellen ... sei 19—21 entscheiden, ... Sittlichkeit,] B: entscheiden ... Sittlichkeit 2 2 f Religion, ... Euch,] B: Religion ... Euch 31 seid,] B + C: seid 31 Andern] C: andern 31 bilden] B + C: bilden, 33 wesentlich nothwendig] B: wirksam 3 4 nach ... können] B : sie wegwerfen sollen 27 Anderem] B : Anderen

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s o b a l d sie sich a u f d i e s e l b e S t u f e e r h o b e n h a b e n , die I h r s c h o n e i n n e h m t ? Ich w e n i g s t e n s k a n n zu einer s o l c h e n H a n d l u n g s w e i s e n i c h t a u f f o r d e r n , in w e l c h e r ich die v e r d e r b l i c h s t e H e u c h e l e i gegen | die W e l t u n d gegen Β 36 E u c h selbst e r b l i k k e ; u n d w e r so die R e l i g i o n e m p f e h l e n will, m u ß n o t h wendig die V e r a c h t u n g v e r g r ö ß e r n , der sie s c h o n u n t e r l i e g t . D e n n zugegeben a u c h , d a ß u n s e r e b ü r g e r l i c h e n E i n r i c h t u n g e n n o c h u n t e r e i n e m h o h e n G r a d e der U n v o l l k o m m e n h e i t seufzen, u n d n o c h w e n i g K r a f t bewiesen h a b e n , der U n r e c h t l i c h k e i t z u v o r z u k o m m e n o d e r sie a u s z u r o t t e n : w e l c h e s t r a f b a r e V e r l a s s u n g einer w i c h t i g e n S a c h e , w e l c h e r z a g h a f t e U n g l a u b e an die A n n ä h e r u n g z u m B e s s e r e n w ä r e es, w e n n d e s h a l b m ü ß t e n a c h der s o n s t an sich n i c h t w ü n s c h e n s w e r t h e n R e l i g i o n g e r u f e n w e r d e n ! B e a n t w o r t e t m i r n u r dies E i n e 5 , h ä t t e t I h r d e n n e i n e n r e c h t l i c h e n Z u stand, w e n n sein B e s t e h e n a u f der F r ö m m i g k e i t b e r u h e t e ? und vers c h w i n d e t E u c h n i c h t , | s o b a l d I h r d a v o n a u s g e h e t , der g a n z e B e g r i f f unter den H ä n d e n , den | I h r d o c h für so heilig h a l t e t ? S o greifet d o c h die S a c h e u n m i t t e l b a r a n , w e n n sie E u c h so übel zu liegen s c h e i n t ; b e s s e r t an den G e s e z e n , rüttelt die Verfassungen u n t e r e i n a n d e r , g e b t d e m S t a a t e einen eisernen A r m , g e b t i h m h u n d e r t A u g e n , w e n n er sie n o c h n i c h t h a t , nur s c h l ä f e r t n i c h t die, w e l c h e er h a t , m i t e i n e r t r ü g e r i s c h e n L e i e r ein. S c h i e b t nicht ein G e s c h ä f t w i e dieses in ein a n d e r e s e i n , d e n n I h r h a b t es s o n s t gar n i c h t v e r w a l t e t ; und e r k l ä r t n i c h t z u m S c h i m p f e der | M e n s c h h e i t ihr e r h a b e n s t e s K u n s t w e r k für eine W u c h e r p f l a n z e , die n u r von f r e m d e n S ä f t e n sich n ä h r e n k a n n . N i c h t e i n m a l , ich s p r e c h e dies aus E u r e r eignen A n s i c h t , n i c h t einm a l der S i t t l i c h k e i t , die i h m d o c h w e i t n ä h e r liegt, m u ß das R e c h t b e d ü r fen, um sich die u n u m s c h r ä n k t e s t e H e r r s c h a f t a u f s e i n e m G e b i e t e zu sichern, es m u ß g a n z für sich allein stehen. D i e S t a a t s m ä n n e r m ü s s e n es überall h e r v o r b r i n g e n k ö n n e n , und jeder, w e l c h e r b e h a u p t e t , d a ß dies nur geschehen k a n n , i n d e m R e l i g i o n m i t g e t h e i l t w i r d — w e n n a n d e r s dasjenige sich w i l l k ü r l i c h m i t t h e i l e n l ä ß t , w a s n u r d a ist, in s o f e r n es aus d e m G e m ü t h e h e r v o r g e h e t — der b e h a u p t e t z u g l e i c h , d a ß n u r diejenigen S t a a t s m ä n n e r sein sollten, w e l c h e g e s c h i k t s i n d , der m e n s c h l i c h e n Seele den G e i s t der R e l i g i o n e i n z u g i e ß e n , u n d in w e l c h e f i n s t e r e B a r b a r e i unheiliger Z e i t e n w ü r d e uns das z u r ü k f ü h r e n ! E b e n s o w e n i g a b e r k a n n a u c h a u f diese A r t die S i t t l i c h k e i t d e r R e l i g i o n b e d ü r f e n . D e n n wie m e i nen sie es a n d e r s , | als d a ß ein s c h w a c h e s , v e r s u c h t e s G e m ü t h sich H ü l f e suchen soll in d e m G e d a n k e n an eine k ü n f t i g e W e l t . W e r a b e r einen

I erhoben ... einnehmt] B : mit Euch erhoben haben 4 f nothwendig] B : nur 6—8 unsere ... haben,] B + C: Unsere ... haben 8 auszurotten:] B: auszurotten, I I sonst] B: sonst und 14 sobald] B: so bald 18 Augen,] B + C: Augen 19 die, ... hat,] B: die ... hat 2 8 f jeder, ... kann,] B + C: jeder ... kann 3 0 ist,] B: ist 32 sind,] B + C: sind 3 6 schwaches,] B + C: schwaches

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23 C3J

Β 37

C 34

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Über die

Religion

U n t e r s c h i e d m a c h t z w i s c h e n d i e s e r u n d j e n e r W e l t , b e t h ö r t sich s e l b s t ; Β 38 A l l e w e n i g s t e n s , w e l c h e R e l i g i o n h a b e n , k e n n e n n u r | E i n e . W e n n a l s o sw 166 d e r S i t t l i c h k e i t d a s V e r l a n g e n n a c h W o h l b e f i n d e n e t w a s F r e m d e s ist, s o d a r f d a s S p ä t e r e n i c h t m e h r g e l t e n a l s d a s F r ü h e r e ; u n d w e n n sie g a n z u n a b h ä n g i g sein soll v o m B e i f a l l , s o gilt i h r a u c h d i e S c h e u v o r d e m

5

E w i g e n n i c h t e t w a s a n d e r e s , als die v o r e i n e m w e i s e n M a n n e . W e n n d i e 24 S i t t l i c h k e i t d u r c h j e d e n Z u s a z i h r e n G l a n z u n d i h r e F e s t i g k e i t v e r l i e r e t ; w i e viel m e h r d u r c h e i n e n s o l c h e n , d e r s e i n e h o h e u n d

ausländische

F a r b e n i e m a l s v e r l e u g n e n k a n n . D o c h dies h a b t I h r g e n u g v o n d e n e n g e h ö r t , w e l c h e die U n a b h ä n g i g k e i t und die Allgewalt der sittlichen G e -

10

s e z e v e r t h e i d i g e n ; i c h a b e r f ü g e h i n z u , d a ß es a u c h g e g e n d i e R e l i g i o n d i e g r ö ß t e V e r a c h t u n g b e w e i s e t , sie in ein a n d e r e s G e b i e t v e r p f l a n z e n zu w o l l e n , d a ß sie d a d i e n e u n d a r b e i t e . A u c h h e r r s c h e n m ö c h t e sie n i c h t in e i n e m f r e m d e n R e i c h e ; d e n n sie ist n i c h t s o e r o b e r u n g s s ü c h t i g ,

das

i h r i g e v e r g r ö ß e r n zu w o l l e n . D i e G e w a l t , die i h r g e b ü h r t , u n d d i e sie

15

sich in j e d e m A u g e n b l i k a u f s n e u e v e r d i e n t , g e n ü g t i h r ; u n d ihr, die A l l e s h e i l i g h ä l t , ist w e i t m e h r n o c h d a s h e i l i g , w a s m i t i h r g l e i c h e n R a n g in d e r m e n s c h l i c h e n N a t u r b e h a u p t e t 6 . A b e r sie s o l l g a n z e i g e n t l i c h d i e n e n , C 35 w i e j e n e es w o l l e n ; e i n e n Z w e k s o l l sie h a j b e n , u n d n ü z l i c h soll sie sich e r w e i s e n . W e l c h e E r n i e d r i g u n g ! U n d i h r e V e r t h e i d i g e r s o l l t e n geizig d a r -

20

Β 39 a u f s e i n , i h r d i e s e zu v e r s c h a f f e n ? | D a ß d o c h d i e j e n i g e n , die s o a u f d e n Nuzen ausgehen, und denen d o c h a m E n d e auch Sittlichkeit und R e c h t u m e i n e s a n d e r n V o r t h e i l s w i l l e n d a sein m ü s s e n , d a ß sie d o c h

lieber

s e l b s t u n t e r g e h e n m ö c h t e n in d i e s e m e w i g e n K r e i s l a u f e e i n e s a l l g e m e i n e n N u z e n s , in w e l c h e m sie alles G u t e u n t e r g e h e n l a s s e n , u n d v o n d e m k e i n

25

M e n s c h , d e r s e l b s t f ü r sich e t w a s sein w i l l , ein g e s u n d e s W o r t v e r s t e h t , l i e b e r als d a ß sie s i c h zu V e r t h e i d i g e r n d e r R e l i g i o n a u f z u w e r f e n w a g t e n , d e r e n S a c h e zu f ü h r e n sie g e r a d e die U n g e s c h i c k t e s t e n s i n d ! E i n s c h ö n e r R u h m f ü r die H i m m l i s c h e , w e n n sie n u n die i r d i s c h e n A n g e l e g e n h e i t e n der M e n s c h e n so leidlich versehen k ö n n t e ! Viel E h r e für die Freie und S o r g l o s e , w e n n sie n u n d a s G e w i s s e n d e r M e n s c h e n e t w a s s c h ä r f t e u n d SW 167 w a c h s a m e r m a c h t e ! F ü r s o e t w a s steigt sie E u c h n o c h n i c h t v o m H i m m e l h e r a b . W a s nur u m eines a u ß e r i h m selbst liegenden Vortheils willen

1 Welt,] B + C: Welt 2 wenigstens,] B: wenigstens 3 Fremdes] B + C: fremdes 3 ist,] B: ist: 4—6 Frühere; ... anderes] B: Frühere, und die Scheu vor dem Ewigen nicht mehr 14 f eroberungssüchtig, das ihrige] B: eroberungssüchtig das Ihrige 16 ihr,] B: ihr 16 Alles] B + C: alles 17 hält,] B: hält 21 sein,] B + C: sein 28 Ungeschicktesten] B: ungeschiktesten C: Ungeschiktesten 28 sind!] B: sind. 31 f das Gewissen ... machte] B: etwas wachsamer und treibender wäre als das Gewissen 33 selbst] fehlt in Β 6 vor] D: von

30

Erläuterungen

5

10

15

20

zur ersten

Rede

geliebt und geschäzt wird, das m a g wohl N o t h t h u n , a b e r es ist nicht in sich nothwendig; und ein vernünftiger M e n s c h legt keinen andern W e r t h d a r a u f , als nur den Preis, der dem Z w e k angemessen ist, um dessentwillen es gewünscht wird. | Und dieser würde s o n a c h für die Religion gering 25 genug ausfallen; ich wenigstens würde kärglich | bieten, denn ich m u ß Β 40 es nur gestehen, ich glaube nicht, d a ß es viel a u f sich hat mit | den C 36 unrechten H a n d l u n g e n , welche sie auf solche Weise verhindert, und mit sittlichen, welche sie erzeugt h a b e n soll. Sollte dies also das Einzige sein, was ihr E h r e r b i e t u n g verschaffen k ö n n t e : so m a g ich mit ihrer Sache nichts zu thun h a b e n . Selbst um sie nur n e b e n h e r zu e m p f e h l e n , ist es zu unbedeutend. Ein eingebildeter R u h m , w e l c h e r verschwindet, wenn man ihn n ä h e r b e t r a c h t e t , k a n n derjenigen nicht helfen, die mit h ö h e r e n Ansprüchen umgeht. D a ß die F r ö m m i g k e i t aus d e m Innern jeder bessern Seele nothwendig von selbst entspringt, d a ß ihr eine eigne Provinz im G e m ü t h e a n g e h ö r t , in welcher sie u n u m s c h r ä n k t herrscht, d a ß sie es würdig ist, durch ihre innerste K r a f t die Edelsten und Vortrefflichsten zu beleben und ihrem innersten Wesen n a c h von ihnen a u f g e n o m m e n und e r k a n n t zu w e r d e n : das ist es, was ich b e h a u p t e , und was ich ihr gern sichern m ö c h t e ; und E u c h liegt es nun o b , zu entscheiden, o b es der M ü h e werth sein wird, mich zu h ö r e n , ehe Ihr E u c h in E u r e r Verachtung n o c h mehr befestiget.

E r l ä u t e r u n g e n zur ersten

25

30

35

Rede.

1) Seite 3. Meine Bekanntschaft mit den Männern meines Standes war, als ich dieses zuerst schrieb, noch sehr gering; denn ich stand, wiewol schon seit mehreren Jahren im Amt, unter meinen Amtsgenossen sehr vereinzelt. Was hier mehr angedeutet als ausgesprochen ist, war also damals mehr Ahnung aus der Ferne, als anschauliche Erkenntniß. Allein auch eine längere Erfahrung | und SW 168; C 37 eine befreundetere Stellung hat das Urtheil nur befestiget, daß sowol ein tieferes Eindringen in das Wesen der Religion überhaupt, als eine acht geschichtliche und naturgemäße Betrachtungsweise der jedesmaligen Zustände der Religiosität

2 nothwendig] B: nothwendig; es kann immer ein frommer Wunsch bleiben, der nie zur Erfüllung kommt, 3 f dem Zwek ... wird] B: jener Sache angemessen ist 6 nicht,] B + C: nicht 6 viel auf sich hat] ß: so arg ist 9 könnte:] B: könnte, 10 empfehlen,] B + C: empfehlen 11 verschwindet,] B: verschwindet 13 die Frömmigkeit] B: sie 16 ist, ... Vortrefflichsten] B + C: ist ... Vortreflichsten 17 beleben] B: bewegen, 17 f aufgenommen und] fehlt in Β 18 es,] B + C: es 19 möchte;] Β: möchte, 19f ob, ... wird,] B + C: ob ... wird 23 3] C: 4 2 3 f war, ... schrieb,] C: war ... schrieb 2 4 f stand, wiewol ... Amt,] C: stand wiewohl ... Amt 2 6 f ist, ... Ferne,] C: ist ... Ferne 29 überhaupt,] C: überhaupt

36

Über die Religion

unter den Mitgliedern unseres geistlichen Standes, und das sind die beiden Punkte, w o r a u f es in dieser Stelle vorzüglich a n k o m m t , viel zu selten sind. W i r würden nicht so viel zu klagen finden über zunehmenden Sektengeist und parteigängerische f r o m m e Verbindungen, wenn nicht so viele Geistliche wären, welche 26 die religiösen Bedürfnisse und Regungen | der G e m ü t h e r nicht verstehen, weil der S t a n d p u n k t überhaupt zu niedrig ist, a u f dem sie stehn, daher denn auch, w o r a u f hier angespielt wird, die dürftigen Ansichten, welche so häufig ausgesprochen werden, wenn von den Mitteln die Rede ist, dem sogenannten Verfall des Religionswesens aufzuhelfen. Es ist eine M e i n u n g , welche vielleicht nicht viel Beifall finden wird, welche ich aber doch zum rechten Verständniß dieser Stelle nicht verschweigen k a n n , d a ß es nämlich gerade eine tiefere speculative Ausbildung ist, welche diesem Uebel am besten abhelfen würde; die Nothwendigkeit derselben wird aber aus dem Wahn, als o b sie dadurch nur u m so unpraktischer werden würden, von den meisten Geistlichen und denen, welche die Ausbildung derselben zu leiten haben, nicht anerkannt.

5

10

15

2) S. 10. D i e erste allemal sehr sinnliche Auffassung beider Vorstellungen zu einer Z e i t , w o die Seele noch ganz in Bildern lebt, verschwindet keinesweges allen, sondern bei den meisten läutert und erhöht sie sich allmählig, so j e d o c h , d a ß die Analogie mit dem Menschlichen in der Vorstellung des höchsten Wesens und die Analogie mit dem Irdischen i m m e r noch die H a l t u n g bleibt für den 20 v e r b o r g e n e m tiefern G e h a l t . Für diejenigen aber, welche sich zeitig in ein rein betrachtendes Bestreben vertiefen, giebt es einen andern Weg. D e n n indem sie sich selbst sagen, d a ß in G o t t nichts entgegengesezt, getheilt, vereinzelt sein kann und also nichts Menschliches von ihm gesagt werden darf; indem sie sich gesteC 38 hen müssen, d a ß sie kein R e c h t h a b e n , irgend etwas | Irdisches aus der irdischen 25 Welt, durch die es in unserer Seele ist geboren w o r d e n , hinauszutragen, so fühlen sie die U n h a l t b a r k e i t beider Vorstellungen in der F o r m , in der sie sie ursprünglich a u f g e n o m m e n hatten, sie sind nicht m e h r im Stande, sie in dieser lebendig zu produciren, also verschwinden sie ihnen. Hiermit aber ist kein positiver Unglaube, ja nicht einmal ein positiver Zweifel ausgesprochen, sondern indem jene 30 kindliche F o r m gleichsam als der b e k a n n t e sinnliche Coefficient verschwindet, bleibt in der Seele die unbekannte G r ö ß e zurük, als dasjenige, w o v o n jene C o e f ficient war, und sie giebt sich als etwas Wesentliches zu erkennen durch das Bestreben, sie mit irgend einem andern zu verbinden und so zu einem höheren wirklichen Bewußtsein zu erheben. In diesem Bestreben aber ist wesentlich der 35 G l a u b e gesezt, selbst wenn niemals eine den streng betrachtenden befriedigende Lösung zu Stande k ä m e . Denn wenn auch nicht für sich in einem bestimmten Werth erscheinend, ist doch die u n b e k a n n t e G r ö ß e in allen Operationen des Geistes mitwirkend. D e r Verfasser ist also weit entfernt davon gewesen, in diesen SW 169 Worten andeuten zu wollen, es habe wenigstens eine Z e i t gegeben, wo er ein 40

2 Punkte,] C: Punkte 16 10] C: 14 1 9 f Menschlichen ... Irdischen] C: menschlichen ... irdischen 24 Menschliches] C: menschliches 25 haben, ... Irdisches] C: haben ... irdisches 26 unserer] C: unsrer 28 Stande,] C: Stande 32 dasjenige,] C: dasjenige 3 3 f Wesentliches ... Bestreben,] C: wesentliches ... Bestreben 38 erscheinend,] C: erscheinend

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

zur ersten

Rede

37

Ungläubiger oder ein Atheist gewesen sei, sondern nur wer nie den Drang der Speculation gefühlt hat, den Anthropomorphismus in der Vorstellung des höchsten Wesens zu vernichten, welchen Drang | doch die Schriften der tiefsinnigsten 27 christlichen Kirchenlehrer auf das bestimmteste aussprechen, hat ihn so mißverstehen können. 3) S. 11. Man bedenke, daß dieses strenge Urtheil über das englische Volk theils aus einer Zeit ist, wo es angemessen scheinen konnte, gegen die überhandnehmende Anglomanie mit der überbietenden Strenge aufzutreten, welche der rhetorische Vortrag gestattet, theils auch, daß damals das große volksthümliche Interesse für das Missionswesen und für die Bibelverbreitung sich auf jener Insel noch nicht so gezeigt hatte, wie jezt. Viel aber möchte ich doch um dieser lezteren Erscheinungen willen nicht zurüknehmen von dem früheren Urtheil. Denn einmal ist dort die Gewöhnung so groß, auf organische Privatvereinigung der C 39 Kräfte der Einzelnen bedeutende Unternehmungen zu gründen, und die auf diesem Wege erreichten Erfolge sind so groß, daß auch diejenigen, welche an nichts anderm, als an dem Fortgang der Cultur und ihrem Gewinn aus derselben ernstlich Theil nehmen, sich doch nicht ausschließen mögen von der Theilnahme an jenen Unternehmungen, die von der bei weitem kleineren Anzahl wahrhaft Frommer ausgegangen sind, schon um das Princip nicht zu schwächen. Dann aber ist auch nicht zu läugnen, daß jene Unternehmungen selbst von einer großen Anzahl mehr aus einem politischen und merkantilischen Gesichtspunkt angesehen werden. Denn daß hier nicht das reine Interesse christlicher Frömmigkeit vorwaltet, geht wohl schon daraus hervor, daß man weit später und wie es auch scheint, mit weniger glänzendem Erfolg für die großen Bedürfnisse des religiösen Interesse wirksam gewesen ist, welche zu Hause zu befriedigen waren. Doch dies sind nur Andeutungen, durch die ich mich zu dem Glauben bekennen will, daß auch eine genauere Erörterung des Zustandes der Religiosität in England jenes Urtheil mehr bestätigen würde, als widerlegen. Und dasselbe gilt von dem, was über den wissenschaftlichen Geist gesagt ist. — Da Frankreich und England damals die Länder waren, für welche wir uns fast ausschließlich interessirten, und welche allein einen großen Einfluß auf Deutschland ausübten, so schien es überflüssig, auch anderwärts hin ähnliche Blikke zu werfen. Jezt möchte es nicht übel gewesen sein, auch über die Empfänglichkeit für solche Untersuchungen im Gebiet der griechischen Kirche ein Paar Worte zu sagen, wie nämlich dort, was für einen zarten Schleier auch die verunglückten blendenden Lobpreisungen eines Stourdza darüber geworfen haben, alles Tiefere erstorben ist im Mechanismus der veralteten Gebräuche und liturgischen Formeln, und wie diese Kirche

6 11] C: 16 7 konnte,] C: konnte 13 groß,] C: groß 24 scheint,] C: scheint C: überflüssig 36 Tiefere] C: tiefere

9 auch,] C: auch 11 hatte,] C: hatte 28 würde,] C: würde 31 f überflüssig,]

36 Vgl. Stourdza (Sturdza): Considerations sur la doctrine et 1'esprit de l'Eglise orthodoxe, 'Weimar 1816. Dieses Werk erschien in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Betrachtungen über die Lehre und den Geist der orthodoxen Kirche, aus dem Franz. übers, v. August von Kotzebue" (Leipzig 1817).

Über die

38

C 40 28 SW 170

C 41

Religion

in Allem, was einem zur Betrachtung aufgeregten Gemüth das Bedeutendste ist, noch weit hinter der katholischen zurüksteht. 4) S. 21. Wenn doch ein frommes Gemüth, wovon hier unstreitig die Rede ist, überall sonst heißt ein | sich Gott hingebendes Gemüth, hier aber statt Gott Weltall gesezt ist: so ist doch der | Pantheismus des Verfassers in dieser Stelle unverkennbar. Das ist die nicht seltene nicht Auslegung, sondern Einlegung oberflächlicher und dabei argwöhnischer Leser, welche nicht bedachten, daß hier von der Licht- und Wärme-Erzeugung in einem solchen Gemüth, d. h. von dem jedesmaligen Entstehen solcher frommer Erregungen die Rede ist, welche unmittelbar in religiöse Vorstellungen und Ansichten (Licht) und in eine Gott sich hingebende Gemüthsverfassung (Wärme) übergehn; und daß es deshalb zwekmäßig war, auf die Entstehungsart solcher Erregungen aufmerksam zu machen. Sie entstehen aber eben dann, wenn der Mensch sich dem Weltall hingiebt, und sind also auch nur habituell in einem Gemüth, in welchem diese Hingebung habituell ist. Denn nicht nur überhaupt, sondern jedesmal nehmen wir Gottes und seine ewige Kraft und Gottheit wahr an den Werken der Schöpfung, und zwar nicht nur an diesem oder jenem einzelnen an und für sich, sondern nur sofern es in die Einheit und Allheit aufgenommen ist, in welcher allein sich Gott unmittelbar offenbart. Die weitere Ausführung hiervon nach meiner Art ist zu lesen in meiner christlichen Glaubenslehre §. 8, 2. und §. 36, 1.2. 5) S. 22. Wenn behauptet wird, daß der Staat kein rechtlicher Zustand sein würde, wenn er auf der Frömmigkeit beruhte: so soll damit nicht gesagt werden, daß der Staat, so lange er noch in einer gewissen Unvollkommenheit schwankt, nicht der Frömmigkeit entbehren könnte, die das allgemeingültigste Supplement ist für alles noch in sich Mangelhafte und Unvollkommene. Allein wenn wir dies zugeben, heißt es doch nichts anders, als es ist in dem Maaß politisch nothwendig, daß die Staatsmitglieder fromm seien, als noch nicht Alle gleichmäßig und hinreichend von dem besonderen Rechtsprincip des Staats durchdrungen sind. Wäre dieses aber einmal der Fall, was aber menschlicher Weise nicht denkbar ist, so müßte der Staat, sofern er nur auf seinen bestimmten Wirkungskreis sähe, der Frömmigkeit seiner Glieder in der That | entbehren können. Daß sich dieses so verhält, sieht man auch daraus, daß diejenigen Staaten, in welchen der Rechtszustand noch nicht ganz über die Willkühr gesiegt hat, theils am meisten das Verhältniß der Pietät zwischen den Regierenden und

1 Allem] C: allem 3 21] C: 30 20 §. 8, 2. und §. 36, 1. 2.] C: Seite 63. 170. 174. 21 22] C: 32 25 Mangelhafte und Unvollkommene] C: mangelhafte und unvollkomne 26 anders,] C: anders 1 Bedeutendste] C: Bedeutenste OD von C: Worten 20 Der christliche Glaube Bd. 1-2, Berlin 1830-1831 119. 124

2 noch] D: uoch

16 Werken] so DV von C;

nach den Grundsäzen der evangelischen /= CG2], hier Bd. 1,48-50. 199-201

Kirche, 35 KGA

2. Aufl., 1/7,1,50.

5

10

15

20

25

30

35

Erläuterungen

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25

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zur ersten

Rede

39

Regierten herausheben, theils auch sich der religiösen Anstalten überhaupt a m meisten a n n e h m e n ; je mehr aber der Rechtszustand befestiget ist, um desto mehr hört dieses beides auf, sofern nicht etwa das lezte auf eine besondere Weise geschichtlich begründet ist. — W e n n aber hernach (S. 23.) gesagt wird: die Staatsmänner m ü ß t e n überall das R e c h t in den M e n s c h e n hervorrufen k ö n n e n , so muß das freilich J e d e m lächerlich dünken, der dabei an die Staatsdiener denkt. Allein das W o r t S t a a t s m a n n ist hier in dem Sinn des antiken π ο λ ι τ ι κ ό ς g e n o m m e n , und es soll dabei weniger daran gedacht werden, daß einer etwas Be|stimmtes im S t a a t zu verrichten hat, was völlig zufällig ist, als d a ß einer 29 vorzugsweise in der Idee des Staates lebt. Und die finstern Z e i t e n , in welche uns die besprochene Voraussezung zurükführen würde, sind die t h e o k r a t i s c h e n . Ich wirkte damals hierauf hin, vorzüglich weil der mir übrigens innerlich sehr befreundete Novalis die T h e o k r a t i e aufs neue verherrlichen wollte. Es ist aber jezt vollkommen meine Ueberzeugung, d a ß es eine der wesentlichsten Tendenzen des Christenthums ist, Staat und K i r c h e völlig zu trennen, und ich kann eben so SW 171 wenig als jener Verherrlichung der T h e o k r a t i e der entgegengesezten Ansicht beitreten, daß die K i r c h e je länger je m e h r im Staat aufgehen solle. 6) S. 2 4 . So wollte ich doch die Vorrechte des rednerischen Vortrages nicht gebrauchen, d a ß ich den Verächtern der Religion gleich an der Schwelle sagte, die Frömmigkeit stehe über der Sittlichkeit und dem R e c h t . Auch k o n n t e es mir an dieser Stelle nicht darauf a n k o m m e n , den Primat herauszuheben, den, meiner Ueberzeugung n a c h , Frömmigkeit und wissenschaftliche Speculation miteinander theilen, und der beiden um so mehr z u k o m m t , je inniger sie sich mit einander verbinden. Auseinandergesezt aber finden die Verehrer der Religion dieses in meiner G l a u b e n s l e h r e . Hier aber m u ß ich das G e s a g t e von dem gleichen R a n g e , der der Sittlichkeit und dem R e c h t in der menschlichen Natur mit der F r ö m m i g keit z u k o m m e , vertheidigen. Allerdings ist in den ersten beiden keine unmittelbare Verbindung des Menschen mit dem höchsten Wesen gesezt, und in sofern steht die dritte über ihnen. Allein jene beiden bedingen eben so wesentlich das Ausgezeichnete und Eigenthümliche der menschlichen Natur, und zwar als solche Funktionen derselben, die nicht selbst wieder unter andere, als h ö h e r e , zu

2 annehmen;] C: annehmen, 4 23] C: 33 6 Jedem] C: jedem 9 Bestimmtes] C: bestimmtes 13 jezt] C: noch izt 17 aufgehen] C: aufgehn 18 24] C: 34 21 f ankommen, ... den, ... nach,] C: ankommen ... den ... nach 23 zukommt,] C: zukommt 30 Ausgezeichnete und Eigenthümliche] C: ausgezeichnete und eigenthümliche 12 wirkte] C: winkte

17 je mehr] C: jemehr

4 Hier 33,27f 12 f In dem 1799 geschriebenen Fragment „Die Christenheit Europa" wirbt Friedrich von Hardenberg (Novalis) für eine christliche Theokratie Novalis: Schriften, Bd. 3, edd. R. Samuel/H.-}. Mähl/G. Schulz, 3. Aufl., Stuttgart S. 507-524).

oder (vgl. 1983,

C42

40

Über die Religion

subsumiren sind, und in sofern sind sie ihr gleich. Denn der M e n s c h kann eben so wenig o h n e sittliche Anlagen gedacht werden und ohne das Besteben nach einem rechtlichen Z u s t a n d e , als ohne die Anlage zur F r ö m m i g k e i t .

Z w e i t e Rede.

30; Β 41; C 43; SW 172

U e b e r das Wesen der R e l i g i o n .

Ihr werdet wissen, wie der alte Simonides durch immer wiederholtes und verlängertes Zögern denjenigen zur Ruhe verwies, der ihn mit 5 der Frage belästiget hatte: was wohl die Götter seien. Ich möchte nicht ungern bei der unsrigen, jener so genau entsprechenden und nicht minder umfassenden, was Religion sei, mit einer ähnlichen Zögerung anfangen. Natürlich nicht in der Absicht, um zu schweigen und Euch wie Jener in der Verlegenheit zu lassen; sondern ob Ihr etwa, um auch für Euch 10 selbst etwas zu versuchen, Euere Blikke eine Zeitlang unverwandt auf den Punkt, den wir suchen, wolltet gerichtet halten, und Euch aller andern Gedanken indeß gänzlich entschlagen. Ist es doch die erste Forderung auch derer, welche nur gemeine Geister beschwören, daß der Zuschauer, der ihre Erscheinungen sehen und in ihre Geheimnisse will ein15 geweiht werden, sich | durch Enthaltsamkeit von irdischen Dingen und Β 42 durch heilige Stille vorbereite, und dann, ohne sich durch | den Anblik C44 fremder Gegenstände zu zerstreuen, mit ungetheilten Sinnen auf den Ort hinschaue, wo die Erscheinung sich zeigen soll. Wie vielmehr werde ich eine solche Folgsamkeit verlangen dürfen, der Euch einen seltenen Geist 20 hervorrufen soll, welchen Ihr lange mit angestrengter Aufmerksamkeit werdet beobachten müssen, um ihn für den, den Ihr begehrt, zu erkennen

3 wissen,] B + C: wissen 7 umfassenden, ... sei,] B: umfassenden „was die 7 Religion] B + C: die Religion 7t anfangen.] In Β folgt ein Absatz. 8 zu schweigen] B + C: Absicht um zu schweigen, 9 lassen;] B: lassen, 9 etwan 13 auch] fehlt in Β 14 sehen] B + C: sehen, 18 ich] B: Ich ... welchen] B: ich ... den 21 den, ... erkennen] B: den zu erkennen, den 3—5 Vgl. Cicero:

De natura deorum

1,60; Opera omnia 4,487 f

Religion ist" Absicht, um etwa] B + C: 19 f Euch Ihr begehrt,

42

Über die Religion

SW 173 und seine bedeutsamen Z ü g e zu verstehen. J a gewiß, nur wenn Ihr vor 31 den heiligen Kreisen | stehet mit jener unbefangenen N ü c h t e r n h e i t des Sinnes, die jeden U m r i ß klar und richtig a u f f a ß t und weder von alten Erinnerungen verführt, n o c h von vorgefaßten Ahnungen bestochen, nur aus sich selbst das Dargestellte zu verstehen t r a c h t e t , nur dann k a n n ich hoffen, d a ß Ihr die Religion, die ich E u c h zeigen will, w o nicht liebgewinnen, d o c h wenigstens Euch über ihre Bedeutung einigen und ihre höhere N a t u r anerkennen werdet. D e n n ich wollte w o l , ich k ö n n t e sie E u c h unter irgend einer w o h l b e k a n n t e n Gestalt darstellen, damit Ihr sogleich an ihren Z ü g e n , ihrem G a n g und A n s t a n d Euch erinnern m ö c h tet, d a ß Ihr sie hier oder dort so gesehen h a b t im L e b e n . Aber es will Β 43 nicht I angehen; denn so wie ich sie E u c h zeigen m ö c h t e in ihrer ursprünglichen eigenthümlichen G e s t a l t , pflegt sie öffentlich nicht aufzutreten, sondern nur im Verborgenen läßt sie sich so sehen von denen, die sie liebt. A u c h gilt es ja nicht etwa von der Religion allein, d a ß das, C 45 worin sie ö f f e n t l i c h dargestellt und vertreten wird, nicht m e h r ganz sie selbst ist, sondern von j e d e m , was Ihr seinem innern Wesen nach als ein Eigenthümliches und Besonderes für sich a n n e h m e n m ö g e t , k a n n dasselbe mit R e c h t gesagt werden, d a ß , in was für einem Aeußerlichen es sich auch darstelle, dieses nicht mehr ganz sein eigen ist, n o c h ihm genau entspricht. Ist d o c h nicht einmal die S p r a c h e das reine W e r k der E r k e n n t niß, n o c h die Sitte das reine Werk der G e s i n n u n g . Z u m a l jezt und unter uns ist dieses wahr. D e n n es gehört zu dem sich n o c h i m m e r weiter bildenden G e g e n s a z der neuen Z e i t gegen die alte, d a ß nirgend mehr Einer Eines ist, sondern J e d e r Alles. U n d daher ist, wie die gebildeten Völker ein so vielseitiges Verkehr unter einander eröffnet h a b e n , d a ß ihre eigenthümliche Sinnesart in den einzelnen M o m e n t e n des Lebens nicht mehr unvermischt heraustritt, so auch innerhalb des menschlichen Gemüthes eine so ausgebreitete und vollendete Geselligkeit gestiftet, d a ß , Β 44 was Ihr auch abson|dern möget in der B e t r a c h t u n g als einzelnes Talent sw 174 und V e r m ö g e n , d e n n o c h keinesweges eben so abgeschlossen seine 32 W e r k e hervorbringt; sondern, ich meine es im G a n z e n , versteht | sich, jedes wird bei jeder Verrichtung dergestalt von der z u v o r k o m m e n d e n Liebe und Unterstüzung der andern bewegt und durchdrungen, daß Ihr 1 Ja gewiß,] B: Denn wahrlich, C: Ja gewiß 2 stehet] B: stehet, 3 auffaßt] B + C: auffaßt, 6 f Religion, ... einigen] B + C: Religion ... einigen, 13 Gestalt,] B: Gestalt 14 denen,] B + C: denen 15f das, ... wird,] B: das ... wird 17 ist, sondern] B + C: ist. Sondern 18 Besonderes für sich ... dasselbe] B: Besonderes ... dieses 19f daß, ... ist,] B + C: daß ... ist 26—28 eröffnet ... heraustritt] B + C: eröfnet ... heraus tritt 29 daß,] B + C: daß 13 f aufzutreten] so DV von B; OD von B: auftreten 26 vielseitiges Verkehr] vgl. Adelung: Wörterbuch 4,1453; außerdem 184,27 34 andern] D: Andern

5

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25

30

Zweite

Rede

43

nun in jedem Werk Alles findet, und schon zufrieden sein müßt, wenn es Euch nur gelingt, die herrschend hervorbringende Kraft | zu unter- C46 scheiden in dieser Verbindung. D a r u m kann nun Jeder jede Thätigkeit des Geistes nur in sofern verstehen, als er sie zugleich in sich selbst 5 finden und anschauen kann. Und da Ihr auf diese Weise die Religion nicht zu kennen behauptet, was liegt mir näher, als Euch vor jenen Verwechselungen vornehmlich zu warnen, welche aus der gegenwärtigen Lage der Dinge so natürlich hervorgehn? L a ß t uns deshalb recht bei den Hauptmomenten Eurer eignen Ansicht anheben, und sie sichten, o b sie 10 wol die rechte sei, oder wenn nicht, wie wir vielleicht von ihr zu dieser gelangen können. Die Religion ist Euch bald eine Denkungsart, ein Glaube, eine eigne Weise, die Welt zu betrachten, und was uns in ihr begegnet, in Verbindung zu bringen; bald eine Handlungsweise, eine eigne Lust und Liebe, 15 eine besondere | Art, sich zu betragen und sich innerlich zu bewegen. Β 45 Ohne diese Trennung eines Theoretischen und Praktischen könnt Ihr nun einmal schwerlich denken, und wiewol die Religion beiden Seiten angehört, seid Ihr doch gewohnt, jedesmal auf eine von beiden vorzüglich zu achten. So wollen wir sie denn von beiden Punkten aus genau 20 ins Auge fassen. Für das Handeln zuerst sezt Ihr doch ein zwiefaches, das Leben nämlich und die Kunst; Ihr möget nun mit dem Dichter, Ernst dem Leben, Heiterkeit der Kunst zuschreiben, oder anderswie beides entgegensezen, trennen werdet Ihr doch gewiß eines vom andern. Für das Leben 25 soll die I Pflicht die Losung sein, Euer Sittengesez soll es anordnen, die C 47 Tugend soll sich darin als das Waltende beweisen, damit der Einzelne mit den allgemeinen Ordnungen der Welt harmonire und nirgends stö- SW 175 rend oder verwirrend eingreife. Und so, meint Ihr, könne sich ein

1—3 schon ... Verbindung] B: Euch begnügen müßt nur in dieser Verbindung die herrschende productive Kraft wahrzunehmen 2 gelingt,] C: gelingt 4 in sofern] B: insofern 6—8 näher, ... vornehmlich ... hervorgehn?] B + C: näher ... vornemlich ... hervorgehn. 9 sichten,] B + C: sichten 10 wol] B: etwa 13—15 Weise, ... begegnet, ... Art,] B + C: Weise ... begegnet ... Art 16 Theoretischen und Praktischen] B + C: theoretischen und praktischen 18 gewohnt,] B + C: gewohnt 19 genau] B: wohl 24 eines vom andern] B: beides 26 Waltende] B + C: waltende 26 damit] B: daß 27 harmonire] B + C: harmonire, 22 f Friedrich Schiller schließt den Prolog zu seiner dramatischen Trilogie „Wallenstein", gesprochen im Oktober 1798 anläßlich der Uraufführung von „Wallenstetns Lager" bei der Wiedereröffnung des Weimarer Schauspielhauses, mit dem Vers: „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst." (Sämmtliche Werke, Vollständige Ausgabe in Einem Band, München/ Stuttgart/Tübingen 1830, S. 326; Werke, Nationalausgabe, Bd. 8, edd. H. Schneider/L. Blumenthal, Weimar 1949, S. 6)

44

Über die

Religion

M e n s c h b e w e i s e n , o h n e d a ß i r g e n d e t w a s v o n K u n s t a n i h m zu s p ü r e n 33 sei; v i e l m e h r m ü s s e diese V o l l k o m m e n h e i t d u r c h s t r e n g e | R e g e l n e r r e i c h t w e r d e n , die gar nichts gemein hätten mit den freien beweglichen Vors c h r i f t e n d e r K u n s t . J a , I h r s e h e t es s e l b s t f a s t als e i n e R e g e l a n , d a ß bei d e n e n , w e l c h e s i c h in d e r A n o r d n u n g d e s L e b e n s a m g e n a u e s t e n be-|

5

Β 46 w e i s e n , die K u n s t z u r ü k g e t r e t e n sei u n d sie i h r e r e n t b e h r e n . W i e d e r u m d e n K ü n s t l e r s o l l die P h a n t a s i e b e s e e l e n , d a s G e n i e s o l l ü b e r a l l in i h m w a l t e n , u n d d i e s ist E u c h e t w a s g a n z a n d e r e s als T u g e n d u n d S i t t l i c h k e i t ; d a s h ö c h s t e M a a ß v o n j e n e m k ö n n e , m e i n t I h r , w o h l b e s t e h e n bei e i n e m w e i t g e r i n g e r e n v o n d i e s e r ; j a I h r seid g e n e i g t , d e m K ü n s t l e r v o n d e n

10

s t r e n g e n F o r d e r u n g e n an d a s L e b e n e t w a s n a c h z u l a s s e n , w e i l die b e s o n n e n e K r a f t g a r o f t ins G e d r ä n g e g e r a t h e d u r c h j e n e f e u r i g e . W i e s t e h t es n u n a b e r m i t d e m , w a s I h r F r ö m m i g k e i t n e n n t , in w i e f e r n I h r sie als e i n e e i g n e H a n d l u n g s w e i s e a n s e h t ? F ä l l t sie in j e n e s G e b i e t des L e b e n s , u n d ist d a r i n e t w a s E i g n e s , a l s o d o c h a u c h G u t e s u n d L ö b l i c h e s , d o c h

15

a b e r a u c h ein v o n d e r S i t t l i c h k e i t V e r s c h i e d e n e s ; d e n n f ü r e i n e r l e i w o l l t C48

Ihr d o c h beides nicht ausgeben? Also e r s c h ö p f t e die | Sittlichkeit nicht d a s G e b i e t , w e l c h e s sie r e g i e r e n s o l l , w e n n n o c h e i n e a n d e r e K r a f t d a r i n w i r k s a m ist n e b e n ihr, u n d z w a r d i e a u c h g e r e c h t e A n s p r ü c h e

daran

h ä t t e und neben ihr bleiben k ö n n t e ? O d e r wollt Ihr E u c h dahin zurükzie-

20

h e n , d a ß die F r ö m m i g k e i t e i n e e i n z e l n e T u g e n d sei, u n d d i e R e l i g i o n e i n e einzelne Pflicht, oder eine Abtheilung von Pflichten, also der Sittlichkeit e i n v e r l e i b t u n d u n t e r g e o r d n e t , w i e ein T h e i l s e i n e m G a n z e n e i n v e r l e i b t ist, wie m a n a u c h a n n i m m t besondere Pflichten gegen G o t t , deren Erfüll u n g d a n n d i e R e l i g i o n sei u n d a l s o ein T h e i l d e r S i t t l i c h k e i t , w e n n a l l e

25

P f l i c h t e r f ü l l u n g d i e g e s a m m t e S i t t l i c h k e i t ist? A b e r so m e i n t I h r es n i c h t , Β 47 w e n n i c h | E u r e R e d e n r e c h t v e r s t e h e , w i e i c h sie zu h ö r e n g e w o h n t b i n s w 176 u n d a u c h j e z t E u c h w i e d e r g e g e b e n h a b e , d e n n sie w o l l e n s o k l i n g e n , als o b d e r F r o m m e d u r c h a u s u n d ü b e r a l l n o c h e t w a s E i g n e s h ä t t e in s e i n e m T h u n u n d L a s s e n , als o b d e r S i t t l i c h e g a n z u n d v o l l k o m m e n s i t t l i c h sein k ö n n t e , o h n e a u c h f r o m m zu sein d e s h a l b . U n d w i e v e r h a l t e n s i c h d o c h

1 beweisen,] B: beweisen 2 diese Vollkommenheit] B: dies 4 Ja,] B + C: J a 7 Phantasie] B + C: Fantasie 9 wohl] B + C: wol 1 0 f geneigt, ... Forderungen] Β: geneigt ... Foderungen 11 die] B + C: diese 1 5 f Eignes ... Löbliches, ... Verschiedenes] B + C: eignes ... Löbliches? ... verschiedenes 18—20 andere ... könnte] B: andere, und nicht feindselige Kraft darin wirksam ist neben ihr 20 f zurükziehen] B + C: zurükziehn 23—26 wie ein ... ist] B: wie das Besondere dem Allgemeinen 2 8 f jezt ... klingen, ... Eignes] B + C: izt ... klingen ... eignes 3 0 Lassen,] B: Lassen. 3 0 f als ob ... deshalb.] fehlt in Β 3 0 f als ob der Sittliche ... könnte,] C: und als ob der sittliche ... könnte 2 6 meint] so DV von B; OD von B: nennt

30

Zweite

Rede

45

nur Kunst und Reli|gion? D o c h schwerlich so, daß sie einander ganz 34 fremd wären; denn von jeher hatte doch das G r ö ß t e in der Kunst ein religiöses Gepräge. Und wenn Ihr den Künstler f r o m m nennt, gestattet Ihr ihm dann auch noch jenen Nachlaß von den strengen Forderungen 5 der Tugend? Wol schwerlich, sondern unterworfen ist er dann diesen wie jeder Andere. Dann aber werdet Ihr auch wol, sonst sähe ich nicht, wie eine | Gleichheit herauskäme, denen, die dem Leben angehören, wenn C49 sie fromm seyn sollen, verwehren, ganz kunstlos zu bleiben; sondern sie werden in ihr Leben etwas aufnehmen müssen aus diesem Gebiet, und 10 daraus entsteht vielleicht die eigne Gestalt, die es gewinnt. Allein ich bitte Euch, wenn auf diese Weise, und auf irgend so etwas muß es doch herauskommen mit Eurer Ansicht, weil ein anderer Ausweg sich nicht darbietet, wenn so die Religion als Handlungsweise eine Mischung ist aus jenen beiden, getrübt wie Mischungen zu sein pflegen, und beide 15 etwas durch einander | angegriffen und abgestumpft: so erklärt mir das Β 48 zwar Euer Mißfallen, aber nicht Eure Vorstellung. Denn wie wollt Ihr doch ein solches zufälliges Durcheinandergerührtsein zweier Elemente etwas Eignes nennen, wenn auch die genaueste Mittelmäßigkeit von beiden daraus entstände, so lange ja doch beide darin unverändert neben 20 einander bestehn? Wenn es aber nicht so, sondern die Frömmigkeit eine wahre innige Durchdringung von jenen ist: so sehet Ihr wohl ein, daß mein Gleichniß mich dann verläßt, und daß eine solche hier nicht kann entstanden sein durch ein Hinzukommen des einen zum andern, sondern daß sie alsdann eine ursprüngliche Einheit beider sein muß. Allein hütet 25 Euch, ich will Euch selbst warnen, daß Ihr mir dies nicht zugebt. Denn

30

wenn es sich so verhielte; so wären Sittlichkeit und Genie in ihrer Vereinzelung ja nur die einseitigen Zerstörungen der Religion, das Her|austretende, wenn sie abstirbt; jene aber wäre in der T h a t das H ö h e r e zu beiden, und das wahre göttliche Leben selbst. Für diese Warnung aber, wenn Ihr sie annehmt, seid mir auch wieder gefällig, und theilt mir mit, wenn Ihr irgendwo | vielleicht einen Ausweg findet, wie Eure Meinung über die Religion nicht als nichts erscheinen kann; bis dahin aber bleibt mir wol nichts | übrig, als anzunehmen, daß Ihr noch nicht recht unter-

I f Doch schwerlich so, ... fremd ... Größte] B + C: doch schwerlich so ... fremde ... größte 5 Wol] B + C: wol 6—8 nicht, ... denen, ... seyn ... verwehren,] B + C: nicht ... denen ... sein ... verwehren 10 Gestalt,] B + C: Gestalt 1 2 f weil ... darbietet] B: denn ein anderer Ausweg bietet sich nicht dar 15 durch einander] B + C: durcheinander 18 Eignes] Β + C: eignes 21 wohl] ß: wol 21 ein,] B + C: ein 27 f Heraustretende,] B + C: Heraustretende 3 0 f mit, ... einen] B: mit wenn Ihr wo einen andern 3 2 f kann; ... übrig,] B: kann, bis dahin mir dann nichts übrig bleibt 33 übrig,] C: übrig

SW 177 C 50

35 Β 49

46

C 51

Β 50

SW 178

36

Über die

Religion

sucht hattet, und Euch selbst nicht verstanden habt über diese Seite der Religion. Vielleicht daß es uns erfreulicher ergeht mit der andern, wenn sie nämlich angesehen wird als Denkungsart und Glaube. Das werdet Ihr mir zugeben, glaube ich, daß Eure Einsichten, mögen sie nun noch so vielseitig erscheinen, Euch doch insgesammt in zwei gegenüber stehende Wissenschaften hineinfallen. Ueber die Art, wie Ihr diese weiter abtheilt, und über die Namen, die Ihr ihnen beilegt, will ich mich nicht weiter auslassen; denn das gehört in den Streit Eurer Schulen, mit dem ich hier nichts zu thun habe. Darum sollt Ihr mir aber auch nicht an den Worten mäkeln, mögen sie nun bald hierher kommen, bald daher, deren ich mich zu ihrer Bezeichnung bedienen werde. Wir mögen nun die eine Physik nennen oder Metaphysik, mit Einem Namen, oder wiederum getheilt mit zweien, und die andere Ethik oder Pflichtenlehre oder praktische Philosophie, über den Gegensaz, den ich meine, sind wir doch einig, daß nämlich die eine | die Natur der Dinge beschreibt, oder wenn Ihr davon nichts wissen wollt und es Euch zu viel dünkt, wenigstens die Vorstellungen des Menschen von den Dingen, und was die Welt als ihre Gesammtheit für ihn sein, und wie er | sie finden muß; die andere Wissenschaft aber lehrt umgekehrt, was er für die Welt sein und darin thun soll. In wiefern nun die Religion eine Denkungsart ist über etwas, und ein Wissen um etwas in ihr vorkommt, hat sie nicht mit jenen Wissenschaften einerlei Gegenstand? Was weiß der Glaube anders als das Verhältniß des Menschen zu Gott und zur Welt, wozu jener ihn gemacht hat, was diese ihm anhaben kann oder nicht? Aber wiederum nicht aus diesem Gebiet allein weiß und sezt er etwas, sondern auch aus jenem andern, denn er unterscheidet | auch nach seiner Weise ein gutes Handeln und ein schlechtes. Wie nun, ist die Religion einerlei mit der Naturwissenschaft und der Sittenlehre? Ihr meint ja nicht; denn Ihr wollt nie zugeben, daß unser Glaube so begründet wäre und so sicher, noch daß er auf derselben Stufe der Gewißheit stände, wie Euer wissenschaftliches

4—6 Einsichten ... hineinfallen] B: Einsicht, alles warum Ihr wirklich wißt, Euch in zwei gegenüber stehende Wissenschaften hineinfällt 6 Art,] B + C: Art 7 diese ... abtheilt,] ß: sie ... abtheilt 7 Namen,] B + C: Namen 7 f beilegt, ... weiter auslassen] B: beilegt ... mit Euch streiten 8 Schulen,] B + C: Schulen 9 hier] fehlt in Β 10 kommen,] B + C: kommen 14 Gegensaz, ... meine,] B + C: Gegensaz ... meine 16—19 wollt ... Welt] B: wollt, die Natur des Menschen und seine dadurch bestimmten Verhältnisse zum Universum, was dieses für ihn sein, und wie er es finden muß; die andere aber umgekehrt lehrt was er für dasselbe 19 umgekehrt,] C: umgekehrt 20 über etwas] fehlt in Β 21 f jenen Wissenschaften] B: diesen 27 f der Naturwissenschaft und der Sittenlehre] B: beiden 29 zugeben,] B + C: zugeben 29 unser] B: ihr 2 9 f noch daß ... Stufe] B: daß ... Stuffe 30 stände,] B + C: stände 3 0 f Euer ... Wissen] B: das Wissen Eurer Philosophie

5

10

15

20

25

30

Zweite

5

10

15

20

25

30

Rede

47

Wissen; sondern Ihr werft ihm vor, d a ß er Erweisliches und W a h r s c h e i n liches nicht zu unterscheiden wisse. E b e n so vergeßt Ihr n i c h t , fleißig zu b e m e r k e n , d a ß oft gar wunderliche Vorschriften des T h u n s und Lassens von der Religion ausgegangen sind; und ganz recht m ö g t Ihr h a b e n ; nur vergeßt nicht, daß es mit dem, w a s Ihr W i s s e n s c h a f t nennt, sich eben so verhält, und | d a ß Ihr Vieles in beiden G e b i e t e n berichtiget zu haben meint, und besser zu sein als E u r e Väter. | U n d was sollen wir nun sagen, d a ß die Religion sei? W i e d e r wie v o r h e r eine M i s c h u n g , also theoretisches Wissen und praktisches z u s a m m e n gemengt? A b e r n o c h viel unzulässiger ist ja dies a u f dem G e b i e t e des W i s sens, und a m meisten, w e n n , wie es d o c h scheint, jeder von diesen beiden Zweigen desselben sein eigenthümliches Verfahren hat in der C o n s t r u c tion seines Wissens. N u r aufs willkührlichste entstanden k ö n n t e solch eine M i s c h u n g sein, in der beiderlei E l e m e n t e sich e n t w e d e r unordentlich durchkreuzen oder sich d o c h wieder absezen m ü ß t e n ; und schwerlich könnte etwas anderes durch sie g e w o n n e n werden, als d a ß wir n o c h eine M e t h o d e m e h r besäßen, um e t w a Anfängern von den Resultaten des Wissens e t w a s beizubringen und ihnen Lust zu m a c h e n zur S a c h e selbst. Wenn Ihr es so meint, w a r u m streitet Ihr gegen die Religion? Ihr k ö n n t e t sie j a , so lange es A n f ä n g e r giebt, friedlich bestehen lassen und o h n e Gefährde. Ihr k ö n n t e t lächeln über die wunderliche T ä u s c h u n g , wenn wir uns e t w a a n m a ß e n wollten, ihretwegen E u c h zu meistern; denn Ihr wißt ja gar zu sicher, d a ß Ihr sie weit hinter E u c h gelassen h a b t , und d a ß sie i m m e r nur von E u c h , den Wissenden, zubereitet wird für uns Andere, so d a ß Ihr übel thun würdet, nur ein ernsthaftes W o r t hierüber zu verlieren. A b e r | so steht es nicht, denke ich. D e n n Ihr arbeitet s c h o n lange daran, | wenn ich mich nicht ganz irre, einen solchen kurzen Auszug Eures Wissens der M a s s e des Volkes | beizubringen, o b Ihr ihn nun Religion n e n n t oder Aufklärung oder wie anders, gilt gleich, und dabei

l f Erweisliches

und

3—5 bemerken,

...

Wahrscheinliches]

sind; u n d g a n z

...

erweisliches

B + C: nicht,]

B: bemerken

5 f d e m , . . . n e n n t , . . . Vieles] B + C: d e m . . . n e n n t . . . vieles

35

und ...

wahrscheinliches

sind.

Ganz

...

6 in beiden G e b i e t e n ]

11 m e i s t e n , ] B + C: meisten

1 2 desselben]

nicht fehlt

in Β

8 W i e d e r ] B + C: w i e d e r

in Β

13 — 1 8 a u f s . . . und] B: eine C o m p i l a t i o n aufs w i l l k ü h r l i c h s t e e n t s t a n d e n k ö n n t e

fehlt

ja so e t w a s sein, o h n e allen eignen G r u n d lediglich an d e m a n d e r n r u h e n d , eine M e t h o d e e t w a A n f ä n g e r n von den R e s u l t a t e n des W i s s e n s e t w a s b e i z u b r i n g e n u m C : besäßen

22 wollten,] C: wollten

2 3 I h r sie . . . h a b t ] B : sie hinter E u c h ist

. . . würdet,] B : a u s g e h n k a n n , und würdet übel thun 1 Ihr]

B:

ihr

17

besäßen,]

2 2 w i r . . . m e i s t e r n ] B : sie sich e t w a a n m a ß e n w o l l t e w e i t e r zu sein als Ihr

3 5 ja]

so DV von B; OD von B:

je

24f

25 würdet,] C : würdet

zubereitet

C52 Β 51

sw 279

37 C 53 Β 52

48

S 53 C 54

sw 180

38

Über die

Religion

findet Ihr eben nöthig, erst ein anderes noch Vorhandenes auszutreiben, oder wo es nicht wäre, ihm den Eingang zu verhindern, und dies ist eben, was Ihr als Gegenstand Eurer Polemik, nicht als die Waare, die Ihr selbst verbreiten wollt, Glauben nennt. Also, Ihr Lieben, muß doch der Glaube etwas Anderes sein, als ein solches Gemisch von Meinungen über Gott und die Welt, und von Geboten für Ein Leben oder zwei; und die Frömmigkeit muß etwas Anderes sein als der Instinkt, den nach diesem Gemengsei von metaphysischen und moralischen Brosamen verlangt, und der sie sich durcheinander rührt. Denn sonst strittet Ihr wol schwerlich dagegen, und es fiele Euch wol nicht ein, von der Religion auch nur entfernt, als von etwas zu reden, das von Eurem Wissen verschieden sein könnte; sondern der Streit der Gebildeten und Wissenden gegen die Frommen wäre dann nur der Streit der Tiefe und Gründlichkeit gegen das oberflächliche Wesen, der Meister gegen die Lehrlinge, die sich zur übeln Stunde freisprechen wollten. Solltet Ihr es aber dennoch so meinen, so hätte ich Lust, Euch durch allerlei sokratische Fragen zu ängstigen, um Manche unter Euch endlich zu einer | unverhohlenen Antwort zu nöthigen auf die Frage, ob einer wol auf ir|gend eine Art weise und fromm sein könnte zugleich, und um Allen die vorzulegen, ob Ihr etwa auch in andern gemeinen Dingen die Principien nicht kennt, nach denen das Aehnliche zusammengestellt und das Besondere dem Allgemeinen untergeordnet wird; oder ob Ihr sie nur hier nicht anwenden wollet, um lieber mit der Welt über einen ernsten Gegenstand Scherz zu treiben. Wie soll es nun aber sein, wenn es so nicht ist? Wodurch wird doch im religiösen Glauben das, was Ihr in der Wissenschaft sondert und in zwei Gebiete vertheilt, mit einander v e r k n ü p f t und so unauflöslich gebunden, daß sich keins ohne das andere denken läßt? Denn der Fromme meint nicht, daß Jemand das richtige Handeln unterscheiden kann, als nur in sofern er zugleich um die Verhältnisse des Menschen zu Gott weiß, und so auch umgekehrt. Ist es das Theoretische, worin dieses bindende Prinzip liegt: warum stellt Ihr noch eine praktische Philosophie

l f nöthig, ... Vorhandenes ... wäre,] B + C: nöthig ... vorhandenes ... wäre 3 Waare,] B: Waare 4 Glauben] B: Religion 5 Anderes] B + C: anderes 7 Anderes] B: anders C: anderes 10—12 ein, ... könnte; sondern] B + C: ein ... könnte. Sondern 13 dann] fehlt in Β 15f Solltet ... Lust,] B: Ich hätte Lust, wenn Ihr es so meint, 16 Lust,] C: Lust 17 um Manche unter Euch] B: Manche 17 unverhohlenen] B + C: unverholenen 18 ob einer] B: ob Einer 19 um] fehlt in Β 20 kennt,] B: kennt 23 lieber] fehlt in Β 24 ist?] B: ist. 25f das, ... vertheilt,] B + C: das ... vertheilt 27 läßt?] B: läßt. 27 Fromme] B: Religiöse 28 nicht,] B + C: nicht 30 Theoretische,] B + C: theoretische 31 liegt:] B: liegt, 8 metaphysischen] D: mataphysischen

5

10

15

20

25

30

Zweite

5

10

15

20

25

30

Rede

49

jener gegenüber, und seht sie nicht vielmehr nur als einen Abschnitt derselben an? und eben so, wenn es sich umgekehrt verhält. Aber es mag nun so sein oder jenes beides, welches Ihr entgegenzusezen pflegt, mag nur in einem noch höheren ursprünglichen | Wissen Eins sein, Ihr k ö n n t doch nicht glauben, daß die Religion diese höchste wiederhergestellte Einheit des Wissens sei, sie, die Ihr bei denen am meisten findet und bestreiten wollt, welche von der Wissenschaft am weitesten entfernt sind. Hiezu will | ich selbst Euch nicht anhalten; denn ich will keinen Plaz besezen, den ich nicht behaupten k ö n n t e 1 , aber das werdet Ihr wol zugeben, daß Ihr auch mit dieser Seite der Religion Euch erst Zeit nehmen müßt, um zu untersuchen, was sie eigentlich bedeute. Laßt uns aufrichtig mit einander umgehen. Ihr mögt die Religion nicht, davon sind wir schon neulich ausgegangen; aber indem Ihr einen ehrlichen Krieg gegen sie führt, der doch nicht ganz ohne Anstrengung ist, wollt Ihr doch nicht gegen einen Schatten zu fechten scheinen, wie dieser, mit dem wir uns bis jezt herumgeschlagen haben. Sie muß doch etwas Eigenes sein, was in der Menschen Herz sich so besonders gestalten konnte, etwas Denkbares, dessen Wesen für sich kann aufgestellt werden, daß man darüber reden und streiten kann, und ich finde es sehr unrecht, wenn Ihr selbst aus so disparaten Dingen, wie Erkenntniß und Handlungsweise, etwas Unhaltbares zusammennähet, das Religion nennt, und dann so viel unnüze Umstände damit macht. Ihr werdet leugnen, daß Ihr hinterlistig zu | Werke gegangen seid; Ihr wer|det mich auffordern, alle Urkunden der Religion — weil ich doch die Systeme, die C o m mentare und die Apologien schon verworfen habe — alle aufzurollen, von den schönen Dichtungen der Griechen bis zu den heiligen Schriften der Christen, o b ich nicht überall | die Natur der Götter finden werde, und ihren Willen, und überall den heilig und selig gepriesen, der die erstere erkennt und den lezteren vollbringt. Aber das ist es ja eben, was ich Euch gesagt habe, daß die Religion nie rein erscheint, sondern ihre äußere Gestalt auch noch durch etwas Anderes bestimmt wird, und daß es eben unsere Aufgabe ist, uns hieraus ihr Wesen darzustellen, nicht so

3 beides,] B: beides 5 f glauben, ... sie,] B + C: glauben ... sie 7 am weitesten] B: weit genug 10 dieser Seite] B: diesem Theile 11 untersuchen,] B + C: untersuchen 11 sie] B: er 12 Laßt kein Absatz in Β 15 zu fechten scheinen] B: gefochten haben 15 scheinen,] C: scheinen 16 bis jezt] fehlt in Β 16 jezt] C: izt 1 7 f Eigenes ... Denkbares] B + C: eigenes ... denkbares 2 0 Dingen,] B + C: Dingen 2 0 f wie Erkenntniß und Handlungsweise,] fehlt in Β 21 Handlungsweise,] C: Handlungsweise 23 f auffordern,] B + C: auffordern 2 9 lezteren] B + C: leztern 3 0 erscheint,] C: erscheint 31 f Anderes ... ist,] B + C: anderes ... ist 2 0 Erkenntniß] C: Erkentniß

Β 54

C 55

SW 181

ß 55; 39

C56

50

Β 56

C 57 SW 182

40

Über die

Religion

kurz und geradezu jenes für dieses zu n e h m e n , wie Ihr zu thun scheint. Liefert E u c h d o c h auch die K ö r p e r w e l t keinen U r s t o f f in seiner Reinheit dargestellt als ein freiwilliges Naturerzeugniß — Ihr m ü ß t e t denn, wie es E u c h in der intellektuellen ergangen ist, sehr g r o b e D i n g e für etwas Einfaches halten, — sondern es ist nur das unendliche Z i e l der analytischen Kunst, einen solchen darstellen zu k ö n n e n . S o ist E u c h auch in geistigen Dingen das Ursprüngliche nicht anders zu schaffen, als wenn Ihr es durch eine zweite gleichsam künstliche S c h ö p f u n g in E u c h erzeugt, und auch dann nur für den M o m e n t , w o Ihr es erzeugt. Ich bitte E u c h , ver-| stehet E u c h selbst hierüber, Ihr werdet unaufhörlich daran erinnert werden. W a s a b e r die Urkunden und die A u t o g r a p h a der Religion betrifft, so ist das Anschließen derselben an E u r e W i s s e n s c h a f t e n v o m Sein und v o m H a n d e l n oder von der N a t u r und v o m Geist nicht bloß ein unvermeidliches Schiksal, weil sie n ä m l i c h nur aus diesen Gebieten ihre Sprac h e h e r n e h m e n k ö n n e n , sondern es ist ein wesentliches E r f o r d e r n i ß , von ihrem Z w e k selbst unzertrennlich, weil sie, u m sich | B a h n zu m a c h e n , an das mehr oder minder wissenschaftlich G e d a c h t e über diese G e g e n stände a n k n ü p f e n müssen, um das Bewußtsein für ihren höheren G e g e n stand aufzuschließen. Denn was als das Erste und Lezte in einem Werke erscheint, ist nicht i m m e r auch sein Innerstes und H ö c h s t e s . W ü ß t e t Ihr doch nur zwischen den Zeilen zu | lesen! Alle heilige Schriften sind wie die bescheidenen Bücher, welche vor einiger Z e i t in unserem bescheidenen Vaterlande gebräuchlich w a r e n , die unter einem dürftigen Titel wichtige D i n g e abhandelten, und nur einzelne Erläuterungen verheißend in die tiefsten T i e f e n hinabzusteigen versuchten. S o auch die heiligen Schriften schließen sich freilich metaphysischen und moralischen Begriffen an — w o sie sich nicht etwa u n m i t t e l b a r dichterischer erheben, welches a b e r das für Euch a m wenigsten G e n i e ß b a r e zu sein pflegt — und sie scheinen fast ihr ganzes G e s c h ä f t in diesem Kreise zu vollenden; aber Euch wird zugemuthet, durch diesen Schein hindurchzudringen, und hinter demselben ihre eigentliche A b z w e k k u n g zu e r k e n n e n . So bringt auch die N a t u r edle M e t a l l e vererzt mit geringeren Substanzen hervor, und

2 f in seiner ... Naturerzeugniß] B: als reines Naturprodukt 4 Euch] B: Euch hier 8 zweite gleichsam künstliche] B: ursprüngliche 9 Moment,] β + C: Moment 11 betrifft] B + C: betriff 13 oder ... Geist] fehlt in Β 14f weil ... können,] fehlt in Β 15 es ist] fehlt in Β 16 Zwek] B: Dasein C: Zweck 16 unzertrennlich,] ß: unzertrennlich. 16—19 weil ... aufzuschließen.] fehlt in Β 19f Erste und Lezte ... erscheint,] B + C: erste und lezte ... erscheint 20 auch ... Höchstes] B: das wahre'und höchste 20 Innerstes und Höchstes] C: innerstes und höchstes 24—26 abhandelten, ... Schriften] B: abhandelten. Sie 27—29 welches ... sie] B: und dies pflegt Euch auch nicht das genießbarste zu sein — und 28 Genießbare] C: genießbare 30 zugemuthet,] B + C: zugemuthet 30 hindurchzudringen,] B: hindurchzudringen. 3 0 f und ... erkennen.]

fehlt in Β

5

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Zweite

Rede

51

doch weiß unser Sinn sie zu entdekken und in ihrem herrlichen Glänze wieder herzustellen. Die heiligen Schriften waren nicht für die vollendeten Gläubigen | allein, sondern vornehmlich für die Kinder im Glauben, für die Neugeweihten, für die, welche an der Schwelle stehen und einge5 laden sein wollen. Wie | konnten sie es also anders machen, als jezt eben auch ich es mache mit Euch? Sie mußten sich anschließen an das Gegebene, und in diesem die Mittel suchen zu einer solchen strengeren Spannung und erhöhten Stimmung des Gemüthes, bei welcher dann auch der neue Sinn, den sie erwekken wollten, aus dunkeln Ahnungen konnte 10 aufgeregt werden. Und erkennt Ihr nicht auch schon an der Art, wie jene Begriffe behandelt werden, an dem bildenden Treiben, wenn gleich oft im Gebiet einer armseligen, undankbaren Sprache, das Bestreben, aus einem niederen Gebiet durchzubrechen in ein höheres? Eine solche M i t theilung, das seht Ihr wol, konnte nicht anders sein als dichterisch oder 15 rednerisch; und was liegt wol dem Leztern näher als das Dialektische? was ist von jeher herrlicher und glüklicher gebraucht worden, um die höhere Natur des Erkennens eben so wol als des inneren Gefühls zu offenbaren? Aber freilich wird dieser Z w e k nicht erreicht, wenn J e m a n d bei der Einkleidung allein stehen bleibt. | D a r u m da es so sehr weit 20 um sich gegriffen hat, daß man in den heiligen Schriften vornehmlich Metaphysik und M o r a l sucht, und nach der Ausbeute, die sie hiezu geben, ihren Werth schäzt, so schien es Zeit, die Sache einmal bei dem andern Ende zu ergreifen, und mit dem schneidenden Gegensaz anzuheben, in welchem sich unser Glaube gegen Eure M o r a l und Metaphysik 25 und unsere Fröm|migkeit gegen das, was Ihr Sittlichkeit zu nennen pflegt, befin|det. Das war es, was ich wollte, und wovon ich abschweifte, um erst die unter Euch herrschende Vorstellung zu beleuchten. Es ist geschehen, und ich kehre nun zurük. 30

Um Euch also ihren ursprünglichen und eigenthümlichen Besiz recht bestimmt zu offenbaren und darzuthun, entsagt die Religion vorläufig allen Ansprüchen auf irgend etwas, das jenen beiden Gebieten der Wissenschaft und der Sittlichkeit angehört, und will Alles zurükgeben,

1 entdekken] B + C: entdekken, 3 vornehmlich] B + C: vornemlich 4 die,] Β: die 6 Euch?] B + C: Euch. 7 f strengeren ... Gemüthes] B: Spannung, 9 Sinn, ... wollten,] B: Sinn 10 auch schon] fehlt in Β 10 Art,] B + C: Art 12 armseligen, ... Bestreben,] B + C: armseligen ... Bestreben 15 Leztern ... Dialektische] B + C: lezteren ... dialektische 16 worden,] B + C: worden 17 eben so wol als] B: und 18 offenbaren?] B: offenbaren. 18 Jemand] B: Ihr C: jemand 19—22 da es ... schien] B: ist 2 0 f hat, ... Ausbeute,] C: hat ... Ausbeute 22 Zeit,] B + C: Zeit 2 4 f unser ... unsere] B: der ... die 2 5 f das, ... es,] B + C: das ... es 2 6 f abschweifte ... herrschende] B: mich abwendete um erst Eure gemeine 26 abschweifte,] C: abschweifte 31 f etwas, ... angehört] B: etwas das jenen angehörte 32 Alles zurükgeben,] B + C: alles zurükgeben

Β 57 C 58

SW 183

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BS8 C 59

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SW 184 Β 59 C 60 42

Über die Religion

w a s sie von dorther, sei es nun geliehen hat, oder sei es, daß es ihr aufgedrungen w o r d e n . D e n n w o n a c h strebt E u r e W i s s e n s c h a f t des Seins, E u r e N a t u r w i s s e n s c h a f t , in welcher d o c h alles R e a l e E u r e r theoretischen Philosophie sich vereinigen muß? D i e D i n g e , denke ich, in ihrem eigenthümlichen Wesen zu erkennen; die besonderen Beziehungen aufzuzei5 gen, durch welche jedes ist, was es ist; j e d e m seine Stelle im G a n z e n zu b e s t i m m e n und es von allem Uebrigen richtig zu unterscheiden; alles W i r k l i c h e in seiner gegenseitigen bedingten N o t h w e n d i g k e i t hinzustellen und die Einerleiheit aller Erscheinungen mit ihren ewigen Gesezen darzuthun. Dies ist ja wahrlich schön und trefflich, und ich bin nicht gemeint, 10 es herabzusezen; vielmehr wenn E u c h meine B e s c h r e i b u n g , hingeworfen und angedeutet wie sie ist, nicht genügt, so will ich E u c h das H ö c h s t e und E r s c h ö p f e n d s t e zugeben, was Ihr nur v o m Wissen und von der W i s senschaft zu sagen vermögt: aber d e n n o c h , und wenn Ihr auch n o c h | weiter geht und mir anführt, die N a t u r w i s s e n s c h a f t führe Euch n o c h 15 h ö h e r h i n a u f von den Gesezen zu d e m höchsten und a l l g e m e i n e n O r d ner, in w e l c h e m die Einheit zu Allem ist, und Ihr e r k e n n t e t die N a t u r nicht, o h n e auch G o t t zu begreifen, so behaupte ich d e n n o c h , d a ß die Religion es a u c h mit diesem Wissen gar nicht zu thun h a t , und d a ß ihr Wesen auch o h n e G e m e i n s c h a f t mit demselben w a h r g e n o m m e n wird. 20 D e n n das M a a ß des Wissens ist nicht das M a a ß der F r ö m m i g k e i t ; sondern diese k a n n sich herrlich o f f e n b a r e n , ursprünglich und eigenthümlich auch in d e m , der jenes Wissen nicht ursprünglich in sich selbst h a t , sondern nur wie Jeder, Einzelnes d a v o n durch die Verbindung mit den Uebrigen. J a der F r o m m e gesteht es E u c h gern und willig zu, auch wenn 25 Ihr etwas stolz a u f ihn herabseht, d a ß er als solcher, er m ü ß t e denn zugleich auch ein Weiser sein, das Wissen nicht so in sich h a b e wie Ihr; und ich will E u c h sogar mit klaren W o r t e n d o l m e t s c h e n , was die meisten von ihnen nur ahnen, aber nicht von sich zu geben wissen, daß, wenn Ihr G o t t an die Spize Eurer W i s s e n s c h a f t stellt als den G r u n d alles E r k e n - 30 nens oder a u c h alles E r k a n n t e n zugleich, sie dieses z w a r loben und ehren, dies aber nicht dasselbige ist wie ihre Art G o t t zu h a b e n und um

1 £ dorther ... worden] B: jenen geliehen hat, oder was jene ihr aufgedrungen haben 1 dorther, ... es,] C: dorther ... es 3 Reale] B + C: reale 7 allem Uebrigen richtig] B: andern 7 Uebrigen] C: übrigen 10 wahrlich] B + C: warlich 10 trefflich] B: göttlich 10 gemeint,] B + C: gemeint 12 f Höchste und Erschöpfendste] B + C: höchste und erschöpfendste 14—20 dennoch ... demselben] B: doch behaupte ich, daß die Religion es mit dem Wissen gar nicht zu thun hat, und daß auch ohne Gemeinschaft mit demselben ihr Wesen 16—18 Ordner, ... Allem ... nicht,] C: Ordner ... allem ... nicht 22 offenbaren,] B: offenbaren 2 2 ursprünglich] fehlt in Β 2 4 nur] B: nur, 2 6 f als ... sein,] fehlt in Β 27 Ihr;] B: Ihr, 2 8 f dolmetschen, ... ahnen, ... daß,] B + C: dollmetschen ... ahnden ... daß 3 0 f Erkennens] B: Erkennens, 31 oder ... zugleich,] fehlt in Β

Zweite

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Rede

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ihn zu wissen, aus welcher j a , wie sie gern gestehen und an ihnen genugsam zu sehen ist, das E r k e n n e n und die W i s s e n s c h a f t nicht h e r v o r g e h t . D e n n freilich ist der Religion die | B e t r a c h t u n g wesentlich, und w e r in zugeschlossener Stumpfsinnigkeit hingeht, w e m nicht der Sinn o f f e n ist für das L e b e n der Welt, den werdet Ihr | nie f r o m m nennen w o l l e n ; aber diese B e t r a c h t u n g geht nicht wie Euer W i s s e n u m die N a t u r a u f das Wesen eines Endlichen im Z u s a m m e n h a n g mit und im G e g e n s a z gegen das andere E n d l i c h e , n o c h a u c h wie E u r e G o t t e s e r k e n n t n i ß , wenn ich hier beiläufig n o c h in alten A u s d r ü k k e n reden darf, a u f das Wesen der höchsten U r s a c h e an sich und in ihrem Verhältniß zu alle d e m , w a s zugleich U r s a c h e ist und W i r k u n g ; sondern die B e t r a c h t u n g des F r o m men ist nur das u n m i t t e l b a r e Bewußtsein von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche, alles Z e i t l i c h e n im Ewigen und durch das E w i g e . Dieses suchen und finden in A l l e m , was I lebt und sich regt, in allem Werden und Wechsel, in a l l e m T h u n und Leiden und das L e b e n selbst im u n m i t t e l b a r e n G e f ü h l nur h a b e n und kennen als dieses Sein, das ist Religion. Ihre Befriedigung ist, w o sie dieses findet; w o sich dies verbirgt, da ist für sie H e m m u n g und Aengstigung, N o t h und T o d . Und so ist sie freilich ein L e b e n in der unendlichen N a t u r des G a n z e n , im Einen und Allen, in G o t t , h a b e n d und besizend Alles in G o t t und G o t t in A l l e m . A b e r das Wissen und E r k e n n e n ist sie nicht, weder der Welt n o c h G o t t e s , sondern dies e r k e n n t sie nur a n , o h n e es zu sein; es ist ihr auch eine Regung und O f f e n b a r u n g des Unendli-| chen im E n d l i c h e n , die sie auch sieht in G o t t und G o t t in ihr. — E b e n so, w o n a c h strebt E u r e Sittenlehre, E u r e W i s s e n s c h a f t des H a n d e l n s ? Auch sie will ja das Einzelne des menschlichen H a n d e l n s und H e r v o r bringens aus einander halten in seiner B e s t i m m t h e i t , und a u c h dies zu einem in sich gegründeten und | gefügten G a n z e n ausbilden. A b e r der F r o m m e b e k e n n t E u c h , d a ß er, als solcher, a u c h hiervon nichts weiß. E r betrachtet ja freilich das menschliche H a n d e l n , a b e r seine B e t r a c h t u n g ist g a r nicht die, aus welcher jenes System entsteht; sondern er sucht und spürt nur in Allem dasselbige, n ä m l i c h das H a n d e l n aus G o t t , die W i r k samkeit G o t t e s in den M e n s c h e n . Z w a r wenn E u r e Sittenlehre die rechte ist, und seine F r ö m m i g k e i t die rechte, so wird er kein anderes H a n d e l n

1 ja,] B: ja l f wie sie ... ist,] fehlt in Β 1 gestehen] C: gestehen, 6—12 wie ... Bewußtsein] B: auf das Wesen eines Endlichen im Gegensaz gegen das andere Endliche; sondern sie ist nur die unmittelbare Wahrnehmung 14 Allem,] B + C: allem 16 f im ... kennen] B: nur haben und kennen im unmittelbaren Gefühl 17 ist,] B + C: ist 20 habend und besizend] B: und sieht 21 Alles] B + C: alles 22 an,] B + C: an 24 ihr. - ] B: ihr. 29 hiervon] B + C: hievon 29 nichts] B: nicht 31 die,] B + C: die 31 entsteht;] B: entsteht, 32 spürt] B: sieht 32 Allem] B + C: allem 34 und

... so] fehlt in Β

C61 Β 60

sw iss

43

C 62

Β 61

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sw 186

C63 44 Β 62

C 64; Β 63

Über die

Religion

für das göttliche anerkennen, als dasjenige, welches auch in Euer System aufgenommen ist; aber dieses System selbst zu kennen und zu bilden, ist Eure, der Wissenden, Sache, nicht seine. Und wollt Ihr dies nicht glauben, so seht auf die Frauen, denen Ihr ja selbst Religion zugesteht, nicht nur als Schmuk und Zierde, sondern von denen Ihr auch eben hierin das feinste Gefühl fordert, göttliches Handeln zu unterscheiden von anderm, ob Ihr ihnen wohl anmuthet, Eure Sittenlehre als Wissenschaft zu verstehen. — Und dasselbe, daß ich es gerade heraussage, ist es auch mit dem Handeln selbst. Der Künstler bildet, was ihm gegeben ist zu bilden, kraft seines besondern Talents; | und diese sind so geschieden, daß, welches der eine besizt, dem | andern fehlt, wenn nicht Einer wider den Willen des Himmels alle besizen will; und niemals pflegt Ihr zu fragen, wenn | Euch Jemand als fromm gerühmt wird, welche von diesen Gaben ihm wohl einwohne, kraft seiner Frömmigkeit. Der bürgerliche Mensch, in dem Sinne der Alten nehme ich es, nicht in dem dürftigen von heut zu Tage, ordnet, leitet, bewegt kraft seiner Sittlichkeit. Aber diese ist etwas Anderes als seine Frömmigkeit; denn die lezte hat auch eine leidende Seite, sie erscheint auch als ein Hingeben, ein sich Bewegenlassen von dem Ganzen, welchem der Mensch gegenübersteht, wenn die erste sich immer nur zeigt, als ein Eingreifen in dasselbe, als ein Selbstbewegen. Und die Sittlichkeit hängt daher ganz an dem Bewußtsein der Freiheit, in deren Gebiet auch Alles fällt, was sie hervorbringt; die Frömmigkeit dagegen ist gar nicht an diese Seite des Lebens gebunden, sondern eben so rege in dem entgegengesetzten Gebiet der Nothwendigkeit, wo kein eignes Handeln eines Einzelnen erscheint. Also sind doch beide verschieden von einander, und wenn freilich auf jedem Handeln aus Gott, auf jeder Thätigkeit, durch welche sich das Unendliche im Endlichen offenbart, die Frömmigkeit mit Wohlgefallen verweilt, so ist sie doch nicht diese Thätigkeit selbst. So behauptet sie denn ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter nur dadurch, daß sie aus dem der Wissenschaft sowol als aus I dem der Praxis | gänzlich herausgeht, und indem sie sich neben beide hinstellt, wird erst das gemeinschaftliche Feld vollkommen

1 anerkennen, als dasjenige,] ß: anerkennen als dasjenige 2 dieses System] B: dieses 2 bilden,] β + C: bilden 3 f glauben,] ß.· glauben 4 f Religion ... Zierde,] ß: nicht nur Religion als Schmukk und Zierde zugestellt 7 f anmuthet, ... gerade] B + C: anmuthet... grade 8 heraussage] B: heraus sage 9 selbst] fehlt in Β 10 diese sind so] B: so sind diese 1 0 f daß, ... besizt,] B + C: daß ... besizt 17 Anderes] B + C: anderes 18 Bewegenlassen] B + C: bewegen lassen 19 gegenübersteht] B: entgegensteht 2 0 zeigt,] Β + C: zeigt 22 Alles] ß + C: alles 22 fällt,] B: fällt 2 4 entgegengesetzten] B + C: entgegengesezten 27 Thätigkeit,] ß : Thätigkeit 2 8 f Frömmigkeit ... denn ihr] B: Religion ... ihr 9 kraft] B: Kraft

18 ein sich] so DV von B; OD von B: nie sich

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Zweite

Rede

55

ausgefüllt und die menschliche Natur von dieser Seite vollendet. Sie zeigt sich Euch als das nothwendige und unentbehrliche Dritte zu jenen beiden, als ihr natürliches Gegenstük, nicht geringer an Würde und Herrlichkeit, als welches von jenen Ihr wollt. 5 Versteht mich aber nur nicht wunderlich, ich bitte Euch, als meinte ich etwa, Eines von diesen könnte sein ohne das Andere, und es könnte etwa Einer Religion haben und fromm sein, dabei aber unsittlich. Unmöglich ist ja dieses. Aber eben so unmöglich, bedenkt es wohl, ist ja nach meiner Meinung, daß Einer sittlich sein kann ohne Religion, oder 10 wissenschaftlich | ohne sie. Und wenn Ihr etwa, nicht mit Unrecht, aus dem, was ich schon gesagt, schließen wolltet, Einer könnte doch meinetwegen Religion haben ohne Wissenschaft, und so hätte ich doch die Trennung selbst angefangen: so laßt Euch erinnern, daß ich auch hier nur dasselbe gemeint, daß die Frömmigkeit nicht das M a a ß der Wissen15 schaft ist. Aber so wenig Einer wahrhaft wissenschaftlich sein kann ohne fromm: so gewiß kann auch der Fromme zwar wol unwissend sein, aber nie falsch wissend; denn sein eignes Sein ist nicht von | jener untergeordneten Art, welche, nach dem alten Grundsaz, daß nur von Gleichem Gleiches kann erkannt werden, nichts Erkennbares hätte als das Nicht20 seiende unter dem | trüglichen Schein des Seins. Sondern es ist ein wahres Sein, welches auch wahres Sein erkennt, und wo ihm dieses nicht begegnet, auch nicht glaubt etwas zu sehen. Welch ein köstliches Kleinod der Wissenschaft aber nach meiner Meinung die Unwissenheit sei für den, der noch von jenem falschen Schein befangen ist, das wißt Ihr aus mei25 nen Reden, und wenn Ihr selbst es für Euch noch nicht einseht, so geht und lernt es von Eurem Sokrates. Also gesteht nur, daß ich wenigstens mit mir selbst einig bin, und daß das eigentliche und wahre Gegentheil des Wissens, denn mit Unwissenheit bleibt Euer Wissen auch immer vermischt, jenes Dünkelwissen aber wird ebenfalls und zwar am sichersten, 30 aufgehoben durch die Frömmigkeit, so daß sie mit diesem zusammen

sw 187

45

Β 64

C 65

nicht bestehen kann. Solche Trennung also des Wissens von der Fröm- sw 188 1 ausgefüllt] Β + C: ausgefüllt, 6 etwa,] Β + C: etwa 8 wohl] Β + C: wol 11 dem, ... wolltet,] B + C: dem ... wolltet 13 erinnern,] B: erinnern 17 wissend; denn] B + C: wissend. Denn 19 Erkennbares] B + C: erkennbares 22 nicht ... sehen] B: nichts zu sehn glaubt 23 sei] B: ist 27 selbst] fehlt in Β 27—30 das ... aufgehoben] B: der größte innere Gegensaz des Wissens auch aufgehoben wird 31 f des Wissens ... und ... Frömmigkeit] fehlt in Β 4 Ihr] B + C: ihr 18 f Vgl. Sextus Empiricus: Adversus Mathematicos 1,303, Opera, ed. J. A. Fabricius, Leipzig 1718, S. 283; Opera, Bd. 3, ed. }. Mau, 2. Aufl., Leipzig 1961, S. 78 26 Vgl. Anm. zu 220,14 f

56

Über die Religion

migkeit und des H a n d e l n s von der F r ö m m i g k e i t gebt mir nicht Schuld d a ß ich sezte, und Ihr k ö n n t es nicht, o h n e mir unverdient Eure eigne Ansicht unterzuschieben, und E u r e eben so g e w o h n t e als unvermeidliche Verirrung, dieselbe, die ich Euch vorzüglich zeigen m ö c h t e im Spiegel meiner R e d e . D e n n Euch eben, weil Ihr die Religion nicht anerkennt als das D r i t t e , treten die andern beiden, das Wissen und das H a n d e l n , so auseinander, d a ß Ihr deren Einheit nicht erblikt, sondern meint, m a n ß 65 k ö n n e das rechte Wissen | haben o h n e das rechte H a n d e l n , und umge46; C 66 kehrt. E b e n weil Ihr | die | T r e n n u n g , die ich nur für die Betrachtung gelten lasse, w o sie n o t h w e n d i g ist, für diese z w a r gerade verschmäht, dagegen aber a u f das Leben sie übertragt, als o b das, w o v o n wir reden, im Leben selbst getrennt k ö n n t e v o r h a n d e n sein und unabhängig Eines v o m Andern; deshalb eben h a b t Ihr von keiner dieser T h ä t i g k e i t e n eine lebendige A n s c h a u u n g , sondern es wird E u c h jede ein G e t r e n n t e s , ein Abgerissenes, und E u r e Vorstellung ist überall dürftig, das G e p r ä g e der Nichtigkeit an sich tragend, weil Ihr nicht lebendig in das Lebendige eingreift. W a h r e Wissenschaft ist vollendete A n s c h a u u n g ; w a h r e Praxis ist selbsterzeugte Bildung und Kunst; w a h r e Religion ist Sinn und G e s c h m a k für das Unendliche. E i n e von jenen haben zu wollen ohne diese, oder sich dünken lassen, m a n h a b e sie so, das ist verwegene übermüthige T ä u s c h u n g , frevelnder Irrthum, hervorgegangen aus dem unheiligen Sinn, der, was er in sicherer R u h e fordern und erwarten k o n n t e , lieber feigherzig frech entwendet, u m es dann d o c h nur s c h e i n b a r zu besizen. Was k a n n w o h l der M e n s c h bilden wollen der R e d e Werthes im Leben und in der Kunst, als was durch die Aufregungen jenes Sinnes in ihm Β 66 selbst geworden ist? oder wie k a n n Einer die | Welt wissenschaftlich umfassen w o l l e n , oder wenn sich auch die E r k e n n t n i ß ihm aufdrängte in einem b e s t i m m t e n T a l e n t , selbst dieses üben ohne jenen? Denn was C 67 ist alle W i s s e n s c h a f t als das Sein der D i n g e in E u c h , in E u r e r Ver|nunft? SW 189 was ist alle Kunst und Bildung, als E u e r Sein in den D i n g e n , denen ihr

4 dieselbe,] B + C: dieselbe 6 Handeln,] B + C: Handeln 7 deren] Β: ihre 7 meint,] B: meint 10 lasse,] B: lasse 10 zwar gerade] fehlt in Β 10 gerade] C: grade 11 sie übertragt] B: übertragt 11 das, ... reden,] B + C: das ... reden 14 Getrenntes] B: Abstraktes 16 Ihr] B: sie 18 f Sinn und Geschmak] B: Empfindung und Geschmakk 20 lassen,] B + C: lassen 2 0 f verwegene ... frevelnder] B: eine verwegene ... ein frevelnder 22 fordern] B + C: fodern 24 wohl ... Werthes] B + C: wol ... werthes 27 oder] B: und 28 Denn] C: denn 30f denen ... gebet] B: in ihrem Maaß und ihrer Gestalt 7 sondern] so DV von B; OD von B: und

17 vollendete] B: vol/lendete

22 f Prometheus stiehlt den Göttern das Feuer, das sie den Menschen haben, und gibt es den Menschen zurück.

strafend

entzogen

5

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Zweite

Rede

Sl

M a a ß , Gestalt und Ordnung gebet? und wie kann beides in Euch zum Leben gedeihen als nur sofern die ewige Einheit der Vernunft und Natur, sofern das allgemeine Sein alles Endlichen im Unendlichen unmittelbar in Euch lebt? 2 D a r u m werdet Ihr jeden wahrhaft Wissenden auch an5 dächtig finden und fromm, und w o Ihr Wissenschaft seht ohne Religion, da glaubt sicher, sie ist entweder nur übergetragen und angelernt, oder sie ist krankhaft in sich, wenn sie nicht gar jenem leeren Schein selbst zugehört, der gar kein Wissen ist, sondern nur dem Bedürfniß | dient. Oder wofür haltet Ihr dies Ableiten und Ineinanderflechten von Begrif10 fen, das nicht besser selbst lebt als es dem Lebendigen entspricht? wofür auf dem Gebiet der Sittenlehre diese armselige Einförmigkeit, die das höchste menschliche Leben in einer einzigen todten Formel zu begreifen meint? Wie kann dieses nur aufkommen, als nur weil es an dem Grundgefühl der lebendigen Natur fehlt, die überall Mannigfaltigkeit und 15 Eigenthümlichkeit aufstellt? wie jenes, als weil der Sinn fehlt, das | Wesen und die Grenzen des Endlichen nur aus dem Unendlichen zu bestimmen, damit es in diesen Grenzen selbst unendlich sei? Daher die Herrschaft des bloßen Begriffs! daher statt des organischen Baues die mechanischen Kunststükke Eurer Systeme! daher das leere Spiel mit analytischen For20 mein, seien sie | kategorisch oder hypothetisch, zu deren Fesseln sich das Leben nicht bequemen will. Wollt Ihr die Religion verschmähen, fürchtet Ihr der Sehnsucht nach dem Ursprünglichen Euch hinzugeben, und der Ehrfurcht vor ihm: so wird auch die Wissenschaft Eurem R u f nicht erscheinen; denn sie müßte entweder so niedrig werden als Euer Leben ist, 25 oder sie müßte sich absondern von ihm, und allein stehn; und in solchem Zwiespalt kann sie nicht gedeihen. Wenn der Mensch nicht in der unmittelbaren Einheit der Anschauung und des Gefühls Eins wird mit dem Ewigen, bleibt er in der abgeleiteten des Bewußtseins ewig getrennt von ihm. D a r u m , wie soll es werden mit der höchsten Aeußerung der Specu30 lation unserer Tage, dem vollendeten gerundeten Idealismus, wenn er sich nicht wieder in diese Einheit versenkt, daß die Demuth der Religion seinem Stolz einen andern Realismus ahnen lasse, als den, welchen er so kühn und mit so vollem Rechte sich unterordnet? Er wird das | Universum vernichten, indem er es bilden zu wollen scheint; er wird es herab6 sicher,] B + C: sicher 8 zugehört,] B: zugehört. 8 der ... dient.] fehlt in Β 11 Einförmigkeit,] B + C: Einförmigkeit 1 4 f fehlt, ... fehlt,] B: fehlt ... fehlt 22 Ursprünglichen] B: Unendlichen 28 Ewigen,] B: Universum C: ewigen, 29 Darum,] B + C: Darum 32 den,] B: den 30 vollendeten] C: vol/lendeten 12 Anspielung schaftslehre

auf Kants kategorischen

Imperativ

29 f Anspielung

auf Fichtes

Wissen-

47

Β 67

C 68

SW 190

Β 68

58

Über die Religion

würdigen zu einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde der einseitigen Beschränktheit seines leeren Bewußtseins. O p f e r t mit mir ehrerbietig eine L o k k e den M a n e n des heiligen verstoßenen Spinoza! Ihn 48 durchdrang der h o h e | Weltgeist, das Unendliche w a r sein Anfang und E n d e , das Universum seine einzige und ewige Liebe; in heiliger Unschuld 5 C 69 und tiefer D e m u t h spiegelte er sich in der ewigen | Welt, und sah zu, wie auch E r ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war Er und voll heiligen Geistes; und darum steht Er auch da allein und unerreicht, M e i s t e r in seiner Kunst, aber erhaben über die p r o f a n e Z u n f t , ohne J ü n ger und o h n e Bürgerrecht. 10 W a r u m soll ich E u c h erst zeigen, wie dasselbe gilt auch von der Kunst? wie Ihr auch hier tausend Schatten und B l e n d w e r k e und Irrthümer h a b t aus derselben Ursache? N u r schweigend, denn der neue und tiefe S c h m e r z hat keine W o r t e , will ich E u c h statt alles Andern hinweisen auf ein herrliches Beispiel, das Ihr Alle kennen solltet, eben so gut als 15 jenes, a u f den zu früh entschlafenen göttlichen J ü n g l i n g , dem Alles Kunst w a r d , was sein Geist berührte, seine ganze W e l t b e t r a c h t u n g unmittelbar Β 69 zu E i n e m großen Gedicht, | den Ihr, wiewol er k a u m m e h r als die ersten L a u t e wirklich ausgesprochen hat, den reichsten D i c h t e r n beigesellen m ü ß t , jenen seltenen, die eben so tiefsinnig sind als klar und 20 lebendig. An ihm schauet die Kraft der Begeisterung und der Besonnenheit eines f r o m m e n G e m ü t h s , und b e k e n n t , wenn die Philosophen werden religiös sein und G o t t suchen wie Spinoza, und die Künstler f r o m m sein und C h r i s t u m lieben wie Novalis, dann wird die g r o ß e Auferstehung gefeiert werden für beide W e l t e n 3 . 25 SW 191

D a m i t Ihr aber verstehet, wie ich es meine mit dieser Einheit der W i s s e n s c h a f t , der Religion und der Kunst und mit ihrer Verschiedenheit C 70 zu|gleich: so versucht mit mir hinabzusteigen in das innerste Heiligthum des L e b e n s , o b wir uns dort vielleicht gemeinschaftlich zurechtfinden k ö n n e n . D o r t allein findet Ihr das ursprüngliche Verhältniß des Gefühls und der A n s c h a u u n g , woraus allein ihr Einssein und ihre Trennung zu

6 zu,] B + C: zu 11 zeigen,] B + C: zeigen 1 4 f Andern ... solltet,] B + C: andern ... solltet 16 Jüngling,] B: Jüngling 17 ward,] B + C: ward 19 hat,] B: hat 2 0 jenen] B: den 2 2 bekennt,] B + C: bekennt 26 verstehet,] B + C: verstehet 2 9 zurechtfinden] B + C: zurecht finden 2 — 1 0 Anspielung vielleicht auf Friedrich Heinrich Jacobi: „Und sey Du mir gesegnet, großer, ja heiliger Benedictus! Wie du über die Natur des Höchsten Wesens philosophieren und in Worten dich verirren mochtest: seine Wahrheit war in Deiner Seele, und seine Liebe war Dein Leben!" (Wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza, Leipzig 1786, S. 84; Werke, Bd. 4,2, Wider Mendelssohns Beschuldigungen in dessen Schreiben an die Freunde Lessings, Leipzig 1819 [Nachdruck Darmstadt 19681, S. 245) 16 Vgl. Anm. zu 131,18

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Zweite

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Rede

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verstehen ist. Aber an Euch selber muß ich Euch verweisen, an das Auffassen eines lebendigen Momentes. Ihr müßt es verstehen, Euch selbst gleichsam vor Eurem Bewußtsein zu belauschen, oder wenigstens diesen Zustand für Euch aus jenem wieder herzustellen. Es ist das Werden Eures Bewußtseins, was Ihr bemerken sollt, nicht | etwa sollt Ihr über ein schon gewordenes reflectiren. Sobald Ihr eine gegebene bestimmte Thätigkeit Eurer Seele zum Gegenstande der Mittheilung oder der Betrachtung machen wollt, seid Ihr schon innerhalb der Scheidung, und nur das Getrennte kann Euer Gedanke umfassen. Darum kann Euch meine Rede auch an kein bestimmtes Beispiel führen; denn eben sobald etwas ein Beispiel ist, ist auch das schon vorüber, was meine Rede aufzeigen will, und nur noch eine leise Spur von dem ursprünglichen Einssein des Getrennten könnte ich Euch daran nachweisen. Aber auch die will ich vorläufig nicht verschmähen. Ergreift Euch dabei, wie Ihr ein Bild von irgend einem Gegenstand zeichnet, ob Ihr nicht noch damit verbunden findet ein Erregt- und Bestimmtsein Eurer selbst gleichsam durch den Gegenstand, welches eben Euer Dasein zu ei|nem besondern Moment bildet. Je bestimmter Euer Bild sich auszeichnet, je mehr Ihr auf diese Weise der Gegenstand werdet, um desto mehr verliert Ihr Euch selbst. Aber eben weil Ihr das Uebergewicht von jenem und das Zurüktreten von diesem in seinem Werden verfolgen könnt, müssen nicht jenes und dieses Eins und gleich gewesen sein in dem ersten ursprünglichen Moment, der Euch entgangen ist? Oder Ihr findet Euch versunken in Euch selbst, Alles | was Ihr sonst als ein Mannigfaltiges getrennt in Euch betrachtet in dieser Gegenwart unzertrennlich zu einem eigenthümlichen Gehalt Eures Seins verknüpft. Aber sehet Ihr nicht beim Aufmerken noch im Entfliehen das Bild eines Gegenstandes, von dessen Einwirkung auf Euch, von dessen zauberischer Berührung dieses bestimmte Selbstbewußtsein ausgegangen ist? J e mehr Eure Erregung und Euer Befangensein in dieser Erregung wächst und Euer ganzes Dasein durchdringt, um, vorübergehend, wie sie sein muß, für die Erinnerung eine unvergängliche Spur zurükzulassen, damit, was Euch auch Neues zunächst ergreife, ihre

2 verstehen,] ß : verstehen 8 wollt,] B: wollt 10—13 sobald ... nachweisen] B : weil es eins ist, ist auch das schon vorüber was sie aufzeigen will, und hier könnte ich Euch von dem ursprünglichen Einssein des Getrennten nur eine leise Spur aufzeigen 15 zeichnet,] B: zeichnet 16 selbst] B + C: Selbst 23 Moment,] ß : Moment 2 7 Gegenstandes,] B + C: Gegenstandes 2 8 f bestimmte Selbstbewußtsein] B : Bewußtsein 3 0 f wächst ... vorübergehend,] B + C: wächst, ... vorübergehend 3 1 f für ... Spur] B: wenigstens eine unvergängliche Spur in der Erinnerung 3 2 damit, ... Neues ... ergreife,] Β + C: damit ... neues ... ergreife 3 Eurem] B + C: eurem

5 nicht] B: nicht | nicht

49 Β 70

C 71

Β 71; SW 192

60

Über die Religion

so F a r b e und ihr G e p r ä g e tragen m u ß , und so zwei M o m e n t e sich | zu einer D a u e r vereinigen; je mehr E u e r Z u s t a n d E u c h so beherrscht, um desto bleicher und unkenntlicher wird jene G e s t a l t . Allein eben weil sie verbleicht und entflieht, war sie v o r h e r n ä h e r und heller, sie w a r ursprünglich Eins und dasselbe mit E u r e m Gefühl. D o c h , wie gesagt, dies sind C 72 nur I Spuren, und Ihr k ö n n t sie k a u m verstehen, wenn Ihr nicht a u f den ersten A n f a n g jenes Bewußtseins zurükgehen w o l l t . Und solltet Ihr dies nicht k ö n n e n ? Sprecht d o c h , wenn Ihr es ganz im Allgemeinen und ganz ursprünglich erwägt, was ist d o c h jeder A k t E u r e s Lebens o h n e UnterB 72 schied | von andern, in sich selbst? D o c h u n m ö g l i c h etwas Anderes, als das G a n z e auch ist, nur als A k t , als M o m e n t . Also w o h l ein Werden eines Seins für sich, und ein Werden eines Seins im G a n z e n , beides zugleich; ein Streben, in das G a n z e zurükzugehn, und ein Streben, für sich zu bestehn, beides zugleich; das sind die R i n g e , aus denen die ganze Kette zusammengesezt ist; denn E u e r ganzes L e b e n ist ein solches im G a n z e n seiendes für sich Sein. W o d u r c h nun seid Ihr im G a n z e n ? D u r c h E u r e Sinne, hoffe ich, wenn Ihr d o c h bei Sinnen sein m ü ß t , um im G a n zen zu sein. Und wodurch seid Ihr für E u c h ? D u r c h die Einheit Eures Selbstbewußtseins, die Ihr zunächst in der E m p f i n d u n g h a b t , in dem vergleichbaren Wechsel ihres M e h r und Weniger. W i e nun Eins nur mit dem Andern zugleich werden k a n n , wenn beides z u s a m m e n jeden A k t sw 193 des Lebens bildet, das ist ja leicht zu sehn. Ihr werdet Sinn und das G a n z e wird G e g e n s t a n d , und dieses Ineinandergeflossen- und Einsgewordensein von Sinn und G e g e n s t a n d , ehe n o c h jedes an seinen O r t zurükkehrt, und der Gegenstand wieder losgerissen v o m Sinn E u c h zur C 73 A n s c h a u u n g wird und Ihr selbst | wieder losgerissen v o m Gegenstand E u c h zum Gefühl werdet, dieses Frühere ist es, was ich meine, das ist jener M o m e n t , den Ihr jedesmal erlebt, a b e r auch nicht erlebt, denn die Erscheinung Eures Lebens ist nur das R e s u l t a t seines beständigen A u f h ö r e n s und Wiederkehrens. Eben d a r u m ist er k a u m in der Z e i t , so sehr eilt er vorüber; und k a u m k a n n er beschrieben werden, so wenig | fl 73; 51 ist er eigentlich da für uns. | Ich wollte aber, Ihr k ö n n t e t ihn festhalten

4 entflieht,] B + C: entflieht 5 Doch,] B + C: Doch 6 verstehen,] B: verstehen 8 Allgemeinen] B + C: allgemeinen 10f Anderes, ... wohl] B + C: anderes ... wol 12f zugleich;] C: zugleich! 13f Streben, ... Streben, ... Ringe,] B + C: Streben ... Streben ... Ringe 15 ist;] B: ist. 15f denn ... Sein.] fehlt in Β 17 Sinne, ... müßt,] B + C: Sinne ... müßt 19 Selbstbewußtseins] B: Bewußtseins 23 Ganze] B: Universum 25—27 und der ... werdet,] fehlt in Β 27 dieses Frühere] B: das C: dieses frühere 27 es,] B: es 28 Moment, ... jedesmal erlebt,] B + C: Moment ... jedesmal erlebt 3 0 f Zeit ... vorüber] B: Zeit so eilt er 32 aber,] B + C: aber 9 Eures] B + C: eures

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Zweite

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Rede

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und jede, die gemeinste so wie die h ö c h s t e Art E u r e r T h ä t i g k e i t , d e n n alle sind sich darin gleich, auf ihn zurükführen. Wenn ich ihn wenigstens vergleichen dürfte, da ich ihn nicht beschreiben k a n n , so w ü r d e ich sagen, er sei flüchtig und durchsichtig wie j e n e r D u f t , den der T h a u Blüthen und Früchten a n h a u c h t , er sei s c h a m h a f t und zart wie ein j u n g f r ä u licher Kuß, und heilig und f r u c h t b a r wie eine b r ä u t l i c h e U m a r m u n g . Auch ist er w o h l nicht nur wie dieses, sondern m a n k a n n sagen dies Alles selbst. D e n n er ist das erste Z u s a m m e n t r e t e n des allgemeinen L e b e n s mit einem besonderen, und erfüllt keine Zeit und bildet nichts Greifliches; er ist die u n m i t t e l b a r e über allen Irrthum und M i ß v e r s t a n d hinaus heilige Vermählung des Universum mit der fleischgewordenen Vernunft zu schaffender, zeugender U m a r m u n g . Ihr liegt dann u n m i t t e l b a r an d e m Busen der unendlichen Welt, Ihr seid in diesem Augenblik ihre Seele, denn Ihr fühlt, wenn gleich nur durch einen ihrer T h e i l e , d o c h alle | ihre C 74 K r ä f t e und ihr unendliches L e b e n wie E u e r eigenes; sie ist in diesem Augenblik Euer L e i b , denn Ihr durchdringt ihre M u s k e l n und G l i e d e r wie Eure eignen, und E u e r Sinnen und A h n e n sezt ihre innersten N e r v e n in Bewegung. S o beschaffen ist die erste E m p f ä n g n i ß jedes le|bendigen Β 74 und ursprünglichen M o m e n t e s in E u r e m L e b e n , w e l c h e m G e b i e t er a u c h sw 194 angehöre, und aus solcher e r w ä c h s t also a u c h jede religiöse Erregung. A b e r sie ist, wie gesagt, nicht einmal ein M o m e n t ; das D u r c h d r i n g e n des Daseins in diesem unmittelbaren Verein löset sich auf, s o b a l d das Bewußtsein wird, und nun tritt entweder lebendig und i m m e r heller die Anschauung vor E u c h hin, gleichsam die G e s t a l t der sich e n t w i n d e n d e n Geliebten vor dem Auge des Jünglings, o d e r es arbeitet sich das G e f ü h l aus E u r e m Inneren hervor und n i m m t verbreitend E u e r ganzes W e s e n ein, wie die R o t h e der S c h a a m und der L i e b e sich ü b e r dem Antliz der J u n g f r a u verbreitet. U n d , w e n n sich erst als eines v o n beiden, als A n schauung oder G e f ü h l E u e r Bewußtsein festgestellt hat, d a n n bleibt E u c h , falls Ihr nicht ganz in dieser T r e n n u n g b e f a n g e n , das w a h r e Be-| wußtsein Eures L e b e n s im Einzelnen verloren h a b t , nichts anders übrig, 52

3—5 dürfte, ... zart] B: dürfte würde ich sagen, daß er flüchtig und durchsichtig wäre wie jener Duft den der Thau Blüthen und Früchten anhaucht, daß er schamhaft und zart wäre 7 wohl] B: wol 12 schaffender,] B + C: schaffender 13 Augenblik] B: Augenblikk 14 fühlt,] B + C: fühlt 14 wenn ... doch] fehlt in Β 14 Theile,] C: Theile 16 Augenblik] Β: Augenblikk 17—23 Sinnen ... wird] B: Sinn und Ahndung sezzen ihre innersten Nerven in Bewegung. So beschaffen ist die erste Empfängniß alles Lebendigen in Eurem Leben auf jedem Gebiet, also auch auf dem der Religion. Aber sie ist, wie gesagt, nicht einmal ein Moment, das Bewußtsein wird, das Durchdringen des Daseins in diesem unmittelbaren Verein löset sich auf 30 befangen,] B + C: befangen 30 f das wahre Bewußtsein] B: die wahre Anschauung 31 übrig,] B + C: übrig 26 Eurem] B: eurem

Über die

62

Religion

als das Wissen um die ursprüngliche Einheit beider Getrennten, um ihr gleiches Hervorgehn aus dem Grundverhältniß Eures Daseins. Weshalb denn auch in diesem Sinne wahr ist, was ein alter Weiser Euch gelehrt C 75 hat, daß jedes | Wissen eine Erinnerung ist, an das nämlich, was außer der Zeit ist, eben daher aber mit Recht an die Spize jedes Zeitlichen 5 gestellt wird. Β 75 Wie es sich nun auf der einen Seite mit der | Anschauung und dem Gefühl verhält, so auch auf der andern mit dem Wissen, als jene beide unter sich begreifend, und mit dem Handeln. Denn dies sind die Gegensäze, durch deren beständiges Spiel und wechselseitige Erregung Euer 10 Leben sich in der Zeit ausdehnt und Haltung gewinnt. Nämlich eins von beiden ist immer schon von Anfang an Euer Einswerdenwollen mit dem Universum durch einen Gegenstand; entweder überwiegende Gewalt der Gegenstände über Euch, daß sie Euch wollen in den Kreis ihres Daseins hineinziehn, indem sie selbst, gedeihe es Euch nun zur Anschauung oder 15 zum Gefühl, in Euch hineintreten, ein Wissen wird es immer; oder überSW 195 wiegende Gewalt von Eurer Seite, daß Ihr ihnen Euer Dasein einprägen und Euch in sie einbilden wollt. Denn das ist es doch, was Ihr im engern Sinne handeln nennt, wirken nach außen. Aber nur als ein erregtes und als ein bestimmtes könnt Ihr Euer Dasein den Dingen mittheilen; also 20 gebt Ihr nur zurük und befestiget, und legt nieder in die Welt, was in Euch ist gebildet und gewirkt worden durch jene ursprünglichen Akte des gemeinschaftlichen Seins, und eben so kann auch, was sie in Euch C 76 hineinbilden, nur ein solches seyn. Da|her muß wechselseitig eines das andere erregen, und nur im Wechsel von Wissen und Handeln kann Euer 25 Β 76 Leben bestehen. Denn ein ruhiges Sein, worin | Eins das Andere nicht thätig erregte, sondern beides sich bindend aufhöbe, ein solches wäre nicht Euer Leben, sondern es wäre das, woraus sich dieses entwikkelt, und worin es wieder verschwindet. 53 Hier also habt Ihr diese Drei, um welche sich meine Rede | bis jezt 30 gedreht hat: das Erkennen, das Gefühl und das Handeln, und könnt verstehen, wie ich es meine, daß sie nicht einerlei sind und doch unzer4 ist, . . . n ä m l i c h , ] B + C: ist ... nemlich 9 f Gegensäze,] B : Gegensäze A n s c h a u u n g oder zum Gefühl, eigentlich Β: ihnen

8 f jene beide . . . mit dem] B: beides . . . dem

1 5 f indem ... hineintreten,] B : gedeihe es E u c h nun zur 18 f d o c h , w a s Ihr im engern Sinne] B: doch w a s Ihr

1 9 f erregtes ... bestimmtes] Β : Erregtes . . . B e s t i m m t e s 2 2 ursprünglichen Akte] B: A r t

2 3 a u c h , ] B + C: auch

hineinbilden,] ß : E u c h einbilden C : in E u c h hineinbilden regte,] B + C: erregte

2 8 es w ä r e ] fehlt

in Β

3 0 bis jezt] C: bisjezt 3f

Vgl. Piaton:

Pbaidon

72e,

Opera

1,165;

Werke

3,54

2 3 f in E u c h

2 4 seyn] Β + C: sein

2 8 d a s , ] B: das

Β + C: verstehen

2 0 den Dingen]

32

2 7 er-

verstehen,]

Zweite

Rede

63

trennlich. Denn nehmt nur alles Gleichartige zusammen und betrachtet es für sich, so werden doch alle jene M o m e n t e , worin Ihr Gewalt ausübt über die Dinge, und Euch selbst in ihnen abdrükt, diese werden bilden, was Ihr Euer praktisches oder im engern Sinne sittliches Leben nennt. 5 Und wiederum jene beschaulichen, worin die Dinge ihr Dasein in Euch hervorbringen als Anschauung, diese gewiß nennt Ihr, es sei nun viel oder wenig, Euer wissenschaftliches Leben. Kann nun wohl eine allein von diesen Reihen ein menschliches Leben bilden, ohne die andere? O d e r müßte es der Tod sein, und jede Thätigkeit sich verzehren in sich selbst, 10 wenn sie nicht aufgeregt und erneuert würde durch die andere? Aber ist deshalb eine auch die andere selbst, oder müßt Ihr sie doch unterscheiden, wenn Ihr Euer | Leben verstehn und vernehmlich darüber reden c 77 wollt? Wie es nun mit diesen beiden sich ver|hält unter sich, so m u ß es Β 77 sich doch auch verhalten mit der dritten in Beziehung auf jene beiden. SW 196 15 Und wie wollt Ihr diese dritte wohl nennen, die Reihe des Gefühls? Was für ein Leben soll sie bilden zu den beiden andern? D a s religiöse, denke ich, und Ihr werdet gewiß nicht anders sagen können, wenn Ihr es näher erwägen wollt. 20

25

30

So ist denn das Hauptwort meiner Rede gesprochen; denn dieses ist das eigenthümliche Gebiet, welches ich der Religion anweisen will, und zwar ganz und allein, und welches Ihr gewiß auch für sie abstekken und einräumen werdet, Ihr müßtet denn die alte Verworrenheit vorziehn der klaren Auseinandersezung, oder ich weiß nicht, was anderes noch Neues und ganz Wunderliches vorbringen. Euer Gefühl, in so fern es Euer und des All gemeinschaftliches Sein und Leben auf die beschriebene Weise ausdrükt, in so fern Ihr die einzelnen M o m e n t e desselben habt als ein Wirken Gottes in Euch vermittelt durch das Wirken der Welt auf E u c h , dies ist Eure Frömmigkeit, und was einzeln als in diese Reihe gehörig hervortritt, das sind nicht Eure Erkenntnisse oder die Gegenstände Eu- 54 rer Erkenntniß, auch nicht Eure Werke und Handlungen oder die ver-

1 Gleichartige] B + C: gleichartige 2 Momente,] C: Momente 3 abdrükt] B: abdrükkt 3 bilden,] B + C: bilden 7 wohl] B + C: wol 13 wollt?] B: wollt. 15 wohl ... Was] B + C: wol ... was 1 6 f religiöse, ... können,] B: religiöse ... können. 17—19 wenn ... gesprochen; denn] fehlt in Β 19 dieses ist] B: Dieses ist demnach 21 f auch ... werdet] B: ihr auch abstekken müßt 2 2 f vorziehn ... Auseinandersezung] B: der klaren Auseinandersezzung vorziehn 23 nicht,] B + C: nicht 2 3 f noch ... Wunderliches] B: ganz wunderliches C: noch neues und ganz wunderliches 24 Gefühl, in so fern] B: Gefühl insofern C: Gefühl in sofern 25 All] B: Universum 26 in so fern] B: insofern C: in sofern 27 vermittelt ... Euch] B: durch das Universum 26 Ihr] B + C: ihr Eurer Werke

28 Eure Frömmigkeit] B: eure Frömmigkeit

30 Eure Werke] B:

64

Über die Religion

s c h i e d e n e n G e b i e t e Eures H a n d e l n s , s o n d e r n lediglich E u r e E m p f i n d u n gen sind es, und die mit ihnen z u s a m m e n h ä n g e n d e n und sie b e d i n g e n d e n C 78 E i n w i r k u n g e n alles | L e b e n d i g e n und B e w e g l i c h e n u m E u c h her a u f Β 78 E u c h . D i e s sind a u s s c h l i e ß e n d die Ele|mente der R e l i g i o n , a b e r diese g e h ö r e n a u c h alle hinein; es g i e b t k e i n e E m p f i n d u n g , die n i c h t f r o m m w ä r e 4 , a u ß e r sie deute auf einen k r a n k h a f t e n v e r d e r b t e n Z u s t a n d des L e b e n s , der sich d a n n a u c h den a n d e r n G e b i e t e n m i t t h e i l e n m u ß . W o r aus d e n n von selbst folgt, d a ß im G e g e n t h e i l B e g r i f f e und G r u n d s ä z e , alle u n d j e d e d u r c h a u s , der R e l i g i o n an sich f r e m d sind, w e l c h e s uns nun s c h o n z u m zweiten M a l e h e r v o r g e h t . D e n n diese, w e n n sie e t w a s sein s o l l e n , g e h ö r e n j a w o h l d e m E r k e n n e n zu, und w a s diesem a n g e h ö r t , liegt d o c h in e i n e m andern G e b i e t e des L e b e n s , als das religiöse ist.

5

10

N u r m u ß es uns, weil wir d o c h jezt einigen G r u n d u n t e r uns h a b e n , SW 197 nun s c h o n n ä h e r liegen, zu e r f o r s c h e n , w o h e r d o c h die V e r w e c h s e l u n g k o m m e n m a g , und o b denn gar n i c h t s sei an der V e r b i n d u n g , in die m a n d o c h G r u n d s ä z e u n d B e g r i f f e i m m e r g e b r a c h t h a t m i t der R e l i g i o n , a u c h w i e es w o h l mit d e m H a n d e l n s t e h e in derselben H i n s i c h t . J a , o h n e d i e s w ä r e es w u n d e r l i c h , weiter zu r e d e n , denn Ihr sezt d o c h in E u r e B e g r i f f e u m , w a s ich sage, und sucht G r u n d s ä z e d a r i n , u n d so w ü r d e das M i ß v e r s t ä n d n i ß n u r i m m e r tiefer w u r z e l n . W e r w e i ß n u n , o b Ihr m i r folgen w e r d e t , w e n n ich die S a c h e so e r k l ä r e . W e n n I h r n ä m l i c h die verschiedenen F u n c t i o n e n des L e b e n s , die ich aufgezeigt, n o c h i m S i n n e h a b t , w a s Β 79, c 79 h i n d e r t w o h l , d a ß nicht eine | j e d e von diesen a u c h G e g e n s t a n d w e r d e n k ö n n t e für die a n d e r n , an denen diese sich ü b e n u n d b e s c h ä f t i g e n ? O d e r g e h ö r t nicht v i e l m e h r o f f e n b a r a u c h dieses zu ihrer innern E i n h e i t und G l e i c h h e i t , d a ß sie a u f s o l c h e W e i s e s t r e b e n , in e i n a n d e r ü b e r z u g e h e n ? 55 M i r wenigstens erscheint es s o . A u f diese A r t a l s o k ö n n t I h r als | F ü h lende E u c h selbst G e g e n s t a n d w e r d e n und E u e r G e f ü h l b e t r a c h t e n . J a , a u c h so k ö n n t I h r als F ü h l e n d e E u c h G e g e n s t a n d w e r d e n , d a ß I h r a u f

2—4 mit ... Euch] B : Einwirkungen oder Handlungsweisen des Universum denen sie entsprechen 3 Lebendigen und Beweglichen] C : lebendigen und beweglichen 5 Empfindung,] B : Empfindung 6 wäre 4 ,] B : wäre, C: wäre, 4 8 f folgt, ... durchaus,] B: folgt ... durchaus 11 wohl ... angehört,] B + C: wol ... angehört 12 doch] fehlt in Β 13 Nur] kein Absatz in Β 13 f uns, ... erforschen,] Β: uns nun schon näher liegen, weil wir doch jezt einigen Grund unter uns haben, zu erforschen 14 liegen,] C: liegen 15 Verbindung,] B: Verbindung 16 immer] fehlt in Β 17 wohl] B + C: wol 17—19 J a , ... wunderlich, ... um,] B + C: J a ... wunderlich ... um 2 0 nun,] B + C: nun 21 die Sache] B: es 2 2 Lebens, ... aufgezeigt,] B + C: Lebens ... aufgezeigt 23 wohl] B + C: wol 2 6 streben,] B + C: streben 28 werden ... J a , ] B + C: werden, ... J a 11 sollen] so DV von B; OD von B: soll

15

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Zweite

Rede

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ihn bildend wirkt, und ihm mehr und mehr Euer inneres Dasein eindrillet. Wollt Ihr nun das Erzeugniß jener Betrachtung, die allgemeine Beschreibung Eures Gefühls nach seinem Wesen Grundsaz nennen, und die Beschreibung jedes Einzelnen darin hervortretenden, Begriff, und 5 zwar religiösen Grundsaz und religiösen Begriff: so steht Euch das allerdings frei, und Ihr habt Recht daran. Aber vergeßt nur nicht, daß dies eigentlich die wissenschaftliche Behandlung der Religion ist, das Wissen um sie, nicht sie selbst, und daß dieses Wissen als die Beschreibung des Gefühls unmöglich in gleichem Range stehen kann mit dem 10 beschriebenen Gefühle selbst. Vielmehr kann dieses in seiner vollen Gesundheit und Stärke M a n c h e m einwohnen, wie denn fast alle Frauen hievon Beispiele sind, ohne daß es besonders in Betrachtung | gezogen Β so werde; und Ihr dürft dann nicht sagen, daß Frömmigkeit fehle und Religion, sondern nur das Wissen darum. Vergeßt aber nur nicht wieder, 15 was uns schon feststeht, daß diese B e t r a c h t u n g schon jene ursprüngliche SW 198; C 80 Thätigkeit voraussetzt und ganz auf ihr beruht, und daß jene Begriffe und Grundsäze gar nichts sind, als ein von außen angelerntes leeres Wesen, wenn sie nicht eben die Reflexion sind über des Menschen eignes Gefühl. Also das haltet ja fest, wenn J e m a n d diese Grundsäze und Be20 griffe noch so vollkommen versteht, wenn einer sie inne zu haben glaubt im klarsten Bewußtsein, weiß aber nicht und kann nicht aufzeigen, daß sie aus den Aeußerungen seines eignen Gefühls in ihm selbst entstanden und ursprünglich sein eigen sind; so laßt Euch ja nicht überreden, daß ein solcher f r o m m , und stellt mir ihn nicht als einen Frommen dar, denn 25 es ist dem nicht so; seine Seele hat nie empfangen auf dem Gebiete der Religion, und seine Begriffe sind nur untergeschobene Kinder, Erzeugnisse anderer Seelen, die er im heimlichen Gefühl der eignen Schwäche adoptirt hat. Als Unheilige und entfernt von al|lem göttlichen Leben 56 bezeichne ich immer aufs neue diejenigen, die also herumgehen und sich 30 brüsten mit Religion. D a hat der eine Begriffe von den Ordnungen der Welt und Formeln, welche sie ausdrükken sollen, und der andere hat

8 f dieses ... Gefühls] Β: also die Beschreibung für die Frömmigkeit 1 4 f aber ... jene] B; nicht daß die Betrachtung schon die 16 f voraussetzt] B + C: voraussezt 18 Reflexion] C: Reflection 18—28 des Menschen ... hat.] B: Euer eignes Gefühl. Also das sei Euch gesagt: wenn Ihr diese Grundsäze und Begriffe noch so vollkommen versteht, wenn Ihr sie in Euch zu haben glaubt im klarsten Bewußtsein, aber Ihr wißt nicht und könnt es nicht aufzeigen, daß sie aus den Äußerungen Eures Gefühls selbst in Euch entstanden und ursprünglich Euer eigen sind, so überredet Euch und mich nicht weiter, daß Ihr fromm wäret; es ist dem nicht so; Euere Seele hat nie empfangen auf dem Gebiete der Religion, und Eure Begriffe sind nur untergeschobene Kinder, Erzeugnisse anderer Seelen, die Ihr im heimlichen Gefühl der eignen Schwäche adoptirt habt. 19 Jemand] C: jemand 29 immer aufs neue] fehlt in Β 29 herumgehen] B + C: herumgehen,

Über die Religion

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Β 81 Vorschriften, nach denen er sich selbst | in Ordnung hält, und innere Erfahrungen, wodurch er sie dokumentirt. Jener flicht seine Formeln in und durch einander zu einem System des Glaubens, und dieser webt eine Heilsordnung aus seinen Vorschriften; und weil sie beide merken, daß C 81 dies keine rechte Hal|tung hat ohne das Gefühl, so ist Streit, wie viel Begriffe und Erklärungen man nehmen müsse, oder wie viel Vorschriften und Uebungen, unter wie viel und was für Rührungen und Empfindungen, um daraus eine tüchtige Religion z u s a m m e n z u s e z e n , die vorzüglich weder kalt noch schwärmerisch wäre, und weder trokken noch oberflächlich. Die Thoren und träges Herzens! Sie wissen nicht, daß jenes alles nur Zersezungen des religiösen Sinnes sind, die sie selbst müßten gemacht haben, wenn sie irgend etwas bedeuten sollten! Und wenn sie SW 199 sich nun nicht bewußt sind, etwas gehabt zu haben, was sie zersezen konnten, wo haben sie denn jene Begriffe und Regeln her? Gedächtniß haben sie und Nachahmung, daß sie aber Religion haben, glaubt ihnen nur nicht; denn selbst erzeugt haben sie die Begriffe nicht, wozu sie die Formeln wissen, sondern diese sind auswendig gelernt und aufbewahrt, und was sie von Gefühlen so mit aufnehmen wollten unter jene, das vermögen sie gewiß nur mimisch nachzubilden, wie man fremde Gesichtszüge nachbildet, immer nämlich als Karikatur. Und aus diesen abΒ 82 gestorbenen verderbten | Erzeugnissen aus der zweiten Hand sollte man können eine Religion zusammensezen? Zerlegen kann man wohl die Glieder und Säfte eines organischen Körpers in ihre nächsten Bestandt e i l e ; aber nehmt nun diese ausgeschiedenen Elemente, mischt sie in jedem Verhältniß, behandelt sie auf jedem Wege, werdet Ihr wieder Her-| C 82 zensblut daraus machen können? Wird das, was einmal todt ist, sich 57 wieder in einem lebenden Körper bewegen und mit | ihm einigen können? Die Erzeugnisse der lebendigen Natur aus ihren getrennten Bestand-

1 Vorschriften,] B + C: Vorschriften 2 f in und durch] B: über 4 Vorschriften;] ß.Vorschriften, 5 Streit,] B + C: Streit 8 f vorzüglich] fehlt in Β 1 0 - 2 2 Die ... können] B: Ihr Thoren und träges Herzens! wißt Ihr nicht daß jenes alles nur Zersezungen des religiösen Sinnes sind, die Ihr selbst müßtet gemacht haben, wenn sie irgend etwas bedeuten sollen? Und wenn Ihr Euch nun nicht bewußt seyd etwas gehabt zu haben, was Ihr zersezen konntet, wo habt Ihr denn diese her? Gedächtniß habt Ihr und Nachahmung, aber keine Religion. Erzeugt habt Ihr die Begriffe nicht wozu Ihr die Formeln wißt, sondern diese sind auswendig gelernt und aufbewahrt, und was Ihr von Gefühlen so mit aufnehmen wollt, das könnt Ihr gewiß nur mimisch nachbilden, wie fremde Physiognomien, und eben deswegen als Karikatur. Und aus diesen abgestorbenen verderbten Theilen wollt Ihr 16 nicht; ... nicht,] C: nicht! ... nicht 23 Glieder und] fehlt in Β 23 ihre] Β: seine 26 das,] B + C: das 28 lebendigen] B: lebenden 10 Vgl. Lk 24,25

31 Lk 24,25

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theilen wieder darzustellen, d a r a n scheitert jede m e n s c h l i c h e Kunst, und so wird es jenen auch mit der Religion nicht gelingen, wenn sich ihre einzelnen verwandelten E l e m e n t e auch n o c h so v o l l k o m m e n von a u ß e n an- und eingebildet h a b e n . S o n d e r n von innen heraus und in ihrer ursprünglichen eigenthümlichen G e s t a l t müssen die R e g u n g e n der F r ö m migkeit hervorgegangen sein: also als eigne G e f ü h l e unstreitig, nicht als schale B e s c h r e i b u n g fremder, die nur zu einer kläglichen N a c h a h m u n g führen k a n n . U n d nichts anders als eine solche B e s c h r e i b u n g k ö n n e n und sollen die religiösen Begriffe sein, welche j e n e Systeme bilden; denn ursprüngliche, rein aus dem T r i e b e nach W i s s e n h e r v o r g e h e n d e E r k e n n t niß k a n n nun e i n m a l und will die Religion nicht sein. W a s wir in ihren Regungen fühlen und inne werden, das ist nicht die N a t u r der D i n g e , sondern ihr H a n d e l n a u f E u c h . Was Ihr über jene wißt o d e r m e i n t , liegt weit a b w ä r t s v o n dem G e b i e t e der Religion. D a s Universum ist in einer SW 200 u n u n t e r b r o c h e n e n T h ä t i g k e i t , und o f f e n b a r t | sich uns jeden A u g e n b l i k . Β 83 J e d e F o r m , die es hervorbringt, jedes Wesen, dem es n a c h der Fülle des Lebens ein abgesondertes D a s e i n giebt, jede B e g e b e n h e i t , die es aus seinem reichen, i m m e r f r u c h t b a r e n | S c h o o ß e h e r a u s s c h ü t t e t , ist ein H a n - c s j dein desselben a u f uns; und in diesen E i n w i r k u n g e n und d e m , w a s dadurch in uns w i r d , alles Einzelne nicht für sich, sondern als einen T h e i l des G a n z e n , alles B e s c h r ä n k t e nicht in seinem G e g e n s a z gegen Anderes, sondern als eine Darstellung des Unendlichen in unser L e b e n a u f n e h m e n und uns d a v o n bewegen lassen, das ist R e l i g i o n s ; was a b e r hierüber hinaus will, und e t w a tiefer eindringen in die N a t u r und S u b s t a n z der D i n g e , ist nicht m e h r Religion, sondern will irgendwie W i s s e n s c h a f t werden, und w i e d e r u m w e n n , w a s nur unsere G e f ü h l e bezeichnen und in Worten darstellen soll, für W i s s e n s c h a f t von dem G e g e n s t a n d e , für geoffenbarte e t w a und aus der Religion hervorgegangene, o d e r auch für | Wissenschaft und Religion zugleich will angesehen sein, d a n n sinkt es 58 unvermeidlich zurük in Mystizismus und leere M y t h o l o g i e . S o w a r es Religion, wenn die Alten, die B e s c h r ä n k u n g e n der Z e i t und des R a u m e s

1 wieder darzustellen] B: zu restituiren 2 jenen auch ... sich] B: Euch ... Ihr Euch 4 an- und] B + C: an und 4—6 haben. ... also] Β: habt; von innen in ihrer ursprünglichen eigenthümlichen Gestalt müssen sie hervorgehen. Also 8—12 Und ... das] B: Denn ursprüngliche Erkenntnis kann nun einmal und will die Religion nicht sein. Also was Ihr durch sie fühlt und wahrnehmt, 10 ursprüngliche,] C: ursprüngliche 13 meint] B: glaubt 16 Form, ... Wesen,] B + C: Form ... Wesen 18f reichen, ... uns] B + C: reichen ... Uns 19f in ... sondern] B: so alles Einzelne 19f dem, ... sich,] C: dem ...sich 21 f nicht ... sondern] fehlt in Β 21 Anderes] C: anderes 22 aufnehmen] B + C: aufnehmen, 23 f hierüber ... etwa tiefer eindringen] B: darüber ... tiefer hieneindringen 25 Dinge,] B + C: Dinge 25 f will ... wenn,] B: Wissenschaft, und wiederum, wenn 26 f in Worten] fehlt in Β 27 Wissenschaft] B: Wissenschaft, 27 von dem Gegenstande, für] fehlt in Β

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Β 84 C84

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59 C 85 Β 85

Über die

Religion

vernichtend, jede eigenthümliche Art des L e b e n s durch die ganze Welt hin als das W e r k und R e i c h eines a u f diesem G e b i e t allmächtigen und allgegenwärtigen Wesens ansahen; sie hatten eine eigenthümliche H a n delsweise des Universum als ein bestimmtes Gefühl in sich aufgenomm e n , und bezeichneten dieses so. Es w a r Religion, wenn sie für jede hülfreiche Begebenheit, | wobei die ewigen Geseze der Welt sich, wenn auch im Z u f ä l l i g e n , auf eine einleuchtende Art o f f e n b a r t e n , den G o t t , d e m sie a n g e h ö r t e , mit einem eige|nen B e i n a m e n b e g a b t e n und einen eignen T e m p e l ihm bauten; so hatten sie etwas Einzelnes zwar, aber als eine T h a t des Universum aufgefaßt, und bezeichneten n a c h ihrer Weise deren Z u s a m m e n h a n g und eigenthümlichen C h a r a k t e r . Es w a r Religion, wenn sie sich über das spröde eiserne Z e i t a l t e r voller R i s s e und Unebenen e r h o b e n , und das goldene wieder suchten im O l y m p unter dem fröhlichen L e b e n der G ö t t e r ; so fühlten sie in sich die i m m e r rege, i m m e r lebendige und heitere T h ä t i g k e i t der Welt und ihres Geistes, jenseit alles Wechsels und alles scheinbaren Uebels, das nur aus dem Streit endlicher F o r m e n hervorgehet. A b e r wenn sie von den Verwandtschaften dieser G ö t t e r einen w u n d e r s a m verschlungenen S t a m m b a u m verzeichnen, oder wenn ein späterer G l a u b e uns eine lange R e i h e von E m a n a z i o n e n und Erzeugungen vorführt, das ist, wenn gleich seinem Ursprung nach religiöse D a r s t e l l u n g von der Verwandtschaft des M e n s c h l i c h e n mit dem G ö t t l i c h e n und der Beziehung des U n v o l l k o m m e n e n auf das V o l l k o m m e n e , d o c h an und für sich leere M y t h o l o g i e und für die Wissenschaft verderbliche M y s t i k . J a , u m Alles hieher G e h ö r i g e in Eins zusammenzufassen, so ist es allerdings das Ein und Alles der Religion, Alles im Gefühl uns Bewegende in seiner höchsten Einheit als Eins und dasselbe zu fühlen, und alles Einzelne und Besondere nur hierdurch ver|mittelt, also unser Sein und L e b e n als ein Sein und L e b e n in und durch G o t t . | A b e r die G o t t h e i t dann | wieder als einen abgesonderten einzelnen Gegenstand

2 auf ... und] fehlt in Β 5 Religion,] B: Religion 6 f sich, ... Zufälligen,] B: sich im Zufälligen C: sich wenn auch im Zufälligen 7 f Gott, ... begabten] B + C: Gott ... begabten, 9—11 so ... eigenthümlichen] B: sie hatten eine That des Universum aufgefaßt, und bezeichneten so ihre Individualität und ihren 9 Einzelnes zwar,] C: einzelnes zwar 14 rege,] B + C: rege 15 jenseit] B: jenseits 1 7 f Verwandtschaften ... verzeichnen] B: Abstammungen dieser Götter eine wunderbare Chronik hatten 17 Verwandtschaften] C: Verwandschaften 20—24 ist, ... Mystik.] B: ist leere Mythologie. 21—23 Verwandtschaft ... Vollkommene] C: Verwandschaft des menschlichen mit dem göttlichen und von der Beziehung des Unvollkomnen auf das Vollkomne 24 Ja, ... Gehörige] B + C: J a ... gehörige 27 hierdurch] B + C: hiedurch 2 8 und Leben als ein ... Gott] B: als ein Sein in Gott, und als ein Leben in Gott unser Leben 29—12 einen ... mißverständliche] B: ein Abgesondertes und Einzelnes hinzustellen, das ist schon nur eine Bezeichnung, Manchen eine unentbehrliche, Vielen eine willkommne, wiewol immer unvollkommen von der nur die gemeine Sprache vielleicht nie loskommen

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hinzustellen, so daß der Schein nicht leicht vermieden werden kann, als sei sie auch des Leidens empfänglich wie andere Gegenstände, das ist schon nur eine Bezeichnung, und wenn gleich Vielen eine unentbehrliche und Allen eine willkommene, doch immer eine bedenkliche und fruchtbar an Schwierigkeiten, aus denen die gemeine Sprache sich vielleicht nie loswikkeln wird. Diese gegenständliche Vorstellung der Gottheit aber gar als eine Erkenntniß behandeln, und so abgesondert von ihren Einwirkungen auf uns durch die Welt das Sein Gottes vor der Welt und außer der Welt, wenn gleich für die Welt, als Wissenschaft durch die Religion oder in der Religion ausbilden und darstellen, das vorzüglich ist gewiß auf dem Gebiet der Religion nur leere Mythologie 6 , eine nur zu leicht mißverständliche weitere Ausbildung desjenigen, was nur Hülfsmittel der Darstellung ist, als ob es selbst das Wesentliche wäre, ein völliges Herausgehen aus dem eigenthümlichen Boden. Hieraus könnt Ihr auch zugleich sehen, wie die Frage zu behandeln ist, ob die Religion ein System sei oder nicht; eine Frage, die sich so gänzlich verneinen, aber auch so schlechthin bejahen läßt, wie Ihr es vielleicht kaum erwartet. Meint Ihr nämlich damit, ob sie sich nach einem innern nothwendigen Zusammenhang gestaltet, so daß die Art, wie der Eine so der Andere anders in religiösem Sinne bewegt wird, ein Ganzes in sich ausmacht und nicht etwa zufällig in einem Jeden jezt dieses, jezt etwas anderes durch denselben Gegenstand erregt wird: meint Ihr dies, so ist | sie gewiß ein System. Was irgendwo, sei es unter Vielen oder Wenigen, als eine eigne Weise und Bestimmtheit des Gefühls auftritt, das ist auch ein in sich Geschlossenes und Nothwendiges durch seine Natur, und nicht etwa konnte eben so gut unter den Christen vorkommen, was Ihr als religiöse Erregung bei den Türken findet oder bei den Indiern. Aber in einer gro|ßen Mannigfaltigkeit von Kreisen dehnt sich diese innere Einheit der Religiosität aus und zieht sich zusammen, deren jeder je enger und kleiner um desto mehr Besonderes als nothwendig, in sich aufnimmt, und aus sich ausscheidet als unverträglich. Denn wie zum Beispiel das Christenthum in sich ein Ganzes ist, so ist auch

kann. Diese nun aber gar als eine Erkenntniß zu behandeln, und so das abgesonderte Sein Gottes vor der Welt und außer der Welt, aber für die Welt als Wissenschaft durch die Religion oder in der Religion auszubilden und darzustellen, das vorzüglich ist gewiß in der Religion nur leere Mythologie, eine 1—4 kann, ... willkommene,] C: kann ... willkomne 15f zugleich ... sei] B: sogleich sehen, wie es sich damit verhält, ob die Religion ein System ist 18—20 damit, ... Art, ... so ... wird,] B: damit ... Art ... so, ... wird 21 f ausmacht ... dieses,] B + C: ausmacht, ... dieses 23 f irgendwo, ... Wenigen,] B + C: irgendwo ... Wenigen 25 Geschlossenes und Nothwendiges] C: geschlossenes und nothwendiges 25 Nothwendiges] B: Abgesondertes 27 als religiöse Erregung] fehlt in Β 28 Mannigfaltigkeit von Kreisen] B: Stuffenfolge 30f deren ... ausscheidet] B: immer mehr Besonderes in sich aufnehmend als nothwendig, uns aus sich ausscheidend

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Über die Religion

jeder von den Gegensäzen, die zu verschiedenen Z e i t e n darin aufgetreten sind, bis auf die neuesten des Protestantismus und K a t h o l i c i s m u s , ein Abgeschlossenes für sich. U n d so ist zulezt die F r ö m m i g k e i t jedes Einzeln e n , mit der er ganz in jener größeren Einheit gewurzelt ist, wieder in sich Eins und als ein G a n z e s gerundet und gegründet in d e m , was Ihr seine Eigenthümlichkeit nennt oder seinen C h a r a k t e r , dessen eine Seite sie eben a u s m a c h t . Und so giebt es in der Religion ein unendliches sich C 87 Bilden und G e s t a l t e n bis in die einzelne Persönlichkeit hinein, und | jede SW 203 von diesen ist wieder ein Ganzes und einer Unendlichkeit eigenthümlicher Aeußerungen fähig. D e n n Ihr werdet d o c h nicht, als o b das Sein Β 87 und Werden | der Einzelnen aus dem G a n z e n a u f eine endliche Weise in b e s t i m m t e n Entfernungen fortschritte, d a ß Eins sich durch die übrigen b e s t i m m e n ließe, konstruiren und aufzählen, und das Charakteristische im Begriff genau bestimmen wollen? Wenn ich die Religion in dieser Beziehung vergleichen soll, so weiß ich sie mit nichts s c h ö n e r zusammenzustellen als mit einem ihr ohnedies innig Verbundenen, die T o n k u n s t meine ich. D e n n wie diese gewiß ein großes G a n z e bildet, eine besondere in sich geschlossene O f f e n b a r u n g der Welt, und d o c h w i e d e r u m die M u sik eines jeden Volkes ein Ganzes für sich ist, und dies wiederum in verschiedene ihm eigenthümliche Gestalten sich gliedernd bis zu dem G e n i e und Styl des Einzelnen herab, und dann d o c h jedes lebendige H e r vortreten dieser innern O f f e n b a r u n g in d e m Einzelnen, z w a r alle jene Einheiten in sich h a t , und eben in ihnen und durch sie d o c h aber mit aller Lust und Fröhlichkeit der u n g e h e m m t e n Willkühr, wie eben sein L e b e n sich regt und die Welt ihn berührt, in dem Z a u b e r der T ö n e dar61 stellt: so ist auch die Religion, | o h n e r a c h t e t jenes N o t h w e n d i g e n in ihrer lebendigen G e s t a l t u n g , d e n n o c h in ihren einzelnen Aeußerungen, wie sie u n m i t t e l b a r im L e b e n heraustritt, von nichts weiter entfernt als von jeB 88; C 88 d e m Scheine des Z w a n g e s und | der G e b u n d e n h e i t . D e n n in das | Leben ist alles N o t h w e n d i g e a u f g e n o m m e n , und s o m i t auch in die Freiheit, und jede einzelne R e g u n g tritt a u f als eine freie S e l b s t b e s t i m m u n g grade dieses G e m ü t h s , in der sich ein vorübergehender M o m e n t der Welt abspiegelt. Ein Unheiliger w ä r e , wer hier ein im Z w a n g e Gehaltenes, ein äußerlich

2 ein] B: jeder ein 3 f Einzelnen, ... ist,] B: Einzelnen ... ist 5 dem,] B + C: dem 9 Ganzes] B: Unendliches 9 f und einer ... fähig] fehlt in Β 13f konstruiren ... wollen?] B: construiren ... wollen. 16 Verbundenen,] B: verbundenem: C: verbundenen, 17 f Ganze ... Welt,] B: Ganzes ... Welt 24 Fröhlichkeit] B + C: Frölichkeit 24 ungehemmten] B: ungebundenen 25 berührt,] B: berührt 2 6 f Religion, ... Nothwendigen ... Gestaltung,] B + C: Religion ... nothwendigen ... Gestaltung 30 Nothwendige] B + C: nothwendige 31 f jede ... Moment] B: alles Einzelne tritt auf als freie Fantasie in der sich eine vorübergehende Stimmung 32 Gemüths,] C: Gemüths 33 f Gehaltenes ... Gebundenes und Bestimmtes] Β + C: gehaltenes ... gebundenes und bestimmtes

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Gebundenes und Bestimmtes fordern wollte; und wenn so etwas liegt in Eurem Begriff von System, so müßt Ihr ihn hier gänzlich entfernen. Ein System von Wahrnehmungen und Gefühlen, vermöget Ihr selbst etwas Wunderlicheres zu denken? Denn geht es Euch etwa so, daß, indem Ihr 5 etwas fühlt, Ihr zugleich die Nothwendigkeit mitfühlt oder mitdenkt, nehmt welches Ihr lieber mögt, daß Ihr bei diesem und jenem, was Euch jezt grade nicht gegenwärtig bewegt, jenem Gefühl zufolge, so und nicht anders würdet fühlen müssen? Oder wäre es nicht um Euer Gefühl geschehen, und es müßte etwas ganz Anderes in Euch sein, ein kaltes Rech10 nen und Klügeln, sobald Ihr auf eine solche Betrachtung geriethet? Darum ist es nun offenbar ein Irrthum, daß es zur Religion gehöre, sich dieses Zusammenhanges ihrer einzelnen Aeußerungen auch noch bewußt zu sein, und ihn nicht nur in sich zu haben und aus sich zu entwikkeln, sondern auch noch beschrieben vor sich zu sehen, und so von außen auf-| 15 zufassen, und es ist eine Anmaßung, wenn man die für eine mangelhafte Frömmigkeit halten will, der es daran fehlt. Auch lassen sich die wahren I Frommen nicht stören in ihrem einfachen Gange, und nehmen wenig Kenntniß von allen so sich nennenden Religionssystemen, die von dieser Ansicht aus sind aufgeführt worden. Und wahrlich, sie sind auch 20 größtentheils schlecht genug, und bei weitem nicht etwa zu vergleichen mit den Theorien über die Tonkunst, mit der wir die Religion eben verglichen haben, wieviel auch in diesen ebenfalls Verfehltes sein mag. Denn | weniger als irgendwo ist bei diesen Systematikern in der Religion ein andächtiges Aufmerken und Zuhören, um das, was sie beschreiben 25 sollen, wo möglich in seinem innern Wesen zu belauschen. Auch wollen sie freilich weniger dies, als nur mit den Zeichen rechnen, und nur die Bezeichnung abschließen und vollenden, die grade das Zufälligste ist; fast so zufällig als jene Bezeichnung der Gestirne, worin Ihr die spielendste Willkür entdekt, und die nirgends zureicht, weil immer wieder Neues 30 gesehen und entdekt wird, welches sich nicht hineinfügen will. O d e r

4 Wunderlicheres] B + C: wunderlicheres 4 Denn] ß : Oder 4 daß,] B + C: daß 5 mitfühlt] C: mit fühlt 6 jenem,] B + C: jenem 8 müssen?] B: müssen. 9 Anderes] B: anders C: anderes 10 geriethet?] B + C: geriethet. 11 — 13 gehöre, ... sein] B: gehöre diesen Zusammenhang ihrer einzelnen Äußerungen auch noch einzusehen 15 Anmaßung,] B + C: Anmaßung 1 5 f wenn man ... halten will] B: die ... zu halten 16 fehlt] B: fehlte 19 wahrlich,] B + C: wahrlich 20 größtentheils] fehlt in Β 21 f mit der ... haben,] fehlt in Β 22 diesen ebenfalls] B: denen 22 Verfehltes] B + C: verfehltes 2 4 f das, ... sollen,] B + C: das ... sollen 27 Zufälligste] B + C: zufälligste 2 8 f Gestirne, ... zureicht,] B: Gestirne ... zureicht 30 gesehen] B + C: gesehn 30 entdekt ... hineinfügen] B: entdekkt ... hinein fügen 30 will.] B + C: will? 28 Ihr] B: ihr

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Über die Religion

wollt Ihr hierin ein System finden? irgend e t w a s Bleibendes und Festes, das es seiner N a t u r nach wäre, und nicht blos durch die K r a f t der Willk ü r und der T r a d i t i o n ? G r a d e so auch hier. D e n n so sehr jede Gestaltung der Religion i n n e r l i c h durch sich selbst begründet ist, so hängt doch grade die Bezeichnung i m m e r v o m Aeußerlichen ab. Es k ö n n t e n T a u 5 sende a u f dieselbe Art religiös erregt sein, und jeder würde vieleicht sich andere M e r k z e i c h e n m a c h e n , um sein G e f ü h l zu be|zeichnen, nicht durch sein G e m ü t h , sondern durch äußere Verhältnisse geleitet 7 . — Sie wollen ferner weniger das Einzelne in der Religion darstellen diese Systematiker, als Eins dem Andern unterordnen, und aus dem H ö h e r e n ableiten. 10 N i c h t s aber ist weniger als dies im Interesse der Religion, welche nichts w e i ß von Ableitung und A n k n ü p f u n g . In ihr ist nicht e t w a nur eine einzelne T h a t s a c h e , die man ihre ursprüngliche und erste nennen k ö n n t e ; sondern Alles und Jedes ist in ihr u n m i t t e l b a r und für sich wahr, jedes ein für sich Bestehendes o h n e A b h ä n g i g k e i t von einem andern. Freilich 15 ist jede besonders gestaltete Religion eine solche nur v e r m ö g e einer bestimmten Art und Weise des Gefühls; aber wie verkehrt ist es doch, diese als einen G r u n d s a z , wie Ihr es nennt, behandeln zu w o l l e n , von dem das andere sich ableiten ließe. D e n n diese b e s t i m m t e F o r m einer Religion ist eben auf gleiche Weise in jedem einzelnen E l e m e n t der Religion, jenes 20 besondere G e p r ä g e trägt jede Aeußerung des Gefühls unmittelbar an sich, und abgesondert von | diesen k a n n es sich nirgends zeigen, und | N i e m a n d k a n n es so h a b e n : ja auch begreifen k a n n m a n die Religion nicht, wenn m a n sie nicht so begreift. Nichts k a n n oder darf in ihr aus d e m andern bewiesen werden, und alles Allgemeine, w o r u n t e r das Ein- 25 zelne b e f a ß t werden soll, alle Z u s a m m e n s t e l l u n g und Verbindung dieser A r t liegt e n t w e d e r in einem fremden G e b i e t , wenn sie a u f das Innere und W e s e n t l i c h e bezogen werden soll, oder ist nur ein W e r k der spielenden Fantasie und der freiesten Willkür. J e d e r m a g seine eigne A n o r d n u n g h a b e n und seine eigne R u b r i k e n , das Wesentliche k a n n dadurch weder 30 gewinnen n o c h verlieren, und wer w a h r h a f t um seine Religion und ihr Wesen w e i ß , wird jeden scheinbaren Z u s a m m e n h a n g dem Einzelnen tief u n t e r o r d n e n , und j e n e m nicht das kleinste von diesem aufopfern. A u f diesem Wege ist man auch zu j e n e m wunderlichen G e d a n k e n g e k o m m e n von einer Allgemeinheit einer Religion und von einer einzi-

2 f blos ... Willkür] Β: bloß ... Willkühr 7 f machen, ... Gemüth,] B + C: machen ... Gemüth 10 Andern ... Höheren] B + C: andern ... höheren 11 Interesse] B: Sinne 13 Thatsache,] B + C: Thatsache 14 und für] B: nur für 1 7 f doch, ... Grundsaz, ... nennt,] B + C: doch ... Grundsaz ... nennt 23 Niemand] B + C: niemand 23 haben:] ß : haben, 25 alles] B + C: Alles 25 Allgemeine,] ß : Allgemeine 27 Innere] ß : Innre 3 0 eigne Rubriken] B + C: eigene Rubriken 33 jenem] ß : ihm 35 Religion] B + C: Religion,

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Zweite

Rede

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gen Form, zu welcher sich alle andern verhielten wie falsche zur wahren; ja wenn nicht gar zu sehr zu besorgen wäre, daß Ihr es mißverständet, sagte ich gern, man sei auch nur auf diesem Wege überhaupt zu einer solchen Vergleichung gekommen, wie wahr und falsch, die sich nicht 5 sonderlich eignet für die Religion. Denn eigentlich gehört alles dies zusammen, und gilt nur da, wo | man es mit Begriffen zu thun hat, und wo die negativen Geseze Eurer Logik etwas ausrichten können, sonst nirgends. Unmittelbar in der Religion ist Alles wahr; denn wie könnte es sonst geworden sein? unmittelbar aber ist nur, was noch nicht durch 10 den Begriff hindurch gegangen ist, sondern rein im Gefühle erwachsen. Auch Alles, was sich irgendwo religiös gestaltet, ist gut; denn es gestaltet sich ja nur, weil es ein gemeinschaftliches höheres Leben ausspricht. Aber der ganze Umfang der Religion | ist ein Unendliches und nicht unter einer einzelnen Form, sondern nur unter dem Inbegriff aller zu 15 befassen 8 . Unendlich, nicht nur weil jede einzelne religiöse Organisation einen beschränkten Gesichtskreis hat, in dem sie nicht Alles umfassen kann, und also auch nicht glauben kann, es sei jenseit desselben nichts mehr | wahrzunehmen; sondern vornehmlich, weil jede eine andere ist, und also auch nur auf eine eigene Weise erregbar, so daß auch innerhalb 20 ihres eigenthümlichsten Gebietes für eine andere die Elemente der Religion sich anders würden gestaltet haben. Unendlich, nicht nur weil H a n deln und Leiden auch zwischen demselben beschränkten Stoff und dem Gemüth ohne Ende wechselt, und also auch in der Zeit immer wieder Neues geboren wird; nicht nur weil sie als Anlage unvollendbar | ist und 25 sich also immer neu entwikkelt, immer schöner reproducirt, immer tiefer der Natur des Menschen einbildet: sondern die Religion ist unendlich nach allen Seiten. Dieses Bewußtsein ist eben so unmittelbar mit der Religion zugleich gegeben, wie mit dem Wissen zugleich auch das Wissen um seine ewige Wahrheit und Untrüglichkeit gegeben ist; es ist das Ge30 fühl der Religion selbst, und muß daher Jeden begleiten, der wirklich Religion hat. Jeder muß sich bewußt sein, daß die seinige nur ein Theil des Ganzen ist, daß es über dieselben Verhältnisse, die ihn religiös affizi-

1 Form,] B: Form 2 f wäre, ... mißverständet, ... gern,] B: wäre ... mißverständet ... gern 3 f man ... gekommen,] B: auch überhaupt zu einer solchen Vergleichung 8 f Alles ... nur,] B + C: alles ... nur 11 Alles ... gestaltet,] B + C: alles ... gestaltet 1 6 f Alles ... glauben kann,] B + C: alles ... glauben kann 18 wahrzunehmen;] B: wahrzunehmen, 18 vornehmlich,] B + C: vornemlich 21 haben. Unendlich,] B: haben; 24 Neues] B + C: neues 24 wird;] B: wird, 26 einbildet: ... Religion] B: einbildet; sondern sie 27 eben] fehlt in Β 28 zugleich] fehlt in Β 30 begleiten,] B + C: begleiten 3 2 Verhältnisse,] B: Verhältnisse 1 zur wahren] D: zu wahren

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Über die

Religion

ren, Ansichten und Empfindungen giebt, die eben so f r o m m sind und C 93 d o c h von den seini|gen gänzlich verschieden, und d a ß andern Gestaltungen der Religion W a h r n e h m u n g e n und Gefühle a n g e h ö r e n , für die ihm vielleicht gänzlich der Sinn fehlt. Ihr seht, wie u n m i t t e l b a r diese s c h ö n e Bescheidenheit, diese freundliche einladende D u l d s a m k e i t aus dem Wesen der Religion entspringt, und wie wenig sie sich von ihr trennen läßt. W i e unrecht wendet Ihr E u c h also an die Religion mit Eueren Vorwürfen, d a ß sie verfolgungssüchtig sei und gehässig, d a ß sie die Gesellschaft zerrütte und Blut fließen lasse wie Wasser. Klaget dessen diejenigen an, welche die Religion verderben, welche sie mit einem H e e r von Formeln Β 94 und Begriffsbestimmungen ü b e r s c h w e m m e n | und sie in die Fesseln eines sogenannten Systems schlagen wollen. W o r ü b e r denn in der Religion hat m a n gestritten, Parthei g e m a c h t und Kriege entzündet? U e b e r Begriffsbes t i m m u n g e n , die praktischen bisweilen, die theoretischen immer, und beide g e h ö r e n nicht hinein. Die Philosophie wol strebt diejenigen, wel-| 65 c h e wissen w o l l e n , unter ein gemeinschaftliches Wissen zu bringen, wie Ihr das täglich sehet, wiewol auch sie, je besser sie sich versteht, um so leichter auch R a u m gewinnt für die Mannigfaltigkeit: die Religion begehrt aber auch so nicht einmal diejenigen, welche glauben und fühlen, unter Einen G l a u b e n zu bringen und ein Gefühl. Sie strebt wol denen, welche religiöser Erregungen n o c h nicht fähig sind, den Sinn für die C 94 ewige Einheit des ursprünglichen Lebensquelles | zu ö f f n e n , denn jeder Sehende ist ein neuer Priester, ein neuer Mittler, ein neues O r g a n ; aber eben deswegen flieht sie mit Widerwillen die kahle E i n f ö r m i g k e i t , welche diesen göttlichen Ueberfluß wieder zerstören würde. J e n e dürftige Sys t e m s u c h t 9 freilich stößt das Fremde von sich, oft o h n e seine Ansprüche SW 208 gehörig zu untersuchen, schon weil es die wohlgeschlossenen Reihen des Eigenen verderben und den schönen Z u s a m m e n h a n g stören k ö n n t e , indem es seinen Plaz fordert; in ihr ist der Siz der Streitkunst und StreitB 95 sucht, sie m u ß Krieg füh|ren und verfolgen; denn insofern das Einzelne wieder a u f e t w a s Einzelnes und Endliches bezogen wird, k a n n freilich Eins das A n d e r e zerstören durch sein D a s e i n ; in der unmittelbaren Bezie-

2 f andern Gestaltungen ... angehören] B: aus andern Elementen ... ausfließen 4 seht,] B + C: seht 10f Formeln und Begriffsbestimmungen] B: Begriffen 17f versteht, ... Mannigfaltigkeit:] B + C: versteht ... Mannigfaltigkeit; 19 diejenigen,] Β: diejenigen 21 f religiöser ... Lebensquelles] B: noch nicht fähig sind das Universum anzuschauen, die Augen 22 öffnen] B + C: öfnen 23 ein neuer Mittler,] fehlt in Β 28 verderben] B + C: verderben, 30 insofern] B: in so fern C: in sofern 12 f hat man] C + D: man

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hung auf das Unendliche a b e r steht alles ursprünglich Innerliche ungestört neben einander, Alles ist Eins und Alles ist wahr. Auch h a b e n nur diese Systematiker dies Alles angerichtet. D a s neue R o m , das g o t t l o s e a b e r k o n s e q u e n t e , schleudert B a n n s t r a h l e n und stößt Kezer a u s 1 0 ; das alte, w a h r h a f t f r o m m und religiös im h o h e n Styl, w a r gastfrei gegen jeden G o t t , und so wurde es der G ö t t e r voll. D i e A n h ä n g e r des t o d t e n B u c h s t a b e n s , den die Religion auswirft, h a b e n die Welt mit G e s c h r e i und G e t ü m m e l erfüllt, die w a h r e n B e s c h a u e r des Ewigen waren i m m e r ruhige Seelen, entweder allein mit sich und dem Unendlichen o d e r w e n n sie sich umsahen, j e d e m , der das g r o ß e W o r t n u r verstand, seine eigne A r t gern vergön|nend. M i t diesem weiten Blik und diesem G e f ü h l des Unend- C 95 liehen sieht sie aber auch das a n , was a u ß e r ihrem eigenen G e b i e t e liegt, und enthält in sich die A n l a g e zur u n b e s c h r ä n k t e s t e n V i e l s e i t i g k e i t im 66 Urtheil und in der B e t r a c h t u n g , welche in der T h a t a n d e r s w o h e r n i c h t zu nehmen ist. Lasset irgend etwas Anderes den M e n s c h e n beseelen, — ich will Sittlichkeit und Philosophie, | so viel n ä m l i c h davon übrig bleiben Β 96 k a n n , wenn Ihr die Religion d a v o n trennt, nicht ausschließen, sondern berufe mich vielmehr ihretwegen auf E u r e eigne E r f a h r u n g — sein D e n ken und sein S t r e b e n , w o r a u f es auch gerichtet sei, zieht einen engen Kreis um ihn, in welchem sein H ö c h s t e s eingeschlossen liegt, und a u ß e r welchem ihm Alles gemein und unwürdig erscheint. Wer nur schulgerecht denken und n a c h G r u n d s a z und A b s i c h t handeln und dies und jenes ausrichten will in der Welt, der umgränzt unvermeidlich sich selbst und sezt i m m e r f o r t dasjenige sich entgegen zum G e g e n s t a n d e des W i d e r - SW 209 willens, was sein T h u n und T r e i b e n nicht f ö r d e r t . N u r die freie Lust des Schauens und des L e b e n s , wenn sie ins Unendliche geht, aufs U n e n d l i c h e gerichtet ist, sezt das G e m ü t h in u n b e s c h r ä n k t e Freiheit; nur die R e l i g i o n rettet es aus den drükkendsten Fesseln der M e i n u n g und der Begierde. Alles was ist, ist für sie n o t h w e n d i g , und Alles was sein k a n n , ist ihr ein wahres unentbehrliches Bild des Unendlichen; wer nur den P u n k t findet, w o r a u s seine Beziehung | a u f dasselbe sich entdekken läßt. W i e verwerflieh auch etwas in andern Beziehungen oder an sich selbst sei, in dieser

1 ursprünglich Innerliche] ß : Endliche 1 Innerliche] C : innerliche 2 f Alles ... Alles ... Alles] B + C: alles ... alles ... alles 4 konsequente,] B: konsequente 9 Unendlichen] ß.· Unendlichen, 10 jedem,] B + C: jedem 12 a n , ] ß + C. an 12 außer] C : ausser 15 — 17 Anderes ... beseelen, ... kann,] B + C: anderes ... beseelen . . . kann 17 trennt,] B: trennt 2 0 £ außer ... Alles] B + C: ausser ... alles 2 2 handeln] B + C: handeln, 23 selbst] C: selbst, 2 6 geht,] B + C: geht und 27 Freiheit;] B + C: Freiheit, 2 8 drükkendsten] B : schimpflichsten 2 9 und Alles] B + C: und alles 17 Ihr] B + C: ihr

C 96

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Über die Religion

Rücksicht ist es immer werth zu sein und aufbewahrt und betrachtet zu Β 97 werden. Einem frommen Ge|müthe macht die Religion Alles heilig und werth, sogar die Unheiligkeit und die Gemeinheit selbst, Alles was es faßt und nicht faßt, was in dem System seiner eigenen Gedanken liegt und mit seiner eigenthümlichen Handelsweise übereinstimmt und was nicht; sie ist die ursprüngliche und geschworne Feindin aller Kleinsinnigkeit und aller Einseitigkeit. Wie nun die Religion selbst die Vorwürfe nicht treffen, welche nur auf ihrer Verwechselung beruhen mit jenem Wissen, wievel oder wenig es auch werth sein mag, ein Wissen will es doch immer sein, das ihr 67 eigentlich nicht angehört, sondern | nur der Theologie, die Ihr doch von der Religion immer unterscheiden solltet, so treffen diese auch jene Vorwürfe eben so wenig, welche ihr wol von Seiten des Handelns sind gemacht worden. Z w a r etwas davon habe ich nur eben schon berührt; aber laßt uns auch dies im Allgemeinen ins Auge fassen, damit wir es ganz beseitigen, und Ihr recht erfahret, wie ich es meine. Nur zweierlei müssen wir dabei genau unterscheiden. Einmal beschuldigt Ihr die Religion, sie veranlasse nicht selten unanständige, schrekliche, ja unnatürliche Handlungen auf dem Gebiete des gemeinsamen bürgerlichen sittliC97 chen Lebens. Ich will Euch nicht erst den Be|weis auflegen, daß solche Handlungen von frommen Menschen herrühren, diesen will ich Euch | Β 98; sw 210 vorläufig schenken. Gut. Aber indem Ihr Eure Beschuldigung aussprecht, trennt Ihr doch selbst Religion und Sittlichkeit von einander. Meint Ihr dies nun so, die Religion sei die Unsittlichkeit selbst oder ein Zweig von ihr? Wol schwerlich; denn sonst müßte Euer Krieg gegen sie noch ein ganz anderer sein, und Ihr müßtet es als einen M a a ß s t a b der Sittlichkeit ansehn, wie weit sie auch die Frömmigkeit schon überwunden hätte. Und so seid Ihr doch nicht aufgetreten gegen sie, wenige von Euch abgerechnet, die sich freilich fast wahnsinnig gezeigt haben in ihrem mißverstandenen Eifer um solchen Mißverstand. Oder meint Ihr es wol nur so, die Frömmigkeit sei ein anderes als die Sittlichkeit, gleichgültig gegen diese, und könne also wol zufälliger Weise auch unsittlich werden? Dann habt Ihr freilich Recht in dem ersten; nämlich in wiefern man Frömmigkeit und Sittlichkeit trennen kann in der Betrachtung, sind sie auch ver-

I Rücksicht] B: Rüksicht 2 f Alles ... Alles] B + C: alles ... alles 5 und was] B: oder 6 f Kleinsinnigkeit] B: Pedanterie 9 Verwechselung] B: Verunreinigung I I — 13 angehört, ... wenig] B: angehört; so treffen sie auch von einer andern Seite die Vorwürfe nicht 14—16 berührt; ... fassen, ... erfahret,] B: berührt, ... fassen ... erfahret 17 dabei] B: recht 17 f Religion,] B + C: Religion 18 unanständige,] B: unanständige 20 auflegen,] B: auflegen 22 aussprecht,] B: aussprecht 25 Wol] B + C: Wohl 28 f wenige von Euch abgerechnet,] B: Wenige abgerechnet 30 um solchen] B: gegen einen 30 wol] B: wohl

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schieden, wie ich E u c h auch schon zugegeben und gesagt h a b e , d a ß die eine im G e f ü h l ihr Wesen h a t , die andere a b e r im H a n d e l n . Allein wie k o m m t Ihr d o c h von diesem Gegensaz aus dazu, die Religion für das H a n d e l n v e r a n t w o r t l i c h zu m a c h e n , und es ihr zuzuschreiben? W ä r e es dann nicht richtiger, zu sagen, solche M e n s c h e n w ä r e n eben nicht sittlich genug gewesen, und w ä r e dies nur, so k o n n t e n sie i m m e r eben so f r o m m gewesen sein ohne S c h a d e n . | D e n n wenn Ihr uns v o r w ä r t s bringen wollt, und das wollt Ihr j a , so ist es nicht r a t h s a m , w o zweierlei in uns ungleich geworden ist, w a s eigentlich gleich sein sollte, das Voraneilende zurükzuführen; sondern treibet lieber das Z u r ü k g e b l i e b e n e vorw ä r t s , dann gedeihen wir weiter. Und damit Ihr mich nicht e t w a a n k l a g t , d a ß ich Sylbenstecherei treibe, so laßt E u c h a u f m e r k s a m d a r a u f m a c h e n , d a ß die Religion an sich den M e n s c h e n gar nicht zum H a n d e l n t r e i b t , und daß, wenn Ihr sie denken k ö n n t e t irgend einem M e n s c h e n allein eingepflanzt, o h n e d a ß sonst etwas in ihm lebte, dieser alsdann w e d e r solche n o c h andere T h a t e n hervorbringen würde, sondern gar keine, weil er eben, wenn Ihr an das Vorige zurükdenken w o l l t , und es nicht wieder u m w e r f e n , gar nicht handeln würde, sondern nur fühlen. D a h e r e b e n , w o r ü b e r Ihr ja genug klagt, und auch mit R e c h t , von jeher viele von den religiösesten M e n s c h e n , in denen aber das Sittliche zu sehr zurükgedrängt war, und denen es an den eigentlichen Antrieben zum H a n deln fehlte, die Welt verließen, und in der E i n s a m k e i t sich m ü ß i g e r B e schauung ergaben. M e r k e t w o l , dies k a n n die Religion, wenn sie sich isolirt und also k r a n k h a f t wird, bewirken, nicht a b e r g r a u s a m e | und schrekliche T h a t e n . Sondern a u f diese Weise läßt sich der V o r w u r f , den Ihr der Religion m a c h e n w o l l t , grade u m w e n d e n und in einen L o b s p r u c h verwandeln. N ä m l i c h die H a n d l u n g e n , welche Ihr tadelt, wie ver|schieden sie auch im Einzelnen m ö g e n beschaffen gewesen sein, h a b e n d o c h das mit einander gemein, d a ß sie u n m i t t e l b a r aus einer einzelnen R e g u n g des Gefühls scheinen hervorgegangen zu sein. D e n n dies tadelt Ihr j a allemal, Ihr m ö g t dieses b e s t i m m t e G e f ü h l nun religiös nennen o d e r

5 richtiger,] B + C: richtiger 8 rathsam,] B: rathsam 9 f Voraneilende] B + C: voraneilende 10 zurükzuführen;] B: zurükzuführen, 10 Zurükgebliebene] B + C: zurükgebliebene 11 dann] B: so 11 f anklagt, ... Sylbenstecherei] B + C: anklagt ... Silbenstecherei 12 treibe] B: triebe 14 daß,] B: daß 14 irgend einem] B: einem 15 ohne ... lebte,] fehlt in Β 17 Vorige] B + C: vorige 2 3 f Religion, ... wird,] B: Religion ... wird 25 Vorwurf,] B: Vorwurf 26 wollt,] B + C: wollt 26 umwenden] B: umwenden, 27 Handlungen,] B: Handlungen 27—29 verschieden ... gemein] B: sie auch besonders mögen beschaffen gewesen sein, stimmen darin überein 17 an] so DV von B; OD von B: in nmwenden 30 zu sein] C+D: sein

23 wenn sie] C: wennsie

26 umwenden] B:

ß 99 C9S; 68

sw 211

Β wo

C99

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Über die Religion

nicht; und ich, weit entfernt, hierin von E u c h a b z u w e i c h e n , lobe E u c h u m so mehr, je gründlicher und unparteiischer Ihr dies tadelt. Ich bitte E u c h , es auch da zu tadeln, w o nicht grade die H a n d l u n g E u c h als böse erscheint, vielmehr sogar auch w o sie ein gutes Ansehn h a t . D e n n das H a n d e l n , wenn es einer einzelnen Regung folgt, geräth dadurch in eine 69 A b h ä n g i g k e i t , die ihm nicht ziemt, unter einen viel zu bestimm|ten Einfluß selbst äußerer Gegenstände, die auf die einzelne Erregung einwirk e n . D a s G e f ü h l ist seiner N a t u r nach, sein Inhalt sei welcher er wolle, wenn es nicht einschläfernd ist, heftig; es ist eine Erschütterung, eine G e w a l t , der das H a n d e l n nicht unterliegen und aus der es nicht hervorgehn soll, sondern aus der R u h e und B e s o n n e n h e i t , aus dem Totaleindruk unseres Daseins soll es hervorgehn und diesen C h a r a k t e r soll es an sich tragen. A u f gleiche Weise wird dies gefordert im gemeinen Leben wie im Β ιοί S t a a t und in der Kunst. Allein jene A b w e i c h u n g k a n n | d o c h nur daher SW 212 k o m m e n , d a ß der H a n d e l n d e — also doch wol um zu handeln, und also d o c h das Sittliche in ihm — die F r ö m m i g k e i t nicht genug und ganz hat C100 gewähren lassen; | so daß es vielmehr scheinen m u ß , wenn er nur f r ö m m e r gewesen w ä r e , würde er auch sittlicher gehandelt h a b e n . D e n n aus zwei Elementen besteht das ganze religiöse L e b e n ; d a ß der M e n s c h sich hingebe dem Universum und sich erregen lasse von der Seite desselben, die es ihm eben zuwendet, und dann d a ß er diese Berührung, die als solche und in ihrer B e s t i m m t h e i t ein einzelnes G e f ü h l ist, nach innen zu fortpflanze und in die innere Einheit seines L e b e n s und Seins aufnehme; und das religiöse Leben ist nichts anderes als die beständige Erneuerung dieses Verfahrens. Wenn also einer erregt w o r d e n ist a u f eine bestimmte Weise von der Welt, ist es etwa seine F r ö m m i g k e i t , die ihn mit dieser Erregung gleich wieder n a c h außen treibt in ein W i r k e n und H a n d e l n , welches dann freilich die Spuren der Erschütterung tragen und den reinen Z u s a m m e n h a n g des sittlichen L e b e n s trüben m u ß ? O h n m ö g l i c h ; sondern im Gegentheil seine F r ö m m i g k e i t lud ihn ein nach innen zum

I entfernt,] B + C: entfernt 2 mehr,] B: mehr 3 Euch,] B + C: Euch 3 f Euch ... sogar] B: eine böse zu sein scheint, 5 f Handeln, ... Abhängigkeit] B: Handeln ist dadurch in eine Abhängigkeit gerathen 7 selbst äußerer Gegenstände,] B: fast äußerer Gegenstände. 7 f die auf ... einwirken.] fehlt in Β 8 ist ... wolle,] B: ist, sein Inhalt sei welcher er wolle, seiner Natur nach 9 ist,] B: ist 10 Gewalt,] B + C: Gewalt I I f aus dem ... hervorgehn] fehlt in Β 15 kommen,] B: kommen 21 Berührung,] B + C: Berührung 2 4 f anderes ... einer] B: anders ... Einer 26 etwa seine Frömmigkeit,] B: dann seine Frömmigkeit 28 Erschütterung tragen] B + C: Erschütterung tragen, 25 worden ist] D: worden ist,

38 Erschütterung tragen,] B: Erschütterung, tragen

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Genuß des Erworbenen, es in das Innerste seines Geistes aufzunehmen und damit in Eins zu verschmelzen, daß es sich des Zeitlichen entkleide und ihm nicht | mehr als ein Einzelnes, nicht als eine Erschütterung einwohne, sondern als ein Ewiges, Reines und Ruhiges. Und aus dieser 5 innern Einheit entspringt dann f ü r sich als ein eigner Z w e i g des Lebens auch das Handeln, und freilich, wie wir | auch schon übereingekommen, als eine R ü k w i r k u n g des Gefühls; aber nur das gesammte | Handeln soll eine R ü k w i r k u n g sein von der Gesammtheit des Gefühls; die einzelnen Handlungen aber müssen von ganz etwas Anderem abhängen in ihrem 10 Zusammenhang und ihrer Folge als vom augenbliklichen Gefühl; nur so stellen sie jede in ihrem Z u s a m m e n h a n g und an ihrer Stelle auf eine freie und eigne Weise die ganze innere Einheit des Geistes dar, nicht aber wenn sie abhängig und knechtisch irgend einer einzelnen Erregung entsprechen. So ist demnach gewiß, daß Euer Tadel die Religion nicht trifft, 15 wenn Ihr nicht von einem krankhaften Zustande redet, und daß auch dieser krankhafte Zustand nicht etwa in dem religiösen System ursprünglich und auf eigne Weise seinen Siz hat, sondern ein ganz allgemeiner ist, aus welchem also gar nichts Besonderes gegen die Religion kann gefolgert werden. Es ist gewiß endlich und muß Euch einleuchten, 20 daß im gesunden Zustande, in wiefern wir Frömmigkeit und Sittlichkeit abgesondert betrachten wollen, der Mensch nicht angesehen werden kann als aus Religion handelnd, und von der Religion | zum Handeln getrieben; sondern dieses bildet seine Reihe f ü r sich, und jene auch, als zwei verschiedene Functionen eines und desselben Lebens. D a r u m wie 25 nichts aus Religion, so soll Alles mit Religion der Mensch handeln und verrichten, ununterbrochen sollen wie eine heilige Musik die religiösen Gefühle sein thätiges Leben begleiten, und er soll nie und nirgends erfunden werden ohne sie. Daß ich aber | in dieser Darstellung weder Euch noch mich hintergangen, könnt Ihr auch daraus sehen, wenn Ihr Ach30 tung geben wollt, ob nicht jedes Gefühl, je mehr Ihr selbst ihm den Charakter der Frömmigkeit beilegt, um desto stärker auch die Neigung

2 entkleide] B + C: e n t k l e i d e ,

4 E w i g e s , . . . R u h i g e s ] B + C: ewiges reines u n d ruhiges

6 freilich, . . . ü b e r e i n g e k o m m e n , ] B + C: freilich . . . ü b e r e i n g e k o m m e n

7 — 1 4 nur ...

e n t s p r e c h e n ] B : das g e s a m m t e H a n d e l n , dessen E i n z e l h e i t e n v o n g a n z e t w a s a n d e r e m a b 35

hängen in ihrem Z u s a m m e n h a n g und ihrer Folge, k a n n n u r so g e n a n n t w e r d e n , und jedes E i n z e l n e stellt in diesem Z u s a m m e n h a n g und an seiner Stelle a u f eine freie u n d eigne W e i s e die ganze innere E i n h e i t des G e i s t e s dar, n i c h t a b e r e n t s p r i c h t es a b h ä n g i g und k n e c h t i s c h irgend einer einzelnen E r r e g u n g anderem

40

1 4 g e w i ß , ] B + C: g e w i ß

. . . Alles] B + C: E i n e s . . . alles 3 4 f abhängen] B : ab/abhängen

8 f Rükwirkung ... Anderem] C: Rückwirkung 18 B e s o n d e r e s ] ß + C: b e s o n d e r e s

24f

...

eines

ß 102

70 C 101

sw 213

ß 103

c 102

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Über die Religion

h a t , nach innen zurükzukehren, nicht aber n a c h außen in T h a t e n hervorzubrechen; und o b nicht ein F r o m m e r , den Ihr recht innig bewegt fändet, sich in der g r ö ß t e n Verlegenheit befinden, oder E u c h w o l gar nicht verstehen würde, w e n n Ihr ihn fragtet, w a s für eine einzelne H a n d l u n g er 71 denn nun zu verrichten gesonnen w ä r e in Folge | seines Gefühls, um es 5 zu beurkunden und auszulassen. N u r böse Geister, nicht gute, besizen den M e n s c h e n und treiben ihn, und die Legion von E n g e l n , w o m i t der h i m m l i s c h e Vater seinen S o h n ausgestattet hatte, übten keine G e w a l t über ihn aus, sie halfen ihm auch nicht in seinem einzelnen T h u n und Β104 L a s s e n , und sollten es | auch nicht, aber sie flößten Heiterkeit und R u h e 10 in die von T h u n und D e n k e n erschöpfte Seele; bisweilen w o l verlor er die vertrauten Geister aus den Augen, in A u g e n b l i k k e n , w o seine ganze sw 214 K r a f t zum H a n d e l n aufgeregt war, aber dann u m s c h w e b t e n sie ihn wieder in f r ö h l i c h e m G e d r ä n g e und dienten ihm. D o c h , w a r u m führe ich E u c h auf solche Einzelheiten und rede in Bildern! A m deutlichsten zeigt 15 sich ja mein R e c h t darin, d a ß , o h n e r a c h t e t ich mit E u c h ausging von der T r e n n u n g , die Ihr seztet zwischen Religion und Sittlichkeit, und nur inC103 d e m wir | diese recht genau verfolgten, wir von selbst auf beider wesentliche Vereinigung im wahren L e b e n z u r ü k g e k o m m e n sind und gesehen h a b e n , d a ß , w a s sich als ein Verderbniß in der einen zeigt, auch eine 20 S c h w ä c h e in der andern voraussezt, und d a ß , wenn nicht auch die andere ganz das ist, was sie sein soll, keine von beiden v o l l k o m m e n sein kann.

Β105

H i e r m i t also verhält es sich gewiß so. Ihr redet aber oft n o c h von andern H a n d l u n g e n , welche b e s t i m m t die Religion hervorbringen müsse, weil sie für die Sittlichkeit nichts w ä r e n und also aus ihr unmöglich k ö n n t e n hervorgegangen sein, eben so wenig a b e r aus demselben G r u n d e auch aus der Sinnlichkeit, wie man diese der Sittlichkeit entgegensezt, weil sie n ä m l i c h für diese a u c h nichts wä|ren; verderblich aber wären sie d o c h , weil sie den M e n s c h e n g e w ö h n t e n , sich an das Leere zu halten

1 hat,] B + C: hat 2 Frommer, ... fändet,] B + C: Frommer ... fändet 3 f verstehen] B + C: verstehn 4 fragtet,] B: fragtet 5 in ... es] B: um sein Gefühl 7 Engeln,] Β: Engeln 11 erschöpfte] B: ermattete 11 f bisweilen ... Geister] Β: er verlor sie wol bisweilen 14 fröhlichem Gedränge] B + C: frölichem Gedränge, 14f Doch, ... Einzelheiten] B + C: Doch ... Einzelheiten, 16f daß, ... Trennung,] B + C: daß ... Trennung 18 beider] B: ihre 19f sind ... daß,] B + C: sind, ... daß 21 f daß, ... ist,] B + C: daß ... ist 23 Hiermit] B + C: Hiemit 25 wären] B + C: wären, 28 weil ... diese] B: für welche sie 29 gewöhnten,] B + C: gewöhnten 17 Ihr] B: ihr 17 seztet] D: sezet 17 nur] D: nur, 21 nicht auch] D: auch nicht 25 ihr] D: Ihr 71 Vgl. Mt 26,53

9 - 1 4 Vgl. Mt

4,1-11

18 wir von] D: wie von

25

Zweite

Rede

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u n d a u f d a s N i c h t i g e e i n e n W e r t h zu s e z e n , u n d w e i l sie, w e n n a u c h n o c h so gedankenleer und bedeutungslos, nur allzuoft die Stelle des sittlichen Handelns vertreten und den Mangel desselben

bedekken

sollten.

Ich

weiß, was Ihr meint; erspart mir nur das lange Verzeichniß von äußer5

licher Z u c h t , geistigen U e b u n g e n , E n t b e h r u n g e n , Kasteiungen und w a s s o n s t n o c h , w a s | I h r in d i e s e m S i n n d e r R e l i g i o n a l s i h r E r z e u g n i ß v o r -

72

werft, w o v o n aber, w a s Ihr d o c h ja nicht übersehen m ö g t , grade die größten Helden der Religion, die Stifter und Erneuerer der K i r c h e , a u c h s e h r g l e i c h g ü l t i g u r t h e i l e n . H i e r m i t f r e i l i c h v e r h ä l t es s i c h | a n d e r s ; a b e r 10

C104

a u c h h i e r m e i n e i c h , w i r d d i e S a c h e , die i c h v e r t h e i d i g e , s i c h s e l b s t r e c h t fertigen. N ä m l i c h wie jenes Wissen, w o v o n wir vorher sprachen,

jene

Lehrsäze und M e i n u n g e n , w e l c h e sich n ä h e r an die Religion a n s c h l i e ß e n w o l l t e n , als i h n e n z u k a m , n u r B e z e i c h n u n g e n u n d B e s c h r e i b u n g e n d e s

SW 2is

Gefühls w a r e n , kurz ein W i s s e n um das G e f ü h l , keinesweges aber ein 15

unmittelbares Wissen u m die H a n d l u n g e n des U n i v e r s u m , durch w e l c h e das Gefühl erregt wurde, und wie jenes n o t h w e n d i g z u m Uebel ausschlag e n m u ß t e , w o es a n d i e S t e l l e e n t w e d e r d e s G e f ü h l s o d e r d e r e i g e n t l i c h e n u n d u r s p r ü n g l i c h e n E r k e n n t n i ß s o l l t e | g e s e z t w e r d e n : s o ist a u c h

Β 106

dieses H a n d e l n , d a s als U e b u n g u n d L e i t u n g des G e f ü h l s u n t e r n o m m e n , 20

so oft leer und gehaltlos a u s s c h l a g e n d e — denn von e i n e m andern symb o l i s c h e n u n d b e d e u t e n d e n , n i c h t a l s U e b u n g , s o n d e r n als D a r s t e l l u n g des G e f ü h l s s i c h g e b e n d e n r e d e n w i r d o c h n i c h t — j e n e s a b e r ist e b e n f a l l s ein H a n d e l n g l e i c h s a m a u s d e r z w e i t e n H a n d , w e l c h e s s i c h e b e n s o a u f seine Weise das G e f ü h l z u m G e g e n s t a n d m a c h t , u n d bildend d a r a u f w i r -

25

k e n w i l l , w i e j e n e s W i s s e n es s i c h z u m G e g e n s t a n d e m a c h t u n d es b e t r a c h t e n d a u f f a s s e n w i l l . W i e viel W e r t h n u n d i e s e s h a b e n m a g a n s i c h , u n d o b es n i c h t e b e n s o u n w e s e n t l i c h ist als j e n e s W i s s e n , d a s w i l l i c h h i e r n i c h t e n t s c h e i d e n , w i e es d e n n a u c h s c h w e r ist, r e c h t zu f a s s e n , u n d w o h l s e h r g e n a u w i l l e r w o g e n s e i n , in w e l c h e m S i n n d o c h d e r M e n s c h

30

sich s e l b s t u n d z u m a l sein G e f ü h l k a n n | b e h a n d e l n w o l l e n , a l s w e l c h e s m e h r d a s G e s c h ä f t d e s G a n z e n zu sein s c h e i n t , u n d a l s o ein v o n s e l b s t sich e r g e b e n d e s P r o d u k t s e i n e s L e b e n s a l s ein a b s i c h t l i c h e s , u n d

sein

3 und ... bedekken] fehlt in Β 4 weiß,] B + C: weiß 5 geistigen] B: geistlichen 8 f Kirche, ... Hiermit] B + C: Kirche ... Hiemit 10 ich, ... Sache, ... vertheidige,] B + C: ich ... Sache ... vertheidige 13 wollten,] B + C: wollten 13 zukam,] C: zukam 19 unternommen,] B + C: unternommen 21 Uebung,] B: Übung C: Uebung 25 f will, ... auffassen] fehlt in Β 28 ist,] B + C: ist 28 fassen,] ß: fassen 29 wohl sehr] fehlt in Β 29 wohl] C: wol 2 gedankenleer] B + C: gedankenleerOD von B: mir

13 nur] so DV von Β (mit falscher

Zeilenangabe);

C 105

82

Über die

Religion

eignes. D o c h dies, w i e g e s a g t , g e h ö r t nicht hieher, und ich m ö c h t e es lieber m i t den F r e u n d e n d e r R e l i g i o n b e s p r e c h e n , als m i t E u c h . Soviel a b e r ist g e w i ß , u n d ich g e s t e h e es u n b e d i n g t , w e n i g I r r u n g e n sind s o 73 v e r d e r b l i c h ,

als w e n n jene bildenden Uebun|gen des G e f ü h l s a n

die

Stelle des u r s p r ü n g l i c h e n G e f ü h l s sollen gesezt w e r d e n ; n u r ist es o f f e n b a r

5

Β 107 eine I r r u n g , in w e l c h e religiöse M e n s c h e n n i c h t | g e r a t h e n k ö n n e n . Vielleicht gebt Ihr es m i r s c h o n gleich zu, w e n n ich E u c h n u r d a r a n e r i n n e r e , d a ß e t w a s g a n z A e h n l i c h e s sich findet a u f d e r Seite d e r Sittlichkeit. D e n n es giebt a u c h ein solches H a n d e l n a u f sein eignes H a n d e l n ;

Uebungen

SW 216 d e s Sittlichen, die d e r M e n s c h , w i e sie sich a u s d r ü k k e n , m i t sich selbst

10

a n s t e l l t , d a m i t er besser w e r d e ; und diese a n die Stelle des u n m i t t e l b a r e n sittlichen H a n d e l n s , des G u t s e i n s und R e c h t t h u n s selbst zu sezen, dies g e s c h i e h t freilich, a b e r Ihr w e r d e t n i c h t z u g e b e n w o l l e n , d a ß es v o n den sittlichen M e n s c h e n g e s c h e h e . B e d e n k t es a b e r a u c h so. Ihr m e i n t es d o c h eigentlich s o , d a ß die M e n s c h e n allerlei t h u n , E i n e r v o m A n d e r n

15

es a n n e h m e n d u n d f o r t p f l a n z e n d a u f die S p ä t e r e n , w a s bei Vielen sich g a r n i c h t v e r s t e h e n läßt und n i c h t s b e d e u t e t , i m m e r a b e r sich n u r s o begreifen l ä ß t , d a ß es g e s c h e h e , u m ihr religiöses G e f ü h l zu e r r e g e n u n d c 106 zu un|terstüzen u n d a u f diese o d e r jene Seite z u lenken. W o a l s o dieses H a n d e l n ein selbsterzeugtes ist, u n d w o es diese B e d e u t u n g w i r k l i c h h a t ,

20

d a bezieht es sich ja o f f e n b a r a u f d a s eigne G e f ü h l des M e n s c h e n u n d sezt einen b e s t i m m t e n Z u s t a n d desselben v o r a u s , u n d d a ß dieser m i t g e fühlt w e r d e , und d e r M e n s c h seiner selbst u n d seines inneren L e b e n s a u c h m i t seinen S c h w ä c h e n u n d U n e b e n h e i t e n inne w e r d e . J a , a u c h ein Β 108

I n t e r e s s e d a r a n sezt es v o r a u s , eine | h ö h e r e Selbstliebe, deren G e g e n -

25

s t a n d eben d e r M e n s c h ist, als d e r sittlich f ü h l e n d e , als ein eigengebildet e r T h e i l des G a n z e n der geistigen W e l t ; u n d o f f e n b a r , s o w i e diese L i e b e a u f h ö r t e , m ü ß t e a u c h jenes H a n d e l n a u f h ö r e n . K a n n es a l s o j e m a l s v e r k e h r t e r und t h ö r i c h t e r Weise a n die Stelle des G e f ü h l s gesezt w e r d e n , u n d dieses v e r d r ä n g e n w o l l e n , o h n e zugleich sich selbst a u f z u h e b e n ? S o n d e r n n u r u n t e r d e n e n , die in i h r e m tiefsten I n n e r n einen G e g e n s a z

1 dies, wie gesagt,] Β + C: dies wie gesagt 2 besprechen,] B + C: besprechen 8 Aehnliches] B + C: ähnliches 9 f Handeln; ... Sittlichen,] ß ; Handeln: ... Sittlichen 12 und Rechtthuns] fehlt in Β 1 4 f meint ... so,] B: redet doch davon 15 so,] C: so 1 8 f geschehe, ... unterstüzen] B + C: geschehe ... unterstüzen, 20 wo es] fehlt in Β 21 eigne ... Menschen] B + C: eigene ... Menschen, 24 Ja,] Β + C: Ja 25 Selbstliebe,] B: Selbstliebe 2 6 f der sittlich ... Welt;] B: das sittlich fühlende, als ein eigengebildeter Theil des Universum, 27 offenbar,] B + C: offenbar 28 aufhörte,] B: aufhörte 30 wollen,] B + C: wollen 31 f denen, ... bilden,] B: den Irreligiösen 26 f eigengebildeter] C + D: eingebildeter

30

Zweite

5

10

15

20

25

30

Rede

83

gegen die F r ö m m i g k e i t bilden, k a n n diese Irrung entstehen. F ü r diese nämlich h a b e n solche G e f ü h l s ü b u n g e n einen eigenen W e r t h , weil sie sich dadurch | das Ansehn geben k ö n n e n , als halten sie a u c h einen T h e i l von 74 dem Verborgenen; weil sie dasselbe, was in Andern eine tiefe B e d e u t u n g hat, äußerlich n a c h ä f f e n k ö n n e n , wenn es ihnen b e w u ß t oder u n b e w u ß t d a r u m zu thun ist, Andere oder sich selbst mit dem Schein eines h ö h e r e n Lebens, das nicht wirklich in ihnen ist, zu t ä u s c h e n . S o schlecht in der T h a t ist das, was Ihr in diesem Sinne tadelt; es ist i m m e r | e n t w e d e r c 107-, SW 217 niedrige Heuchelei oder elende Superstition, die ich E u c h willig preisgebe und nicht vertheidigen will. A u c h k o m m t nichts d a r a u f a n , w a s in diesem Sinne geübt werde, und w i r wollen nicht nur das v e r w e r f e n , w a s schon für sich angesehen leer, unnatürlich und verkehrt ist, sondern Alles, was a u f gleichem Wege entsteht, welch ein gutes A n s e h e n es a u c h habe; wilde Kasteiungen, g e s c h m a c k l o s e s E n t b e h r e n des S c h ö n e n , leere W o r t e und G e b r ä u c h e , w o h l t h ä t i g e Spenden, Alles gelte uns gleichviel, jede Superstition sei | uns gleich unheilig. A b e r nie wollen w i r auch diese ß 109 verwechseln mit d e m w o h l g e m e i n t e n Streben f r o m m e r G e m ü t h e r . A u c h unterscheidet sich beides w a h r l i c h sehr leicht; denn jeder religiöse M e n s c h bildet sich seine Ascetik selbst, wie er sie b e d a r f , und sieht sich nicht um nach irgend einer N o r m , als die er in sich hat. D e r A b e r g l ä u bige aber und der H e u c h l e r h a l t e n sich streng an ein G e g e b e n e s und Hergebrachtes, und eifern dafür als für ein Allgemeines und Heiliges. N a t ü r l i c h ! denn w e n n j e d e m zugemuthet w ü r d e , sich seine ä u ß e r e Z u c h t und U e b u n g , seine G y m n a s t i k des Gefühls selbst auszusinnen, in Beziehung auf seinen persönlichen Z u s t a n d , so wären sie übel d a r a n , und ihre innere A r m u t h k ö n n t e sich nicht länger verbergen. L a n g e h a b e ich E u c h verweilt bei dem Allgemeinsten, fast nur Vorläufigen, und was sich von selbst sollte verstanden h a b e n . A b e r weil es sich eben nicht verstand, weder für E u c h n o c h für | Viele, die a m wenig- c 108 sten zu E u c h werden gezählt sein wollen, wie die Religion sich verhält zu den andern Z w e i g e n des L e b e n s ; so w a r es w o h l n ö t h i g , die Q u e l l e n der gewöhnlichsten M i ß v e r s t ä n d n i s s e , d a m i t sie uns nicht h e r n a c h a u f unserm | Wege aufhielten, gleich Anfangs abzuleiten. Dieses h a b e ich 75 nun nach Vermögen gethan, und hoffe, | wir h a b e n festen B o d e n unter B i i o

1—5 Für ... können,] B : Es ist eine äußere Seite an der sie das Verborgene fassen können, die sie nachäffen mögen 4 f dasselbe, . . . hat,] C: dasselbe ... hat 7 f in der ... das] B: ist in der T h a t 9 preisgebe] B + C: preisgebe, 1 2 f angesehen ... Alles,] B + C: angesehen, ... Alles 13 Ansehen] B: Aussehen 14 geschmackloses] B + C: geschmakloses 15 Alles] B + C: alles 18 wahrlich ... denn] B + C: warlich sehr leicht. Denn 23 würde,] B: würde 2 4 auszusinnen,] B + C: auszusinnen 2 9 Viele,] B: Viele 31 Lebens;] B: Lebens, 31 wohl nöthig,] B + C: wol nöthig 3 4 f hoffe, ... daß,] B + C: hoffe ... daß

84

Über die

Religion

uns, und sind überzeugt, d a ß , wenn w i r nun a n k n ü p f e n d an jenen Augenblik, welcher selbst nie u n m i t t e l b a r angeschaut w i r d , in w e l c h e m sich a b e r alle verschiedne Aeußerungen des L e b e n s gleichmäßig bilden, so wie m a n c h e G e w ä c h s e sich schon in der verschlossenen Knospe beSW 218 fruchten und die Frucht gleichsam schon mitbringen zur Blüthe, wenn wir an diesen anknüpfend nun fragen, w o vorzüglich unter allen seinen Erzeugnissen die Religion zu suchen sei, keine andere A n t w o r t die rechte sein und mit sich selbst bestehen k ö n n e , als da, w o vorzüglich als G e f ü h l e die lebendigen Berührungen des M e n s c h e n mit der Welt sich gestalten, und d a ß dieses die schönen und duftreichen Blüthen der Religion sind, welche zwar, wie sie sich nach jener verborgenen H a n d l u n g geöffnet h a b e n , auch bald wieder abfallen, deren aber das göttliche G e w ä c h s aus der Fülle des L e b e n s i m m e r neue hervortreibt, ein paradiesisches K l i m a u m sich her erschaffend, in w e l c h e m kein dürftiger Wechsel die E n t w i k kelung stört, n o c h eine rauhe U m g e b u n g den zarten Lichtern und dem C109 feinen G e w e b e der Blumen schadet, zu welchem | ich jezt eben E u r e vorläufig gereinigte und bereitete B e t r a c h t u n g hinführen will.

5

10

15

Und z w a r folget mir zuerst zur äußeren Natur, w e l c h e von so Vielen für den ersten oder einzigen | Tempel der G o t t h e i t , und vermöge ihrer eigenthümlichen Art, das G e m ü t h zu b e r ü h r e n , für das innerste Heilig- 20 t h u m der Religion gehalten wird, jezt aber, wiewol sie m e h r sein sollte, fast nur der V o r h o f derselben ist. D e n n ganz verwerflich ist wohl die Ansicht, w e l c h e mir zunächst von E u c h entgegentritt, als o b die Furcht vor den K r ä f t e n , die in der N a t u r walten und, wie sie a u c h nichts anders v e r s c h o n e n , selbst das L e b e n und die W e r k e des M e n s c h e n bedrohen, als 25 o b diese Furcht i h m das erste G e f ü h l des Unendlichen gegeben hätte, oder gar die einzige Basis aller Religion w ä r e . O d e r m ü ß t Ihr nicht geste76 hen, d a ß , wenn es sich so verhielte, und die F r ö m m i g k e i t mit | der Furcht g e k o m m e n w ä r e , sie auch mit der Furcht wieder gehen müßte? Freilich m ü ß t Ihr das; aber vielleicht scheint es E u c h gar so, d a r u m lasset uns 30 zusehn. O f f e n b a r ist d o c h dieses das g r o ß e Z i e l alles Fleißes, der auf die Bildung der Erde verwendet wird, d a ß die H e r r s c h a f t der N a t u r k r ä f t e

Bill

4 so wie manche] B: wie viele 4 f befruchten] C: befruchten, 8 da,] B + C: da 11 zwar,] B + C: zwar 11 geöffnet] B: geöfnet 12 haben,] B + C: haben 20 Art, ... berühren,] B + C: Art ... berühren 22 wohl] Β + C: wol 23 Ansicht,] ß: Ansicht 24 Kräften,] B + C: Kräften 24 walten und,] B: walten, und 2 4 f auch ... selbst] B: nichts verschonend, auch 2 6 f diese Furcht ... hätte ... wäre] B: diese ... hätten ... wären 28 daß,] B + C: daß 31 Fleißes,] B: Fleißes 12f deren ... neue] so DV von B; OD von B: davon ... neu von B; OD von B: verschonen

37 verschonend] so DV

35

Zweite Rede

85

über den Menschen vernichtet werde, und alle Furcht vor ihnen aufhöre. Und in der T h a t ist schon bewundernswürdig viel hierin geschehen. Zeus Blize schrekken nicht mehr, seitdem uns Hephaistos einen Schild dagegen verfertiget hat; Hestia schüzt, was sie dem Poseidon abgewann, 5 auch I gegen die zornigsten Schläge seines Tridents, | und die Söhne des Ares vereinigen sich mit denen des Asklepios, um die schnelltödtenden Pfeile Apollons von uns abzuwehren. Immer mehr lernt der Mensch einen dieser Götter durch den andern zu bestechen und zu verderben, und schikt sich an, bald nur als Sieger und als Herr diesem Spiele lächelnd 10 zuzusehn. Wenn sie also einander wechselseitig als zerstörend zerstören, und die Furcht wäre der Grund ihrer Verehrung gewesen: so müßten sie allmählig als ein Alltägliches und Gemeines erscheinen, denn, was der Mensch bezwungen hat oder zu bezwingen trachtet, das kann er auch messen, und es kann ihm nicht mehr als das Unendliche fürchterlich ge15 genüber stehen, so daß also je länger je mehr der Religion ihre Gegenstände müßten untreu werden. Aber geschah dies wohl je? wurden jene Götter nicht eben so eifrig verehrt, in wiefern sie einander hielten und trugen als Brüder und Verwandte? und in wiefern sie auch den Menschen tragen und versorgen, als den jüngsten Sohn desselben Vaters? J a , Ihr 20 selbst, wenn Ihr von Ehrfurcht noch ergriffen werden könnt vor den großen Kräften der Natur, hängt diese ab von Eurer Sicherheit oder Unsicherheit? Und habt Ihr etwa ein Gelächter bereit, um dem Donner nachzuspotten, wenn Ihr unter Euren Wetterstangen steht? Und | ist nicht überhaupt das Schüzende und Erhaltende in der Natur eben so 25 sehr ein Gegenstand der Anbetung? Erwäget es aber auch | so. Ist denn das, was dem Dasein und Wirken des | Menschen trozt und droht, nur das Große und Unendliche, oder thut nicht dasselbe auch gar vieles Kleine und Kleinliche, was Ihr nicht bestimmt auffassen und zu etwas Großem gestalten könnt, und eben deshalb den Zufall nennt und das

2 Zeus] B: Jupiters 3 mehr,] B + C: mehr 3 f Hephaistos ... Hestia ... Poseidon] B: Vulcanus ... Vesta ... Neptunus 6 Ares] B: Mars 6 Asklepios,] B: Äskulap C: Asklepios 9 an,] B + C: an 12 Alltägliches ... denn,] Β + C: alltägliches und gemeines erscheinen, denn 16 f jene Götter] B: sie 17 verehrt,] B + C: verehrt 19 Ja,] B + C: Ja 2 2 f Und ... nachzuspotten,] B + C: und ... nachzuspotten 23 steht?] B: steht. 26 das, ... droht,] B: das ... droht 28 Kleine und Kleinliche] B + C: kleine und kleinliche 8 bestechen] so DV von B; OD von B, C und D: bestehen 2—4 Benjamin Franklin (1706—1790) konstruierte mente ab 1746 verschiedene Blitzableiter.

im Zuge

seiner

Elektrizitätsexperi-

SW 219

C liO; Β 112

B113 c m 77

86

sw 220

Β114

C112

78

Β lis

Über die

Religion

Zufällige? Und ist nun dieses wol jemals ein Gegenstand der Religion und angebetet worden? Oder falls Ihr Euch etwa eine so kleinliche VorStellung bilden wolltet von dem Schiksal der Alten, so müßt Ihr wenig verstanden haben von ihrer dichtenden Frömmigkeit. Denn unter diesem hehren Schicksal war auf gleiche Weise das Erhaltende befaßt, wie das Zerstörende; und so war denn auch die heilige Ehrfurcht vor ihm, deren Verläugnung in den schönsten und gebildetsten Zeiten des Alterthums allen Besseren für die vollendetste Ruchlosigkeit galt, weit etwas anderes als jene knechtische Furcht, welche zu verbannen ein R u h m war und eine T u g e n d 1 1 . Von jener heiligen Ehrfurcht nun, wenn Ihr sie verstehen könnt, will ich Euch gern zugeben, daß sie das erste Element der Religion ist. Die Furcht aber, die Ihr meintet, ist nicht nur selbst nicht Religion, sondern sie vermag auch nicht einmal | darauf vorzubereiten oder hinzuführen. Vielmehr, wenn etwas von ihr soll gerühmt werden, so müßte es nur sein, daß sie den Menschen in die weltliche Gemeinschaft hineinnöthiget, in den Staat, um ihrer dort los zu werden; seine Frömmigkeit aber fängt erst an, wenn er jene schon ab|gelegt hat. Denn den Weltgeist 1 2 zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen, das ist das Ziel aller Religion, und Furcht ist nicht in der Liebe. Eben so wenig aber glaubt auch, daß jene Freude an der Natur, welche so Viele dafür anpreisen, die wahre religiöse sei. Es ist mir fast zuwider, davon zu reden, wie sie es treiben, wenn sie hinauseilen in die große herrliche Welt, um sich da kleine Rührungen zu holen; wie sie in die zarten Zeichnungen und Tinten der Blumen hineinschauen, oder in das magische Farbenspiel eines glühenden Abendhimmels, und wie sie den Gesang der Vögel bewundern und eine schöne Gegend. Sie sind freilich ganz voll Bewunderung und Entzükken, und mei|nen, kein Instrument könne doch diese Töne hervorzaubern, und kein Pinsel diesen Schmelz und diese Zeichnung erreichen. Wollte man sich aber mit ihnen einlassen und ganz in ihrem eignen Sinne vernünfteln, so müßten sie selbst ihre Freude verdammen. Denn, was ist es doch, kann man sprechen, was Ihr be|wundert? Erzieht die

1 Zufällige?] B + C: Zufällige. 5 Schicksal ... befaßt,] B + C: Schiksal ... befaßt 6 ihm] B: demselben 8 allen Besseren] fehlt in Β 8 weit etwas] B: etwas 12 meintet,] Β + C: meintet 14 Vielmehr,] B + C: Vielmehr 18 aller] B: unserer 20 auch, ... anpreisen,] B: auch ... anpreisen 21 f zuwider, ... Welt,] B + C: zuwider ... Welt 25 und wie] B: oder wenn 27 meinen,] B + C: meinen 30 selbst ihre] B: ihre eigne 3 0 Denn,] B + C: Denn 15 f hineinnöthiget,] D: hineinnöthiget 19 1 Joh

4,18

5

10

15

20

25

30

Zweite

Rede

87

Pflanze im dunkeln Keller, so könnt Ihr, wenn es glükt, sie aller dieser Schönheiten berauben, ohne daß sie im mindesten ihre Natur ändert. Und denkt Euch die Dünste über uns etwas anders gelagert, so werdet Ihr statt jener Herrlichkeit nur einen grauen unangenehmen Flor vor 5 Augen haben, und die Begebenheit, die Ihr eigentlich betrachtet, bleibt doch ganz dieselbe. J a , versucht es einmal, Euch vorzustellen, daß doch dieselben mittäglichen Strahlen, deren Blendung Ihr nicht ertragt, denen gegen Osten schon als die flimmernde Abendröthe erscheinen — und das müßt Ihr doch bedenken, wenn Ihr diese Dinge im Ganzen ansehn wollt 10 — und wenn Ihr dann doch offenbar nicht dieselbe Empfindung habt: so müßt Ihr doch inne werden, daß Ihr nur einem leeren Scheine nachgegangen seid. Das glauben sie dann nicht nur, sondern es ist auch wirklich wahr für sie, weil sie in einem Streite befangen sind zwischen dem Scheinen und dem Sein, und was in diesen fällt, kann freilich keine religiöse 15 Erregung sein und kein achtes Gefühl hervorrufen. J a , wenn sie Kinder wären, die wirklich ohne etwas anders zu sinnen und zu wollen, ohne Vergleichung und Reflexion das Licht und den Glanz in sich aufnehmen, und sich so durch die Seele der Welt | aufschließen lassen für die Welt, und dies andächtig fühlen, und immer nur hierzu aufgeregt werden 20 durch die einzelnen Gegenstände; oder wenn sie Weise wären, denen in lebendiger Anschauung aller Streit aufgelöset ist zwischen Schein und Sein, die eben deshalb wieder kindlich können bewegt werden, und für die jene Vernünfteleien nichts wären, was sie stören könnte: dann wäre ihre Freude ein wahrhaftes und reines Gefühl, ein M o m e n t lebendiger, 25 froh sich kundgebender Berührung zwischen ihnen und der Welt. Und wenn Ihr dieses schönere versteht, so laßt Euch sagen, daß | auch dies ein ursprüngliches und unentbehrliches Element der Religion ist. Aber nicht mir jenes leere erkünstelte Wesen für Regung der Frömmigkeit ausgegeben, da es so lose aufliegt und nur eine dürftige Larve ist für ihre 30 kalte gefühllose Bildung oder Verbildung. Schiebt also auch hier nicht,

sw 221

c 123

Β 116

79 C114

indem Ihr die Religion bestreitet, ihr das zu, was ihr nicht angehört; sw 222 und spottet nicht, als ob durch Herabwürdigung zur Furcht vor dem Vernunftlosen und durch leere Spielerei mit nichtigem Schein der Mensch am leichtesten in dies sogenannte Heiligthum gelangte, und als o b die

1 glükt] B: glükkt 4 Herrlichkeit] B: Herrlichkeit, 5 Begebenheit, ... betrachtet,] B + C: Begebenheit ... betrachtet 6 J a , ... einmal,] B + C: Ja ... einmal 7 Strahlen] B + C: Stralen 13 Streite] B + C: Streit 14 fällt,] B + C: fällt 15 Erregung] ß.Wahrnehmung 15 sein] B + C: sein, 15 hervorrufen] B: erregen 15 Ja,] Β + C.Ja 19 hierzu] B + C: hiezu 2 0 wären,] B + C: wären 23 f wären, ... lebendiger,] B + C: wären ... lebendiger 2 6 so ... sagen,] B: laßt Euch sagen 31 das] fehlt in Β 31 zu,] Β: zu 32 nicht,] B + C: nicht 32 Herabwürdigung] B: Erniedrigung 33 mit nichtigem Schein] fehlt in Β

88

Über die Religion

F r ö m m i g k e i t in k e i n e m so leicht entstände, und keinen so gut kleidete, als feigherzige, schwächliche, e m p f i n d s a m e Seelen. | Β117 Weiter tritt uns entgegen in der körperlichen N a t u r ihre materielle Unendlichkeit, die ungeheuren M a s s e n , ausgestreut in jenen unübersehlichen R a u m , durchlaufend jene unermeßliche B a h n e n , und wenn dann die Fantasie unter dem G e s c h ä f t erliegt, die verkleinerten Bilder zu ihrer natürlichen G r ö ß e auszudehnen: so meinen Viele, diese E r s c h ö p f u n g sei das Gefühl von der G r ö ß e und M a j e s t ä t des Universums. Ihr habt R e c h t , dies a r i t h m e t i s c h e Erstaunen etwas kindisch zu finden, und dem keinen g r o ß e n Werth beizulegen, was bei den Unmündigen und Unwissenden, eben der Unwissenheit wegen, am leichtesten ist zu erregen. Allein der M i ß v e r s t a n d ist a u c h leicht zu heben, als o b jenes G e f ü h l religiös w ä r e in dieser Bedeutung. O d e r würden diejenigen selbst, die g e w o h n t sind, | C lis es so anzusehn, uns zugeben, d a ß , als m a n j e n e großen Bewegungen noch nicht berechnet hatte, als noch nicht die H ä l f t e jener Welten entdekt war, ja, als m a n n o c h gar nicht w u ß t e , d a ß leuchtende P u n k t e Weltkörper w ä r e n , die F r ö m m i g k e i t nothwendig geringer gewesen wäre, weil ihr n ä m l i c h ein wesentliches E l e m e n t gefehlt hätte? E b e n so wenig werden sie läugnen k ö n n e n , daß das Unendliche von M a a ß und Z a h l , sofern es wirklich in unsere Vorstellung eingeht, und sonst ist es ja für uns nicht, d o c h i m m e r nur ein Endliches wird, d a ß der Geist jede Unendlichkeit Β HS; 80 dieser Art in kleine For|meln zusammenfassen und d a m i t rechnen | k a n n , wie es alltäglich geschieht. A b e r gewiß werden sie das nicht zugeben w o l l e n , d a ß von ihrer E h r f u r c h t vor der G r ö ß e und M a j e s t ä t des Weltalls e t w a s verloren gehen k ö n n e durch fortschreitende Bildung und FertigSW 223 keit. Und d o c h m ü ß t e jener Z a u b e r der Z a h l und der M a s s e verschwind e n , sobald wir es dahin b r ä c h t e n , die Einheiten, die das M a a ß unserer G r ö ß e und unserer Bewegungen sind, i m m e r im Verhältniß darzustellen gegen jene g r o ß e Welteinheiten. D a r u m , so lange das Gefühl nur an

2 feigherzige, schwächliche,] B + C: feigherzige schwächliche 6 f erliegt, ... auszudehnen:] B: erliegt ... auszudehnen, 7 Viele,] B: Viele C: viele 13 sind,] B + C: sind 14 anzusehn,] B: anzusehn 14 daß,] B + C: daß 16 ja,] B + C: ja 17 Frömmigkeit] B: Religiosität 18f hätte? ... können, ... Zahl,] B: hätte. ... können ... Zahl 19f sofern ... nicht,] fehlt in Β 21 f wird, ... Art] B: ist, daß der Geist ihre ganze Unendlichkeit 22 zusammenfassen ... kann,] B + C: zusammenfassen, ... kann 23 es alltäglich geschieht.] B: mit dem unbedeutendsten? 23—26 Aber ... Fertigkeit] B: Gewiß aber werden sie die Folgerung läugnen, daß durch fortschreitende Bildung und Fertigkeit etwas verloren gehen könne von ihrer Ehrfurcht vor der Größe und Majestät der Welt 26 der Zahl und der Masse] fehlt in Β 2 7 f brächten, die Einheiten, ... sind,] B: brächten die Einheiten ... sind 29 Darum,] B + C: Darum 2 9 f nur an ... auch nur] B: noch an ... nur 17 geringer] B: geringe

38 Größe] B: Große

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dieser Differenz des M a a ß e s haftet, ist es auch nur das Gefühl einer persönlichen Unfähigkeit; auch ein religiöses freilich, aber nur von ganz anderer Art. J e n e Ehrfurcht aber, jenes herrliche, eben so erhebende als demüthige Gefühl unseres Verhältnisses zum Ganzen muß ganz dasselbe sein, nicht nur da, wo das M a a ß | einer Welthandlung zu groß ist für unsere Organisation, oder auch, wo es ihr zu klein ist, sondern nicht minder da, wo es ihr gleich ist und angemessen. Kann es aber dann wohl der Gegensaz sein zwischen klein und groß, was uns so wunderbar bewegt? oder ist es nicht vielmehr das Wesen der G r ö ß e , jenes ewige Gesez, vermöge dessen überhaupt erst G r ö ß e und Zahl, auch wir als solche, werden und sind? Nicht also auf eine eigenthümliche Weise kann das von der | Schwere Befangene und in sofern Ertödtete, auf uns wirken, sondern immer nur das Leben; und was in der T h a t den religiösen Sinn anspricht in der äußern Welt, das sind nicht ihre Massen, sondern ihre ewigen Geseze. Erhebt Euch zu dem Blik, wie diese gleichmäßig Alles umfassen, das Größeste und das Kleinste, die Weltsysteme und das Stäubchen, welches unstät in der Luft umherflattert, und dann sagt, o b Ihr nicht inne werdet die göttliche Einheit und die ewige Unwandelbarkeit der Welt. Allein was uns am beständigsten wiederkehrend berührt von diesen Gesezen, und deshalb auch der gemeinen Wahrnehmung nicht entgeht, die Ordnung nämlich, in der alle Bewegungen wiederkehren am Himmel und auf der Erde, das bestimmte Kommen und Gehen aller organischen Kräfte, die immerwährende Untrüglichkeit in der Regel des Mechanis|mus, und die ewige Gleichförmigkeit in dem Streben der plastischen Natur: das gewährt uns eben deshalb auch ein minder lebendiges und gro|ßes religiöses Gefühl, wenn nämlich und in wie fern es erlaubt ist, so eines mit dem andern zu vergleichen. Und das darf Euch nicht Wunder nehmen; denn, wenn Ihr von einem großen Kunstwerke nur ein einzelnes Stük betrachtet, und in den einzelnen Theilen dieses Stüks wiederum ganz für sich schöne Umrisse und Verhältnisse wahrnehmt, die in ihm selbst abgeschlossen sind, | und deren Bestimmtheit

2 Unfähigkeit;] B: Unfähigkeit, 3 herrliche,] B + C: herrliche 4 demüthige] B: demüthigende 5 da,] B + C: da 6 oder] fehlt in Β 6 auch,] B + C: auch 6 f sondern ... da,] B: auch 8 wohl] C: wol 11 sind?] B: sind. 12 Befangene] B + C: befangene 12 in sofern] B: in so fern 12 Ertödtete] B + C: ertödtete 14 Massen,] B: Massen 15 Blik,] B: Blikk C: Blik 15 gleichmäßig] fehlt in Β 1 5 f Alles ... Größeste ... Kleinste] B + C: alles ... größeste ... kleinste 17 Stäubchen,] B: Stäubchen 18 inne werdet] B: anschaut 21 nämlich,] B: nemlich C: nemlich, 25 f uns ... religiöses] B: auch das minder lebendige und große religiöse 27 ist,] B + C: ist 2 7 f Und ... denn,] fehlt in Β 28 denn,] C: denn 28 wenn] B: Wenn 4 demüthige] Kj demüthigende

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81 c 117; sw 224

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82 SW 225

Über die

Religion

sich aus ihm ganz verstehen läßt: wird Euch dann nicht das Stük mehr selbst ein Werk für sich zu sein scheinen, als ein Theil eines größeren Werkes? Werdet Ihr nicht urtheilen, daß es dem Ganzen, wenn es durchaus in diesem Styl gearbeitet wäre, an Schwung und Kühnheit und Allem, was einen großen Geist ahnen läßt, fehlen müßte? Wo wir eine erhabene Einheit, einen großgedachten Zusammenhang ahnen sollen, da muß es neben der allgemeinen Tendenz zur Ordnung und Harmonie nothwendig im Einzelnen Verhältnisse geben, die sich aus ihm selbst nicht völlig verstehen lassen. Auch die Welt ist ein Werk, wovon Ihr nur einen Theil überseht, und wenn dieser vollkommen in sich selbst geordnet und vollendet wäre, so würdet Ihr die Größe des Ganzen nur auf eine beschränkte Art inne werden. Ihr sehet, daß jene Unregelmäßigkeit der Welt, welche oft dazu dienen soll, die Religion zurükzuweisen, vielmehr einen größern Werth für sie hat, als die Ordnung, die sich uns in der Weltanschauung zuerst darbietet und sich aus | einem kleinern Theil übersehen läßt. Die Perturbationen in dem Laufe der Gestirne deuten auf eine höhere Einheit, auf eine kühnere Verbindung, als die, welche wir schon in der Regelmäßigkeit ihrer Bahnen gewahr werden, und die | Anomalien, die müßigen Spiele der plastischen Natur, zwingen uns zu sehen, daß sie auch ihre bestimmtesten Formen mit einer, man möchte fast sagen freien, ja willkührlichen Willkühr, mit einer Fantasie gleichsam behandelt, deren Regel wir nur aus einem höheren Standpunkte entdekken | könnten. Daher denn hatten auch in der Religion der Alten nur niedere Gottheiten, dienende Jungfrauen die Aufsicht über das gleichförmig Wiederkehrende, dessen Ordnung schon gefunden war; aber die Abweichungen, die man nicht begriff, die Revolutionen, für die es keine Geseze gab, diese eben waren das Werk des Vaters der Götter. Und so unterscheiden wir auch leicht in unserm Gefühl von dem ruhigen und gesezten Bewußtsein, welches die verstandene Natur hervorbringt als ein höheres, worin sich eben das Verwikkeltsein des Einzelnen in die

1 läßt:] B: läßt, 1 - 3 mehr s e l b s t . . . größeren Werkes] B: mehr ... Werkes 3 Werdet] B + C: werdet 5 Allem,] B + C: allem 5f wir ... sollen] B: Ihr ... sollt 11 die Größe] Β + C: der G r ö ß e 13 der Welt,] fehlt in Β 13 soll,] Β + C: soll 15 darbietet] B + C: darbietet, 15 kleinern] B: kleineren 17 die,] B: die 18 in] B: aus 20 auch] fehlt in Β 20 einer,] B + C: einer 20f m a n ... willkührlichen] fehlt in Β 21 freien,] C: freien 21 Willkühr] B: Willkür 23f auch ... Aufsicht] B: nur niedere Gottheiten, dienende Jungfrauen, die Aufsicht in der Religion der Alten 25 war;] B: war, 26 Abweichungen, ... Revolutionen,] B + C: Abweichungen ... Revolutionen 29 welches ... hervorbringt] fehlt in Β 30 höheres,] B + C: höheres 11 die Größe] vgl. Adelung:

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entferntesten Combinationen des Ganzen, das Bestimmtsein des Besonderen durch das noch unerforschte allgemeine Leben offenbart, jene wunderbaren, schauerlichen, geheimnißvollen Erregungen, welche sich unserer bemächtigen, wenn die Fantasie uns daran mahnt, daß, was sich 5 als Erkenntniß der Natur schon in uns gebildet hat, ihrem Wirken auch auf uns noch gar nicht entspricht, jene räth|seihaften Ahnungen meine ich, welche eigentlich in Allen dieselben sind, wenn gleich sie nur in den Wissenden, wie es Recht ist, sich abzuklären suchen und in eine lebendigere Thätigkeit der Erkenntniß übergehn, in den Andern | aber, oft von 10 Unwissenheit und Mißverstand aufgefaßt, einen Wahn absezen, den wir zu unbedingt Aberglauben nennen, da ihm doch offenbar ein frommer Schauer, dessen wir uns selbst nicht schämen, zum Grunde liegt. — Gebet ferner auch darauf Acht, wie Ihr Euch selbst ergriffen fühlt von dem allgemeinen Gegensaz alles Lebenden gegen das, was in Rücksicht 15 desselben für todt zu halten ist, von dieser erhaltenden, siegreichen Kraft durchdrungen, vermöge deren Alles sich nährt und gewaltsam das Todte gleichsam wiedererwekkend mit hineinzieht in sein eignes Leben, damit es den Kreislauf neu beginne; wie sich uns von allen Seiten entgegendrängt der bereite Vorrath für alles Lebende, der nicht todt da liegt, son20 dern selbst lebend sich überall aufs neue wieder erzeugt; wie bei aller Mannigfaltigkeit der Lebensformen und der ungeheuren Menge von M a terie, den jede wechselnd verbraucht, dennoch jede zur Genüge hat, um den Kreis ihres Daseins zu durchlaufen, und jede nur einem innern Schicksal unterliegt, und nicht einem äußeren Mangel: welche unend25 liehe Fülle enthält dieses Gefühl in sich, und welchen überfließenden Reichthum! Wie werden wir ergriffen von dem Eindruk einer allgemeinen väterlichen Vorsorge und von | kindlicher Zuversicht, das süße Leben sorglos wegzuspielen in der vollen und reichen Welt. Sehet die

3 wunderbaren, schauerlichen,] B + C: wunderbaren schauerlichen 3 f Erregungen, ... unserer] B: Erregungen ... unser 4 daran mahnt,] B: erinnert 4 f daß, ... hat,] B + C: daß ... hat 6 f jene ... ich,] fehlt in Β 7 welche eigentlich] B: und welche 8 sich ... und] fehlt in Β 9 f aber, ... aufgefaßt,] B + C: aber ... aufgefaßt 13 ferner auch darauf] B: weiter 14 Rücksicht] B + C: Rüksicht 1 5 f erhaltenden, ... Alles] B + C: erhaltenden ... alles 16—18 gewaltsam ... beginne] B: den todten Stoff gewaltsam hineinzieht in sein Leben 1 6 f Todte ... wiedererwekkend] C: todte ... wiedererwekend 24 Schicksal] B + C: Schiksal 26 Wie] B: wie 2 6 f einer allgemeinen väterlichen] B: der mütterlichen 27 Vorsorge] B + C: Vorsorge, 27 Zuversicht,] B: Zuversicht 15 todt] C: tod 2 8 - 2 Mt

24 Mangel:] C+D:

6,28.26.34

Mangel,

CU9

Β 122

83 sw 226 C120

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Über die

Religion

Β 123 Lilien auf d e m Felde, sie säen | nicht und ärndten nicht, und Euer h i m m lischer Vater e r n ä h r t sie d o c h ; d a r u m sorget nicht. Diese fröhliche Ansicht, dieser heitere, leichte Sinn w a r schon für einen der größten H e r o e n der Religion die schöne Ausbeute aus einer n o c h sehr b e s c h r ä n k t e n und dürftigen G e m e i n s c h a f t mit der N a t u r : wieviel mehr also sollten nicht w i r durch sie gewinnen, denen ein reicheres Z e i t a l t e r tiefer in ihr Innerstes zu dringen vergönnt hat, so d a ß wir s c h o n besser die allverbreiteten K r ä f t e , die ewigen Geseze k e n n e n , nach denen alle einzelnen Dinge, auch die, welche in einem bestimmteren U m f a n g e sich a b s o n d e r n d , ihre Seelen in sich selbst h a b e n , und welche wir Leiber nennen, gebildet und zerstört w e r d e n . Sehet, wie Neigung und W i d e r s t r e b e n , überall ununterbrochen thätig, Alles b e s t i m m t ; wie alle Verschiedenheit und alle Entgegensezung sich wieder in h ö h e r e innere Einheit auflösen, und mit einem ganz abgesonderten D a s e i n nur scheinbar irgend etwas Endliches sich brüsten k a n n ; seht, wie alles Gleiche sich in tausend verschiedene Gestalten zu verbergen und zu vertheilen strebt, und wie Ihr nirgends etwas Einfaches findet, sondern Alles künstlich zusammengesezt und verschlungen. Aber nicht nur sehen mögen wir, und J e d e n , der einigen Antheil n i m m t an Β 124 der Bildung des Zeitalters, auffordern, d a ß er | beachte, wie in diesem C 121 Sinne | der Geist der Welt sich im Kleinsten eben so sichtbar und vollk o m m e n o f f e n b a r t , als im G r ö ß t e n , und nicht stehen zu bleiben bei ein e m solchen Innewerden desselben, wie es sich überall und aus Allem e n t w i k k e l t und das G e m ü t h ergreift; wie der Weltgeist, o h n e r a c h t e t des M a n g e l s aller Kenntnisse, die unser J a h r h u n d e r t verherrlichen, schon den ältesten Weisen früher Z e i t aufgegangen war, und sich in ihnen nicht SW 227; 84 n u r das erste, reine und sprechende Bild der | Welt in der Anschauung e n t w i k k e l t hatte, sondern auch in ihrem H e r z e n eine n o c h uns liebenswürdige und erfreuliche Freude und Liebe für die N a t u r entzündet hatte, durch welche, wenn sie zu den Völkern hindurchgedrungen wäre, wer

2 doch;] B + C: doch, 2 fröhliche] ß: fröliche 3 heitere,] ß + C: heitere 7 schon besser] fehlt in Β 9 die,] B: die 9 absondernd,] B + C: absondernd 11 f Sehet, ... Alles] ß + C: Sehet ... alles 15 seht,] ß + C: seht 17 Alles] ß + C: alles 18f Jeden, ... Zeitalters, auffordern ... beachte,] B + C: Jeden ... Zeitalters auffodern ... beachte 2 0 f Kleinsten ... offenbart,] B + C: kleinsten ... offenbart 21 Größten,] ß: größten; C: größten, 21—28 und nicht ... erfreuliche] B: nicht eine Wahrnehmung des Universum ist dies, die sich aus allem entwikelt und das Gemüth ergreift wie sie ohnerachtet ... aufgegangen war, und sich in ihnen nicht nur zu dem ersten reinen und sprechenden Bilde der Welt in der Anschauung entwikkelt hatte, sondern auch in ihrem Herzen zu einer noch uns liebenswürdigen und erfreulichen 2 2 f Allem ... ergreift; ... Weltgeist,] C: allem ... ergreift, ... Weltgeist 5 wieviel mehr] D: wie vielmehr

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weiß welchen kräftigen und erhabenen Gang die Religion schon von Anfang an würde genommen haben. Sondern, wie jezt dieses wirklich geschehen ist, daß durch die allmählig wirkende Gemeinschaft zwischen Erkenntniß und Gefühl Alle, welche gebildet heißen wollen, dieses schon im unmittelbaren Gefühl haben, und in ihrem Dasein selbst nichts finden, als ein Werk dieses Geistes und eine Darstellung und Ausführung dieser Geseze, und Kraft dieses Gefühls Alles, was in ihr Leben eingreift, ihnen auch wirklich Welt geworden ist, gebildet, von der Gottheit durchdrungen, und Eins: so sollte nur billig auch wohl in ihnen Allen | eben B12S jene Liebe und Freude sein, eben jene innige Andacht zur Natur, durch welche uns die Kunst und das Leben des Alterthums heilig wird, und aus der | sich dort zuerst jene Weisheit entwikkelte, die wir, zurükgekehrt C122 zu ihr, endlich anfangen, durch späte Früchte zu preisen und zu verherrlichen. Und das wäre freilich der Kern aller religiösen Gefühle von dieser Seite, ein solches ganz sich Eines fühlen mit der Natur, und ganz eingewurzelt sein in sie, daß wir in allen wechselnden Erscheinungen des Lebens, ja in dem Wechsel zwischen Leben und Tod selbst, der auch uns trifft, mit Beifall und Ruhe nur die Ausführung jener ewigen Geseze erwarten. Allein das Ganze, wodurch erst jenes Gefühl in uns erregt werden könnte, die Liebe und das Widerstreben, die Eigenthümlichkeit und Einheit in der Natur, durch welche sie uns erst jenes Ganze wird; ist es denn wohl so leicht, eben diese ursprünglich in ihr zu finden? Sondern, das ist es eben, und daher giebt es so wenig wahrhaft religiösen Genuß der Natur, weil unser Sinn ganz auf die andere Seite hinüberneigt, und wir dies unmittelbar vornehmlich im Inneren des Gemüthes wahrnehmen, und dann erst von da auf die körperliche Natur deuten und übertragen. SW 228; 85 Darum ist auch das Gemüth für uns wie der Siz, so auch die nächste

2—10 Sondern ... Freude sein] B: Sondern jezt ist dieses wirklich geschehen, daß ... Geseze, und Kraft dieses Gefühls ist Alles was in ihr Leben eingreift ihnen auch wirklich Welt, gebildet, von der Gottheit durchdrungen, und Eins. So daß auch wohl in Allen eben jene Liebe und Freude sein sollte 2 Sondern,] C: Sondern 3 f allmählig ... Alle, ... wollen,] B + C: allmälig ... alle ... wollen 7 Alles ... eingreift,] C: alles ... eingreift 9 wohl] C: wol 12f entwikkelte, ... und zu] B: entwikkelte die wir zurükkehrend durch späte Früchte preisen und 12f wir, ... ihr, ... anfangen,] C: wir ... ihr ... anfangen 18 trifft] B + C: trift 2 0 f das ... könnte] B: was dieses Gefühl in uns erregen müßte 22f wird; ... finden] B: finden wir diese wol so leicht ursprünglich in ihr 23 wohl so leicht, ... finden?] C: wol so leicht ... finden. 23 Sondern,] B + C: Sondern 26 vornehmlich] B: vornemlich 28 Siz,] B + C: Siz 1 weiß] D: weiß, 9 nur] so D V von C; OD von C: uns 13 zu preisen und zu] so DV von C (mit falscher Seitenangabe); OD von C: preisen und

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Über die Religion

Β 126 Welt der R e l i g i o n 1 3 ; im innern Leben bildet sich das Universum | ab, und nur durch die geistige N a t u r , das Innere, wird erst die körperliche verständlich. A b e r auch das G e m ü t h m u ß , w e n n es Religion erzeugen und nähren soll, als Welt und in einer Welt a u f uns wirken. L a ß t mich E u c h ein G e h e i m n i ß aufdekken, welches in einer der ältesten Urkunden C 123 der D i c h t k u n s t und der Religion fast verborgen | liegt. So lange der erste M e n s c h allein w a r mit sich und der Natur, waltete freilich die G o t t h e i t über ihm, sie sprach ihn an a u f verschiedene A r t , aber er verstand sie nicht, denn er antwortete ihr nicht; sein Paradies w a r schön, und von e i n e m schönen H i m m e l glänzten ihm die G e s t i r n e h e r a b , aber der Sinn für die Welt ging ihm nicht auf; auch aus dem Innern seiner Seele entwikkelte er sich nicht, sondern nur von der Sehnsucht nach einer Welt wurde sein G e m ü t h bewegt, und so trieb er vor sich zusammen die thierische S c h ö p f u n g , o b e t w a sich eine daraus bilden m ö c h t e . D a e r k a n n t e die G o t t h e i t , d a ß ihre Welt nichts sei, so lange der M e n s c h allein wäre, sie s c h u f ihm die Gehülfin, und nun erst regten sich in ihm lebende und geistvolle T ö n e , nun erst gestaltete sich vor seinen Augen die Welt. In d e m Fleische von seinem Fleische, und Bein von seinem Beine entdekte er die M e n s c h h e i t , ahnend alle Richtungen und Gestalten der Liebe Β 127 schon in dieser u r s p r ü n g l i c h e n , und in der M e n s c h h e i t fand er die Welt; von diesem Augenblik an wurde er fähig, die S t i m m e der G o t t h e i t zu h ö r e n und ihr zu antworten, und die frevelhafteste Uebertretung ihrer Geseze schloß ihn von nun an nicht mehr aus von dem U m g a n g e mit d e m ewigen W e s e n 1 4 . Unser Aller G e s c h i c h t e ist erzählt in dieser heiligen Sage. U m s o n s t ist Alles für denjenigen da, der sich selbst allein stellt; denn u m des Weltgeistes Leben in sich aufzunehmen und um Religion zu C 124 h a b e n , m u ß der | M e n s c h erst die M e n s c h h e i t gefunden h a b e n , und er sw 229 findet sie nur in Liebe und durch Liebe. D a r u m sind beide so innig und 86 u n z e r t r e n n l i c h verknüpft; Sehnsucht nach Liebe, i m m e r erfüllte und i m m e r wieder sich erneuernde, wird ihm zugleich Religion. D e n umfängt J e d e r a m heißesten, in dem die Welt sich a m klarsten und reinsten ihm abspiegelt; den liebt J e d e r a m zärtlichsten, in d e m er Alles zusammengedrängt zu finden glaubt, was ihm selbst fehlt, u m die M e n s c h h e i t auszum a c h e n , so wie auch die f r o m m e n Gefühle J e d e m die heiligsten sind,

12 nicht,] B + C: nicht; 12 sondern nur] Β: aber 21 Augenblik ... fähig,] B: Augenblikk ... fähig 2 4 f Aller ... Alles] B + C: aller ... alles 26 des ... aufzunehmen] B: die Welt anzuschauen 26 f zu haben,] C: zu haben 30 erneuernde,] B: erneuernde 31 f Jeder ... Jeder ... Alles] B + C: jeder ... jeder ... alles 33 fehlt,] B + C: fehlt 5 - 2 4 Vgl. Gen 2f

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welche das Sein im Ganzen der Menschheit, sei es als Seligkeit oder als Bedürfniß, ihm ausdrükken. Um also die herrschenden Elemente der Religion zu finden, laßt uns in dieses Gebiet hineintreten, wo auch Ihr in Eurer eigentlichsten und | liebsten Heimath seid, wo Euer innerstes Leben Euch aufgeht, wo Ihr das Ziel alles Eures Strebens und T h u n s vor Augen sehet, und zugleich das innere Treiben Eurer Kräfte fühlet, welches Euch immerfort auf dieses Ziel zuführt. Die Menschheit selbst ist Euch eigentlich das Universum, und Ihr rechnet alles Andere nur in so fern zu diesem, als es mit jener in Beziehung k o m m t oder sie umgiebt. Ueber diesen Gesichtspunkt will auch ich Euch nicht hinausführen; aber es hat mich oft innig geschmerzt, daß Ihr bei allem Interesse an der Menschheit und allem Eifer für sie, doch immer mit ihr verwikkelt und uneins seid, und die reine Liebe nicht recht heraustreten kann | in Euch. Ihr quält Euch, an ihr zu bessern und zu bilden, jeder nach seiner Weise, und am Ende laßt Ihr unmuthsvoll liegen, was zu keinem Ziele k o m m e n will. Ich darf sagen, auch das k o m m t von Eurem Mangel an Religion. Auf die Menschheit wollt Ihr wirken und die Menschen, die Einzelnen wählt Ihr Euch zur Betrachtung. Diese mißfallen Euch höchlich; und unter den tausend UrSachen, die das haben kann, ist unstreitig die schönste und welche den Besseren angehört, die, daß Ihr gar zu moralisch seid nach Eurer Art. Ihr nehmt die Menschen einzeln, und so habt Ihr auch ein Ideal von | einem Einzelnen, dem aber Niemand entspricht. Dies Alles zusammen ist ein verkehrtes Beginnen, und mit der Religion werdet Ihr Euch weit besser befinden. M ö c h t e t Ihr nur versuchen, die G e g e n s t ä n d e Eures Wirkens und Eurer Betrachtung zu wechseln! Wirkt auf die Einzelnen; aber mit Eurer Betrachtung hebt Euch auf den Flügeln der Religion höher zu der unendlichen ungetheilten Menschheit; nur sie suchet in jedem Einzelnen; seht das Dasein eines Jeden an als eine Offenbarung von ihr an Euch, und es kann von Allem, was Euch jezt drükt, keine Spur zurükbleiben. Ich wenigstens rühme mich auch einer sittlichen Gesinnung, auch ich verstehe menschliche Vortrefflichkeit zu schäzen, und es kann das Gemeine, für sich betrachtet, mich mit dem unangenehmen Gefühl

7 f auf dieses Ziel zuführt] B: nach diesem Ziele hinführt 9 Andere] B + C: andere 13 sie,] B + C: sie 16 liegen,] B: liegen 18 wirken ... Menschen,] B + C: wirken, ... Menschen 19 f Ursachen,] B: Ursachen 23 aber Niemand entspricht] B: sie aber nicht entsprechen 23 Niemand] C: niemand 23 Alles] B + C: alles 25 versuchen,] β + C: versuchen 28 nur] fehlt in Β 29 Einzelnen;] β + C: Einzelnen, 30 Allem, ... drükt,] B + C: allem ... drükt 3 2 f Vortrefflichkeit ... Gemeine, ... betrachtet,] B + C: Vortreflichkeit ... Gemeine ... betrachtet 23 entspricht] C: entsprechen

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Über die Religion

C 126 der G e r i n g s c h ä z u n g beinahe überfüllen; aber mir giebt die Religion | von dem Allen eine gar große und herrliche Ansicht. B e t r a c h t e t nur den G e nius der M e n s c h h e i t als den vollendetsten und allseitigsten Künstler. E r k a n n nichts m a c h e n , was nicht ein eigenthümliches D a s e i n hätte. A u c h w o er nur die Farben zu versuchen und den Pinsel zu schärfen scheint, entstehen lebendige und bedeutende Z ü g e . Unzählige Gestalten denkt er sich so und bildet sie. M i l l i o n e n tragen das K o s t ü m der Z e i t und sind Β 130 treue Bilder | ihrer Bedürfnisse und ihres G e s c h m a k s ; in Andern zeigen sich Erinnerungen der Vorwelt oder Ahnungen einer fernen Z u k u n f t . Einige sind der erhabenste und treffendste Abdruk des Schönsten und G ö t t l i c h s t e n ; andre sind wie groteske Erzeugnisse der originellesten und flüchtigsten L a u n e eines Meisters. E s ist wol eher eine u n f r o m m e Ansicht, wie m a n es allgemein versteht, und nicht genug verstanden die heiligen W o r t e , w o r a u f man sie gründet, d a ß es G e f ä ß e der Ehre gebe und G e f ä ß e der Unehre. N u r wenn Ihr Einzelnes mit Einzelnem vergleicht, k a n n Euch ein solcher G e g e n s a z erscheinen; aber einzeln m ü ß t Ihr nichts b e t r a c h t e n , erfreut E u c h vielmehr eines jeden an der Stelle, w o es steht. Alles, was zugleich w a h r g e n o m m e n werden kann und gleichsam a u f einem B l a t t e steht, g e h ö r t zu einem großen historischen Bilde, welches einen M o m e n t der G e s a m m t w i r k u n g des Ganzen darsw 231 stellt. W o l l t Ihr dasjenige verachten, was die H a u p t g r u p p e n hebt und C 127 dem G a n z e n L e b e n und Fülle giebt? Sollen nicht die e i n z e l n e n himmli88 sehen G e s t a l t e n dadurch verherrlicht werden, d a ß tausend | andere sich vor ihnen beugen, und d a ß m a n sieht, wie Alles a u f sie hinblikt und sich a u f die bezieht? Es ist in der T h a t e t w a s mehr in dieser Darstellung, als ein schales G l e i c h n i ß . D i e ewige M e n s c h h e i t ist unermüdet geschäftig, aus i h r e m innern geheimnißvollen Sein ans Licht zu treten und sich in

2 Allen] B + C: allen 4 machen,] B + C: machen 6 lebendige] B: lebende 7 so] B + C: so, 7 Kostüm] Β: Costum 7 Zeit] B + C: Zeit, 10 f Schönsten und Göttlichsten] C: schönsten und göttlichsten 11 wie] fehlt in Β 12—17 Es ist ... jeden] B: Das ist eine irreligiöse Ansicht, und nicht genug verstanden worauf man sie gründet, daß er Gefäße der Ehre verfertige und Gefäße der Unehre; einzeln müßt Ihr nichts betrachten, aber erfreut Euch eines Jeden 15f Einzelnes ... vergleicht,] C: einzelnes mit einzelnem vergleicht 17f Stelle, ... Alles,] B + C: Stelle ... Alles 19 zu einem] B: zu Einem 20 der Gesammtwirkung des Ganzen] B: des Universum 20 Gesammtwirkung] C: Gesamtwirkung 21 verachten, ... hebt] B + C: verachten ... hebt, 2 2 f nicht ... Gestalten] B: die einzelnen himmlischen Gestalten nicht 24 sieht, wie Alles] B + C: sieht wie alles 25 Darstellung,] B: Vorstellung C: Darstellung 26 geschäftig,] ß + C: geschäftig 27 aus ... treten] B: sich selbst zu erschaffen, 27 treten] C: treten, 14 f Vgl. Rom 9,21

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der vorübergehenden Erscheinung des endlichen Lebens aufs mannigfaltigste darzustellen. Das ist | die Harmonie des Universum, das ist die Β 131 wunderbare und unvergleichliche Einheit jenes ewigen Kunstwerkes; Ihr aber lästert diese Herrlichkeit mit Euren Forderungen einer jämmerli5 chen Vereinzelung, weil Ihr im ersten Vorhofe der M o r a l , und auch bei ihr noch mit den Elementen beschäftigt, immer für Eure Einzelheit sorgend und bei Einzelnem Euch beruhigend, die hohe Religion verschmähet. Euer Bedürfniß ist deutlich genug angezeigt, möchtet Ihr es nur erkennen und befriedigen! Sucht unter allen den Begebenheiten, in denen 10 sich jene himmlische Ordnung abbildet, wie wol jeder seine Lieblingsstellen hat in der Geschichte, o b Euch nicht eine aufgehen wird, als ein göttliches Zeichen, daß Ihr nämlich darin leichter erkennet, wie lebendig in sich und wie wichtig für das Ganze auch das Geringe sei, damit, was Ihr sonst kalt oder verachtend übersehet, Euch mit Liebe anziehe. Oder, 15 laßt Euch einen alten verworfenen Begriff gefallen, und sucht unter allen

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den heiligen M ä n n e r n , | in denen die Menschheit sich auf eine vorzügli- C128 che Weise offenbart, einen auf, der der Mittler sein könne zwischen Eurer eingeschränkten Denkungsart und den ewigen Gesezen der Welt; und wenn Ihr einen solchen gefunden habt, der auf die Euch verständliche Art durch sein mittheilendes Dasein das Schwache stärkt und das T o d t e belebt, dann durchlauft die ganze Menschheit, und laßt Alles, was Euch bisher unerquiklich schien und dürftig, von dem Widerschein dieses neuen Lichtes erhellt werden. Was wäre wol die einförmige Wiederho- SW 232 lung eines höchsten Ideals, wobei die Menschen doch, Zeit und Umstände abgerechnet, eigentlich einerlei sind, dieselbe Formel nur mit andern Coefficienten verbunden, was wäre sie gegen diese u n e n d l i c h e Ver- 89 schieden|heit menschlicher Erscheinungen? Nehmt welches Element der Β132 Menschheit Ihr wollt, Ihr findet jedes in jedem möglichen Zustande, fast von seiner Reinheit an — denn ganz soll diese nirgends zu finden sein — in jeder Mischung mit jedem andern, bis fast zur innigsten Sättigung mit

2 Universum] B + C: Universums 3 unvergleichliche ... Kunstwerkes] B: große Einheit in seinem ewigen Kunstwerk 6 f immer ... beruhigend,] fehlt in Β 7 Einzelnem Euch beruhigend,] C : einzelnem Euch beruhigend 10 jene] B: diese 1 0 f wie ... Geschichte,] fehlt in Β 11 wird,] B + C: wird 12 Zeichen,] B: Zeichen. 12—14 daß ... Oder,] fehlt in Β 12—14 erkennet, ... damit, ... übersehet, ... Oder,] C: erkennet ... damit ... übersehet ... Oder 15 laßt] B: Laßt 16 Männern,] B + C: Männern 1 6 f auf ... offenbart,] B: unmittelbarer offenbart 18 Gesezen] ß: Grenzen 19 einen solchen] B: ihn 1 9 - 2 1 der auf ... belebt,] fehlt in Β 2 0 Schwache ... Todte] C: schwache ... todte 21 Alles,] B + C: alles 22 unerquiklich ... dürftig,] B: anders schien 2 2 dürftig,] C: dürftig 23 Lichtes ... wol] B: Lichts ... wohl 14 Ihr] C + D: ihr

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Über die

Religion

allen ü b r i g e n — denn a u c h diese ist ein u n e r r e i c h b a r e s E x t r e m — und die M i s c h u n g a u f j e d e m m ö g l i c h e n W e g e bereitet, j e d e Spielart und j e d e seltene C o m b i n a t i o n . U n d w e n n Ihr E u c h n o c h V e r b i n d u n g e n d e n k e n k ö n n t , die I h r nicht sehet, so ist a u c h diese L ü k k e eine n e g a t i v e O f f e n b a rung des U n i v e r s u m , eine A n d e u t u n g , d a ß in d e m g e f o r d e r t e n G r a d e in C129 der g e g e n w ä r t i g e n T e m p e r a t u r der W e l t diese Mi|schung nicht m ö g l i c h ist, und E u r e F a n t a s i e d a r ü b e r ist eine A u s s i c h t ü b e r die g e g e n w ä r t i g e n G r e n z e n der M e n s c h h e i t h i n a u s , eine w a h r e h ö h e r e E i n g e b u n g , sei sie nun ein W i e d e r e r s c h e i n e n e n t f l o h e n e r V e r g a n g e n h e i t o d e r eine unwillk ü r l i c h e u n d u n b e w u ß t e W e i s s a g u n g ü b e r d a s , w a s k ü n f t i g sein wird. A b e r so w i e dies, w a s der g e f o r d e r t e n u n e n d l i c h e n M a n n i g f a l t i g k e i t a b zugehen s c h e i n t , nicht w i r k l i c h ein zu w e n i g ist, so ist a u c h das nicht zu viel, w a s E u c h a u f E u r e m S t a n d p u n k t so e r s c h e i n t . J e n e n s o oft b e k l a g ten U e b e r f l u ß an den gemeinsten F o r m e n der M e n s c h h e i t , die in tausend A b d r ü k k e n i m m e r u n v e r ä n d e r t w i e d e r k e h r e n , e r k e n n t der a u f m e r k s a m e r e f r o m m e Sinn leicht für einen leeren S c h e i n . D e r ewige Verstand befiehlt es, und a u c h der endliche k a n n es e i n s e h e n , d a ß diejenigen G e stalten, an d e n e n das E i n z e l n e a m s c h w e r s t e n zu u n t e r s c h e i d e n ist, a m dichtesten an e i n a n d e r gedrängt stehen m ü s s e n ; a b e r j e d e hat e t w a s E i g e n t h ü m l i c h e s : keiner ist dem a n d e r n g l e i c h , und in d e m L e b e n eines jeden giebt es irgend einen M o m e n t , w i e der S i l b e r b l i k unedlerer M e talle, w o er, sei es durch die innige A n n ä h e r u n g eines h ö h e r n Wesens sw 233 o d e r d u r c h irgend einen elektrischen S c h l a g , g l e i c h s a m aus sich h e r a u s g e h o b e n und a u f den h ö c h s t e n G i p f e l desjenigen gestellt wird, w a s er sein k a n n . F ü r diesen A u g e n b l i k w a r er g e s c h a f f e n , in d i e s e m erreichte er seine B e s t i m m u n g , und n a c h i h m s i n k t die e r s c h ö p f t e L e b e n s k r a f t 90; C130 w i e d e r z u r ü k . E s ist ein b e n e i d e n s w e r t e r G e n u ß , in dürftigen Seelen diesen M o m e n t h e r v o r z u r u f e n , ja a u c h sie darin zu b e t r a c h t e n ; aber w e m dieses nie g e w o r d e n ist, d e m m u ß freilich ihr ganzes D a s e i n überflüßig und v e r ä c h t l i c h scheinen. S o h a t die E x i s t e n z eines jeden einen doppelten Sinn in B e z i e h u n g a u f das G a n z e . H e m m e ich in G e d a n k e n den L a u f jenes rastlosen G e t r i e b e s , w o d u r c h alles M e n s c h l i c h e in e i n a n d e r verschlungen und von e i n a n d e r a b h ä n g i g g e m a c h t w i r d , so ist jedes Individuum Β134 seinem i n n e r n Wesen n a c h ein n o t h w e n d i g e s Ergänzungs|stük zur vollk o m m e n e n A n s c h a u u n g der M e n s c h h e i t . D e r eine zeigt mir, wie jedes abgerissene T h e i l c h e n d e r s e l b e n , w e n n n u r der innere B i l d u n g s t r i e b , der

5 Universum] B + C: Universums 8 höhere] B: göttliche 8 f sei ... oder] fehlt in Β 9 f unwillkührliche ... das,] B + C: unwillkürliche ... das 15 Abdrükken] B: Abdrücken 1 5 f erkennt ... leicht] B: erklärt die Re|[133]ligion 19 an einander] B: aneinander 2 7 f beneidenswerther ... auch] B: eigner Genuß, kleinen Seelen zu diesem Moment zu verhelfen; oder 3 4 £ vollkommenen] ß : vollkommnen; C: vollkomnen 3 6 f Bildungstrieb, ... beseelt,] B + C: Bildungstrieb ... beseelt

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das G a n z e beseelt, ruhig darin fortwirken k a n n , sich gestaltet in zarte und regelmäßige F o r m e n ; der andere, wie aus M a n g e l an belebender und vereinigender W ä r m e die H ä r t e des irdischen Stoffs nicht b e z w u n g e n werden k a n n , o d e r wie in einer zu heftig bewegten A t m o s p h ä r e der innerste Geist in seinem H a n d e l n gestört w i r d , d a ß Alles u n s c h e i n b a r und unkenntlich ans Licht k o m m t ; der eine erscheint als der r o h e und thierische Theil der M e n s c h h e i t nur eben von den ersten u n b e h o l f e n e n R e g u n gen der H u m a n i t ä t bewegt, der andere als der reinste dephlegmirte G e i s t , der von allem Niedrigen und Unwürdigen getrennt nur mit leisem Fuß über der Erde s c h w e b t ; a b e r auch Alle zwischen diesen E n d p u n k t e n bezeichnen in irgend einer H i n s i c h t eine eigne Stufe und bekun|den eine eigene Art und Weise, wie in den abgesonderten kleinen Erscheinungen des einzelnen L e b e n s die verschiedenen E l e m e n t e der menschlichen N a tur sich erweisen. Ist es nun nicht genug, w e n n es unter dieser unzähligen M e n g e d o c h i m m e r Einige wenigstens giebt, die als ausgezeichnete und

C131

höhere R e p r ä s e n t a n t e n der M e n s c h h e i t , der eine den, der andre jenen SW 234 von den melodischen A c c o r d e n anschlagen, die keiner fremden Begleitung und keiner s p ä t e m Auflösung bedürfen, sondern durch ihre innere | H a r m o n i e die ganze Seele in einem T o n e n t z ü k k e n und zufrieden stellen? ß 135 Aber wie auch die Edelsten d o c h nur a u f E i n e Weise die M e n s c h h e i t darstellen, und in einem | ihrer M o m e n t e : so ist auch von jenen Andern 91 jeder doch in irgend einem Sinne dasselbe, jeder eine eigene D a r s t e l l u n g der M e n s c h h e i t , und w o ein einzelnes Bild fehlte in diesem großen G e mälde, m ü ß t e n wir es a u f g e b e n , sie ganz und vollständig a u f z u n e h m e n in unser B e w u ß t s e i n . Wenn nun J e d e r so wesentlich z u s a m m e n h ä n g t mit d e m , was der innere Kern unseres Lebens ist, wie k ö n n e n wir anders als diesen Z u s a m m e n h a n g fühlen, und mit inniger L i e b e und Z u n e i g u n g Alle, selbst o h n e Unterschied der Gesinnung und der G e i s t e s k r a f t , u m fassen, und das ist der eine S i n n , den jeder Einzelne h a t in Bezug a u f das G a n z e . B e o b a c h t e ich hingegen die ewigen R ä d e r der M e n s c h h e i t in ihrem G a n g e , so m u ß a u f der andern Seite dieses unübersehliche Ineinandergreifen, w o nichts Bewegliches ganz durch sich selbst bewegt wird, und nichts | Bewegendes nur sich allein bewegt, mich m ä c h t i g beruhigen C 132

3 irdischen Stoffs] B: Menschenstoffs 5 f wird, ... kommt] B: und alles unscheinbar und unkenntlich wird 5 Alles] C: alles 10—14 schwebt; ... nun] B: schwebt, und Alle sind da, um durch ihr Dasein zu zeigen, wie diese verschiedenen Theile der menschlichen Natur abgesondert und im Kleinen wirken. Ist es 11 eigne] C: eigene 19 zufrieden stellen] B: zufriedenstellen 2 2 doch ... dasselbe] B: dasselbe in irgend einem Sinne 2 4 aufgeben,] B + C: aufgeben 25 Bewußtsein] B: Gefühl 2 6 dem,] B + C: dem 28 Alle, ... Geisteskraft,] B + C: Alle ... Geisteskraft 28 selbst ohne Unterschied] B: ohne Unterschied selbst 28 f umfassen,] B: umfassen. 2 9 f und das ... Ganze.] fehlt in Β 30 hingegen] B: wiederum 31 auf der andern Seite] fehlt in Β

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Β 136

SW 235

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Über die Religion

ü b e r E u r e K l a g e , d a ß Vernunft und Seele, Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Verstand und blinde Kraft in so getrennten M a s s e n erscheinen. W a r u m seht Ihr Alles einzeln, was d o c h nicht einzeln und für sich wirkt? D i e Vernunft der Einen und das G e m ü t h der Andern afficiren einander doch so innig, als es nur in einem | und demselben S u b j e c t geschehen könnte. 5 D i e Sittlichkeit, welche zu jener Sinnlichkeit g e h ö r t , ist a u ß e r derselben gesezt; ist die H e r r s c h a f t jener deswegen m e h r b e s c h r ä n k t , und glaubt Ihr, diese w ü r d e besser regiert werden, wenn jene, o h n e sich irgendwo besonders anzuhäufen, jedem Individuo in kleinen, k a u m merkbaren P o r t i o n e n zugetheilt wäre? D i e blinde K r a f t , welche dem g r o ß e n H a u f e n 10 zugetheilt ist, ist doch in ihren W i r k u n g e n a u f das G a n z e nicht sich selbst und einem rohen O h n g e f ä h r überlassen, sondern oft ohne es zu wissen, leitet sie d o c h jener Verstand, den Ihr an andern Punkten in so g r o ß e r M a s s e aufgehäuft findet, und eben so u n b e w u ß t folgt sie ihm in unsichtbaren B a n d e n . So verwischen sich mir a u f meinem Standpunkt 15 die E u c h so b e s t i m m t erscheinenden Umrisse der Persönlichkeit; der m a gische Kreis herrschender M e i n u n g e n und epidemischer G e f ü h l e umgiebt und um|spielt Alles, wie eine mit auflösenden und magnetischen Kräften angefüllte A t m o s p h ä r e ; sie verschmilzt und vereinigt Alles, | und sezt

durch die lebendigste Verbreitung auch das Entfernteste in eine thätige B e r ü h r u n g , und die Ausflüsse derer, in denen L i c h t und W a h r h e i t selbstständig w o h n e n , trägt sie geschäftig umher, d a ß sie Einige durchdringen, und Andern wenigstens die O b e r f l ä c h e glänzend und täuschend erleuchB 137 ten. In diesem Z u s a m m e n h a n g alles Einzelnen mit der | Sphäre, der es

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a n g e h ö r t und in der es Bedeutung hat, ist Alles gut und göttlich, und eine Fülle von Freude und R u h e das G e f ü h l dessen, der nur in dieser g r o ß e n Verbindung Alles auf sich wirken läßt. A b e r auch das Gefühl wie die B e t r a c h t u n g isolirt das Einzelne in einzelnen M o m e n t e n ; und wenn w i r so a u f eine ganz entgegengesezte Art bewegt werden von dem gew ö h n l i c h e n Treiben der M e n s c h e n , die von dieser Abhängigkeit nichts wissen, wie sie dies und das ergreifen und festhalten, u m ihr Ich zu

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4 das Gemüth] B: die Seele 5 einem] B + C: Einem 5 und demselben] fehlt in Β 7 die Herrschaft jener] Β: ihre Herrschaft 8 jene,] Β + C: jene 8 f ohne ... anzuhäufen,] fehlt in Β 9 anzuhäufen,] C: anzuhäufen 9 kleinen,] B + C: kleinen 11 auf das] B: aufs 13 wissen,] B + C: wissen 14f eben so ... sich] B: sie folgt ihm eben so unwissend in unsichtbaren Banden. So verschwinden 18f Alles ... Alles] B + C: alles ... alles 21 f selbstständig] C: selbständig 2 2 f Einige ... Andern] B + C: einige ... andern 23 wenigstens] fehlt in Β 2 4 f Einzelnen ... Sphäre, ... hat, ist Alles] B + C: einzelnen ... Sphäre ... hat ist alles 27 Alles] B + C: alles 29 auf eine ... Art] B: im Gegentheil 10 wäre] B: wären

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verschanzen und mit mancherlei Außenwerken zu umgeben, damit sie ihr abgesondertes Dasein nach eigner Willkühr leiten mögen, ohne daß der ewige Strom der Welt ihnen etwas daran zerrütte, und wie dann nothwendiger Weise das Schicksal dies Alles verschwemmt und sie selbst auf tausend Arten verwundet und quält: was ist dann natürlicher als das herzlichste Mitleid mit allen schmerzlichen Leiden, welches aus diesem ungleichen Streit entsteht, und mit allen Streichen, welche die furchtbare Nemesis auf allen Seiten austheilt? Von diesen Wanderungen durch das ganze | Gebiet der Menschheit kehrt dann das fromme Gefühl geschärfter und gebildeter in das eigne Ich zurük, und findet zulezt Alles, was sonst aus den entlegensten Gegenden zusammenströmend es | erregte, bei sich selbst. Denn freilich, wenn wir zuerst und noch neugeweiht von der Berührung mit der Welt zurükkehrend Acht haben, wie wir denn uns selbst finden in diesem Gefühl, und dann inne werden, wie unser Ich gegen den ganzen Umfang der Menschheit nicht nur ins Kleine und Unbedeutende, sondern auch in das Einseitige, in sich selbst Unzulängliche und | Nichtige verschwindet, was kann dann dem Sterblichen näher liegen als wahre ungekünstelte Demuth? Und wenn allmählig erst lebendig und wach wird in unserm Gefühl, was eigentlich dasjenige ist, was im Gange der Menschheit überall aufrecht erhalten und gefördert wird, und was im Gegentheil das, was unvermeidlich früher oder später besiegt und zerstört werden muß, wenn es sich nicht umgestalten und verwandeln läßt; und wir von diesem Gesez auf unser eignes Handeln in der Welt hinsehen: was kann alsdann natürlicher sein, als zerknirschende Reue über alles dasjenige in uns, was dem Wesen der Menschheit feind ist, als der demüthige Wunsch, die Gottheit zu versöhnen, als das sehnlichste Verlangen, umzukehren und uns mit Allem, was uns angehört, in jenes heilige Gebiet zu retten, wo allein Sicherheit ist gegen Tod und Zerstörung. Und wenn wir wieder fortschreitend | wahrnehmen, wie uns das Ganze nur hell wird, und wir

2 Willkühr] B + C: Willkür 2 ohne daß] B: und 4 Schicksal ... verschwemmt] B + C: Schiksal dies alles verschwemmt, 6 allen schmerzlichen] B: allem Schmerz und 8 austheilt?] B + C: austheilt. 11 Alles] B + C: alles 12 freilich,] B + C: freilich 1 4 f finden ... inne werden,] B: fühlen ... finden 15 werden,] C: werden 19 allmählig] B + C: allmälig 20 eigentlich] B: denn 20 ist,] B + C: ist 21 was ... das,] B: das 23 läßt; und wir] B: läßt, und wir dann 2 4 f hinsehen: ... sein,] B: hinsehen, was ist natürlicher 25 uns,] C: uns 26 Wesen] B: Genius 2 6 f Wunsch, ... Verlangen, umzukehren] B + C: Wunsch ... Verlangen umzukehren, 28 Allem, ... angehört,] B + C: allem ... angehört 30 wahrnehmen, ... wird,] B: wahrnehmen ... wird 6 diesem] so DV von B; OD von B: diesen 18 f Demuth?] B: Demuth DV von C: einsehn 1. hinsehn ; OD von C: einsehen

24 hinsehen]

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Über die Religion

Β 139 zur A n s c h a u u n g desselben | und zum Einssein mit ihm nur gelangen in der G e m e i n s c h a f t mit A n d e r n , und durch den Einfluß Solcher, welche v o n der Anhänglichkeit an das eigene vergängliche Sein und dem Streb e n , es zu erweitern und zu isoliren, längst befreit, sich freuen, ihr höheres L e b e n auch Andern mitzutheilen: wie k ö n n e n wir uns da erwehren jenes Gefühls einer besondern V e r w a n d t s c h a f t mit denen, deren H a n d lungen unsre E x i s t e n z verfochten und durch die G e f a h r e n , die ihr droht e n , sie glüklich hindurch geführt haben? jenes Gefühls der D a n k b a r k e i t , welches uns a n t r e i b t , sie zu ehren als solche, die sich mit dem Ganzen s c h o n früher geeinigt haben, und sich ihres L e b e n s in demselben nun SW 237 a u c h durch uns b e w u ß t sind? — N u r durch diese und dergleichen Gefühle hindurchgehend — denn nur beispielsweise sei dies Wenige angeführt — findet Ihr endlich in Euch selbst nicht nur die G r u n d z ü g e zu dem Schönsten und Niedrigsten, zu dem Edelsten und Verächtlichsten, was Ihr als einzelne Seiten der M e n s c h h e i t an Andern w a h r g e n o m m e n h a b t ; entdekt Ihr in E u c h nicht nur zu verschiedenen Z e i t e n alle die mannigfaltigen 94 G r a d e m e n s c h l i c h e r Kräfte: | sondern alle die unzähligen M i s c h u n g e n verschiedener Anlagen, die Ihr in den C h a r a k t e r e n Anderer angeschaut h a b t , erscheinen E u c h , wenn Ihr Euer Selbstgefühl ganz in Mitgefühl C136 e i n t a u c h t , nur als festgehaltene M o m e n t e | E u r e s eigenen Lebens. Es g a b Β140 A u g e n b l i k k e , w o Ihr so d a c h t e t , so fühltet, so handeltet, w o Ihr | wirklich dieser und jener M e n s c h w ä r e t , troz aller Unterschiede des Geschlechts, der Bildung und der äußeren U m g e b u n g e n . Ihr seid alle diese verschiedenen Gestalten in Eurer eigenen O r d n u n g wirklich hindurchgeg a n g e n ; Ihr selbst seid ein C o m p e n d i u m der M e n s c h h e i t , E u e r einzelnes D a s e i n u m f a ß t in einem gewissen Sinn die ganze menschliche Natur, und diese ist in allen ihren Darstellungen nichts als E u e r eigenes vervielfältigtes, deutlicher ausgezeichnetes, und in allen seinen auch kleinsten und vorübergehendsten Veränderungen gleichsam verewigtes Ich. Alsdann erst k ö n n t Ihr auch Euch selbst mit der reinsten tadellosesten Liebe lieb e n , k ö n n t der D e m u t h , die E u c h nie verläßt, das Gefühl gegenüberstellen, d a ß a u c h in E u c h das G a n z e der M e n s c h h e i t lebt und wirkt, und k ö n n t selbst die R e u e von aller Bitterkeit aussüßen zu freudiger Selbstge-

3 f Streben, ... isoliren,] B+C: Streben ... isoliren 4 freuen,] B: freuen 7 f die Gefahren ... sie] B: ihre Gefahren 7 f Gefahren, ... glüklich] C: Gefahren die ihr drohten sie glücklich 9 antreibt,] B + C: antreibt 11 und dergleichen] fehlt in Β 12 — denn ... angeführt — ] fehlt in Β 12 beispielsweise ... Wenige] C: Beispielsweise ... wenige 17 sondern] ß.· Sondern 19 Euch,] ß: Euch 19f wenn ... eintaucht,] fehlt in Β 21 Augenblikke,] B + C: Augenblikke 24 eigenen] B + C: eignen 2 8 f auch ... vorübergehendsten] fehlt in Β 29 gleichsam] fehlt in Β 29—33 Alsdann ... könnt selbst] ß: Mit der reinsten tadellosesten Liebe könnt Ihr dann auch Euch selbst lieben, der Demuth die Euch nie verläßt, das Gefühl auch ein Mittelpunkt des Universums zu sein, gegenüberstellen, und 31 Demuth,] C: Demuth

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nügsamkeit. Bei w e m sich die Religion so w i e d e r u m n a c h Innen zurükgearbeitet und a u c h dort das Unendliche gefunden hat, in d e m ist sie von dieser Seite vollendet, er b e d a r f keines M i t t l e r s m e h r für irgend eine Anschauung der M e n s c h h e i t , vielmehr wird er es selbst sein für viele. Aber nicht nur in der G e g e n w a r t s c h w e b t so das G e f ü h l in seinen Aeußerungen zwischen der Welt und dem Einzelnen, d e m es e i n w o h n t , bald dem bald jener sich n ä h e r anneigend; sondern | wie Alles, was uns bewegt, ein Werdendes ist, und | auch wir selbst nicht anders als so bewegt werden und auffassen: so werden wir a u c h als F ü h l e n d e i m m e r in die Vergangenheit zurükgetrieben; und m a n k a n n sagen, wie überhaupt unsere F r ö m m i g k e i t sich mehr an der Seite des Geistes n ä h r t , so ist unmittelbar und zunächst die G e s c h i c h t e im eigentlichsten Sinn die reichste Q u e l l e für die R e l i g i o n , nur nicht e t w a um das Fortschreiten der M e n s c h h e i t in ihrer E n t w i k k e l u n g zu | beschleunigen und zu regieren, sondern nur u m sie als die allgemeinste und g r ö ß t e O f f e n b a r u n g des Innersten und Heiligsten zu b e o b a c h t e n . In diesem Sinne aber gewiß hebt Religion mit G e s c h i c h t e an, und endigt mit ihr — denn Weissagung ist in ihrem Sinn auch G e s c h i c h t e , und beides gar nicht von einander zu unterscheiden — ja alle w a h r e G e s c h i c h t e h a t überall zuerst einen religiösen Z w e k gehabt und ist von religiösen Ideen ausgegangen; wie denn auch das Feinste und Z a r t e s t e in ihr nie wissenschaftlich mitgetheilt, sondern nur im Gefühl von einem religiösen G e m ü t h k a n n aufgefaßt werden. Ein solches erkennt die Wanderung der Geister und der Seelen, die sonst nur eine zarte D i c h t u n g scheint, in m e h r als einem Sinn als eine wundervolle Veranstaltung des Universum, u m die verschiedenen Perioden der M e n s c h h e i t n a c h einem sichern M a a ß s t a b e zu vergleichen. Bald kehrt | nach einem langen Z w i s c h e n r a u m , in w e l c h e m die N a t u r nichts Aehnliches hervorbringen k o n n t e , | irgend ein ausgezeichnetes Individuum fast völlig dasselbe wieder zurük; a b e r nur die Seher erkennen es, und nur sie sollen aus den W i r k u n g e n , die es nun h e r v o r b r i n g t , die Zeichen verschiedener Z e i t e n beurtheilen. Bald k o m m t ein einzelner M o -

4 vielmehr wird er] B: und er kann 6 f Einzelnen, ... anneigend; sondern] ß +C.Einzelnen ... anneigend. Sondern 7 f Alles, ... bewegt,] B + C: Alles ... bewegt 12 die Geschichte] B: Geschichte 12 f die reichste Quelle für die] B: der höchste Gegenstand der 15 um sie] fehlt in Β 15f Offenbarung ... Heiligsten] B: Handlung des Universum 16 Innersten und Heiligsten] C: innersten und heiligsten 17 Religion mit Geschichte] B: sie mit ihr 18 ihrem Sinn] B: ihren Augen 19 ja] B: und 20 gehabt] B + C: gehabt, 21 Feinste und Zarteste] B + C: feinste und zarteste 21 mitgetheilt,] fehlt in B; C: mitgetheilt 25 Universum] B + C: Universums 28 Aehnliches] B + C: ähnliches 29 fast] fehlt in Β 30 es, ... Wirkungen,] B: es ... Wirkungen 3 er] so DV von B; OD von B: es

SW 238; C137 Β 141

95

Β142 C 138

104

Über die

Religion

ment der Menschheit ganz so wieder, wie Euch eine ferne Vorzeit sein Bild zurükgelassen hat, und Ihr sollt aus den verschiedenen Ursachen, durch die er jezt erzeugt worden ist, den Gang der Entwiklung und die Formel ihres Gesezes erkennen. Bald erwacht der Genius irgend einer besondern menschlichen Anlage, der hie und da steigend und fallend 5 sw 239 schon seinen Lauf vollendet hatte, wie aus dem Schlummer, und erscheint an einem andern O r t und unter andern Umständen in einem neuen Leben, und sein schnelleres Gedeihen, sein tieferes Wirken, seine schönere, kräftigere Gestalt soll andeuten, um wie vieles das Clima der Menschheit verbessert und der Boden zum Nähren edlerer Gewächse 10 geschikter geworden sei. — Hier erscheinen Euch Völker und Generationen der Sterblichen, alle gleich nothwendig für die Vollständigkeit der Geschichte, aber eben wie Einzelne von dem verschiedensten Werth ne96 ben I einander bestehen müssen, eben so sind sie auch untereinander verschieden an Bedeutsamkeit und Werth. Würdig und geistvoll einige 15 und kräftig wirkend ins Unendliche fort mit ihrer Wirkung jeden Raum durchdringend und jeder Zeit trozend. Gemein und unbedeutend andere, C139 nur bestimmt, eine einzelne Form des Lebens | oder der Vereinigung eigenthümlich zu nüanciren, nur in einem M o m e n t wirklich lebend und merkwürdig, nur um einen Gedanken darzustellen, einen Begriff zu er- 20 zeugen, und dann der Zerstörung entgegen eilend, damit, was ihr frischestes Wachsthum hervorgebracht, einem andern könne eingeimpft werden. Wie die vegetabilische Natur durch den Untergang ganzer Gattungen und aus den Trümmern ganzer Pflanzengenerationen eine neue hervorbringt und ernährt: so seht Ihr hier auch die geistige Natur aus den 25 Ruinen einer herrlichen und schönen Menschenwelt eine neue erzeugen, die aus den zersezten und wunderbar umgestalteten Elementen von jener ihre erste Lebenskraft saugt. — Wenn hier in dem Ergriffensein von einem allgemeinen Zusammenhange Euer Blik so oft unmittelbar vom Kleinsten zum Größten und von diesem wiederum zu jenem herumge- 30 führt wird, und sich in lebendigen Schwingungen zwischen beiden bewegt, bis er schwindelnd weder Großes noch Kleines, weder Ursach

2 Ursachen,] B + C: Ursache^ 3 f der Entwiklung ... ihres] B: des Universums ... seines 6 wie aus dem] B: aus seinerfi 9 schönere,] B + C: schönere 10 edlerer] Β + C: edler 12—15 Sterblichen, ... Werth.] B: Sterblichen eben so verschieden an Bedeutsamkeit und Werth, aber eben so gleich nothwendig für das Ganze der Geschichte, wie zu gleicher Zeit und im Einzelnen das Verschie|[143]denste neben einander bestehen muß. 14 sind sie auch untereinander] C: auch sie unter einander 1 6 f mit ... trozend] B: ohne Ansehn des Raums und der Zeit 18 bestimmt,] B + C: bestimmt 21 f damit, ... hervorgebracht,] B + C: damit ... hervorgebracht 25 ernährt:] B: ernährt, 29 Blik] B: Blick 30 Kleinsten zum Größten] B + C: kleinsten zum größten 32 Großes noch Kleines] B + C: großes noch kleines

Zweite

5

10

15

20

25

30

Rede

105

noch Wirkung, weder Erhaltung noch Zerstörung weiter unterscheiden kann; und bleibt Ihr in diesem Wechsel befangen, dann erscheint Euch jene bekannte Gestalt eines ewigen Schiksals, dessen Züge ganz das Gepräge dieses Zustandes tragen, ein wunderbares Gemisch von starrem Eigensinn und tiefer Weisheit, von roher fühlloser Gewalt und inniger Liebe, wovon Euch bald das Eine bald das Andere wechselnd ergreift, und jezt zu ohnmächtigem Troz, jezt zu kindlicher | Hingebung einladet. Vergleicht Ihr tiefer dringend das abgesonderte, aus diesen entgegengesezten Ansichten entsprungene Streben des Einzelnen mit dem ruhigen und gleichförmigen Gang des Ganzen; so seht Ihr, wie der hohe Weltgeist über Alles lächelnd hinwegschreitet, was sich ihm lärmend widersezt; Ihr seht, wie die hehre Nemesis seinen Schritten | folgend unermüdet die Erde durchzieht, wie sie Züchtigung und Strafen den Uebermüthigen austheilt, welche den Göttern entgegenstreben, und wie sie mit eiserner Hand auch den Wakkersten und Trefflichsten abmäht, der sich, vielleicht mit löblicher und bewunderungswerther Standhaftigkeit, dem sanften Hauch des großen Geistes nicht beugen wollte. Möget Ihr endlich den eigentlichen Charakter aller Veränderungen und aller Fortschritte der Menschheit ergreifen; so zeigt Euch sicherer als Alles Euer in der Geschichte ruhendes Gefühl, wie lebendige Götter walten, welche nichts hassen als den Tod, wie nichts verfolgt und gestürzt werden soll als er, der erste und lezte Feind des Geistes. Das Rohe, das Barbarische, das Unförmliche soll verschlungen und in organische Bildung umgestaltet werden. Nichts soll todte Masse sein, die nur durch den äußeren Stoß bewegt wird, und nur durch bewußtlose Reibung widersteht: Alles soll eigenes zusammengeseztes, vielfach verschlungenes und erhöhtes Leben sein. Blinder Instinkt, gedankenlose Gewöhnung, todter Gehorsam, alles Träge und Leidentliche, alle diese trau|rigen Symptome des Todesschlummers der Freiheit und Menschheit sollen vernichtet werden. Dahin deutet das Geschäft des Augenbliks und der Jahrhunderte, das ist das große, immer fortgehende Erlösungswerk der ewigen Liebe.

2 kann;] B: kann: 2 und ... befangen,] fehlt in Β 3 jene bekannte] B: die 6 Andere] B + C: Andre 8 f tiefer ... Einzelnen] B: dann das abgesonderte Streben des Einzelnen, aus diesen entgegengesezten Ansichten entsprungen, 8 f abgesonderte, ... Einzelnen] C: abgesonderte ... Einzelnen, 10 Ganzen;] Β: Ganzen, 10—12 Ihr, ... Alles ... seht,] B + C: Ihr ... alles ... seht 15 Wakkersten und Trefflichsten] B: Wakkersten und Treflichste C: wakkersten und treflichsten 17 Möget] B: Wollt 19 ergreifen;] B: ergreifen, 20 lebendige ... welche] B: die |[145] lebendigen Götter 22 des Geistes] ß: der Menschheit 24f äußeren ... Reibung] B: todten ... Friction 25 Alles] B + C: alles 28 Träge und Leidentliche] C: träge und leidentliche 28 Leidentliche] B: Passive 28 f des Todesschlummers] B: der Asphyxie

Β 144

sw 240

C 140

97

C141

106

Über die

Religion

N u r mit leichten Umrissen z w a r h a b e ich hier einige der hervorsteSW 241 chenden Regungen der Religion aus dem G e b i e t der N a t u r und der M e n s c h h e i t e n t w o r f e n , aber d o c h h a b e ich E u c h zugleich bis an die lezte G r e n z e Eueres Gesichtskreises geführt. H i e r ist das E n d e und der Gipfel der Religion für Alle, denen M e n s c h h e i t und Weltall gleichviel gilt; von 5 hier k ö n n t e ich E u c h nur wieder zurükführen ins Einzelne und Kleinere. Β 146 N u r b e d e n k t , d a ß es in E u r e m G e f ü h l etwas giebt, welches diese | Grenze v e r s c h m ä h t , v e r m ö g e dessen es eigentlich hier nicht stehen bleiben k a n n , sondern erst auf der andern Seite dieses Punktes recht ins Unendliche hinausschaut. Ich will nicht von den Ahnungen reden, die sich in G e d a n - 10 ken ausprägen und sich klügelnd begründen lassen, d a ß n ä m l i c h , wenn 98 die I M e n s c h h e i t selbst ein Bewegliches und B i l d s a m e s ist, wenn sie sich nicht nur im Einzelnen anders darstellt, sondern auch hie und da anders w i r d , sie dann unmöglich das Einzige und H ö c h s t e sein k a n n , was die Einheit des Geistes und der M a t e r i e darstellt. V i e l m e h r k ö n n e sie, eben 15 wie die einzelnen M e n s c h e n sich zu ihr verhalten, nur eine einzelne Form dieser Einheit darstellen, neben der es n o c h a n d r e ähnliche geben | C 142 müsse, durch welche sie zum wenigsten d o c h innerlich umgrenzt, und denen sie also entgegengesezt wird. A b e r in unserm G e f ü h l , und d a r a u f will ich nur hinweisen, finden wir alle dergleichen. D e n n unserm Leben 20 ist auch eingeboren und aufgeprägt der Erde, und also auch der höchsten Einheit, welche sie erzeugt hat, Abhängigkeit von andern Welten. D a h e r diese i m m e r rege a b e r selten verstandene A h n u n g von einem andern auch Erscheinenden und Endlichen, a b e r außer und über der M e n s c h h e i t , von einer höheren und innigeren, s c h ö n e r e Gestalten erzeugenden Vermäh- 25 Β 147 lung des Geistes mit der Mate|rie. Allein freilich w ä r e hier jeder U m r i ß , den einer k ö n n t e zeichnen w o l l e n , schon zu b e s t i m m t ; jeder Widerschein des Gefühls k a n n nur flüchtig sein und lose, und d a h e r dem M i ß v e r s t a n d ausgesezt und so häufig für T h o r h e i t und A b e r g l a u b e n gehalten. Auch sei es genug an dieser Andeutung auf dasjenige, w a s Euch so unendlich 30 fern liegt; jedes weitere W o r t darüber w ä r e eine unverständliche Rede,

1 zwar habe ich hier] B : habe ich 2 Regungen der Religion aus] B : Anschauungen der Religion auf 3 entworfen, ... zugleich] B : entworfen; aber hier habe ich Euch doch 5 Alle] B + C: alle 5 Weltall] B : Universum 7 bedenkt,] B + C: bedenkt 11 nämlich,] B + C: nemlich 12 Bewegliches und Bildsames] B + C: bewegliches und bildsames 14 kann,] B + C: kann 1 5 f sie, eben ... verhalten,] B: sie eben, ... verhalten 17 ähnliche] B: solche 18 zum ... innerlich] fehlt in Β 2 2 Einheit,] ß : Einheit 25 innigeren] B: einigeren 2 6 wäre] B: ist 2 6 Umriß,] B + C: Umriß 27 den ... wollen,] fehlt in Β 27 wollen,] C: wollen 27 bestimmt;] B : bestimmt, 2 9 f ausgesezt, ... dasjenige,] ß : ausgesezt ... dasjenige 31 Rede,] B : Rede 2 6 Mate|rie] B : Mate|terie

Zweite

Rede

107

von der Ihr nicht wissen würdet, woher sie k ä m e noch wohin sie ginge, Hättet Ihr nur erst die Religion, die Ihr haben könnt, und wäret Ihr Euch nur erst derjenigen bewußt, die Ihr wirklich schon habt! denn in der T h a t , wenn Ihr auch nur die wenigen religiösen Wahrnehmungen 5 und Gefühle betrachtet, die ich mit geringen Zügen jezt entworfen habe, so werdet Ihr finden, daß sie Euch bei weitem nicht alle fremd sind. Es ist wol eher etwas dergleichen in | Euer Gemüth gekommen, aber ich weiß nicht, welches das größere Unglük ist, ihrer ganz zu entbehren, oder sie nicht zu verstehen; denn auch so verfehlen sie ganz ihre Wirkung 10 und hintergangen seid Ihr dabei auch von Euch selbst. | Zweierlei möchte ich Euch besonders zum Vorwurf machen in Absicht auf das Dargestellte, und was ihm sonst noch ähnlich ist. Ihr sucht Einiges aus und stempelt es als Religion ausschließlich, und Anderes wollt Ihr als un-| mittelbar zum sittlichen Handeln gehörig der Religion entziehen; beides 15 wahrscheinlich aus gleichem Grunde. Die Vergeltung, welche Alles trifft, was dem Geist des Ganzen widerstreben will, der überall thätige H a ß gegen alles Uebermüthige und Freche, das beständige Fortschreiten aller menschlichen Dinge zu einem Ziel, ein Fortschreiten, welches so sicher ist, daß wir sogar jeden einzelnen Gedanken und Entwurf, der das G a n z e 20 diesem Ziele näher bringt, nach vielen gescheiterten Versuchen dennoch endlich einmal gelingen sehen, des Gefühls, welches darauf hindeutet, seid Ihr Euch bewußt und möchtet es gern gereiniget von allen M i ß b r ä u chen erhalten und verbreiten; aber dies, wollt Ihr denn, soll ausschließend Religion sein; und dadurch wollt Ihr alles Andre verdrängen, was 25 doch aus derselben Handlungsweise des Gemüths und völlig auf dieselbe Art entspringt. Wie seid Ihr doch zu diesen abgerissenen Bruchstükken gekommen? Ich will es Euch sagen: Ihr haltet dies gar nicht für | Religion, sondern für einen Widerschein des sittlichen Handelns und wollt nur den Namen unterschieben, um der Religion selbst, dem nämlich, 30 was wir jezt gemeinschaftlich dafür halten, den lezten Stoß zu geben. Denn dieses von uns für Religion erkannte entsteht uns gar nicht ausschließend auf dem Gebiete der Sittlichkeit in dem engeren | Sinne worin

1 würdet,] B + C: würdet 6 finden,] B: finden 8 nicht,] B: nicht 12 Einiges] B + C: einiges 14 entziehen] B + C: entziehn 15 Vergeltung, ... trifft,] Β + C.Vergeltung welche alles trift 18 Fortschreiten,] B: Fortschreiten 21 Gefühls,] B.Gefühls 21 f hindeutet, ... bewußt] B + C: hindeutet ... bewußt, 23 dies, ... denn,] B: dies ... denn 2 4 Andre] B + C: andre 2 9 f selbst, dem nämlich, ... halten,] B: selbst — dem nemlich ... halten 31 — 1 dieses ... nehmt] B: gar nicht ausschließend auf dem Gebiete der Sittlichkeit in dem engeren Sinne worin Ihr es nehmt, findet sich dieses 1 Vgl. Job 3,8

sw 242

C143

99

Β 148

C 144

SW 243 Β 149

108

Über die

Religion

Ihr es nehmt. Das Gefühl weiß nichts von einer solchen beschränkten Vorliebe; und wenn ich Euch damit vorzüglich an das Gebiet des Geistes selbst und an die Geschichte verwiesen: so folgert mir nicht daraus, daß die moralische Welt das Universum der Religion sei; vielmehr was nur für diese in Eurem beschränkten Sinne gilt, daraus würden sich gar we- 5 nig religiöse Regungen entwikkeln. In Allem, was zum menschlichen Thun gehört, im Spiel wie im Ernst, im Kleinsten wie im Größten, weiß 100 der Fromme die Handlungen des Weltgeistes zu entdekken | und wird dadurch erregt; was er hiezu bedarf, muß er überall wahrnehmen können, denn nur dadurch wird es das seinige; und so findet er auch hierin 10 eine göttliche Nemesis, daß eben die, welche, weil in ihnen selbst nur das Sittliche oder vielmehr Rechtliche vorherrscht, auch aus der Religion einen unbedeutenden Anhang der Moral machen und nur das aus ihr nehmen wollen, was sich dazu gestalten läßt, sich eben damit ihre Sittenlehre selbst, so viel auch schon an ihr gereinigt sein mag, unwiederbring- 15 C 245 lieh verderben, und den Keim neuer Irr|thümer hineinstreuen. Es klingt sehr schön, wenn man beim sittlichen Handeln untergehe, sei es der Wille des ewigen Wesens, und was nicht durch uns geschehe, werde ein andermal durch Andere zu Stande kommen; aber auch dieser erhabene Trost gehört nicht für das sittliche Handeln, sonst wäre es von dem 20 Grade abhängig, in welchem Jeder in jedem Augenblik dieses Trostes Β 150 empfänglich ist. Gar nichts darf das Handeln von Gefühl unmittelbar in sich aufnehmen, ohne daß sogleich seine ursprüngliche Kraft und Reinigkeit getrübt werde. Auf die andere Weise treibt Ihr es mit allen jenen Gefühlen der 25 Liebe, der Demuth, der Freude und den andern, die ich Euch geschildert, und bei welchen sonst noch die Welt der eine, und auf irgend eine Art SW 244 Euer eignes Ich der andre von den Punkten ist, zwischen denen das Ge-

2—6 und wenn ... entwikkeln] B: die moralische Welt ist ihr auch nicht das Universum, und was nur für diese gälte wäre ihr keine Anschauung des Universum 6 Allem,] B + C: allem 7 Kleinsten ... Größten] B + C: kleinsten ... größten 8—10 der Fromme ... findet er] B: sie diese Handlungen des Weltgeistes zu entdekken und zu verfolgen; was sie wahrnehmen soll muß sie überall wahrnehmen können, denn nur dadurch wird es das ihrige, und so findet sie 9 bedarf,] C: bedarf 11 welche,] B + C: welche 12 Sittliche ... vorherrscht] B: sittliche oder rechtliche dominirt 12 Sittliche ... Rechtliche] C: sittliche ... rechtliche 13 machen] B + C: machen, 14 wollen,] ß: wollen 1 4 f Sittenlehre selbst] B: Moral 17 schön,] B: schön: 1 7 f untergehe, ... geschehe,] B + C: untergehe ... geschehe 19 durch Andere] fehlt in Β 21 abhängig,] B: abhängig 21 Jeder] B + C: jeder 26 andern,] B + C: andern 26 geschildert,] Β: geschildert 27 die Welt] B: das Universum 2 8 f ist, ... Rechte] B + C: ist ... rechte 15 f unwiederbringlich] B + C: unwiderbringlich

Zweite

Rede

109

müth schwebt. Die Alten wußten wohl das Rechte; Frömmigkeit, Pietät, nannten sie alle diese Gefühle, und rechneten sie unmittelbar zur Religion, deren edelster Theil sie ihnen waren. Auch Ihr kennt sie, aber wenn Euch so etwas begegnet, so wollt Ihr Euch überreden, es sei ein 5 unmittelbarer Bestandtheil Eures sittlichen Handelns, und aus sittlichen Grundsäzen möchtet Ihr diese Empfindungen rechtfertigen und auch in Eurem moralischen System ihnen ihren Plaz anweisen; allein vergeblich; denn wenn Ihr Euch treu bleiben wollt, werden sie dort weder begehrt noch gelitten. Denn das Handeln soll nicht aus Erregungen der Liebe | 10 und Zuneigung unmittelbar hervorgehn, sonst würde es ein unsicheres C 146 und unbesonnenes, und es soll nicht durch | den augenbliklichen Einfluß ιοί eines äußeren Gegenstandes erzeugt sein, wie jene Gefühle es doch offenbar sind. Deshalb erkennt, wenn sie streng ist und rein, Eure Sittenlehre keine Ehrfurcht als die vor ihrem Gesez; sie verdammt als unrein, ja fast 15 als selbstsüchtig Alles, was aus Mitleid und Dankbarkeit geschehen | kann; sie demüthigt, ja verachtet die Demuth, und wenn Ihr von Reue Β 151 sprecht, so redet sie von verlorner Zeit, die Ihr unnüz vermehrt. Auch muß Euer innerstes Gefühl ihr darin beipflichten, daß es mit allen diesen Empfindungen nicht auf unmittelbares Handeln abgesehen ist, sie kom20 men für sich selbst und endigen in sich selbst als freie Verrichtungen Eures innersten und höchsten Lebens 1 5 . Was windet Ihr Euch also und bittet um Gnade für sie, da wo sie nicht hingehören? Lasset es Euch doch gefallen, sie dafür anzusehen, daß sie Religion sind, so braucht Ihr nichts für sie zu fordern als ihr eignes strenges Recht, und werdet Euch 25 selbst nicht betrügen mit ungegründeten Ansprüchen, die Ihr in ihrem Namen zu machen geneigt seid. Ueberall sonst, wo Ihr diesen Gefühlen eine Stelle anweisen wollt, werden sie sich nicht halten können; bringt sie der Religion zurük, ihr allein gehört dieser Schaz, und als Besizerin desselben ist sie der Sittlichkeit und allem Andern, was ein Gegenstand SW 245 30 des menschlichen Thuns ist, nicht Diene|rin, aber unentbehrliche Freun- c 147 din und ihre vollgültige Fürsprecherin und Vermittlerin bei der Mensch-

1 Frömmigkeit, Pietät,] B: Frömmigkeit 2 rechneten ... zur] ß: bezogen sie unmittelbar auf die 4 überreden,] B + C: überreden 5—9 Eures ... gelitten] Β: des sittlichen Handelns, und in der Moral wollt Ihr diesen Empfindungen ihren Plaz anweisen; sie begehrt sie aber nicht und leidet sie nicht 11 es soll] fehlt in Β 12 eines] B: ihres 12 äußeren] B + C: äußern 12—15 sein, ... Alles] B: sein; daher kennt sie keine Ehrfurcht als die vor ihrem Gesez; sie verdammt als unrein und selbstsüchtig 14 f unrein, ... Alles] C: unrein ... alles 17 Zeit,] B + C: Zeit 20 freie Verrichtungen] ß.Functionen 23 gefallen,] B + C: gefallen 23 sie dafür} fehlt in Β 26 sonst,] fehlt in B; C: sonst 27 wollt,] B + C: wollt 29 Andern,] B + C: andern 6 Ihr diese] C + D: ihr diese

Über die Religion

110

heit. Das ist die Stufe, auf welcher die Religion steht, insofern sie der Inbegriff ist aller höhern Gefühle. Daß sie allein den Menschen der EinB 152 seitigkeit und Beschränktheit enthebe, habe ich schon einmal angeldeutet; jezt kann ich es näher erklären. In allem Handeln und Wirken, es sei sittlich oder künstlerisch, soll der Mensch nach Meisterschaft streben, 5 und alle Meisterschaft, wenn der Mensch ganz innerhalb ihres Gegenstandes festgehalten ist, beschränkt und erkältet, macht einseitig und hart. Auf einen Punkt richtet sie zunächst das Gemüth des Menschen, und dieser eine Punkt kann es nicht befriedigen. Kann der Mensch fort102 schreitend von einem beschränkten | Werk zum andern seine ganze Kraft 10 wirklich verbrauchen? oder wird nicht vielmehr der größere Theil derselben unbenuzt liegen, und sich deshalb gegen ihn selbst wenden und ihn verzehren? Wie viele von Euch gehen nur deshalb zu Grunde, weil sie sich selbst zu groß sind; ein Ueberfluß an Kraft und Trieb, der sie nicht einmal zu einem Werk kommen läßt, weil doch keines ihm angemessen 15 wäre, treibt sie unstät umher und ist ihr Verderben. Wollt Ihr etwa auch diesem Uebel wieder so steuren, daß der, welchem einer zu groß ist, alle Gegenstände des menschlichen Strebens, Kunst, Wissenschaft und Leben, C 148 oder wenn Ihr deren noch mehr wißt, auch diese, vereinigen soll? | Das wäre freilich Euer altes Begehren, die Menschheit überall ganz zu haben, 20 und auf einem Punkt wie auf dem andern, Eure Gleichheitssucht die immer wiederkehrt — aber wenn es nur möglich wäre! wenn nur nicht | Β 153 jene Gegenstände, sobald sie einzeln ins Auge gefaßt werden, so sehr auf gleiche Weise das Gemüth anregten, und zu beherrschen strebten! Jede dieser Richtungen geht auf Werke aus, welche vollendet werden sollen, 25 jede hat ein Ideal dem nachzubilden ist, und eine Totalität, welche umfaßt werden soll, und diese Rivalität mehrerer Gegenstände kann nicht SW 246 anders endigen, als daß einer den andern verdrängt. J a auch innerhalb jeder solchen Sphäre muß sich Jeder um so mehr auf ein Einzelnes beschränken, zu je trefflicherer Meisterschaft er gelangen will. Wenn nun 30 diese ihn ganz beschäftigt, und er nur in dieser Production lebt: wie soll

1 Stufe,] B + C: Stuffe 7 erkältet, macht] B: macht kalt, 9 f fortschreitend ... Werk] Β: von einem beschränkten Werk fortschreitend 14 Trieb,] B: Trieb 17 der, ... ist,] B: der ... ist 19 wißt,] B + C: wißt 2 0 f ganz ... Gleichheitssucht die] B: aus einem Stükk zu haben, welches 24—27 Jede ... Gegenstände] B: Jeder von ihnen will Werke ausführen, jeder hat ein Ideal dem er entgegensteht, und eine Totalität welche er erreichen will, und diese Rivalität 30 trefflicherer] B + C: treflicherer 17 steuren] vgl. Adelung: 3 Vgl.

75,11-15

Wörterbuch

4,743

31 Production lebt:] D: Produ/ction lebt;

Zweite

Rede

111

25

er zu seinem vollständigen Antheil an der Welt gelangen und sein L e b e n ein Ganzes werden? D a h e r die Einseitigkeit und Dürftigkeit der meisten Virtuosen, oder auch d a ß sie a u ß e r h a l b ihrer S p h ä r e in eine niedere Art des Daseyns versunken sind. U n d kein anderes Heilmittel giebt es für dieses Uebel, als d a ß Jeder, indem er auf einem endlichen G e b i e t auf eine bestimmte Weise thätig ist, sich zugleich o h n e b e s t i m m t e T h ä t i g k e i t v o m Unendlichen afficiren lasse, und in jeder G a t t u n g religiöser G e f ü h l e alles dessen, was a u ß e r h a l b des von ihm u n m i t t e l b a r a n g e b a u t e n G e b i e tes liegt, inne | werde. J e j d e m liegt dies nahe; denn welchen G e g e n s t a n d 103; C 149 Eures freien und k u n s t m ä ß i g e n H a n d e l n s Ihr auch gewählt h a b t , es gehört nur we|nig Sinn dazu, um von jedem aus das Universum zu finden, Β 154 und in diesem entdekt Ihr dann auch die übrigen als G e b o t oder als Eingebung oder als O f f e n b a r u n g desselben. So im G a n z e n sie auffassen und genießen, das ist die einzige A r t , wie Ihr E u c h , bei einer schon gewählten R i c h t u n g des G e m ü t h s , auch das, was a u ß e r derselben liegt, aneignen k ö n n t , nicht wiederum aus W i l l k ü h r als Kunst, sondern aus Instinkt für das Universum als Religion; und weil sie auch in der religiösen F o r m wieder rivalisiren, so erscheint auch die R e l i g i o n , und das freilich ist menschliche M a n g e l h a f t i g k e i t , ö f t e r vereinzelt in der Gestalt eigenthümlicher E m p f ä n g l i c h k e i t und G e s c h m a k s für Kunst, Philosophie oder Sittlichkeit, und eben daher oft v e r k a n n t ; öfter, sage ich, erscheint sie so, als wir sie von aller T h e i l n a h m e an der Einseitigkeit befreit finden, in ihrer ganzen G e s t a l t vollendet und Alles vereinigend. D a s H ö c h s t e aber bleibt dieses Leztere, und nur so sezt der M e n s c h mit ganzem und befriedigendem E r f o l g e dem E n d l i c h e n , wozu er besonders und b e s c h r ä n k e n d

30

bestimmt ist, ein Unendliches, dem zusammenziehenden Streben nach sw 247 etwas B e s t i m m t e m und Vollendetem das erweiternde S c h w e b e n im G a n zen und Unerschöpflichen an die Seite; so stellt er das G l e i c h g e w i c h t und die H a r m o n i e seines Wesens wieder her, welche unwiederbringlich | verloren geht, wenn er sich, o h n e zugleich Religion zu h a b e n , irgend C 250

5

10

15

20

1 gelangen] B + C: gelangen, 4 Daseyns] B + C: Daseins 8 f dessen, ... liegt,] B: dessen was außerhalb jenes Gebietes liegt 13 desselben. So] B: desselben; so 14 Art,] B + C: Art 15 das, ... liegt,] B: das ... liegt 16 Willkühr] B + C: Willkür 17 Religion;] B: Religion, 18—25 Religion, ... Erfolge] B: Religion öfter vereinzelt als eine gewisse eigenthümliche Empfänglichkeit und Geschmakk für Kunst, Philosophie oder Sittlichkeit, als in ihrer ganzen Gestalt vollendet und alles vereinigend. So sezt der Mensch 2 0 Geschmaks] C: Geschmakks 21 öfter, ... ich, ... so,] C: öfter ... ich ... so 23 Alles] C: alles 2 6 ist,] B + C: ist 27 Bestimmtem und Vollendetem] B + C: Bestimmten und Vollendeten 2 7 f Ganzen] B: Unbestimmten 3 0 f sich, ... haben, irgend einer ... Richtung,] B: sich ... haben einer ... Richtung 14 Euch,] C + D: Euch

112

Β 155

104

C 151 Β 156

SW 248

Über die

Religion

einer einzelnen Richtung, und wäre es die schönste und herrlichste, überläßt. Der bestimmte Beruf eines Menschen ist nur gleichsam die Melodie seines Lebens, und es bleibt bei einer einfachen dürftigen Reihe von Tönen, wenn nicht die Religion jene in unendlich reicher Abwechselung begleitet mit allen Tönen, die ihr nur nicht ganz widerstreben, und so den einfachen Gesang zu einer vollstimmigen und prächtigen Harmonie erhebt. Wenn nun das, was ich hoffentlich für Euch Alle verständlich genug angedeutet habe, eigentlich das Wesen der Reli|gion ausmacht, so ist die Frage, wohin denn jene Dogmen und Lehrsäze, die Vielen für das innere Wesen der Religion gelten, eigentlich gehören, und wie sie sich zu diesem Wesentlichen verhalten, nicht schwer zu beantworten; oder vielmehr ich habe sie Euch schon oben beantwortet. Denn alle diese Säze sind nichts anderes als das Resultat jener Betrachtung des Gefühls, jener vergleichenden Reflexion darüber, von welcher wir schon geredet haben. Und die Begriffe, welche diesen Säzen zum Grunde liegen, sind, wie sich das mit Euren Erfahrungsbegriffen ebenfalls so verhält, nichts anderes als für ein bestimmtes Gefühl der gemeinschaftliche Ausdruk, dessen aber die Religion für sich nicht bedarf, kaum um sich mitzutheilen, aber die Reflexion bedarf und erschafft ihn. Wunder, Eingebungen, Offenbarungen, übernatürliche Empfindungen — man kann viel Frömmigkeit haben, ohne irgend eines dieser Begriffe | benöthiget zu sein — aber wer über seine Religion vergleichend | reflectirt, der findet sie unvermeidlich auf seinem Wege und kann sie unmöglich umgehen. In diesem Sinn gehören allerdings alle diese Begriffe in das Gebiet der Religion, und zwar unbedingt, ohne daß man über die Grenzen ihrer Anwendung das Geringste bestimmen dürfte. Das Streiten, welche Begebenheit eigentlich ein Wunder sei, und worin der Charakter eines solchen eigentlich bestehe, wieviel Offenbarung es wol gebe, und wiefern und warum man eigentlich daran glauben dürfe, und das offenbare Bestreben, so viel sich mit Anstand und Rüksicht thun läßt, davon abzuläugnen und auf die Seite zu schaffen, in der thörichten Meinung, der Philosophie und der

1 und wäre ... herrlichste,] fehlt in Β 5 Tönen,] B: Tönen 10 Frage, ... Lehrsäze,] B: Frage ... Lehrsäze 1 0 f die Vielen ... gelten,] fehlt in Β 12 verhalten,] B: verhalten 14 anderes] B: anders 16 Begriffe, ... liegen,] B: Begriffe ... liegen 17 anderes] B: anders 2 6 f Grenzen ... Geringste] B + C: Gränzen ... geringste 31 abzuläugnen] B: abzuleugnen 32 Meinung,] B + C: Meinung 12 oder] B: Oder 15 Vgl.

64,21-65,19

19 um sich] C: musich

29 wieviel] D: wie viel

5

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Zweite

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Vernunft einen Dienst damit zu leisten, das ist eine von den kindischen Operationen der Metaphysiker und Moralisten in der Religion. Sie werfen alle Gesichtspunkte unter einander und bringen die Religion in das Geschrei, als o b sie der allgemeinen Gültigkeit wissenschaftlicher und 5 physischer Urtheile zu nahe trete. Ich bitte, laßt Euch nicht durch ihr sophistisches Disputiren oder, denn auch das mag es bisweilen sein, durch ihr scheinheiliges Verbergen desjenigen, was sie gar zu gern kund | machen möchten, zum Nachtheil der Religion verwirren. Diese läßt Euch, so laut sie auch alle jene verschrieenen Begriffe zurükfordert, Eure 10 Physik, und so G o t t will, auch | Eure Psychologie unangetastet. Was ist denn ein Wunder? W i ß t | Ihr etwa nicht, daß, was wir so nennen im religiösen Sinn, sonst überall soviel heißt als Zeichen, Andeutung, und daß unser Name, der lediglich den Gemüthszustand des Schauenden trifft, nur in sofern schicklich ist, als ja freilich, was ein Zeichen sein 15 soll, zumal wenn es noch irgend etwas Anderes ist, so m u ß geartet sein, daß man auch darauf und auf seine bezeichnende Kraft merken wird. Jedes Endliche ist aber in diesem Sinne ein Zeichen des Unendlichen; und so besagen alle jene Ausdrükke nichts, als die unmittelbare Beziehung einer Erscheinung auf das Unendliche und Ganze; schließet das 20 aber aus, daß nicht jede eine eben so unmittelbare Beziehung aufs Endliche und auf die Natur habe? Wunder ist nur der religiöse N a m e für Begebenheit: jede, auch die allernatürlichste und gewöhnlichste, sobald sie sich dazu eignet, daß die religiöse Ansicht von ihr die herrschende sein kann, ist ein Wunder. M i r ist Alles Wunder; und in Eurem Sinn ist 25 mir nur das ein Wunder, nämlich etwas Unerklärliches und Fremdes, was keines ist in meinem. J e religiöser Ihr wäret, desto mehr Wunder würdet Ihr überall sehen, und jedes Streiten hin und her über einzelne Begebenheiten, o b sie so zu heißen | verdienen, giebt mir nur den schmerzhaften Eindruk, wie arm und dürftig der religiöse Sinn der Strei30 tenden ist. Die einen beweisen diesen Mangel dadurch, daß sie überall protestiren gegen Wunder, durch welche Protestation sie nur zeigen, | daß sie von der unmittelbaren Beziehung auf das Unendliche und auf

4 f Geschrei, als ob sie ... trete] ß: Geschrei ... zu treten 5 bitte,] B + C: bitte 6 oder,] B: und 6 f denn ... durch] fehlt in Β 7 desjenigen,] Β: desjenigen 9 verschrieenen] B + C: verschriene 11 f daß, ... Sinn,] B: daß ... Sinn 13 Name] B + C: Namen 14 trifft, nur in sofern] ß: trifft nur insofern 14 schicklich] B + C: schiklich 1 4 freilich,] B: freilich 15 Anderes] B + C: anderes 17 Unendlichen;] B: Unendlichen, 19—21 auf das ... habe] B: aufs Unendliche, aufs Universum; schließet das aber aus, daß es nicht eine eben so unmittelbare aufs Endliche und auf die Natur giebt 2 2 jede,] B: jede 23 eignet,] B + C: eignet 2 4 Alles] B + C: alles 2 4 Wunder;] B: Wunder, 2 9 Eindruk,] B: Eindrukk C: Eindruk 30 diesen Mangel dadurch,] B: es dadurch 31 durch ... zeigen] B: wodurch sie nur beweisen

105 Β157 C 152

SW 249

Β158

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ß 259

C 154 sw 250

Über die

Religion

die Gottheit nichts sehen wollen; die Andern beweisen denselben Mangel dadurch, daß es ihnen auf dieses und jenes besonders ankommt, und daß eine Erscheinung grade wunderlich gestaltet sein muß, um ihnen ein Wunder zu sein, womit sie nur beurkunden, daß sie eben schlecht aufmerken 1 6 . — Was heißt Offenbarung? Jede ursprüngliche und neue Mit|theilung des Weltalls und seines innersten Lebens an den Menschen ist eine, und so würde jeder solche Moment, auf welchen ich oben gedeutet, wenn Ihr Euch seiner bewußt würdet, eine Offenbarung sein; nun aber ist jede Anschauung und jedes Gefühl, wo sie sich ursprünglich aus einem solchen entwikkeln, aus einer Offenbarung hervorgegangen, die wir freilich als eine solche nicht vorzeigen können, weil sie jenseit des Bewußtseins liegt, die wir aber doch nicht nur voraussezen müssen im Allgemeinen, sondern auch im Besondern muß ja Jeder wol am besten wissen, was ihm ein wiederholtes und anderwärts her erfahrenes ist, oder was ursprünglich und neu, und wenn von dem | lezteren etwas sich in Euch noch nicht eben so erzeugt hatte, so wird seine Offenbarung auch für Euch eine, und ich will Euch rathen, sie wol zu erwägen. — Was heißt Eingebung? Es ist nur der allgemeine Ausdruk für das Gefühl der wahren Sittlichkeit und Freiheit, nämlich, versteht mich wohl, nicht jener wunderlichen vielgepriesenen, wel|che nur versteht, das Handeln mit Ueberlegungen hin und her zu begleiten und zu verzieren, sondern für jenes Gefühl, daß das Handeln troz aller oder ohnerachtet aller äußeren Veranlassung aus dem Inneren des Menschen hervorgeht. Denn in dem M a a ß , als es der weltlichen Verwikkelung entrissen wird, wird es als ein göttliches gefühlt, und auf Gott zurükgeführt. — Was ist Weissagung? Jedes religiöse Vorausbilden der andern Hälfte einer religiösen Begebenheit, wenn die eine gegeben war, ist Weissagung, und es war sehr religiös von den alten Hebräern, die Göttlichkeit eines Propheten nicht darnach abzumessen, wie schwer das Weissagen war, oder wie groß der Gegenstand, sondern ganz einfältig nach dem Ausgang; denn eher kann man aus dem Einzelnen nicht wissen, wie vollendet das Gefühl

1 wollen; ... Mangel] B: wollen, und die andern 3 muß,] B + C: muß 6 Weltalls ... Lebens] B: Universum 7 Moment,] B: Moment 13 Allgemeinen ... Besondern] B + C: allgemeinen ... besondern 13 wol] B: wohl 17 rathen, sie wol] B + C: rathen sie wohl 18 Ausdruk] B: Ausdrukk 1 9 f nämlich, ... versteht,] B + C: nemlich ... versteht 24 Maaß,] B + C: Maaß 28 Hebräern,] B + C: Hebräern 31 f wissen, ... sieht,] B + C: wissen ... sieht 1 wollen;] D: wollen, 7 Vgl. 67,14-23

2 8 - 3 0 Vgl. Dtn

18,22

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sich in Jedem gebildet hat, bis man sieht, ob er die religiöse Ansicht grade dieses bestimmten Verhältnisses, welches ihn be|wegte, auch riehtig gefaßt hat. — Was heißt Gnadenwirkung 1 7 ? Nichts anders ist dies offenbar, als der gemeinschaftliche Aus|druk für Offenbarung und Eingebung, für jenes Spiel zwischen dem Hineingehen der Welt in den Menschen durch Anschauung und Gefühl und dem Eintreten des Menschen in die Welt durch Handeln und Bildung, beides in seiner Ursprünglichkeit und seinem göttlichen Charakter, so daß das ganze Leben des Frommen nur Eine Reihe von Gnadenwirkungen bildet. Ihr seht, alle diese Begriffe sind, insofern | als die Religion der Begriffe bedarf oder sie aufnehmen kann, die ersten und wesentlichsten; sie bezeichnen auf die eigenthümlichste Art das Bewußtsein eines Menschen von seiner Religion; weil sie grade dasjenige bezeichnen, was nothwendig und allgemein sein muß in ihr. J a , wer nicht eigene Wunder sieht auf seinem Standpunkt zur Betrachtung der Welt, in wessen Innern nicht eigene Offenbarungen aufsteigen, wenn seine Seele sich sehnt, die Schönheit der Welt einzusaugen und von ihrem Geiste durchdrungen zu werden; wer nicht in den bedeutendsten Augenblikken mit der lebendigsten Ueberzeugung fühlt, daß ein göttlicher Geist ihn treibt und daß er aus heiliger Eingebung redet und handelt; wer sich nicht wenigstens — denn noch Geringeres könnte in der T h a t nur für gar nichts gehalten werden — seiner Gefühle als unmittelbarer Einwirkungen des Weltalls bewußt ist, dabei aber doch etwas Eigenes in ihnen kennt, was nicht nachgebildet sein kann, sondern ihren reinen Ursprung aus seinem Innersten verbürgt, der hat keine Religion. Aber in diesem Besiz sich zu wissen, das ist der wahre Glaube; glauben hingegen, was man gemeinhin so nennt, annehmen, was ein Anderer gesagt oder gethan hat, nachdenken und nachfühlen wollen, was ein Anderer gedacht und gefühlt hat, ist ein harter und unwürdiger Dienst, und statt das Höchste in der Religion zu sein, wie man wähnt, muß er gerade abgelegt werden von Jedem, der in ihr | Heiligthum dringen will. Einen solchen nachbetenden Glauben haben und behalten wollen, beweiset, daß man der Religion unfähig ist; ihn von Andern fordern, zeigt, daß man sie nicht versteht. Ihr wollt überall auf Euern eignen Füßen stehen und Euern | eignen Weg gehen, und dieser würdige Wille

4 offenbar, ... Ausdruk] B: offenbar ... Ausdrukk 1 6 f sehnt, ... einzusaugen] B + C: sehnt ... einzusaugen, 2 0 f noch ... werden] B : dies ist in der T h a t der geringste G r a d 2 2 f Weltalls ... dabei aber doch] B: Universum ... und 23 Eigenes] B : eignes C : eigenes 2 6 annehmen,] B + C: annehmen 27 gesagt oder] fehlt in Β 27 wollen,] B: wollen 3 0 Jedem,] B: Jedem 31 Einen ... Glauben] B: Ihn 3 2 beweiset,] B + C: beweiset 32 f Andern fordern, zeigt,] B : andern fordern, zeigt C : andern fordern zeigt, 33 f Euern ... stehen und Euern ... gehen] B + C: Euren ... stehn, und Euren ... gehn

B160 107

C155

sw 251; Β 161

C IS6

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Über die Religion

s c h r e k k e E u c h nicht zurük von der Religion. Sie ist kein Sklavendienst und keine G e f a n g e n s c h a f t , a m wenigsten für Eure Vernunft, sondern a u c h hier sollt Ihr E u c h selbst a n g e h ö r e n , ja dies ist sogar eine unerläßliche Bedingung, um ihrer theilhaftig zu werden. J e d e r M e n s c h , wenige A u s e r w ä h l t e a u s g e n o m m e n , bedarf allerdings eines leitenden und aufreß 362 genden Anführers, der seinen Sinn für | Religion aus dem ersten S c h l u m mer w e k k e und ihm seine erste R i c h t u n g gebe; aber dies gebt Ihr ja zu für alle andern K r ä f t e und Verrichtungen der menschlichen Seele, w a r u m nicht auch für diese? Und, zu Eurer Beruhigung sei es gesagt, wenn irg e n d w o , so vorzüglich hier soll diese V o r m u n d s c h a f t n u r ein vorübergehender Z u s t a n d sein; mit eignen Augen soll dann J e d e r sehen und selbst einen Beitrag zu T a g e fördern zu den Schäzen der Religion, sonst verdient er keinen Plaz in ihrem R e i c h und erhält a u c h keinen. Ihr h a b t R e c h t , die dürftigen N a c h b e t e r gering zu achten, die ihre Religion ganz SW 252 von einem andern ableiten, oder an einer todten Schrift hängen, a u f diese s c h w ö r e n und aus ihr beweisen. J e d e heilige Schrift ist an sich ein C157 herrliches Erzeugniß, ein | redendes D e n k m a l aus der heroischen Z e i t der Religion; aber durch knechtische Verehrung wird sie nur ein M a u s o leum, ein D e n k m a l , d a ß ein g r o ß e r Geist da war, der nicht mehr da ist; denn, wenn er n o c h lebte und wirkte, so würde er m e h r mit Liebe und mit dem G e f ü h l der Gleichheit a u f sein früheres W e r k sehen, welches d o c h i m m e r nur ein schwacher A b d r u k von ihm sein k a n n . Nicht J e d e r hat Religion, der an eine heilige Schrift g l a u b t , sondern nur der, welcher sie lebendig und unmittelbar versteht, und ihrer d a h e r für sich allein auch a m leichtesten entbehren k ö n n t e .

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E b e n diese E u r e Verachtung nun gegen die armseligen und k r a f t l o sen Verehrer der Religion, in denen sie aus M a n g e l an N a h r u n g vor der Β 163 G e b u r t schon gestorben ist, eben diese beweiset mir, d a ß | in Euch selbst eine Anlage ist zur Religion, und die A c h t u n g , die Ihr allen ihren wahren Helden für ihre Person immer erzeiget, — denn die a u c h diese nur mit 30

2 Gefangenschaft,] B: Gefangenschaft; 2 am ... sondern] fehlt in Β 4 Bedingung,] B + C: Bedingung 5 f leitenden und aufregenden] B: Mittlers, eines 7 wekke ... gebe;] B + C: wekke, ... gebe, 7—10 gebt ... Vormundschaft] fehlt in Β 9 f irgendwo] C: irgend wo 10 nur] B: soll nur 11 Jeder] B + C: jeder 13 Reich] C: Reich, 14 Recht,] B + C: Recht 14 gering zu achten] B: zu verachten 16 diese] B: sie 18 durch ... wird] B: der knechtischen Verehrung ist 19f Denkmal, ... denn,] B + C: Denkmal ... denn 22 immer] fehlt in Β 22 kann.] ß: kann? 23 Religion,] B + C.Religion 24 für sich allein] fehlt in Β 26 Eben] kein Absatz in Β 29 Achtung,] B + C: Achtung 30—7 für ... Vermögen] B: immer erzeiget, wie sehr Ihr Euch auch 1 schrekke] so DV von B; OD von B: schrekte 22 kann.] B: kann?

7 Ihr] C: ihr

15 hängen,] B: hängen;

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flachem Spotte | behandeln und das Große und Kräftige in ihnen nicht anerkennen, rechne ich kaum noch zu Euch, — diese Achtung der Personen bestätigt mich in dem Gedanken, daß Eure Verachtung der Sache nur auf Mißverstand beruht und nur die kümmerliche Gestalt zum Gegenstand hat, welche die Religion bei der großen unfähigen Menge annimmt, und den M i ß b r a u c h , welchen anmaßende Leiter damit treiben. — Ich habe Euch darum nun nach Vermögen gezeigt, was eigentlich Religion ist; habt Ihr irgend et|was darin gefunden, was Eurer und der höchsten menschlichen Bildung unwürdig wäre? M ü ß t nicht vielmehr Ihr Euch um so mehr nach jener allgemeinen Verbindung mit der Welt sehnen, welche nur durch das Gefühl möglich ist, je mehr eben Ihr am meisten durch die bestimmteste Bildung und Individualität in ihm gesondert und isolirt seid? und habt Ihr nicht oft diese heilige Sehnsucht als etwas Unbekanntes gefühlt? Werdet Euch doch, ich beschwöre Euch, des Rufs Eurer innersten Natur bewußt, und folget ihm. Verbannet die falsche Schaam vor einem Zeitalter, welches nicht Euch bestimmen, sondern von Euch bestimmt und gemacht werden soll! Kehret zu demjenigen zurük, was Euch, gerade Euch, so nahe liegt, und wovon die gewaltsame Trennung doch unfehlbar den schönsten Theil Eures Daseins zerstört. Es scheint mir aber, als ob Viele unter Euch nicht glaubten, daß ich mein gegenwärtiges Geschäft hier könne endigen wollen, und daß ich | gründlich könne vom Wesen der Religion geredet zu haben glauben, da ich von der Unsterblichkeit gar nicht, und von G o t t nur, wie im Vorbeigehen, weniges gesprochen, sondern ganz vorzüglich müßte mir ja wol obliegen, von diesen beiden zu reden, und Euch vorzuhalten wie unselig Ihr wäret, wenn Ihr etwa auch dieses nicht glaubtet, weil ja für die meisten Frommen dieses beides die Angel und Hauptstükke der Religion sein sollen. Allein ich | bin über beides nicht Eurer Meinung. Nämlich zuerst glaube ich keinesweges von der Unsterblichkeit gar nicht und von Gott nur so weniges geredet zu haben; sondern, daß beides in allem und jedem gewesen ist, glaube | ich, was ich Euch nur als Element der Reli-

auflehnt gegen die Art wie sie gemißbraucht und durch Gözendienst geschändet worden, bestätigt mich in dieser Meinung. — Ich habe Euch 4 beruht] C: beruht, 7 gezeigt,] B + C: gezeigt 8 ist;] B: ist, 8 gefunden,] B + C: gefunden 11 f eben Ihr am meisten] B: Ihr 14 Unbekanntes] B: unbekanntes 16 Zeitalter,] B: Zeitalter 18 zurük, ... gerade Euch,] B + C: zurük ... gerade Euch 20 aber,] B + C: aber 22 zu haben glauben] B: haben 2 3 f nur, ... Vorbeigehen,] B + C: nur ... Vorbeigehen 24—27 sondern ... dieses] B: welches doch 25 obliegen,] C: obliegen 29 zuerst glaube ich] B: ich glaube 30 sondern,] B + C: sondern 22 Wesen] D: wesen

30 daß] so DV von B; OD von B: das

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C 158

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Β 164

C 159

lio

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Über die

Religion

gion aufgestellt habe, und daß ich von allem nichts hätte sagen können, was ich gesagt habe, wenn ich nicht Gott und Unsterblichkeit immer zum voraus gesezt hätte, wie denn auch nur Göttliches und Unsterbliches Raum haben kann, wo von Religion geredet wird. Und eben so wenig dünken mich zweitens die Recht zu haben, welche so, wie beides ge- 5 wohnlich genommen wird, die Vorstellungen und Lehren von Gott und Unsterblichkeit für die Hauptsache in der Religion halten. Denn zur Religion kann von beiden nur gehören, was Gefühl ist, und unmittelbares Bewußtsein; Gott aber und Unsterblichkeit, wie sie in solchen Lehren vorkommen, sind Begriffe, wie denn Viele, ja wol die Meisten unter 10 Euch, von beiden oder wenigstens von einem glauben fest überzeugt zu SW 254 sein, ohne daß Ihr deshalb fromm sein müßtet oder Religion haben — und als Begriffe können also auch diese keinen größeren Werth haben in der Religion, als welcher Begriffen überhaupt, wie ich Euch gezeigt habe, darin zukommt. Damit Ihr aber nicht denket, ich fürchte mich, ein or- 15 dentliches Wort über diesen Gegenstand zu sagen, weil es gefährlich werden will, davon zu reden, bevor eine zu Recht und Gericht beständige | C 160 Definition von G o t t und D a s e i n ans Licht gestellt und im deutschen Β 165 Reich als gut und tauglich allgemein angenommen | worden ist; oder damit Ihr nicht auf der andern Seite vielleicht glaubt, ich spiele mit Euch 20 einen frommen Betrug, und wolle, um Allen Alles zu werden, mit scheinbarer Gleichgültigkeit dasjenige herabsezen, was für mich von ungleich größerer Wichtigkeit sein müsse, als ich gestehen will; so will ich Euch gern auch hierüber Rede stehen und Euch deutlich zu machen suchen,

1—3 u n d d a ß ... h ä t t e , ] fehlt in Β 1 k ö n n e n , ] C: k ö n n e n 3 f G ö t t l i c h e s ... w i r d ] B: g ö t t l i c h e s u n d u n s t e r b l i c h e s in ihr R a u m h a b e n k a n n 5 z w e i t e n s ] fehlt in Β 5 f so, ... w i r d , ] B: so ... w i r d 6 die Vorstellungen u n d L e h r e n von] fehlt in ΰ 7—15 h a l t e n . D e n n ... d a r i n ] B: h a l t e n ; d e n n hiezu g e h ö r t n u r w a s G e f ü h l ist, u n d u n m i t t e l b a r e W a h r n e h m u n g ; E u e r G o t t a b e r u n d E u r e U n s t e r b l i c h k e i t sind Begriffe, u n d k ö n n e n also a u c h k e i n e n g r ö ß e r e n W e r t h h a b e n in d e r Religion, als welcher diesen, w i e ich Euch gezeigt habe, 8 g e h ö r e n , ] C: g e h ö r e n 1 0 f Viele, ... M e i s t e n u n t e r E u c h , ] C: Viele ... meisten u n t e r E u c h 15 mich,] B + C: m i c h 17 will,] B + C: will 18 gestellt] B + C: gestellt, 19 als g u t ... a n g e n o m m e n ] B: s a n e t i o n i r t 2 0 g l a u b t , ] B: g l a u b t 2 0 m i t E u c h ] fehlt in Β 21 Betrug, u n d w o l l e , ... w e r d e n , ] B: B e t r u g u n d w o l l e ... werden 23 m ü s s e ] B: m u ß 2 4 stehen] B + C: s t e h e n , 2 0 Ihr] B: ihr 17—19 Anspielung wohl auf den sog. Atheismusstreit, der für Johann Gottlieb März 1799 die Entlassung aus seiner Jenenser Philosophieprofessur brachte. 1 Kor 9,22

Fichte im 21 Vgl.

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daß es sich nach meiner besten Ueberzeugung wirklich so verhält, wie ich jezt eben behauptet habe. Zuerst erinnert Euch, daß uns jedes Gefühl nur in so fern für eine Regung der Frömmigkeit galt, als in demselben nicht irgend ein Einzelnes als solches, sondern in und mit diesem das Ganze als die Offenbarung Gottes uns berührt, | und also nicht Einzelnes und Endliches, sondern i l l eben Gott, in welchem ja allein auch das Besondere Ein und Alles ist, in unser Leben eingeht, und so auch in uns selbst nicht etwa diese oder jene einzelne Function, sondern unser ganzes Wesen, wie wir damit der Welt gegenübertreten und zugleich in ihr sind, also unmittelbar das Göttliche in uns, durch das Gefühl erregt wird und hervortritt 1 8 . Wie könnte also Jemand sagen, ich habe Euch eine Religion geschildert ohne Gott, da ich ja nichts anders dargestellt, als eben das unmittelbare und ursprüngliche Sein Gottes in uns durch das Gefühl. Oder ist | nicht Gott C 161 die einzige und höchste Einheit? Ist es nicht Gott al|lein, vor dem und in Β 166 dem alles Einzelne verschwindet? Und wenn Ihr die Welt als ein Ganzes und eine Allheit seht, könnt Ihr dies anders als in Gott? Sonst sagt mir doch irgend etwas Anderes, wenn es dieses nicht sein soll, wodurch sich SW 255 das höchste Wesen, das ursprüngliche und ewige Sein unterscheiden soll von dem Einzelnen, Zeitlichen und Abgeleiteten! Aber auf eine andere Weise als durch diese Erregungen, welche die Welt in uns hervorbringt, maßen wir uns nicht an, Gott zu haben im Gefühl, und darum ist nicht anders als so von ihm geredet worden. Wollt Ihr daher dieses nicht gelten lassen als ein Bewußtsein von Gott, als ein Haben Gottes: so kann ich Euch weiter nicht belehren oder bedeuten, sondern nur sagen, daß wer dieses läugnet, über dessen Erkennen, wie es damit steht, will ich nicht aburtheilen, denn es kommt mir hier nicht zu, aber in seinem Gefühl und seiner Empfindungsart betrachtet, wird ein solcher mir gottlos sein. Denn der Wissenschaft wird freilich auch nachgerühmt, es gebe in ihr ein unmittelbares Wissen um Gott, welches die Quelle ist alles Andern,

1 nach meiner besten Ueberzeugung] fehlt in Β 1 verhält,] B + C: verhält 3 Euch,] B: Euch 4—6 irgend ... Einzelnes] B: das Einzelne als solches, sondern in ihm und mit ihm das Ganze uns berührt, und also nicht ein Einzelnes 1 0 f Göttliche ... Gefühl] B: Göttliche, in uns 13 dargestellt,] B + C: dargestellt 15 Ist ... allein,] B + C: ist ... allein 18 Anderes] B + C: anderes 21 f Erregungen, ... Gott zu] B: Erregungen des Universum könnt Ihr Gott nicht 24 Bewußtsein von] B: Wissen um 26—29 läugnet, . . . i n ihr] B: läugnet der wird mir gottlos sein im Gefühl, und ich will nicht aburtheilen wie es auch stehn wird um sein Erkennen. Denn in diesem giebt es freilich auch 19 ursprüngliche] C: ursprüngliche-

23 anders] D: anders,

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Über die Religion

nur wir sprachen jezt nicht von der Wissenschaft, sondern von der Religion. Jene Art aber, von Gott etwas zu wissen, deren sich die Meisten rühmen und die ich Euch auch anrühmen sollte, ist weder die Idee Gottes, die Ihr an die Spize alles Wissens stellt, als die ungeschiedene Einheit c 162 aus der Alles hervorquillt | und aus der alles Sein sich ableitet, noch ist 112 sie das Gefühl von Gott, des|sen wir uns rühmen in unserm Innern; und wie sie gewiß hinter den Forderungen der Wissenschaft weit zurükbleibt, so ist sie auch für die Frömmigkeit etwas gar Untergeordnetes, weil sie nur ein Begriff ist. Ein Begriff, aus Merkmalen zusammengesezt, die sie Β 167 Gottes Eigenschaften nennen, | und die sämtlich nichts anders sind, als das Auffassen und Sondern der verschiedenen Arten wie im Gefühle die Einheit des Einzelnen und des Ganzen sich ausspricht. Denn daß gerade auf diese Weise die einzelnen Eigenschaften Gottes den einzelnen oben aufgestellten und andern ähnlichen, hier aber übergangenen Gefühlen entsprechen, dies wird Niemand läugnen. Daher kann ich schon nicht anders als auf diesen Begriff auch anwenden, was ich im Allgemeinen SW 256 von Begriffen in Beziehung auf die Religion gesagt, daß nämlich viel Frömmigkeit sein kann ohne sie, und daß sie sich erst bilden, wenn diese selbst wieder ein Gegenstand wird, den man in Betrachtung zieht. Nur daß es mit diesem Begriff von Gott, wie er gewöhnlich gedacht wird, nicht dieselbe Bewandniß hat, wie mit den andern oben angeführten Begriffen; weil er nämlich der höchste sein und über allen stehen will, und doch selbst, indem Gott uns zu ähnlich gedacht wird, und als ein persönlich denkendes und wollendes, in das Gebiet des Gegensazes herC 163 abgezogen wird. Daher es auch natürlich scheint, daß, je menschenähnlicher Gott im Begriff dargestellt wird, um so leichter sich eine andere Vorstellungsart dieser gegenüberstellt, ein Begriff des höchsten Wesens

l f Wissenschaft, ... aber,] B + C: Wissenschaft ... aber 2—10 von Gott ... sind,] B.Gott im Bewußtsein zu haben ist weder die Idee Gottes, noch das Gefühl von Gott, und ist für die Religion etwas gar untergeordnetes, weil sie nur ein Begriff ist. Aus Merkmalen ist dieser zusammengesezt, die sie Gottes Eigenschaften nennen, und diese sind sämtlich nichtsanders 2 Meisten] C: meisten 4 f stellt, ... Alles] C: stellt... alles 8 f Untergeordnetes ... Begriff,] C: untergeordnetes ... Begriff 10 sind,] C: sind 12 gerade] B + C: grade 13 oben] fehlt in Β 14 ähnlichen,] B + C: ähnlichen 14 hier aber übergangenen] fehlt in Β 16 anwenden,] B: anwenden 16 Allgemeinen] B + C: allgemeinen 20—8 es ... fromm] B: dieser Begriff von Gott, wie er so gedacht wird, nicht auf derselben Stuffe steht wie jene oben angeführten; weil er nemlich der höchste sein und über allen stehen will, und doch selbst unter einem Gegensaze steht, und das Sein dem Denken unterordnet. Also steht ihm auch ein anderer gegenüber, der das umgekehrte Verhältnis ausdrükt, und eben so unzulänglich ist. Wie ziemt es sich nun wol, daß die Anhänger des einen so fest behaupten, ohne ihn wäre keine Religion? Fromm 27 gegenüberstellt] C: gegenüber stellt

13 f Vgl.

101,9-105,31

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Rede

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nicht als persönlich denkend und wollend, sondern als die über alle Persönlichkeit hinausgestellte allgemeine, alles Denken und Sein hervorbringende und verknüpfende Nothwendigkeit. Und nichts scheint sich weniger zu ziemen, als wenn die Anhänger des Einen die, welche von der 5 Menschenähnlichkeit abgeschrekt, ihre Zuflucht zu dem andern nehmen, beschuldigen sie seien gottlos, oder eben so wenn diese wollten jene wegen der Menschenähnlichkeit ihres Begriffes des Gözendienstes beschuldigen und ihre Frömmigkeit für nichtig erklären. Sondern f r o m m kann Jeder sein, er halte | sich zu diesem oder zu jenem Begriff; aber 113 10 seine Frömmigkeit, das Göttliche in seinem Gefühl, muß besser sein als sein Begriff, und je mehr er in | diesem sucht, und ihn für das Wesen der Β 168 Frömmigkeit hält, um desto weniger versteht er sich selbst. Seht nur, wie beschränkt die Gottheit in dem einen dargestellt wird, und wiederum wie todt und starr in dem andern, beides je mehr man sich in jedem an 15 den Buchstaben hält; und gesteht, daß beide mangelhaft sind, und wie keiner von beiden seinem Gegenstand entspricht, so auch keiner von beiden ein Beweis von Frömmigkeit sein kann, außer in so fern ihm im Gemüth selbst etwas zum Grunde liegt, hinter dem er aber weit zurükgeblieben ist; und daß, richtig verstanden, auch | jeder von beiden Ein C 164; SW 257 20 Element wenigstens des Gefühls darstellt, nichts werth aber beide sind, wenn sich dies nicht findet. Oder ist es nicht offenbar, daß gar Viele einen solchen G o t t zwar glauben und annehmen, aber nichts weniger sind als fromm, und daß auch nie dieser Begriff der Keim ist, aus welchem ihre Frömmigkeit erwachsen kann, weil er nämlich kein Leben hat 25 in sich selbst, sondern nur durch das G e f ü h l 1 9 . So kann auch nicht die Rede davon sein, daß den einen oder den andern von beiden Begriffen zu haben, an und für sich das Zeichen sein könne von einer vollkommneren oder unvollkommneren Religion. Vielmehr werden beide auf gleiche Weise verändert, nach M a a ß g a b e dessen, was wir wirklich als verschie30 dene Stufen ansehen können, nach denen der religiöse Sinn sich ausbildet. Und dies höret noch an von mir; denn weiter weiß ich über diesen Gegenstand nichts zu sagen, um uns zu verständigen. Da, wo das Gefühl des Menschen noch ein | dunkler Instinkt, wo Β 169 sein gesammtes Verhältniß zur Welt noch nicht zur Klarheit gediehen ist, 2 allgemeine,] C: allgemeine 9 jenem Begriff] B: jenem 11 er] B: er es 11 f und ihn ... hält,] fehlt in Β 12 nur,] Β + C: nur 13 beschränkt] B: menschlich 14 f beides ... hält;] fehlt in Β 15 gesteht,] B + C: gesteht 15—19 beide ... Ein] B: es beiden fehlt, daß keiner von beiden ein Beweis von Frömmigkeit sein kann, außer in so fern er wirklich selbst gebildet ist, und dann auch nothwendig Ein 1 8 f liegt, ... verstanden,] C: liegt ... verstanden 2 7 haben,] B + C: haben 27 an und für sich] fehlt in Β 27 f vollkommneren oder unvollkommneren] C: vollkomneren oder unvollkomneren 29 verändert, ... dessen,] B + C: verändert ... dessen 3 0 Stufen] B: Stuffen 32f sagen, ... Da,] B + C: sagen ... Da

122

114 c 165

SW 258

Β170

C166

Über die Religion

k a n n ihm auch die Welt nichts sein als eine v e r w o r r e n e Einheit, in der nichts M a n n i g f a l t i g e s bestimmt zu unterscheiden ist, als ein C h a o s gleichförmig in der Verwirrung, o h n e Abtheilung, O r d n u n g und Gesez, w o r a u s , abgesehen, was sich am unmittelbarsten a u f das Bestehen des | M e n s c h e n selbst bezieht, nichts Einzelnes gesondert werden k a n n , als indem es willkührlich abgeschnitten wird | in Z e i t und R a u m . Und hier werdet Ihr natürlich wenig Unterschied finden, o b der Begriff, in wiefern sich doch auch Spuren von ihm zeigen, auf die eine Seite sich neigt oder a u f die andere. D e n n o b ein blindes G e s c h i k den C h a r a k t e r des G a n z e n darstellt, welches nur durch magische Verrichtungen k a n n bezeichnet werden, oder ein Wesen, das z w a r lebendig sein soll, aber o h n e bes t i m m t e Eigenschaften, ein G ö z e , ein Fetisch, gleichviel o b einer oder mehrere, weil sie doch durch nichts zu unterscheiden sind, als durch die willkührlich gesezten Grenzen ihres Gebiets, d a r a u f wollt Ihr gewiß keinen verschiedenen Werth sezen; sondern werdet dieses für eine eben so u n v o l l k o m m n e Frömmigkeit erkennen als jenes, beides a b e r doch für eine F r ö m m i g k e i t . Weiter fortschreitend wird das Gefühl bewußter, die Verhältnisse treten in ihrer M a n n i g f a l t i g k e i t und B e s t i m m t h e i t auseinander; daher tritt a b e r auch in dem Weltbewußtsein des M e n s c h e n die bes t i m m t e Vielheit hervor der heterogenen E l e m e n t e und K r ä f t e , deren beständiger und ewiger Streit | seine Erscheinungen b e s t i m m t . G l e i c h m ä ß i g ändert sich dann auch das Resultat der B e t r a c h t u n g dieses Gefühls, auch die entgegengesezten Formen des Begriffs treten b e s t i m m t e r auseinander, das blinde G e s c h i k verwandelt sich in eine h ö h e r e N o t h w e n d i g k e i t , in welcher G r u n d und Z u s a m m e n h a n g , aber u n e r r e i c h b a r und unerforschlieh ruhen. E b e n so erhöht sich der Begriff des persönlichen G o t t e s , aber zu|gleich sich theilend und vervielfältigend; denn indem jene K r ä f t e und E l e m e n t e besonders beseelt werden, entstehen G ö t t e r in unendlicher Anzahl, unterscheidbar durch verschiedene G e g e n s t ä n d e ihrer T h ä t i g k e i t , wie durch verschiedene Neigungen und G e s i n n u n g e n . Ihr m ü ß t zugeben, d a ß dieses schon ein kräftigeres und schöneres L e b e n des Universum im Gefühl uns darstellt, als jener frühere Z u s t a n d , a m schönsten, w o am innigsten im Gefühl das e r w o r b e n e Mannigfaltige und die einwohnende

1 verworrene] fehlt in Β 2 Mannigfaltiges] B + C: mannigfaltiges 2 bestimmt] fehlt in Β 4 woraus,] Β : woraus 4 f abgesehen, ... bezieht,] fehlt in Β 6 willkührlich] B + C: willkürlich 11 Wesen,] B + C: Wesen 14 willkührlich] B + C: willkürlich 15 sezen;] B.· sezen. 15—17 sondern ... Frömmigkeit.] fehlt in Β 16 unvollkommne] C : unvollkomne 1 9 f Weltbewußtsein ... bestimmte] B : Gefühl des Universum die 2 4 Geschik] B : Geschikk 2 9 f Gegenstände ... wie durch] B : Objekte ... durch 3 2 schönsten,] B + C: schönsten 11 soll,] B: soll;

25 unerreichbar und] C: unerreichbarund

5

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Zweite

5

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Rede

123

höchste Einheit verbunden sind, und dann a u c h , wie Ihr die|ses bei den von E u c h mit R e c h t so verehrten Hellenen findet, in der R e flexion beide F o r m e n sich einigen, die eine m e h r für den G e d a n k e n ausgebildet, die andere mehr in der Kunst, diese m e h r die Vielheit darstellend, jene mehr die Einheit. W o aber a u c h eine solche Einigung n i c h t ist, gesteht Ihr d o c h , d a ß wer sich auf diese Stufe er|hoben h a t , a u c h v o l l k o m m n e r sei in der Religion, als wer n o c h a u f die erste b e s c h r ä n k t ist. Also a u c h , w e r sich auf der höheren vor der ewigen und u n e r r e i c h b a ren N o t h w e n d i g k e i t beugt und m e h r in diese die Vorstellung des h ö c h sten Wesens hineinlegt, als in die einzelnen G ö t t e r , auch der ist vollk o m m n e r , als der rohe A n b e t e r eines Fetisch? N u n laßt uns h ö h e r steigen, dahin, w o alles Streitende sich wieder vereinigt, w o das Sein sich als T o t a l i t ä t , als Einheit in der Vielheit, als System darstellt, und so erst seinen N a m e n verdient; sollte nicht, wer es so w a h r n i m m t , als Eins und Alles, I und so a u f das vollständigste dem G a n z e n gegenübertritt und wieder Eins wird mit ihm im G e f ü h l , sollte nicht der für seine R e l i g i o n , wie diese sich auch im Begriff abspiegeln m a g , glüklicher zu preisen sein, als jeder n o c h nicht so weit Gediehene? Also durchgängig und a u c h hier entscheidet die Art, wie dem M e n s c h e n die G o t t h e i t im G e f ü h l gegenwärtig ist, über den Werth seiner Religion, nicht die Art wie er diese, i m m e r unzulänglich, in dem Begriff, von w e l c h e m wir izt h a n d e l n , a b bildet. Wenn also, wie es zu geschehen pflegt, mit wie vielem R e c h t e will ich hier nicht entscheiden, der a u f dieser Stufe Stehende, aber den B e g r i f f eines persönlichen G o t t e s V e r s c h m ä h e n d e allgemein entweder ein P a n theist genannt wird, oder n o c h besonders n a c h d e m N a m e n des S p i n o z a : so will ich nur b e v o r w o r t e n , d a ß dieses V e r s c h m ä h e n die G o t t h e i t persönlich zu denken nicht entscheidet gegen die G e g e n w a r t | der G o t t h e i t in seinem G e f ü h l ; sondern d a ß dies seinen G r u n d h a b e n k ö n n e in e i n e m demüthigen Bewußtsein von der B e s c h r ä n k t h e i t persönlichen D a s e i n s überhaupt und besonders auch des an die P e r s ö n l i c h k e i t gebundenen Bewußtseins. D a n n a b e r ist wol g e w i ß , d a ß ein s o l c h e r eben so weit stehen k ö n n e über dem Verehrer der | z w ö l f g r o ß e n G ö t t e r , wie ein F r o m m e r

6 Stufe ... hat,] B + C: Stuffe ... hat 7 vollkommner] C: vollkomner 8 f auch, ... beugt] B: auch ... beugt, 9 f und mehr ... der ist] fehlt in Β 10f vollkommner,] B: vollkommner C: vollkomner 12 dahin, ... Streitende] B + C: dahin ... streitende 12 Sein] Β: Universum 14 nicht, ... wahrnimmt,] B + C: nicht ... wahrnimmt 17 diese ... abspiegeln] B: sich auch sein Begriff von ihr gestalten 18f Gediehene ... Art,] B + C: gediehene ... Art 21 unzulänglich, ... Begriff,] B: unzulänglich ... Begriff 22—31 also, ... gewiß,] B: Ihr also, wie Ihr pflegt, mit wie vielem Rechte will ich hier nicht entscheiden, den auf dieser Stuffe Stehenden aber den Begriff eines persönlichen Gottes Verschmähenden allgemein nach dem Namen des Spinoza nennt: so gebet nur zu daß dieses Verschmähen nicht entscheidet gegen die Gegenwart der Gottheit in seinem Gefühl, und 23 Stufe] C: Stuffe 25 wird,] C: wird

115

ß 171

sw 259

C 167

Β 3 72

116

124

Über die

Religion

auf dieser Stufe, den Ihr mit gleichem R e c h t nach dem Lucretius nennen k ö n n t e t , ü b e r e i n e m G ö z e n d i e n e r . A b e r d a s ist die a l t e V e r w i r r u n g , d a s C 168 ist d a s u n v e r k e n n b a r e Z e i c h e n d e r U n b i l d u n g , d a ß sie d i e a m w e i t e s t e n verwerfen, die a u f einer Stufe mit ihnen stehen, nur a u f einem andern P u n k t d e r s e l b e n ! Z u w e l c h e r n u n v o n d i e s e n S t u f e n s i c h der M e n s c h

5

e r h e b t , d a s b e u r k u n d e t s e i n e n S i n n f ü r d i e G o t t h e i t , d a s ist d e r e i g e n t l i che M a a ß s t a b seiner Religiosität. Welchen aber von jenen Begriffen, soSW 260 f e r n e r ü b e r h a u p t f ü r sich n o c h des B e g r i f f s b e d a r f , e r s i c h a n e i g n e n wird, das h ä n g t lediglich davon a b , w o z u er seiner n o c h bedarf, und n a c h w e l c h e r S e i t e s e i n e F a n t a s i e v o r n e h m l i c h h ä n g t , n a c h d e r des S e i n s

10

u n d d e r N a t u r , o d e r n a c h d e r des B e w u ß t s e i n s u n d d e s D e n k e n s . I h r , h o f f e i c h , w e r d e t es f ü r k e i n e L ä s t e r u n g h a l t e n u n d f ü r k e i n e n W i d e r s p r u c h , d a ß d a s H i n n e i g e n zu d i e s e m B e g r i f f e i n e s p e r s ö n l i c h e n G o t t e s o d e r d a s V e r w e r f e n d e s s e l b e n u n d d a s H i n n e i g e n zu d e m e i n e r u n p e r s ö n lichen A l l m a c h t a b h ä n g e n soll von der R i c h t u n g der Fantasie; Ihr werdet

15

wissen d a ß ich unter Fantasie nicht etwas Untergeordnetes und Verworrenes verstehe, sondern das H ö c h s t e und Ursprünglichste im M e n s c h e n , u n d d a ß a u ß e r i h r alles n u r R e f l e x i o n ü b e r sie sein k a n n , a l s o

auch

Β 173 a b h ä n g i g | v o n i h r ; I h r w e r d e t es w i s s e n , d a ß E u e r e F a n t a s i e in d i e s e m S i n n e , E u r e f r e i e G e d a n k e n e r z e u g u n g es ist, d u r c h w e l c h e I h r zu d e r

20

V o r s t e l l u n g e i n e r W e l t k o m m t , die E u c h n i r g e n d ä u ß e r l i c h k a n n g e g e b e n w e r d e n u n d die I h r a u c h n i c h t z u e r s t E u c h z u s a m m e n f o l g e r t ; u n d in dieser Vorstellung ergreift E u c h dann das G e f ü h l der A l l m a c h t . W i e einer C 169 s i c h a b e r d i e s e s h e r n a c h über|sezt in G e d a n k e n , d a s h ä n g t d a v o n a b , w i e d e r e i n e s i c h w i l l i g i m B e w u ß t s e i n s e i n e r O h n m a c h t in d a s g e h e i m n i ß -

25

v o l l e D u n k e l v e r l i e r t , d e r a n d e r e a b e r , a u f d i e B e s t i m m t h e i t des G e d a n kens vorzüglich gerichtet, nur unter der uns allein g e g e b e n e n F o r m des B e w u ß t s e i n s u n d S e l b s t b e w u ß t s e i n s sich d e n k e n u n d s t e i g e r n k a n n . D a s Z u r ü k s c h r e k k e n a b e r v o r d e m D u n k e l des u n b e s t i m m t G e d a c h t e n ist 117 d i e e i n e | R i c h t u n g d e r F a n t a s i e , u n d d a s Z u r ü k s c h r e k k e n

vor dem

S c h e i n des W i d e r s p r u c h s , w e n n w i r d e m U n e n d l i c h e n d i e G e s t a l t e n d e s E n d l i c h e n l e i h e n , ist die a n d e r e ; s o l l t e n u n n i c h t d i e s e l b e I n n i g k e i t d e r

1 Stufe] B + C: Stuffe 2 Gözendiener.] Β: Gözendiener? 2 f Verwirrung ... unverkennbare] B: Inkonsequenz ... schwarze 4 f Stufe ... Stufen] B + C: Stuffe ... Stuffen 8 überhaupt ... Begriffs] B: dessen überhaupt noch 10 vornehmlich] B + C: vornemlich 14f und das ... Allmacht] fehlt in Β 16f nicht ... sondern] fehlt in Β 16f Untergeordnetes und Verworrenes] C: untergeordnetes und verworrenes 17 Höchste und Ursprünglichste] B + C: höchste und ursprünglichste 17f im ... daß] B: meine im Menschen, und 19 wissen,] B + C: wissen 19 f in ... Gedankenerzeugung] fehlt in Β 20—15 zu der ... trägt;] B: zur Welt und zur Gottheit gelangt auch für das Gefühl, und dann erst zu jenem Begriff, welcher für Euch die Welt erschaft, und daß Ihr keinen Gott haben könnt ohne Welt. Auch wird er dadurch niemanden ungewisser werden, 29 Gedachten] C: gedachten

30

Zweite

Rede

125

Religion verbunden sein können mit der einen und mit der andern? Und sollte nicht eine nähere Betrachtung, die aber hieher eben deshalb nicht gehört, weil wir hier nur von dem innersten Wesen der Religion reden, sollte eine solche nicht zeigen, daß beide Vorstellungsarten gar nicht so 5 weit auseinanderliegen, als es den meisten scheint, nur daß man in die eine nicht den Tod hineindenken muß, aus der andern aber alle M ü h e SW 261 redlich anwenden die Schranken hinwegzudenken. Dieses glaubte ich sagen zu müssen, damit Ihr mich verstehet wie ich es meine mit diesen beiden Vorstellungsweisen; vorzüglich aber auch, damit Ihr und Andere 10 sich nicht täuschen über unser Gebiet, und Ihr nicht meint, alle seien Verächter der Religion, welche sich nicht befreunden wollen mit der Persönlichkeit des höchsten Wesens, wie sie von den meisten dargestellt wird. Und fest überzeugt bin ich, daß | durch das Gesagte der Begriff C170 der Persönlichkeit Gottes Niemandem wird ungewisser werden, der ihn 15 in sich trägt; noch wird sich J e m a n d von der fast unabänderlichen N o t wendigkeit sich ihn anzueignen um desto besser losmachen, weil er darum weiß, woher ihm diese Nothwendigkeit k o m m t . Auch gab es unter wahrhaft religiösen Menschen nie Eiferer, Enthusiasten oder Schwärmer für diesen Begriff; und sofern man, wie es wol oft geschieht, unter 20 Atheismus nichts anders versteht als die Zaghaftigkeit und Bedenklichkeit in Bezug auf diesen Begriff: so würden die wahrhaft Frommen diesen mit großer Gelassenheit neben sich sehen; und es hat immer etwas gegeben, was ihnen irreligiöser schien, nämlich, was es auch ist, wenn Einer das entbehrt, die Gottheit unmittelbar gegenwärtig zu haben in seinem 25 Gefühl. Nur das werden sie immer am meisten zaudern zu glauben d a ß Einer in der T h a t ganz ohne Religion sei, und sich nicht darüber nur täusche, weil ein solcher ja auch ganz ohne Gefühl sein müßte, und | ganz versunken mit seinem eigentlichen Dasein ins Thierische: denn nur 118 wer so tief gesunken ist, meinen sie, könne von dem G o t t in uns und in 30 der Welt, von dem göttlichen Leben und Wirken, wodurch alles besteht, nichts inne werden. Wer aber darauf beharrt, müßte er auch noch so viele und vortreffliche M ä n n e r ausschließen, das Wesen der Frömmigkeit bestehe in dem Bekenntniß, das höchste Wesen sei persönlich denkend

8 f müssen, ... auch,] C: müssen ... auch 14 Niemandem] C: niemanden 15 Jemand] B + C: jemand 19—22 Begriff; ... sehen;] B: Begriff, und sofern man das Verwerfen desselben Atheismus nennt, haben sie diesen mit großer Gelassenheit neben sich gesehn, 2 3 f nämlich, ... entbehrt,] B: nemlich ... entbehrt 25—27 Nur ... ja] B: Nur daß sie nicht glauben können daß Einer ganz ohne Religion sei, weil er sonst 29—5 wer ... Frömmigkeit] B: ein solcher könnte von dem Gott in uns und in der Welt, von dem göttlichen Leben und Wirken des Universum nichts inne werden. Mit dem persönlichen Gott aber, dem außerweltlichen und von |[174] außen her gebietenden, hat die Religion ursprünglich nichts zu schaffen; und die welche ihn so unabhängig vom Gefühl über Alles stellen, wollen auch etwas was ihr

126

Über die

Religion

C 171 und außerweltlich | wollend, der muß sich nicht weit umgesehen haben SW 262 in dem Gebiet der Frömmigkeit, ja die tiefsinnigsten Worte der eifrigsten Vertheidiger seines eignen Glaubens müssen ihm fremd geblieben sein. Nur zu groß aber ist die Anzahl derer, welche von ihrem so gedachten Gott auch etwas wollen was der Frömmigkeit fremd ist, nämlich er soll 5 ihnen von außen ihre Glükseligkeit verbürgen, und sie zur Sittlichkeit reizen. Sie mögen zusehn wie das angehe; denn ein freies Wesen kann nicht anders wirken wollen auf ein freies Wesen, als nur, daß es sich ihm zu erkennen gebe, einerlei ob durch Schmerz oder Lust, weil dies nicht durch die Freiheit bestimmt wird, sondern durch die Nothwendigkeit. 10 Auch kann es uns zur Sittlichkeit nicht reizen, denn jeder angebrachte Reiz sei es nun Hoffnung oder Furcht von was immer für Art ist etwas Fremdes, dem zu folgen, wo es auf Sittlichkeit ankommt, unfrei ist also unsittlich; das höchste Wesen aber, zumal sofern es selbst als frei gedacht wird, kann nicht wollen die Freiheit selbst unfrei machen und unsittlich 15 die Sittlichkeit. 2 0 Dies nun bringt mich auf das zweite, nämlich die Unsterblichkeit, und ich kann nicht bergen, daß in der gewöhnlichen Art sich mit ihr zu beschäftigen noch mehr ist, was mir nicht scheint mit dem Wesen der Frömmigkeit zusammenzuhängen oder aus demselben hervorzugehen. 20 Die Art nämlich, wie jeder Fromme ein unwandelbares und ewiges DaC172 sein in sich trägt, glaube ich Euch eben | dargestellt zu haben. Denn wenn unser Gefühl nirgend am Einzelnen haftet, sondern unsere Bezie119 hung zu Gott sein Inhalt ist, in welcher alles Einzelne und | Vergängliche untergeht: so ist ja auch nichts Vergängliches darin, sondern nur Ewiges, 25 Β 17S und man kann mit Recht sagen, daß das religiöse Leben dasjenige | ist, in welchem wir alles Sterbliche schon geopfert und veräußert haben, und die Unsterblichkeit wirklich genießen. Aber die Art, wie die meisten Menschen sie sich bilden und ihre Sehnsucht darnach erscheint mir irreligiös, dem Geist der Frömmigkeit gerade zuwider, ja ihr Wunsch, unsterb- 30 lieh zu sein, hat keinen andern Grund, als die Abneigung gegen das was

8 nur,] B + C: nur 11 — 16 jeder ... Sittlichkeit.] B: es wird nicht anders betrachtet als handelnd, und auf unsre Sittlichkeit kann nicht gehandelt, und kein Handeln auf sie kann gedacht werden. 13 Fremdes] C: fremdes 15 wird,] C: wird 17—22 Dies ... eben] B: Was aber die Unsterblichkeit betrifft, so kann ich nicht bergen, daß hier noch weit wenigeres der Art entspricht, wie jeder Fromme ein unwandelbares und ewiges Dasein in sich trägt. Und diese glaube eben ich Euch 25 Vergängliches] B: vergängliches 29—31 sich ... sein,] B: nehmen und ihre Sehnsucht darnach ist ganz irreligiös, dem Geist der Religion gerade zuwider, ihr Wunsch 3 0 f Wunsch, ... sein] C: Wunsch ... seyn 16 Sittlichkeit.] so DV von C; OD von C: Sittlichkeit?

Zweite Rede

5

10

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127

das Ziel der Religion ist. Erinnert Euch, wie diese ganz darauf hinstrebt, daß die scharf abgeschnittenen Umrisse unsrer Persönlichkeit sich erweitern und sich allmälig verlieren sollen ins Unendliche, daß wir, indem wir des Weltalls inne werden, auch so viel als möglich eins werden sollen mit ihm; sie aber sträuben sich hiegegen; sie wollen aus der gewohnten Beschränkung nicht hinaus, sie wollen nichts sein als deren Erscheinung, und sind ängstlich besorgt um ihre Persönlichkeit; also weit entfernt, daß sie sollten die einzige Gelegenheit ergreifen wollen, die ihnen der Tod darbietet, um über dieselbe hinaus zu kommen, sind sie vielmehr bange, wie sie sie mitnehmen werden jenseit dieses Lebens, und streben höchstens nach weiteren Augen und besseren Glied| maßen. Aber Gott spricht zu ihnen, wie geschrieben steht: wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es erhalten, und wer es erhalten will, der wird es verlieren. Das Leben was sie erhalten wollen | ist ein nicht zu erhaltendes; denn wenn es ihnen um die Ewigkeit ihrer einzelnen Person zu thun ist, warum kümmern sie sich nicht eben so ängstlich um das was sie gewesen ist, als um das was sie sein wird? und was hilft ihnen das vorwärts, wenn sie doch nicht rükwärts können? J e mehr sie verlangen nach einer Unsterblichkeit, die keine ist, und über die sie nicht einmal Herren sind sie sich zu denken — denn wer kann den Versuch bestehen sich ein zeitförmiges Dasein unendlich vorzustellen — desto mehr verlieren sie von der Unsterblichkeit welche sie immer haben können, und verlieren das sterbliche Leben dazu, mit | Gedanken die sie vergeblich ängstigen und quälen. Möchten sie doch versuchen aus Liebe zu Gott ihr Leben aufzugeben. Möchten sie darnach streben, schon hier ihre Persönlichkeit zu vernichten, und im Einen und Allen zu leben. Wer gelernt hat mehr sein als er selbst, der weiß, daß er wenig verliert, wenn er sich selbst verliert; nur wer so sich selbst verläugnend mit dem ganzen Weltall so viel er davon erreichen kann zusammen geflossen, und in wessen Seele

1 Euch,] B + C: Euch 1 diese ganz] B: in ihr alles 3 f wir, ... auch] B: wir durch das Anschauen des Universum 6 deren] B: ihre 10 bange,] B: bange 12 ihnen,] B + C: ihnen 14 f nicht zu erhaltendes] B: erbärmliches 15 einzelnen] fehlt in Β 1 7 f vorwärts,] B: vorwärts 18—22 Je ... und verlieren] B: Über die Sucht nach einer Unsterblichkeit, die keine ist, und über die sie nicht Herren sind, verlieren sie die welche sie haben könnten, und 24—2 Möchten ... wirklich] B: Versucht doch aus Liebe zu Gott Euer Leben aufzugeben. Strebt darnach schon hier Eure Persönlichkeit zu vernichten, und im Einen und Allen zu leben; strebt darnach mehr zu sein als Ihr selbst, damit Ihr wenig verliert, wenn Ihr Euch verliert; und wenn Ihr so mit dem Universum, soviel Ihr hier davon findet, zusammengeflossen seid, und eine größere und heiligere Sehnsucht in Euch entstanden ist, dann wollen wir 28 f so viel] C: soviel 1 2 - 1 4 Vgl. Mt 10,39; 16,25; Mk 8,35; Lk

9,24

sw 263

c 173

ß 176

120

128

Über die Religion

SW 264 eine g r ö ß e r e und heiligere Sehnsucht entstanden ist, n u r der hat ein R e c h t dazu und nur mit dem auch läßt sich wirklich weiter reden über c 174 die H o f f n u n g e n , die uns der T o d giebt, und über die Unendlichkeit zu der wir uns durch ihn unfehlbar e m p o r s c h w i n g e n . 2 1 Dies also ist meine Gesinnung über diese Gegenstände. D i e gewöhnliehe Vorstellung von G o t t als einem einzelnen Wesen a u ß e r der Welt und hinter der Welt, ist nicht das Eins und Alles für die Religion, sondern Β177 nur eine selten ganz reine, i m m e r aber u n z u r e i c h e n d e Art sie auszusprechen. Wer sich einen solchen Begriff gestaltet, auf eine unreine Weise, weil es n ä m l i c h grade ein solches Wesen sein m u ß , das er soll brauchen k ö n n e n zu T r o s t und Hülfe, der k a n n einen solchen G o t t glauben o h n e f r o m m zu sein wenigstens in meinem Sinne, ich denke a b e r auch in dem wahren und richtigen ist er es nicht. W e r sich hingegen diesen Begriff gestaltet, nicht willkührlich sondern irgend wie durch seine Art zu denken genöthiget, indem er nur an ihm seine F r ö m m i g k e i t festhalten k a n n , den werden a u c h die U n v o l l k o m m e n h e i t e n , die seinem Begriff i m m e r ankleben bleiben, nicht hinderlich sein n o c h seine F r ö m m i g k e i t verunreinigen. D a s w a h r e Wesen der Religion aber ist weder dieser n o c h ein anderer Begriff, sondern das unmittelbare Bewußtsein der G o t t h e i t , wie wir sie finden, eben so sehr in uns selbst als in der Welt. U n d eben so ist das Z i e l und der C h a r a k t e r eines religiösen Lebens nicht die Unsterblichkeit, wie Viele sie wünschen und an sie glauben, oder auch nur zu C175 glauben v o r g e b e n , | denn ihr Verlangen, zu viel davon zu wissen, m a c h t sie sehr des lezten verdächtig, nicht jene Unsterblichkeit a u ß e r der Z e i t 121 und hinter | der Z e i t , oder vielmehr nur nach dieser Z e i t , aber d o c h in der Z e i t , sondern die Unsterblichkeit, die wir schon in diesem zeitlichen Leben u n m i t t e l b a r h a b e n k ö n n e n , und die eine A u f g a b e ist, in deren L ö s u n g wir i m m e r f o r t begriffen sind. M i t t e n in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in jedem Augenblik, das ist die Unsterblichkeit der Religion.

5 f Die ... einzelnen] B: Gott, wie er gewöhnlich gedacht wird, als ein einzelnes 7 für die] B: in der 8 selten ... aber] Β: zufällige und 8 reine,] C: reine 8—28 auszusprechen. ... sind.] B: auszusprechen; und einen solchen besonderen Gott glaubt wer ihn glaubt nicht willkührlich, oder weil er ihn brauchen will zu Trost und Hülfe, sondern irgendwie durch seine Art zu denken genöthiget. Das wahre Wesen der Religion aber ist vielmehr die Gottheit in der Welt, die Eins ist und Alles zugleich; und der Charakter eines religiösen Lebens ist die Unsterblichkeit, nicht wie Ihr sie Euch wünschet außer der Zeit und hinter der Zeit, sondern wie wir sie unmittelbar haben, wie sie eine Aufgabe ist, die wir immerfort lösen. 19 Gottheit,] C: Gottheit 25 dieser Zeit,] C: dieser Zeit 29 Unendlichen] B + C: Unendlichen, 2 9 Augenblik] B: Augenblikk

5

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129

E r l ä u t e r u n g e n zur zweiten Rede.

5

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35

SW 265

1) S. 3 8 . Bei dem rednerischen C h a r a k t e r dieses Buchs und da die S a c h e hier doch nicht weiter ausgeführt werden konnte, würde es w o l erlaubt gewesen sein, dieses mit einer sehr leise gehaltenen Ironie — und wie leicht k o n n t e ein Leser die in den Worten finden — zu sagen, wenn auch meine M e i n u n g wirklich gewesen wäre, die Religion sei selbst diese wiederhergestellte Einheit des W i s sens. Die W o r t e hätten dann nur gesagt, daß ich diese Ueberzeugung meinen Gegnern nicht aufdringen wollte, weil ich zwar w o l anderwärts und unter einer andern Form, aber nicht gerade hier sie siegreich durchfechten k ö n n t e . D a h e r scheint es mir nöthig, mich gegen diese Auslegung noch besonders zu v e r w a h r e n , und zwar um so mehr, als jezt von vielen T h e o l o g e n so scheint verfahren zu werden, als sei die Religion, a b e r freilich nicht überhaupt sondern nur die christliche, wirklich das höchste Wissen, und nicht nur der Dignität sondern auch der Form nach identisch mit der metaphysischen Speculation, und zwar so, d a ß sie die gelungenste und vortrefflichste sei, alle Speculation aber, welche | nicht dieC176 selben Resultate heraus b r ä c h t e , und z. B. nicht die Dreieinigkeit deduciren k ö n n e , sei eben verfehlt. D a m i t h ä n g t auch gewissermaaßen zusammen die Behauptung Anderer, d a ß die u n v o l l k o m m n e r n Religionen und namentlich die polytheistischen auch der Art nach gar nicht dasselbe wären wie die christliche. Von beidem m u ß ich mich besonders los sagen, wie ich denn, was das lezte betrifft, sowol im weitern Verfolg dieses Buchs, als auch in der Einleitung zu meiner Glaubenslehre zu zeigen suche, wie auch die unvollkommensten Gestalten der Religion doch der Art nach dasselbige sind. Was aber das erste betrifft, wenn ein Philosoph als solcher es wagen will eine Dreiheit in dem höchsten Wesen nachzuweisen, so mag er es thun auf seine G e f a h r ; ich werde aber dann meinerseits behaupten, diese D r e i h e i t sei nicht unsere christliche, und habe, weil sie eine s p e c u l a t i v e Idee sei, gewiß an einem andern O r t in der Seele ihren 122 Ursprung, als unsre christliche Vorstellung der Dreieinigkeit. Wäre aber die Religion wirklich das höchste Wissen, so müßte auch die wissenschaftliche M e t h o d e die einzig z w e k m ä ß i g e sein zu ihrer Verbreitung, und die Religion selbst m ü ß t e können erlernt werden, was n o c h nie ist behauptet w o r d e n , und es gäbe dann eine Stufenleiter zwischen einer Philosophie, welche nicht dieselben Resultate wie unsre christliche T h e o l o g i e b r ä c h t e , und dies wäre die unterste Stufe; dann k ä m e die Religion der christlichen Laien, welche als π ί σ τ ι ς eine u n v o l l k o m m n e Art wäre das h ö c h s t e Wissen zu h a b e n , endlich die T h e o l o g i e , welche als γ ν ώ σ ι ς die v o l l k o m m n e Art wäre dasselbe zu haben und o b e n a n stände, und keine von

2 38] C: 55 18 unvollkommnern] C: unvollkomnern 33 Stufe] C: Stuffe vollkommne] C: unvollkomne 36 vollkommne] C: vollkomne 35 γνώσις] C + D: γνώσις 21 f Vgl. CG2

1,42-55

34 un-

Über die

130

Religion

diesen dreien w ä r e mit der a n d e r n v e r t r ä g l i c h . D i e s e s n u n k a n n ich eben g a r n i c h t a n n e h m e n , e b e n d e s w e g e n a u c h die R e l i g i o n n i c h t für d a s h ö c h s t e W i s s e n h a l t e n , und a l s o a u c h ü b e r h a u p t für keines; u n d m u ß d e s h a l b a u c h g l a u b e n , d a ß d a s , w a s der c h r i s t l i c h e L a i e u n v o l l k o m m n e r h a t als der T h e o l o g e , und w a s o f f e n b a r ein W i s s e n ist, n i c h t die R e l i g i o n selbst sei, s o n d e r n e t w a s ihr a n h ä n -

5

gendes. SW 266

2) S. 4 6 . W i e m a n d e m r e d n e r i s c h e n V o r t r a g ü b e r h a u p t die strengen D e f i -

es 377 n i t i o n e n e r l ä ß t u n d i h m s t a t t deren | die B e s c h r e i b u n g e n g e s t a t t e t , s o ist eigentlich diese g a n z e R e d e nur eine a u s g e f ü h r t e , m i t B e s t r e i t u n g e n a n d e r e r n a c h meiner

Ueberzeugung

falscher

Vorstellungen

untermischte

Beschreibung,

deren

10

H a u p t m e r k m a l e a l s o zerstreut sind und sich z u m T h e i l u n v e r m e i d l i c h an vers c h i e d e n e n Stellen unter v e r s c h i e d e n e n A u s d r ü k k e n w i e d e r h o l e n . D i e s e A b w e c h selung des A u s d r u k s , w o d u r c h d o c h j e d e s m a l e i n e a n d e r e S e i t e der S a c h e ins L i c h t gesezt w i r d , u n d w e l c h e ich selbst in w i s s e n s c h a f t l i c h e r e n V o r t r ä g e n , w e n n n u r die v e r s c h i e d e n e n F o r m e n z u s a m m e n s t i m m e n und sich in e i n a n d e r a u f l ö s e n

15

l a s s e n , z w e k m ä ß i g finde, u m die b e d e n k l i c h e n W i r k u n g e n einer zu starren T e r m i n o l o g i e zu v e r m e i d e n , schien dieser S c h r e i b a r t b e s o n d e r s a n g e m e s s e n .

So

k o m m e n hier k u r z h i n t e r e i n a n d e r für d e n s e l b e n W e r t h drei v e r s c h i e d e n e Ausd r ü k k e vor. In der hier z u n ä c h s t a n g e z o g e n e n Stelle w i r d der R e l i g i o n zuges c h r i e b e n , d a ß d u r c h sie d a s a l l g e m e i n e Sein alles E n d l i c h e n im U n e n d l i c h e n

20

u n m i t t e l b a r in uns lebe, und S e i t e 4 6 s t e h t , R e l i g i o n sei Sinn und G e s c h m a k für d a s U n e n d l i c h e . S i n n a b e r ist W a h r n e h m u n g s - o d e r E m p f i n d u n g s v e r m ö g e n und h i e r d a s leztere, w i e denn a u c h in den f r ü h e r e n A u s g a b e n , w i e w o l n i c h t g a n z s p r a c h r i c h t i g , s t a t t Sinn und G e s c h m a k für d a s U n e n d l i c h e s t a n d E m p f i n d u n g u n d G e s c h m a k . W a s ich a b e r w a h r n e h m e o d e r e m p f i n d e , das bildet sich m i r ein,

25

u n d e b e n dieses n e n n e ich das L e b e n des G e g e n s t a n d e s in mir. D e s U n e n d l i c h e n a b e r , w o r u n t e r hier n i c h t irgend e t w a s U n b e s t i m m t e s s o n d e r n die U n e n d l i c h k e i t d e s Seins ü b e r h a u p t v e r s t a n d e n wird, k ö n n e n w i r n i c h t u n m i t t e l b a r und durch 123

sich selbst inne w e r d e n , s o n d e r n i m m e r nur m i t t e l s t des E n d l i c h e n , | i n d e m unsre W e l t s e z e n d e u n d s u c h e n d e R i c h t u n g uns v o m E i n z e l n e n und T h e i l a u f das All

30

u n d G a n z e h i n f ü h r t . S o ist d e m n a c h Sinn für d a s U n e n d l i c h e und u n m i t t e l b a r e s in uns leben des E n d l i c h e n , w i e es im U n e n d l i c h e n ist, eins und d a s s e l b e . W e n n a b e r in d e m e r s t e r e n A u s d r u k zu d e m Sinn n o c h h i n z u g e f ü g t w i r d der G e s c h m a k u n d in d e m lezten a u s d r ü c k l i c h das a l l g e m e i n e Sein alles E n d l i c h e n im U n e n d l i c h e n : so sind w i e d e r u m beide Z u s ä z e im W e s e n t l i c h e n g l e i c h b e d e u t e n d . D e n n C 178

G e s c h m a k | für e t w a s h a b e n , d a s schließt a u ß e r d e m S i n n , als der b l o ß e n F ä h i g k e i t , a u c h n o c h die L u s t dazu in sich, und e b e n diese L u s t und Verlangen d u r c h

4 unvollkommner] C: unvollkomner 7 46] C: 67 20 Endlichen im Unendlichen] C: endlichen im unendlichen 21 46] C: 66 27 Unbestimmtes] C: unbestimmtes 3 4 ausdrücklich] C: ausdrüklich 35 Wesentlichen] C: wesentlichen 21 Hier 56,18 f 23—25 In der 1. Auflage charakterisierte Schleiermacher die Religion als „Sinn und Geschmak fürs Unendliche" (KGA 1/2,212,31 f), in der 2. Auflage als „Empfindung und Geschmakk für das Unendliche" (B 65; hier 56,34 f).

35

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

zur zweiten

Rede

131

alles Endliche nicht nur dessen selbst, sondern auch des Unendlichen inne zu werden, ist es, vermöge deren der Fromme jenes Sein des Endlichen im Unendlichen auch allgemein findet. Aehnliches dieser Stelle steht schon S. 42, wo nur dem Zusammenhange nach der Ausdruk Betrachtung in dem weitern Sinne genommen werden muß, wie nicht nur die eigentliche Speculation darunter zu begreifen ist, sondern alles von äußerer Wirksamkeit zurükgezogene Erregtsein des Geistes. — Was aber den Meisten hier am meisten aufgefallen sein wird, ist dieses, daß das unendliche Sein doch hier nicht das höchste Wesen als Ursache der Welt zu sein scheint, sondern die Welt selbst. Diesen aber gebe ich zu bedenken, daß meiner Ueberzeugung nach in einem solchen Zustande unmöglich Gott nicht kann mitgesezt sein, und gebe ihnen den Versuch anheim, sich die Welt als ein wahres All und Ganzes vorzustellen ohne Gott. Darum bin ich hier bei jenem stehen geblieben, weil sonst leicht mit der Idee selbst eine bestimmte Vorstel- SW 267 lungsart hervorgetreten wäre, und also eine Entscheidung gegeben oder wenigstens eine Kritik geübt worden wäre über die verschiedenen Arten Gott und Welt zusammen und außer einander zu denken, welches gar nicht hierher gehörte, und nur den Gesichtskreis auf eine nachtheilige Weise beschränkt hätte. 3) S. 48. Diese Stelle über den verewigten Novalis ist erst in der zweiten Ausgabe hinzugekommen, und ich glaube wol, daß sich Manche über diese Zusammenstellung werden gewundert haben, indem ihnen weder eine unmittelbare Aehnlichkeit beider Geister einleuchten wird, noch auch daß der eine sich zur Kunst auf eine eben so exemplarische Weise verhalte wie ich von dem andern behauptet in Bezug auf die Wissenschaft. Allein dergleichen ist zu individuell um mehr als angedeutet werden zu können, und ich konnte es nicht auf einen sehr ungewissen Erfolg wagen einen späteren Zusaz über die Gebühr auszudehnen und dadurch das Ebenmaaß der Rede zu verderben. Auch hier | kann ich aus demsel- C 179 ben Grunde nicht in weitere Erörterungen hineingehen und auch aus noch einem andern, weil nämlich seit diesen 15 Jahren sowol die Aufmerksamkeit auf Spinoza wieder eingeschlafen zu sein scheint, welche durch die Jakobischen Schriften angeregt, deren Wirkung noch durch manche spätere Anregung verlängert ward, bei der | Erscheinung dieses Buches noch ziemlich rege war, als auch 124 Novalis schon nur zu Vielen wieder fremd geworden ist. Damals aber schien mir die Erwähnung bedeutend und wichtig. Denn eben so viele tändelten damals in flacher Poesie mit Religion, und glaubten damit dem tiefsinnigen Novalis verwandt zu sein, wie es All Einheitler genug gab, welche dafür gehalten wurden oder selbst hielten auf der Bahn des Spinoza zu wandeln, von dem sie wo möglich noch weiter entfernt waren, als jene Dichterlinge von ihrem Urbilde. Und Novalis wurde von den Nüchterlingen eben so als schwärmerischer Mistiker

1 selbst,] C: selbst 2 f Endlichen im Unendlichen] C : endlichen im unendlichen 42] C : 61 18 48] C: 69 19 Manche] C : manche

3

3 Hier 53,3-14 18 Friedrich von Hardenberg (Novalis) starb 1801 im Alter von knapp 29 Jahren. 29 f Vgl. besonders Friedrich Heinrich Jacobi: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, 2. Aufl., Breslau 1789

132

Über die Religion

v e r s c h r i e e n , w i e S p i n o z a von den B u c h s t ä b l e r n als G o t t l o s e r . G e g e n das Leztere n u n zu p r o t e s t i r e n lag m i r o b , d a ich das g a n z e G e b i e t der F r ö m m i g k e i t a u s m e s sen w o l l t e . D e n n es h ä t t e e t w a s W e s e n t l i c h e s g e f e h l t an der D a r l e g u n g m e i n e r A n s i c h t , w e n n ich n i c h t i r g e n d w i e g e s a g t h ä t t e , d a ß dieses g r o ß e n M a n n e s G e s i n n u n g und G e m ü t h s a r t m i r e b e n f a l l s v o n F r ö m m i g k e i t d u r c h d r u n g e n schien,

5

w e n n gleich es n i c h t die c h r i s t l i c h e w a r . U n d d o c h m ö c h t e ich n i c h t d a f ü r s t e h e n , w a s sie w ü r d e g e w o r d e n sein, w e n n n i c h t zu seiner Z e i t d a s C h r i s t e n t h u m s o v e r k l e i d e t g e w e s e n w ä r e und u n k e n n t l i c h g e m a c h t durch t r o c k e n e F o r m e l n und leere S p i z f i n d i g k e i t e n , d a ß e i n e m F r e m d e n n i c h t z u z u m u t h e n w a r die h i m m l i s c h e G e s t a l t lieb zu g e w i n n e n . D i e s e s nun sagte ich in d e r ersten A u s g a b e e t w a s j ü n g l i n g s a r t i g z w a r , a b e r d o c h s o d a ß ich a u c h jezt n i c h t s zu ä n d e r n

10

nöthig

g e f u n d e n h a b e , i n d e m j a k e i n e V e r a n l a s s u n g w a r zu g l a u b e n , d a ß ich d e m Spin o z a den heiligen G e i s t in d e m e i g e n t h ü m l i c h c h r i s t l i c h e n S i n n e des W o r t e s zus c h r e i b e n w o l l t e ; u n d d a z u m a l in j e n e r Z e i t das E i n l e g e n s t a t t auszulegen n i c h t s o an der T a g e s o r d n u n g w a r , n o c h so v o r n e h m e i n h e r g i n g wie jezt, s o durfte ich C 180

15

g l a u b e n , einen T h e i l m e i n e s G e s c h ä f t e s gut v e r r i c h t e t zu h a b e n . W i e k o n n t e ich a u c h e r w a r t e n w a s mir g e s c h a h , d a ß ich n ä m l i c h , weil ich d e m S p i n o z a die

SW 268

F r ö m m i g k e i t z u g e s c h r i e b e n , n u n selbst für einen S p i n o z i s t e n g e h a l t e n

wurde,

o h n e r a c h t e t ich sein S y s t e m a u f k e i n e W e i s e v e r f o c h t e n h a t t e , u n d , w a s irgend in m e i n e m B u c h e p h i l o s o p h i s c h ist, sich o f f e n b a r g e n u g g a r n i c h t reimen l ä ß t

20

m i t d e m E i g e n t h ü m l i c h e n seiner A n s i c h t , die j a g a n z a n d e r e A n g e l n h a t , u m die sie sich d r e h t , als n u r die so g a r Vielen g e m e i n s a m e E i n h e i t der S u b s t a n z . J a a u c h J a k o b i h a t in seiner K r i t i k d a s E i g e n t h ü m l i c h s t e a m w e n i g s t e n g e t r o f f e n . W i e ich m i c h a b e r e r h o l t h a t t e von der B e t ä u b u n g , und bei B e a r b e i t u n g der z w e i t e n A u s g a b e m i r die P a r a l l e l e w i e sie nun hier s t e h t für sich e i n l e u c h t e t e : so

25

h o f f t e ich z i e m l i c h g e w i ß , d a es j a b e k a n n t g e n u g ist, d a ß N o v a l i s v o n m a n c h e n P u n k t e n aus e t w a s in den K a t h o l i z i s m u s h i n ü b e r s p i e l t e , m a n sollte m i c h , weil ich seine K u n s t l o b t e , auch n o c h seines religiösen A b w e g e s zeihen n e b e n d e m S p i n o z i s m u s , d e m ich huldigen s o l l t e , weil ich S p i n o z a ' s F r ö m m i g k e i t r ü h m t e , u n d ich w e i ß n o c h n i c h t r e c h t , w a r u m m i c h diese E r w a r t u n g g e t ä u s c h t h a t . | 125

30

4) S . 5 4 . W a h r s c h e i n l i c h w e r d e n a u c h u n t e r den W e n i g e n , die sich n o c h gefallen lassen, d a ß die R e l i g i o n ursprünglich d a s in der h ö c h s t e n R i c h t u n g aufg e r e g t e G e f ü h l sei, d o c h n o c h g e n u g sich f i n d e n , d e n e n dieses viel zu viel b e h a u p t e t scheint, d a ß alle gesunden E m p f i n d u n g e n f r o m m sind, o d e r d a ß alle es w e n i g stens sein sollten u m n i c h t k r a n k h a f t zu sein; d e n n w e n n m a n dies a u c h allen

35

geselligen E m p f i n d u n g e n z u g e s t e h e n w o l l t e , so sei d o c h n i c h t a b z u s e h e n , wie die F r ö m m i g k e i t a u c h in allen d e n e n E m p f i n d u n g e n g e f u n d e n w e r d e n k ö n n e , w e l c h e zu e i n e m h ö h e r e n o d e r auch s i n n l i c h e r e n L e b e n s g e n u ß die M e n s c h e n vereinigen. U n d d o c h w e i ß ich v o n der A l l g e m e i n h e i t der B e h a u p t u n g n i c h t s z u r ü k z u n e h m e n , und will sie k e i n e s w e g e s als eine r e d n e r i s c h e V e r g r ö ß e r u n g v e r s t a n d e n h a -

1 Leztere] C: leztere 3 Wesentliches] C: wesentliches 6 wenn gleich] C : wenngleich 8 trockene] C: trokne 21 Eigenthümlichen] C: eigenthümlichen 23 Eigenthümlichste] C: eigenthümlichste 29 sollte, weil ich Spinoza's] C: sollte weil ich Spinozas 31 54] C: 78 3 6 abzusehen] C; abzusehn 40 keinesweges] C: keineswegs

40

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

zur zweiten

Rede

133

ben. Um nur einen festen Grund zu legen von einem Punkte aus, so muß wol einleuchten, daß der Protestantismus die Hausväterlichkeit der Geistlichen gegen den trübsinnigen Wahn von einer vorzüglichen Heiligkeit des ehelosen Lebens nur vollständig | und folgerichtig behaupten kann, wenn er annimmt und nach- C 181 weiset, daß auch die eheliche Liebe und also auch alle ihr vorangehenden natürlichen Annäherungen der Geschlechter nicht der Natur der Sache nach den frommen Gemüthszustand absolut abbrechen, sondern daß dies nur geschieht nach Maaßgabe als der Empfindung etwas Krankhaftes, und, um es recht auf die Spize zu stellen, eine Anlage zur bacchischen Wuth oder zur narcissischen T h o r heit sich beigemischt hat. Nach dieser Analogie nun wird sich, glaube ich, dasselbe nachweisen lassen von jedem Empfindungsgebiet, welches man irgend als ein an sich der Sittlichkeit nicht widerstreitendes anzusehen gewohnt ist. — Wenn aber unmittelbar nach dieser Stelle und aus derselben gefolgert wird, d a ß eben so wie alle acht menschlichen Empfindungen dem religiösen Gebiet angehören, eben so alle Begriffe und Grundsäze aller Art demselben fremd seien: so schien mir diese Zusammenstellung recht geeignet, um zu zeigen, wie das lezte gemeint sei, und wie in dieser Hinsicht die Religion an sich streng zu scheiden sei von dem was ihr angehört. Denn auch jene Empfindungen, welche man gewöhnlich von dem religiösen Gebiete trennt, bedürfen, um sich mitzutheilen und darzustellen, was sie doch nicht entbehren können, der Begriffe, und um ihr richtiges SW 269 M a a ß auszusprechen der Grundsäze; aber diese Grundsäze und Begriffe gehören nicht zu den Empfindungen an sich. Eben so ist es mit dem dogmatischen und ascetischen in Bezug auf die Religion, wie dies im Folgenden weiter erörtert wird. 5) S. 5 7 . Für das Verständniß meiner ganzen Ansicht kann mir nichts wichtiger sein, als daß meine Leser zwei Darstellungen, die ihrer Form nach so sehr von einander verschieden sind, und von so weit auseinander liegenden Punkten ausgehn, wie diese Reden und meine christliche Glaubenslehre, doch ihrem Inhalte nach vollkommen in einander mögen auflösen können. Allein es war unmög|lich, die gegenwärtigen Reden zu diesem Behuf mit einem vollständigen 126 Commentar zu versehen, und ich muß mich nur mit einzelnen Andeutungen begnügen, an solchen Stel|len, wo mir selbst v o r k o m m t als o b wol J e m a n d e m C 182 ein scheinbarer Widerspruch oder wenigstens ein Mangel an Zusammenstimmung auffallen könnte. So möchte auch vielleicht nicht jeder die hier gegebene Beschreibung, daß allen religiösen Erregungen ein Handeln der Dinge auf uns zum Grunde liege, übereinstimmend finden mit der durch die ganze Glaubenslehre hindurchgehenden Erklärung, daß das Wesen der religiösen Erregungen in dem Gefühl einer absoluten Abhängigkeit bestehe; die Sache ist aber diese. Auch dort wird eingeräumt, daß dieses Gefühl nur wirklich in uns werden könne auf

1 einem Punkte] C: Einem Punkt 32 Jemandem] C: jemanden 37 f Vgl. z. B. CG2 §§ 4. 32-35

8 Krankhaftes] C: krankhaftes

39 f Vgl. CG2 § 5

25 57] C: 83

134

Über die

Religion

Veranlassung der Einwirkungen einzelner Dinge, und davon, d a ß die einzelnen Dinge dieses G e f ü h l veranlassen und in wie fern, davon ist auch hier die Rede. Sind uns aber die einzelnen Dinge in ihrer Einwirkung nur einzelne, so entsteht auch nur die in der Glaubenslehre ebenfalls als Substrat der religiösen Erregung postulirte B e s t i m m t h e i t des sinnlichen Selbstbewußtseins. G e g e n das Einzelne aber, sei es nun g r o ß oder klein, sezt sich unser einzelnes Leben immer in G e g e n wirkung, und so entsteht kein Gefühl der Abhängigkeit, als nur zufälligerweise, wenn die G e g e n w i r k u n g nicht der Einwirkung gleich k o m m t . W i r k t aber das Einzelne nicht als solches, sondern als ein T h e i l des Ganzen a u f uns ein, welches lediglich auf der S t i m m u n g und R i c h t u n g unseres G e m ü t h e s beruht, und wird es uns also in seiner Einwirkung gleichsam nur ein D u r c h g a n g s p u n k t des G a n zen: so erscheint uns selbst unsere G e g e n w i r k u n g durch dasselbe und auf dieselbe Art b e s t i m m t wie die Einwirkung, und unser Z u s t a n d kann dann kein anderer sein, als das Gefühl einer gänzlichen Abhängigkeit in dieser Bestimmtheit. Und hier zeigt sich auch, wie auf gleiche Weise bei der einen wie bei der andern Darstellung Welt und G o t t nicht können getrennt werden. Denn a b h ä n gig fühlen wir uns von dem Ganzen nicht, sofern es ein zusammengeseztes ist aus einander gegenseitig bedingenden T h e i l e n , deren wir ja selbst einer sind: sondern nur sofern diesem Z u s a m m e n h a n g eine alles und auch unser Verhältniß zu allen übrigen Theilen bedingende Einheit zum G r u n d e liegt; und auch nur C 183 unter | eben dieser Bedingung k a n n , wie es hier heißt, das Einzelne als eine Darstellung des Unendlichen so aufgefaßt werden, daß sein Gegensaz gegen anderes dabei ganz untergeht. 6) S. 5 9 . Unter M y t h o l o g i e verstehe ich nämlich im Allgemeinen, wenn ein rein ideeller Gegenstand in geschichtlicher F o r m vorgetragen wird; und so dünkt mich, haben wir ganz nach der Analogie der polytheistischen auch eine m o n o theistische und christliche Mythologie. Und zwar bedarf es dazu nicht einmal der G e s p r ä c h e göttlicher Personen miteinander, wie sie in dem Klopstockischen 127 Gedicht I und sonst v o r k o m m e n ; sondern auch in der strengeren L e h r f o r m , w o

SW 270

irgend etwas dargestellt wird als in dem göttlichen Wesen geschehend, göttliche Rathschlüsse, welche gefaßt werden in Bezug auf etwas in der Welt Vorgegangenes oder auch um andere göttliche Rathschlüsse also gleichsam frühere zu modificiren; nichts zu sagen von den einzelnen göttlichen Rathschlüssen, welche dem Begriff der G e b e t s e r h ö r u n g seine Realität geben. J a auch die Darstellungen vieler göttlichen Eigenschaften haben diese geschichtliche Form, und sind also mythologisch. D i e göttliche Barmherzigkeit z. B. wie der Begriff größtentheils gefaßt

9 solches,] C: solches 14 anderer] C: andrer 24 59] C: 85 24 Allgemeinen] C: allgemeinen 31 f Vorgegangenes] C: vorgegangenes 35 haben] C: haben eben 18 aus einander] D: auseinander 28 f Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias, Altona 1780; Sämmtliche Werke, Bd. 3 —6, Leipzig 1823; Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Werke 4,1—2, Berlin/New York 1974

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Erläuterungen

zur zweiten

Rede

135

wird, ist nur etwas, wenn man den göttlichen Willen, welcher das Uebel lindert, von demjenigen trennt, welcher es verfügt hat; denn sieht man beide als eines an, so ist der eine nicht einmal die Grenze des andern, sondern der das Uebel verhängende göttliche Wille verhängt es nur in einem bestimmten Maaß, und 5 dann ist der Begriff der Barmherzigkeit ganz aufgehoben. Eben so wird in dem Begriff der Wahrhaftigkeit Gottes Versprechen und Erfüllung getrennt; und beide zusammen stellen einen geschichtlichen Verlauf dar. Denn wenn man die verheißende Thätigkeit als dieselbe ansieht, durch welche schon die Erfüllung wirklich gesezt ist: so ist der Begriff der göttlichen Wahrhaftigkeit nur noch etwas, sofern 10 manche göttliche Thätigkeiten mit einer Aeußerung derselben verbunden sind oder nicht, und in dieser Verschiedenheit ist auch eine Geschichte ausgedrükt. Sieht man aber im Allgemeinen die hervorbringende Thätigkeit und ihre Aeußerung als Eines an, so findet ein besonderer Begriff gött|licher Wahrhaftigkeit C 184 kaum noch Raum. Und so ließe sich dieses durch mehreres durchführen. N u n 15 will ich diese Darstellungen durch den ihnen beigelegten Namen an und für sich keinesweges tadeln, ich erkenne sie vielmehr für unentbehrlich, weil man sonst über den Gegenstand nicht auf eine solche Weise reden könnte, daß irgend eine Unterscheidung des richtigeren und minder richtigen dadurch vermittelt wäre. Auch ist der Gebrauch derselben auf dem Gebiet der wissenschaftlicheren Dar20 Stellung der Religion mit keiner Gefahr verbunden, weil da die Aufgabe feststeht, die geschichtliche und überhaupt die Zeitform überall hinwegzudenken, und eben so sind sie unentbehrlich auf dem Gebiet der religiösen Dichtkunst und Redekunst, wo man es überall mit gleichgesinnten zu thun hat, für welche der vornehmste Werth dieser Darstellungen darin besteht, daß sie sich dadurch ihre 25 religiösen Stimmungen mittheilen und vergegenwärtigen, in denen dann die Berichtigung der mangelhaften Ausdrükke schon von selbst unmittelbar gegeben ist. Leere Mythologie aber nenne ich sie tadelnd, wenn man sie für sich als eigentliche Erkenntniß betrachtet, und, was nur ein Nothbehelf ist, weil wir es nicht besser machen können, für das Wesen der Religion ausgiebt. 30 7) S. 62. Wenn hier das System von Bezeichnungen, wel|ches in seiner 128 vollkommensten Gestalt den theologischen Lehrbegriff bildet, so dargestellt wird, daß es mehr durch äußere Verhältnisse bestimmt werde, als aus der religio- SW 271 sen Anlage selbst hervorgehe: so soll damit keinesweges die so oft wiederholte allem geschichtlichen Sinn hohnsprechende Behauptung aufs neue vorgebracht 35 werden, daß die religiösen Bewegungen, durch welche im Christenthum eine Menge der wichtigsten Begriffe bestimmt worden sind, nur zufällig und oft aus ganz fremdartigen Interessen hervorgegangen wären. Sondern nur daran habe ich erinnern wollen, was auch in meiner kurzen Darstellung und in der Einleitung zur Glaubenslehre auseinander gesezt ist, daß die Begriffsbildung auch auf

12 Allgemeinen] C: allgemeinen

30 62] C: 90

38 Vgl. Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 1811, S. 61, §§26-27; 2. Aufl., Berlin 1830, §§213-216 38f Vgl. CG' §31; CG2 §28

136

Über die Religion

diesem Gebiet a b h ä n g t von der herrschenden Sprache und von dem G r a d e und C 185 der Art und Weise ihrer wissenschaftlichen Ausbildung; worin | natürlich die Art und Weise zu philosophiren mit eingeschlossen ist. A u c h dieses aber sind für die Religion an und für sich betrachtet nur äußere Verhältnisse, und abgesehen von dem allgemeinen göttlichen Z u s a m m e n h a n g aller D i n g e kann man also sagen, es ließe sich denken, d a ß das Christenthum o h n e wesentlich ein anderes zu sein, in einem ganz andern Lehrtypus zusammengefaßt worden wäre, wenn es z. B. früher eine g r o ß e und vorherrschende orientalische Ausbreitung b e k o m m e n hätte und die hellenische und westliche dagegen wäre zurükgedrängt worden. 8) S. 6 3 . Auch diese Stelle k ö n n t e leicht zu mancherlei Mißverständnissen Veranlassung geben. Was nun züerst den Gegensaz von wahrer und falscher Religion betrifft: so berufe ich mich zunächst auf das, was in meiner Glaubenslehre 2te Ausg. u. a. §. 7 . u. 8. ausgeführt ist, und füge nur noch für diesen O r t hinzu, d a ß auf dem religiösen Gebiet nicht nur ebenfalls der Irrthum nur an der Wahrheit ist, sondern mit R e c h t gesagt werden kann, daß jedes Menschen Religion seine höchste Wahrheit ist; sonst wäre der Irrthum daran nicht nur Irrthum, sondern Heuchelwesen. Ist nun dieses, so kann mit R e c h t gesagt werden, daß in der Religion unmittelbar Alles w a h r ist, da eben nichts in ihren einzelnen M o menten ausgesagt wird als des Religiösen eigner Gemüthszustand. Und mit eben dem R e c h t e gilt auch von allen Gestaltungen religiöser Geselligkeit daß sie gut sind, denn in ihnen muß ebenfalls das beste in dem Dasein jedes Menschen niedergelegt sein. W i e wenig aber dieses dem Vorzug einer Glaubensweise vor der andern Eintrag thut, weif nämlich die eine einen vorzüglicheren Gemüthszustand aussagen, und eben so' in der einen religiösen G e m e i n s c h a f t eine höhere geistige Kraft und Liebe niedergelegt sein kann, das ist ebenfalls theils dort unmittelbar ausgeführt, theils aus dem dort Gesagten leicht zu entnehmen. — Auch daß hier der G e d a n k e von der. Allgemeinheit irgend einer Religion verworfen und behauptet wird, nur im Inbegriff aller Religionen sei der ganze U m f a n g die-| 129 ser Gemüthsrichtung zu befassen, auch dieses drükt keinesweges einen Zweifel C 186 dagegen aus, d a ß | das Christenthum sich über das ganze menschliche Geschlecht werde verbreiten k ö n n e n , wenfi : gleich bei vielen S t ä m m e n unseres Geschlechtes erst bedeutende Veränderungen dieser größten unter allen vorhergehen müssen; und eben so wenig drükt es eirien Wunsch aus, d a ß andere Religionsformen immer neben dem Christenthum bestehen m ö c h t e n . Denn wie der Einfluß des J u d e n t h u m s und des hellenischen Heidenthums auf das Christenthum lange Z e i t SW 272 hindurch in entgegengesezt wogenden Bewegungen sichtbar gewesen ist, so daß beide immer noch im Christenthum erschienen und also auch in der Geschichte des Christenthums mit erscheinen: eben so würde es auch gehen, wenn das Chri-

10 63] C: 92 12 f Glaubenslehre ... 8.] C: Glaubenslehre u . a . Β. I. S. 60. und 67. 16 Irrthum,] C: Irrthum 18 Alles] C: alles 26 Gesagten] C: gesagten 36 entgegengesezt] C: entgegensezt 1 2 f CG 2 1,42-55

39 KGA 1/7,1,48. 52 f

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Erläuterungen

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zur zweiten

Rede

137

stenthum dereinst das G e b i e t aller bisherigen großen Religionsformen in sich aufnähme; und sonach würde der U m f a n g des ganzen religiösen Gebietes hiedurch nicht in engere Grenzen eingeschlossen, alle anderen Religionen aber a u f geschichtliche Weise im Christenthum zu schauen sein. Was aber das erste betrifft, so ist aus dem Z u s a m m e n h a n g e klar, d a ß nur in Bezug a u f den G e g e n s a z zwischen w a h r und falsch die Allgemeinheit irgend einer Religion geläugnet wird, in d e m Sinne nämlich, als o b Alles was a u ß e r h a l b der einen besteht oder bestanden hat, gar nicht Religion zu nennen sei. E b e n so ist auch das Folgende zu verstehen, d a ß nämlich jeder w a h r h a f t F r o m m e gern anerkenne, daß anderen Gestaltungen der Religion M a n c h e s angehören k ö n n e , w o f ü r ihm der Sinn fehlt. D e n n auch wenn das Christenthum alle andern Religionsgebiete verdrängt h ä t t e , so daß sie sich nur noch geschichtlich in ihm selbst spiegelten: so würde nicht Jeder den Sinn haben für Alles, was eben hiedurch im Christenthum selbst gesezt sein würde; denn so wenig jemals als jezt wird das Christenthum aller christlichen Völker ganz dasselbe sein. H a t also N i e m a n d jezt den gleichen Sinn für alles Christliche, so auch nicht den Sinn für alles das in andern Religionen, was den Keim einer künftigen christlichen Eigenthümlichkeit in sich schließt. 9) S. 6 5 . Es giebt jezt noch christliche Gottesgelehrte und g a b sie, als ich zuerst diese Stelle niederschrieb, | in noch weit größerer Anzahl, welche das C 187 ganze Unternehmen der christlichen D o g m a t i k verwerfen, und meinen, das C h r i stenthum würde eine gesundere Entwiklung und eine freiere und schöne G e s t a l t zeigen, wenn man niemals auf den G e d a n k e n g e k o m m e n w ä r e , die christlichen Vorstellungen in einem geschlossenen Z u s a m m e n h a n g e darzustellen; daher sie denn aus allen Kräften daran arbeiteten, diesen Z u s a m m e n h a n g möglichst zu lüften und zu lösen, und die christliche G l a u b e n s l e h r e nur als eine S a m m l u n g von M o n o g r a p h i e n , als ein zufällig entstandenes Aggregat einzelner Säze von sehr ungleichem Werthe gelten zu lassen. Allein schon damals w a r ich weit entfernt, diesen M ä n n e r n beizustimmen, deren gute Absichten ich übrigens nicht b e z w e i f e l n will. Und so würde es ein großes M i ß v e r s t ä n d n i ß sein, wenn J e m a n d 130 glauben wollte, diese Invective gegen die Systemsucht k ö n n e mit dem Bestreben einer Darstellung des christlichen Glaubens den möglichst genauen Z u s a m m e n hang zu geben nicht zusammen bestehen und eines von beiden nicht Ernst sein. Denn die Systemsucht ist nur eine k r a n k h a f t e Ausartung dieses nicht nur an sich löblichen sondern auch heilsamen Bestrebens, und es folgt nur, d a ß diejenige systematische Behandlung religiöser Vorstellungen die vorzüglichste ist, welche auf der einen Seite die Vorstellung und den Begriff nicht für das Ursprüngliche und Constitutive ausgiebt auf diesem G e b i e t , und auf der andern Seite, d a m i t der Buchstabe nicht ersterbe und den Geist mit sich in den T o d ziehe, die lebendige Beweglichkeit desselben sicher stellt, und innerhalb der großen Uebereinstimmung die eigenthümliche Verschiedenheit nicht etwa nur zu dulden versichert,

7 Alles] C: alles 8—10 Folgende ... Fromme ... Manches] C: folgende ... fromme ... manches 13 Jeder ... Alles] C: jeder ... alles 1 5 f Niemand ... Christliche] C: niemand ... christliche 18 65] C: 94 21 schöne] C: schönere 26 Monographien,] C: Monographien 29 Jemand] C: jemand 36 f Ursprüngliche und Constitutive] C: ursprüngliche und constitutive

138 SW 273

Über

die

Religion

s o n d e r n zu c o n s t r u i r e n versucht. W e n n nun J e d e r m a n n dieses für die H a u p t r i c h t u n g m e i n e r D a r s t e l l u n g des c h r i s t l i c h e n G l a u b e n s a n e r k e n n e n m u ß , s o d a r f ich a u c h g l a u b e n in v o l l k o m m e n e r U e b e r e i n s t i m m u n g m i t m i r selbst zu sein. 10) Ebendas. Einen zwiefachen schwierigen

A n s t o ß g i e b t , wie ich

wol

fühle, diese Stelle. Z u e r s t d a ß ich d a s h e i d n i s c h e R o m wegen seiner g r e n z e n l o s e n

5

R e l i g i o n s m e n g e r e i d e m christlichen vorziehe, und dieses im Vergleich mit j e n e m | C 188

g o t t l o s n e n n e ; u n d d a n n , d a ß ich das A u s s t o ß e n der K e z e r v e r d a m m e , w ä h r e n d ich d o c h selbst g e w i s s e A n s i c h t e n als kezerisch aufstelle, ja s o g a r die Kezerei zu s y s t e m a t i s i r e n s u c h e . Ich f a n g e bei d e m lezten a n , als d e m innersten und für m i c h b e d e u t e n d s t e n . M i r s c h e i n t es n i c h t m ö g l i c h , d a ß es ein gesundes d o g m a t i s c h e s

10

V e r f a h r e n g e b e n k ö n n e , wenn m a n n i c h t d a r a u f a u s g e h t , als den C h a r a k t e r des c h r i s t l i c h e n eine s o l c h e F o r m e l a u f z u s t e l l e n , durch deren A n w e n d u n g es m ö g l i c h w e r d e , von e i n e m j e d e n P u n k t der A b s c i s s e n l i n i e aus die O r d i n a t e n a b z u s c h n e i d e n , und s o den U m f a n g der c h r i s t l i c h e n V o r s t e l l u n g e n d u r c h A n n ä h e r u n g zu b e s c h r e i b e n ; u n d d a r a u s folgt n a t ü r l i c h , d a ß , w a s a u ß e r h a l b dieses U m f a n g s liegt

15

und d o c h für c h r i s t l i c h will g e h a l t e n sein, eben das sein m u ß , w a s m a n in der c h r i s t l i c h e n K i r c h e seit langer Z e i t kezerisch g e n a n n t h a t . D e s s e n A u f s t e l l u n g a l s o k o n n t e ich in der D o g m a t i k n i c h t u m g e h e n , s o n d e r n m u ß nur w ü n s c h e n den d a b e i zu G r u n d e liegenden Z w e k so v o l l s t ä n d i g als m ö g l i c h e r r e i c h t zu h a b e n . Allein diese B e s t i m m u n g ü b e r die S a c h e h a t g a r n i c h t s g e m e i n m i t der

20

B e h a n d l u n g der P e r s o n e n . D e n n w i e sich M a n c h e r im Streit gegen eine a b w e i c h e n d e M e i n u n g bei Vertheidigung der seinigen bis zu e i n e m h ä r e t i s c h e n Ausd r u k verlieren k a n n , o h n e irgend e t w a s H ä r e t i s c h e s zu m e i n e n , das leuchtet ein, u n d h a b e ich m i c h a u c h h i e r ü b e r in der G l a u b e n s l e h r e §. 2 2 , 3 . u. Z u s a z , und §. 2 5 . Z u s a z a u s f ü h r l i c h e r k l ä r t . J a s e i t d e m von m a n c h e n Seiten in der evangeli-

25

sehen K i r c h e der W u n s c h a u s g e s p r o c h e n ist, die alte K i r c h e n z u c h t a u f eine ver131

s t ä n d i g e A r t zu e r n e u e r n , | d a m i t eine c h r i s t l i c h e G e m e i n d e in S t a n d gesezt w e r d e , d i e j e n i g e n a u f ein geringeres M a a ß von G e m e i n s c h a f t

zurückzuführen,

w e l c h e die c h r i s t l i c h e G e s i n n u n g d u r c h ihr L e b e n v e r l ä u g n e n , seit dieser Z e i t sage ich t h u t es b e s o n d e r s N o t h der V e r w e c h s e l u n g v o r z u b e u g e n , als o b d a m i t

30

a u c h ein R e c h t a n g e s p r o c h e n w ü r d e , d i e j e n i g e n , die irgend J e m a n d für kezerisch h a l t e n m ö c h t e , m i t d e m B a n n zu b e l e g e n . V i e l m e h r w i r d die evangelische K i r c h e gegen s o l c h e M e n s c h e n , wenn n i c h t zugleich a u c h j e n e s v o n ihnen g e s a g t w e r d e n k a n n , k e i n e a n d e r e Pflicht a n e r k e n n e n , als die G e m e i n s c h a f t m i t i h n e n zu unterC 189

h a l t e n , d a m i t sie u m so eher d u r c h g e g e n s e i t i g e V e r s t ä n d i g u n g a u f die richtigen

35

W e g e k ö n n e n z u r ü k g e l e i t e t w e r d e n ; und w e n n E i n z e l n e o d e r kleine G e s e l l s c h a f ten eine e n t g e g e n g e s e z t e M e t h o d e a n w e n d e n , und s o viel an ihnen ist, diej e n i g e n , o h n e w e i t e r e R ü k s i c h t a u f ihre G e s i n n u n g e n

zu n e h m e n , von

ihrer

1 Jedermann] C: jedermann 3 vollkommener] C: vollkomner 19 zu Grunde] C: zum Grunde 21 Mancher] C: mancher 23 Häretisches] C: häretisches 24 f §. 22, 3. u. Zusaz, und §. 25. Zusaz] C: Β. I. S. 133. und 153. 28 zurückzuführen] C: zurükzuführen 31 Jemand] C: jemand 2 4 f CG 2 1,140-142.

155 f

41 KGA 1/7,1,95 f. 108

40

Erläuterungen

5

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zur zweiten

Rede

139

Gemeinschaft ausschließen, welche nicht in demselben Buchstaben der Lehre mit ihnen übereinstimmen, so geschieht dies nicht in evangelischem Sinne, indem die A n m a ß u n g eines Ansehns darin liegt, welches unsere Kirche N i e m a n d e m zugesteht. — Was nun aber das erste betrifft, den Vorzug, den ich dem heidnischen R o m beilege vor dem christlichen, und von j e n e m sage, es sei durch aneignende Duldsamkeit voll der G ö t t e r geworden, das christliche aber wegen seines Verke- SW 274 zerungssystems gottlos nenne: so geht zunächst wol schon aus den gewählten Ausdrükken hervor, daß diese Stelle den rhetorischen C h a r a k t e r des Buches besonders an sich trägt; was aber darin streng soll g e n o m m e n werden, ist dieses, daß die dogmatisirende Systemsucht, welche, verschmähend die Verschiedenheit mit zu construiren, vielmehr alle Verschiedenheit ausschließt, allerdings die lebendige E r k e n n t n i ß G o t t e s , soviel an ihr ist, h e m m e t , und die Lehre in todten Buchstaben verwandelt. D e n n eine so fest aufgestellte Regel, die alles anders Lautende verdammt, drängt alle Productivität zurtik, in der doch allein die lebendige E r k e n n t n i ß sich erhält, und wird also selbst zum todten B u c h s t a b e n . M a n kann sagen, dies sei die G e s c h i c h t e der Bildung des r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e n Lehrbegriffs in seinem Gegensaz gegen den protestantischen, und die E n t s t e h u n g der evangelischen Kirche sei von diesem Gesichtspunkt aus angesehn nichts anders, als das Sichlosreißen der eigenen Productivität aus der G e m e i n s c h a f t mit einer solchen Regel. Eben so ist auch ernstlich zu n e h m e n , d a ß ich des alten R o m s Empfänglichkeit für fremde Gottesdienste rühme. D e n n sie hing d a m i t zusammen, d a ß die Beschränktheit und Einseitigkeit jedes individualisirten Polytheismus zur Anerkennung g e k o m m e n war, und daß das religiöse B e d ü r f n i ß sich von den Schranken der politischen Formen befreien wollte, welches beides nicht nur an sich löblich ist, sondern auch der Verbreitung des Christenthums weit förderlicher | gewesen ist, als das wenn gleich auch wohlgemeinte Verkezerungswesen jemals der Befestigung und Sicherstellung des Christenthums werden konnte. |

30

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11) S. 7 7 . Auch in der Glaubenslehre h a b e ich mich §. 8. Z u s a z 1. wie hier gegen die Meinung derer erklärt, welche die Idololatrie, worunter sie n a c h dem etwas perspectivischen Sprachgebrauch der heil. Schrift alle Arten des Polytheismus mitzählen, aus der Furcht entstehen lassen. Nur ging ich dort von einem andern Standpunkt aus, indem es d a r a u f a n k a m , auch die untergeordneten Stufen der Frömmigkeit dennoch ihrem Wesen nach den höheren gleichzustellen, welches nicht geschehen k ö n n t e , wenn jene nur in der Furcht ihre E n t s t e h u n g hätten, diese aber nicht. H i e r habe ich es mehr mit der Vorstellung zu t h u n , welche alle Frömmigkeit überhaupt aus der Furcht entstehen läßt, und beide Darstellungen ergänzen also einander. D e r hier im Allgemeinen geführte Beweis hätte auch dort für den besonderen Fall gegolten, ohnerachtet des ziemlich

3 Niemandem] C: niemanden 14 Lautende] C: lautende 25 Christenthums] C: Christenthumes 26 wenn gleich] C: wenngleich 29 77] C: 111 29 §. 8. Zusaz 1.] C: S. 67. 33 f Stufen] C: Stuffen 38 Allgemeinen] C: allgemeinen 29 CG 2 1,53

42 KGA

1/7,1,53

C 390

132

Über die

140

Religion

s c h w a n k e n d e n S p r a c h g e b r a u c h s v o n δ ε ι σ ι δ α ι μ ο ν ί α . D e n n m a n k a n n d o c h auch v o n den g r i e c h i s c h e n und r ö m i s c h e n P o l y t h e i s t e n n i c h t s a g e n , d a ß ihnen der G l a u b e an die G ö t t e r ausgegangen w ä r e , w e n n sie im m u t h i g e n G e b r a u c h des L e b e n s alle F u r c h t a b g e s c h ü t t e l t h a t t e n . U n d e b e n s o ist d a s d o r t G e s a g t e a u c h h i e r a l l g e m e i n a n w e n d b a r . D e n n w e n n die F u r c h t a u f k e i n e Weise eine U m b i e -

5

g u n g der L i e b e ist, s o k a n n sie ihren G e g e n s t a n d n u r als ü b e l w o l l e n d sezen; w o a l s o h ö h e r e Wesen n i c h t als b ö s e a n g e b e t e t — o d e r v i e l m e h r a b g e b e t e t — w e r d e n , da k a n n a u c h n i c h t reine von L i e b e g a n z g e s o n d e r t e F u r c h t d a s M o t i v sein. U n d s o w i r d es d a b e i b l e i b e n , d a ß in aller R e l i g i o n s c h o n v o n A n f a n g an L i e b e w i r k s a m ist, u n d alles Aufsteigen z u m V o l l k o m m e n e n in der R e l i g i o n nur eine

10

f o r t g e h e n d e R e i n i g u n g der L i e b e . SW 275

1 2 ) E b e n d a s . K a u m sollte es w o l n ö t h i g sein, den A u s d r u k Weltgeist zu r e c h t f e r t i g e n , w o es d a r a u f a n k a m , den für alle M e n s c h e n selbigen G e g e n s t a n d d e r f r o m m e n V e r e h r u n g a u f e i n e W e i s e zu b e z e i c h n e n , w e l c h e allen verschiedenen F o r m e n und S t u f e n der R e l i g i o n g e n e h m sein k a n n . U n d b e s o n d e r s g l a u b e

C 191

15

ich n i c h t , d a ß m i t R e c h t ge|sagt w e r d e n k ö n n t e , ich h ä t t e bei der W a h l dieses A u s d r u k s d a s Interesse der v o l l k o m m e n s t e n R e l i g i o n s f o r m d e m der u n t e r g e o r d n e t e n a u f g e o p f e r t ; s o n d e r n ich g l a u b e , d a ß n i c h t n u r a u c h w i r C h r i s t e n

uns

diesen A u s d r u k für d a s h ö c h s t e W e s e n v o l l k o m m e n a n e i g n e n k ö n n e n , s o n d e r n s o g a r , d a ß der A u s d r u k nur a u f m o n o t h e i s t i s c h e m B o d e n h a b e e n t s t e h e n k ö n -

20

n e n , und d a ß er zugleich e b e n so frei ist von d e m j ü d i s c h e n P a r t i k u l a r i s m u s als v o n d e m , w a s ich in der G l a u b e n s l e h r e §. 8, 4 . als die U n v o l l k o m m e n h e i t des muhamedanischen

M o n o t h e i s m u s v e r s u c h s w e i s e a n g e g e b e n h a b e . D a er nun

a u c h k e i n e s w e g s eine W e c h s e l w i r k u n g z w i s c h e n d e r W e l t und d e m h ö c h s t e n W e sen a u s s a g t , da j a w o l N i e m a n d Weltgeist und W e l t s e e l e m i t e i n a n d e r v e r w e c h -

25

sein w i r d , o d e r s o n s t irgend eine A r t v o n U n a b h ä n g i g k e i t der Welt von d e m s e l b e n in sich s c h l i e ß t : s o g l a u b e ich, k a n n m a n alle c h r i s t l i c h e n S c h r i f t s t e l l e r recht133

f e r t i g e n , die sich desselben be|dient h a b e n , w e n n er gleich n i c h t aus der eigent h ü m l i c h e n A n s i c h t des C h r i s t e n t h u m s h e r v o r g e g a n g e n ist. 1 3 ) S. 8 5 . In m e i n e r G l a u b e n s l e h r e , deren E i n l e i t u n g , weil sie die G r u n d -

30

züge dessen e n t h ä l t , w a s n a c h m e i n e r A n s i c h t u n t e r R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e eigentlich soll v e r s t a n d e n w e r d e n , in m a n n i g f a l t i g e n B e r ü h r u n g e n m i t diesem B u c h e s t e h t , h a b e ich als die H a u p t v e r s c h i e d e n h e i t in dieser H i n s i c h t a n g e g e b e n , w a s ich die ä s t h e t i s c h e und die t e l e o l o g i s c h e F o r m g e n a n n t . H i e r s c h e i n t ein a n d e r e r E i n t h e i l u n g s g r u n d w i e w o l n i c h t b e s t i m m t a u s g e s p r o c h e n , d o c h stillschweigend

35

z u m G r u n d e zu liegen, und es w i r d a l s o n i c h t u n n ü z sein, a u s e i n a n d e r z u s e z e n , w i e b e i d e gegen e i n a n d e r stehen. N ä m l i c h es s c h e i n t hier nur als e t w a s E i n z e l n e s , w o z u a l s o ein o d e r m e h r e r e G e g e n s t ü k k e g e d a c h t w e r d e n k ö n n e n , a u f g e f ü h r t zu

4 Gesagte] C: gesagte 10 Vollkommenen] C: vollkommenen 12 Ebendas.] C: S. 112. 15 Stufen] C: Stuffen 22 §. 8, 4.] C: Β. 1. S. 66. 24 keineswegs] C: keinesweges 25 Niemand] C; niemand 29 Christenthums] C: Christenthumes 3 0 85] C: 122 37 Einzelnes] C: einzelnes 22 CG2 1,52 3 0 - 3 2 Vgl. CGZ §§ 7-10; 4 0 KG A 1/7,1,52

Bd. 1,42-73

34 Vgl. CG2 § 9; Bd.

1,55-61

40

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

40

zur zweiten

Rede

141

sein, daß für uns, an unserem O r t und auf unserer Bildungsstufe das Gemiith die eigentliche Welt der Religion sei: und das angedeutete Gegenstük ist, d a ß eben so auf der andern Seite die äußere N a t u r es sein könne. Was aber dort als der größte Unterschied gesezt ist, das scheint hier beides auf der Seite der Gemüthsreligion zu liegen; denn ob die thätigen Zustände auf die leidentlichen, oder die leidentlichen auf die thätigen bezogen werden: so sind es doch | immer Gemüthszustände, auf welche die religiösen Erregungen sich beziehen, und so scheint demnach die hier angedeutete Unterscheidung die höhere zu sein, dort aber ganz übergangen zu werden. Allein auch hier ist nicht die Meinung, als ob es eine Naturreligion in dem Sinne gebe, d a ß die religiösen Erregungen dem Menschen kommen könnten durch die Betrachtung der äußeren Welt. Sondern diese Betrachtung wird je höher gesteigert desto mehr speculative Naturwissenschaft, immer aber Wissenschaft, und die religiösen Erregungen entstehn aus dieser nur, indem sich die Seele ihrer selbst in der Betrachtung bewußt wird, also wieder aus dem Gemüthszustände; so wie sie aus den unmittelbaren Beziehungen der Natur auf unser Leben und Dasein nur entstehn nach Maaßgabe wie sie auf unsere jedesmalige Stimmung wirkt also wieder aus dem Gemüthszustände. Die in der Glaubenslehre angegebene Eintheilung bleibt also die obere, und auch die durch die Natur wie die durch das geschichtliche Leben vermittelten religiösen Erregungen werden in jener zweifachen Form vorkommen können und den teleologischen oder ethischen Charakter an sich haben, wenn der Naturbetrachtung Einwirkungen auf die Seele auf die Seelenthätigkeit und deren Geseze bezogen werden, eine ästhetische aber in dem umgekehrten Fall. Der hier geltend gemachte Unterschied aber ist von der Art, daß dort nicht nöthig war ihn in Betracht zu ziehen, da das Verhältniß des Christenthums zu demselben erst in der Behandlung der christlichen Lehre selbst recht ins Licht kann gesezt werden. 14) Ebendas. Dieses möge der Leser nur als eine Anwendung jener Erzählung nehmen, keinesweges als ob zu verstehen gegeben wer|den solle, der Schriftsteller habe diese Anwendung selbst gemacht und wolle sie allgemein mitgedacht haben. Demohnerachtet glaube ich läßt sich vollkommen vertheidigen, daß sie nothwendig darin liegt; und daß weder das Bewußtsein Gottes sich in dem Menschen entwikkeln konnte, noch auch die Bildung allgemeiner Begriffe in ihm vor sich gehen, als nur indem er das Bewußtsein der Gattung gewonnen hatte und sich unmit|telbar seiner als des Einzelnen Unterordnung unter dieselbe und Differenz von derselben bewußt geworden. Eben so gewiß aber ist, d a ß weder das Bewußtsein des höchsten Wesens noch auch das Bestreben sich die Welt zu ordnen je ganz verloren gehen kann in der Seele, bis auch das der Gattung ganz verloren gegangen ist. Ich will hier noch ein Paar im Text nicht besonders bezeichnete Stellen erläutern. — S. 94. wird von der Demuth, welche vorher als eine natürliche Form

1 Bildungsstufe] C: Bildungsstuffe 41 Hier

102,29-103,1

28 Ebendas.] C: S. 123.

41 94] C: 136

C 192

SW 276

134

C 193

142

Über die

Religion

der religiösen Erregung angegeben war, so gesprochen, als ob ihr ein Hochgefühl des eigenen Daseins gegenüberstehen müsse, und von der Reue, die ebenfalls als natürlich und der Frömmigkeit wesentlich war geschildert worden, so als ob sie nicht nur ohne Nachtheil der Frömmigkeit könnte, sondern vielleicht auch als ob sie müßte zu freudiger Selbstgenügsamkeit umgewandelt werden. Beides ist indeß meiner Ueberzeugung nach so wenig ein Widerspruch, daß vielmehr alle frommen Erregungen nur eingetheilt werden können in erhebende und in niederbeugende. Jede Art bedarf der andern als ihrer Ergänzung, und jede ist nur w a h r h a f t fromm, sofern sie die andere mitsezt. Auch in dem Christenthum, welches sich selbst nur durch Verbreitung und Fortpflanzung der niederbeugenden Erregungen fortpflanzt und verbreitet, soll dennoch die Reue auslöschen in dem Bewußtsein der göttlichen Vergebung, wie denn das Wort, Laß dir an meiner Gnade genügen, eben die freudige Selbstgenügsamkeit ausdrükt, von welcher hier die Rede ist; und jenes der Demuth gegenübergestellte Gefühl, daß in jedem das Ganze der Menschheit lebt und wirkt, ist nichts anders als das Bewußtsein, zu welchem der Christ besonders sich erheben soll, daß die Gläubigen insgesammt ein lebendiges organisches Ganze bilden, in welchem nicht nur — wie Paulus die Sache vorzüglich von dieser Seite darstellt — jedes Glied allen andern unentbehrlich ist, sondern auch in jedem die eigenthümliche Wirksamkeit aller SW 277 andern mitgesezt ist. — Wenn nun weiter ebendaselbst von dem, in welchem sich so beide Formen der religiösen Erregung in einander gearbeitet haben, geC 194 sagt wird, er bedürfe keines | Mittlers mehr, sondern könne selbst Mittler sein für Viele; so ist dieses Wort hier nur in der schon durch frühere Auseinandersezungen bevorworteten untergeordneten Bedeutung genommen, daß nämlich nicht jeder in sich selbst den richtigen Schlüssel hat zum Verständniß alles menschlichen, sondern fast allen vieles so fremd ist, daß nur, wenn sie es in einer 135 an|dern ihnen verwandteren Form finden oder verbunden mit anderem, welches für sie einen besonderen Werth hat, sie es anerkennen. Daher in diesem Sinne diejenigen die Verständigung vermitteln, welche mit dem Anerkanntesten das Fremdeste in sich verbinden. In jenem der Demuth gegenübergestellten Gefühl ist nun vorzüglich das Selbstbewußtsein in solche Durchsichtigkeit und Genauigkeit gebildet, daß auch das entfernteste aufhört fremd zu erscheinen und abzustoßen. Dieses Gefühl aber wird am reinsten sein, wenn alle menschliche Einseitigkeit in demjenigen angeschaut wird, aus welchem alle Einseitigkeit verbannt war, und so ist hier der höheren Mittlerwürde des Erlösers kein Abbruch geschehen. 15) S. 101. O h n e etwas zurüknehmen zu wollen von dem was in dieser ganzen Rede die Hauptsache ist, daß nämlich alle höheren Gefühle der Religion angehören, so wie auch von dem nicht, daß Handlungen nicht unmittelbar aus den Erregungen des Gefühls einzelne aus einzelnen hervorgehen sollen, möchte ich doch bevorworten, daß das hier Gesagte vorzüglich nur von der Sittenlehre der damaligen Zeit gilt, nämlich der Kantischen und Fichteschen, vornämlich

36 101] C: 146

40 Gesagte] C: gesagte

12f 2 Kor 12,9 21,35

17f Vgl. 1 Kor 12,12-27

20 Vgl. 103,1-4

23f Vgl. 19,15-

5

10

15

20

25

30

35

40

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

zur zweiten

Rede

143

aber von der ersteren. Denn so lange die Sittenlehre die in jenen Systemen a m strengsten befolgte Imperativische Methode fest hält, können Gefühle in der M o ral gar keinen Plaz finden, weil es kein Gebot geben kann, du sollst dies oder jenes Gefühl haben. J a am folgerechtesten bleibt immer für ein solches System auf sie alle anzuwenden, was im Sinne desselben von der Freundschaft ist gesagt worden, daß man nämlich keine Zeit haben müsse eine anzuknüpfen und aufrecht zu halten. Auf diese enge F o r m allein sollte sich aber wol die Sittenlehre nicht beschränken, und in jeder andern liegt ihr allerdings ob, eben | dadurch, C 195 daß sie den O r t dieser Gefühle in der menschlichen Seele nachweiset, auch den sittlichen Werth derselben anzuerkennen, nicht als etwas das einer sich machen kann oder soll zu irgend einem Behuf und wozu er eine Anleitung erhalten könnte in der Moral, sondern als freie natürliche Function des höheren Lebens, deren Verbindung aber mit den höheren Handlungsweisen und M a x i m e n sich auf das bestimmteste nachweisen läßt. In sofern könnte dann auch eine Sittenlehre die Religion in sich aufnehmen, eben so wie eine Darstellung der Religion auch die Sittlichkeit in jenem engeren Sinne in sich aufnehmen muß, ohne daß deshalb beides eines und dasselbe würde. 16) S. 1 0 5 . D e r hier gegebene Ausdruk, d a ß Wunder nur der religiöse N a m e für Begebenheit überhaupt, und also alles Wunder sei was geschieht, könnte leicht in den Verdacht k o m m e n , als o b er doch eigentlich d a r a u f ausginge das Wunderbare zu läugnen; denn freilich, w e n n alles ein Wunder ist, so ist auch SW 278 wieder nichts ein Wunder. E r steht aber in genauem Z u s a m m e n h a n g e mit den in der Glaubenslehre ξ. 14. Z u s a z , §. 3 4 , 2 . 3 . u. §. 4 7 . g e g e b e n e n E r k l ä r u n g e n . 136 D e n n wenn Beziehung einer Begebenheit auf die göttliche mitwirkende A l l m a c h t und Betrachtung derselben in ihrem N a t u r z u s a m m e n h a n g einander nicht ausschließen, sondern miteinander steigen k ö n n e n und fallen: so hängt nur, welche Ansicht zuerst gefaßt wird, von der R i c h t u n g der A u f m e r k s a m k e i t a b ; wie wir denn überall, wo die Beziehung einer Begebenheit auf unsere Z w e k k e uns a m meisten interessirt, die Untersuchung des N a t u r z u s a m m e n h a n g e s aber zu sehr ins Kleinliche gehen würde, da a m meisten die göttliche Fügung b e m e r k e n , umgekehrt aber den Naturlauf. Welche aber von beiden Ansichten uns die meiste Befriedigung gewährt, das hängt davon a b , auf der einen Seite, wie gewiß wir sind die Begebenheit in ihrem innersten G e h a l t gefaßt zu h a b e n , so daß wir mit einiger Sicherheit sagen k ö n n e n , das ist das von G o t t gewollte, auf der andern Seite aber hängt es davon ab, wie tief wir in den N a t u r z u s a m m e n h a n g eindringen können. Dies alles nun sind nur subjective Unterschiede, und wenn auch | alle Menschen in jedem Falle dieser Art in ihrer Ansicht z u s a m m e n s t i m m t e n . C 196

18 105] C: 153

23

14. ... §. 47.] C: Β. I. S. 119. 184. und 247. folg.

10 einer] C + D: eine 5—7 Polemische Wendung gegen Kant im Kontrast zu dessen Ausführungen: Die Metaphysik der Sitten, Bd. 2. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Königsberg 1797, 5i 46—47; Ak 6,469 — 473. Die Anspielung konnte nicht nachgewiesen werden. 23 CG 2 1,100-108. 195 f. 256-264 38 KGA 1/7,1,86. 130 f. 176 f

144

Über die Religion

D a h e r b l e i b t es allerdings w a h r , d a ß alle B e g e b e n h e i t e n , die a m meisten eine religiöse A u f m e r k s a m k e i t e r r e g e n , u n d in denen zugleich der N a t u r - Z u s a m m e n h a n g sich a m m e i s t e n verbirgt, a u c h a m meisten v o n A l l e n als W u n d e r a n g e s e h e n w e r d e n , eben so w a h r a b e r a u c h , d a ß an sich und g l e i c h s a m v o n der g ö t t l i c h e n U r s ä c h l i c h k e i t aus a n g e s e h e n alle g l e i c h s e h r W u n d e r sind. W i e n u n in den A u s -

5

e i n a n d e r s e z u n g e n der G l a u b e n s l e h r e o h n e r a c h t e t der A b l ä u g n u n g des a b s o l u t e n W u n d e r s d e n n o c h d a s religiöse Interesse a m W u n d e r b a r e n w a h r g e n o m m e n und g e d e k t w o r d e n ist: s o geht auch hier die A b s i c h t n u r d a h i n , es in seiner R e i n h e i t d a r z u s t e l l e n , und alle f r e m d a r t i g e n B e i m i s c h u n g e n zu e n t f e r n e n , die m e h r e i n e m s t u m p f s i n n i g e n S t a u n e n v e r w a n d t sind, als sie v o n d e r freudigen A h n u n g einer

10

h ö h e r e n B e d e u t u n g zeugen. 17) S. 1 0 6 . S c h w i e r i g ist es, einen B e g r i f f wie den der G n a d e n w i r k u n g e n , der uns fast nur in seiner e i g e n t h ü m l i c h c h r i s t l i c h e n G e s t a l t g e l ä u f i g ist, a u f eine s o a l l g e m e i n e W e i s e zu b e h a n d e l n , d a ß a u c h Alles mit u n t e r der E r k l ä r u n g b e f a ß t w i r d , w a s in a n d e r n R e l i g i o n s f o r m e n A n a l o g e s v o r k o m m t . D a h i n g e h ö r t a b e r

15

A l l e s , w o d u r c h ein M e n s c h als ein b e s o n d e r e r L i e b l i n g der G o t t h e i t ausgezeichn e t e r s c h i e n . In d e m B e g r i f f der O f f e n b a r u n g n u n ist m e h r die R e c e p t i v i t ä t , in d e m der E i n g e b u n g m e h r die P r o d u c t i v i t ä t . Beides a b e r g e h ö r t z u s a m m e n in den B e g r i f f der G n a d e n w i r k u n g , i n d e m jenes m e h r die G n a d e , dieses m e h r die W i r k u n g a n d e u t e t , u n d überall w e r d e n die a u s g e z e i c h n e t F r o m m e n d u r c h dieses

20

beides c h a r a k t e r i s i r t . W e n n a b e r in d e m f o l g e n d e n d e m A u s d r u k O f f e n b a r u n g der des H i n e i n g e h e n s der Welt in den M e n s c h e n s u b s t i t u i r t w i r d , d e m A u s d r u k E i n g e b u n g a b e r der des u r s p r ü n g l i c h s t e n H i n e i n t r e t e n s des M e n s c h e n in die W e l t : so w i r d das lezte w o l w e n i g e m Z w e i f e l u n t e r w o r f e n sein, d a j e d e E i n g e 137

b u n g h e r v o r t r e t e n will und | e t w a s b e w i r k e n in der W e l t , und alles u r s p r ü n g l i c h -

25

s t e , a m w e n i g s t e n v o n a u ß e n v e r a n l a ß t e , i m m e r a m m e i s t e n ist als E i n g e b u n g SW 279 C 197

a n g e s e h e n w o r d e n . D a s erste a b e r ist z w a r a u c h der hier v o r a n g e h e n d e n Erklä-| r u n g v o n O f f e n b a r u n g a n g e m e s s e n , die e b e n f a l l s u m d e r hier n o t h w e n d i g e n Allg e m e i n h e i t willen n i c h t anders k o n n t e g e f a ß t w e r d e n ; a b e r d o c h k ö n n t e a u c h ihr leicht der V o r w u r f g e m a c h t w e r d e n , d a ß sie den u n v o l l k o m m n e r e n R e l i g i o n s -

30

f o r m e n zu L i e b e die christliche z u r ü k s e z e , u n d a u f sie w e n i g e r p a s s e . Allein es d a r f n i c h t ü b e r s e h e n w e r d e n , d a ß die Idee der G o t t h e i t n i c h t a n d e r s als m i t der der W e l t zugleich in unser B e w u ß t s e i n tritt; d a ß a b e r hier an kein A u f f a s s e n d e r s e l b e n , w e l c h e s n i c h t religiös sei, s o n d e r n e t w a speculativ, g e d a c h t w e r d e n k ö n n e , d a f ü r s c h e i n t durch die Z u s ä z e h i n r e i c h e n d g e s o r g t zu sein.

35

18) S. 1 1 1 . D u r c h d a s , w a s in m e i n e r G l a u b e n s l e h r e §. 3 . — 5 . g e s a g t ist, w i r d , h o f f e ich, das hier G e s a g t e , u n d vorzüglich dieses, d a ß alle f r o m m e n E r r e -

12 106] C: 154 1 4 f Alles ... Analoges] C: alles ... analoges 30 unvollkommneren] C: unvollkomneren 36 111] C: 160 u. a. a. O . 37 Gesagte] C: gesagte

16 Alles] C: alles 36 §. 3. — 5.] C: §. 10. 40

39 unvollkomneren] C: unvollkomnere 36 CG 2 1,7-35

3 9 f CG' 1,37-45.31-33;

KGA 1/7,1,33-38.29

f

Erläuterungen

zur zweiten

Rede

145

gungen das unmittelbare Sein Gottes in uns durch das Gefühl darstellen, in ein helleres Licht gesezt sein. Denn kaum bedarf es wol noch der Erinnerung, daß das Sein Gottes überhaupt kein anderes sein kann als ein wirksames, wie denn hier auch von einem wirksamen, nämlich erregenden die Rede ist, und daß 5 eben so umgekehrt die göttliche Wirksamkeit auf einen Gegenstand das ganze Sein Gottes in Beziehung auf denselben ist, da es ein leidendes Sein Gottes nicht geben kann. Nur dieses bedarf vielleicht einer Erörterung, daß ich hier die Einheit unseres Wesens im Gegensaz gegen die Vielheit der Functionen, als das göttliche in uns darstelle, und von dieser Einheit sage, daß sie in den Erregungen der 10 Frömmigkeit hervortritt, da doch aus andern Aeußerungen geschlossen werden könnte, daß das Selbstbewußtsein auch nur eine einzelne Function ist; was aber das erste betrifft, wol Zweifel dagegen erhoben werden könnten, daß die Einheit unseres Wesens das göttliche in uns sei, sondern wenn etwas so genannt werden könne, sei es wol nur dasjenige, worin die Fähigkeit uns Gottes bewußt zu wer15 den ihren Siz habe. Auch wenn diese Ausstellungen gegründet wären, bliebe es immer dabei, daß in den frommen Erregungen grade das göttliche in uns aufgeregt sei, und dieses wäre doch hier die Hauptsache. Was aber das übrige betrifft, so kann freilich die Einheit | unsers Wesens, weil sie das schlechthin innerliche C 198 ist, nie an und für sich allein hervortreten, am unmittelbarsten aber erscheint sie 20 doch in dem Selbstbewußtsein, sofern in demselben die einzelnen Beziehungen zurüktreten; so wie auf der andern Seite auch das Selbstbewußtsein am meisten dann, wenn die einzelnen Beziehungen in demselben hervortreten, als einzelne Function erscheint. 19) S. 113. Auch diese ganze Auseinandersezung wird hoffentlich durch 25 das, was in der Glaubenslehre vorzüglich §. 8. Zu|saz 2. gesagt ist, mehr Licht 138 erhalten, so wie wiederum hier das dort Gesagte ergänzt wird. Und da nun Jeder beides zusammenstellen kann: so ist wol nicht mehr nöthig noch eine Vertheidigungsrede zu halten gegen die Vermuthung, denn Beschuldigung will ich es nicht gern nennen, welche aus dieser Rede sogar einige mir sehr verehrte nun zum 30 Theil schon hinübergegangene Männer geschöpft haben, als ob ich für mich die unpersönliche Form das höchste Wesen zu denken vorzöge, und dies hat man denn bald meinen Atheismus bald meinen Spinozismus genannt. Ich aber meinte, es sei ächt christlich, die Frömmigkeit überall aufzusuchen, und unter welcher SW 280 Gestalt es auch sei anzuerkennen, wenigstens finde ich, daß Christus dies selbst 35 seinen Jüngern anbefohlen, und daß auch Paulus nicht nur unter den Juden und Judengenossen, sondern auch zu Athen unter den Heiden es also gehalten hat. Indem ich aber ganz unbefangen sagte, wie es doch keinesweges einerlei sei, ob einer sich eine bestimmte Form das höchste Wesen vorzustellen nicht aneignen

40

22 hervortreten,] C: hervortreten, auch am meisten 24 113] C: 164 Zusaz 2.] C: 15. 26 Gesagte ... Jeder] C: gesagte ... jeder

25 §. 8.

25 CG 2 l,54f 2 8 - 3 2 Anspielung z. B. auf Friedrich Samuel Gottfried Sack (17381817) 3 4 f Anspielung vermutlich auf Mt 10,5-15 35 f Vgl. Apg 17,23 40 C G ' 1,61-69; KGA 1/7,1,49-54

Über die

146

Religion

k ö n n e , o d e r o b e i n e r es g a n z l ä u g n e , und ü b e r h a u p t die F r ö m m i g k e i t in sich n i c h t a u f k o m m e n lasse: so d a c h t e ich n i c h t d a r a n , g e g e n alle

Consequenzen

b e s o n d e r s zu p r o t e s t i r e n , und e r i n n e r t e m i c h n i c h t , w i e o f t d e r j e n i g e , der g r a d e aus g e h t , von den r e c h t s g e h e n d e n d a f ü r a n g e s e h e n w i r d , links zu g e h n . W e r n u n die w e n i g e n W o r t e wenigstens b e h e r z i g t , die a . d. a . O . ü b e r den P a n t h e i s -

5

m u s g e s a g t sind, der wird m i r d o c h k e i n e n m a t e r i a l i s t i s c h e n P a n t h e i s m u s zut r a u e n , und w i r d a u c h wol bei e i n i g e m guten W i l l e n f i n d e n , wie J e m a n d a u f der C 199

einen Seite es als fast u n a b ä n d e r l i c h e N o t h w e n d i g k e i t für die | h ö c h s t e S t u f e der F r ö m m i g k e i t e r k e n n e n k a n n , sich die V o r s t e l l u n g eines p e r s ö n l i c h e n G o t t e s a n z u e i g n e n , n ä m l i c h ü b e r a l l w o es d a r a u f a n k o m m t sich selbst o d e r A n d e r n

10

die u n m i t t e l b a r e n religiösen E r r e g u n g e n zu d o l m e t s c h e n , o d e r w o das H e r z im u n m i t t e l b a r e n G e s p r ä c h mit d e m h ö c h s t e n W e s e n b e g r i f f e n ist, u n d w i e derselbe d o c h a u f der a n d e r n Seite die w e s e n t l i c h e n U n v o l l k o m m e n h e i t e n in der Vorstellung v o n einer P e r s ö n l i c h k e i t des h ö c h s t e n W e s e n s a n e r k e n n e n , j a d a s B e d e n k l i c h e d a r a n , w e n n sie n i c h t a u f das v o r s i c h t i g s t e gereinigt w i r d , a n d e u t e n k a n n .

15

A u f diese R e i n i g u n g sind denn a u c h die t i e f s i n n i g s t e n u n t e r den K i r c h e n l e h r e r n i m m e r b e d a c h t g e w e s e n , und w e n n m a n diese das m e n s c h l i c h e u n d b e s c h r ä n k t e in der F o r m der P e r s ö n l i c h k e i t h i n w e g zu tilgen b e s t i m m t e A e u ß e r u n g e n z u s a m m e n s t e l l t e : s o w ü r d e sich zeigen, d a ß m a n alles z u s a m m e n g e n o m m e n e b e n sow o l sagen k ö n n t e , sie s p r ä c h e n G o t t die P e r s ö n l i c h k e i t a b , als sie legten sie i h m

20

b e i ; und d a ß , d a es s o s c h w e r sei eine P e r s ö n l i c h e i t w a h r h a f t u n e n d l i c h und l e i d e n s u n f ä h i g zu d e n k e n , m a n einen g r o ß e n U n t e r s c h i e d m a c h e n s o l l t e z w i s c h e n e i n e m p e r s ö n l i c h e n G o t t und e i n e m l e b e n d i g e n . D a s leztere allein ist eigentlich der v o m m a t e r i a l i s t i s c h e n P a n t h e i s m u s und von der a t h e i s t i s c h e n blinden N o t h 139

w e n d i g k e i t s c h e i d e n d e Begriff. W i e a b e r einer i n n e r h a l b dieses K a n o n s s c h w a n k t in B e z u g

a u f die P e r s ö n l i c h k e i t ,

das m u ß

man

seiner

25

vergegenwärtigenden

F a n t a s i e und s e i n e m d i a l e k t i s c h e n G e w i s s e n ü b e r l a s s e n ; und ist der

fromme

S i n n v o r h a n d e n , s o w e r d e n diese e i n a n d e r gegenseitig h ü t e n . W i l l j e n e eine zu m e n s c h l i c h e P e r s ö n l i c h k e i t b i l d e n , s o w i r d dieses ein S c h r e k b i l d

bedenklicher

F o l g e r u n g e n v o r h a l t e n ; will dieses die V e r g e g e n w ä r t i g u n g zu sehr h e m m e n d u r c h

30

n e g a t i v e F o r m e l n , s o w i r d j e n e s c h o n ihr B e d ü r f n i ß g e l t e n d zu m a c h e n wissen. H i e r lag m i r in dieser H i n s i c h t b e s o n d e r s o b , a u f m e r k s a m d a r a u f zu m a c h e n , d a ß w e n n die eine F o r m der V o r s t e l l u n g n i c h t an und für sich alle F r ö m m i g k e i t a u s s c h l i e ß t , diese e b e n so wenig d u r c h die andere F o r m s c h o n an und für sich gesezt ist. W i e viele M e n s c h e n g i e b t es n i c h t a u c h , in d e r e n L e b e n die F r ö m m i g C 200

keit w e n i g G e w i c h t und E i n f l u ß h a t , und d e n e n d o c h diese V o r s t e l l u n g | unent-

SW 281

nen C a u s a l i t ä t s r e i h e n ! U n d wie viele d a g e g e n o f f e n b a r e n die tiefste F r ö m m i g k e i t ,

35

b e h r l i c h ist, als a l l g e m e i n e s S u p p l e m e n t ihrer n a c h b e i d e n Seiten hin a b g e b r o c h e die in ihren A e u ß e r u n g e n ü b e r das h ö c h s t e Wesen d e n B e g r i f f der P e r s ö n l i c h k e i t immer nicht recht entwikkeln.

7 Jemand] C: jemand 5 CG 2 l , 5 4 f

8 Stufe] C: Stuffe

40

Erläuterungen

zur zweiten

Rede

147

20) S. 1 1 8 . D i e s e Stelle w e i c h t von d e r v o r i g e n A u s g a b e a b . T h e i l s s c h i e n m i r der S a z , d a ß a u f die S i t t l i c h k e i t ü b e r h a u p t n i c h t g e h a n d e l t w e r d e n k ö n n e , wiewol richtig im Z u s a m m e n h a n g mit dem vorigen, doch u m nicht

Mißver-

ständnisse h e r v o r z u b r i n g e n , e i n e r n ä h e r e n B e s t i m m u n g b e d ü r f t i g , die n i c h t h i e r 5

h e r g e h ö r t h ä t t e , theils s c h e i n t m i r die g a n z e B e t r a c h t u n g erst r e c h t v o l l e n d e t zu w e r d e n d u r c h d e n Z u s a z , d a ß Freiheit und S i t t l i c h k e i t d u r c h V o r h a l t u n g g ö t t l i c h e r B e l o h n u n g e n g e f ä h r d e t w e r d e n . In d e m Streit ü b e r diese S a c h e , w i e er zwischen den K a n t i a n e r n v o r n e h m l i c h u n d den E u d ä m o n i s t e n ist g e f ü h r t w o r d e n , h a t m a n n i c h t selten ü b e r s e h e n , w e l c h ein g r o ß e r U n t e r s c h i e d es ist, g ö t t l i c h e

10

B e l o h n u n g e n als R e i z m i t t e l v o r h a l t e n und sie t h e o r e t i s c h g e b r a u c h e n , u m sich und A n d e r e ü b e r die W e l t o r d n u n g zu v e r s t ä n d i g e n . D a s erste ist w i e ein unsittlic h e s , so a u c h vorzüglich ein u n c h r i s t l i c h e s V e r f a h r e n und v o n ä c h t e n V e r k ü n d i gern des C h r i s t e n t h u m s a u c h g e w i ß n i e m a l s a n g e w e n d e t w o r d e n , wie es d e n n auch in der S c h r i f t g a n z k e i n e n G r u n d h a t . D a s lezte ist n a t ü r l i c h u n d n o t h w e n -

15

dig, indem n u r d a d u r c h e i n g e s e h e n w e r d e n k a n n , wie d a s g ö t t l i c h e G e s e z sich über die g a n z e N a t u r des M e n s c h e n e r s t r e k k e , und w e i t e n t f e r n t einen Z w i e s p a l t in derselben zu v e r a n l a s s e n , ihre E i n h e i t a u f d a s v o l l k o m m e n s t e b e w a h r e . A b e r diese V e r s t ä n d i g u n g ist freilich sehr v e r s c h i e d e n , je n a c h d e m W a h r h e i t s l i e b e u n d W i ß b e g i e r d e s c h o n von allen f r e m d e n E i n m i s c h u n g e n frei, o d e r d e n s e l b e n n o c h

20

u n t e r w o r f e n ist. U n d d a w i r d s c h w e r l i c h a b z u l ä u g n e n sein, d a ß die F o r d e r u n g e n der E i g e n l i e b e a m m e i s t e n W i l l k ü h r für die g ö t t l i c h e n B e l o h n u n g e n in A n s p r u c h n e h m e n , und d a ß e b e n d a m i t a u c h die b e s c h r ä n k t e s t e n V o r s t e l l u n g e n v o n g ö t t -

140

licher P e r s ö n l i c h k e i t z u s a m m e n h ä n g e n , weil n u r in der P e r s ö n l i c h k e i t die W i l l k ü h r ihren Siz h a b e n k a n n . 25

2 1 ) S. 1 2 0 . Sehr ä h n l i c h d e m ü b e r die Persönlich|keit G o t t e s G e s a g t e n ist

C 201

es auch dieser Stelle e r g a n g e n , w e l c h e eben s o g e g e n b e s c h r ä n k t e u n d in i h r e m tiefsten G r u n d e unreine V o r s t e l l u n g e n g e r i c h t e t ist, und e b e n s o l c h e

Mißver-

ständnisse erregt h a t . D e n n a u c h hier h a t m a n zu finden g e m e i n t , d a ß ich die H o f n u n g d e r U n s t e r b l i c h k e i t in d e m h e r r s c h e n d e n S i n n e des W o r t e s h e r a b s e z e n , 30

und i n d e m ich sie als eine S c h w a c h h e i t d a r s t e l l e , ihr e n t g e g e n a r b e i t e n w o l l e . E s w a r aber hier g a r n i c h t der O r t ü b e r die W a h r h e i t der S a c h e m i c h zu e r k l ä r e n , o d e r die e i g n e A n s i c h t die ich d a v o n als C h r i s t h a b e , v o r z u t r a g e n , s o n d e r n diese wird m a n im z w e i t e n T h e i l e m e i n e r G l a u b e n s l e h r e f i n d e n , und a u c h dieses b e i des soll e i n a n d e r e r g ä n z e n . H i e r a b e r w a r n u r die F r a g e zu b e a n t w o r t e n , o b diese

35

H o f n u n g s o w e s e n t l i c h m i t der f r o m m e n R i c h t u n g des G e m ü t h e s v e r b u n d e n sei, d a ß eines mit d e m a n d e r n stehe und falle. W i e k o n n t e ich a b e r a n d e r s als dieses verneinen, d a v o n den M e i s t e n heutiges T a g e s a n g e n o m m e n ist, d a ß a u c h d a s alte B u n d e s v o l k in f r ü h e r e n Z e i t e n diese H o f n u n g n i c h t g e k a n n t h a b e , u n d d a leicht n a c h z u w e i s e n ist, d a ß in d e m Z u s t a n d f r o m m e r E r r e g u n g die Seele m e h r

40

im A u g e n b l i k v e r s e n k t , als der Z u k u n f t z u g e w e n d e t ist. N u r s c h e i n t es h a r t , d a ß diese R e d e die u n t e r den edelsten M e n s c h e n s o w e i t v e r b r e i t e t e H o f n u n g a u f die E r n e u e r u n g des d a n n n i c h t w i e d e r a b z u b r e c h e n d e n E i n z e l l e b e n s n i c h t u n d e u t l i c h aus der niedrigsten S t u f e der S e l b s t l i e b e a b l e i t e n will, d a es so n a h e lag, sie m e h r

1 118] C: 171 4 f hierher] C: hieher 11 Andere] C; andere 25 Gesagten] C: gesagten 43 Stufe] C: Stuffe

25 120] C: 174

SW 282

Über die

148

Religion

a u s d e m Interesse der L i e b e an den geliebten G e g e n s t ä n d e n a b z u l e i t e n . Allein i n d e m m i r alle F o r m e n , unter d e n e n die H o f n u n g d e r U n s t e r b l i c h k e i t als das h ö c h s t e S e l b s t g e f ü h l des G e i s t e s v o r k o m m e n k a n n , v o r A u g e n s c h w e b t e n : so s c h i e n es m i r eben g e g e n ü b e r den G e g n e r n des G l a u b e n s n a t ü r l i c h u n d n o t h w e n dig, a u c h hier d a g e g e n zu w a r n e n , d a ß n i c h t eine b e s t i m m t e V o r s t e l l u n g s w e i s e

5

u n d g e r a d e diejenige, w e l c h e die u n v e r k e n n b a r s t e n S p u r e n eines sich d a h i n t e r v e r b e r g e n d e n u n t e r g e o r d n e t e n Interesse an sich t r ä g t , m i t der S a c h e selbst verw e c h s e l t w e r d e , u n d die A u f g a b e v o r z u b e r e i t e n , d a ß m a n die F r a g e s o fasse, w i e sie n i c h t d e m g a n z a u f die P e r s ö n l i c h k e i t b e s c h r ä n k t e n o d e r an einzelne C 202 W a h l v e r w a n d t s c h a f t e n g e k e t t e t e n S e l b s t b e w u ß t s e i n , | s o n d e r n s o w i e sie d e m j e -

10

nigen n a t ü r l i c h ist, in w e l c h e m das p e r s ö n l i c h e I n t e r e s s e s c h o n d u r c h U n t e r o r d n u n g u n t e r das z u m B e w u ß t s e i n der m e n s c h l i c h e n G a t t u n g und N a t u r veredelte S e l b s t b e w u ß t s e i n gereinigt ist. A u f der a n d e r n S e i t e a b e r w a r es n ö t h i g ,

um

e n d l o s e u n d , je w e i t e r sie sich h i n a u s s p i n n e n m ö c h t e n , d e s t o m e h r d e m H a u p t g e g e n s t a n d f r e m d e r e A u s e i n a n d e r s e z u n g e n zu v e r m e i d e n , d a ß e b e n die G e g n e r des

15

G l a u b e n s a u f m e r k s a m d a r a u f g e m a c h t w ü r d e n , es k ö n n e v o n dieser S a c h e a u f e i n e rein religiöse W e i s e nur u n t e r d e n e n die R e d e sein, w e l c h e d a s , allein des 141

Sieges ü b e r den T o d w ü r d i g e , h ö h e r e | L e b e n , w e l c h e s die w a h r e F r ö m m i g k e i t g i e b t , s c h o n in sich e r b a u t h a b e n . Ist n u n hier der W i d e r w i l l e e t w a s s t a r k aufget r a g e n gegen die S e l b s t t ä u s c h u n g e i n e r g e r i n g e n D e n k u n g s a r t u n d G e s i n n u n g ,

20

w e l c h e sich e t w a s d a m i t w e i ß , d a ß sie die U n s t e r b l i c h k e i t a u f f a s s e n k ö n n e , und d a ß sie d u r c h die d a m i t v e r b u n d e n e H o f n u n g und F u r c h t geleitet w e r d e ; s o w e i ß ich dies nur d a d u r c h zu r e c h t f e r t i g e n , d a ß es n i c h t s r e d n e r i s c h e r k ü n s t e l t e s ist, s o n d e r n d a ß dieses in der T h a t in m i r ein sehr s t a r k e s G e f ü h l i m m e r gewesen ist, und d a ß ich n i c h t s m e h r w ü n s c h e , als j e d e r M e n s c h m ö g e , w e n n er sich ü b e r

25

seine F r ö m m i g k e i t p r ü f e n will, sich selbst s e h e n , n i c h t n u r w i e P l a t o sagt, d a ß die Seelen v o r den R i c h t e r n der U n t e r w e l t e r s c h e i n e n , e n t k l e i d e t v o n a l l e m f r e m den S c h m u k , den sie d e n ä u ß e r n L e b e n s v e r h ä l t n i s s e n v e r d a n k e n , s o n d e r n a u c h , n a c h d e m er diese A n s p r ü c h e a u f u n e n d l i c h e F o r t d a u e r a b g e l e g t , d a m i t er d a n n , w e n n er sich selbst g a n z wie er ist b e t r a c h t e t , e n t s c h e i d e n m ö g e , o b j e n e A n s p r ü -

30

c h e e t w a s m e h r sind als die T i t e l , w o m i t o f t die M ä c h t i g e n der E r d e sich s c h m ü k k e n zu m ü s s e n m e i n e n , v o n L ä n d e r n die sie nie w e d e r besessen h a b e n n o c h besizen w e r d e n . W e r n u n d a n n so e n t k l e i d e t d o c h das e w i g e L e b e n bei sich f i n d e t , w o r a u f das E n d e dieser R e d e d e u t e t , mit d e m w i r d es leicht sein, sich so zu v e r s t ä n d i g e n , w i e m e i n e D a r s t e l l u n g des c h r i s t l i c h e n G l a u b e n s es v e r s u c h t . — U e b r i g e n s a b e r ist die a u c h hier a n g e d e u t e t e P a r a l l e l e z w i s c h e n beiden Ideen, G o t t u n d U n s t e r b l i c h k e i t , in A b s i c h t der v e r s c h i e d e n e n V o r s t e l l u n g s a r t e n n i c h t C 203

zu ü b e r s e h e n . D e n n s o wie die m e n s c h e n ä h n l i c h s t e P e r s ö n l i c h k e i t G o t t e s | sich v o r s t e l l e n ein g e w ö h n l i c h auch sittlich v e r u n r e i n i g t e s B e w u ß t s e i n v o r a u s s e z t : so

2 2 werde;] C: werde: 14 dem] D : den 2 6 - 2 8 Vgl. Piaton:

Gorgias

523a-524a,

Opera

4,164-166;

Werke

2,490-494

35

Erläuterungen

5

zur zweiten

Rede

149

ist es dasselbe mit einer solchen Vorstellung der Unsterblichkeit, welche wie die elyseischen Gefilde nur eine verschönerte und erweiterte Erde abbildet. Und wie SW 283 ein großer Unterschied ist zwischen Gott auf eine solche Weise persönlich nicht denken können, und dem gar keinen lebendigen Gott denken, und nur dieses erst den Atheismus bezeichnet; so auch ist derjenige, der an einer solchen sinnlichen Vorstellung der Unsterblichkeit nicht hängt, noch weit entfernt davon, gar keine Unsterblichkeit zu hoffen. Und wie wir jeden fromm nennen wollen, der einen lebendigen Gott glaubt, so auch jeden der ein ewiges Leben des Geistes glaubt, ohne irgend eine Art und Weise ausschließen zu wollen.

142; Β 178; C 204; SW 284

D r i t t e Rede.

U e b e r die B i l d u n g zur

Religion.

Was ich selbst bereitwillig eingestanden habe, als tief im Charakter der Religion liegend, das Bestreben Proselyten machen zu wollen aus den Ungläubigen, das ist es doch nicht, was mich jezt antreibt auch über 5 die Bildung der Menschen zu dieser erhabenen Anlage und über ihre Bedingungen zu Euch zu reden. Z u jenem Endzwek kennen wir Gläubigen kein anderes Mittel, als nur dieses, daß die Religion sich frei äußere und mittheile. Wenn sie sich in einem Menschen mit aller ihr eignen Kraft bewegt, wenn sie alle 10 Vermögen seines Geistes in den Strom dieser Bewegungen gebieterisch mit fortreißt: so erwarten wir dann auch, daß sie hindurchdringen werde bis ins Innerste eines jeden Einzelnen, der in solchem Kreise lebt und athmet, daß jedes gleichartige in jedem werde berührt werden, und von Β 179 der belebenden Schwingung ergriffen zum Bewußtsein seines | Daseins 15 gelangend durch einen antwortenden verwandten Ton das harrende Ohr C 205 des Auffordernden erfreuen werde. | Nur so, durch die natürlichen Aeußerungen des eignen Lebens will der Fromme das Aehnliche aufregen, und wo ihm dies nicht gelingt, verschmäht er vornehm jeden fremden Reiz, jedes gewaltthätige Verfahren, beruhigt bei der Ueberzeugung, die 20 Stunde sei noch nicht da, wo sich hier etwas ihm Verschwistertes regen

6 zu dieser] so auch OD von B; DV von B: für diese 8 Zu] kein Absatz in Β 8 f Endzwek ... mittheile.] B: Endzwekk kennt die Religion kein anderes Mittel, als nur dieses, daß sie sich frei äußert und mittheilt. In Β folgt ein Absatz. 11 den] B: dem 12 erwarten wir dann auch,] B: erwartet sie auch 13—15 Einzelnen, ... belebenden] B: Individuum, welches in seiner Atmosphäre athmet, daß jedes homogene Theilchen werde berührt werden, und von derselben 16 gelangend] B: gelangend, 1 8 f der Fromme ... vornehm] B: sie das Ähnliche aufregen, und wo ihr dies nicht gelingt verschmäht sie stolz 2 0 f Ueberzeugung, ... da,] B: Überzeugung ... da 21 ihm] B: ihr

Dritte

Rede

151

könne. Nicht neu ist uns allen dieser mißlingende Ausgang. Wie oft h a b e auch ich die Musik meiner Religion angestimmt um die Gegenwärtigen sw 285 zu bewegen, von einzelnen leisen Tönen anhebend, und bald durch | jugendlichen Ungestüm fortgerissen bis zur vollesten H a r m o n i e der reli- 143 5 giösen Gefühle: aber nichts regte sich und antwortete in den Hörern! Von wie vielen werden auch diese Worte, die ich einem größeren und beweglicheren Kreise vertraue, mit allem was sie Gutes darbieten sollten, traurig zu mir zurükkehren, ohne verstanden zu sein, ja ohne auch nur die leiseste Ahnung von ihrer Absicht erwekt zu haben? Und wie oft 10 werden alle Verkündiger der Religion, und ich mit ihnen, dieses uns von Anbeginn bestimmte Schiksal noch erneuern! Dennoch wird uns dies nie quälen, denn wir wissen, daß es nicht anders begegnen darf, und nie werden wir aus unserm ruhigen Gleichgewicht herausgerissen den Versuch machen unsere Sinnesart aufzudrin|gen auf irgend einem andern Β 180 15 Wege weder diesem noch dem künftigen Geschlechte. D a Jeder von uns

20

25

30

nicht weniges an sich selbst vermißt, was zum Ganzen der Mensch|heit C206 gehört; da so Viele Vieles entbehren: welches Wunder, wenn auch die Anzahl derer groß ist, denen die Religion in sich auszubilden versagt wurde! Und sie muß nothwendig groß sein: denn wie kämen wir sonst zu einer Anschauung von ihr selbst in ihrem, daß ich so sage, fleischgewordenen geschichtlichen Dasein und von den Grenzen, welche sie nach allen Seiten hinaus den übrigen Anlagen des Menschen abstekt, von ihnen wieder auf mannigfaltige Weise begrenzt? woher wüßten wir, wie weit der Mensch es hier und dort bringen kann ohne sie, und wo sie ihn aufhält und fördert? woher ahneten wir, wie sie, auch ohne daß er es weiß, in ihm geschäftig ist? Besonders ist es der Natur der Dinge gemäß, daß in diesen Zeiten allgemeiner Verwirrung und Umwälzung ihr schlummernder Funke in Vielen nicht aufglüht, und, wie liebevoll und langmüthig wir sein auch pflegen möchten, doch selbst in solchen nicht zum Leben gebracht wird, in denen er unter glüklichern Umständen sich durch alle Hindernisse würde hindurchgearbeitet haben. Wo nichts unter sw 286 allen menschlichen Dingen unerschüttert bleibt; wo Jeder grade das, was

1 uns allen] B: auch mir 2 auch] fehlt in Β 3 f anhebend, ... Ungestüm] B: anhebend und durch jugendlichen Ungestüm bald 5 den Hörern] B: ihnen 8 ja] fehlt in Β 10 werden ... ihnen,] B: werde ich und alle Verkündiger der Religion 11 erneuern!] B: erneuern. 11 uns dies] B: es uns 12 wissen,] B: wissen 13£ aus ... Sinnesart] B: versuchen unsere Religion 15 Jeder] C: jeder 15 f Jeder ... vermißt] B: ich selbst nicht weniges an mir vermisse 17—19 Wunder, ... wurde!] B: Wunder ... wurde. 2 0 f in ... Dasein] fehlt in Β 21 Grenzen,] B: Gränzen C: Gränzen, 22 abstekt,] B: abstekt? 2 2 f von ihnen ... begrenzt?] fehlt in Β 23 f wir, ... Mensch] B: wir wie weit er 28 Vielen ... und,] B: vielen ... und 2 9 f auch ... sich] B: pflegen mochten, doch nicht zum Leben gebracht wird, da er unter glüklichern Umständen sich in ihnen 32 Jeder] B + C: jeder 3 2 f das, ... bestimmt] B: das ... bestimmt,

152

Über die Religion

144 seinen Plaz in der Welt bestimmt und ihn an die irdi|sche Ordnung der Dinge fesselt, in jedem Augenblik im Begriff sieht nicht nur ihm zu Β 181 entfliehen | und sich von einem Andern ergreifen zu lassen, sondern unterzugehen im allgemeinen Strudel; wo die Einen nicht nur keine AnC 207 strengung ihrer eige|nen Kräfte scheuen, sondern auch noch nach allen 5 Seiten um Hülfe rufen, um dasjenige festzuhalten, was sie für die Angeln der Welt und der Gesellschaft, der Kunst und der Wissenschaft ansehen, die sich nun durch ein unbegreifliches Schiksal, wie von selbst aus ihren innersten Gründen plözlich emporheben, und fallen lassen was sich so lange um sie bewegt hatte; wo die Andern mit eben dem rastlosen Eifer 10 geschäftig sind die Trümmern eingestürzter Jahrhunderte aus dem Wege zu räumen, um unter den Ersten zu sein, die sich ansiedeln auf dem fruchtbaren Boden, der sich unter ihnen bildet aus der schnell erkaltenden Lava des schreklichen Vulkans; wo Jeder, auch ohne seine Stelle zu verlassen, von den heftigen Erschütterungen des Ganzen so gewaltig be- 15 wegt wird, daß er in dem allgemeinen Schwindel froh sein muß irgend einen einzelnen Gegenstand fest genug ins Auge zu fassen, um sich an ihn halten und sich allmählig überzeugen zu können, daß doch etwas noch stehe: in einem solchen Zustande wäre es thöricht zu erwarten, daß Viele geschikt sein könnten religiöse Gefühle auszubilden und fest- 20 zuhalten, die am besten in der Ruhe gedeihen. Z w a r ist mitten in dieser Β 182 Gährung der Anblik der sittlichen Welt mehr als je majestätisch und erhaben, und in Augenblikken lassen sich jezt bedeutendere Züge ablauschen, als sonst wol in Jahrhunderten: aber wer kann sich retten vor dem allgemeinen Treiben und Drängen! wer kann der Gewalt jedes be-| 25 C208 schränkteren Interesse entfliehen? wer hat Ruhe genug, um still zu stehen, und Festigkeit um unbefangen anzuschauen? Jedoch auch die glüklichsten Zeiten vorausgesezt und den besten Willen, die Anlage zur SW 287 Religion nicht nur da wo sie ist durch Mittheilung aufzuregen, sondern sie auch einzuimpfen und anzubilden auf jedem Wege der dazu führen 30 145 könnte: wo giebt es denn einen solchen Weg? Was durch | eines Andern

2 Augenblik] B: Augenblikk 2 Begriff] B + C: Begrif 2 sieht] B: sieht, 4 f nicht nur keine ... sondern auch] B: keine . . . und 6 festzuhalten,] B: festzuhalten 7 ansehen] B: halten 9 plözlich] fehlt in Β 18 allmählig] Β: allmälig 19 stehe: ... thöricht zu erwarten,] B: stehe; . . . thöricht, zu erwarten 2 0 f auszubilden und festzuhalten] B: fest zu halten und auszubilden 2 1 f Z w a r ... Anblik] B: Freilich ist der Anblikk 2 3 jezt] fehlt in Β 2 4 wol] fehlt in Β 2 5 jedes] B: eines 26 genug,] C: genug 2 6 — 2 8 genug, . . . und den] B: und Festigkeit genug um still zu stehen und anzuschauen? Aber auch in den glüklichsten Zeiten, auch mit dem 3 1 Weg] fehlt in Β 3 1 — 6 eines ... hervorbringen] B: Kunst und fremde Thätigkeit in einem Menschen gewirkt werden 8 nun] B: nur

14 Lava] so DV von B; OD von B: Lave

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Thätigkeit und Kunst in den Menschen gewirkt werden kann, ist nur dieses, ihnen seine Vorstellungen mittheilen, und sie zu einer Niederlage seiner Gedanken machen, sie so weit in die seinigen verflechten, daß er sich deren erinnere zu gelegener Zeit; dieses möchte wol einer vermögen, aber nie kann einer bewirken, daß Andere die Gedanken, welche er will, aus sich hervorbringen. — Ihr seht den Widerspruch, der schon aus den Worten nicht herausgebracht werden kann. Nicht einmal dazu läßt sich einer gewöhnen, daß er auf einen bestimmten Eindruk, so oft er ihm kommt, eine bestimmte Gegenwirkung erfolgen lasse, vielweniger wird man einen dahin bringen, über diese Verbindung hinaus zu gehen, und Β 183 eine innere Thätigkeit, welche man will, frei zu erzeugen. Kurz, auf den Mechanismus des Geistes kann Jeder wol einigermaßen wirken, aber in die Organisation desselben, in diese geheiligte Werkstätte des Universum, kann Keiner nach Willkühr eindringen; da vermag Keiner irgend etwas zu ändern oder zu verschieben, wegzuschneiden oder zu ergänzen, C 209 nur vielleicht gewaltsam zurükhalten läßt sich, eben vermöge des M e c h a nismus, die Entwikkelung des Geistes. So kann man denn freilich einen Theil des Gewächses gewaltsam verstümmeln, bilden aber nicht; denn eben aus diesem, jeder Gewalt unerreichbaren Innersten seiner Organisation muß Alles hervorgehen, was zum wahren Leben des Menschen gehören, und ein immer reger und wirksamer Trieb in ihm sein soll. Und von dieser Art ist die Religion; in dem Gemüth welches sie bewohnt ist sie ununterbrochen wirksam und lebendig, macht Alles zu einem Gegenstande für sich, und jedes Denken und Handeln zu einem T h e m a ihrer himmlischen Fantasie. Eben deshalb also liegt sie, wie Alles was wie sie ein immer Gegenwärtiges und Lebendiges sein soll im menschlichen

kann, ist nur dieses, daß Ihr ihm Eure Vorstellungen mittheilt, und ihn zu einer Niederlage Eurer Gedanken macht, daß Ihr sie so weit in die seinigen verflechtet, daß er sich ihrer erinnert zu gelegener Zeit; aber nie könnt Ihr bewirken, daß er die welche Ihr wollt, aus sich hervorbringe 6 Widerspruch,] B: Widerspruch 7—20 dazu ... Organisation] B: gewöhnen könnt Ihr jemand auf einen bestimmten Eindrukk, so oft er ihm kommt eine bestimmte Gegenwirkung erfolgen zu lassen, vielweniger daß Ihr ihn dahin bringen könntet, über diese Verbindung hinaus zu gehen, und eine innere Thätigkeit frei zu erzeugen. Kurz, auf den Mechanismus des Geistes könnt Ihr wirken, aber in die Organisation desselben, in diese geheiligte Werkstätte des Universum, könnt Ihr nach Eurer Willkühr nicht eindringen; da vermögt Ihr nicht irgend etwas zu ändern oder zu verschieben, wegzuschneiden oder zu ergänzen, nur zurükhalten könnt Ihr gewaltsam, eben vermöge des Mechanismus, seine Entwikkelung, und gewaltsam einen Theil des Gewächses verstümmeln. Aus dem Innersten seiner Organisazion aber 12 Jeder] C: jeder 14 Keiner ... Keiner] C: keiner ... keiner 20 Alles] B + C: alles 20 hervorgehen,] B: hervorgehen 23 Alles] B + C: alles 25 — 1 Eben ... Gemüth,] B: Aber alles was wie sie ein immer gegenwärtiges und lebendiges sein soll im menschlichen Gemüth, liegt 2 5 f Alles ... Gegenwärtiges und Lebendiges] C: alles ... gegenwärtiges und lebendiges

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Über die Religion

SW 288 G e m ü t h , weit a u ß e r dem G e b i e t des Lehrens und Anbildens. D a r u m ist J e d e m , der die Religion so ansieht, Unterricht in ihr, in dem Sinn als o b die F r ö m m i g k e i t selbst lehrbar wäre, ein a b g e s c h m a k t e s und sinnleeres 146 W o r t . Unsere Meinungen | und Lehrsäze k ö n n e n wir Andern wol mitB 184 theilen, dazu bedürfen | wir nur der W o r t e , und sie nur der auffassenden und nachbildenden Kraft des Verstandes: aber wir wissen sehr w o h l , daß das nur die Schatten unserer religiösen Erregungen sind; und wenn unsere Schüler diese nicht mit uns theilen, so h a b e n sie, auch wenn sie das Mitgetheilte als G e d a n k e n wirklich verstehen, d o c h daran keinen C210 w a h r h a f t lohnenden Besiz. D e n n die|ses In sich ergriffen sein und darin sein selbst inne werden läßt sich nicht lehren; ja auch der Erregteste, der, vor welchen Gegenständen er sich auch befinde, dennoch überall das ursprüngliche Licht des Universum aus ihnen einzusaugen weiß in O r g a n , vermag d o c h nicht durch das Wort der L e h r e die K r a f t und Fertigkeit dazu aus sich in Andere zu übertragen. Es giebt zwar ein n a c h a h mendes Talent, welches wir in Einigen vielleicht so weit aufregen k ö n nen, d a ß es ihnen leicht wird, wenn heilige G e f ü h l e ihnen in kräftigen T ö n e n dargestellt werden, einige Regungen in sich hervorzubringen, die dem von ferne gleichen, w o v o n sie unsre Seele erfüllt sehen: aber durchdringt das ihr innerstes Wesen? ist das im w a h r e n Sinne des Wortes Religion? Wenn Ihr den Sinn für das Universum mit dem für die Kunst vergleichen wollt, so m ü ß t Ihr diese Inhaber einer passiven Religiosität — wenn m a n es n o c h so nennen will — nicht e t w a denen gegenüberstellen, die o h n e selbst K u n s t w e r k e hervorzubringen, dennoch von jedem was zu ihrer A n s c h a u u n g k o m m t , gerührt und ergriffen werden. Denn die K u n s t w e r k e der Religion sind i m m e r und überall ausgestellt; die | Β185 ganze Welt ist eine Gallerie religiöser Ansichten, und ein J e d e r befindet sich mitten unter ihnen. Sondern denen m ü ß t Ihr sie vergleichen, die nicht eher zur Empfindung g e b r a c h t werden, bis m a n ihnen C o m m e n sw 289 t a r e und Fantasien über W e r k e der Kunst als ärztliche Reizmittel für das 2 Jedem] B + C: jedem 2 ihr,] B: ihr 2 f in dem ... wäre,] fehlt in Β 4 wol] Β: wohl 6 Verstandes] Β: Geistes 6 wohl,] B: wohl 7—17 religiösen ... können,] B: Anschauungen und unserer Gefühle sind, und ohne diese mit uns zu theilen würden sie nicht verstehen was sie sagen, und was sie zu denken glauben. Wahrnehmen und Fühlen können wir sie nicht lehren, wir können nicht aus uns in sie übertragen die Kraft und Fertigkeit, vor welchen Gegenständen wir uns auch befinden, dennoch Uberall das ursprüngliche Licht des Universum aus ihnen einzusaugen in unser Organ; das mimische Talent können wir vielleicht so weit aufregen, 9 Mitgetheilte] C: mitgetheilte 11 Erregteste] C: erregteste 19 gleichen,] B: gleichen 20 innerstes Wesen?] B: Wesen, 20 im ... Wortes] fehlt in Β 27 Jeder] B + C: jeder 2 7 f befindet ... ihnen] B: ist mitten unter sie gestellt 29 werden,] B: werden 3 0 f ärztliche ... und die] B: Arzneimittel auflegt, und 2 die Religion] B: dies Religion

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abgestumpfte | Lebensgefühl beibringt, und die auch dann in einer übel C2U verstandnen Kunstsprache nur einige unpassende Worte herlallen wollen, die nicht ihr eigen sind. So weit und weiter nicht könnt Ihr es bringen durch I die bloße Lehre; dies ist das Ziel alles absichtlichen Bildens und 147 Uebens in diesen Dingen. Zeigt mir J e m a n d , dem Ihr Urtheilskraft, Beobachtungsgeist, Kunstgefühl oder Sittlichkeit angebildet und eingeimpft habt; dann will ich mich anheischig machen auch Religion zu lehren. Es giebt freilich in ihr ein Meisterthum und eine Jüngerschaft, es giebt Einzelne, an welche Tausende sich anschließen: aber dieses Anschließen ist keine blinde Nachahmung, und Jünger sind das nicht, weil ihr Meister sie dazu gemacht hat; sondern er ist ihr Meister, weil sie ihn dazu gewählt h a b e n 1 . Wer aber auch durch die Aeußerungen seiner eignen Religion sie in Andern aufgeregt hat, der hat nun doch diese nicht mehr in seiner Gewalt sie bei sich festzuhalten: frei ist auch ihre Religion, sobald sie lebt, und geht ihres eigenen Weges. Sobald der heilige Funken aufglüht in einer Seele, breijtet er sich aus zu einer freien und Β 186 lebendigen Flamme, die aus ihrer eignen Atmosphäre ihre Nahrung saugt. Mehr oder weniger erleuchtet sie der Seele den ganzen Umfang der Welt, und nach eignem Triebe kann diese sich ansiedeln, auch fern von dem Punkt, auf welchem sie zuerst entzündet ward für das neue Leben. Nur vom Gefühl ihres Unvermögens und ihrer | Endlichkeit, von C212 einer ursprünglichen innern Bestimmtheit gedrungen, sich in irgend eine bestimmte Gegend niederzulassen, wählt sie, ohne deshalb undankbar zu werden gegen ihren ersten Wegweiser, jedes Klima, welches ihr am besten zusagt; da sucht sie sich einen Mittelpunkt, bewegt sich durch freie Selbstbeschränkung in ihrer neuen Bahn, und nennt den ihren M e i ster, der diese ihre Lieblingsgegend zuerst aufgenommen und in ihrer Herrlichkeit dargestellt hat, seine Jüngerinn durch eigne Wahl und freie Liebe 2 . Nicht also, als o b ich Euch oder Andere bilden wollte zur Religion, oder Euch lehren wie Ihr Euch selbst absichtlich oder kunstmäßig sw 290 dazu bilden möget! Nein, ich will nicht aus dem Gebiet der Religion herausgehn, was ich somit thun würde, sondern noch länger mit Euch innerhalb desselben verweilen. Das Universum bildet sich selbst seine

3—5 bringen ... Uebens] B: bringen. Das ist das Ziel alles Lehrens und absichtlichen Bildens 12 aber auch] fehlt in Β 13 doch] fehlt in Β 15 eigenen] B: eignen 19 eignem Triebe] B: eigner Willkür 20 Punkt,] B: Punkt 2 0 f zuerst ... Leben] B: sich zuerst erblikt hat 22—24 gedrungen, ... sie, ... Wegweiser,] B: gedrungen ... sie ... Wegweiser 25 zusagt] B: behagt 29 Nicht] Absatz in Β 31 möget! Nein,] B: müßt: C: möget! nein, 3 Ihr] B + C: ihr

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Über die

Religion

148 Betrachter und Bewunde|rer, und wie das geschehe, wollen wir nur anB 187 schauen, so weit es sich | anschauen läßt. Ihr wißt, die Art, wie jedes einzelne Element der Menschheit einem Individuum einwohnt, giebt sich daran zu erkennen, wie es durch die übrigen begrenzt oder frei gelassen wird; nur durch diesen allgemeinen Streit erlangt jedes in Jedem eine bestimmte Gestalt und Größe, und dieser wiederum wird nur durch die Gemeinschaft der Einzelnen und durch die Bewegung des Ganzen unterhalten. So ist Jeder und jedes in C 213 J e d e m | ein Werk des Ganzen, und nur so kann der fromme Sinn den Menschen auffassen. Auf diesen Grund der unläugbaren von Euch gepriesenen, von mir aber beklagten religiösen Beschränkung unserer Zeitgenossen möchte ich Euch zurükführen; ich möchte Euch deutlich machen, warum wir so und nicht anders sind, und was geschehen müßte, wenn, wie es mir hohe Zeit scheint, unsere Grenzen auf dieser Seite wieder sollten erweitert werden. Und ich wollte nur, Ihr könntet Euch hiebei bewußt werden, wie auch Ihr durch Euer Sein und Wirken zugleich Werkzeuge des Universum seid, und wie Euer auf ganz andre Dinge gerichtetes Thun Einfluß hat auf die Religion und ihren nächsten Zustand. Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren, wie mit jeder andern, und wenn nur sein Sinn für seines eignen Wesens innerste Tiefe nicht gewaltsam unterdrükt, wenn nur nicht jede Gemeinschaft zwischen Β 188 ihm und dem | Urwesen gesperret und verrammelt wird, denn dies sind eingestanden die beiden Elemente der Religion, so müßte sie sich auch in J e d e m unfehlbar auf seine eigne Art entwikkeln; aber das ist es eben, was leider von der ersten Kindheit an in so reichem M a a ß e geschieht zu SW 291 unserer Zeit. M i t Schmerzen sehe ich es täglich, wie die Wuth des Berechnens und Erklärens den Sinn gar nicht aufkommen läßt, und wie Alles sich vereinigt den Menschen an das Endliche und an einen sehr C214 kleinen | Punkt desselben zu befestigen, damit das Unendliche ihm so 149 weit als möglich aus den Augen gerükt werde. Wer hindert | das Gedeihen der Religion? Nicht Ihr, nicht die Zweifler und Spötter; wenn Ihr auch, wie diese, gern den Willen mittheiltet, keine Religion zu haben: so

3 Ihr] kein Absatz in Β 3 f Art, ... einwohnt,] B: Art ... einwohnt 8 jedes] B: Jedes 9—11 Ganzen ... religiösen] B: Universum, und nur so kann die Religion den Menschen betrachten. In diesen Grund unseres bestimmten Seins in Beziehung auf die religiöse 14—16 wenn, ... hiebei] B: wenn nun unsere Gränzen auf dieser Seite sollten erweitert werden. Ich wollte, Ihr könntet Euch 14 Grenzen] C: Gränzen 21 für ... Tiefe] fehlt in Β 23 Urwesen] B: Universum 23 f wird, denn dies ... Religion,] B: wird — dies ... Religion 25 eben,] B: eben 27 täglich,] B: täglich 32—4 Nicht Ihr, ... wol] B: Nicht die Zweifler und Spötter; wenn diese auch gern den Willen mittheilen keine Religion zu haben, so stören sie doch die Natur nicht, welche sie hervorbringen will; auch nicht die Sittenlosen, wie man

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störet Ihr d o c h , weil E u r e E i n w i r k u n g e n erst später einen e m p f ä n g l i c h e n Boden finden, sie doch die N a t u r nicht, indem sie aus dem innersten G r u n d e der Seele die F r ö m m i g k e i t herausarbeiten will. A u c h nicht die Sittenlosen hindern a m meisten das Gedeihen der R e l i g i o n , wie m a n w o l meint; ihr Streben und W i r k e n ist einer ganz andern K r a f t entgegengesezt als dieser. A b e r die verständigen und praktischen M e n s c h e n von heut zu Tage, diese sind in dem jezigen Z u s t a n d e der Welt das Feindselige gegen die Religion, und ihr g r o ß e s U e b e r g e w i c h t ist die U r s a c h e , w a r u m sie eine so dürftige und unbedeutende R o l l e spielt. Von der zarten K i n d heit an m i ß h a n d e l n sie den M e n s c h e n , und unterdrükken sein S t r e b e n nach dem H ö h e r e n . M i t | g r o ß e r A n d a c h t k a n n ich der S e h n s u c h t junger G e m ü t h e r n a c h dem W u n d e r b a r e n und U e b e r n a t ü r l i c h e n zusehen. W i e freudig sie auch den bunten Schein der D i n g e in sich a u f n e h m e n , d o c h suchen sie zugleich etwas Anderes, was sie ihm entgegensezen k ö n n e n ; auf allen Seiten greifen sie umher, o b nicht etwas ü b e r die g e w o h n t e n Erscheinungen und das leichte Spiel des L e b e n s hinausreiche; und wie viel I auch ihrer W a h r n e h m u n g irdische G e g e n s t ä n d e d a r g e b o t e n werden, es ist immer, als hätten sie außer diesen Sinnen n o c h andre, w e l c h e o h n e N a h r u n g vergehen m ü ß t e n . D a s ist die erste R e g u n g der R e l i g i o n . Eine geheime unverstandene A h n u n g treibt sie über den R e i c h t h u m dieser Welt hinaus; daher ist ihnen jede Spur einer andern so w i l l k o m m e n ; daher ergözen sie sich an D i c h t u n g e n von überirdischen Wesen, und Alles w o v o n ihnen a m klarsten ist, daß es hier nicht sein k a n n , umfassen sie am stärksten mit jener eifersüchtigen Liebe, die m a n e i n e m G e g e n stände w i d m e t , a u f welchen m a n ein tief gefühltes a b e r nicht äußerlich geltend zu machendes R e c h t hat. Freilich ist es eine T ä u s c h u n g , das Unendliche grade a u ß e r h a l b des E n d l i c h e n , das Geistige und H ö h e r e a u ß e r h a l b des Irdischen und S i n n l i c h e n zu suchen; a b e r ist sie nicht höchstnatürlich bei denen, welche auch das Endliche und Sinnliche selbst nur noch ganz von der O b e r f l ä c h e k e n n e n ? Und ist es nicht die Täu-|

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schung ganzer Völker, und ganzer Schulen der Weisheit? W e n n es Pfleger Β 190 der Religion g ä b e unter denen, die sich des jungen G e s c h l e c h t e s a n n e h m e n , wie leicht w ä r e dieser von der N a t u r selbst veranstaltete I r r t h u m

6 dieser. Aber] B: dieser; sondern 12—14 Wie ... zugleich] B : Schon mit dem Endlichen und Bestimmten zugleich suchen sie 15 umher] B : darnach 1 5 f gewohnten ... Lebens] B : sinnlichen Erscheinungen und ihre Geseze 18 immer, ... andre,] B: immer ... andre 23 Alles] B + C: alles 2 4 jener] B: der 25 tief ... äußerlich] B: offenbares aber nicht 2 9 f auch ... Oberfläche] B : das Endliche und Sinnliche selbst noch nicht 3 0 Und] B + C: und 3 2 des jungen Geschlechtes] B : der werdenden Menschen 32 gäbe unter denen,] B: gäbe, unter denen

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Über die

Religion

hernach berichtigt, und wie begierig würde dann in helleren Zeiten die junge Seele sich den Eindrükken des Unendlichen in seiner Allgegenwart überlassen. Ehedem ließ man hierin das Leben selbst ruhig walten; der G e s c h m a k an gro|tesken Figuren, meinte man, sei der jungen Fantasie eigen in der Religion wie in der Kunst; man befriedigte ihn in reichem M a a ß , ja man knüpfte unbesorgt genug die ernste und heilige Mythologie, das was man selbst für das innerste Wesen der Religion hielt, unmittelbar an diese luftigen Spiele der Kindheit an: der himmlische Vater, der Heiland und die Engel waren nur eine andre Art von Feen und Silfen. Und wurde auch durch Manches in diesen kindlichen Vorstellungen bei Vielen der Grund gelegt zu einer leichteren Herrschaft eines unzureichenden und todten Buchstaben, wenn die früheren Bilder erbleichten, das Wort aber, als der leere Rahmen, in dem sie befestigt gewesen waren, hängen blieb: dennoch blieb bei jener Behandlung der Mensch mehr sich selbst überlassen, und leichter fand ein gradsinniges unverdorbenes Gemüth, das sich frei zu halten wußte von dem Kizel des Grübelns und Klügeins, zu rechter Zeit den natürlichen Ausgang aus diesem Labyrinth. Jezt hingegen wird jene Neigung von Anfang an gewaltsam unterdrükt, alles Geheimnißvolle und Wunderbare ist geächtet, die Fantasie soll nicht mit luftigen Bildern angefüllt werden; man kann ja, sagen sie, unterdeß eben so leicht das Gedächtniß mit wahren Gegenständen anfüllen und Vorbereitungen treffen aufs Leben. So werden die armen jugendlichen Seelen, die nach ganz anderer Nahrung verlangt, mit moralischen Geschichten gelangweilt, und sollen | lernen wie schön und nüzlich es ist, fein ar|tig und verständig zu sein; von einzelnen Dingen, die ihnen bald genug von selbst entgegentreten würden, werden ihnen die überall geläufigen Vorstellungen, als o b es große Eile damit hätte, je eher je lieber eingeprägt, und ohne Rüksicht auf das zu nehmen was ihnen fehlt, reicht man ihnen noch immer mehr von dem, wovon sie nur gar zu bald zuviel

1 hernach] fehlt in Β 3 hierin das Leben selbst] B: ihn 4 Geschmak] B: Geschmakk 7 das innerste Wesen der] fehlt in Β 8 f der himmlische ... und die] B: Gott, Heiland und 9—14 Silfen. ... Mensch] B: Sylphen. So wurde freilich durch die Dichtung frühzeitig genug die Veranlassung gegeben mißverstandener Weise dies und ähnliches auch dogmatisch festzusetzen in der Religion: aber der Mensch blieb doch 10 Manches] C: manches 1 8 f jene Neigung ... Geheimnißvolle] B: dieser Hang ... Überna|[191]türliche 19 Geheimnißvolle und Wunderbare] C: geheimnißvolle und wunderbare 20 luftigen] B: leeren 21 das ... anfüllen] B: Sachen hineinbringen 23 anderer Nahrung verlangt] B: etwas anderem dursten 24 sollen] fehlt in Β 26—28 von ... eingeprägt,] B: gemeine Begriffe werden ihnen eingeprägt von einzelnen Dingen, 28 Rüksicht] C: Rücksicht 2 9 f nur gar ... werden] B: schon zuviel haben 13 Rahmen] C: Nähme

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haben werden. In dem M a a ß , als der Mensch sich mit dem Einzelnen auf eine beschränkte Weise beschäftigen muß, regt sich auch, damit die Allgemeinheit des Sinnes nicht untergehe, in J e d e m der Trieb, die herrschende und jede ähnliche Thätigkeit ruhen zu lassen, und nur alle O r gane zu öffnen, um von allen Eindrükken durchdrungen zu werden; und durch eine geheime höchst wohlthätige Sympathie ist dieser Trieb gerade dann am stärksten, wann sich das allgemeine Leben in der eignen Brust und in der umgebenden Welt am vernehmlichsten offenbart: aber daß es ihnen nur nicht vergönnet wäre, diesem Triebe in behaglicher unthätiger Ruhe nachzuhängen! Denn aus dem Standpunkt | des bürgerlichen Lebens wäre dies Trägheit und Müßiggang. Absicht und Z w e k muß in Allem sein, sie müssen immer etwas verrichten, und wenn der Geist nicht mehr dienen kann, mögen sie den Leib üben; Arbeit und Spiel, nur keine ruhige hingegebene Beschauung. — Die Hauptsache aber ist die, daß sie Alles zerlegend erklären sollen, und mit | diesem Erklären werden sie völlig betrogen um ihren Sinn; denn so wie jenes betrieben wird, ist es diesem schlechthin entgegengesezt. Der Sinn sucht sich Gegenstände selbstthätig auf, er geht ihnen entgegen und bietet sich ihren Umarmungen dar; er theilt ihnen etwas mit, was sie auch wieder als sein Eigenthum, als sein Werk bezeichnet, er will finden und sich finden lassen; jenes Erklären aber weiß nichts von dieser lebendigen Aneignung, von dieser lichtenden Wahrheit und diesem wahrhaften Erfindungsgeist in der kindlichen Anschauung. Sondern von Anfang an sollen sie alle Gegenstände als ein schlechthin gegebenes nur genau abschreiben in Gedanken, so wie sie ja wirklich, G o t t sei D a n k da sind, für Alle immer dasselbe ein wohlerworbenes angeerbtes Gut für J e d e r m a n n , wer weiß wie lange schon in guter Ordnung aufgezählt und nach allen ihren Eigenschaften bestimmt. Darum nehmt sie nur, wie das Leben sie bringt: denn grade die, die es bringt, müßt Ihr verstehen, selbst aber suchen und gleichsam lebendiges Gespräch mit den Dingen führen wollen, ist excentrisch und hochfahrend, es ist ein vergebliches Treiben, nichts fruchtend im menschlichen Leben, w o Alles nur so angesehen und behandelt wird, wie es sich Euch schon von selbst darbietet. Frei|lich nichts fruchtend dort, nur daß ein reges Leben auf wahrer innerer Bildung ruhend nicht

1 Maaß,] B: Maaß 6 gerade] B + C: grade 10 Denn] B + C: denn 11 Zwek] B: Zwekk 15 zerlegend] B: begreifen und 19—28 er theilt ... Eigenschaften] B: sie sollen etwas an sich tragen, was sie als sein Eigenthum, als sein Werk charakterisirt, er will finden und sich finden lassen; ihrem Erklären ist dies gar nichts wichtiges, ob die Gegenstände auch so die ihrigen seien; denn mein Gott! sie sind ja da, ein wohlerworbenes angeerbtes Gut für Jedermann, wie lange schon aufgezählt und 2 9 f suchen ... wollen,] B: gestalten oder suchen wollen 32 Alles] B + C: alles 34 ein ... nicht] B: kein eignes Leben

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Über die

Religion

gefunden wird o h n e dies. D e r Sinn strebt den ungetheilten E i n d r u k von etwas Gan|zem zu fassen; was und wie etwas für sich ist will er anschauen, und jedes in seinem eigenthümlichen C h a r a k t e r erkennen: d a r a n ist ihnen für ihr Verstehen nichts gelegen; das W a s und W i e liegt ihnen zu weit, es ist nur das W o h e r und W o z u , in welchem sie sich ewig h e r u m d r e h e n , nicht an und für sich, sondern nur in bestimmten einzelnen Beziehungen, und eben d a r u m nicht ganz sondern nur stükweise wollen sie etwas begreifen. D e n n freilich d a n a c h fragen oder gründlich untersuchen, o b und wie das, w a s sie verstehen wollen, ein G a n z e s ist, das würde sie viel zu weit führen, und wenn sie dies begehrten, würden sie auch so ganz o h n e Religion w o l nicht a b k o m m e n , sondern gebrauchen wollen sie nur zu was i m m e r für trefflichen Z w e k k e n , und zum B e h u f des G e b r a u c h s zerstükkeln und a n a t o m i r e n . Und a u f diese Art gehen sie sogar mit demjenigen u m , was vorzüglich dazu da ist den Sinn auf seiner höchsten Stufe zu befriedigen, mit d e m , was gleichsam ihnen SW 295 zum T r o z ein G a n z e s ist in sich selbst, ich m e i n e mit Allem was Kunst ist in der N a t u r und in den Werken des M e n s c h e n : sie vernichten es, ehe es seine W i r k u n g thun k a n n , weil sie es im Einzelnen erklären, es durch Auflösung erst seines K u n s t c h a r a k t e r s b e r a u b e n , und dann dies und J e nes aus abgerissenen Stükken lehren und eindrüklich m a c h e n wollen. Ihr werdet zugeben müssen, d a ß dies in der T h a t die Praxis unserer C 220 verständigen Leute ist; Ihr werdet gestehen, | d a ß ein reicher und kräfti153 ger Ueberfluß an Sinn dazu g e h ö r t , | wenn auch nur etwas davon dieser feindseligen Behandlung entgehen soll, und d a ß schon um deswillen die A n z a h l derer nur gering sein k a n n , welche sich zu einer solchen B e t r a c h tung irgend eines Gegenstandes zu erheben v e r m ö g e n , die etwas Religiöses in ihnen aufregen kann. N o c h mehr aber wird diese E n t w i k l u n g dadurch g e h e m m t , d a ß nun n o c h das M ö g l i c h e geschieht, d a m i t der Sinn, welcher n o c h übrig blieb, sich nur nicht aufs Universum hinwende. In den S c h r a n k e n des bürgerlichen Lebens m u ß die J u g e n d festgehalten C219

2 f anschauen] B + C: erschauen 4 ihnen für ihr] B: ihrem 6—9 nicht ... untersuchen,] B: und nur in bestimmten einzelnen Beziehungen wollen sie etwas begreifen. Dies ist ihr großes Ziel, der Plaz den ein Gegenstand einnimmt in der Reihe der Erscheinungen, sein Anfangen und Aufhören ist ihr Alles. Auch fragen sie nicht darnach, 9 das, ... wollen, ... ist,] B: das ... wollen ... ist — 10 viel zu weit] Β: freilich weit 11 auch] fehlt in Β 11 — 13 abkommen, ... Gebrauchs] B: abkommen — sie wollen es ja ohnedies 14 vorzüglich] ß: recht 15 Stufe] B + C: Stuffe 16 Allem] Β + C: allem 1 8 - 2 0 sie es ... wollen] B: es im Einzelnen soll verstanden, |[194] und dies und Jenes aus abgerissenen Stükken erlernet werden 22 gestehen,] B: gestehen 23 f dieser feindseligen Behandlung] B: diesen feindseligen Behandlungen 25—28 zu ... gehemmt] B: bis zur Religion erheben. Noch mehr aber schmilzt sie dadurch zusammen 26 f Religiöses] C: religiöses 28 Mögliche] B + C: mögliche 2 8 f Sinn, ... blieb,] B: Sinn ... blieb 30f muß die Jugend ... in ihr] B: müssen sie ... in ihnen

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Dritte Rede

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werden mit allem was in ihr ist. Alles Handeln soll sich ja doch auf dieses beziehn, und so, meinen sie, bestehe auch die gepriesene innere Harmonie des Menschen in nichts Anderm, als daß sich alles wieder auf sein Handeln beziehe. Nur bedenken sie nicht, daß doch das Sein eines 5 Jeden im Staate ihm auch lebendig und aus dem Ganzen, wie der Staat selbst entstanden ist, muß entstanden sein, wenn es ein wahres und freies Leben sein soll. Sondern in eine blinde Vergötterung des gegebenen bürgerlichen Lebens versunken, sind sie auch überzeugt daß in demselben Jeder Stoff genug finde für seinen Sinn, und reiche Gemälde vor sich 10 sähe, und daß sie deshalb schon Recht hätten lieber zu verhüten, daß nicht einer noch etwas Anderes suche und ungenügsam heraustrete aus diesem Gesichtspunkt, der zugleich | sein natürlicher Stand- und Dreh- Β 195,• c 221 punkt ist. Daher dünken ihnen alle Erregungen und Versuche, welche hiermit nichts zu thun haben, gleichsam unnüze Ausgaben, die nur er15 schöpfen, und von denen die Seele möglichst abgehalten werden muß SW 296 durch zwekmäßige Thätigkeit. Daher ist reine Liebe zur Dichtung und zur Kunst, ja auch zur Natur, ihnen eine Ausschweifung, die man nur duldet, weil sie nicht ganz so arg ist als andere, und weil Manche darin Trost und Ersaz finden für allerlei Uebel. So wird auch das Wissen mit 20 einer weisen und nüchternen Mäßigung und nie ohne Beziehung auf das Leben betrieben, damit es diese Grenzen nicht überschreite; und indem auch das Kleinste was auf diesem Gebiet Einfluß hat nicht aus der | Acht 154 gelassen wird, verschreien sie, eben weil es weiter zielt, das Größte, als wäre es etwas Geringes oder Verkehrtes. Daß es demohnerachtet Dinge 25 giebt, die bis auf eine gewisse Tiefe erschöpft werden müssen, ist ihnen ein nothwendiges Uebel; und dankbar gegen die Götter, daß sich hiezu immer noch Einige aus unbezwinglicher Neigung hergeben, betrachten sie diese als freiwillige Opfer mit heiligem Mitleid. D a ß es Gefühle giebt, die sich nicht zügeln lassen wollen durch ihre äußerlich gebietenden For30 mein und Vorschriften, und daß so viele Menschen bürgerlich unglüklich oder unsittlich werden auf diesem Wege — denn auch | die rechne ich Β 196 zu dieser Klasse, die ein wenig über | den Gewerbfleiß hinausgehn, und C222

3 Anderm] B + C: anderm 4 nicht,] B: nicht 6 und freies] fehlt in Β 7—12 Sondern ... Stand-] B: Und so meinen sie, vorausgesezt daß nur Jeder Stoff genug habe für seinen Sinn, und reiche Gemälde vor sich, hätten sie schon Recht keinen herausgehen zu lassen aus diesem Gesichtspunkt, der zugleich sein Stand 7 gegebenen] C: gegebnen 11 Anderes] C: anderes 13 Erregungen und Versuche] B: Empfindungen 14 hiermit] B + C: hiemit 15 die Seele] B: das Gemüth 1 8 f Manche ... allerlei] B: manche Trost und Ersaz darin finden für manche 2 0 f und nie ... Leben] fehlt in Β 21 überschreite;] B: überschreite, 22 auch] fehlt in Β 2 3 f sie, ... Geringes] B: sie das Größte, eben weil es weiter zielt, als wäre es etwas Geringeres 2 4 demohnerachtet] fehlt in Β 25 giebt,] Β: giebt 25 f müssen, ... Uebel;] B: müssen ... Übel, 2 6 f hiezu ... Neigung] B: immer noch Einige aus unbezwinglicher Neigung dazu

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sw 297

ß 197 155; C 223

Β198

Über die

Religion

denen die sittliche Seite des bürgerlichen L e b e n s Alles ist — das ist der G e g e n s t a n d ihres herzlichsten Bedauerns, und sie nehmen es für einen der tiefsten Schäden der M e n s c h h e i t , dem sie d o c h baldmöglichst abgeholfen zu sehen wünschten. D a s ist das g r o ß e Uebel, d a ß die guten Leute meinen ihre T h ä t i g k e i t sei Alles und erschöpfe die A u f g a b e der M e n s c h heit, und wenn man thue was sie t h u n , bedürfe man auch keines Sinnes weiter, als nur für das was man thut. D a r u m verstümmeln sie Alles mit ihrer Scheere, und nicht einmal eine eigenthümliche Erscheinung, die ein religiöses Interesse erregen k ö n n t e , m ö c h t e n sie a u f k o m m e n lassen; sondern was von ihrem Punkt aus gesehen und u m f a ß t werden k a n n , das heißt Alles was sie gelten lassen wollen, ist nur ein kleiner und unf r u c h t b a r e r Kreis ohne W i s s e n s c h a f t , ohne Sitten, o h n e Kunst, ohne Liebe, o h n e Geist, ja ich m ö c h t e fast sagen zulezt wahrlich auch ohne B u c h s t a b e n 3 ; kurz, o h n e Alles, von w o aus sich die Welt entdekken ließe, w o l a b e r mit viel h o c h m ü t h i g e n Ansprüchen a u f alles dieses. Sie freilich meinen, sie hätten die w a h r e und wirkliche Welt, und sie wären es eigentlich, die Alles in seinem rechten Z u s a m m e n h a n g e faßten und behandelten. M ö c h t e n sie doch einmal einsehn, d a ß | m a n jedes D i n g um es als E l e m e n t des G a n z e n anzuschauen, nothwendig in seiner eigenthümlichen N a t u r und in seiner höchsten Vollendung m u ß | b e t r a c h t e t h a b e n . Denn im Universum k a n n es nur e t w a s sein durch die T o t a l i t ä t seiner W i r k u n gen und Verbindungen; auf diese k o m m t Alles an, und um ihrer inne zu werden, m u ß m a n jede Sache nicht von einem P u n k t außer ihr, sondern von ihrem eigenen M i t t e l p u n k t aus, und von allen Seiten in Beziehung a u f ihn betrachtet haben, das heißt in ihrem abgesonderten D a s e i n , in ihrem eignen Wesen. N u r einen G e s i c h t s p u n k t zu wissen für Alles, ist grade das Gegentheil von dem alle zu haben für Jedes, es ist der Weg sich in grader R i c h t u n g v o m Universum zu entfernen, und in die j ä m merlichste B e s c h r ä n k u n g versunken, ein handlangender Leibeigener des Fleks zu werden, a u f dem man eben von O h n g e f ä h r steht. — Es giebt in dem Verhältniß des M e n s c h e n zu dieser Welt gewisse Uebergänge ins Unendliche, durchgehauene Aussichten, vor denen J e d e r vorübergeführt wird, damit sein Sinn den Weg finde zum G a n z e n , und bei deren A n b l i k , wenn a u c h nicht unmittelbar G e f ü h l e von b e s t i m m t e m G e h a l t hervorgeb r a c h t werden, so doch eine allgemeine E r r e g b a r k e i t für alle religiösen Gefühle. Auch diese Aussichten | verstopfen sie weislich, und stellen in

1 die sittliche Seite] B: der sittliche Theil 3 baldmöglichst] B + C: bald möglichst 5 f Alles ... Menschheit] B : universell und die Menschheit erschöpfend 5 Alles] C : alles 6 f thun, ... weiter] B: thun brauche man auch keinen Sinn 7 Alles] B + C: alles 13 ja ... zulezt] B: und 13 wahrlich] B + C: warlich 14 Buchstaben 3 ;] B: Buchstaben: 2 2 Alles] B + C: alles 23 jede] B: eine 2 6 einen] B + C: Einen 3 2 Jeder] B + C: jeder

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Dritte

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Rede

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die O e f f n u n g irgend eine philosophische K a r i k a t u r , wie m a n ja a u c h sonst einen unansehnlichen Plaz mit einem schlechten Bilde zu verdekken pflegt; und wenn ihnen, wie es d o c h bisweilen geschieht, d a m i t a u c h an ihnen die Allgewalt des Universum o f f e n b a r | werde, irgend ein Strahl zwischendurch in die Augen fällt, und ihre Seele sich einer s c h w a c h e n Regung von jenen E m p f i n d u n g e n nicht erwehren k a n n , so ist das U n e n d liehe nicht das Z i e l d e m sie zufliegt um daran zu ruhen, sondern wie das M e r k z e i c h e n a m E n d e einer R e n n b a h n nur der P u n k t , u m welchen sie sich ohne ihn zu berühren mit der größten Schnelligkeit h e r u m b e w e g t , um nur je eher je lieber a u f ihren alten Plaz zurükkehren zu k ö n n e n . — G e b o r e n werden und Sterben sind solche P u n k t e , bei deren W a h r n e h mung es uns nicht entgehen k a n n , wie unser eignes Ich überall v o m Unendlichen u m g e b e n ist, und die troz ihrer Alltäglichkeit, s o b a l d | sie uns näher berühren, allemal eine stille Sehnsucht und eine heilige E h r furcht erregen; auch das U n e r m e ß l i c h e der sinnlichen A n s c h a u u n g ist doch eine H i n d e u t u n g wenigstens auf eine andere und h ö h e r e Unendlichkeit: aber ihnen w ä r e eben nichts lieber, als w e n n m a n den g r ö ß t e n D u r c h m e s s e r des Weltsystems eben so b r a u c h e n k ö n n t e zu M a a ß und G e w i c h t im gemeinen L e b e n , wie jezt den | g r ö ß t e n Kreis der Erde; und wenn die Bilder von Leben und T o d ihnen einmal n a h e treten, g l a u b t mir, wie viel sie a u c h dabei sprechen m ö g e n von R e l i g i o n , es liegt ihnen nichts so sehr a m H e r z e n , als bei jeder Gelegenheit dieser Art einige unter den jungen Leuten zu gewinnen für die B e h u t s a m k e i t und S p a r samkeit im G e b r a u c h ihrer K r ä f t e , und für die edle Kunst der Lebens-| Verlängerung. G e s t r a f t sind sie freilich genug; denn da sie a u f k e i n e m so hohen S t a n d p u n k t e stehen, daß sie wenigstens diese L e b e n s w e i s h e i t , an der sie hängen, von G r u n d aus selbst zu bauen v e r m ö c h t e n : so bewegen sie sich sklavisch und ehrerbietig in alten F o r m e n , o d e r ergözzen sich an kleinlichen Verbesserungen. Dies ist das E x t r e m des N ü z l i c h e n , zu dem das Z e i t a l t e r mit raschen Schritten hingeeilt ist von der unnüzen s c h o l a stischen W o r t w e i s h e i t , eine neue B a r b a r e i als ein würdiges G e g e n s t ü k der alten; dies ist die schöne Frucht der väterlichen e u d ä m o n i s t i s c h e n

1—3 irgend ... pflegt] B: so irgend etwas, womit man sonst einen unansehnlichen Plaz verdekt, ein schlechtes Bild, eine philosophische Karikatur 8 Punkt,] B: Punkt 10 können. — ] B: können. 11 Punkte,] B: Punkte 13f troz ... berühren,] fehlt in Β 19 Erde;] B: Erde, 22 sehr] fehlt in Β 22t einige ... Leuten] B: unter den jungen Leuten einige 2 3 f Behutsamkeit ... edle] fehlt in Β 25—27 so hohen ... vermöchten:] B: höheren Standpunkte stehen, um wenigstens diese Lebensweisheit an der sie hängen von Grund aus selbst zu bauen, 24 f Anspielung auf Christoph Wilhelm Hufeland: Makrobiotik oder die Kunst menschliche Leben zu verlängern, Bd. 1—2, 4. Aufl., Berlin 1805; 5. Aufl., 1823

das

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Über die Religion

Politik, w e l c h e die Stelle des rohen D e s p o t i s m u s e i n g e n o m m e n und alle Verzweigungen des Lebens durchdrungen hat. W i r Alle sind dabei hergek o m m e n , und im frühen K e i m hat die A n l a g e zur Religion gelitten, d a ß sie nicht gleichen Schritt halten k a n n in ihrer E n t w i k k e l u n g mit den übrigen. D i e s e M e n s c h e n , die gebrechlichen Stüzen einer baufälligen Zeit — E u c h mit denen ich rede, k a n n ich sie g a r nicht beigesellen, wir Ihr selbst E u c h ihnen a u c h w o l nicht gleichstellen wollt, | denn sie verachten die Religion nicht, obgleich sie sie, soviel an ihnen ist, vernichten, und sie sind a u c h nicht Gebildete zu nennen, o b w o l sie das Z e i t a l t e r bilden, und die M e n s c h e n aufklären, und dies gern thun m ö c h t e n bis zur lei|digen D u r c h s i c h t i g k e i t — diese sind i m m e r n o c h der herrschende T h e i l , Ihr und wir ein kleines H ä u f c h e n . G a n z e Städte und L ä n d e r werden nach ihren Grund|säzen erzogen; und wenn die Erziehung überstanden ist,

findet m a n sie wieder in der Gesellschaft, in den Wissenschaften und in der Philosophie: ja auch in dieser, denn nicht nur die alte — Ihr wißt w o l , m a n theilt jezt die Philosophie mit viel historischem Geist nur in die alte, neue und neueste — ist ihr eigentlicher Wohnsiz, sondern selbst die neue h a b e n sie in Besiz g e n o m m e n . D u r c h ihren mächtigen Einfluß a u f jedes weltliche Interesse und durch den falschen Schein von Philanthropie, welcher auch die gesellige Neigung blendet, hält diese D e n kungsart n o c h i m m e r die Religion im D r u k , und widerstrebt jeder Bewegung, durch welche sich irgendwo ihr L e b e n o f f e n b a r e n will, mit voller K r a f t . N u r mit H ü l f e des stärksten Oppositionsgeistes gegen diese allgemeine T e n d e n z k a n n sich also jezt die Religion e m p o r a r b e i t e n , und nirgend k a n n sie für's erste in einer andern Gestalt erscheinen als in der, Β 201 welche J e n e n a m meisten zuwider sein muß. D e n n so wie | Alles dem G e s e z der V e r w a n d t s c h a f t folgt, so k a n n auch der Sinn n u r da die O b e r h a n d gewinnen, w o er einen Gegenstand in Besiz g e n o m m e n hat, an dem jenes ihm feindselige Verständniß nur lose hängt, und den er also sich a m leichtesten und mit einem U e b e r m a a ß freier K r a f t zueignen k a n n . Dieser G e g e n s t a n d aber ist die innere Welt, nicht die äußere. Die erkläSW 300 rende Psychologie, dieses Meisterstück jener Art des Verstandes, hat zu-

l f und ... durchdrungen] fehlt in Β 2 Alle] B + C: alle 6 Menschen,] B: Menschen 6 die ... Zeit] fehlt in Β 9 sie,] B: sie 9 soviel ... ist,] fehlt in Β 14 erzogen;] B: erzogen, 17 wol,] B: wol 22 Druk] B: Drukk 24 mit Hülfe ... Oppositionsgeistes] B: bei dem stärksten Oppositionsgeist 25 f nirgend ... erste] B: nie 26 erscheinen als in der,] B: erscheinen, als in der 28 Verwandtschaft] C: Verwandschaft 33 Meisterstück] B: Meisterstük 12 diese] B: Diese

20 f Philanthropie] B: Philantropie C: Phi/lanthropie

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Dritte Rede

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erst sich durch U n m ä ß i g k e i t erschöpft und fast um al|len guten N a m e n g e b r a c h t , und so hat a u f diesem G e b i e t zuerst der b e r e c h n e n d e Verstand wieder der reinen W a h r n e h m u n g das Feld g e r ä u m t . W e r also ein religiöser M e n s c h ist, der ist gewiß in sich gekehrt, mit seinem Sinn in der B e t r a c h t u n g seiner selbst begriffen, aber dabei der innersten T i e f e zugewendet, und alles A e u ß e r e , das Intellectuelle s o w o l als das Physische, für jezt n o c h den Verständigen überlassend, zum g r o ß e n Ziel ihrer Untersuchungen. E b e n so e n t w i k k e l t sich n a c h demselben G e s e z | das G e fühl für das Unendliche a m leichtesten in denen, die von dem C e n t r a l punkt aller jener G e g n e r des allgemeinen vollständigen L e b e n s durch ihre N a t u r am weitesten abgetrieben werden. D a h e r k o m m t es, d a ß seit langem her alle w a h r h a f t religiösen G e m ü t h e r sich durch einen mystischen Anstrich auszeichnen, und d a ß alle f a n t a s t i s c h e n N a t u r e n , die zu luftig sind, um sich mit den derben und starren weltlichen Angelegenheiten zu befassen, wenigstens Regungen von F r ö m m i g k e i t h a b e n . D i e s ist der C h a r a k t e r aller religiösen Erscheinungen unserer Z e i t , dies sind die beiden F a r b e n , aus denen sie immer, wenn gleich in den verschiedensten M i s c h u n g e n , zusammengesezt sind. E r s c h e i n u n g e n sage ich, denn m e h r ist schwerlich zu e r w a r t e n in dieser L a g e der D i n g e . D e n fantastischen Naturen gebricht es an durchdringendem G e i s t , an Fähigkeit sich des Wesentlichen zu b e m ä c h t i g e n . Ein leichtes a b w e c h s e l n d e s Spiel von schönen, o f t entzükken|den, aber i m m e r nur zufälligen und ganz s u b j e k tiven C o m b i n a t i o n e n genügt ihnen, und ist ihr H ö c h s t e s ; ein tiefer und innerer Z u s a m m e n h a n g bietet sich ihren Augen vergeblich dar. Sie suchen eigentlich nur die Unendlichkeit und Allgemeinheit des reizenden Scheines, die, je n a c h d e m man es n i m m t , weit weniger oder a u c h weit mehr ist, als w o h i n ihr Sinn wirklich reicht; a b e r an Schein sind sie einmal g e w o h n t sich zu halten, und d a h e r gelangen sie statt zu e i n e m gesunden und kräftigen L e b e n nur zu zerstreuten und flüchtigen R e g u n gen des Gefühls. L e i c h t entzündet sich ihr G e m ü t h , aber nur mit einer unstäten gleichsam leichtfertigen F l a m m e ; sie h a b e n nur Regungen von Religion, wie sie sie h a b e n von Kunst, von P h i l o s o p h i e und allem G r o ßen und S c h ö n e n , dessen O b e r f l ä c h e | sie e i n m a l an sich zieht. D e n j e n i -

I f um ... hat] B : ehrlos gemacht, und so 4 gekehrt, mit seinem Sinn] B : gekehrt mit seinem Sinn, 5 f aber ... zugewendet,] fehlt in Β 8 f das Gefühl ... denen] B: in denen am leichtesten das Gefühl für das Unendliche 10 jener] fehlt in Β 11 es,] B: es denn, 13—15 zu ... wenigstens] B: sich mit |[202] dem Realen der weltlichen Angelegenheiten nicht befassen mögen, 2 6 — 2 8 Scheines, . . . gewohnt] B: Scheines — die weit weniger oder auch weit mehr ist als wohin ihr Sinn wirklich reicht — an den sie gewohnt sind 27 ist,] B + C: ist 3 0 Leicht] B: Bald 29 nur] B : nnr

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Β 203

166

Über die Religion

gen dagegen, zu deren innerem Wesen die Religion z w a r vorzüglich geh ö r t , deren Sinn a b e r i m m e r in sich gekehrt bleibt, weil er sich eines M e h r e r e n in der gegenwärtigen L a g e der Welt nicht zu bemächtigen w e i ß , diesen gebricht es zu bald an S t o f f , um ihr G e f ü h l zu einer selbständigen F r ö m m i g k e i t auszubilden. Es giebt eine g r o ß e kräftige My-| 159 stik, die auch der frivolste M e n s c h nicht ohne E h r e r b i e t u n g und Andacht b e t r a c h t e n k a n n , und die dem Vernünftigsten B e w u n d e r u n g abnöthiget durch ihre heroische Einfalt und ihre stolze Weltverachtung. Nicht eben C 229 gesättigt und überschüttet von äußern E i n w i r k u n g e n des Alls; | aber von jeder einzelnen durch einen geheimnißvollen Z u g i m m e r wieder zurükgetrieben a u f sich selbst, und sich findend als den G r u n d r i ß und Schlüssel des G a n z e n ; durch eine große A n a l o g i e und einen k ü h n e n G l a u b e n überzeugt, d a ß es nicht nöthig sei sich selbst zu verlassen, sondern d a ß der Geist genug h a b e an sich, um auch alles dessen, was m a n ihm von außen geben k ö n n t e , inne zu werden, verschließt er durch einen freien EntSchluß die Augen a u f immer gegen Alles, was nicht E r ist: aber diese Verachtung ist keine U n b e k a n n t s c h a f t , dieses Verschließen des Sinnes ist Β 204 kein U n v e r m ö g e n . S o aber ist es | leider heutiges Tages mit den Unsrigen! sie h a b e n nicht gelernt sich der N a t u r öfnen, das lebendige Verhältniß zu ihr ist ihnen verleidet, durch die schlechte Art wie ihnen i m m e r nur das Einzelne m e h r vorgezeichnet w o r d e n ist als gezeigt, sie haben nun weder Sinn n o c h Licht genug übrig von ihrer Selbstbeschauung, um diese alte Finsterniß zu durchdringen; und zürnend mit d e m Zeitalter, dem sie V o r w ü r f e zu m a c h e n h a b e n , mögen sie gar nicht mit dem zu schaffen h a b e n , was sein W e r k in ihnen ist. D a r u m ist das h ö h e r e Gefühl in ihnen SW 302 ungebildet und dürftig, k r a n k h a f t und b e s c h r ä n k t ihre w a h r e innere Gem e i n s c h a f t mit der Welt; und allein wie sie sind mit ihrem Sinn, gezwungen sich in einem allzuengen Kreise ewig u m h e r zu bewegen, stirbt ihr C230 religiöser Sinn n a c h einem kränklichen Leben aus M a n g e l an Reiz | an

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indirekter S c h w ä c h e . Für die, deren Sinn für das H ö c h s t e sich kühn nach außen wendend a u c h dort sein L e b e n m e h r auszubreiten und zu erneuern sucht, giebt es ein anderes Ende, das ihr M i ß v e r h ä l t n i ß gegen das Zeitalter nur zu deutlich o f f e n b a r t , einen sthenischen T o d , eine Euthanasie also wenn Ihr wollt, aber eine f u r c h t b a r e , den S e l b s t m o r d des Geistes,

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160 wenn er, nicht verstehend die Welt | zu fassen, deren inneres Wesen, ß 205 deren g r o ß e r Sinn ihm fremd blieb unter den kleinlichen | Ansichten

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4 f Stoff, ... selbständigen] B: Stoff ... selbständigen 7 abnöthiget] B: abnöthiget, 9 Alls;] B: Universum, 12 Ganzen;] B: Ganzen, 1 4 f dessen, ... könnte,] B: dessen ... könnte 18 leider ... Unsrigen!] B: mit den Unsrigen: 23 durchdringen;] B: durchdringen, 27 Welt;] B: Welt, 29 kränklichen Leben ... Reiz] ß : schwächlichen Leben, ... Reiz, 30 für das Höchste] B: fürs Universum 3 4 f furchtbare, ... er,] B: furchtbare — ... er

Dritte

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167

Rede

auf die ein äußerer Z w a n g ihn beschränkte, getäuscht von verwirrten Erscheinungen, hingegeben zügellosen Fantasien, suchend das Universum und seine Spuren, da w o es n i m m e r war, endlich unwillig den Z u sammenhang des Innern und Aeußern gänzlich zerreißt, den o h n m ä c h t i gen Verstand verjagt, und in einem heiligen Wahnsinn endet, dessen Quelle fast N i e m a n d erkennt; ein laut schreiendes und doch nicht verstandenes O p f e r der allgemeinen Verachtung und M i ß h a n d l u n g des Innersten im M e n s c h e n . Aber doch nur ein O p f e r , kein Held; wer untergeht, wenn auch nur in der lezten Prüfung, kann nicht unter die gezählt werden, welche die innersten Mysterien empfangen haben. Diese Klage, d a ß es keine beständige und vor der ganzen Welt anerkannte Repräsentanten der Religiosität unter uns giebt, soll d e n n o c h nicht zurüknehmen, w a s ich früher, wol wissend w a s ich sagte, behauptet habe, daß nämlich auch unser | Zeitalter der Religion nicht ungünstiger sei, als jedes andre. G e w i ß , die M a s s e derselben in der Welt ist nicht verringert: aber zerstükkelt und zu weit auseinander getrieben durch einen gewaltigen D r u k offenbart sie sich nur in kleinen und leichten aber häufigen Erscheinungen, welche mehr die Mannigfaltigkeit des G a n z e n erhöhen, und | das Auge des B e o b a c h t e r s ergözen, als daß sie für sich einen großen und erhabnen Eindruk hervorbringen k ö n n t e n . Die Ueberzeugung, d a ß es Viele giebt, die den frischesten D u f t des jungen L e b e n s in heiliger Sehnsucht und Liebe zum Ewigen und Unvergänglichen ausathmen, und spät erst, vielleicht nie ganz, von der Welt überwunden werden; daß es Keinen giebt, dem nicht einmal wenigstens der h o h e Weltgeist erschienen wäre, und dem B e s c h ä m t e n über sich selbst, dem Erröthenden über seine unwürdige Beschränktheit, einen von jenen tiefdringenden Blikken zugeworfen hätte, die das niedergesenkte Auge fühlt, ohne sie zu sehen; — hier stehe sie n o c h einmal, und das Bewußtsein eines Jeden unter E u c h möge sie richten. N u r an | Heroen der Religion, an heiligen Seelen wie man sie ehedem sah, denen sie Alles ist, und die ganz von ihr durchdrungen sind, fehlt es diesem Geschlecht, und m u ß es ihm fehlen. Und so oft ich darüber n a c h d e n k e was geschehen, und welche R i c h t u n g unsere Bildung nehmen m u ß , wenn religiöse M e n s c h e n in einem höhern Styl wieder erscheinen sollen, als seltene | zwar aber doch natürliche Produkte ihrer Zeit: so finde ich, d a ß Ihr durch E u e r

6 f erkennt; ... verstandenes] B + C: erkennt, ... verstandnes 17 Druk] B: Drukk 18 häufigen] B: vielen 20 Eindruk] B: Eindrukk 24 Keinen] B + C: keinen 2 6 Beschränktheit] B: Beschränkung 3 4 f wieder ... Zeit] B: wieder, als seltene zwar aber doch natürliche Produkte ihrer Zeit, erscheinen sollen 9 f Anspielung

auf Freimaurerpüfungen

13—15 Vgl.

16,6—9

C 231

Β 206 sw 303

161

C232

168

Über die

Religion

ganzes Streben — o b mit Eurem Bewußtsein mögt Ihr selbst entscheiden Β 207 — einer Palingenesie der Religion nicht | wenig zu Hülfe kommt, und daß theils Euer allgemeines Wirken, theils die Bestrebungen eines engern Kreises, theils die erhabenen Ideen einiger außerordentlicher Geister im Gange der Menschheit benuzt werden zu diesem Endzwek 4 . Die Stärke und der Umfang, so wie die Reinheit und Klarheit jeder Wahrnehmung hängt ab von der Schärfe und Tüchtigkeit des Sinnes; und der Weiseste, aber ohne geöffnete Sinne, wenn es einen solchen geben könnte, aber wir haben uns ja wol immer auch solche abgezogene in sich beschlossene Weise gedacht, ein solcher wäre der Religion nicht näher als der Thörichste und Leichtfertigste, der nur einen offnen und treuen Sinn hätte. Alles also muß davon anheben, daß der Sklaverei ein Ende gemacht werde, worin der Sinn der Menschen gehalten wird zum Behuf jener Verstandesübungen, durch die nichts geübt wird, jener ErSW 304 klärungen die nichts hell machen, jener Zerlegungen die nichts auflösen; und dies ist ein Z w e k , auf den Ihr alle mit vereinten Kräften bald hinarbeiten werdet. Denn es ist mit den Verbesserungen der Erziehung gegangen wie mit allen Revolutionen, die nicht aus den höchsten Prinzipien angefangen wurden; sie gleiten allmählig wieder zurük in den alten C 233 Gang I der Dinge, und nur einige Veränderungen im Aeußern erhalten Β 208 das Andenken der Anfangs für | Wunder wie groß gehaltenen Begebenheit. So auch unsere verständige und praktische Erziehung von heute 162 unterscheidet sich nur noch wenig — und dies Wenige liegt | weder im Geist noch in der Wirkung — von der alten mechanischen. Dies ist Euch nicht entgangen, sie fängt an allen wahrhaft Gebildeten eben so verhaßt zu werden als sie es mir ist; und eine reinere Idee verbreitet sich von der Heiligkeit des kindlichen Alters und von der Ewigkeit der unverlezlichen Freiheit, auf deren Aeußerungen man auch bei den noch in der ersten Entwiklung begriffenen Menschen schon warten und lauschen müsse. Bald werden diese Schranken gebrochen werden, die anschauende Kraft wird von ihrem ganzen Reiche Besiz nehmen, jedes Organ wird sich aufthun, und die Gegenstände werden sich auf alle Weise mit dem Men-

5 E n d z w e k ] B: E n d z w e k k

7 Sinnes;] B: Sinnes,

8 — 1 0 aber . . . w ä r e ] B: wenn es

einen geben k ö n n t e ohne Sinn, wie Ihr E u c h d o c h i m m e r a u c h solche abgezogene in sich beschlossene Weise g e d a c h t habt, ist ß : Leichtfertigste

1 1 nur} fehlt in Β

8 geöffnete] C; geöfnete 11 offnen] B + C: ofnen

. . . Zerlegungen . . . Z w e k , ] B : Erklärungen, . . . Zerlegungen, ... Z w e k Es

11

Leichtfertigste,]

14—16

Erklärungen

17 Denn es] B:

2 1 f Begebenheit. ... heute] B: Begebenheit: die verständige und praktische Erziehung

2 5 f fängt ... ist;] B: ist E u c h größtentheils s c h o n eben so verhaßt, Willkühr 1 Ihr] D: ihr

2 8 f noch ... begriffenen] B : werdenden

2 8 Freiheit] B :

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Dritte

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Rede

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sehen in B e r ü h r u n g sezen k ö n n e n . M i t dieser w i e d e r g e w o n n e n e n Freiheit des Sinnes k a n n a b e r sehr w o h l bestehen eine B e s c h r ä n k u n g und feste R i c h t u n g der T h ä t i g k e i t . Dies ist die g r o ß e F o r d e r u n g , mit welcher die Besseren unter E u c h jezt hervortreten an die Z e i t g e n o s s e n und an die N a c h w e l t . Ihr seid m ü d e das fruchtlose e n c y k l o p ä d i s c h e H e r u m f a h r e n mit anzusehen, Ihr seid selbst nur auf dem Wege dieser S e l b s t b e s c h r ä n kung das geworden was Ihr seid, und Ihr w i ß t , d a ß es keinen andern giebt, um sich zu bilden; | Ihr dringt also d a r a u f , J e d e r solle etwas Bestimmtes | zu werden suchen, und solle irgend e t w a s mit Stätigkeit und ganzer Seele betreiben. N i e m a n d kann die R i c h t i g k e i t dieses R a t h e s besser einsehen als der, welcher schon zu einer gewissen Allgemeinheit des Sinnes herangereift ist; denn er m u ß wissen, d a ß es a u c h für die W a h r nehmung keine G e g e n s t ä n d e geben würde, w e n n nicht Alles gesondert und b e s c h r ä n k t w ä r e . U n d so freue auch ich mich dieser B e m ü h u n g e n , und wollte sie wären schon weiter gediehen. D e r Religion werden sie trefflich zu N u z e k o m m e n . D e n n grade diese B e s c h r ä n k u n g der K r a f t , wenn er nur nicht selbst auch b e s c h r ä n k t wird, b a h n t dem Sinn desto sicherer den Weg zum Unendlichen, und e r ö f f n e t wieder die so lange gesperrte G e m e i n s c h a f t . Wer Vieles angeschaut h a t und k e n n t , und sich dann entschließen k a n n etwas Einzelnes mit ganzer K r a f t und um sein selbst willen zu thun und zu för|dern, der k a n n d o c h nicht anders als auch das übrige Einzelne für etwas e r k e n n e n , w a s u m sein selbst willen g e m a c h t werden und da sein soll, weil er s o n s t sich selbst widersprechen würde; und wenn er d a n n , was er w ä h l t e , so h o c h getrieben hat, als er k a n n , so wird es ihm grade a u f d e m G i p f e l der Vollendung am wenigsten entgehen, d a ß dies eben nichts ist o h n e das Uebrige. Dieses einem sinnigen M e n s c h e n sich überall aufdringende A n e r k e n n e n des Fremden und Vernichten des Eigenen, | dieses zu gelegner Z e i t a b w e c h selnd g e f o r d e r t e Lieben und Verachten alles E n d l i c h e n und B e s c h r ä n k ten ist nicht möglich o h n e eine dunkle A h n u n g der W e l t und G o t t e s , und m u ß nothwendig eine lautere und b e s t i m m t e r e S e h n s u c h t nach dem Einen in Allem herbeiführen.

1 wiedergewonnenen] B: unbegränzten 3 Forderung,] B: Forderung 8 f Bestimmtes] Β + C: bestimmtes 10 Richtigkeit] B: Wahrheit 11 der,] B: der 11 einer gewissen] B: jener 12 ist; ... wissen,] B: ist, ... wissen 12f auch für die Wahrnehmung] fehlt in Β 13 Alles] B + C: alles 16 trefflich] B + C: treflich 17 er ... Sinn] B: nur der Sinn nicht mit beschränkt wird, bahnt ihm 18f eröffnet ... Vieles] B + C: eröfnet ... vieles 2 4 f dann, ... wählte, ... hat,] B: dann ... wählte ... hat 26 dies] ß: es 28 Fremden] B: Fremden, 28 f Zeit abwechselnd] B: Zeit 29 f Beschränkten] D: Beschräukten

C 234 Β 209

sw 305

163

Β 210 C23S

170

Über die

Religion

D r e i verschiedene G e b i e t e des Sinnes k e n n t J e d e r aus seinem eignen B e w u ß t s e i n , in welche sich die verschiedenen Aeußerungen desselben theilen. D a s eine ist das Innere des Ich selbst; dem andern gehört alles Aeußere zu, inwiefern es ein in sich u n b e s t i m m t e s und unvollendetes ist, Ihr m ö g t es M a s s e nennen, S t o f f oder Element o d e r wie Ihr sonst wollt; das dritte endlich scheint beide zu verbinden, indem der Sinn in ein stetes H i n - und H e r s c h w e b e n zwischen den R i c h t u n g e n n a c h innen und nach außen versezt, nur in der A n n a h m e ihrer unbedingten innigsten Vereinigung R u h e findet; dies ist das G e b i e t des Individuellen, des in sich VollSW 306 endeten, oder alles dessen was Kunst ist in der N a t u r und in den Werken des M e n s c h e n . N i c h t jeder Einzelne ist allen diesen Gebieten gleich befreundet, aber von jedem derselben giebt es einen Weg zu f r o m m e n Erhebungen des G e m ü t h e s , die nur eine eigenthümliche Gestalt a n n e h m e n , nach der Verschiedenheit des Weges auf welchem sie gefunden worden Β 211 sind. — S c h a u t E u c h selbst an | mit unverwandter Anstrengung, sondert Alles a b , was nicht Euer Ich ist, fahrt so immer fort mit i m m e r schärfer C 236 a u f das rein Innere gerichtetem Sinn: und je mehr, in|dem Ihr alles Fremde in A b r e c h n u n g bringt, E u r e Persönlichkeit und Euer abgesonder164 tes D a s e i n E u c h verringert e r s c h e i n e n , ja beinahe g a n z selbst verschwinden, desto klarer wird das Universum vor Euch d a s t e h n , desto herrlicher werdet Ihr belohnt werden für den Schrek der Selbstvernichtung des Vergänglichen durch das Gefühl des Ewigen in E u c h . S c h a u t außer E u c h , a u f irgend eines von den weitverbreiteten Elementen der Welt, und f a ß t es auf in seinem eigensten Wesen, aber sucht es auch a u f überall w o es ist, nicht nur an und für sich, sondern in diesem und j e n e m in E u c h und überall; wiederholt Euren Weg v o m Umkreise zum M i t t e l p u n k t e i m m e r öfter und in weitern Entfernungen: so werdet Ihr, indem Ihr jedes über-

1 Jeder] B + C: jeder 4 zu,] B: zu 4 f in sich ... Element] B: Unbestimmtes in sich Unvollendetes ist, Ihr mögt es Masse nennen 8 Annahme ihrer unbedingten] B: unbedingten Annahme ihrer 11—15 Nicht ... sind] B: Nur eines von diesen Gebieten vorzüglich kann wie es scheint, der Einzelne völlig beherrschen, aber von Jedem aus giebt es einen Weg zur Religion, die nur eine eigenthümliche Gestalt annimmt nach der Verschiedenheit des Weges auf welchem sie gefunden worden ist 12 jedem] C: Jedem 16 Alles] B + C: alles 16—20 schärfer ... verschwinden] B: geschärfterem Sinn, und je mehr Ihr in Persönlichkeit und abgesondertem Dasein Euch selbst verschwindet 18 Fremde] C: fremde 21 Schrek] B: Schrekk 21 f des Vergänglichen] fehlt in Β 22 Vergänglichen] C: vergänglichen 23—26 eines ... überall;] B: einen Theil, auf irgend ein Element der Welt und faßt es auf in seinem ganzen Wesen, aber sucht auch alles zusammen was es ist, nicht nur in sich, sondern in Euch, in diesem und jenem und überall, 27—2 Ihr, ... Abgesonderte] B: Ihr das Einzelne und Abgesonderte bald 9 f Vollendeten] B: Vol/lendeten

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Dritte

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all wiederfindet, und indem Ihr es nicht anders erkennen könnt als im Verhältniß zu seinem Gegensaz, bald alles Einzelne und Abgesonderte verlieren, und das Universum gefunden haben. Welcher Weg nun aber zur Religion führe aus dem dritten Gebiet, dem des Kunstsinns, dessen 5 unmittelbarer Gegenstand doch auch keinesweges das Universum selbst ist, sondern ebenfalls Einzelnes nur aber in sich selbst vollendetes und abgeschlossenes, was ihn befriediget, von welchem aus also das in jedem einzelnen G e n u ß befriedigte und sich ruhig darin versenkende Gemiith nicht zu einer solchen Fortschreitung getrieben wird, wodurch das Ein10 zelne gleichsam allmählig verschwin|det, und das Ganze an seine Stelle ge| schoben wird; oder ob es vielleicht einen solchen Weg überall nicht giebt, sondern dieses Gebiet abgeschlossen für sich bleibt, und die Künstler vielleicht deshalb verurtheilt sind irreligiös zu sein; oder ob nur ein ganz anderes Verhältniß Statt findet zwischen Kunst und Religion als 15 das obige: dies sollte ich wol lieber Euch als Aufgabe zur eignen Lösung aufstellen, als es eben so bestimmt wie das vorige Euch darlegen. Denn mir wäre wol die Untersuchung zu schwer und zu fremd; Ihr aber wißt Euch nicht wenig mit Eurem Sinn für die Kunst und Eurer Liebe zu ihr, so daß ich Euch auch gern allein gewähren lasse auf Eurem heimischen 20 Boden. Eins nur wünschte ich, möchte nicht bloß Wunsch sein und Ahnung, sondern Einsicht und Weissagung, was ich hierüber | denke; sehet aber zu was es sein mag. Wenn es nämlich wahr ist, daß es schnelle Bekehrungen giebt, Veranlassungen durch welche dem Menschen, der an nichts weniger dachte als sich über das Endliche zu erheben, in einem 25 Moment wie durch eine innere unmittelbare Erleuchtung der Sinn für das Höchste aufgeht, und es ihn überfällt mit seiner Herrlichkeit: so glaube ich, daß mehr als irgend etwas Anderes der Anblik großer und erhabner Kunstwerke dieses Wunder verrichten kann; und | daß also auch Ihr, ohne daß eine allmählige Annäherung vorangeht, vielleicht 30 plözlich einmal von einem solchen Strahl Eurer Sonne getroffen, umkehrt zur Religion. |

6 f nur ... befriediget,] B: was ihn befriediget, nur aber in sich selbst vollendetes und abgeschlossenes 10 allmählig] B + C: allmälig 11 vielleicht ... überall] B: einen solchen Weg 12 für] B: in 13 deshalb] fehlt in Β 13 nur] B: vielleicht 1 5 f sollte ich wol lieber ... aufstellen ... darlegen] B: ziemt mir besser ... aufzustellen ... darzulegen 2 0 ich,] B: ich 25 f für das Höchste] B: fürs Universum 26 Höchste] C: höchste 27 Anderes] B + C: anderes 27 Anblik] B: Anblikk 18 Euch nicht] C: euch nicht 16 Vgl.

170,15-171,3

18 zu ihr] B: zu Ihr

Β 212 C237 sw 307

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Β 213

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Über die

Religion

C238

A u f dem ersten Wege, dem der abgezogensten Selbstbetrachtung, das Universum zu finden, w a r das G e s c h ä f t des uralten morgenländischen M y s t i c i s m u s , der mit b e w u n d e r n s w e r t h e r Kühnheit, und nahe genug der neuern Erscheinung des Idealismus unter uns, das unendlich G r o ß e u n m i t t e l b a r anknüpfte an das unendlich Kleine, und Alles fand dicht an der G r e n z e des Nichts. Von der B e t r a c h t u n g der M a s s e n und ihrer G e g e n s ä z e aber ging o f f e n b a r jede Religion aus, deren Schematismus der H i m m e l w a r oder die elementarische N a t u r , und das vielgöttrige Egypten w a r lange die v o l l k o m m e n s t e Pflegerinn dieser Sinnesart, in welcher — es läßt sich wenigstens ahnen — die reinste A n s c h a u u n g des SW 308 Ursprünglichen und Lebendigen in demüthiger D u l d s a m k e i t dicht neben der finstersten Superstition und der sinnlosesten M y t h o l o g i e mag gewandelt h a b e n s . U n d wenn nichts zu sagen ist von einer R e l i g i o n , die, von der Kunst ursprünglich ausgegangen, Völker und Z e i t e n beherrscht hätte: so ist dieses desto deutlicher, d a ß der Kunstsinn sich niemals jenen beiden Arten der Religion genähert h a t , o h n e sie mit neuer Schönheit Β 214 und I Heiligkeit zu überschütten, und ihre ursprüngliche Beschränktheit freundlich zu mildern. S o wurde durch die älteren Weisen und D i c h t e r und vorzüglich durch die bildenden Künstler der Griechen die Naturreligion in eine s c h ö n e r e und fröhlichere G e s t a l t umgewandelt, und so er166, C 239 blikken wir in allen mythischen D a r s t e l l u n g e n des göttlichen Piaton und der Seinigen, die Ihr d o c h selbst m e h r für religiös werdet gelten lassen als für wissenschaftlich, eine schöne Steigerung jener mystischen Selbstbeschauung a u f den höchsten Gipfel der G ö t t l i c h k e i t und der M e n s c h l i c h k e i t , und ein, nur durch das g e w o h n t e Leben im G e b i e t e der Kunst und durch die ihnen e i n w o h n e n d e K r a f t vornehmlich der D i c h t kunst bewirktes, lebendiges Bestreben, von dieser F o r m der Religion zu der entgegengesezten hindurchdringend, beide mit einander zu vereinigen. D a h e r k a n n man nur bewundern die schöne Selbstvergessenheit, w o m i t er im heiligen Eifer wie ein gerechter König, der auch der zu weichherzigen M u t t e r nicht schont, gegen die Kunst redet; denn Alles was nicht den Verfall gilt, oder ein durch ihn erzeugter M i ß v e r s t a n d ist, galt nur dem freiwilligen Dienst, den sie der u n v o l l k o m m e n e n Naturreli-

1 Selbstbetrachtung,] B : Selbstbetrachtung 5 fand] B : fand, 6 f Betrachtung ... Gegensäze] B : Weltbetrachtung 13 die,] B: die 19 und vorzüglich ... Künstler] fehlt in Β 25 ein,] B: ein 2 6 vornehmlich] B + C: vornemlich 2 7 bewirktes, ... Bestreben,] B : bewirktes ... Bestreben 28 hindurchdringend,] B : hindurchzudringen, und C : hindurch dringend 3 0 König,] B: König 31 Alles] B + C: alles 33 Dienst,] B : Dienst 2 4 den] D : dem

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gion leistete. Jezt dient sie keiner, und Alles ist anders und schlechter. Religion und Kunst stehen neben einander wie zwei befreundete Wesen, deren innere Verwandt| schaft, wiewol gegenseitig u n e r k a n n t und k a u m geahnet, doch auf mancherlei Weise herausbricht 6 . Wie die ungleichartigen Pole zweier Magnete werden sie von einander angezogen heftig bewegt, vermögen aber nicht bis zum gänzlichen Z u s a m m e n s t o ß e n und Einswerden ihren Schwerpunkt zu überwinden. Freundliche Worte und Ergießungen des Herzens schweben ihnen immer auf den Lippen, und kehren | immer wieder zurük, weil sie die rechte Art und den lezten G r u n d ihres Sinnens und Sehnens noch nicht wieder finden k ö n n e n . Sie harren einer näheren O f f e n b a r u n g , und unter gleichem D r u k leidend und seufzend sehen sie einander dulden, mit inniger Zuneigung und tiefem Gefühl vielleicht, aber doch ohne w a h r h a f t vereinigende Liebe. Soll nur dieser gemeinschaftliche D r u k den glüklichen M o m e n t ihrer Vereinigung herbeiführen? oder wird aus reiner Liebe und Freude bald ein neuer Tag aufgehen f ü r die Eine, die Euch so werth ist? Wie es auch k o m m e , jede zuerst befreite wird gewiß eilen, wenigstens mit schwesterlicher Treue sich der an|dern anzunehmen. — Aber f ü r jezt entbehren beide Arten der Religion nicht nur der Hülfe der Kunst: auch an sich ist ihr Zustand übler als sonst. G r o ß und prächtig strömten beide Quellen der Wahrnehmung und des Gefühls vom Unendlichen zu einer Zeit, w o wissenschaftliches Klügeln ohne w a h r e Prinzipien noch nicht durch seine Gemeinheit der Reinigkeit des Sinnes A b b r u c h that, obschon keine f ü r sich reich genug war um das Höchste hervorzubringen; jezt sind sie außerdem getrübt durch den Verlust der Einfalt, und durch den verderblichen Einfluß einer eingebildeten und falschen Einsicht. Wie reinigt m a n sie? wie schafft man ihnen Kraft und Fülle genug, um zu mehr als ephemeren Produkten den Erdboden zu befruchten? Sie zusammen zu leiten und in einem Bett zu ver|einigen, das ist das Einzige was die Religion, auf dem Wege den wir gehen, zur Vollendung bringen kann; das w ä r e

2 neben einander ... Wesen,] B: nebeneinander ... Wesen 3 wiewol gegenseitig] fehlt in Β 4 geahnet,] B: geahndet C: geahndet, 10 wieder] fehlt in Β 11 u. 14 Druk] B: Drukk 15 — 18 wird ... andern] B: werdet Ihr bald einen großen Streich ausführen für die Eine, die Euch so werth ist, so wird sie gewiß eilen wenigstens mit schwesterlicher Treue der andern sich 18f beide ... nur] B: nicht nur beide Arten der Religion 21 Zeit,] B: Zeit 27 schafft] B + C: schaft 27 genug,] B: genug 28 zusammen zu leiten] B: zusammenzuleiten 8 Anspielung auf die von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck publizierte Schrift „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" 1797)

anonym (Berlin

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Über die Religion

eine Begebenheit, aus deren S c h o o ß sie bald in einer neuen und herrlichen Gestalt bessern Zeiten entgegengehen würde. Sehet da! so ist, Ihr m ö g e t es nun wollen oder nicht, das Ziel Eurer gegenwärtigen höchsten Anstrengungen zugleich die Auferstehung der Religion! Eure B e m ü h u n g e n sind es, welche diese Begebenheit herbeiführen müssen, und ich feiere E u c h als die, wenn gleich unabsichtlichen, R e t t e r und Pfleger der Religion. Weichet nicht von E u r e m Posten und E u r e m W e r k e , bis Ihr das Innerste der E r k e n n t n i ß aufgeschlossen und in priesterlicher D e m u t h das Heiligthum der w a h r e n W i s s e n s c h a f t eröffnet h a b t , w o Allen, welche hinzutreten, und auch den Söhnen der Religion, Alles ersezt wird, was ein halbes Wissen, und ein | übermüthiges Pochen darauf, verlieren m a c h t e . D i e Philosophie, den M e n s c h e n erhebend zum Bewußtsein seiner Wechselwirkung mit der Welt, ihn sich kennen lehrend nicht nur als Abgesondertes und Einzelnes, sondern als lebendiges mitschaffendes Glied des G a n z e n zugleich, wird nicht länger leiden, d a ß unter ihren Augen, der seines Z w e k s verfehlend a r m und dürftig vers c h m a c h t e , welcher das | Auge seines Geistes standhaft in sich gekehrt hält, dort das Universum zu suchen. Eingerissen ist die ängstliche Scheidewand, Alles a u ß e r ihm ist nur ein anderes in ihm, Alles ist der | Widerschein seines Geistes, so wie sein Geist der A b d r u k von Allem ist; er d a r f sich suchen in diesem Widerschein o h n e sich zu verlieren oder aus sich heraus zu gehen, er k a n n sich nie erschöpfen im Anschauen seiner selbst, denn Alles liegt in ihm. D i e Sittenlehre in ihrer züchtigen himmlischen S c h ö n h e i t fern von Eifersucht und despotischem D ü n k e l wird ihm selbst beim E i n g a n g die h i m m l i s c h e Leier und den magischen Spiegel reichen, um das ernste stille Bilden des Geistes in unzähligen Gestalten i m m e r dasselbe durch das ganze unendliche G e b i e t der M e n s c h h e i t zu erblikken, und es mit göttlichen T ö n e n zu begleiten. Die Naturwissenschaft stellt den, welcher um sich schaut das Universum zu erblikken, mit k ü h n e n Schritten in den M i t t e l p u n k t der | Natur, und leidet nicht länger, d a ß er sich fruchtlos zerstreue, und bei einzelnen kleinen Zügen verweile. D a s Spiel ihrer K r ä f t e darf er dann verfolgen bis in ihr geheimstes G e b i e t , von den unzugänglichen V o r r a t h s k a m m e r n des beweglichen

1 Begebenheit,] B: Begebenheit 3 f so ... Anstrengungen] B: das Ziel Eurer gegenwärtigen höchsten Anstrengungen ist 6—8 unabsichtlichen, ... Werke,] B : unabsichtlichen ... Werke 9 eröffnet] B + C: eröfnet 10 Allen, . . . Religion,] B; Allen ... Religion 19 Alles ... Alles] B + C: alles ... alles 20 Abdruk] B: Abdrukk 2 6 das ernste ... Geistes] B: ihr ernstes stilles Bilden 26 Gestalten] B: Gestalten, 27 das ganze ... Menschheit] B: die ganze Unendlichkeit, 31 länger,] B: länger 13 ihn] D : in depotischem

19 außer ... in ihm] C: Außer ... in Ihm

2 4 despotischem] D :

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Rede

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Stoffs bis in die künstliche Werkstätte des organischen Lebens; er ermißt ihre M a c h t von den Grenzen des Welten gebärenden Raumes bis in den Mittelpunkt seines eignen Ichs, und findet sich überall mit ihr im ewigen Streit und in der unzertrennlichsten Vereinigung, sich ihr innerstes Centrum und ihre äußerste Grenze. Der Schein ist geflohen und das Wesen errungen; fest ist sein Blik und hell seine Aussicht, überall unter allen | Verkleidungen dasselbe erkennend, und nirgends ruhend als in dem Unendlichen und Einen. Schon sehe ich einige bedeutende Gestalten, eingeweihet in diese Geheimnisse, aus dem Heiligthum zurükkehren, die sich nur noch reinigen und schmükken, um im priesterlichen Gewände hervorzugehen. M ö g e denn auch die eine Göttin noch säumen mit ihrer hülfreichen Erscheinung; auch dafür bringt uns die Zeit einen großen und reichen Ersaz. Denn das größte Kunstwerk ist das, dessen Stoff die | Menschheit selbst ist, welches die Gottheit unmittelbar bildet, und für dieses muß Vielen der Sinn bald aufgehn. Denn sie bildet | auch jezt mit kühner und kräftiger Kunst, und Ihr werdet die Neokoren sein, wenn die neuen Gebilde aufgestellt sind im Tempel der Zeit. Leget den Künstler aus mit Kraft und Geist, erklärt aus den frühern Werken die s p ä t e m , und diese aus jenen. Laßt uns Vergangenheit, Gegenwart und Z u k u n f t umschlingen, eine endlose Gallerie der erhabensten Kunstwerke durch tausend glänzende Spiegel ewig vervielfältigt. Laßt die Geschichte, wie es derjenigen ziemt der Welten zu Gebote stehn, mit reicher D a n k b a r k e i t der Religion lohnen als ihrer ersten Pflegerinn, und der ewigen M a c h t und Weisheit wahre und heilige Anbeter erwekken. Seht wie das himmlisehe Gewächs ohne Euer Zuthun mitten in Euern Pflanzungen gedeiht, zum Beweise von dem Wohlgefallen der Götter, und von der Unvergänglichkeit Eures Verdienstes. Stört | es nicht und rauft es nicht aus! es ist ein Schmuk der sie ziert, ein Talisman der sie schüzt.

2 Grenzen] B + C: Gränzen 5 Grenze] B + C: Gränze 6 Blik] B: Blikk 8 f eingeweihet] B: eingeweiht 10 schmükken,] B: schmükken 23 Pflegerinn] C: Pflegerin 25—28 ohne ... Schmuk] B: mitten in Euern Pflanzungen gedeiht, ohne Euer Zuthun. Stört es nicht und rauft es nicht aus! Es ist ein Beweis vom Wohlgefallen der Götter, und von der Unvergänglichkeit Eueres Verdienstes, es ist ein Schmukk 27 Eures] C: Eueres 16 Neokoren waren Tempeldiener (Küster) an altgriechischen Heiligtümern. spielung auf Friedrich Schlegels Fragment (Nr. 116) zur romantischen Poesie, naeum, Bd. 1, Berlin 1798, H. 2, S. 28-30; KA 2,182 f

20 f Anvgl. Athe-

sw 311

c 243

169 Β 219

c 244

E r l ä u t e r u n g e n zur d r i t t e n R e d e .

SW 312

1) S. 147. Diese Aeußerung scheint im Widerspruch zu stehen mit den Worten Christi, welcher zu seinen Jüngern sagt: Ihr habt mich nicht erwählet, sondern ich habe euch erwählet. Indeß ist dieser Widerspruch doch nur scheinbar. Denn auch Christus fragte bei einer andern Gelegenheit seine Jünger, ob sie auch hinter sich gehen wollten, wie Andere gethan, und erkennt dadurch an, daß ihr bei ihm bleiben ihre freie That sei, welches Alles ist, was hier behauptet werden soll. Ja man kann sagen, in der Erklärung ihres standhaften Beharrens liege dieses, daß sie ihn gleichsam auf's neue zu ihrem Meister wählten mit einem gewekteren Sinn und einem reiferen Urtheil, als da sie sich zuerst an ihn anschlossen. Auch würde man unrecht thun, die oben angeführten Worte Christi so zu deuten, als habe er es auf diese oder andere Einzelne besonders angelegt, welches in einem solchen Sinne partikularistisch wäre, wie ich es nicht vertheidi170 gen möchte. Vielmehr liegt darin vorzüglich | dieses, daß nicht etwa — wie man von untergeordneten Bewegungen in der Religion, z. B. der Kirchenverbesserung sehr füglich sagen kann — eine in ihm und ihnen gleich ursprüngliche göttliche Aufregung das Reich Gottes gegründet, wobei sie ihn als den tiefsten und kräftigsten, wie hernach den Petrus, zu ihrem Vortreter ausersehen; sondern daß die Erregung ursprünglich in ihm allein gewesen, in ihnen aber nur die Empfänglichkeit durch ihn erwekt zu werden. So stimmt das hier Gesagte mit der Darstellung Christi ganz wohl zusammen, wie denn auch sein Verhältniß zu seinen Jüngern dabei als Urbild vorgeschwebt hat. Denn es ist gewiß, wäre Christus nicht auch von dieser Ansicht ausgegangen, daß jede wenn gleich noch so individuelle leC 245 bendige Aeußerung doch in einem an|dern das gleiche nur auf eine universelle Weise aufregen kann, und daß das volle Anschließen an die Eigenthümlichkeit eines Andern immer freie That ist: so hätte er niemals seine Jünger auf einem solchen Fuß der Gleichheit behandeln können, daß er sie seine Brüder und Freunde nennt. 2) S. 147. Was hier gesagt ist folgt schon von selbst aus dem eben Erläuterten. Und das beste Beispiel dazu finden wir ebenfalls in der ältesten christlichen Geschichte, wenn wir an diejenigen Judengenossen aus den Heiden denken, welche hernach, diejenigen verlassend die zuerst die Ahnung des Einen höchsten Wesens in ihnen erwekt hatten, zum Christenthum übergingen. Es scheint mir aber besonders in jeder Zeit eines regeren religiösen Lebens, wie sie unläugbar, seitdem ich dieses zuerst schrieb, bei uns eingetreten ist, für alle diejenigen, wel-

2 147] C: 211 erläuterten

6 Andere] C: andere

26 einem] C+D:

einen

36 211] C: 185

3 f Job 15,16

27 f Vgl. Job 20,17;

15,14

29 147] C: 212

36 212] C: 186

29 f Erläuterten] C:

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Erläuterungen

5

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zur dritten

Rede

177

che, sei es nun amtlich oder auch o h n e äußeren nur kraft ihres inneren Berufs, eine merkliche religiöse W i r k s a m k e i t ausüben, zu ihrer eigenen Beruhigung höchst nothwendig sich zu dieser freieren Ansicht zu erheben, damit sie sich nicht wundern, wenn viele von denjenigen, welche zuerst von ihnen sind angeregt worden, hernach doch in einer ziemlich verschiedenen Ansicht und E m p f i n dungsweise erst ihre volle Beruhigung finden. J e d e r freue sich Leben erregt zu h a b e n , denn dadurch bewährt er sich als ein Werkzeug des göttlichen Geistes; SW 313 keiner aber glaube, d a ß die Gestaltung desselben in seiner G e w a l t stehe. 3) S. 1 5 4 . N u r durch diesen lezten Z u g wird das Bild der D e n k u n g s a r t vollendet, die ich hier zeichnen wollte. D e n n diese M e n s c h e n fliehen auch den B u c h s t a b e n . Und wie sie ein moralisches oder politisches oder religiöses Bekenntniß nur insofern gestatten wollen, als ein J e d e r sich dabei denken k a n n was er will: so lassen sie auch keine praktischen Regeln gelten, als nur unter dem Vorbehalt beständiger A u s n a h m e n , damit Alles, wie das Prinzip der absoluten Nüzlichkeit es mit sich bringt, v o l l k o m m e n einzeln da stehe als Nichts durch Nichts für Nichts. — Sollten aber irgend Leser von anderem Schlage scheel dazu sehen, d a ß der hier gewählte Ausdruk | doch dem B u c h s t a b e n einen Werth bei- 171 lege und zwar keinen geringen, weil er allem | andern hier genannten doch d e m C 246 Wesen nach gleich gesezt ist, und daß ich dadurch Mißverständnisse begünstige, welchen m a n heutzutage vorzüglich entgegenarbeiten sollte, den wollte ich d o c h w a r n e n , d a ß durch solches absichtliches H e r a b s e z e n des zu hoch Gestellten der Wahrheit nicht gedient wird, sondern nur theils H a r t n ä k k i g k e i t erzeugt, theils das Umschlagen in das entgegengesezte Aeußerste begünstiget. D a r u m wollen wir zu allen Zeiten unverhohlen des B u c h s t a b e n , sofern er nur nicht v o m Geist getrennt und erstorben ist, hohen Werth in allen ernstlichen Dingen a n e r k e n n e n . D e n n ist gleich das unmittelbare Leben in den großen Einheiten, die zu verschlossen sind um vom Buchstaben durchdrungen zu werden; — denn welcher B u c h s t a b e faßte w o l das Dasein eines Volkes? — und in dem Einzelnen, was zu fließend ist, um in den Buchstaben g e b a n n t zu werden: — denn welcher B u c h stabe spräche w o l das Wesen eines einzelnen M e n s c h e n aus? — so ist doch der B u c h s t a b e überall die unentbehrliche sondernde B e s o n n e n h e i t , o h n e welche wir nur schwindelnd zwischen jenen beiden kreisen k ö n n t e n , und der wir es verdanken, daß uns die chaotische unbestimmte M e n g e sich zur bestimmten Vielheit wandele. J a es ist unverkennbar, daß im g r ö ß t e n Sinne die Z e i t e n sich scheiden durch den B u c h s t a b e n , und d a ß es das Meisterstük der höchsten menschlichen Weisheit ist richtig zu schäzen, wann die menschlichen Dinge eines neuen B u c h staben bedürfen. D e n n erscheint er zu früh, so wird er verworfen von der n o c h regen Liebe zu d e m , der verdrängt werden soll; und gestaltet er sich zu spät, so ist jener Schwindel schon eingetreten, den er d a n n nicht mehr b e s c h w ö r e n k a n n .

9 154] C: 222 12 Jeder] C: jeder 24 unverhohlen] C: unverholen 36 die] C: den

40 222] C: 196

14 Alles] C: alles

21 Gestellten] C: gestellten

Über die

178

Religion

4) S. 1 6 1 . N i e m a n d wolle d o c h glauben, d a ß ich die E r s c h e i n u n g e n eines e r w a c h t e n religiösen Lebens, die jezt in D e u t s c h l a n d besonders so häufig sind, als die Erfüllung der hier ausgesprochenen H o f n u n g ansehe. Dies geht schon aus d e m Folgenden deutlich genug hervor. D e n n eine Wiederbelebung der F r ö m m i g keit, die v o n einem m e h r geöffneten Sinn e r w a r t e t wird, m ü ß t e sich anders geC 247

5

s t a l t e n als d a s , w a s wir unter uns sehen. D i e u n d u l d s a m e L i e b l o s i g k e i t unserer n e u e n F r o m m e n , die sich n i c h t m i t d e m Z u r ü k z i e h e n von d e m w a s ihnen zuwider ist, b e g n ü g t , s o n d e r n jedes gesellige V e r h ä l t n i ß zu V e r u n g l i m p f u n g e n b e n u z t , w e l c h e b a l d a l l e m freien geistigen L e b e n g e f ä h r l i c h w e r d e n d ü r f t e n , ihr ängstliches H o r c h e n a u f b e s t i m m t e A u s d r ü k k e , n a c h denen sie den einen als w e i ß

SW 314

10

b e z e i c h n e n u n d den a n d e r n als s c h w a r z , die G l e i c h g ü l t i g k e i t der M e i s t e n gegen alle g r o ß e W e l t b e g e b e n h e i t e n , d e r e n g h e r z i g e A r i s t o k r a t i s m u s A n d e r e r , die allgem e i n e S c h e u v o r aller W i s s e n s c h a f t , dies sind k e i n e Z e i c h e n eines g e ö f f n e t e n S i n n e s , s o n d e r n v i e l m e h r eines tief e i n g e w u r z e l t e n k r a n k h a f t e n Z u s t a n d e s , a u f w e l c h e n mit L i e b e , a b e r auch mit strenger Festigkeit g e w i r k t w e r d e n m u ß , w e n n

15

172 n i c h t d a r a u s | d e m G a n z e n der G e s e l l s c h a f t m e h r N a c h t h e i l e r w a c h s e n soll, als d a s e r w e k t e religiöse L e b e n E i n z e l n e r ihr geistigen G e w i n n b r i n g t . D e n n das w o l l e n wir n i c h t in A b r e d e stellen, d a ß viele der G e r i n g e r e n aus ihrer S t u m p f s i n n i g k e i t , der V o r n e h m e r e n aus ihrer W e l t l i c h k e i t nur d u r c h diese h e r b e A r t und Weise der F r ö m m i g k e i t g e w e k t w e r d e n k o n n t e n , wollen a b e r d a b e i w ü n s c h e n

20

u n d a u f d a s k r ä f t i g s t e dazu m i t w i r k e n , d a ß dieser Z u s t a n d für die M e i s t e n nur ein D u r c h g a n g w e r d e zu einer w ü r d i g e r n Freiheit des geistigen L e b e n s . D i e s s o l l t e w o l u m s o l e i c h t e r g e l i n g e n , als es ja d e u t l i c h und u n v e r h o h l e n genug zu T a g e liegt, wie leicht sich M e n s c h e n , denen es u m e t w a s g a n z A n d e r e s als u m w a h r e F r ö m m i g k e i t zu t h u n ist, dieser F o r m b e m ä c h t i g e n , und w i e sichtlich der

25

G e i s t a b z e h r t , w e n n er eine Z e i t l a n g in d e r s e l b e n e i n g e s c h n ü r t g e w e s e n ist. 5) S. 1 6 5 . D i e hier b e s o n d e r s h e r a u s g e h o b e n e n F o r m e n d e r R e l i g i o n scheinen mit der in der G l a u b e n s l e h r e §. 9 . aufgestellten H a u p t e i n t h e i l u n g n i c h t zus a m m e n z u t r e f f e n . D e n n w a s die U n t e r o r d n u n g der t h ä t i g e n Z u s t ä n d e unter die leidentlichen o d e r u m g e k e h r t b e t r i f f t , so k a n n s o w o l die a b g e z o g e n s t e S e l b s t b e -

30

t r a c h t u n g , als die ä u ß e r l i c h s t e W e l t b e t r a c h t u n g eben so leicht d e n einen G a n g n e h m e n als d e n a n d e r n . Allein es ist a u c h in dieser R e d e n i c h t die A b s i c h t , die H a u p t f o r m e n d e r R e l i g i o n selbst zu u n t e r s c h e i d e n ; s o n d e r n weil v o n der Bildung C 248

zu derselben d u r c h E r ö f f n u n g des Sinnes gehandelt wird, und z w a r von einer s o l c h e n B i l d u n g , d u r c h w e l c h e der E i n z e l n e n i c h t gleich in eine b e s t i m m t e F o r m

35

h i n e i n g e f ü h r t , s o n d e r n J e d e r erst fähig g e m a c h t wird, die i h m a m g e n a u e s t e n a n p a s s e n d e F o r m der R e l i g i o n zu u n t e r s c h e i d e n u n d sich d a n a c h zu b e s t i m m e n :

2 161] C: 232 6 das,] C: das 22 würdigern] C: würdigeren anderes 27 165] C: 238 36 Jeder] C: jeder 2 erwachten] D : erwachteu 28 CG2 1,55-61

40 KGA

13 geöffneten] C: geöfneten 21 Meisten] C: meisten 23 unverhohlen] C: unverholen 24 Anderes] C: 28 §. 9.] C: I. §. 16. 34 Eröffnung] C: Eröfnung

38 232] C: 207 1/7,1,54-58

40 238] C: 213

40

Erläuterungen

zur dritten

Rede

179

so k a m es w e i t m e h r d a r a u f a n , die H a u p t r i c h t u n g e n des S i n n e s a u f z u z e i g e n , und s o h e b e n sich a u c h v o n selbst d i e j e n i g e n R e l i g i o n s f o r m e n a m m e i s t e n h e r aus, in d e n e n die eine und die a n d e r e v o n j e n e n H a u p t r i c h t u n g e n a m a b s c h l i e ß e n d s t e n gilt. W i e w o l a u c h hier e i n e völlige E i n s e i t i g k e i t n i c h t g e m e i n t ist. D e n n 5

die S e l b s t b e t r a c h t u n g m u ß j a d o c h a u c h a u f d a s in d e r W e l t b e t r a c h t u n g b e g r i f fene Ich g e h e n , u n d die W e l t b e t r a c h t u n g d o c h a u c h a u f die in der E r r e g u n g u n d E r h a l t u n g des geistigen L e b e n s b e g r i f f e n e W e l t . D a h e r w ä r e es a u c h v e r g e b l i c h zu f o r d e r n , d a ß e b e n s o u n t e r den b e i d e n hier a u s g e z e i c h n e t e n F o r m e n d e m C h r i s t e n t h u m e seine Stelle m ü s s e a n g e w i e s e n w e r d e n , w i e es d o r t die seinige u n t e r

10

den e t h i s c h e n o d e r t e l e o l o g i s c h e n R e l i g i o n s f o r m e n f a n d . V i e l m e h r liegt s c h o n in der R e d e selbst a n g e d e u t e t , d a ß d e r G e s c h i c h t s s i n n , w e l c h e r die v o l l s t ä n d i g s t e I n e i n a n d e r b i l d u n g b e i d e r R i c h t u n g e n ist, a u c h a m v o l l k o m m e n s t e n zur F r ö m m i g k e i t f ü h r e . D a ß dieser a b e r g a n z v o r z ü g l i c h d e m C h r i s t e n t h u m e z u m G r u n d e liege, in w e l c h e m j a Alles d a r a u f z u r ü k g e f ü h r t w i r d , w i e sich d e r M e n s c h zu

15

dem Reich Gottes verhalte, bedarf wol keiner Bestätigung; und so folgt von selbst, d a ß d a s C h r i s t e n t h u m eine F r ö m m i g k e i t d a r s t e l l e , w e l c h e e b e n so sehr | SW 315 d u r c h die W e l t b e t r a c h t u n g als d u r c h die S e l b s t b e t r a c h t u n g g e n ä h r t w i r d ; a m m e i -

173

sten a b e r i m m e r , i n s o f e r n jede v o n b e i d e n a u f j e n e s I n e i n a n d e r s e i n b e i d e r b e z o gen w i r d . D a ß es hier w i e d e r u n t e r g e o r d n e t e G e g e n s ä z e der E m p f ä n g l i c h k e i t 20

g e b e , versteht sich v o n selbst; a b e r diese sind n a t ü r l i c h g a n z s u b j e c t i v , u n d b e s t i m m e n n i c h t e t w a die v e r s c h i e d e n e n k i r c h l i c h e n G e s t a l t u n g e n des C h r i s t e n thums. 6) S. 1 6 6 . D i e s e V e r w a n d t s c h a f t w i r d w o l jezt N i e m a n d m e h r in A b r e d e stellen. D e n n es b e d u r f t e nur, d a ß sich die A u f m e r k s a m k e i t a u f diesen G e g e n -

25

s t a n d l e n k t e , u m s o g l e i c h zu f i n d e n , d a ß einerseits in allen K ü n s t e n alle | g r ö ß t e n W e r k e religiöse D a r s t e l l u n g e n sind, u n d d a ß a n d e r e r s e i t s in allen R e l i g i o n e n , d a s C h r i s t e n t h u m n i c h t a u s g e n o m m e n , die F e i n d s c h a f t gegen die K u n s t — n u r d a ß n i c h t j e d e r R e l i g i o n alle Z w e i g e der K u n s t gleich a n g e m e s s e n sind; a b e r die F e i n d s c h a f t gegen alle K u n s t ü b e r h a u p t b r i n g t a u c h ü b e r a l l eine b e s o n d e r e T r o k -

30

k e n h e i t u n d E r k ä l t u n g m i t sich. J a w e n n m a n a u f die allen K ü n s t e n g e m e i n s a m e Z w i e f ä l t i g k e i t des Styls a c h t e t , d a ß sie alle einen s t r e n g e r e n und g e b u n d e n e n u n t e r s c h e i d e n v o n e i n e m freieren u n d l o s e r e n : s o ist n i c h t zu l ä u g n e n , d a ß die religiöse K u n s t ü b e r a l l a m m e i s t e n den s t r e n g e r e n Styl a u f r e c h t h ä l t , s o d a ß , w e n n a u c h religiöse G e g e n s t ä n d e i m leichten Styl b e h a n d e l t w e r d e n , d e r Verfall

35

der R e l i g i o n e n t s c h i e d e n ist, a b e r d a n n a u c h der Verfall der K u n s t b a l d n a c h folgt, und d a ß a u c h der l e i c h t e r e Styl nur, w e n n er an d e m strengeren sein M a a ß und seine H a l t u n g f i n d e t , den w a h r e n K u n s t c h a r a k t e r b e h ä l t , je m e h r e r sich a b e r von j e n e m und a l s o von d e m Z u s a m m e n h a n g m i t der R e l i g i o n l o s s a g t , u m desto

40

sicherer

14 Alles] C: alles ... niemand

und

unaufhaltsamer

23 166] C: 239

27 Kunst] Kj Kunst ist

in

Verkünstelung

und

Schmeichelkunst

23 Verwandtschaft ... Niemand] C: Verwandschaft

4 0 239] C: 215

C 249

180

Über die

Religion

ausartet. Wie sich denn alles dieses in der Geschichte der Kunst im Ganzen schon oft wiederholt hat, und im Einzelnen sich noch beständig wiederholt.

Vierte

Rede.

174; Β 220; C250; SW 316

U e b e r d a s G e s e l l i g e in d e r R e l i g i o n oder ü b e r K i r c h e und P r i e s t e r t h u m .

5

Diejenigen unter Euch, welche gewohnt sind die Religion nur als eine Krankheit des Gemüthes anzusehen, pflegen auch wol die Vorstellung zu unterhalten, daß sie ein leichter zu duldendes, wenn auch nicht zu bezähmendes, Uebel sei, so lange nur hie und da Einzelne abgesondert damit behaftet sind; daß aber die gemeine Gefahr aufs H ö c h s t e gestiegen 10 sei, und Alles auf dem Spiel stehe, sobald unter mehreren Leidenden dieser Art eine allzunahe Gemeinschaft bestehe. In jenem Falle könne man durch eine zwekmäßige Behandlung, gleichsam durch ein der Entzündung widerstehendes Verhalten und durch eine gesunde geistige Atmosphäre die Paroxismen schwächen, und den eigenthiimlichen Krank15 heitsstoff, wo nicht völlig besiegen, doch bis zur Unschädlichkeit verdünnen; in diesem aber müsse man an jeder andern Rettung verzweifeln, als an der, die aus einer innern wohlthätigen Bewegung der Natur hervorgehen kann. Denn das Uebel werde von den gefährlichsten Symptomen C25i begleitet, weit verheerender, wenn die zu große N ä h e anderer Angestek20 ten es bei jedem Einzelnen hegt und schärft; durch Wenige werde dann bald die ganze gemeinsame Lebensluft vergiftet, auch die gesundesten Körper angestekt; alle Kanäle, in denen der Prozeß des Lebens vor sich SW 317

6 wol] B + C: wohl 7 f wenn ... bezähmendes,] B: ja vielleicht zu bezähmendes 9 Höchste] B + C: höchste 10 sei, ... Leidenden] B: und Alles verloren sei, sobald unter mehreren Unglülclichen 11 bestehe] B + C: besteht 13 f eine gesunde geistige Atmosphäre] B: gesunde Luft 1 6 — 2 0 an jeder ... Angestekten] B : jede Hofnung zur Rettung auf|[221]geben. Weit verheerender werde das Übel, und von den gefährlichsten Symptomen begleitet, wenn die zu große Nähe der Andern 19 f Angestekten] C : angestekten 21 gemeinsame Lebensluft] B: Atmosphäre

182

Über die Religion

gehen soll, zerstört; alle Säfte aufgelöset, und von dem gleichen fieber175 haften W a h n s i n n ergriffen, sei es um das gesunde | geistige Leben und W i r k e n ganzer G e n e r a t i o n e n und Völker unwiederbringlich gethan. D a h e r E u e r W i d e r w i l l e gegen die Kirche, gegen jede Veranstaltung, bei der es auf M i t t h e i l u n g der Religion abgesehen ist, i m m e r n o c h stärker her5 austritt als der gegen die Religion selbst; daher sind E u c h die Priester, als die Stüzzen und die eigentlich thätigen Mitglieder solcher Anstalten, die verhaßtesten unter den M e n s c h e n . A b e r auch diejenigen unter E u c h , welche von der Religion eine etwas gelindere M e i n u n g h a b e n , und sie m e h r für eine S o n d e r b a r k e i t als eine Z e r r ü t t u n g des G e m ü t h e s , mehr für 10 eine unbedeutende als gefährliche Erscheinung halten, h a b e n von allen geselligen Einrichtungen für dieselbe v o l l k o m m e n eben so nachtheilige Begriffe. K n e c h t i s c h e Aufopferung des eigenthümlichen und freien, geistloser M e c h a n i s m u s und leere G e b r ä u c h e , dies meinen sie, wären die un-| Β 222 zertrennlichen Folgen jeder solchen Veranstaltung, und dies das kunstrei- 15 che Werk derer, die sich mit unglaublichem Erfolg g r o ß e Vedienste m a chen aus D i n g e n , die entweder Nichts sind, oder die jeder Andre wenigC 252 stens gleich gut | auszurichten im Stande w ä r e . Ich w ü r d e über unsern G e g e n s t a n d , der mir so wichtig ist, mein H e r z nur sehr u n v o l l k o m m e n gegen E u c h ausgeschüttet h a b e n , wenn ich mir nicht M ü h e gäbe, Euch 20 a u c h hierüber a u f den richtigen G e s i c h t s p u n k t zu stellen. Wieviel von den verkehrten Bestrebungen und den traurigen Schiksalen der M e n s c h heit Ihr den religiösen Vereinigungen Schuld gebt, h a b e ich nicht nöthig zu wiederholen, es liegt in tausend Aeußerungen der Vielgeltendsten unter E u c h zu T a g e ; noch will ich mich d a m i t aufhalten diese Beschuldi- 25 gungen einzeln zu widerlegen, um das Uebel a u f andere U r s a c h e n zurükzuwälzen. L a ß t uns vielmehr den ganzen Begriff der K i r c h e einer neuen B e t r a c h t u n g unterwerfen, und ihn v o m M i t t e l p u n k t der S a c h e aus aufs sw 318 neue erschaffen, u n b e k ü m m e r t um das w a s bis jezt davon wirklich gew o r d e n ist, und was die E r f a h r u n g uns d a r ü b e r an die H a n d giebt. 30 176

Ist die Religion einmal, so m u ß sie n o t h w e n d i g auch ge|sellig sein: es liegt in der N a t u r des M e n s c h e n nicht nur, sondern auch ganz vorzügB 223 lieh in der ihrigen. Ihr m ü ß t gestehen, d a ß | es etwas K r a n k h a f t e s höchst

2 f das ... Wirken] fehlt in Β 3 ganzer] B: ganze 3—6 Daher ... stärker heraustritt] B: Daher i s t . . . größer 4 Veranstaltung,] B: Veranstaltung 5 abgesehen] B: angesehen 7 Anstalten,] B: Anstalten 13 eigenthümlichen und freien] B: Eigenthümlichen und Freien 15 jeder ... dies] B: davon, und 17 Dingen,] B: Dingen 17 jeder Andre] Β: Jeder andre C: jeder andre 1 7 f wenigstens] fehlt in Β 18 unsern] B: den 2 3 religiösen Vereinigungen] B: Religionsvereinigungen 2 6 um] B + C: und 27 Begriff] C: Begrif 2 9 f davon wirklich geworden] B: wirklich 3 0 darüber] fehlt in Β 3 3 f Krankhaftes höchst Widernatürliches] B: höchst widernatürliches C: krankhaftes höchst widernatürliches

Vierte

5

10

15

20

25

30

Rede

183

Widernatürliches ist, wenn der einzelne M e n s c h dasjenige, w a s er in sich erzeugt und ausgearbeitet h a t , auch in sich verschließen will. In der unentbehrlichen G e m e i n s c h a f t und gegenseitigen A b h ä n g i g k e i t des H a n delns nicht nur sondern a u c h des geistigen D a s e i n s , w o r i n er m i t den Uebrigen seiner G a t t u n g steht, | soll er Alles äußern und mittheilen was in ihm ist; und je heftiger ihn etwas bewegt, je inniger es sein Wesen durchdringt, desto stärker wirkt auch jener gesellige T r i e b , wenn w i r ihn auch nur aus dem G e s i c h t s p u n k t ansehn w o l l e n , d a ß J e d e r strebt, w a s ihn bewegt auch a u ß e r sich an Andern a n z u s c h a u e n , u m sich vor sich selbst auszuweisen, d a ß ihm nichts als M e n s c h l i c h e s begegnet sei. Ihr seht, daß hier g a r nicht von j e n e m Bestreben die R e d e ist, Andere sich ähnlich zu m a c h e n , n o c h v o n dem G l a u b e n an die U n e n t b e h r l i c h k e i t dessen, was in E i n e m ist, für Alle; sondern nur d a v o n , das w a h r e Verhältniß unseres besonderen L e b e n s zu der g e m e i n s a m e n N a t u r des M e n sehen inne zu werden, und es darzustellen. D e r eigentliche G e g e n s t a n d aber für diesen M i t t h e i l u n g s t r i e b ist unstreitig dasjenige, w o b e i der M e n s c h sich ursprünglich als leidend fühlt, seine W a h r n e h m u n g e n und Gefühle; da drängt es ihn zu wissen, o b es keine f r e m d e und unwürdige G e w a l t | sei, die sie in ihm erzeugt hat. D a r u m sehen wir a u c h von Kindheit an den M e n s c h e n d a m i t beschäftigt, v o r n e h m l i c h diese mitzutheilen: eher läßt er seine Begriffe, über deren Ursprung ihm ohnedies kein Bedenken entstehen k a n n , in sich ruhen, n o c h leichter e n t s c h l i e ß t er sich mit seinen Urtheilen zurükzuhalten; aber w a s zu seinen Sinnen eingeht, was seine G e f ü h l e aufregt, d a r ü b e r will er Z e u g e n , d a r a n will er T h e i l n e h m e r h a b e n . W i e sollte er grade die umfassendsten und allgemeinsten E i n w i r k u n g e n | der Welt für sich b e h a l t e n , die ihm als das G r ö ß t e und Unwiderstehlichste erscheinen? W i e sollte er grade das in sich verschließen wollen, was ihn am stärksten | aus sich h e r a u s t r e i b t , und woran er ganz vorzüglich inne wird, d a ß er sich selbst aus sich allein nicht erkennen k a n n ? Sein erstes Bestreben ist es vielmehr, wenn eine religiöse Ansicht ihm klar geworden ist, oder ein f r o m m e s G e f ü h l seine Seele durchdringt, a u f denselben G e g e n s t a n d a u c h Andre hinzuweisen, und die Schwingungen seines G e m ü t h s w o möglich a u f sie fortzupflanzen.

4 nur] B.· nur, 5 Alles] B + C: alles 7 f wir ... wollen] B: Ihr ... wollt 8 Jeder] C : jeder 10 Menschliches] B + C: menschliches 11 seht,] B: seht 13 ist,] B: ist 15 eigentliche] B : eigentlichste 16 diesen Mittheilungstrieb] B : dieses Verlangen 17 fühlt,] B: fühlt: 2 0 vornehmlich] B + C: vornemlich 2 2 ruhen,] B: ruhen; 22 f noch ... zurükzuhalten] fehlt in Β 25 f umfassendsten ... Welt] B: Einwirkungen des Universum 27 Größte und Unwiderstehlichste] B + C: größte und unwiderstehlichste 2 8 verschließen] B : festhalten 2 9 woran ... wird] B: ihm nichts so sehr einprägt als dieses 3 2 denselben] B: den

C 253

Β 224

SW 319 C2S4 177

184

Über die Religion

Wenn also von seiner N a t u r gedrungen der F r o m m e nothwendig spricht: so ist es eben diese N a t u r die ihm a u c h H ö r e r verschafft. M i t k e i n e m E l e m e n t des Lebens ist wol dem M e n s c h e n zugleich ein so lebhaftes G e f ü h l eingepflanzt von seiner gänzlichen Unfähigkeit es für sich Β 225 allein jemals zu erschöpfen, als mit der Religion. Sein | Sinn für sie ist nicht sobald aufgegangen, als er auch ihre Unendlichkeit und seine S c h r a n k e n fühlt; er ist sich bewußt nur einen kleinen T h e i l von ihr zu u m s p a n n e n , und was er nicht unmittelbar erreichen k a n n , deß will er wenigstens durch die Darstellung Anderer, die es sich angeeignet h a b e n , n a c h Vermögen inne werden und es mitgenießen. D a r u m drängt er sich zu jeder A e u ß e r u n g derselben, und seine Ergänzung suchend lauscht er a u f jeden T o n , den er für den ihrigen e r k e n n t . S o organisirt sich gegenseitige M i t t h e i l u n g , so ist Reden und H ö r e n J e d e m gleich unentbehrlich. C 255 A b e r | religiöse Mittheilung ist nicht in B ü c h e r n zu suchen, gleich der, w o b e i es a u f Begriffe und Erkenntnisse a n k o m m t 1 . Zuviel geht verloren von dem reinen Eindruk der ursprünglichen Erzeugung in diesem M e dium, welches, wie dunkel gefärbte S t o f f e den größten T h e i l der Lichtstrahlen einsaugen, so von der f r o m m e n Erregung des G e m ü t h e s Alles verschlukt, was nicht in die unzulänglichen Z e i c h e n gefaßt werden k a n n , aus denen es wieder hervorgehen soll. J a in der schriftlichen Mittheilung sw 320 der F r ö m m i g k e i t bedürfte Alles einer doppelten und dreifachen Darstellung, indem das ursprünglich Darstellende wieder m ü ß t e dargestellt werd e n , und d e n n o c h die W i r k u n g auf den ganzen M e n s c h e n in ihrer großen Einheit nur schlecht nachgezeichnet werden k ö n n t e durch vervielfältigte 178 R e f l e x i o n ; sondern nur wenn sie ver|jagt ist aus der Gesellschaft der Lebendigen, m u ß die Religion ihr vielfaches L e b e n verbergen im todten Β 226 B u c h s t a b e n . A u c h k a n n dieses Verkehr mit dem I n n e r s t e n des M e n s c h e n nicht getrieben werden im gemeinen G e s p r ä c h . Viele, die voll guten Willens sind für die Religion, h a b e n unserer Z e i t und Art das zum Vorwurf g e m a c h t , w a r u m doch von allen anderen wichtigen Gegenständen so oft die R e d e sei im geselligen G e s p r ä c h und im freundschaftlichen Umgange, nur nicht von G o t t und göttlichen Dingen. Ich m ö c h t e uns hierüber ver-

1 Fromme] B: Religiöse 4 eingepflanzt] ß: eingepflanzt, 8—10 deß ... mitgenießen] B: will er wenigstens durch ein fremdes Medium wahrnehmen 11 suchend] B: suchend, 16—22 reinen ... Darstellung] B: ursprünglichen Eindrukk in diesem Medium, worin alles verschlukt wird, was nicht in die einförmigen Zeichen paßt, in denen es wieder hervorgehen soll; wo alles einer doppelten und dreifachen Darstellung bedürfte 18 u. 21 Alles] C : alles 2 9 unserer Zeit und Art] B: Euch 3 0 f anderen ... Gespräch und] B: wichtigen Gegenständen unter Euch die Rede sei so 3 2 uns] B: Euch 2 7 dieses Verkehr] vgl. Anm. zu

42,26

5

10

15

20

25

30

185

Vierte Rede

theidigen, daß hieraus wenigstens weder Verachtung noch Gleichgültigkeit spreche, sondern ein | glüklicher und sehr richtiger Instinkt. Wo C 256 Freude und Lachen auch wohnen, und der Ernst selbst sich nachgiebig paaren soll mit Scherz und Wiz, da kann kein Raum sein für dasjenige, 5 was von heiliger Scheu und Ehrfurcht immerdar umgeben sein muß. Religiöse Ansichten, fromme Gefühle und ernste Betrachtungen darüber, kann man sich auch nicht einander in so kleinen Brosamen zuwerfen, wie die Materialien eines leichten Gesprächs; und wo von heiligen Gegenständen die Rede wäre, da würde es mehr Frevel sein als Geschik, 10 auf jede Frage sogleich eine Antwort bereit zu haben, und auf jede Ansprache eine Gegenrede 2 . Daher zieht sich aus solchen noch zu weiten Kreisen das Religiöse zurük in die noch vertrauten Unterhaltungen der Freundschaft und in den Zwiesprach der Liebe, wo Blik und Gestalt deutlicher werden als Worte, und wo auch ein heiliges Schweigen ver-| 15 ständlich ist. Aber in der gewohnten geselligen Weise eines leichten und Β 227 schnellen Wechsels treffender Einfälle lassen sich göttliche Dinge nicht behandeln: in einem größern Styl muß die Mittheilung der Religion geschehen, und eine andere Art von Gesellschaft, die ihr eigen gewidmet ist, muß daraus entstehen. 20 Es gebührt sich auf das Höchste was die Sprache erreichen kann sw 321 auch die ganze Fülle und Pracht der menschlichen Rede zu verwenden, nicht als ob es irgend einen Schmuk gäbe, dessen die Religion nicht entbehren könnte, sondern weil | es | unheilig und leichtsinnig wäre von 179; C 257 ihren Herolden, wenn sie nicht ihr alles weihen und alles zusammen 25 nehmen wollten, was sie Herrliches besizen, um so vielleicht die Religion in angemessener Kraft und Würde darzustellen. Darum ist es unmöglich ohne Dichtkunst Religion anders auszusprechen und mitzutheilen als rednerisch, in aller Kraft und Kunst der Sprache 3 , und willig dazu nehmend den Dienst aller Künste, welche der flüchtigen und beweglichen 30 Rede beistehen können. Darum öffnet sich auch nicht anders der Mund

1 hieraus] B: daraus 6 Gefühle] B: Gefühle, 7 einander ... Brosamen] B: so in kleinen Brosamen einander 8 f von ... da würde] B: von so ... würde 9 Geschik] B: Geschikk 11—13 aus ... Blik] B: in diesem Kreise das Religiöse zurükk in die vertrauten Unterhaltungen der Freundschaft und der Liebe, wo Blikk 2 2 Schmuk] B: Schmukk 23—25 von ... die Religion] B: nicht zu nehmen was man besizt, Alles zusammen, um sie 25 Herrliches] C: herrliches 2 8 Kraft] B: Anstrengung 3 0 öffnet] B + C: öfnet 13 den Zwiesprach] vgl. Trübners allerKraft 3 0 f Vgl. Mt

12,34

Deutsches

Wörterbuch

8,557

2 8 aller Kraft] C:

186

B 228

C 258

sw 322

Β 229; 180

Über die

Religion

desjenigen, dessen Herz ihrer voll ist, als vor einer Versammlung wo mannigfaltig wirken kann, was so reichlich ausgerüstet hervortritt. Ich wollte ich könnte Euch ein Bild machen von dem reichen schwelgerisehen Leben in dieser Stadt Gottes, wenn ihre Bür|ger zusammenkommen, jeder voll eigner Kraft, welche ausströmen will ins Freie, und zu5 gleich jeder voll heiliger Begierde Alles aufzufassen und sich anzueignen, was die Andern ihm darbieten möchten. Wenn einer hervortritt vor den Uebrigen, so ist es nicht ein Amt oder eine Verabredung die ihn berechtiget, nicht Stolz oder Dünkel der ihm Anmaßung einflößt; es ist freie Regung des Geistes, Gefühl der herzlichsten Einigkeit Jedes mit Allen und 10 der vollkommensten Gleichheit, gemeinschaftliche Vernichtung jedes Zuerst und Zulezt und aller irdischen Ordnung 4 . Er tritt hervor um sein eignes von Gott bewegtes Innere den Anderen hinzustellen | als einen Gegenstand theilnehmender Betrachtung, sie hinzuführen in die Gegend der Religion wo er einheimisch ist, damit er ihnen seine heiligen Gefühle 15 einimpfe: er spricht das Göttliche aus, und im heiligen Schweigen folgt die Gemeine seiner begeisterten Rede. Es sei nun, daß er ein verborgenes Wunder enthülle, oder in weissagender Zuversicht die Zukunft an die Gegenwart knüpfe; es sei daß er durch neue Beispiele alte Wahrnehmungen befestige, oder daß seine feurige Fantasie in erhabenen Visionen ihn 20 in andere Theile der Welt und in eine andere Ordnung der Dinge entzükke: der geübte Sinn der Gemeine begleitet überall den seinigen; und wenn er zurükkehrt | von seinen Wanderungen durch | das Reich Gottes in sich selbst, so ist sein Herz und das eines Jeden nur der gemeinschaftliche Wohnsiz desselben Gefühls. Verkündigt sich ihm dann laut oder leise 25 die Uebereinstimmung seiner Ansicht mit dem was in ihnen ist: dann werden heilige Mysterien — nicht nur bedeutungsvolle Embleme, sondern recht angesehen natürliche Andeutungen eines bestimmten Bewußtseins und bestimmter Empfindungen — erfunden und gefeiert, gleichsam ein höherer Chor, der in einer eignen erhabnen Sprache der auffordern- 30 den Stimme antwortet. Aber nicht nur gleichsam; sondern so wie eine

5 f zugleich jeder] fehlt in Β 6 Alles] Β + C: alles 7 möchten] B: mögen 8 f Uebrigen, so ... Dünkel] B : Übrigen ... Dünkel, 1 3 f den Anderen ... Betrachtung] B: hinzustellen, als O b j e k t für die Übrigen 1 5 f damit ... Göttliche] B: und seine heiligen Gefühle ihnen einzuimpfen: er spricht das Universum 17 nun,] B: nun 21 in eine andere] B : eine andre 2 4 sein] B: Sein 25 Wohnsiz] B : Schauplaz 25 f Verkündigt ... leise die] B: Entgegnet dann ihm das laute Bekenntniß von der 2 9 gefeiert,] B + C: gefeiert; 3 0 höherer Chor, der] B : höheres Chor, das 31 gleichsam;] B: gleichsam: 31 sondern] fehlt in Β 26 seiner Ansicht] C: seinerAnsicht

Vierte Rede

5

10

15

20

25

187

solche R e d e M u s i k ist auch o h n e G e s a n g und T o n , so giebt es a u c h eine M u s i k unter den Heiligen, die zur R e d e wird o h n e W o r t e , z u m bestimmtesten verständlichsten Ausdruk des Innersten. D i e M u s e | der C259 H a r m o n i e , deren vertrautes Verhältniß zur Religion, w i e w o l längst ausgesprochen und dargelegt, d o c h von Wenigen nur a n e r k a n n t wird, h a t von jeher auf ihren Altären die prachtvollsten und vollendetsten W e r k e ihrer geweihtesten Schüler dieser d a r g e b r a c h t . In heiligen H y m n e n und C h ö r e n , denen die W o r t e der D i c h t e r nur lose und luftig a n h ä n g e n , wird ausgehaucht, was die b e s t i m m t e R e d e nicht m e h r fassen k a n n ; und so unterstüzzen sich und wechseln die T ö n e des G e d a n k e n s und der E m p findung, bis I Alles gesättigt ist und voll des Heiligen und U n e n d l i c h e n , Β 230 Solcher Art ist die E i n w i r k u n g religiöser M e n s c h e n a u f einander, so beschaffen ihre natürliche und ewige Verbindung. Verarget es ihnen nicht, d a ß dies h i m m l i s c h e B a n d , das vollendetste Erzeugniß der geselligen N a tur des M e n s c h e n , zu w e l c h e m sie aber nicht eher gelangt als bis sie sich in ihrer höchsten Bedeutung e r k a n n t hat, d a ß dieses ihnen m e h r w e r t h ist, als der von E u c h so weit über alles Andre gestellte bürgerliche Verein, der noch nirgend zur m ä n n l i c h e n S c h ö n h e i t reifen will, und mit j e n e m SW 323 verglichen weit m e h r erzwungen scheint als frei, und weit m e h r vergänglieh als ewig. Wo ist a b e r w o l in A l l e m , w a s ich von der G e m e i n e der F r o m m e n geschildert, jener Gegensaz zwischen Priestern und | L a i e n , den Ihr als i8i die Quelle so vieler Uebel zu bezeichnen pflegt? Ein falscher Schein h a t E u c h geblendet: dies ist gar kein Unterschied zwischen P e r s o n e n , sond e m nur | ein Unterschied des Z u s t a n d e s und der Verrichtung. J e d e r ist C 260 Priester, indem er die Andern zu sich hinzieht a u f das Feld, welches er sich besonders zugeeignet h a t , und w o er sich als M e i s t e r darstellen k a n n ; jeder ist L a i e , indem er der Kunst und Weisung eines A n d e r n dahin folgt im G e b i e t der Religion, w o er selbst m i n d e r einheimisch ist. Es

4 — 7 Religion, ... dieser] B: Religion noch fast zu den Mysterien g e h ö r t , hat von jeher die prächtigsten und vollendetsten W e r k e ihrer geweihtesten Schüler dieser a u f ihren Altären 9 kann;] B: k a n n ,

1 0 f E m p f i n d u n g , . . . gesättigt ist] B: E m p f i n d u n g ... gesättigt ist,

12 i Solcher A r t ... so beschaffen] B: D a s ... das

1 4 — 2 0 E r z e u g n i ß . . . ewig] B: Resultat

der menschlichen Geselligkeit, zu welchen sie nur gelangen k a n n , wenn sie v o m höchsten Standpunkt aus in ihrem innersten Wesen erkannt wird, ihnen m e h r w e r t h ist, als E u e r irdisches politisches B a n d , welches bis jezt immer nur als ein erzwungenes vergängliches interimistisches Werk erschienen ist B: nun wol in d e m Allen

1 7 Andre] C: andre

2 5 Verrichtung] B : Verrichtungen

ist] B : folgt, w o er selbst F r e m d e r ist in der Religion 2 2 Ihr] C: ihr

2 1 f aber . . . geschildert,] 2 9 folgt . . . einheimisch

188

Über die

Religion

g i e b t n i c h t j e n e t y r a n n i s c h e A r i s t o k r a t i e , d i e I h r so g e h ä s s i g b e s c h r e i b t ; s o n d e r n ein p r i e s t e r l i c h e s V o l k 5 ist d i e s e G e s e l l s c h a f t , e i n e v o l l k o m m e n e Β 231 R e p u b l i k , | w o J e d e r a b w e c h s e l n d F ü h r e r u n d V o l k ist, J e d e r d e r s e l b e n K r a f t i m A n d e r n f o l g t , d i e e r a u c h in s i c h f ü h l t , u n d w o m i t a u c h er d i e A n d e r n regiert. — W i e sollte also hier der Geist der Z w i e t r a c h t und der

5

S p a l t u n g e n einheimisch sein, den Ihr als die u n v e r m e i d l i c h e Folge aller r e l i g i ö s e n V e r e i n i g u n g e n a n s e h t ? I c h s e h e n i c h t s , als d a ß a l l e s E i n s ist, u n d d a ß a l l e U n t e r s c h i e d e , d i e es in d e r R e l i g i o n s e l b s t w i r k l i c h g i e b t , e b e n d u r c h d i e g e s e l l i g e V e r b i n d u n g d e r F r o m m e n s a n f t in e i n a n d e r fließ e n . Ich h a b e E u c h selbst a u f verschiedene G r a d e der Religiosität auf-

10

m e r k s a m g e m a c h t , ich h a b e a u f z w e i v e r s c h i e d e n e S i n n e s a r t e n h i n g e d e u t e t , u n d a u f v e r s c h i e d e n e R i c h t u n g e n , in d e n e n d i e S e e l e sich i h r e n h ö c h s t e n G e g e n s t a n d v o r z ü g l i c h a u f s u c h t . M e i n t Ihr, d a r a u s m ü ß t e n

noth-

w e n d i g S e k t e n e n t s t e h e n , u n d d a s m ü ß t e d i e f r e i e G e s e l l i g k e i t in d e r R e l i g i o n h i n d e r n ? In d e r B e t r a c h t u n g gilt es w o l , d a ß A l l e s , w a s a u ß e r

15

e i n a n d e r g e s e z t u n d u n t e r v e r s c h i e d e n e A b t h e i l u n g e n b e f a ß t ist, sich | C 261

a u c h e n t g e g e n g e s e z t u n d w i d e r s p r e c h e n d sein m u ß ; a b e r b e d e n k t d o c h ,

SW 324 w i e d a s L e b e n s i c h g a n z a n d e r s g e s t a l t e t , w i e in d i e s e m d a s E n t g e g e n g e s e z t e sich s u c h t , u n d e b e n d e s h a l b , w a s w i r in d e r B e t r a c h t u n g t r e n n e n , d o r t A l l e s in e i n a n d e r f l i e ß t . F r e i l i c h w e r d e n d i e j e n i g e n , d i e s i c h in e i n e m

20

dieser P u n k t e a m ähnlichsten sind, sich a u c h einander a m stärksten anB 232 z i e h e n , a b e r sie k ö n n e n d e s w e g e n k e i n a b g e s o n d e r t e s G a n z e a u s m a c h e n : d e n n die G r a d e d i e s e r V e r w a n d t s c h a f t n e h m e n u n m e r k l i c h a b u n d zu, | 182 u n d b e i s o viel U e b e r g ä n g e n g i e b t es a u c h z w i s c h e n d e n

entferntesten

Elementen kein absolutes Abstoßen, keine gänzliche Trennung6. Nehmt w e l c h e Ihr wollt von diesen M a s s e n , die sich einzeln d u r c h eigenthüml i c h e K r a f t o r g a n i s c h b i l d e n ; w e n n I h r sie n i c h t d u r c h i r g e n d e i n e m e c h a n i s c h e O p e r a t i o n g e w a l t s a m i s o l i r t , w i r d k e i n e ein d u r c h a u s g l e i c h a r t i ges und getrenntes darstellen, sondern die äußersten T h e i l e einer jeden

1 beschreibt;] B: beschreibt: 2 sondern] fehlt in Β 2 vollkommene] B: vollkommne 3 Jeder derselben] B + C: jeder derselben 4 er die] B: Er die 5 f Wie ... sein] B: Wo ist da der Geist der Zwietracht und der Spaltungen 7 religiösen Vereinigungen] B: Religionsvereinigungen 8 alle] B: Alle 12 Richtungen,] B: Richtungen 12 f Seele ... Gegenstand] B: Fantasie sich den höchsten Gegenstand der Religion 14 das] B: es 15 Alles,] B: Alles C: alles, 17—20 aber ... fließt] B: macht Euch aber doch davon los: wenn Ihr das Leben selbst anschaut, da fließt Alles in einander 18 f Entgegengesezte] C: entgegengesezte 22 Ganze] B: Ganzes 23 Verwandtschaft] C: Verwandschaft 2 6 f durch ... organisch] B: chemisch 2 9 f darstellen, ... Eigenschaften] B: bilden: ihre äußersten Theile werden zugleich mit andern zusammenhängen, die eine andere Eigenschaft 6 Spaltungen ... Ihr] C: Spaltrngen ... ihr sie] C: ihr sie

26 Ihr wollt] B + C: ihr wollt

27 Ihr

25

Vierte

Rede

189

werden zugleich mit solchen zusammenhängen, die andere Eigenschaften zeigen, und eigentlich schon einer andern Masse angehören. Wenn solche Fromme sich näher verbinden, welche auf derselben niedern Stufe stehn: so werden doch immer einige in den Verein mit aufgenommen 5 werden, die schon eine Ahnung des Bessern haben. Diese werden dann von Jedem der einer höher gestellten Gesellschaft angehört besser verstanden, als sie sich selbst verstehen, und es giebt zwischen diesem und ihnen einen Vereinigungspunkt, der nur ihnen selbst noch | verborgen ist. Wenn solche sich an einander schließen, in denen die eine Sinnesart herrschend 10 ist, so wird es doch unter ihnen immer Einige geben, welche beide Sinnesarten wenigstens verstehen, und indem sie gewissermaßen beiden angehören, ein bindendes Mittelglied zwischen zwei sonst getrennten Sphären darstellen. So ist der, welchem es angemessener ist sich mehr mit der Natur in religiöse Beziehung zu sezen, doch im Wesentlichen der Religion 15 gar nicht dem irgend entgegengesezt, der mehr in der Geschichte | die Spuren der Gottheit findet, und es wird nie an solchen fehlen, welche beide Wege mit gleicher Leichtigkeit wandeln können; und wie Ihr auf andre Weise das große Gebiet der Religion theilen wolltet, Ihr würdet immer auf denselben Punkt zurükkommen. Wenn unbeschränkte Allge20 meinheit des Sinnes die erste und ursprüngliche Bedingung der Religion, und also wie natürlich auch ihre schönste und reifste Frucht ist: so seht Ihr wol es ist nicht anders möglich, je weiter einer fortschreitet in der Religion, und je mehr sich seine Frömmigkeit reiniget, desto mehr muß ihm die ganze religiöse Welt als ein untheilbares Ganzes erscheinen. Der 25 Absonderungstrieb ist, in dem | M a a ß als er auf eine strenge Scheidung ausgeht, ein Beweis der Unvollkommenheit; die Höchsten und Gebildetsten sehen immer einen allgemeinen Verein, und eben dadurch daß sie ihn sehen, stiften sie ihn auch. Indem Jeder nur mit dem N ä c h s t e n in Berührung steht, aber auch nach allen Seiten und Richtungen einen

3 Fromme] fehlt in Β 3 Stufe] B + C: Stuffe 4—8 doch ... noch] B: immer Einige mit aufgenommen, giebt es auch Einige unter ihnen, die eine Ahndung des Besseren haben; und Jeder der wirklich höher gestellt ist, versteht sie besser, als sie sich selbst; er ist sich des Vereinigungspunktes bewußt, der Jenen 9 solche] B: die 10—13 wird ... So ist] B: giebt es doch Einige, welche beide verstehen und beiden angehören, und 11 und indem] C: und, indem 14 doch] B: ist doch 15 entgegengesezt,] B: entgegengesezt 17 können;] Β: können. 17—19 und wie ... zurükkommen.] fehlt in Β 21 ist:] B: ist, 22 einer] B: Ihr 23 und je mehr ... reiniget,] fehlt in Β 24 ihm] B: Euch 25 ist,] B: ist 2 6 f die ... immer] B: aber die Höchsten und Gebildetsten sehen 10 ist,] C + D: ist 17 Ihr auf] C: ihr auf lich] C: uazertrennlich

23 je mehr] C + D: jemehr

6 f Vgl. Kant: Critik der reinen Vernunft, 2. Aufl., Riga 1787, S. 370; Ak

30 unzertrenn-

3,246,20f

C 262

Β 233 SW 325

183

C263

190

Über die Religion

Nächsten hat, ist er in der T h a t mit dem Ganzen unzertrennlich verk n ü p f t . Mystiker und Physiker in der Religion, die denen die Gottheit ein Persönliches wird, und die denen sie es nicht wird, die welche sich zur systematischen Ansicht des Universum erhoben haben, und die, welche es nur noch in den Elementen oder im dunkeln Chaos anschauen, Alle sollen dennoch nur Eins sein; Ein Band umschließt sie Alle, und Β 234 gänzlich können sie nur gewaltsam und will|kührlich getrennt werden; jede besondere Vereinigung ist nur ein fast fließender integrirender Theil des Ganzen, in unbestimmten Umrissen sich in dasselbe verlierend, und wenigstens werden die welche sich so darin fühlen immer die Besseren sein. — Woher also anders als durch bloßen Mißverstand die verschriene wilde Bekehrungssucht zu einzelnen bestimmten Formen der Religion, und der schrekliche Wahlspruch: kein Heil außer uns? 7 . So wie ich Euch die Gesellschaft der Frommen dargestellt habe, und wie sie ihrer Natur nach sein m u ß , geht sie nur auf gegenseitige Mittheilung, und besteht nur zwischen solchen, die schon Religion haben, welche es auch sei: wie k ö n n t e es also wol ihr Geschäft sein diejenigen umzustimmen, die schon SW 326 eine bestimmte bekennen, oder diejenigen herbeizuführen und einzuweihen, denen es noch ganz daran fehlt? Die Religion dieser Gesellschaft als C264 solcher ist nur z u s a m m e n g e n o m m e n die Religion aller Frommen, wie jeder sie in den übrigen schaut, die unendliche, die kein Einzelner ganz umfassen kann, weil sie als Einzelnes nicht Eins ist, und zu der sich also auch keiner bilden und erheben läßt. H a t also Jemand schon einen Antheil d a r a n , welcher es auch sei, für sich erwählt: wäre es nicht ein widersinniges Verfahren von der Gesellschaft, wenn sie ihm das entreißen wollte was seiner Natur gemäß ist, da sie doch auch dieses in sich befas184; Β 235 sen soll, und I also nothwen|dig einer es besizen muß? Und wozu sollte sie diejenigen bilden wollen, denen die Religion überhaupt noch fremd ist? Ihr Eigenthum, das unendliche Ganze k a n n doch auch sie selbst ihnen nicht mittheilen, und die Mittheilung irgend eines besonderen daraus kann nicht vom Ganzen ausgehn, sondern nur von Einzelnen. Also etwa das Allgemeine, das Unbestimmte, welches sich vielleicht ergeben würde, wenn m a n das aufsuchte, was etwa bei allen ihren Gliedern

2 f die d e n e n ... die d e n e n ] B: die, d e n e n ... die, d e n e n 4 u n d die,] ß: u n d die 10 f wen i g s t e n s ... M i ß v e r s t a n d ] B: die Besseren w e n i g s t e n s f ü h l e n sich d a r i n a u c h n u r so. — W o ist 13 u n d der] Β: u n d w o d e r 14 F r o m m e n ] Β: Religiösen 15 f M i t t h e i l u n g , u n d b e s t e h t ... s o l c h e n , ] B: M i t t h e i l u n g u n d existirt ... s o l c h e n 19—21 dieser ... s c h a u t ] B: d e r G e s e l l s c h a f t z u s a m m e n g e n o m m e n ist die g a n z e Religion 2 4 e r w ä h l t : ] B: e r w ä h l t , 3 0 f d a r a u s ] B: d a r a u s , 31 von E i n z e l n e n ] B: v o m E i n z e l n e n 13 Anspielung extra ecclesiam

auf den Cyprian (Bischof von Karthago 248—258) zugeschriebenen nulla salus {ähnliche Formulierung in Epistulae 73,21).

Satz:

5

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Vierte Rede

5

10

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30

191

anzutreffen ist? A b e r Ihr wißt j a , d a ß überall gar nichts in der G e s t a l t des Allgemeinen und U n b e s t i m m t e n , sondern n u r als e t w a s Einzelnes und in einer durchaus b e s t i m m t e n Gestalt wirklich gegeben und mitgetheilt werden k a n n , weil es sonst nicht E t w a s , sondern in der T h a t Nichts wäre. An j e d e m M a a ß s t a b e und an jeder R e g e l w ü r d e es ihr also fehlen bei diesem U n t e r n e h m e n . U n d wie k ä m e sie ü b e r h a u p t dazu aus sich hinauszugehn, da das B e d ü r f n i ß aus w e l c h e m sie e n t s t a n d e n ist, das Prinzip der religiösen Geselligkeit, a u f gar nichts dergleichen hindeutet? D i e Einzelnen schließen sich an einander, und werden zum G a n z e n ; das G a n z e als sich genügend ruht in sich und strebt nicht hinaus. W a s also von dieser A r t geschieht in der Religion ist i m m e r nur ein Privatgeschäft des Einzelnen für sich, und | d a ß ich so sage, m e h r sofern er außer der K i r c h e ist als in ihr. G e n ö t h i g e t aus dem Kreise der religiösen Vereinigung, w o das gemeinschaftliche Sein und L e b e n in G o t t ihm den erhabensten G e n u ß g e w ä h r t , und von heiligen G e f ü h l e n d u r c h d r u n g e n sein Geist a u f d e m höchsten Gipfel des L e b e n s s c h w e b t , sich zurük zu ziehen in die niedrigen G e g e n d e n des L e b e n s , ist es sein T r o s t , d a ß er auch Alles, w o m i t er sich da beschäftigen m u ß , zugleich a u f das beziehen k a n n , was seinem G e m ü t h i m m e r das H ö c h s t e bleibt. W i e er von d o r t h e r a b k o m m t unter die, welche sich auf irgend ein irdisches Streben und Treiben b e s c h r ä n k e n , glaubt er leicht — und verzeiht es ihm nur — aus dem U m g a n g mit G ö t t e r n und M u s e n unter ein G e s c h l e c h t r o h e r B a r b a ren versezt zu sein. E r fühlt sich als ein Verwalter der Religion u n t e r den I Ungläubigen, als ein B e k e h r e r unter den W i l d e n , auch ein O r p h e u s oder A m p h i o n h o f f t er m a n c h e n zu gewinnen durch h i m m l i s c h e T ö n e , und stellt sich dar unter ihnen als eine priesterliche G e s t a l t , seinen h ö h e ren Sinn klar und hell a u s d r ü k k e n d in allen H a n d l u n g e n und in seinem gan|zen Wesen. R e g t d a n n in ihnen die W a h r n e h m u n g des Heiligen und G ö t t l i c h e n etwas Aehnliches auf, wie gern pflegt er dieser ersten A h n u n gen der Religion in einem neuen G e m ü t h , als | einer s c h ö n e n B ü r g s c h a f t ihres Gedeihens a u c h in einem fremden und rauhen K l i m a ! wie t r i u m p h i rend zieht er den Neuling mit sich e m p o r zu der e r h a b e n e n V e r s a m m lung! Diese G e s c h ä f t i g k e i t um die Verbreitung der Religion ist nur die

l f in der . . . U n b e s t i m m t e n ] B : als e t w a s A l l g e m e i n e s und U n b e s t i m m t e s B: Princip 8 f hindeutet?] B + C: h i n d e u t e t . 9 Ganzen;]

B:

8 Prinzip] Ganzen:

1 3 — 1 7 G e n ö t h i g e t . . . sich z u r ü k zu z i e h e n ] B : G e n ö t h i g e t sich . . . z u r ü k zu z i e h e n 18 Alles,] Β : Alles 2 3 f als ein . . . als ein] B : als einen . . . als e i n e n 2 4 f Wilden, ... A m p h i o n ] B: W i l d e n ; ein n e u e r O r p h e u s 2 5 h o f f t ] B + C: h o f t 2 9 Aehnliches] B + C: ähnliches 3 1 K l i m a ! ] B: K l i m a , 3 1 f t r i u m p h i r e n d ] B + C: t r i u m f i r e n d 1 Ihr] B + C: ihr

1 8 Alles] C + D: A l l e s 7

C265

Β 236

sw 327

185

C 266 Β 237

Über die

192

Religion

f r o m m e S e h n s u c h t des F r e m d l i n g s n a c h s e i n e r H e i m a t h , d a s B e s t r e b e n sein V a t e r l a n d m i t sich zu f ü h r e n , u n d d i e G e s e z e u n d S i t t e n d e s s e l b e n , als sein h ö h e r e s s c h ö n e r e s L e b e n , ü b e r a l l w i e d e r z u f i n d e n ; d a s V a t e r l a n d s e l b s t , in s i c h selig u n d sich v o l l k o m m e n g e n u g , k e n n t a u c h dieses B e streben nicht. —

5

N a c h d e m Allen werdet Ihr vielleicht sagen, d a ß ich ganz einig mit E u c h zu sein s c h e i n e ; i c h h a b e g e z e i g t , w a s die K i r c h e sein m ü s s e i h r e r N a t u r n a c h ; u n d i n d e m i c h i h r a l l e d i e E i g e n s c h a f t e n , w e l c h e sie j e z t auszeichnen, abgesprochen, so h a b e ich ihre gegenwärtige Gestalt eben so strenge gemißbilligt als Ihr selbst. Ich versichere E u c h aber, d a ß ich

10

n i c h t v o n d e m g e r e d e t h a b e w a s s e i n s o l l , s o n d e r n v o n d e m w a s ist; s w 328

w e n n I h r a n d e r s n i c h t l ä u g n e n w o l l t , d a ß d a s j e n i g e w i r k l i c h s c h o n ist, w a s n u r d u r c h B e s c h r ä n k u n g e n des R a u m e s g e h i n d e r t w i r d a u c h d e m g r ö b e r e n B l i k zu e r s c h e i n e n . D i e w a h r e K i r c h e ist in d e r T h a t i m m e r s o g e w e s e n , u n d ist n o c h s o ; u n d w e n n I h r sie n i c h t s o s e h e t , s o liegt d i e

15

C 267; Β 238 S c h u l d d o c h I e i g e n t l i c h a n E u c h u n d in e i n e m | z i e m l i c h h a n d g r e i f l i c h e n M i ß v e r s t ä n d n i ß . B e d e n k t nur, ich bitte E u c h , d a ß ich, u m mich eines a l t e n a b e r s e h r s i n n r e i c h e n A u s d r u k k e s zu b e d i e n e n , n i c h t v o n der s t r e i tenden, sondern von der triumphirenden Kirche geredet habe, nicht von der w e l c h e n o c h k ä m p f t gegen alle H i n d e r n i s s e , die ihr das Z e i t a l t e r

20

186 u n d d e r Z u s t a n d d e r M e n s c h | h e i t in d e n W e g l e g t , s o n d e r n v o n der, d i e s c h o n A l l e s w a s i h r e n t g e g e n s t a n d ü b e r w u n d e n u n d s i c h selbst f e r t i g gebildet hat. Ich h a b e E u c h eine Gesellschaft von M e n s c h e n dargestellt, d i e m i t i h r e r F r ö m m i g k e i t z u m B e w u ß t s e i n g e k o m m e n s i n d , u n d in d e n e n d i e r e l i g i ö s e A n s i c h t des L e b e n s v o r a n d e r n h e r r s c h e n d g e w o r d e n

25

ist; u n d d a i c h E u c h ü b e r z e u g t zu h a b e n h o f f e , d a ß d i e s M e n s c h e n v o n e i n i g e r B i l d u n g u n d v o n vieler K r a f t sein m ü s s e n , u n d d a ß i h r e r i m m e r n u r s e h r W e n i g e sein k ö n n e n , s o d ü r f t I h r f r e i l i c h i h r e V e r e i n i g u n g d a n i c h t s u c h e n w o viele H u n d e r t e v e r s a m m e l t sind in g r o ß e n

Tempeln,

und ihr G e s a n g schon von ferne Eure O h r e n erschüttert; so nahe, wißt I h r w o l , s t e h e n M e n s c h e n d i e s e r A r t n i c h t bei e i n a n d e r . V i e l l e i c h t ist

3 als] fehlt in Β 3 wiederzufinden] B: anzuschauen 6 dem Allen] B: allem diesen C: dem allen 7 f müsse ... nach;] B: muß ... nach, 10 gemißbilligt] B: gemißbilliget 14 Blik] B: Blikk 19 triumphirenden] Β + C: triumfirenden 20 Hindernisse, die] B: Hindernisse welche 22 Alles] Β + C: alles 22 fertig] fehlt in Β 24 Frömmigkeit] B: Religion 24—26 in denen ... ist;] B: denen die religiöse Ansicht des Lebens eine der herrschenden geworden ist, 29 suchen ... Tempeln,] ß: suchen, ... Tempeln 30 ferne Eure Ohren] B: fern Euer Ohr 1 das] D: des 7 scheine] so DV von B; OD von B: schiene 11 habe] C + D: habe 7 12 Ihr] B + C: ihr 15 Ihr] C: ihr 24 Frömmigkeit] C: Frömmigkeit 28 Ihr] C: ihr 30 Eure Ohren] C: EureOhren

30

Vierte Rede

5

10

15

20

25

30

193

sogar nur in einzelnen a b g e s o n d e r t e n von der g r o ß e n K i r c h e g l e i c h s a m ausgeschlossenen G e m e i n h e i t e n e t w a s Aehnliches in einem b e s t i m m t e n R a u m zusammen gedrängt zu finden: soviel a b e r ist gewiß, d a ß | alle Β 239 w a h r h a f t religiöse M e n s c h e n , soviel es ihrer je gegeben h a t , nicht nur den G l a u b e n , oder vielmehr das lebendige G e f ü h l von einer solchen Vere i n i g u n g mit sich h e r u m g e t r a g e n , sondern auch in ihr eigentlich gelebt C268 h a b e n , und d a ß sie Alle das, was man gemeinhin die K i r c h e n e n n t , sehr nach seinem W e r t h , das heißt e b e n nicht sonderlich h o c h , zu schäzen wußten. Diese g r o ß e Verbindung n ä m l i c h , auf welche E u r e h a r t e Beschuldigungen sich eigentlich beziehen, ist, weit entfernt eine G e s e l l s c h a f t religiöser M e n s c h e n zu sein, vielmehr nur eine Vereinigung solcher, welche die Religion erst suchen; und so finde ich es sehr natürlich, d a ß sie jener fast in allen S t ü k k e n entgegengesezt ist 8 . Leider m u ß ich, um E u c h dies so deutlich zu m a c h e n als es mir ist, in eine M e n g e irdischer weltlicher D i n g e hinabsteigen, und mich durch ein L a b y r i n t h der wunderlichsten Verirrungen hindurchwinden: es geschieht nicht o h n e W i d e r w i l l e n ; a b e r sei es d a r u m , Ihr m ü ß t d e n n o c h mit mir einig werden. Vielleicht d a ß schon die ganz verschiedene F o r m der religiösen Geselligkeit in der einen und in der a n d e r n , wenn ich E u c h a u f m e r k s a m d a r a u f m a c h e , E u c h im | Wesentlichen von meiner M e i n u n g überzeugt. Ich hoffe Ihr seid aus d e m Vorigen mit mir einverstanden darüber, daß in der w a h r e n religiösen Gesellschaft alle M i t t h e i l u n g g e g e n s e i t i g ist; das Prinzip, welches uns zur Aeußerung des eigenen a n t r e i b t , innig v e r w a n d t mit dem was uns zum Anschließen an das F r e m d e geneigt m a c h t , und so W i r k u n g und R ü k w i r k u n g aufs Unzertrennlichste mit einander v e r b u n d e n . H i e r im Ge|gentheil findet Ihr gleich eine durchaus andere Weise: Alle wollen empfangen und nur einer ist da der geben soll; völlig leidend lassen sie nur immer in sich einwirken durch alle O r g a n e , und helfen h ö c h s t e n s dabei selbst von innen n a c h , so viel sie G e w a l t über sich h a b e n , o h n e an eine R ü k w i r k u n g a u f Andere a u c h nur zu d e n k e n 9 . Z e i g t das nicht deutlich genug, daß a u c h das Prinzip ihrer Geselligkeit ein ganz anderes sein muß? Es k a n n w o l bei ihnen nicht die R e d e davon sein, d a ß sie nur ihre Religion ergänzen wollten durch die der Andern; denn wenn in der T h a t

3 zusammen gedrängt] B: zusammengedrängt 5 f oder vielmehr ... sondern auch] B: sondern ... und 7 Alle] C: alle 8 hoch,] B: hoch 1 9 f religiösen ... andern] B: Geselligkeit 22 Vorigen] B + C: vorigen 23 ist; das Prinzip,] B: ist: das Princip 26 Rükwirkung] B: Gegenwirkung 26 Unzertrennlichste] B + C: unzertrennlichste 31 Rükwirkung] B: Gegenwirkung 3 2 Prinzip] B: Princip 34 Andern;] B: Andern: 1 von der] C: vond er 5 f Vereinigung] C: Verengung Andern] D: andern C: Andern

27 Ihr] B + C: ihr

34 der

sw 329

187 Β 240

C269

194

sw 330 B 241

C 270

188

Β 242

c 271

Über die Religion

eine eigene in ihnen w o h n t e , w ü r d e diese sich wol, weil es in ihrer N a t u r liegt, auch irgend wie w i r k s a m auf A n d e r e beweisen. Sie üben keine G e g e n w i r k u n g aus, weil sie keiner fähig sind, und sie k ö n n e n nur d a r u m keiner fähig sein, weil keine Religion in ihnen w o h n t . Wenn ich mich eines Bildes bedienen darf aus der Wissenschaft, der ich am liebsten A u s d r ü k k e a b b o r g e in Angelegenheiten der Religion: so m ö c h t e ich sagen, sie sind negativ religiös, und | d r ä n g e n sich n u n in großen H a u f e n zu den wenigen Punkten hin, w o sie das positive Princip der Religion ahnen, u m sich mit diesem zu vereinigen. H a b e n sie aber dieses in sich a u f g e n o m m e n , so fehlt es ihnen w i e d e r u m an C a p a c i t ä t u m das Aufgen o m m e n e festzuhalten; die Erregung, welche gleichsam n u r ihre O b e r f l ä che umspielen k o n n t e , verschwindet bald genug, und sie gehen d a n n in einem gewissen Ge|fühl von Leere so lange hin, bis die Sehnsucht erw a c h t ist, u n d sie sich allmählig aufs neue negativ angefüllt haben. Dies ist in wenig Worten die Geschichte ihres religiösen Lebens, u n d der C h a rakter der geselligen Neigung, welche mit in | dasselbe verflochten ist. Nicht Religion, nur ein wenig Sinn f ü r sie, u n d ein m ü h s a m e s auf eine b e d a u e r n s w ü r d i g e Art vergebliches Streben zu ihr selbst zu gelangen, das ist Alles was m a n auch den Besten unter ihnen, denen die es mit Geist u n d Eifer treiben, zugestehen k a n n . Im Lauf ihres häuslichen u n d bürgerlichen Lebens, wie auf dem größeren Schauplaz bei dessen Ereignissen sie Z u s c h a u e r sind, begegnet natürlich Vieles, w a s auch schon den a u f r e g e n m u ß , in dem nur ein geringer Antheil religiösen Sinnes lebt; aber diese Erregungen bleiben n u r wie eine d u n k l e Ahnung, ein schwacher E i n d r u k auf einer zu weichen Masse, dessen Umrisse gleich ins U n b e s t i m m t e zerfließen; Alles wird bald h i n g e s c h w e m m t von den Wel|len des geschäftigen Lebens u n d lagert sich nur in die unbesuchteste Gegend der Erinnerung, u m auch d o r t von weltlichen Dingen bald ganz verschüttet zu werden. Indeß entstehet aus der ö f t e r e n Wiederholung dieses kleinen Reizes d e n n o c h zulezt ein Bedürfniß; die d u n k l e Erschein u n g im G e m ü t h , die immer wiederkehrt, will endlich klar gemacht sein. D a s beste Mittel dazu, so sollte m a n freilich denken, w ä r e dieses, w e n n sie sich M u ß e n ä h m e n das, was so auf sie wirkt, g e l a s s e n u n d genau zu

2 irgend w i e wirksam] B: auf irgend eine Art thätig 2 üben] B: thun 8 Princip] C: Prinzip 10 f A u f g e n o m m e n e ] B: neue Produkt C: a u f g e n o m m e n e 12—14 bald ... allmählig] B: wieder, und sie gehen nun in einem gewissen Gefühl von Leere wieder eine Weile hin, bis sie sich 16 in dasselbe verflochten] B: darin eingeflochten 18 bedauernswürdige] B: klägliche 2 2 Vieles] B + C: vieles 2 3 f den ... wie] B: einen geringen Antheil religiösen Sinnes afficiren muß; aber es bleibt nur 25 Eindruk] Β: Eindrukk 2 6 Alles] B + C: alles 27 und lagert sich nur] fehlt in Β 2 8 f um ... verschüttet zu werden] ß: und ... verschüttet 2 9 entstehet] B: entsteht 3 0 Bedürfniß;] B: Bedürfniß: 33 das, ... wirkt,] B: das ... wirkt

5

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Vierte

Rede

195

betrachten: aber dieses Wirkende ist nichts einzelnes, was sie von allem andern abzöge, es ist das menschliche All, und in diesem liegen doch unter andern auch alle die einzelnen Verhältnisse, an die sie in den übrigen Theilen ihres Lebens zu denken, mit denen sie zu schaffen haben. 5 Auf diese würde sich aus alter Gewohnheit ihr Sinn unwillkührlich richten, und das Erhabene und Unendliche würde sich ihren Augen wieder zerstükkeln in lauter Einzelnes und Geringes. Das fühlen sie, und darum vertrauen sie sich selbst nicht, sondern suchen fremde Hülfe; im Spiegel einer fremden Darstellung wollen sie anschauen, was in der unmittelba10 ren Wahrnehmung ihnen bald wieder zerfließen würde. Auf diesem Wege suchen sie zu einem bestimmteren höheren Bewußtsein zu gelangen: aber sie mißverstehen am Ende dies ganze Streben. Denn wenn nun die Aeußerungen eines | religiösen Menschen alle jene Erinnerungen gewekt haben; wenn sie nun den vereinten Eindruk von ihnen empfangen haben und 15 stärker erregt von dannen gehn: so meinen sie ihr Bedürfniß sei gestillt, der Andeutung der Natur sei Genüge geschehen, und sie haben nun die Kraft und das Wesen aller dieser Gefühle in sich selbst, da sie ihnen doch — eben wie ehedem, wenn gleich in einem höheren Grade — nur als eine flüchtige Erscheinung von außen gekommen sind. Dieser Täuschung 20 immer unterworfen, weil sie von der wahren und leben|digen Religion weder Ahnung noch Kenntniß haben, wiederholen sie in vergeblicher Hoffnung endlich auf das Rechte zu kommen tausendmal denselben Versuch, und bleiben dennoch w o und was sie gewesen sind 1 0 . Kämen sie weiter; würde ihnen auf diesem Wege die Religion selbstthätig und leben25 dig eingepflanzt: so würden sie bald nicht mehr unter denjenigen sein wollen, deren Einseitigkeit und Passivität ihrem Zustande von da an weder angemessen wäre, noch auch erträglich sein könnte; sie würden sich wenigstens neben ihr einen andern Kreis suchen, wo Frömmigkeit sich Andern lebendig und belebend erweisen könnte, und bald würden 30 sie dann nur in diesem leben wollen, und ihm ihre ausschließende Liebe weihen. Und so wird auch in der T h a t die Kirche wie sie bei uns besteht Allen um so gleichgültiger, je mehr sie zunehmen in der Religion, und

l f nichts ... All] B: das Universum 9—11 anschauen, ... Bewußtsein] B: anschauen was sie in der unmittelbaren Wahrnehmung nur verderben würden. — So suchen sie zu höheren Gefühlen 13 — 15 haben; ... erregt] B: haben, und sie nun von |[243] ihnen vereint afficirt mit einem stärkeren Eindrukk 1 7 f in ... eben] B: selbst in sich, die ihnen doch - grade 2 0 immer] B: bleiben sie immer 21 wiederholen sie] B: und wiederholen, 22 Hoffnung ... Rechte] B + C: Hofnung ... rechte 22 kommen] B: kommen, 23 dennoch] B: immer 2 4 f weiter; ... eingepflanzt:] B: weiter, ... eingepflanzt, 28—31 suchen, ... weihen] B: suchen wo ihre Religion sich auch thätig zeigen, und vor Andere hintreten könnte, und dieser müßte bald ihr Hauptwerk und ihre ausschließende Liebe werden 31 f wie ... Allen] B: den Menschen

SW 331

189

C272

SW 332

196

Über die

Religion

Β 244 die Frömmsten son|dern sich stolz und kalt von ihr aus. Es kann kaum etwas deutlicher sein; man ist in dieser Verbindung nur deswegen, weil man religiös zu werden erst sucht, man verharrt darin nur, sofern man es noch nicht ist 1 1 . — Eben das geht aber auch aus der Art hervor, wie die Mitglieder der Kirche selbst die Religion behandeln. Denn gesezt auch es wäre unter wahrhaft religiösen Menschen eine einseitige Mittheilung und ein Zustand freiwilliger Passivität und Entäußerung denkbar: so könnte doch in ihrem gemeinschaftlichen T h u n ohnmöglich die C 273 durchgängige Verkehrtheit und Un|kenntniß herrschen, welche sich dort findet. Denn verständen die Genossen der Kirche sich auf die Religion: 190 so würde ih|nen doch das die Hauptsache sein, daß der, welchen sie für sich zum Organ der Religion gemacht haben, ihnen seine klarsten und eigenthümlichsten Ansichten und Gefühle mittheilte; das mögen sie aber nicht; sondern sezen vielmehr den Aeußerungen seiner Eigenthümlichkeit Schranken auf allen Seiten, und begehren daß er ihnen vornehmlich Begriffe, Meinungen, Lehrsäze, kurz statt der eigenthümlichen Elemente der Religion die gemeingeltenden Reflexionen darüber ins Licht sezen soll. Verständen sie sich auf die Religion, so würden sie aus ihrem eigenen Gefühl wissen, daß jene symbolischen Handlungen, von denen ich Β 245 gesagt habe, daß sie | der wahren religiösen Geselligkeit wesentlich sind, ihrer Natur nach nichts sein können als Zeichen der Gleichheit des in Allen hervorgegangenen Resultats, Andeutungen der Rükkehr von der persönlichsten Belebtheit zum gemeinschaftlichen Mittelpunkt, nichts als das vollstimmigste Schlußchor nach allem was Einzelne rein und kunstreich mitgetheilt haben; davon aber wissen sie nichts, sondern diese Handlungen sind ihnen etwas für sich Bestehendes, und nehmen bestimmte Zeiten e i n 1 2 . Was geht daraus hervor als dieses, daß ihr gemeinschaftliches Thun nichts an sich hat von jenem Charakter einer hohen und freien Begeisterung der der Religion durchaus eigen ist, sondern ein C274;SW333 schülerhaftes mechanisches Wesen ist? und worauf deutet dieses wiederum, als darauf, daß sie die Religion erst von außen überkommen möchten? Das wollen sie auf alle Weise versuchen. D a r u m hängen sie so an den todten Begriffen, an den Resultaten der Reflexion über die Religion, und saugen sie begierig ein, in der Hofnung daß diese in ihnen den umgekehrten Prozeß ihrer Entstehung machen, und sich wieder in die lebendigen Erregungen und Gefühle zurük verwandeln werden, aus de-

2 sein; ... deswegen,] B: sein: ... deswegen 5 die Mitglieder ... selbst] B: sie 9 dort] B: hier 12 f und eigenthümlichsten] B: individuellsten 16 eigenthümlichen] B : eigentlichen 17 gemeingeltenden] fehlt in Β 1 9 f Handlungen, ... habe,] B: Handlungen ... habe 2 2 f Andeutungen ... Mittelpunkt,] B: Andeutung der Rükkehr zum gemeinschaftlichen Mittelpunkt: 25 f diese Handlungen] B: sie 26 Bestehendes,] B: bestehendes C: bestehendes, 32 möchten] B: mögten

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Vierte

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Rede

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nen sie ursprünglich abgeleitet sind. D a r u m gebrauchen sie die symbolischen Handlungen, die ihrer Natur nach das lezte sind in der religiösen Mittheilung, als Reizmittel, | um das aufzuregen, was ihnen eigentlich vorangehen müßte. | Wenn ich von dieser größeren und weit verbreiteten Verbindung in Vergleichung mit der vortrefflicheren, die nach meiner Idee allein die wahre Kirche ist, nur sehr herabsezend und als von etwas Gemeinem und Niedrigem gesprochen habe, so ist das freilich in der Natur der Sache gegründet, und ich konnte meinen Sinn darüber nicht verhehlen: aber ich verwahre mich feierlichst gegen jede Vermuthung, die Ihr wol hegen könntet, als stimmte ich den immer allgemeiner werdenden Wünschen bei, diese Anstalt lieber ganz zu zerstören. Nein, wenn die wahre Kirche doch immer nur denjenigen offen stehen wird, die schon zur Frömmigkeit in sich gereift sind: so muß es doch irgend ein Bindungsmittel geben zwischen | ihnen, und denen welche sie noch suchen; und eben das soll doch diese Anstalt sein, welche auch deshalb der Natur der Sache nach ihre Anführer und Priester immer aus jener hernehmen m u ß 1 3 . Oder soll etwa grade die Religion die einzige menschliche Angelegenheit sein, in der es keine Veranstaltungen gäbe zum Behuf der Schü1er und Lehrlinge? Aber freilich der ganze Zuschnitt dieser Anstalt müßte ein anderer sein, und ihr Verhältniß zur wahren Kirche ein ganz anderes An|sehen gewinnen. Es ist mir nicht erlaubt hierüber zu schweigen. Diese Wünsche und Aussichten hängen zu genau mit der Natur der religiösen Geselligkeit zusammen, und der bessere Zustand der Dinge, den ich mir denke, gereicht so sehr zu ihrer Verherrlichung, daß ich meine Ahnungen nicht in mich verschließen darf. Soviel wenigstens ist durch den schneidenden Unterschied, den wir zwischen beiden festgestellt haben, gewonnen, daß wir sehr ruhig und einträchtig über alle M i ß b r ä u c h e , die in der kirchlichen Gesellschaft obwalten, und über ihre Ursachen mit einander nachdenken können. Denn Ihr müßt gestehen, daß die Religion, da sie für sich eine solche Kirche nicht hervorgebracht hat, und sich in ihr nicht darstellt, auch von aller Schuld an jedem Unheil, welches diese angerichtet haben soll, und von allem Antheil an dem verwerflichen Z u stande worin sie sich befinden mag, vorläufig muß | freigesprochen wer-

2 ihrer Natur nach] B: eigentlich 4 vorangehen] B: vorangehn 5 weit verbreiteten] B: weitverbreiteten 6 vortrefflicheren] B + C: vortreflicheren 6 nach meiner Idee allein] B: allein nach meiner Idee 7 f Gemeinem und Niedrigem] B + C: gemeinem und niedrigem 9 verhehlen] B + C: verhelen 14 gereift] B: gebildet 15 ihnen,] B: ihnen 16 f der Natur der Sache] ß: ihrer Natur 21 f anderes Ansehen] B + C: andres Ansehn 27 Unterschied, ... haben,] Β: Unterschied ... haben 3 0 gestehen,] B: gestehen 31 für sich] fehlt in Β 31 f und sich ... auch] fehlt in Β 33 von allem Antheil] fehlt in Β

Β 246 191

C 275

Β 247 SW 334

192

198

Über die

Religion

C 276 den; so gänzlich freigesprochen, d a ß | man ihr nicht einmal den V o r w u r f m a c h e n k a n n sie k ö n n e in so etwas ausarten, da sie j a , w o sie n o c h gar nicht gewesen ist, auch unmöglich k a n n ausgeartet sein. Ich gebe zu, d a ß es in dieser Gesellschaft einen verderblichen Sektengeist giebt, und n o t h w e n d i g geben müsse. W o die religiösen M e i n u n g e n gleichsam als 5 M e t h o d e g e b r a u c h t werden um zur Religion zu gelangen, da müssen sie | Β 248 freilich in ein bestimmtes Ganzes g e b r a c h t werden, denn eine M e t h o d e m u ß durchaus b e s t i m m t und geschlossen s e i n 1 4 ; und w o sie als e t w a s , das nur von außen gegeben werden k a n n , a n g e n o m m e n werden a u f die A u t o r i t ä t des G e b e n d e n , da m u ß J e d e r der seine religiöse Sprache anders 10 ausprägt als ein S t ö r e r des ruhigen und sichern Fortschreitens angesehn werden, weil er durch sein b l o ß e s D a s e y n und die Ansprüche die damit verbunden sind, diese Autorität s c h w ä c h t . J a ich gestehe sogar, d a ß dieser Sektengeist in der alten Vielgötterei, w o das G a n z e der Religion von selbst nicht in Eins b e f a ß t war, und sie sich jeder T h e i l u n g und Absonde- 15 rung williger d a r b o t , weit gelinder und friedlicher war, und daß er erst in den sonst besseren Zeiten der systematischen Religion sich organisirt und in seiner ganzen Kraft gezeigt h a t ; denn w o J e d e r ein ganzes System SW 3.35 und einen M i t t e l p u n k t dazu zu h a b e n glaubt, da m u ß der Werth, der auf jedes Einzelne gelegt wird, ungleich g r ö ß e r sein. Ich gebe beides zu: aber C 277 Ihr werdet mir e i n r ä u m e n , | d a ß jenes der Religion überhaupt nicht zum V o r w u r f gereicht, und d a ß dieses keinesweges beweisen k a n n , die Ansicht des Universum als System sei nicht die h ö c h s t e Stufe der Religion. Ich gebe zu, d a ß in dieser Gesellschaft m e h r a u f das Verstehen oder Β 249 G l a u b e n , und a u f das Han|deln und Vollziehn von G e b r ä u c h e n gesehen wird, als d a ß eine freie E n t w i k k e l u n g religiöser W a h r n e h m u n g e n und G e f ü h l e begünstiget würde, und d a ß sie daher i m m e r , wie aufgeklärt auch ihre L e h r e sei, an den G r e n z e n der Superstition einhergeht, und an irgend einer M y t h o l o g i e hängt; a b e r Ihr werdet gestehen, d a ß ihr ganzes 193 We|sen deshalb nur um so weiter von der w a h r e n Religion entfernt ist. Ich gebe zu, d a ß diese Verbindung k a u m bestehen k a n n o h n e einen feststehenden Unterschied zwischen Priestern und Laien als zwei verschiedenen religiösen Ständen; denn wer unter diesen dahin k ä m e selbst Priester sein zu k ö n n e n , das heißt eigenthümlich und vollständig und zur Leichtigkeit in irgend einer A r t der Darstellung sein Gefühl in sich ausgebildet zu h a b e n , der k ö n n t e unmöglich Laie bleiben, und sich n o c h

2 f ja, ... ist,] B: ja ... ist 8 etwas,] B: etwas 10 Jeder] B + C: jeder 10f der seine ... ausprägt] B: Andersdenkende 12 Daseyn] B + C: Dasein 23 Universum] B + C: Universums 3 2 f als ... Ständen] fehlt in Β 19 Mittelpunkt] D: M i t t e l p u n k t

19 muß der] C: m uß er

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25

30

35

Vierte

Rede

199

ferner so geberden, als ob dies Alles ihm fehlte; er wäre vielmehr frei, und verbunden entweder diese Gesellschaft zu verlassen, und die wahre Kirche aufzusuchen, oder von dieser vielleicht sich wieder zu jener zurükschikken zu lassen um ihr mit vorzustehen als Priester: aber das 5 bleibt gewiß, daß diese Trennung mit Allem, was sie Unwürdiges | hat, und mit allen übeln Folgen, die ihr eigen sein können, nicht von der Religion herrührt, sondern nur von dem Mangel an Religiosität in der Masse. Jedoch eben hier höre ich Euch einen neuen Einwurf machen, der 10 alle diese Vorwürfe wieder auf die Religion zurükzuwälzen scheint. Ihr | werdet mich daran erinnern, daß ich selbst gesagt habe, die große kirchliehe Gesellschaft, jene Anstalt für die Lehrlinge in der Religion meine ich, müsse der Natur der Sache nach ihre Anführer, die Priester, nur aus den Mitgliedern der wahren Kirche nehmen, weil es in ihr selbst an dem 15 wahren Prinzip der Religiosität fehle. Ist dies so, werdet Ihr sagen, wie können denn die in der Religion Vollkommenen, da w o sie zu herrschen haben, wo Alles auf ihre Stimme hört, und wo sie selbst nur der Stimme der Religion sollten G e h ö r geben, so Vieles dulden, ja vielmehr selbst hervorbringen — denn wem verdankt die Kirche wol alle ihre Einrich20 tungen als den Priestern? — was dem Geist der Religion ganz zuwider sein soll? Oder wenn es nicht so ist, wie es sein sollte, wenn sie sich vielleicht die Regierung ihrer Tochtergesellschaft haben entreißen lassen: wo ist dann der hohe Geist den wir mit Recht bei ihnen suchen dür-| fen? warum haben sie ihre wichtige Provinz so schlecht verwaltet? 25 warum haben sie es geduldet, daß niedrige Leidenschaften das zu einer

30

C 278

Β 250 SW 336

194

Geißel der Menschheit machten, was in | den Händen der Religion ein C279 Segen geblieben wäre? sie, für deren Jeden, wie du selbst gestehst, die Leitung derer, die ihrer Hülfe sehr bedürfen, das erfreulichste und zugleich heiligste Geschäft sein muß? — | Freilich ist es leider nicht so, wie Β 251 ich behauptet habe, daß es sein solle; wer möchte wol sagen, daß alle diejenigen, daß auch nur der größte Theil, daß nachdem einmal solche Unterordnungen gemacht sind, auch nur die Ersten und Vornehmsten unter denen, welche die große Kirchengesellschaft seit langer Zeit regiert

2 entweder] fehlt in Β 3 aufzusuchen,] B: aufzusuchen: 3 f oder ... Priester] fehlt in Β 5 Unwürdiges] B + C: unwürdiges 7 f nur ... Masse] Β: selbst etwas ganz irreligiöses ist 15 Prinzip] Β: Princip 17 Alles] B + C: alles 18 Vieles] B + C: vieles 18 f vielmehr selbst hervorbringen] Β : mehr als dulden 2 2 lassen:] B: lassen, 23 f suchen dürfen?] Β: suchen 2 8 sehr] Β : so sehr 3 0 wol] Β : wohl 3 0 alle] B + C: Alle 33 seit langer Zeit] fehlt in Β 11-15

Vgl.

197,12-20

200

Über die Religion

h a b e n , V o l l k o m m e n e in der Religion oder auch nur Mitglieder der w a h ren K i r c h e gewesen wären? N e h m t nur, ich bitte E u c h , das was ich sagen m u ß u m sie zu entschuldigen, nicht für eine hinterlistige R e t o r s i o n . Wenn Ihr nämlich der Religion entgegenredet, thut Ihr es gewöhnlich im N a m e n der Philosophie; wenn Ihr der K i r c h e V o r w ü r f e m a c h t , sprecht Ihr im N a m e n des Staats; Ihr wollt die politischen Künstler aller Zeiten d a r ü b e r vertheidigen, d a ß durch D a z w i s c h e n k u n f t der K i r c h e ihr Kunstwerk soviel u n v o l l k o m m e n e und übel berathene Stellen b e k o m m e n h a b e .

5

SW 337 Wenn nun ich, der ich im N a m e n der Religiösen, und für sie rede, die Schuld davon, d a ß sie ihr G e s c h ä f t nicht mit besserem Erfolg h a b e n 10 betreiben k ö n n e n , dem Staat und den Staatskünstlern beimesse, werdet Ihr m i c h nicht in Verdacht jenes Kunstgriffes h a b e n ? D e n n o c h hoffe ich, C 280 Ihr werdet mir mein R e c h t nicht versagen | k ö n n e n , wenn Ihr mich über die eigentliche Entstehung aller dieser Uebel a n h ö r t . | 8 252 J e d e neue L e h r e und O f f e n b a r u n g , jede neue Ansicht des Univer- 15 sum, welche den Sinn für dasselbe anregt auf einer Seite, w o es bisher n o c h nicht ergriffen worden ist, gewinnt auch einige G e m ü t h e r der Religion, für welche grade dieser P u n k t der einzige war, durch welchen sie eingeführt werden k o n n t e n in die h ö h e r e ihnen n o c h u n b e k a n n t e Welt. 195 D e n mei|sten unter ihnen bleibt d a n n natürlich grade diese Beziehung 20 der M i t t e l p u n k t der Religion; sie bilden um ihren M e i s t e r her eine eigne Schule, einen für sich bestehenden besonderen T h e i l der wahren und allgemeinen Kirche, welcher erst still und langsam seiner Vereinigung im Geist mit dem großen G a n z e n entgegenreift. A b e r ehe diese erfolgt, werden sie g e w ö h n l i c h , wenn erst die neuen G e f ü h l e ihr ganzes G e m ü t h 25 durchdrungen und gesättigt h a b e n , heftig ergriffen von dem Bedürfniß zu äußern was in ihnen ist, d a m i t das innere Feuer sie nicht verzehre. S o verkündiget J e d e r w o und wie er k a n n das neue Heil, welches ihm aufgegangen ist; von jedem G e g e n s t a n d e finden sie den Uebergang zu dem neuentdekten Unendlichen, jede R e d e verwandelt sich in eine Z e i c h - 30 nung ihrer besondern religiösen Ansicht, jeder R a t h , jeder Wunsch, jedes freundliche W o r t in eine begeisterte Anpreisung des Weges, den sie als Β 253; C281 den einjzigen kennen zur Seligkeit. Wer es weiß, wie | die Religion w i r k t , der findet es natürlich, d a ß sie Alle reden; sie würden sonst fürchten, d a ß die Steine es ihnen zuvorthäten. Und wer es w e i ß , wie ein neuer 35 E n t h u s i a s m u s w i r k t , der findet es natürlich, d a ß dieses lebendige Feuer

12 in Verdacht] B + C: im Verdacht 18 war,] B: war 19 f Welt. Den] B: Welt; und den 2 8 f Heil, ... ist;] B: Heil ... ist, 3 4 natürlich,] B: natürlich 3 4 f Vgl. Lk

19,40

Vierte

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Rede

201

gewaltsam um sich greift, manche verzehrt, viele erwärmt, Tausenden aber auch nur den falschen oberflächlichen Schein einer innern Glut mittheilt. Und diese Tausende sind eben das Verderben. Das jugendliche Feuer der neuen Heiligen nimmt auch sie für wahre Brüder: was hindert, sprechen sie nur allzurasch, daß auch diese den heiligen Geist empfahen; ja sie selbst nehmen sich dafür, und lassen sich im freudigen Triumph einführen in den Schooß der frommen Gesellschaft. Aber wenn der Rausch der ersten Begeisterung vorüber, wenn die glühende O b e r f l ä c h e ausgebrannt ist: so zeigt sich daß sie den Zustand in welchem die Andern sich befinden nicht aushalten, und nicht theilen können; mitleidig stimmen sich diese herab zu ihnen, und entsagen ihrem eignen höhern und innigem Genuß um ihnen wieder nachzuhelfen, und so nimmt Alles jene unvollkommene Gestalt an. Auf diese Art geschieht es | ohne äußere Ursachen durch das allen menschlichen Dingen gemeine Verderbniß, jener ewigen Ordnung gemäß, nach welcher | dieses Verderben grade das feurigste und regsamste Leben am schnellsten ergreift, daß sich um jeden einzelnen Theil der wahren Kirche, welcher irgendwo in der Welt isolirt entsteht, | nicht abgesondert von jenem, sondern in und mit ihm, eine falsche und ausgeartete Kirche bildet. So ist es zu allen Zeiten, unter allen Völkern und in jeder besondern Religion ergangen. Wenn man aber Alles ruhig sich selbst überließe: so könnte dieser Zustand unmöglich irgendwo lange gewährt haben. Gießt Stoffe von verschiedener Schwere und Dichtigkeit, und die wenig innere Anziehung gegen einander haben, in ein Gefäß, rüttelt sie auch aufs heftigste durcheinander, daß Alles Eins zu sein scheint, und Ihr werdet sehen, wie Alles, wenn Ihr es nur ruhig stehen laßt, sich allmählig wieder sondert, und nur Gleiches sich zu Gleichem gesellt. So wäre es auch hier ergangen, denn das ist der natürliche Lauf der Dinge. Die wahre Kirche hätte sich still wieder ausgeschieden um der vertrauteren und höheren Geselligkeit zu genießen, welcher die Anderen nicht fähig waren; das Band der lezteren unter einander wäre dann so gut als gelöst gewesen, und ihre natürliche Stumpfheit müßte irgend etwas Aeußeres erwartet haben um zu bestimmen was aus ihnen werden sollte. Sie wären aber nicht verlassen geblieben von Jenen: wer

l f erwärmt, ... nur] B: erwärmt und Tausenden 12 Alles jene] B: alles die ; C: alles jene 13—19 geschieht es ... daß sich um jeden einzelnen Theil ... Kirche bildet] B : bildet sich ... um jeden einzelnen Theil ... Kirche 1 4 f jener] ß : der 22 verschiedener] B: verschiedner 26 stehen] B: stehn 32 Aeußeres] B + C: äußeres 25 Ihr werdet] B + C: ihr werdet 41 Anspielung

vermutlich

auf Apg

8,14—17

SW 338

196 Β 254

C282

SW 339 ß 255

202

Über die Religion

hätte w o l außer J e n e n den leisesten Beruf sich ihrer anzunehmen? was für eine L o k k u n g hätte w o l ihr Z u s t a n d den Absichten anderer M e n schen dargeboten? Was wäre zu gewinnen, oder was für R u h m w ä r e zu erlangen gewesen an ihnen? Ungestört also w ä r e n die Mitglieder der C 283 w a h r e n K i r c h e im Besiz g e b l i e b e n , ihr priesterliches A m t unter diesen 5 in einer neuen und besser angelegten Gestalt wieder anzutreten. J e d e r hätte diejenigen um sich versammelt die grade ihn a m besten verstanden, die durch seine Weise am kräftigsten k o n n t e n erregt werden; und statt der ungeheuren Verbindung, deren Dasein Ihr jezt beseufzt, wären eine 197 g r o ß e M e n g e kleine|rer und u n b e s t i m m t e r Gesellschaften entstanden, 10 w o r i n die M e n s c h e n sich auf allerlei Art bald hier bald dort geprüft hätten auf die Religion, und der Aufenthalt darin w ä r e nur ein vorübergehender Z u s t a n d gewesen, vorbereitend für den, dem der Sinn für die Religion aufgegangen wäre, entscheidend für den, der sich unfähig gefunden hätte a u f irgend eine Art davon ergriffen zu w e r d e n 1 5 . Heil de- 15 n e n , w e l c h e , w a n n die U m w ä l z u n g e n der menschlichen Dinge dieses g o l d n e Z e i t a l t e r der Religion, n a c h d e m es auf d e m einfachen Wege der N a t u r verfehlt worden ist, auf einem langsameren und künstlicheren | Β 256 Wege herbeiführen, alsdann erst berufen werden! gnädig sind ihnen die G ö t t e r , und reicher Segen folgt ihren B e m ü h u n g e n auf ihrer Sendung, den Anfängern zu helfen und den Unmündigen den Weg eben zu m a c h e n zum Tempel des Ewigen; B e m ü h u n g e n die uns Heutigen so k a r g e Frucht bringen unter den ungünstigsten U m s t ä n d e n 1 6 . H ö r t einen dem Anschein n a c h vielleicht unheiligen W u n s c h , aber C284 ich k a n n mir k a u m versa|gen ihn zu äußern. M ö c h t e doch allen H ä u p tern des Staats, allen Virtuosen und Künstlern der Politik auf i m m e r fremd geblieben sein auch die entfernteste A h n u n g von Religion! m ö c h t e d o c h nie einer ergriffen worden sein von der G e w a l t jener anstekkenden SW 340 Begeisterung! wenn sie doch ihr eigenthümlichstes Inneres nicht zu scheiden wußten von ihrem Beruf und ihrem öffentlichen C h a r a k t e r ! D e n n das ist uns die Q u e l l e alles Verderbens geworden. W a r u m mußten sie die kleinliche Eitelkeit und den wunderlichen D ü n k e l , als o b die Vorzüge, welche sie mitzutheilen h a b e n , überall o h n e Unterschied etwas Wichtiges w ä r e n , mitbringen in die Versammlung der Heiligen? W a r u m mußten sie

1 außer Jenen] B: außer ihnen C: außer jenen 4 an ihnen] B: mit ihnen 5 Besiz] Β: Besizz 8 durch seine] B: nach seiner 9 Verbindung,] B: Verbindung 2 0 Sendung,] B: Sendung 2 2 Ewigen; ... uns] Β: Ewigen: . . . Uns 2 4 H ö r t ... unheiligen] Β: Es scheint wol ein unheiliger 2 9 Begeisterung!] B: Begeisterung, 3 2 f Vorzüge, . . . mitzutheilen haben,] B: Vorzüge ... mittheilen könnten 3 3 Wichtiges] B + C: wichtiges 10 Gesellschaften] C : Ge /sellschaften

19 herbeiführen] B: herbeizuführen

20

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Vierte Rede

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die Ehrfurcht vor den Dienern des Heiligthums von dannen mit zurüknehmen in ihre Palläste und Richtsäle? Ihr habt vielleicht Recht | zu wünschen, daß nie der Saum eines priesterlichen Gewandes den Fußboden eines königlichen Gemaches möchte berührt haben: aber laßt auch uns nur wünschen, daß nie der Purpur den Staub am Altar geküßt hätte; | denn wäre dies nicht geschehen, so würde jenes nicht erfolgt sein. J a hätte man nie einen Fürsten in den Tempel gelassen, bevor er nicht den schönsten königlichen Schmuk, das reiche Füllhorn aller seiner Gunst und Ehrenzeichen abgelegt hätte vor der Pforte! Aber sie haben sich dessen bedient wie anderwärts, sie haben gewähnt die einfache H o heit des himmlischen Gebäudes schmükken zu können | durch abgerissene Stükke ihrer irdischen Herrlichkeit; und statt heilige Gelübde zu erfüllen haben sie weltliche Gaben zurükgelassen als Weihgeschenke für den Höchsten. — So oft ein Fürst eine Kirche für eine Gemeinheit erklärte mit besonderen Vorrechten, für eine ausgezeichnet angesehene Person in der bürgerlichen Welt — und dies geschah nie anders, als wenn bereits jener unglükliche Zustand eingetreten war, daß die Gesellschaft der Gläubigen und die der Glaubensbegierigen sich auf jene unrichtige Art, die immer zum Nachtheil der erstem ausfallen muß mit einander vermischt hatten, denn ehe war nie eine religiöse Gesellschaft groß genug um die Aufmerksamkeit der Herrscher zu erregen — so oft ein Fürst sage ich | zu dieser gefährlichsten und verderblichsten aller Vergünstigungen sich verleiten ließ, war das Verderben dieser Kirche fast unwiderruflich beschlossen und eingeleitet. Wie das furchtbare Medusenhaupt wirkt eine solche Constitutionsakte politischer Präponderanz auf die religiöse Gesellschaft; Alles versteinert sich, so wie sie erscheint. Alles nicht Zusammengehörige was nur für einen Augenblik in einander geschlungen war, ist nun unzertrennlich aneinander gekettet; alles Zufällige, was leicht konnte abgeworfen werden, ist nun auf immer befestigt; das Gewand ist mit dem Körper aus einem Stük, und jede unschikliche Falte ist wie für die Ewigkeit. Die größere und unächte Gesellschaft läßt sich nun nicht mehr tren|nen von der höheren und kleineren, wie sie doch getrennt werden müßte; sie läßt sich nicht mehr theilen noch auflösen; sie kann weder ihre Form noch ihre Glaubensartikel mehr ändern; ihre

8 Schmuk] B: S c h m u k k 1 0 sich . . . a n d e r w ä r t s ] B : es m i t g e n o m m e n 1 2 £ Herrlichkeit; . . . erfüllen] B : Herrlichkeit, und statt eines geheiligten Herzens 1 3 zurükgelassen] B : zurükgelassen, 1 5 besonderen . . . ausgezeichnet angesehene] Β : eignen . . . ansehnliche 1 6 dies ... anders,] B : es ... anders 1 7 daß] B : w o 1 8 — 2 0 Glaubensbegierigen . . . hatten] B: Glaubensbegierigen, das W a h r e und das Falsche, w a s sich bald wieder a u f i m m e r geschieden hätte, bereits vermischt w a r 2 2 f Vergünstigungen] B : H a n d l u n g e n 2 3 fast] fehlt in Β 2 5 P r ä p o n d e r a n z ] B: E x i s t e n z 2 6 Alles versteinert] Β + C: alles versteinert 2 6 sich,] B: sich 2 7 Augenblik] B : Augenblikk 3 0 Stük] B : Stükk

ß 257

198

C 285

ß 258

SW 341

C286

204

Über die

Religion

E i n s i c h t e n , i h r e G e b r ä u c h e , A l l e s ist v e r d a m m t in d e m Z u s t a n d e zu ver199 h a r r e n , | in d e m es sich e b e n b e f a n d . A b e r d a s ist n o c h n i c h t A l l e s ; d i e M i t g l i e d e r d e r w a h r e n K i r c h e , d i e m i t in i h r e n t h a l t e n s i n d , sind v o n n u n a n v o n j e d e m A n t h e i l a n i h r e r R e g i e r u n g s o g u t als a u s g e s c h l o s s e n m i t G e w a l t , u n d a u ß e r S t a n d g e s e z t d a s W e n i g e f ü r sie zu t h u n , w a s

5

Β 259 n o c h g e t h a n w e r d e n k ö n n t e . D e n n es g i e b t | n u n m e h r zu r e g i e r e n , als s i e r e g i e r e n k ö n n e n u n d w o l l e n ; w e l t l i c h e D i n g e s i n d j e z t zu o r d n e n u n d zu b e s o r g e n , V o r z ü g e zu b e h a u p t e n u n d g e l t e n d zu m a c h e n : u n d w e n n s i e s i c h g l e i c h a u f d e r g l e i c h e n a u c h v e r s t e h n in i h r e n h ä u s l i c h e n

und

b ü r g e r l i c h e n A n g e l e g e n h e i t e n , so k ö n n e n sie d o c h D i n g e d i e s e r A r t n i c h t

10

a l s S a c h e i h r e s p r i e s t e r l i c h e n A m t e s b e h a n d e l n . D a s ist ein W i d e r s p r u c h , d e r in i h r e n S i n n n i c h t e i n g e h t , u n d m i t d e m sie sich n i e

aussöhnen

k ö n n e n ; es g e h t n i c h t z u s a m m e n m i t i h r e m h o h e n u n d r e i n e n

Begriff

von Religion und religiöser Geselligkeit. Weder für die w a h r e

Kirche,

d e r sie a n g e h ö r e n , n o c h f ü r d i e g r ö ß e r e G e s e l l s c h a f t , die sie leiten s o l l e n ,

15

k ö n n e n sie b e g r e i f e n , w a s sie d e n n n u n m a c h e n s o l l e n m i t d e n H ä u s e r n u n d A e k k e r n u n d R e i c h t h ü m e r n , die sie b e s i z e n k ö n n e n 1 7 , u n d d i e M i t C287

g l i e d e r d e r w a h r e n K i r c h e s i n d a u ß e r F a s s u n g g e s e z t u n d ver|wirrt d u r c h diesen widernatürlichen Z u s t a n d . Und w e n n nun n o c h überdies durch

SW 342 d i e s e l b e B e g e b e n h e i t z u g l e i c h a l l e d i e a n g e l o k t w e r d e n , d i e s o n s t i m m e r

20

d r a u ß e n g e b l i e b e n sein w ü r d e n ; w e n n es n u n d a s I n t e r e s s e a l l e r S t o l z e n , E h r g e i z i g e n , H a b s ü c h t i g e n u n d R ä n k e v o l l e n g e w o r d e n ist, sich e i n z u d r ä n g e n in d i e K i r c h e , in d e r e n G e m e i n s c h a f t sie s o n s t n u r d i e b i t t e r s t e Langeweile empfunden hätten; wenn diese nun anfangen T h e i l n a h m e an Β 260 h e i l i g e n D i n g e n u n d K u n d e d a v o n zu h e u c h e l n u m d e n welt| liehen L o h n

25

d a v o n zu t r a g e n : w i e s o l l e n J e n e w o l i h n e n n i c h t u n t e r l i e g e n ? W e r t r ä g t a l s o die S c h u l d , w e n n u n w ü r d i g e M e n s c h e n d e n P l a z d e r g e r e i f t e n H e i l i g e n e i n n e h m e n ; u n d w e n n u n t e r i h r e r A u f s i c h t A l l e s sich e i n s c h l e i c h e n u n d f e s t s e z e n d a r f , w a s d e m G e i s t d e r R e l i g i o n a m m e i s t e n z u w i d e r ist? w e r a n d e r s als d e r S t a a t m i t s e i n e r ü b e l v e r s t a n d e n e n G r o ß m u t h . E r ist 200 a b e r a u f e i n e n o c h u n m i t t e l b a r e r e A r t U r s a c h , d a ß d a s | B a n d z w i s c h e n der w a h r e n K i r c h e und der ä u ß e r n Religionsgesellschaft sich gelöst hat. D e n n n a c h d e m e r d i e s e r j e n e u n s e l i g e W o h l t h a t e r w i e s e n , m e i n t e er ein

1 Alles] B + C: alles 2 Alles;] B: Alles: 5 Wenige] B + C: wenige 5 thun,] B: thun 8 Vorzüge ... machen:] fehlt in Β 9 auf dergleichen auch] B: auch darauf 10f sie doch ... als] B: sie sie doch nicht als eine 13 Begriff] C: Begrif 17f Aekkern ... Kirche] B: Äkkern, die sie erworben, und den Reichthümern, ldie sie besizen können, und was das helfen soll für ihren Zwekk. Sie 19 Zustand. ... überdies] B: Zustand; und wenn nun 20 alle] B + C: Alle 20 angelokt] B: angelokkt 28 einnehmen;] B: einnehmen, 28 Alles] B + C: alles 6 nun] D: nur

35 auch darauf] so DV von B; OD von B: auf darauf

30

Vierte Rede

5

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205

Recht auf ihre thätige Dankbarkeit zu haben, und hat sie belehnt mit drei höchst wichtigen Aufträgen in seinen Angelegenheiten 1 8 . Der Kirche hat er mehr oder weniger übertragen die Sorge und Aufsicht auf die Erziehung; unter den Auspizien der Religion und in der Gestalt einer Gemeine will er, daß das Volk unterrichtet werde in den Pflichten wel-| che unter die Form des Gesezes nicht können befaßt werden, und daß es angeregt werde zu wahrhaft bürgerlichen Gesinnungen; und von der Kraft der Religion und den Unterweisungen der Kirche fordert er, daß sie ihm seine Bürger wahrhaft mache in ihren Aussagen. Z u r Vergeltung aber für diese Dienste die er begehrt, beraubt er sie nun — so ist es ja fast in allen Theilen der gesitteten | Welt, w o es einen Staat und eine Kirche giebt — ihrer Freiheit; er behandelt sie als eine Anstalt, die er eingesezt und erfunden hat, und freilich ihre Fehler und Mißbräuche sind fast alle seine Erfindung; und er allein maaßt sich die Entscheidung darüber an, wer tüchtig sei als Vorbild und als Priester der Religion aufzutreten in dieser Gesellschaft. Und dennoch wollt Ihr es von der Religion fordern, wenn diese nicht insgesammt heilige Seelen sind? Aber ich bin noch nicht am Ende mit meinen Anklagen: sogar in die innersten Mysterien der religiösen Geselligkeit trägt er sein Interesse hinein, und verunreinigt sie. Wenn die Kirche in prophetischer Andacht die Neugebornen der Gottheit und dem Streben nach dem Höchsten weihet, so will er sie dabei zugleich aus ihren Händen empfangen in die Liste seiner Schuzbefohlenen; wenn sie den Heranwachsenden den ersten Kuß der Brüderschaft giebt, als solchen, die nun den ersten Blik gethan haben in die Heiligthümer der Religion, so soll das auch für ihn das Zeugniß sein von dem ersten Grade | ihrer bürgerlichen Selbstständigkeit 19 ; wenn sie mit gemeinschaftlichen frommen Wünschen die Verschmelzung zweier Personen heiliget, welche als | Sinnbilder und Werkzeuge der schaffenden Natur sich zugleich zu Trägern des höheren Lebens weihen, so soll das zugleich seine | Sanction sein für ihr bürgerliches Bündniß; und selbst daß ein Mensch verschwunden ist vom Schauplaz dieser Welt, will er

4 Auspizien] B: Auspicien 5 er,] B: er 5—7 welche nicht fassen, und beredet 12 Anstalt,] B: Anstalt 17 diese nicht insgesammt] B: es nicht alles 2 4 Blik] weihen] B: wodurch sie zu Sinnbildern und Werkzeugen werden 7 Gesinnungen] C: Gesinnuugen nis 20—30 Anspielung

... werde] B: die seine Geseze 14 Erfindung;] B: Erfindung, B: Blikk 2 8 f welche ... des schaffenden Universum

30 Bündniß] so DV von C; OD von C: Bedürf-

auf Taufe, Konfirmation

und

Trauung

C 288

Β 261

sw 343

C289

201 Β 262

206

Über die Religion

nicht eher glauben bis sie ihn versichert, daß sie seine Seele wiedergegeben habe dem Unendlichen, und seinen Staub eingeschlossen in den heiligen Schooß der Erde. Es zeigt Ehrfurcht vor der Religion und ein Bestreben sich immer im Bewußtsein seiner eigenen Schranken zu erhalten, daß der Staat sich so jedesmal v o r ihr und ihren Verehrern beugt, wenn er etwas empfängt aus den Händen der Unendlichkeit, oder es wieder abliefert in dieselben: aber wie auch dies Alles nur zum Verderben der religiösen Gesellschaft wirke, ist klar genug. Nichts giebt es nun in allen ihren Einrichtungen, was sich auf die Religion allein bezöge, oder worin sie auch nur die Hauptsache wäre. In den heiligen Reden und Unterweisungen sowol, als in den geheimnißvollen und symbolischen Handlungen ist Alles voll von rechtlichen und bürgerlichen Beziehungen 2 0 , Alles ist abgewendet von seiner ursprünglichen Art und Natur. Viele giebt es daher unter ihren Anführern, die nichts verstehn von der Religion, aber SW 344; C 290 doch im Stande sind sich | große und amtliche Verdienste zu erwerben als Diener derselben; und viele giebt es unter den Mitgliedern der Kirche, denen es nicht in den Sinn k o m m t Religion auch nur suchen zu wollen und die doch Interesse genug haben in der Kirche zu bleiben und Theil an ihr zu nehmen.

5

10

15

Daß eine Gesellschaft, welcher so etwas be|gegnen kann, welche 20 mit eitler Demuth Wohlthaten annimmt, die ihr zu nichts frommen, und mit kriechender Bereitwilligkeit Lasten übernimmt die sie ins Verderben stürzen, welche sich mißbrauchen läßt von einer fremden Macht, welche Freiheit und Unabhängigkeit, die ihr doch angeboren sind, fahren läßt f ü r einen leeren Schein, welche ihren hohen und erhabenen Z w e k 25 202 aufgiebt, um Dingen nachzugehn die ganz außer ihrem Wege | liegen, daß dies nicht eine Gesellschaft von Menschen sein kann, die ein bestimmtes Streben haben, und genau wissen w a s sie wollen, das denke ich springt in die Augen; und diese kurze Hinweisung auf die Geschichten der kirchlichen Gesellschaft ist, denke ich, der beste Beweis davon, 30 daß sie nicht die eigentliche Gesellschaft der religiösen Menschen ist, daß höchstens einige Partikeln von dieser mit ihr vermischt waren, überschüttet von fremden Bestandtheilen, und daß das Ganze, um den ersten

Β 263

1 glauben] B: glauben, 2 t heiligen Schooß der] B: Schooß der heiligen 5 vor ihr ... beugt] B: beugt vor ihr und ihren Verehrern 7 Alles] B + C: alles 12 Alles ... Alles] B + C: alles ... alles 14 Anführern,] B: Anführern 1 4 - 1 9 Religion, ... nehmen] B : Religion; und viele unter ihren Mitgliedern, denen es nicht in den Sinn kommt sie suchen zu wollen 21 frommen] Β: dienen 2 4 Freiheit ... sind] Β : ihre Freiheit ...ist 25 erhabenen Zwek] B: erhabnen Zwekk 2 9 f Geschichten] B: Begebenheiten 2 9 Hinweisung] C; Hinweisuug

Vierte

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35

Rede

207

S t o f f dieses unermeßlichen Verderbens a u f z u n e h m e n , s c h o n in e i n e m Z u stande k r a n k h a f t e r G ä h r u n g sein mußte, in welcher die wenigen gesunden T h e i l e bald gänzlich | e n t w i c h e n . Voll heiligen Stolzes h ä t t e die C 291 w a h r e Kirche G a b e n verweigert, die sie nicht b r a u c h e n k o n n t e , w o l wissend, daß diejenigen, welche die G o t t h e i t gefunden h a b e n und sich ihrer gemein|schaftlich erfreuen, in ihrer reinen Geselligkeit, in der sie nur ihr Β 264 innerstes D a s e i n ausstellen und mittheilen w o l l e n , eigentlich nichts gemein h a b e n , dessen Besiz ihnen geschiizt werden m ü ß t e durch eine weltliche M a c h t , d a ß sie nichts brauchen auf E r d e n , und a u c h nichts brauchen k ö n n e n , als eine S p r a c h e um sich zu verstehn, und einen R a u m um bei einander zu sein, D i n g e zu denen sie keiner F ü r s t e n und ihrer G u n s t bedürfen. Wenn es a b e r d o c h eine vermittelnde Anstalt geben soll, durch wel- SW 345 c h e die w a h r e K i r c h e in eine gewisse Berührung k o m m t mit der p r o f a n e n Welt, mit der sie sonst u n m i t t e l b a r nichts zu schaffen h ä t t e , g l e i c h s a m eine A t m o s p h ä r e durch welche sie zugleich sich reinigt und a u c h neuen S t o f f an sich zieht und bildet: welche Gestalt soll diese G e s e l l s c h a f t denn a n n e h m e n , und wie wäre sie zu befreien von dem Verderben, welches sie eingesogen hat? D a s Lezte bleibe der Z e i t zu b e a n t w o r t e n überlassen: es giebt zu Allem was irgend e i n m a l geschehen m u ß tausend verschiedene Wege, und für alle K r a n k h e i t e n der M e n s c h h e i t mannigfaltige Heilarten: jede wird an ihrem O r t e versucht werden und z u m Z i e l e führen. N u r dies Ziel sei mir erlaubt anzudeuten, um E u c h desto k l a r e r zu zei-| gen, daß es a u c h hier nicht die Re|ligion und ihr Streben gewesen ist, 203; C 292 w o r a u f Euer Unwille sich h ä t t e werfen sollen. | D e r eigentliche H a u p t b e g r i f f einer solchen H ü l f s a n s t a l t ist d o c h die- Β 265 ser, daß denjenigen, die in e i n e m gewissen G r a d e Sinn für die Religion h a b e n , ohne j e d o c h , weil sie n ä m l i c h in ihnen n o c h nicht zum A u s b r u c h und zum Bewußtsein g e k o m m e n ist, schon der Einverleibung in die w a h r e Kirche fähig zu sein, d a ß diesen soviel R e l i g i o n , als s o l c h e , lebendig dargestellt werde, d a ß d a d u r c h ihre Anlage für dieselbe n o t h w e n d i g entwikkelt werden m u ß . L a ß t uns sehen, was eigentlich verhindert, d a ß dies in der gegenwärtigen L a g e der Dinge nicht geschehen k a n n . — Ich will nicht n o c h einmal daran erinnern, daß der S t a a t jezt diejenigen, die in dieser Gesellschaft A n f ü h r e r und Lehrer sind — nur ungern und aus

1 Stoff] C: Stof 5 f diejenigen, ... erfreuen,] B: diejenigen ... erfreuen 15 sonst unmittelbar ... hätte] B: unmittelbar ... hat 16 zugleich sich] B: sich zugleich 17 Stoff] C: Stof 19 Lezte] B + C: lezte 25 hätte werfen sollen] B: geworfen hat 26 einer solchen Hülfsanstalt] B: davon 28—30 ohne ... diesen] B: die aber weil sie in ihnen noch nicht zum Ausbruch und zum Bewußtseyn gekommen ist, noch nicht fähig sind der wahren Kirche einverleibt zu werden, 32 sehen, ... verhindert,] B: sehen ... verhindert

208

SW 346 C 293 B 266

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B267 C 294

Über die Religion

M a n g e l bediene ich mich dieses W o r t s , welches für das G e s c h ä f t sich nicht schikt — n a c h seinen Wünschen a u s w ä h l t , die m e h r auf Beförderung der übrigen Angelegenheiten, welche er mit dieser Anstalt verbunden hat, gerichtet sind; d a ß einer in dem Sinne des S t a a t s ein höchst verständiger Erzieher und ein sehr reiner trefflicher Pflichtenlehrer für das Volk sein k a n n , ohne im eigentlichen Sinne des Wortes selbst religiös erregt zu sein, w o r a n es daher Vielen, die er unter seine würdigsten Diener in dieser Anstalt zählt, leicht gänzlich fehlen m a g ; ich will annehm e n , Alle die er eingesezt, wären wirklich von F r ö m m i g k e i t | durchdrungen und beseelt: so | würdet Ihr doch zugeben, d a ß kein Künstler seine Kunst einer Schule mit einigem Erfolg mittheilen k a n n wenn nicht unter den Lehrlingen eine gewisse Gleichheit der Vorkenntnisse Statt findet, welche d e n n o c h in jeder Kunst w o der Schüler seine Fortschritte durch U e b u n g e n m a c h t , und der Lehrer v o r n e h m l i c h durch Kritik nüzlich wird, minder nothwendig ist, als hier bei unserm G e g e n s t a n d e , w o der M e i s t e r nichts thun k a n n als zeigen und darstellen. H i e r m u ß alle seine Arbeit vergeblich sein, wenn nicht Allen dasselbe, nicht nur verständlich, sondern auch angemessen und heilsam ist. N i c h t also in Reihe und Glied, wie | sie ihm zugezählt sind, n a c h einer alten Vertheilung, nicht wie ihre H ä u s e r neben einander stehn, oder wie sie verzeichnet sind in den Listen der Polizei, m u ß der heilige R e d n e r seine Z u h ö r e r b e k o m m e n , sondern nach einer gewissen Aehnlichkeit der Fähigkeiten und der Sinn e s a r t 2 1 . — Sezet aber auch es versammelten sich um einen Meister nur solche die der Religion gleich nahe sind, so sind sie es d o c h nicht auf gleiche Weise, und es ist höchst widersinnig irgend einen Lehrling auf einen b e s t i m m t e n Meister beschränken zu wollen, weil es nirgend einen so allseitig ausgebildeten in der Religion n o c h einen auf alle Weise ausströmenden geben k a n n , welcher im Stande w ä r e J e d e m der ihm vork o m m t durch | seine Darstellung und R e d e den verborgenen Keim der Religion ans L i c h t | zu lokken. Denn gar zu viel umfassend ist ihr Gebiet. Erinnert E u c h der verschiedenen Wege a u f denen der M e n s c h von der W a h r n e h m u n g des Einzelnen und Besonderen zu der des Ganzen und Unendlichen übergeht, und d a ß schon dadurch seine Religion einen eignen und bestimmten C h a r a k t e r a n n i m m t ; denkt an die verschiedenen B e s t i m m u n g e n unter denen das Universum den M e n s c h e n erregt und an die tausend einzelnen W a h r n e h m u n g e n und die verschiedenen Arten wie

1 Worts,] B: Worts 4 Staats] B: Staates 5 trefflicher] B + C: teflicher 5 f für das Volk] fehlt itt Β 6 f im ... woran] B: von der Religion das mindeste zu verstehn; an welcher 12 findet,] B: findet; 14 vornehmlich] B + C: vornemlich 15 hier bei unserm Gegenstande] B: in der Religion 2 7 f ausgebildeten ... ausströmenden] B: empfänglichen und ausgebildeten in der Religion 30 Denn gar] B: Gar 35 erregt] B : erregt,

5

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Vierte

Rede

209

diese zusammengestellt werden mögen, um einander wechselseitig zu erleuchten; bedenkt daß Jeder der Religion sucht, sie unter der bestimmten Form antreffen muß, die seinen Anlagen und seinem Standpunkt angemessen ist, wenn die seinige dadurch wirklich aufgeregt werden soll: so 5 werdet Ihr finden, daß es jedem Meister unmöglich sein muß Allen Alles, und Jedem das zu werden was er bedarf, weil unmöglich einer zugleich ein Mystiker sein kann und ein Physiker, und ein Meister in jeder heiligen Kunst durch welche die Religion sich ausspricht; zugleich ein Geweiheter in Weissagungen, Gesichten und Gebeten, und in Darstellungen 10 aus Geschichte und Empfindung, und noch vieles andere, wenn es nur möglich wäre alle die | herrlichen Zweige aufzuzählen, in welche der himmlische Baum der priesterlichen Kunst seine Krone vertheilt. Meister und Jünger | müssen einander in vollkommener Freiheit aufsuchen und wählen dürfen, sonst ist Einer für den Andern | verloren; Jeder muß 15 suchen dürfen was ihm f r o m m t , und Keiner etwa verpflichtet werden sollen mehr zu geben als das was er hat und versteht. — Wenn wir aber auch dies erreicht hätten, daß Jeder nur lehren darf was er versteht: so kann er ja auch das nicht, sobald er zugleich, ich meine in derselben Handlung, noch etwas anders thun soll. Es kann keine Frage darüber 20 sein, ob nicht ein priesterlicher Mensch seine Religion darstellen, sie mit Eifer und Kunst, wie sichs gebührt, darstellen, und zugleich noch irgend ein bürgerliches Geschäft treu und in großer Vollkommenheit ausrichten könne. Warum also sollte nicht auch, wenn es sich eben so schikt, derjenige, welcher Beruf hat zum Priesterthum, zugleich Sittenlehrer sein dür25 fen im Dienste des Staates? Es ist nichts dagegen: nur muß er beides neben einander, und nicht in und durcheinander sein, er muß nicht beide Naturen zu gleicher Zeit an sich tragen, und beide Geschäfte in derselben Handlung verrichten sollen. Begnüge sich der Staat, wenn es ihm so gut däucht, mit einer religiösen M o r a l : die Religion aber | verleugnet jeden 30 absichtlich und einzeln aus diesem Gesichtspunkt moralisirenden Propheten und Priester; wer sie verkünden will der thue es rein. Es widerspräche allem Ehrgefühl nicht nur jedes Meisters in seiner Sache, sondern der religiösen Reinheit besonders, wenn ein wahrer Priester sich auf so unwürdige und unausführbare Bedingungen einlassen wollte mit 35 dem | Staat. Wenn dieser andre Künstler in Sold nimmt, es sei nun um

5 finden, daß es jedem] B: finden daß es Jedem 6 einer] B: Einer 9 Gesichten] ß.Visionen 12 vertheilt] B: vertheilte 16f wir ... versteht:] Β: aber auch Jeder nur das lehren soll was er versteht, 23 f derjenige,] B + C: derjenige 30 aus] B + C: und aus 35 andre] Β: andere 5 f Vgl. 1 Kor

9,22

SW 347

Β 268 205 C29S

Β 269 SW 348

C 296

210

Über die Religion

ihre T a l e n t e besser zu pflegen oder um Schüler zu ziehen: so entfernt er von ihnen alle fremden G e s c h ä f t e , ja er m a c h t es ihnen wol zur Pflicht sich deren zu enthalten; er empfiehlt ihnen sich a u f den besondern T h e i l ihrer Kunst vorzüglich zu legen, worin sie a m mehresten leisten zu k ö n nen g l a u b e n , und läßt da ihrer N a t u r volle Freiheit. N u r an den Künstlern der Religion thut er gerade das Gegentheil. Sie sollen das ganze G e b i e t ihres Gegenstandes umfassen, und dabei schreibt er ihnen n o c h 206 vor, v o n welcher | Schule sie sein sollen, und legt ihnen unschikliche Lasten auf. E n t w e d e r wenn sie seine G e s c h ä f t e zugleich versehen sollen gewähre er ihnen doch M u ß e sich für irgend eine einzelne Weise der religiösen Darstellung was doch für sie die H a u p t s a c h e ist besonders auszubilden, für die sie a m meisten glauben g e m a c h t zu sein, und spreche sie von den lästigen B e s c h r ä n k u n g e n los, oder n a c h d e m er seine Β 270 bürgerlich sittliche B i l d u n g s a n s t a l t 2 2 für sich an|gelegt hat, was er doch

5

10

in jenem Falle auch thun m u ß , lasse er sie ihr Wesen ebenfalls treiben 15 für sich, und k ü m m e r e sich gar nicht um die priesterlichen Werke, die in seinem G e b i e t vollendet werden, da er sie doch weder zur Schau n o c h zum Nuzen b r a u c h t , wie e t w a andre Künste und Wissenschaften. H i n w e g also mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und C 297 S t a a t ! 2 3 das bleibt mein | C a t o n i s c h e r R a t h s p r u c h bis ans E n d e , oder bis 20 ich es erlebe sie wirklich zertrümmert zu sehen. H i n w e g mit Allem, was einer geschlossenen Verbindung der Laien und Priester unter sich oder mit einander auch nur ähnlich s i e h t ! 2 4 Lehrlinge sollen ohnedies keinen K ö r p e r bilden, m a n sieht an den mechanischen G e w e r b e n wie wenig es SW 349 f r o m m t ; aber auch die Priester sollen, als solche meine ich, keine Brüder- 25 schaft a u s m a c h e n unter sich, sie sollen sich weder ihre G e s c h ä f t e n o c h ihre Kunden zunftmäßig theilen, sondern ohne sich um die Andern zu b e k ü m m e r n , und ohne mit einem in dieser Angelegenheit näher verbunden zu sein als mit dem Andern, thue J e d e r das Seine; und auch zwischen Lehrer und G e m e i n e sei kein festes äußerliches B a n d . Ein Privatgeschäft 30 ist nach den Grundsäzen der wahren K i r c h e die M i s s i o n eines Priesters Β 271 in der Welt; ein Privatzimmer sei | auch der T e m p e l w o seine Rede sich erhebt, um die Religion auszusprechen; eine Versammlung sei vor ihm

1 ziehen:] B: ziehen, 2 ja er] B: und 6 gerade] B + C: grade 9 f wenn ... doch] Β: gebe er ihnen auch 11 was ... ist] fehlt in Β Beschränkungen] B: allem übrigen 18 andre] B: andere

8 vor,] B: vor 13 den lästigen

33 Versammlung] C: Versammlnng 2 0 f Marcus Porcius Cato Censorius (234—149) plädierte gegen Ende seines Lebens unermüdlich für die Vernichtung Karthagos; er starb kurz nach Beginn des dritten Punischen Krieges, der 146 mit der Zerstörung Karthagos endete.

Vierte Rede

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211

und keine G e m e i n e ; ein R e d n e r sei er für alle die h ö r e n w o l l e n , aber nicht ein H i r t für eine b e s t i m m t e H e e r d e . N u r unter diesen Bedingungen k ö n n e n sich w a h r h a f t priesterliche Seelen derjenigen a n n e h m e n , w e l c h e die Religion suchen; nur so k a n n diese vorbereitende Verbindung w i r k lieh zur Religion führen, und sich würdig m a c h e n als ein A n h a n g der wahren K i r c h e und als das | V o r z i m m e r derselben b e t r a c h t e t zu w e r d e n : 207 denn nur so verliert | sich Alles, w a s in ihrer jezigen F o r m unheilig und C 298 irreligiös ist. G e m i l d e r t wird durch die allgemeine Freiheit der W a h l , der Anerkennung und des Urtheils der allzuharte und schneidende Unterschied zwischen Priestern und L a i e n , bis die Besseren unter diesen dahin k o m m e n w o sie jenes zugleich sind. Auseinander getrieben und zertheilt wird Alles was durch die unheiligen B a n d e der S y m b o l e 2 5 z u s a m m e n g e halten ward. W e n n es g a r keinen Vereinigungspunkt dieser A r t m e h r giebt: wenn keiner den S u c h e n d e n ein a u f ausschließende W a h r h e i t Anspruch m a c h e n d e s System der Religion anbietet, sondern J e d e r nur eine eigenthümliche besondere D a r s t e l l u n g : dies scheint das einzige M i t t e l jenen Unfug e i n m a l zu enden. E s ist nur ein | schlechter B e h e l f der frü- Β 272 hern Z e i t , der das Uebel nur für den Augenblik lindern k o n n t e , wenn entweder veraltete Formeln zu ängstlich drükten oder allzu verschiedenartige sich in denselben B a n d e n nicht vertragen w o l l t e n , d a ß m a n durch T h e i l u n g der S y m b o l e die K i r c h e zerschnitt. Sie ist eine P o l y p e n n a t u r , sw 350 aus jedem ihrer S t ü k k e w ä c h s t wieder ein G a n z e s hervor; und wenn der C h a r a k t e r dem Geist der R e l i g i o n widerspricht, so sind m e h r e r e Einzelne, die ihn an sich tragen, d o c h um nichts besser als wenigere. N ä h e r gebracht wird der allgemeinen Freiheit und der m a j e s t ä t i s c h e n E i n h e i t der wahren K i r c h e die äußere Religionsgesellschaft nur d a d u r c h , d a ß sie eine fließende M a s s e wird, in der es keine b e s t i m m t e | Umrisse giebt, w o C 299 jeder T h e i l sich bald hier bald d o r t befindet, und Alles sich friedlich unter einander mengt. Vernichtet wird der gehässige Sekten- und Proselyten-Geist, der v o m Wesentlichen der Religion i m m e r weiter a b f ü h r t , nur dadurch, wenn keiner m e h r d a r a u f hingeführt wird, d a ß E r selbst einem b e s t i m m t e n Kreise a n g e h ö r t , ein Andersglaubender a b e r einem andern. Ihr seht, d a ß in R ü c k s i c h t a u f diese Gesellschaft unsere W ü n s c h e ganz dieselben sind: was Euch a n s t ö ß i g ist, steht auch uns im Wege, nur daß es — vergönnt mir i m m e r dies zu sagen — g a r nicht in die R e i h e der Dinge g e k o m m e n sein | würde, wenn m a n uns allein h ä t t e geschäftig 208

7 u. 12 Alles] B + C: alles 13 ward. Wenn] B: ward, wenn 14 giebt:] B: giebt, 16 Darstellung: dies scheint] B: Darstellung, und das ist 17 jenen] B: diesen 18—21 der das ... Sie] B : die Kirche — um auch in diesem schlechtesten aller Sinne das Wort zu brauchen — zu zerschneiden: sie 2 2 hervor;] B : hervor, 3 2 einem] B: Einem 37 uns] B: Uns

212

Über die Religion

Β 273 sein lassen, in dem was doch eigentlich unser | W e r k war. D a ß es wieder hinweggeschafft werde ist unser gemeinschaftliches Interesse; aber wenig k ö n n e n wir dabei thun als wünschen und hoffen. W i e eine solche Veränderung bei uns Deutschen geschehen wird, o b auch nur n a c h einer g r o ßen E r s c h ü t t e r u n g , wie im n a c h b a r l i c h e n L a n d e , und d a n n überall a u f 5 e i n m a l , oder o b einzeln der S t a a t durch eine gütliche Uebereinkunft, und o h n e d a ß beide erst sterben um aufzuerstehen, sein mißlungenes E h e b ü n d n i ß mit der K i r c h e trennen o d e r o b er nur dulden wird, d a ß eine andere jungfräulichere e r s c h e i n e 2 6 neben der welche einmal an ihn verkauft ist: ich weiß es nicht. Bis a b e r etwas von dieser Art geschieht 10 C 300 werden von einem harten Geschik alle heiligen Seelen ge|beugt, welche von der G l u t der Religion durchdrungen, auch in dem größeren Kreise der p r o f a n e n Welt ihr Heiligstes darstellen, und etwas d a m i t ausrichten SW 351 m ö c h t e n . Ich will diejenigen, welche a u f g e n o m m e n sind in den v o m S t a a t e bevorrechteten O r d e n , nicht verführen für den innersten Wunsch 15 ihres Herzens g r o ß e R e c h n u n g a u f dasjenige zu m a c h e n was sie in diesem Verhältniß redend etwa bewirken k ö n n t e n . Wenn viele unter ihnen sich gebunden glauben nicht immer ja a u c h nicht e i n m a l oft vorzüglich nur F r ö m m i g k e i t und unvermischt sie nie anders als bei feierlichen Veranlassungen zu reden, um nicht untreu zu werden ihrem politischen Be- 20 ruf, zu d e m sie gesezt sind: so weiß ich wenig dagegen zu sagen. D a s | Β 274 aber wird m a n ihnen lassen müssen, d a ß sie durch ein priesterliches L e b e n den Geist der Religion verkündigen k ö n n e n , und dies sei ihr T r o s t und ihr s c h ö n s t e r L o h n . An einer heiligen Person ist Alles bedeutend, an einem a n e r k a n n t e n Priester der Religion hat Alles einen k a n o n i s c h e n 25 Sinn. S o m ö g e n sie denn das Wesen derselben darstellen in allen ihren Bewegungen; nichts m ö g e verloren gehen auch in den gemeinen Verhältnissen des L e b e n s von dem Ausdruk eines f r o m m e n Sinnes! Die heilige Innigkeit mit der sie Alles behandeln zeige, d a ß auch bei Kleinigkeiten, | 209 über die ein p r o f a n e s G e m ü t h leichtsinnig hinweggleitet, die M u s i k erha- 30

2 hin weggeschafft] Β + C: hinweggeschaft 2—4 Interesse; ... uns] B: Interesse. Wie dies unter den 5 Erschütterung,] B + C: Erschütterung 5 f und dann ... einmal,] fehlt in Β 6 einzeln] fehlt in Β 8 trennen] B: trennen, 9 andere] B: andre 9 erscheine] ß + C: erscheine, 11 Geschik] B: Geschikk 15 bevorrechteten] B: begünstigten 15 Orden,] B + C: Orden 17 viele] B: Viele 18f ja ... Frömmigkeit] ß: oder auch nur oft Religion, 20 politischen] B: moralischen 24 Alles] B + C: alles 25 Alles] ß: alles 28 Ausdruk] B: Ausdrukk 29—1 Kleinigkeiten, ... hinweggleitet, ... ertöne;] B: Kleinigkeiten ... hinweggleitet ... ertöne, 6 der Staat] C: der der Staat 4 f Anspielung auf die Französische

Revolution

Vierte

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Rede

213

bener Gefühle in ihnen ertöne; die majestätische Ruhe, mit der sie Großes und I Kleines gleichsezzen, beweise, daß sie Alles auf das Unwandelbare beziehn, und in Allem auf gleiche Weise die Gottheit erblikken; die lächelnde Heiterkeit, mit der sie an jeder Spur der Vergänglichkeit vorübergehen, offenbare Jedem, wie sie über der Zeit und über der Welt leben; die gewandteste Selbstverläugnung deute an, wie viel sie schon vernichtet haben von den Schranken der Persönlichkeit; und der immer rege und offene Sinn, dem das Seltenste und das Gemeinste nicht entgeht, zeige, wie unermüdet sie die Spuren der Gottheit suchen, und ihre | Aeußerungen belauschen. Wenn so ihr ganzes Leben und jede Bewegung ihrer innern und äußern Gestalt ein priesterliches Kunstwerk ist: so wird vielleicht durch diese stumme Sprache Manchen der Sinn aufgehn für das was in ihnen wohnt. Nicht zufrieden aber das Wesen der Religion auszudrükken, müssen sie auch eben so den falschen Schein derselben vernichten, indem sie mit kindlicher Unbefangenheit und in der hohen Einfalt eines völligen Unbewußtseins, welches keine Gefahr sieht und keines Muthes zu bedürfen glaubt, über Alles hinwegtreten was grobe Vorurtheile und feine Superstition mit einer unächten Glorie der Heiligkeit umgeben haben, indem sie sich sorglos wie der kindische Herkules von den Schlangen der heiligen Verläumdung umzischen lassen, die sie eben so still und ruhig in einem Augenblik erdrükken können. Z u diesem heiligen Dienste mögen sie | sich weihen bis auf bessere Zeiten, und ich denke Ihr selbst werdet Ehrfurcht haben vor dieser anspruchslosen Würde, und Gutes weissagen von ihrer Wirkung auf die Menschen. Was soll ich aber denen sagen, welchen Ihr, weil sie einen bestimmten Kreis der Wissenschaft nicht auf eine bestimmte Art durchlaufen haben, das priesterliche Gewand versagt? Wohin soll ich sie weisen mit dem geselli-| gen Triebe ihrer Religion, sofern er nicht allein auf die höhere Kirche, sondern auch hinaus gerichtet ist auf die Welt? Da es ihnen fehlt an einem größern Schauplaz, w o sie auf eine auszeichnende Art | erscheinen könnten, so mögen sie sich genügen lassen an dem priesterlichen Dienst ihrer Hausgötter 2 7 . Eine Familie kann das gebildetste Element und das treueste Bild des Universum sein; denn wenn still und sicher Alles in

6 wie viel] ß : wieviel 17 Alles] B + C: alles hin] B + C: wohin 33 sicher] ß: mächtig

21 Augenblik] B: Augenblikk 33 Alles] B + C: alles

27 Wo-

1 f Großes] C: großes 19—21 Herakles erwürgt die beiden von Hera geschickten Riesenschlangen, die den ZeusSohn Herakles und den Amphitryon-Sohn Iphikles nach deren Zwillingsgeburt durch Alkmene zu Tode bringen sollen.

C 301

Β 275

SW 352

C 302

Β 276 210

214

Über die

Religion

einander greift, so wirken hier alle Kräfte die das Unendliche beseelen; wenn in ruhiger Fröhlichkeit Alles fortschreitet, so wallet der hohe Weltgeist hier wie dort; wenn die Töne der Liebe alle Bewegungen begleiten, so erklingt die Musik der Sphären auch in dem kleinsten Raum, hat sie die Musik der Sphären unter sich. Dieses Heiligthum mögen sie bilden, ordnen und pflegen, klar und deutlich mögen sie es hinstellen in frommer Kraft, mit Liebe und Geist mögen sie es auslegen, so wird Mancher von ihnen und unter ihnen das Universum anschauen lernen in der kleinen verborgenen Wohnung, sie wird ein Allerheiligstes sein, | C 303; SW 353 worin Mancher die Weihe der Religion empfängt. Dies Priesterthum war das erste in der heiligen und kindlichen Vorwelt, und es wird das lezte sein, wenn kein anderes mehr nöthig ist. J a wir warten am Ende unserer künstlichen Bildung einer Zeit, wo Β 277 es keiner andern vorbeireitenden Gesellschaft für die Religion bedürfen wird, als der frommen Häuslichkeit. Jezt seufzen Millionen von Mensehen beider Geschlechter aller Stände unter dem Druk mechanischer und unwürdiger Arbeiten. Die ältere Generation erliegt unmuthig, und überläßt mit verzeihlicher Trägheit in allen Dingen fast die jüngere dem Zufall, nur darin nicht, daß sie gleich nachahmen und lernen muß dieselbe Erniedrigung. Das ist die Ursach, warum die Jugend des Volkes den freien und offenen Blik nicht gewinnt mit dem allein der Gegenstand der Frömmigkeit gefunden wird. Es giebt kein größeres Hinderniß der Religion als dieses, daß wir unsere eignen Sklaven sein müssen, denn ein Sklave ist Jeder, der etwas verrichten muß, was durch todte Kräfte sollte können bewirkt werden. Das hoffen wir von der Vollendung der WissenSchäften und Künste, daß sie uns diese todten Kräfte werden dienstbar machen, daß sie die körperliche Welt, und alles von der geistigen was 211 sich regieren läßt, in ein Zauberschloß ver|wandeln werde, wo der Gott der Erde nur ein magisches Wort auszusprechen, nur eine Feder zu drükC 304 ken braucht, wenn geschehen | soll was er gebeut. Dann erst wird jeder Mensch ein Freigeborner sein, dann ist jedes Leben praktisch und beB 278 schaulich zugleich; über keinem hebt sich der Stekken des Treibers, | und Jeder hat Ruhe und Muße in sich die Welt zu betrachten. Nur für die

2 in ruhiger Fröhlichkeit] B: leise und sicher 2 Alles] B + C: alles 4 so erklingt . . . R a u m , ] fehlt in Β 7 f r o m m e r ] B: sittlicher 8 M a n c h e r ] B + C: m a n c h e r 10 Mancher] B: m a n c h e r 1 6 aller] B : und aller 1 6 D r u k ] B: D r u k k 1 8 in ... jüngere] B : die jüngere in allen Dingen fast 2 0 — 2 2 die J u g e n d . . . wird] B : sie den freien und offenen Blikk nicht gewinnen mit dem allein m a n das Universum findet 2 wallet] D: w a l t e t

5

10

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Vierte

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Rede

215

Unglüklichen, denen es hieran fehlte, deren geistigen Organen alle nährenden Kräfte entzogen wurden, weil das ganze Dasein unermüdet verwendet werden mußte in mechanischem Dienst, nur für diese war es nöthig, daß einzelne Glükliche auftraten, und sie um sich her versammelten, um ihr Auge zu sein, und ihnen in wenig flüchtigen Minuten den höchsten Gehalt eines Lebens mitzutheilen. Kommt die glükliche Zeit, da Jeder seinen Sinn frei üben und brauchen kann, dann wird gleich beim ersten Erwachen der höheren Kräfte, in der heiligen Jugend unter der Pflege väterlicher Weisheit Jeder der Religion theilhaftig, der ihrer fähig ist; alle einseitige Mittheilung hört dann auf, und der belohnte Vater geleitet den kräftigen Sohn nicht nur in eine fröhlichere Welt und in ein leichteres Leben, sondern auch unmittelbar in die heilige, nun zahlreichere und geschäftigere Versammlung der Anbeter des Ewigen. In dem dankbaren Gefühl, daß wenn einst diese bessere Zeit kommt, wie fern sie auch noch sein möge, auch die Bemühungen, denen Ihr Eure Tage widmet, etwas beigetragen haben werden sie herbeizuführen, vergönnt mir Euch auf | die schöne Frucht auch Eurer Arbeit noch einmal aufmerksam zu machen; laßt Euch noch einmal | hinführen zu der erhabenen Gemeinschaft wahrhaft religiöser Gemüther, die zwar jezt zerstreut und fast unsichtbar ist, deren Geist aber doch überall waltet, w o auch nur Wenige im Namen der Gottheit versammelt sind. Was daran sollte Euch wol nicht mit Bewunderung und Achtung erfüllen, Ihr Freunde und Verehrer alles Schönen und Guten! — Sie sind unter einander eine Akademie von Priestern. Die Darstellung des heiligen Lebens, | ihnen das Höchste, behandelt Jeder unter ihnen als Kunst und Studium; und die Gottheit aus ihrem unendlichen Reichthum ertheilt dazu einem Jeden ein eignes Loos. Mit allgemeinem Sinn für Alles, was in der Religion heiliges Gebiet gehört, verbindet Jeder, wie es Künstlern gebührt, das Streben sich in irgend einem einzelnen Theile zu vollenden; ein edler Wetteifer herrscht, und das Verlangen etwas darzubringen, das einer solchen Versammlung würdig sei, läßt Jeden mit Treue und Fleiß einsaugen, Alles was in sein abgestektes Gebiet gehört. In reinem Herzen wird es bewahrt, mit gesammeltem Gemüth wird es geordnet, von himmlischer Kunst wird es ausgebildet und vollendet, und so erschallt auf jede Art

1 — 4 hieran . . . nöthig,] B: d a r a n fehlte, deren O g a n e n die Kräfte e n t z o g e n w a r e n , w e l c h e ihre Muskeln in seinem Dienst unaufhörlich verwenden m u ß t e n , w a r es n ö t h i g 5 wenig] B: wenigen 1 1 fröhlichere] B : frölichere 2 2 wol] B : w o h l 2 5 f Studium; ... ertheilt] B: Studium, aus ihrem unendlichen R e i c h t h u m ertheilt sie 2 7 f d e r Religion] B: ihr

20

Vgl.

Mi

18,20

SW 354

C 305 Β 279

212

216

Über

die

Religion

und aus jeder Quelle Anerkennung und Preis des Unendlichen; indem SW 355; Β 280 Jeder die reifsten Früchte seines Sinnens und | Schauens, seines Ergreifens c 306 und Fühlens mit fröhlichem Herzen | herbeibringt. — Sie sind unter einander ein Chor von Freunden. Jeder weiß, daß auch Er ein Theil und ein Werk des Universum ist, daß auch in ihm dessen göttliches Wirken und Leben sich offenbart. Als einen würdigen Gegenstand der Aufmerksamkeit sieht er sich also an für die Uebrigen. Was er in sich wahrnimmt von den Beziehungen des Universum, was sich in ihm eigen gestaltet von den Elementen der Menschheit, Alles wird aufgedekt mit heiliger Scheu, aber mit bereitwilliger Offenheit, daß Jeder hineingehe und schaue. Warum sollten sie sich auch etwas verbergen gegenseitig? Alles Menschliche ist heilig, denn Alles ist göttlich. — Sie sind unter einander ein Bund von Brüdern — oder habt Ihr einen innigem Ausdruk für das gänzliche Verschmelzen ihrer Naturen, nicht in Absicht auf das Sein und Wirken, aber in Absicht auf den Sinn und das Verstehen? Je mehr sich Jeder dem Universum nähert, je mehr sich Jeder dem Andern mittheilt, desto vollkommner werden sie Eins; keiner hat ein Bewußtsein für sich, Jeder hat zugleich das des Andern; sie sind nicht mehr nur Menschen, sondern auch Menschheit; und aus sich selbst herausgehend, über sich selbst tri213 umphi|rend sind sie auf dem Wege zur wahren Unsterblichkeit und Ewigkeit. | Habt Ihr Etwas Erhabneres als dieses gefunden in einem andern Gebiet des menschlichen Lebens, oder in einer andern Schule der Weis-| C 307 heit, so theilt es mir mit: das Meinige habe ich Euch gegeben. Β 281

SW 356

E r l ä u t e r u n g e n zur v i e r t e n R e d e . 1) S. 1 7 7 . Die B e h a u p t u n g , d a ß zur E r r e g u n g der F r ö m m i g k e i t die bloße Schrift a m wenigsten ausrichten k ö n n e , scheint die E r f a h r u n g sehr gegen sich zu haben von den heiligen Schriften aller Religionen an bis zu unsern z u m Theil so ungeheuer weit verbreiteten E r b a u u n g s b ü c h e r n , und den kleinen religiösen P a m p h l e t s , d u r c h welche m a n jezt vorzüglich d a s Volk zu erregen sucht. Die

3 fröhlichem] B: frölichem 3 herbeibringt] B + C: herbei bringt 4 weiß,] Β: weiß 5 dessen] B: sein 9 u. 12 Alles] B + C: alles 11 sich ... gegenseitig] B: auch etwas verbergen unter einander 13 innigem Ausdruk] B: innigeren Ausdrukk 17 vollkommner] C: vollkomner 19 f triumphirend] Β + C: triumfirend 22 Erhabneres] ß: Erhabeneres 26 177] C: 255 15 das Verstehen] C: des Verstehen

Erläuterungen

zur vierten

Rede

217

S a c h e verdient d a h e r eine n ä h e r e E r l ä u t e r u n g . W a s zuerst die heiligen S c h r i f t e n b e t r i f f t , so ist u n t e r denen d e r m o n o t h e i s t i s c h e n R e l i g i o n e n , bei w e l c h e n d o c h w o l nur n ö t h i g ist zu v e r w e i l e n , der K o r a n die einzige, w e l c h e rein als S c h r i f t e n t s t a n d e n ist, u n d dieser ist o h n s t r e i t i g m e h r als L e h r b u c h a n z u s e h e n und als 5

ein R e p e r t o r i u m , w o r a u s g l e i c h s a m die T h e m e n zu religiösen

Compositionen

sollen g e n o m m e n w e r d e n , g a n z d e m wenig u r s p r ü n g l i c h e n C h a r a k t e r dieser R e ligion g e m ä ß . U n d s o m ö c h t e die u n m i t t e l b a r e i m e i g e n t l i c h e n S i n n e des W o r t s religiöse G e w a l t , w e l c h e der K o r a n a u s ü b t , w o l a u c h n i c h t h o c h a n z u s c h l a g e n sein. D e r sehr m a n n i c h f a l t i g e j ü d i s c h e C o d e x h a t e t w a s v o n d i e s e m C h a r a k t e r 10

an sich v o r z ü g l i c h in seinen g n o m i s c h e n B ü c h e r n , der e i g e n t l i c h g e s c h i c h t l i c h e T h e i l g e h ö r t s t r e n g g e n o m m e n n i c h t hieher, u n d der p o e t i s c h e ist theils w i e der g r ö ß e r e T h e i l der P s a l m e n für die u n m i t t e l b a r e D a r s t e l l u n g bei b e s t i m m t e n G e l e g e n h e i t e n , n i c h t aufs g e r a t h e w o h l für e i n e n u n b e s t i m m t e n G e b r a u c h herv o r g e b r a c h t , a l s o a u c h n i c h t b l o ß e Schrift i m s t r e n g e n S i n n . U n d w e r w o l l t e

15

l ä u g n e n , d a ß ihre W i r k u n g in diesem g a n z e n Z u s a m m e n h a n g e w e i t k r ä f t i g e r m u ß gewesen sein, so d a ß d i e j e n i g e , w e l c h e sie jezt als b l o ß e S c h r i f t h e r v o r b r i n g e n , nur ein S c h a t t e n d a v o n ist. A u c h | die p r o p h e t i s c h e D i c h t u n g aus d e r frü-

C 308

h e r n P e r i o d e ist w o l g r ö ß t e n t h e i l s u r s p r ü n g l i c h ins L e b e n h i n e i n g e r e d e t , u n d ein n i c h t u n b e d e u t e n d e r T h e i l d a v o n ist a u c h der N a c h w e l t in d e r j e n i g e n V e r m i 20

s c h u n g mit der G e s c h i c h t e ü b e r l i e f e r t , w o d u r c h der M o m e n t sich

individuell

v e r g e g e n w ä r t i g t , w a s bei d e m ursprünglich | als S c h r i f t h e r v o r g e b r a c h t e n g a r

214

n i c h t der Fall w a r . J e m e h r i n d e ß diese lebendige t r a d i t i o n e l l e K r a f t sich v e r l o r , u n d die S c h r i f t a u c h i n n e r h a l b des j ü d i s c h e n V o l k e s ein g e l e h r t e s S t u d i u m w u r d e , d e s t o m e h r v e r l o r sich a u c h ihre u n m i t t e l b a r e W i r k u n g , u n d sie w u r d e nur T r ä 25

g e r der sich d a r a n k n ü p f e n d e n l e b e n d i g e n M i t t h e i l u n g . W a s a b e r die n e u t e s t a m e n t i s c h e n S c h r i f t e n a n l a n g t , s o sind diese so w e n i g als m ö g l i c h S c h r i f t im s t r e n gen Sinne des W o r t s . D e n n in den G e s c h i c h t s b ü c h e r n ist d o c h mit die d a r i n überlieferte u n m i t t e l b a r e R e d e d a s W e s e n t l i c h e , u n d d a s G e s c h i c h t l i c h e ist v o r züglich n u r d a , u m j e n e als l e b e n d i g e n M o m e n t zu e r h a l t e n . S e l b s t v o n der

30

L e i d e n s g e s c h i c h t e ist dies u n v e r k e n n b a r , d a ß d a s e i g e n t l i c h E r h a b e n e u n d tief E r g r e i f e n d e a u c h hier die W o r t e C h r i s t i sind, die E r z ä h l u n g a b e r v o n S c h m e r z e n und Q u a l e n n u r eine leicht zu v e r f ä l s c h e n d e W i r k u n g h e r v o r b r i n g t . N u r die A p o s t e l g e s c h i c h t e s c h e i n t h i e r v o n eine A u s n a h m e zu m a c h e n , und v o r z ü g l i c h als Wurzel aller K i r c h e n g e s c h i c h t e ihren Plaz im K a n o n zu h a b e n . A b e r e b e n des-

35

h a l b , weil sie s o n s t g a n z a u f diese u n t e r g e o r d n e t e W i r k s a m k e i t

beschränkt

w ä r e , w i d e r s t r e b t es d e m G e f ü h l , w e n n m a n die R e d e n d a r i n n a c h A r t a n d e r e r H i s t o r i e n b ü c h e r als h i n t e n n a c h g e m a c h t a n s i e h t . U n s e r e d i d a k t i s c h e n

Bücher

sind als B r i e f e so w e n i g als m ö g l i c h b l o ß e S c h r i f t , u n d N i e m a n d w i r d l ä u g n e n , d a ß die W i r k u n g a u f die u n m i t t e l b a r e n E m p f ä n g e r , w e l c h e d e n g a n z e n M o m e n t

9 mannichfaltige] C: mannigfaltige 28 Wesentliche ... Geschichtliche] C: wesentliche ... geschichtliche 3 0 f Erhabene ... Ergreifende] C: erhabene ... ergreifende 38 Niemand] C: niemand 27 doch mit] Kj doch

SW 357

218

Über die

Religion

g e g e n w ä r t i g h a t t e n eine weit g r ö ß e r e w a r . Von dieser k a n n jezt u n d z w a r auch n i c h t o h n e g e l e h r t e H ü l f s d a r s t e l l u n g , w e l c h e uns in j e n e Z e i t e n zurükzuversezen s u c h t , i m m e r nur ein S c h a t t e n e r r e i c h t w e r d e n , u n d die w e s e n t l i c h s t e W i r k u n g j e n e r S c h r i f t e n für unsere Z e i t e n b l e i b t d o c h die aus der S y n a g o g e e n t l e h n t e , d a ß u n s e r e l e b e n d i g e religiöse M i t t h e i l u n g sich an sie a n k n ü p f t . J a n u r durch diese C 309

5

e r h ä l t die e i g e n e S c h r i f t l e s u n g der L a i e n ihre Hal|tung, s o n s t w ü r d e die W i r k u n g d e r s e l b e n n i c h t z w a r g a n z v e r s c h w i n d e n a b e r d o c h g a n z ins U n b e s t i m m t e ausart e n . D e n n s o u n g e h e u e r w a r die u r s p r ü n g l i c h e K r a f t dieser H e r v o r b r i n g u n g e n d a ß eine Fülle a n r e g e n d e n G e i s t e s a u c h jezt, n a c h d e m sie g ä n z l i c h S c h r i f t g e w o r d e n sind, in ihnen w o h n t , w e l c h e s für ihre g ö t t l i c h e K r a f t das lauteste Z e u g n i ß

10

a b l e g t ; a b e r die o b j e k t i v e Seite dieser W i r k u n g , d a s eigentliche V e r s t e h e n , w ü r d e für den P r i v a t g e b r a u c h der L a i e n o h n e j e n e n Z u s a m m e n h a n g m i t der gelehrten E r l ä u t e r u n g b a l d N u l l w e r d e n . D a h e r es a u c h n a t ü r l i c h ist, d a ß die k a t h o l i s c h e K i r c h e , weil sie a u f die Predigt w e n i g e r W e r t h legt, auch den S c h r i f t g e b r a u c h d e r L a i e n e i n s c h r ä n k t , und d a ß w i r h i n g e g e n , weil w i r diesen n i c h t e i n s c h r ä n k e n

15

zu d ü r f e n g l a u b e n , die ö f f e n t l i c h e S c h r i f t e r k l ä r u n g in der Predigt w e i t m e h r herv o r h e b e n m ü s s e n , w e s h a l b es a u c h i m m e r v e r d e r b l i c h w e r d e n m u ß für das g a n z e religiöse L e b e n , w e n n allgemein die S c h r i f t für die Predigt nur als M o t t o geb r a u c h t w i r d . W i e lebendig a b e r d a s B e s t r e b e n ist, das in den heiligen B ü c h e r n 215

N i e d e r g e l e g t e aus d i e s e m Z u s t a n d , d a ß es nur b l o ß e | S c h r i f t g e w o r d e n ist, zu

20

e r l ö s e n , d a f ü r s p r i c h t die bei den f r ö m m s t e n C h r i s t e n so leicht E i n g a n g findende f ü r jedes W e r k , w a s v o n v o r n e herein als eigentliches B u c h g e m a c h t w ä r e , h ö c h s t u n n a t ü r l i c h e M e t h o d e , d a ß m a n aus d e m Z u s a m m e n h a n g e h e r a u s gerissene einzelne S c h r i f t s t e l l e n n i c h t e t w a n u r n a c h A u s w a h l und E r i n n e r u n g , s o n d e r n rein aufs O h n g e f ä h r in j e d e m religiöser E r r e g u n g o d e r E r l e u c h t u n g bedürftigen M o -

25

m e n t g e b r a u c h t . Vertheidigen l ä ß t sich z w a r dieses n i c h t , weil es zu leicht in ein m a g i s c h e s frivoles Spiel a u s a r t e t , a b e r das B e s t r e b e n b e k u n d e t sich d a d u r c h den r e l i g i ö s e n M i t t h e i l u n g e n der heiligen M ä n n e r eine l e b e n d i g e W i r k s a m k e i t wied e r z u g e b e n , w e l c h e u n m i t t e l b a r sei u n d von ihren W i r k u n g e n als B u c h u n a b h ä n gig. — W a s a b e r u n s e r e E r b a u u n g s s c h r i f t e n b e t r i f f t , die d o c h g r ö ß t e n t h e i l s g a n z

30

e i g e n t l i c h als B ü c h e r e n t s t e h e n , s o l ä ß t sich freilich die g r o ß e W i r k s a m k e i t derselben n i c h t l ä u g n e n , die z a h l l o s e n A u f l a g e n , in d e n e n m a n c h e sich durch eine l a n g e R e i h e v o n G e n e r a t i o n e n f o r t p f l a n z e n , s p r e c h e n zu deutlich d a f ü r ; und w e r C 310

s o l l t e n i c h t v o n Ach|tung d u r c h d r u n g e n sein für W e r k e , die sich s o b e w ä h r e n , u n d die a u ß e r d e m a u c h soviel d a z u b e i t r a g e n , d a ß eine g r o ß e M e n g e M e n s c h e n

35

v o n d e m g e f ä h r l i c h e n W i r b e l w i n d w e c h s e l n d e r L e h r e n i c h t ergriffen wird. A b e r N i e m a n d w i r d d o c h w o l l ä u g n e n , d a ß das lebendige W o r t und die religiöse E r r e g u n g in einer G e m e i n e eine w e i t h ö h e r e K r a f t h a t als der g e s c h r i e b e n e B u c h s t a b e . J a bei g e n a u e r E r w ä g u n g w i r d m a n f i n d e n , d a ß die W i r k u n g ascetischer SW 358

S c h r i f t e n d o c h v o r n e h m l i c h d a r a u f b e r u h t , w e n i g e r d a ß sie als ein G a n z e s g e n a u

7 Unbestimmte] C: unbestimmte C: niemand 23—26 Anspielung

auf die „Losungen"

20 Niedergelegte] C: niedergelegte

der Herrnhuter

Brüdergemeine

37 Niemand]

40

Erläuterungen zur vierten Rede

5

10

15

20

25

30

35

219

g e f a ß t w e r d e n , als vielmehr d a ß sie eine M e n g e von k r ä f t i g e n u n d g r o ß a r t i g e n Formeln e n t h a l t e n , unter welche viele religiöse M o m e n t e k ö n n e n z u s a m m e n g e f a ß t w e r d e n , u n d also auch viele in der E r i n n e r u n g sich a u f f r i s c h e n . D a n n aber a u c h d a r a u f , d a ß sie eine Sicherheit f ü r die eigenen religiösen B e w e g u n g e n g e w ä h r e n , w e n n sie sich an jene a n l e h n e n , d a ß sie sich g e w i ß von d e m C h a r a k t e r des gem e i n s a m e n religiösen Lebens nicht e n t f e r n e n . D a h e r a u c h d a s individuelle Geistreiche in dieser G a t t u n g sich selten so g r o ß e r E r f o l g e zu e r f r e u e n h a t . Dieses gute Z e u g n i ß indeß sei n u r t ü c h t i g e n u n d u m f a s s e n d e n ascetischen Werken gegeben. D a s jezige Bestreben a b e r so vieler w o h l m e i n e n d e r Gesellschaften eine M e n g e von kleinen religiösen Flugblättern u n t e r das Volk zu v e r b r e i t e n , die g a r keinen recht objectiven C h a r a k t e r h a b e n , s o n d e r n die subjectivsten innern E r f a h rungen in d e m t o d t e n B u c h s t a b e n einer w e d e r s c h r i f t m ä ß i g e n n o c h k i r c h m ä ß i gen Terminologie mittheilen w o l l e n , b e r u h t auf einem tiefen M i ß v e r s t a n d , u n d w i r d schwerlich a n d e r e W i r k u n g e n h a b e n , als unser K i r c h e n w e s e n , dessen Schlechtigkeit es eben v o r a u s s e z t , in n o c h tiefern Verfall zu b r i n g e n , u n d w i r d eine M e n g e v o n M e n s c h e n erzeugen, welche sich vielerlei e r h e u c h e l n , o h n e d a ß wirklich e t w a s in ihnen vorginge, o d e r welche in t r a u r i g e V e r w i r r u n g gestürzt w e r d e n , weil d a s w a s wirklich in ihnen Religiöses v o r g e h e t an d a s M u s t e r | nicht 216 p a ß t , was ihnen v o r g e h a l t e n w i r d . Ist das ö f f e n t l i c h e kirchliche Leben k r a n k oder s c h w a c h , so t h u e ein J e d e r das Seinige d a z u es zu heilen, N i e m a n d a b e r glaube es d u r c h einen t o d t e n B u c h s t a b e n zu ersezen. D a ß d a s religiöse L e b e n aus den L e i h b i b l i o t h e k e n soll hervorgehen g e m a h n t m i c h g a n z dasselbe, als C311 w e n n die g r o ß e n A k t e der G e s e z g e b u n g u n d V e r w a l t u n g in z w a n g l o s e J o u r n a l e v e r w a n d e l t w e r d e n , von d e n e n m a n jedoch je m e h r H e f t e je lieber h a b e n m ö c h t e , u n d w o v o n die verbesserten A u f l a g e n wenigstens im einzelnen sich schnell g e n u g wiederholen. 2) S. 178. Vielleicht h a b e n viele von d e n e n , welche sonst den w o h l g e m e i n ten Wunsch h e g t e n , die leer u n d frivol g e w o r d e n e Geselligkeit d u r c h E i n m i schung des religiösen E l e m e n t s a u f s neue zu vergeistigen, s c h o n bei sich d e n Spruch a n g e w e n d e t , d a ß wir gar leicht mit der Z e i t dessen zu viel h a b e n , w a s wir uns f r ü h e r eifrig g e w ü n s c h t . D e n n Z e r r ü t t u n g u n d Unheil ist s c h o n g e n u g d a r a u s e n t s t a n d e n , d a ß religiöse G e g e n s t ä n d e auch in g l ä n z e n d e n Z i r k e l n in der F o r m der C o n v e r s a t i o n b e h a n d e l t w e r d e n , w o so g a r leicht das Persönliche ü b e r w i e gend wird. Ich schrieb d a m a l s aus der E r f a h r u n g meiner in der B r ü d e r g e m e i n e verlebten J u g e n d z e i t . D o r t giebt es b e s o n d e r e d a z u b e s t i m m t e Z u s a m m e n k ü n f t e , d a ß freies religiöses G e s p r ä c h d a r i n soll g e f ü h r t w e r d e n ; a b e r w e n n a u c h d o r t nicht leicht möglich w a r , d a ß a b w e s e n d e a n d e r s d e n k e n d e k o n n t e n b e s p r o c h e n

6 f Geistreiche] C: geistreiche 18 Religiöses] C: religiöses 27 178] C: 2 5 6 3 3 Persönliche] C: persönliche

2 0 N i e m a n d ] C: niemand

36 dort] C: dsrt

34f Schleiermacher besuchte 1783—1785 das Pädagogium in Niesky und 1785 — 1787 das Seminarium in Barby.

220

Über die Religion

w e r d e n , so h a b e ich d o c h nie e t w a s recht L e b h a f t e s o d e r Würdiges d a r a u s herv o r g e h n sehen, u n d ich glaube d e n allgemeinen G r u n d d a v o n hier richtig g e f a ß t zu h a b e n . J e n e r W u n s c h sollte also d a h i n modifizirt w e r d e n , d a ß auch in unserer freien Geselligkeit nicht sowol religiöse G e g e n s t ä n d e b e h a n d e l t w e r d e n , welches besser n u r beiläufig u n d im Vorbeigehn geschieht, s o n d e r n d a ß d a r i n ein religioSW 359 ser Geist w a l t e , welches gewiß nicht fehlen w i r d , sobald ein b e d e u t e n d e r Theil d e r Gesellschaft aus religiösen M e n s c h e n besteht. 3) S. 179. Ein g r ö ß e r e r A b s t a n d ist schwerlich zu d e n k e n als der zwischen dieser Beschreibung, und d e m w a s ich selbst in einer n u n b e i n a h e dreißigjährigen A m t s f ü h r u n g — e i n e m Z e i t r a u m b i n n e n dessen d o c h J e d e r m u ß seinem Ideale so n a h e k o m m e n k ö n n e n als er ü b e r h a u p t v e r m a g — auf d e m Gebiet der religiösen R e d e geleistet h a b e . Wäre n u n wirklich T h e o r i e u n d Praxis so weit aus einanC 312 d e r : so | bliebe w o l wenig m e h r zu meiner E n t s c h u l d i g u n g zu sagen übrig, als d a ß , wie d e m S o k r a t e s die übrige Weisheit versagt w o r d e n u n d nur dies eine verliehen, zu wissen d a ß er nichts wisse, so sei a u c h mir jene h ö h e r e Beredsamkeit nicht verliehen, s o n d e r n n u r soviel, d a ß ich mich lieber mit schlichter Rede b e g n ü g e als n a c h u n ä c h t e m S c h m u k strebe. Aber es ist d o c h nicht ganz so, sond e r n meine A u s ü b u n g ist a u c h in d e m Unterschied b e g r ü n d e t , der in derselben R e d e weiter u n t e n auseinandergesezt w i r d , u n d v o n d e m auch hier noch die 217 R e d e sein m u ß zwischen der kirchlichen Gesellschaft wie sie unter | uns besteht, u n d d e m w a s ich in dieser R e d e die w a h r e Kirche n e n n e . D e n n die Vorträge in jener h a b e n i m m e r , ihr Inhalt sei welcher er wolle, zugleich einen didaktischen C h a r a k t e r , weil d e r Redner d o c h seinen Z u h ö r e r n z u m Bewußtsein bringen soll, w a s er z w a r in ihnen voraussezt, zugleich a b e r a u c h , d a ß es sich nicht von selbst so in ihnen w ü r d e e n t w i k k e l t h a b e n . D e r d i d a k t i s c h e C h a r a k t e r aber verträgt n u n je m e h r er h e r v o r t r i t t d e s t o weniger S c h m u k ; u n d so r u h t d o r t u n v e r k e n n b a r Seegen auch auf der s c h m u k l o s e n Rede. U n d dasselbe b e w ä h r t sich auch auf d e m Gebiet a n d e r e r religiöser Kunst. D e n n d e n k e n wir uns die f r o m m e D i c h t u n g in aller der K r a f t u n d Herrlichkeit, welche sich eignet zur Verherrlichung G o t t e s in einem Kreise ganz durchgebildeter religiöser M e n s c h e n , wie wir dieses Herrlichen viel h a b e n in den Gesängen unsers Klopstock u n d unsers H a r d e n b e r g : so w i r d d o c h N i e m a n d e m einfallen, d a ß m a n denselben M a a ß s t a b anlegen d ü r f e bei der S a m m l u n g eines kirchlichen Liederbuchs. 4) E b e n d . K a u m ist wol n ö t h i g , d a ß ich m i c h hier gegen die M i ß d e u t u n g v e r w a h r e , als wolle ich alle O r d n u n g ü b e r h a u p t v e r b a n n e n aus der Versamml u n g der w a h r h a f t F r o m m e n , u n d sie denen m a n c h e r f a n a t i s c h e n Sekte ähnlich

1 Lebhaftes oder Würdiges] C: lebhaftes oder würdiges C: 257 32 Niemandem] C: niemanden

4 sowol] C: so wol

8 179]

37 so wol] C: so wo 9f Schleiermacher wurde 1794 Hilfsprediger in Landsberg an der Warthe. 14 f Vgl. Piaton: Apologie 20c—22e, besonders 21d, Opera 1,46—52, besonders 49f; Werke 2,10-16, besonders 14 19 Vgl. 193,10-197,4 21 Vgl. z. B. 192,14; 197,7

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Erläuterungen

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zur vierten

Rede

221

machen, welche nichts voraus bedenken für ihre Zusammenkünfte sondern Alles dem Augenblik überlassen. Im Gegentheil je größer der Styl der religiösen Mittheilung ist, je mehr sie also ein kunstreich gegliedertes Ganze darstellt, um desto mehr bedarf sie einer strengen Ordnung. Sondern nur davon ist die Rede, daß Alles was zur bürgerlichen Ord|nung gehört ganz herausgelassen werde und sich hier Alles nur auf die Grundlage einer ursprünglichen allgemeinen Gleichheit gestalten könne; aber dies kann man auch unmöglich strenger fassen als es hier gemeint ist, denn ich halte es für die unnachläßliche Bedingung alles Gedeihens einer solchen Gemeinschaft nicht minder der wirklich bestehenden als der hier ideal dargestellten. So wie Unordnung jede Gemeinschaft verdirbt, so auch muß jede verdorben werden durch eine Ordnung die für eine andre gemacht ist, denn die ist für sie auch Unordnung. Wenn nun schon der Gegensaz zwischen Priester und Laien nicht scharf gefaßt sein darf: wieviel weniger noch darf man unter den Laien selbst einen Unterschied geltend machen der einem ganz andern Gebiet gehört. Wenn ein Mitglied der Gemeine, und mag es auch äußerlich in irgend einem schuzherrlichen Verhältniß gegen dieselbe stehen, deshalb weil es in der bürgerlichen Gesellschaft ausgezeichnet ist, ein Recht glaubt zu haben sich in die Anordnung der Gemeinschaft, in die Einrichtung ihrer Zusammenkünfte zu mischen und priesterlich zu fungiren: so würde jedem andern Mitglied, und stehe es in der bürgerlichen Gesellschaft auch noch so niedrig, dasselbe Recht zukommen, und die wahre und angemessene Ordnung der Gesellschaft völlig aufgehoben sein. 5) S. 181. Jeder schriftkundige Leser wird hiebei an den | Apostel Petrus denken, welcher die Christen insgesammt vermahnt, sich zu erbauen zum heiligen Priesterthum, und ihnen insgesamt das Zeugniß giebt, sie seien ein königliches Priesterthum. Es ist also dieses ein echt christlicher Ausdruk, und sonach auch die hier vorgetragene Ansicht von der Gleichheit aller wahren Mitglieder der religiösen Gemeinschaft, so daß keiner blos darauf beschränkt sein müßte empfangend zu sein, und das Mittheilen nicht das ausschließliche Vorrecht Einiger sei, ist eine ächt christliche Ansicht, wie denn auch das Christenthum sein Ziel erkannt hat in jenem prophetischen Ausspruch, daß alle sollten von Gott gelehrt sein. Denken wir uns nun dieses Ziel erreicht und an demselben die Gemeinschaft abgeschlossen, so daß nicht mehr die Rede davon ist, die Religion in Andern zu erwekken, und auch von dem Heranwachsen der Jugend in dieser Beziehung abgesehen wird: | so ist dann kein andrer Unterschied mehr übrig als

l f Alles dem Augenblick] C: alles dem Augenblik 5 f Alles ... Alles] C: alles ... alles 23 181] C: 2 6 0 25 ihnen insgesamt] C: ihnen ins gesamt 3 1 prophetischen] C: profetischen 33 ist,] C: ist 12 nun] C: um

15—19 Anspielung vermutlich auf die kirchenpolitischen Bemühungen des Königs Friedrich Wilhelm III. 24 f Vgl. 1 Petr 2,5 25 f Vgl. 1 Petr 2,9 Joh 6,45 mit Bezug auf Jer 31,34

preußischen 31 f Vgl.

C 313

SW 360

218

C 314

222

Über die Religion

der vorübergehende, der sich auf die jedesmalige Verrichtung bezieht. Wenn wir also in allen Religionsformen vom frühesten Alterthume her den Gegensaz zwischen Priestern und Laien eingerichtet und feststehend finden, was bleibt anders übrig als anzunehmen, daß hiebei entweder eine ursprüngliche Verschiedenheit stattgefunden, und ein religiös gebildeter S t a m m sich mit einem rohen verbunden habe, o h n e daß ihm je gelungen sei diesen zu der ihm selbst eigenen Fülle des religiösen Lebens zu erheben, welche dann unter den Priestern selbst in ihren Mysterien und ihrem öffentlichen Leben müßte zu finden sein. O d e r es müßte sich das religiöse Leben in einem Volk so ungleich entwikkelt h a b e n , daß es nothwendig geworden, damit es sich nicht ganz wieder zerstreue diejenigen in denen es stärker hervorgetreten, besonders zu organisiren, um ihrer Einwirkung auf die übrigen mehr Kraft zu geben; aber dann m u ß doch diese Einrichtung um desto gewisser mit der Z e i t überflüssig werden je v o l l k o m m n e r sie ist. D a s christliche Priesterthum im engeren Sinne des Wortes — über dessen G e b r a u c h ich mich nicht erst rechtfertige, da wir in der protestantischen Gemeinschaft v o l l k o m m e n darüber einverstanden sind, inwiefern der Ausdruk im Christent h u m überhaupt keine Gültigkeit haben k ö n n e — ist o f f e n b a r nur von der lezteren Art, und das Bedürfniß danach hat sich erst allmählig fühlbar gemacht; welches ja um so deutlicher ist, als anfänglich selbst der apostolische C h a r a k t e r keinen bestimmten Vorzug in der Gesellschaft begründete. Es b e k o m m t aber SW 361 dieser engere Ausschuß der G e m e i n s c h a f t noch eine besondere von der religiösen Begeisterung der übrigen unabhängige H a l t u n g dadurch, daß die G e s c h i c h t e des Christenthums und namentlich die genauere Kenntniß des Urchristenthums nothwendig ein wissenschaftlicher Gegenstand werden m u ß t e , und an dieser wissenschaftlichen Kunde nothwendig alle die einen gewissen Antheil haben müssen, deren religiöse Mittheilungen in einer bewußten Uebereinstimmung mit der Ge219 schichte | sein sollen. G a n z verschwinden also k ö n n t e dieser Unterschied nur, C 315 wenn allen Christen diese Wissenschaft zugänglich wäre; | ist nun dies auch nicht zu erwarten, so m u ß sich doch die Gültigkeit desselben immer mehr auf dieses G e b i e t b e s c h r ä n k e n , in welchem er zulezt allein begründet bleiben kann.

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10

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6) S. 1 8 2 . D i e hier aufgestellte Behauptung, zufolge welcher Behauptung weiter unten auch an die äußere Religionsgesellschaft die Forderung gemacht wird, soviel möglich eine fließende M a s s e zu werden, diese Behauptung, d a ß es keine gänzliche Absonderungen und bestimmte Grenzen in der religiösen M i t theilung gebe anders als durch ein mechanisches, d. h. ein in gewissem Sinne willkührliches und in der Natur der Sache selbst nicht begründetes Verfahren, scheint im Widerspruch zu stehen mit dem was ich in der Einleitung zur Glaubenslehre § . 7 — 1 0 . ausführlich entwikkelt habe. Und nicht etwa k ö n n t e man sagen, dort sei doch eigentlich die Gemeinschaft nur die Nebensache und die

35

31 182] C: 261

40

38 7 - 1 0 ] C: 1 2 - 1 7

32 Vgl. 210,19-211,33, KGA 1/7,1,40-60

besonders 211,26f

3 7 f CG2 1,42-73

40 CG1

1,48-79;

Erläuterungen

zur vierten

Rede

223

H a u p t a b s i c h t g e h e v i e l m e h r d a r a u f , d a s E i g e n t h ü m l i c h e der v e r s c h i e d e n e n G l a u b e n s w e i s e n i h r e m I n h a l t e n a c h und b e s o n d e r s des C h r i s t e n t h u m e s a u f z u f i n d e n . D e n n eben zu d i e s e m B e h u f m u ß t e a u f die c h r i s t l i c h e K i r c h e als eine b e s t i m m t b e g r e n z t e G e m e i n s c h a f t z u r ü k g e g a n g e n w e r d e n . D i e A u s g l e i c h u n g b e s t e h t viel5

m e h r in F o l g e n d e m . A u f der einen Seite w i r d a u c h hier z u g e g e b e n , d a ß g e w i s s e M a s s e n von G e m e i n s c h a f t sich o r g a n i s c h b i l d e n , w e l c h e s m i t der d o r t i g e n B e h a u p t u n g z u s a m m e n t r i f f t , d a ß j e d e r b e g r e n z t e n G e m e i n s c h a f t ein

besonderer

g e s c h i c h t l i c h e r A n f a n g s p u n k t z u m G r u n d e liege, der e b e n d e r H e r r der o r g a n i schen E n t w i k l u n g ist. W ä r e d u r c h diese A n f a n g s p u n k t e n i c h t zugleich e i n e in10

nere V e r s c h i e d e n h e i t gesezt: so w ä r e n diese M a s s e n nur n u m e r i s c h v e r s c h i e d e n , und e t w a an G r ö ß e und s o l c h e r A r t von T r e f l i c h k e i t , die v o n der B e g ü n s t i g u n g ä u ß e r e r U m s t ä n d e a b h ä n g t , w i e F r ü c h t e eines S t a m m e s . S t i e ß e n sie a b e r in ihren G r e n z e n z u s a m m e n : s o w ä r e d a n n n a t ü r l i c h d a ß sie z u s a m m e n w ü c h s e n ,

und

d a n n nur m e c h a n i s c h k ö n n t e n w i e d e r getheilt w e r d e n , w i e es a u c h m i t s o l c h e n 15

F r ü c h t e n b i s w e i l e n g e h t . A u f der a n d e r e n S e i t e w i r d d o r t e i n e i n n e r e V e r s c h i e denheit in den G l a u b e n s w e i s e n , d u r c h w e l c h e z u g l e i c h die G e m e i n s c h a f t e n get r e n n t w e r d e n , b e h a u p t e t , a b e r d o c h n u r e i n e V e r s c h i e d e n h e i t in der U n t e r o r d n u n g I und g e g e n s e i t i g e n B e z i e h u n g der e i n z e l n e n T h e i l e , u n d diese s c h l i e ß t einen

C 316

s o l c h e n g e r i n g e n G r a d v o n G e m e i n s c h a f t , wie h i e r als a l l g e m e i n d a r g e s t e l l t w i r d , 20

n i c h t aus. D e n n w e n n es n i c h t m ö g l i c h w ä r e v o n e i n e r G l a u b e n s w e i s e aus die a n d e r n zu v e r s t e h e n : s o w ä r e der g a n z e d o r t g e m a c h t e V e r s u c h eitel. V e r s t e h t m a n sie a b e r in i h r e m innern W e s e n : so m u ß es a u c h m ö g l i c h sein ihre A e u ß e rungsweisen a l s o ihre G o t t e s d i e n s t e n i c h t n u r als Z u s c h a u e r zu v e r s t e h e n , s o n dern auch sie sich in g e w i s s e m M a a ß e a n z u e i g n e n , u n d die dies n i c h t k ö n n e n ,

25

w a s hier | b e h a u p t e t w i r d , d a ß der A b s o n d e r u n g s t r i e b , w e n n er a u f s t r e n g e S c h e i d u n g a u s g e h t , ein B e w e i s der U n v o l l k o m m e n h e i t sei. D a nun die U n g e b i l d e ten d o c h n i c h t für sich allein, s o n d e r n nur m i t den G e b i l d e t e n z u s a m m e n die G e m e i n s c h a f t b i l d e n : s o l ä ß t sich m i t den d o r t i g e n B e h a u p t u n g e n a u c h diese 30

vereinigen, d a ß die religiöse G e m e i n s c h a f t z w a r in sich g e s o n d e r t und g e g l i e d e r t , a b e r d o c h in a n d e r e r H i n s i c h t w i e d e r nur E i n e sei, w e n n n i c h t m e c h a n i s c h , sei es nun mit d e m S c h w e r t o d e r m i t d e m B u c h s t a b e n , d a z w i s c h e n g e f a h r e n w i r d . O d e r s c h e i n t es uns n i c h t g e w a l t s a m und irreligiös, w e n n den M i t g l i e d e r n e i n e r religiösen G e m e i n s c h a f t u n t e r s a g t w i r d den G o t t e s d i e n s t e i n e r a n d e r n in d e r

35

A b s i c h t der E r b a u u n g zu b e s u c h e n ? und nur d u r c h ein s o l c h e s V e r f a h r e n , a l s o völlig m e c h a n i s c h w ü r d e n die G e m e i n s c h a f t e n g ä n z l i c h g e t r e n n t w e r d e n . 7) S. 1 8 3 . E s w ü r d e allerdings verdienstlich sein n a c h z u w e i s e n , d a ß die w i l d e und a l s o dieser B e s c h a f f e n h e i t wegen t a d e l n s w e r t h e B e k e h r u n g s s u c h t nirgend in der R e l i g i o n selbst g e g r ü n d e t sei; allein es s c h e i n t h i e r zuviel zu g e s c h e -

40

SW 362

werden nur in j e d e r G e m e i n s c h a f t die U n g e b i l d e t e n sein. U n d dies ist d a s s e l b e

h e n , indem a u c h das m i l d e B e k e h r e n , jedes H i n ü b e r z i e h e n w o l l e n A n d e r e r v o n einer f r e m d e n F o r m in die eigene und jedes E i n p f l a n z e n w o l l e n der R e l i g i o n in n o c h u n f r o m m e G e m ü t h e r w e g g e l ä u g n e t w e r d e n soll. E s s c h e i n t s o n a c h , als solle

1 Eigenthümliche] C: eigenthümliche 5 Folgendem] C: folgendem C: zusammen trifft 32 Schwert] C: Schwerdt 37 183] C: 263

7 zusammentrifft]

220

224

C 317

221

SW 363

C 318

Über die Religion

gegen das Zeugniß der ganzen Geschichte, ja gegen die klaren Worte des Stifters selbst nicht minder als gegen das was auch ich in der Glaubenslehre über das Verhältniß des Christenthums zu andern Religionsformen ge|sagt habe, behauptet werden, die Verbreitung des Christenthums in der Welt sei nicht von dem christlich frommen Sinne selbst ausgegangen. Dieses unläugbare Bestreben aber hängt doch immer auch irgendwie zusammen mit der hier gleichfalls ganz allgemein verworfenen Vorstellung, daß das Heil entweder überhaupt, oder doch ein gewisser höherer Grad desselben, nicht eben so außer einer bestimmten Religionsgemeinschaft zu finden sei als innerhalb derselben. Also auch in dieser Hinsicht scheint hier Wahres und Falsches nicht gehörig geschieden. Wenn also, wie die Darstellung doch annimmt, die hier vorgetragene Behauptung von gänzlicher Unzuläßlichkeit des Bekehrungsgeschäfts aus der vorangegangenen Theorie der religiösen Gemeinschaft richtig folgt, so müßte der Fehler doch in dieser gesucht werden. Allein das genauere Zurükgehen auf diese Theorie und die richtige Benuzung dessen, was unten zugegeben wird, daß das Verbreiten der eigenen Religionsform doch ein natürliches und auch zulässiges Privatgeschäft des Einzelnen sei, wird wol auch hier die Schwierigkeiten lösen. Wenn es nur Eine allgemeine religiöse Gemeinschaft im strengsten Sinne giebt, in welcher alle verschiedenen Religionsformen sich gegenseitig anerkennen und anschauen, und also hier auf Zerstörung der Mannigfaltigkeit ausgehn und das G a n z e verringern zu wollen scheint, wer die Genossen Einer Form in eine | andere hinüberführt: so ist doch offenbar, daß auch hier Manches sich von selbst zerstört, was nur auf untergeordneten Bildungsstufen bestehen kann, und also auch von dem Kundigen nur als Durchgangspunkt angeschaut wird; und so kann es denn nichts Unrechtes sein diesen Prozeß beschleunigen und leiten zu wollen. J e m e h r also die Bekenner der einen Glaubensweise genöthiget sind manche andere nur als solche Durchgänge zu betrachten, um desto kräftiger wird sich unter ihnen das Bekehrungsgeschäft organisiren. Und fragt man, in welcher dann am meisten mit Recht und in Beziehung auf welche andere dieses Gefühl sein kann: so wird es zunächst im Allgemeinen den monotheistischen Religionen beigelegt werden können, in dem ausgedehntesten Sinne aber auch von dem gegenwärtigen | Standpunkt dem Christenthume, wie auch in der Glaubenslehre nur in Folge eines wissenschaftlicheren Gedankenganges dasselbe ist ausgeführt worden. Immer aber sezt das Bekehrungsgeschäft eben die eine eingetheilte Gemeinschaft voraus, auf welche hier immer zurükgegangen wird. Denn wie es Paulus machte in Athen, daß er die hellenischen Gottesdienste beschaute um eine Schäzung anzulegen und einen

10 Wahres und Falsches] C: wahres und falsches 20 ausgehn] C: auszugehn 22 Manches] C: manches 23 Bildungsstufen] C: Bildungsstuffen 24 Unrechtes] C: unrechtes 30 Allgemeinen] C: allgemeinen 30 monotheistischen] C: monetheistischeu D: monetheistischen 1 Vgl. Mt 28,19 f 2 Vgl. CG2 §§8-12 3 5 - 1 Vgl. Apg 17,23

15 Vgl. 210,30-32

32 Vgl. CG2

1,47-55

5

10

15

20

25

30

35

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

zur vierten

Rede

225

Anknüpfungspunkt zu gewinnen für die Mittheilung seiner eigenen F r ö m m i g k e i t : so muß es i m m e r geschehen, und hierin liegt schon jene G e m e i n s c h a f t zweier Religionsformen, die also auf allen Punkten entsteht, wo sich ein solches assimilirendes Bestreben entwikkelt. Und man kann wol füglich sagen, d a ß dieses der wahre Unterschied sei zwischen dem löblichen Bekehrungseifer, der nur eine Reinigung und Heraufbildung der schon begonnenen und auch in den leisesten Spuren doch anerkannten Frömmigkeit sein will, und jener wilden immer irreligiösen Bekehrungssucht, welche eben so leicht in Verfolgung ausarten k a n n , d a ß nämlich jene mit dem unbefangenen und liebevollen Auffassen auch der unvollkommensten G l a u b e n s w e i s e anfängt, diese aber sich dessen überheben zu k ö n nen glaubt. Nehmen wir nun noch dazu, daß das nicht ängstlich genau zu nehmen ist, d a ß das Bekehren nur ein Privatgeschäft Einzelner sein k ö n n e , sondern daß hier die Einzelnen nur der alles umfassenden G e m e i n s c h a f t gegenüber stehn: so folgt d a ß auch Verbindungen von Einzelnen ja ganze Glaubensweisen für Einzelne zu halten sind. — Was aber den Wahlspruch nulla salus betrifft, so hat er für die g r o ß e G e m e i n s c h a f t der F r o m m e n eine absolute Wahrheit, weil sie ohne alle Frömmigkeit kein Heil anerkennen k a n n ; aber nur in wiefern eine Religionsparthei ihn gegen die andere ausspricht, hat er zerstörend gewirkt, also nur sofern eine allgemeine G e m e i n s c h a f t geläugnet wird, und so hängt er freilich mit der wilden Bekehrungssucht zusammen. Von der besondern Wahrheit desselben im Christenthume wird übereinstimmend mit diesen Ansichten in der G l a u benslehre gehandelt. 8) S. 1 8 6 . D i e in allen großen Religionsformen unter den | verschiedensten 222 Gestalten und zu allen Z e i t e n , | wenn auch nicht immer gleich lebendig v o r k o m C319 mende Neigung, in der großen Gesellschaft kleinere und innigere zu bilden, geht unläugbar überall von der Voraussezung aus, d a ß die große Gesellschaft in einen tiefen Verfall gerathen sei. Dieselbe spricht sich in dem Separatismus aus, welcher sich im G a n z e n zwar zu einer bestimmten Religionslehre b e k e n n t , aber indem er mit den Ordnungen der Religionsgesellschaft nichts zu schaffen haben will, offenbar behaupten m u ß , daß die Ordnungen einer Gesellschaft u n a b h ä n gig seien von ihrer Lehre also durch etwas Fremdes bestimmt, und daher der religiöse gesellschaftliche Z u s t a n d ein Krankheitszustand der Mitglieder. N a c h dem was oben gesagt ist, wie die Frömmigkeit ihrer N a t u r nach gesellig sei, wird SW 364 Niemand glauben, es solle hier der separatistischen F r ö m m i g k e i t das W o r t geredet werden, wol aber jenen andern Versuchen engere Verbindungen zu stiften, welche der Idee der wahren Kirche näher k o m m e n . A b e r diesen R u h m verdienen sie nur dann, wenn sie eine reiche Produktivität in der religiösen M i t t h e i l u n g entfalten, und nicht, indem sie sich auf einen eng abgeschlossenen B u c h s t a b e n gründen, die Idee einer alles umfassenden G e m e i n s c h a f t vielmehr aufheben. Ist

23 186] C: 268

31 Fremdes] C: fremdes

34 Niemand] C: niemand

3 f solches assimilirendes] C: solchesassimilirendes 15 Vgl. Anm. zu 190,13

21 f Vgl. CG2 § 113,3, Bd. 2,257

33 Vgl.

182,31-33

Über die Religion

226

nun eine solche Anschließung gesezt, und d a b e i die P r o d u k t i v i t ä t s c h w a c h o d e r g a n z fehlend, so ist d a s K r a n k h a f t e nicht zu verkennen. D a h e r unter allen ähnlichen die B r ü d e r g e m e i n e immer sehr hervorragt, welche wenigstens eine eigenthümliche G e s t a l t u n g religiöser Poesie h e r v o r g e b r a c h t h a t . A u c h die religiöse R e d e hat d o r t ein viel weiteres u n d m a n n i g f a l t i g e r e s G e b i e t , indem außer der allgemeinen V e r s a m m l u n g die G e m e i n e sich wieder vielfältig theilt, eine sehr schöne A n l a g e ist d a h e r auch in dieser Beziehung nicht zu verkennen; und wenn die E n t f a l t u n g weniger reich ist, so m a g wol M a n g e l an Pflege des Talents Schuld d a r a n sein. A u c h in der andern Hinsicht hat diese G e m e i n e eine reine und löbliche R i c h t u n g d a d u r c h gezeigt, d a ß sie für sich diejenige Abschließung des Buchs t a b e n s a u f h o b , welche die beiden H a u p t z w e i g e der protestantischen Kirche sonderte, so wie d a d u r c h , d a ß sie zu d e m G a n z e n dieser K i r c h e in den mannigfaltigsten Verhältnissen steht wie die U m s t ä n d e es j e d e s m a l mit sich bringen. S o wie C 320 sie auch | in ihren M i s s i o n s b e m ü h u n g e n , denen m a n den Preis vor allen andern w o l unbedenklich zugestehen muß, einen reinen und richtigen T a k t b e w ä h r t , u n d eine glükliche Leichtigkeit a u c h an die u n v o l l k o m m e n s t e n Religionszus t ä n d e a n z u k n ü p f e n , u n d die E m p f ä n g l i c h k e i t für den h o h e n Geist des Christent h u m s zu e r w e k k e n . Wo nun der Sinn für solche engere Vereine e r w a c h t ist, d a ist wol a u c h die G e r i n g s c h ä z u n g der öffentlichen Kirche in ihrem dermaligen Z u s t a n d e natürlich; a b e r indem diese G e r i n g s c h ä z u n g hier allen in einem höhern Sinne religiösen M e n s c h e n zugeschrieben wird, s o liegt w o l eben so nahe, d a ß 223 hiervon die B e m ü h u n g ausgeht die | g r o ß e äußere G e s e l l s c h a f t selbst in einen bessern Z u s t a n d zu versezen und ihrer natürlichen Verbindung mit der w a h r e n Kirche näher zu bringen. 9) S. 187. D i e s e Schilderung m a g wol der G e s t a l t , welche unsere gottesdienstlichen V e r s a m m l u n g e n im G r o ß e n betrachtet d a m a l s zeigten, g a n z angemessen sein, und auf jeden Fall ist sie a u s d e m unmittelbaren E i n d r u k hergenommen. Allein die F o l g e r u n g , daß d e s h a l b d a s Prinzip der Geselligkeit in diesen V e r s a m m l u n g e n ein g a n z anderes sei, als d a s eben entwikkelte, ist wol nicht schlechthin z u z u g e b e n , sondern nur unter folgenden E i n s c h r ä n k u n g e n . Weiter unten nämlich S. 2 0 9 f. wird den Mitgliedern der w a h r e n Kirche, welche in der äußern Religionsgesellschaft wegen der hergebrachten E r f o r d e r n i s s e nicht selbstthätig und priesterlich auftreten k ö n n e n , der häusliche G o t t e s d i e n s t angewiesen u m d o r t ihren Mittheilungstrieb zu befriedigen. Sind nun in der äußern Kircheng e m e i n s c h a f t solche, welche dieser A n w e i s u n g Folge zu leisten v e r m ö g e n : so können diese troz des äußern Anscheins d o c h in den kirchlichen V e r s a m m l u n g e n u n m ö g l i c h blos leidentlich und e m p f a n g e n d sein, s o n d e r n sie sind auch gleich SW 365 weiter verarbeitend in Beziehung auf jene S p h ä r e der Mittheilung. Diese T h ä t i g -

2 Krankhafte] C: krankhafte C: 269 31 209 f.] C: 302

16 unvollkommensten] C: unvollkommsten

38 Mittheilung. Diese] so DV von C; OD von C: Mittheilung, und diese 31 Hier

213,24-214,12

25 187]

5

10

15

20

25

30

35

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

zur vierten

Rede

III

keit ist dann doch wirklich in der Versammlung selbst, und wenn wir uns diese und die häuslichen Gottesdienste, welche ihr assimilirt sind, als Eines denken: so erscheint dann die ganze größere Versammlung als ein thätiger O r g a n i s m u s . J a jene T h ä t i g k e i t wird auch in | der Versammlung w i r k s a m sein, wenn mehrere Familien unter einander in f r o m m e m Sinn verbunden sind und wenn der, welcher die Versammlung leitet, diese innere Produktivität ihrer Mitglieder kennt und vor Augen hat. Also nur w o sich auch im häuslichen Leben und im geselligen Familienleben keine religiöse Mittheilung e n t w i k k e l t , wie d a m a l s w o l freilich wenig davon zu merken w a r in unsern vaterländischen G e g e n d e n , ist die Folgerung richtig was diesen Punkt betrifft. A u ß e r d e m ist a b e r n o c h zu bedenken, d a ß eben weil die religiöse Mittheilung ihrer N a t u r nach Kunst wird und also nicht durch die S t ä r k e der F r ö m m i g k e i t allein bedingt ist, sondern zugleich durch die Kunstfertigkeit, hieraus schon die Unmöglichkeit einer völlig gleichen G e g e n seitigkeit in der Mittheilung hervorgeht. Wenn wir nun g r o ß e Darstellungen in irgend einem Kunstgebiete vergleichen, und erwägen wie in der T o n k u n s t nicht nur der Tonsezer dazu gehört sondern auch der ausübende Künstler von dem Meister auf dem herrschenden Instrument bis zu dem untergeordneten Begleiter h i n a b , und außerdem auch n o c h der Verfertiger der musikalischen Instrumente, und wie auch die Z u h ö r e r , wenn sie nur Kenner sind, keineswegs blos e m p f a n gen, sondern auch innerlich jeder auf seine Art verarbeiten: so werden wir gestehen müssen, d a ß auch in den kirchlichen Versammlungen | die g r ö ß t e M e h r z a h l nur aus begleitenden Künstlern bestehn k a n n , und d e n n o c h alle auf gewisse Weise zur Darstellung des G a n z e n mitwirken. Also nur w o eine solche M i t w i r kung gänzlich fehlt, und entweder die A n d a c h t blos einsaugend ist, oder nur ein profaner Kunstsinn ohne religiösen Geist mitsprechen und m i t w i r k e n will, nur da ist jene Einseitigkeit völlig ausgesprochen.

C 321

224

10) S. 1 8 9 . Wenn das hier Gesagte ganz scharf g e n o m m e n wird: so w ä r e das Resultat freilich dieses, d a ß die äußere K i r c h e nur bestehe durch ihre eigne Nichtigkeit, nämlich nur dadurch, daß sie unfähig ist das religiöse Gefühl bis a u f einen gewissen G r a d der Lebendigkeit zu erwekken oder zu steigern. D a ß dies aber nicht streng g e n o m m e n werden soll, geht schon daraus hervor, weil sonst | auch das kalt und stolz sich zurükziehen m ü ß t e gelobt werden im Widerspruch C 322 mit dem o b e n Eingestandenen, daß nämlich diese g r o ß e Religionsgesellschaft keinesweges solle aufgelöset werden. Es ist aber natürlich, d a ß es hier wie in allen ähnlichen menschlichen Dingen Abstufungen giebt, welche in der ursprünglichen Beschaffenheit der einzelnen M e n s c h e n selbst begründet sind; und grade die von verschiedenen Abstufungen sind einander von der N a t u r zugewiesen. Aber mehr den äußern Anschein wiedergebend als das Wesen der S a c h e

19 keineswegs] C; keinesweges denen] C: eingestandenen 5 frommem] D: frommen 33 Vgl.

197,10-12

27 189 ... Gesagte] C: 271...

gesagte

33 Eingestan-

Über die

228

Religion

erschöpfend ist die Darstellung, als wenn die einen nur von den andern afficirt würden, und als ob es möglich wäre, daß auf diese Weise, wenn der Prozeß nur weit genug gedeihen könnte, einer dem andern die Religion einpflanzen könne. Sondern sie ist ursprünglich in Jedem, und regt sich auch in Jedem. Nur daß sie SW 366 in Einigen mit der ganzen Eigenthümlichkeit der Person gleichsam verwächst, so daß in jeder Manifestation des frommen Bewußtseins diese sich mit darstellt; in Andern aber ist sie nur unter der Form des Gemeingefühls, und zwar nicht nur in solchen welche überhaupt weniger eigenthümlich erscheinen, sondern auch sehr eigenthümlich gebildete Menschen giebt es, in deren religiösen Erregungen sich dies doch weniger zeigt. In diesen also sind auch die religiösen Erregungen an gemeinsame Zustände gebunden, und sie finden in der gemeinsamen Darstellung ihre Befriedigung. Wenn aber nun von diesen gemeinsamen Darstellungen diejenigen, die eigenthümlicher erregt sind, sich zurükziehen wollten: so würde auch der Schade beide Theile treffen. Denn was aus den gemeinsamen Darstellungen wird, wenn sie nicht von eigenthümlichen Erregungen befruchtet werden, das sehen wir an solchen kirchlichen Gesellschaften, in welchen die Eigenthümlichkeit überhaupt zurüktritt und Alles auf feststehenden Formeln beruht, wie deshalb die armenische und griechische Kirche, wenn die leztere nicht jezt einen neuen Schwung gewinnt, ganz erstorben scheinen und nur mechanisch bewegt. Aber der Einzelne, wie kräftig und eigenthümlich auch sein Leben sei, wenn er aus der Gemeinheit scheidet, giebt auch den größten Umfang seines Bewußt-| 225; C 323 seins auf: und wenn doch | das, was ich hier die wahre Kirche genannt habe, in einer wirklichen Erscheinung nicht heraustreten kann, wie es denn so nirgend nachzuweisen ist: so bleibt ihm dann nichts übrig als das isolirte separatistische Dasein, welches aber auch aus Mangel an großer Circulation immer dürftiger wird. 11) Ebend. Da an dieser Stelle die in der ganzen Rede herrschende Ansicht am schneidendsten und gedrängtesten dargestellt ist, so wird sich auch an diese am besten anknüpfen, was außer dem bereits Bemerkten noch zur Erläuterung und Berichtigung derselben zu sagen ist. Es kommt nämlich Alles darauf an, daß das Verhältniß richtig dargestellt werde zwischen der vollkommnen gegenseitigen religiösen Mittheilung, welche ich hier als die wahre Kirche dargestellt, und der wirklich bestehenden religiösen Gemeinschaft. Wenn nun die leztere auch hier einer solchen besseren Gestaltung, wie sie unten S. 197 beschrieben ist, fähig anerkannt wird: so wollen wir diese voraussezen, und nun die Frage so stellen: „Giebt es alsdann außer dem priesterlichen Geschäft, welches in dieser bildenden Gesellschaft die vollkommen religiös Gebildeten üben sollen, für sie selbst unter

4 Jedem ... Jedem] C : jedem ... jedem 2 2 auf:] C: auf; 3 0 Alles] C: alles 3 1 vollkommnen] C: vollkomnen C: stellen, 37 Gebildeten] C: gebildeten 14 f Darstellungen wird,] C: Dastellungen, wird

34 Hier

202,6-15

2 9 Bemerkten] C: bemerkten 3 4 197] C: 283 35 stellen:]

3 4 197] Kj 196 f.

5

10

15

20

25

30

35

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

zur vierten

Rede

229

sich noch eine besondere Gemeinschaft, welche der aufgestellten Idee entspräche, und in welche dann nach Maaßgabe ihrer Fortschritte auch die Mitglieder der äußern Religionsgesellschaft übergehen könnten?" Wenn wir nun suchen wo doch diese Gesellschaft sein sollte, und zu der Voraussezung, daß die größten Meister auch die größten Darstellungen hervorbringen müssen, das schon oben auseinander gesezte hinzunehmen, daß nämlich zu diesen, wenn sie in die volle Wirklichkeit treten sollen, jeder Meister auch untergeordnete begleitende Künstler bedürfe, und eine würdige kennerische und im Genuß selbstthätige Zuhörerschaft, und hiebei bedenken, daß die größten Meister zu selten sind und zu zerstreut, als daß sie allein unter sich diesen zweifachen Kreis bilden könnten: was bleibt uns dann übrig, als zu sagen, daß in leiblicher und räumlicher Erscheinung eine solche Gesellschaft nirgend auf Erden zu finden sei; sondern das Beste SW 367 in unserer Gattung, was wirklich aufgezeigt werden könne, das sei jene bessere Gestaltung der bestehenden | Kirche, jene Gesellschaften wo ein künstlerischer C 324 Meister eine Anzahl ihm möglichst Gleichartiger, die aber durch ihn erst völliger belebt und gebildet werden sollen, um sich sammelt. Je mehr aber die Mitglieder derselben so weit sich entwikkeln, daß sie jenen doppelten Kreis bilden, um desto mehr gleicht eine solche Gemeinde in ihrem Zusammensein einer großen religiösen Darstellung. In dem Maaß nun, als diese unter einander in Verbindung gesezt werden können, in diesem Maaß giebt es auch zunächst und im vollen Sinne für diejenigen, welche die Seele einer solchen Darstellung sind, eine höhere Gemeinschaft jener Art, welche in einer gegenseitigen Mittheilung und Anschauung besteht; an welcher dann auch mittelbar die andern Glieder theilnehmen, soweit als ihnen gelingt sich | bis zur Möglichkeit eines solchen Genusses frem- 226 der Formen zu erheben. Realisirt werden kann also der hier aufgestellte Begriff der wahren Kirche nicht in einer einzelnen Erscheinung, sondern wie auch schon oben S. 183 angedeutet ist, nur in der weltbürgerlichen friedlichen Verbindung aller bestehenden und jede in ihrer Art möglichst vervollkommneten kirchlichen Gemeinschaften; welche Idee als zur Vollendung der menschlichen Natur gehörig in der Ethik näher entwikkelt werden muß. Zweierlei Einwendungen hingegen sind noch, aber leicht, zu beseitigen. Denn einmal könnte Jemand fragen, wie doch dieses stimme mit dem in der Glaubenslehre dem Christenthume beigelegten Beruf alle andern Glaubensweisen in sich aufzunehmen? denn wenn so Alles eins geworden sei, so bestehe nicht mehr jene weltbürgerliche Verbindung zur Mittheilung und Anschauung des verschiedenen. Allein es ist schon bevorwortet, daß alle natürlich bestehenden verschiedenen Eigenthümlichkeiten in dem Christenthum nicht verschwinden, sondern sich aus demselben seiner höhern Einheit unbeschadet, auf eine untergeordnete Weise wieder entwikkeln. Wie nun auch jezt das Christenthum keine äußere Einheit darstellt, sondern das Höchste,

12 Beste] C: beste 18 Gemeinde] C: Gemeine 27 183] C: 263 28 vervollkommneten] C: vervollkomneten 30 hingegen] C: hiegegen 31 Jemand] C: jemand 33 Alles] C: alles 39 Höchste] C: höchste 5 Vgl. 223,31-224,3

27 Hier 190,12-22

32 Vgl. CG2 §§ 8; 117,1;

121,3

Über die

230

Religion

w a s wir k ö n n e n zu sehen w ü n s c h e n , n i c h t s a n d e r s ist, als eine s o l c h e f r i e d l i c h e V e r b i n d u n g seiner v e r s c h i e d e n e n G e s t a l t u n g e n : s o h a b e n w i r auch k e i n e U r s a c h e C 325

zu g l a u b e n , | d a ß es j e m a l s eine ä u ß e r e E i n h e i t d a r s t e l l e n w e r d e , s o n d e r n a u c h d a n n w i r d es n u r eine s o l c h e w e l t b ü r g e r l i c h e V e r b i n d u n g sein. Z w e i t e n s a b e r k ö n n t e J e m a n d s a g e n , das w a s hier die w a h r e K i r c h e g e n a n n t w i r d , h a b e

5

allerdings s c h o n in einer einzelnen E r s c h e i n u n g w i r k l i c h b e s t a n d e n . D e n n wenn die A p o s t e l C h r i s t i sich zerstreut h ä t t e n u m in den H ä u s e r n und in den S c h u l e n das E v a n g e l i u m zu predigen und das B r o d zu b r e c h e n , d a n n h ä t t e n sie d a s pries t e r l i c h e G e s c h ä f t v e r w a l t e t u n t e r den L a i e n in der ä u ß e r n K i r c h e ; w ä r e n sie a b e r u n t e r sich g e w e s e n a u f d e m S ö l l e r u m G o t t und den H e r r n zu l o b e n , w a s sei

10

das a n d e r s g e w e s e n , als jene w a h r e K i r c h e ? und s o d e u t e a u c h die R e d e selbst n i c h t u n v e r n e h m l i c h an (S. 1 9 6 ) , d a ß diese A r t zu sein nie h ä t t e in j e n e r g a n z u n t e r g e h e n , s o n d e r n sich aus ihr i m m e r w i e d e r h e r s t e l l e n s o l l e n . U n d allerdings h a t j e m a l s die w a h r e K i r c h e in u n s e r m S i n n e in e i n e r einzelnen

Erscheinung

b e s t a n d e n , so w a r es d o r t . A b e r e t w a s fehlte d o c h d a z u , n ä m l i c h j e n e , in der SW 368

15

R e d e a u c h als der w a h r e n K i r c h e w e s e n t l i c h aufgestellte, G r ö ß e und M a j e s t ä t d e r D a r s t e l l u n g . U n d dieses B e w u ß t s e i n der U n z u l ä n g l i c h k e i t g e h ö r t e , m e n s c h l i c h e r W e i s e zu r e d e n , m i t zu den M o t i v e n der weiteren V e r b r e i t u n g des C h r i s t e n t h u m s . S o wie a b e r diese E r s c h e i n u n g , die indeß o h n e r a c h t e t ihrer k u r z e n D a u e r d o c h b e w e i s e t , d a ß ü b e r a l l die u n v o l l k o m m n e K i r c h e d o c h nur v o n der voll-

20

k o m m n e n a b s t a m m t , so wie diese e i n m a l v e r s c h w u n d e n w a r , k o n n t e sie bei der u n g e h e u e r n E x p a n s i v k r a f t des C h r i s t e n t h u m s a u c h n i c h t w i e d e r k e h r e n , und die 227

w a h r e K i r c h e | sich n i c h t a n d e r s w i e d e r f i n d e n , als in j e n e r w e l t b ü r g e r l i c h e n Verbindung. A u f diese A r t ist also die h ö c h s t e geistige G e m e i n s c h a f t der v o l l k o m m e n -

25

sten F r o m m e n b e d i n g t durch die a n d e r e G e m e i n s c h a f t der V o l l k o m m n e r e n m i t den U n v o l l k o m m n e r e n ; h a t a b e r diese die bessere G e s t a l t g e w o n n e n , in w e l c h e r sie allein die G r u n d l a g e für j e n e g e b e n k a n n , verdient sie d a n n n o c h den Vorw u r f , d a ß n u r die S u c h e n d e n h i n e i n t r e t e n , und nur die n o c h n i c h t f r o m m G e w o r d e n e n darin b l e i b e n ? Sagen k a n n m a n dieses a u c h d a n n n o c h v o n ihr, a b e r C 326

30

n u r i n s o f e r n als es k e i n e n V o r w u r f in sich s c h l i e ß t . | D e n n j e d e r der hineintritt s u c h t , n i c h t nur d e r m e h r E m p f ä n g l i c h e u n d U n v o l l k o m m n e den, der ihn begeistere u n d f ö r d e r e , s o n d e r n a u c h der V o l l k o m m n e r e s u c h t G e h ü l f e n zu einer D a r s t e l l u n g , die d a f ü r k ö n n e e r k a n n t w e r d e n aus d e m G e i s t e der w a h r e n

Kirche

h e r v o r g e g a n g e n zu sein, und d u r c h d a s g e m e i n s a m e W e r k s u c h t er a u c h für sich F ö r d e r u n g in der ä u ß e r n M e i s t e r s c h a f t s o w o l als in d e r i n n e r n K r a f t und W a h r -

5 Jemand] C: jemand 12 196] C: 282 2 0 f unvollkommne ... vollkommnen] C: unvollkomne ... vollkomnen 2 6 f Vollkommneren ... Unvollkommneren] C: Vollkomneren ... Unvollkomneren 2 9 f Gewordenen] C: gewordenen 32 Empfängliche und Unvollkommne] C: empfängliche und unvollkomne 33 Vollkommnere] C: vollkomnere 18 Weise] C: Weise, 7 f Anspielung

auf Apg 2

10 Vgl. Apg 1,13

12 Hier

201,22-28

35

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

40

zur vierten

Rede

231

heit. D a h e r sind auch alle ihre Glieder nicht geworden sondern werdend. Will man aber dieser Vereinigung auch in ihrer besten Gestalt noch eine andere v o n Vollkommnen gegenüberstellen, und sie dadurch bezeichnen, d a ß diese a u ß e r der Freude an der Anschauung nichts mehr suchen, weil jeder schon geworden ist, was er sein k a n n : so wird auch diese keine andere sein, als eben j e n e weltbürgerliche Verbindung. D e n n in dieser gilt jeder nur etwas durch das, was er schon ist und leistet, und kann auch nicht erwarten durch die A n s c h a u u n g des Fremdartigeren unmittelbar gefördert zu werden auf seinem eigenthümlichen Gebiet. Ist aber ein unmittelbares Z u s a m m e n l e b e n der V o l l k o m m n e r e n gemeint, auf welche jene Schilderung der wahren Kirche gehen soll: so m u ß m a n es dann buchstäblich von der triumphirenden Kirche verstehen; denn nur in dieser wird eine rein gegenseitige Mittheilung gedacht o h n e Ungleichheit und ohne Fortschreitung. Hier aber kann von jener wahren K i r c h e i m m e r nur so viel sein als wahres Leben und reproduktive Entwiklung in den bestehenden kirchlichen Gemeinschaften ist. 12) S. 1 9 0 . Z w e i Vorwürfe sind hier der gegenwärtigen E i n r i c h t u n g der Kirche g e m a c h t , von denen freilich der erste weit mehr Verwirrung zu verschiedenen Zeiten angerichtet hat, unmittelbar aber hat der leztere mir i m m e r ein störenderes Gefühl gegeben von dem unentwikkelten Z u s t a n d der Gesellschaft. Dies ist nämlich die Einrichtung, daß unsere heiligste symbolische H a n d l u n g , das M a h l des H e r r n , unerachtet es auf die natürlichste Weise, wenigstens in den meisten größeren G e m e i n d e n , den Gipfel jedes Hauptgottesdienstes bildet, und also bei jeder solchen Gelegenheit bereit ist, doch von den T h e i l n e h m e r n | jedes- C 327 mal muß vorbedacht und vorbereitet sein. G e w i ß wird N i e m a n d läugnen, es SW 369 wäre die schönste W i r k u n g des gesammten Gottesdienstes, wenn recht viele von den I Anwesenden dadurch in die Stimmung gesezt würden das heilige M a h l nun 228 zu feiern; diese schönste Blüthe der A n d a c h t aber geht verloren. Und a u f der andern Seite, wie oft k ö n n e n , wenn auch Alles v o r b e d a c h t und vorbereitet ist, doch innere oder äußere Störungen eintreten, die den vollen Segen der H a n d l u n g mindern, welche doch, eben weil sie vorbereitet ist, nicht leicht einer solchen Störung wegen unterlassen wird. Ist diese Behandlungsweise des Gegenstandes nicht ein zu sprechender Beweis, wie wenig G e w a l t auf die G e m ü t h e r wir noch der Sache selbst zutrauen, und wie wir alle Christen o h n e Unterschied noch als unzuverlässige Neulinge behandeln? Eine glükliche Z e i t wird es sein, w o wir diese Behutsamkeit werden abstreifen dürfen, und w o uns J e d e r a m T i s c h des Herrn w i l l k o m m e n ist, den ein augenbliklicher Impuls dorthin führt! — Weit mehr Verwirrung aber entsteht freilich aus dem andern hier gerügten M i ß v e r ständniß, d a ß nämlich nicht nur unter sich die Geistlichen sich nach einem symbolischen M a a ß s t a b e abschäzen, sondern auch sogar die Laien sich herausnehmen nach diesem M a a ß s t a b e ein Urtheil zu fällen über den Geistlichen, ja d a ß sogar den Gemeinden ein R e c h t eingeräumt wird zu verlangen, daß ihr Geistli-

3 Vollkommnen] C: Vollkomnen 8 Fremdartigeren] C: fremdartigeren 9 Vollkommneren] C: Vollkomneren 11 triumphirenden] C: triumfirenden 16 190] C: 273 24 Niemand] C: niemand 28 Alles] C: alles 35 Jeder] C: jeder

232

Über die

Religion

eher sie belehren soll g e m ä ß dem symbolischen B u c h s t a b e n . D e n n wenn J e m a n d freilich sonst etwas verfertiget zu meinem G e b r a u c h : so m u ß mir zustehen, wenn ich sonst will, selbst zu bestimmen, wie es soll verfertigt werden, weil nur ich eigentlich urtheilen kann über mein einzelnes Bedürfniß im Z u s a m m e n h a n g mit meiner ganzen Art zu sein. G a n z anders aber ist es mit der Lehre; denn wenn ich im Stande bin zu beurtheilen, wie eine Lehre über irgend einen Gegenstand beschaffen sein m u ß , wenn sie mir soll nüzlich sein, so bedarf ich eigentlich der Belehrung nicht, sondern kann sie mir selbst geben und bedarf höchstens der Erinnerung. Dieser Anspruch ist also desto verkehrter, je schärfer sonst der UnC 328 terschied zwischen Geistlichen und Laien gehalten | wird — denn w o alle einander gleich stehen, da ließe sich eher denken, daß eine Verabredung Aller stattfände, sich innerhalb eines gemeinsamen Typus zu halten — und je mehr die Belehrung des Geistlichen ein freier E r g u ß des Herzens ist, wie, G o t t sei D a n k , noch überall in der evangelischen Kirche, und nicht der meiste Werth auf die Wiederholung feststehender Formulare gelegt wird, wie in der römischen und griechischen. Wenn aber nun die Laien, gleichviel o b einzeln als Schuzherren einer Kirche oder G e m e i n d e oder vereint als Staatsbehörde, oder o b selbst als G e m e i n d e n , bestimmen wollen, was dem symbolischen Buchstaben g e m ä ß sei, und wie weit dessen Autorität im G e b i e t e der freien Belehrung gehe: so liegt darin noch eine besondere Verkehrtheit, da ja der symbolische B u c h s t a b e nur von den Geistlichen herrührt, die also gewiß nicht gewollt haben sich selbst gegen die Laien durch denselben beschränken, und da ja die Laien nur durch | 229 die Geistlichen und deren Unterricht im Stande sind, den symbolischen Buchstaben zu verstehen. Diese Verkehrtheit erscheint nun auf ihrem höchsten Gipfel, wenn ein Staatsoberhaupt persönlich als solches sich berechtigt und geschikt glaubt, den symbolischen Buchstaben einer andern K i r c h e n - G e m e i n s c h a f t und SW 370 das Verhältniß ihrer Geistlichen zu demselben zu beurtheilen, also auch zu beurtheilen, welche religiöse Mittheilungen denjenigen, deren Religiosität ihm ganz fremd ist, zur F ö r d e r u n g derselben heilsam sein k ö n n e n , oder nicht. Wenn z. B. der chinesische Kaiser das Christenthum zwar dulden wollte, aber durch seine M a n d a r i n e dafür sorgen, daß keine christliche Parthei von ihren Symbolen abweiche. Hiebei giebt es dann nur den T r o s t , daß dies ein Punkt ist, von welchem nur U m k e h r möglich bleibt. 13) S. 1 9 1 . D a s Verhältniß tritt in mancher Beziehung in der römischen und griechischen K i r c h e am stärksten heraus, weil dort auf der einen Seite der Gegensaz zwischen Priestern und Laien, als seien es zwei verschiedene Klassen von Christen, a m stärksten gespannt ist, auf der andern die Geistlichen nicht

1 Jemand] C: jemand Schuzherrn ... Gemeine

11 Aller] C: aller 19 Gebiete] C: Gebiet

1 6 f Schuzherren ... Gemeinde] C: 34 191] C: 275

34 mancher] C: macher DV von C: mancher 1. manchen 25—29 Anspielung vermutlich auf das Religionsedikt, das König Friedrich Wilhelm II. von Preußen am 9. Juli 1788 auf Anregung seines Ministers Johann Christoph Wöllner erließ.

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Erläuterungen

zur vierten

Rede

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allein b e s c h r ä n k t sind a u f ihre | G e s c h ä f t s f ü h r u n g in d e n G e m e i n d e n , s o n d e r n

C 329

n u r für einen T h e i l d e r s e l b e n n ä m l i c h die W e l t g e i s t l i c h k e i t soll dies die H a u p t s a c h e sein, für den a n d e r n n u r eine N e b e n s a c h e , u n d dieser soll v o r z ü g l i c h in der h ö h e r n religiösen B e t r a c h t u n g l e b e n . S o b i l d e t e d e n n d o r t die G e i s t l i c h k e i t in 5

i h r e m i n n e r n Z u s a m m e n l e b e n die w a h r e K i r c h e ; die L a i e n a b e r w ä r e n blos d i e j e n i g e n , w e l c h e zur F r ö m m i g k e i t erst h e r a n g e b i l d e t w e r d e n s o l l e n , u n d d e s h a l b a u c h unter e i n e r b e s t ä n d i g e n g e n a u e n S e e l e n l e i t u n g s t e h e n , d e r e n h ö c h s t e r T r i u m p h ist, w e n n einige f ä h i g w e r d e n in j e n e e n g e r e S p h ä r e des religiösen L e b e n s a u f g e n o m m e n zu w e r d e n . U n d in der T h a t w ü r d e n wir g e s t e h e n m ü s s e n , in der

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k a t h o l i s c h e n K i r c h e seien die G r u n d z ü g e der hier a u f g e s t e l l t e n T h e o r i e n i e d e r g e legt, wenn n i c h t in a n d e r e r B e z i e h u n g a u c h w i e d e r der grellste

Widerspruch

z w i s c h e n b e i d e n zu T a g e läge. U n d n i c h t e t w a a u f die U n v o l l k o m m e n h e i t der A u s f ü h r u n g b e r u f e ich m i c h d e s h a l b , a u f die s c h l e c h t e B e s c h a f f e n h e i t der G e i s t lichkeit, a u f die irreligiöse L e e r h e i t des k l ö s t e r l i c h e n L e b e n s ; d e n n d a n n k ö n n t e 15

m a n h ö c h s t e n s s a g e n , es sei ein n o c h n i c h t g e l u n g e n e r V e r s u c h die w a h r e K i r c h e g e t r e n n t v o m Z u s a m m e n s e i n m i t d e n e n , die erst religiös g e b i l d e t w e r d e n s o l l e n , darzustellen, s o n d e r n H a u p t s a c h e ist dieses, d a ß s c h o n in den G r u n d s ä z e n das M i ß l i n g e n d e s s e l b e n g e g r ü n d e t ist, weil n ä m l i c h der Idee n a c h — d e n n in d e r A u s f ü h r u n g sind j a die G e i s t l i c h e n und a u c h die k l ö s t e r l i c h e n o f t a m tiefsten in

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alles W e l t l i c h e v e r w i k k e l t , a b e r der Idee n a c h soll d o c h d a s b e s c h a u l i c h e L e b e n von d e m t h ä t i g e n g a n z g e t r e n n t sein, u n d die h ö h e r e religiöse S t u f e w i r d mit d e m lezten für u n v e r t r ä g l i c h e r k l ä r t . R e c h n e t m a n n u n aus a l l e m

Bisherigen

z u s a m m e n , w a s h i e r v o n w e i t e r a b h ä n g t : so ist w o l n i c h t zu z w e i f e l n , d a ß a u c h in dieser B e z i e h u n g | der P r o t e s t a n t i s m u s die R ü k k e h r ist a u f d e n r i c h t i g e n W e g 25

230

die w a h r e K i r c h e d a r z u s t e l l e n , und d a ß er m e h r v o n d e r s e l b e n in sich t r ä g t als jene. 14) S. 1 9 2 . H i e r ist leicht ein M i ß v e r s t a n d m ö g l i c h , als o b die D o g m a t i k selbst nur solle aus d e m V e r d e r b n i ß der R e l i g i o n a b g e l e i t e t w e r d e n , d a ich d o c h a n d e r w ä r t s m i c h deutlich g e n u g d a f ü r e r k l ä r t , d a ß s o w i e eine b e i s t i m m t e R e l i -

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C 330

gion eine g r o ß e G e s t a l t u n g g e w i n n t , sich ihr a u c h e i n e T h e o l o g i e a n b i l d e n m u ß , von der die D o g m a t i k , w e l c h e e b e n den g e s c h l o s s e n e n Z u s a m m e n h a n g der relig i ö s e n Säze u n d L e h r m e i n u n g e n aufstellt, i m m e r ein n a t ü r l i c h e s u n d w e s e n t l i ches G l i e d g e w e s e n ist u n d b l e i b e n w i r d . H i e r a b e r ist n u r die R e d e v o n d e m f a l s c h e n Interesse, w e l c h e s so o f t die g a n z e K i r c h e an d e m Z u s a m m e n h a n g e der

35

L e h r e n i m m t , und dies ist allerdings nur in j e n e m V e r d e r b n i ß g e g r ü n d e t ; d e n n die D o g m a t i k s o w o l g a n z als a u c h in ihren einzelnen B e s t a n d t h e i l e n , w e l c h e j a a u ß e r d e m Z u s a m m e n h a n g mit d e m G a n z e n nie v o l l k o m m e n k ö n n e n v e r s t a n d e n w e r d e n , soll ein a u s s c h l i e ß l i c h e s E i g e n t h u m d e r in dieser b e s o n d e r e n

1 Gemeinden] C: Gemeinen 6 herangebildet] C: heran gebildet Triumf 2 0 Weltliche] C: weltliche 21 Stufe] C: Stuffe bisherigen 27 192] C: 276 2 9 - 3 3 Vgl. z. B. Kurze Darstellung,

S. 1, § 2; 2. Aufl., § 2

Hinsicht

7 f Triumph] C: 22 Bisherigen] C.

SW 371

234

Über die Religion

w i s s e n s c h a f t l i c h G e b i l d e t e n b l e i b e n . I h n e n d i e n t sie z u r T o p i k auf d e r e i n e n Seite, u m d e n g a n z e n U m k r e i s alles d e s s e n , w a s G e g e n s t a n d religiöser M i t t h e i l u n g u n d D a r s t e l l u n g w e r d e n k a n n , zu ü b e r s e h e n , u n d j e d e m E i n z e l n e n seine Stelle a n z u w e i s e n , u n d auf d e r a n d e r n Seite z u r k r i t i s c h e n N o r m , u m Alles w a s in d e r religiösen M i t t h e i l u n g v o r k o m m t , an d e m s t r e n g e r g e b i l d e t e n A u s d r u k zu p r ü f e n , u n d d e s t o e h e r a u f m e r k s a m zu w e r d e n auf Alles, w a s in d i e s e m A u s d r u k n i c h t a u f g e h e n will, o b es n u r e i n z e l n e V e r w o r r e n h e i t sei, o d e r o b sich e t w a s d e m G e i s t d e s G a n z e n W i d e r s p r e c h e n d e s d a h i n t e r v e r b e r g e . Beide I n t e r e s s e n lieg e n g a n z a u ß e r d e m G e s i c h t s k r e i s aller ü b r i g e n M i t g l i e d e r d e r K i r c h e , w e l c h e d a h e r v o n A l l e m , w a s n u r auf d i e s e m G e b i e t v o r g e h t , g a r n i c h t sollten a f f i c i r t w e r d e n . D e n n k o m m t in d e r k i r c h l i c h e n o d e r geselligen M i t t h e i l u n g e t w a s vor, w o d u r c h ihr u n m i t t e l b a r e s f r o m m e s B e w u ß t s e i n v e r l e z t w i r d , so b e d ü r f e n sie d a r ü b e r g a r k e i n e s w e i t e r n d o g m a t i s c h e n Z e u g n i s s e s . Sind sie a b e r v e r l e z b a r d u r c h d a s , w a s n u r i n n e r h a l b d e r s c i e n t i f i s c h e n T e r m i n o l o g i e liegt, so ist e b e n dies d i e h i e r a u f g e z e i g t e V e r d e r b n i ß , gleichviel, o b sie sich v o n selbst in eine u n g e z i e m e n d e D ü n k e l w e i s h e i t v e r l o r e n h a b e n , o d e r o b sie v o n t h e o l o g i s c h e n K ä m p f e r n in b l i n d e m Eifer sind zu H ü l f e g e r u f e n w o r d e n , d a m i t beide g e m e i n schaftlich, Gelehrte u n d Ungelehrte, irgend einen gefährlichen M a n n d ä m p f e n C 331 m ö c h t e n . S c h ö n a b e r w ä r e es i m m e r , w e n n die T h e o l o g e n d e n | A n f a n g m a c h t e n u m z u l e n k e n , und v o n der T h e i l n a h m e an allen d o g m a t i s c h e n Streitigkeiten die Laien, w e r sie auch seien, a b z u m a h n e n , und sie auf den g u t e n Glauben zu verweisen, d a ß es f r o m m e T h e o l o g e n g e n u g gebe u m diese Sache auszumachen. 15) S. 197. D i e s ist nun aus den bisherigen Erläuterungen leicht zu berich231 tigen. D e n n w e n n das w a s hier die w a h r e Kirche | g e n a n n t wird, nicht in einer abgesonderten Erscheinung besteht: so giebt es auch nicht im buchstäblichen Sinne einen v o r ü b e r g e h e n d e n Aufenthalt in der einzigen als wirkliche bes t i m m t e Erscheinung bestehenden religiösen G e m e i n s c h a f t . Sondern nur das A u s s c h l i e ß e n d e ist vorübergehend, s o d a ß jeder in d e m die Frömmigkeit durchgebildet ist, auch fähig werden soll, außer der b e s t i m m t e n Gemeinschaft der er angehört an der weltbürgerlichen Verbindung Aller auf g e w i s s e Weise theilzun e h m e n . Eben so nun ist auch das e n t s c h e i d e n d nicht buchstäblich so zu nehm e n , als o b e t w a der Unfähige nun g a n z aus aller religiösen Verbindung sollte, sei es nun ausgeschlossen werden, oder freiwillig austreten. D e n n jenes sollen und k ö n n e n die F r o m m e n nicht thun, und dieses dürfen sie nicht leiden. D e n n sie k ö n n e n keinen austreten lassen, weil sie suchen müssen ihren religiösen Darstellungen die möglichste Allgegenwart und Eindringlichkeit zu geben; und n o c h weniger k ö n n e n sie ausschließen, denn eine absolute Unfähigkeit kann nie erkannt w e r d e n , sondern immer m u ß die Voraussezung feststehen einer Zeit, w o

3 Einzelnen] C: einzelnen 4 u. 6 Alles] C: alles 8 Widersprechendes] C: widersprechendes 10 Allem] C: allem 23 197] C: 283 28 Ausschließende] C: ausschließende 30 Aller] C: aller 32 Unfähige] C: unfähige 1 Topik] so DV von C; OD von C: Toxik derten] C: abgesondeeten

4 anzuweisen] C: auzuweisen

25 abgeson-

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Erläuterungen

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das allen Menschen G e m e i n s a m e sich auch in dem Einzelnen entwikkeln werde, und einer n o c h unversuchten Art der Erregung, welche diese E n t w i k k e l u n g begünstigen k ö n n e . D a s aber bleibt wahr, daß derjenige in dem so langsam und schwer die Religiosität in der bestimmten G e s t a l t , die ihm die nächste und verwandteste ist, erregt werden k a n n , schwerlich zu jener höhern E n t w i k k e l u n g und jenem f r e i e m G e n u ß gelangen werde. 16) Ebend. Eine g r o ß e Vorliebe ist hier dargelegt im Gegensaz gegen die großen kirchlichen Verfassungen für die kleineren Kirchengemeinschaften; einseitig ist hier diese | Vorliebe ohnstreitig herausgehoben; aber das ist überhaupt schwer, am wenigsten aber in einem rednerischen Z u s a m m e n h a n g zu vermeiden, wenn die A u f m e r k s a m k e i t auf einen ganz übersehenen oder wenigstens größtent e i l s geringgeschäzten Gegenstand soll gelenkt werden. Diese Vorliebe beruhte aber auf folgenden Punkten. E i n m a l auf der großen M a n n i g f a l t i g k e i t , welche in dem gleichen R ä u m e und der gleichen Zeit sich manifestiren k a n n , statt der großen Massen, welche entweder überhaupt keine Mannigfaltigkeit a u f k o m m e n lassen, oder sie wenigstens verbergen, daß nur der genauere B e o b a c h t e r sie w a h r nehmen k a n n . Wohin auch vornehmlich gehört, d a ß auf dem religiösen G e b i e t , mehr als anderwärts der Fall sein k a n n , sich öfter Vereinigungspunkte erzeugen, welche es nicht auf lange Z e i t sein können, aber um welche sich d o c h , wenn auch nur vorübergehend, eine kräftige und eigenthümliche Erscheinung bilden kann; welche Keime alle verloren gehen oder wenigstens zu keiner klaren und vollständigen O r g a n i s a t i o n gelangen, wenn nur g r o ß e Kirchenverfassungen bestehen. Der andere H a u p t p u n k t aber ist der, d a ß die kleineren Kirchengemeinschaften ihrer N a t u r n a c h , weil sie weniger Besorg|niß erregen k ö n n e n , sich auch freier bewegen und weniger von der bürgerlichen A u t o r i t ä t bevormundet werden. In beider Hinsicht erschien mir schon d a m a l s , als ich dieses zuerst schrieb, Amerika als ein merkwürdig bewegter Schauplaz, w o sich Alles auf eine solche Weise gestaltete, und w o mir deswegen mehr als irgend a n d e r s w o , selbst das einzig geliebte Vaterland nicht ausgenommen, die Freiheit des religiösen Lebens und der religiösen G e m e i n s c h a f t gesichert schien. M e h r n o c h hat sich dies seitdem entwikkelt und die Ahnung bestätiget. Frei bilden sich dort Vereine und zerfließen wieder, sondern sich kleinere T h e i l e von einem g r ö ß e r n Ganzen los, und streben kleinere G a n z e einander zu, um einen M i t t e l p u n k t zu finden, um den sie sich zu einer größern Einheit gestalten k ö n n e n . Und die Freiheit der christlichen E n t w i k k e l u n g ist so g r o ß , daß m a n c h e G e m e i n d e n , wie die sogenannten unitarischen, uns, jedoch wie ich glaube mit Unrecht, scheinen würden außerhalb des Chri|stenthums zu liegen. Sonst nun k o n n t e m a n die Furcht h a b e n , daß bei solchem Zerfallen das Christenthum seine g r o ß e historische Gestalt allmählig verlieren, und namentlich die wissenschaftliche Festhaltung desselben ganz k ö n n t e in Vergessenheit k o m m e n . Seitdem aber die W i s s e n s c h a f t sich dort mehr erhebet, und auch Institutionen zur Fortpflanzung der christlichen Gelehrsamkeit gegründet sind, ist die Aussicht noch fröhlicher, und nur das Eine zu beklagen, daß, so scheint es uns wenigstens aus der Ferne, d a ß der brittische Geist zu sehr überhand g e n o m m e n hat und der deutsche i m m e r mehr zurüktritt,

1 Gemeinsame] C: gemeinsame

7 Ebend.] C: S. 283.

27 Alles] C: alles

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Über die

Religion

SW 373 w e s h a l b jenen Freistaaten recht bald eine solche deutsche E i n w a n d e r u n g zu w ü n schen wäre, die einen bleibenden Einfluß hierauf begründen könnte. — Doch m ö c h t e ich mich jezt keinesweges so ausschließend für die kleineren Gemeinschaften erklären u n d gegen die großen Verfassungen, n a c h d e m ich jener mehr e n t w ö h n t u n d in diese mehr eingelebt bin. Sondern wie es in England wol am deutlichsten zu Tage liegt, daß es d o r t in beiden Fällen schlecht um das Christent h u m stehen w ü r d e , sowol wenn die bischöfliche Kirche sich ganz auflöste und in die kleineren Gemeinschaften zerstreute, als auch wenn sie diese verschlänge u m allein zu bestehen: so kann m a n wol nicht anders sagen, als d a ß , wenn sich in d e m weiten U m f a n g der Christenheit das religiöse Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit u n d Fülle entwikkeln soll, beides, wie auch fast von jeher der Fall gewesen, neben einander bestehen müsse, große Verfassungen und kleine Gesellschaften, so d a ß diese sich in jene auflösen und aus ihnen wieder erzeugen k ö n n e n , und jene, w a s in ihnen desorganisirend wirken w ü r d e an diese abgeben, und sich aus diesen bereichern und stärken k ö n n e n . Nach dieser Darlegung der Sache wird wol N i e m a n d fragen, wie sich diese Vorliebe für kleinere Religionsgesellschaften vertrage mit dem lebendigen Antheil an der Vereinigung beider pro233 testantischen Kirchengemeinschaften, w o d u r c h ja o f f e n b a r nicht n u r | aus zwei kleineren Gesellschaften eine größere werde, sondern auch o f f e n b a r diejenige von beiden, welche die kleinste war, am meisten verschwinde. N u r Folgendes m ö c h t e ich noch d a r ü b e r hinzufügen. Eine Verschiedenheit weniger der Lehre, C 334 denn diese scheint mir | noch immer d u r c h a u s u n b e d e u t e n d , als des Geistes hat o f f e n b a r zwischen beiden Kirchengemeinschaften ursprünglich stattgefunden; u n d o h n e dieses hätte eine solche Trennung aus übrigens so unbedeutenden M o tiven nicht entstehen können. Diese Verschiedenheit ist auch keinesweges schon ganz verschwunden: allein wie jede eine Einseitigkeit mit sich bringt, so schien jezt die Zeit g e k o m m e n , w o weit kräftiger durch völliges Ineinanderbilden der Verschiedenheiten als durch freundliches Nebeneinanderstehen die Einseitigkeit a b g e s t u m p f t , u n d d u r c h die Vereinigung ein in der Freiheit gebundneres und in der G e b u n d e n h e i t freieres Leben erzeugt werden konnte, als in beiden abgesond e r t bestanden hatte. Außerdem aber schien es die höchste Zeit d a f ü r zu sorgen, d a ß nicht dereinst eine wiedererwachende Eifersucht zwischen beiden einen nöthig werdenden kräftigen Widerstand gegen die mancherlei bedenklichen Bestrebungen der römischen Kirche unmöglich mache. 17) S. 199. Wer so dringend wie ich es in der vierten Sammlung meiner Predigten gethan, d a f ü r gesprochen, d a ß die gesammte Armenpflege wieder

16 Niemand] C: niemand 35 199] C: 286

24 dieses] C: diese

26 Einseitigkeit] C: Einseitigkeiten

17 f Schleiermacher suchte die Vereinigung der lutherischen und reformierten Kirche sowohl literarisch als kirchenpolitisch zu fördern; er äußerte sich verschiedentlich zu Fragen der Kirchenverfassung und der Gottesdienstordnung (vgl. KGA 1/9—10) 35 — 1 Vgl. Predigten, 4. Sammlung, Berlin 1820, wo Schleiermacher in der 9. Predigt „die christliche Wohlthätigkeit" thematisiert (182-206, besonders 198-205).

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m ö c h t e ein G e s c h ä f t der kirchlichen Vereinigung werden, der scheint ja gar w o l zu wissen wohin mit allem Grund- und G e l d v e r m ö g e n . Allein auch die ausgedehnteste Armenpflege bedarf nur sicherer jährlicher E i n n a h m e n . Wenn also nur ein Verband der G e m e i n d e fest ist und der darin waltende Geist den guten Willen für diesen Gegenstand lebendig erhält: so kann auch dieses G e s c h ä f t o h n e einen solchen Besiz befriedigend ausgerichtet werden, und wenn die übrigen U m s t ä n d e gleich sind, um desto besser, als es gewiß ist, d a ß auf der einen Seite jedes Kapital von Privatleuten besser genuzt werden k a n n , und a u f der andern Seite dieser SW 374 Besiz dem reinen C h a r a k t e r einer kirchlichen G e m e i n d e i m m e r einen fremden Zusaz beimischt, und eine andere als die rein religiöse Werthschäzung ihrer M i t glieder herbeiführt. 18) S. 2 0 0 . Bei dieser Klage war keineswegs meine M e i n u n g , d a ß der S t a a t sich nicht sollte in gar vielen und höchstwichtigen Dingen ganz vorzüglich a u f die M a c h t der | religiösen Gesinnungen und auf das Z u s a m m e n t r e f f e n seines C335 Interesses mit den natürlichen Wirkungen derselben verlassen, sondern eben in so fern er sich d a r a u f verlassen zu müssen glaubt, ist auch w ü n s c h e n s w e r t h , d a ß er nicht auf eine solche Art eingreife, welche deren reinem Erfolg nachtheilig sein muß, und das geschieht unfehlbar durch jede positive E i n m i s c h u n g . D e n n zweierlei scheint nur richtig zu sein; entweder der Staat sezt die religiöse G e s i n nung seiner Mitglieder voraus, und erfreut sich vertrauensvoll ihrer W i r k u n g e n , wobei ihm denn immer anheimgestellt bleibt, s o w o l bei jedem Einzelnen, in | welchem sich diese Wirkungen nicht bewähren, die Voraussezung zurükzuneh- 234 men, als auch wenn sich ein solcher M a n g e l in einer entschiedenen M e h r h e i t einer religiösen Gesellschaft zeigen sollte, zu untersuchen, o b dies in den G r u n d säzen derselben begründet sei, und danach seine Voraussezung zu modifiziren. So lange er aber nicht G r u n d hat sein Vertrauen zurükzunehmen, m u ß er auch wissen, daß die Organisation der Gesellschaft aus derselben G e s i n n u n g hervorgeht, von welcher er die guten Wirkungen erwartet, und d a ß der N a t u r der S a c h e nach nur diejenigen, in welchen die Gesinnung am stärksten ist, auf die Gestaltung und Verwaltung der Gesellschaft den meisten E i n f l u ß haben werden, und hiernach also m u ß er a u f diesem G e b i e t die Gesinnungen frei walten lassen und es zugeben, daß die Organisation der Gesellschaft aus ihr selbst hervorgehe o h n e von ihm geleitet zu sein, und dies so lange bis ihm auch von hier aus ein G r u n d zur Verminderung des Vertrauens entsteht. Wenn nun ein Staat nur zu einer bestimmten Form der Religiosität dieses Vertrauen hat: so schlägt er auch nur mit dieser Gesellschaft diesen Weg ein, und sein Verfahren gegen die übrigen richtet sich nach der G r ö ß e seines M i ß t r a u e n s bis zur völligen U n d u l d s a m k e i t . Wenn also ein Staat die eine Religionsgesellschaft sich selbst überläßt, und sie mit einem hohen G r a d e von Unabhängigkeit ausstattet, eine andere aber enger bevormundend, ihre Organisation selbst bestimmt: so k a n n dieses verständigerweise keinen andern G r u n d haben, als weil er der leztern ein | beschränkteres C 336 Vertrauen schenkt; und eine wunderbarere Erscheinung läßt sich nicht d e n k e n ,

4 u. 9 Gemeinde] C: Gemeine 29 auf] C: auch

12 200] C: 287

31 auf] C: auf auf

33 auch] C: anch

Über die Religion

238

als w e n n ein S t a a t grade die R e l i g i o n s g e s e l l s c h a f t , w e l c h e r der R e g e n t selbst a n g e h ö r t , g e n a u e r b e v o r m u n d e t und in ihrer freien T h ä t i g k e i t m e h r b e s c h r ä n k t als eine a n d e r e . — D i e s e r Fall nun des V e r t r a u e n s a u f die religiöse G e s i n n u n g ist für unsre g e g e n w ä r t i g e U n t e r s u c h u n g der erste; der a n d r e a b e r ist der e n t g e g e n gesezte, w e n n n ä m l i c h der S t a a t v o n der religiösen G e s i n n u n g seiner G l i e d e r

5

k e i n e guten W i r k u n g e n e r w a r t e t in B e z u g a u f irgend e t w a s , w a s in sein G e b i e t fällt. A b e r a u c h d a n n s c h e i n t n i c h t s f o l g e r e c h t zu sein, als d a ß er die R e l i g i o n als e i n e ihm gleichgültige L i e b h a b e r e i g e w ä h r e n l ä ß t , und nur wie bei a n d e r n Privatverbindungen SW 375

darauf achtet, daß dem

bürgerlichen

Gemeinwesen

kein

N a c h t h e i l d a r a u s e r w a c h s e . W e n n w i r nun dieses a n w e n d e n a u f die A n g e l e g e n -

10

heit, v o n w e l c h e r hier die R e d e ist, n ä m l i c h a u f die E r z i e h u n g — denn a u f diese k o m m t d o c h Alles zurük — so s c h e i n t d a r a u s F o l g e n d e s h e r v o r z u g e h e n .

Die

religiöse E r z i e h u n g als s o l c h e w i r d n i e m a l s die g a n z e E r z i e h u n g des M e n s c h e n sein; s o n d e r n alle A u s b i l d u n g , w e l c h e die R e l i g i o n s g e s e l l s c h a f t als s o l c h e n i c h t u n m i t t e l b a r interessirt, wie z. B . die g y m n a s t i s c h e und die h ö h e r e w i s s e n s c h a f t l i -

15

c h e , w i r d a u ß e r i h r e m B e r e i c h liegen. W e n n nun die K i r c h e vielleicht früher an 235

die E r z i e h u n g g e d a c h t hat als der S t a a t , und dieser will d a n n sagen: Ich | sehe I h r h a b t da A n s t a l t e n zur B i l d u n g der J u g e n d , a b e r diese, w e n n ich sie a u c h für g u t e r k e n n e , g e n ü g e n m i r n i c h t ; ich will nun das F e h l e n d e h i n z u t h u n , d a f ü r a b e r die g a n z e A n s t a l t unter m e i n e L e i t u n g n e h m e n : so w i r d die K i r c h e , w e n n sie

20

reden d a r f und ihr eignes W o h l versteht, e n t g e g n e n : N i c h t a l s o ; s o n d e r n für alles F e h l e n d e m a c h e du d e i n e A n s t a l t e n , und w i r w o l l e n als B ü r g e r redlich d a s Unsrige d a z u b e i t r a g e n , d a ß sie g e d e i h e n ; unsre A n s t a l t e n a b e r l a ß uns in unsern e i g e n t h ü m l i c h e n G r e n z e n n a c h wie v o r selbst b e s o r g e n , u n d e r s p a r e nur an den deinigen d a s j e n i g e , w o v o n du g l a u b s t , d a ß die unsrigen es z w e k m ä ß i g leisten.

25

T h u t n u n der S t a a t d e n n o c h k r a f t seiner G e w a l t d a s A n d r e : s o w i r d dies i m m e r C 337

eine der K i r c h e h ö c h s t u n e r w ü n s c h t e E i n m i s c h u n g | sein, u n d sie w i r d es als eine B e e i n t r ä c h t i g u n g f ü h l e n , w e n n es ihr a u c h den z w e i d e u t i g e n Vortheil v e r s c h a f f t e einen gewissen E i n f l u ß a u f M a n c h e s zu e r l a n g e n , w o r a u f sie d e m n a t ü r l i c h e n L a u f der D i n g e n a c h keinen h ä t t e . — E b e n so nun ist es mit der B e l e h r u n g über

30

die m e n s c h l i c h e n P f l i c h t e n im b ü r g e r l i c h e n L e b e n , w e l c h e d o c h nichts anders ist als eine f o r t g e s e z t e E r z i e h u n g des e r w a c h s e n e n V o l k e s . D a ß der S t a a t einer solchen b e d a r f , leidet k e i n e n Z w e i f e l , u n d z w a r um d e s t o m e h r , je w e n i g e r sie von selbst aus d e m ö f f e n t l i c h e n L e b e n h e r v o r g e h t . W e n n er n u n findet, d a ß in den religiösen U e b u n g e n und M i t t h e i l u n g e n der in seiner M i t t e b e s t e h e n d e n religiosen G e s e l l s c h a f t o d e r G e s e l l s c h a f t e n s o l c h e B e l e h r u n g e n v o r k o m m e n , u n d d a ß die V e r s c h i e d e n h e i t d e r s e l b e n , w e n n ihrer m e h r e r e sind, hierin k e i n e n

irgend

b e d e u t e n d e n U n t e r s c h i e d h e r v o r b r i n g t : so w i r d er gern b e s c h l i e ß e n eine eigene

12 Alles zurük — ... Folgendes] C: alles zurük ... folgendes 17 sagen:] C: sagen, 19 Fehlende] C: fehlende 21 entgegnen:] C: entgegnen, 2 2 f Fehlende ... Unsrige] C: fehlende ... unsrige 26 Andre] C: andre 2 8 f verschaffte ... Manches] C: verschafte ... manches 1-3

Vgl. Anm. zu

221,15-19

35

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

zur vierten

Rede

239

Anstalt zu diesem Behuf zu sparen; und das werden sich jene Gesellschaften gern gefallen lassen und sich freuen, daß sie dem gemeinen Wesen diesen Dienst leisten. Wenn aber der Staat zu ihnen sagt: Ich will mich Eurer Belehrungen bedienen; aber damit ich auch sicher bin, daß mein Zwek vollständig erreicht werde, muß ich Euch doch noch vorschreiben, daß Ihr auch über dieses und jenes nicht vergesset zu reden, und daß Ihr dieses und jenes aus der Geschichte zu bestimmten Zeiten in Erinnerung bringt, und ich muß eine Veranstaltung treffen um zu erfahren, daß dies auch wirklich geschehen sei: so wird die Kirche, wenn sie darf, gewiß sagen: Mit nichten; denn da würden auch manche Belehrungen vorkommen sollen, die in unser Gebiet gar nicht einschlagen, und was das Geschichtliche betrifft, so kommt es uns sehr widerlich vor, wenn wir z. B. an gewissen Tagen freudig daran erinnern sollen, wie du einen andern Staat besiegt hast, unsre nämliche Gesellschaft in jenem Staat aber muß an diesen Tagen weislich still schweigen, soll sich aber freuen an andern Tagen, wo jener etwa dich besiegt hat, und die wir wieder mit Stillschweigen übergehen; sondern uns gilt SW 376 beides gleich, und wir müssen den gleichen Gebrauch machen nach unserer Art von dem, was dir rühmlich und | was dir schimpflich gewesen ist. Ein | Ge- C 338; 236 brauch mit dem du wol auch zufrieden sein kannst; aber für jenen besonderen Zwek mache dir eine andre Verrichtung; denn wir können dir dazu nicht behülflieh sein. Und wenn der Staat diesen Vorstellungen nicht Gehör giebt, so beeinträchtiget er die persönliche Freiheit seiner Mitglieder auf ihrem heiligsten und unverlezlichsten Gebiet. — Was endlich die dritte Angelegenheit betrifft, von der hier die Rede ist, so gehört sie eigentlich unter die zweite, und ist hier nur besonders herausgehoben, weil auf eine ganz besondere Weise bei Eidesleistungen der Staat die religiöse Gesellschaft zu Hülfe nimmt. Allein auch hieraus ist eine Beeinträchtigung entstanden. Denn wenn den verschiedenen kleinen Gesellschaften von Nichtschwörern zwar erlaubt ist den Eid zu verweigern, und eine einfache Versicherung an Eidesstatt zu leisten, den großen vom Staate besonders begünstigten Kirchen aber wird befohlen, über die Heiligkeit des Eides zu predigen, und ihre Mitglieder müssen den Eid leisten auf die vorgeschriebene Weise, oder aller Vortheile verlustig gehen, die mit der Leistung verbunden wären, ohnerachtet unter ihnen viele sein mögen, welche von dem einfachen Verbot Christi geschrekt sich auch ein Gewissen machen zu schwören, und unter den Lehrern viele, die auch von der buchstäblichen Auslegung jener Worte nicht abgehen können, und es für irreligiös halten, auf solche Weise dem Staat zu Hülfe zu kommen: wie sollte nicht eine solche Beeinträchtigung der religiösen Freiheit sehr schmerzlich gefühlt werden. Und so rechtfertiget hoffentlich diese nähere

3—6 sagt: ... Eurer ... Euch ... Ihr ... Ihr] C: sagt, ... eurer ... euch ... ihr ... ihr 9 sagen:] C: sagen, 10f Geschichtliche betrifft] C: geschichtliche betrift 18 wol ... besonderen] C: wohl ... besondern 22 betrifft] C: betrift 32 viele] D: viel 32 f Vgl. Mt 5,34

240

C 339

237 SW 377

C 340

Über die

Religion

Auseinandersezung den im Text ausgedrükten Wunsch, d a ß der Staat sich dessen, was ihm an den Einrichtungen der Kirche nüzlich sein k a n n , nur so weit bedienen möge, als mit der ungekränkten Freiheit derselben bestehen kann. 19) Ebend. Von den drei Punkten, welche hier bedauert werden, sind zweie nur deshalb beschwerlich, weil sie die Abhängigkeit der Kirche vom Staat 5 bezeugen, u n d den heiligen H a n d l u n g e n der Taufe und der ehelichen Einsegnung den Schein geben, als ob sie vorzüglich von den Geistlichen als Dienern des Staats im N a m e n desselben | verrichtet w ü r d e n . Ohnstreitig ist dies mit eine Ursache davon, d a ß die Art sie zu verrichten, o f t so wenig einen christlichen ja ü b e r h a u p t einen religiösen C h a r a k t e r verräth. Wenn die Einschreibung in die 10 bürgerlichen Lebenslisten auch eine rein bürgerliche H a n d l u n g wäre: so k ö n n t e N i e m a n d mehr die Taufe lediglich als eine gesezlich gebotene Förmlichkeit ansehen, bei deren Gelegenheit m a n bisweilen eine herrliche Rede a n h ö r e n könne. Und wenn der Ehevertrag erst rein bürgerlich abgeschlossen werden müßte, und die kirchliche Einsegnung rein eine H a n d l u n g der Mitglieder einer Gemeinde 15 wäre: so w ü r d e sich bald zeigen, d a ß da die Ehen am besten w ä r e n , w o m a n auf diese äußerlich überflüssige kirchliche Weihe noch einen besondern Werth legt. Am nachtheiligsten aber ist der mittlere P u n k t . Denn indem ein evangelischchristlicher Staat an die Zulassung zum | S a k r a m e n t mancherlei bürgerliche Befähigungen k n ü p f t , und eben deshalb bei m a n c h e n Gelegenheiten Bescheinigun- 20 gen fordert über diese H a n d l u n g : so handelt er zwar höchst wohlmeinend gegen die Jugend, indem er sie d a d u r c h sicher stellen will gegen religiöse Vernachläßigung ihrer Eltern oder Vorgesezten; aber wie sehr wird d a d u r c h das Gewissen f r o m m e r Geistlichen beschwert, welche so o f t ganz gegen ihre Ueberzeugung die religiöse Unterweisung und nähere Aufsicht müssen für geschlossen erklären. 25 Wenn nun hieraus entstände, d a ß eine große Menge getaufter Christen ihr ganzes Leben hindurch o h n e T h e i l n a h m e an dem anderen Sakrament blieben wie es in N o r d a m e r i k a wirklich der Fall ist: so scheint auch dieses kein Unglük zu sein; sondern es w ü r d e n u r den Vortheil gewähren, d a ß die christliche Kirche nicht verantwortlich erschiene für die Lebensweise der rohesten Menschen, und d a ß 30 ihr der Streit erspart w ü r d e über das Recht ihre Glieder aus der Gemeinde auszuschließen, o b es ihr wünschenswerth sei oder nicht. Denn in dem protestantischen E u r o p a w ü r d e n doch nur die Rohesten in diesen Fall k o m m e n , für alle übrigen w ü r d e immer die fortgesezte T h e i l n a h m e am Gottesdienst früher oder später ersezen, w a s ihnen in jenem Z e i t p u n k t , in welchen die C o n f i r m a t i o n zu 35 fallen pflegt, noch fehlte. Aber m a n | k ö n n t e noch weiter folgern, es würden auf diese Weise auch bei uns, wie in den N o r d a m e r i k a n i s c h e n Freistaaten, sehr viele Kinder christlicher Eltern, weil diese keinen großen Werth auf die Kirchengemeinschaft legen, ungetauft bleiben, und also mit der Kirche in gar keine Verbind u n g k o m m e n . Und freilich k ö n n t e dies geschehen; wiewol ein solcher antichrist- 40

4 Ebend.] C: S. 289. 9 davon,] C: davon C: Gemeine 33 Rohesten] C: rohesten 3 ungekränkten] D: ungekränkren Einseguung 36 würden] C: würde

12 Niemand] C: niemand

4 Ebend.] D: S. Ebend.

15 Gemeinde]

6 Einsegnung] C:

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

40

zur vierten

Rede

241

licher Z e l o t i s m u s bei uns gewiß sehr selten sein würde. A b e r um dem w a h r e n Nachtheil, der hieraus entstehen k ö n n t e , vorzubeugen, würde auch nicht erfordert werden, daß der S t a a t die T a u f e gleichsam gewaltsamer Weise verrichten ließe; sondern daß er sehr zeitig anfinge, die Gewissensfreiheit der Kinder auch gegen die Eltern zu schüzen. D i e hier geführten Beschwerden erscheinen also als solche, denen allerdings abgeholfen werden k ö n n t e , aber nicht o h n e eine sehr veränderte Gestalt aller derjenigen Angelegenheiten, in Beziehung auf w e l c h e Kirche und Staat zusammentreffen. Wenn m a n nun hier allein a u f das Beispiel jener Freistaaten auf der andern Halbkugel zurükgehen, und Alles, was an dem dortigen kirchlichen Z u s t a n d e zu tadeln sei, noch als Folgen von dem darstellen wollte, was hier postulirt wird: so wäre dies ohnstreitig ungerecht. D e n n es giebt dort U n v o l l k o m m e n h e i t e n , welche von einer jungen und sehr ungleichförmigen, und was noch mehr ist von einer zusammengerafften, Bevölkerung unzertrennlich sind, welche sich abschleifen werden, o h n e d a ß sich in diesen Stükken e t w a s Wesentliches zu ändern brauchte. 20) S. 2 0 1 . D a ß in allen religiösen Handlungen das Vorwalten der rechtlichen und bürgerlichen Beziehungen eine A b w e i c h u n g von der ursprünglichen Natur der S a c h e ist, und zwar eine noch | stärkere, als welche daraus entsteht, 238 daß bei diesen Handlungen pecuniäre Verhältnisse zwischen den Geistlichen und den Gliedern der G e m e i n d e eintreten, dieses bedarf wol keiner weitern E r ö r t e rung. Allein es scheint, als o b diese Klage nie ganz würde beseitiget werden können, so lange entweder ein Staat als solcher sich zu einer gewissen Religionsgesellschaft b e k e n n t , oder wenigstens der Staat glaubt verlangen zu k ö n n e n , daß jedes seiner Mitglieder sich zu irgend einer solchen bekenne. | Was nun das E r s t e SW 378; C 341 betrifft, so tritt doch dieser Fall nur ein, wenn ein ausgesprochenes Gesez erklärt, nur in Einer Kirche sei die größte Fülle derjenigen G e s i n n u n g e n , welche im Stande wären, diesen Staat zu erhalten, und die v o l l k o m m e n s t e Sicherheit gegen alle diejenigen, die ihm schädlich werden k ö n n t e n . D a r a u s folgt denn, d a ß nur den Gliedern jener Gesellschaft die ganze Erhaltung des Staats anvertraut wird; und dieses kann doch als Gesez bei der gegenwärtigen Beschaffenheit der geselligen Verhältnisse nur da bestehen, w o der g r o ß e Körper des Volkes ungetheilt jener Gesellschaft angehört, und Glieder von andern nur zerstreut als Schüzlinge und Fremde vorhanden sind; aber bei der sehr zerstreuten Verbreitung vieler Religionsgesellschaften kann jezt ein solches Verhältniß selbst in den k a t h o l i sehen Ländern unsers Welttheils nicht mehr dauernd sein. S o scheint es d e m n a c h als o b in der gegenwärtigen Lage nicht leicht mehr ein Staat sich ganz und ungetheilt zu Einer Religionsgesellschaft bekennen k ö n n e ; und unsere südeuropäischen S t a a t e n , die jezt aufs neue die katholische Religion zur Staatsreligion gesezlich erklärt h a b e n , werden d o c h , wiewol sie im günstigsten Falle sind, und jezt noch die Protestanten nur zerstreut als Schüzlinge in ihrem G e b i e t v o r h a n den sind, o h n e H ä r t e und Ungerechtigkeit dieses System nicht viele G e n e r a t i o n e n hindurch n a c h ihrer Beruhigung festhalten k ö n n e n . G a n z ein anderes a b e r ist, wenn ohne Gesez, nur zufolge der natürlichen W i r k u n g der öffentlichen M e i -

9 Alles] C: alles 15 Wesentliches] C: wesentliches 16 S. 201.] C: Ebend. meinde] C: Gemeine 24 Erste], C: erste 35 unsers] C: unseres

20 Ge-

Über die

242

Religion

nung, selbst da, w o ein großer T h e i l der Staatsbürger einer andern Religionsgesellschaft angehört, doch nur den Bekennern der einen alles Wesentliche bei der Staatsverwaltung zufällt. D e n n eine solche Handlungsweise ist keinesweges ein S t a a t s b e k e n n t n i ß , und wir müssen freilich wünschen, d a ß diese sich noch lange erhalten möge. Wenn also das zuerst Gesagte jezt nur noch ein vorübergehender Z u s t a n d sein kann, so fragt sich, wie es mit dem Z w e i t e n steht, o b nämlich das eine richtige M a x i m e ist, wenn der Staat verlangt, jeder seiner Bürger solle sich zu irgend einer, o h n e zu entscheiden welcher, Religionsgesellschaft bekennen. Hier sei es nun vorausgegeben, daß irreligiöse Menschen auch dem bürgerlichen Verein weder heilsam sein k ö n n e n , n o c h für denselben zuverlässig. Aber werden sie dadurch religiös, wenn sie sich gezwungen zu irgend einer religiösen Gesellschaft bekennen? O f f e n b a r giebt es um die irreligiösen Menschen wirklich reli239 giös zu machen kein anderes M i t t e l , als den Einfluß der religiösen | Menschen auf sie möglichst zu verstärken; und hiezu kann der S t a a t wiederum nicht kräftiger wirken als dadurch, daß er alle religiösen Gesellschaften in seinem Umkreise sich in ihrem Gebiet mit der vollkommensten Freiheit bewegen läßt. Diese Freiheit aber werden sie nur fühlen, wenn jene Einmischungen aufhören. 21) S. 2 0 4 . Dieser Ausstellung, die nur auf einer sehr mangelhaften Erfahrung beruht, kann ich nicht mehr beistimmen. D e n n was zuerst die Fähigkeiten betrifft, so scheint es freilich, als o b das Volk und die Gebildeten nur einen sehr ungleichen G e n u ß haben könnten von einer religiösen Mittheilung, an welche nach der oben gemachten Forderung der ganze S c h m u k der Sprache gewendet ist. Aber alle wahre Beredtsamkeit muß durchaus volksmäßig sein; und wie es SW 379 nur Verkünstelung ist, wenn der Redner, sei es nun in der Wahl der Ausdrükke

5

C 342

oder auch der Gedankenverbindungen, auf eine der Mehrheit unangemessene Weise verfährt, so müssen auch die Gebildeten an einer durchaus volksmäßigen D i k t i o n können geleitet werden. Eine Theilung der Z u h ö r e r also in Bezug auf die Fähigkeiten fordert nicht die N a t u r der Sache, sondern nur das Bewußtsein der U n v o l l k o m m e n h e i t in den Künstlern, und es ist nur eine verschiedene Unv o l l k o m m e n h e i t , wenn der eine besser für das Volk redet, und der andere für die höheren Stände. Was aber zweitens die Sinnesart betrifft: so ist freilich nicht zu läugnen, daß hier die Verschiedenheiten in der Z u h ö r e r s c h a f t nur in sehr enge Grenzen dürfen eingeschlossen sein, wenn eine religiöse Mittheilung einen bedeutenden und erfreulichen Erfolg haben soll. Aber die Voraussezung ist wol unrichtig, daß in einer übrigens zusammengehörigen und in ein gemeinsames L e b e n verflochtenen Menge sehr verschiedene religiöse Eigenthümlichkeiten C 343

sich I herausbilden sollten, und zwar so wunderbar verschieden, d a ß sie a u f der

2 Wesentliche] C: wesentliche 5 Gesagte] C: gesagte 6 Zweiten] C: zweiten 18 204] C: 293 20 betrifft] C: betrift 31 höheren] C: höhern 31 betrifft] C: betrift 7 Staat verlangt] C: Staatv erlangt 22 Vgl.

185,20-30

10

15

20

25

30

35

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

zur vierten

Rede

243

einen Seite nicht kräftig genug sein sollten, um eine eigne religiöse Gemeinschaft zu erzeugen, auf der andern aber doch zu lebhaft ausgesprochen, um sich eine verschiedenartige religiöse Mittheilung aneignen zu können. Höchstens in großen Städten können so verschiedene Elemente in einen engen Raum zusammengeweht sein, und da hat auch Jeder große Leichtigkeit in der Auswahl religiöser Darstellungen, an denen er sich stärken und beleben kann. Betrachtet man aber das Volk in Bezug auf die auf der folgenden Seite erwähnten verschiedenen Formen der Frömmigkeit, und was für andre man sonst noch möchte hinzuthun können: so wird man immer finden, daß in ganzen Gegenden viele Generationen hindurch das religiöse Leben sich in der einen überwiegend mystisch gestaltet, in der andern mehr an der Geschichte haftet, in einer dritten die verständige Reflexion vorwalten läßt. Ausnahmen aber sind selten, sondern die nicht nach dem herrschenden Typus religiös sind, sind es überhaupt weniger. Wenn also nur der bunteren Welt in den großen Städten jene Leichtigkeit der Auswahl | nicht verkümmert wird durch einseitige Vorliebe der Verwaltenden, und auf der 240 andern Seite alle religiösen Redner nur nach ächter Volksmäßigkeit streben: so wäre was diesen Punkt betrifft, unser gegenwärtiger Zustand leidlich genug. 22) S. 206. Es wird hier als etwas durchaus Nothwendiges angesehen, daß der Staat außer dem, was durch jede religiöse Gemeinschaft ohnedies von selbst geschieht, und gleichviel, ob in einem Staat nur eine solche besteht, welcher er unumschränkt vertraut, oder ob mehrere, zwischen denen er sein Vertrauen gleich oder ungleich vertheilt, auf jeden Fall noch ein besonderes Bildungsinstitut anlegen muß, sei es nun nur für die jüngere Generation oder auch für den rohem Theil des Volkes; und in dieser Behauptung liegt zugleich des Redners Entscheidung über eine vielbesprochene Frage, nämlich das Verhältniß von Staat und Kirche zu dem, was wir im weitesten Umfang des Wortes Schule nennen. Seine Entscheidung nämlich ist, | wenn früher Gesagtes mit berücksichtiget wird, C 344 diese, daß eines Theils der Staat sich immerhin auf die religiösen Gemeinschaften in dieser Hinsicht verlassen möge, und so weit er sich auf sie verläßt, müsse er sie dann auch gewähren lassen und sich mit einer negativen Aufsicht über ihre SW 380 Anstalten begnügen; einen andern Theil der Schule aber gezieme ihm selbst anzulegen und zu versorgen. Diese Entscheidung möge hier noch in etwas erörtert und vertreten werden. Wo religiöse Gemeinschaft irgend einer Art ist, da ist auch in den Häusern eine gleichförmige Zucht um die Sinnlichkeit zu zähmen, daß das Erwachen des höhern geistigen Lebens durch sie nicht gehindert werde, und diese kommt in alle Wege dem bürgerlichen Leben zu Statten. Wenn aber der Staat noch eine besondere Zucht braucht um zeitig in seinen Bürgern gewisse Gewöhnungen zu begründen: so geht eine solche aus der religiösen Gemeinschaft nicht hervor. Ist nun über die Nothwendigkeit derselben ein richtiges Gefühl

5 Jeder] C: jeder 17 wäre ... betrifft] C: wäre, ... betrift 18 206] C : 2 9 6 18 Nothwendiges] C : nothwendiges 27 Gesagtes mit berücksichtiget] C : gesagtes mit berüksichtiget 7 Vgl.

208,31-209,12

244

Über die Religion

a l l g e m e i n v e r b r e i t e t : s o k a n n sich a u c h in d i e s e r H i n s i c h t d e r S t a a t auf d a s j e n i g e v e r l a s s e n , w a s d i e F a m i l i e n t h u n , n u r n i c h t s o f e r n sie E l e m e n t e d e r religiösen, s o n d e r n s o f e r n sie E l e m e n t e d e r b ü r g e r l i c h e n G e s e l l s c h a f t s i n d . Ist ein solches G e f ü h l n i c h t v e r b r e i t e t g e n u g , so m u ß d e r S t a a t ö f f e n t l i c h e e r g ä n z e n d e V o r k e h r u n g e n t r e f f e n . H i e r h i n n u n g e h ö r t alles G y m n a s t i s c h e in d e r E r z i e h u n g , w e l c h e s n i e m a l s v o n d e r K i r c h e a u s g e h e n k a n n , u n d a u c h n i c h t d e n Schein h a b e n d a r f v o n ihr a u s z u g e h e n , weil es ihr völlig f r e m d ist. F e r n e r , W o ein S y s t e m religiöser M i t t h e i l u n g b e s t e h t , d a m u ß a u c h eine g e m e i n s a m e U n t e r w e i s u n g der J u g e n d b e s t e h n in A l l e m , w a s z u m V e r s t ä n d n i ß d e r religiösen S p r a c h e u n d S y m b o l i k g e h ö r t ; u n d dies ist eigentlich die k i r c h l i c h e G e m e i n d e s c h u l e , w e l c h e i m C h r i s t e n t h u m auf U e b e r l i e f e r u n g d e r religiösen B e g r i f f e u n d bei d e n P r o t e s t a n t e n a u f ein w e n n g l e i c h b e s c h r ä n k t e s V e r s t e h e n d e r heiligen S c h r i f t a l l g e m e i n a u s g e h t . 241 H a t n u n d e r S t a a t d a s V e r t r a u e n , d a ß h i e r m i t zu|gleich eine l e b e n d i g e M i t t h e i l u n g sittlicher B e g r i f f e u n d d i e K e i m e einer a l l g e m e i n e n V e r s t a n d e s e n t w i c k e l u n g C 345 g e g e b e n s i n d : s o k a n n er sich f ü r diese G e g e n s t ä n d e | auf d i e k i r c h l i c h e S c h u l e v e r l a s s e n . Alles S t a t i s t i s c h e a b e r , M a t h e m a t i s c h e u n d T e c h n i s c h e u n d w a s s o n s t n o c h f ü r a l l g e m e i n e s J u g e n d b e d ü r f n i ß g e h a l t e n w e r d e n m a g , ist d e r k i r c h l i c h e n S c h u l e f r e m d ; s o n d e r n dies ist die b ü r g e r l i c h e , u n d m u ß v o n d e r b ü r g e r l i c h e n G e m e i n d e b e s c h a f f t w e r d e n . Sind n u n K i r c h e n g e m e i n d e u n d B ü r g e r g e m e i n d e g a n z d a s s e l b e : s o k ö n n e n z w a r bei v o r w a l t e n d e n G r ü n d e n d i e k i r c h l i c h e S c h u l e u n d die b ü r g e r l i c h e in E i n e A n s t a l t v e r e i n i g t w e r d e n , d a d u r c h a b e r g e w i n n t e b e n s o w e n i g d e r S t a a t ein R e c h t z u r L e i t u n g d e r k i r c h l i c h e n S c h u l e , als die K i r c h e ein R e c h t z u r L e i t u n g d e r b ü r g e r l i c h e n . E n d l i c h , jede religiöse G e m e i n s c h a f t , w e l c h e eine s o l c h e G e s c h i c h t e h a t , d a ß z u r A u f f a s s u n g i h r e r E n t w i k l u n g h ö h e r e K e n n t n i s s e e r f o r d e r t w e r d e n , w e l c h e in d a s G e b i e t d e r W i s s e n s c h a f t u n d d e r G e l e h r s a m k e i t g e h ö r e n , b e d a r f einer A n s t a l t z u r E r h a l t u n g u n d w e i t e r n A u s b i l d u n g dieser K e n n t n i s s e , u n d dies ist d i e k i r c h l i c h e H o c h s c h u l e ; alle ü b r i g e n Wiss e n s c h a f t e n a b e r sind d e r K i r c h e f r e m d . B e s t e h e n n u n in e i n e m S t a a t e n t w e d e r d u r c h i h n o d e r u n a b h ä n g i g v o n i h m als f r e i e K ö r p e r s c h a f t e n a l l g e m e i n e w i s s e n s c h a f t l i c h e H o c h s c h u l e n ; u n d h a t die K i r c h e d a s V e r t r a u e n , d i e d o r t h e r r s c h e n d e n M e t h o d e n seien i h r e m B e d ü r f n i ß a n g e m e s s e n : s o k a n n sie es r a t h s a m f i n d e n i h r e b e s o n d e r e H o c h s c h u l e m i t jenen a l l g e m e i n e n zu v e r b i n d e n . Z u b e s t i m m e n a b e r , o b d i e s e V e r b i n d u n g r a t h s a m sei o d e r n i c h t , d a s k a n n n u r d e r K i r c h e z u SW 381 k o m m e n u n d n i c h t d e m S t a a t o d e r j e n e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n K ö r p e r s c h a f t e n ; u n d e b e n s o w e n i g k a n n , w e n n d i e V e r b i n d u n g zu S t a n d e k o m m t , d i e K i r c h e w e d e r h i e r a u f ein R e c h t g r ü n d e n die w i s s e n s c h a f t l i c h e n A n s t a l t e n im A l l g e m e i n e n zu b e h e r r s c h e n , n o c h a u c h eigentlich d a s R e c h t a u f g e b e n , i h r e b e s o n d e r e H o c h s c h u l e zu b e a u f s i c h t i g e n . W e n n sich n u n K i r c h e u n d S t a a t in H i n s i c h t auf d i e S c h u l e Z u s a m m e n t h u n o d e r a u s e i n a n d e r s e z e n , k a n n es v e r n ü n f t i g e r w e i s e n u r n a c h diesen G r u n d s ä z e n g e s c h e h e n . D i e s e G r u n d s ä z e a b e r i m V e r h ä l t n i ß zu d e r e i n e n K i r c h e a n z u e r k e n n e n , im V e r h ä l t n i ß zu einer a n d e r n a b e r n i c h t , das ist d i e

2 so fern] C: sofern 5 Gymnastische] C: gymnastische 9 Allem] C: allem 14 Verstandesentwickelung] C: Verstandesentwikkelung 16 Statistische ... Mathematische ... Technische] C: statistische ... mathematische ... technische 36 Allgemeinen] C: allgemeinen

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Erläuterungen

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zur vierten

Rede

245

größte Inconsequenz, welche auf diesem Gebiet begangen werden kann; und die zurükgesetzte Kirche muß darunter nothwendig so leiden, daß in | ihren C 346 lebendigsten Gliedern ein unheilbares Mißverhältniß zwischen ihrem religiösen und ihrem politischen Gefühl entsteht. 23) Ebend. Wohlgemerkt mit jeder s o l c h e n Verbindung. Und diese Ansicht steht mir noch immer fest, ja um so fester als damals je mehr bedauernswürdige Verwirrungen ich aus dieser Angehörigkeit der Kirche an den Staat seitdem habe entstehen sehen; Verwirrungen an die man damals um so weniger denken konnte, da eine einzige der Art an der herrschenden Gesinnung der Zeit so schnell gescheitert war. Ohne alle Verbindung aber mit dem Staat können die religiösen Gemeinschaften unmöglich bleiben; das zeigt sich selbst | da, wo sie 242 am allermeisten sind. Das Mindeste ist freilich, daß der Staat die religiösen Gesellschaften nur eben so behandelt wie andere Privatgesellschaften, d. h. daß er als allgemeines Geselligungsprinzip von ihnen Kenntniß nimmt, und sich in Stand sezt einzugreifen, im Fall sie etwas der gemeinsamen Freiheit und Sicherheit Aller Nachtheiliges hegen sollten. Allein mit diesem Mindesten ist selten abzukommen; das zeigt sich selbst in Nordamerika, wo sie am freisten sind. Denn je freier die Kirchen sind, um desto leichter geschieht es auch, daß einzelne sich auflösen oder mehrere zusammenwachsen; und wenn sie auch keinen andern Besiz haben, als die nothdürftigsten Mittel des Zusammenseins, so entstehen dann doch schwierige Auseinandersezungen, bei denen der Staat der natürliche Schiedsrichter und Ausgleicher ist. Hätte dieses und kein anderes Verhältniß bestanden zwischen Kirche und Staat zur Zeit der Kirchenverbesserung: so würde jezt nicht der sonderbare Fall statt haben, daß in größtentheils protestantischen Ländern die katholische Kirche äußerlich wohl ausgestattet und sicher gestellt wird, die evangelische aber auf einen wandelbaren und oft nur sehr zweideutigen guten Willen verwiesen bleibt. Jede hierüber hinausgehende Verbindung aber zwischen Kirche und Staat, wie sie aus den oben beschriebenen Combinationen entstehen können, sollte ihrer Natur nach immer nur als ein vorübergehendes Privatabkommen angesehen werden. Je mehr es nun dergleichen giebt, desto mehr wird es das | Ansehen gewinnen, daß eine Kirchengemeinschaft in- C 347 nerhalb eines Staates ein engeres Ganze als Landeskirche bildet, und von ihren Glaubensgenossen in andern Staaten sich mehr ablöst. Je weniger es dergleichen Abkommen giebt, um desto mehr kann eine Kirchengemeinschaft, über wie viele Staaten sie auch verbreitet sei, als ein ungetheiltes Ganze erscheinen, und also

2 zurükgesetzte] C: zuriikgesezte 12 Mindeste] C: mindeste Mindesten] C: nachtheiliges ... mindesten

16 Nachtheiliges ...

6—8 Anspielung wohl auf die Auseinandersetzungen um die von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen betriebene Kirchenunion und die damit verbundene Reform der Kirchenverfassung und der Gottesdienstordnung 9f Anspielung vermutlich auf das schnell gescheiterte Projekt einer lutherisch-reformierten Kirchenunion in der französischen Rheinpfalz 1802/03, vgl. Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat, Berlin 1804, S.21

Über die

246

Religion

SW 382 die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat desto stärker ins Licht treten. Alle innerhalb dieser Grenzen bestehenden Verhältnisse zwischen beiden sind zulässig, und es gehört also auch zur Vollständigkeit, daß sie alle irgendwann und wo geschichtlich bestehen. Was hingegen darüber hinausgeht, ist vom Uebel. 24) Ebend. Diese Verwerfung alles nähern Zusammenhanges unter den Gemeinden desselben Glaubens und aller festgeschlossenen religiösen Verbindungen ist nur dadurch motivirt, daß jede bestehende Kirche nur als ein äußerer Anhang der wahren Kirche, nicht als ein lebendiger Bestandtheil derselben angesehen wird, und also auch nur in sofern richtig, als die Voraussezung selbst richtig ist. Wenn ich daher, seitdem ich dieses schrieb, mich als einen eifrigen Vertheidiger der Synodalverfassung, welche unter dieser Verwerfung offenbar auch begriffen ist, bewiesen habe: so kommt dies daher, daß ich einestheils von der Voraussezung selbst abgegangen bin und durch erfreuliche Erfahrungen sowol als Beobachtungen die Ueberzeugung gewonnen habe, daß wahrhaft Gläu243 bige und Fromme in | hinreichender Anzahl in unsern Gemeinden vorhanden sind, und daß es lohnt ihren Einfluß auf die übrigen möglichst zu verstärken, welcher ohnstreitig die natürliche Folge wohlgeordneter Verbindungen ist. Anderntheils aber giebt auch das Leben in unserer Zeit sehr bald die Ansicht, daß jede Verbesserung, wenn sie gedeihen soll, von allen Seiten zugleich eingeleitet werden muß, und dazu gehört nothwendig, daß man die Menschen in manchen Beziehungen behandle, als wären sie schon das, wozu sie erst sollen gemacht werden. Denn sonst findet man immer noch nothwendig zu warten, und niemals möglich anzufangen. — Weil aber nach meiner Ansicht die Befugniß zu solchen C 348 genauem Verbindungen nur darauf beruht, daß die | Theilnehmer Glieder der wahren Kirche sind, in welcher der Gegensaz zwischen Priestern und Laien nur momentan besteht und nie bleibend sein kann, werde ich auch immer nur eine solche Verfassung vertheidigen können, die auf dieser Gleichsezung beruht, und eine andere kann es auch in der evangelischen Kirche niemals geben. Wo Synodalvereine blos der Geistlichen unter sich statt finden, da erscheinen auch diese nur entweder im Auftrag des Staates gutachtlich berathend, oder die Vereinigung ist mehr eine litterarische und freundschaftliche als kirchliche und verfassungsmäßige. Nur der katholischen Kirche ziemt eine verfassungsmäßige Priesterherrschaft; denn der Grundstein dieser Kirche ist die höhere persönliche religiöse Würde der Priester, und der Grundsaz, daß die Laien nur durch Vermittelung von jenen sich ihres Antheils an den Gütern der Kirche erfreuen. Noch genauer hängt die lezte an dieser Stelle gewagte Behauptung, daß auch zwischen Lehrer und Gemeinde kein äußerlich festes Band stattfinden soll, mit jener Voraussezung zusammen, daß die Gemeinden zur Religion erst sollen geführt werden. Denn dieses kann freilich nur unter der Bedingung der vollkommensten Freiwilligkeit gelingen. Wer soll aber denn das äußerliche Band schließen? Weder der

5 Ebend.] C: S. 297. 5 24)] C: 24. C: uur

14 Ueberzeugung] C: Uebrezeugung

16 lohnt] C: lohut

26 nur]

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Erläuterungen

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zur vierten

Rede

247

Staat noch eine K o r p o r a t i o n von Geistlichen darf es t h u n , weil sonst die Freiwilligkeit nicht statt findet; die Gemeinden aber k ö n n e n es nicht, weil sie kein Urtheil haben k ö n n e n über diejenigen, die ihnen erst die Fähigkeit mittheilen sollen den Werth, w o r a u f es hier a n k o m m t zu schäzen, d a h e r auf eine richtige SW 383 Weise ein solches Band nur geschlossen werden u n d festhalten k a n n , w o in den Gemeinden schon der Geist der Frömmigkeit vorausgesezt w e r d e n d a r f , u n d w o diejenigen, welche das Urtheil leiten und begränzen k ö n n e n , schon als aus der Mitte der G e m e i n d e hervorgegangen anzusehen sind. Hierin liegen zugleich die Prinzipien, u m zu bestimmen, wie fest in den verschiedenen Verhältnissen dieses Band schon sein d a r f , oder wie frei man es noch lassen m u ß . 25) S. 207. Ueber die Grenzen der bindenden Kraft, | welche die Symbole C 349 ausüben, h a b e ich mich vor k u r z e m , wiewol n u r in Beziehung auf die evangelische Kirche, ausführlicher erklärt. Un|heilig n e n n e ich hier diese Bande, w e n n 244 es damit auf die gewöhnliche Weise gehalten wird; und dieser M e i n u n g bin ich noch immer. D e n n unheiliger ist dem F r o m m e n nichts als der Unglaube, u n d dieser ist es, von dem eine rechte Fülle bei der M a x i m e z u m G r u n d e liegt, die Religionslehrer, ja sogar die Lehrer der Theologie an den Buchstaben der Bekenntnißschriften zu binden. Es ist Unglaube an die Gewalt des kirchlichen Gemeingeistes, wenn m a n nicht überzeugt ist, das Fremdartige in Einzelnen w e r d e sich durch die lebendige Kraft des Ganzen entweder assimiliren oder eingehüllt u n d unschädlich gemacht werden, sondern meint eine äußere Gewalt nöthig zu haben, um es auszustoßen. Es ist Unglauben an die Kraft des Wortes Christi u n d des Geistes der ihn verklärt, w e n n m a n nicht glaubt, d a ß jede Zeit von selbst sich ihre eigne angemessene E r k l ä r u n g und A n w e n d u n g desselben bilde, sondern meint, man müsse sich an das halten, was eine f r ü h e r e Zeit hervorgebracht, d a uns ja jetzt nicht mehr begegnen k a n n , d a ß der Geist der Weissagung v e r s t u m m e , und da die heilige Schrift selbst dieses nur geworden ist u n d bleibt d u r c h die Kraft des freien G l a u b e n s und nicht durch eine äußere Sanction. 26) S. 208. Das G e f ü h l , d a ß es mit den kirchlichen Angelegenheiten nicht auf demselben P u n k t bleiben k ö n n e , auf welchem sie in d e m g r ö ß t e n Theile von Deutschland d a m a l s standen u n d auch größtentheils noch stehen, ist wol seitdem viel allgemeiner geworden u n d viel bestimmter ausgebildet; aber wie sich die Sache wenden werde, ist noch nicht viel deutlicher zu sehen. N u r so viel läßt sich wol vorhersehen, wenn unsere evangelische Kirche nicht bald in eine Lage versezt wird, d a ß sich ein frischer Gemeingeist in ihr entwikkeln k a n n , u n d wenn die beschränkende Behandlung unserer Hochschulen u n d unseres öffentlichen

11 207] C: 298

26 jetzt] C: jezt

29 208] C: 299

17 f Bekenntnißschriften] C: Bekenutnißschriften 30 bleiben] C: bleiben

26 verstumme,] D: verstumme

11 — 13 Vgl. Ueber den eigentümlichen Werth und das bindende Ansehen symbolischer Bücher, in: Reformationsalmanach auf das Jahr 1819, Jg. 1, Erfurt o.J. [1818J, S. 335 381; KGA 1/10,119-144

248

C 350

SW 384

245

C 351

Über die

Religion

geistigen Verkehrs noch länger fortgesezt wird: so sind die H o f n u n g e n , denen wir uns für dieses Gebiet überlassen zu k ö n n e n glaubten, nur taube Blüthen gewesen, | und die schöne M o r g e n r ö t h e der lezten Z e i t hat nur Unwetter bedeutet. Es werden dann lebendige Frömmigkeit und freisinniger M u t h aus dem geistlichen Stande immer mehr verschwinden, H e r r s c h a f t des todten Buchstaben von o b e n , ängstliche geistlose Sektirerei von unten, werden sich einander immer m e h r nähern, und aus ihrem Z u s a m m e n s t o ß wird ein Wirbelwind entstehn, der viel rathlose Seelen in die aufgespannten G a r n e des Jesuitismus hineintreibt, und den großen H a u f e n bis zur gänzlichen Gleichgültigkeit a b s t u m p f t und ermüdet. D i e Zeichen die dies verkünden sind deutlich genug; aber aussprechen sollte doch jeder bei J e d e r Gelegenheit, daß er sie sieht, zum Z e u g n i ß über die, die ihrer nicht achten. 27) S. 2 1 0 . Diese Beschränkung wird Vielen zu eng scheinen. Eine sehr gründliche und entwikkelte Geistesbildung, eine reiche innere Erfahrung kann sehr wohl da sein, wo die theologischen W i s s e n s c h a f t e n fehlen, welche die unerlaßliche Bedingung des kirchlichen Lehramtes sind. Sollen sich nun solche G a ben ganz auf den engen Kreis des häuslichen L e b e n s mit ihrer religiösen Wirksamkeit beschränken? Könnten und sollten nicht solche M e n s c h e n , wenn sie auch den öffentlichen religiösen Versammlungen nicht vorstehen dürfen, denn o c h in freieren größeren Kreisen wirken durch das lebendige Wort? und sollte m a n sie nicht auf die ungemessene W i r k s a m k e i t verweisen, welche sie sich durch das geschriebene W o r t verschaffen können? H i e r a u f h a b e ich zweierlei zu antworten. Z u e r s t , daß sich an das häusliche Leben von selbst Alles anschließt, was als freie Geselligkeit dem Familienzusammenhang am nächsten steht, und daß da den C h a r a k t e r eines freisinnigen religiösen L e b e n s darzulegen eine nicht geringe aber noch i m m e r weder genug verstandene, noch genug geübte Aufgabe ist. Wäre sie es, so könnte unmöglich in einem großen Theile von Deutschland und namentlich von den höhern und feinern Gesellschaftskreisen ein so schneidender Widerspruch stattfinden zwischen dem Interesse, was an religiösen Formeln und theologischen Streitigkeiten g e n o m m e n wird, und einem häuslichen und geselligen L e b e n , in welchem sich keine Spur | eines entschieden religiösen C h a r a k t e r s zeigt. H i e r ist also noch ein großes G e b i e t , auf welchem sich der f r o m m e Sinn bewähren kann. A b e r größere über die Grenzen und die Natur des geselligen Lebens hinausgehende religiöse Z u s a m m e n k ü n f t e , die aber doch nicht die A b z w e k k u n g haben im vollen Sinn eine eigne G e m e i n d e zu bilden, kurz eigentliche Conventiculn bleiben immer unselige Mitteldinge, die zur wahren F ö r d e r u n g der Religion von jeher wenig oder nichts beigetragen haben, wol aber K r a n k h a f t e s bald erzeugt bald wenigstens gehegt. Zweitens, was die religiöse T h ä t i g k e i t durch das geschriebene W o r t betrifft: so wäre es allerdings sehr übel, wenn auch diese der geistliche Stand als ein M o n o p o l besitzen sollte, ja auch

11 bei Jeder] C: bei jeder 13 210] C: 302 alles 38 Krankhaftes] C; krankhaftes 28 namentlich] D: namentlich vollem

13 Vielen] C: vielen

30 theologischen] C: he ologischen

23 Alles] C:

35 vollen] C:

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Erläuterungen

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lt)

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zur vierten

Rede

249

nicht einmal das scheint mir mit dem Geist der evangelischen Kirche verträglich, wenn er eine allgemeine Censur darüber ausüben sollte. Die größte Freiheit muß hier allerdings stattfinden; aber ganz verschieden sind die Fragen, ob ein Jeder soll seine religiösen Ansichten und Stimmungen auf diesem Wege mittheilen dürfen? und ob es sehr rathsam ist, daß dies häufig geschehe? Und das Lezte ist gar sehr zu bezweifeln. Der Nachtheil aus der Fluth mittelmäßiger Romane und Kinderschriften ist nicht entfernt zu vergleichen mit dem aus der Masse mittelmäßiger religiöser Schriften. Denn diese sind offenbar eine Entheiligung, jene nicht. Und viel leichter fällt hier auch ein ausgezeichnetes Talent in das Mitteimäßige. Denn was hier anziehn und sich Bahn machen soll, ist die subjektive Auffassung allgemein bekannter Gegenstände und Verhältnisse, und das kann nur gelingen bei einem hohen Grade naiver Originalität, oder bei einer wahren Begeisterung, komme sie aus der innersten Tiefe eines in sich abgeschlossenen Ge|müthes, oder aus der erregenden Kraft eines großartig bewegten Lebens. 246; SW 385 Ohne diese Mittel aber kann immer nur Mittelmäßiges zu Stande kommen. Anders ist es mit der bestimmten Gattung des religiösen Liedes. Diese ist unter uns sehr überwiegend von Laien aus allen Ständen bearbeitet worden, und Vieles was ein strenger Richter nur mittelmäßig nennen würde, ist in den | kirchlichen C 352 Gebrauch übergegangen, und hat dadurch eine Art von Unsterblichkeit erlangt. Allein hier wirken zweierlei Umstände mit. Einestheils hat jedes kirchliche Liederbuch nur ein sehr beschränktes Gebiet, und hier kann manches gut sein, was nicht alle Eigenschaften hat, welche die absolute Oeffentlichkeit erfordert. Viele von diesen Produktionen würden gewiß längst untergegangen und vergessen sein, wenn sie sich als reine schriftstellerische Werke hätten erhalten sollen. Anderntheils aber wirkt bei dem öffentlichen Gebrauch dieser Gattung noch soviel Anderes mit, so daß der Dichter die Wirkung nicht allein hervorzubringen braucht, sondern er wird unterstüzt durch den Tonkünstler, durch welchen mehr oder weniger Alles mitklingt und wirkt, was auf dieselbe Weise gesezt und Allen bekannt ist; er wird unterstüzt durch die Gemeinde, welche ihre Andacht mit in die Ausführung hineinlegt, und durch den Liturgen, der dem Werk des Dichters in einem größern Zusammenhange seine rechte Stelle anweiset.

3 Jeder] C: jeder 5 Lezte] C: lezte 9 f Mittelmäßige] C: mittelmäßige mäßiges] C: mittelmäßiges 17 Vieles] C: vieles 2 6 Anderes] C : anderes ... Allen] C: alles ... allen 29 Gemeinde] C: Gemeine 5 häufig] C: häu/

15 Mittel2 8 Alles

247; Β 282; C 353; SW 386

Fünfte

Rede.

U e b e r die R e l i g i o n e n .

D a ß der Mensch in der unmittelbarsten Gemeinschaft mit dem Höchsten begriffen ein Gegenstand der Achtung, ja der Ehrfurcht für Euch Alle sein muß; daß Keiner, der von jenem Zustande noch etwas zu verstehen fähig ist, sich bei der Betrachtung desselben dieser Gefühle enthalten kann: das ist über allen Zweifel hinaus. Verachten mögt Ihr Jeden, dessen Gemüth leicht und ganz von kleinlichen Dingen angefüllt wird: aber vergebens werdet Ihr versuchen den gering zu schäzen, der das Größte in sich saugt und sich davon nährt. Lieben oder hassen mögt Ihr Jeden, je nachdem er auf der beschränkten Bahn der Thätigkeit und der Bildung mit Euch oder gegen Euch geht: aber auch das schönste Gefühl unter denen, die sich auf Gleichheit gründen, wird nicht in Euch haften können, in Beziehung auf den, welcher so weit über Euch erha-| δ 283; C 354 ben ist, als derjenige, der in der Welt das höchste Wesen sucht | über J e d e m steht, der sich nicht mit ihm in demselben Zustande befindet. Ehren müßt Ihr, so sagen Eure Weisesten, auch wider Willen den Tugendhaften, der nach den Gesezen der sittlichen Natur das Endliche unendlichen Forderungen gemäß zu bestimmen trachtet: aber wenn es Euch auch möglich wäre in der Tugend selbst etwas Lächerliches zu finden, wegen des Gegensazes beschränkter Kräfte mit dem unendlichen Beginnen; so würdet Ihr doch Demjenigen Achtung und Ehrfurcht nicht versaSW 387; 248 gen können, dessen Organe dem | Universum geöffnet sind, und der, fern von jedem Streit und Gegensaz, erhaben über jedes unvollendbare Streben, von den Einwirkungen desselben durchdrungen und Eins mit

4 Höchsten] B: Universum 4 Achtung, ja] B: Achtung und 12 gegen Euch] B: Euch entgegen 15 derjenige, ... sucht] B: der Beschauer des Universum 20 Lächerliches] B + C: lächerliches 21 wegen ... beschränkter] B: an dem Gegensaz endlicher 23 geöffnet] B + C: geöfnet

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Fünfte

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lo

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Rede

251

ihm geworden, wenn Ihr ihn in diesem köstlichsten M o m e n t des m e n s c h lichen Daseins b e t r a c h t e t , den himmlischen Strahl unverfälscht auf E u c h zurükwirft. O b also die Idee, welche ich E u c h g e m a c h t von dem Wesen und Leben der Religion, E u c h jene A c h t u n g a b g e n ö t h i g t h a t , die ihr falschen Vorstellungen zufolge und weil Ihr bei zufälligen D i n g e n verweiltet, so oft von E u c h versagt worden ist; o b meine G e d a n k e n ü b e r den Z u s a m m e n h a n g dieser uns allen i n w o h n e n d e n A n l a g e mit dem w a s sonst unserer N a t u r Vortreffliches und Gött|liches zugetheilt ist, E u c h Β 284 angeregt h a b e n zu einem innigeren A n s c h a u n unseres Seins und Werdens; o b Ihr aus dem h ö h e r e n S t a n d t p u n k t , den ich E u c h gezeigt h a b e , in jener so | sehr verkannten erhabneren G e m e i n s c h a f t der Geister, w o C 355 Jeder, den R u h m seiner Willkür, den Alleinbesiz seiner innersten Eigenthümlichkeit und ihres Geheimnisses nichts a c h t e n d , sich freiwillig hingiebt um sich a n s c h a u e n zu lassen als ein W e r k des ewigen und Alles bildenden Weltgeistes; o b Ihr in ihr nun das Allerheiligste der Geselligkeit bewundert, das ungleich H ö h e r e als jede irdische Verbindung, das Heiligere als selbst der zarteste Freundschaftsbund einzelner sittlicher G e m ü t h e r ; o b also die ganze Religion in ihrer U n e n d l i c h k e i t in ihrer göttlichen Kraft E u c h hingerissen hat zur A n b e t u n g : d a r ü b e r frage ich E u c h nicht; denn ich bin der Kraft des G e g e n s t a n d e s g e w i ß , der nur aus seinen entstellenden Verhüllungen befreit werden durfte, u m a u f E u c h zu wirken. J e z t aber h a b e ich zulezt ein neues G e s c h ä f t auszurichten, und einen neuen W i d e r s t a n d zu besiegen. Ich will E u c h gleichsam zu dem G o t t , der Fleisch geworden ist, hinführen; ich will E u c h die Religion zeigen, wie sie sich ihrer Unendlichkeit e n t ä u ß e r t h a t , und in oft dürftiger Gestalt unter den M e n s c h e n erschienen ist; in den Religionen sollt Ihr die Religion e n t d e k k e n ; in dem, was im|mer nur irdisch und ver- Β 285; SW 388 unreinigt vor E u c h steht, | die einzelnen Z ü g e derselben h i m m l i s c h e n 249 Schönheit aufsuchen, deren Gestalt ich abzubilden versucht h a b e . Wenn Ihr einen Blik a u f den gegenwärtigen Z u s t a n d der D i n g e werft, w o die Spaltun|gen der K i r c h e und die Verschiedenheit der Reli- C 356 gion fast überall z u s a m m e n t r e f f e n , und beide in ihrer A b s o n d e r u n g un-

1 köstlichsten] B: köstlichen 3 zurükwirft] B: zurückwirft 3 gemacht] B: gemacht habe 4 f ihr ... zufolge] B: ihr, ... zufolge, 7 uns allen ... Anlage] B: Uns Allen ... Anlage, 8 Vortreffliches] Β + C: Vortrefliches 12 Jeder,] ß: Jeder 17 einzelner] fehlt in Β 2 0 f aus ... befreit] B: frei gemacht 22 zulezt] fehlt in Β 24 Gott, ... ist,] B: Gott ... ist 2 7 f dem, ... steht,] B: dem ... steht 29 abzubilden] Β: nachzubilden 30 Blik] B: Blikk 31 die Verschiedenheit] fehlt in Β 13 Geheimnisses] C: Geheimnissen 24 Vgl. Joh 1,14

25 f Vgl. Phil 2,6 f

252

Über die Religion

zertrennlich verbunden zu sein scheinen; w o es so viel Lehrgebäude und G l a u b e n s b e k e n n t n i s s e giebt als Kirchen und religiöse G e m e i n s c h a f t e n : so k ö n n t e t Ihr leicht verleitet werden zu g l a u b e n , d a ß in meinem Urtheil ü b e r die Vielheit der K i r c h e zugleich auch das über die Vielheit der Religion ausgesprochen sei; Ihr würdet aber darin meine M e i n u n g gänzlich mißverstehen. Ich h a b e die Vielheit der K i r c h e v e r d a m m t : aber eben indem ich aus der N a t u r der S a c h e gezeigt h a b e , d a ß hier alle streng und gänzlich trennenden Umrisse sich verlieren, alle b e s t i m m t e Abtheilungen verschwinden, und Alles nicht nur dem Geist und der T h e i l n a h m e nach Ein ungetrenntes G a n z e sein, sondern auch der wirkliche Z u s a m m e n h a n g sich i m m e r größer ausbilden und i m m e r m e h r jener höchsten allgemeinen Einheit nähern soll, so h a b e ich überall die Vielheit der Religion Β 286 und ihre bestimmteste Verschiedenheit | als e t w a s Nothwendiges und Unvermeidliches vorausgesezt. D e n n w a r u m sollte die innere w a h r e Kirc h e Eins sein? N i c h t auch d a r u m , d a m i t J e d e r anschauen und sich mittheilen lassen k ö n n t e die Religion des A n d e r n , die er nicht als seine eigene a n s c h a u e n k a n n , weil sie als in allen einzelnen Regungen von der seinigen verschieden gedacht wurde? W a r u m sollte auch die äußere und C 357 uneigentlich sogenannte K i r c h e nur E i n e sein? D a r u m , | d a m i t J e d e r in ihr die Religion in der Gestalt aufsuchen k ö n n t e , die dem schlummernden K e i m der in ihm liegt, die angemessene ist, welcher also w o h l von einer b e s t i m m t e n Art sein m u ß t e , wenn er d o c h nur durch dieselbe bes t i m m t e Art befruchtet und e r w e k t werden k a n n . Und unter diesen versw 389 schiedenen Erscheinungen der Religion k o n n t e n eben deshalb nicht etwa nur Ergänzungsstüke gemeint sein, die blos numerisch und der G r ö ß e 250 n a c h v e r s c h i e d e n , wenn m a n sie z u s a m m e n b r ä c h t e ein gleichförmiges und dann erst vollendetes G a n z e ausgemacht hätten; denn alsdann würde J e d e r in seiner natürlichen Fortschreitung von selbst zu demjenigen gelangen, was des anderen ist; die Religion, die er sich mittheilen läßt, w ü r d e sich in die seinige verwandeln, und mit ihr Eins werden, und die K i r c h e , diese j e d e m religiösen M e n s c h e n , auch zufolge der angegebnen A b s i c h t , als unentbehrlich sich darstellende G e m e i n s c h a f t mit allen Β 287 G l ä u b i g e n , w ä r e nur eine | interimistische und sich selbst durch ihre eigne W i r k u n g nur um so schneller wieder aufhebende Anstalt, wie ich

12 soll,] B: soll: 13 £ Nothwendiges und Unvermeidliches] B + C: nothwendiges und unvermeidliches 1 7 f weil ... seinigen] B: und die also als gänzlich von ihr 19 nur Eine] B: Eins 19 f in ihr] fehlt in Β 21 liegt, die angemessene] B: liegt homogen 23 f unter diesen verschiedenen] Β: mit diesen 2 4 eben deshalb] fehlt in Β 25 blos] B : bloß 31 angegebnen] B: gegebnen 9 nicht] C: uicht

17—19 einzelnen ... uneigentlich] C : ein /zelnen ... uneigent /lieh

5

10

15

20

25

30

Fünfte

5

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25

30

Rede

253

sie doch keinesweges will gedacht oder dargestellt h a b e n . S o h a b e ich die M e h r h e i t der Religionen vorausgesezt, und eben s o finde ich sie i m Wesen der Religion begründet. S o viel sieht J e d e r leicht, d a ß N i e m a n d alle Religion v o l l k o m m e n in sich selbst besizen k a n n ; denn der M e n s c h ist auf eine gewisse Weise bestimmt, die Religion a b e r a u f unendlich viele be|stimmbar; allein eben so wenig k a n n auch das E u c h fremd sein, d a ß sie nicht e t w a nur theilweise, so viel eben J e d e r zu fassen vermag, und aufs G e r a t h e w o h l unter den M e n s c h e n zerstükkelt sein k a n n , sondern d a ß sie sich in E r s c h e i n u n gen organisiren m u ß , w e l c h e mehr von einander verschieden und a u c h mehr einander gleich sind. Erinnert E u c h nur an die mehreren Stufen der Religion, a u f welche ich E u c h a u f m e r k s a m g e m a c h t h a b e , d a ß n ä m lich die Religion dessen, dem die Welt sich schon als ein lebendiges G a n z e zu erkennen giebt, nicht eine b l o ß e Fortsezung sein k a n n v o n der Ansicht dessen, der sie nur erst in ihren s c h e i n b a r entgegengesezten Elementen a n s c h a u t , und d a ß dahin, w o dieser steht, w i e d e r u m derjenige nicht auf seinem bisherigen Wege gelangen k a n n , dem das U n i v e r s u m n o c h eine c h a o t i s c h e und ungesonderte Vorstellung ist. Ihr | m ö g t diese Verschiedenheiten nun Arten oder G r a d e der Religion n e n n e n : so werdet Ihr doch zugeben müssen, d a ß sonst überall w o es solche Verschiedenheiten giebt, das heißt w o eine unendliche Kraft sich erst in ihren D a r Stellungen theilt und son|dert, sie sich auch in eigenthümlichen und verschiedenen G e s t a l t e n zu o f f e n b a r e n pflegt. G a n z e t w a s anders ist es also mit der Vielheit der Religionen, als mit der der K i r c h e . D e n n das Wesen der K i r c h e ist ja dieses, d a ß sie G e m e i n s c h a f t sein will. Also k a n n ihre G r e n z e nicht sein die Einerleiheit des Religiösen, weil es ja e b e n das Verschiedene ist, welches in G e m e i n s c h a f t soll g e b r a c h t w e r d e n 1 . Sondern | wenn Ihr meint, w o r a n Ihr auch o f f e n b a r ganz recht h a b t , d a ß auch sie in der W i r k l i c h k e i t nie völlig und a u f gleiche Weise k ö n n e Eins werden: so k a n n dies nur darin gegründet sein, d a ß jede w i r k l i c h in Z e i t und R a u m bestehende G e m e i n s c h a f t ihrer N a t u r nach begrenzt ist, und in sich selbst zerfällt, weil sie zu sehr a b n e h m e n m ü ß t e an Innigkeit, wenn sie ungemessen z u n ä h m e an U m f a n g . D i e Religion hingegen sezt

2 Mehrheit] B: Wahrheit 3 begründet] B: gegründet 8 und aufs Gerathewohl] fehlt in Β 10 verschieden] B: verschieden, 11 Stufen] B + C: Stuffen 16 dahin, ... steht,] B: dahin ... steht 17 bisherigen] fehlt in Β 21 das heißt wo] B: und 23 anders] B: andres 28 woran ... habt] B: mit Recht vielleicht 3 0 f jede ... bestehende] B: die

12 Vgl.

121,33-124,7

C158

Β 288

sw 390 251

C359

254

Über die

Religion

g r a d e in i h r e r V i e l h e i t die m ö g l i c h s t e E i n h e i t d e r K i r c h e v o r a u s , i n d e m sie n i c h t m i n d e r f ü r die G e m e i n s c h a f t als f ü r d e n E i n z e l n e n s e l b s t sich in d i e s e m a u f d a s b e s t i m m t e s t e a u s z u b i l d e n s t r e b t . I h r s e l b s t a b e r ist d i e s e V i e l h e i t n o t h w e n d i g , w e i l sie n u r so g a n z e r s c h e i n e n k a n n . S i e m u ß Β 289 ein P r i n c i p | s i c h zu i n d i v i d u a l i s i r e n in sich h a b e n , w e i l sie s o n s t g a r n i c h t d a sein u n d w a h r g e n o m m e n w e r d e n k ö n n t e . D a h e r m ü s s e n

5

wir

e i n e u n e n d l i c h e M e n g e b e s t i m m t e r F o r m e n p o s t u l i r e n u n d a u f s u c h e n , in d e n e n sie sich o f f e n b a r t , u n d w o w i r E t w a s f i n d e n w a s e i n e s o l c h e zu sein b e h a u p t e t , w i e d e n n j e d e a b g e s o n d e r t e R e l i g i o n sich d a f ü r a u s g i e b t , m ü s s e n w i r sie d a r a u f a n s e h n , o b sie d i e s e m P r i n z i p g e m ä ß e i n g e r i c h t e t ist, u n d m ü s s e n u n s d a n n d a s , w o d u r c h sie ein b e s o n d e r e s sein

10

und

d a r s t e l l e n w i l l , k l a r m a c h e n , sei es a u c h u n t e r w e l c h e n f r e m d e n U m h ü l lungen verstekt, und wie sehr entstellt nicht allein von den unvermeidlic h e n E i n w i r k u n g e n des V e r g ä n g l i c h e n , zu w e l c h e m d a s U n v e r g ä n g l i c h e sich herabgelassen hat, sondern auch von der unheiligen H a n d frevelnder

15

Menschen. | C 360; SW 391

Wollt Ihr d e m n a c h von der Religion nicht nur im Allgemeinen einen B e g r i f f h a b e n , u n d es w ä r e j a u n w ü r d i g , w e n n I h r E u c h m i t e i n e r s o

252 u n v o l l k o m m e n e n K e n n t n i ß be|gnügen w o l l t e t ; w o l l t I h r sie r e c h t e i g e n t lich in i h r e r W i r k l i c h k e i t u n d in i h r e n E r s c h e i n u n g e n v e r s t e h e n ; w o l l t I h r d i e s e s e l b s t r e l i g i ö s a u f f a s s e n als ein ins U n e n d l i c h e

20

fortgehendes

W e r k d e s G e i s t e s , d e r sich in a l l e r m e n s c h l i c h e n G e s c h i c h t e o f f e n b a r t : s o m ü ß t I h r d e n e i t l e n u n d v e r g e b l i c h e n W u n s c h , d a ß es n u r E i n e R e l i gion geben m ö c h t e , aufgeben; Ihr müßt Euren Widerwillen gegen ihre Β 290 M e h r h e i t a b l e g e n , u n d s o u n b e f a n | g e n a l s m ö g l i c h zu allen d e n e n h i n z u t r e t e n , d i e s i c h s c h o n in d e r M e n s c h h e i t

wechselnden Gestalten

25

und

w ä h r e n d ihres auch hierin fortschreitenden L a u f e s aus d e m ewig reichen S c h o o ß e des g e i s t i g e n L e b e n s e n t w i k k e l t h a b e n . Positive R e l i g i o n e n n e n n t Ihr diese v o r h a n d e n e n b e s t i m m t e n

reli-

g i ö s e n E r s c h e i n u n g e n , u n d sie s i n d u n t e r d i e s e m N a m e n s c h o n l a n g e der

10f Prinzip ... das,] B: Princip ... das 11 sein] B: ist 12—15 will, ... frevelnder] B: will klar machen, unter welchen fremden Umhüllungen es auch verstekt, und wie sehr es auch entstellt sei von den Einwirkungen des Vergänglichen, zu welchem das Unvergängliche sich herabgelassen hat, und von der unheiligen Hand der 18 Begriff] B + C: Begrif 18 unwürdig,] B: unwürdig 19f recht eigentlich] B: auch 22 Geistes, ... offenbart] B: Weltgeistes 2 3 f Religion] fehlt in Β 24 möchte, ... müßt] B: möchte aufgeben, 25 f hinzutreten] B + C: hinzu treten 26—28 der Menschheit ... Lebens] B: den wechselnden Gestalten und während des auch hierin fortschreitenden Laufes der Menschheit aus dem ewig reichen Schooße des Universum 30 f der Gegenstand] B: das Objekt 1 ihrer Vielheit] so DV von B; OD von B: ihre Vielheit

30

Fünfte

5

10

15

20

25

Rede

255

Gegenstand eines ganz vorzüglichen H a s s e s gewesen; dagegen Ihr bei allem Widerwillen gegen die Religion ü b e r h a u p t , e t w a s , was Ihr z u m Unterschiede von jenen die natürliche Religion n e n n t , i m m e r leichter geduldet, und sogar mit Achtung davon gesprochen h a b t . Ich stehe nicht an, Euch das Innere meiner Gesinnungen hierüber gleich mit E i n e m Worte zu eröffnen, indem ich n ä m l i c h für mein T h e i l diesen Vorzug gänzlich a b l ä u g n e , und erkläre, daß es für Alle, w e l c h e ü b e r h a u p t | Religion zu h a b e n und sie zu lieben v o r g e b e n , die g r ö b s t e I n c o n s e q u e n z w ä r e einen solchen Vorzug e i n z u r ä u m e n , und d a ß sie d a d u r c h in den offenbarsten Widerspruch mit sich selbst gerathen w ü r d e n . J a ich für mein T h e i l würde glauben alle meine M ü h e verloren zu h a b e n , w e n n ich nichts g e w ö n n e als E u c h jene natürliche R e l i g i o n zu empfehlen. F ü r E u c h hingegen, welchen die Religion ü b e r h a u p t zuwider war, h a b e ich es immer sehr natürlich gefunden, wenn Ihr zu ihren G u n s t e n einen U n t e r schied m a c h e n wolltet. D i e sogenannte natürliche Religion ist g e w ö h n lich so abgeschliffen, und hat | so metaphysische und m o r a l i s c h e M a n i e ren, daß sie wenig von dem eigenthümlichen C h a r a k t e r der Religion d u r c h s c h i m m e r n läßt; sie w e i ß so zurükhaltend zu leben, sich einzuschränken und sich zu fügen, d a ß sie überall w o h l gelitten ist: | dagegen hat jede positive Religion gewisse starke Z ü g e und eine sehr k e n n t l i c h gezeichnete P h y s i o g n o m i e , so d a ß sie bei jeder B e w e g u n g , w e l c h e sie m a c h t , wenn m a n a u c h nur einen flüchtigen Blik a u f sie wirft, jeden ohnfehlbar an das erinnert, was sie eigentlich ist. W e n n dies, so wie es der einzige ist, der die S a c h e selbst trifft, so a u c h der w a h r e und innere G r u n d Eurer Abneigung ist: so m ü ß t Ihr E u c h jezt von ihr l o s m a c h e n , und ich sollte eigentlich nicht mehr gegen sie zu streiten h a b e n . D e n n wenn Ihr n u n , wie ich hoffe, ein günstigeres Urtheil über die Religion überhaupt fällt, wenn Ihr einseht, d a ß ihr | eine b e s o n d e r e und edle Anlage im M e n s c h e n zum G r u n d e liegt, die folglich auch w o sie sich

2 etwas,] B: etwas 3 jenen] B: jener 5 f das ... Worte] B: sogleich mit einem Blik das Innere meiner Gesinnungen hierüber 6 eröffnen] C: eröfnen 6 nämlich] fehlt in Β 7—15 erkläre, ... wolltet] B: erkläre daß er für Alle welche überhaupt Religion zu haben und sie zu lieben vorgeben die gröbste Inconsequenz und die augenscheinlichste Selbstwiderlegung sein muß, aus Gründen denen Ihr gewiß Euren Beifall geben werdet, wenn ich sie werde entwikkeln können. Euch hingegen, welchen die Religion überhaupt zuwider war, habe ich es immer sehr natürlich gefunden diesen Unterschied zu machen 18 zurükhaltend] B: artig 20 gewisse] B: gar 21 Bewegung,] B: Bewegung 2 2 f wenn ... erinnert,] B: und bei jedem Blikk den man auf sie wirft ohnfehlbar an das erinnert 24 ist,] Β: ist 24 trifft] B + C: trift 24 innere] B: innre 26 gegen sie] B: mit ihr 28 Ihr einseht] C: ihr einseht

C 361

Β 291 sw 392 253

C362

256

Β 292

SW 393 C 363; 254

Β 293

Über die Religion

zeigt m u ß gebildet werden: so k a n n es E u c h d o c h nicht zuwider sein, sie in den b e s t i m m t e n Gestalten anzuschauen, in denen sie schon wirklich erschienen ist, und Ihr m ü ß t vielmehr diese um so lieber Eurer B e t r a c h tung würdigen, je mehr das E i g e n t h ü m l i c h e und Unterscheidende der Religion in ihnen ausgebildet ist. A b e r diesen G r u n d nicht eingestehend werdet | Ihr vielleicht alle alten V o r w ü r f e , die Ihr sonst der Religion ü b e r h a u p t zu machen g e w o h n t w ä r e t , jezt a u f die einzelnen Religionen w e r f e n , und behaupten daß grade in d e m , w a s Ihr das Positive in der Religion n e n n t , dasjenige liegen müsse, w a s diese Vorwürfe i m m e r aufs neue veranlaßt und rechtfertigt; und d a ß eben deswegen dies die natürlichen Erscheinungen der wahren Religion wie ich sie Euch darzustellen versucht h a b e , nicht sein k ö n n e n . Ihr werdet mich a u f m e r k s a m d a r a u f m a c h e n , wie sie alle o h n e Unterschied voll sind von dem, was meiner eignen Aussage nach nicht das Wesen der Religion ist, und d a ß also ein Princip des Verderbens tief in ihrer C o n s t i t u t i o n liegen müsse; Ihr werdet mich d a r a n erinnern, wie jede unter ihnen sich für die einzig w a h r e , und gerade ihr Eigenthümliches für das schlechthin H ö c h s t e erklärt; wie sie sich von einander grade durch dasjenige, als durch e t w a s Wesentliches unterscheiden, was jede soviel als möglich | von | sich hinaus thun sollte; wie sie, ganz gegen die N a t u r der w a h r e n Religion, beweisen, widerlegen und streiten, es sei nun mit den W a f f e n der Kunst und des Verstandes, oder mit n o c h fremderen w o l gar unwürdigen; Ihr werdet hinzufügen, d a ß Ihr grade in wiefern Ihr die Religion achtet und für etwas Wichtiges anerkennet, ein lebhaftes Interesse daran nehmen m ü ß t e t , d a ß | sie die größte Freiheit sich n a c h allen Seiten aufs Mannigfaltigste auszubilden überall genieße, und d a ß Ihr also nur um so lebhafter jene b e s t i m m t e n religiösen Formen hassen m ü ß t e t , welche Alle, die sich zu ihnen b e k e n n e n , an derselben G e s t a l t und demselben W o r t fest halten, ihnen die Freiheit ihrer eignen N a t u r zu folgen entziehen, und sie in unnatürliche S c h r a n k e n einzwängen; wogegen Ihr mir in allen diesen Punkten die Vorzüge der natürlichen Religion vor den positiven kräftig anpreisen werdet. Ich bezeuge n o c h einmal, d a ß ich in allen Religionen M i ß v e r s t ä n d nisse und Entstellungen nicht läugnen will, und d a ß ich gegen den W i -

9 f dem, ... müsse,] Β: dem ... müsse 12 wie ich ... habe,] fehlt in Β 14 sind von dem,] B: sind, von dem 14 eignen] B: eigenen 14 f das Wesen der] fehlt in Β 17 gerade] ß : grade 18 schlechthin] fehlt in Β 19 Wesentliches] B + C: wesentliches 2 2 Verstandes,] B: Verstandes 2 4 Wichtiges] Β + C: wichtiges 2 6 Mannigfaltigste] B + C: mannigfaltigste 27 jene ... Formen] B: die bestimmten Formen der Religion 2 9 und demselben Wort] fehlt in Β 31 f wogegen ... werdet] B: und in allen diesen Punkten werdet Ihr mir die Vorzüge der natürlichen Religion vor den positiven kräftig anpreisen 33 f in allen Religionen Mißverständnisse und] B : diese

5

10

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20

25

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Fünfte

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35

Rede

257

derwillen, w e l c h e n diese E u c h einflößen, nichts einwende. J a ich e r k e n n e in ihnen allen jene viel b e k l a g t e Ausartung und A b w e i c h u n g in ein f r e m des Gebiet, und je göttlicher die Religion selbst ist, um desto weniger will ich ihr Verderben a u s s c h m ü k k e n , und ihre wilden A u s w ü c h s e bewundernd pflegen. A b e r vergeßt einmal diese d o c h auch einseitige A n sicht; und folgt mir zu einer | andern. B e d e n k t , wieviel von diesem Verderben auf die R e c h n u n g derer k o m m t , w e l c h e die Religion aus dem Innern des Herzens hervorgezogen haben in die bürgerliche Welt; gesteht d a ß Vieles überall unvermeidlich ist, sobald das Unendliche eine unvollk o m m n e und b e s c h r ä n k t e H ü l l e a n n i m m t , und in das G e b i e t der | Z e i t und der allgemeinen E i n w i r k u n g endlicher D i n g e , um sich von ihr beherrschen zu lassen, herabsteigt. W i e tief a b e r a u c h dieses Verderben in ihnen eingewurzelt sein m a g und wie sehr sie darunter gelitten h a b e n mögen: so b e d e n k t wenigstens auch daß wenn es die eigentliche religiöse Ansicht aller D i n g e ist, auch in dem was uns gemein und niedrig zu sein scheint, jede | Spur des G ö t t l i c h e n , W a h r e n und E w i g e n aufzusuchen, und auch die entfernteste n o c h anzubeten, g r a d e dasjenige a m wenigsten des Vortheils einer solchen B e t r a c h t u n g e n t b e h r e n darf, was die gerechtesten Ansprüche d a r a u f hat religiös gerichtet zu werden. J e d o c h Ihr werdet mehr finden als nur entfernte Spuren der G ö t t l i c h k e i t . Ich lade E u c h ein jeden G l a u b e n zu b e t r a c h t e n , zu dem sich M e n s c h e n b e k a n n t h a b e n , jede Religion die Ihr durch einen b e s t i m m t e n N a m e n und C h a r a k t e r bezeichnet, und die vielleicht nun längst ausgeartet ist in eine g e d a n k e n lose Folge leerer G e b r ä u c h e , in ein System a b s t r a k t e r Begriffe und T h e o rien; o b Ihr nicht, wenn Ihr sie an ihrer Q u e l l e und nach ihren ursprünglichen Bestandtheilen untersucht, dennoch finden werdet, d a ß alle todten Schlakken | einst glühende Ergießungen des inneren Feuers w a r e n , d a ß in allen Religionen mehr oder minder e n t h a l t e n ist von dem w a h r e n Wesen | derselben, wie ich es E u c h dargestellt h a b e ; und d a ß s o n a c h jede gewiß eine von den besondern Gestalten war, welche in den verschiedenen Gegenden der Erde und a u f den verschiedenen Stufen der E n t w i k k e lung die M e n s c h h e i t in dieser Beziehung n o t h w e n d i g a n n e h m e n m u ß t e . D a m i t Ihr aber nicht aufs O h n g e f ä h r in diesem unendlichen C h a o s u m herirret — denn ich m u ß Verzicht d a r a u f thun E u c h in demselben regelmäßig und vollständig herumzuweisen, es w ä r e das Studium eines Le-

1 diese Euch einflößen] B: Ihr dagegen empfindet 2 allen] B: Allen 5 f Ansicht;] ß: Ansicht, 9 f unvollkommne] B: unvollkommene 14 auch] B + C: auch, 14 daß wenn es] B: daß es 17f anzubeten, ... darf] B: anzubeten; und warum soll grade dasjenige des Vortheils einer solchen Betrachtung entbehren 19 werden.] B: werden? 20 nur] fehlt in Β 21 ein] B: ein, 23 f eine gedankenlose Folge] B: einen Codex 26 alle] B: alle die 28 mehr ... ist] B: enthalten ist, mehr oder minder 2 9 f und ... gewiß] B: daß jede 31 Stufen] B + C: Stuffen

C 364

Β 294

SW 394 255

C365 ß 295

258

Über die

Religion

bens, und nicht das Geschäft eines Gespräches — damit Ihr ohne durch die herrschenden unrichtigen Begriffe verführt zu werden, nach einem richtigen M a a ß s t a b e den wahren Gehalt und das eigentliche Wesen der einzelnen Religionen abmessen, und durch ein bestimmtes und festes Verfahren das Innere von dem Aeußerlichen, das Eigene von dem Er5 borgten und Fremden, das Heilige von dem Profanen scheiden möget: so vergeßt fürs erste jede einzelne, und das was für ihr charakteristisches SW 395 M e r k m a l gehalten wird, und sucht von innen heraus erst eine allgemeine Ansicht darüber zu gewinnen, auf welche Weise eigentlich das Wesen 256 einer positiven Religion aufgefaßt und bestimmt werden muß. Ihr | wer- 10 det alsdann finden, daß grade die positiven Religionen die bestimmten Gestalten sind, unter denen die Religion sich darstellen muß, und daß | C 366; Β 296 Eure sogenannte natürliche gar keinen Anspruch darauf machen kann etwas Aehnliches zu sein, indem sie nur ein unbestimmter dürftiger und armseliger Gedanke ist, dem in der Wirklichkeit nie eigentlich etwas 15 entsprechen kann; Ihr werdet finden, daß in jenen allein eine wahre individuelle Ausbildung der religiösen Anlage möglich ist, und daß sie, ihrem Wesen nach, der Freiheit ihrer Bekenner darin gar keinen Abbruch thun. Warum habe ich angenommen, daß die Religion nicht anders als in 20 einer großen Mannigfaltigkeit möglichst bestimmter Formen vollständig gegeben werden kann? Nur aus Gründen, welche sich aus dem von dem Wesen der Religion Gesagten von selbst ergeben. Nämlich die ganze Religion ist freilich nichts anders als die Gesammtheit aller Verhältnisse des Menschen zur Gottheit in allen möglichen Auffassungsweisen, wie 25 Jeder sie als sein unmittelbares Leben inne werden kann; und in diesem Sinne giebt es freilich Eine allgemeine Religion, weil es wirklich nur ein armseliges und verkrüppeltes Leben wäre, wenn nicht überall wo Religion sein soll, auch alle jene Verhältnisse vorkämen. Aber keinesweges werden Alle sie auf dieselbe Weise auffassen, sondern auf ganz verschie- 30

2 die herrschenden unrichtigen] B : gemeine 7 einzelne,] B: einzelne 8 — 10 eine ... muß] B : zu einer allgemeinen Ansicht davon zu gelangen, was eigentlich das Wesen einer bestimmten Form der Religion ausmacht 11 die bestimmten] B: diese bestimmten 12 darstellen muß] B : darstellt 14 Aehnliches] C: ähnliches 21 großen Mannigfaltigkeit möglichst] B: unendlichen Menge durchaus 23 Gesagten] B + C: gesagten 23—6 Nämlich ... für Alle] B: Nemlich wenn doch die Religion die Totalität aller Verhältnisse des Menschen zur Gottheit im Universum war, wie er sie als sein Leben unmittelbar fühlt, und wo Religion sein soll, man sehe auf Einzelne oder auf große Massen, müssen auch überall alle diese Verhältnisse vorkommen, sonst wäre es nur ein zerbrochenes und verkrüppeltes Leben, und so habt Ihr Recht mit Eurer Allgemeinen und Einen Religion: aber keinesweges werden sie überall und Allen auf dieselbe Weise sein können, und so habt Ihr Unrecht, und zwar ganz Unrecht, weil diese Verschiedenheit das unmittelbar Gefühlte sein wird, jene Einheit aber nur das Gedachte

Fünfte Rede

5

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25

30

259

dene, und eben weil nur diese Verschiedenheit das u n m i t t e l b a r Ge|fühlte sein wird und das allein D a r s t e l l b a r e , j e n e Z u s a m m e n f a s s u n g aller Verschiedenheiten aber nur das G e d a c h t e : so h a b t Ihr U n r e c h t mit E u r e r einen allgemeinen Reli|gion, die Allen natürlich sein soll, sondern Keiner wird seine w a h r e und rechte Religion h a b e n , wenn sie dieselbe sein soll für Alle. D e n n schon weil w i r W o sind, giebt es unter diesen Verhältnissen des M e n s c h e n zum G a n z e n ein N ä h e r und Weiter, und durch diese Relation zu den übrigen wird n o t h w e n d i g jedes G e f ü h l J e d e m im L e b e n ein anders b e s t i m m t e s . D a n n a b e r auch, weil wir W e r sind, ist in J e d e m eine g r ö ß e r e E m p f ä n g l i c h k e i t für einige religiöse W a h r n e h m u n g e n und | Gefühle vor a n d e r n , und a u c h a u f diese Weise ist jedes überall ein anderes. Nun aber k a n n doch o f f e n b a r nicht durch eine einzelne dieser Beziehungen j e d e m G e f ü h l sein R e c h t w i d e r f a h r e n , sondern nur durch alle insgesammt, und daher eben k a n n die ganze Religion u n m ö g l i c h anders vorhanden sein, als wenn alle diese verschiedenen A n s i c h t e n jedes Verhältnisses, die a u f solche A r t entstehen k ö n n e n , auch w i r k l i c h gegeben werden; und dies ist nicht anders möglich als in einer unendlichen M e n g e verschiedener F o r m e n , deren jede durch das verschiedene Princip der Beziehung in ihr hinreichend b e s t i m m t , und in deren jeder dasselbe religiöse E l e m e n t eigenthümlich modificirt ist, das heißt w e l c h e s ä m m t l i c h w a h r e Individuen sind. W o d u r c h nun diese Individuen b e s t i m m t werden und sich von einander unterscheiden, und w a s auf der andern Seite das Z u s a m m e n h a l t e n d e , was das G e m e i n s c h a f t l i c h e in ihren Bestandtheilen ist, oder das An|ziehungsprincip dem sie fol|gen, und w o n a c h m a n also von jeder gegebenen religiösen Einzelheit beurtheilen m ü ß t e , w e l c h e r A r t von Religion sie a n g e h ö r e , das liegt schon in dem G e s a g t e n . Allein von den uns geschichtlich vorliegenden R e l i g i o n e n , an denen sich d o c h erstere Ansicht allein b e w ä h r e n k a n n , wird b e h a u p t e t , d a ß dies Alles in ihnen anders sei, und sie sich nicht so gegen einander verhielten, und dies müssen wir n o c h untersuchen.

1 — 3 Gefühlte ... Darstellbare ... Gedachte] C: gefühlte ... darstellbare ... gedachte 4 Keiner] C: keiner 9 auch,] B: auch 11 f jedes ... anderes] B: Jedes ... Anderes 14 insgesammt] Β + C: insgesamt 15 verschiedenen] ß : verschiednen 18 verschiedener] B: verschiedner 19 hinreichend;] B: durchaus 1 9 f dasselbe ... eigenthümlich] B: derselbe Gegenstand ganz anders 22—24 und was ... ist] B: was das Gemeinschaftliche in ihren Bestandtheilen ist was sie zusammenhält 23 Zusammenhaltende . . . Gemeinschaftliche] C: zusammenhaltende ... gemeinschaftliche 2 4 — 2 6 also ... angehöre] ß : also, zu welchem Individuo ein gegebnes religiöses Datum gehören muß, zu beurtheilen habe 27—29 uns ... gegen einander] B : wirklich getrennt vorhandenen Religionen wird behauptet, daß dies alles anders wäre, und sie sich nicht so gegeneinander 28 Alles] C: alles 3 Eurer] C : eurer

2 2 das] C : des

Β 297

c 367

SW 396

257

Β 298; C 368

260

SW 397

258

Β 299 C 369

Über die

Religion

E i n e b e s t i m m t e F o r m der R e l i g i o n k a n n dies zuerst u n m ö g l i c h insofern sein, als sie e t w a ein b e s t i m m t e s Q u a n t u m religiösen S t o f f s e n t h ä l t . — D i e s ist e b e n das g ä n z l i c h e M i ß v e r s t ä n d n i ß ü b e r das W e s e n der einzeln e n R e l i g i o n e n , w e l c h e s sich h ä u f i g u n t e r ihre B e k e n n e r selbst verbreitet, u n d vielfältig gegenseitige f a l s c h e B e u r t h e i l u n g e n v e r a n l a ß t h a t . Sie ha5 b e n e b e n g e m e i n t , weil d o c h s o viele M e n s c h e n sich dieselbe R e l i g i o n z u e i g n e n , so m ü ß t e n sie a u c h d a s s e l b e M a a ß religiöser A n s i c h t e n und G e f ü h l e , u n d so a u c h ihres M e i n e n s und G l a u b e n s h a b e n , u n d eben dies G e m e i n s c h a f t l i c h e müsse das Wesen ihrer R e l i g i o n sein. E s ist freilich ü b e r a l l nicht leicht möglich das eigentlich C h a r a k t e r i s t i s c h e und Indivi- 10 duelle | einer R e l i g i o n mit S i c h e r h e i t zu f i n d e n , w e n n m a n sich dabei an d a s E i n z e l n e h a l t e n will; a b e r hierin, so g e m e i n a u c h der B e g r i f f ist, k a n n es d o c h a m wenigsten liegen, und w e n n a u c h I h r e t w a g l a u b t , d a ß deswegen die positiven R e l i g i o n e n der Freiheit des E i n z e l n e n in der A u s b i l d u n g seiner Reli|gion n a c h t h e i l i g sind, weil sie eine b e s t i m m t e 15 S u m m e von religiösen A n s c h a u u n g e n und G e f ü h l e n f o r d e r n , und andere a u s s c h l i e ß e n , so seid Ihr im I r r t h u m . E i n z e l n e W a h r n e h m u n g e n und G e fühle sind, w i e I h r w i ß t , die E l e m e n t e der R e l i g i o n , und diese n u r so als einen z u s a m m e n g e r a f f t e n H a u f e n zu b e t r a c h t e n , w i e viele ihrer und n a m e n t l i c h w a s für w e l c h e v o r h a n d e n sind, das k a n n uns u n m ö g l i c h a u f 20 den C h a r a k t e r eines I n d i v i d u u m der R e l i g i o n f ü h r e n . W e n n sich, wie ich E u c h s c h o n zu zeigen g e s u c h t , die R e l i g i o n d e s w e g e n a u f vielfache Weise b e s o n d e r s g e s t a l t e n m u ß , weil von j e d e m V e r h ä l t n i ß v e r s c h i e d e n e A n s i c h t e n m ö g l i c h sind, je n a c h d e m es a u f die ü b r i g e n b e z o g e n wird: so w ä r e uns freilich m i t e i n e m solchen a u s s c h l i e ß l i c h e n Z u s a m m e n f a s s e n 25 m e h r e r e r u n t e r i h n e n , w o d u r c h j a k e i n e von jenen m ö g l i c h e n A n s i c h t e n b e s t i m m t w i r d , g a r nichts g e h o l f e n ; und w e n n die positiven R e l i g i o n e n sich nur d u r c h e i n e solche A u s s c h l i e ß u n g u n t e r s c h i e d e n , so k ö n n t e n sie allerdings die individuellen E r s c h e i n u n g e n n i c h t sein, w e l c h e wir suchen. D a ß dies a b e r in der T h a t n i c h t ihr C h a r a k t e r ist, erhellt d a r a u s , weil es 30 u n m ö g l i c h ist v o n diesem G e s i c h t s p u n k t aus zu e i n e m b e s t i m m t e n Beg r i f f von ihnen zu g e l a n g e n ; u n d ein s o l c h e r m u ß d o c h von ihnen m ö g lich sein, weil sie in der E r s c h e i n u n g b e h a r r l i c h g e s o n d e r t sind. D e n n

2 sein,] B: sein 5 vielfältig ... veranlaßt] B : den Grund zum Verderben gelegt 9 freilich] fehlt in Β 11 f sich ... will] B: es so aus dem Einreinen abstrahirt 12 Einreine ... Begriff] C: einzelne ... Begrif 13 auch Ihr etwa] B: Ihr etwa auch 1 4 f in ... Religion] B : seine Religion auszubilden 21 sich,] B: sich 21 f wie ... gesucht,] fehlt in Β 2 4 wird:] B: wird, 27 geholfen;] B: geholfen, 2 8 f könnten ... sein] B: wären sie freilich nicht die individuellen Erscheinungen 3 0 ist, erhellt] B : ist erhellt 31 f Begriff] C : Begrif 32—2 gelangen; ... ein,] B : gelangen, und so müssen sie doch gesondert werden können, weil sie sonst sehr bald in ein|[300]ander fließen würden. Denn es leuchtet ein

Fünfte

5

10

15

20

25

30

35

Rede

261

nur was in einander fließt, k a n n auch im B e g r i f f nicht gesondert w e r d e n . D e n n es leuch|tet ein, d a ß nicht a u f eine b e s t i m m t e Weise die verschiedenen religiösen W a h r n e h m u n g e n und G e f ü h l e von einander a b h ä n g e n und durch einander erregt werden; sondern wie jedes für sich b e s t e h t , so k a n n auch jedes durch die verschiedensten C o m b i n a t i o n e n a u f jedes andere führen. D a h e r k ö n n e n gar nicht verschiedene R e l i g i o n e n lange Z e i t neben einander bestehen, wenn sie nur so unterschieden | w ä r e n ; sondern jede würde sich bald zur Gleichheit mit allen übrigen ergänzen. D a h e r ist auch schon in der Religion jedes einzelnen M e n s c h e n , wie sie sich im Laufe seines L e b e n s bildet, nichts zufälliger als die in i h m zum B e w u ß t sein g e k o m m e n e S u m m e seines religiösen Stoffs. Einzelne A n s i c h t e n können sich ihm verdunkeln, andere k ö n n e n ihm aufgehn und sich zur Klarheit bilden, und seine Religion ist von dieser Seite i m m e r beweglich und fließend. Und so k a n n ja n o c h viel weniger die Begrenzung, die in jedem Einzelnen so veränderlich ist, das Feststehende und Wesentliche in der M e h r e r e n gemeinschaftlichen Religion sein; denn wie h ö c h s t zufällig und selten m u ß es sich nicht ereignen, d a ß mehrere M e n s c h e n a u c h nur eine Z e i t l a n g in demselben b e s t i m m t e n Kreise von W a h r n e h m u n g e n stehen bleiben, und auf demselben Wege der G e f ü h l e f o r t g e h n 2 . D a h e r ist auch unter denen die ihre Religion so b e s t i m m e n ein b e s t ä n d i g e r Streit über das, was zu derselben wesentlich gehöre, und was nicht; sie wissen nicht was sie als charakteristisch und | n o t h w e n d i g festsezen, w a s sie als frei und zufällig a b s o n d e r n sollen; sie finden | den Punkt n i c h t , aus dem sie das G a n z e übersehen k ö n n e n , und verstehen die religiöse Erscheinung nicht, in der sie selbst zu leben, für die sie zu streiten w ä h nen, und zu deren Ausartung sie beitragen, eben weil sie v o m G a n z e n derselben z w a r ergriffen sind, selbst a b e r wissentlich nur das Einzelne ergreifen. G l ü k l i c h also d a ß der Instinkt den sie nicht verstehen, sie richtiger leitet als ihr Verstand, und d a ß die N a t u r z u s a m m e n h ä l t , was ihre falschen R e f l e x i o n e n und ihr d a r a u f gegründetes T h u n und T r e i b e n vernichten w ü r d e n . Wer den C h a r a k t e r einer besondern Religion in e i n e m bestimmten Q u a n t u m von W a h r n e h m u n g e n und G e f ü h l e n sezt, der m u ß nothwendig einen innern und objektiven Z u s a m m e n h a n g a n n e h m e n , der grade diese unter einander verbindet, und alle anderen ausschließt. U n d diese irrige Vorstellung hängt freilich genau genug z u s a m m e n mit der

1 in einander ... Begriff] C: ineinander ... Begrif 4 durch einander] B + C: durcheinander 4 f wie jedes ... auch jedes] B: für sich besteht jedes, und kann 5 f andere] B: andre 6—8 Daher können ... ergänzen.] fehlt in Β 9 auch] fehlt in Β 14f Und ... ist,] B: Dies Fließende kann also auch unmöglich 25 nicht,] B; nicht 26—29 vom ... zusammenhält,] B: nicht wissen wo sie stehn und was sie thun. Aber der Instinkt den sie nicht verstehen, leitet sie richtiger als ihr Verstand, und die Natur hält zusammen 27 Einzelne] C: einzelne 34—10 Und ... annimmt] B: Dieser Wahn aber ist eben

C 370 SW 398

259

C 371 Β 301

SW 399

262

Über die

Religion

gewöhnlichen aber dem Geist der Religion gar nicht angemessenen Art 260 die religiösen Vorstellungen zusam|menzustellen und zu vergleichen. Ein Ganzes nun, welches wirklich so gebildet wäre, wäre freilich nicht ein solches wie wir es suchen, wodurch die Religion ihrem ganzen Umfange nach eine bestimmte Gestalt gewinnt, sondern es wäre statt eines Ganzen nur ein willkührlicher Ausschnitt aus dem Ganzen, und nicht eine Religion sondern eine Sekte, weil es fast nur entstehen kann, indem es die C 372 religiösen Erfahrungen eines Einzelnen, und zwar auch nur aus einem kurzen Zeitraum seines Lebens zur Norm für eine Gemeinschaft annimmt. — Aber die Formen welche die Geschichte hervorgebracht hat, | Β 302 und welche wirklich vorhanden sind, sind auch nicht Ganze von dieser Art. Alles Sektiren, es sein nun spekulativ, um einzelne Anschauungen in einen philosophirenden Zusammenhang zu bringen, oder ascetisch, um auf ein System und eine bestimmte Folge von Gefühlen zu dringen, arbeitet auf eine möglichst vollendete Gleichförmigkeit Aller, die an demselben Stük Religion Antheil haben wollen. Wenn es nun denen die von dieser Wuth angestekt sind, und denen es gewiß an Thätigkeit nicht fehlt, noch nie gelungen ist irgend eine positive Religion bis zur Sekte herabzusezen 3 : so werdet Ihr doch gestehen, daß leztere, da sie doch auch einmal und zwar die größten durch Einzelne entstanden sind, und insofern sie troz jener Angriffe noch existiren, nach einem andern Prinzip gebildet worden sein, und einen andern Charakter haben müssen. J a wenn Ihr an die Zeit denkt, wo sie entstanden sind, so werdet Ihr dies noch deutlicher einsehn: denn Ihr werdet Euch erinnern, daß jede positive Religion während ihrer Bildung und ihrer Blüthe, zu der Zeit also wo ihre eigenthümliche Lebenskraft am jugendlichsten und frischesten wirkt, und auch am sichersten erkannt werden kann, sich in einer ganz sw 400; C373 entgegengesezten Richtung bewegt, nicht sich con|centrirend und Vieles Β 303 aus sich ausscheidend, sondern wachsend nach außen, immer | neue Zweige treibend, und immer mehr religiösen Stoffes sich aneignend, um ihn ihrer besondern Natur gemäß auszubilden. Nach jenem falschen

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30

das d e m G e i s t der R e l i g i o n so g a n z entgegengesezte P r i n c i p des S y s t e m w e s e n s und des S e k t i r e n s , und das G a n z e welches sie a u f diese A r t zu bilden s t r e b e n , w ä r e nicht ein solches w i e wir es s u c h e n , w o d u r c h die R e l i g i o n in allen ihren T h e i l e n eine b e s t i m m t e G e s t a l t g e w i n n t , s o n d e r n es w ä r e ein g e w a l t s a m e r A u s s c h n i t t aus d e m U n e n d l i c h e n , nicht eine

35

R e l i g i o n s o n d e r n eine S e k t e : der irreligiöseste Begriff den m a n im G e b i e t der R e l i g i o n k a n n realisiren w o l l e n Sekte herabzusezen]

10 die G e s c h i c h t e ] B : das U n i v e r s u m

B:

2 1 f Prinzip] B : P r i n c i p

dahin zu bringen 25 a l s o ] B : a l s o ,

16 Stük] B: Stükk

2 0 und z w a r

3 0 Stoffes] B: Stöfs

a u s z u b i l d e n ] B : und ihrer b e s o n d e r n N a t u r g e m ä ß a u s b i l d e n d 6 willkührlicher] C : willkührliches

. . . Einzelne]

18 f zur

fehlt in Β 3 0 f um . . . 40

Fünfte

5

10

15

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Rede

263

Princip also sind sie nicht gestaltet, es ist nicht Eins mit ihrer Natur; 261 es ist ein von außen eingeschlichenes Verderben, und da es ihnen eben sowol zuwider ist, als dem Geist der Religion überhaupt, so kann ihr Verhältniß gegen dasselbe, welches ein immerwährender Krieg ist, eher beweisen als widerlegen, daß sie so wirklich gebildet sind, wie wahrhaft individuelle Erscheinungen der Religion müssen gebildet sein. Eben so wenig konnten jemals jene Verschiedenheiten in der Religion überhaupt, auf welche ich Euch bisher hie und da aufmerksam gemacht habe, oder andere hinreichen um eine durchaus und als ein Individuum bestimmte Form hervorzubringen. J e n e drei so oft angeführten Arten des Seins und seiner Allheit inne zu werden, als Chaos, als System, und in seiner elementarischen Vielheit, sind weit davon entfernt eben so viel einzelne und bestimmte Religionen zu sein. Ihr werdet wissen, daß wenn man einen Begriff eintheilt, so viel man will und bis ins Unendliche fort, man doch dadurch nie auf Individuen k o m m t , sondern immer nur auf weniger allgemeine Begriffe, die unter jenen enthalten sind, auf Arten und Unterabtheilungen, | die wieder eine Menge sehr Β 304 verschiedener einzelne unjter sich begreifen können: um aber den Cha- C 374 rakter der Einzelwesen selbst zu finden, muß man aus dem allgemeinen Begriff und seinen Merkmalen herausgehn. J e n e drei Verschiedenheiten in der Religion sind aber in der T h a t nichts anders als eine solche gewöhnliche und überall wiederkommende Eintheilung nach dem Allen geläufigen Schema von Einheit, Vielheit und Allheit. Sie sind also Arten der Religion, aber nicht religiöse Einzelwesen, und das Bedürfniß, weswegen wir diese suchen, würde auch dadurch, daß Religion auf diese dreifache Weise vorhanden ist, gar nicht befriediget werden. Es liegt aber sw 401 auch hinlänglich am Tage, daß wenn gleich, wie es allerdings sein muß, jede bestimmte Form der Religion sich zu Einer von diesen Arten bekennt, sie dadurch keinesweges eine einzelne in sich völlig bestimmte wird. Denn Ihr seht ja auf jedem von diesen Gebieten eine Mehr|heit 262 solcher Erscheinungen, die Ihr unmöglich für etwa nur dem Scheine nach verschieden halten könnt. Also kann es dieses Verhältniß ebenfalls nicht sein, welches die einzelnen Religionen gebildet hat. Eben so wenig sind offenbar der Personalismus und die ihm entgegengesezte pantheistische Vorstellungsart in der Religion zwei solche individuelle F o r m e n 4 . Denn Β 305 auch diese gehen ja durch alle drei Arten der Religion hindurch, und

2 Verderben,] B: Verderben 5 f wahrhaft individuelle] B: die wahrhaft individuellen 9 oder andere hinreichen] B : hinreichen, 11 des Seins ... werden,] B : das Universum anzuschauen 12 System,] B : System 14 eintheilt,] B: eintheilt 18 einzelne] B + C: Einzelnen 19 finden,] B: finden 2 0 Begriff] C: Begrif 2 4 religiöse Einzelwesen] B: bestimmte Formen 2 4 f Bedürfniß, ... suchen,] B : Bedürfniß ... suchen

Über die Religion

264

k ö n n e n schon um deswillen keine Individuen sein. Sondern sie sind nur C 375 eine andere Art der Unterabtheilung, indem, | was unter jene drei gehört, sich entweder a u f diese oder a u f jene Art darstellen k a n n . D e n n das wollen wir allerdings nicht vergessen, w o r ü b e r wir schon neulich waren ü b e r e i n g e k o m m e n , d a ß dieser Gegensaz nur auf der Art beruht, wie das 5 religiöse G e f ü h l selbst wieder b e t r a c h t e t , und seinen Aeußerungen ein g e m e i n s a m e r G e g e n s t a n d gesezt wird. S o d a ß wenn sich auch die eine besondere Religion mehr zu dieser, die andere m e h r zu jener Art der Darstellung und des Ausdrukkes neigt, doch hiedurch u n m i t t e l b a r auch die Eigenthümlichkeit einer Religion eben so wenig als ihre Würde und 10 die Stufe ihrer Ausbildung k a n n b e s t i m m t werden. Auch bleiben, o b Ihr das eine oder das andere sezt, alle einzelnen E l e m e n t e der Religion in A b s i c h t a u f ihre gegenseitige Beziehung eben so u n b e s t i m m t , und keine von den vielen Ansichten derselben wird dadurch realisirt, daß der eine oder der andere G e d a n k e sie begleitet; wie Ihr das an allen religiösen 15 Darstellungen sehen k ö n n t , welche rein deistisch sind, und doch für völlig b e s t i m m t m ö c h t e n gehalten sein. D e n n Ihr werdet da überall finden, d a ß alle religiösen Gefühle, und besonders — welches der Punkt ist um sw 402 den sich in dieser Sphäre Alles zu drehen pflegt — die Ansichten von den Bewegungen der M e n s c h h e i t im Einzelnen, und von ihrer höchsten 20 Einheit in dem was über ihre W i l l k ü h r hinaus liegt, in ihrem Verhältniß gegen einander völlig im U n b e s t i m m t e n und Vieldeutigen schweben. So | C 376 sind d e m n a c h auch diese beiden selbst als Darstellung nur allgemeinere 263 F o r m e n , welche a u f mancherlei Weise | näher b e s t i m m t und individualisirt werden k ö n n e n ; und wenn Ihr auch eine nähere B e s t i m m u n g da- 25 durch versuchen wollt, d a ß Ihr sie mit einer von den drei bestimmten Arten der A n s c h a u u n g einzeln verbindet, so werden auch diese, aus verschiedenen Eintheilungsgründen des G a n z e n zusammengesezte Formen d o c h nur engere Unterabtheilungen sein, aber keinesweges durchaus bes t i m m t e und einzelne G a n z e . Also weder der N a t u r a l i s m u s 5 , — ich ver- 30

2 indem, ... gehört,] B: indem ... gehört 3 sich ... Art] B: nun eben so entweder auf diese oder auf jene Art sich 9—11 auch ... Ausbildung] B: so wenig als die Würde so wenig auch die Eigenthümlichkeit einer Religion 11 Stufe] C : Stuffe 15—17 begleitet; ... finden] B: begleitet. Wie Ihr das überall sehn könnt wo etwas religiös dargestellt sein soll, und schon vollkommen zu sein vermeint, wenn es nur rein deistisch ist, wo Ihr finden wer|[306]det 2 2 gegen einander] B: gegeneinander 23 — 2 6 diese ... wollt] B: als Darstellung beide ebenfalls nur allgemeinere Formen, deren Gebiet erst durch das individuelle und bestimmte ausgefüllt werden soll; und wenn Ihr auch dieses Gebiet dadurch einschränkt 2 7 — 2 9 werden ... Unterabtheilungen sein,] B: sind ... Unterabtheilungen, 3 0 einzelne] B: geschlossene

4 Vgl.

124,7-125,7

Fünfte

5

10

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35

Rede

265

stehe darunter das Innewerden der Welt, welches sich auf die elementarische Vielheit beschränkt ohne die Vorstellung von persönlichem Bewußtsein und Willen der einzelnen Elemente — noch der Pantheismus; weder die Vielgötterei noch der Deismus, sind einzelne und bestimmte Religionen, wie wir sie suchen, sondern nur Arten, in deren Gebiet gar viele eigentliche Individuen sich schon entwikkelt ha|ben, und noch mehrere sich entwikkeln werden 6 . Demnach bleibt, daß ichs kurz sage, kein anderer Weg übrig, wie eine wirklich individuelle kann zu Stande gebracht worden sein, als dadurch, daß irgend eines von den großen Verhältnissen der Menschheit in der Welt und zum höchsten Wesen, auf eine bestimmte Art, welche wenn man nur auf die Idee der Religion sieht als reine Willkühr erscheinen kann, sieht man aber auf | die Eigenthümlichkeit der Bekenner, vielmehr die reinste N o t w e n d i g k e i t in sich trägt, und nur der natürliche Ausdruk ihres Wesens selbst ist, zum Mittelpunkt der gesammten Religion gemacht, und alle übrigen auf dieses eine bezogen werden. Dadurch kommt sogleich ein bestimmter Geist und ein gemeinschaftlicher Charakter in das Ganze; Alles b e k o m m t feste Haltung was vorher vieldeutig und unbestimmt war; von den unendlich vielen verschiedenen Ansichten und Beziehungen einzelner Elemente, welche alle möglich waren, und alle dargestellt werden sollten, wird durch jede solche Formation Eine durchaus realisirt; alle einzelnen Elemente erscheinen nun von einer gleichnamigen Seite, von der, welche jenem Mittelpunkt zugekehrt ist, und alle Gefühle erhalten eben dadurch einen gemeinschaftlichen T o n , und I werden leben|diger und eingreifender in einander. Nur in der Totalität aller in einem solchen Sinne möglichen Formen kann die ganze Religion wirklich gegeben werden, und sie wird also nur in einer unendlichen Reihe, in verschiedenen Punkten des Raumes sowol als der Zeit sich allmählig entwikkelnder Gestalten dargestellt, und nur was in einer von diesen Formen liegt trägt zu ihrer vollendeten Erscheinung etwas bei. Jede solche Gestaltung der Religion, wo in Beziehung auf Ein alle anderen gleichsam vermittelndes oder in sich aufnehmendes Verhältniß zur Gottheit Alles gesehen und gefühlt wird, wo und wie sie sich auch bilde, und | welches immer dieses vorgezogene Verhältniß sei, ist eine eigne positive Religion; in Beziehung auf die Gesammtheit der religiösen

1 f das ... beschränkt] ß: die Anschauung des Universum in seiner elementarischen Vielheit 7 werden 6 .] B: werden. — C: werden 6 . — 8 sage, ... übrig,] B: sage: ... übrig 9 eine wirklich individuelle] B: ein Individuum der Religion 1 0 f in der ... bestimmte] B: im Universum, auf eine 12 Willkühr] B + C: Willkür 12 erscheinen kann,] ß.· erscheint; 13 Bekenner,] B: Bekenner 14 Ausdruk] B: Ausdrukk 15 zum] B: daß auf eine solche Art Eines zum 19 verschiedenen] B: verschiednen 21 alle] B + C: Alle 35 eigne] B: eigene 35 f die ... Elemente] B: das Ganze

Β 307

C 377

SW 403

Β 308; 264

C 378

266

Über die

Religion

E l e m e n t e , u m ein W o r t zu g e b r a u c h e n , das w i e d e r sollte zu E h r e n geb r a c h t w e r d e n , eine H ä r e s i s 7 , weil u n t e r vielen gleichen eines z u m H a u p t e der übrigen g l e i c h s a m g e w ä h l t w i r d ; in R ü k s i c h t a b e r a u f die G e m e i n s c h a f t aller T h e i l h a b e r und ihr V e r h ä l t n i ß zu d e m , der zuerst ihre R e l i g i o n gestiftet h a t , weil er zuerst jenen M i t t e l p u n k t zu e i n e m k l a r e n B e w u ß t s e i n e r h o b e n h a t , eine eigne S c h u l e u n d J ü n g e r s c h a f t . W e n n a b e r n u n , w i e wir h o f f e n t l i c h einig g e w o r d e n sind, nur in und d u r c h s o l c h e b e s t i m m t e F o r m e n die R e l i g i o n dargestellt wird: so h a t Β 309 a u c h n u r der, w e l c h e r sich mit der seinigen in einer | s o l c h e n n i e d e r l ä ß t , eigentlich einen festen W o h n s i z , und d a ß ich so sage ein w o h l e r w o r b e n e s B ü r g e r r e c h t in der religiösen W e l t ; n u r E r k a n n sich r ü h m e n zum D a s e i n und z u m Werden des G a n z e n e t w a s b e i z u t r a g e n : n u r er ist eine vollstänsw 404 dige religiöse P e r s o n , a u f der einen Seite einer S i p p s c h a f t a n g e h ö r i g d u r c h g e m e i n s a m e A r t , a u f der a n d e r n sich e i g e n t h ü m l i c h unterscheidend d u r c h feste und b e s t i m m t e Z ü g e .

5

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Vielleicht a b e r m ö c h t e hier M a n c h e r , der s c h o n ein Interesse n i m m t an den A n g e l e g e n h e i t e n der R e l i g i o n , mit B e s t ü r z u n g o d e r a u c h ein W i d riggesinnter mit H i n t e r l i s t f r a g e n , o b denn nun j e d e r F r o m m e an eine von den v o r h a n d e n e n a u f eine s o l c h e Weise e i g e n t h ü m l i c h b e s t i m m t e n | C 379; 265 F o r m e n der Reli|gion sich a n s c h l i e ß e n müsse. D e m w ü r d e ich vorläufig 20 a n t w o r t e n : M i t n i c h t e n , s o n d e r n n u r das sei n o t h w e n d i g , d a ß seine R e l i gion e b e n f a l l s eine s o l c h e e i g e n t h ü m l i c h b e s t i m m t e und in sich ausgebildete sei; o b a b e r a u f eine gleiche Weise mit irgend einer im G r o ß e n s c h o n v o r h a n d e n e n und an A n h ä n g e r n reichen F o r m , dies sei nicht eben s o n o t h w e n d i g . U n d erinnern w ü r d e ich ihn, wie ich nirgend von zwei 25 o d e r drei b e s t i m m t e n G e s t a l t e n geredet und gesagt h a b e , d a ß sie die einzigen b l e i b e n sollen. V i e l m e h r m ö g e n sich i m m e r h i n unzählige entw i k k e l n v o n allen P u n k t e n aus, und derjenige, der sich nicht in eine von den s c h o n v o r h a n d e n e n s c h i k t , ich m ö c h t e s a g e n , der nicht im S t a n d e Β 310 gewesen | w ä r e , sie selbst zu m a c h e n 8 , w e n n er sie n o c h nicht gefunden 30 h ä t t e , der d ü r f t e s c h o n d e s h a l b zu k e i n e r von ihnen g e h ö r e n , s o n d e r n eine n e u e in sich selbst h e r v o r z u b r i n g e n gehalten sein. B l e i b t er allein d a m i t und o h n e J ü n g e r : es s c h a d e t n i c h t . I m m e r u n d überall giebt es K e i m e desjenigen, w a s n o c h zu k e i n e m w e i t e r a u s g e b r e i t e t e n D a s e i n gelangen k a n n : a u f dieselbe Weise e x i s t i r t a u c h die R e l i g i o n eines s o l c h e n , 35

2 gleichen] B: Gleichen 7 Wenn ... sind,] B: Und wenn 8 wird:] B: wird, 10 wohlerworbenes] ß.· aktives 11 Welt;] B: Welt, 12 beizutragen:] B + C: beizutragen; 12—15 vollständige ... Züge] B: eigne religiöse Person mit einem Charakter und festen und bestimmten Zügen 1 6 f Mancher, ... Religion, mit Bestürzung] ß: Mancher ... Religion mit Bestürzung, 18 denn ... Fromme] Β: dann ... Religiöse 21 antworten:] C: antworten, 23 sei;] B: sei, 23 irgend) fehlt in Β 23 Großen] B + C: großen 2 6 geredet ... habe,] B + C: geredet, ... habe

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Rede

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und hat eben so gut eine b e s t i m m t e G e s t a l t und O r g a n i s a t i o n , ist eben so gut eine eigene positive R e l i g i o n , als o b er die g r ö ß t e Schule gestiftet hätte. Und hieraus w ü r d e er w o l sehen, d a ß nach meiner M e i n u n g diese vorhandenen F o r m e n an und für sich keinen M e n s c h e n durch ihr früheres Dasein hindern sollen, | sich eine Religion seiner eigenen N a t u r und C 380 seinem Sinne g e m ä ß auszubilden. S o n d e r n o b J e d e r in einer von ihnen w o h n e n , oder eine eigene erbauen werde, das h ä n g e lediglich d a v o n a b , o b das nämliche Verhältniß oder ein anderes sich in ihm als G r u n d g e f ü h l SW 405 und M i t t e l p u n k t aller Religionen e n t w i k k e l n werde. S o w ü r d e ich J e n e m vorläufig a n t w o r t e n ; wollte er a b e r G e n a u e r e s von mir h ö r e n ; so w ü r d e ich hinzufügen: es w ä r e w o l nicht leicht zu besorgen, d a ß einer in einen solchen Fall geriethe, wenn es nicht aus M i ß v e r s t a n d geschähe. D e n n daß sich eine neue O f f e n b a r u n g bilde, sei nie etwas geringfügiges b l o ß Persönliches: | sondern es liege G r ö ß e r e s und G e m e i n s c h a f t l i c h e s dabei | B 3 i i zum G r u n d e . D a h e r es auch nie e i n e m , der wirklich eine neue Religion 266 aufzustellen berufen war, an A n h ä n g e r n und G l a u b e n s g e n o s s e n gefehlt hat. S o würden also die Meisten in dem Falle sein, ihrer N a t u r n a c h einer vorhandenen F o r m a n z u g e h ö r e n , und nur Wenige in d e m , d a ß ihnen keine genügte; was ich a b e r vorzüglich h a b e zeigen w o l l e n , sei eben dieses, d a ß wegen der allen gleichen Befugniß jene M e i s t e n nicht m i n d e r frei sind als diese Wenigen, n o c h a u c h weniger in dem Falle ein Eigenes selbst gebildet zu h a b e n . D e n n verfolgen wir in einem J e d e n die G e schichte seiner Religiosität: so finden wir zuerst dunkle A h n u n g e n , welche ohne das Innere des G e m ü t h s ganz zu durchdringen u n e r k a n n t wieder verschwinden, und | wol jeden M e n s c h e n oft und früher u m s c h w e - C 381 ben; welche irgend wie, vielleicht v o m H ö r e n s a g e n entstanden zu keiner bestimmten Gestalt gelangen, und nichts E i g e n t h ü m l i c h e s verrathen. Später erst geschieht es dann, d a ß der Sinn fürs Universum in einem klaren Bewußtsein für i m m e r aufgeht, dem Einen von diesem, dem A n dern von j e n e m b e s t i m m t e n Verhältniß aus, a u f welches er h e r n a c h Alles bezieht, um welches her sich Alles für ihn gestaltet, so d a ß ein solcher

3 f Und ... für sich] B: Er sehe also, daß diese vorhandenen Formen 7 eigene ... hänge] Β: eigne ... hinge 9 f werde. So ... wollte] B: werde: das würde ich ihm vorläufig sagen. Wollte 10 Genaueres] B + C: genaueres 10f hören; ... besorgen,] B: hören, ... besorgen 13 bilde,] B: bilde 14 Persönliches:] B: persönliches C: persönliches, 14 Größeres und Gemeinschaftliches] B + C: größeres und gemeinschaftliches 16 war,] B: war 18 dem,] B: dem 19—21 genügte; ... sind] B: genügte. Aber jene Meisten sind nicht minder frei 21 Eigenes] B: eignes C: eigenes 2 6 f zu ... gelangen] B: ohne Beziehung bleiben 27 Eigenthümliches] B + C: eigenthümliches 28—30 Später ... aus,] B: Dann erst später geschieht es, daß Einem der Sinn fürs Universum in einem klaren Bewußtsein und von einem bestimmten Verhältniß aus für immer aufgeht, 29 diesem,] C: diesem 31 Alles] B + C: alles 31 f ein solcher ... bestimmt;] B: dieser Moment eigentlich seine Religion bestimmt,

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267 C 382

Über die

Religion

M o m e n t eigentlich eines J e d e n Religion b e s t i m m t ; und ich hoffe Ihr werdet nicht meinen, die Religion eines M e n s c h e n sei deshalb weniger eigenthümlich und weniger | die seinige, weil sie in einer Gegend liegt, w o schon M e h r e r e versammelt sind, und werdet keineswegs in dieser Gleichheit einen mechanischen Einfluß des A n g e w ö h n t e n oder E r e r b t e n , son5 dern wie Ihr auch in andern Fällen thut, nur ein g e m e i n s a m e s B e s t i m m t sein aus höheren Gründen e r k e n n e n . A b e r so gewiß als grade in dieser G e m e i n s c h a f t l i c h k e i t , gleichviel o b einer der Erste ist oder der Spätere, die G e w ä h r l e i s t u n g der N a t ü r l i c h k e i t und Wahrheit liegt, eben so gewiß e r w ä c h s t daraus kein Nachtheil für die Eigenthümlichkeit. Denn wenn 10 auch T a u s e n d e vor ihm, mit ihm und n a c h ihm ihr religiöses L e b e n auf dasselbe Verhältniß beziehen; wird es deswegen in Allen dasselbe sein, und wird sich die Religion in Allen gleich bilden? E r i n n e r t Euch | doch nur an das Eine, d a ß jede bestimmte F o r m der Religion | dem Einzelnen

unerschöpflich ist; nicht nur weil sie a u f ihre b e s t i m m t e Weise das G a n z e 15 umfassen soll, welches dem Einzelnen zu g r o ß ist, sondern auch weil in ihr selbst eine unendliche Verschiedenheit der Ausbildung statt findet, untergeordnet zwar, aber doch ähnlich der Art, wie sie selbst eine eigent h ü m l i c h e Gestalt der Religion im Allgemeinen ist. Ist nicht schon dadurch J e d e m Arbeit und Spielraum genug angewiesen? Ich wenigstens 20 w ü ß t e nicht, d a ß es schon einer einzigen dieser Religionen gelungen w ä r e ihr ganzes G e b i e t so in Besiz zu n e h m e n , und Alles darin so ihrem | Β 313 G e i s t e g e m ä ß zu bestimmen und darzustellen, d a ß irgend einem einzelnen B e k e n n e r von ausgezeichnetem R e i c h t h u m und Eigenthümlichkeit des G e m ü t h e s nichts mehr übrig geblieben w ä r e zur Ergänzung beizutra- 25 gen; sondern wenigen unserer geschichtlichen Religionen nur ist es verg ö n n t gewesen in der Z e i t ihrer Freiheit und ihres besseren Lebens wenigstens das N ä c h s t e a m M i t t e l p u n k t recht auszubilden und zu vollenden, und nur in wenigen verschiedenen Gestalten den gemeinschaftlichen C h a r a k t e r wieder eigen auszuprägen. D i e E r n d t e ist g r o ß , aber der Ar- 30 beiter sind wenige. Ein unendliches Feld ist eröffnet in jeder dieser Reli-

4 sind,] B: sind; 4 f keineswegs ... Gleichheit] B: in dieser Gleichheit keinesweges C: keinesweges ... Gleichheit 6 thut,] B + C: thut 7 gewiß als] B: wie 9£ eben ... für die] B: so wenig schadet sie der 12 beziehen;] B: beziehen, 14 nur an das Eine] fehlt in Β 18 zwar,] B: zwar 19—26 Ist ... Religionen] B: Wodurch Jedem Arbeit und Spielraum genug angewiesen ist, und ich wüßte nicht daß es schon einer einzigen gelungen wäre ihr ganzes Gebiet in Besiz zu nehmen, und Alles ihrem Geiste gemäß zu bestimmen und darzustellen; sondern wenigen 27 f wenigstens] ß: nur 31 eröffnet] Β + C: eröfnet 30 f Lk 10,2

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gionen, worin Tausende sich zerstreuen mögen; unbebaute Gegenden genug werden sich dem Auge eines Jeden darstellen, der etwas Eigenes zu schaffen und hervorzubringen fähig ist 9 . So ganz ungegründet demnach ist der Vor|wurf, als ob, wer in eine positive Religion sich aufnehmen läßt, nur ein Nachtreter derjenigen würde, welche diese geltend gemacht, sich selbst aber nicht mehr eigenthümlich ausbilden könne, daß wir vielmehr auch hier nicht anders urtheilen können, als auf dem Gebiete des Staates und der Geselligkeit. Hier nämlich erscheint es uns krankhaft und abenteuerlich, wenn einer behauptet er habe nicht R a u m in einer bestehenden Verfassung, sondern um sich seine Eigenthümlichkeit zu bewahren, müsse er sich ausschließen von der Gesellschaft. Vielmehr sind wir überzeugt, jeder Gesunde werde von selbst einen großen nationalen | Charakter mit Vielen gemein haben, und grade in diesem festgehalten und durch ihn bedingt, werde sich auch am genauesten und schönsten seine Eigenthümlichkeit ausbilden. So auch auf dem Gebiete der Religion kann es nur krankhafte Abweichung sein, welche Einen von dem gemeinschaftlichen Leben mit Allen, unter welche ihn die Natur gesezt hat, so ausschließt, daß er keinem größeren Ganzen angehört; sondern von selbst wird Jeder, was für ihn Mittelpunkt der Religion ist, auch irgendwo im Großen so dargestellt finden, oder selbst darstellen. Aber jeder solchen gemeinsamen Sphäre schreiben wir ebenfalls eine unergründlich tief ins Einzelne gehende Bildsamkeit zu, vermöge deren aus ihrem S c h o o ß die Eigenthümlichkeiten Aller hervorgehn, wie denn in diesem Sinne mit Recht die Kirche die allgemeine | Mutter Aller genannt wird. Um Euch dies an dem nächsten deutlich zu machen, so denket Euch das Christenthum als eine jener bestimmten individuellen Formen der höchsten Ordnung, und Ihr findet darin zu unserer Zeit zuerst zwar die bekannten äußerlich auf das bestimmteste heraustretenden Gegensäze; dann aber theilt sich auch jedes dieser untergeordneten Gebiete in eine Menge verschiedener Ansichten und Schulen, deren jede eine eigenthümliche Bildung darstellt, von Einzelnen | ausgegangen, und mehrere um sich versammelnd, aber offenbar so daß noch für Jeden übrig bleibt die lezte und eigenste Bildung der Religiosität, welche mit seinem gesammten Dasein so sehr in

2 Eigenes] B + C: eigenes 4 f ob, ... läßt,] Β: abentheuerlich 11 f ausschließen] B: isoliren gendwo] C: irgend wo 26 machen,] B: machen 2 8 f die ... Gegensäze;] B: den ... Gegensaz: 30 32 versammelnd,] B: versammelnd; 36 isoliren] B: insoliren

ob ... läßt 9 abenteuerlich,] Β: 19 angehört;] B: angehört, 20 ir27 individuellen] B: doch allgemeinen dieser untergeordneten] B: der beiden

C 383 SW 407

268; ß 314

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Β 315

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Über die Religion

Eins z u s a m m e n f ä l l t , d a ß sie v o l l k o m m e n so N i e m a n d e m eignen k a n n SW 408 als ihm allein. Und diese Stufe der Bildung m u ß die Religion in einem J e d e n um so mehr erreichen als er durch sein ganzes Dasein Anspruch d a r a u f hat, E u c h , den Gebildeten, anzugehören. D e n n h a t sich sein höheres G e f ü h l allmählig entwikkelt, so m u ß es auch mit seinen übrigen Anlagen zugleich, wenn d o c h diese gebildet sind, ein eigenthümliches gew o r d e n sein. O d e r hat es sich dem Anscheine nach plözlich entwikkelt nach vielleicht unerkannter E m p f ä n g n i ß und unter schnell vorüberge269 henden Geburtsschmerzen des Geistes: | so ist auch dann seinem religiösen L e b e n nicht nur eine eigne Persönlichkeit m i t g e b o r e n , ein b e s t i m m t e r C 385 Z u s a m m e n h a n g mit einem Vorher, einem J e z t und Nach|her, eine Einheit des Bewußtseins vermittelt, indem a u f diese Art an diesen M o m e n t , und an den Z u s t a n d in welchem er das G e m ü t h überraschte, wie an seinen Z u s a m m e n h a n g mit dem früheren dürftigeren D a s e i n das ganze folgende religiöse L e b e n sich anknüpft, und sich gleichsam genetisch daraus entΒ 316 w i k k e l t . Sondern in diesem | ersten anfänglichen Bewußtsein muß schon ein eigenthümlicher C h a r a k t e r liegen, da es ja nur in einer durchaus b e s t i m m t e n Gestalt und unter b e s t i m m t e n Verhältnissen in ein schon gebildetes Leben so plözlich eintreten k o n n t e ; welchen eigenthümlichen C h a r a k t e r dann jeder folgende Augenblik eben so an sich trägt, so d a ß er der reinste Ausdruk des ganzen Wesens ist. Daher, so wie, indem der lebendige Geist der Erde gleichsam von sich selbst sich losreißend sich als ein Endliches an einen b e s t i m m t e n M o m e n t in der R e i h e organischer Evolutionen anknüpft, ein neuer M e n s c h entsteht, ein eignes Wesen, dessen abgesondertes Dasein unabhängig von der M e n g e und der objectiven Beschaffenheit seiner Begebenheiten und H a n d l u n g e n , in der eigenthümlichen Einheit des fortdauernden und an jenen ersten M o m e n t sich anschließenden Bewußtseins ruht, und in der eigenen Beziehung jedes spät e m a u f jenen sich bewährt: so entsteht auch in j e n e m Augenblik, in w e l c h e m in irgend einem einzelnen M e n s c h e n ein bestimmtes B e w u ß t SW 409 sein von seinem Verhältniß zum höchsten Wesen gleichsam ursprünglich C386 a n h e b t , ein eignes religiöses Leben. Eigen, nicht etwa durch | unwider-

1 f sie ... ihm] B: grade so wie sie ist Niemand Theil daran nehmen kann, als er 1 Niemandem] C: niemanden 2 Stufe] B + C: Stuffe 4 hat,] B: hat 10 eigne] B + C: eigene 14 dürftigeren] B: dürftigern 19 f eigenthümlichen Charakter] fehlt in Β 20 Augenblik] fehlt in Β 21 Ausdruk] B: Ausdrukk 2 1 - 2 4 der lebendige ... Evolutionen] B: ein Theil des unendlichen Bewußtseins sich losreißt und als ein endliches an einen bestimmten Moment in der Reihe organischer Evolutionen sich 23 Endliches] C: endliches 25 objectiven] B + C: objektiven 28 f spätem auf jenen] B: späteren 29 Augenblik] B: Augenblikk 3 0 f in irgend ... ursprünglich] B: ein bestimmtes Bewußtsein des Universum gleichsam 32 Leben. Eigen] B: Leben: eigen 32 etwa] fehlt in Β

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rufliche Beschränkung auf eine besondere Anzahl und Auswahl von Anschauungen und Gefühlen, nicht etwa durch die Beschaffenheit des darin vorkommenden religiösen Stoffs, den vielmehr Jeder mit Allen gemein hat, welche mit ihm zu derselben Zeit und in derselben Ge|gend der Β 317 5 Religion geistig geboren sind; sondern durch das, was er mit Keinem gemein haben kann, durch den immerwährenden Einfluß der besonderen Art und Weise des Zustandes, in welchem sein Gemüth | zuerst vom 270 Universum begrüßt und umarmt worden ist; durch die eigene Art wie er die Betrachtung desselben und die Reflexion darüber verarbeitet; durch 10 den Charakter und T o n , in welchen die ganze folgende Reihe seiner religiösen Ansichten und Gefühle sich hineinstimmt, und welcher sich nie verliert, wie weit er auch hernach in der Gemeinschaft mit dem ewigen Urquell fortschreite über das hinaus, was die erste Kindheit seiner Religion ihm darbot. Wie jedes intellektuelle endliche Wesen seine gei15 stige Natur und seine Individualität dadurch beurkundet, daß es Euch auf jene daß ich so sage in ihm vorgegangene Vermählung des Unendlichen mit dem Endlichen zurükführt, wobei Eure Fantasie Euch versagt, wenn Ihr sie aus irgend etwas Einzelnem oder Früherem, sei es Willkühr oder Natur, erklären wollt: eben so müßt Ihr Jeden, der so den Geburts20 tag seines geistigen Lebens angeben, und eine Wundergeschichte erzählen

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kann vom U r s p r u n g seiner Religion, die als eine unmittelbare Einwir- c 387 kung der Gottheit und als eine Regung des Geistes erscheint, auch dafür ansehn, daß er etwas Eige|nes sein, und daß etwas Besonderes mit ihm Β 318 gesagt sein soll; denn so etwas geschieht nicht um eine leere Wiederholung hervorzubringen im Reich der Religion 1 0 . Und so wie jedes organisch entstandene und in sich beschlossene Wesen nur aus sich erklärt, und nie ganz verstanden werden kann, wenn Ihr nicht seine Eigenthümlichkeit und seine Entstehung eine durch die andere als Eins und dasselbe begreift: so könnt Ihr auch den Religiösen nur verstehen, wenn Ihr, wo- sw 410

2 etwa] fehlt in Β 3 vielmehr] fehlt in Β 12 f ewigen Urquell] B: Universum 16 daß ich ... vorgegangene] fehlt in Β 17 Endlichen] B: Endlichen in ihm 18 sei es] B: es sei 22 des Geistes] B + C: ihres Geistes 23 Eigenes ... Besonderes] B + C: eigenes ... besonderes 2 4 soll;] B: soll: 28 eine durch die andere] B : durch einander 9 desselben] D : derselben

17 Eure] B + C: eure

18 Früherem] B + C: Früheren

19—21 Schleiermacher hat wohl im Frühling 1783 im Herrnhutischen Gnadenfrei während eines Spazierganges mit seinem Vater „die erste Regung des innern Lebens" (Briefe 1,281) verspürt (vgl. Briefe 1,318). „Hier ging mir zuerst das Bewußtsein auf von dem Verhältniß des Menschen zu einer höhern 'Welt, freilich in einer kleinen Gestalt [...]. Hier entwickelte sich zuerst die mystische Anlage, die mir so wesentlich ist und mich unter allen Stürmen des Skepticismus gerettet und erhalten hat." (Briefe 1,294 f)

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Über die Religion

fern er E u c h einen merkwürdigen Augenblik als den ersten seines höheren L e b e n s darbietet, in diesem das G a n z e zu e n t d e k k e n , so wie wenn er sich nur als eine schon gebildete Erscheinung darstellt, den C h a r a k t e r derselben bis in die ersten dunkelsten Z e i t e n des L e b e n s zurük zu verfolgen w i ß t . Dies Alles w o h l überlegt, glaube ich, d a ß es Euch nicht länger Ernst sein k a n n mit dieser ganzen Klage gegen die positiven Religionen; sondern wenn Ihr dabei b e h a r r t , ist sie w o l nur ein vorgefaßtes Urtheil: 271 denn Ihr seid viel zu sorglos | um den G e g e n s t a n d , als d a ß Ihr zu einer solchen K l a g e durch E u r e B e o b a c h t u n g solltet berechtiget sein. Ihr h a b t wol nie den B e r u f gefühlt, Euch anzuschmiegen an die wenigen religiösen C 388 M e n s c h e n , die Ihr vielleicht sehen k ö n n t , obgleich sie i m m e r | anziehend und liebenswerth genug sind, um e t w a durch das M i k r o s k o p der Freundß 319 schaft I oder der näheren T h e i l n a h m e , die jener wenigstens ähnlich sieht, genauer zu untersuchen, wie sie für das Universum und durch dasselbe organisirt sind. M i r , der ich sie fleißig b e t r a c h t e t h a b e , der ich sie eben so m ü h s a m aufsuche, und mit eben der heiligen Sorgfalt b e o b a c h t e , welche Ihr den Seltenheiten der N a t u r w i d m e t , mir ist oft eingefallen, o b nicht s c h o n das E u c h zur Religion führen k ö n n t e , wenn Ihr nur Acht d a r a u f g ä b e t , wie allmächtig die G o t t h e i t den T h e i l der Seele in welchem sie vorzüglich w o h n t , in welchem sie sich in ihren unmittelbaren W i r kungen o f f e n b a r t , und sich selbst b e s c h a u t , auch als ihr Allerheiligstes ganz eigen und abgesondert erbaut von Allem was sonst im M e n s c h e n gebaut und gebildet wird, und wie sie sich darin durch die unerschöpflic h e M a n n i g f a l t i g k e i t der Formen in ihrem ganzen R e i c h t h u m verherrlicht. Ich wenigstens bin i m m e r aufs neue erstaunt über die vielen merkwürdigen Bildungen a u f dem so wenig bevölkerten G e b i e t der Religion, wie sie sich von einander unterscheiden durch die verschiedensten Abstufungen der E m p f ä n g l i c h k e i t für den Reiz desselben Gegenstandes, und sw 411 durch die g r ö ß t e Verschiedenheit dessen was in ihnen gewirkt wird, durch die Mannigfaltigkeit des T o n s , den die entschiedene U e b e r m a c h t der einen oder der andern Art von Gefühlen hervorbringt, und durch

1 Augenblik] B: Augenblikk l f höheren] B + C: höhern 6—8 Dies ... ist sie] B : Darum glaube ich auch, daß es Euch nicht Ernst ist mit dieser ganzen Klage gegen die positiven Religionen; sondern dies ist 6 Alles] C : alles 13 f Freundschaft] B + C: Freundschaft, 14 Theilnahme, die jener] B : Kenntniß, die ihr 18 oft] B: es oft 23 und abgesondert erbaut] B: erbaut und abgesondert 23 Allem] B + C: allem 2 4 f unerschöpfliche] B + C: unerschöpflichste 3 0 wird,] B: wird 10 Eure] B + C: eure

18 Ihr] B : ihr

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a l l e r l e i Idiosynkrasien der R e i z b a r k e i t und E i g e n t ü m l i c h k e i t e n der S t i m m u n g , indem bei J e d e m fast unter andern Verhältnissen die religiöse Ansicht der D i n g e vorzüglich hervortritt. D a n n wieder wie der religiöse C h a r a k t e r des M e n s c h e n oft etwas ganz E i g e n t h ü m l i c h e s in ihm ist, streng geschieden für den gewöhnlichen Blik von Allem w a s sich in seinen übrigen Anlagen entdekt; wie das sonst ruhigste und n ü c h t e r n s t e G e m ü t h hier des stärksten der Leidenschaft ä h n l i c h e n A f f e k t e s fähig ist; wie der für gemeine und irdische D i n g e stumpfste Sinn hier innig fühlt bis zur W e h m u t h , und k l a r sieht bis zur E n t z ü k k u n g und Weissagung; wie der in allen weltlichen Angelegenheiten s c h ü c h t e r n s t e M u t h von heiligen D i n g e n und für sie oft bis zum M ä r t y r e r t h u m laut durch die Welt und das Z e i t a l t e r hindurch spricht. U n d wie w u n d e r b a r oft dieser religiöse C h a r a k t e r selbst geartet und zusammengesezt ist: Bildung und R o h h e i t , C a p a c i t ä t und B e s c h r ä n k u n g , Z a r t h e i t und H ä r t e in j e d e m auf eine eigne Weise unter einander gemischt und in einander verschlungen. W o ich alle diese G e s t a l t e n gesehen h a b e ? In dem eigentlichen G e biet der Religion, in ihren individuellen F o r m e n , in den positiven Religionen die Ihr für das Gegentheil verschreit; unter den H e r o e n und M ä r t y rern eines b e s t i m m t e n | G l a u b e n s , wie er den Freunden der natürlichen Religion zu starr ist, unter den S c h w ä r m e r n für lebendige G e f ü h l e , wie jene sie schon für gefährlich halten, unter den Verehrern eines irgend w a n n neu ge|wesenen Lichtes und individueller O f f e n b a r u n g e n : da will ich sie Euch zeigen zu allen Z e i t e n und unter allen Völkern. A u c h ist es nicht anders, nur da k ö n n e n sie anzutreffen sein. S o wie kein M e n s c h als Einzelwesen zum wirklichen Dasein k o m m e n k a n n , o h n e zugleich durch dieselbe T h a t auch in eine Welt, in eine b e s t i m m t e O r d n u n g der D i n g e , und unter einzelne G e g e n s t ä n d e versezt zu w e r d e n ; so k a n n auch ein religiöser M e n s c h zu seinem Einzelleben nicht gelangen, er w o h n e denn durch dieselbe H a n d l u n g sich auch ein in ein G e m e i n l e b e n , also in irgend eine b e s t i m m t e F o r m der Religion. Beides ist nur eine und dieselbe göttliche T h a t , und k a n n also Eins v o m Andern nicht getrennt werden. D e n n wenn eines M e n s c h e n ursprüngliche A n l a g e zu dieser h ö c h s t e n

2 t bei Jedem ... hervortritt] B: Jeden ... beherrscht 4 Eigenthümliches] B + C: eigenthümliches 5 Blik] B: Blikk 15 eigne] B + C: eigene 19f wie er ... ist,] fehlt in Β 20 lebendige] B: bestimmte 20 wie jene ... halten,] fehlt in Β 21 f irgend wann neu gewesenen] B: bestimmten 25 Einzelwesen] B: Individuum 26 dieselbe That] Β: denselben Actus 28 seinem Einzelleben] B: seiner Individualität 29 auch ein] B: auch ein, 29 in ein Gemeinleben, also] fehlt in Β 32—2 Denn ... gestalten:] B: Wenn eines Menschen ursprüngliche Anschauung des Universum nicht Kraft genug hat sich selbst zum Mittelpunkt seiner Religion zu machen, um den sich Alles in ihr bewegt,

Β 320; C 389

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sw 413 Β 323

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Über die

Religion

Stufe des Bewußtseins nicht Kraft genug hat sich auf eine bestimmte Weise zu gestalten: so wirkt auch ihr Reiz nicht stark genug um den Prozeß eines eignen und rüstigen religiösen Lebens einzuleiten. Und nun ich Euch diese Rechenschaft abgelegt habe, so sagt mir doch auch wie es in Eurer gerühmten natürlichen | Religion um diese Ausbildung und Individualisirung steht? Zeiget mir doch unter ihren Bekennern auch eine so große | Mannigfaltigkeit stark gezeichneter Charaktere! Denn ich muß gestehen, ich selbst konnte dergleichen unter ihnen niemals finden; und wenn Ihr rühmt, daß diese Art der Religion ihren Anhängern mehr Freiheit gewähre, sich nach eignem | Sinne religiös zu bilden, so kann ich mir nichts anders darunter denken als, wie denn das Wort oft so gebraucht wird, die Freiheit auch ungebildet zu bleiben, die Freiheit von jeder Versuchung nur überhaupt irgend etwas Bestimmtes zu sein, zu sehen und zu empfinden. Die Religion spielt doch in ihrem Gemüth eine gar zu dürftige Rolle. Es ist als ob sie gar keinen eignen Puls, kein eignes System von Gefäßen, keine eigne Circulation, und also auch keine eigne Temperatur und keine assimilirende Kraft für sich hätte und eben daher auch keinen eignen Charakter und keine eigne Darstellung; vielmehr zeigt sie sich überall abhängig von eines jeden besonderer Art von Sittlichkeit und natürlicher Empfindsamkeit; in Verbindung mit denen, oder vielmehr ihnen demüthig nachtretend, bewegt sie sich träge und sparsam, und ist nur wahrzunehmen, indem sie gelegentlich tropfenweise abgeschieden wird von jenen. Z w a r ist mir mancher achtungswerthe und kräftige religiöse Charakter vorgekommen, den die Bekenner der positiven Religionen, nicht ohne sich über das Phänomen zu verwundern, für einen Bekenner | der natürlichen ausgaben: aber genau betrachtet erkannten ihn dagegen die lezteren nicht für ihres gleichen; er war immer schon etwas von der ursprünglichen Reinheit der Vernunftreligion abgewichen, und hatte einiges Willkührliche, wie sie es nennen, und Positive in die seinige aufgenommen, was nur jene nicht erkannten, weil es von dem Ihrigen zu sehr verschieden war. Warum | mißtrauen aber die Verehrer der natürlichen Religion gleich Jedem, der etwas Eigenthümliches in seine Religion bringt? Sie wollen eben auch gleichförmig sein, nur entgegengesezt dem Extrem auf der

274 andern Seite, den Sektirern meine ich, | Alle gleichförmig im Unbestimm-

1 Stufe] C: Stuffe 9 rühmt,] B: rühmt 13 Versuchung] ß; Nöthigung 14 Bestimmtes] B + C: bestimmtes 18—20 hätte ... Empfindsamkeit] B: hätte, und keinen Charakter; sie ist überall mit ihrer Art von Sittlichkeit und ihrer natürlichen Empfindsamkeit vermischt 27 lezteren] B: letzteren 30 jene] Β: Jene 3 2 f aber ... Jedem,] B: sie gleich Jedem 33 Eigenthümliches] B + C: eigenthümliches 3 4 f gleichförmig ... Alle gleichförmig] B: Alle gleichförmig ... gleichförmig

5

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Fünfte

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Rede

275

ten. So wenig ist an eine b e s o n d e r e persönliche Ausbildung zu denken durch die natürliche Religion, d a ß ihre ächtesten Verehrer nicht e i n m a l m ö g e n , d a ß die Religion des M e n s c h e n eine eigene G e s c h i c h t e h a b e n , und mit einer D e n k w ü r d i g k e i t anfangen soll. D a s ist ihnen s c h o n zu viel: denn M ä ß i g k e i t ist ihnen H a u p t s a c h e in der R e l i g i o n ; und w e r E t w a s zu rühmen w e i ß von plözlich aus den T i e f e n des Innern sich e n t w i k k e l n d e n religiösen Erregungen, der k o m m t schon in den üblen G e r u c h , d a ß er einen Ansaz h a b e zur leidigen S c h w ä r m e r e i . N a c h und n a c h soll der M e n s c h religiös werden, wie er klug und verständig wird, und alles A n dere was er sein soll; durch den Unterricht und die Erziehung soll ihm das Alles k o m m e n ; nichts m u ß dabei sein was | für ü b e r n a t ü r l i c h oder auch nur für s o n d e r b a r k ö n n t e gehalten w e r d e n . Ich will nicht sagen, daß mir das, von wegen des Unterrichts und der Erziehung die Alles sein sollen, den Verdacht beibringt, als sei die natürliche Religion ganz vorzüglich von j e n e m Uebel einer Vermischung, j a gar einer V e r w a n d lung in M e t a p h y s i k und M o r a l befallen: a b e r das wenigstens ist klar, daß ihre Verehrer nicht von irgend einer lebendigen S e l b s t b e s c h a u u n g ausgegangen sind, und d a ß | auch keine ihr fester M i t t e l p u n k t ist; weil sie gar nichts als Kennzeichen ihrer D e n k a r t aufstellen unter sich, w o von der M e n s c h a u f eine eigne Weise m ü ß t e ergriffen w e r d e n . D e r G l a u b e an einen persönlichen G o t t , mehr o d e r m i n d e r m e n s c h e n ä h n l i c h gebildet, und an eine persönliche Fortdauer m e h r o d e r weniger entsinnlicht und sublimirt, diese beiden Säze, auf welche Alles bei ihnen zurükgeht, das wissen sie selbst, hängen von keiner b e s o n d e r n A n s i c h t und Auffassungsweise a b ; d a r u m fragen sie auch keinen, der sich zu ihnen bekennt, wie er zu seinem G l a u b e n g e k o m m e n sei; sondern wie sie ihn demonstriren zu k ö n n e n meinen, so sezen sie a u c h v o r a u s , er müsse Allen a n d e m o n s t r i r t sein. Sonst einen anderen und b e s t i m m t e r e n M i t t e l punkt, den sie h ä t t e n , m ö c h t e t Ihr wol schwerlich aufzeigen k ö n n e n . D a s Wenige, was ihre m a g r e und dünne Reli|gion e n t h ä l t , steht für sich in u n b e s t i m m t e r Vieldeutigkeit da; sie h a b e n eine Vorsehung ü b e r h a u p t ,

2 durch die natürliche] B : in der natürlichen 5—7 Religion; ... Erregungen, der] ß.Religion, und wer so Etwas von sich zu sagen weiß 9 f alles Andere] B + C: Alles andere 13 Erziehung] B : Erziehung, 16 wenigstens ist] B: ist doch 17 Selbstbeschauung] ß.Anschauung 19 als Kennzeichen ... aufstellen] B : wissen 2 1 — 2 7 mehr ... voraus] B: das wissen sie selbst, ist nicht das Resultat einer bestimmten einzelnen Anschauung des Universum im Endlichen; darum fragen sie auch Keinen, der ihn hat, wie er dazu gekommen sei; sondern so wie sie ihn demonstriren wollen, meinen sie auch 23 Alles] C : alles 28 anderen] B : andern 31 da;] B : da: 1 besondere persönliche] C : besonderep ersönliche

12 sonderbar] C : sondenbar

Β 324

C 393 sw 414

275

Über die Religion

276

eine G e r e c h t i g k e i t überhaupt, eine göttliche Erziehung überhaupt, und Β 325 alles dies erscheint ihnen gegen | einander bald in dieser bald in jener Perspektive und Verkürzung, und jedes gilt ihnen bald Dies bald J e n e s . O d e r wenn ja eine gemeinschaftliche Beziehung a u f einen Punkt darin anzutreffen ist, so liegt dieser P u n k t a u ß e r h a l b der R e l i g i o n , und es ist 5 eine Beziehung a u f etwas Fremdes, d a r a u f daß die Sittlichkeit ja nicht gehindert werde, und daß der T r i e b n a c h Glükseligkeit einige N a h r u n g C 394 erhalte, o d e r sonst etwas w o r n a c h w a h r h a f t r e l i g i ö s e M e n s c h e n bei der A n o r d n u n g der E l e m e n t e ihrer Religion niemals gefragt h a b e n ; Beziehungen w o d u r c h ihr kärgliches religiöses E i g e n t h u m n o c h m e h r zerstreut 10 und auseinander getrieben wird. Sie h a t also für ihre religiösen E l e m e n t e keine E i n h e i t einer bestimmten Ansicht, diese natürliche Religion; sie ist also auch keine b e s t i m m t e F o r m , keine eigne individuelle Darstellung der R e l i g i o n , und die, welche nur sie b e k e n n e n , h a b e n keinen b e s t i m m ten W o h n s i z in diesem G e b i e t , sondern sind Fremdlinge, deren H e i m a t h , 15 wenn sie eine h a b e n , w o r a n ich zweifle, a n d e r s w o liegen m u ß . Sie gem a h n t m i c h wie die M a s s e , welche zwischen den Weltsystemen dünn und zerstreut schweben soll, hier von dem einen, dort von dem andern SW 415 ein wenig angezogen; aber von k e i n e m stark genug, u m in seinen W i r b e l ß 326 fortgerissen zu werden. Wozu sie da ist, mögen | die G ö t t e r wissen; es 20 m ü ß t e denn sein, um zu zeigen, d a ß auch das U n b e s t i m m t e auf gewisse Weise existiren k a n n . Eigentlich aber ist es doch nur ein Warten a u f die E x i s t e n z , zu der sie nicht anders k o m m e n k ö n n t e n , als wenn eine G e w a l t stärker als jede bisherige und auf andere Weise sie ergriffe. D e n n m e h r k a n n ich ihnen nicht zugestehen, als die dunkeln A h n u n g e n , welche je- 25 n e m lebendigen Bewußtsein v o r a n g e h n , mit w e l c h e m sich dem M e n schen sein religiöses Leben aufthut. Es giebt gewisse dunkle Regungen und Vorstellungen, die gar nicht mit der Eigenthümlichkeit eines M e n C 395; 276 sehen | z u s a m m e n h ä n g e n , son|dern gleichsam nur die Z w i s c h e n r ä u m e derselben ausfüllen, und wie sie ihren Ursprung nur in dem G e s a m m t i e ben h a b e n auch in Allen gleichförmig eben dasselbe sind: so ist ihre Religion nur der unvernehmliche N a c h k l a n g von der F r ö m m i g k e i t die

1 ü b e r h a u p t , und] B: überhaupt; Anschauungen

gestehen] B: zugestehn die

3 jedes gilt] B: sie gelten

1 5 diesem Gebiet] B: ihrem Reich

3 2 Nachklang] C: Nachklag vermutlich

25

zu-

2 5 f jenem ... sich] B : jener lebendigen A n s c h a u u n g v o r a n g e h n ,

3 0 f wie sie . . . auch] fehlt in Β

1 5 f Anspielung

11 Elemente] ß.-

2 4 Denn m e h r ] B : M e h r

auf Ex

2,22

3 2 f nur der ... umgiebt] fehlt

in Β

30

Fünfte Rede

5

10

15

20

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30

277

sie umgiebt. H ö c h s t e n s ist sie natürliche Religion in d e m Sinne, wie m a n auch sonst, wenn m a n von natürlicher Philosophie und n a t ü r l i c h e r Poesie redet, diesen N a m e n solchen Erzeugnissen beilegt, denen a u c h das Ursprüngliche fehlt, und die wenn a u c h nicht b e w u ß t e ungeschilcte N a c h a h m u n g e n , d o c h nur rohe Aeußerungen o b e r f l ä c h l i c h e r A n l a g e n sind, die m a n eben durch jenen B e i n a m e n von der lebendig gestaltenden W i s s e n s c h a f t und Kunst und deren Werken unterscheidet. A b e r a u f jenes bessere, was sich nur in den religiösen G e m e i n s c h a f t e n und deren E r zeugnissen findet, warten sie nicht e t w a mit S e h n s u c h t , und a c h t e n es um so h ö h e r im G e f ü h l es nicht erreichen zu k ö n n e n ; sondern sie widersezen sich ihm aus allen K r ä f t e n . D a s Wesen der natürlichen R e l i g i o n besteht ganz eigentlich in der Verläugnung alles Positiven und C h a r a k t e ristischen in der Religion, und in der heftigsten P o l e m i k dagegen. D a r u m ist sie auch | das würdige P r o d u k t des Z e i t a l t e r s , dessen S t e k k e n p f e r d jene e r b ä r m l i c h e Allgemeinheit und jene leere N ü c h t e r n h e i t war, die mehr als irgend e t w a s in allen Dingen der w a h r e n Bildung entgegen arbeitet. Zweierlei hassen sie ganz vorzüglich: sie wollen | nirgends b e i m Außerordentlichen und Unbegreiflichen a n f a n g e n ; und was sie a u c h sein und treiben m ö g e n , so soll nirgends eine Schule h e r v o r s c h m e k k e n . D a s ist das Verderben, welches Ihr in allen Künsten und W i s s e n s c h a f t e n findet, es ist auch in die Religion gedrungen, und sein P r o d u k t ist dies gehaltleere und f o r m l o s e Ding. A u t o c h t h o n e n und A u t o d i d a k t e n m ö c h ten sie sein in der R e l i g i o n : aber sie haben nur das R o h e und U n g e b i l d e t e von diesen; das E i g e n t h ü m l i c h e hervorzubringen, h a b e n sie weder K r a f t noch Willen. Sie sträuben sich gegen jede b e s t i m m t e Religion, w e l c h e da ist, weil sie doch zugleich eine Schule ist; aber wenn es möglich w ä r e , d a ß ihnen selbst | etwas begegnete, w o d u r c h eine eigne Religion sich ihnen gestalten w o l l t e , würden sie sich eben so heftig dagegen a u f l e h n e n , weil doch eine Schule daraus entstehen k ö n n t e . U n d so ist ihr S t r ä u b e n gegen das Positive und Willkührliche zugleich ein S t r ä u b e n gegen alles B e s t i m m t e und W i r k l i c h e . Wenn eine b e s t i m m t e Religion nicht mit einer ursprünglichen T h a t s a c h e anfangen soll, k a n n sie | gar nicht a n f a n g e n : denn ein gemeinschaftlicher G r u n d m u ß d o c h da sein, w e s h a l b irgend ein religiöses E l e m e n t mehr als sonst besonders hervorgezogen und in

1 — 10 natürliche Religion ... um so] B : Naturreligion, in dem Sinne wie man auch sonst, wenn man von Naturphilosophie und Naturpoesie redet, den Äußerungen des rohen Instinkts diesen Namen vorsezt, um sie von der Kunst und Bildung zu unterscheiden. Aber auf das Bessere warten sie nicht etwa, und achten es 4 Ursprüngliche] C: ursprüngliche 15 jene ... jene] B: eine ... eine 2 0 Verderben,] ß : Verderben 23 Religion:] B: Religion; 2 4 hervorzubringen,] B : hervorzubringen 25 Religion,] B : Religion 31 f einer ursprünglichen Thatsache] B : einem Faktum 3 3 — 2 weshalb ... Und] B : und es kann nur ein solcher sein warum irgend etwas hervorgezogen und in die Mitte gestellt wird; und

Β 327

sw 416; C 396

277

Β 328

Über die Religion

278

C 397

SW 417

Β 329

278

C 398

die M i t t e gestellt wird: und dieser G r u n d k a n n nur eine T h a t s a c h e sein. Und wenn eine Religion nicht eine b e s t i m m t e sein soll, so ist sie gar keine: denn nur lose u n z u s a m m e n h ä n g e n d e Regungen verdienen den N a men nicht. Erinnert Euch was die | D i c h t e r von einem Z u s t a n d e der Seelen vor der G e b u r t reden: wenn sich eine solche gewaltsam wehren 5 wollte in die Welt zu k o m m e n , weil sie eben nicht D i e s e r und J e n e r sein m ö c h t e , sondern ein M e n s c h überhaupt; diese P o l e m i k gegen das L e b e n ist die P o l e m i k der natürlichen Religion gegen die positiven, und dies ist der p e r m a n e n t e Z u s t a n d ihrer Bekenner. Z u r ü k also, wenn es E u c h Ernst ist die Religion in ihren bestimmten 10 Gestalten zu b e t r a c h t e n , von dieser erleuchteten natürlichen zu jenen verachteten positiven Religionen, w o Alles w i r k s a m , kräftig und fest erscheint; w o jede einzelne A n s c h a u u n g ihren b e s t i m m t e n G e h a l t und ihr eignes Verhältniß zu den übrigen, jedes Gefühl seinen eignen Kreis und seine besondere Beziehung hat; w o Ihr jede M o d i f i k a t i o n der Reli- 15 giosität irgendwo antrefft, und jeden G e m ü t h s z u s t a n d , in welchen nur die Religion den M e n s c h e n versezen k a n n ; w o Ihr jeden T h e i l derselben irgendwo a u s g e b i l d e t , und jede ihrer W i r k u n g e n i r g e n d w o vollendet findet; w o alle gemeinschaftliche Anstalten und alle einzelne Aeußerungen den h o h e n Werth beweisen, der auf die Religion gelegt wird, bis zum 20 Vergessen fast alles Uebrigen; w o der heilige Eifer, mit welchem sie bet r a c h t e t , mitgetheilt, genossen wird, und die kindliche | Sehnsucht, mit welcher m a n neuen O f f e n b a r u n g e n h i m m l i s c h e r K r ä f t e e n t g e g e n s i e h t 1 1 , E u c h dafür bürgen, d a ß keines von ihren E l e m e n t e n , welches von diesem Punkt I aus schon w a h r g e n o m m e n werden k o n n t e , übersehen w o r d e n , 25 und keiner von ihren M o m e n t e n verschwunden ist, o h n e ein D e n k m a l zurükzulassen. B e t r a c h t e t alle die mannigfaltigen G e s t a l t e n , in welchen jede einzelne Art der G e m e i n s c h a f t mit dem Universum schon erschienen ist; laßt E u c h nicht zurükschrekken, weder durch geheimnißvolle D u n kelheit, n o c h durch wunderbar scheinende groteske Z ü g e , und gebet 30 dem W a h n nicht R a u m , als m ö c h t e Alles nur Einbildung sein und D i c h tung; grabet nur i m m e r tiefer, w o E u e r magischer S t a b e i n m a l angeschlagen h a t , Ihr werdet gewiß das H i m m l i s c h e zu T a g e fördern. Aber, d a ß

3 keine:] B; keine, 10 Zurük] B: Zurükk 11 natürlichen] fehlt in Β 12 wirksam, kräftig und fest] B: wirklich, kräftig und bestimmt 14 ihr] B: ein 21 Uebrigen] B + C: übrigen 27 welchen] B: welcher 30 wunderbar scheinende] B: wunderbare 31 Alles] B + C: alles 15 Ihr] C: ihr 32 f Vgl. Num

25 Punkt] C: Punt 20,11

Fünfte

5

10

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25

30

Rede

279

Ihr ja auch a u f das M e n s c h l i c h e seht, was die G ö t t l i c h e a n n e h m e n mußte! daß Ihr ja nicht aus der Acht laßt, wie sie überall die Spuren von der Bildung jedes Z e i t a l t e r s , von der Ge|schichte jeder M e n s c h e n a r t an Β 330 sich trägt, wie sie oft in Knechtsgestalt einhergehen m u ß t e , an ihren Umgebungen und an ihrem S c h m u k die D ü r f t i g k e i t ihrer Schüler und ihres Wohnsizes zur Schau tragend, damit Ihr gebührend a b s o n d e r t und scheidet! daß Ihr ja nicht übersehet, wie sie oft b e s c h r ä n k t w o r d e n ist in ihrem W a c h s t h u m , weil man ihr nicht R a u m ließ ihre K r ä f t e zu ü b e n , wie sie oft in der ersten Kindheit kläglich vergangen ist an schlechter SW 418 Behandlung und übel gewählten N a h r u n g s m i t t e l n ! U n d wenn Ihr das G a n z e umfassen wollt, so bleibet ja nicht allein bei dem stehen in den verschiedenen Gestalten der | Religion, was J a h r h u n d e r t e lang geglänzt C399 und g r o ß e Völker beherrscht h a t , und durch D i c h t e r und Weise vielfach verherrlicht w o r d e n ist; sondern bedenkt, d a ß w a s historisch und religiös das merkwürdigste war, oft nur unter wenige getheilt, und dem gemeinen Blik verborgen geblieben i s t 1 2 . Wenn Ihr a b e r auch a u f diese Art die rechten G e g e n s t ä n d e , und diese ganz und vollständig ins Auge faßt, wird es i m m e r n o c h ein schwieriges G e s c h ä f t sein den Geist der Religionen zu e n t d e k k e n , und sie durchaus zu verstehen. N o c h | einmal w a r n e ich E u c h , ihn nicht e t w a 279 so nur im Allgemeinen abziehen zu wollen aus d e m , was Allen, die eine bestimmte Religion b e k e n n e n , ge|meinschaftlich ist: Ihr verirrt E u c h in Β 331 tausend vergeblichen N a c h f o r s c h u n g e n a u f diesem Wege, und k o m m t am Ende i m m e r anstatt zum Geiste der Religion auf ein b e s t i m m t e s Q u a n t u m von Stoff. Ihr m ü ß t E u c h erinnern, d a ß keine je ganz w i r k l i c h geworden ist, und d a ß Ihr sie nicht eher k e n n t , bis Ihr, weit entfernt sie in einem b e s c h r ä n k t e n R ä u m e zu suchen, selbst im Stande seid sie zu ergänzen, und zu b e s t i m m e n wie dies und jenes in ihr geworden sein müßte, wenn ihr Gesichtskreis so weit gereicht hätte; und wie dies von jeder positiven Religion ü b e r h a u p t gilt, so gilt es auch von jeder einzelnen Periode und jeder untergeordneten F o r m a t i o n einer jeden. Ihr k ö n n t

5 Schmuk] B: Schmukk 10 übel gewählten Nahrungsmitteln] B: an Atrophie 11 — 16 bleibet ... geblieben ist] B: bleibt ja nicht allein bei denen Gestalten der Religion stehn, welche Jahrhunderte lang geglänzt und große Völker beherrscht haben, und durch Dichter und Weise vielfach verherrlicht worden sind: was historisch und religiös das merkwürdigste war, ist oft nur unter Wenige getheilt, und dem gemeinen Blikk verborgen geblieben 21 Allgemeinen] B + C: allgemeinen 21 f Allen, ... bekennen,] B: Allen ... bekennen 29 hätte;] B: hätte. 29—31 und wie ... jeden.] fehlt in Β 4 Vgl. Phil 2,7

280

Über die Religion

es E u c h nicht fest genug einprägen, d a ß Alles d a r a u f n u r a n k o m m t das C 400 G r u n d v e r h ä l t n i ß | einer jeden zu finden, d a ß E u c h alle Kenntniß v o m Einzelnen nichts hilft, so lange Ihr dieses nicht h a b t , und d a ß Ihr es nicht eher h a b t bis E u c h alles Einzelne in E i n e m fest verbunden ist. Und selbst mit dieser Regel der Untersuchung, die d o c h nur ein Prüfstein ist, werdet Ihr tausend Verirrungen ausgesezt sein; Vieles wird sich E u c h in den Weg stellen, u m E u e r Auge auf eine falsche Seite zu lenken. Vor allen Dingen SW 419 bitte ich E u c h , den Unterschied ja nicht aus den Augen zu lassen zwischen dem w a s das Wesen einer einzelnen Religion a u s m a c h t , sofern sie eine b e s t i m m t e F o r m und Darstellung der Religion überhaupt ist, und dem w a s ihre Einheit als Schule bezeichnet, und sie als solche zusammenhält. Religiöse M e n s c h e n sind durchaus historisch; das ist nicht ihr kleinstes L o b , a b e r es ist auch die Quelle g r o ß e r Mißverständnisse. D e r M o ment, in w e l c h e m sie selbst von dem Bewußtsein erfüllt worden sind, welches sich zum M i t t e l p u n k t e ihrer Religion g e m a c h t hat, ist ihnen i m m e r heilig; er erscheint ihnen als eine unmittelbare Einwirkung der G o t t h e i t , und sie reden nie von dem, was ihnen eigenthümlich ist in der 280 Religion, und von der Gestalt die sie in ihnen | g e w o n n e n hat, ohne a u f ihn hinzuweisen. Ihr k ö n n t also denken, wie viel heiliger n o c h ihnen der M o m e n t sein m u ß , in welchem diese unendliche A n s c h a u u n g überhaupt zuerst in der Welt als Fundament und M i t t e l p u n k t einer eignen Religion | c 401 aufgestellt w o r d e n ist, da an diesen die ganze E n t w i k k e l u n g dieser Religion in allen G e n e r a t i o n e n und Individuen sich eben so historisch anknüpft, und dieses G a n z e der Religion und die religiöse Bildung einer großen M a s s e der M e n s c h h e i t doch etwas unendlich G r ö ß e r e s ist, als ihr eigenes religiöses Leben und die kleine Spiegelfläche dieser Religion, welc h e sie persönlich darstellen. Dieses F a k t u m verherrlichen sie also a u f Β 333 alle Weise; häufen d a r a u f allen S c h m u k | der religiösen Kunst; beten es an als die reichste und wohlthätigste W u n d e r w i r k u n g des H ö c h s t e n ; und reden nie von ihrer Religion, stellen nie eins von ihren Elementen auf, o h n e es in Verbindung mit diesem F a k t u m zu sezen und so darzustellen. Wenn also die beständige E r w ä h n u n g desselben alle Aeußerungen

l f darauf ... jeden] B: nur darauf ankommt ihre Grundanschauung 3 dieses ... es nicht] Β: diese ... sie nicht 6 Vieles] B: Vieles wird Euch entgegenkommen, gleichsam absichtlich um Euch zu verführen, Vieles 10 der Religion] ß; dersel-|[332]ben 11 bezeichnet,] B: bezeichnet 13 f Moment,] B: Moment 14 dem Bewußtsein] B: der Anschauung 15 Mittelpunkte] B + C: Mittelpunkt 17 dem,] B: dem 25 f Größeres ... eigenes] B + C: größeres ... eignes 26f die kleine ... welche] B: das kleine Fragment dieser Religion, welches 28 Schmuk] B: Schmukk 30 eins] C: Eins 3 so lange Ihr] B: so lange ihr

28 Kunst] B: Kuust

32 desselben] D: dasselbe

5

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20

25

30

Fünfte

Rede

281

d e r R e l i g i o n b e g l e i t e t , u n d i h n e n e i n e e i g e n e F a r b e g i e b t : s o ist n i c h t s n a t ü r l i c h e r als d i e s e s F a k t u m m i t d e r G r u n d a n s c h a u u n g d e r

Religion

s e l b s t zu v e r w e c h s e l n ; dies h a t n u r n i c h t A l l e v e r f ü h r t , u n d d i e A n s i c h t f a s t aller R e l i g i o n e n v e r s c h o b e n . V e r g e ß t a l s o n i e , d a ß d i e 5

Grundan-

s c h a u u n g e i n e r R e l i g i o n n i c h t s sein k a n n , als i r g e n d e i n e A n s c h a u u n g

s w 420

des U n e n d l i c h e n i m E n d l i c h e n , i r g e n d ein a l l g e m e i n e s r e l i g i ö s e s V e r h ä l t n i ß , w e l c h e s in a l l e n a n d e r n R e l i g i o n e n e b e n a u c h v o r k o m m e n d a r f , u n d w e n n sie v o l l s t ä n d i g sein s o l l t e n , v o r k o m m e n m ü ß t e , n u r d a ß es in i h n e n n i c h t in d e n M i t t e l p u n k t g e s t e l l t ist. — I c h b i t t e E u c h , n i c h t A l l e s w a s 10

I h r bei d e n H e r o e n | d e r R e l i g i o n o d e r in d e n h e i l i g e n U r k u n d e n f i n d e t

c 402

f ü r R e l i g i o n zu h a l t e n , u n d d e n u n t e r s c h e i d e n d e n G e i s t d e r i h r i g e n d a r i n zu s u c h e n . N i c h t K l e i n i g k e i t e n m e i n e i c h d a m i t , w i e I h r l e i c h t d e n k e n k ö n n t , n o c h s o l c h e D i n g e , die n a c h jedes E r m e s s e n der R e l i g i o n

ganz

f r e m d sind; s o n d e r n das, w a s o f t mit ihr verwechselt w i r d . Er|innert 15

Β 334

E u c h wie absichtlos jene U r k u n d e n verfertigt sind, daß u n m ö g l i c h dara u f g e s e h e n w e r d e n | k o n n t e A l l e s d a r a u s zu e n t f e r n e n w a s n i c h t R e l i -

281

g i o n ist, u n d b e d e n k t , w i e j e n e M ä n n e r in a l l e r l e i V e r h ä l t n i s s e n g e l e b t h a b e n in d e r W e l t , u n d u n m ö g l i c h bei j e d e m W o r t w a s sie n i e d e r s c h r i e b e n , sagen k o n n t e n , „dies g e h ö r t a b e r nicht z u m G l a u b e n ; " und w e n n 20

sie a l s o W e l t k l u g h e i t u n d M o r a l r e d e n , o d e r M e t a p h y s i k u n d P o e s i e , s o m e i n t n i c h t s o g l e i c h , d a s m ü s s e a u c h in d i e R e l i g i o n

hineingezwängt

w e r d e n , u n d d a r i n m ü s s e a u c h i h r C h a r a k t e r zu s u c h e n s e i n . D i e M o r a l wenigstens soll d o c h w o l überall nur Eine sein, und n a c h ihren Verschiedenheiten, 25

welche

also immer

etwas

sind das h i n w e g g e t h a n

werden

s o l l 1 3 , k ö n n e n sich die Religionen nicht unterscheiden, die nicht überall E i n e sein s o l l e n . — M e h r als A l l e s a b e r b i t t e i c h E u c h , l a ß t E u c h n i c h t verführen von den beiden feindseligen Principien, die überall und fast v o n d e n e r s t e n Z e i t e n a n d e n G e i s t j e d e r R e l i g i o n h a b e n zu e n t s t e l l e n u n d zu v e r s t e k k e n g e s u c h t . U e b e r a l l h a t es s e h r b a l d t h e i l s S o l c h e g e g e -

30

b e n , die i h n in e i n z e l n e n L e h r s ä z e n h a b e n u m g r e n z e n , u n d d a s w a s | n o c h nicht zur U e b e r e i n s t i m m u n g mit diesen gebildet war, von ihr aus-

C 403

s c h l i e ß e n w o l l e n ; t h e i l s a u c h S o l c h e , d i e es sei n u n a u s H a ß g e g e n d i e P o l e m i k , o d e r u m die R e l i g i o n d e n I r r e l i g i ö s e n a n g e n e h m e r zu m a | c h e n ,

1 eigene] C: eigne 1 giebt:] B: giebt; B: absichtslos 16 Alles] B + C: alles sagen konnten: das ist nicht Religion, 2 7 f überall ... an] Β: überall, ... an, umgränzen 31 zur ... diesen] B: ihm 32 die es] B + C: die, es 2 natürlicher] D: na rlicher

7 Religionen eben] B: aber 15 absichtlos] 18 f niederschrieben, ... Glauben;"] ß : sprachen, 19 „dies] C: „Dies 21 sogleich,] fehlt in Β 29 theils] fehlt in Β 30 umgrenzen] B + C: gemäß zur Religion 32 theils auch] B: und

30 einzelnen] D: einzlnen

Β 335

282

Über die Religion

oder aus Unverstand und U n k e n n t n i ß der S a c h e und aus M a n g e l SW 421

an

S i n n , a l l e s E i g e n t h ü m l i c h e als t o d t e n B u c h s t a b e n v e r s c h r e i e n , u m a u f s U n b e s t i m m t e loszugehen. Vor beiden hütet E u c h ! Bei steifen Systematik e r n , bei s e i c h t e n I n d i f f e r e n t i s t e n w e r d e t I h r d e n G e i s t e i n e r R e l i g i o n n i c h t f i n d e n ; s o n d e r n bei d e n e n , die in i h r l e b e n als in i h r e m E l e m e n t ,

5

u n d s i c h i m m e r w e i t e r in i h r b e w e g e n , o h n e d e n W a h n zu n ä h r e n , d a ß sie sie g a n z u m f a s s e n k ö n n t e n . Ob

es E u c h

mit diesen Vorsichtsmaaßregeln

gelingen wird,

den

G e i s t d e r R e l i g i o n e n zu e n t d e k k e n , w e i ß i c h n i c h t : a b e r i c h f ü r c h t e , d a ß a u c h R e l i g i o n n u r d u r c h sich s e l b s t v e r s t a n d e n w e r d e n k a n n , u n d d a ß

10

E u c h i h r e b e s o n d e r e B a u a r t u n d ihr c h a r a k t e r i s t i s c h e r U n t e r s c h i e d n i c h t e h e r k l a r w e r d e n w i r d , b i s I h r s e l b s t i r g e n d e i n e r a n g e h ö r t . W i e es E u c h g l ü k k e n m a g die r o h e n u n d u n g e b i l d e t e n R e l i g i o n e n e n t f e r n t e r V ö l k e r | 282 zu e n t z i f f e r n , o d e r die vielerlei v e r s c h i e d e n e n r e l i g i ö s e n

Erscheinungen

a u s z u s o n d e r n , w e l c h e in d e r s c h ö n e n M y t h o l o g i e d e r G r i e c h e n u n d R ö -

15

m e r eingewikkelt liegen, das läßt mich sehr gleichgültig; m ö g e n ihre G ö t ter E u c h geleiten! A b e r w e n n Ihr E u c h d e m Allerheiligsten nähert, w o C404

d a s U n i v e r s u m in s e i n e r h ö c h s t e n E i n h e i t u n d A l l h e i t

Β 336

w i r d , w e n n I h r d i e v e r s c h i e d e n e n G e s t a l t e n d e r h ö c h s t e n S t u f e der R e l i -

wahrgenom|men

g i o n b e t r a c h t e n w o l l t , n i c h t d i e a u s l ä n d i s c h e n u n d f r e m d e n , s o n d e r n die

20

w e l c h e u n t e r u n s n o c h m e h r o d e r m i n d e r v o r h a n d e n s i n d : s o k a n n es m i r nicht gleichgültig sein, o b Ihr den rechten P u n k t findet, von d e m Ihr sie a n s e h e n m ü ß t . Z w a r s o l l t e ich n u r v o n E i n e r r e d e n ; d e n n d a s J u d e n t h u m ist s c h o n l a n g e e i n e t o d t e R e l i g i o n , u n d d i e j e n i g e n , w e l c h e jezt n o c h s e i n e F a r b e

25

t r a g e n , sizen e i g e n t l i c h k l a g e n d bei d e r u n v e r w e s l i c h e n M u m i e , u n d w e i n e n ü b e r sein H i n s c h e i d e n u n d s e i n e t r a u r i g e V e r l a s s e n s c h a f t . A u c h w a n d e l t m i c h die L u s t a u c h v o n d i e s e r G e s t a l t u n g d e r R e l i g i o n ein W o r t zu E u c h zu r e d e n n i c h t e t w a d e s h a l b a n , w e i l sie d e r V o r l ä u f e r d e s C h r i s t e n t h u m s w a r : i c h h a s s e in d e r R e l i g i o n d i e s e A r t v o n h i s t o r i s c h e n B e z i e hungen; jegliche hat für sich ihre eigene und ewige N o t h w e n d i g k e i t , und s w 422 j e d e s A n f a n g e n e i n e r R e l i g i o n ist u r s p r ü n g l i c h . S o n d e r n m i c h reizt d e s J u d e n t h u m s s c h ö n e r k i n d l i c h e r C h a r a k t e r , u n d d i e s e r ist s o g ä n z l i c h vers c h ü t t e t , u n d d a s G a n z e ein so m e r k w ü r d i g e s B e i s p i e l v o n d e m V e r d e r b -

3 loszugehen. Vor beiden] Β: loszugehn. Vor Beiden 9 fürchte,] B: fürchte 17 Aber] B: aber 24 reden;] B: reden: 24 das Judenthum] B: der Judaismus 27—30 wandelt ... war] B: rede ich nicht deswegen von ihm, weil er etwa der Vorläufer des Christenthums wäre 31—33 für ... kindlicher] B: eine weit höhere und ewige Nothwendigkeit, und jedes Anfangen in ihr ist ursprünglich; aber er hat einen so schönen kindlichen 9 f entdekken ... auch] C: ent /dekken ... auch-/

22 ob Ihr] C: ob ihr

30

Fünfte

Rede

283

25

niß und dem gänzlichen Verschwinden der Religion aus einer g r o ß e n M a s s e , in der sie sich ehedem befand, d a ß es deshalb w o l l o h n t einige W o r t e darüber zu verlieren. N e h m t einmal alles Politische, und so G o t t will, M o r a l i s c h e hinweg, w o d u r c h diese E r s c h e i n u n g gemeiniglich c h a rakterisirt wird; vergeßt das ganze E x p e r i m e n t den | S t a a t a n z u k n ü p f e n Β 337; C 405 an die Religion, d a ß ich nicht sage an die K i r c h e ; vergeßt d a ß das J u d e n thum gewissermaßen zugleich ein O r d e n war, gegründet a u f eine alte Familiengeschichte, aufrecht erhalten durch die Priester; seht b l o ß a u f das eigentlich Religiöse darin, wozu dies Alles nicht g e h ö r t , und sagt mir, welches ist das überall h i n d u r c h s c h i m m e r n d e B e w u ß t s e i n des 283 M e n s c h e n von seiner Stellung in dem G a n z e n und seinem Verhältniß zu dem Ewigen? Kein anderes als das von einer allgemeinen u n m i t t e l b a r e n Vergeltung, von einer eigenen R e a c t i o n des Unendlichen gegen jedes einzelne Endliche, das aus der W i l l k ü h r hervorgeht, durch ein anderes E n d liches, das nicht als aus der W i l l k ü h r hervorgehend angesehen wird. S o wird Alles b e t r a c h t e t , Entstehen und Vergehen, G l ü k und U n g l ü k , selbst innerhalb der menschlichen Seele wechselt i m m e r nur eine A e u ß e r u n g der Freiheit und W i l l k ü h r und eine u n m i t t e l b a r e E i n w i r k u n g der G o t t heit. Alle andere Eigenschaften G o t t e s , w e l c h e a u c h a n g e s c h a u t w e r d e n , äußern sich n a c h dieser Regel, und werden i m m e r in der Beziehung a u f diese gesehen; belohnend, strafend, züchtigend das Einzelne im Einzelnen, so wird die G o t t h e i t durchaus vorgestellt. Als die J ü n g e r e i n m a l Christum fragten, wer hat gesündiget, diese oder ihre Väter? und er ihnen antwortete: meint | Ihr, d a ß diese mehr gesündigt h a b e n als A n d e r e ? Β 338 w a r jenes der religiöse Geist des J u d e n t h u m s in seiner schneidend-|

30

sten Gestalt, und dieses w a r seine P o l e m i k dagegen. D a h e r der sich über- C406 all durchschlingende Parallelismus, der keine zufällige F o r m ist, und das Ansehn des D i a l o g i s c h e n , welches in Allem w a s religiös ist, a n g e t r o f f e n wird. Die ganze G e s c h i c h t e , so wie sie ein f o r t d a u e r n d e r Wechsel zwi- sw 423 sehen diesem Reiz und dieser G e g e n w i r k u n g ist, wird sie vorgestellt als'

5

10

15

20

3 darüber] B: über ihn 4 diese Erscheinung] Β: er 9 Alles] C: alles 10—12 das überall ... als das] B: die überall hindurchschimmernde Ansicht von dem Universum und dem Sein des Menschen darin? Keine andere, als die 13 jedes] B + C: Jedes 14 u. 15 Willkühr] B + C: Willkür 16 Alles] B + C: alles 16 Glük und Unglük] B: Glükk und Unglükk 18 Willkühr] B + C: Willkür 23 fragten, wer ... Väter?] B: fragten: Wer ... Väter, 23 f wer ... antwortete: meint] C: Wer ... antwortete, Meint 24 meint] B: Meint 2 5 f war jenes ... dieses] B: das war ... das 28 ist,] B: ist 15 nicht] B: nichts 22 f Vgl. Job 9,2

24 Vgl. Lk 13,2

284

284

B 339

C 407

SW 424

B 340

Über die

Religion

ein G e s p r ä c h zwischen G o t t und den M e n s c h e n in W o r t und T h a t , und Alles was darin vereinigt ist, ist es nur durch die Gleichheit in dieser B e h a n d l u n g . D a h e r die Heiligkeit der T r a d i t i o n , in welcher der Z u s a m m e n h a n g dieses großen G e s p r ä c h s enthalten war, und die U n m ö g l i c h k e i t zur Religion zu gelangen, als nur durch die E i n w e i h u n g in diesen Z u s a m m e n h a n g ; d a h e r n o c h in späten Z e i t e n der Streit unter den Sekten o b sie im Besiz dieses fortgehenden Gesprächs w ä r e n . Eben von dieser Ansicht rührt es her, d a ß in der jüdischen Religion die G a b e der Weissagung so v o l l k o m m e n ausgebildet ist als in keiner andern; denn im Weissa|gen sind d o c h auch die Christen gegen sie nur Lehrlinge. Diese ganze Idee n ä m l i c h ist h ö c h s t kindlich, nur auf einen kleinen S c h a u p l a z ohne Verwikkelungen berechnet, w o bei einem e i n f a c h e n G a n z e n die natürlichen Folgen der H a n d l u n g e n nicht gestört oder gehindert werden: je weiter aber die B e k e n n e r dieser Religion vorrükten auf den S c h a u p l a z der Welt, unter die Verbindung mit mehreren V ö l k e r n ; desto schwieriger wurde die Darstellung die|ser Idee, und die Fantasie m u ß t e dem Allmächtigen das W o r t , welches er erst sprechen wollte, v o r w e g n e h m e n , und sich den zweiten T h e i l desselben M o m e n t s aus weiter Ferne gleichsam vor die Augen z a u b e r n , Z e i t und R a u m dazwischen vernichtend. D a s ist das Wesen der Weissagung; und das Streben d a r n a c h m u ß t e nothwendig so lange n o c h i m m e r eine H a u p t e r s c h e i n u n g des J u d e n t h u m s sein, als es möglich w a r jene Grundidee desselben und mit ihr die ursprüngliche F o r m der jüdischen Religion festzuhalten. D e r G l a u b e an den Messias w a r ihr höchstes Erzeugniß; die großartigste Frucht aber auch die lezte Anstrengung dieser Natur. Ein neuer H e r r s c h e r sollte k o m m e n um das Z i o n , w o r i n die S t i m m e des H e r r n v e r s t u m m t war, in seiner Herrlichkeit wieder herzustellen; und durch die U n t e r w e r f u n g der V ö l k e r unter das alte Gesez sollte jener einfache G a n g der patriarchalischen Z e i t wieder allgemein werden in den Begebenheiten der Welt, wie er durch der Völk e r unfriedliche G e m e i n s c h a f t , durch das Gegeneinandergerichtetsein ihrer K r ä f t e und durch die Verschiedenheit ihrer Sitten u n t e r b r o c h e n war. Dieser G l a u b e h a t sich lange erhalten, wie oft eine einzelne Frucht, nachdem alle | L e b e n s k r a f t aus dem S t a m m gewichen ist, bis in die rauheste J a h r e s z e i t an einem welken Stiel hängen bleibt und an ihm vertroknet.

2 Alles] B + C: alles 2 darin] fehlt in Β 10 auch ... Lehrlinge] B: die Christen nur Kinder gegen sie 15 Völkern;] B: Völkern, 18—20 gleichsam ... Weissagung;] B: vors Auge holen, und Zeit und Raum dazwischen vernichten. Das ist eine Weissagung, 21 des Judenthums] fehlt in Β 22—26 Grundidee ... worin] B: Idee und mit ihr die Religion festzuhalten. Der Glaube an den Messias war ihre lezte mit großer Anstrengung erzeugte Frucht: ein neuer Herrscher sollte kommen um das Zion wo 26 f verstummt war, ... herzustellen;] B: verstummet war ... herzustellen, 28 der patriarchalischen Zeit] fehlt in Β 29 f wie er durch der Völker] B: der durch ihre

5

10

15

20

25

30

Fünfte

5

10

15

20

25

30

Rede

285

D e r eingeschränkte G e s i c h t s p u n k t g e w ä h r t e dieser R e l i g i o n , als Religion, eine kurze Dauer. Sie s t a r b ; als | ihre heiligen B ü c h e r geschlossen C 408 wurden, da w u r d e das G e s p r ä c h des J e h o v a m i t seinem Volk als beendigt angesehen. D i e politische Verbindung, welche an sie g e k n ü p f t war, schleppte n o c h länger ein sieches D a s e i n , und ihr Aeußeres h a t sich n o c h weit später erhalten; die unan|genehme Erscheinung einer m e c h a n i - 285 sehen Bewegung, n a c h d e m L e b e n und Geist längst gewichen ist. Herrlicher, erhabener, der erwachsenen M e n s c h h e i t würdiger, tiefer eindringend in den Geist der systematischen R e l i g i o n , weiter sich verbreitend über das ganze Universum ist die ursprüngliche A n s c h a u u n g des Christenthums. Sie ist k e i n e andere, als die des allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des G a n z e n , und der Art wie die G o t t h e i t dies Entgegenstreben b e h a n d e l t , wie sie die Feindschaft gegen sich vermittelt, und der g r ö ß e r werdenden E n t f e r n u n g G r e n z e n sezt durch einzelne Punkte ü b e r das G a n z e ausgestreut, welche zugleich Endliches und Unendliches, zugleich M e n s c h l i c h e s und G ö t t l i c h e s sind. D a s Verderben und die E r l ö s u n g , die Feindschaft und die Vermittlung, Β 341 das sind die beiden unzertrennlich mit einander verbundenen G r u n d b e ziehungen dieser Empfindungsweise, und durch sie wird die Gestalt alles religiösen Stoffs im C h r i s t e n t h u m und dessen ganze F o r m b e s t i m m t . D i e geistige Welt ist abgewichen von ihrer V o l l k o m m e n h e i t und unvergänglichen Schönheit mit i m m e r verstärkten Schritten; a b e r alles U e b e l , | selbst C 409 das, daß das Endliche vergehen m u ß , ehe es den Kreis seines D a s e i n s vollständig durchlaufen hat, ist eine Folge des W i l l e n s , des selbstsüchtigen Strebens der vereinzelten Natur, die sich überall losreißt aus dem sw 425 Z u s a m m e n h a n g e mit dem G a n z e n um e t w a s zu sein für sich; a u c h der T o d ist g e k o m m e n um der Sünde willen. D i e geistige Welt ist v o m Schlechten zum S c h l i m m e r e n fortschreitend, unfähig etwas hervorzubringen worin der göttliche Geist wirklich lebte, verfinstert der Verstand und abgewichen von der W a h r h e i t , verderbt das H e r z und e r m a n g e l n d jedes R u h m e s vor G o t t , verlöscht das E b e n b i l d des Unendlichen in j e d e m T h e i l e der endlichen Natur. D e m g e m ä ß wird a u c h das Walten der göttlichen Vorsehung in allen ihren Aeußerungen dargestellt. N i c h t a u f die

4 angesehen. Die] B: angesehen; die 6 f erhalten; ... Bewegung,] B: erhalten: ... Bewegung 17 Vermittlung,] B: Vermittlung: 18 f Grundbeziehungen dieser Empfindungsweise] B: Seiten dieser Anschauung 20 dessen] B: seine 21 geistige] B: physische 27 geistige] B: moralische 29 göttliche Geist] B: Geist des Universum 32 f Dem gemäß ... Nicht] B: In Beziehung hierauf wird auch die göttliche Vorsehung in allen ihren Äußerungen angeschaut, nicht 26 f Vgl. Rom 5,12

29 Vgl. Eph 4,18

30 f Vgl. Köm

3,23

286

Über die Religion

unmittelbaren Folgen für die E m p f i n d u n g ist sie gerichtet in ihrem T h u n ; Β 342; 286 nicht das Gliik o d e r Leiden im Auge | h a b e n d welches sie h e r v o r b r i n g t ; nicht mehr einzelne Handlungen hindernd oder fördernd: sondern nur b e d a c h t dem Verderben zu steuern in großen M a s s e n ; zu zerstören ohne G n a d e was nicht mehr zurükzuführen ist, und neue Schöpfungen mit neuen Kräften aus sich selbst zu schwängern. So thut sie Z e i c h e n und Wunder, die den L a u f der D i n g e unterbrechen und erschüttern; so schikt sie G e s a n d t e in denen m e h r oder weniger von dem göttlichen Geiste w o h n t , um göttliche K r ä f t e auszugießen unter die M e n s c h e n . Eben so C 410 wird auch | die religiöse Welt vorgestellt. A u c h indem es mit der Einheit des G a n z e n durch sein Selbstbewußtsein in G e m e i n s c h a f t treten will, strebt das E n d l i c h e ihm entgegen, sucht i m m e r ohne zu finden, und verliert was es gefunden hat; i m m e r einseitig, i m m e r s c h w a n k e n d , immer beim Einzelnen und Zufälligen stehen bleibend, und i m m e r noch mehr wollend als anschauen, verliert es das Z i e l aus den Augen. Vergeblich ist jede O f f e n b a r u n g . Alles wird verschlungen von irdischem Sinn, Alles fortgerissen von dem inwohnenden irreligiösen Princip; und i m m e r neue Veranstaltungen trifft die G o t t h e i t , i m m e r herrlichere O f f e n b a r u n g e n gehen durch ihre K r a f t allein aus dem S c h o o ß e der alten hervor, immer e r h a b n e r e M i t t l e r stellt sie a u f zwischen sich und den M e n s c h e n , i m m e r Β 343; sw 426 inniger vereinigt | sie in j e d e m späteren G e s a n d t e n die G o t t h e i t mit der M e n s c h h e i t , d a m i t durch sie und von ihnen die M e n s c h e n lernen mögen das ewige Wesen erkennen; und nie wird dennoch g e h o b e n die alte Klage, d a ß der M e n s c h nicht vernimmt, was v o m Geiste G o t t e s ist. Dieses die Art wie das Christenthum am meisten und liebsten G o t t e s und der göttlichen Weltordnung in der Religion und ihrer G e s c h i c h t e inne wird; und d a ß es so die Religion selbst als S t o f f für die Religion verarbeitet, und so gleichsam eine h ö h e r e Potenz derselben ist, das m a c h t das Unterscheidendste seines C h a r a k t e r s , das bestimmt seine ganze Form.

1 ist sie] fehlt in Β 2 Gliik] B: Glükk 3 fördernd:] Β: fördernd, 6 schwängern. So] B: schwängern: so 8 dem göttlichen] B: ihrem eignen 10f der Einheit ... will,] B: dem Universum in Gemeinschaft treten will 15 aus den Augen] B: seiner Blikke 16f Alles fortgerissen] B + C: alles fortgerissen 18 trifft] B + C: trift 18f gehen] B: gehn 2 4 f vernimmt, ... Dieses] B: vernimmt ... Dieses, 25—27 am ... es so] B: in seiner eigentlichsten Grundanschauung am meisten und liebsten das Universum in der Religion und ihrer Geschichte anschaut; wie es 29 Unterscheidendste] B + C: unterscheidendste 13 hat;] D: hat, 6—9 Anspielung auf das Pfingstwunder

(Apg 2)

24 Vgl. 1 Kor 2,14

Fünfte

5

10

15

20

25

30

Rede

287

E b e n weil es ein ungöttliches Wesen als | überall verbreitet voraussezt, C 4 i i weil dies ein wesentliches E l e m e n t des G e f ü h l s a u s m a c h t , a u f welches alles Uebrige bezogen wird, ist es durch und | durch p o l e m i s c h . — Pole- 287 misch in seiner Mittheilung n a c h außen; denn u m sein innerstes Wesen klar zu m a c h e n , m u ß jedes Verderben, es liege in den Sitten o d e r in der D e n k u n g s a r t , vor allen D i n g e n a b e r die Feindschaft gegen das B e w u ß t sein des h ö c h s t e n Wesens, das irreligiöse Princip selbst, überall aufgedekt werden. O h n e S c h o n u n g entlarvt es d a h e r jede falsche M o r a l , jede schlechte R e l i g i o n , jede unglükliche Vermischung von beiden, w o d u r c h ihre beiderseitige B l ö ß e b e d e k t werden soll; in die innersten G e h e i m n i s s e des verderbten Herzens | dringt es ein, und erleuchtet mit der heiligen ß 344 Fakkel eigner E r f a h r u n g jedes Uebel das im Finstern schleicht. S o zerstörte es, und dies w a r fast seine erste Bewegung, als es erschien, die lezte E r w a r t u n g seiner f r o m m e n Z e i t g e n o s s e n , und n a n n t e es irreligiös und gottlos eine andere Wiederherstellung zu w ü n s c h e n oder zu e r w a r ten, als die zum reineren G l a u b e n , zur h ö h e r e n A n s i c h t der D i n g e , und zum ewigen L e b e n in G o t t . K ü h n führt es die Heiden h i n w e g über die Trennung, die sie g e m a c h t hatten zwischen dem L e b e n und der Welt der G ö t t e r und der M e n s c h e n . W e r nicht in d e m Ewigen lebt, w e b t und ist, dem ist er völlig u n b e k a n n t ; wer dies natürliche G e f ü h l , w e r dies innere Bewußtsein verloren hat unter der M e n g e sinnlicher Ein|drükke und B e - c 412 gierden, in dessen b e s c h r ä n k t e n Sinn ist n o c h keine R e l i g i o n g e k o m m e n , sw 427 S o rissen seine H e r o l d e überall a u f die ü b e r t ü n c h t e n G r ä b e r , und b r a c h ten die T o d t e n g e b e i n e ans L i c h t ; und w ä r e n sie P h i l o s o p h e n gewesen, diese ersten Helden des C h r i s t e n t h u m s , sie hätten eben so polemisirt gegen das Verderben der Philosophie. Nirgends gewiß v e r k a n n t e n sie die Grundzüge des göttlichen Ebenbildes; hinter allen Entstellungen und Entartungen sahen sie gewiß den h i m m l i s c h e n Keim der Religion v e r b o r gen: aber als Christen w a r ihnen die H a u p t s a c h e die E n t f e r n u n g der Einzel|nen von der G o t t h e i t , die eines M i t t l e r s bedarf, und so oft sie Β 345 Christenthum sprachen gingen sie nur d a r a u f . — Polemisch ist aber a u c h das C h r i s t e n t h u m , und das eben so s c h a r f und schneidend, i n n e r h a l b

1 ungöttliches Wesen] B: irreligiöses Princip 3 alles Uebrige] B + C: Alles übrige 4 außen;] B: außen, 5 muß] B: muß es 6 f die Feindschaft ... Wesens,] fehlt in Β 7 f selbst, ... werden] B: selbst überall aufdekken 10 Geheimnisse] B: Geheimniße 13 f es, ... frommen] Β: es — und dies war fast seine erste Bewegung — die lezte Erwartung seiner nächsten Brüder und 16 zum reineren Glauben] B: zur besseren Religion 23 seine Herolde] B: sie 23f Gräber, ... Licht;] B: Gräber ... Licht, 25 diese] B: die 27 Ebenbildes; hinter] B: Ebenbildes, in 28 f Religion verborgen:] B: Religion; 12 Vgl. Ps 91,6

19 f Vgl. Apg 17,28

23 f Vgl. Mt 23,27

288

Über die Religion

288 seiner eignen G r e n z e n , und in seiner i n n e r s t e n G e m e i n s c h a f t der Heiligen. Nirgends ist die Religion so v o l l k o m m e n idealisirt, als im Christent h u m und durch die ursprüngliche Voraussezung desselben; und eben d a m i t zugleich ist i m m e r w ä h r e n d e s Streiten gegen alles W i r k l i c h e in der Religion als eine A u f g a b e hingestellt, der nie völlig Genüge geleistet werden k a n n . E b e n weil überall das Ungöttliche ist und w i r k t , und weil alles W i r k l i c h e zugleich als unheilig erscheint, ist eine unendliche Heiligkeit das Z i e l des Christenthums. Nie zufrieden mit dem Erlangten sucht es auch in seinen reinsten Erzeugnissen, auch in seinen heiligsten G e f ü h C413 len n o c h die Spuren des I r r e l i g i ö s e n , und der der Einheit des G a n z e n entgegengesezten und von ihm a b g e w a n d t e n Tendenz alles Endlichen. I m T o n der h ö c h s t e n Inspiration kritisirt einer der ältesten Schriftsteller den religiösen Z u s t a n d der G e m e i n e n ; in einfältiger O f f e n h e i t reden die h o h e n Apostel von sich selbst; und so soll J e d e r in den heiligen Kreis Β 346 treten, nicht nur begeistert und lehrend, sondern auch | in D e m u t h das Seinige der allgemeinen Prüfung darbringend; und nichts soll geschont werden, auch das Liebste und T h e u e r s t e nicht; nichts soll je träge bei Seite gelegt w e r d e n , auch das nicht was a m allgemeinsten a n e r k a n n t ist. sw 428 D a s s e l b e , was e x o t e r i s c h heilig gepriesen und als das Wesen der Religion

5

10

15

aufgestellt ist vor der Welt, ist i m m e r n o c h esoterisch einem strengen 20 und wiederholten G e r i c h t u n t e r w o r f e n , d a m i t i m m e r m e h r Unreines abgeschieden werde, und der G l a n z der himmlischen Farben i m m e r unget r ü b t e r erscheine in jeder f r o m m e n R e g u n g des G e m ü t h e s . W i e Ihr in der N a t u r oft seht, daß eine zusammengesezte M a s s e , wenn sie ihre chemischen K r ä f t e gegen etwas außer ihr gerichtet gehabt h a t , sobald dies 25 ü b e r w u n d e n , oder das Gleichgewicht hergestellt ist, in sich selbst in G ä h r u n g g e r ä t h , und dies und jenes aus sich abscheidet: so ist es mit einzelnen E l e m e n t e n und mit ganzen M a s s e n des Christenthums; es wendet zulezt seine polemische K r a f t gegen sich selbst; i m m e r besorgt durch den K a m p f mit der äußern Irreligion e t w a s Fremdes eingesogen, oder | 30 C 414; 289 g a r ein Princip des | Verderbens n o c h in sich zu h a b e n , scheut es auch die heftigsten innerlichen Bewegungen nicht um dies auszustoßen. Dies ist die in seinem Wesen gegründete G e s c h i c h t e des Christenthums. Ich Β 347 bin I nicht g e k o m m e n Friede zu bringen sondern das Schwerdt, sagt der

4 alles] ß + C: Alles 6 Ungöttliche] B: irreligiöse Princip C: ungöttliche 9 Erzeugnissen] B: Anschauungen 10 der Einheit des Ganzen] B: dem Universum 14 Jeder] C: jeder 16 f geschont werden,] B + C: geschont werden 21 Unreines] B + C: unreines 23 in ... Gemüthes] B: an allen Anschauungen des Unendlichen 24 oft] fehlt in Β 30 Fremdes] B + C: fremdes 32 auszustoßen] B: auszustossen 12 f Anspielung auf Paulus und seine Gemeindebriefe

33 f Mt 10,34

Fünfte

5

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Rede

289

Stifter desselben; und seine sanfte Seele k a n n u n m ö g l i c h g e m e i n t h a b e n , d a ß er g e k o m m e n sei jene blutigen Bewegungen zu veranlassen, die d e m Geist der Religion so völlig zuwider sind, oder jene elenden W o r t s t r e i t e die sich a u f den todten S t o f f beziehn, den die lebendige Religion nicht a u f n i m m t ; nur diese heiligen Kriege, die aus d e m Wesen seiner L e h r e nothwendig entstehen, und die oft eben so herbe, wie er es b e s c h r i e b e n , die Herzen von einander reißen, und die innigsten L e b e n s v e r h ä l t n i s s e fast auflösen; nur diese hat er vorausgesehn, und indem er sie v o r a u s s a h , befohlen. — A b e r nicht nur die B e s c h a f f e n h e i t der einzelnen E l e m e n t e des Christenthums ist dieser beständigen Sichtung u n t e r w o r f e n ; a u c h a u f ihr ununterbrochenes D a s e i n und Leben im G e m ü t h geht das unersättlic h e Verlangen n a c h i m m e r strengerer L ä u t e r u n g , n a c h i m m e r reicherer Fülle. In j e d e m M o m e n t , w o das religiöse Princip nicht w a h r g e n o m m e n werden k a n n im G e m ü t h , wird das Irreligiöse als herrschend gedacht: denn ein anderes Entgegengesezte giebt es nicht, als nur in sofern das, SW 429 was ist, a u f g e h o b e n und a u f Nichts g e b r a c h t ist in seiner E r s c h e i n u n g . J e d e U n t e r b r e c h u n g der Religion ist Irreligion; das G e m ü t h k a n n sich C415 nicht einen Augenblik e n t b l ö ß t fühlen von W a h r n e h m u n g und G e f ü h l des Unendlichen, o h n e sich zugleich der Feindschaft und E n t f e r n u n g von ihm bewußt zu werden. S o h a t das C h r i s t e n t h u m zuerst und | wesentlich Β 348 die Forderung g e m a c h t , d a ß die F r ö m m i g k e i t ein beharrlicher Z u s t a n d sein soll im M e n s c h e n , und verschmäht a u c h mit den stärksten A e u ß e rungen derselben zufrieden zu sein, sobald sie nur gewissen T h e i l e n des Lebens a n g e h ö r e n , und nur diese beherrschen soll. Nie soll sie r u h e n , und nichts soll ihr so schlechthin entgegengesezt sein, d a ß es nicht mit ihr bestehen k ö n n e ; von allem Endlichen sollen wir aufs U n e n d l i c h e sehen, allen E m p f i n d u n g e n des Ge|müthes, w o h e r sie a u c h entstanden 290 seien, allen H a n d l u n g e n , auf welche G e g e n s t ä n d e sie sich auch beziehen m ö g e n , sollen wir im Stande sein religiöse G e f ü h l e und A n s i c h t e n beizugesellen. D a s ist das eigentliche höchste Z i e l der V i r t u o s i t ä t im C h r i stenthum. Wie nun die ursprüngliche Ansicht desselben, a u f welche alle andere Verhältnisse bezogen werden, auch im Einzelnen den C h a r a k t e r seiner Gefühle b e s t i m m t , das werdet Ihr leicht finden. O d e r wie n e n n t Ihr das

6—8 und die oft ... diese] fehlt in Β 11 — 13 das unersättliche ... Fülle] B: die Unersättlichkeit nach Religion 15 f das, was ist, aufgehoben] B: das was ist aufgehoben, 18 Augenblik] B: Augenblick 19 Unendlichen] B : Universum 19 Entfernung] B : der Entfernung 21 Frömmigkeit ... Zustand] B : Religiosität ein Continuum 2 4 nur diese] B : sie

7f Vgl. z.B. Lk

9,59-62

290

Über die Religion

G e f ü h l einer unbefriedigten Sehnsucht, die a u f einen g r o ß e n G e g e n s t a n d gerichtet ist, und deren Unendlichkeit Ihr E u c h b e w u ß t seid? Was ergreift E u c h , w o Ihr das Heilige mit dem P r o f a n e n , das E r h a b e n e mit dem C416 Geringen und Nichtigen aufs innigste ge|mischt findet? und wie nennt Β 349 Ihr die S t i m m u n g , die E u c h bisweilen nöthiget, diese Mi|schung überall vorauszusezen und überall n a c h ihr zu forschen? Nicht bisweilen ergreift sie den C h r i s t e n , sondern sie ist der herrschende T o n aller seiner religiösen G e f ü h l e , diese heilige W e h m u t h : denn das ist der einzige N a m e , den die S p r a c h e mir darbietet; jede Freude und jeden Schmerz, jede Liebe und jede Furcht begleitet sie; ja in seinem Stolz wie in seiner D e m u t h ist sw 430 sie der G r u n d t o n a u f den sich Alles bezieht. Wenn Ihr E u c h d a r a u f versteht aus einzelnen Zügen das Innere eines G e m ü t h s nachzubilden, und E u c h durch das Fremdartige nicht stören zu lassen, das ihnen, G o t t weiß woher, beigemischt ist: so werdet Ihr in dem Stifter des Christenthums durchaus diese E m p f i n d u n g herrschend finden. Wenn E u c h ein Schriftsteller, der nur wenige B l ä t t e r in einer einfachen S p r a c h e hinterlassen hat, nicht zu gering ist, um E u r e A u f m e r k s a m k e i t auf ihn zu wenden: so wird E u c h aus j e d e m Worte, was uns von seinem Busenfreund übrig ist, dieser T o n a n s p r e c h e n 1 4 . U n d wenn je ein Christ Euch in das Heiligste seines G e m ü t h e s hineinhorchen ließ: gewiß h a b t Ihr eben diesen T o n darin v e r n o m m e n .

5

10

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20

So ist das Christenthum. Auch seine Entstellungen und sein mannig291 faltiges Verderben will ich nicht beschönigen, da | die Verderblichkeit alles Β 350 Heiligen sobald es menschlich wird ein T h e i l sei|ner ursprünglichen C 417 W e l t a n s c h a u u n g ist. Auch will | ich Euch nicht weiter in das Einzelne 25 desselben hineinführen; seine Verhandlungen liegen vor E u c h und den Faden glaube ich E u c h gegeben zu h a b e n , der E u c h durch alle Anomalien hindurchführen, und unbesorgt um den Ausgang E u c h die genaueste Uebersicht möglich machen wird. H a l t e t ihn nur fest, und seht v o m ersten Anbeginn an a u f Nichts, als a u f die Klarheit, die Mannigfaltigkeit und 30 den R e i c h t h u m , w o m i t jene erste Grundidee sich entwikkelt hat. Wenn ich das heilige Bild dessen betrachte in den verstümmelten Schilderungen seines Lebens, der der e r h a b e n e Urheber des Herrlichsten ist, was es bis

1 Sehnsucht,] B: Sehnsucht 6 vorauszusezen] B: vorauszusezen, 18 Worte, ... ist,] ß: Worte ... ist 2 0 f hineinhorchen ... vernommen] B: hineinblikken ließ: gewiß er ist dieses gewesen 26 vor Euch] B: vor Euch, 31 Reichthum,] B: Reichthum 8 Wehmuth:] C: Wehmuth

8 den] B: denn

15 f Anspielung auf den Evangelisten

Johannes

20 Ihr] C: ihr

Fünfte

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20

25

Rede

291

jezt giebt in der Religion: so b e w u n d e r e ich nicht die Reinigkeit seiner Sittenlehre, die d o c h nur ausgesprochen hat, was alle M e n s c h e n , die zum Bewußtsein ihrer geistigen N a t u r g e k o m m e n sind, mit i h m gemein haben, und dem weder das Aussprechen n o c h das Z u e r s t einen g r ö ß e r n Werth geben k a n n ; ich b e w u n d e r e nicht die E i g e n t h ü m l i c h k e i t seines C h a r a k t e r s , die innige Vermählung hoher Kraft mit rührender S a n f t muth, da jedes e r h a b e n einfache G e m ü t h in einer b e s o n d e r n S i t u a t i o n einen großen C h a r a k t e r in b e s t i m m t e n Z ü g e n darstellen m u ß , das Alles sind nur menschliche Dinge; aber das w a h r h a f t G ö t t l i c h e ist die | herrliche Klarheit, zu welcher die g r o ß e Idee, welche darzustellen er g e k o m men war, sich in seiner Seele ausbildete: die Idee d a ß Alles E n d l i c h e einer höheren Vermittelung b e d a r f , um mit der G o t t h e i t zusammen|zuhängen, und d a ß für den von dem Endlichen und B e s o n d e r e n ergriffenen M e n s c h e n , dem sich nur gar zu leicht das G ö t t l i c h e selbst in dieser F o r m darstellt, nur Heil zu finden ist in der Erlösung. Vergebliche Verwegenheit ist es den Schleier h i n w e g n e h m e n zu wollen, der die E n t s t e h u n g dieser Idee in ihm verhüllt und verhüllen soll, weil aller A n f a n g a u c h in der Religion geheimnißvoll ist. D e r vorwizige Frevel, der es gewagt h a t , k o n n t e nur das G ö t t l i c h e entstellen, als w ä r e E r ausgegangen von der alten Idee seines Volkes, de|ren Vernichtung er nur aussprechen w o l l t e , und in der T h a t in einer zu glorreichen F o r m ausgesprochen h a t , indem er behauptete der zu sein, dessen sie w a r t e t e n . L a ß t uns das lebendige Mitgefühl für die geistige Welt, das seine ganze Seele erfüllte, n u r so betrachten, wie wir es in ihm finden zur V o l l k o m m e n h e i t ausgebildet. Wenn alles Endliche der Vermittlung eines H ö h e r e n b e d a r f , u m sich nicht immer weiter von dem Ewigen zu entfernen und ins L e e r e und Nichtige hinausgestreut zu werden, um seine Verbindung mit d e m G a n zen zu unterhalten und zum | Bewußtsein derselben zu k o m m e n : so k a n n ja das Vermittelnde, das d o c h selbst nicht wiederum der Vermittlung

8 muß,] B: muß: 12 einer höheren Vermittelung] B: höherer Vermittlungen 16 f die Entstehung dieser Idee] B: ihre Entstehung 17 auch] fehlt in Β 2 2 f das lebendige ... Welt, das] B : die lebendige Anschauung des Universum, die 2 4 es] B: sie 2 7 werden,] B: werden; 27 f Ganzen] B : Universum 18—20 Anspielung vermutlich auf die von Gotthold Ephraim Lessing herausgegebene anonyme Schrift „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbütteischen Ungenannten" (Braunschweig 1778), einer Teilpublikation des Manuskripts „Apologie oder Schutzschrift der vernünftigen Verehrer Gottes" von Hermann Samuel Reimarus (1694—1768). Vgl. besonders: „Demnach hat Jesus wohl wissen können, daß er die Juden durch solche rohe Verkündigung des nahen Himmelreichs, nur zur Hoffnung eines weltlichen Messias erwecken würde; und folglich hat er auch die Absicht gehabt sie dazu zu erwecken." (II § 2, S. 131) 2 2 Vgl. Mt 11,2-6

sw 431 Β 351

C418

292

Β 352

292

C419

SW 432

B 353

293

C 420

Über die Religion

b e n ö t h i g t sein darf, unmöglich b l o ß endlich sein; es m u ß beiden angehören, es m u ß des göttlichen Wesens theilhaftig sein, eben so und in eben dem Sinne, in welchem es der endlichen N a t u r theilhaftig ist. Was sah er aber um sich als Endliches und der Ver|mittlung Bedürftiges, und w o w a r etwas Vermittelndes als Er? N i e m a n d kennt den Vater als der S o h n , und w e m E r es offenbaren will. Dieses Bewußtsein von der Einzigkeit seines Wissens um G o t t und Seins in G o t t , von der Ursprünglichkeit der Art, wie es in ihm war, und von der Kraft derselben sich mitzutheilen und Religion aufzuregen, w a r zugleich das Bewußtsein seines M i t t l e r a m tes und seiner G o t t h e i t . Als er, ich will nicht sagen der rohen G e w a l t seiner Feinde, ohne H o f f n u n g länger leben zu k ö n n e n , gegenüber gestellt w a r d , das ist unaussprechlich gering; a b e r als Er verlassen, im Begriff auf i m m e r zu verstummen, o h n e irgend eine äußere Anstalt zur G e m e i n schaft unter den Seinigen wirklich errichtet zu sehn, gegenüber der feierlichen P r a c h t der alten verderbten Verfassung, die ihm stark und mächtig entgegentrat, umgeben von Allem was E h r f u r c h t einflößen und Unterwerfung heischen k a n n , von Allem was E r selbst zu ehren | von Kindheit an w a r gelehrt w o r d e n , selbst allein von nichts als diesem Gefühl unterstüzt, d e n n o c h o h n e zu warten jenes J a aussprach, das g r ö ß t e Wort was je ein Sterblicher gesagt hat: so w a r dies die herr|lichste A p o t h e o s e , und keine G o t t h e i t k a n n gewisser sein als die, welche so sich selbst verkündig e t 1 5 . — M i t diesem G l a u b e n an sich selbst, wer m a g sich wundern, d a ß er gewiß w a r nicht nur M i t t l e r zu sein für Viele, sondern auch eine g r o ß e Schule zu hinterlassen, die ihre gleiche Re|ligion von der seinigen ableiten würde! so gewiß, d a ß er S y m b o l e stiftete für sie, ehe sie noch existirte, welches er that in der Ueberzeugung, d a ß schon dieses hinreichen würde seine J ü n g e r s c h a f t zu einem festen Dasein zu bringen; und so gewiß d a ß er schon früher von der Verewigung seiner persönlichen D e n k w ü r d i g k e i t e n unter den Seinigen mit einem prophetischen Enthusiasmus redete. A b e r nie hat er behauptet, der einzige M i t t l e r zu sein, der

1 beiden] B: Beiden 2 des göttlichen Wesens] B: der göttlichen Natur 3 Natur] fehlt in Β 8 Art,] B + C: Art 11 Hoffnung] B + C: Hofnung 12 ward,] B: ward: 12 Begriff] B + C: Begrif 13 äußere] fehlt in Β 15f ihm ... entgegentrat] B: stark und mächtig erschien 16 Allem] B + C: allem 25 würde!] B: würde; 26 welches er that] fehlt in Β 26—28 schon ... schon] B: dies hinreichen würde sie zu einem festen Dasein zu bringen, und daß er noch 29 den Seinigen] B: ihr 30f behauptet, ... verwirklicht] B: behauptet das einzige Objekt der Anwendung seiner Idee, der einzige Mittler zu sein 3 endlichen] B: endlichen /chen 5f Mt 11,27

19 Vgl. Lk 22,70

17 selbst] C: seist

5

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15

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25

30

Fünfte

Rede

293

Einzige, in welchem seine Idee sich verwirklicht; sondern Alle, die ihm anhingen und seine Kirche bildeten, sollten es mit ihm und durch ihn sein. Und nie hat er seine Schule verwechselt mit seiner Religion, als sollte man um seiner Person willen seine Idee annehmen, sondern nur 5 um dieser willen auch jene; ja er mochte es dulden, daß man seine M i t t lerwürde dahingestellt sein ließ, wenn nur der Geist, das Princip woraus sich seine | Religion in ihm und Andern entwikkelte, nicht gelästert SW 433; Β 354 ward; und auch von seinen Jüngern war diese Verwechselung fern. Schüler des Täufers der doch in das Wesen des Christenthums nur sehr un10 vollkommen eingeweiht war, wurden von den Aposteln ohne weiteres als Christen angesehen und behandelt, und sie nahmen sie unter die wirklichen Mitglieder der Gemeinde auf. Und noch jezt sollte es so sein; wer von demselben Hauptpunkte mit seiner Religion ausgeht, ist ein Christ ohne Rüksicht auf die Schule, er mag seine Religion historisch 15 aus sich selbst, oder von | irgend einem Andern ableiten; denn das wird C 421 sich von selbst ergeben, daß wenn ihm dann Christus mit seiner ganzen Wirksamkeit gezeigt wird, er ihn auch anerkennen muß als den, der aller Vermittlung Mittelpunkt geschichtlich geworden ist; der wahrhaft Erlösung und Versöhnung gestiftet h a t 1 6 . — Nie hat auch Christus die 20 religiösen Ansichten und Gefühle, die er selbst | mittheilen konnte, für 294 den ganzen Umfang der Religion ausgegeben, welche von seinem Grundgefühl ausgehen sollte; er hat immer auf die lebendige Wahrheit gewiesen, die nach ihm k o m m e n würde wenn gleich nur von dem seinigen nehmend. So auch seine Schüler. Nie haben sie dem heiligen Geiste Gren25 zen gesezt, seine unbeschränkte Freiheit und die durchgängige Einheit

30

seiner Offenbarungen ist überall von ihnen anerkannt wor|den; und Β 355 wenn späterhin, als die erste Zeit seiner Blüthe vorüber war, und er auszuruhen schien von seinen Werken, diese Werke, soviel davon in den heiligen Schriften enthalten war, für einen geschlossenen Codex der Religion unbefugterweise erklärt wurden, geschah das nur von denen, welche den Schlummer des Geistes für seinen Tod hielten, für welche die Religion selbst gestorben war; aber Alle, die ihr Leben noch in sich

l f Alle, ... bildeten,] B: Alle ... bildeten 9 des Täufers] Β: Johannes, 1 0 f wurden ... und sie] B: sahen sie ohne weiteres als Christen an, und 12 Gemeinde] Β + C.Gemeine 12 sein;] B: sein: 13 Hauptpunkte] B + C: Hauptpunkt 13 ausgeht,] B: ausgeht 1 8 f wahrhaft ... Versöhnung] B: Erlösung und Versöhnung wahrhaft 22 ausgehen] Β: ausgehn 2 3 f wenn ... nehmend] fehlt in Β 23 wenn gleich] C: wenngleich 24 Schüler. Nie haben sie] B: Schüler; sie haben nie 32 aber Alle,] B: und Alle 8 - 1 2 Vgl. Apg 19,1-7

2 2 - 2 4 Vgl. ζ. B. Joh

16,13

294

Über die Religion

fühlten oder es in Andern w a h r n a h m e n , haben sich i m m e r gegen dieses unchristliche Beginnen erklärt. Die heiligen Schriften sind Bibel geworden aus eigner K r a f t : aber sie verbieten keinem andern B u c h e auch Bi-| C 422; SW 434 bei zu sein oder zu werden; und was mit gleicher Kraft geschrieben w ä r e , würden sie sich gern beigesellen lassen; vielmehr soll sich Alles, was als 5 Ausspruch der g e s a m m t e n K i r c h e und also des göttlichen Geistes auch später erscheint, getrost an sie anschließen, wenn auch ihnen als den Erstlingen des Geistes eine besondere Heiligkeit und Würde unaustilgbar b e i w o h n t 1 7 . — D i e s e r unbeschränkten Freiheit, dieser wesentlichen Unendlichkeit zu Folge hat sich denn die H a u p t i d e e des Christenthums von 10 göttlichen vermittelnden Kräften a u f mancherlei Art ausgebildet, und alle A n s c h a u u n g e n und G e f ü h l e von E i n w o h n u n g e n des göttlichen WeB 356 sens in der endlichen N a t u r sind i n n e r h a l b desselben zur V o l l k o m m e n heit g e b r a c h t w o r d e n . So ist sehr bald die heilige Schrift, in der auch göttliches Wesen und himmlische Kraft auf eine eigne Art w o h n t e , für 15 einen logischen M i t t l e r gehalten worden um für die E r k e n n t n i ß der G o t t heit aufzuschließen die endliche und verderbte N a t u r des Verstandes, und der heilige G e i s t , in einer späteren Bedeutung des W o r t e s , für einen | 295 ethischen Mittler, u m sich der G o t t h e i t handelnd anzunähern; ja eine zahlreiche Parthei der Christen erklärt n o c h jezt bereitwillig Jeden für 20 ein vermittelndes und göttliches Wesen, der erweisen k a n n durch ein göttliches L e b e n o d e r irgend einen andern Eindruk der Göttlichkeit auch nur für einen kleinen Kreis die erste Erregung des höheren Sinnes geweC423 sen zu sein. Andern ist | Christus Eins und Alles geblieben, und Andere haben sich selbst oder dies und jenes für sich zu M i t t l e r n erklärt. W i e oft in dem Allen in der Form und M a t e r i e m a g gefehlt sein; das Princip ist ächt christlich so lange es frei ist. S o haben andere Verhältnisse des M e n s c h e n sich in ihrer Beziehung auf den M i t t e l p u n k t des Christenthums durch andere Gefühle ausgedrükt und durch andere Bilder dargestellt, von denen in Christi Reden und sonst in den heiligen B ü c h e r n nichts e r w ä h n t ist, und mehrere werden sich in der Folge darstellen, weil Β 357 ja n o c h bei w e i t e m nicht das ganze | Sein des M e n s c h e n gestaltet ist in

1 es] fehlt in Β 3 eigner] B: eigener 4 werden;] B + C: werden, 12f des ... Natur] B: der göttlichen Natur in der endlichen 14f Schrift, ... Kraft] B: Schrift in der auch die göttliche Natur 16f worden ... aufzuschließen] B: worden, um die Erkenntniß der Gottheit zu vermitteln für 19 Mittler] fehlt in Β 19 der Gottheit ... ja] B: ihr ... und 22 Eindruk] B: Eindrukk 28—30 sich ... dargestellt] B: im Universum durch andere Gefühle sich dargestellt in ihrer Beziehung auf den Mittelpunkt des Christenthums 19—24 Anspielung auf die Heiligenverehrung

im römischen

Katholizismus

25

30

Fünfte

Rede

295

die e i g e n t h ü m l i c h e F o r m des C h r i s t e n t h u m s , s o n d e r n d i e s e s n o c h

eine

lange G e s c h i c h t e h a b e n wird, troz Allem w a s m a n sagt von seinem baldi-

s w 435

gen oder s c h o n erfolgten Untergange. Wie 5

sollte

es

auch

untergehn?

Der

lebendige

Geist

desselben

s c h l u m m e r t z w a r o f t u n d l a n g e , u n d z i e h t s i c h in e i n e m Z u s t a n d e d e r E r s t a r r u n g in d i e t o d t e H ü l l e des B u c h s t a b e n z u r ü k , a b e r e r e r w a c h t i m m e r w i e d e r , s o o f t d i e W i t t e r u n g in d e r g e i s t i g e n W e l t s e i n e r A u f l e b u n g g ü n s t i g ist, u n d s e i n e S ä f t e in B e w e g u n g sezt; u n d s o w i r d es n o c h oft wiederkehrend sich anders und anders erneuern. D i e G r u n d i d e e jeder

10

p o s i t i v e n R e l i g i o n a n sich ist e w i g u n d a l l g e m e i n , w e i l sie ein e r g ä n z e n der T h e i l d e s u n e n d l i c h e n G a n z e n ist, in d e m A l l e s e w i g sein m u ß ; a b e r i h r e g a n z e B i l d u n g u n d ihr z e i t l i c h e s D a s e i n ist n i c h t in d e m s e l b e n S i n n e

C424

a l l g e m e i n , n o c h e w i g ; d e n n in j e n e I d e e g r a d e d e n M i t t e l p u n k t d e r R e l i g i o n zu l e g e n , d a z u g e h ö r t n i c h t n u r e i n e b e s t i m m t e R i c h t u n g d e s G e 15

m ü t h s , s o n d e r n a u c h e i n e b e s t i m m t e L a g e d e r M e n s c h h e i t . Ist d i e s e in d e m freien Spiel des allgemeinen L e b e n s u n t e r g e g a n g e n , und hat

sich

dieses so w e i t e r g e s t a l t e t , d a ß sie n i c h t | m e h r w i e d e r k e h r e n k a n n ; s o

296

v e r m a g a u c h j e n e s V e r h ä l t n i ß s e i n e W ü r d e , v e r m ö g e d e r e n es a l l e a n d e ren v o n s i c h a b h ä n g i g m a c h t , i m | G e f ü h l n i c h t l ä n g e r zu b e h a u p t e n ; 20

u n d diese G e s t a l t d e r R e l i g i o n k a n n d a n n n i c h t m e h r f o r t d a u e r n .

Β 358

Mit

allen k i n d i s c h e n R e l i g i o n e n a u s j e n e r Z e i t , w o es d e r M e n s c h h e i t

am

B e w u ß t s e i n i h r e r w e s e n t l i c h e n K r ä f t e f e h l t e , ist d i e s l ä n g s t s c h o n

der

Fall; es t h u t N o t h sie zu s a m m e l n als D e n k m ä l e r d e r V o r w e l t u n d n i e d e r z u l e g e n i m M a g a z i n d e r G e s c h i c h t e ; i h r L e b e n ist v o r ü b e r u n d 25

nimmer zurük. Das Christenthum

ü b e r sie A l l e e r h a b e n ,

kehrt

historischer

u n d d e m ü t h i g e r in s e i n e r H e r r l i c h k e i t , h a t d i e s e V e r g ä n g l i c h k e i t s e i n e s zeitlichen D a s e i n s ausdrüklich a n e r k a n n t . E s wird eine Z e i t s p r i c h t e s , w o v o n k e i n e m M i t t l e r m e h r d i e R e d e sein w i r d ,

kommen, sondern

der V a t e r A l l e s in A l l e m s e i n . A b e r w a n n s o l l d i e s e Z e i t k o m m e n ? I c h 30

w e n i g s t e n s k a n n n u r g l a u b e n , s i e liegt a u ß e r a l l e r Z e i t . D i e V e r d e r b l i c h k e i t alles G r o ß e n u n d G ö t t l i c h e n in d e n m e n s c h l i c h e n D i n g e n ist die e i n e H ä l f t e von der ursprünglichen A n s c h a u u n g des C h r i s t e n t h u m s ;

w i r k l i c h e i n e Z e i t k o m m e n , | w o d i e s e — ich w i l l n i c h t s a g e n g a r n i c h t m e h r w a h r g e n o m m e n w ü r d e , sondern nur — sich nicht m e h r aufdränge?

2 Allem] C: allem 5 zwar] fehlt in Β 6 zurük] B: zurükk 8 f es ... erneuern] B: sie wechselnd immer wiederkehren 17 gestaltet,] B: gestaltet 20 diese ... fortdauern] B: die Religion kann in dieser Gestalt nicht mehr existiren 25 zurük] B: zurükk 25 Alle] Β + C: alle 26 Herrlichkeit,] B: Herrlichkeit 29 Allem sein] B: Allem 30 kann nur glauben] B: fürchte 33 kommen,] B: kommen 2 7 - 2 9 Vgl. 1 Kor 15,28

s w 436

sollte C42S

Über die

296

Religion

w o d i e M e n s c h h e i t s o g l e i c h f ö r m i g u n d r u h i g f o r t s c h r i t t e , d a ß k a u m zu m e r k e n w ä r e , w i e sie b i s w e i l e n d u r c h e i n e n v o r ü b e r g e h e n d e n w i d r i g e n W i n d e t w a s z u r ü k g e t r i e b e n w i r d a u f d e m g r o ß e n O z e a n d e n sie d u r c h B 359 f ä h r t , I d a ß n u r d e r K ü n s t l e r , d e r i h r e n L a u f an d e n G e s t i r n e n b e r e c h n e t , es w i s s e n k ö n n e , d i e ü b r i g e n a b e r , w e l c h e u n b e w a f f n e t e n A u g e s n u r a u f

5

die E r e i g n i s s e s e l b s t s e h e n , d e n R ü k g a n g d e r m e n s c h l i c h e n D i n g e n i c h t m e h r u n m i t t e l b a r b e m e r k e n w ü r d e n ? I c h w o l l t e es, u n d g e r n s t ä n d e ich u n t e r d i e s e r B e d i n g u n g a u f d e n R u i n e n d e r R e l i g i o n , d i e ich v e r e h r e . D a ß g e w i s s e g l ä n z e n d e u n d g ö t t l i c h e P u n k t e d e r u r s p r ü n g l i c h e Siz j e d e r Verbesserung dieses Verderbnisses sind, und jeder neuen und näheren

10

V e r e i n i g u n g des E n d l i c h e n m i t d e r G o t t h e i t , dies ist die a n d e r e H ä l f t e des u r s p r ü n g l i c h e n c h r i s t l i c h e n G l a u b e n s : u n d s o l l t e j e e i n e Z e i t k o m 297 m e n , w o d i e K r a f t , die u n s z u m h ö c h s t e n We|sen e m p o r z i e h t , so g l e i c h v e r t h e i l t w ä r e u n t e r die g r o ß e M a s s e d e r M e n s c h h e i t , d a ß

diejenigen,

w e l c h e sie s t ä r k e r b e w e g t , a u f h ö r t e n v e r m i t t e l n d zu sein f ü r die A n d e r n ?

15

I c h w o l l t e es, u n d g e r n h ü l f e ich j e d e G r ö ß e e b n e n , die sich a l s o e r h e b t : a b e r d i e s e G l e i c h h e i t ist w o l w e n i g e r m ö g l i c h a l s i r g e n d s o n s t e i n e . Z e i t e n d e s V e r d e r b e n s s t e h e n a l l e m I r d i s c h e n b e v o r , sei es a u c h g ö t t l i c h e n Ursprungs; neue Gottesgesendete werden nöthig u m mit erhöhter Kraft | C 426 d a s Z u r ü k g e w i c h e n e an sich zu z i e h n u n d d a s V e r d e r b t e zu r e i n i g e n m i t

20

h i m m l i s c h e m F e u e r ; u n d j e d e s o l c h e E p o c h e d e r M e n s c h h e i t w i r d die P a l i n g e n e s i e d e s C h r i s t e n t h u m e s , u n d e r w e k t s e i n e n G e i s t in e i n e r n e u ern und schöneren Gestalt. W e n n es n u n a b e r i m m e r C h r i s t e n g e b e n w i r d , s o l l d e s w e g e n d a s Β 360 C h r i s t e n t h u m a u c h in | s e i n e r a l l g e m e i n e n V e r b r e i t u n g u n b e g r e n z t u n d

25

SW 437 a l s die e i n z i g e G e s t a l t d e r R e l i g i o n in d e r M e n s c h h e i t a l l e i n h e r r s c h e n d sein? E s v e r s c h m ä h t d i e s e b e s c h r ä n k e n d e A l l e i n h e r r s c h a f t ; es e h r t j e d e s s e i n e r e i g n e n E l e m e n t e g e n u g u m es g e r n a u c h als d e n M i t t e l p u n k t e i n e s e i g n e n G a n z e n a n z u s c h a u e n ; es w i l l n i c h t n u r in s i c h M a n n i g f a l t i g k e i t bis ins U n e n d l i c h e e r z e u g e n , s o n d e r n m ö c h t e a u c h a u ß e r sich A l l e a n -

30

s c h a u e n , d i e es a u s s i c h s e l b s t n i c h t h e r a u s b i l d e n k a n n . N i e v e r g e s s e n d , d a ß es d e n b e s t e n B e w e i s s e i n e r E w i g k e i t in s e i n e r e i g n e n V e r d e r b l i c h k e i t , in s e i n e r e i g n e n o f t t r a u r i g e n G e s c h i c h t e h a t , u n d i m m e r w a r t e n d einer E r l ö s u n g aus der U n v o l l k o m m e n h e i t ,

v o n d e r es e b e n

gedrükt

w i r d , s ä h e es g e r n a u ß e r h a l b dieses V e r d e r b e n s a n d e r e u n d j ü n g e r e , w o

5 aber,] B: aber 6 f sehen, ... bemerken] B: sehen nicht mehr unmittelbar darauf geführt 8 unter dieser Bedingung] fehlt in Β 12 des ursprünglichen christlichen Glaubens] fehlt in Β 13 die Kraft, ... emporzieht,] B: diese ans Universum anziehende Kraft 1 4 f diejenigen, ... Andern] B: sie aufhörte für sie vermittelnd zu sein 25 unbegrenzt] B + C: unbegränzt 3 0 f möchte ... kann] B: sie auch außer sich anschauen 30 Alle] C: alle 34 der Unvollkommenheit, von der] B: dem Elende von dem 35 jüngere,] B: jüngere 3 5 f wo ... schönere,] fehlt in Β

35

Fünfte

5

10

15

20

25

30

35

Rede

297

möglich kräftigere und schönere, G e s t a l t e n der Religion hervorgehn dicht neben sich aus allen Punkten, auch von jenen G e g e n d e n her, die ihm als die äußersten und zweifelhaften G r e n z e n der Religion ü b e r h a u p t erscheinen. D i e Religion der Religionen k a n n nicht S t o f f genug s a m m e l n für ihre reine Neigung zu allem M e n s c h l i c h e n ; und so wie nichts irreligiöser ist als I E i n f ö r m i g k e i t zu fordern in der M e n s c h h e i t ü b e r h a u p t , so C 427 ist nichts unchristlicher als E i n f ö r m i g k e i t zu suchen in der Religion. Auf alle Weise werde die G o t t h e i t a n g e s c h a u t und ange| betet. Viel- 298 fache Gestalten der Religion | sind möglich in e i n a n d e r und neben einan- ß 361 der; und wenn es n o t h w e n d i g ist, d a ß jede zu irgend einer Z e i t wirklich werde, so w ä r e wenigstens zu w ü n s c h e n , d a ß viele zu jeder Z e i t k ö n n t e n geahnet werden. D i e g r o ß e n M o m e n t e k ö n n e n nur selten sein, w o Alles zusammentrifft um E i n e r unter ihnen ein weit verbreitetes und dauerndes Leben zu sichern, w o dieselbe Ansicht sich in einer großen M a s s e zugleich und unwiderstehlich entwikkelt, und Viele von demselben E i n druk des G ö t t l i c h e n durchdrungen werden. D o c h was ist nicht zu e r w a r ten von einer Z e i t , welche so o f f e n b a r die G r e n z e ist zwischen zwei verschiedenen O r d n u n g e n der Dinge! W e n n nur erst die gewaltige Krisis vorüber ist, k a n n sie auch einen solchen M o m e n t h e r b e i g e b r a c h t h a b e n ; und eine ahnende Seele wie die f l a m m e n d e n Geister unserer Z e i t sie in sw 438 sich t r a g e n 1 8 auf den schaffenden Genius gerichtet, k ö n n t e vielleicht jezt schon den Punkt a n g e b e n , der künftigen G e s c h l e c h t e r n der M i t t e l p u n k t werden m u ß für ihre G e m e i n s c h a f t mit der G o t t h e i t . W i e dem a b e r auch sei, und wie lange ein solcher Augenblik n o c h verziehe; neue Bildüngen der Religion, seien sie nun untergeordnet d e m C h r i s t e n t h u m o d e r neben dasselbe gestellt, müssen h e r v o r g e h e n , und z w a r bald; sollten sie C42S auch lange nur in einzelnen und flüchtigen E r s c h e i n u n g e n w a h r g e n o m men werden. Aus dem Nichts geht i m m e r eine neue S c h ö p f u n g hervor, | und nichts ist die Religion fast in allen G e n o s s e n der jezigen Welt, denen Β 362 ein geistiges L e b e n in K r a f t und Fülle aufgeht. In Vielen wird sie sich entwikkeln aus irgend einer von den unzähligen Veranlassungen, und wird in neuem B o d e n zu einer neuen G e s t a l t sich bilden. N u r d a ß die Z e i t der Z u r ü k h a l t u n g vorüber sei, und der S c h e u . D i e Religion h a ß t die E i n s a m k e i t , und in ihrer J u g e n d z u m a l , w e l c h e ja für Alles die S t u n d e der Liebe ist, vergeht sie in zehrender S e h n s u c h t . W e n n sie sich in E u c h

1 f hervorgehn ... sich] B : hervorgehn, ... sich, 5 ihre . . . M e n s c h l i c h e n ; ] B : die eigenste Seite ihrer innersten A n s c h a u u n g , 5 M e n s c h l i c h e n ] C : menschlichen 1 0 jede] B + C: Jede 12 k ö n n e n nur] B: müssen 13 zusammentrifft] Β + C: Zusammentrift 1 4 einer großen M a s s e ] B : Vielen 1 5 f Viele ... Eindruk] B : sie . . . E i n d r u k k 19 h a b e n ; ] B: haben, 2 0 f wie die ... t r a g e n 1 8 ] fehlt in Β 2 1 vielleicht] fehlt in Β 2 4 Augenblik] B : Augenblikk 2 9 nichts ist] B : Nichts ist 2 9 Genossen] B: Geburten 3 1 irgend einer von den] B : Einer von

298

Über die

Religion

e n t w i k k e l t ; w e n n Ihr d i e e r s t e n S p u r e n ihres L e b e n s i n n e w e r d e t : so t r e t e t gleich in d i e E i n e u n d u n t h e i l b a r e G e m e i n s c h a f t d e r H e i l i g e n , d i e alle R e l i g i o n e n a u f n i m m t , u n d in d e r allein j e d e g e d e i h e n k a n n . Ihr 299 m e i n t | w e i l diese z e r s t r e u t ist u n d f e r n , m ü ß t e t a u c h I h r d a n n u n h e i l i g e n O h r e n r e d e n ? Ihr f r a g t , w e l c h e S p r a c h e g e h e i m g e n u g sei, d i e R e d e , d i e S c h r i f t , d i e T h a t , die stille M i m i k d e s Geistes? J e d e , a n t w o r t e ich, u n d Ihr s e h t , ich h a b e a u c h d i e l a u t e s t e n i c h t g e s c h e u t . In jeder bleibt d a s H e i l i g e g e h e i m u n d v o r d e n P r o f a n e n v e r b o r g e n . L a ß t sie a n d e r Schale n a g e n w i e sie m ö g e n ; a b e r w e i g e r t u n s n i c h t d e n G o t t a n z u b e t e n , d e r in E u c h sein w i r d .

C 429; SW 439

5

10

Erläuterungen zur fünften Rede. 1) S. 251. Da hier die auch an früheren Stellen schon verhandelte Frage auf eine kurze Formel gebracht ist, nämlich Vielheit der Religion und Einheit der Kirche oder der Gemeinschaft: so veranlaßt mich dies noch etwas hinzuzufügen zu den Erläuterungen über diesen scheinbar paradoxen Saz. Es ist vorzüglich 15 zweierlei. Zuerst dieses, daß es in jeder Glaubensweise die Beschränkteren sind, welche die Gemeinschaft so streng abschließen, daß sie auf der einen Seite an den Religionsübungen anderer Glaubensweisen gar keinen Theil nehmen wollen, und also auch in völliger Unkunde ihrer Art und ihres Geistes bleiben, und auf der andern um der geringsten Abweichung willen auch gleich eine besondere 20 Gemeinschaft unter sich stiften möchten. Hingegen sind es die freieren und edleren, welche nicht nur als unthätige Zuschauer, sondern so weit es gehn will durch lebendige Theilnahme an dem Gottesdienst, dessen Bestimmung ja vorzüglich in der Darstellung liegt, sich das Gemüth fremder Glaubensgenossen liebend zu vergegenwärtigen suchen. Wäre dies nicht vorangegangen zwischen 25 den Gliedern der beiden evangelischen Kirchengemeinschaften: so wäre auch da, wo sie am meisten unter einander gemischt sind, jezt noch eben so wenig als vor hundert und dreihundert Jahren an eine Vereinigung beider zu denken; wer also diese lobt muß jenes auch loben. Allerdings kann z. B. leichter ein Katholik sich an dem ganzen evangelischen Gottesdienst, bei dem er höchstens nur Man- 30

1 entwikkelt;] B: entwikkelt, 2 gleich] B: gleich ein 4 meint] B: meint, 4 auch Ihr dann] B: Ihr dann auch 5 sei,] B: sei: 7 auch] fehlt in Β 9 uns] B + C: Uns 12 251] C: 358 30f Manches] C: manches 1 Ihr] Β + C: ihr

Erläuterungen

zur fünften

Rede

299

c h e s v e r m i ß t , w a s i h m a u f a n d e r e W e i s e zum T h e i l w e n i g s t e n s ersezt w i r d , erb a u e n , als ein P r o t e s t a n t an d e m k a t h o l i s c h e n , d e r i h m a u f d a s p o s i t i v s t e d e n G e g e n s a z z w i s c h e n beiden G l a u b e n s w e i s e n v o r s t e l l t , und in d e m er a l s o V i e l e s findet, das für ihn n i c h t A u s d r u k seiner G l a u b e n s w e i s e sein k a n n . A b e r d o c h 5

w i r d es eine A r t g e b e n n i c h t i n d i f f e r e n t i s t i s c h , s o n d e r n i n n e r l i c h u m b i l d e n d b e richtigend ü b e r s e z e n d an V i e l e m T h e i l zu n e h m e n ; u n d nur | ein P r o t e s t a n t der

300

dies t h u t , w i r d sich r ü h m e n k ö n n e n den T y p u s des k a t h o l i s c h e n a u f g e f a ß t , u n d a u c h an d e m P r ü f s t e i n des G e g e n s a z e s sei|nen G l a u b e n b e w ä h r t zu h a b e n . —

C 430

H i e m i t nun h ä n g t a u c h das z w e i t e z u s a m m e n , d a ß n ä m l i c h n u r d a s B e s t r e b e n 10

n a c h einer s o l c h e n alles v e r f l e c h t e n d e n und u m s c h l i n g e n d e n G e m e i n s c h a f t d a s w a h r e und t a d e l l o s e Princip der D u l d s a m k e i t ist. D e n n n i m m t m a n diese M ö g l i c h k e i t einer w e n n auch e n t f e r n t e r e n G e m e i n s c h a f t g a n z w e g , so b l e i b t n i c h t s a n d e r e s übrig als die V e r s c h i e d e n h e i t e n in der G e s t a l t u n g der R e l i g i o n n u r als ein u n v e r m e i d l i c h e s U e b e l a n z u s e h e n . G r a d e w i e die D u l d s a m k e i t v e r s c h i e d e n

15

c o n s t i t u i r t e r S t a a t e n gegen e i n a n d e r d o c h d a r a u f b e r u h t , d a ß d e n n o c h e i n e G e m e i n s c h a f t u n t e r ihnen m ö g l i c h ist; w o a b e r d i e s e a u f h ö r t da t r i t t a u c h die U n d u l d s a m k e i t e i n , und es w i r d ein v e r m e i n t l i c h e s R e c h t in A n s p r u c h g e n o m m e n sich in f r e m d e A n g e l e g e n h e i t e n zu m i s c h e n , w e l c h e s d o c h nur d u r c h die T h a t g e g e b e n w e r d e n k a n n , w e n n n ä m l i c h eine V e r f a s s u n g w i r k l i c h n a c h a u ß e n zer-

20

s t ö r e n d auftritt, nie a b e r k a n n es d u r c h ein R a i s o n n e m e n t o d e r e i n e e i n g e b i l d e t e W a h r s c h e i n l i c h k e i t b e g r ü n d e t w e r d e n . E s sind a b e r i m m e r n u r die E n g h e r z i g e n , die sich ein s o l c h e s R e c h t a n m a ß e n ; die Freieren a b e r s u c h e n ü b e r a l l die G e m e i n schaft

zu k n ü p f e n ,

und

dadurch

die

allgemeine

Zusammengehörigkeit

SW 440

des

m e n s c h l i c h e n G e s c h l e c h t e s d a r z u s t e l l e n , o h n e d a ß d a d u r c h die L i e b e zu i h r e r 25

v a t e r l ä n d i s c h e n V e r f a s s u n g im m i n d e s t e n g e s c h w ä c h t w i r d , w i e d e n n a u c h die w a h r e D u l d s a m k e i t a u f d e m G e b i e t der R e l i g i o n v o n a l l e m I n d i f f e r e n t i s m u s w e i t e n t f e r n t ist. 2) S. 2 5 9 . D i e s e A e u ß e r u n g s c h e i n e t freilich sehr s t a r k n a c h der Z e i t , w o dieses B u c h zuerst g e s c h r i e b e n w u r d e , n a c h der Z e i t , w o es g a r k e i n g e m e i n s a -

30

m e s g r o ß e s I n t e r e s s e g a b , w o w i r unsern eignen Z u s t a n d n u r j e d e r n a c h seinen b e s o n d e r e n B e z i e h u n g e n s c h ä z t e n o h n e Spur eines G e m e i n g e i s t e s , j a w o s e l b s t die f r a n z ö s i s c h e R e v o l u t i o n , w i e w o l sie sich s c h o n s e h r als W e l t b e g e b e n h e i t e n t w i k k e l t h a t t e , d o c h unter u n s n o c h a u f eine d u r c h a u s s e l b s t s ü c h t i g e und a l s o h ö c h s t differente u n d s c h w a n k e n d e W e i s e b e t r a c h t e t w a r d . E r s t s p ä t e r h i n in d e n

35

Z e i t e n des E l e n d e s s o w o l als des R u h m e s , h a b e n w i r die K r a f t

gemeinsamer

E m p f i n d u n g e n w i e d e r k e n n e n g e l e r n t , u n d z u g l e i c h mit dieser ist a u c h d a s B e w u ß t s e i n und der T r o s t g e m e i n s c h a f t l i c h e r F r ö m m i g k e i t

| wieder eingekehrt.

U n d auch jezt k a n n m a n leicht eines durch d a s a n d e r e m e s s e n . D e n n w o m a n in den A n g e l e g e n h e i t e n des V a t e r l a n d e s s t a t t d e r e r w a r t e t e n T h a t leere W o r t e 40

g i e b t , d a ist a u c h die F r ö m m i g k e i t leer, und stellte sie sich a u c h eifrig an bis zur H ä r t e . Und w o das Interesse a n der V e r b e s s e r u n g u n s e r e s Z u s t a n d e s in k r a n k h a f t e P a r t h e i u n g e n zerfallen ist, d a artet a u c h die F r ö m m i g k e i t w i e d e r a u s in

3 Vieles] C: vieles 370

6 Vielem] C: vielem

22 Freieren] C: freieren

28 259] C :

C 431

300

Über die

Religion

S e k t i r e r e i . M a n sieht hieraus, d a ß lebendige A u f r e g u n g des n a t ü r l i c h e n und gesunden G e m e i n g e i s t e s die K l a r h e i t in der R e l i g i o n k r ä f t i g e r f ö r d e r t als jede kritische A n a l y s e , die, w o solche I m p u l s e fehlen, n u r zu leicht s k e p t i s c h wird, wie | 301

a u c h die in der R e d e f o l g e n d e n W o r t e a n d e u t e n , und d a ß die g r o ß e n geselligen Interessen s c h w ä c h e n i m m e r a u c h heißt die F r ö m m i g k e i t l ä h m e n und irre m a -

5

c h e n . D a h e r a u c h die R e l i g i o n s g e s e l l s c h a f t e n , w e l c h e eine v e r d u n k e l n d e T e n d e n z h a b e n , w o h l thun sich von aller B e r ü h r u n g mit a n d e r e n F o r m e n der R e l i g i o n frei zu h a l t e n . 3) S. 2 6 0 . H i e r h a b e ich e t w a s g e ä n d e r t u n d ein w i l l k ü h r l i c h e s e t y m o l o g i s c h e s Spiel f a h r e n lassen, u m m i c h a u f das g e s c h i c h t l i c h e z u r ü k z u z i e h e n . D e n n w e n n m a n die m a n n i g f a l t i g e n T h e i l u n g e n e i n e r u n d d e r s e l b e n

10

Glaubensweise

b e t r a c h t e t : s o ist w o l o f f e n b a r , d a ß sie n i c h t alle von g l e i c h e m W e r t h e sind. D i e j e n i g e n n ä m l i c h , w e l c h e d a s G a n z e a u f eine e i g e n t h ü m l i c h e Weise u m b i l d e n , h a b e n einen n a t ü r l i c h e n W e r t h , u n d b e s t e h n mit i h r e m guten R e c h t ; alle S p a l t u n gen a b e r u m einzelner P u n k t e willen, die k e i n e n w e i t v e r b r e i t e t e n E i n f l u ß h a b e n ,

15

w i e die m e i s t e n , die sich in d e n ersten J a h r h u n d e r t e n von d e m g r o ß e n K ö r p e r d e r K i r c h e a b s o n d e r t e n , v e r d a n k e n ihre b e s o n d e r e E x i s t e n z nur d e r H a r t n ä k i g keit des g e r i n g e n T h e i l s , von w e l c h e m die S p a l t u n g ausging; allein a u ß e r d e m w a s sie a b w e i c h e n d bilden, v e r n a c h l ä ß i g e n sie d o c h das U e b r i g e n i c h t , w e n n n i c h t e t w a eine fortgesezte P o l e m i k sie ü b e r j e n e s eine f o r t w ä h r e n d in A t h e m

20

h ä l t . D i e j e n i g e n a b e r werden a u c h a m meisten S e k t e n g e n a n n t u n d verdienen a u c h nur einen N a m e n , der eine freiwillige A u s s c h l i e ß u n g a n d e u t e t , w e l c h e sich in w e n i g e a b w e i c h e n d gebildete A n s i c h t e n a u s s c h l i e ß e n d vertiefen, und sich alles SW 441; C 432

U e b r i g e f r e m d w e r d e n lassen, u n d | hierbei liegt w o l i m m e r e i n e einzelne bes c h r ä n k t e a b e r in ihrer B e s c h r ä n k t h e i t k r ä f t i g e P e r s ö n l i c h k e i t z u m G r u n d e .

25

4) S. 2 6 2 . U e b e r den R a n g d e n ich dieser D i f f e r e n z a n w e i s e , h a b e ich mich s c h o n wie ich h o f f e zur G e n ü g e e r k l ä r t . D e r G e g e n s a z a b e r z w i s c h e n P e r s o n a l i s m u s und P a n t h e i s m u s , der hier als durch alle drei S t u f e n d u r c h g e h e n d vorgestellt w i r d , g i e b t m i r V e r a n l a s s u n g die S a c h e auch n o c h v o n dieser S e i t e zu e r l ä u t e r n . A u c h a u f der z w e i t e n Stufe n ä m l i c h , der p o l y t h e i s t i s c h e n , ist dieser G e g e n s a z u n v e r k e n n b a r ; nur tritt er w e n i g e r deutlich h e r v o r , w i e in a l l e m U n v o l l k o m m n e r n die G e g e n s ä z e weniger g e s p a n n t sind. D e n n wie wenig E i n h e i t die meisten dieser g ö t t l i c h e n E i n z e l w e s e n in der h e l l e n i s c h e n M y t h o l o g i e h a b e n , w e n n m a n

9 260] C: 372 12 Werthe] C: Werth 19 u. 2 4 Uebrige] C: übrige 374 31 f Unvollkommnern] C: unvollkomnern

26 262] C:

7 anderen] C + D: an deren 9 f Den Begriff der Sekte, die als exklusive Gestalt von Religion „ein willkührlicher Ausschnitt aus dem Ganzen" (hier 262,6) sei, faßt Schleiermacher in der 1. und 2. Auflage durch den etymologischen Rückbezug auf secare „schneiden" primär programmatisch: „sondern es wäre ein gewaltsamer Ausschnitt aus dem Unendlichen, nicht eine Religion sondern eine Sekte: der irreligiöseste Begriff den man im Gebiet der Religion kann realisieren wollen" (hier 262,35-37; vgl. KGA 1/2, 301, 5-7). Ab der 3. Auflage gibt Schleiermacher dem Sektenbegriff einen beschreibenden Zug (vgl. hier 262,7—10).

30

Erläuterungen

zur fünften

Rede

301

A l l e s , was v o n ihrer G e s c h i c h t e v o r k o m m t , z u s a m m e n vereinigen will; so d a ß m a n , u m Alles zu e r k l ä r e n i m m e r g e n ö t h i g t ist a u f v e r s c h i e d e n e E n t s t e h u n g e n ihres D i e n s t e s u n d a u f v e r s c h i e d e n e H e i m a t h e n und C h a r a k t e r e der d a h i n g e h ö rigen M y t h e n z u r ü k z u k o m m e n : d a s liegt zu T a g e . I n d e m n u n die P e r s ö n l i c h k e i t 5

hier lose ist, s o spielen die G e s t a l t e n in das S y m b o l i s c h e h i n e i n ; u n d m a n c h e f r e m d e n U r s p r u n g s , a u f die n u r d e s h a l b , weil o h n e d i e s k e i n e feste P e r s ö n l i c h k e i t d a w a r , e i n h e i m i s c h e N a m e n k o n n t e n ü b e r t r a g e n w e r d e n , sind g a n z s y m b o l i s c h wie die E p h e s i s c h e D i a n a , w e l c h e rein d a s a l l g e m e i n e L e b e n , die n a t u r a n a t u r a n s , die der P e r s ö n l i c h k e i t g r a d e e n t g e g e n g e s e z t ist, d a r s t e l l t . In d e n E g y p t i -

10

302

sehen aber u n d I n d i s c h e n S y s t e m e n ist e n t w e d e r d a s S y m b o l i s c h e die B a s i s o d e r das H i e r o g l y p h i s c h e ; hier a l s o liegt g a r k e i n e P e r s ö n l i c h k e i t z u m G r u n d e u n d eine solche rein s y m b o l i s c h e D a r s t e l l u n g der G r u n d u r s a c h e n h a t e i g e n t l i c h k e i n e G ö t t e r mit B e w u ß t s e i n , s o n d e r n ist w a h r h a f t p a n t h e i s t i s c h . Allein die d r a m a t i s i r e n d e o d e r e p i s i r e n d e D a r s t e l l u n g des V e r h ä l t n i s s e s der s y m b o l i s c h e n o d e r hie-

15

roglyphischen

W e s e n b r i n g t einen S c h e i n v o n P e r s ö n l i c h k e i t h e r v o r , u n d

so

scheinen diese beiden F o r m e n des P o l y t h e i s m u s die p e r s o n a l i s t i s c h e u n d p a n t h e i stische in e i n a n d e r ü b e r z u g e h e n ; allein d e m P r i n z i p n a c h sind sie s e h r w o h l zu scheiden. D a ß n u n a u c h a u f der c h a o t i s c h e n S t u f e o d e r d e m F e t i s c h i s m u s d e r selbe G e g e n s a z s t a t t finde, e r g i e b t s c h o n die A n a l o g i e , zu|gleich a b e r a u c h , d a ß 20

C 433

er hier n o c h s c h w e r e r zu e r k e n n e n u n d d a r z u l e g e n ist, weil diese g l e i c h s a m L a r ven von G ö t t e r n , die erst bei einer s p ä t e r e n E n t w i k l u n g P s y c h e n w e r d e n k ö n n e n , eine g e n a u e r e B e o b a c h t u n g s c h w e r l i c h z u l a s s e n . 5) S. 2 6 3 . Ich fasse hier u n t e r d e m A u s d r u k N a t u r a l i s m u s alle die R e l i g i o n s f o r m e n z u s a m m e n , w e l c h e m a n s o n s t w o l d u r c h den N a m e n N a t u r d i e n s t

25

zu b e z e i c h n e n pflegt, und w e l c h e s ä m m t l i c h in d e m o b e n a n g e g e b e n e n

Sinne

u n p e r s ö n l i c h p o l y t h e i s t i s c h sind. A u c h den S t e r n e n d i e n s t n i c h t a u s g e s c h l o s s e n , ja selbst den S o n n e n d i e n s t n i c h t , der nur s c h e i n b a r m o n o t h e i s t i s c h ist, weil e i n e e r w e i t e r t e K e n n t n i ß des W e l t g e b ä u d e s ihn gleich in den S t e r n e n d i e n s t u n d a l s o den P o l y t h e i s m u s h i n ü b e r z i e h e n m u ß . D i e s e V e r ä n d e r u n g des G e b r a u c h s e i n e s 30

ü b l i c h e n A u s d r u k s aber, d a s o n s t die W ö r t e r N a t u r a l i s t und N a t u r a l i s m u s u n t e r uns e t w a s g a n z a n d e r e s b e d e u t e n , w e i ß ich z u n ä c h s t nur d a m i t zu e n t s c h u l d i g e n , d a ß h o f f e n t l i c h j e d e r Leser, der n u r a n d e n h e r g e b r a c h t e n G e b r a u c h n i c h t d e n k t , den hier d a v o n g e m a c h t e n in d e m Z u s a m m e n h a n g der a n d e r n A u s d r ü k k e l e i c h t verstehen u n d s a c h g e m ä ß finden w i r d . I n d e ß w ü r d e ich m i c h d o c h dessen e n t h a l -

35

ten h a b e n , w e n n m i r n i c h t s c h o n d a m a l s die A r t w i e N a t u r a l i s m u s u n d R a t i o n a lismus so fast g l e i c h l a u t e n d g e b r a u c h t und b e i d e d e m S u p e r n a t u r a l i s m u s entgegengesezt w e r d e n , e b e n so m i ß f a l l e n h ä t t e , u n d m i r eben s o v e r w i r r e n d e r s c h i e -

1 u. 2 Alles] C: alles 5 Symbolische] C: symbolische 1 0 f Symbolische ... Hieroglyphische] C: symbolische ... hieroglyphische 17 Prinzip] C: Princip 18 Stufe] C: Stuffe 23 263] C: 376 25 sämmtlich] C: sämtlich 19 zugleich] C; zu|zugleich

SW 442

302

Über die Religion

nen w ä r e , wie ich s p ä t e r h i n bei a n d e r n Gelegenheiten g e ä u ß e r t . Es läßt sich noch e t w a s d a b e i d e n k e n , und z w a r w a s besser Stich hält als das g e w ö h n l i c h dabei G e d a c h t e , w e n n m a n Vernunft u n d O f f e n b a r u n g e i n a n d e r entgegensezt; a b e r ein Gegensaz zwischen N a t u r u n d O f f e n b a r u n g h a t g a r keine H a n d h a b e , u n d j e m e h r m a n über den fraglichen G e g e n s t a n d v e r h a n d e l n w i r d von dieser Entgegensez u n g a u s g e h e n d , der auch, w o r a u f d o c h ein C h r i s t i m m e r z u r ü k g e h e n sollte, das biblische F u n d a m e n t gänzlich fehlt, u m desto m e h r w i r d die g a n z e Sache sich verwirren. 6) E b e n d . Die E r w a r t u n g , d a ß sich noch m e h r e r e polytheistische Religio303 nen e n t w i k k e l n w e r d e n , ist nicht aufs O h n g e f ä h r a u s g e s p r o c h e n , s o n d e r n sie C 434 b e r u h t e d a m a l s auf | einer Ansicht, die auch in der Einleitung meiner G l a u b e n s lehre a n g e d e u t e t ist, d a ß nämlich viele polytheistische Systeme o f f e n b a r aus einer p o t e n z i i r e n d e n Z u s a m m e n s c h m e l z u n g kleiner idololatrischer Stammesreligionen e n t s t a n d e n sind. So lange es also n o c h Völkerschaften giebt, welche n u r einen Fetischdienst k e n n e n , so ist ein solches geschichtliches Ereigniß d e n k b a r ; und zu jener Zeit da d a s christliche Missionswesen fast im Einschlafen begriffen w a r , sah ich dies als einen natürlichen U e b e r g a n g z u m Bessern f ü r diese rohesten Gesellschaften an. Seitdem h a t sich diese Wahrscheinlichkeit b e d e u t e n d gemind e r t , u n d die dagegen vergrößert, d a ß auch diese u n m i t t e l b a r k ö n n e n v o m Chris t e n t h u m ergriffen w e r d e n . 7) S. 264. D e r A u s d r u k H ä r e s i s w a r n ä m l i c h schon einmal bei Ehren. N i c h t n u r bei den Hellenen w u r d e n die Schulen der P h i l o s o p h e n u n d der Aerzte so g e n a n n t , in denen doch z u s a m m e n g e n o m m e n jene ganze Kunst u n d Wissens c h a f t e n t h a l t e n w a r ; sondern a u c h w a s u n s n o c h n ä h e r liegt, die verschiedenen d o g m a t i s c h e n Schulen der J u d e n f ü h r t e n bei den Hellenisten denselben N a m e n , u n d d a ß in der kirchlichen S p r a c h e nicht auch der festgestellte Kirchenglaube die o r t h o d o x e o d e r katholische H ä r e s i s heißt, s o n d e r n d a s W o r t ganz u n d ausschließend f ü r d a s verwerfliche g e b r a u c h t w i r d , w a s etymologisch gar nicht geg r ü n d e t ist, r ü h r t w o l nur daher, weil die Schrift in einer a n d e r n Beziehung das W o r t häretisch — in unserer Uebersezung kezerisch — in einem üblen Sinne g e b r a u c h t hat. H i e r n u n g e b r a u c h e ich es von den positiven Religionen in d e m selben Sinne, wie es von den hellenischen Schulen g e b r a u c h t w i r d , in denen z u s a m m e n g e n o m m e n die ganze N a t i o n a l p h i l o s o p h i e e n t h a l t e n war. D e n n es m ü ß t e ja ein schlechtes philosophisches System sein, welches nicht ein w a h r h a f tes philosophisches Element e r f a ß t h ä t t e , u n d nicht a u c h wirklich auf dieses alle a n d e r n irgendwie zu beziehen suchte. D a es n u n mit den positiven Religionen

3 Gedachte] C: gedachte

21 264] C: 378

26 auch] C + D: auch, 1 Vgl. An Herrn Oberhofprediger D. Ammon über seine Prüfung der Harmsischen Säze, Berlin 1818, S. 33—41, KGA 1/10,45—52 sowie Zugabe zu meinem Schreiben an Herrn Ammon, Berlin 1818, S. 13-15, KGA 1/10,110f 1 1 - 1 4 Vgl. CG' § 15,1, KGA 1/7,1, 50,12-16 und CG2 §8,1, Bd. 1,47f 2 9 - 3 1 Vgl. Tit 3,10

5

10

15

20

25

30

35

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

zur fünften

Rede

303

dieselbe B e w a n d t n i ß hat, so darf m a n auch schließen, daß wenn sie alle werden entwikkelt sein, dann auch in ihnen z u s a m m e n g e n o m m e n die | ganze Religion C 435 des menschlichen Geschlechts enthalten sein werde. 8) S. 2 6 5 . Dieses m a c h e n ist freilich mit einiger E i n s c h r ä n k u n g zu verste- SW 443 hen; aber ich lebte im Schreiben des guten Vertrauens, daß J e d e r sich diese von selbst ergänzen würde. Es k o n n t e nämlich wol nicht meine M e i n u n g sein, d a ß nur derjenige ein rechter Christ sei, der auch selbst hätte Christus sein k ö n n e n , wenn Christus nicht schon vor ihm da gewesen wäre. Dies aber wird m a n w o l zugeben, daß J e d e r nur in dem M a a ß und G r a d e ein Christ ist, als er in der vorchristlichen Z e i t unter Juden würde die messianische Idee in sich ausgebildet oder wenigstens aufgefaßt und fortgepflanzt h a b e n , und als er unter Heiden von der Unzulänglichkeit sinnlicher Gottesdienste wäre überzeugt gewesen, und | durch das Gefühl seiner Erlösungsbedürftigkeit das Christenthum gleichsam ge- 304 lokt und an sich gezogen hätte. — D a s Folgende zeigt ja auch deutlich genug, wie wenig es mit der Voraussezung, daß wirklich Wenige oder Viele k ö n n t e n die Keime zu ganz neuen außerhalb der geschichtlichen Formen liegenden Religionsweisen in sich tragen und gehalten sein sie ans Licht zu fördern, ernstlich gemeint sei. 9) S. 2 6 7 . Ich kann diese Stelle, wiewol ich eigentlich noch hoffen dürfte, daß sie im ganzen Z u s a m m e n h a n g e nicht leicht k ö n n e mißverstanden werden, doch nicht o h n e eine kleine Berichtigung lassen sowol was die S a c h e als was den Ausdruk betrifft. U m den Ausdruk zuerst s c h w e b t ein gewisser Schein, als o b es möglich wäre auf dem G e b i e t der Religion auf Entdekkungen auszugehn oder willkührlich etwas hervorzubringen, da doch hier Alles, wenn es w a h r sein soll und rein, und das Neue a m meisten, auf unwillkührliche Art der E i n g e b u n g ähnlich aus dem Innersten des G e m ü t h e s hervorgehen muß. D o c h wer den Eindruk und Z u s a m m e n h a n g des G a n z e n festhält, den wird dieser Schein nicht täuschen. Was zweitens die Sache selbst betrifft, so scheint sie zu allgemein dargestellt und zu wenig Rüksicht auf den großen Unterschied der verschiedenen Religionsformen g e n o m m e n zu sein. D e n n jede Religion | der höchsten Stufe, C 436 und am meisten die, der sich eine vollständige T h e o l o g i e angebildet hat, m u ß im Stande sein ihr ganzes G e b i e t zu übersehen. Es ist das G e s c h ä f t der D o g m a t i k einen solchen G r u n d r i ß davon anzulegen, d a ß nicht nur Alles, was sich in einer solchen Religionsform schon wirklich gebildet hat, seinen R a u m darin finde, sondern in dem auch jeder mögliche O r t angezeigt sei; und wenn wir einen solchen G r u n d r i ß überschauen, werden wir doch nicht leicht etwas leer finden, sondern nur einige O e r t e r mehr andre weniger durch verschiedene Bildungen ausgefüllt. Nur den untergeordneten R e l i g i o n s f o r m e n und den kleineren Par-

1 Bewandtniß] C: Bewandniß C: folgende 19 267] C: 380 alles

4 265] C: 379 5 u. 9 Jeder] C: jeder 2 4 f Alles ... Neue] C: alles ... neue

4 Einschränkung] D: Einschränknng

14 genug] C: ge/genug

14 Folgende] 33 Alles] C:

Über

304

die

Religion

theien k a n n das begegnen w a s hier a n g e n o m m e n ist, i n d e m in den ersteren die E i n z e l n e n zu w e n i g von e i n a n d e r d i f f e r i r e n , u m e i n a n d e r v o l l s t ä n d i g zu e r g ä n z e n , v o n den lezten a b e r ist s c h o n a n g e f ü h r t w o r d e n , w e s h a l b sie eine n a t ü r l i c h e N e i g u n g h a b e n , n i c h t die g a n z e M a s s e des religiösen S t o f f s zu v e r a r b e i t e n . 10) S. 2 7 0 . D e r O p p o s i t i o n s c h a r a k t e r , den dieses B u c h durch und d u r c h

5

an sich t r ä g t , w i r d es d e m , w e l c h e r sich die d a m a l i g e Z e i t v e r g e g e n w ä r t i g e t , sehr b e g r e i f l i c h m a c h e n , d a ß ich hier v o r z ü g l i c h die S a c h e derer vertheidige, w e l c h e d e n A n f a n g ihres religiösen L e b e n s a u f einen b e s t i m m t e n A u g e n b l i k z u r ü k f ü h ren. D o c h ist dies k e i n e s w e g e s n u r ein Versuch die G e g n e r dieser A n s i c h t z u m SW 444

S c h w e i g e n zu b r i n g e n , in der g u t e n Z u v e r s i c h t , d a ß sie sich n i c h t g e h ö r i g verthei-

10

digen k ö n n e n . E s ist m i r v i e l m e h r h e r n a c h das S o n d e r b a r e b e g e g n e t , d a ß ich e b e n diesen S a z h a b e vertheidigen m ü s s e n gegen einen v o r t r e f f l i c h e n M a n n , ei305

nen a n g e s e h e n e n n u n längst e n t s c h l a f e n e n L e h r e r e i n e r m i r sehr w e r t h e n R e l i gionsgesellschaft,

deren g a n z e P r a x i s eigentlich

a u f dieser V o r a u s s e z u n g

be-

s t i m m t e r M o m e n t e d e r B e g n a d i g u n g b e r u h t . E r f r a g t e m i c h , o b ich in der T h a t

15

an s o l c h e M o m e n t e g l a u b e und sie für n o t h w e n d i g h a l t e , s o d a ß ein a l l m ä h l i g e s und u n m e r k l i c h w e r d e n d e s und w a c h s e n d e s religiöses L e b e n m i r n i c h t genüge. E r w a n d t e m i r aus der E r f a h r u n g das ein, w a s freilich j e d e m , der viele L e b e n s läufe e r w e k t e r M e n s c h e n a u f m e r k s a m gelesen h a t , i m m e r m u ß aufgefallen sein, C 437

d a ß n ä m l i c h bei den meisten | f r ü h e r o d e r s p ä t e r n a c h s o l c h e n M o m e n t e n , w o

20

sie die V e r s i c h e r u n g der g ö t t l i c h e n G n a d e e r h a l t e n h a t t e n , also zu e i n e m p e r s ö n lich eignen religiösen L e b e n g e b o r e n w a r e n , w i e d e r Z e i t e n der A b s p a n n u n g eint r e t e n , w o ihnen diese G e w i ß h e i t w i e d e r v e r l o r e n g e h t , s o d a ß n o c h M o m e n t e der B e s t ä t i g u n g h i n z u k o m m e n m ü s s e n , und m a n a l s o billig zweifeln m u ß , o b der erste o d e r z w e i t e der w a h r e A n f a n g s p u n k t sei; aus w e l c h e m Z w e i f e l d a n n

25

v o n selbst f o l g t , d a ß die W a h r h e i t n u r in den a l l m ä h l i g e n U e b e r g ä n g e n ist, welc h e einen s o l c h e n ersten M o m e n t v o r b e r e i t e n und d u r c h einen zweiten o d e r dritten b e f e s t i g e n . Ich m a c h t e ihn a u f m e r k s a m d a r a u f , w a s ich auch hier n o c h m a l s in E r i n n e r u n g b r i n g e n will, d a ß ich diese F o r m n i c h t für die einzige in der E r s c h e i n u n g h a l t e , s o n d e r n auch u n m e r k l i c h e s E n t s t e h e n u n d W a c h s e n z u g ä b e ; d a ß a b e r d o c h das innere w a h r e n u r d a s I n e i n a n d e r dieser beiden sei, und nur in v e r s c h i e d e n e n F ä l l e n m e h r das e i n e o d e r a n d e r e h e r a u s t r e t e , e b e n d e s h a l b a b e r a u c h g a n z a n d e r s sei s o l c h e M o m e n t e p o s t u l i r e n als v e r l a n g e n , d a ß j e d e r

1 begegnen] C: begegnen, trefflichen] C: vortreflichen

5 270] C: 385

11 Sonderbare] C: sonderbare

12 vor-

2 f ergänzen,] D: ergänzen 12—3 Anspielung auf Theodor Christian Zembsch (1728 — 1806), den Inspektor des Pädagogiums der Herrnhuter Brüdergemeine in Niesky. Schleiermacher besuchte Zembsch, der ihn 1783-1785 in Niesky unterrichtet hatte, zu Ostern 1805 in Barby (vgl. Briefe 4,113 f). Zembsch selbst hatte wohl kein Erweckungsertebnis (vgl. E. R. Meyer: Schleiermachers und C. G. von Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeine, Leipzig 1905, S. 105) und betonte die Bedeutung des Zweifels für die religiöse Entwicklung eines Theologen (vgl. Briefe 2,457).

30

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

35

zur fünften

Rede

305

sie solle selbst angeben und ein zeitliches Bewußtsein davon nachweisen k ö n n e n , wie ich dieses seitdem auch in einer Predigt* auseinandergesezt; und a u f diese Weise k a m e n wir überein. — Was aber besonders die Art betrifft wie diese S a c h e hier dargestellt ist, d a ß n ä m l i c h ein solcher M o m e n t i m m e r etwas A u ß e r o r d e n t liches sei, und auch jedes auf diese Weise erzeugte religiöse Einzelleben ein ganz eigenthümliches sein müsse: so läßt sich zweierlei dagegen einwenden. E i n m a l , daß ja schon in den ersten Zeiten der Kirche und durch die Verkündigung der Apostel christliche E r w e k k u n g e n in M a s s e v o r g e k o m m e n , und auch jezt noch bisweilen, nicht sowol unter fremden Glaubensgenossen, als vorzüglich unter Christen, deren F r ö m m i g k e i t in weltlichen Sorgen und Beschäftigungen untergegangen ist, solche gleichsam epidemische christliche E r w e k k u n g e n v o r k o m m e n . Wie sie nun hiernach schon nicht für etwas Außerordentliches k ö n n e n gehalten werden: so ist zweitens auch schon hieraus wahrscheinlich, d a ß nicht jedes Erzeugniß derselben etwas Außerordentliches und Eigenthümliches sein | w e r d e , C438 um so weniger als diese E r w e k k u n g e n oft als Gegenwirkungen erscheinen gegen weit und gleichförmig verbreitet gewesene Stumpfsinnigkeit oder Zügellosigkeit. D e m nun stimmt auch | die E r f a h r u n g bei, und zeigt uns zu gewissen Z e i t e n 306 grade unter denen, die a u f solche nachweisliche entscheidende M o m e n t e halten, nur Eine sich bis zur E r m ü d u n g überall gleiche F o r m der F r ö m m i g k e i t und eine SW 445 und dieselbe oft ziemlich verworrene T e r m i n o l o g i e über die d a m i t z u s a m m e n hängenden Gemüthszustände. Allein dies hängt genau zusammen mit der Unzuverlässigkeit dieser M o m e n t e ; und es ist nicht in diesem Sinne, d a ß die R e d e die beiden Formen des plözlich erwachenden und des allmählig sich entwikkelnden religiösen Lebens gegenüberstellt. In dem lezten wird allemal mehr das G e m e i n same vorherrschen; das Einzelne was so erscheint, ist durch die G e w a l t des G e meinsamen gebildet und diesem untergeordnet; das Eigenthümliche tritt darin sparsamer und schüchterner hervor. A b e r dasselbe ist auch der C h a r a k t e r der Religiosität, die scheinbar auf einem solchen M o m e n t beruht. D i e bearbeitenden Bekehrer haben gewöhnlich auch nur einen überlieferten Typus, der grade durch seine Beschränktheit a u f wenige kräftige Formeln a m meisten geeignet ist auch stumpfsinnige, sei es nun verhärtete oder vereitelte, G e m ü t h e r zu erschüttern. Dies ist die ihnen e i n w o h n e n d e Kraft; und indem ihre Ansicht einen solchen M o m e n t fordert, so bereitet die beständig wiederholte Forderung denselben wirklich vor. Und daß nun an solchen wiederholten M o m e n t e n , die das H e r v o r brechen der vorbereiteten Erschütterungen sind, und in denen, wenn gleich nur auf eine ganz allgemeine und anfänglich vorübergehende Weise das Bewußtsein * IHte Samml. 9te Pred.

4 f u. 12 Außerordentliches] C: außerordentliches 14 Außerordentliches und Eigenthümliches] C: außerordentliches und eigenthümliches 24 f Gemeinsame] C: gemeinsame 26 Eigenthümliche] C: eigenthümliche 35 wenn gleich] C: wenngleich 37 Predigten, 3. Sammlung, Berlin 1814; die 9. Predigt (vgl. 176 - 204) hat die „Daß der Mensch nur durch die neue Geburt in das Reich Gottes kommt".

Überschrift

306

Über die

Religion

der eignen gänzlichen Nichtigkeit und das der göttlichen Gnade sich gegenseitig steigern und durchdringen, ein religiöses Leben sich allmählig befestigt, welches aber auf das strengste an jenen Typus gebunden und eben deshalb ängstlich besorgt und sparsam ausgestattet ist, das ist der unverkennbare Segen, der auf dieser Methode ruht. Wenn nun diejenigen, die eine solche Geschichte haben, C 439 bescheiden in ihrem Kreise bleiben, so sind sie uns werthe | Genossen; und jemehr auch solche, die im weltlichen Sinne hoch gebildet sind und angesehen, sich im religiösen Gebiet auf dieser Stufe Wohlbefinden, um desto rührender ist die eben so erhebende als demüthigende Erscheinung. Aber alle diese sind hier nicht gemeint, eben weil sich ein eigenthümliches Leben in ihnen nicht entwikkelt; und die M o m e n t e aus welchen ein solches sich erzeugt, und welche hier gemeinet sind, tragen ein ganz anderes Gepräge. Sie entstehen nur in solchen, in denen eine religiöse Richtung schon gegeben ist, nur chaotisch und unbestimmt. Sie haben ihren Grund nicht in der Nachwirkung äußerer Erregungen, sondern vielmehr aus dem sich immer erneuernden Gefühl der Unzulänglichkeit und Unangemessenheit des äußerlich dargebotenen bereiten sie sich vor durch stilles inneres Sinnen und Sehnen, in welchem sich eben aus jenem Negativen das Positive gestaltet, daß das innerste Selbst von dem göttlichen ergriffen und mit die307 sem sich selbst ergreifend mehr oder | minder plözlich hervortritt. Dieses nun

5

10

15

sind die seltenen Erscheinungen, über die aber auch der flüchtigste Beobachter 20 sich nicht so täuschen kann, daß er sie durch einen allgemeinen Namen erschöpfend zu bezeichnen glaubte. 11) S. 2 7 8 . Nicht neue Offenbarungen sind natürlich hier gemeint, welche außerhalb des Umkreises einer gegebenen Religion fielen; vielmehr kann in keiner positiven Religion eine Sehnsucht nach solchen sein, indem auch die Sehn- 25 SW 446 sucht eines jeden natürlich seine eigenthümliche Art und Form an sich tragen muß. Auch die messianischen Hoffnungen der Juden waren keine solche Sehnsucht nach etwas über das Judenthum Hinausgehendem, wenngleich sie hernach durch die weit über dasselbe hinausgehende Erscheinung Christi erfüllt wurden. Und dieses ist wol vornehmlich der eigenthümliche Zusammenhang zwischen 30 diesen beiden Religionsformen. Aber jede Religion hat nach dem M a a ß ihrer Lebendigkeit ein solches Verlangen noch unerkanntes Göttliches in sich selbst zu finden, und eben deshalb ist die geschichtliche Consistenz eines jeden Glaubens, der sich über einen weiten Raum verbreiten und lange Zeiträume ausfüllen C 440 soll, dadurch bedingt, daß er | etwas Normales besize, worauf alles Neue zurük- 35 geführt werden muß. Wo dieses fehlt wird sich auch die Einheit zum Zerfließen hinneigen; wo, ohnerachtet es da ist, dennoch Trennungen entstehen, da werden sich die größten auch immer auf dieses Normale beziehen. Und in diesem Sinne kann man freilich sagen, der Streit zwischen der griechischen und römischen

17 f Negativen das Positive] C: negativen das positive 23 278] C: 397 27 Hoffnungen] C: Hofnungen 28 Hinausgehendem] C: hinausgehendem 32 Göttliches] C: göttliches 35 Normales ... Neue] C: normales ... neue 2 durchdringen] C; durch dringen

Erläuterungen

zur fünften

Rede

307

K i r c h e sei der z w i s c h e n d e m G r u n d t e x t u n d der U e b e r s e z u n g , d e r S t r e i t zwischen der e v a n g e l i s c h e n K i r c h e u n d j e n e n b e i d e n ist d e r z w i s c h e n der S c h r i f t und der U e b e r l i e f e r u n g . 12) E b e n d . A u c h diese Stelle b e d a r f a u s e i n e m ä h n l i c h e n G r u n d e i n e r klei5

nen E r k l ä r u n g , weil es s c h e i n e n k ö n n t e als s o l l t e n die g r o ß e n w e l t g e s c h i c h t l i c h e n R e l i g i o n e n in S c h a t t e n gestellt w e r d e n u n d d a s M e r k w ü r d i g e n u r in k l e i n e r n G e s t a l t u n g e n a u f g e s u c h t . U n d a u f d e m p o l i t i s c h e n G e b i e t e z w a r sind w i r an e t w a s A e h n l i c h e s g e w ö h n t . D e n n viele S t a a t s f o r m e n g r o ß e r V ö l k e r e r s c h e i n e n uns u n b e h o l f e n o d e r u n b e d e u t e n d , w o g e g e n die V e r f a s s u n g e n e i n z e l n e r S t ä d t e

10

mit g e r i n g e m G e b i e t v o n den G e s c h i c h t f o r s c h e r n als M e i s t e r s t ü k k e des p o l i t i schen K u n s t t r i e b e s b e w u n d e r t w e r d e n und d e r G e g e n s t a n d eines sich i m m e r erneuernden S t u d i u m s sind. N i c h t s o a b e r ist es a u f d e m religiösen G e b i e t ; d e n n ein kräftiges religiöses L e b e n , w e n n a u c h d u r c h b e s c h r ä n k t e F o r m e n g e h e m m t , d u r c h b r i c h t d o c h f r ü h e r o d e r s p ä t e r die S c h r a n k e n der V o l k s t h ü m l i c h k e i t , w i e

15

selbst das J u d e n t h u m g e t h a n , u n d n i c h t s E i g e n t h ü m l i c h e s u n d in sich S t a r k e s a u f diesem G e b i e t k a n n i m m e r w ä h r e n d k l e i n b l e i b e n . D i e R e d e a b e r ist h i e r eigentlich v o n d e m w a s i n n e r h a l b der g r o ß e n R e l i g i o n s f o r m e n u n d n a m e n t l i c h des C h r i s t e n t h u m s sich bildet. U n d hier gilt ein g a n z a n d e r e s V e r h ä l t n i ß . G r o ß und weit v e r b r e i t e t w i r d d a s w a s a m l e i c h t e s t e n in die M a s s e e i n d r i n g t , u n d

20

308

dies ist in der R e g e l j e n e E n t f e r n u n g v o n A l l e m , w a s als ein E x t r e m e r s c h e i n t , w e l c h e nur d u r c h ein reges A u f m e r k e n n a c h allen Seiten hin k a n n e r r e i c h t w e r den, also d u r c h eine im G a n z e n g e w i s s e r m a ß e n ä u ß e r l i c h e R i c h t u n g , d u r c h w e l c h e eine i n n e r e und e i g e n t h ü m l i c h e E n t w i k l u n g n i c h t e b e n u n t e r s t ü z t w i r d . D i e s ist der v o r h e r r s c h e n d e C h a r a k t e r dessen i m C h r i s t e n t h u m , w a s w i r im | a l t e n

25

C 441

S i n n e des W o r t e s das k a t h o l i s c h e n e n n e n : u n d da die m e i s t e n h i e r a n h a u p t s ä c h lich d e n k e n , w e n n von d e m C h r i s t e n t h u m , dessen C h a r a k t e r u n d E n t w i k l u n g die R e d e ist: so schien es m i r hier an d e r Stelle, die A u f m e r k s a m k e i t

derer,

w e l c h e w i r k l i c h f o r s c h e n w o l l e n , und in d e n e n irgend ein I n t e r e s s e für d a s R e l i giöse e r w a c h t ist, v o n d e m w a s sich als g r o ß a u f d r i n g t a b z u l e n k e n u n d sie viel30

m e h r a u f d a s K l e i n e r e h i n z u l e i t e n . W e n i g e r a b e r a u f die h ä r e t i s c h e n P a r t h e i e n , w e l c h e b e s t i m m t e E i n s e i t i g k e i t e n b e z e i c h n e n , als v i e l m e h r a u f d i e j e n i g e n E i n z e l nen in der g r ö ß e r e n K i r c h e , w e l c h e n es n i c h t gelingen k o n n t e , sich in d e r M i t t e l m ä ß i g k e i t , o d e r w e n n m a n es lieber so b e z e i c h n e n will, in d e r v o r s i c h t i g e n H a l tung zu b e w a h r e n , mit der allein der E i n z e l n e sich eine g l ä n z e n d e S t e l l u n g u n t e r

35

den k a t h o l i s c h e n für i m m e r e r h a l t e n k o n n t e , s o n d e r n die ihre i n n e r e F r e i h e i t v o r z o g e n , und e b e n d e s h a l b sich die V e r b o r g e n h e i t n i c h t v e r d r i e ß e n l i e ß e n .

4 Ebend.] C: S. 399. 6 Merkwürdige] C: merkwürdige 8 Aehnliches] C: ähnliches 15 Eigenthümliches ... Starkes] C: eigenthümliches ... starkes 16 aber ist hier] C: ist hier aber 2 0 Allem] C: allem 28—30 Religiöse ... Kleinere] C: religiöse ... kleinere 22 äußerliche] C: äußer/iche samkeit,

27 Stelle, die Aufmerksamkeit] C: Stelle die Aufmerk-

SW 447

308

Über die Religion

13) S. 2 8 1 . Ernsthaft ist das nie meine Meinung gewesen, daß die Sittenlehre überall eine und dieselbe sein solle. Hier aber genügte es mir auf das hierüber allgemein A n g e n o m m e n e mich zu berufen. M i r nämlich scheint, als o b die M o r a l nicht überall dieselbe sein k ö n n e ; wie auch alle Z e i t e n beweisen, daß sie nie überall dieselbe gewesen ist. D e n n ihre Form ist wesentlich speculativ, und kann nicht eher überall dieselbe sein, bis die Speculation überhaupt überall dieselbe geworden ist, wozu eben wegen der großen Fruchtbarkeit der lezten J a h r hunderte an allgemeingültiger Philosophie noch gar kein Anschein sich zeigen will. D a n n aber auch ihr Inhalt kann nicht überall derselbe sein; denn wenngleich jeder der eine Sittenlehre darstellt, von der reinen Menschheit ausgeht, so sieht er doch diese nur durch das M e d i u m seines Zeitalters und seiner Volkst ü m l i c h k e i t . D a h e r jede allgemeingeltende Sittenlehre nur das Allgemeinste und auch dieses nur in solchen Formeln enthalten k ö n n t e , denen sich verschiedene Werthe unterlegen lassen: so daß die allgemeine Geltung i m m e r mehr scheinbar sein würde als wahr. D e m o h n e r a c h t e t hat es mit dem hier aufgestellten Saz desh a l b seine Richtigkeit, weil der M a a ß s t a b dieser Verschiedenheiten nicht derselbe ist für die Sittenlehre | und für die Religion. D e n n jene fängt immer an mit der Unterordnung des Einzelnen und also auch des Eigenthümlichen unter ein G e m e i n s a m e s , und nur durch diese Unterordnung gewinnt das Eigenthümliche ein R e c h t sich auch geltend zu m a c h e n : so d a ß wenn es auch allerdings möglich 309 ist, ein eben so richtiges ja genau g e n o m m e n | dasselbe System der Sittenlehre a u f die entgegengesezte Voraussezung zu bauen, eine solche Sittenlehre doch das allgemeine Gefühl nicht würde überwinden und sich irgend geltend machen k ö n n e n . A u f dem Gebiet der Religion hingegen geht Alles von dem einzelnen Leben j e eigenthümlicher desto kräftiger aus, und alles G e m e i n s a m e entsteht erst aus der bemerkten Verwandtschaft und Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t . D a r u m können sich Viele, die ihrer verborgnen Verschiedenheiten noch nicht inne geworden sind, zu Einer Religionsweise halten, aber zu einer und derselben Sittenlehre auch Viele, die sich ihrer Verschiedenheit bewußt sind, nur daß ihre Auffassung der menschlichen Verhältnisse dieselbe sein muß; wogegen grade hierüber unter denen, die sich zu derselben Religionsweise bekennen, so bedeutende Differenzen stattfinden k ö n n e n , d a ß ihnen nicht möglich ist, auch ihre Sittenlehre gemein zu haben.

5

10

15

C 442

14) S. 2 9 0 . Nichts verräth wol weniger Sinn für das Wesen des Christenthums sowol, und für die Person Christi selbst, als auch überhaupt historischen Sinn und Verstand davon, wodurch g r o ß e Ereignisse zu Stande k o m m e n , und wie diejenigen müssen beschaffen sein, in denen solche ihren wirklichen G r u n d

1 281] C: 402 3 Angenommene] C: angenommene 12 Allgemeinste] C: allgemeinste 1 8 f Eigenthümlichen ... Gemeinsames ... Eigenthümliche] C: eigenthümlichen ... gemeinsames ... eigenthümliche 24£ Alles ... Gemeinsame] C: alles ... gemeinsame 26 Verwandtschaft] C: Verwandschaft 27 u. 29 Viele] C: viele 34 290] C: 416 6 eher] C: ehrr

8 allgemeingültiger] C: allgemeinz/gültiger

20

25

30

35

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

zur fünften

Rede

309

h a b e n , als die Ansicht, welche sonst etwas leise a u f t r a t mit der B e h a u p t u n g , Johannes h a b e den Reden Christi viel Fremdes beigemischt von seinem eignen; SW 448 jezt aber, n a c h d e m sie sich in der Stille gestärkt u n d sich mit kritischen Waffen versehen hat, eine derbere B e h a u p t u n g wagt, d a ß J o h a n n e s das Evangelium gar nicht geschrieben, sondern d a ß erst ein Späterer diesen mystischen Christus erf u n d e n . Wie aber ein jüdischer Rabbi mit menschenfreundlichen Gesinnungen, etwas sokratischer M o r a l , einigen Wundern, oder w a s wenigstens A n d r e d a f ü r n a h m e n , u n d d e m Talent artige G n o m e n und Parabeln | vorzutragen, denn wei- C 443 ter bleibt doch nichts übrig, ja einige Thorheiten w i r d m a n ihm nach den a n d e r n Evangelisten immer auch noch zu verzeihen h a b e n , wie sage ich, einer der so gewesen, eine solche W i r k u n g wie eine neue Religion u n d Kirche h a b e hervorbringen k ö n n e n , ein M a n n der w e n n er so gewesen, d e m Moses u n d M o h a m m e d nicht das Wasser gereicht: dieß zu begreifen überläßt m a n uns selbst. D o c h dies m u ß auf eine gelehrtere Weise ausgefochten werden, w o z u sich auch gewiß die Freunde und Verehrer des Johanneischen Gottessohnes schon rüsten. — Wenn ich aber von dieser W e h m u t h des Christen, w o z u uns übrigens in Christo auch die andern Evangelisten, sobald wir sie durch J o h a n n e s recht verstehen gelernt, die Züge liefern, etwas weiter oben gesagt habe, d a ß sie in d e m Stolz wie in der D e m u t h des Christen der G r u n d t o n sei: so scheint es, wenngleich m a n ziemlich d a r ü b e r einig ist, d a ß es auch e t w a s Untadliges gebe, was sich d u r c h den Ausd r u k Stolz bezeichnen lasse, d o c h etwas gewagt, dieses als einen christlichen G e m ü t h s z u s t a n d zu bezeichnen, da der christlichen G e s i n n u n g die D e m u t h so wesentlich u n d so in | ihr d o m i n i r e n d ist, d a ß etwas d e m Stolz Aehnliches auf 310 diesem Gebiet gar nicht a u f k o m m e n zu k ö n n e n scheint, wenngleich wir es in dem der bürgerlichen Sittlichkeit gar nicht tadeln w ü r d e n . Ich will mich n u n nicht damit bedekken, d a ß ich auch Furcht und Liebe hier nebeneinander gestellt, da doch die Liebe das Kennzeichen der Christen ist, u n d die völlige Liebe die Furcht austreibt; w o r a u s eben folgt, d a ß mir ein menschlicher d. h. unvollk o m m n e r Z u s t a n d vorgeschwebt. Sondern mein Sinn w a r dieser, d a ß w e n n m a n in dem Christen unterscheidet sein persönliches Selbstgefühl, mit welchem er sich auch Christo gegenüberstellt, von demjenigen Selbstgefühl, welches er in der Gemeinschaft mit Christo h a t , jenes immer, auch wenn der göttliche Geist des Guten schon viel in ihm gewirkt hat, doch nie ein anderes sein k a n n als

2 Fremdes] C: fremdes 5 Späterer] C: späterer 13 dieß] C: dies 20 Untadliges] C: untadliges 23 Aehnliches] C: ähnliches 28 f unvollkommner] C: unvollkomner 1 f Vgl. SW 1/8,316 4 - 6 Vgl. Karl Gottlieb Bretschneider: Probabilia de Evangelii et Epistolarum Joannis, Apostoli, indole et origine eruditorum judiciis modeste subjecit, Leipzig 1820. Vielleicht denkt Schleiermacher auch an Hermann Heimart Cludius: Uransiebten des Christenthums, Altona 1808 und an [Erhard Friedrich Vogel:] Der Evangelist Johannes und seine Ausleger vor dem jüngsten Gericht, Bd. 1—2, o. O. [Hof] 1801 — 1804; beide Werke erwarb Schleiermacher im November 1820 wohl für seine im Wintersemester 1820/21 gehaltene Vorlesung „Das Evangelium Johannis". 18 Vgl. 290,16-22 27 f 1 Job 4,18

310

C 444

Über die

Religion

D e m u t h . D a s leztere aber, welches in der Z u e i g n u n g aller Vollkommenheiten Christi besteht, m u ß jenem entgegengesezt sein, und so weiß ich keine andere Bezeichnung, welche den Gegensaz stärker ausdrükke; und um | eben dieses G e f ü h l nachzuweisen, brauche ich nur alle Verherrlichungen der christlichen Kirc h e in unseren neutestamentarischen Büchern in Erinnerung zu bringen. D a ß aber auch in diesem Stolz die Wehmuth sei über den immer noch beschränkten U m f a n g , in welchem die G e m e i n s c h a f t mit C h r i s t o wirklich empfunden wird, ergiebt sich wol von selbst.

5

15) S. 2 9 3 . Es ist immer etwas Gefährliches, zumal, wie hier die Meinung ist, den Ungläubigen gegenüber, den G l a u b e n an Christum auf irgend etwas 10 Einzelnes in ihm gleichsam zu stüzen. D e n n nur zu leicht läßt sich dem Einzelnen etwas scheinbar Aehnliches gegenüberstellen, dessen innere und wesentliche VerSW 449 schiedenheit von j e n e m nicht leicht ist aufzudekken. So ist m a n c h e r Schwärmer, der mehr von sich hielt als er war, a u f diesen G l a u b e n gestorben; und wie oft ist nicht ein Irrthum auf G e f a h r des Lebens mit der festesten Ueberzeugung 15 vertheidigt w o r d e n . Allein ein solches Einwurzeln des Irrthums, wenn nicht doch der eigentliche Gegenstand des Glaubens die Wahrheit ist, an die der Irrthum sich angesezt hat, beruht nur auf einer Idiosynkrasie, welche sich nicht weit verbreiten k a n n . Von diesem Selbstbewußtsein Christi aber ist der Glaube der ganzen S c h a a r seiner Jünger und die Freudigkeit aller M ä r t y r e r dieses Glaubens 20 der Abglanz; und eine solche Kraft hat wol nie die Selbsttäuschung einer einzelnen Seele ausgeübt. Dazu n e h m e m a n , d a ß es bei diesem B e k e n n t n i ß nicht blos a u f innere Erscheinungen des Bewußtseins a n k a m , über welche sich der Mensch leichter täuschen m a g , auch nicht außerdem auf eine Aussicht in sehr ferne Z u k u n f t , w o der Fantasie ein ganz freies Spiel eröffnet ist: sondern d a ß Christus 25 glauben m u ß t e , unter den ungünstigen U m s t ä n d e n , welche vor Augen lagen und leicht zu überschauen waren, werde sich unmittelbar die göttliche Kraft dieses fortwirkenden Bewußtseins bewähren. D o c h i m m e r bleibt sowol die Rechtferti311 gung des G l a u b e n s aus dem | Einzelnen unvollständig, als auch der Versuch ihn C 445

durch das Einzelne in Andern zu begründen, gewagt. | 16) E b e n d . D e r Schluß dieser Darstellung, d a ß nämlich Christus aller Vermittlung M i t t e l p u n k t sei, soll w o l alles Einzelne in derselben gehörig zusammenknüpfen und das scheinbar Unbefriedigende ergänzen. Indeß wünsche ich doch, der Leser m ö g e nicht übersehen, daß ich den Gegenstand grade so behandelt

9 293] C: 419 9 Gefährliches] C: gefährliches 11 f Einzelnen ... Aehnliches] C einzelnen ... ähnliches 25 eröffnet] C: eröfnet 2 9 f Einzelnen ... Einzelne] C einzelnen ... einzelne 31 Ebend.] C: S. 421. 3 2 f Einzelne ... Unbefriedigende] C einzelne ... unbefriedigende 5 neutestamentarischen] C: Neutestamentaschen 10 gegenüber,] C: gegenüber. 27 zu] C: u 2 9 f Einzelnen ... Einzelne] C: ein/einen ... inzelne 3 2 f zusammenknüpfen] C: zusammenkuüpfen

30

Erläuterungen

5

10

15

20

25

30

zur fünften

Rede

311

habe, um recht bemerklich zu m a c h e n , wie auch wenn m a n den Unterschied, der damals als eine g r o ß e E n t d e k k u n g viel G l ü c k m a c h t e , nämlich zwischen der Lehre Christi und der Lehre von C h r i s t o , etwas gelten lasse, m a n doch die Idee der Vermittlung auf alle Weise zur Lehre Christi rechnen müsse, und unsere Lehre von Christo nichts anderes sei als die vom G l a u b e n zuerst gestaltete hernach aber von der G e s c h i c h t e versiegelte Bestätigung und A n w e n d u n g jener Lehre Christi. Und wenn ich seine Schule von der Religion trenne: so ist dies, wie der Schluß ganz deutlich bezeugt, doch nur eine verschiedene B e t r a c h t u n g derselben Sache aus verschiedenen Gesichtspunkten. D e n n aus der Idee der E r l ö sung und der Vermittlung das C e n t r u m der Religion bilden, das ist die Religion Christi; sofern aber die Beziehung dieser Idee auf seine Person zugleich etwas Geschichtliches ist, und die ganze geschichtliche Existenz der Lehre sowol als der Gesellschaft d a r a u f beruht, so nenne ich diese geschichtliche Seite, wie j a hiezu der Ausdruk allgemein gestempelt ist, die Schule. D a ß nun diese für Christum nur das zweite war, jene aber das erste, leuchtet aus dem hier Angeführten, so wie auch daraus hervor, daß zuerst das Reich G o t t e s und der K o m m e n d e verkündigt wurde und hernach erst er als der G e k o m m e n e . — Wenn aber etwas weiter oben nur gesagt ist, Christus sei Mittler geworden für Viele: so erinnere man sich, d a ß Christus selbst einmal sagt, E r lasse sein Leben zum Lösegeld für Viele, und m a c h e aus meinen Worten keinen particularistischen S c h l u ß , wenigstens nicht anders als nach meiner schon anderwärts dargelegten Ansicht, n a c h welcher die wirklich erfahrne Beziehung der M e n s c h e n a u f Christum immer et- SW 450 was Beschränktes ist, und auch bleiben wird, selbst wenn das Christenthum sich über die ganze Erde verbreitet, wogegen ich eine rein innere und mysteriöse Beziehung Christi | a u f die menschliche Natur überhaupt anerkenne, welche C 446 schlechthin allgemein ist und unbegränzt. 17) S. 2 9 4 . Was hier von der Schrift gesagt ist, werden vielleicht M a n c h e von unserer Kirche katholisch finden wegen der A n n ä h e r u n g dessen, was sich in der Kirche erzeugt, an die Schrift, die Katholischen aber hyperprotestantisch, weil hier nicht nur die Constitution der Schrift durch die K i r c h e nicht a n e r k a n n t , sondern auch der U m f a n g der Schrift selbst für noch nicht abgeschlossen erklärt

2 Glück] C: Glük 7 der Religion] C: seiner Religion 7 dies,] C: dies 12 Geschichtliches] C: geschichtliches 15 Angeführten] C: angeführten 17 Gekommene] C: gekommene 23 Beschränktes] C: beschränktes 27 294] C: 422 29 Katholischen] C: katholischen 30 nicht nur] C: uicht nur 2 f Angestoßen durch die historischen Untersuchungen der deutschen Neologen wurde im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verschiedentlich (z. B. von Lessing, Herder) der Unterschied zwischen den biblisch bezeugten eigenen Lehraussagen Christi und den dogmatischkirchlichen Lehrsätzen über Person und Werk Christi betont. 17 f Vgl. 292,23 19 f Vgl. Mt 20,28 21 Anspielung vermutlich auf Ueber die Lehre von der Erwählung, in: Theologische Zeitschrift, H.l, Berlin 1819, S. 1-118, besonders 103-109; KGA 1/10,147-222, besonders 212,19-216,22

312

Über die

Religion

wird. D a s Leztere ist bloß versuchsweise gesagt, und um dadurch das Aeußere 312 der S a c h e desto schärfer von dem Inneren zu trennen. D e n n | wenn sich jezt noch ein Buch vorfinden könnte von einem Verfasser wie M a r k u s oder Lukas oder J u d a s mit allen Kennzeichen der Aechtheit: so würden wir zwar schwerlich wol dahin k o m m e n , es einstimmig in den Kanon aufzunehmen; aber seine normale biblische Kraft würde es doch äußern, wenn es eine solche in sich trüge und also doch Bibel sein der T h a t nach. D a ß aber eben diese Kraft der Bestimmungsgrund gewesen ist für die kirchliche Praxis, durch welche der Kanon eher festgestellt w a r als durch einen kirchlichen Ausspruch, der jene nur bestätigen k o n n t e , ist wol gewiß. Wie unmerklich aber der Uebergang ist aus dem Kanonisehen sogar in das Apokryphische, und wie stark und erfreulich die Annäherung vieles Kirchlichen, sehe man nun auf Kraft oder Reinheit, an das Kanonische, das wird auch wol kein erfahrner und geschichtliebender Protestant abläugnen. 18) S. 298. Was etwa ein vergleichender Leser in der vorigen Ausgabe an dieser Stelle vermißt, ist doch nicht ein Z u s a z , den ich jezt erst gemacht hätte; sondern er w a r schon für die zweite Ausgabe bestimmt, ich h a b e ihn aber dort wieder gestrichen, weil er mir zu herausfordernd schien. J e z t da diese Zeiten vorbei sind, kann er da stehn als ein D e n k m a l des E i n d r u c k s , welchen es auf mich wie gewiß a u f Viele machte, daß die Uebersättigung an dem unverstandenen Christenthum sich damals nicht nur bei Vielen als die Irreligiosität ankündigte die hier bestritten wird — denn das gereicht n o c h dem Christenthum zur C 447 E h r e , d a ß sie glaubten, wenn es mit dem Christenthum nichts sei, so | müsse es auch mit der Religion überhaupt nichts sein — sondern auch bei nicht wenigen theils als ein Bestreben, der natürlichen Religion eine äußere Existenz zu verschaffen, was sich schon in England und Frankreich als ein leeres Unternehmen gezeigt hat, theils in einem neuerungssüchtigen Kizel Solcher, die von einem symbolisirten oder gnostisirten H e i d e n t h u m , von einer R ü k k e h r zu alten M y t h o logemen als von einem neuen Heile träumten und sich freuten den schwärmerischen Christus von dem heiter nüchternen Zeus überwunden zu sehen.

l f Leztere ... Aeußere ... Inneren] C: leztere ... äußere ... inneren 10—12 Kanonischen ... Apokryphische ... Kirchlichen ... Kanonische] C: kanonischen ... apokryphische ... kirchlichen ... kanonische 14 298] C: 427 18 Eindrucks] C: Eindruks 24 Bestreben,] C: Bestreben 2 6 f Solcher ... Heidenthum,] C: solcher ... Heidenthum 10 Kanonischen] C: kano /nischen 14—17 Vgl. den Variantenapparat

29 träumten] D: räumten zu 297,20 f

5

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20

25

Nachrede.

Laßt mich, ehe ich ganz von Euch scheide, über den Schluß meiner Rede noch ein Paar Worte an Euch verlieren. Vielleicht meint Ihr nämlich, es wäre besser gewesen ihn jezt nach mehreren J a h r e n zu unterdrükken; denn es zeigte sich ja deutlich, wie ich mit Unrecht dieses als einen Beweis von der Kraft der religiösen Gesinnung angeführt hätte, daß sie jezt eben im Hervorbringen neuer Formen begriffen sei, und wie ich mit Unrecht mir angemaßt Ahnungen zu haben von dem was sie hervorbrächte, indem überall nichts dergleichen erfolgt wäre. Wenn Ihr dies meint, so habt Ihr wol vergessen, daß die Weissagung der erste Vorläufer der Zukunft ist, und nur inwiefern sie dies ist ihren Namen wirklich verdient; sie ist eine Andeutung des Künftigen, worin dieses selbst schon enthalten ist, aber nur für den dem Weissagenden selbst am nächsten stehenden Sinn | bemerkbar. J e umfassender also und größer das Geweissagte ist, und je mehr die Weissagung selbst im ächten hohen Styl, um desto weniger darf sie der Erfüllung nahe stehn; sondern wie nur in weiter Ferne die untergehende Sonne aus dem Schatten großer Gegenstände große magische Gestalten bildet am grauen Osten, so stellt auch die Weissagung ihre aus Vergangenheit und Gegenwart gebildeten Gestalten der Zukunft nur in weiter Ferne auf. D a r u m sollte, was ich in diesem Sinne gesagt habe, keinesweges ein Zeichen etwa für Euch sein um die Wahrheit meiner Rede daran zu prüfen, die Euch vielmehr aus sich selbst klar werden muß; | und weissagen würde ich nicht gewollt haben in meinen Reden an Euch, gesezt auch, daß mir die G a b e nicht fehlte, weil es mir nichts gefruchtet hätte Euch in eine weite Ferne hinaus zu verweisen. Sondern in der N ä h e und unmittelbar wollte ich nichts weiter mit jenen Worten, als theils nur Einige Andere, nicht Euch, halb-

1 N a c h r e d e ] B: Zusaz. 2 mich,] B: mich 3 Paar] B + C: paar 3 f nämlich,] B: nemlich 7 f wie ... angemaßt] B: mit Unrecht mir angemaaßt hätte 10 meint,] B: meint 12 Künftigen,] Β: Künftigen 21 habe,] B: habe 23 muß;] B: muß. 23—26 und weissagen ... verweisen.] fehlt in Β 27 weiter mit jenen Worten] B: anders damit 10 der erste] B: der-/erste

11 ist ihren] C + D: in ihren

313; Β 363; C 448; SW 4SI

Β 364 C449

SW 452 314

314

Über die Religion

spottend, wenn sie es verstanden h a b e n , auffordern, o b sie wol das leisten k ö n n t e n , dessen sie sich zu vermessen scheinen; theils hoffte ich von E u c h , Ihr solltet aufgeregt werden dadurch den G a n g der Erfüllung selbst zu verzeichnen, und dann w a r ich sicher, Ihr würdet schon finden, was auch ich E u c h gern zeigen wollte, d a ß Ihr in eben der Gestalt der Religion, welche Ihr so oft verachtet, im C h r i s t e n t h u m , mit E u r e m ganzen W i s s e n , T h u n und Sein so eingewurzelt seid, d a ß Ihr gar nicht heraus Β 365 k ö n n t , und d a ß Ihr | vergeblich versucht E u c h seine Z e r s t ö r u n g vorzuC 450 stellen, o h n e zugleich die V e r n i c h t u n g dessen, was E u c h das Liebste und Heiligste in der Welt ist, Eurer g e s a m m t e n Bildung und Art zu sein, ja Eurer Kunst und Wissenschaft mit zu beschließen. W o r a u s Euch dann gefolgt w ä r e , d a ß so lange unser Z e i t a l t e r w ä h r t , a u c h aus ihm und dem G e b i e t e des Christenthums selbst nichts ausgehen k ö n n e , was das leztere beeinträchtige, sondern dieses aus allem Streit und K a m p f i m m e r nur erneuert und verherrlicht hervorgehen müsse. Dies hatte ich für E u c h vorzüglich gemeint, und Ihr seht also w o l , d a ß ich nicht im Sinn haben k o n n t e mich anzuschließen an einige Aeußerungen trefflicher und erhabener M ä n n e r , welche Ihr so verstanden h a b t , als wollten sie das Heid e n t h u m der alten Z e i t zurükführen, oder gar eine neue M y t h o l o g i e und durch sie eine neue Religion willkürlich erschaffen. Vielmehr mögt Ihr, nach m e i n e m Sinne, auch daraus, wie nichtig und erfolglos Alles i m m e r sein wird, was sich an ein solches Bestreben a n h ä n g t , die G e w a l t des C h r i s t e n t h u m s erkennen.

5

10

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SW 453 A m allermeisten aber thut w ö l N o t h , über das, was ich von den 315 Schiksalen des leztern selbst gesagt, mich zu v e r s t ä n d i g e n . Indessen frei- 25 lieh meine Ansicht hiervon E u c h zu begründen und zu erweisen, oder Β 366 auch nur hinreichend anzudeuten | w o r a u f sie beruht, dazu ist hier nicht der O r t ; sondern er wird sich, wenn eine solche Erläuterung f o r t f ä h r t n o t h w e n d i g zu sein, anderwärts finden müssen. H i e r aber und jezt will C 451 ich nur | ganz einfach sagen, wie ich es meine, d a m i t Ihr mich nicht e t w a , 30 nach der üblichen Art Alles a u f Schulen und Partheien zurükzuführen, Anderen beigesellt, mit denen ich hierin wenigstens nichts gemein h a b e . Seitdem das Christenthum besteht, hat fast i m m e r irgend ein stark hervortretender Gegensaz innerhalb desselben bestanden. Dieser hat je-

2 könnten,] B: könnten 4 schon] B: selbst 6 Religion,] B: Religion B: dessen 10 zu sein] B: des Daseins 21 Alles] B + C: alles 2 4 f das, B: das ... gesagt 28 Ort;] B: Ort, 31 der ... zurükzuführen] B: Eurer von Schulen und Partheien zu sprechen 31 Alles] C: alles 33 besteht,] 6 Eurem] B + C: eurem

10 Eurer] B + C: eurer

9 dessen,] ... gesagt,] Art immer B: besteht

Nachrede

5

10

15

20

25

30

315

desmal, wie es sich gebührt, A n f a n g , M i t t e und E n d e g e h a b t ; n ä m l i c h das Entgegenstehende h a t sich erst allmählig von einander gesondert, die Trennung hat d a r a u f ihren höchsten Gipfel erreicht, und dann wieder allmählig a b g e n o m m e n bis der ganze Gegensaz in einem a n d e r n , der sich w ä h r e n d dieser A b n a h m e zu entwikkeln angefangen h a t t e , endlich völlig verschwunden ist. W i e nun an einem solchen Faden die ganze G e s c h i c h t e des C h r i s t e n t h u m s a b l ä u f t , so bilden jezt im christlichen A b e n d l a n d e Protestantisches und Katholisches den herrschenden G e g e n s a z , in deren jedem die Idee des Christenthums auf eine eigenthümliche Weise ausgesprachen ist, so d a ß nur durch das Z u s a m m e n s e i n beider jezt die geschichtliche Erscheinung des Christenthums der | Idee desselben entsprechen k a n n . D i e s e r G e g e n s a z nun sage ich ist jezt in der O r d n u n g und besteht; und wenn ich E u c h die Z e i c h e n der Z e i t deuten sollte so w ü r d e ich sagen, er w ä r e jezt eben daran sich ruhig zu fixiren, keinesweges aber etwa schon merklich in der A b s p a n n u n g und im V e r s c h w i n d e n 1 . | D a r u m nun sei allerdings N i e m a n d sorglos, sondern J e d e r besinne sich, und sehe zu a u f welche Seite er gehöre mit seinem C h r i s t e n t h u m , und in welcher K i r c h e er ein religiöses miterbauendes L e b e n führen k ö n n e : und wer einer gesunden tüchtigen N a t u r sich erfreut und dieser a u c h f o l g t 2 , der wird sicher nicht irre gehen. N u n a b e r giebt es Einige, ich rede nicht von Solchen | die in sich selbst gar nichts sind, die sich von G l a n z und S c h i m m e r blenden lassen wie Kinder, o d e r von M ö n c h e n beschwazen, a b e r es giebt Einige die gar wol etwas sind, und a u f die ich auch sonst schon gedeutet habe, treffliche und e h r e n w e r t h e D i c h t e r und Künstler, und wer w e i ß was für eine S c h a a r von A n h ä n g e r n , wie es heut zu T a g e geht, ihnen n a c h f o l g t , welche sich aus der protestantischen zu retten scheinen in die katholische Kirche, weil in dieser allein die Religion wäre, in jener aber nur die Irreligiosität, die aus dem C h r i s t e n t h u m selbst gleichsam h e r v o r w a c h s e n d e G o t t l o s i g k e i t . D e r j e n i g e nun sei mir ehrenwerth, der indem er | einen solchen U e b e r g a n g w a g t , nur seiner N a t u r zu folgen bezeugt, als welche nur in dieser, nicht aber in jener Form des C h r i s t e n t h u m s einheimisch w ä r e ; a b e r ein S o l c h e r wird a u c h

l f Anfang, ... Entgegenstehende] B + C: Anfang ... entgegenstehende 5 hatte] B: hat 7 Christenthums] B: Christenthumes 7 im christlichen Abendlande] fehlt in Β 13f sollte ... sagen,] B: sollte, ... sagen 16 Niemand] B + C: niemand 18 könne:] B: könne; 21 Solchen] Β + C: solchen 21 in sich seihst gar] fehlt in Β 29 selbst gleichsam] B; gleichsam selbst 30 wagt,] B: wagt 32 Solcher] B + C: solcher 15 Verschwinden] C: Verschw in den 13 Vgl. Mt 16,3

Β 367

C 452

sw 454 316

Β 368

316

C 453

Β 369; SW 455 317

C 454

Β 370

Über die Religion

Spuren dieser natürlichen Beschaffenheit in seinem ganzen Leben aufzeigen, und nachweisen k ö n n e n , d a ß er durch seine T h a t nur äußerlich vollendet h a b e , was innerlich und unwillkürlich schon i m m e r und streng g e n o m m e n gleichzeitig mit ihm selbst vorhanden gewesen. | A u c h der sei mir, w o nicht ehrenwerth doch zu bedauern und zu entschuldigen, welcher, wie der Instinkt der K r a n k e n bisweilen z w a r bewundernswürdig glücklich ist, dann aber auch wieder gefährlich, denselben Schritt thut o f f e n b a r in einem Z u s t a n d e der Beängstigung und S c h w ä c h e , eingeständlich weil er für ein irre gewordenes G e f ü h l einer äußeren Stüzze bedarf, oder einiger Z a u b e r s p r ü c h e u m b e k l o m m e n e Bangigkeit zu beschwichtigen und böses H a u p t w e h ; oder weil er eine A t m o s p h ä r e sucht, worin s c h w ä c h l i c h e O r g a n e sich besser befinden, weil sie weniger lebendig ist und also auch weniger erregend; wie m a n c h e K r a n k e statt der freien Bergluft lieber die thierischen Ausdünstungen suchen müssen. J e n e aber, welche ich jetzt bezeichne, sind mir weder das eine noch das andere, sondern nur verwerflich erscheinen sie mir; denn sie wissen nicht was sie wol|len n o c h was sie thun. O d e r ist das e t w a eine verständige R e d e , die sie führen? Strahlt wol irgend einem unverdorbenen Sinne aus den H e r o e n der | R e f o r m a t i o n die G o t t l o s i g k e i t entgegen, oder nicht vielmehr j e d e m eine w a h r h a f t christliche F r ö m m i g k e i t ? O d e r ist wirklich L e o der zehnte f r ö m m e r als Luther, und L o j o l a s Enthusiasmus heiliger als Zinzendorfs? Und wohin stellen wir die g r ö ß t e n Erscheinungen der neueren Z e i t in jedem G e b i e t e der W i s s e n s c h a f t , w e n n der Protestantismus die G o t t l o s i g k e i t ist und die Hölle? J e n e aber, so wie der Protestantismus ihnen nur | Irreligion ist, so lieben sie auch an der römischen K i r c h e keinesweges ihr e i g e n t ü m l i c h e s Wesen, sondern nur ihr Verderben, zum deutlichen Beweise d a ß sie nicht wissen was sie wollen. D e n n beherziget nur dieses rein geschichtlich, d a ß d o c h das Pabstthum keinesweges das Wesen der katholischen K i r c h e ist, sondern nur ihr Verderb e n 3 . Und eben dieses suchen und lieben jene eigentlich; den G ö z e n dienst, mit welchem leider auch die protestantische K i r c h e , wiewol unter weniger prachtvollen und also auch weniger verführerischen Formen zu k ä m p f e n h a t , und der ihnen eben hier nicht derb und nicht kolossalisch genug ist, den suchen sie eigentlich a u f jenseits der Alpen. Denn was w ä r e sonst ein G ö z e , ein Idol, als wenn was mit H ä n d e n gemacht | werden k a n n und betastet und mit H ä n d e n z e r b r o c h e n , eben in dieser

3 habe,] B: habe 3 f streng genommen] fehlt in Β 7 glücklich] B + C: glüklich 7 denselben Schritt] B: dasselbe 16 mir;] B: mir, 18 irgend] fehlt in Β 19 f nicht vielmehr jedem eine] B: die 23 Wissenschaft,] B: Wissenschaft 4 gewesen.] C: gewesen

5

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15

20

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Nachrede

5

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25

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317

Hinfälligkeit und Gebrechlichkeit thörichter und verkehrter Weise aufgestellt wird, um das Ewige nicht etwa an seinem Theil und nach Maaßgabe der ihm einwohnenden Kraft und Schönheit lebendig darzustellen, sondern als ob es als ein Zeitliches, und oft mit der größten Ideenlosigkeit und Verkehrtheit Behaftetes, das Ewige zugleich sein könne, daß sie auch das mit Händen betasten mögen, und Jedem zuwägen und zumessen willkürlich und magisch. Diese Superstition in Kirche und Priesterthum, Sakrament, Sündenvergebung und Seligkeit ist das Vortreffliche was sie suchen. Sie werden aber nichts | damit schaffen, denn es ist ein verkehrtes Wesen, und wird sich auch in ihnen offenbaren durch vermehrte Verkehrtheit, indem sie sich aus der gemeinsamen Sphäre der Bildung hinausstürzen in ein leeres nichtiges Treiben, und auch das Theil von Kunst das ihnen Gott verliehen, | in Eitelkeit verkehren. Dies ist, wenn Ihr wollt, eine Weissagung, deren Erfüllung nahe genug liegt, daß Ihr sie erwarten könnt. Und nun noch eine von anderer Art, und möchtet Ihr deren Erfüllung auch gewahr werden, wie ich hoffe. Sie geht auf das zweite was ich eben sagte, daß nämlich der Gegensaz dieser | beiden Partheien ein noch bestehender sei, und auch noch bleiben müsse. Es könnte sein daß die römische Kirche, wenn auch nicht überall und Alles doch einen großen Theil ihres Verderbens von sich thäte auch äußerlich, wie es unstreitig Viele in ihr giebt, die es von sich gethan haben innerlich. Dann können Verführer kommen, die Mächtigen drohend, die Schwachen vielleicht gar Wolmeinenden schmeichelnd, und den Protestanten zureden, doch nun, wie denn Viele jenes Verderben für den einzigen Grund der Trennung halten, wieder zurükzutreten in die Eine untheilbare ursprüngliche Kirche. Auch das ist ein thörichter und verkehrter Rathschlag! er mag Viele lokken oder einschrekken; aber wird nicht durchgeführt werden, denn die Aufhebung dieses Gegensazes wäre jezt der Untergang des Christenthums, weil seine Stunde | noch nicht gekommen ist. J a ich möchte herausfordern den Mächtigsten der Erde ob er dieses nicht auch etwa durchsezen wolle, wie ihm Alles ein Spiel ist, und ich möchte ihm dazu

1 thörichter] C: thörigter 4 f als ob ... könne] B: um als ein Zeitliches, und oft mit der größten Ideenlosigkeit und Verkehrtheit, das Ewige zugleich zu sein 5 Behaftetes] C: behaftetes 13 verliehen,] B + C: verliehen 13 f ist, ... wollt, eine Weissagung,] B: ist ... wollt eine Weissagung 18 Partheien] B + C: Parteien 22 Viele] B + C: viele 2 4 f Wolmeinenden ... Viele] B + C: wolmeinenden ... viele 26 zurükzutreten] B: zurückzutreten 28 Viele] B + C: viele 28 wird] B: er wird 32 wolle,] B: wolle 30 Vgl. Joh 2,4

31 Anspielung auf Napoleon

(vgl. auch Briefe

2,79.83)

c 455 sw 456 318

Β 371

c 456

318

Über die

Religion

e i n r ä u m e n alle K r a f t und alle L i s t ; a b e r ich w e i s s a g e i h m , es w i r d i h m m i ß l i n g e n , und er wird m i t S c h a n d e n bestehen. D e n n D e u t s c h l a n d ist i m m e r n o c h d a , und seine u n s i c h t b a r e K r a f t ist u n g e s c h w ä c h t , und zu Β 372 s e i n e m B e r u f wird es sich w i e d e r einstellen mit n i c h t ge|ahneter G e w a l t , w ü r d i g seiner alten H e r o e n und seiner vielgepriesenen S t a m m e s k r a f t ; denn es w a r vorzüglich b e s t i m m t diese E r s c h e i n u n g zu e n t w i k k e l n und es wird mit R i e s e n k r a f t wieder a u f s t e h n um sie zu b e h a u p t e n 4 . H i e r h a b t I h r ein Z e i c h e n , w e n n Ihr eines b e d ü r f t , und w e n n dies W u n d e r g e s c h i e h t , d a n n werdet Ihr vielleicht g l a u b e n w o l l e n an die le319 b e n d i g e K r a f t der R e l i g i o n und des | C h r i s t e n t h u m s . A b e r selig sind die, d u r c h w e l c h e es g e s c h i e h t , die w e l c h e nicht sehen u n d d o c h g l a u b e n !

5

SW 457

Anmerkungen

zur

Nachrede.

1) S. 315. Diese Aeußerung wird jezt weniger befremden als bei ihrer ersten Erscheinung. Denn damals konnte man, wenn man auf die eine Seite sah, leicht glauben, beide Kirchen würden sich im Unglauben im Indifferentismus C 457 vereinigen, oder wenn man auf die andere sah, | sie würden bald nur zwei verschiedene Formen von Superstition sein, die nur auf die äußerlichste und zufälligste Weise verschieden wären, und so, daß jeder Einzelne eben so gut der einen angehören könnte wie der andern. In neueren Zeiten haben nun mancherlei Ereignisse, welche hier unnöthig wäre zu erwähnen, nicht nur das Bewußtsein aufgefrischt, daß der Gegensaz wirklich noch besteht, sondern auch sehr klar zur Sprache gebracht, was beide Theile eigentlich von einander halten. Und wir können nicht läugnen der reine Hauptsiz des Gegensazes ist in Deutschland; denn in England ist er zwar stark genug aber mehr politisch; in Frankreich hingegen spielt er eine sehr untergeordnete Rolle. Nun ziemte es freilich uns Deutschen vor allen ihn auch rein in seinem innern Wesen aufzufassen, sowol geschichtlich als speculativ; allein das geschieht leider zu wenig, sondern wir sind auch sehr in ein leidenschaftliches Wesen gerathen, daß wenn einer von uns unpartheiisch über die Sache reden wollte, er gewiß von seinen Glaubensgenossen als ein Kryptokatholik würde beargwöhnt werden und von den römischen mancherlei zudringlichen und schmeichlerischen Annäherungen ausgesezt sein. Rühmliche Ausnahmen von wahrhaft gründlicher und dabei auch anerkannter

1 ihm,] B: ihm 6 entwikkeln] B: entwikkeln, B: die 13 315] C : 4 5 1

11 Joh 20,29

13 f In der 2. Ausgabe 1806

10

9 geschieht,] B: geschieht

10 die,]

15

20

25

30

Anmerkungen

zur

Nachrede

M ä ß i g u n g sind sehr selten. G a n z ü b e r den g e g e n w ä r t i g e n Z u s t a n d

319 hinwegge-

hend will ich d a h e r n u r m i t w e n i g e n W o r t e n a n d e u t e n , a u f w e l c h e m P u n k t dieser G e g e n s a z m i r , w e n n m a n a u f seine g e s c h i c h t l i c h e E n t w i k l u n g sieht, n o c h zu stehen s c h e i n t . E s g i e b t in beiden K i r c h e n e i n e u n v e r k e n n b a r e N e i g u n g sich ge5

g e n e i n a n d e r a b z u s c h l i e ß e n und sich gegenseitig m ö g l i c h s t zu i g n o r i r e n ; die fast u n b e g r e i f l i c h e U n w i s s e n h e i t ü b e r die L e h r e n u n d G e b r ä u c h e des a n d e r n T h e i l s g i e b t d a v o n h i n r e i c h e n d e n B e w e i s . N a t ü r l i c h g e n u g ist diese N e i g u n g in der M a s s e . D e n n j e d e r T h e i l findet religiöse E r r e g u n g u n d N a h r u n g g e n u g in s e i n e m e n g e n Kreise, und der a n d e r e T h e i l e r s c h e i n t i h m , w e n n a u c h n i c h t s o u n r e i n

10

wie den J u d e n f r e m d e R e l i g i o n s g e n o s s e n , w i e w o l a u c h d a r a n o f t n i c h t viel f e h l t , d o c h w e n i g s t e n s völlig f r e m d . D i e s e N e i g u n g d o m i n i r t in ruhigen Z e i t e n , u n d

SW 458

w i r d in der M a s s e n u r von den | l e i d e n s c h a f t l i c h e n A u f r e g u n g e n u n t e r b r o c h e n ,

C 458; 320

w e l c h e wir i m m e r w i e d e r aufs neue e n t s t e h n s e h n , w e n n der eine T h e i l ü b e r d e n a n d e r n irgend e i n e n e n t s c h e i d e n d e n Vortheil e r r u n g e n in p o l i t i s c h e n V e r h ä l t n i s 15

sen, o d e r in einer h i n r e i c h e n d e n M e n g e von e i n z e l n e n F ä l l e n aus d e m P r i v a t l e b e n . A b e r w i e d i e j e n i g e n , in d e n e n ein g e s c h i c h t l i c h e s B e w u ß t s e i n w o h n e n s o l l , die g e b i l d e t e n S t ä n d e , n i c h t j e n e t r ä g e A b g e s c h l o s s e n h e i t theilen sollen, so a u c h n i c h t diese i m m e r n u r s c h ä d l i c h e L e i d e n s c h a f t l i c h k e i t . Z w i s c h e n diesen soll in beiden K i r c h e n e i n e l e b e n d i g e , w e n n a u c h n i c h t u n m i t t e l b a r e E i n w i r k u n g s t a t t

20

f i n d e n , ein d u r c h r u h i g e B e t r a c h t u n g a n g e r e g t e r W e t t e i f e r u m sich d a s j e n i g e a n zueignen, w a s J e d e r in d e m a n d e r n T h e i l e V o r z ü g l i c h e s a n e r k e n n t . D e n n d e r e n t g e g e n g e s e z t e C h a r a k t e r beider K i r c h e n b r i n g t es m i t sich, d a ß j e d e a m w e n i g sten für die U n v o l l k o m m e n h e i t e n e m p f ä n g l i c h ist, w e l c h e die a n d e r e a m m e i s t e n d r ü k k e n . M ö g e n die K a t h o l i s c h e n sich d a r a n e r b a u e n , wie bei uns g r a d e die

25

religiöse R i c h t u n g , j e s t ä r k e r sie h e r v o r t r i t t , u m d e s t o m e h r das Z u r ü k s i n k e n in jede Art v o n B a r b a r e i h i n d e r t ; u n d w e n n sie sich n i c h t selbst t ä u s c h e n , als o b kein U n t e r s c h i e d hierin b e s t e h e , so m ö g e n sie s e h e n , w i e w e i t sie es b r i n g e n k ö n n e n in dieser F ö r d e r u n g der individuellen F r e i h e i t . U n d wir m ö g e n s o leidens c h a f t l o s als es g e s c h e h e n k a n n die feste S t e l l u n g b e o b a c h t e n , w e l c h e die k a t h o l i -

30

sehe K i r c h e in allen ä u ß e r e n B e z i e h u n g e n sich zu s i c h e r n w e i ß d u r c h ihre k r ä f tige O r g a n i s a t i o n , und m ö g e n d a n n v e r s u c h e n , w i e w e i t a u c h w i r zu E i n h e i t u n d Z u s a m m e n h a n g g e l a n g e n k ö n n e n , a b e r in u n s e r m G e i s t und o h n e d e m geistlichen S t a n d eine s o l c h e S t e l l u n g g e g e n die L a i e n zu g e b e n die d i e s e m G e i s t g a n z z u w i d e r w ä r e . S o l c h e h e i l s a m e E i n w i r k u n g e n f i n d e n s t a t t und m a n b e m e r k t R e -

35

sultate d a v o n von Z e i t zu Z e i t ; allein sie w e r d e n g e h e m m t d u r c h die t r ä g e A b g e s c h l o s s e n h e i t der M a s s e u n d u n t e r b r o c h e n d u r c h alle l e i d e n s c h a f t l i c h e M o m e n t e . D a h e r m a g es d a n n n o c h lange w ä h r e n , bis d a s Z i e l d e r s e l b e n e r r e i c h t ist und eher w e r d e n w i r d o c h n i c h t sagen k ö n n e n , d a ß die S p a n n u n g sich festgestellt h a b e und in A b s p a n n u n g ü b e r g e h e n w e r d e . Allein d a n n erst w i r d beiden g e m e i n -

40

s c h a f t l i c h die A u f g a b e e n t s t e h e n , b e l e b e n d e | E i n w i r k u n g e n a u s z u ü b e n a u f die

21 Jeder ... Vorzügliches] C: jeder ... vorzügliches 6 Unwissenheit] C: Un wissenheit

39 erst] C: erst,

15 f Privatleben.] C; Privatleben

C 459

320

Über die

Religion

so gut als ganz erstorbene griechische Kirche, und gewiß werden lange Zeit beide müssen alle ihre Kräfte und Hülfsmittel aufbieten um diesen Todten zu erwekken, und bis ihnen dies gelungen ist, können sie auch beide das Schiksal ihrer Trennung nicht erfüllt haben. 2) Ebend. Wie selten es ist, daß in Ländern, welche ganz der einen Kirche angehören irgend ein Einzelner ohne Nebenabsichten und ohne künstliche Ueberredungen durch einen wahren innern Drang zur andern Kirche getrieben wird, das liegt zu Tage. Eben so auch wie ruhig wir selbst in solchen Gegenden, wo beide Partheien unter einander gemischt sind, die Kinder aus eingläubigen Ehen in der elterlichen und für sie erziehen ohne daß uns im mindesten einfiele, | 321 sie könnten wol eine innere Bestimmung für die andere haben. D a nun überhaupt der verschiedene Nationalcharakter der christlichen Völker nicht ohne Einfluß ist auf den Weg, den die Reformation genommen hat, sollte man nicht SW 459 glauben, daß auch diese geistige Richtung angeerbt und angeboren würde? — wie wir ja auch bei dem Uebertritt fremder Glaubensgenossen in das Christenthum den christlichen Sinn nicht eher als nach ein Paar Generationen für rein und befestigt halten. Und so wäre denn für die Kinder gemischter Ehen, als vorläufige Maaßregel nicht das natürlich, daß die Söhne dem Vater folgen und die Töchter der Mutter, sondern jedes müßte dem folgen, von welchem es auch sonst am meisten angeerbte Aehnlichkeiten zeigt. Aber auf der andern Seite ist wol auch nicht zu läugnen, daß das genetische Verhältnis der beiden Kirchen der Vermuthung einer eigentlich angebornen Hinneigung nicht günstig sei, sondern vielmehr erwarten läßt, daß eine Selbstbestimmung für die eine oder die andere Form nach M a a ß g a b e des persönlichen Charakters sich bilde. Von dieser Ansicht aus wäre für die gemischten Ehen das natürliche Princip, und was sich auch, wenn fremdartige Einmischung nicht stattfindet, von selbst geltend machen wird, daß vorläufig alle Kinder demjenigen von beiden Eltern folgen, welcher C 460 am stärksten religiös angeregt | ist, weil unter dessen besonderem Einfluß das religiöse Element am kräftigsten wird entwikkelt werden, daß aber dann auch ruhig und fröhlich erwartet werde, in welche Form sich jeder bei wachsender Selbständigkeit einbürgern werde. Wird dieser natürliche G a n g überall befolgt: so würde gewiß, abgerechnet was femde Motive und solche Einwirkungen, die fast gewaltthätig genannt werden können, etwa bewirken, der Fall eines Uebertritts in der Zeit der Reife des Lebens, und nachdem eine Glaubensweise schon mit Liebe aufgefaßt worden und eine Zeit lang das Leben geleitet hat, eine Handlung die immer verworren ist und verwirrend, nur entweder bei solchen Individuen vorkommen, welche auch im übrigen als Ausnahmen und gleichsam als eigensinnige Einfälle der Natur bezeichnet sind, oder in solchen Fällen, wo eine verkehrte Leitung des religiösen Lebens die Unvollkommenheit und Einseitigkeit der schon angenommenen Glaubensweise recht ans Licht brächte und

5 Ebend.] C: S. 452. 14 angeerbt] C+D:

anerbte ; vgl. Adelung: Wörterbuch

1,251

14 und] C: uud

5

10

15

20

25

30

35

40

Anmerkungen

5

10

15

20

25

30

35

40

zur

Nachrede

321

dadurch zu der entgegengesezten hintriebe, wie denn diese Fälle auch jezt in beiden Kirchen nicht die seltensten sind. 3) S. 3 1 7 . Wol nur vor Wenigen wird dieser Saz an und für sich einer Rechtfertigung bedürfen, daß die k a t h o l i s c h e Kirche nicht nur in dem alten Sinne, sondern auch so wie die evangelische den Gegensaz dazu bildet, das päbstliche Ansehn abschütteln und von der m o n a r c h i s c h e n zu der aristokratischen Form des Episkopalsystems zurükkehren k ö n n t e , o h n e d a ß dadurch der Gegensaz zwischen beiden Kirchen aufgehoben oder ihre Vereinigung bedeutend erleich|tert würde. Und d a ß eben dies päbstliche Ansehn, m a n gehe a u f seine 322 Entstehungsweise zurük, oder man betrachte die R i c h t u n g , die es fast i m m e r g e n o m m e n hat, am meisten alle falsche aus dem G e b i e t der K i r c h e hinausgehende Bestrebungen o f f e n b a r t . M e r k w ü r d i g aber ist, d a ß fast alle von unserer Kirche Abgefallenen strenge Papisten werden. M a n kann k a u m anders als daraus schließen, d a ß sie den wahren C h a r a k t e r der katholischen K i r c h e doch nicht in sich a u f g e n o m m e n h a b e n , und nur in zwei verschiedenen F o r m e n ihre religiöse Unfähigkeit an den T a g zu legen bestimmt sind. | 4) S. 3 1 8 . S c h l i m m ist es, wenn grade der Schluß eines Werkes leicht ein C462 Lächeln erregen k a n n , welches die etwanigen früheren günstigen E i n d r ü k k e ver- SW 460 wischt. Und das k a n n dieser in zwiefacher Hinsicht, einmal weil darin die Ahnung ausgesprochen wird als k ö n n t e B u o n a p a r t e etwas im Schilde führen gegen den Protestantismus, da er ja vielmehr späterhin mit seinem und eines g r o ß e n Theiles von Frankreich Uebertritt zum Protestantismus gedroht hat, und noch vor kurzem die Protestanten des südlichen Frankreichs, als die ihm a m meisten anhingen, sind verfolgt worden. D a n n aber auch weil hier fast geredet wird, als sei ganz Deutschland protestantisch; und nun hoffen Viele, es werde über lang oder kurz ganz oder größtentheils wieder katholisch werden. Was nun das erste betrifft, so spricht das, was ich gesagt, zu genau die G e f ü h l e aus, von denen wir in den J a h r e n der S c h m a c h durchdrungen w a r e n , als d a ß ich es nicht sollte stehen lassen, wie ich es damals geschrieben. S o viel w a r uns g e n o m m e n , daß wir wol fürchten durften, auch das Lezte werde uns n o c h bedroht sein, zumal unläugbar N a p o l e o n im protestantischen Deutschland a u f eine ganz andere Art verfuhr als im katholischen, und als ihm nicht verborgen bleiben k o n n t e , d a ß unsre religiöse Gesinnung und unsre politische wesentlich z u s a m m e n h i n g e n . Was aber das Andre betrifft, so hüte sich J e d e r zu früh zu lachen, und wie fest auch der Gegenpart seiner H o f n u n g lebe, so fest lebe ich der meinigen, d a ß da in Deutschland weiteres Umsichgreifen eines papistischen Katholizismus und Z u rüksinken in jede Art der Barbarei aus vielen G r ü n d e n nothwendig verbunden sind, so wie die Freiheit der evangelischen Kirche der sicherste Stüzpunkt für jedes edlere Bestreben unter uns bleiben wird, es wol nicht in den Wegen der Vorsehung liegen mag, diese zu schwächen und jene a u f ihre Kosten überhand nehmen zu lassen.

3 317] C: 454 17 318] C: 456 ... Jeder] C: andre ... jeder

25 Viele] C: viele

30 Lezte] C: lezte

34 Andre

Monologen. Eine

Neujahrsgabe.

Vierte Ausgabe.

Berlin 1829. Gedruckt und verlegt bei G. Reimer.

4—7 Vierte ... Reimer.] B: Zweite Ausgabe. Berlin 1810. In der Realschulbuchhandlung. C: Dritte Ausgabe. Berlin 1822. Gedruckt und verlegt bei G. Reimer.

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