Jenseits vom Glück: Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts [Reprint 2014 ed.] 9783486834109, 9783486567342

Phänomene "jenseits vom Glück" hatten im späten 18. Jahrhundert Konjunktur: Mit Melancholie, Suizid und Hypoch

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Jenseits vom Glück: Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts [Reprint 2014 ed.]
 9783486834109, 9783486567342

Table of contents :
Dank
Einleitung
1. Forschungen
2. Quellen
3. Perspektiven
4. Aufbau der Arbeit
1. Blicke auf und in den Menschen
1.1. Obduktionen
1.1.1. Sektion als Strafe
1.1.2. Der Körper als Objekt: Leichenmangel und anatomisches Theater
1.1.3. Die Gerichtsmediziner
1.1.4. Der Blick der Pathologie
1.1.5. Vor dem 18. Jahrhundert: Anatomiker der Renaissance
1.1.6. Der tote Lessing: Anatomie außerhalb des anatomischen Theaters
1.1.7. Die Macht der Augen: Das 18. Jahrhundert als visuelles Zeitalter?
1.2. Leib und Seele
1.2.1. Zugriffe jenseits der Metaphysik
1.2.2. Anthropologie als Rückkehr zum ‚ganzen‘ Menschen?
1.2.3. Beispiel Hypochondrie: Von Kohlrabi-Essern und Vapeurs
1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen
1.3.1. Überlegungen vorweg
1.3.2. Interessen und Popularität. Einflußnahmen
1.3.3. Diätetik als Lebensordnung
1.3.4. Die medizinische Polizey
1.3.5. Medikalisierung als Disziplinierung?
2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid
2.1. Theologen, Moral und Medizin
2.1.1. Alte Meister: Traditionen des christlichen Suizidsverbots
2.1.2. Schwärmer, Tod und Teufel
2.1.3. Neue Einflüsse
2.1.4. Wo bleibt die Moral? (I)
2.2. Die juristische Perspektive
2.2.1. Fakten und Diskurse
2.2.2. Die strafrechtliche Debatte
2.2.3. Medizin, Melancholie und die Suche nach den „Quellen des Uebels“
2.2.4. Widerstände gegen die Entpönalisierung
2.2.5. Von Rettungsanstalten und Scheintoten
2.3. Suizid, soziale Frage und Lebensumstände
2.3.1. Von der Not der Soldaten und melancholischen Torschreibern
2.3.2. Die andere Seite: Luxuskritik
3. Wahrnehmungen: Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?
3.1. Melancholie und Hypochondrie: Interpretationen
3.1.1. Selbstaussagen im späten 18. Jahrhundert
3.1.2. Theorien der Forschung: Die Geburt der Melancholie aus dem Geist des Bürgertums?
3.1.3. Hypochondrie revisited
3.2. Die Entdeckung des Individuums
3.2.1. Marktbedingungen
3.2.2. Lesen, Schreiben und Fortschreiben: Die Kreation von Ideen
3.2.3. Das Individuum als Fall
3.2.4. Das eigene Ich. Selbstdarstellungen
3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust
3.3.1. Lesen
3.3.2. Lieben
3.3.3. Das Unglück der Unmäßigen: Lesesucht - Empfindelei - Onanie
3.4. Vom ‚Wertherfieber‘ und ‚Selbstmordepidemien‘
3.4.1. Die multiplizierte Debatte: Goethes Roman zwischen Euphorie und Kritik
3.4.2. Die „Überhandnehmung des Selbstmords“
3.4.3. Wahrnehmungsphänomene und die Macht der Kommunikation
Resümee
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Literatur
Personen- und Sachregister

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Julia Schreiner Jenseits vom Glück

Ancien Régime Aufklärung und Revolution Herausgegeben von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer Band 34

R. Oldenbourg Verlag München 2003

Jenseits vom Glück Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts

Von Julia Schreiner

R. Oldenbourg Verlag München 2003

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2003 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D - 81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagbild: Daniel Chodowiecki: Wilhelmine Arend, gestützt von zwei Freundinnen am von ihr selbst ausgehobenen Grab, Titelkupfer zu: Johann Karl Wezel: Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit, Bd. 2, Karlsruhe 1783, Universitätsbibliothek München, 0001/Maassen 698/2 Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München ISBN 3-486-56734-9

Inhalt Dank

Einleitung 1. Forschungen

9

11 15

2. Quellen

23

3. Perspektiven

26

4. Aufbau der Arbeit

28

1. Blicke auf und in den Menschen 1.1. Obduktionen 1.1.1. Sektion als Strafe 1.1.2. Der Körper als Objekt: Leichenmangel und anatomisches Theater 1.1.3. Die Gerichtsmediziner 1.1.4. Der Blick der Pathologie 1.1.5. Vor dem 18. Jahrhundert: Anatomiker der Renaissance . 1.1.6. Der tote Lessing: Anatomie außerhalb des anatomischen Theaters 1.1.7. Die Macht der Augen: Das 18. Jahrhundert als visuelles Zeitalter? 1.2. Leib und Seele 1.2.1. Zugriffe jenseits der Metaphysik 1.2.2. Anthropologie als Rückkehr zum .ganzen' Menschen? . 1.2.3. Beispiel Hypochondrie: Von Kohlrabi-Essern und Vapeurs 1.2.3.1. Bedeutungen der Hypochondrie 1.2.3.2. Ein Hypochonder geht zum Arzt 1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen 1.3.1. Überlegungen vorweg 1.3.2. Interessen und Popularität. Einflußnahmen 1.3.3. Diätetik als Lebensordnung 1.3.3.1. Was ist Diätetik? 1.3.3.2. Diätetik vor dem 18. Jahrhundert und Entwicklungen seitdem 1.3.4. Die medizinische Polizey 1.3.5. Medikalisierung als Disziplinierung?

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6

Inhalt

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid 2.1. Theologen, Moral und Medizin 2.1.1. Alte Meister: Traditionen des christlichen Suizidsverbots 2.1.2. Schwärmer, Tod und Teufel 2.1.3. Neue Einflüsse 2.1.4. Wo bleibt die Moral? (I)

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2.2. Die juristische Perspektive 2.2.1. Fakten und Diskurse 2.2.2. Die strafrechtliche Debatte 2.2.3. Medizin, Melancholie und die Suche nach den „Quellen des Uebels" 2.2.4. Widerstände gegen die Entpönalisierung 2.2.5. Von Rettungsanstalten und Scheintoten

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2.3. Suizid, soziale Frage und Lebensumstände 2.3.1. Von der Not der Soldaten und melancholischen Torschreibern 2.3.2. Die andere Seite: Luxuskritik

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3. Wahrnehmungen: Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts? 3.1. Melancholie und Hypochondrie: Interpretationen 3.1.1. Selbstaussagen im späten 18. Jahrhundert 3.1.2. Theorien der Forschung: Die Geburt der Melancholie aus dem Geist des Bürgertums? 3.1.3. Hypochondrie revisited 3.1.3.1. Ärzte und ihre Patienten: zwischen Profit und Erklärungsnot 3.1.3.2. Krank-Schreiben: einsame Gelehrte und hypochondrische Städter 3.2. Die Entdeckung des Individuums 3.2.1. Marktbedingungen 3.2.2. Lesen, Schreiben und Fortschreiben: Die Kreation von Ideen 3.2.3. Das Individuum als Fall 3.2.3.1. Der Andere. Geschichten des einzelnen Menschen 3.2.3.2. Biographien, Romane und ein „Traumgesicht" 3.2.3.3. Individualisierungen und Epidemien. Wo bleibt die Moral? (II) 3.2.4. Das eigene Ich. Selbstdarstellungen

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Inhalt 3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust 3.3.1. Lesen 3.3.2. Lieben 3.3.3. Das Unglück der Unmäßigen: Lesesucht Empfindelei - Onanie 3.3.3.1. Lesesucht 3.3.3.2. Gemeinsame Leiden, gemeinsame Symptome . 3.4. Vom ,Wertherfieber' und ,Selbstmordepidemien' 3.4.1. Die multiplizierte Debatte: Goethes Roman zwischen Euphorie und Kritik 3.4.2. Die „Überhandnehmung des Selbstmords" 3.4.3. Wahrnehmungsphänomene und die Macht der Kommunikation

7 244 247 251 256 257 261 265 266 269 273

Resümee

279

Quellen- und Literaturverzeichnis

285

Quellen

285

Literatur

297

Personen- und Sachregister

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Nur die Worte schützen vor dem Nichts Thomas Palzer: Pony

Dank Eine Dissertation zu schreiben, ist sicherlich (auch) ein Glück. Ohne vielfältige Unterstützung von außen wäre eine solche Arbeit jedoch nicht möglich. Viele anregungsreiche Diskussionen und Gespräche schenkten mir Professor Eckhart Hellmuth und sein Münchner Oberseminar. Finanziell unabhängiges Forschen erlaubten mir Stipendien der Universität München sowie der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel und außerdem die Freigebigkeit meiner Eltern. In diesem Zusammenhang gilt mein besonderer Dank auch Frau Professor Sigrid Jahns, ohne deren Hilfsbereitschaft ich auf meine Anträge hätte verzichten müssen. Frau Professor Gudrun Gersmann gab mir vielfältige Anregungen für die überarbeitete Fassung, deren Druck die Deutsche Forschungsgemeinschaft ermöglichte. Ein großer Dank außerdem an alle Leser und Leserinnen, Korrigierende, Gesprächspartner und -Partnerinnen, Aufmunternde, Lebensversüßer, Mutund Muntermacher, Telefonie re rinnen, Sonntagsspaziergeher, und jene, die mir Obhut, Aufmerksamkeit und ein geheiztes Zimmer gewährten. Besonders an (alphabetisch geordnet): Anil Jain, Barbara Fischer, Constanze Huhn, Cornelia Horn, Gabriel Neumann, Helga Schreiner, Horst Schreiner, Ina Zimmermann, Ingrid Mayr, Joel Golb, Judith Wagner, Klaus Berndl, Martin Majewski, Martin Mulsow, Matthias Funk, Susanne Maier, Thomas Biskup, Ursula Kundert, Volker Bollig. Und ganz besonders an: Markus Mößlang und meinen Bruder Georg Schreiner.

Einleitung Eine Entdeckung ist weder groß noch klein; es kommt darauf an was sie uns bedeutet*

Februar 2001: „Sind wir ein Volk von Hypochondern?" sinniert die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit". 1 Plagen neue Krankheiten unseren Körper und unsere Seele, von deren Existenz wir bis vor kurzem selbst nichts wußten? Oder bilden wir uns manches Leiden nur ein? Sind wir, solange die Schulmediziner nichts finden, gesund? Oder sind wir vielleicht weder krank, noch gesund, in jedem Fall jedoch überarbeitet und deprimiert? Gewiß scheint lediglich: einfach sind all diese Fragen nicht zu beantworten. Nicht einmal auf vier großen Zeitungsseiten, nicht einmal am Beginn des 21. Jahrhunderts. Deutlich wird allerdings, daß unsere vermeintlich klaren Unterscheidungen von ,krank' und .gesund' bei genauerer Betrachtung schnell verschwimmen. Nicht nur die Erklärungen von Krankheiten, sondern auch die Symptome, ja sogar die Krankheiten selbst verändern sich. Und unser (alltägliches) Verständnis wird auf vielfaltige Weise durch die Informationen geprägt, die über die Medien verbreitet werden. 2 1797: In Kopenhagen veröffentlicht der Mediziner Johann Clemens Tode sein Buch mit dem Titel „Nöthiger Unterricht für Hypochondristen". Zu Beginn gibt er (uns) folgende Erläuterung: „Die Hypochondrie hat man, wenn man in seinen besten Jahren, oder noch später, eine Krankheit, oder vielmehr eine Verbindung von Krankheitszufällen oder Symptomen von schlechter Verdauung an sich wahrnimmt, die am gewöhnlichsten aus Magendrücken, Halsbrennen, Blähungen, unordentlicher Leibesöffnung, oder Neigung zu Verstopfung, bestehen [.. ,]". 3 Todes vordringlichstes Ziel ist es, Erkrankten und von der Krankheit Bedrohten nützliche Hilfestellungen zu geben.

* WITTGENSTEIN, Ludwig: Denkbewegungen. Tagebücher 1930-1932, 1936-1937, hrsg. v. Ilse Somavilla, Teil 1, Innsbruck 1997, S. 25. 1 BARTENS, Werner: Krank ohne Befund, in: Die Zeit, Nr. 7, 8. Februar 2001, Dossier, S. 11-14, hier: S. 11. 2 Entscheidend für diesen Zusammenhang sind die „Hystories" von Elaine SHOWALTER (Hystories. Hysterical Epidemics and Modern Culture, London 1998), die die Rolle der Medien nicht nur in Hinsicht auf die Geschichte der .klassischen' Hysterie aufdeckt, sondern auch in Bezug auf aktuelle, oftmals als .psychosomatisch' kategorisierte Krankheiten wie beispielsweise das sogenannte Chronic Fatigue Syndrom (dazu: ebd., S. 115-132). Showalter betont, daß sie keineswegs die ,reale' Existenz dieser Krankheiten leugne, sondern vielmehr auf den Einfluß von Kommunikation auf die Wahrnehmung, Bedeutung und auch Entwicklung von Krankheiten hinweise (ebd., S. 116). 3 TODE, Johann Clemens: Nöthiger Unterricht für Hypochondristen, die ihren Zustand recht erkennen und sich vor Schaden hüten wollen, Kopenhagen 1797, S. 3.

12

Einleitung

2001/1797: Zwei Texte befinden sich auf Spurensuche in Sachen Hypochondrie. Doch wenn heute ein Journalist nach .Hypochondern' forscht, dann verwendet er beinahe den selben Begriff wie Tode, aber die Bedeutung ist dennoch längst nicht die gleiche. So gilt heute als Hypochonder, wer sich Krankheiten lediglich einbildet. Im Text von Tode litt der Hypochonder freilich auch an seiner Einbildungskraft; diese war allerdings selbst „ursprünglich in einer besondern Schwäche des Magens" begründet.4 Damit sind wir bereits mitten in unserer Geschichte über Hypochondrie, Melancholie und Suizid. Denn es geht um die Bedeutungen dieser Phänomene, wie sie sich veränderten und welche Beständigkeit sie trotzdem bewahrten. Tode zählt eine Vielzahl von Beschwerden als mögliche Ursachen der Hypochondrie auf. Die Bedeutung der Krankheit Hypochondrie war im 18. Jahrhundert keineswegs /eingeschrieben, vielmehr war sie gerade für die Wandelbarkeit ihrer Erscheinungsbilder bekannt; sie war das „Wörterbuch aller möglichen Kranckheiten"5. Auch Melancholie und Suizid, die beiden anderen Phänomene, die zum Thema meiner Arbeit gehören, zeichnete eine vergleichbare Vielschichtigkeit aus. Außerdem stehen Melancholie und Suizid wie die Hypochondrie Jenseits vom Glück'. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden alle drei oftmals aufeinander bezogen, sie führten aber auch ein Eigenleben. Ihnen ist noch dazu gemeinsam, daß sie im Zeitalter der Aufklärung eine bemerkenswerte publizistische Aufmerksamkeit erfuhren, daß eine wahre Flut von Publikationen zu diesen Themen erschien und daß sie einem stetigen Hin- und Herwogen der Bedeutungen unterworfen waren: Neue Interpretationen standen neben alten; und zum Teil waren sie unvereinbar miteinander. Wie gesagt: Im Mittelpunkt meiner Studie stehen eben diese Bedeutungen von Suizid, Melancholie und Hypochondrie - so wie sie sich im späten 18. Jahrhundert darstellten. Gleichzeitig reicht mein Blick notwendigerweise weit über diese drei Phänomene hinaus; er schaut immer auch ,hinter' ihre Bedeutungen und deren Modifikationen: Das große Interesse, das Autoren den düsteren, unglücklichen Themen im späten 18. Jahrhundert entgegenbrachten, eröffnet einen spezifischen Zugang zum Geisteshaushalt dieser Zeit. Andersherum gilt: Die zeitgenössischen Bedeutungen von Suizid, Melancholie und Hypochondrie können nur entschlüsselt werden, wenn man sich umfassend auf die Gedankenwelt des späten 18. Jahrhunderts einläßt. Deutlich werden dann etwa die Besonderheiten der Kommunikationskultur, die Auffassungen vom menschlichen Sein, Vorstellungen über Moral und Recht. In seiner Bandbreite eröffnet das gewählte Thema somit weitergehende Einblicke in die Sphäre der Kultur insgesamt.6 Es dient mir als Plattform, um Schlaglichter auf eine fremde 4

Ebd. KRÜGER, Johann Gottlob: Naturlehre, 3. Theil, Halle 1750, S. 492. 6 Seit der Aufwertung des Kulturellen in der Geschichtswissenschaft ist Kultur nicht mehr nur eine ästhetische, sondern eine grundlegende anthropologische und die Gesellschaft be5

Einleitung

13

Zeit zu werfen - bzw. die ausgewählten Themen dienen dabei selbst als Lichtquelle. Mein besonderes Interesse liegt auf den 1770er bis 1790er Jahren, was sich aus den damaligen enormen Umwälzungen im Bereich der Kommunikation und des Publikationswesens ergibt, die für viele der zu beschreibenden Entwicklungen unabdingbar waren. Daher ist die veränderte Medienlandschaft im Verlauf meiner Studie immer wieder wichtig und wird eines der (Neben)Motive werden, die querliegende Verbindungen zwischen verschiedenen Hauptteilen schaffen und Hinweise auf zentrale Tendenzen des 18. Jahrhunderts geben. 7 Ein anderes dieser Motive ist der Einfluß medizinischer Ideen, wie er im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Vorstellungen vom Menschen veränderte und sich speziell auf die Bedeutung des Suizids auswirkte, aber auch Hypochondrie und Melancholie betraf. Schließlich sei an dieser Stelle nochmals die Frage nach moralischen Bewertungen erwähnt, die diese Arbeit ebenfalls mehrmals durchkreuzt. Offensichtlich wird deren Relevanz beispielsweise im juristischen Zusammenhang: Ersetzte hier im späten (.aufgeklärten') 18. Jahrhundert Rationalität jede Art der Moralisierung? Nicht nur die Interpretation und die Behandlungsweisen von Krankheiten veränderten sich, sondern auch die Häufigkeit ihres Auftretens. 8 Erlebten die Phänomene Melancholie und Hypochondrie im 18. Jahrhundert ähnliche Konjunkturen? Müssen wir uns eine besonders melancholische Zeit denken? Entwickelte man außergewöhnliche suizidale Tendenzen? Solche Fragen machen deutlich, daß die Vorstellungen und Bewertungen des „Selbstmords" 9 , der „Grillenkrankheit" 10 (Hypochondrie) oder auch der „englischen Krankheit" 11 (Melancholie) bei weitem nicht nur von neuen wissenschaftlichen Erkenntnisstimmende Kategorie. (Vgl.: FRIJHOFF, Willem: Foucault Reformed by Certeau. Historical Strategies of Discipline and Everyday Tactics of Appropriation, in: NEUBAUER, John (Hrsg.): Cultural History after Foucault, New York 1999 (Original 1998), S. 83-99, hier: S. 95.) 7

KOSCHORKE hat das anspruchsvolle Projekt einer „Mediologie des 18. Jahrhunderts" vorgelegt. Immer wieder betont der Verfasser die Bedeutung der Verschriftlichung bei der Konstruktion neuer Gefühlswelten und Lebensformen. So prägte etwa der „Wandel des Leseverhaltens" die „Entstehung einer persönlichen Privatsphäre". Medien sind daher mehr als „Verteiler von Botschaften", sie „eröffnen oder verschließen die Zugänge zu den verfügbaren Ressourcen an Wahmehmbarkeit ebenso wie an Sinn und sind damit über ihre Vehikelfunktion hinaus nichts weniger als transzendentale Instanzen." (KOSCHORKE, Körperströme und Schriftverkehr, 1999, S. 172 u. S. 464.) 8 BARTENS, Krank ohne Befund, 2001, S. 14. 9 Sprache ist nicht wertneutral. Vgl. für die Begrifflichkeit des Suizids/Selbstmords/Freitods: AMERY, Jean: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1976, S. 11; BACHHUBER, Uwe: Vom Täter zum Opfer. Der .Selbstmord' im Wandel sozialer Zuschreibungen, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Bd. 16, 1992, S. 32-45, hier: S. 32f. 10 KANT, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798, S. 140. 11 Diese Bezeichnung geht zurück auf das 1733 veröffentlichte Buch „The English Malady, or a Treatise of Nervous Diseases of all Kinds" des Arztes George CHEYNE. (Vgl.: MINOIS, Georges: Geschichte des Selbstmords, Düsseldorf/Zürich 1996 (Original 1995), S. 265.)

14

Einleitung

sen abhingen. Der Diskurs speist sich vielmehr aus ganz unterschiedlichen Quellen. Schon die gerade eingestreuten anderen Bezeichnungen geben hier Hinweise. Die einzige Zugangsmöglichkeit zu den Bedeutungen bieten die Texte der Zeit, in deren Geflecht sich der Diskurs entfaltet. 12 Im Diskurs werden die Bedeutungen zusammengesetzt beziehungsweise: Der Diskurs setzt sie zusammen. 13 Somit ist er auch mehr als die Summe der einzelnen Textteile, denn er beinhaltet jenes Agens, das Bedeutungen konstruiert, trägt und verändert. 14 Angesichts der bereits angedeuteten Vielschichtigkeit der untersuchten Themen ist es das zentrale Anliegen dieser Arbeit, einerseits die Bedeutungen von Hypochondrie, Melancholie und Suizid aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren und andererseits aus den gewählten Blickwinkeln das späte 18. Jahrhundert selbst von diversen Seiten zu betrachten. Es werden die Dinge also gedreht und gewendet, bis weniger ein einziges großes Panorama als viele Kaleidoskopbilder entstehen. Allerdings bringt es der Gegenstand meiner Arbeit mit sich, daß dabei die dunkleren Farbtöne überwiegen, beschäftige ich mich doch mit den Wahrnehmungen von Phänomenen, die jenseits vom Glück' angesiedelt wurden. Das ,Glück' scheint jedoch durch die verwendeten Texte als eine andere Seite hindurch, als Vorstellungen vom richtigen Leben etwa, wie sie Melancholikerinnen und Hypochondern nahegebracht wurden.

12 Somit verwende ich diesen Begriff nicht in der Weise, die ihn so inflationär hat werden lassen: Diskurs ist für mich genau nicht das gleiche wie eine Debatte oder Diskussion, sondern beinhaltet immer auch die Sprachregelungen, die Muster und Strukturen und damit eigene Entwicklungskräfte. Siehe dagegen: LIND, Vera: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein, Göttingen 1999, S. 3. Zur Kritik an der unreflektierten Verwendung des Diskursbegriffes vgl.: BUBLITZ, Hannelore/BüHRMANN, Andrea D./HANKE, Christine/SEIER, Andrea (Hrsg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a.M./New York 1999; FRANK, Manfred: Zum Diskursbegriff bei Foucault, in: FOHRMANN, Jürgen/MÜLLER, Harro (Hrsg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 2 5 - 4 4 , hier: S. 25. 13 Diese Definition des Diskurses bedeutet für mich nicht, daß der einzelne Mensch an der Kreation von Bedeutungen nicht beteiligt wäre. Diskurse sind Menschenwerke, ihre Sprachwelt entwickelt jedoch gleichzeitig eine Eigen-Dynamik. In diesem Sinne verstehe ich den Diskurs anders als Michel Foucault nicht als bloßen Unterdrückungsmechanismus. (Vgl. bes.: FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976 (Original 1975).) 14 Vgl.: KOSCHORKE, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 10.

1. Forschungen

15

1. Forschungen Entsprechend meinem Ziel, die Vorstellungen über Melancholie, Hypochondrie und Suizid aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren, bin ich methodisch und inhaltlich von Forschungen15 aus den unterschiedlichsten Bereichen inspiriert worden. Die Themen Suizid, Melancholie und Hypochondrie sind eingebettet in die Historiographie zu Tod und Krankheit, die in den letzten Jahrzehnten viele neue Impulse erfahren hat. Wie vor allem französische Untersuchungen in den 1970er Jahren herausgearbeitet haben, sind die Vorstellungen von Krankheit und Tod keine überzeitlichen Konstanten, sondern abhängig von kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen.16 Oder, wie es Foucault mit Bezug auf das späte 18. Jahrhundert faßte: „Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit".17 Die zugehörigen Phänomene und Veränderungen sind aus unterschiedlichen Perspektiven bearbeitet worden. Besondere Aufmerksamkeit erfuhren in der deutschsprachigen Wissenschaft Bestattungsrituale, Gesundheitspflege und Kranken Versorgung.18

15 Meine Arbeit berücksichtigt Publikationen, die bis zum Frühjahr 2001 erschienen sind. Spätere Veröffentlichungen werden nur in Ausnahmefallen verzeichnet. 16 Besonders: ARIÈS, Philippe: Geschichte des Todes, München 1982 (Original 1978); CHAUNU, Pierre: La mort à Paris, XVIe, XVIIe, XVIIIe siècles, Paris 1978; VOVELLE, La mort et l'occident, 1983. FOUCAULT, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a. M. 1988 (Original 1963). Die Bedeutung des Todes in der Zeit der Aufklärung ist beispielhaft von MACMANNERS untersucht worden, der sich auf Frankreich im 18. Jahrhundert bezieht. (MACMANNERS, John: Death and the Enlightenment. Changing Attitudes to Death among Christians and Unbelievers in Eighteenth-Century France, Oxford 1981.) - Eine vergleichbare Studie für den deutschen Sprachraum steht immer noch aus. 17 FOUCAULT, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1983 (Original 1976), S. 170. 18 BAUER, Franz J.: Von Tod und Bestattung in alter und neuer Zeit, in: Historische Zeitschrift, Bd. 254, 1992, S. 1-31 ; FISCHER, Norbert: Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland, Köln/Weimar/Wien 1996; FREVERT, Ute: Krankheit als politisches Problem 1770-1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung, Göttingen 1984; HAPPE, Barbara: Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870, Tübingen 1991; LABISCH, Alfons: Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt a.M./New York 1992; LOETZ, Francisca: Vom Kranken zum Patienten. „Medikalisierung" und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750-1850, Stuttgart 1993; MÜNCH, Ragnhild: Gesundheitswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Das Berliner Beispiel, Berlin 1995; WIMMER, Johannes: Gesundheit, Krankheit und Tod im Zeitalter der Aufklärung. Fallstudien aus den habsburgischen Erbländern, Wien/Köln 1991; WISCHHÖFER, Bettina: Krankheit, Gesundheit und Gesellschaft in der Aufklärung. Das Beispiel Lippe 1750-1830, Frankfurt a. M./New York 1991.

16

Einleitung

Nicht nur die entsprechenden Reaktionen, sondern Krankheit und Tod selbst wurden im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu historiographischen Gegenständen. Entscheidende Anregungen hat hier bereits in den späten 1970er Jahren Susan Sontag gegeben, die so weit ging, Krankheiten einen metaphorischen Charakter zuzuschreiben.19 Auch zwanzig Jahre später wirkte diese Veröffentlichung noch nach: Während sich Sontag auf Tuberkulose und Krebs konzentrierte, widmete sich Elaine Showalter dem, was man üblicherweise als psychosomatische Krankheiten bezeichnet.20 Sowohl ob dieser Themenwahl waren Showalters „Hystories" für mich wichtig, als auch, weil Showalter die Bedeutung der Medien und des Wissens über Krankheiten bei deren Rezeption und Verbreitung untersucht. Ebenso beschäftigt sich Barbara Duden mit der Veränderlichkeit von Krankheitsphänomen, wobei sie besonderen Wert darauf legt, deren somatische Seite nicht zu verdecken. Ihre „Geschichte unter der Haut" ist daher in besonderer Weise den Krankheitserfahrungen gewidmet.21 Zu diesem Themenfeld zählen außerdem Arbeiten zur Geschichte des menschlichen Körpers. Der Körper ist einerseits Träger von Krankheit und Hinfälligkeit; andererseits unterliegt er selbst kulturellen Bedingungen. Seine Bedeutungen und auch sein Sein sind nicht starr und überzeitlich, sondern veränderlich.22 Die Vorstellungen vom Körper modifizieren die Erfahrungen der Menschen mit ihrem Körper und sogar den Körper selbst.23 Ein zentrales Thema der Körpergeschichte ist außerdem die Entwicklung des medizinischen Blicks auf den Körper. Jonathan Sawdays Arbeit über die Anatomie in der Renais-

Außerdem: Lindemann, Mary: Health and Healing in Eighteenth-Century Germany, Baltimore/London 1996. 19 SONTAG, Susan: Illness as Metaphor, London 1979 (Original 1978). Susan SONTAG hat in einem späteren Buch außerdem die Metaphern untersucht, die der Krankheit Aids auferlegt werden. (Dies.: Aids und seine Metaphern, München/Wien 1989 (Original 1988).) Es sei darauf hingewiesen, daß es nicht darum gehen kann, Krankheiten auf Metaphern zu reduzieren. Vielmehr hat Sontag herausgearbeitet, daß die Bedeutung und Deutung von Krankheiten nicht ausschließlich auf deren physischer Wesenheit beruht. 20

21

SHOWALTER, Hystories, 1998.

DUDEN, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987. Vgl. zu Dudens Forschungsgrundsätzen außerdem: Dies.: In Tuchfühlung bleiben. Anmerkungen zur poiesis in Soziologie und Historie, in: WerkstattGeschichte, Bd. 19, 1998, S. 75-87. 22 Vgl. etwa: LAQUEUR, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, München 1996 (Original 1990); MÜCKE, Dorothea/ KELLY, Veronica (Hrsg.): Body and Text in Eighteenth Century, Stanford 1994. Allgemein auch: JÜTTE, Robert: Einleitung. Auf den Leib geschrieben, in: MÜNCH, Paul (Hrsg.): „Erfahrung" als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (= Historische Zeitschrift, Beihefte, 31), München 2001, S. 31-36. 23 Die Extremposition nimmt in diesem Zusammenhang Judith BUTLER ein, die zumindest in ihren frühen Schriften die Biologie des Körpers gänzlich verabschieden wollte. (BUTLER, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991 (Original 1990).)

17

1. Forschungen

sance hat mir hier wichtige Denkanstöße g e g e b e n . 2 4 Eine vergleichbare Studie für das späte 18. Jahrhundert steht jedoch noch aus. 2 5 Medizinische Interpretationen haben im 18. Jahrhundert die Bedeutungen der Phänomene Suizid, Melancholie und Hypochondrie entscheidend transformiert. D i e Hintergründe dieser Transformationen sind folglich von grundlegendem medizinhistorischen Interesse. Dennoch beschränken sich die Veröffentlichungen bisher auf Esther Fischer-Hombergers und Stefan Bilgers Untersuchungen zur Hypochondrie. 2 6 Es fehlt außerdem noch immer eine umfassende Studie für das 18. Jahrhundert, die kultur- und medizinhistorische Ansätze miteinander verbindet. 2 7 Stärker als die Hypochondrie ist die Melancholie in den letzten Jahrzehnten in das Blickfeld von Sozial-, Kultur- und besonders Literaturwissenschaftlerlnnen geraten. 2 8 Neben Phänomen- und Bedeutungsbeschreibungen interessierte die Frage, ob das (späte) 18. Jahrhundert außergewöhnlich melancholieanfällig

24

SAWDAY, Jonathan: The Body emblazoned. Dissection and the human body in Renaissance culture, London/New York 1996. 25 Zwar sind in den letzten Jahren etliche Kataloge und Aufsatzsammlungen zur Geschichte der Anatomie erschienen (vgl. etwa: The Ingenious Machine of Nature. Four Centuries of Art and Anatomy, Ausstellungskatalog, Ottawa 1996; RUISINGER, Marion Maria/ScHNALKE, Thomas (Hrsg.): Da hilft nur noch das Messer! Chirurgische Verfahren im historischen Vergleich. Katalog zur Ausstellung des Instituts für Geschichte der Medizin Erlangen-Nürnberg, Erlangen 1999; SCHNALKE, Thomas (Hrsg.): Natur im Bild. Anatomie und Botanik in der Sammlung des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew, Ausstellungskatalog, Erlangen 1 9 9 5 ) , es fehlt jedoch eine Arbeit, die sich detailliert mit den Wahrnehmungen der Anatomiker auseinandersetzt und untersucht, wie diese Wahrnehmungen das Bild vom Menschen im allgemeinen veränderte. Ansätze finden sich hierzu bei BERGMANN, Anna: Die Verlebendigung des Todes und die Tötung des Lebendigen durch den Medizinischen Blick, in: MIXA, Elisabeth/MALLEIER,

Elisabeth/SPRINGER-KREMSER,

Marianne/BIRKHAN,

Ingvild

(Hrsg.):

Körper - Geschlecht - Geschichte. Historische und aktuelle Debatten in der Medizin, Innsbruck 1 9 9 6 , S. 7 7 - 9 5 . Eine „Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen" hat Karin STUKENBROCK vorgelegt („Der zerstückte Cörper". Zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen in der frühen Neuzeit ( 1 6 5 0 - 1 8 0 0 ) , Diss. Stuttgart 2 0 0 1 ) ; sie stellt detailliert die Abläufe bei einer Sektion dar und geht dem Zusammenhang zwischen Anatomie und Körperpolitik nach. 26 FISCHER-HOMBERGER, Esther: Hypochondrie. Melancholie bis Neurose. Krankheiten und Zustandsbilder, Bern u.a. 1970; BILGER, Stefan: Üble Verdauung und Unarten des Herzens. Hypochondrie bei Johann August Unzer, Würzburg 1990. 27 Ausnahmen, die (jeweils) verschiedene Ansätze in sich vereinen: LINDEMANN, Mary: Medicine and Society in Early Modern Europe, Cambridge 1999; VILA, Anne C.: Enlightenment and Pathology. Sensibility in the Literature and Medicine of Eighteenth-Century France, Baltimore 1998. 28 KNAUTZ, Isabel: Epische Schwärmerkuren. Johann Karl Wezels Romane gegen die Melancholie, Würzburg 1990; RICKE, Gabriele: Schwarze Phantasie und trauriges Wissen. Beobachtungen über Melancholie und Denken im 18. Jahrhundert, Hildesheim 1981; SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977; WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration, Stuttgart 1997.

18

Einleitung

g e w e s e n i s t . 2 9 O d e r v i e l m e h r w u r d e u n d w i r d d i e s e Frage d u r c h g ä n g i g mit e i n e m lauten „Ja" beantwortet o d e r mit B e g e m a n n konstatiert: „ D a s Zeitalter d e s Lichts leidet an G e m ü t s v e r d ü s t e r u n g . " 3 0 D a r u m g i n g m a n auf d i e S u c h e n a c h d e n U r s a c h e n der diagnostizierten G e m ü t s v e r d ü s t e r u n g , w o b e i fast i m m e r in der e i n e n o d e r anderen W e i s e d i e p o l i t i s c h e 3 1 , s e e l i s c h e 3 2 o d e r wirtschaftlic h e 3 3 L a g e d e s Bürgertums

als e n t s c h e i d e n d e s M o m e n t eruiert wurde. Vergli-

c h e n mit d i e s e n A n s ä t z e n liegt m e i n S c h w e r p u n k t auf d e n B e w e r t u n g e n in d e n Texten d e s U n t e r s u c h u n g s z e i t r a u m e s u n d auf d e n d i s k u r s i v e n F o r m a t i o n e n , deren Teil d i e s e B e w e r t u n g e n s i n d . 3 4 W i e zur E r f o r s c h u n g der M e l a n c h o l i e hat d i e Literaturwissenschaft a u c h v i e l e s d a z u b e i g e t r a g e n , d i e E n t s t e h u n g der A n t h r o p o l o g i e i m 18. Jahrhundert z u a n a l y s i e r e n . 3 5 D i e Interpretationen v o n L e i b u n d S e e l e s o w i e v o n deren Z u s a m m e n h a n g sind a n t h r o p o l o g i s c h e T h e m e n , d i e a u c h für d i e A u f f a s s u n g v o n H y p o c h o n d r i e u n d M e l a n c h o l i e überaus relevant sind. D i e b e s o n d e r e R o l l e , d i e der Gattung R o m a n bei der E n t w i c k l u n g v o n a n t h r o p o l o g i s c h e n I d e e n z u k a m , untersucht Jutta H e i n z in ihrem B u c h über das „ W i s s e n v o m

Men-

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Ich verknappe diese Diskussion an dieser Stelle, da sie im dritten Teil meiner Arbeit ausführlicher dargestellt werden wird. Siehe Kap. 3.1.2. 30 BEGEMANN, Christian: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1987, S. 165. 31 LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, Überarb. Aufl., Frankfurt a.M. 1998, besonders S. 76 u. S. 198 f. 32 KAUFMANN, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die Erfindung der Psychiatrie in Deutschland 1770-1850, Göttingen 1995, S. 42. 33 BEGEMANN, Furcht und Angst, 1987, S. 166. 34 Zum Begriff der „Diskursformation": FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973 (Original 1969), S. 222. Meine Arbeit untersucht allerdings in dem Sinne .bürgerliche' Gedankenwelten, als die meisten der verwendeten Texte von im weitesten Sinne .bürgerlichen' Autoren stammen. 35 BARKHOFF, Jürgen/SAGARRA, Eda (Hrsg.): Anthropologie und Literatur um 1800, München 1992; PFOTENHAUER, Helmut: Literarische Anthropologie. Selbstbiographie und ihre Geschichte - am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987; SCHINGS, Hans-Jürgen (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1992. Vgl. in diesem Zusammenhang außerdem: EGO, Anneliese: .Animalischer Magnetismus' oder .Aufklärung'. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zum Konflikt um ein Heilkonzept im 18. Jahrhundert, Würzburg 1991; MORAVIA, Sergio: The Enlightenment and the Sciences of Man, in: History of Science, Bd. 18,1980, S. 247-288; RIEDEL, Wolfgang: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: Internationales Archiv der Sozialgeschichte der Literatur, 6. Sonderheft, 1994, S. 93-157; WÖBKEMEIER, Rita: Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800, Stuttgart 1990. Außerdem die Literatur zur „Erfahrungsseelenkunde": BEZOLD, Raimund: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz, Würzburg 1984; KERSHNER, Sybille: Karl Philipp Moritz und die „Erfahrungsseelenkunde". Literatur und Psychologie im 18. Jahrhundert, Herne 1991; MÜLLER, Lothar: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz' „Anton Reiser", Frankfurt a. Μ. 1987.

1. Forschungen

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sehen". 36 Heinz belegt anschaulich, in welchem Maße fiktive Texte zeitgenössische Deutungen nicht nur adaptieren und reflektieren, sondern auch selbst zu deren Gestaltung beitragen. Unter den von mir behandelten Themen hat der Suizid in den vergangenen Jahren vermehrt Aufmerksamkeit in der historischen Forschung gefunden. Die entscheidende Arbeit haben hier Michael MacDonald und Terence R. Murphy vorgelegt, die erstmals den Bedeutungswandel des Suizids umfassend und für einen längeren Zeitraum untersuchten. 37 Das Autorenduo zielt besonders auf die gesellschafts-, politik- und ideengeschichtlichen Kontexte, die den jeweiligen Bewertungen des Suizids zugrunde liegen und stellt sich damit zugleich gegen einen übertriebenen „Durkheimanism". 38 Durkheim als der Autor der ersten wichtigen sozialwissenschaftlichen Studie über den Suizid wollte aus der Suizidstatistik eines Landes auf dessen ,Gesundheit' schließen. 39 Solche Analogien scheinen zwar inzwischen überholt, die Frage nach der statistischen Erfaßbarkeit des Phänomens Suizid stellt sich für die historische Forschung jedoch immer wieder. 40 In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft mußte der Suizid vergleichsweise lange auf seine Entdeckung als Thema warten. Nach der frühen Studie von Markus Schär über „Seelennöte der Untertanen", die alltags- und sozialgeschichtlich Suizid und Melancholie am Beispiel Zürich analysierte, 41 36

HEINZ, Jutta: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York 1996. 37 MACDONALD, Michael/MuRPHY, Terence R.: Sleepless Souls. Suicide in Early Modern England, Oxford 1990. Als frühe Studie ist zu nennen: BAYET, Albert: Le suicide et la morale, Paris 1922. Vgl. außerdem: MINOIS, Geschichte des Selbstmords, 1996. (Minois' Buch ist ein breiter Überblick von der Antike bis ins 20. Jahrhundert und zeigt die solchen Großprojekten oft eigenen Schwächen im Detail. Geographische Differenzierungen unterläßt Minois beispielsweise weitgehend, trotz weit umfassenderem Anspruch stützt er sich nahezu ausschließlich auf französische Quellen.) Zur Geschichte des Suizids im Mittelalter (und außerdem reich an allgemeinen historiographischen Anmerkungen): MURRAY, Alexander: Suicide in the Middle Ages, 3 Bd. Oxford/ New York 1998/2000. Der dritte Band ist angekündigt. 38 MACDONALD/MURPHY, Sleepless Souls, 1990, S. 3. Konkret beziehen sich MacDonald und Murphy hier auf die Studie von Anderson, die allerdings keineswegs ausschließlich .durkheimanisch' ist. (ANDERSON, Olive: Suicide in Victorian and Edwardian England, Oxford 1987.) 39 DURKHEIM, Emile: Der Selbstmord, Frankfurt a . M . 1990 (Original 1897). 40 Vgl.: MURRAY, Suicide in the Middle Ages, 1998, Bd. 1, S. 350. 41 SCHÄR, Markus: Seelennöte der Untertanen. Selbstmord, Melancholie und Religion im Alten Zürich 1500-1800, Zürich 1985. Kritisch zu beurteilen sind allerdings die Bemühungen Schärs, aktuelle soziopsychologische Suizidtheorien in die Untersuchung mit einzubeziehen. Als Problem erweist sich hierbei weniger, daß sich - wie Schär befürchtet - die .falsche' Theorie als die wahrscheinlichste, in der Psychologie am ehesten akzeptierte erweisen könnte und damit eine historische Untersuchung (vermeintlich) obsolet machen würde (vgl.: ebd., S. 18f.), sondern daß dieser Blickwinkel die dem Suizid in der frühen Neuzeit zugeschriebenen Bedeutungen zu überdecken droht.

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Einleitung

ist als nächstes erst der anregungsreiche Sammelband von Gabriela Signori zu nennen, der sich ebenfalls als sozialhistorischer Beitrag versteht.42 Für die vorliegende Arbeit war in diesem Band besonders der Aufsatz von Ursula Baumann relevant, in welchem sie ihr breit angelegtes Habilitationsprojekt für eine Geschichte des Suizids von 1750-1945 vorstellt.43 Baumanns umfassende Arbeit liegt inzwischen vor: In einer konzisen Mischung aus chronologischer und systematischer Gliederung analysiert die Autorin Diskurse und soziale Praxis.44 Soweit es die Quellenlage zuläßt, nimmt sie außerdem die Perspektive der .Betroffenen' selbst, der Suizidenten, hinzu.45 Ähnlich wie Baumann verbindet auch Vera Lind Sozial- und Geistesgeschichte des Suizids, allerdings konzentriert Lind sich in ihrer Dissertation auf das Fallbeispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein, anhand dessen sie „den theoretischen Diskurs an der historischen Realität" spiegeln möchte.46 Ihr regionalgeschichtlicher und aktenbasierter Ansatz ermöglicht es der Autorin, zugleich die Ursachen und Abläufe von Suizidhandlungen sowie die Reaktionen der mittelbaren und unmittelbaren Umgebung zu verfolgen. Trotz der Vielzahl an Veröffentlichungen47, die die verschiedenen Fachgebiete inzwischen zu den Themen Melancholie, Hypochondrie und Suizid beigesteuert haben, fehlt eine Verbindung zwischen den einzelnen Perspektiven. Auch die Wahrnehmungen in der Zeit wurden bisher kaum berücksichtigt. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung ist es für mich außerdem entscheidend, die Texte aus den verschiedenen Wissensgebieten, also zum Beispiel Theologie, Jurisprudenz und Medizin, nicht zu separieren. Statt dessen lese ich immer wieder quer zu den Disziplinen und schlage gedankliche Schneisen.48

Ebenfalls aus einem regional- und alltagsgeschichtlichen Blickwinkel geschrieben ist die Studie David LEDERERS. (LEDERER, David Lee: Reforming the Spirit. Society, Madness and Suicides in Central Europe, 1517-1809, Ann Arbor 1995.) 42 SIGNORI, Gabriela: Editorial, in: dies. (Hrsg.): Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften, Tübingen 1994, S. 7f., hier: S. 7. 43 BAUMANN, Ursula: Überlegungen zur Geschichte eines Suizids (letztes Drittel 18. Jahrhundert bis erste Hälfte 20. Jahrhundert), in: SIGNORI, Gabriela (Hrsg.): Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften, Tübingen 1994, S. 311-340. 44 Dies.: Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Weimar 2001. 45 BAUMANN weist darauf hin, daß Abschiedsbriefe von „einfachen" Suizidenten in größerem Umfang erst ab den 1920er Jahren verfügbar sind. (Ebd., S. 6.) 46 LIND, Selbstmord in der Frühen Neuzeit, 1999, S. 16. 47 Erwähnt sei schließlich noch BUHRS literaturwissenschaftliche Arbeit über den Suizid im 17. und 18. Jahrhundert, die außerliterarische Konzepte integriert. (BUHR, Heiko: „Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun?" Studien zum Freitod im 17. und 18. Jahrhundert, Würzburg 1998.) 48 Wichtig ist für mich außerdem, im Hinterkopf mitzudenken, daß jede Quelle durch bestimmte Bedeutungsinhalte geprägt ist und daß durch die Auswahl der Quellen ein weiteres

1. Forschungen

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Forschungen zu weiter entfernt liegenden Themenbereichen haben mich dabei methodisch und inhaltlich inspiriert. Zu nennen sind (erneut) besonders Konzepte der Körpergeschichte sowie Studien zur Konstruktion von Identitäten und Traditionen. Diese in die Kulturwissenschaften beziehungsweise Kulturgeschichte eingebetteten Untersuchungen haben deutlich gemacht, welch hohes Maß an Kreativität in Bedeutungen steckt - auch wenn sie den Zeitgenossen oder uns heute selbstverständlich und unveränderlich vorkommen mögen. 4 9 Und wie bereits ausgeführt unterliegt selbst der lange Zeit als der Inbegriff des Natürlichen geltende Körper solchen kulturellen Prozessen. 5 0 Bei meiner Spurensuche, die ich lieber interdisziplinär als archäologisch nennen möchte und die gerade die Allianzen der verschiedensten Wissensgebiete aufspüren will, bin ich nicht zuletzt von den Ideen Michel Foucaults inspiriert und beeinflußt worden. Das betrifft zunächst die thematische Ausrichtung meiner Studie. Denn auch wenn manche der Ergebnisse Foucaults zu Recht kritisiert worden sind, 51 bleibt es sein Verdienst, das Interesse an Themen wie dem ,Wahnsinn' oder der,Geburt des Gefängnisses' und den Mechanismen von Ausgrenzung geweckt zu haben. 5 2 Gerade in seinen frühen Schriften, etwa „Wahnsinn und Gesellschaft" verfolgt Foucault die „Geschichte des Anderen"; 53 entscheidend war dort und ist - auch für meine Arbeit - die Einsicht, daß unsere Kategorien, die bestimmen, was als .normal' und was als .unnormal' gilt, historisch veränderbar sind. 5 4

subjektivierendes Element hinzukommt. Vgl.: TOEWS, John E.: Intellectual History after the Linguistic Turn, in: American Historical Review, Bd. 92, 1987, S. 879-908, hier: S. 906. 49 Vgl. etwa: BRAUN, Karl: Die Krankheit Onania. Körperangst und die Anfänge moderner Sexualität im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 1995, S. 87; SAWDAY, The Body emblazoned, 1996, S. 11. Außerdem seien aus der Masse der Veröffentlichungen herausgegriffen: ASSMANN, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 19. Dies./FRIESE, Heidrun: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Identitäten (= Erinnerung, Geschichte, Identität, Teil 3), Frankfurt a. M., S. 11—23; COLLEY, Linda: Britons. Forging the Nation 1707/1837, New Haven/London 1992; HOBSBAWM, Eric: Introduction. Inventing Traditions, in: ders./RANGER, Terence: The Invention of Tradition, S. 1-14, Cambridge 1993 (erstmals 1983). 50 Dazu: RUBLACK, Klinka: Erzählungen von Geblüt und Herzen. Zu einer Historischen Anthropologie des frühneuzeitlichen Körpers, in: Historische Anthropologie, 9, 2001, S. 214-232. Wichtige Impulse habe ich außerdem von der grundlegenden Studie Barbara STAFFORDS empfangen: STAFFORD, Barbara: Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine, Massachusetts, 1991. 51 Siehe Kap. 1.3.5. 52 FOUCAULT, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, 12. Aufl., Frankfurt a.M. 1996 (Original 1961); ders.: Überwachen und Strafen, 1976. 53 BRIELER, Ulrich: Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker, Köln u.a. 1998, S. 121. 54 Unseren Vorstellungen und Wahrnehmung von .Normalität' widmete sich auch die be-

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Einleitung

Nicht zuletzt die deutsche Geschichtswissenschaft zeigte sich gegenüber dem Werk Foucaults lange Zeit eher reserviert. 55 Die Vorbehalte wurden durch verschiedene Schwierigkeiten geschürt, die den Ansätze und Ideen des Philosophen Foucault eigen sind: Auf eine detaillierte .faktische' Untermauerung seiner Thesen, die den Maßstäben der Historiker standgehalten hätte, legte Foucault oft nicht genug Wert; seine Interpretationen und Grundsätze wandeln sich von Schrift zu Schrift; und nicht zuletzt: Wer sich bei der Lektüre der Bücher Michel Foucaults eine genaue Handlungsanweisung für eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung erhofft, wird enttäuscht werden. Dennoch hat Foucault entscheidende Hinweise für unseren Umgang mit historischem Material gegeben: Hinweise auf die Voreingenommenheit unserer Ordnungskategorien; auf die Gefahr einer Reduzierung der Vergangenheit auf geradlinige Entwicklungen; auf Hierarchisierungen von Relevantem und vermeintlich Irrelevantem. Foucault rückte (besonders in seinen in den 1970ern entstandenen Werken) die Bedeutung von Denken und Sprache in den Mittelpunkt. Sie eröffnen ihm einen (den einzigen) Zugang zu den von ihm erforschten Wissenssystemen. Die Diskursanalyse dient Foucault als wichtiges Instrumentarium, um die in die Texte eingeschriebenen Bedeutungen aufzuschlüsseln und die historische Bedingtheit unserer und vergangener Denkkategorien aufzuspüren. Foucault hat den Historikerinnen auch für diese Methode keine Gebrauchsanweisung an die Hand gegeben. .Methode' ist sie daher oftmals mehr in der Beschreibung von dem, was sie nicht ist. Ich verfolge im Sinne Foucaults die Spuren der Diskurse; die Entstehung und Wandlung von Bedeutungen; die Welt von Sprache achtenswerte Ausstellung „der (im)perfekte Mensch" des Dresdner Hygiene-Museums, in Zusammenarbeit mit der Aktion Mensch. (Der (im)perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit, Ausstellungskatalog hrsg. vom Deutschen Hygiene-Museum Dresden und Aktion Mensch, Ostfildern-Ruit 2000.) 55 So besonders Hans-Ulrich WEHLER, der zu den unerbittlichsten Kritikern Foucaults wie auch der .neueren' Kulturgeschichte zählt und Foucaults Einfluß besonders in den USA als Ergebnis einer unerfreulichen „Trendiness" deklassiert (Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhunderts. 1945-2000, Göttingen 2001, S. 24). Zwar kaum weniger scharf, aber als streitbare Einführung in die Ideen Foucaults durchaus geeignet: ders.: Michel Foucault. Die .Disziplinargesellschaft' als Geschöpf der Diskurse, der Machttechniken und der ,Bio-Politik', in: ders.: Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, S. 45-95. Vgl. zur (Nicht-)Rezeption Foucaults in der deutschen Historiographie: BRIELER, Ulrich: Foucaults Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 24, 1998, S. 248-282; KLEINAU, Elke: Diskurs und Realität. Zum Verhältnis von Sozialgeschichte und Diskursanalyse, in: AEGERTER, Veronika u. a. (Hrsg.): Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte, Zürich 1999, S. 31—47; PEUKERT, D. J. K.: Die Unordnung der Dinge. Michel Foucault und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: EWALD, F./ WALDENFELS, B. (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a. M. 1991, S. 320-333, hier: S. 324. Außerdem: GOERTZ, Hans-Jürgen: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialitât, Stuttgart 2001, S. 81; KIESOW, Rainer Marie/SIMON, Dieter (Hrsg.): Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M./New York 2000.

2. Quellen

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und Denken in ihrer Historizität. Anders als Foucault noch in „Les mots et les choses" erhebe ich damit aber keinen totalitären Anspruch, der meint, damit die ganze Welt in einer subjektlosen Struktur erfassen zu können. 56 Foucault hat die Zunft der Historiker nicht zuletzt daran erinnert, daß sie sich in ihren Forschungen mit entfernten Welten beschäftigt.57 In diesem Sinne soll der hier untersuchte Zeitraum, das späte 18. Jahrhundert, als etwas Fremdes, Unvertrautes betrachtet werden. Denn ,,[d]amit aber die Vergangenheit ihre Dichte (auch nur teilweise) zurückgewinne, ist es [...] notwendig, Abstand von ihr zu nehmen; ganz die Schwierigkeit zu spüren, sie zu begreifen; ihre Bruchstückhaftigkeit, ihre Unvollständigkeit zu erfassen [.. ,]" 58

2. Quellen Es gilt also vielfältige Perspektiven einzunehmen, um die zu untersuchenden Bedeutungen - von Melancholie, Hypochondrie und Suizid - zugänglich zu machen. Entsprechend greife ich auf Quellenmaterial aus ganz unterschiedlichen Bereichen zurück: Theologische Traktate, juristische Abhandlungen, philosophische Versuche und gerichtsmedizinische Fallsammlungen zählen genauso zu meinem Fundus 59 wie Romane, Texte der Erfahrungsseelenkunde und Diätetiken. Die Auswahl der Quellen bewegt sich in konzentrischen Kreisen um meine drei Hauptthemen Melancholie, Hypochondrie und Suizid. Im Mittelpunkt stehen jene Texte, die sich direkt mit diesen Phänomenen auseinandersetzen. Sie stammen aus den verschiedensten , Fachrichtungen und spiegeln das breite Interesse, das man diesen Themen speziell in den letzten drei Dekaden des 18. Jahrhunderts entgegenbrachte.60 Um die Eigenarten und Veränderungen der Diskurslandschaft verstehbar zu machen, ist es jedoch notwendig, das Quellenkorpus noch auszuweiten. Ich greife dafür vielfach auf Texte zurück, die lediglich mittelbar auf die Bedeutungsentwicklung der untersuchten Themen einwirkten. Es handelt sich beispielsweise um juristische Texte, die die Problematik des Strafzwecks verhandelten, um literaturtheoretische Texte, die die Gefährlichkeit des Romanelesens beklagten, oder Erziehungsschriften, die 56

Vgl.: BRIELER, Die Unerbittlichkeit der Historizität, S. 122. Vgl.: FOUCAULT, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970, Frankfurt a. M. 1990, S. 25. Vgl. dazu auch: FRIJHOFF, Foucault Reformed by Certeau, 1999, S. 85. 58 SETTIS, Salvatore: Die Zeitmaschine. Über den Umgang mit Geschichte, in: RAULFF, Ulrich (Hrsg.): Vom Umschreiben der Geschichte, Berlin 1986, S. 147-153, hier: S. 152. 59 Auch im Sinne, daß jeder Text von mir .gefunden' wurde, was keineswegs ein rein passiver Akt ist. 60 Allein der systematische Katalog der Staatsbibliothek in Berlin verzeichnet hierzu etwa hundert Titel, die durch eine Vielzahl von Publikationen in Zeitschriften ergänzt werden. 57

24

Einleitung

zu einem .richtigen' Leben anleiteten, u.s.w. Ein solcher sowohl in die Tiefe als auch in die Breite des Diskursnetzes strebender Ansatz muß sich allerdings eines eingestehen: Das verwendete Quellenrepertoire ist notwendigerweise fragmentarisch. Basis meiner Arbeit ist kein in sich geschlossener Textkorpus; die Auswahl der Quellen kann niemals auch nur in die Nähe von Vollständigkeit reichen. Unaufwiegbarer Vorteil dieses Vorgehens ist es jedoch, daß es der Dynamisierung der zeitgenössischen Medienlandschaft Rechnung trägt; die Auswahl der Quellen folgt der weitverästelten Kommunikation der Veröffentlichungen. Das späte 18. Jahrhundert zeichnete sich durch eine nie dagewesene Publikationsvielfalt aus. Nicht nur Bücher, sondern auch Zeitschriften wurden ab den 1750er, besonders aber ab den 1770er Jahren in immer größerer Zahl veröffentlicht.61 Entsprechend wichtig war die periodische Presse für die Gestaltung von Meinungen und Ideen sowie für die Wahrnehmungsveränderungen, auf die ich mich besonders konzentriere. Eine Vielzahl der von mir verwendeten Texte stammt daher aus den Zeitschriften der verschiedenen Disziplinen, allgemeinen Journalen und Rezensionsorganen.62 Besondere Bedeutung kommt außerdem jenen Zeitschriften zu, die sich die neu entstehenden Wissensgebiete wie Gerichtsmedizin oder Erfahrungsseelenkunde kreierten. Karl Philipp Moritz' „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" ist hier sicherlich das bekannteste, aber nur eines unter einer Vielzahl von vergleichbaren Projekten. 63 Im Bereich der forensischen Medizin seien stellvertretend die „Aufsätze und Beobachtungen aus der gerichtlichen Arzneywissenschaft" und das „Magazin für die gerichtliche Arzneikunde und medicinische Polizei" genannt,64 die jeweils seit Beginn der 1780er Jahre gerichtsmedizinische Fälle und Aufsätze publizierten. Da die Ausbreitung medizinischer Ideen eine der Hauptspuren ist, die ich in meiner Arbeit verfolge, lege ich ein besonderes Augenmerk auf medizinische Texte. Wichtig waren in diesem Bereich nicht nur diejenigen Autoren, die sich in Monographien oder Aufsätzen direkt mit den Phänomenen Melancholie, Hypochondrie oder Suizid befaßten, 65 sondern auch anatomische und forensi61

Vgl. etwa: BÖNING, Holger: Aufklärung und Presse im 18. Jahrhundert, in: JÄGER, HansWolf (Hrsg.): „Öffentlichkeit" im 18. Jahrhundert (= Das achtzehnte Jahrhundert Supplementa, Bd. 4), Göttingen 1997, S. 151-163. 62 Um nur einige der wichtigsten zu nennen: Berlinische Monatsschrift, Journal von und für Deutschland, Schlesische Provinzialblätter, Teutscher Merkur. 63 Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, Bd. 1-10, 1783-1793. Vgl. außerdem: Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften, 1792-1793; Psychologisches Magazin, 1796-1798. 64 Aufsätze und Beobachtungen aus der gerichtlichen Arzneywissenschaft, 1783-1793; Magazin für die gerichtliche Arzneikunde und medicinische Polizei, 1782-1784. 65 Für das Thema Suizid stehen nicht nur zwei umfangreiche Bibliographien (BERNARDINI, Paolo: Literature on Suicide 1516-1815, Lewinston 1996; ROST, Hans: Bibliographie des

2. Quellen

25

sehe Werke. Denn es wurden etwa .Selbstmörder' seziert und aus dieser Leichenschau' umfassende Schlüsse abgeleitet, die bis in das große Thema des Verhältnisses von Leib und Seele hineinreichten. In diesem Zusammenhang stand außerdem die breite Debatte über die Bestrafung beziehungsweise das Begräbnis von Selbstmördern'. Neben gedruckten Quellen, besonders aus dem Gebiet der Rechtswissenschaft, habe ich für dieses Thema ergänzend archivalische Quellen herangezogen.66 Zu den von mir verwendeten Quellen zählen zudem nicht-wissenschaftliche Texte, vor allem Romane. Dabei möchte ich fiktionale und nicht-fiktionale Texte nicht gleichsetzen, aber genausowenig deren Gehalt hierarchisieren. So bieten mir beispielsweise Romane wie Goethes „Werther" oder Wezeis „Wilhelmine Arend" Hinweise auf die Integration von medizinischen Ideen im außermedizinischen Feld. Diese Gattung trug außerdem entscheidend zu jenem Prozeß bei, der im Verlauf des 18. Jahrhunderts dem Individuum als Subjekt einen neuen Stellenwert gab.67 Darüber hinaus habe ich auf Zeugnisse zurückgegriffen, die nicht unbedingt von vornherein zur Veröffentlichung gedacht waren: Briefen und Tagebüchern kam nicht nur (wie auch dem Roman) im ausgehenden 18. Jahrhundert ein besonderer Stellenwert zu, sondern sie bieten eine weitere Perspektive für die Untersuchung der zeitgenössischen Wahrnehmungen. Ohne die Eigenarten der einzelnen Genres und Fachbereiche zu verdecken, sollen, ja müssen gerade deren Verbindungen und gegenseitige Beeinflussungen verfolgt werden. Als Basis dafür diente mir eine umfangreiche qualitative Auswertung des Quellenmaterials. Quantitative Aussagen können aufgrund meiner Themenstellung nicht getroffen werden - hierzu fehlt einerseits das statistische Material,68 andererseits untersuche ich ausschließlich die in den Texten konstruierten Bedeutungen. Deren Inhalte sollen außerdem nicht auf bloße Reaktionen auf eine äußere Wirklichkeit (politischer oder wirtschaftlicher Art) reduziert werden.69

Selbstmordes, mit textlichen Einführungen zu jedem Kapitel, Augsburg 1927), sondern außerdem das Sondersammelgebiet .Selbstmord' der Staatsbibliothek Augsburg zur Verfügung. 66 Die Akten stammen aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, dem Mecklenburgischen Landeshauptarchiv Schwerin und dem Universitätsarchiv Leipzig. 67 Ich wende mich damit gegen die Annahme einer „Unvereinbarkeit" von literarischem und nichtliterarischem Text für die historische Forschung. Diese konstatiert: SPIEGEL, Gabriele M.: Geschichte, Historizität und die soziale Logik von mittelalterlichen Texten, in: CONRAD, Christoph/KESSEL, Martina (Hrsg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne, Stuttgart 1994, S. 161-202, hier: S. 177. 68 So sind etwa statistische Aussagen über die Suizidhäufigkeit im 18. Jahrhundert äußerst problematisch. (Vgl.: MURPHY/MACDONALD, Sleepless Souls, 1990, S. 247.) 69 CHARTCER, Roger: Kulturgeschichte zwischen Repräsentation und Praktiken, in: ders.: Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Berlin 1989, S. 7 - 2 0 , hier: S. 16.

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Einleitung

3. Perspektiven Die Perspektive, die wir einnehmen, bestimmt, was wir sehen; oder, um es in der Sprache der Fotografie zu formulieren: „.Erkenntnis ist eine Frage des Abstandes', [...] Wir können uns als Beobachter heraushalten, wie wir wollen, und sind selbst doch immer Teil des Systems, das wir beobachten." 70 Es gibt keinen unmittelbaren Zugang zu der Geschichte, kein Labor zur Wiederholung der historischen Situation. In diesem Sinne will Hayden White verstanden sein, wenn er konstatiert: „[...] above all, the past is a place of fantasy." 71 Wir sollten es jedoch nicht länger als Nachteil sehen, daß es verschiedene Wege gibt, um den Spuren der Geschichten nachzugehen. 72 Wie bereits ausgeführt, ist es das Ziel dieser Arbeit, die Bedeutungen von Melancholie, Suizid und Hypochondrie unter verschiedenen Gesichtspunkten zu beleuchten. Es wird um veränderte Bewertungen und Konnotationen gehen, um das Verhältnis von Leib und Seele, um die Frage, wie präsent diese Phänomene in der zeitgenössischen Wahrnehmung waren, um die Rolle der ,Medien' und Schreibarten, um die Welt der Gefühle und Gedanken. Aus veränderten Blickwinkeln lassen sich ungewohnte Aspekte erspähen, kann man auf die .andere Seite' von Bedeutungen blicken: auf das „Andere der Vernunft", das „Andere Geschlecht", etc. 73 In diesem Sinne sind die Texte in all ihrer Widersprüchlichkeit und Ambivalenz aufzunehmen, ebenso wie die Denklinien der untersuchten Zeit, dem späten 18. Jahrhundert, sich kontrovers und vielfältig geben. 74 Die Vielfältigkeit der Perspektiven, von denen aus ein Gegenstand betrachtet werden kann, steht für mich jedoch nicht nur für die unterschiedlichen Analysemöglichkeiten der Texte, sondern außerdem für Beobachtungsweisen in der untersuchten Zeit selbst. Denn die Blickwinkel verändern sich und sind beeinflußt von Bedingungen des Wissens und der Kultur. Das betrifft im 18. Jahrhundert etwa die Etablierung von medizinischen Erklärungen und Sichtweisen

Dieses Problem der Abhängigkeit von Texten geht letztlich zurück auf die Frage nach einer Hierarchisierung von Kultur, Wirtschaft und Politik, wie sie von der Sozialgeschichte etabliert wurde. (Vgl.: HUNT, Geschichte jenseits von Gesellschaftstheorie, 1994, S. 109.) 70 SEYFARTH, Ludwig: Notausgang am Horizont, in: Wohin kein Auge reicht. Von der Entdeckung des Unsichtbaren, Ausstellungskatalog, Hamburg 1999, S. 48f., S. 86f., u.a., hier: S. 86. Seyfarth bezieht sich auf den Fotografen Wilhelm Schürmann. 71 Interview mit Hayden WHITE, in: DOMANSKA, Ewa: Encounters. Philosophy of History after Postmodernism, Charlottesville/London 1998, S. 13-38, hier: S. 16. 72 Diese Vielfältigkeit hat nichts mit Beliebigkeit zu tun und auch nicht mit einer wahllos waltenden Phantasie, wie es Richard EVANS, einer der Kritiker von , postmoderner' Geschichtstheorie, vermutet. (EVANS, Fakten und Fiktionen, 1998, S. 92f.). 73 Vgl.: BEAUVOIR, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1951 (Original 1949); BÖHME, Gernot/BöHME, Hartmut: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a.M. 1996 ( l . A u f l . , 1983). 74 FOUCAULT, Archäologie des Wissens, 1973, S. 222.

3. Perspektiven

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oder die Entdeckung des eigenen Ichs als Objekt der Betrachtung. Die Blickwinkel veränderten sich aber nicht nur im metaphorischen, sondern im ganz konkreten Sinne: Man schaute in den Körper hinein, man vergrößerte Kleines mit Hilfe von Mikroskopen, man veränderte die Art, sich selbst und die Welt zu sehen. ,,[L]ooking [...] is a culturally determined activity."75 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelte man große Begeisterung für jene Technik, welche die erste Vorläuferin der Fotografie war: die Camera obscura.76 Durch ein kleines Loch holt(e) dieser Apparat entfernt liegende Landschaften, Gebäude, Menschen in den dunklen Raum der Camera, wo sie auf einem Papier oder einer Leinwand abgebildet werden konnten. Welches Bild aus der großen Außenwelt erschien, hing jedoch von der Position jenes Loches ab, eben von der Perspektive. Deren Auswahl ist ein aktiver Prozeß. Ähnlich verhält es sich auch mit der Erforschung der Geschichte als einem weit entfernten Gegenstand. Sowohl die Auswahl der Quellen als auch der Prozeß des Schreibens ist alles andere als objektiv (deswegen aber trotzdem nicht willkürlich). Ich habe mich daher dafür entschieden, mich selbst und mein Wirken als Forscherin und Autorin auch in meinem eigenen Text transparent zu machen. 77 Die Macht der Sprache bei der Gestaltung von Wirklichkeiten soll außerdem noch in einer anderen Hinsicht reflektiert werden: Die von mir verwendeten 75

BOLLA, Peter: The charm'd eye, in: MÜCKE, Dorothea/KELLY, Veronica (Hrsg.): Body and Text in Eighteenth Century, Stanford 1994, S. 89-111, hier: S. 90. 76 GERNSHEIM, Helmut: Geschichte der Photographie. Die ersten hundert Jahre, Frankfurt a. M. u.a. 1983, S. 23. Ähnlich erfreute sich auch der Guckkasten zunehmender Beliebtheit, der dem/der Beobachter(in) ebenso einen Ausschnitt von der Welt präsentiert. (Vgl.: BUSCH, Bernd: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, Frankfurt a. M. 1995 (erstmals 1989), S. 116.) 77 In diesem Sinne möchte ich die Schlußfolgerungen von Theoretikern wie Hayden WHITE, der immer wieder auf die Beeinflussung der Geschichtsschreibung durch die Autorin und durch den Autor hingewiesen hat, aufgreifen. Etwa: WHITE, Hayden: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986, S. 102. Ich folge allerdings nicht Whites Aufteilung der Erzähl Strategie nach Tropen, da diese Kategorisierung meiner Ansicht nach zu starr und schematisch ist. Michel de CERTEAU sprach von der „historiographischen Operation", die u. a. durch den Ort ihrer Produktion bestimmt ist. (CERTEAU, Michel de: Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt a. M. u.a. 1991 (Original 1975), S. 73.) Die Debatte über das „Schreiben der Geschichte" hält an. Oftmals geht es auch um eine Verteidigung der alten Disziplin. (Vgl.: GOSSMAN, Lionel: Between History and Literature, Cambridge 1990, bspw.: S. 323; RÜSEN, Jörn: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden, Köln u. a. 1994, S. 200.) Die Suche nach den möglichen Theorien wird vornehmlich englisch oder französisch formuliert. (Vgl. insbes. die Debatten in der Zeitschrift „History and Theory", Bd. 3 9 , 2 0 0 0 . Außerdem etwa die Sammlung von Interviews mit Historikern in: DOMANSKA, Ewa: Encounters. Philosophy of History after Postmodernism, Charlottesville/London 1 9 9 8 . )

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Einleitung

Quellentexte sind nahezu ausnahmslos von männlichen Autoren verfaßt. In der überwiegenden Mehrzahl verwenden sie die männliche Substantivform zur Bezeichnung von Menschen.78 Damit wird keineswegs automatisch die Frau mitgedacht. Vielmehr gilt es genau zu differenzieren, über wen gesprochen wird beziehungsweise wer angesprochen werden soll. Ich selbst verwende bewußt verschiedene Möglichkeiten, um die Beteiligung der Geschlechter auszudrükken und die Darstellung etwas von der männlichen Diktion zu lösen.

4. Aufbau der Arbeit Die Wahl der Perspektive bestimmt meine Arbeit. Indem ich den verschiedenen Bedeutungen und Bedeutungsmöglichkeiten der von mir untersuchten Phänomene nachgehe, schreibe ich weniger eine Geschichte der Linearität, der Epochen und der Kontinuitäten als eine Geschichte der Sprachlichkeit, der Brüche und der Gleichzeitigkeit von Widersprüchen.79 Daher folgt die Gliederung meiner Arbeit auch nicht chronologischen, sondern inhaltlichen Aspekten. Denn die Vielschichtigkeit der Themen entfaltet sich gleichzeitig und auf verschiedenen Ebenen, die noch dazu von einander abhängen. Meine Studie selbst spiegelt diese Netzartigkeit; die Aspekte lassen sich nicht aufeinander stapeln wie Bausteine oder (aus)gelesene Bücher. Sie meandern vielmehr hin und her. Mancher Aspekt rückt dabei in den Vordergrund, wodurch ein anderer unvermeidbar verdeckt wird. Insgesamt ist diese Untersuchung in drei große Abschnitte gegliedert, wobei jeder dieser Teile einer besonderen Fragestellung nachgeht, die Teile untereinander jedoch verbunden bleiben: natürlich durch die übergeordneten Themen Melancholie, Suizid und Hypochondrie, aber auch durch die bereits erwähnten ,Nebenthemen' (etwa Publizität, Moral, Ambivalenzen der Zeit). Darüber hinaus bauen die Teile aufeinander auf - was sich unter anderem auch darin manifestiert, daß die Verweise auf Vorangegangenes im Verlauf der Arbeit zunehmen werden. In diesem Sinne bildet der erste Abschnitt eine notwendige Folie für den auf ihn folgenden. Die Blicke, die am Beginn dieser Arbeit untersucht werden, betrachteten den Menschen, seinen Körper und seine Seele durch die Brille medizinischer und anthropologischer Ideen - wie überhaupt durch optische Hilfsmittel. So weckte die Mikroskopie im Verlauf des 18. Jahrhunderts ebenso 78

Ähnliches galt und gilt für weite Teile der Historiographie. Vgl.: REVEL, Jacques: Geschlechterrollen in der Geschichtsschreibung, in: PERROT, Michelle (Hrsg.): Geschlecht und Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich?, Frankfurt a.M. 1989 (Original 1984), S. 95-120, hier: S. 95. 79 So auch: VEYNE, Paul: Die Originalität des Unbekannten. Für eine andere Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1988 (Original 1976), S. 34.

4. Aufbau der Arbeit

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Begeisterung wie das Reich des Visuellen generell. Durch diese veränderten Betrachtungsweisen wandelten sich auch die Bedeutungen von Melancholie, Hypochondrie und Suizid, standen (und stehen) diese Phänomene doch auf der Scheidelinie von Psychischem und Physischem. Daher werden zunächst die neuen (Körper-)Welten erkundet werden, die der medizinische Blick mit den Mitteln der Anatomie entwickelte. Sodann stehen die Verbindungen im Mittelpunkt, die man zwischen Leib/Körper und Seele/Psyche fand oder neu herstellte, wobei diese Ideen am Beispiel der Hypochondrie veranschaulicht werden sollen. Denn die verschiedenen Behandlungsweisen, die der Hypochonder 80 im ausgehenden Jahrhundert erfuhr, waren genau durch diese Entwürfe des menschlichen Wesens geprägt. Der letzte Abschnitt des ersten Teiles erweitert wieder den Blickwinkel und fragt nach der allgemeinen Präsenz von medizinischen Ideen im 18. Jahrhundert im Sinne einer ,Medikalisierung' von Gesellschaft und Gedankenwelten. Entscheidend ist hier außerdem, ob man diesen Prozeß auch als ,Disziplinierung' oder gar als Repression' zu verstehen hat, griffen doch beispielsweise die vielzähligen Schriften der Diätetik und der .medizinischen Polizey' weit in die Lebens weit des einzelnen ein. Aufbauend auf den im ersten Teil dargestellten Interpretationen des Menschen, seiner Seele und seines Körpers, deren Analyse den Einflußgewinn der medizinischen Zunft offenbart, widmet sich der zweite Teil dem Funktionieren und den Funktionen der beschriebenen Umdeutungen, die sich verknappend als Pathologisierungen bezeichnen lassen. Zur Veranschaulichung konzentriere ich mich in diesem Zusammenhang ganz auf das Thema Suizid. Der Suizid ist im Verlauf des Jahrhunderts stärker noch als Melancholie und Hypochondrie von Bedeutungsveränderungen betroffen gewesen, war er doch in den Anfangsjahren nicht nur moralisch diskreditiert, sondern auch mit weltlichen und geistlichen Strafen belegt. Um die Veränderungen dieser Bewertungen, die sich beispielsweise in einer weitgehenden Entkriminalisierung niederschlugen, zu untersuchen, müssen Einflüsse ganz unterschiedlicher Art berücksichtigt werden. So spielten etwa in der juristischen Auseinandersetzung allgemeinere Fragen des Strafzwecks eine Rolle. Immer wieder wird deutlich, wie wichtig medizinische Interpretationen für die veränderten Bewertungen waren. Galt ein .Selbstmörder' als krank, konnte er juristisch nicht mehr belangt werden, mußten selbst Theologen Milde walten lassen. Jedoch beinhaltete diese pathologisierende Interpretation des Suizids, die schließlich bis heute die gängige ist, auch, daß weder eine freie Entscheidung über den eigenen Tod denkbar war, noch gesellschaftliche Umstände bei der Suche nach den Ursachen besonders berücksichtigt werden mußten. Auch solche Effekte der Pathologisierung gilt es zu beachten. Der dritte Abschnitt untersucht Wahrnehmungen ganz eigener Art. Das späte 18. Jahrhundert gilt als ein besonders melancholisches Zeitalter. Damit nicht 80

Diese Krankheit war tatsächlich weitgehend männlich konnotiert. Siehe Kap. 1.2.3.

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Einleitung

genug soll es außerdem von Hypochondern bevölkert gewesen sein und unter einer gehäuften Suizidneigung gelitten haben. Anders als die bisherige Forschung versuche ich nicht, aus gesellschaftlich-politischen Umständen Rückschlüsse auf die Gefühlslage der Menschen in der Aufklärungszeit zu ziehen.81 Vielmehr sollen die in den Texten der Zeit selbst dazu getroffenen Aussagen analysiert und ernst genommen werden - nicht als Abbildung einer Wirklichkeit, sondern als Meinungen, Artikulationen und Konstruktionen von Wirklichkeit. Außerdem werden die Entstehungsbedingungen dieser Argumentationen hinterfragt werden. Dazu sind neben den umwälzenden Veränderungen der Publikations- und Kommunikationsmöglichkeiten einmal mehr neue Blickwinkel zu berücksichtigen, wie sie sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts durchsetzten. Das Ich, das Individuum rückte ins Zentrum vieler Betrachtungen und vieler Fachrichtungen. Dabei wurde sowohl der/die Andere beobachtet als auch das eigene Selbst und sein Innenleben erkundet. Angestachelt von solchem Interesse erhielten so manche Selbsterkunder in den neu gegründeten Zeitschriften (etwa der Erfahrungsseelenkunde) ein Forum zur (Selbst-)Darstellung; andererseits wurden dort medizinische, juristische etc. Fallgeschichten veröffentlicht. Diese Betrachtungs- und Darstellungsweisen mußten auch die Bedeutungen von Melancholie, Hypochondrie und Suizid betreffen. Zuletzt werde ich schließlich bei jenem Werk ankommen, das für viele genuin die Todessehnsucht des späten 18. Jahrhunderts verkörpert: Goethes „Werther" galt schon manchem zeitgenössischen Kritiker als Apologie des .Selbstmords' und wird bis heute als Auslöser einer Suizidwelle kolportiert. Welchen diskursiven Hintergrund diese Wahrnehmungen haben/hatten und in welchem Zusammenhang mit den in dieser Arbeit zuvor beschriebenen Entwicklungen und Eigenarten des ausgehenden 18. Jahrhunderts sie standen, dem wird am Ende meiner Suche nach den Text Welten Jenseits vom Glück' nachgegangen werden.

Da dieses Thema in den letzten Jahrzehnten ungewöhnlich kontrovers diskutiert worden ist, wird ein Teil dieses Abschnittes auch eine Zusammenfassung der Forschungsdiskussion enthalten. Siehe Kap. 3.1.2.

1. Blicke auf und in den Menschen Die Phänomene Hypochondrie, Melancholie und Suizid betreffen Körper und Psyche, Leib und Seele des Menschen. Die Gewichtung der einzelnen Komponenten verändert sich jedoch ebenso wie die Vorstellung davon, wie die Verbindung zwischen den Sphären hergestellt wird. Ich nehme daher diesen Aspekt des Köperseelischen als Ausgangspunkt für meine Suche nach den Bedeutungen von Melancholie, Suizid und Hypochondrie im 18. Jahrhundert. Welche körperlichen oder seelischen Ursachen wurden etwa für einen Suizid verantwortlich gemacht? Wie der Zusammenhang zwischen psychischen und physischen Irritationen vorgestellt? Die zugrundeliegenden Wahrnehmungen bilden einen wichtigen Hintergrund für meine gesamte Arbeit, in der es immer wieder um die Blicke auf und in den Menschen gehen wird. Grundlegend für die Theorien über den Zusammenhang von Körper und Seele waren im 18. Jahrhundert etwa die Betrachtungsweisen der Anatomie. (Und eines ihrer Objekte waren die Leichen von .Selbstmördern'.) Die Obduktion als offensichtliches EinW/c&nehmen in den menschlichen Körper steht deshalb am Anfang meiner Untersuchungen. Deren verschiedene Funktionen und Sehweisen gilt es zu differenzieren. Entscheidend ist außerdem, daß das Interesse an Sektionen nicht auf den abgeschlossenen Raum der medizinischen Wissenschaft begrenzt blieb, sondern weit darüber hinaus ging, ja Öffentlichkeit erreichte. Aus dem Blick in den Körper wurden auch Rückschlüsse auf die Befindlichkeit der Seele gezogen. Wie gesagt, waren gerade Melancholie, Hypochondrie und suizidales Verhalten von beiden Komponenten des menschlichen Wesens getragen und beeinflußt. Daher werden im zweiten Teilabschnitt die Vorstellungen über die gegenseitige Beeinflussung von Psyche und Physis im Mittelpunkt stehen. Kehrten „philosophische Medizin" und Anthropologie als neu entstehende Wissensformen zum ganzen Menschen zurück, nachdem Körperliches und Seelisches zuvor separiert betrachtet worden waren? 1 Aufschlußreich für die Beantwortung dieser Frage sind die Behandlungsmethoden, die Hypochonder im späten 18. Jahrhundert erfuhren. Sie dienen mir deshalb zur Veranschaulichung der unterschiedlichen Ansätze. Beschäftigt man sich mit den verschiedenen Bedeutungen der Obduktion, mit den Kurmethoden für Hypochonder, mit dem allgemeinen Interesse an anatomischen Präparaten, wie sie jeweils charakteristisch für das 18. Jahrhundert sind, so fällt auf, daß medizinische Interpretationen in ganz unterschiedliche 1 Die .philosophischen Mediziner' bemühten sich - wie es dieser Bezeichnung entspricht um eine Verbindung von philosophischen und medizinischen Interpretationen des Menschen. Inwiefern dieses Konzept oder jenes der Anthropologie des 18. Jahrhunderts .ganzheitlich' ausgerichtet war, wird ausführlich diskutiert werden.

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1. Blicke auf und in den Menschen

Bereiche hinein wirkten. Alle drei von mir untersuchten Hauptthemen, Suizid, Melancholie und Hypochondrie, wurden im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend medizinisch gedeutet, also zumindest teilweise medikalisiert.2 Dieser Prozeß ist nur in einem allgemeineren Zusammenhang zu verstehen. Wieweit reichten die Ideen der Medizin in die Gedanken- und Lebenswelt der Zeit hinein? Wie wurde das Verhalten des/r einzelnen beobachtet, bewertet und möglicherweise auch beeinflußt? Diesen Fragen wird am Ende des ersten Teils über die Blicke des späten 18. Jahrhunderts nachgegangen werden, die Zunahme von .diätetischen' Schriften ist dabei ebenso aufschlußreich wie die ausgefeilten Konzepte für eine , medizinische Polizey'.

1.1. Obduktionen „Noch eine Mordgeschichte. Am 18ten hujus, früh um 3 Uhr, hat sich Hr. Kirchenrath Danow in Jena in der Saale ersäuft. Schrecklich! Er war 38 Jahre alt, der erste Theologe, und vielleicht der erste Kopf, hatte Vermögen, Ehre, Zulauf und Alles, wornach [sie] man strebt, weswegen man nicht auf eine Veranlassung dazu denken kann." 3 So schreibt Johann Karl Wilhelm Voigt aus Frankfurt über den selbstgewählten Tod des bekannten Theologen Ernst Danovius. Was tun, wenn es die „Veranlassung" der Tat zu ergründen galt? - Man sezierte den Toten. Dabei ging es allerdings nicht nur darum, ein mögliches Fremdverschulden oder einen Unfall auszuschließen, vielmehr wollte man aus dem Blick in den Körper Rückschlüsse auf den Zustand von Verstand und Seele (heute würde man sagen: ,Psyche') ziehen. Von den Ergebnissen erhoffte man sich außerdem mehr als die Befriedigung aufklärerischen Wissensdurstes: vom Befund hing das moralische Urteil über die Tat (und damit auch über die Person) Danovius' ab. Denn auch im ausgehenden 18. Jahrhundert war es noch immer nicht statthaft, einen Suizid im vollen Besitz der geistigen Kräfte zu begehen. Bezeichnenderweise veröffentlichte Danovius' Schwager Schütz den Obduktionsbericht in seiner Schrift über „Leben und Charakter des Herrn Ernst Jacob Danovius [...]". Das dahinterstehende Anliegen - eben zu beweisen, daß der Schwager unzurechnungsfähig war, als er sich das Leben nahm - wird in Jacob Schütz' Argumentation vielfach sichtbar: Alle Indizien sprächen dagegen, daß Danovius seinen Tod von langer Hand her geplant habe; schließlich habe er noch am Abend zuvor an längerfristigen Projekten gearbeitet. Selbst der verfaßte letzte Wille sei kein Argument für des Schwagers Vernünftigkeit, denn es sei ja bekannt, „daß es deliria gibt, die den Kranken nur in Absicht ei2

Zum Begriff der Medikalisierung siehe Kap. 1.3.1, FN 189. VOIGT, Johann Karl Wilhelm: Brief an Johann Heinrich Merck, Frankfurt, 2 5 . 3 . 1 7 8 2 , in: Wagner, Karl (Hrsg.): Briefe an Merck, von Göthe, Herder, Wieland und andern bedeutenden Zeitgenossen, Darmstadt 1835, S. 32. 3

1.1. Obduktionen

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ner einzigen, oder einiger Hauptideen verwirren, und ihm in allen übrigen den Gebrauch seines Verstandes lassen."4 Loders Sektionsbericht paßt sich in die Beweisführung Schütz' überaus günstig ein, heißt es dort doch eindeutig: „Aus den in dieser Section vorgekommenen Umständen läßt sich aus medicinischen Gründen unleugbar darthun, daß der sei. Hr. Kirchenrath Danovius mit einer Art von hypochondrischen Melancholie behaftet gewesen seyn müsse, die kurz vor seinem Tode in eine plötzliche Wuth ausgebrochen seyn, und ihn zu der traurigen Art, sein Leben zu endigen, gebracht haben muß."5 Der Arzt blickte also in den Körper, auf die Organe, später verstärkt auch ins Gehirn der Suizidenten und versuchte dadurch, deren Motivation zu erfahren. Überhaupt waren in den letzten Jahrzehnten vor der Wende zum 19. Jahrhundert viele Mediziner und Nicht-Mediziner von der Idee angetan, aus der physischen Konstitution die psychische ableiten zu können. Es herrschte die Hoffnung, irgendwann auf die Seele selbst schauen zu können. Hier läßt sich Galls Phrenologie ebenso einordnen wie Lavaters Physiognomie, auch wenn letztere nicht unter die Oberfläche der menschlichen Haut vordrang, sondern sich mit den (vermeintlich) offensichtlichen Bildern von Gesicht und Körperhaltungen begnügte.6 Entscheidend ist daher, wie sich die Perspektive auf beziehungsweise in den Körper veränderte. Was implizierte eine Sektion? Welche Bedeutungen wurden hier vergeben - auch in bezug auf die Themenkomplexe Melancholie, Hypochondrie und Suizid?

1.1.1. Sektion als Strafe Sicher: Bei der Sektion des Theologen Danovius ging es auch darum, die Ursache seines Todes unzweifelhaft dingfest zu machen (was in etwa unserem heutigen Verständnis einer gerichtsmedizinischen Untersuchung entspräche). Aber es ging eben nicht nur darum; das macht die Veröffentlichung seines Schwagers deutlich. Augenfällig wird, daß eine Sektion ganz verschiedene Bedeutungen haben konnte: Sie konnte die Suche nach Todesursachen sein, zwischen Mord, Unfall, Krankheit oder Selbstmord differenzierend oder die Spuren des Sterbens nachzeichnend; sie konnte aber auch der anatomischen Wissenschaft, der Ausbildung von Studenten, der Demonstration des Körperaufbaus dienen. In dieser letzten Variante setzte man Sektionen außerdem als Strafe ein. Denn dem Gedanken, daß der eigene Körper nach dem Tod aufgeschnitten werden würde, haftete Schrecken und Grauen an, noch dazu, da im Anschluß oft ein 4

SCHÜTZ, Christian Gottfried: Leben und Charakter des Herrn Ernst Jacob Danovius der Gottesgelahrtheit ersten Professors zu Jena, Halle 1783, S. 35 u. S. 51. 5 Sektionsbericht, in: ebd. S. 64. 6 Vgl.: BÖHME, Gernot/ BÖHME, Hartmut: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1996(1. Aufl., 1983),S. 268. Deren Interpretation, die praktische Psychologie sei als bloße „Entlarvungskunst" entstanden, erscheint mir aber zu einseitig negativ.

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1. Blicke auf und in den Menschen

christliches Begräbnis verweigert wurde. Diese Bestrafung konnte im Gefängnis Verstorbenen ebenso drohen wie Hingerichteten und .Selbstmördern', abhängig natürlich von der Kriminalverfassung des jeweiligen Landes (und in vielen Fällen auch von der Durchsetzungsfähigkeit der Mediziner). Wie sehr den Chirurgen und Anatomen die moralische Funktion ihres Tuns bewußt war, läßt sich an einem Beispiel aus England zeigen, wo man noch 1752 die auf Mord stehende Todesstrafe durch die Übergabe der Leiche an die Anatomie zu verschärfen suchte beziehungsweise endlich die ohnehin schon lange bestehende Praxis auch rechtlich fixierte:7 „Mr. Tate", seines Zeichens Londoner Chirurg, ist im Oktober 1759 beauftragt, einen wegen Mordes verurteilten und hingerichteten Mann öffentlich zu sezieren. In seinem einleitenden Vortrag führt er dem Publikum den Sinn der Maßnahme und die Absichten des Gesetzgebers klar vor Augen: „This was to strike a greater terror into the minds of men, not by inhuman tortures on the living subject, as in other countries, but by denying the murderer the privilege of having his bones rest peaceably in the ground". Der Seziertisch wird Tate zur Kanzel, zum „preacher to all this audience: and should their passions run high, and the voice of reason and religion be forgotten, may this dread table present itself to their view, and restrain the arm, raised to deprive a fellow creature of life, and not only, but raised to destroy themselves: seeing murder scarce ever escapes its due reward, an ignominious death, and afterwards to be prepared and exhibited again". 8 Deutlicher kann man die (anvisierte) Funktion des anatomischen Theaters in der Inszenierung von Strafe kaum machen - auch wenn damit noch nichts über deren tatsächlichen Eindruck bei den Zuschauern gesagt ist. Allerdings geriet die öffentliche Strafpraxis ab 1790 mehr und mehr in die Kritik; der Strafvollzug wurde allmählich aus der Öffentlichkeit und dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt. 9 Hinrichtungen wurden hinter Gefängnismauern verlegt und die öffentliche Bloßstellung von Delinquenten wurde fragwürdig. Es ist keine zufällige Koinzidenz, daß gleichzeitig auch die Anatomie sich in ihre Institute zurückzog und ihre Türen, die ohnehin im deutschsprachigen Gebiet nie so weit offenstanden wie anderswo, endgültig vor den Augen Unbefugter verschloß. Beide Verlagerungen sind Spielarten jener allgemeinen

7

Vgl.: SAWDAY, Jonathan: The Body Emblazoned. Dissection and the Human Body in Renaissance Culture, London/New York 1996, S. 54-63. Siehe auch (und generell als spannende Bedeutungsanalyse der Sezierung): MARSHALL, Tim: Murdering to Dissect. GraveRobbing, Frankenstein and the Anatomy Literature, Manchester 1995, S. 43 u. 91. 8 TATE: Introductory discourse to the anatomical lectures at Surgeons hall, 4. Oct. 1759, in: The proceeding on the King's commissioners of the peace, oyer and terminer, and goal delivery for the City of London ..., familiarly known as the Old Bailey Sessions Papers, Oct. 1759, S. 212, zitiert nach: FORBES, Thomas R.: To Be Dissected and Anatomized, in: Journal of History of Medicine and Allied Sciences, Bd. 36, 1981, S. 490ff„ hier: S. 491. 9 Vgl.: NUTZ, Thomas: Strafanstalt als Besserungsmaschine. Reformdiskurse und Gefängniswisssenschaft 1775-1848, München 2001, S. 55-62.

1.1. Obduktionen

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neuen Art, den Körper zu denken und zu behandeln: Verdecken, verstecken, auch: vor unbefugten Blicken schützen - nicht aber: befreien. 10 Die Angst vor der Sezierung blieb. 11 So schildert, wenn auch poetisch verbrämt, der „Almanach für Aerzte und Nichtärzte" von 1788 folgende Szene vor Gericht: Ein „Räuber" zeigt seine Angst davor, daß sein Körper nach der Hinrichtung nicht begraben werde, und er bittet darum, ihn nicht den Vögeln zu überlassen. Als der Richter jedoch entscheidet, daß man ihn den Anatomen übergeben solle, ist das eine noch schlimmere Strafe. Der Verurteilte habe sich nur noch mit den Worten an den Henker gewandt: „nur fein feste angezogen, daß kein Anatomiker mich stielt: Niemand raubt mehr, wie sie, aber kein Gesetz bestraft den Menschenraub: es sind honnette". 12 Welche Semantik barg eine solche Sektion, die als Strafe eingesetzt wurde? Das Aufschneiden des toten Körpers im Zusammenspiel mit dem anschließenden .unehrlichen' Begräbnis zielt letztlich in Richtung einer völligen Auflösung des Menschen: Dessen Integrität wird zerstört, sein Innerstes nach außen gekehrt und ihm schließlich auch die Möglichkeit des Erinnert-Werdens genommen. So interpretiert Jonathan Sawday „dissection as the most complete form of (useful) punishment which human ingenuity could devise." 13 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts trat die Straffunktion der Sektion in den Hintergrund; es blieb das Interesse am Innenleben des menschlichen Körpers. Das hatte die Anatomen natürlich auch schon in früheren Zeiten motiviert, nun aber wurde der zu erwartende Erkenntnisgewinn auch von Nicht-Medizinern in den Vordergrund gestellt. Das bedeutet allerdings nicht, daß die Anatomie ihre moralische Rolle gänzlich verlor; es war lediglich eine andere Moral, die zur

10 So lautet auch eine Grundthese in: FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976 (Original 1975). 11 Sehr deutlich wird diese Angst im Stich Hogarths von 1751, der die Sezierung eines Toten als 4. Teil der Serie „Four Stage of Cruelty" darstellt. (Vgl.: ROBERTS, Κ. Β.: The Contexts of Anatomical Illustrations, in: The Ingenious Machine of Nature. Four Centuries of Art and Anatomy, Ausstellungskatalog, Ottawa 1996, S. 71-103, hier: S. 78. Die Abbildung findet sich im Katalog auf S. 212 f.) Auch die von ULBRICHT geschilderte feierliche Beerdigung jener Leiche, die 1624 für die erste Sezierung in Greifswald verwendet worden war, kann nicht als Hinweis auf eine allgemeine Tendenz zu einer positiven Sicht der Anatomien genommen werden. So: ULBRICHT, Otto: Die Sektion des menschlichen Körpers als Feier. Anatomie und Geselligkeit im Barockzeitalter, in: ADAM, Wolfgang (Hrsg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Bd. 1, Wiesbaden 1997, S. 365-378, hier: S. 369. 12 Hingerichteter Räuber, in: Almanach für Aerzte und Nichtärzte, 1788, S. 89-91. Vgl. auch: JÜTTE, Robert: Die Entdeckung des „inneren" Menschen 1500-1800, in: DÜLMEN, Richard (Hrsg.): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder

1 5 0 0 - 2 0 0 0 , W i e n u.a. 1998, S. 2 4 1 - 2 5 8 , hier: S. 2 5 1 . 13

SAWDAY, The Body Emblazoned, 1996, S. 268. SAWDAY weist im übrigen daraufhin, daß auch die am Attentats versuch gegen Hitler (20. Juli 1944) Beteiligten nach ihrer Hinrichtung dem anatomischen Institut in Berlin zur Sektion übergeben wurden - allerdings verweigerte der Direktor des Instituts die Sektion (ebd., S. 269).

36

1. Blicke auf und in den Menschen

Geltung kam: nicht mehr die der Vergeltung, sondern die der Nützlichkeit. Bezeichnend ist die Argumentation im Fall der Selbstmörder': Wenn man überhaupt noch für die Verbringung auf die Anatomie plädierte, so betonte man nicht den Schaden, der dem Körper zugefügt wurde, sondern daß „auf solche Art von denen, die sich selbst entleibt haben, noch einiger Nutzen gezogen werden" könne 14 (ein Argument, das im übrigen an die allgemeinen Debatten über den Strafzweck erinnert, die viele Juristen der Aufklärungszeit umtrieb und auf die ich später noch eingehen werde). So berichtet zum Beispiel Nicolai, daß in Berlin, obwohl die Suizidstrafen in Preußen längst aufgehoben waren, „im Charitéhospitale, im Irrenhause und in den übrigen Armen- und Waisenhäusern sterbende, wie auch die Leichname [...] derer, die sich selbst entleiben, abgeliefert" würden und den Anatomen als Anschauungs- und Untersuchungsmaterial dienten.15 Der Bedarf an Körpern, der ja nicht zurückging, sondern im Gegenteil mit der Ausweitung der Ausbildung zunahm, war Legitimationsgrund genug. Meines Erachtens veränderte sich jedoch die Zeichenhaftigkeit der Sektions-Handlung zunächst nicht, auch wenn in der Argumentation deren Nutzen an die Stelle der Straffunktion trat. Vielmehr rückte die noch zu Beginn des Jahrhunderts bewußte und auch offen erwünschte Auflösung des Menschen in den Bereich des Unbewußten. Die Einheit des Körpers wird zerschnitten; die Eingeweide werden herausgelöst und zur Schau gestellt - was auch nicht schön geredet werden kann: „The dissected body is a mess", egal wie vorsichtig man vorgegangen ist und wie sauber die Abbildungen der Körperteile später aussehen mögen. 16 Dabei ist die Integrität des toten Körpers auch im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht unwichtig geworden - und ist es bis heute nicht. Wurde die Auflösung des Körpers nicht nur als notwendig hingenommen, sondern war sie in Maßen erwünscht? Der zu sezierende Körper ist eben nicht nur passiv, sondern löst Angst oder Empörung aus: Er ist krank, kriminell oder lebensunwillig (gewesen). Er hat nicht den Vorstellungen vom,guten' Leben entsprochen. Vielleicht wirkt diese unterbewußte AngstWut sogar noch dann, wenn die Obduktion ausschließlich durchgeführt wird, um die Todesursache zu klären. Es bleibt zumindest eine „Erklärungswut", wie sie Achim von Arnim diagnostiziert: „Schauderhaft ist mir die Section des Arztes gewesen, der ihren [der Günderrodes] Tod aus dem Rückenmarke gelesen; so etwas ist doch nur zu

14

E-N: Ueber die Behandlung der Selbstmörder, in: Journal für Bayern und die angränzenden Länder, Bd. 1, Heft 4, 1800, S. 394-410, hier: S. 408. 15 NICOLAI, Friedrich: Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam aller daselbst befindlichen Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend, 2 Bd., 3. Aufl., Berlin 1786 (1. Aufl., 1786), Nachdr. Berlin 1968, hier: Bd. 2, S. 701 f. WILSON, Luke: W i l l i a m H a r v e y ' s . P r e l e c t i o n e s ' : T h e P e r f o r m a n c e o f t h e B o d y in t h e R e -

naissance Theater of Anatomy, in: Representations, Bd. 17 (= Special Issue: The Cultural Display of the Body), 1987, S. 6 2 - 9 5 , hier: S. 63.

1.1. Obduktionen

37

sagen möglich bei dem versunkenen Zustande dieser Wissenschaft, zu der kein Arzt und kein Kranker zum Arzt mehr Zutrauen hat."17

1.1.2. Der Körper als Objekt: Leichenmangel und anatomisches Theater So oder so: Der Blick in den Körper wurde zum vorrangigen Zweck der Sektion auch von Suizidenten und Hingerichteten deklariert. Er will das Innere des Menschen aufdecken und nicht mehr bloßstellen, wie es bei früheren Strafaktionen der Fall war.18 Der/die Tote19 erlangt dabei immer auch Objektcharakter. Durch die Sektion wird der Körper außerdem in klare, gerade Linien aufgeteilt. Die Schnitte stellen ihre eigene Ordnung her - und in Anlehnung an Barbara Stafford kann man sagen: das Skalpell dient so der Macht der Geometrie, trägt dazu bei, das geometrische Prinzip als bestimmend für Ästhetik (auch im Sinne von Wahr-Nehmung!) zu etablieren.20 Die Mediziner selbst nutzten ihre Technik des Vermessens und Zerschneidens nicht zuletzt dazu, sich von den .Quacksalbern' abzugrenzen, die nicht mit solcher .Objektivität' operierten.21 Um etwa 1750 begannen sich die Unterrichtsmethoden in der Medizin entscheidend zu verändern. Hatte man zuvor die frontale Methode favorisiert, bei der der anatomische Professor oder ein Gehilfe vor den Studenten sezierte, setzte sich nun durch, daß die Studenten selbst Hand anlegen durften - in Tübingen beispielsweise ab 1764 22 . In dieser Veränderung liegt noch einmal ein 17 ARNIM, Achim von: Brief an Bettine von Arnim, 27. August 1806, in: Bettine und Arnim. Briefe der Freundschaft und Liebe, Bd. 1, hrsg. v. Otto Betz u. Veronika Straub, Frankfurt a. M. 1986, S. 75ff., hier: S. 76. 18 DUDEN, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987, S. 22. 19 Hier erscheint die Nennung des weiblichen Körpers besonders angebracht, da sich vor allem ab dem Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert die Darstellung von männlichem Anatom und weiblichem Körper großer Beliebtheit erfreute. Vgl. die von CETTO und WOLF-HEIDEGGER gesammelten Abbildungen: CETTO, A.-M./WOLF-HEIDEGGER, G.: Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung, Basel/New York 1967; BRONFEN, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1996 (Original 1992), S. 13 und ihre anschließende Analyse des Bildes „Der Anatom" von Gabriel von Max. Siehe für die Rolle der Anatomie bei der Geschlechterkonstruktion im 18. Jahrhundert besonders auch: SCHIEBINGER, Londa: Skeletons in the Closet. The First Illustrations of the Female Skeleton in Eighteenth-Century Anatomy, in: Representations, Bd. 14,1986 (= Special Issue: Sexuality and the Social Body in the Nineteenth Century), S. 42-82. 20 Vgl.: STAFFORD, Barbara: Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine, Massachusetts, 1991, S . 3 f. Auch Michel FOUCAULT betont die Veränderung des medizinischen Blickes - allerdings setzt er die Vormacht des Auges erst für den Beginn des 19. Jahrhunderts an. (FOUCAULT, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M. 1988 (Original 1963), S. 11.) 21 STAFFORD, Barbara: Kunstvolle Wissenschaft. Aufklärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Bildung, Amsterdam/Dresden 1998 (Original 1994), S. 125 f. 22 MÖRIKE, Klaus: Geschichte der Tübinger Anatomie, Tübingen 1988, S. 32.

38

1. Blicke auf und in den Menschen

entscheidender Qualitätsunterschied, der sich als fortgesetzte Objektivierung' des Körpers deuten läßt. Es wurde mit dem Körper anders umgegangen: Wie schon erwähnt, wurde er einerseits verstärkt verwahrt, abgeschirmt - andererseits wurde der/die Tote nicht mehr nur von einer Person seziert, sondern etliche erhielten Zugriff, noch dazu wenig ausgebildete Studenten, die die Kunst des Präparierens erst lernen sollten. Zuletzt wurde die Einheit des Körpers auch dadurch aufgelöst, daß die Studenten sich zum Üben in separate Räume zurückzogen, der Leichnam wurde fragmentiert.23 Hinzu kommt, daß die zur Verfügung stehenden anatomischen Tafeln und Modelle immer präziser wurden; der aufgeschnittene Körper mußte einem gezeichneten oder plastischen Vorbild nachgeformt werden. 24 Der Körper war somit Anschauungs-Objekt der Mediziner. Er wurde zudem zu einem .begehrten' Gut - denn kaum etwas ist so konstant in der Anatomiegeschichte des 18. Jahrhunderts wie die Klage über Leichenmangel. So mußten die sächsischen Verordnungen bezüglich der Ablieferung von Toten an die Anatomen immer wieder erneuert werden;25 so wandten sich im Dezember 1775 mecklenburgische Studenten sogar an den Herzog in Schwerin: ,,[S]chon seit geraumer Zeit haben wir auf der hiesigen Universitaet keine Anatomie gehabt, und daher so lange vergebenst gewünscht, auch in dieser Wißenschaft unsere Kenntniße erweitern zu können. Da nun gegenwartig bey Gelegenheit der Executionen, die dem Vernehmen nach, in diesen Tagen zu Schwerin vorgenommen werden sollen, dieser Wunsch bey uns wieder erneuert wird, so haben Eur. Herzog. Durchl. wir unterthänigst bitten wollen, dieselben an die Anatomie liefern zu lassen."26

23

Vgl.: RICHTER, Gottfried: Das anatomische Theater, Berlin 1936, Nachdr. Berlin 1977, S. 83. 24 Vgl.: BEIER, Rosmarie: Der Blick in den Körper. Zur Geschichte des gläsernen Menschen in der Neuzeit, in: dies./R0TH, Martin (Hrsg.): Der Gläserne Mensch - Eine Sensation. Zur Kulturgeschichte eines Ausstellungsobjekts, Stuttgart 1990, S. 13-35, hier: S. 25. 25 Vgl.: Befehl [...], daß nicht nur aus dem Chur- und Leipziger- sondern auch aus denen mehrern Greyssen dero Landen, die Cadavera derer Enthaupteten, Gesäckten, Gehangenen, Ertrunckenen und desperaten Selbst-Mörder, zur Anatomie; die Cörper der Verstorbenen in Hospitälern und Krancken-Häusem aber nur zur Section und Inspection an die Medicinischen Facultäten zu Leipzig und Wittenberg, [...] geliefert werden, (12. April 1723), in: Codex Saxonicus, Chronologische Sammlung der gesammten praktisch-gültigen Königlich Sächsischen Gesetze von den ältesten Zeiten, vom Jahre 1255 an bis zum Schlüsse des Jahres 1840, Bd. 1, Leipzig 1842, S. 616 f.; Mandat wegen der auf wahnwitzige und melancholische Personen zu führenden Obsicht, und des Verfahrens bei freventlichen Selbstmorde, den 20. November 1779, in: ebd., S. 1075; Generale, die zu den anatomischen Theatern auf den Universitäten Leipzig und Wittenberg, und bei dem collegio medico-chirugico zu Dresden zu verabfolgenden Leichname betr., den 8. Juli 1794, in: ebd., S. 1271; außerdem: die Bestände des Universitätsarchivs Leipzig, Medizinische Fakultät, Med. Fak. A Illa 11, Bd. 1. 26

Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Schwerin, Regierung Schwerin, Nr. 16049: Ablieferung menschlicher Leichname an den Prof. der Anat. Schaarschmidt, 1762-1794, Schreiben einiger Studenten Schaarschmidts vom 27. Dec. 1775.

1.1. Obduktionen

39

In immer mehr Städten wurde ein anatomisches Theater beziehungsweise ein anatomisches Institut errichtet (etwa: Berlin 1713, 27 Halle 1727, 28 Dresden 1743, Frankfurt 1768 ff., Marburg 1788 29 ), wobei die Initiative nicht selten vom jeweiligen Landesherren ausging. Die Antriebskräfte für deren Engagement waren allerdings oft ganz profan: die Ausbildung der Militärärzte mußte sicher gestellt werden. Aus eben diesem Grund betrieb etwa Friedrich Wilhelm I. die Gründung der Berliner Anatomie (es ist bezeichnend, daß sie zusammen mit der Akademie der Wissenschaften in den dorotheenstädtischen Stallgebäuden unterkam30). Mit der Errichtung all dieser Institutionen stieg natürlich auch der Bedarf an toten Körpern, der nur selten ausreichend befriedigt werden konnte 31 , denn obwohl sich Mediziner verstärkt darum bemühten, das Image der Sezierung zu normalisieren, gab es nahezu keine .Freiwilligen' für die Anatomietische 32 .

1.1.3. Die

Gerichtsmediziner

Überhaupt nicht auf solche Freiwilligkeit' angewiesen waren hingegen die Gerichtsmediziner, die zwar ihre Tätigkeit einerseits in den Dienst der Verbrechensaufklärung stellten, andererseits aber genauso wie andere Mediziner ihr Interesse am Körperinneren zu befriedigen suchten. Die Obduktion bei gewaltsamen Todesfällen, die uns heute selbstverständlich ist, wurde mit der PeinliDazu auch: WESTPHAL, Andreas: Verzeichnis der Präparate welche auf dem Anatomischen Theater der Akademie zu Greifswald befindlich sind. Nebst einer Vorrede von dem Einfluß der Zergliederungskunst in die Glückseligkeit eines Staates, Stralsund 1760. WESTPHAL beklagt, er hätte nur 1745 und 1757 eine Sektion vornehmen können. (Ebd., S. 11.) Selbst GOETHE läßt in den „Wanderjahren" das Motiv des Leichenmangels auftauchen. (GOETHE, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Wandeijahre oder Die Entsagenden, 1828, in: HA Bd. 8, S. 323, zitiert nach: BASSLER, Moritz: Goethe und die Bodysnachter. Ein Kommentar zum Anatomie-Kapitel in den Wanderjahren, in: ders./BRECHT, Christoph/NLEFANGER, Dirk (Hrsg.): Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung, Tübingen 1997, S. 181-197, hier: S. 181. 27

KOPSCH, Fr.: Zweihundert Jahre Berliner Anatomie, in: Deutsche medizinische Wochenschrift, Bd. 39, 1913, S. 948f., S. 1003 ff., hier: S. 948. 28 CETTO/WOLF-HEIDEGGER, Die anatomische Sektion, 1967, S. 69. Das anatomische Theater in Halle wurde vom Anatom Coschwitz auf eigene Kosten eingerichtet, das Gebäude vom preußischen König zur Verfugung gestellt. (Vgl.: RICHTER, Das anatomische Theater, 1936/1977, S. 54.) 29 AUMÜLLER, Gerhard/GRUNDMANN, Kornelia: Das Marburger Museum Anatomicum. Geschichte und Ausstellungsgegenstände, Marburg 1992, S. 10. 30

31

NICOLAI, B e s c h r e i b u n g d e r K ö n i g l i c h e n R e s i d e n z s t ä d t e , 1 7 8 6 / 1 9 6 8 , B d . 1, S . 1 7 3 .

Klagen über Mangel an Leichen gab es zum Beispiel in Tübingen noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts. (MÖRIKE: Geschichte der Tübinger Anatomie, 1988, S. 46.) 32 Mit gutem Beispiel vorangehen wollte Philipp Friedrich Meckel, bedeutender Anatom und Professor in Halle, der nicht nur seine eigenen Kinder sezierte, sondern seinen Körper der Anatomie vermachte. (HECKHAUSEN, Christel: Anatomen und Anatomie im Urteil der Öffentlichkeit seit 1500, Diss. Berlin 1966, S. 39.)

40

1. Blicke auf und in den Menschen

chen Halsgerichtsordnung Karls V. ins deutsche Rechtssystem eingeführt, ohne jedoch verbindliche Richtlinien festzulegen. 33 Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts bekam diese neue Aufgabe der Wundärzte oder Chirurgen stetig mehr Gewicht und stärkte die Position des medizinischen Standes erheblich: Ihr Wort galt etwas vor Gericht, was nicht wenig dazu beitrug, daß die Medizin als Institution an Bedeutung gewann. Der Entstehung dieser neuen beziehungsweise sich verändernden Einflußsphären für Ärzte und medizinische Theorien lagen natürlich komplexe Prozesse zugrunde, die hier nur kurz angedeutet werden können: Die Etablierung der Gerichtsmedizin war zum Beispiel eng mit einer neuen Idee darüber verflochten, wie man Delinquenten zu betrachten hatte. Es war nicht immer gängig gewesen, deren physischen und psychischen Zustand vor und während der Tat in das Urteil einzubeziehen, also die Frage nach der ,Zurechnungsfahigkeit' zu stellen.34 Notwendige Voraussetzung für diese neue Perspektive war, daß überhaupt der einzelne Straffall ins Zentrum des Interesses rückte, was sich überaus deutlich in etlichen Sammlungen von Verbrechen und Urteilen niederschlug.35 Die Gerichtsmedizin hatte seit den späten 1770er Jahren ihre eigenen Publikationsorgane - zum Beispiel: die „Aufsätze und Beobachtungen aus der gerichtlichen Arzneywissenschaft", das „Archiv der medicinischen Polizey und der gemeinnützigen Arzneikunde", das „Magazin für die gerichtliche Arzneikunde und medicinische Polizei" oder das „Journal für die Chirurgie, Geburtshülfe und gerichtliche Arzneykunst".36 (Das zuletzt genannte wurde im übrigen von J. C. Loder herausgegeben, eben jenem „Hofrath", der sich für die Sektion Danovius' verantwortlich gezeigt hatte.) Ein Hauptanliegen all dieser Zeitschriften war die Veröffentlichung von Sektionsberichten, also von in Sprache codierten Körperbildern; ein wichtiges Thema waren die Befunde von .Selbstmördern', an deren Beispiel sich einige allgemeinere Tendenzen aufzeigen lassen. Die Mehrzahl der publizierten Obduktionen von Suizidenten befaßte sich damit, die Todesursache eindeutig zu klären. Hier verband sich kriminalistisches mit pathologisch-anatomischem Interesse. Beispielsweise mußten die Kennzeichen einer Arsen-Vergiftung offen gelegt werden. Die verschiedenen Untersuchungen und Experimente sollten den nachrückenden Gerichtsmedizi33

Vgl.: WALTER, Roland: Die Leichenschau und das Sektionswesen. Grundzüge der Entwicklung von ihren Anfängen bis zu den Bemühungen um eine einheitliche Gesetzgebung, Diss. Düsseldorf 1971, S. 47 f. 34 Siehe auch Kap. 2.2.3. u. Kap. 3.2.3.1. 35 Etwa die von Ernst Ferdinand KLEIN herausgegebenen „Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preussischen Staaten", 1788-1809. 36 Archiv der medicinischen Polizey und der gemeinnützigen Arzneykunde, 1783-1787; Aufsätze und Beobachtungen aus der gerichtlichen Arzneywissenschaft, 1783-1793; Magazin für die gerichtliche Arzneikunde und medicinische Polizei, 1782-1784; Journal für die Chirurgie, Geburtshülfe und gerichtliche Arzneykunst, 1797-1806.

1.1. Obduktionen

41

nern anschaulich gemacht werden - und nebenbei wollte man die Erkenntnismöglichkeiten der Zunft demonstrieren und sich vor Kritik schützen.37 So berichtet etwa Johann Theodor Pyl, einer der wichtigsten Vertreter des Fachs, daß sich im August 1782 in Berlin die in einem „Keller wohnende Frauensperson, Namens Sophia Henrietta Heiligenstedten" mit eigentlich als Rattengift gedachtem Arsen getötet habe.38 Pyl schildert die Tat ohne Wertung, aber durchaus ausführlich. Ebenso interessierten die Obduktion und die sich anschließenden Versuche, die die Eigenart des im Magen der Frau gefundenen Stoffes bestimmen sollten, ausschließlich in medizinischer Hinsicht. Lediglich am Schluß des Berichts steht der Wunsch, „daß aller Gebrauch, wenigstens der Verkauf des Arseniks von den Materialisten untersagt werden könnte."39 Trotz solcher Sachlichkeit schufen die Texte der Gerichtsmediziner keinen wertneutralen Raum. Denn auch die Frage, ob der/die Tote bei der Ausführung der Tat in einem melancholischen oder vernünftigen Zustand gewesen war, stand zur Debatte. Rein rechtlich war diese Unterscheidung im Vergleich zur ersten Jahrhunderthälfte längst weniger wichtig geworden. In Preußen hatte etwa Friedrich II. schon 1751 verfügt, daß der .Selbstmord' nicht zu bestrafen sei, egal, ob der Entschluß dazu im Zustand der Melancholie gefallen war oder nicht.40 Für die moralische Bewertung aber war die Melancholie-Frage immer noch von großer Bedeutung und in anderen Territorien, zum Beispiel in Sachsen, hing von diesem Befund sogar bis ins 19. Jahrhundert die Art des Begräbnisses ab. Bis in die 1750er und -60er Jahre hinein berichten die Untersuchungsprotokolle allerdings, daß man den Gemütszustand der Toten dadurch zu klären versuchte, daß man die Angehörigen, den Pfarrer oder auch den Arzt über den Lebenswandel der Toten verhörte. Wieso wurde jetzt der Körper zu diesem Problem befragt? Wieso konnten Mediziner die Beweisführung, wenn nicht übernehmen, so doch zu einem guten Teil mittragen?41 Kehren wir noch einmal zu Loder und Danovius zurück: Quintessenz des Sektionsberichts ist, daß Danovius zum Zeitpunkt seiner Selbsttötung nicht vernünftig gewesen sei, daß er in einem Anfall von „Wuth" gehandelt habe. Als Begründung für seine Diagnose nennt Loder besonders:

37

Vgl. zur Verteidigung der gerichtsmedizinischen Methode: PYL, Johann Theodor: Vorrede, in: Aufsätze und Beobachtungen aus der gerichtlichen Arzeneywissenschaft, 1. Sammlung, Berlin 1783, S. IX-XVI, hier: S. XI. 38 PYL, Johann Theodor: Obduction einer Person, welche sich selbst mit Arsenik vergiftet hatte, in: Aufsätze und Beobachtungen aus der gerichtlichen Arzeneywissenschaft, 1. Sammlung, Berlin 1783, S. 53-69, hier: S. 53. 39 Ebd., S. 69. 40 Siehe Kap. 2.2. 41 Vgl.: ELVERT, Emanuel Gottlieb: Ueber den Selbstmord in Bezug auf gerichtliche Arzneykunde, Tübingen 1794, S. 67; LIND, Vera: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispie! der Herzogtümer Schleswig und Holstein, Göttingen 1999, S. 78 ff.

42

1. Blicke auf und in den Menschen

„die grossen Verknöcherungen unter der harten Hirnhaut, die das Gehirn von oben her eben sowohl gedrükt, als die hervorstehenden Knochenspizen und die langen processus clinoidei posteriores in der basi cranii dasselbe von unten her gerizt haben müssen. [...] die weiche Beschaffenheit des Gehirns, die grossen Wasserblasen in plexu choroideo, die weiche und mit groben Sandkörnern angefüllte Zirbeldrüse, die verhärtete Schleimdrüse sind lauter Beweise einer in der Structur des Gehirns selbst gegründeten Anlage zu einer Verwirrung des Verstandes, die, weil die Disposition dazu so groß war, durch geringe Veranlassungen zum Ausbruch kommen konnte." 42

Der Gerichtsmediziner versuchte also bei der Sektion des Körpers Einblicke in den (vormaligen) Gemütszustand des vor ihm liegenden Menschen zu nehmen. Manche Ärzte gingen so weit, nach einem „Organ des Diebsinns" oder des „Mordsinns" zu forschen, so wie es Johann Daniel Metzger im Fall eines wegen Mordes Hingerichteten namens Dramsch versuchte.43 Als Informationsquelle konnte allerdings nicht nur das Gehirn dienen, sondern auch der Zustand der inneren Organe, besonders des Verdauungstraktes - dem im Zusammenhang mit Melancholie und Hypochondrie große Bedeutung beigemessen wurde. Als erste Quelle über das Ableben des Theologen Danovius, über diese „Mordgeschichte", war vor einigen Seiten ein Brief von Johann Karl Wilhelm Voigt zu lesen gewesen. Es mag Zufall sein oder nicht: der Adressat dieses Briefes, Johann Heinrich Merck, sollte sich neun Jahre später ebenfalls das Leben nehmen; auch sein Körper wurde seziert, und immer noch schien das Hauptanliegen des Obduktionsberichts darin zu bestehen, die angenommene schwere Melancholie des Toten zu untermauern: Neben der schon „vor einigen Jahren" gezeigten Sinnesverwirrung seien „die Verhärtungen derer genannten

42

Sektionsbericht, in: SCHÜTZ: Leben und Charakter des Herrn Ernst Jacob Danovius, 1783, S. 64 ff. Auch ein Sektionsbericht aus dem Jahr 1800, der sich mit einem Opiumtoten befaßt, hält beispielsweise in der abschließenden Bewertung fest: „Dass aber gedachter R** das Opium bei nicht ganz gesundem Verstände genommen habe, wird sehr wahrscheinlich, wenn man bedenkt, wie viele und wichtige Fehler in der Organisation [...] entstanden^]" (Medizinalbericht über eine Vergiftung mit Mohnsaft. Vom Herrn Stadt- und Land-physikus Dr. Welge zu Goslar, in: ROOSE, Theodor Georg: Beiträge zur öffentlichen und gerichtlichen Arzneikunde, 2. Stück, Frankfurt a.M. 1802, S. 57-84, hier: S. 84.) Vgl. zur gerichtsmedizinischen Auseinandersetzung mit dem Suizid besonders auch: ELVERT, Ueber den Selbstmord in Bezug auf gerichtliche Arzneykunde, 1794. Beim heutigen Wiederlesen solcher Obduktionsberichte gilt es zu bedenken, daß man ein ähnliches Bemühen etwa in derzeitigen Suchen nach dem ,Kriminalitätsgen' sehen kann. 43 METZGER, Johann Daniel: Ueber den Gemüthszustand eines Mörders, in: Journal für die Chirurgie, Geburtshilfe und gerichtliche Arzneykunst, 1802, Bd. IV, Stück II., S. 368-378, hier: S. 378. Eine beeindruckende Studie über die „Anatomie des Wahnsinns", die der Suche nach den körperlichen Ursachen von seelischen beziehungsweise geistigen Störungen nachgeht, hat Michael KUTZER vorgelegt. (Anatomie des Wahnsinns. Geisteskrankheit im medizinischen Denken der frühen Neuzeit und die Anfänge der pathologischen Anatomie, Hürtgenwald 1998.)

1.1. Obduktionen

43

Eingeweide [Leber, Milz und Bauchspeicheldrüse] [...] mehr als hinlänglich [gewesen], eine Verwirrung des Verstandes zu bewürcken." Merck habe sich also „dieße durchaus tödtliche und unheilbare Schuswunde höchstwahrscheinlich in einem heftigen Anfall der Melancholie zugefüget".44 1794 erschien die erste (und einzige) systematische und monographische Auseinandersetzung zum Thema „Selbstmord in bezug auf gerichtliche Arzneykunde". Der Verfasser, Emanuel Elvert, widmet einen Großteil seiner Schrift der Frage, wie sich „körperliche Spuren an dem Leichname entdeken lassen, die darauf leiten, daß durch Einfluß des Körpers die Seele in dem richtigen Gebrauche ihrer Kräfte gestört worden sei."45 Als „körperlich mitwirkende Veranlassung zu dem Entschlüsse des Selbstmordes" könne man Folgendes betrachten:

44

REULING/CONRAD: Visum repertum, Darmstadt d. 30. Junij 1791, abgedruckt in: PRANG, Helmut: Johann Heinrich Merck. Ein Leben für Andere, Wiesbaden 1949, S. 300ff., hier: S. 302. Auch im Fall von Heinrich Kleist im Jahr 1811 geht der Obduktionsbericht u.a. auf die physischen Anzeichen für eine melancholische beziehungsweise hypochondrische Konstitution ein; der Schwerpunkt liegt allerdings darauf, die Art des Todes nachzuvollziehen. Vgl.: GREIF/STERNEMANN: Visum repertum No: 1. betreffen, den denatus von Kleist, abgedruckt in: MINDE-POUET, Georg: Kleists letzte Stunden, Teil I.: Das Akten-Material, Berlin 1926, S. 46-50. Die Reaktionen auf Mercks freiwilligen Tod fielen trotz des Gutachtens recht unterschiedlich aus. GOETHE und Frau LA ROCHE etwa zeigten sich mißmutig, Georg FORSTER bestürzt und voll Mitleid. Auf die finanzielle Lage Mercks beziehungsweise seine politische Einstellung (er war kurz zuvor im revolutionären Frankreich gewesen und hatte von dort begeistert berichtet), die die heutige Forschung (anders als BUSSE, Walter: Der Hypochondrist in der deutschen Literatur der Aufklärung, Diss. Mainz 1952, S. 55) wechselweise als die auslösenden Momente für den Todesbeschluß des in Darmstadt wohl regelrecht versauernden „Kriegsrates" anfuhrt, gehen die Zeitgenossen bezeichnender Weise nicht ein - ein Phänomen, das wir uns an späterer Stelle noch einmal ins Gedächtnis rufen sollten, wenn es um die gesellschaftlichen Verantwortung für einen Suizid und die Haltung der Aufklärer zu diesem Thema gehen wird. (Vgl.: LA ROCHE, Sophie von: Brief an Elise zu Solms-Laubach, 20. 7. 1791, in: Sopie LA ROCHE: Ich bin mehr Herz als Kopf. Sophie von LA ROCHE. Ein Lebensbild in Briefen, hrsg. v. Michael Maurer, München 1983, S. 330f.; FORSTER, Georg: Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 12. August 1791, in: ders.: Werke, hrsg. v. Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1980, Bd. 16 (= Briefe 1790-1791), S. 331 f.) Zu Goethes Haltung siehe: WELSCH, Sabine: „Für mich ist keine Freude mehr", in: Johann Heinrich Merck (1741-1791). Ein Leben für Freiheit und Toleranz, Ausstellungskatalog, Darmstadt 1991, S. 196-201, hier: S. 201. Allgemeines zu Merck, für den es bedauerlicherweise keine gute Biographie gibt: HAAS, Norbert: Spätaufklärung. Johann Heinrich Merck zwischen Sturm und Drang und Französischer Revolution, Kronberg 1975; Johann Heinrich Merck (1741-1791). Ein Leben für Freiheit und Toleranz, Ausstellungskatalog, Darmstadt 1991; PRANG, Johann Heinrich Merck, 1949. 45

ELVERT, Ueber den Selbstmord in Bezug auf gerichtliche Arzneykunde, 1794, S. 4.

44

1. Blicke auf und in den Menschen

„I Alles, was heftige Schmerzen erregt, II Alles was die Functionen des sensorii communis a sowol unmittelbar, als b per consensum stört. III Alles was das Geschäft des Atmens, und IV Alles, was den freien Kreislauf des Geblüts hindert".46

Schon dieser kurze Abschnitt verdeutlicht, wie viele verschiedene Möglichkeiten denkbar waren, die Verbindung zwischen Körper und Seele/Psyche herzustellen. Entsprechend gab es verschiedene Theorien darüber, wie sich Verstimmungen der Organe auf die geistigen Kräfte, die Wahrnehmung, die Empfindungen auswirken konnten. Manche Argumentation erinnerte noch stark an die altehrwürdige Humoralpathologie und berief sich auf eine schlechte Verteilung der vier Säfte (Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle)47; andere untersuchten eher den „Kreislauf des Geblüts" und inwiefern dieser „frei" gewesen sei48; wieder andere begannen die Welt der Nerven für sich zu entdecken und fanden hier das Verbindungsstück zwischen Körperlichem und Psychischem. Vielleicht mochte das große Interesse der Mediziner daran, körperliche Belege für die schlechte Gemütsverfassung der obduzierten Selbstmörder' zu finden, auch deren Blick für diese These unterstützende Symptome geschärft haben. Anstoß für das Wahrnehmungsinteressse der Mediziner konnte entweder sein, daß sie den Suizid generell als pathologisches Phänomen erklären wollten, also als Paradebeispiel der leibseelischen Verbindung; oder daß sie den Toten moralisch zu entlasten suchten. Es bleibt jedoch zu betonen, daß wir es mit der Wiedergabe von Wahrnehmungen zu tun haben - so fremd uns diese heute auch sein mögen - und nicht mit bloßen visuellen Umsetzungen von theoretischen Überlegungen. Es ist ein Doppelspiel von Denken und Sehen; beide zusammen bauten sich eine Welt. Die eingeflochtenen Beschreibungen der Wahrnehmungen liegen uns vor: Etwa wurde eine ertrunkene Frau seziert und als Ursache für ihren „hypochondrisch-hysterischfen]" Zustand findet der untersuchende Arzt R.C. Bauch „die scirrhösen Verhärtungen in den Eyerstökken", diese hätten „freilich schon seit geraumer Zeit die ganze Einrichtung und Oekonomie ihres Körpers in Unordnung gebracht".49 Deutlich wird schließlich außerdem, daß für jede der Theorien, die einen Zusammenhang zwischen körperlicher und seelischer Krankheit herstellten, Kategorien darfür notwendig 46

Ebd., S. 68. Vgl. zur Bedeutung der Humoralpathologie im 18. Jahrhundert auch: RUISINGER, Marion Maria: Balanceakt mit dem Messer. Die humoralpathologische Grundlage der Chirurgie im 18. Jahrhundert, in: dies./ScHNALKE, Thomas (Hrsg.): Da hilft nur noch das Messer! Chirurgische Verfahren im historischen Vergleich. Katalog zur Ausstellung des Instituts für Geschichte der Medizin Erlangen-Nürnberg, Erlangen 1999, S. 7-11. 47

48

Erster Fall, eines Mannes, der sich durch eine Stichwunde in das Herz selbst entleibt, in: ELVERT, Ueber den Selbstmord in Bezug auf gerichtliche Arzneykunde, 1794, S. 7 - 1 2 , hier: S. 12. 49 Obduktion einer ertrunkenen Frau (13. August 1785: R.C. Bach), in: Aufsätze und Beobachtungen aus der gerichtlichen Arzeneywissenschaft, 4. Sammlung, 2. unveränd. Aufl., Berlin 1810, S. 6 - 1 1 , hier: S. 9 f .

1.1. Obduktionen

45

waren, was überhaupt als ,krank' und was als .gesund' anzusehen war. Die obduzierten Körper wurden also in ihrer Beschaffenheit mit vorgegebenen Normen verglichen. Die Grundlage für einen solchen Vergleich boten die Zuordnungssysteme der Pathologie. 1.1.4. Der Blick der

Pathologie

Ab Mitte des 18. Jahrhunderts gingen Pathologie und Anatomie eine immer stärkere Verbindung ein und wurden gemeinsam zur neuen treibenden Kraft im medizinischen Denksystem.50 Die Bedeutung der Pathologie im Reich der Anatomie ist bereits im oben zitierten Sektionsbericht des Arztes Bauch angeklungen. Die pathologische Perspektive bringt meines Erachtens eine entscheidende Veränderung der Bedeutung von Körper, Krankheit und medizinischem Interesse mit sich - weit entscheidender als alle institutionellen Neuerungen, die zwar Voraussetzungen für neue Blicke schufen, sie aber nicht aus sich selbst heraus entwickeln konnten. Die Andersartigkeit der Sektionen des 18. Jahrhunderts ist nicht allein darauf zurückzuführen, daß der Mensch bereits früher in seine Grundbausteine zerlegt worden war und sich die Aufmerksamkeit daher nun verstärkt auf Krankheitszustände und pathologische Erklärungssysteme richtete; aber diese Ausgangssituation trug dazu bei, daß sich neue, andere Sehweisen auf den Menschen, seinen Körper und seine Krankheiten entwickeln konnten.51 Die Leitlinie der Pathologie ist dabei die Differenz zwischen beobachtetem Istzustand des kranken Körpers und vorgegebenem Sollzustand des Körpermodells, so daß letztendlich „die pathologischen Phänomene in lebenden Organismen nichts anderes sind als bloß quantitative Abweichungen [...] von entsprechenden physiologischen Phänomenen" und also meßbar werden.52 Sowohl Barbara Duden als auch Michel Foucault betonen die Bedeutung, die diesen neuen Bewertungsmaßstäben im 18. Jahrhundert zukam - in Hinsicht auf den medizinischen Blick ebenso wie für das Verhältnis zwischen Arzt und Kranken und das Verhältnis der Menschen zu ihrem eigenen Körper. Was ,krank' ist, wird weniger als Leiden erfahren als als Deviation von der Normalität festgelegt und fällt dann unter den Zugriff der ,,ausgrenzende[n] Pathologie". 53 So rückte das Wort der Patientinnen, wie es in Barbara Dudens Unter50

Vgl.: BUDDE, Kai: Kleine Geschichte der Anatomie. Von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert, Mannheim 1998, S. 22. 51 Auch FOUCAULT stellt in seiner Untersuchung der neu entstehenden „Klinik" die veränderten Zuordnungen von Krankheiten in den Vordergrund und nicht die institutionelle Entwicklung. (FOUCAULT, Geburt der Klinik, 1988, S. 10.) 52 CANGUILHEM, Georges: Das Normale und das Pathologische, München 1974, S. 21. Vgl. auch: ebd., S. 34. 53 DUDEN, Geschichte unter der Haut, 1987, S. 25. Ich verstehe das .Pathologische' als das, was als krank definiert wird. Ich verwende den Be-

46

1. Blicke auf und in den Menschen

suchung über die ärztliche Praxis der 1730er Jahre noch anschaulich wird,54 Stück für Stück in den Hintergrund. Statt dessen erlangte der Arzt als Be-GutAchter die Definitionsmacht.55 Schon Albrecht von Haller trieb die Auflösung des kranken Körpers bis zum äußersten, und das nicht nur in seiner Vivisektionspraxis, der Katzen, Hunde und andere Tiere in großen Mengen zum Opfer fielen. Auch gegenüber Menschen agierte er ganz als „der Sezierer, der positivistische Physiologe, der mit einer merkwürdig kühlen [...] Beobachtungshaltung das sich in der Krankheit manifestierende Leiden analysiert, seziert, und schliesslich, als wär's ein neutrales Datum, völlig vom leidenden Menschen detachiert."56 Außerdem schuf Haller mit seiner Irritabilitäts- beziehungsweise Sensibilitäts-Theorie eine entscheidende Grundlage, um Kranksein als eine meßbare Abweichung von einem Sollwert aufzufassen. Denn in seinem - äußerst einflußreichen - System wurde jeder Krankheitszustand zur Folge von zu geringer oder zu großer Erregbarkeit. Das medizinische Interesse im allgemeinen wie das pathologische im speziellen schlug sich im 18. Jahrhundert auch in umfangreichen Sammlungen von Organen, Skeletten etc. nieder. Die entsprechenden Techniken hatten sich soweit verbessert, daß es bei der Konservierung kaum noch Probleme gab, so griff also in einem anderen Sinne als CANGUILHEM, der das .Pathologische' als das im Körper seiende und agierende Kranke begreift, das auf der Suche nach dem als .normal' definierten Gesundheitszustand verloren geht. FOUCAULT betrachtet diese Konstellation gleichsam von der anderen Seite und konstatiert, daß bis ins 18. Jahrhundert nicht das .Normale', sondern das .Gesunde' im Blickpunkt gestanden hätte. (CANGUILHEM, Das Normale, 1974, S. 22; FOUCAULT, Geburt der Klinik, 1988, S. 52.) 54

DUDEN, Geschichte unter der Haut, 1987. Allerdings dürfen auch Dudens Quellen nicht als unmittelbarer Zugang zu einer vergangenen Körperwelt mißinterpretiert werden. Ganz unabhängig von generellen Problemen der Textlichkeit waren es nicht die Frauen selbst, die ihre Erfahrungen niederschrieben, sondern ihr (männlicher) Arzt. 55

In diesem Zusammenhang fällt außerdem das weite Feld der Körperwahrnehmungen. Eine Zusammenfassung der Forschung zu diesem Thema, die zwischen biologistischer Kontinuitätsannahme und dekonstruktivistischer Fragmentierung schwankt, gibt: TANNER, Jakob: Wie machen Menschen Erfahrungen? Zur Historizität und Semiotik des Körpers, in: Körper Macht Geschichte - Geschichte Macht Körper. Körpergeschichte als Sozialgeschichte, hrsg. v. Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte, Bielefeld/Gütersloh 1999, S. 16-34. Vgl. außerdem: DUDEN, Barbara: In Tuchfühlung bleiben. Anmerkungen zur poiesis in Soziologie und Historie, in: WerkstattGeschichte, Bd. 19, 1998, S. 75-87. Vgl. außerdem: BÖHME/BÖHME, Das Andere, 1996, S. 52: „Soweit die Leiberfahrungen des Patienten mit den Feststellungen des Arztes nicht übereinstimmen, werden sie in den Bereich der bloßen Einbildungen abgeschoben." Auch: OWSEI, Temkin: Health and Disease, in: ders.: The Double Face of Janus. And Other Essays in the History of Medicine, Baltimore/ London 1977, S. 419—440; ders.: The Scientific Approach to Disease. Specific Entity and Individual Sickness, in: ebd., S. 4 4 1 - 4 5 5 . 56

JAUCH STAFFELBACH, Ursula Pia: Krankheit als Metapher. Neue Überlegungen zu einer alten Querelle: Julien Offray de la Mettrie und Albrecht von Haller, in: HOLZHEY, Helmut/ BÖSCHUNG, Urs (Hrsg.): Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert. Referate der Tagung der Schweizerischen Gesellschaft zu Erforschung des 18. Jahrhunderts, Amsterdam 1995, S. 141-156, hier: S. 152.

1.1. Obduktionen

47

daß sich allerorten die Vitrinen und Kammern füllten. Johann Valentin Heinrich Köhler - seines Zeichens „Herzogl. Sachsen-Weimarscher Hofchirurgus" - veröffentlichte 1795 ein Verzeichnis der Präparatensammlung seines Lehrers Loder. 57 Am durchaus arbeitsintensiven Aufbau dieser Sammlung, die immerhin 1308 Exponate umfaßte, hat Köhler nach eigener Angabe selbst mitgewirkt. In der Vorrede gesteht er seine besondere Vorliebe für die pathologische Abteilung, da man durch das Studium der kranken Körperteile die besten Rückschlüsse auf den eigentlichen, gesunden Zustand der Organe gewinnen könne. 58 So sind denn auch etwa die Hälfte der verzeichneten Präparate krankhaft verändert oder verletzt - sie werden erhaltenswert durch ihre Abweichung von der ,Norm\ Die von Köhler beschriebene Präparatensammlung ist insbesondere charakteristisch für das große, auch öffentliche' Interesse an der Innenwelt des Körpers.

1.1.5. Vordem 18. Jahrhundert: Anatomiker der Renaissance Hatte es aber nicht bereits während der Renaissance' enorme Bemühungen um die Zergliederung des menschlichen Körpers gegeben? Waren es nicht sogar große Spektakel gewesen, die Massen von Zuschauern in die anatomischen Theater lockten? Die Zentren der anatomischen Wissenschaft lagen während der Renaissance und auch noch im 17. Jahrhundert im südlichen und westlichen Europa: in Bologna, Padua und Leiden. Wer bei den Sezierungen dabei sein wollte, mußte häufig Eintrittsgelder bezahlen, und es hält sich in der Historiographie das Bild, daß die Szenerie bisweilen eher einer Karnevalsveranstaltung als medizinischem Unterricht glich. Es ist allerdings noch nicht erforscht, ob sich die anatomischen Präsentationen tatsächlich regelmäßig zu Massenspektakeln auswuchsen. Jene vielfach als Beleg herangezogene Darstellung, die Vesalius am Seziertisch umringt von Persönlichkeiten seiner Zeit zeigt, ist mehr Ikonographie als der Versuch, den Begründer der ,modernen' Anatomie bei der Arbeit zu zeigen. Sie illustriert wohl primär das Prestige eines angesehenen Arztes. 59 In jedem Fall ging man im Zeitalter der Entdeckungen auch daran, das unbekannte Territorium Körper zu erkunden, die einzelnen Teile zu benennen, die

57

Die Sammlung gehörte also niemand anderem als dem Herausgeber des „Journals für die Chirurgie, Geburtshilfe und gerichtliche Arzneykunst" und Sezierer des toten Danovius. 58 KÖHLER, Beschreibung der Präperate, 1795, Vorrede, unp. Vgl. auch: WIEDEMANN, C. R. W.: Ueber ein missgestaltetes Kind, in: Beiträge für die Zergliederungskunst, Bd. 1, Leipzig 1800, S. 42-47. 59 Vgl.: FERRARI, Giovanna: Public Anatomy Lessons and the Carnival. The Anatomy Theater of Bologna, in: Past and Present, Bd. 117, 1987, S. 50-106, insb.: S. 50 f. Allgemein zur den Zuschauern bei den Sektionen: STUKENBROCK, Karin: „Der zerstückte Cörper". Zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen in der frühen Neuzeit (1650-1800), Diss. Stuttgart 2001, S. 149-153.

48

1. Blicke auf und in den Menschen

Fähnchen aufzustecken. 60 Nicht nur Ärzte, sondern auch Künstler lasen im Inneren des Menschen und brachten ihre Wahrnehmungen zu Papier. Nach Jonathan Sawday stand in dieser Zeit noch die ,Entdeckung' des Körpers im Vordergrund, nicht dessen .Erfindung'. 61 Allerdings ist oft übersehen worden, daß auch den künstlerischen Abbildungen bereits eine starke Normenbildung innewohnte. So war der Blick immer ein eklatant männlicher und die Ikonographie stand im Wechselspiel mit den Bedeutungen von Körper und von Tod allgemein. Im Unterschied zum 18. Jahrhundert war die Umsetzung allerdings noch bewußt um Idealbilder bemüht, die sich an kunsttheoretische Vorstellungen anlehnten. Die Reichweite solcher Normen, wie die Reichweite des anatomischen Systems überhaupt, war also im 16. und 17. Jahrhundert viel geringer nicht zuletzt, da sich die Anatomie erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Leitwissenschaft der Medizin etablierte. 62 Wichtiger noch: der öffentliche Radius, den Wissenschaft erreichen konnte, wurde im 18. Jahrhundert stark vergrößert. Dies gilt besonders für die Jahre nach 1750, für die man schließlich eine ,Medikalisierung' der Gesellschaft diagnostizieren kann. Auf die für diese Entwicklung verantwortlichen Ursachen, wie Publikationsmöglichkeiten, Durchdringung des staatlichen Apparats etc., möchte ich jedoch erst an späterer Stelle eingehen. Bleiben wir vorerst noch bei den Anatomen und ihren Sektionen - wie entstand hier Öffentlichkeit'?

1.1.6. Der tote Lessing: Anatomie außerhalb des anatomischen Theaters Für das Jahr 1785 berichtet der kurfürstliche Statthalter in Trier, es seien zwei Körper „mit voller Zufriedenheit und Beyfall mehrer Anwesenden wissensbegirigen vornehmen Standespersonen" seziert worden. 63 Mit .anatomischem Theater' im früheren Sinne hatte diese Veranstaltung aber kaum noch etwas gemeinsam. Denn als man in den deutschen Territorien zu Beginn des 18. Jahrhunderts begann, Anatomie institutionell zu betreiben, war es längst nicht mehr in Mode, zu den Sektionen (relativ) freizügigen Zutritt zu gewähren. Neben der zunehmenden Zahl von Studenten durfte nur ein ausgewähltes fachfremdes Publikum Einblicke in den Unterricht nehmen, und nur in diesem (nach heutigem Verständnis eingeschränkten) Sinne handelte es sich um .öffentliche' Veranstaltungen. 64 Das Interesse an Anatomie aber war trotzdem groß, vielleicht größer denn je - es wurde auf andere Weise befriedigt. Bücher, Texte, Abbil60

SAWDAY, The Body Emblazoned, 1996, S. 23 u. S. 27 f. Ebd., S. 23. Diese Differenzierung ist angebracht, solange man mitdenkt, daß auch die Renaissanceforscher niemals eine bloße /{¿Konstruktion des menschlichen Körpers unternahmen, sondern ihre Wahrnehmungen immer Konstruktionen schufen. 61

62 STAFFORD, B o d y Criticism, 1 9 9 1 , S. 4 9 . 63

Zitiert nach: RICHTER, Das anatomische Theater, 1936/1977, S. 73.

64

V g l . : NICOLAI, B e s c h r e i b u n g der K ö n i g l i c h e n Residenzstädte, 1 7 8 6 / 1 9 6 8 , B d . 2, S. 7 1 0 .

1.1. Obduktionen

49

düngen machten es möglich, daß man nicht mehr unbedingt selbst bei einer Sektion anwesend sein mußte, um sich zu informieren. Man konnte das Wissen auch mit nach Hause nehmen.65 Der medizinische Buchmarkt boomte. Da sind natürlich die Veröffentlichungen, die hauptsächlich dem Unterricht der Medizinstudenten und jungen Ärzte dienen sollten. Gleichzeitig nahmen die Publikationen für eine breitere Leserschaft stetig zu; medizinische Handbücher und Journale hatten ebenso Hochkonjunktur, wie die Medizin überhaupt in den allgemeinen Zeitschriften mehr Raum einnahm. 66 Und auch in den Zeitschriften wollte man in den Körper selbst hineinschauen: Die Leser(innen) des „Göttingischen Magazins" können in der ersten Ausgabe des Jahres 1781 einen Sektionsbericht finden. Ausführlich werden die Krankheiten und Veränderungen des Körpers geschildert, so zum Beispiel die Konstitution von Darm und Magen: „Die dünnen Gedärme waren gröstentheils leer und entzündet, das Ileum aber am mehrsten. So war auch an dem Grimdarme [sie] eine nicht geringe Entzündung warzunehmen. Der linke heruntersteigende Grimmdarm [sie] war äusserst dünne, weit dünner als die sogenanten dünnen Gedärme und aus seiner Lage weg und in das Becken gepreßt. Der Magen war weit und dünne, links nach seinem Grunde stark entzündet und enthielt eine mäsige Menge vorher genossener dünner Speisen." Wem schauten die Leser hier in den Bauch? - Der Tote war niemand anders als Gotthold Ephraim Lessing.67 Natürlich ging es bei der Sezierung Lessings nicht (mehr) darum, grundsätzliche Erkenntnisse auf dem Gebiet der Anatomie zu gewinnen. Die Veröffentlichung des Obduktionsberichts versinnbildlicht vielmehr einerseits das Publikumsinteresse am Körperinnern und steht andererseits im Zeichen der erwähnten allgemeinen Akzentverschiebung zugunsten pathologischer Untersuchungen. Beschrieben werden die Krankheiten des Körpers. Was der medizinische Blick enthüllt, wird klassifiziert, nach der Abweichung von der Norm eingeordnet, in Sprache übersetzt und - publiziert. Der Text soll das an sich Unsichtbare sichtbar und beschreibbar machen. Eine 65

Man sollte nicht übersehen, daß eine anatomische Veranstaltung keineswegs ein Vergnügen für alle Sinne darstellte - die Geruchsbildung war oft äußerst unangenehm, besonders auch da man erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausgefeiltere Entlüftungssysteme zu entwickeln begann. (Vgl.: SÖMMERING: Gedanken und Plan zur Errichtung eines bequemen Zergliederungshauses, in: Medicinisches Journal, Bd. 5, 1789, S. 3-12, hier: S. 6f.) 66 Siehe Kap. 1.3.2. Auf einen frühen Versuch, anatomische Kenntnisse allgemein zugänglich zu machen verweist: SCHNALKE, Thomas: Anatomie für alle! Trew und sein Projekt eines anatomischen Tafelwerks, S. 53-72, in: ders. (Hrsg.): Natur im Bild. Anatomie und Botanik in der Sammlung des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew, Ausstellungskatalog, Erlangen 1995, S. 53-72. 67 Nachricht von Lessings Tod; nebst Hern Hofr. Sommers Zergliederung von dessen Leichnam, aus einem Schreiben des Hm. Landschafts-Sekr. Leisewitz an Prof. Lichtenberg, (Braunschweig, 25. Feb. 1781), in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, 2. Jahrg., 1781, 1. Stück, S. 146-152, zitiert: S. 151.

50

1. Blicke auf und in den Menschen

Bewertung ist dabei immer Voraussetzung; sie wird stillschweigend mitgedacht: die Därme sind „dünn", also zu dünn. Vergleicht man diesen Text aus dem „Göttingischen Magazin" und andere Sektionsberichte mit (bildlichen) Sektionsdarstellungen aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert, dann könnte man leicht darauf schließen, daß hier eine Art Rationalisierung' vonstatten gegangen ist. Das hätte auch den Bemühungen der Mediziner um eine Verwissenschaftlichung ihres Faches entsprochen. Der tote Lessing war kein gehäuteter Marsyas, dessen Gestalt Vesalius zum Vorbild gedient hatte, und auch keine Skulptur von Ruysch. (Frederic Ruysch hatte um 1710 gutes Geld damit verdient, aus Embryonen und anderen Präparaten Gebilde zu formen und diese auszustellen.) 68 Lessings Körper wurde nach einem Bewertungssystem analysiert, das den Leitlinien des Blicks folgte: es sind optische Kriterien wie ,dick', ,dünn' etc., die angewendet wurden. Gleichzeitig werden die Wahrnehmungen des Blicks geordnet und in Sprache übersetzt. Diese Sprachkonstruktion (und auch: Rationalitätskonstruktion) schafft Distanz - eine Distanz, die nötig war, damit überhaupt ein toter Lessing in einer Aufklärungszeitschrift verhandelt werden konnte. Auffällig ist außerdem, wie sich die Ikonographie von Sektionsdarstellungen veränderte: Die alten Knochenmänner mußten sich aus der Anatomie verabschieden - zumindest außerhalb der Fakultätsräume, auf den Buchdeckeln. Sie waren generell in der Bilder- und Vorstellungswelt vieler Aufklärer nicht mehr recht beliebt, wozu im übrigen Lessing selbst beigetragen hatte. Man solle lieber zur antiken Todesdarstellung, die immer die Nähe zum Schlaf aufzeigte, zurückkehren, und nicht länger Schreckensbilder verbreiten, hatte Lessing in seinem berühmten Aufsatz darüber „Wie die Alten den Tod gebildet" gefordert. 69 Und in genau dieser Weise gestaltete man dann auch Darstellungen von Sektionen: Zuletzt stehen nicht mehr finster oder doch zumindest sehr wissenschaftlich ernst dreinblickende alte Männer am Seziertisch, sondern wohlgenährte - wenn sie farbig abgebildet wären, sicherlich zartrosa - Putten beugen sich über den Toten, der leicht mit einem Schlafenden verwechselt werden könnte. 70 68

RUYSCH, Frederic: Thesaurus Anatomicus, 10 Bd., 1701-1714. Frederic RUYSCH präsentierte in diesem (in Latein und Niederländisch abgefaßten) „Thesaurus" in zehn dicken Bänden seine Objekte, die er durch eine spezielle und von ihm auch strikt geheim gehaltene Methode, nämlich der Injektion von Talg in die Gefäße, herstellte. Unter anderem finden sich skurile Skulpturen, zusammengesetzt zum Beispiel aus Embryonenskeletten. Ruysch hat schließlich die Rezeptur zusammen mit seiner anatomischen Sammlung an Peter den Großen verkauft. (Vgl.: FALLER, Albert: Die Entwicklung der makroskopisch-anatomischen Präparierkunst von Galen bis zur Neuzeit, Basel 1948, S. 65.) 69

LESSING, Gotthold Ephraim: Wie die Alten den Tod gebildet, Berlin 1769. Vgl. die Abbildungen in: CETTO/WOLF-HEIDEGGER, Die anatomische Sektion, 1967. Auch durch die Verwendung von (klassisch wohl proportionierten) Wachsmodellen wurde die Asthetisierung des dargestellten Körpers vorangetrieben. Vgl.: STEINHAUSER, Monika: „Die Anatomie Selbdritt". Das Bild des zergliederten Körpers zwischen Wissenschaft und 70

1.1. Obduktionen

51

Den Abschied vom Knochenmann wollte Lessing auch als Schritt hin zu einer rationalen Interpretation des Todes verstanden wissen. Was aber ist wirklich .rational'? Sicherlich: man ästhetisierte und verklärte und rückte von den an Totentänze und Reliquienschreine erinnernden Darstellungen ab, die bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts üblich gewesen waren. Es ist dennoch schwierig zu entscheiden, in welcher Darstellung mehr Phantasie, mehr Inszenierung steckt: im Ruyschen Embryonenskelett, das sich mit „einem Stück eines injizierten grossen Netzes die leeren Augenhöhlen wischt" 71 , oder im schlafenden, von Putten bewachten Toten. Man sollte die Veränderungen, wie überhaupt die ganze Entwicklung der Todes- und Körperbilder, nicht vorschnell als Rationalisierung oder gar Objektivierung abtun; die Bilder bleiben immer Konstruktionen. Neben den textlichen und bildlichen Umsetzungen der Sektionen findet sich noch ein weiterer Hinweis auf das durchaus beachtliche Interesse an der Innenwelt des Körpers. An anderer Stelle sind wir bereits auf die Lodersche Präparatensammlung gestoßen. Sie ist nur ein Beispiel von vielen. Nicht nur an wissenschaftlichen Instituten präparierte man Skelette, konservierte gesunde und kranke Organe, sammelte Nierensteine und vieles mehr. Auch Privatleute bemühten sich darum, derartige Exponate zu erwerben, wobei man nicht vergessen sollte, daß ohnehin die meisten Sammlungen der medizinischen Institute ihren Ursprung im Eifer und finanziellen Einsatz eines der dort wirkenden Professoren genommen hatten. Oft verband sich medizinisches Interesse mit der allgemeinen Begeisterung für Exotisches und Skurriles. Nicolai berichtet zum Beispiel von der Privatsammlung des ,,Herr[n] Doktor M. E. Block (auf dem Molkenmarkt beym Brauer Fourre) [...] Vom Menschen findet man hier anatomische Präparate und eine Sammlung Embryonen, vom kleinsten bis zum größten, worunter ein schäkkiger Embryo von einem Europäer mit einer Mohrinn gezeugt, merkwürdig ist." 72 Selbst das Berliner anatomische Theater stellte menschliche Präparate neben zoologische, paläontologische und botanische. 73

Kunst, in: MÜLLER-TAMM, Pia/SYKORY, Katharina (Hrsg.): Puppen Körper Automaten. Phantasmen der Moderne, Düsseldorf 1991, S. 106-124, hier: S. 109. 71 FALLER, Entwicklung der makroskopisch-anatomischen Präparierkunst, 1948, S. 66. Ein(e) Besucher(in) der Berliner anatomischen Sammlung hätte im übrigen 1750 Kinderskelette mit Musikinstrumenten betrachten können. (Vgl.: SCHAARSCHMIDT, August: Verzeichnis der Merkwürdigkeiten, welche bei dem Anatomischen Theater zu Berlin befindlich sind, Berlin 1750, S. 10: „Sieben Geribbe von so viel kleinen Kindern, welche allerhand zur Music gehörige Instrumente in den Händen haben.") 72 NICOLAI, Friedrich: Beschreibung der Königlichen Residenzstädte, 1786/1968, Bd. 2, S. 813. Vgl. auch: KÖHLER, Johann Valentin Heinrich: Beschreibung der Präparate der Sammlung Loder, Leipzig 1795; Anatomisches Museum, gesammelt von Johann Gottlieb Walter, beschrieben von Friedrich August Walter, 2 Bd., Berlin 1796. 73 Ein Fach enthielt zum Beispiel: „1) Ein polypus aus dem sinu longitudinali durae matris;

52

1. Blicke auf und in den Menschen

Versuchen wir eine Zusammenschau der Bilder vom toten Körper, die uns in den verschiedenen Texten, Bildern und Exponaten entgegentreten: Sie sind widersprüchlich, erscheinen vielleicht sogar verwirrend; und sie zeigen, daß die (gelehrten) Menschen¡Männer des ausgehenden 18. Jahrhunderts gegenüber dem Tod ein sehr ambivalentes Verhältnis entwickelt hatten, das sich nicht auf einen Begriff bringen läßt: Rationalisierung (im Sektionsbericht) stand neben Verklärung, neben exotischer Aus-Stellung - und alles zusammen konnte sowohl als Distanzierung als auch als Annäherung gegenüber Sterben und Tod fungieren und funktionieren. Denn so viel und ausführlich man sich mit dem Tod und mit dem Innenleben des Körpers beschäftigte, so sehr rückte Sprache zwischen die Menschen und ihre Erfahrungen. Die erwähnten Kuriositätenkabinette waren zwar nicht für jedermann/frau zugänglich, (möglicherweise gerade, weil sie die weniger,schöne' Seite des Todes zeigten), sie sind aber in der Hinsicht bezeichnend für die allgemeine Deutungswelt ihrer Zeit, daß die Präparate zu etwas Fremden gemacht wurden: einerseits eben dadurch, daß sie eingeschlossen wurden, andererseits dadurch, daß sie in die Nähe der anderen Seltenheiten und Absonderlichkeiten rückten. Dem entspricht, daß besonders pathologische Präparate gesammelt wurden, die außerhalb des ,Normalen' eingeordnet wurden. Entscheidend ist für unseren Zusammenhang, daß die neuen Blicke in und auf den Körper mit veränderten Vorstellungen darüber verbunden waren, wie Körper und Seele zusammenhingen. Die Macht des Sehens richtete sich auch auf diesen Bereich. Zunächst las man die Gestalt des Körpers und zog Schlüsse auf den Zustand der Seele; schließlich wollte man sogar darangehen, die Seele selbst zu sezieren oder sie zumindest unter die Lupe zu nehmen. Wieso sollte es nach der Erfindung des Mikroskops nicht auch dafür eine Sehhilfe geben? Und warum sollte nach der Anatomie des Körpers nicht auch die der Seele erforscht werden können? Heinrich Nudow empfiehlt in seinen 1791 veröffentlichten „Materialien", die er für eine ,,medicinische[..] Seelenlehre" gesammelt hat, „in den Schulen der Aerzte, gleich dem Zergliederer des menschlichen Körpers, einen anderen Zergliederer der menschlichen Seele", wobei er sich ausdrücklich auf den bekannten Berliner Arzt Marcus Herz beruft. 74

2) Zwei Stük Fische, aus dem schwarzen Meer; 3) Einige Menschen-Zungen; 4) Drei Stiik Salamander; 5) Eine bunte italiänische Schlange; 6) Acht Stük Taranteln; 7) Lunge, Herz, Leber, Miltz und Gedärme eines todt gebohrnen Kindes; 8) Ein Brust-Bein eines Kindes von besonderer Krümme." (SCHAARSCHMIDT, Verzeichnis der Merkwürdigkeiten, 1750, S. 30.) 74 NUDOW, Heinrich; Materialien zur Gründung und mehreren Aufklärung der medicinischen Seelenlehre, 1. Samml., Königsberg 1791, S. 7.

1.1. Obduktionen

53

1.1.7. Die Macht der Augen: Das 18. Jahrhundert als visuelles Zeitalter? „Dinge die man täglich vor Augen sieht [...] durch ein Vergrößerungs-Glas anzusehen ist oft ein Mittel die Welt mit Erfolg zu lehren. Ledermüllerische Belustigungen ließen sich auch in der Moral schreiben. Ein solches Mikroskop würde uns unglaubliche Dinge zeigen."75 In seiner Mikroskopanalogie betont Lichtenberg die Notwendigkeit, auch die moralische und seelische Welt detailgenau zu betrachten. So wie der erwähnte Ledermüller in seinen „Mikroskopischen Augenergötzungen" einen populären Katalog von Vergrößerungen aller möglichen Dinge aus der Außenwelt lieferte, sinnierte also Lichtenberg über ein Kompendium, das die Einzelteile des inneren Menschen enthalten könnte. Lichtenberg verlegte sich in seiner Psychologie somit auf das einzelne, das spezielle. Sein Zeitgenosse und Konkurrent Lavater verfolgte hingegen eher ein großangelegtes, generalisierendes Projekt, als er in seiner „Physiognomie" von der Gestalt des Gesichtes und der Haltung des Körpers auf den zugehörigen Charakter schließen wollte.76 Beiden gemeinsam ist jedoch, daß sie dem Visuellen einen besonderen Rang einräumten. Man wollte in die Seele hineinblicken. Auch wenn Lichtenberg immer Skeptiker blieb und sich bisweilen über die vom Mikroskop zusätzlich angerichtete Verwirrung ärgerte,77 erfreuten sich gerade mikroskopische Abbildungen großer Beliebtheit. Lichtenberg selbst hat uns zuvor auf die Ledermüllerischen „Augen- und Gemütsergötzungen" hingewiesen, die in ungeordneter Aneinanderreihung die verschiedensten Vergrößerungen veröffentlichten. Man konnte auf farbigen Tafeln den „Blumenstande vom Hyacint." sehen, einen „Tropfen Urin", eine „Bienenzunge" oder „Menschenhaare". Schließlich sollte auch das „schöne Geschlechte" an die Beobachtungskunst herangeführt werden, was Ledermüller durch die Abbildung eines vergrößerten „holländischen Zwirnfaden[s]" zu erreichen suchte.78 Wurde der Gesichtssinn allgemein von der Aufklärung „privilegiert"?79 Wurde „in der Moderne [...] das Auge Leitorgan"?80 Unsere Überlegungen zur Seelenerforschung, zur Bedeutung der Anatomie weisen darauf hin. Angenom-

75

LICHTENBERG, Georg Christoph: Sudelbücher (= Schriften und Briefe, Bd. 1 u. 2), hrsg. v. Wolfgang Promies, München 1968, A 78. 76 Vgl.: MÜLLER, Lothar: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz' „Anton Reiser", Frankfurt a.M. 1987, S. 187 f. LICHTENBERG bedachte Lavater gerne mit Spott: „Du weißt nicht einmal aus einem Teil des Leibes zu sagen, wie der andere aussieht, und willst aus dem Leib auf den Geist schließen." (LICHTENBERG, Sudelbücher, F 8 0 6 . ) 77

78

LICHTENBERG, Sudelbücher, C 3 0 3 .

LEDERMÜLLER, Martin Frobenius: Mikroskopische Gemüths- und Augenergötzungen, erstes fünfzig, s.l. 1760, S. 24, tabula XII. Die Titel der anderen Abbildungen sind dem Inhaltsverzeichnis entnommen. 79 MÜLLER, Die kranke Seele, 1987, S. 172. 80 MATTENKLOTT, Gerd: Der übersinnliche Leib, Reinbek 1982, S. 63.

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1. B l i c k e auf und in den Menschen

men, daß der Mensch per se nur über ein bestimmtes Aufmerksamkeitsvermögen verfügt, dann bedeutete die Aufwertung des Visuellen zwingend eine Abwertung der anderen Sinne. 81 Verloren tasten, hören, schmecken, riechen an Bedeutung? Die Zurückdrängung von anderer .Sinnlichkeit' wurde dadurch begünstigt, daß die Darstellungen und Abhandlungen immer auch Klassifizierungen vorantrieben. Die Erscheinungen des Körpers wurden nicht nur abgebildet, sondern benannt, in Gruppen eingeteilt, schließlich normiert und die möglichen Abweichungen verzeichnet. 82 Diese Sichtweise beherrschen die Augen nicht von Natur aus, sondern sie wird ihnen - darauf hat Barbara Stafford hingewiesen - durch die Sprache der Vernunft anerzogen. 83 Diese Sinneserziehung sollte auch neue Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnen. Schon der Philosoph Christian Wolff bemühte sich ausführlich um die Sichtbarmachung des Unsichtbaren, um das, „was die Vergrößerungsgläser zeigen" und um die Verfeinerung der täglichen Wahrnehmung durch die mikroskopische Praxis: „Ich erinnere [...], daß, wenn man einmahl eine Sache durch das Vergrößerungsglas genau betrachtet, man nach diesem auch mit bloßem Auge vielen Unterschied wahrnimmt, den man vorher nicht erwogen hat." 8 4 Es sollte also auch das .natürliche' Sehen verändert werden. So konnte das ursprünglich „unsystematische Zeugnis der Augen" in Beobachtungen umgeformt werden. 85 Das Verhältnis, das eine solche Visualität zu ihren Gegenständen (= Objekten!) herstellt, ist immer ein ganz eigenes: ein bemüht rationales, ein Verhältnis der Draufsicht und damit auch der Hierarchisierung und Distanzierung. 86 In die-

Vgl. zur Aufwertung der Visualität auch: BUSCH, Bernd: Belichtete Welt. Eine Wahmehmungsgeschichte der Fotografie, Frankfurt a . M . 1995 (erstmals 1989), S. 109. 81

82

Vgl.: BÖHME/BÖHME: Das Andere, 1996, S. 65. Siehe auch Kap. 1.3.5.

STAFFORD, Barbara: Kunstvolle Wissenschaft. Aufklärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Bildung, Amsterdam/Dresden 1998, S. 305. 83

WOLFF, Christian: Allerhand nützliche Versuche, dadurch zu genauer Erkänntnis der Natur und Kunst der Weg gebähnet wird, Teil I—III, Magdeburg 1 7 2 7 - 1 7 2 9 (Nachdr. Hildesheim/New York 1982), Teil III, S. 311, zitiert nach: MÜLLER, Die kranke Seele, 1987, S . 175. 84

85

STAFFORD, Kunstvolle Wissenschaft, 1998, S. 3 0 5 .

Allerdings scheint mir Stafford die Haltung der .Aufklärung' gegenüber dem Visuellen zu negativ zu sehen und zu sehr den Bedrohungsaspekt zu betonen. Die vielfache Begeisterung für optische Phänome zeichnet hier ein anderes Bild. Vgl.: BUSCH, Belichtete Welt, 1995, S. 109. Der Mythos von der ,wahrhaftigen' direkten Wahrnehmung, dem unverstellten Blick in den Körper wird auch heute noch gerne aufrecht erhalten. Als wäre der präparierte, der vom Arzt aufgeschnittene Körper nicht immer schon ein anderer, ein zurechtgerückter, preist (Prof. Dr. med.) Gunther HAGENS anläßlich der Mannheimer Ausstellung „Körperwelten", daß es nach der „Reformation der Anatomie" Laien möglich gewesen sei, „selbst unter die menschliche Haut zu schauen." Diese Entwicklung sei mit der Befreiung der Gläubigen aus der B e vormundung durch die Priester gleichzusetzen. (HAGENS, Gunther: Die Reformation der Anatomie, in: Körperwelten. Einblicke in den menschlichen Körper, Ausstellungskatalog, Mannheim 1997, S. 1 8 1 - 1 9 4 , hier: S. 181.) Solche Begeisterung ist zwar verständlich und es geht an dieser Stelle auch nicht darum, ethische oder ästhetische Vorbehalte gegenüber 86

1.2. Leib und Seele

55

sem Sinne produzieren die Augen und ihre Apparaturen kalte Wahrnehmungen. (Vielleicht müssen sie auch deshalb im ,empfindsamen' Zeitalter durch stetigen Tränenfluß erwärmt werden;87 muß der Blick verschwommen werden, um sinnlich sein zu können?) In unserem Zusammenhang der Blicke auf den Körper ist zu beachten, daß die Vormacht jener Bilder, die der medizinische Experte vom Körper zeichnete, außerdem die Unzulänglichkeit der unmittelbaren Sinnesempfindung der Laien proklamierte.88 Die Wahrnehmungen mußten geordnet werden, klaren Linien folgen, geometrische Formen ergeben. Wie angedeutet, betrafen die Bilder vom Körper schließlich auch die Seele des Menschen. Wie wurden hier die Verbindungen im einzelnen hergestellt?

1.2. Leib und Seele Im 18. Jahrhundert sind Mediziner also daran gegangen, aus dem Körper eines Obduzierten Rückschlüsse auf dessen geistige und seelische Verfassung zu ziehen. Notwendige Voraussetzung dafür war ihre Meinung und Sichtweise darüber, wie die einzelnen .Komponenten' im Menschen zusammenwirkten, wie sich Veränderungen der einen in der anderen einschrieben. Doch eine solche Formulierung entspringt sehr unserem heutigen Sprachgebrauch. Denn wie wurde überhaupt das Verhältnis von Körper und Seele dar- und vorgestellt, und auch: empfunden? Wir dürfen nicht außer acht lassen, daß bereits die Beziehung von Seele und Körper historisch gesetzt ist. Zwar gab es immer theologische und philosophische Lehrmeinungen zu diesem Thema, die etwa den Körper als Gefäß der Seele vorstellten - aber aus der Perspektive der Mediziner und des Erlebens lagen noch im 17. Jahrhundert die Bereiche des .Physischen' und des .Psychischen' diffus neben- und aufeinander, so daß die Idee von Körperlichkeit selbst historisch bedingt ist.89 Die unabweisbare Schwierigkeit besteht folglich darin, die Kategorien des 18. Jahrhunderts nicht unbesehen mit der Ausstellung von menschlichen Körperpräparaten zu äußern, sondern darum, daß auch solche Darstellungen von .Wirklichkeit' als Konstruktionen interpelliert werden müssen. 87 KOSCHORKE beschreibt den Tränenfluß der Empfindsamkeit hingegen als Ersatz für die Abkehr von den zirkulierenden Säften. (KOSCHORKE, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 94f.) 88 Vgl.: BERGMANN, Anna: Die Verlebendigung des Todes und die Tötung des Lebendigen d u r c h d e n M e d i z i n i s c h e n B l i c k , in: MIXA, Elisabeth/MALLEIER, Elisabeth/SPRINGER-KREM-

SER, Marianne/BIRKHAN, Ingvild (Hrsg.): Körper - Geschlecht - Geschichte. Historische und aktuelle Debatten in der Medizin, Innsbruck 1996, S. 77-95, hier: S. 79-82. 89 DUDEN, Geschichte unter der Haut, S. 30. Auf die immense Bandbreite dieses Themas kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Hierzu gehörte die Geschichte des Leibes ebenso wie der Körpersprache, der Sexualität oder der Geschlechtszugehörigkeit. Einen Überblick bietet: LORENZ, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000. Auch: SARASIN, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt a.M. 2001.

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1. Blicke auf und in den Menschen

den heutigen gleichzusetzen. Es geht um weit mehr als darum, ideengeschichtlich Entwicklungen von Theorien nachzuzeichnen; Wahrnehmungen rücken ins Blickfeld und der Gedanke, daß Wissenschaftler in der Vergangenheit die Welt nicht nur anders interpretierten, sondern „eine andere Welt [sahen] als wir sie heute sehen".90 Im folgenden möchte ich mich dieser äußerst komplexen Problematik in Ausschnitten annähern - ausschnitthaft soll diese Analyse auf zweierlei Weise werden: Zunächst kann es nicht um mehr gehen als um eine Streifansicht der ganzen Entwicklung, die ihren Ausgang bei Descartes nimmt, bei den Philosophen und ihren Konzeptionen von Leib und Seele, und fortschreitet zur Ablösung von der Metaphysik, zum Perspektivwandel im Zeichen der Anthropologie und philosophischen Medizin. Sodann möchte ich ein besonderes Augenmerk auf das Phänomen .Hypochondrie' legen, und ich wähle dieses als Beobachtungspunkt für verschiedene Konzepte über das Zusammenwirken von Seelischem und Körperlichem.

1.2.1. Zugriffe jenseits der Metaphysik Die Descartesche Philosophie wird gemeinhin für die radikale Separierung von Geist/Seele und Körper verantwortlich gemacht.91 Descartes, der den Menschen als Denker 92 und seinen Körper als Maschine definierte, hätte nicht nur die Welt (und den Menschen) in res cogitans und res extensa aufgeteilt, sondern es überdies versäumt, das dadurch von ihm aufgeworfene „commercium"-Problem zu lösen, also zu klären, wie der Mensch trotz dieser Spaltung die beiden Bereiche koordinieren könne - eine Fähigkeit, die buchstäblich für die einfachsten Handgriffe des Alltags notwendig ist. Als ,Leib-Seele-Problem' wurde diese Frage fortan von philosophischer Seite behandelt. Entscheidend für unsere Analyse ist es, die philosophische Debatte zu unterscheiden von der nach-metaphysischen Auseinandersetzung: Es ging nicht mehr vorrangig darum, zu bestimmen, ob ,Harmonismus', .Parallelismus', .Occasionalismus' .oder Jnfluxionismus' die treffendste Theorie zur Erklärung der LeibSeele-Koordination sei, sondern wie konkret und mit welchen Konsequenzen für die medizinische Praxis dieses Zusammenwirken funktionierte.93 Daß es

90

DARNTON, Robert: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich, Frankfurt a.M. 1986 (Original 1968), S. 22. 91 Vgl.: HEINZ, Jutta: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York 1996, S. 55f.; CARRIER, Martin/MITTELSTRASS, Jürgen: Geist, Gehirn, Verhalten. Das Leib-Seele-Problem und die Philosophie der Psychologie, Berlin/New York 1989, S. 19f. 92 Weniger aber als Denkerm - und so bleibt es ja auch bis Rodin. 93 KOSENINA, Alexander: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der .philosophische Arzt' und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989,

1.2. Leib und Seele

57

nämlich eine gegenseitige Beeinflussung der beiden Sphären geben müsse, war unbestritten und als Arbeitshypothese hatte der Influxionismus daher auch eine vorrangige Position errungen.94 Diese Loslösung von der Metaphysik bedeutete keineswegs eine verminderte Gewichtung des gesamten Komplexes Leib-Seele: Im Gegenteil: Mit Jutta Heinz kann man veranschlagen, daß im „Kontext der philosophischen Entwicklung der Aufklärung mit ihrer Aufwertung empirischer, sinnlicher und individueller Erfahrung [...] diese Frage [...] deutlich an Aktualität und Brisanz" gewann. Allerdings handelte es sich bei diesem veränderten Vorgehen weniger um die Erschließung von „neuen Erkenntnisquellen" (meine Hervorh.), wie Heinz meint, als um eine modifizierte Sichtweise. Körperlichkeit und Sinnlichkeit sollten in ihrer gegenseitigen Beeinflussung mit den geistigen Kräften des Menschen erfaßt und auch bemessen werden.95 Worin bestand nun diese Veränderung der Perspektiv genau? Es müssen zwei verschiedene Ebenen ins Spiel gebracht werden: Wir haben bereits gesehen, daß die Dominanz des Gesichtssinnes im 18. Jahrhundert nach und nach auch die Seele erfaßte. So konnte die Seele selbst zum Gegenstand empirischer beziehungsweise experimenteller Untersuchungen werden, nicht aber, um deren ,Wesen' zu ergründen, sondern um die psychophysische Wechselwirkung zu erforschen. Grundlegend für diese neuen Zugangsmöglichkeiten war besonders Hallers Irritabilitätskonzept, das zu einer Annäherung von Physiologie und psychologischer Philosophie führte. Haller selbst war unermüdlich auf der Suche nach der Trennlinie zwischen unempfindlichem Körper und reizbarer Seele und definierte das von ihm als , Irritabilität' bezeichnete Phänomen, also die Reizbarkeit der Muskelfasern auch noch des toten (Tier-)Körpers, als unübersehbaren Hinweis auf diese Trennlinie; - „as a result, the concepts of body and mind were stripped of their metaphysical content and became redefined as physiological questions that could be addressed through experimental inquiry."96 Als einer der ersten forderte 1756 Johann Gottlob Krüger eine von der Philosophie losgelöste und empirische „Wissenschaft von der Seele" und nannte seinen Text dementsprechend programmatisch „Versuch einer Experimental-

S. 27f.; PFOTENHAUER, Helmut: Literarische Anthropologie. Selbstbiographie und ihre Geschichte - am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987, S. 6. 94 Influxionismus bedeutete schlichtweg gegenseitige Beeinflussung von Körper und Seele, wobei man von einer Art Vermittlungsstelle ausging. (Vgl.: HEINZ, Wissen vom Menschen, 1996, S. 57.) 95 Ebd., S . 2 1 . 96 VILA, Anne C.: Enlightenment and Pathology. Sensibility in the Literature and Medicine of Eighteenth-Century France, Baltimore 1998, S. 13. Vgl. zu Haller auch: JAUCH STAFFELBACH, Krankheit als Metapher, 1995. Und allgemein: MORAVIA, Sergio: The Enlightenment and the Sciences of Man, in: History of Science, Bd. 18, 1980, S. 247-288, hier: S. 252.

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1. Blicke auf und in den Menschen

seelenlehre". 97 Zwanzig Jahre später betonte auf ähnliche Weise Abel in seiner „Einleitung in die Seelenlehre", daß diese Psychologie „bloß empirisch" sei und er daher „absichtlich Metaphysik über die Seele vermieden habe." 98 Und noch entschiedener formulierte Jakob: „Alle metaphysischen Hypothesen sind also in der Anthropologie leere und unnütze, ja höchst schädliche Grillen." 99 In diesem Sinne hieß Ablösung von der vormals dominierenden Metaphysik: Die Seele wurde durch Beobachtungen und Versuche erschließbar. Das Seelische selbst aber war nicht nur das geistige, erhabene Wesen des Menschen, es umschloß das Empfinden wie das Fühlen. Zweite Voraussetzung des Perspektivwechsels und gleichzeitig Bedingung der ersten ist die konsequente Trennung zwischen Physischem und Psychischem - und das eben nicht auf theoretisch-metaphysischer Ebene, wie es in der Leib-Seele-Debatte verhandelt wurde, sondern von ärztlicher und allgemeiner Beobachtungs- und Erfahrungsseite. Noch in den von Barbara Duden ausgewerteten Berichten des Eisenacher Arztes Storch scheint die ältere Konzeption durch: Die Analogien folgen nicht den anatomischen Systemen wie etwa dem Blutkreislauf oder dem Nervennetz, sondern einer unmittelbaren Überlagerung des später von einander abgespaltenen. Wenn die Liebe im Kopf eine Hitze erzeugt, dann vermag sie das ganz unmittelbar und das Blut wird daraufhin dort im Kopf gesammelt, verursacht einen Druck, dem man durch Blutreduzierung an anderer Stelle, etwa am Bein hätte abhelfen können - dazu aber hätte im konkreten Fall der Arzt Storch die Ursachen der Beschwerden wissen müssen, nämlich die überfordernden Liebesgefühle, das Birn-MostTrinken, das Tanzen. Dieses System der Unmittelbarkeit aber löst sich nach und nach auf. Mit Nerven, Zasern und immer noch durch Vermittlung der alten Säfte werden Kräfte zwischen die psychische Reizung und die physische Wirkung (oder umgekehrt!) gestellt. Das Seelische wird zur Einbildungs- und Empfindungskraft, die nur noch mittelbar in Verbindung steht mit Blutüberschuß und Kopfschmerz. Es versteht sich, daß diese Übergänge langsam waren und immer ,Ungleichzeitiges' nebeneinander bestand. Es versteht sich auch, daß an dieser Stelle kein auch nur annähernder Einblick in diese alte Welt der Unmittelbarkeit gegeben werden kann. 100 Grundlegend ist der ärztliche Blick auf das Ver-

97

KRÜGER, Johann Gottlob: Versuch einer Experimental-Seelenlehre, Halle 1756. Vgl.: HEINZ, Wissen vom Menschen, 1996, S. 28. 98 ABEL, Jacob Friedrich: Einleitung in die Seelenlehre, Stuttgart 1786, Nachdr. Hildesheim u.a. 1 9 8 5 , S. VII. 99 JAKOB, Ludwig Heinrich: Grundriß der Erfahrungs-Seelenlehre, 3. verb. Aufl., Halle 1800(1. Aufl., 1791), S. XI. In seiner Einteilung in obere und untere Begehrungsvermögen (ebd., S. 356-380) geht er aber über Kant nicht hinaus und in der „Vorrede zur zweyten Ausgabe" weist Jakob Kant auch explizit als eines seiner Vorbilder aus. (Ebd., S. XIIX-XXI, hier: S. XIIX.) 100 Es sei an dieser Stelle immer noch das Buch von Barbara DUDEN empfohlen. Diesem ist

59

1.2. Leib und Seele

hältnis von Seelischem und Körperlichem deswegen, weil es größtenteils Mediziner waren, die eine neue Form der Wissensbeschreibung generierten. Diese nannte man ,Anthropologie'. Der Begriff findet sich zwar bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts, etabliert und selbstbewußt als Wissenschaft vom Menschen betrieben wurde die Anthropologie jedoch erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts; mit nochmaliger enormer Popularitätssteigerung ab 1790, dem Erscheinungsjahr von Platners „Neuer Anthropologie für Ärzte und Weltweise". 101

1.2.2. Anthropologie als Rückkehr zum ,ganzen'

Menschen?

Ernst Platner wird gerne als Zeuge aufgerufen, wenn es darum geht, die Wesensart der anthropologischen Ideenwelt zu charakterisieren. „Der Mensch ist weder Körper, noch Seele allein; er ist die Harmonie von beyden, und der Arzt darf sich, wie mir dünkt, eben so wenig auf jene beschränken, als der Moralist auf diese". 102 Diese Vorgabe Platners (die sich in ganz ähnlicher Form auch bei Wezel oder in bezug auf die Erfahrungsseelenkunde bei Moritz findet103) wird besonders zitiert, um die Ganzheitlichkeit des Platnerschen Konzepts, aber auch der Anthropologie im allgemeinen zu betonen und darzulegen, wie hier Körper und Seele wieder zusammengeführt werden sollten. 104 Im Kontext des von Descartes aufgeworfenen Dualismus ist eine solche Deutung angebracht, schuf Platner doch durch die Vermittlung des „Nervensaftes" eine Verbindung

auch der Bericht über die tödlichen Folgen des Liebesrausches entnommen. (DUDEN, Geschichte unter der Haut, 1987, S. 129f.) 101 PLATNER, Ernst: Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1790. Vgl.: KOSENINA, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie, 1989, S. 29f.; MARQUARD, Odo: Anthropologie, in: RITTER, Joachim/GRÜNDER, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel/Darmstadt 1971, Sp. 362-374, hier: Sp. 367. 102 PLATNER, Ernst: Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1772, S. IV. Zur deutschsprachigen Anthropologie des 18. Jahrhunderts steht uns inzwischen ein beachtlicher Fundus an Forschungsliteratur zur Verfügung. Trotzdem klaffen immer noch einige der von RIEDEL schon 1995 aufgezeigten Lücken. (Etwa hinsichtlich der Rezeption Montaignes und anderer franz. Literatur.) Es fehlt besonders eine Arbeit, die den anthropologischen Blick in einen größeren Rahmen, in eine Untersuchung der Denkmöglichkeiten einordnet und dessen Bedeutung für das Menschen- und Körperbild im allgemeinen sowie die Vernetzung und das Zusammenwirken des anthropologischen Fachdiskurses mit anderen Wissenskonfigurationen beleuchtet. (RIEDEL, Wolfgang: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: Intern. Archiv der Sozialgeschichte der Literatur, 6. Sonderheft, 1994, S. 9 3 - 1 5 7 , S. 132 f.) 103 MORITZ, Karl Philipp: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfarungs-Seelenkunde. An alle Verehrer und Beförderer gemeinnüziger Kentnisse und Wissenschaften, und an alle Beobachter des menschlichen Herzens, welche in jedem Stande, und in jeglichem Verhältniß, Wahrheit und Glückseligkeit unter den Menschen thätig zu befördern wünschen, in: Deutsches Museum, Bd. 1, 1782, S. 4 8 5 - 5 0 3 , hier: S. 485 f.; WEZEL, Johann Karl: Versuch über die Kenntniß des Menschen, 1. Theil, Leipzig 1784, S. 10.

104 VG]

ETWA:

HEINZ, W i s s e n v o m M e n s c h e n , 1 9 9 6 , S . 2 9 ; KOSENINA: E m s t P l a t n e r s A n -

thropologie, 1989, S. 25 ff.

60

1. Blicke auf und in den Menschen

zwischen Körper und Seele. Darüber hinaus nahm die anthropologische Theorie Abstand von der alten theologischen Maxime, daß der Körper der Seele untergeordnet sei und jede andere Annahme verwerflich nach Materialismus schmecke.105 Allerdings darf sich die Lesart des Textes nicht darauf beschränken, hier eine ,Ganzheitlichkeit' im heutigen Sinne abzuleiten. Vielmehr gilt es, wiederum die Bedeutungen des Körpers im Zusammenhang der Zeit herauszustellen. Dann wird offenkundig, daß das Körperkonzept Platners ein ganz eigenes - für unser Verständnis voraussichtlich eingeschränktes - war. Es ging nicht um eine generelle Aufwertung von Körperlichkeit und körperlichen Empfindungen, vielmehr stand Platner in der (quasi schon vorkantianischen) Tradition der Rationalisierung des Körpers zum Funktionssystem. Dem entspricht beispielsweise, daß sich Platner sehr darum bemühte, den nicht-akademischen Heilern und Heilerinnen jegliche Kompetenz in medizinischen Dingen abzusprechen und deren Zulauf lediglich auf Vorurteile „der Thorheit des Pöbels" zurückzuführen; 106 - er möchte ja Philosophie und Medizin wieder näher zusammenbringen, nicht Medizin an Erfahrungen annähern. Auffallend und charakteristisch an Platners „Anthropologie" ist schließlich, daß die Vormacht der Ideen sehr gezielt aufrecht erhalten wird und der körperliche Einfluß weitgehend auf die Beweglichkeit beziehungsweise Trägheit des Nervensafts beschränkt bleibt. Fehl gehen muß aber auch eine sich ins andere Extrem wendende Interpretation, die die Anthropologen des ausgehenden 18. Jahrhunderts lediglich als Helfershelfer der Rationalitätsapologeten auffaßt. Diese Deutung würde zu schnell eine gradlinige Entwicklung konstruieren, die die Entstehungszeit der Anthropologie in die Perspektive des danach Folgenden einzwängt, nicht aber den ihr eigentümlichen Denkhorizont berücksichtigen. Die Konjunktur, die anthropologische Untersuchungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gewannen, muß als Hinweis dafür gelten, daß auch das der Vernunft Jenseitige, das , Andere' der Vernunft auf großes Interesse stieß. Denn als ein solches Anderes' wurde Leiblichkeit im 18. Jahrhundert konstruiert.107 Es gab weder die Anthropologie, noch einen einheitlichen Zugang zu den weit gestreuten anthropologischen Themen. (Beispielsweise hat die Forschung lange Zeit außer acht gelassen, daß bei der Suche nach dem , Wesen Mensch' so manche Geschlechterdifferenzierung unter den Tisch gefallen ist.) 108 In unserem Kontext ist es entscheidend, daß durch das Interesse für Anthropologie und für philosophische Medizin andere Sichtweisen auf den Zusam105

Vgl.: BILGER, Stefan: Üble Verdauung und Unarten des Herzens. Hypochondrie bei Johann August Unzer, Würzburg 1990, S. 20. 106 PLATNER, Anthropologie, 1772, S. VII f. 107 Dazu natürlich: BÖHME/BÖHME, Das Andere der Vernunft, 1996. 108 Es ist weniger postmoderne Beliebigkeit als begrüßenswerte Skepsis, daß inzwischen die Eigenheit all solcher Kategorien wie „ganzer Mensch" etc. als Konstruktionen anerkannt ist.

1.2. Leib und Seele

61

menhang von Körper und Seele entstehen konnten, so daß beispielsweise Melancholie als Folge eines körperlichen Mißverhältnisses gedeutet werden konnte oder ein Suizid als Konsequenz einer krankhaften Veranlagung. So hat etwa einer der bekanntesten philosophischen Ärzte', Adam Melchior Weikard, der sein Journal entsprechend programmatisch „Der Philosophische Arzt" nannte, die Ursachen des Suizids ausführlich verhandelt. Die Verbindung von Philosophie und Medizin sollte auch eine Verbindung von Psyche und Physis sein. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ergab sich eine außergewöhnliche Gemengelage aus alten, ja uralten Deutungstraditionen und neuen Interpretationsansätzen. Daher konnten Überreste der antiken Säftetheorie neben neuen Ideen der Selbstbeobachtung, der Erfahrungsseelenkunde, der Erforschung des Individuums stehen. Diese Gemengelage macht uns die medizinischen und frühen psychologischen Ansätze dieser Zeit gleichzeitig so fremd und so vertraut. Um vorschnellen Interpretationen zu entgehen, ist es in jedem Fall notwendig, sich nicht auf die .großen' Autoren der Philosophiegeschichte zu beschränken, so wie es in der Vergangenheit oftmals praktiziert wurde - mit dem Ergebnis, daß zwischen Wolff und Kant oft nicht viel mehr blieb als eine gähnende Leere. 109 Nur wenn man sich auf die mittleren und unteren Chargen einläßt es handelt sich hier ohnehin lediglich um Kategorien unserer heutigen Perspektive - und eine „konsequente Historisierung des Wissensbegriffs"110 einführt, kann man einen Zugang zum geistigen Haushalt einer Zeit finden. Gerade für die Themen Melancholie, Hypochondrie und Suizid läßt sich dann keine eindeutige, einheitliche Leittheorie festmachen. Auch nicht ein vorrangiger Entwicklungsstrang hin zu einer Psychologisierung der Problematik - dies erscheint mir erst eine Tendenz des 19. Jahrhunderts zu sein, und selbst hier finden sich noch etliche Nachwirkungen der somatisierenden Theorien. Nicht unerwähnt bleiben sollte außerdem, daß es eben Platners „Anthropologie" war, die in ihrer Zeit die größte Wirkung entfaltete und nicht jenes Werk seines geistigen Gegners Kant, nämlich die „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht".111 Kant hatte es sich explizit zum Anliegen gemacht, die „physiologische Menschenkenntniß" beziehungsweise die „Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht", aus seinen Überlegungen auszuschließen und also dem Körper keinen Raum zu geben.112 Daher ist Kants Schrift auch

109

Vgl.: RIEDEL, Anthropologie und Literatur, 1994, S. 120ff. Ebd., S. 122. 111 KANTS „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" wurde seit 1772 als Vorlesung gehalten, aber erst 1792 publiziert - nach RIEDEL, Anthropologie und Literatur, 1994, S. 104. Ich verwende die Ausgabe von 1798, publiziert in Königsberg. Vgl. auch: BÖHME/BÖHME, Das Andere der Vernunft, 1996, S. 268. 112 KANT, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798, Vorrede, S. IV. Vgl.: RIEDEL: Anthropologie und Literatur, 1994, S. 104. 110

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1. Blicke auf und in den Menschen

nicht eine Anthropologie im eigentlichen Sinne, sondern eher „eine pragmatische, alltagsorientierte Moral- und Klugheitslehre". 113 Platner hingegen bemühte sich, wenn auch auf seine ganz eigene Weise (siehe oben!), darum, die Physiologie in die Wissenschaft vom Menschen zu integrieren. Ohne an dieser Stelle näher auf die Erfahrungsseelenkunde einzugehen, sei festgehalten, daß auch diese einen wichtigen Beitrag dazu leistete, daß der Mensch, das Individuum zu einem der Themen der Spätaufklärung wurde - eine Entwicklung, die schon mit Popes berühmtem Diktum - „The proper study of mankind is man" 1 1 4 - eingeläutet worden war und die von den Anthropologen weiter vorangetrieben wurde. 115 Ich möchte aus diesem ganzen weiten Feld der Seelen- und Körpererkundigungen noch einen Aspekt herausgreifen, der mir gerade auch für Hypochonder und Melancholikerinnen von besonderer Bedeutung zu sein scheint und der von der bisherigen Forschung meist nur gestreift worden ist: Welche Beeinflussungen bestanden zwischen anthropologischen Theorien, der Aufwertung von Sinnlichkeitserfahrungen und dem Roman? - dem Roman als eben jener literarischen Gattung, die ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine elementare Erneuerung, ja Neuerfindung erfuhr und die bis zur Jahrhundertwende zum vorrangigen Ausdrucksmedium für Leib- und Seelenerfahrungen wurde. Die Romane aus der Zeit der,Empfindsamkeit', mehr noch der englischen Sensibility, sollten nicht auf Nachfolgeprodukte der Veränderungen der Wissen(schaft)skultur reduziert werden. Der Roman ist nicht nur Ideenrezipient, sondern auch Ideenproduzent! Als es um die Erfassung des ganzen Menschen ging, kam der Ausdrucks- und Experimentierform Roman ein gehöriges Gewicht zu: In seiner Möglichkeit zur Konzentration auf das individuelle Erleben, die er aus seiner spezifischen Sprach- und Erzählstruktur gewinnt, schafft der Roman neue Denkmöglichkeiten bzgl. des und Perspektiven auf den Menschen. Bezeichnend ist hier auch die Entwicklung von den Typen des barocken zu den Charakteren des aufgeklärten Romans, die einer Individualisierung des Interesses gleichkommt. 116

Grundlegend für Kants Menschenkonzeption und Verhältnis zum Körper: BÖHME/BÖHME, Das Andere der Vernunft, 1996. 113 RIEDEL, Anthropologie und Literatur, 1994, S. 104. 114 POPE, Α.: An Essay on Man, 1733/4, 2. Epistel, 2. Vers, zitiert nach: KOSENINA: Ernst Platners Anthropologie, 1989, S. 25. 115

Siehe Kap. 3.2.3. Vgl.: BRENNER, Peter J.: Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung, Tübingen 1981, S. 71. Allgemein außerdem: KNAUTZ, Isabel: Epische Schwärmerkuren. Johann Karl Wezeis Romane gegen die Melancholie, Würzburg 1990; PFOTENHAUER, Literarische Anthropologie, 1987; SAUDER, Gerhard: Der reisende Epikureer. Studien zu M. A. von Thümmels Roman „Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich", Heidelberg 1968. Es sei an dieser Stelle noch eine äußerst ambitionierte Arbeit zum Verhältnis von Literatur und Melancholie erwähnt: WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur. 116

1.2. Leib und Seele

63

Die Beeinflussung sollte daher nicht so konstruiert werden, als wäre sie einseitig von der Anthropologie auf die Romanautoren gerichtet gewesen. Vielmehr ist - und das oft ja schon in Personalunion, zum Beispiel: Wezel, Moritz, Schiller - von einem engen Ineinanderwirken auszugehen. Wezeis „Belphegor", einer der bedeutendsten und zugleich auch umstrittensten anthropologischen Romane, kann letztlich als Versuchsanordnung gelesen werden, die die kausalen Zusammenhänge des menschlichen Lebens erforscht. 117 In diesem Experiment werden die Personen dabei beobachtet, wie sie „entsprechend ihrer angebbaren allgemeinen Disposition" auf die jeweiligen Bedingungen und Geschehnisse reagieren. 118 Auch Friedrich von Blanckenburg entfaltete in seiner für die Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts grundlegenden Schrift von 1774 die psychologische und anthropologische Dimension des Romans, indem er diesen als ,,innre[..] Geschichte des Menschen" charakterisierte. 119 Eben diesem Konzept folgte der „psychologische Roman" „Anton Reiser" oder der von Goethe durchaus als Krankheitsgeschichte konzipierte „Werther". 120 Beide Werke zählen zu den meist gelesenen und diskutierten des 18. Jahrhunderts und fungierten offensichtlich nicht nur als Multiplikatoren von Ideen, die ihre Autoren aus der wissenschaftlichen Literatur übernommen hatten, sondern schrieben selbst die Bedeutung des Menschseins fort: Der Mensch war nicht nur Denken allein. Die Aufwertung von Gefühl und Empfindungen war nicht mehr gänzlich rückgängig zu machen. Selbst wenn solche Konzepte aus der ,Hoch-Literatur' der Klassik wieder verdrängt zu werden begannen, in den trivialeren, deshalb aber nicht weniger gelesen Werken, hatten sie ihren festen Platz gefunden. 121 Die Macht, die solche Gefühlsmanifestationen auf das Denksystem ausübten, sollte nicht gering geschätzt werden; selbst die Kritik, der sich diese Werke permanent ausgesetzt sahen, ist noch ein eklatanter Hinweis auf deren Wirkung. 122 Empfindsamkeit, Romankultur und psychologisch-anthropologisches Interesse beförderten sich gegenseitig in ihrer gemeinsamen Erkundung des Men-

Diskursgeschichte und Textfiguration, Stuttgart 1997. Die Arbeit geht allerdings über den Kanon der großen Texte/Bestseller („Insel Felsenburg", „Anton Reiser", etc.) kaum hinaus und ist durch eine hermetische Sprachkonzeption geprägt. 1,7 WEZEL, Johann Karl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne, Leipzig 1776. 118 BRENNER, Die Krise der Selbstbehauptung, 1981, S. 160. 119 BLANCKENBURG, Friedrich von: Versuch über den Roman, Leipzig 1774, Nachdr. Stuttgart 1965, S. 391, zitiert nach: HEINZ, Wissen vom Menschen, 1996, S. 138. 120 MORITZ, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, Heilbronn 1886 (Original 1785-1790); GOETHE, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers, Leipzig 1774, Ausg. Stuttgart 1985. 121 Etwa im viel gelesenen: MILLER, Johann Martin: Siegwart. Eine Klostergeschichte, 2 Teile, Frankfurt/Leipzig 1777. 122 Siehe zur Kritik am Romanelesen Kap. 3.3.3.1.

64

1. Blicke auf und in den Menschen

sehen, so daß nicht nur der Roman zu einer genuin psychologisch angelegten Gattungsform werden konnte, sondern sich auf diesem Weg auch aus seiner stiefkindlichen Position innerhalb der Literatur löste. 123 Allerdings darf die Psychologisierung der Literatur im Roman nicht als eine gänzliche Aufgabe des moralischen Anspruchs fehlinterpretiert werden. Denn auch wenn die inneren und äußeren Zwänge betont wurden, in denen das Individuum lebte, verlor es dadurch nicht die Verantwortung für die Moralität seines Handelns.124 Aus der veränderten Perspektive auf den Körper entstand vielmehr ein veränderter Ansatzpunkt für die Durchsetzung moralischer Grundsätze. Im englisch- und französischsprachigen Bereich wird diese Entwicklung unter dem Begriff „morale sensitive" zusammengefaßt. 125 In diesem Zusammenhang konnte letztlich (körperliche wie seelische) Gesundheit zu einer moralischen Anforderung werden, worauf ich im nächsten Kapitel noch detaillierter eingehen werde. Im übrigen hat die Empfindsamkeit noch etwas anderes mit der Anthropologie gemein: Sie kann nicht durch ein eindimensionales Deutungskonzept erschlossen werden. Etwa bestand keine bloße Polarität zwischen aufklärerischem und empfindsamem Denken, sondern Empfindsamkeit war zunächst ein Bestandteil der Aufklärung selbst und sollte als Erkenntnismöglichkeit dienen. 126 In diesem Sinne bekamen über das Medium der Literatur zeitweise „die sinnlichen Triebe als Teil der menschlichen Natur einen eigenen, der Vernunft zumindest ebenbürtigen Platz in der Hierarchie der Erfahrungsvermögen zugewiesen" 127 , wobei diese Position (zunächst) eben nicht Opposition zum Rationalitätsanspruch war. Das „Empfinden der menschlichen Seele" war nicht länger diskreditiert, sondern wurde als maßgeblich für die Wahrnehmung und Beurteilung der Welt sowohl im moralischen als auch im physikalischen Sinne angesehen. Das ist auch der Tenor der 1776 von Herder, Eberhard und anderen für eine Preisfrage der Berliner Akademie eingereichten Schriften zur Theorie des menschlichen Denkens und Empfindens.128

123

Vgl.: RIEDEL, Anthropologie und Literatur, 1994, S. 133. Anders: Ebd. 125 VILA, Enlightenment and Pathology, 1998, S. 182 ff. Vila betont, daß besonders Rousseau großes Interesse an „sensibility-based moral hygiene" gehabt habe. 126 Vgl.: JÄGER, Georg: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 1969, S. 20ff. 127 BUHR, Heiko: „Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun?" Studien zum Freitod im 17. und 18. Jahrhundert, Würzburg 1998, S. 25. Vgl. auch: DÜRBECK, Gabriele: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998. 128 EBERHARD, Johann August: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens, Berlin 1776, Nachdr. Frankfurt a. M. 1972, S. 4, zitiert nach: PROSS, Wolfgang: Nachwort, in: ders. (Hrsg.): Johann Gottfried Herder: Werke, Bd. 2, München/Wien 1987, S. 1128-1229, hier: S. 1128; HERDER, Johann Gottfried: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume, 1778, in: ders.: Über Literatur und Gesellschaft. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Claus Träger, Leipzig 1988, S. 65-123. 124

1.2. Leib und Seele

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Eine .Austreibung der Phantasie aus der Philosophie" oder „Disqualifizierung der Einbildungskraft als Erkenntnisvermögen"129 kann also nicht als absolute und sofortige Tendenz der Aufklärung veranschlagt werden. Wie die Empfindsamkeit erst in ihrer überreizten Form, der Empfindelei, zur Gefahr wurde, so war auch die Einbildungskraft nicht von vornherein negativ konnotiert. Zur Bedrohung wurde sie erst in der Störung, der Unkontrolliertheit, der Übersteigerung, also dann, wenn sie sich der Überwachung durch die Vernunft entzog. Ohne diese Verselbständigung aber waren die Einbildungen entscheidend für die Wahrnehmung, Interpretation und Erinnerung der Welt: „Diese Einbildungs-Kraft," schreibt entsprechend Johann Heinrich Schulz, „ist eine überaus schöne und nüzliche Kraft unsers Lebens. Ohne sie würde der Mensch gar nicht Mensch oder irgend eines Gedankens fähig seyn können. Alle Wirkungen unserer übrigen Kräfte, alle unsere Bewegungen und Veränderungen würden ohne irgend eine Absicht erfolgen. Ich nehme mir vor, nach einem gewissen Ort hinzureisen. Hätte ich keine Einbildungs-Kraft, die mich mit einer Vorstellung des Orts, des Weges dahin, der Menschen, die ich dort finden will, der Mittel dahin zu gelangen, und aller übrigen dazu gehörigen Verbindungen und Umstände unterhalten könnte, so würde diese Reise so wenig ausgeführt werden, daß nicht einmal ein Gedanke daran bey mir hätte entstehen können." 130 Auch um Kunst zu schaffen, sich an den eigenen Taten zu freuen, aber auch aus den Fehlern zu lernen, brauche man die Einbildungskraft. Und so könne sie den Menschen großen Nutzen leisten „so lang sie unter der Herrschaft der Vernunft bleibt". 131 Schließlich wirken auch in der Einbildungskraft Seelisches und Körperliches eng zusammen. Schlechte Phantasien könnten von einer schlechten körperlichen Konstitution herrühren. Dazu noch einmal Schulz: „Wo ein träges und dickes Blut durch die Adern schleicht, die Säfte verdorben sind, das Verdauungs-Geschäfte in Unordnung ist, da werden auch finstere und schwermüthige Einbildungen erzeugt, [...] Manche verborgene Krankheiten machen den Menschen der lächerlichsten Albernheit fähig." 132 Aber auch in die andere Richtung war eine Wirkung möglich: Einbildungen beziehungsweise Vorstellungen konnten auf den Körper wirken, ja sogar als Kurmethode verwendet werden. Als Kurmethode? Ein berühmter Patient, an dem ein berühmter Arzt diese Methode erprobte, war Karl Philipp Moritz. Sein Arzt, Marcus Herz, heilte ihn, indem er ihm den nahen Tod ankündigte und dadurch gehörig in Schrecken versetzte, gleichzeitig aber auch beruhigte. Henriette Herz schildert das uns heute absonderlich erscheinende Verfahren: „Er

129

BÖHME/BÖHME, Das Andere der Vernunft, 1996, S. 231. SCHULZ, Johann Heinrich: Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der Religionen, 4Theile, Berlin 1783 (anonym veröffentlicht), hier: Theil 2, S. 53 f. 131 Ebd., S. 54ff. 132 Ebd., S. 62. 130

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1. Blicke auf und in den Menschen

[Moritz] war in der Tat krank, jedoch nicht gefährlich. Aber der Wahn, daß er ein Opfer des Todes sei, hatte ihm ein Fieber zugezogen, welches ihn aufzureiben drohte. Lebhaft erinnere ich mich noch der Besorgnis, welche Herz, der ihn sehr liebte, um ihn hegte." Schließlich habe sich Herz entschlossen, Moritz auf dessen bange Fragen hin, ob er denn sterben müsse, den nahen Tod anzukündigen. „Als Herz am nächsten Morgen seinen Kranken besuchte, fand er ihn zum ersten Male ruhig im Bette liegend, und dieses selbst mit Blumen geschmückt." Der Patient selbst habe sich in gelassener Todeserwartung gezeigt, das Fieber sich aber schon bedeutend gesenkt. „Nach drei Tagen, welche Moritz mit der Gemütsruhe eines sterbenden Weisen zugebracht hatte, war es gänzlich verschwunden und nicht lange darauf der Kranke völlig hergestellt."133 Besonders ein Patient bekam im ausgehenden 18. Jahrhundert solche oder ähnliche Kurmethoden - bisweilen drastisch - zu spüren: der Hypochonder beziehungsweise ,Hypochondrist'. In dieser Figur laufen nun verschiedene Stränge unserer bisherigen Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Seele zusammen. Der Hypochonder ist eine der literarischen Figuren des aufgeklärten und empfindsamen Romans. Er ist bevorzugtes Beobachtungsobjekt der philosophischen Ärzte, Erfahrungsseelenkundler, ja von Fall zu Fall sogar der Gerichtsmediziner. Und: An seinem Beispiel lassen sich die verschiedenen Ansätze zu einer nachmetaphysischen Theorie des Leib-Seele-Problems anschaulich machen. 134 1.2.3. Beispiel Hypochondrie: Von Kohlrabi-Essern und Vapeurs 1.2.3.1. Bedeutungen der Hypochondrie Die Hypochondrie ist das berühmt-berüchtigte „Wörterbuch aller möglichen Kranckheiten"135, das Chamäleon unter den Krankheiten - sie paßt sich an die Vorstellungen der jeweiligen Zeit an, beziehungsweise wird von ihnen angepaßt. Auch im 18. Jahrhundert war das nicht anders. Es gab weder ein feststehendes Erklärungskonzept, noch ein eindeutiges Erscheinungsbild. Gerade dieser Facettenreichtum begünstigte die (wahrgenommene) Ausbreitung des Phänomens .Hypochondrie' erheblich.136 Wie ihre Verwandte, die Melancholie,

133 HERZ, Henriette. Berliner Salon. Erinnerungen und Portraits, hrsg. v. Ulrich Janetzki, Frankfurt a.M. 1984, S. 68 f. 134 Ich werde das Thema Hypochondrie im letzten Teil dieser Arbeit nochmals aufgreifen. Dann wird es nicht um die Erklärungsansätze zu dieser Krankheitserscheinung gehen, sondern um deren im späten 18. Jahrhundert als epidemienhaft wahrgenommene Ausbreitung. Siehe Kap. 3.1. 135 KRÜGER, Johann Gottlob: Naturlehre, 3. Theil, Halle 1750, S. 492. 136 FISCHER-HOMBERGER, Esther: Hypochondrie. Melancholie bis Neurose. Krankheiten und Zustandsbilder, Bem u.a. 1970, S. 45.

1.2. Leib und Seele

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war sie direkt von den Diskussionen betroffen, die die Verhältnisse zwischen Körper und Seele, zwischen Geist und Leidenschaft verhandelten. Ich habe mir die Hypochondrie als Anschauungsobjekt für die im 18. Jahrhundert verfügbaren Ideen gewählt und nicht die Melancholie, da die Hypochondrie in diesem Zeitraum noch viele der Bedeutungen in sich trug, die aus der Definition der Melancholie bereits ausgeschlossen worden waren, und sie gleichzeitig offener für neue medizinische Theorien war. Obwohl es keine haarscharfe Trennlinie zwischen den beiden Krankheitsphänomenen gab, ging die überwiegende Tendenz bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts dahin, die Melancholie aus der Somatisierung zu lösen, während sich die Hypochondrie von einer Unterform der Melancholie zu einer eigenen Krankheitsform entwikkelte und in sich ein durchaus abstruses Gemenge verschiedener Erklärungsmöglichkeiten vereinigte.137 Alte Säftetheorien konnten hier neben neueren Ideen über die Zirkulation des Blutes und die Bedeutung der Phantasie und Einbildungskraft überleben; alle Ansätze taten der Kritik an der Lebensweise des Hypochonders keinen Abbruch und verhinderten auch nicht die Integration der medizinischen Neuentdeckung des 18. Jahrhunderts: dem System der Nerven. Blackmore und Sydenham gelten als diejenigen Autoren, die als erste die Hypochondrie gänzlich als die Folge einer Nervenstörung interpretierten. Und Whytt gab durch seine Theorie der Sympathie der Nerven eine Erklärung für die gegenseitige Beeinflussung von Gehirn, Magen, Gefühlen. 138 Schließlich wurden außerdem Kennzeichen der Hysterie von der Symptomatik der Hypochondrie absorbiert, allerdings nicht derart, wie es öfter in der Forschung zu lesen ist, 139 daß es zu einer Gleichsetzung der beiden Krankheitsbedeutungen gekommen wäre. Denn die spezielle Geschlechterdifferenzierung dieser beiden Phänomene blieb weiter bestehen. Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag dazu leistete sicher die Annahme, daß es sich bei der Hypochondrie in vielen Fällen um eine Ge/e/irferckrankheit handele - und Frauen wurden nun einmal in den seltensten Fällen als Gelehrte angesehen. Bevor die Rolle und Bestimmung der Frau auf ein emotionales, natürliches, empfindsames Wesen eingeschränkt und zementiert wurde, ging die Dichotomie der Geschlechter jedoch in eine beachtliche andere Richtung: Die Frau konnte als rationaler(er) Part dem sich in seinen Einbildungen verlierenden männlichen Hypochonder gegenüber gestellt werden. In dieser Weise gestaltete Quistorp die Personenkonstellation in seinem Drama „Der Hypochondrist" ebenso wie der berühmtere Lessing in seiner „Minna von Barnhelm". 140

137

Vgl.: ebd., S. 19. •38 BILGER, Üble Verdauung, 1990, S. 25. 139 Etwa: FISCHER-HOMBERGER, Hypochondrie, 1970, S. 44; HEINZ, Wissen vom Menschen, 1996, S. 173. 140 LESSING, Gotthold Ephraim: Minna von Bamhelm, Berlin 1767, Nachdr. München 1984; QUISTORP, Theodor Johann: Der Hypochondrist. Ein deutsches Lustspiel, 1745 (abgedruckt

68

1. Blicke auf und in den Menschen

Es dürfte bereits deutlich geworden sein, daß die Hypochonder des 18. Jahrhunderts im Gegensatz zu unserer heutigen Auffassung von diesem Phänomen keineswegs nur als .eingebildete Kranke' angesehen wurden.141 Die physiologische Komponente steckte bereits in der Namensgebung, die die angenommene Lokalisierung der Krankheit in den Hypochondrien, dem Oberbauch, aufgreift. 142 Hier wird auch die Verwandtschaft zur Melancholie deutlich, denn diese hat als Krankheit der schwarzen Galle (nichts anderes bedeutet ihr Name) ihren Sitz in der Milz, die wiederum ein Teil der Hypochondrien ist. 143 So entsprach es der seit Galen gängigen Theorie, deren Spuren sich bis hinein ins späte 18. Jahrhundert verfolgen lassen144, auch wenn die Unauffindbarkeit der schwarzen Galle in der Anatomie den Einfluß der Humoralpathologie (VierSäfte-Lehre) entscheidend schmälerte. Wie bereits angekündigt, trafen sich am Bett des Hypochonders Ärzte mit ganz unterschiedlichen Theorien. Auch schon im 18. Jahrhundert stand er im Verdacht, ein Opfer seiner Einbildungskraft zu sein; allerdings gingen die Meinungen darüber auseinander, in wie weit sich ein Mensch diesen Einbildungen entgegenstellen könne. Man schwankte zwischen Nachsicht und Härte. So bestimmte Kant, daß man von einem Hypochonder nicht verlangen könne, „er solle seiner krankhaften Gefühle durch den blossen Vorsatz Meister werden. Denn, wenn er dieses könnte, so wäre er nicht hypochondrisch." Die Verantwortung lag für Kant hingegen darin, sich selbst durch vernünftiges Überlegen vor dem Ausbruch der hypochondrischen Krankheit zu bewahren, da diese für ihn „keinen bestimmten Sitz im Körper hat und ein Geschöpf der Einbildungskraft ist". 145

im 6. Band von Gottscheds „Deutscher Schaubühne") nach: WÖBKEMEIER, Rita: Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800, Stuttgart 1990, S. 141 ff. Ähnlich auch: MEISTER, Leonhard: Sittenlehre der Liebe und Ehe Air meine Freundin, Winterthur 1779, S. 75: während „der thätige Mann, ganz in Geschäften verloren [ist], nagt unvermerkt der Wurm des Hypochonders ihn ab, wenn keine Gehilfin holdselig ihm Hand beut und von Zeit zu Zeit durch ermunterndes Lächeln den Ernst unterbricht." 141 Vgl. exemplarisch die Beschreibung, die HALLER von den körperlichen Beschwerden des Hypochondristen gibt (in: Der Arzt, 2. Aufl., 1760, Teil 1, S. 385-399 (1. Aufl., 1759)). 142 In diesem lokalisierenden Sinne wurde der Begriff Hypochondrien auch noch kurz vor der Wende zum 19. Jahrhundert verwendet. Vgl.: Beobachtungen über den hypochondrischen Ursprung der Lungenschwindsucht, von Dr. Wetter in St. Gallen, in: Museum der Heilkunde, Bd. 1, 1792, S. 72-80. 143

144

Vgl.: FISCHER-HOMBERGER, Hypochondrie, 1970, S. 13.

Etwa: MEZLER, Fr. Xav.: Von der schwarzgallichten Constitution, eine gekrönte Preisschrift, Ulm 1788. 145 KANT, Immanuel: Von der Macht des Gemüts durch den blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein, Jena 1798, S. 19ff. An anderer Stelle gibt sich KANT allerdings weniger milde: „Der Hypochondrist ist ein Grillenfänger (Phantast) von der kümmerlichsten Art: eigensinnig sich seine Einbildungen nicht ausreden zu lassen, dem Arzt immer zu Halse gehend, der mit ihm seine liebe Noth hat [...]" (KANT, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798, S. 141.)

1.2. Leib und Seele

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Andere Autoren sahen zwar ebenso die Quelle des Übels in einer überreizten Einbildungskraft, interpretierten die Folgen aber nichtsdestoweniger als massiv körperlich. So erläuterte Jacob Friedrich Abel in seiner „Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Leben" zu den „Krankheiten aus blosser Einbildung, daß man krank sey": „Man bildet sich überhaupt ein, daß man krank sey, und wird es eben dadurch wirklich, indem durch die schmerzhafte Empfindungen, welche die Ueberzeugung und Veränderung im Körper erzeugt werden, welche denselben allmählig wirklich in Erschlaffung und Krankheit sezen. Auf solche Art werden Hypochondristen öfters bloß durch ihre Einbildung krank." 146 Andersherum könnten laut Jacob Friedrich Isenflamm aber auch die Einbildungen selbst Folge von körperlichen Erkrankungen sein und müßten daher sehr ernst genommen werden: „Auch eine kranke Einbildung wird ihren Grund im Körper haben, und also unter die würklichen Krankheiten zu zählen seyn." 147 Sowohl bei Abel als auch bei Isenflamm werden die Leiden des Hypochonders somit ernst genommen und nicht als bloße Phantasieprodukte abgetan, die er außerdem ausschließlich selbst zu verantworten hätte. Als körperliche Ursachen waren besonders die Nerven und der Verdauungstrakt prominent. Zwei Konzepte, die trotz ihrer Widersprüchlichkeit auch in Verbindung auftauchen konnten. So verortete Johann Karl Heinrich Ackermann zwar die eigentliche Ursache der Hypochondrie in Blähungen, doch deren negative Kraft könne durch die Nerven in alle anderen Bereiche des Körpers übertragen werden, so daß „Krämpfe im Unterleibe bald krampfhafte Bewegungen in entferntem Theilen hervorbringen! Kein Wunder also, wenn Blähungen Herzklopfen, Engbrüstigkeit, Aengstlichkeit, falsches Seitenstechen, Kopfschmerzen, falsche vor den Augen stehende Bilder, Brausen vor den Ohren, Schwindel, Ohnmächten, dem Schlagfluß ähnliche Zufälle, Krampf in den Muskeln des Unterkiefers, Zittern der Glieder, Kälte der Füße verursachen."148

Abel schrieb 1791, Isenflamm 1774, Ackermann 1794.149 Man kann angesichts dieser Quellenauszüge, die jeweils Beispiele für weitere sind, nur fehlge146 ABEL, Jacob Friedrich: Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Leben, 3. Teil, Stuttgart 1790, S. 110. 147 ISENFLAMM, Jacob Friedrich: Versuch einiger praktischen Anmerkungen über die Nerven zur Erläuterung verschiedener Krankheiten derselben vornehmlich hypochondrisch- und hysterischer Zufälle, Erlangen 1774, S. 252, § 90. 148 ACKERMANN, Johann Karl Heinrich: Ueber Blähungen und Vaperus. Briefe, hypochondrischen und hysterischen Personen gewidmet, Naumburg 1794, S . l l . Ähnlich auch: TODE, Johann Clemens, Nöthiger Unterricht für Hypochondristen, die ihren Zustand recht erkennen und sich vor Schaden hüten wollen, Kopenhagen 1797. 149 Esther FISCHER-HOMBERGER weist daraufhin, daß sogar noch 1861 Wilhelm GRIESINGER die Hypochondrie als „eine milde Form melancholischer Verstimmung und gelegentliche Folge leichterer Darm- oder Lebererkrankungen" auffaßte. (GRIESINGER, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, 2. verm. u. umgearb. Aufl., Stuttgart 1861, S. 215, nach: FISCHER-HOMBERGER, Hypochondrie, 1970, S. 16.) Anderseits wurde schon Anfang der 1770er die Hypochondrie auch als Erkrankung der Ner-

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1. Blicke auf und in den Menschen

hen, wenn man hier eine stringente Entwicklung der Debatte über die Hypochondrie konstruieren wollte. Der Schlußfolgerung, bis zum Ende des Jahrhunderts hätte sich die Nerventheorie oder gar eine Psychologisierung endgültig durchgesetzt,150 sind die vielen Autoren entgegenzuhalten, die noch später auf die Bedeutung der Verdauung rekurrierten.151 Aber auch die Annahme einer durchgängigen Somatisierung greift zu kurz, da die Spielarten des Seelischen immer mehr in den Vordergrund gestellt wurden. 1803 veröffentlichte etwa Reil sein umfassendes Werk über „psychische Curen", die zwar nicht mit einer Psychotherapie im heutigen Sinne verwechselt werden dürfen, aber gezielt auf die „Seelenkräfte" einwirken wollten. 152 Entscheidender noch als das Gewicht der unterschiedlichen theoretischen Ansätze ist ohnehin deren Bedeutung für die Interpretation der Krankheit. In der Literatur gehen die Meinungen an diesem Punkt extrem auseinander. Einerseits ist zu lesen, daß der Hypochonder als lächerliche Person diffamiert worden sei. 153 Andererseits heißt es, daß er als Gelehrter geschätzt wurde. Und: die Hypochondrie sei nicht nur eine weit verbreitete, sondern auch edle Krankheit gewesen. 154 Ebenso gehen die Meinungen darüber auseinander, welche Auswirkungen die Etablierung der Nerven im hypochondrischen Erklärungssystem gehabt hätten. Porter, der schon in der Somatisierung an sich eine Entlastung des Patienten ausmacht, sieht in der Entdeckung der Nerven eine weitere Wohltat für den Kranken, da gereizte Nerven weniger anstößig als verstopfte ven beschrieben. Vgl.: GÖTZ, Adam Julius: Kurzer Beytrag zur Geschichte von den Hysterischen Krankheiten, Meiningen 1771. 150 So etwa: BILGER, Üble Verdauung, 1990, S. 43. 151 Etwa auch: KÄMPF, Johann: Abhandlung von einer neuen Methode, die hartnäckigsten Krankheiten, die ihren Sitz im Unterleibe haben, besonders die Hypochondrie sicher und gründlich zu heilen, 2. Aufl., Leipzig 1786. 152 REIL, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, Halle 1803. Als psychische Kuren definiert Reil alles, was „durch eine bestimmte Richtung der Seelenkräfte, der Vorstellungen, Gefühle und Begierden solche Veränderungen in der Organisation" hervorbringe, daß es den Krankheitszustand verändere (ebd., S. 25). Die zu behandelnden Krankheiten können sowohl seelisch als auch körperlich sein, und auch die Erregungen können körperlich oder seelisch erzeugt werden (ebd., S. 28). Daß man dabei mit den Kranken, besonders auch den Geisteskranken, nicht unbedingt zimperlich umging, ist bekannt. Die Anwendung von „Ruthen, Douchen und Kanonendonner" (ebd.) zählt noch zu den harmloseren Mitteln, man konnte auch zu ätzenden Pflastern, Eiswasser und Einimpfung von Krätze greifen (ebd., S. 190 ff.). Vergleiche zu Reil kritisch: SCHRENK, Martin: Über den Umgang mit Geisteskranken, die Entwicklung der psychiatrischen Therapie vom „moralischen Regime" in England und Frankreich zu den „psychischen Curmethoden" in Deutschland, Berlin u.a. 1973. Schrenk stellt Reil meiner Ansicht nach zu sehr in eine romantische Tradition, die er mit der vermeintlich rational-empirischen Pinels kontrastiert. (Ebd. S. 4 ff.) 153 PROMIES, Wolfgang: Der Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie, eine Untersuchung über das Irrationale in der Literatur des Rationalismus, Diss. München 1962, S. 244f. 154

FISCHER-HOMBERGER, H y p o c h o n d r i e , 1 9 7 0 , S . 4 1 .

1.2. Leib und Seele

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Verdauungsorgane gewesen seien: „Overall then, attributing disordered spririts to the body proved highly serviceable. [...] Of course, the lowly origin of such disorders, seated in the bowels, might be shameful, but that was increasingly remedied by the new anatomy that rerouted the site of the lesion away from the guts and up toward the head, through those superfine, light, delicate fibers, the nerves." 155 Man darf an dieser Stelle jedoch nicht übersehen - und darauf hat bereits Michel Foucault hingewiesen - , daß die Erklärung der Hypochondrie als eine Nervenkrankheit nicht mit einem Freischein für den Patienten verwechselt werden darf. (Und entsprechend verhielt es sich für die Patientinnen im Falle der Hysterie.) Vielmehr klagten auch die Nerven ihre ganz speziellen Rechte und Anforderungen ein; und da man - gerade als Hypochonder! - über die gängigen Theorien Bescheid wußte, so war jeder mit einer schwächlichen Nervenkonstitution dazu angehalten, alle nur denkbaren schädlichen Einflüsse zu vermeiden. Foucault faßt die Janusköpfigkeit der Nerventheorie anschaulich zusammen: „Gleichzeitig ist man viel unschuldiger und viel schuldiger an all dem. Unschuldiger, weil man durch die ganze Erregung des Nervensystems in eine um so größere Bewußtlosigkeit gezogen wird, je mehr man krank ist. Schuldiger und viel schuldiger ist man, weil alles, woran man sich in der Welt gekettet hat, die Leidenschaften und die Vorstellungen, die man mit zu großer Gefälligkeit kultiviert hat, in die Nervenerregung einfließt und darin gleichzeitig seine natürliche Auslegung und moralische Bestrafung findet."156 Bei aller Ambivalenz ist es für mich entscheidend, an dieser Stelle zwei Aspekte herauszuarbeiten: Zum einen wird bei der Quellenanalyse deutlich, daß stets dem Zusammen - Wirken von Körper und Seele ein breiter Raum eingeräumt wurde, zum anderen bedeutet das aber nicht, daß gleichzeitig die Verantwortung des hypochondrischen Kranken für seinen Zustand gänzlich wegfiel. Im Gegenteil: Als Quintessenz fast aller Schriften läßt sich genau das festhalten: Trotz aller Körperlichkeit, trotz schlechter Verdauung, schwacher Nerven etc. blieb immer eine (Mit-)Verantwortung für den eigenen Zustand. Kant machte das in der schon oben zitierten Schrift an jenem Fall deutlich, der ihm selbst am nächsten war - seiner eigenen Selbstheilung. Denn er habe „wegen [s]einer flachen und engen Brust, die für die Bewegung des Herzens und der Lunge wenig Spielraum lässt, eine natürliche Anlage zur Hypochondrie." Indem er aber zu dem Schluß gekommen sei, daß sein Unwohlsein auf eine rein körperliche Konstitution zurückgehe, sei er „über ihren Einfluss auf [s]eine Ge-

155 PORTER, Roy: Barely Touching. A Social Perspective on Mind and Body, in: ROUSSEAU, G. S. (Hrsg.): The Language of Psyche. Mind and Body in Enlightenment Thought, Berkeley u.a. 1990, S. 45-80, hier: S. 66. 156 FOUCAULT, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, 12. Aufl., Frankfurt a.M. 1996 (Original 1961), S. 305. Vgl. zur Verantwortlichkeit des Hypochonders auch: BILGER, Üble Verdauung, 1990, S. 28.

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1. Blicke auf und in den Menschen

danken und Handlungen [...] Meister geworden."157 Kants Aussage wurde wie ich meine zu Unrecht - in der Forschung als Beleg dafür herangezogen, er sei ein stolzer (ehemaliger) Hypochonder gewesen. 158 Hypochonder mag er wohl gewesen sein, aber kein stolzer, sondern ein ob der eigenen Veranlagung zu körperlicher Schwächlichkeit äußerst verunsicherter, der die Kräfte des Kopfes gegen die Macht der Hypochondrie mobilisierte und sich schließlich so weit von seinem Unwohlsein distanzierte, „als ob es [ihn] gar nicht anginge."15* Am deutlichsten wird die Verantwortlichkeit des ,Hypochondristen' für seine Krankheit, wenn man einen Blick auf den Ursachenkatalog wirft, der von den verschiedensten Autoren mit erstaunlicher Kongruenz aufgestellt wird. Als Stereotyp wiederholt sich immer der unsittliche Lebenswandel, die zu große Ausschweifung, etc. Hier nur ein Beispiel von vielen: „Die physischen und moralischen Ursachen der Hypochondrie sind Unnatürlichkeit, Zweckwidrigkeit, Verhältnißlosigkeit und Unmäßigkeit in den Ernährungsmitteln für Eßund Trinkbegierde, Mangel oder Unproportion der Bewegung des Körpers nach Anstrengung und Dauer, Ausschweifungen in der Wollust, [...] Uebermaß in Anstrengung der Geisteskräfte, besonders der Empfindung und Phantasie, [...] Unvermögen in Religionssachen gläubig zu werden". 160 1.2.3.2. Ein Hypochonder geht zum Arzt... Welche Kuren waren angesichts dieser Theorienvielfalt für den Hypochonder vorgesehen? Wie wirkten sich hier die Ideen über den Zusammenhang von Körper und Seele und die Eigenverantwortlichkeit des Kranken aus? Die Prämisse einer psychophysischen Wechselwirkung spiegelt sich darin, daß kaum ein Autor von einer ausschließlich körperlichen Erkrankung respektive von einem rein psychischen Unwohlsein ausging. Daraus ergibt sich, daß auf die eine oder andere Weise für beide Komponenten gesorgt werden mußte. Der Unterschied lag lediglich darin, von welcher Seite der erste Anstoß ausgehen sollte. Als ein äußerst beliebtes Mittel galt beispielsweise jegliche Form von Bewegung, besonders aber das Reiten.161 Einerseits sollte so das verstopfte Verdauungssystem wieder in Schwung gebracht werden. Andererseits der Körper aus seiner lethargischen Ruhe gebracht werden und so in der Folge der ganze

157

KANT, Von der Macht des Gemüts, 1798, S. 21 f. Etwa: FISCHER-HOMBERGER, Hypochondrie, 1970, S. 43. 159 KANT, Von der Macht des Gemüts, 1798, S. 22. 160 HEYDENREICH, Karl Heinrich: Philosophie über die Leiden der Menschheit, ein Lesebuch für Glückliche und Unglückliche, speculativen und populairen Inhalts, 3 Teile, Leipzig 1797-1799, hier: Teil 2, 1798, S. 76f. - Heydenreich fügt als Fußnote an, daß er „moralisch in weitem Sinne, für alles was im Vorstellungs-Begehrungs- und Gefühlsvermögen gegründet ist" nehme. 161 Etwa: A C K E R M A N N , Johann Christian Gottlieb: Ueber die Krankheiten der Gelehrten und die leichteste und sicherste Art sie abzuhalten und zu heilen, Nürnberg 1777, S. 192 ff. 158

1.2. Leib und Seele

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Mensch mit neuen Sinneseindrücken versorgt und von der Selbstbeobachtung abgelenkt werden. Daher wurde dem Hypochonder auch gerne eine Reise verordnet. Thümmel hat über diese Art der Kur einen mehrbändigen Roman verfaßt. 162 Und laut einem Rezensenten zeigte sich in diesem Fall tatsächlich guter Erfolg: „Anfangs umnebeln den kranken Reisenden noch die Grillen der Hypochondrie; so wie die Bewegung ihre wohlthätigen Wirkungen äussert, wie er sich dem glücklichen Himmelsstriche nähert, von dem er Genesung hofft, erheitert sich sein Horizont, und der zweyte Theil ist voll von den lachendsten Scenen eines eingeschränkten friedlichen Landlebens [. ,.]" 163 Zweifelhafter war hingegen der Nutzen von Holzhacken, beziehungsweise -sägen, „welche traurige und elende Beschäftigung gemeiniglich den Hypochondristen gerathen wird". 164 Es gab aber noch direktere Arten, auf die Verhältnisse im Körper einzuwirken: besonders die altbekannten Mittel Aderlaß, Klystiere und Brechmittel. Hier glaubte man teilweise noch an das Unwesen der schwarzen Galle, die man durch alle Körperöffnungen zu vertreiben suchte. Dabei konnten auch schlechte Gedanken die ersten Auslöser der Verstimmungen im Körper gewesen sein; oder gestörte Einbildungen, die in der Folge die Nerven durcheinanderbrachten, wessen man aber auch durch Kräuterhauben Herr werden konnte, da diese die trockenen „Zasern" wieder in Schwung brachten.165 Es bleibt zu beachten, daß Frauen besonders solchen ,direkten' Kurmethoden unterzogen wurden, da ihnen manches andere Mittel, wie etwa allein zu reisen oder zu reiten, seltener zur Verfügung stand. 166 Mäßigung wurde ihnen kurz vor der Jahrhundertwende, als Frauen endgültig (zumindest für etliche Jahrzehnte) als überempfindlich und anfällig für Nervenreizungen klassifiziert waren, dafür 162

THÜMMEL, Moritz August: Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich, 10 Teile, Bd., 1791-1805. Ich zitiere nach der Gesamtausgabe von 1811/12, Bd. 2-6. 163 Rezension zu: THÜMMEL, Reise in die mittäglichen Provinzen, in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 69. Stück, 1791, S. 691-694, hier: S. 692. Ähnlich positiv über Thümmels Buch urteilte: Allgemeine Dt. Bib., Bd. 108,1792, S. 343-359. Deren Rezensent meinte im übrigen, man solle den Titel des Buches umändern in: „Reisen eines Hypochondristen" (ebd., S. 359). 164 Geschichte und diaetischer Rat eines ehemals grossen Hypochondristen, der durch Mittel völlig gesund geworden ist, die in Jedermanns Gewalt stehen, an Hypochondristen, Gelehrte, überhaupt viel sitzende Personen, von sicherer Heilung, auch Verhütung der Krankheit, ihres Zustandes und Erhöhung der Gesundheit, Berlin 1782, S. 283. 165 HEINZ, Wissen vom Menschen, 1996, S. 100. Es ist auffällig, daß sich zwar die theoretischen Ansätze, weniger aber die Kurmethoden veränderten. Das gilt für die Hypochondrie ebenso wie für die Melancholie. (Vgl.: JACKSON, Stanley W.: Melancholia and Mechanical Explanation in Eighteenth-Century Medicine, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences, Bd. 38, 1983, S. 298-319, hier: S. 318.) 166 EGO, Anneliese: .Animalischer Magnetismus' oder .Aufklärung'. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zum Konflikt um ein Heilkonzept im 18. Jahrhundert, Würzburg 1991, S. 104.

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1. Blicke auf und in den Menschen

noch stärker als Männern angeraten und außerdem die Abstinenz von schwärmerischer Lektüre. 167 Da auf dem Verdauungssystem ein besonderes Gewicht lag, mußte natürlich auch der Nahrungsaufnahme große Aufmerksamkeit gewidmet werden. Was sollte ein Hypochonder beispielsweise essen? Der Artikel im „Zedier" empfiehlt „verdauliche und gute Speisen, besonders aber solche, welche zugleich den Leib offen erhalten, als gekochte Pflaumen und Borsdorffer-Aepff e l " 168 Außergewöhnlicher waren hingegen die Ernährungsratschläge Johann Kämpfs, der nicht nur Austern und Schnecken empfiehlt, sondern sogar so weit geht, die ansonsten allseits verachteten Kohlgewächse zuzulassen, sofern der Patient ein besonderes Verlangen danach äußerte.169 Falsche Ernährung gab den Ärzten Anlaß zur Klage; falsch war sie auch im moralischen Sinne, da zu unkontrolliert und verschwenderisch, zu sehr auf die leiblichen Genüsse ausgerichtet: Ein junger Beamter, zu „Wollust und Schwelgerey" neigend, kann sich zwar auf einige Zeit von seinen hypochondrischen Leiden, die sich in ständigen Magenschmerzen und Krämpfen äußern, erholen, indem er eine Stelle in einem anderen Ort annimmt. „Nach Verlauf von 6 glücklichen Jahren kehrte er wieder in die Stadt zu seinen Schwelgbrüdern zurück, fieng seine vorige Lebensart wieder an, und ihr folgte das ganze Heer hypochondrischer Plagen." 170 Einen direkteren Bezug zwischen unvernünftiger Lebensweise und der Erkrankung kann man kaum herstellen. Was die Forscherin aus solchen Zeilen liest, ist jedoch kein völlig neu aufgebautes Erklärungssystem. Vielmehr tauchen in diesen Ernährungsvorschriften erstaunlich langlebige alte Muster auf; denn was und wie man zu essen und zu trinken hatte, war schon immer ein Thema jener Texte, die sich auf die Vier-SäfteLehre stützten. Und doch war die Mäßigung im 17. Jahrhundert weniger aus gesundheitlichen als aus religiösen Gründen erstrebenswert. Ende des 18. Jahrhunderts ist dann die moralische Selbstverantwortung an die Stelle der göttlichen Aufsicht getreten. (Was nebenbei ein kleiner Beleg für die Entwicklung von der Fremd- hin zur Selbstdisziplinierung ist; dazu später noch mehr.) Die engen Kausalitäten zwischen Essen und geistig-körperlichem Wohlbefinden mögen uns heute in der Art, wie sie im 18. Jahrhundert hergestellt worden sind, skurril, befremdlich, ja lächerlich erscheinen. (Ungeachtet dessen, wie zukünftige Historikerinnen unsere Diäten- und Ernährungsvorstellungen interpretieren werden.) Was soll man beispielsweise von jenem im „Teutschen Merkur" abgedruckten Erfahrungsbericht halten, dessen Autor beinahe an sei167

Siehe dazu auch Kap. 3.3.3.1. Hypochondrisches Übel, in: ZEDLER, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 13, Leipzig/Halle 1735, Nachdr. Graz 1961, Sp. 1479-1487, hier: Sp. 1485. 169 KÄMPF, Abhandlung von einer neuen Methode, 1786, S. 327 f. u. S. 354 ff. 170 Krankengeschichte, Tod, und Leichenöffnung eines Hypochondristen. Von Dr. Lindt in Nidau, in: Museum für Heilkunde, Bd. 3, Zürich 1795, S. 215-218. 168

1.2. Leib und Seele

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nem Heißhunger auf Kohlrabi gestorben wäre? 171 Eine bloße pädagogische Übertreibung? Eine Persiflage auf das übersensible Verdauungssystem des typischen Hypochonders? Eine Beschreibung einer komplizierten neurotischen Störung? Ich halte nichts davon, derartige Symptombeschreibungen nach unserem heutigen medizinisch-psychologischen System dekodieren zu wollen. Nur im Zusammenhang mit anderen Texten seiner Zeit kann mir dieser Text lesbar werden. Und mir dann eine Wahrnehmungsbeschreibung werden, die in ihrer Aufnahme von damals gängigen Motiven als solche ernst zu nehmen ist. Dazu ist natürlich vorauszuschicken, daß ich die „Geschichte meiner Hypochondrie" hier zunächst arg verkürzt dargestellt habe: Es geht nicht um einen gesunden Menschen, der durch ein einmaliges Kohlrabiessen hypochondrisch erkrankt und daran fast gestorben wäre. Dem ging erst eine lange Leidensgeschichte voraus, die in Einzelheiten beschrieben wird und die üblichen Versatzstücke enthält: Zu viel Gelehrtenarbeit, zu langes Sitzen - Argumente, die sich auch im „Zedier" finden172 - führen langsam, aber stetig zu einer allgemeinen Verschlechterung des Gesundheitszustandes. „[...] ein Drücken unter der Herzgrube, eine Lähmung in den Schenkeln, periodische[r] Kopfschmerz, starkes Zittern der Hände und Trockenheit der Zunge" sind die Beschwerden, die ihn plagen. 173 Schließlich stellen sich Angstvorstellungen ein, die bezeichnenderweise zum Großteil um den eigenen Gesundheits-/Krankheitszustand kreisen und damit diesen ihrerseits weiter verschlechtern. „Ein andermal bildete ich mir ein, ich wäre von Herzen krank, und würde sterben, wenn ich mich nicht augenblicklich zu Bette legte." 174 Wie weit die Macht der Einbildungen reichen konnte, wird deutlich, wenn er sich in die Befürchtung hineinsteigert, durch Tinte und das darin enthaltene Vitriol vergiftet zu werden. Solche Todesangst galt im allgemeinen als Endstadium der Hypochondrie. Bei Schulz vermag der Körper, sich noch einmal selbst zu heilen: Er fällt in eine Ohnmacht, die ihn von „allen abentheuerlichen Grillen völlig befreyet" und „die dicksten Säfte verdünnt, in Bewegung gebracht, und von neuem zu Kreislauf geschickt gemacht" 175 hat. Deutlich wird das Konglomerat an Theorien, die in diese Krankheitsgeschichte Eingang gefunden haben. Selbst die Nerven werden nicht außen vor gelassen. Dieses Ineinanderweben von ganz unterschiedlichen Ansätzen scheint mir charakteristisch für den Hypochondriediskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts, bevor sich im 19. eine psychologisierende Sichtweise durchzusetzen begann.

171 SCHULZ, Friedrich: Geschichte meiner Hypochondrie. Ein Beytrag zur Seelen-Naturkunde, in: Der Ternsche Merkur, 1786, Teil 1, S. 152-169. 172 Hypochondrisches Übel, in: ZEDLER, Grosses vollständiges Universallexikon, Bd. 13, 1735, Nachdr. Graz 1961, Sp. 1479-1487, hier: Sp. 1479. 173 SCHULZ, Geschichte meiner Hypochondrie, 1786, S. 153. 174 Ebd., S. 160 - es ist eigentlich die Seite 161, Seite 160 ist doppelt gezählt. 175 Ebd., S. 1 6 4 .

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1. Blicke auf und in den Menschen

Nachdem Schulz schon auf dem Weg der Besserung war, hätte ihn beinahe seine „unnatürliche Eßlust" wieder krank gemacht, ja fast zum Sprung aus dem Fenster getrieben. Denn er bestand auf gefülltem Kohlrabi - eine „Speise, die an sich schon gesunde Magen zu belästigen pflegt". (Kohl galt und gilt in jeglicher Form als eine der am schwersten zu verdauenden Speisen.) Diese Episode macht deutlich, wie empfindlich das seelisch-körperliche Gleichgewicht sein konnte und wie schnell eine Mißstimmung auf der einen Seite - hier in Form eines Magenkrampfes und Kopfschmerzen - die Gesamtheit Mensch zu gefährden vermochte. Schließlich denkt Schulz, er würde in einem brennenden Bett liegen. Ein heftiger Stoß, bei dem er sich die Nase blutig schlägt, in Zusammenspiel mit der Erinnerung an einen ihn vor einiger Zeit einmal erheiternden Vorfall rettet ihn: also physisches Einwirken in Verbindung mit der - nun endlich positiv wirkenden! - Einbildungskraft, denn diese wurde als für Erinnerungen und Vorstellungen zuständig interpretiert. Interessanterweise spielt in diese dramatische Wende der Geschichte, die schließlich den Weg zur endgültigen Heilung ebnete, noch eine Behandlungsmethode hinein: Die Macht der Ironie und des Lachens. Denn nur, indem Schulz über sich selbst lacht und das auch noch „lauthals", wird er aus dem Gefängnis seiner Gedanken befreit; nur so gelingt ihm der Perspektivwechsel, und er vermag es, sich selbst von außen zu betrachten. Lachen funktioniert somit immer als Selbstdistanzierung. Zu größter Meisterschaft, zur Selbstironie haben diese Fähigkeit Lichtenberg und Jean Paul gebracht. Dabei werden auch sie gerne in der Liste .Hypochonder des 18. Jahrhunderts' aufgeführt. 176 Immer wieder findet sich bei beiden die ironische Distanziertheit zur Schwierigkeit der eigenen Person, zum Leben als Schreiber: Ein „Algebraist" würde wohl allemal einen „Tragödienschriftsteller" überleben, heißt es in der „Unsichtbaren Loge" Jean Pauls, und Lichtenberg schwankte zwischen Vergnügen und Unvergnügen über die eigenen Empfindlichkeiten.177 Auch einer der ersten Heilungsversuche, denen Thümmels Wilhelm auf seiner „Reise in die mittäglichen Provinzen" unterzogen wird, erinnert an Shaftesburys ältere Idee des „test of ridicule": mit dem Versprechen, 176 Etwa: BUSSE, Der Hypochondrist, 1952, S. 80; BEREND, Eduard: Einleitung, in: JEAN PAUL: Die Unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung (= Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, l.Abt., 2. Bd., hrsg. von Eduard Berend, Weimar 1927), S. V-LV, hier: S. XXIX. 177

JEAN PAUL: D i e Unsichtbare L o g e , 1 7 9 3 / 1 9 2 7 , 4 8 . Sektor, S. 3 5 7 ; LICHTENBERG: Sudel-

bücher, Β 81 (= „Charakter einer mir bekannten Person"). Vgl.: GRAVENKAMP, Horst: Geschichte eines elenden Körpers. Lichtenberg als Patient, 2. Aufl. Göttingen 1992, S. 46. u. S. 90-93; PROMIES, Der Bürger und der Narr, 1962, S. 249ff. BUSSE (Der Hypochondrist, 1952, S. 80) hingegen verkennt Lichtenbergs Ironie und nimmt zum Beispiel folgenden Ausschnitt aus einem Brief Lichtenbergs als Zeugnis für dessen Wetterfühligkeit: „Ich kann bei den feuchten Nordwestwinden keinen Neujahrswunsch zu Stande bringen und wenn ich des Henkers wäre. Fällt aber, will Gott, Ostwind ein, so bekommst du welche." (Briefe, I, 183, zitiert nach ebd.)

1.2. Leib und Seele

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oben einen Schatz beziehungsweise Heilung zu finden, wird Wilhelm die vielen Stufen des Straßburger Münsters hinauf gelockt.178 Oben angekommen muß er allerdings feststellen, daß dort niemand anderes als sein Freund Jerome auf ihn wartet - Jerome, der ihn dann beauftragt, seine Erlebnisse auf der folgenden Reise niederzuschreiben, und den man als exemplarischen Vertreter der Gattung .Philosophischer Arzt' einordnen kann. Aber nicht nur der Hypochonder war Spott ausgesetzt, auch die behandelnden Ärzte wurden bedacht. Besonders die Vielzahl der möglichen Kuren gab hierzu Anlaß: „Und wer wählt unter der zahllosen Menge von Mitteln, die oft nur die Mode des Tages in Schutz nimmt? von der Transfusion an bis zu Pomme's Brühen 179 , welche Reihe von Pflanzen, Salzen, Gummi, Metallen und Giften? Theerwasser, Schierling, Harzrauch und Eicheln, Guajak und Pomeranzenblätter, Käfer, Würmer, und Bella donna, Vipernsuppen und Eselsmilch, alle haben ihren Ruf überlebt". 180 Zwar stand der Hypochonder im Ruf, unersättlich zu sein, was die Medikation anging, aber genauso galten die Ärzte als willfährig bei der Befriedigung dieses Hungers. Schon Unzer beklagte, daß die Diagnose ,Hypochondrie' Ärzten allzu oft als Deckmantel der eigenen Unwissenheit und als Finanzierungsmittel diente: „wenn sie nicht sagen wollen: Ihr seyd nicht krank, ihr könnt der Arztneyen entbehren, ihr müßt nur euren Willen reinigen, und das Herz bessern! so sagen sie: Ihr seyd hypochondrisch: Gebrauchet diese Cur." 181 (Allerdings hat er sich selbst auch nicht gescheut, für ein hilfreiches Pülverchen zu werben.) Das Zusammenspiel von Arzt und Patienten bei der Kreation der hypochondrischen Krankheit wird in diesen Auszügen satirisch verdeutlicht. Entscheidend ist, daß es eben ein Zusammenspiel war, keine einseitige Manipulation durch den Arzt. Es ist nicht auszuschließen, daß manche Diagnose auch ihre Vorzüge für den Kranken (gehabt) hat, konnte sie doch Aufmerksamkeit, Fürsorge und seelische Entlastung durch körperliche Zuschreibung bedeuten. 182 Ebenso ist nochmals der Aspekt zu betonen, daß der Hypochonder nicht gänzlich seiner Verantwortlichkeit enthoben wurde. Widersprüchliches das doch zusammengeht! So wie die verschiedenen Kurmethoden, Lebensvorschriften und Bewertungen. In der Metaphorik des Krankheitsbildes Hypochondrie lag offensichtlich Eigenständigkeit: Der Hypochonder beharrte auf seinem eigenen Erleben, unter-

178

179

THÜMMEL, R e i s e , B d . 1, 1 8 1 1 , S . 7 8 - 9 8 .

Anmerkung im Original: Pomme, ein Arzt in Paris, der vor acht Jahren alle Krankheiten mit Hühnerbrühen heilte. 180 STURZ, Helfrich Peter: Fragmente aus den Papieren eines verstorbenen Hypochondristen, in: ders.: Schriften, 1785,1. Abteilung, S. 164-171, hier: S. 169. 181 UNZER, Der Arzt, 2. Aufl., Teil 2, 1760 (1. Aufl., 1759), S. 86. 182 SHOWALTER stellt einen ähnlichen Zusammenhang zwischen therapeutischen Konzepten und der Ausbreitung von weiblicher Hysterie her. (SHOWALTER, Elaine: Hystories. Hysterical Epidemics and Modern Culture, London 1998, S. 9f.)

78

1. Blicke auf und in den Menschen

warf sich nicht der Objektivierung durch die Ärzte! 183 Diese Revolte wurde dem Kranken genau dadurch ermöglicht, daß nicht nur die Vielfältigkeit der Symptome, sondern auch deren individuelle Ausformung zum Wesen der Hypochondrie gehörte, sie sich also eigentlich per definitionem dem Zugriff der Ärzteschaft entzog. Andererseits mußten die philosophischen Ärzte und Erfahrungsseelenkundler mit ihren Heilungsversuchen scheitern, da sie, genau entgegen der Symptom- und Ursachenvielfalt der Hypochondrie, sich darum bemühten, ein monokausales Erklärungssystem aufzurichten - und dem entsprechend zu kurieren. 184 Folgt man Heinz, dann blieb hier der Ganzheitlichkeitsanspruch schnell auf der Strecke: „[...] die analytischen Bemühungen der Ärzte laufen im wesentlichen darauf hinaus, die gerade als Krankheitsspezifikum festgestellte Komplexität des Erscheinungsbilds wieder monokausal zu reduzieren, um auf dieser Reduktion dann ihre Therapie aufzubauen." 185 Ähnlich wie ich hier auf einer Eigenständigkeit' des Hypochonders beharre, wurde in der Forschung das Phänomen hysterischer Frauen im 19. Jahrhundert gedeutet.186 Neben der unleugbaren Leidenserfahrung bot auch hier die Krankheit eine Ausdrucksmöglichkeit des Selbst. Im Fall der Hysterie lag ein zusätzliches Gewicht außerdem auf der Konfrontation von männlichem Arzt mit weiblicher Patientin und somit auf den Rollenverhältnissen innerhalb der Gesellschaft.187 Diese auf der semantischen Ebene angesiedelte Deutungen reduzieren die .Tatsächlichkeit' der Krankheitserfahrung nicht - das war schließlich das von Medizinern angewendete Mittel, welches bis heute den Hypochonder als eingebildet charakterisiert. ,Eingebildet' konnten „Leiberfahrungen des Patienten" aber schnell dort genannt werden, wo sie „mit den Feststellungen des Arztes nicht übereinstimmen".188 Eingebildet zu sein, hat aber bekanntermaßen eine zweite Bedeutung, die des Überheblichen, Arroganten. Hier spiegelt sich die Hilflosigkeit des Behandelnden gegenüber der Eigenwelt des Behandelten. 183

BILGER, Üble Verdauung, 1990, S. 69: charakteristisch sei die „Diskrepanz zwischen dem subjektiven Befinden und der Selbstwahrnehmung des Kranken und der objektiven, an physiologischen Parametern gemessen [sie] Schwere seiner Erkrankung". 184 Selbst der Verfasser eines Aufsatzes „Von den Ursachen der Hypochondrie" (in: Neues Hamburgisches Magazin, 1781, S. 493-508, hier: S. 493), der das Phänomen als „eine sehr zusammengesetzte Krankheit" einführt, macht sich letztlich auf die Suche nach der einen, ursprünglichen Ursache. 185 HEINZ, Wissen vom Menschen, 1996, S. 176f. 186 Vgl. zu dieser Debatte: SHOWALTER, Hystories, 1998, S. 54-58. 187 Vgl.: CORBIN, Alain: Das „trauernde" Geschlecht und die Geschichte der Frauen im 19. Jahrhundert, in: PERROT, Michelle (Hrsg.): Geschlecht und Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich?, Frankfurt a.M. 1989 (Original 1984), S. 63-81, hier: S. 7 3 . Allgemein und zur Historiographie: WEICKMANN, Dorion: Rebellion der Sinne. Hysterie ein Krankheitsbild als Spiegel der G e s c h l e c h t e r o r d n u n g (1880—1920), F r a n k f u r t a . M . / N e w

York 1997, bes.: S. 14-18. 188

BÖHME/BÖHME, D a s A n d e r e d e r V e r n u n f t , 1 9 9 6 , S . 5 2 .

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

79

Wenn es um die Frage nach der Möglichkeit einer Hypochondrie-Epidemie geht, wird das Thema der gegenseitigen Beförderung durch Ärzte und Patienten noch einmal ausführlicher zur Sprache kommen. Schon hier ist jedoch deutlich geworden, daß es nicht eine bloße feindliche Übernahme durch die Ärzteschaft war, die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts abspielte. Das gilt auch für die Medikalisierung der Gesellschaft und der Sprachwelt, die weit über das Phänomen Hypochondrie hinausging, aber dieses genauso wie die Bedeutungen von Melancholie und Suizid massiv betraf. Wie läßt sich diese Medikalisierung fassen?

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen Ging ein Hypochonder im 18. Jahrhundert zum Arzt, dann sah er sich einer Vielzahl von möglichen Behandlungen gegenüber. Worum er allerdings kaum herumkam, war die genaue Beachtung von ausgefeilten Vorgaben für seine Ernährung und allgemeine Lebensweise. Es wurden also Diäten verordnet, was weit mehr bedeutete, als in vier Wochen zehn Kilo abzunehmen, und das Verhalten des Menschen oftmals bis ins kleinste Detail regelte. Die entsprechenden Schriften, die „Diätetiken" wurden im ausgehenden 18. Jahrhundert im großen Stil veröffentlicht, nicht nur für Hypochonder. Für mich steht diese Flut an Publikationen, und mehr noch die von ihnen transportierten Ideen über den Umgang mit dem eigenen Körper, im Zeichen eines allgemeineren Prozesses, nämlich dem Einflußgewinn der Medizin, der Medikalisierung. Gerade die Bedeutungen von Melancholie, Hypochondrie und Suizid waren von diesem Einflußgewinn maßgeblich betroffen. Im folgenden wird es um die Bedingungen und Entwicklungen dieses Prozesses gehen, wobei die Diätetik besonders berücksichtigt wird. Den Rahmen für diese Überlegungen bildet die Frage, inwieweit Medikalisierung als Akt der Disziplinierung zu verstehen ist. Sie steht am Anfang und am Ende dieses Kapitels.

1.3.1. Überlegungen

vorweg

Vorweg: Der Prozeß der sogenannten Medikalisierung189, der im 18. Jahrhundert durch die verstärkte Durchdringung der Diskurse und des gesellschaftlichen Lebens mit medizinischem Wissen, Denken und Handeln auf entschei189

FREVERT versteht als Medikalisierung „die Verallgemeinerung gesundheitsbewußter Verhaltensstandards und medizinischer Versorgung in allen Bereichen und auf allen Ebenen des sozialen Systems." (FREVERT, Ute: Krankheit als politisches Problem 1770-1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung, Göttingen 1984, S. 45.) Im Gegensatz dazu fasse ich diesen Begriff weiter, nämlich als Einflußnahme auf Denkarten und Bewertungen der Gesellschaft auch jenseits des engeren Gesundheitsdiskurses.

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1. Blicke auf und in den Menschen

dende W e i s e die Vorstellungen d e s M e n s c h e n v o n sich selbst prägte und veränderte, kann nicht auf eine Manipulation der Mehrheit der B e v ö l k e r u n g durch e i n e begrenzte Zahl an einflußhungrigen Medizinern reduziert w e r d e n . 1 9 0 Sicherlich verfügte die m e d i z i n i s c h e Zunft über ein Ü b e r g e w i c h t an W i s s e n s macht, ihre Handlungs- und Einflußmöglichkeiten entwickelte sie j e d o c h nicht aus bloßer e i g e n e r Prosperität, sondern auf der Grundlage e i n e s a l l g e m e i n e n m e d i z i n i s c h e n Interesses der am Diskurs B e t e i l i g t e n . 1 9 1 E s m u ß an dieser Stelle angemerkt werden, daß ich in b e z u g auf den Prozeß der Medikalisierung des W i s s e n s und D e n k e n s e i n e andere Position als Foucault e i n n e h m e . Ich interpretiere zwar auch die B e d e u t u n g s m a c h t der Diskurse als sehr groß, j a als entscheidend, f a s s e diese M a c h t aber nicht als Unterdrükkungsmacht auf, die keinerlei E n t s c h e i d u n g s m ö g l i c h k e i t e n (des Subjekts) o f fenläßt. B e i Foucault ist die Spur der Repression deutlich und scharf, o h n e daß die Gegenstränge, die Andersartigkeiten und besonders die B e t e i l i g u n g des/der e i n z e l n e n w e i t g e n u g entfaltet w ü r d e n . 1 9 2 Allerdings hat Foucault selbst in seiner G e s c h i c h t e der Sexualität der alten Repressionsthese ein neues K o n z e p t

Vgl. den Forschungsüberblick von LOETZ, die die Verwendung des Medikalisierungs-Begriffes sehr kritisch hinterfragt. (LOETZ, Francisca: Vom Kranken zum Patienten. „Medikalisierung" und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750-1850, Stuttgart 1993, S. 43-56.) Als jiinste und gelunge Antwort auf Loetz' Vorwurf, die Medizingeschichte würde sich zu sehr auf eine Geschichte der medizinischen Ideen beschränken, sei an dieser Stelle genannt: LINDEMANN, Mary: Medicine and Society in Early Modern Europe, Cambridge 1999. 190 In diese Richtung tendiert die Studie Ivan ILLICHS, der Medikalisierung, jenes „wuchemde[..] bürokratische[..] Programm", extrem negativ als Entmündigung des einzelnen deutet. Aller Umgang mit Krankheit und Gesundheit werde von der institutionalisierten Medizin vorgegeben, die in ihrem übersteigerten Behandlungsanliegen sogar selbst neue Krankheiten produziere. (ILLICH, Ivan: Die Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens, Reinbek 1977, S. 155.) 191 Im übrigen war, wie FREVERT erläutert, die Stellung der Ärzte oft gar nicht so gefestigt. Nicht nur hatten sie bis ins 19. Jahrhundert hinein starke Konkurrenz von nicht-studierten Chirurgen, Badern und heilkundigen Frauen, sondern oftmals waren sie ihren Patienten sozial unterlegen (denn die Ärmeren, sozial Schwächeren konnten sich einen Arzt ohnehin nicht leisten). (FREVERT, Krankheit als politisches Problem, 1984, S. 40-43.) 192 Vgl. besonders: FOUCAULT, Überwachen und Strafen, 1976. Auch die Grundzüge von „Wahnsinn und Gesellschaft", die These vom „Great Confinement" entsprechen diesem Konzept. Dazu außerdem: LOREY, Isabell: Macht und Diskurs bei Foucault, in: BUBLITZ, Hannelore/BüHRMANN, Andrea D./HANKE, Christine/SEIER, Andrea (Hrsg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 87-96. Noch ein anderer Hinweis vorweg: Ich habe bewußt die,/omantische Medizin" aus den folgenden Überlegungen ausgeschlossen, weil hier nochmals - etwa im Zusammenhang mit Schellings Naturphilosophie, mit den englischen Ansätzen eines „moral treatments" - eine ganze neue Dynamik mit ins Spiel kam, die in ein paar (Neben-)Sätzen nicht ausreichend debattiert werden könnte. (Vgl. aber zu diesem Themenfeld: WÖBKEMEIER, Erzählte Krankheit, 1990, besonders: S. 19-138.)

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

81

entgegengestellt und die Bedeutung der Diskursivierung betont. 1 9 3 Ähnlich kann man für die Auseinandersetzung mit Körperlichkeit allgemein festhalten, daß der Körper nicht verschwiegen wurde, daß er im Gegenteil ein lautes Thema war, daß es aber auch ein starkes Regelsystem innerhalb der Debatte gab - deswegen müssen die Schranken zwischen Sagbarem und Unsagbarem s o w i e die artikulierten Bewertungen besonders beachtet werden. 1 9 4 Beschäftigt man sich mit dem Medikalisierungsprozeß im späten 18. Jahrhundert, stellt sich unvermeidbar die Frage nach einer zunehmenden Disziplinierung des Menschen unter den Vorzeichen von Moderne, Aufklärung und Zivilisation. In diesem Zusammenhang muß Norbert Elias genannt werden, dessen Werk „Über den Prozeß der Zivilisation" (erstmals 1939 veröffentlicht), aber auch jenes über „Die „Höfische Gesellschaft" immer noch als w e g w e i send für diesen Fragenkomplex gelten. 1 9 5 Stärker noch als M a x Webers Konzept der „Rationalisierung" und Gerhard Oestreichs „Sozialdisziplinierung" vermag es Elias, Disziplinierung nicht nur als sozial-politische Abstraktion zu fassen, sondern als äußerst konkrete Veränderung der Lebenswelt der Menschen. 1 9 6 Und anders als Oestreich und Schulze, denen das Disziplinierungs193 FOUCAULT, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualtiät und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1983 (Original 1976), S. 20. 194 FOUCAULT läßt es hingegen oft an Differenzierungen fehlen, indem er jede Wortmeldung gleich wertet und sie unabhängig von ihrer inhaltlichen Ausrichtung als Indikator für die Bedeutung eines Themas nimmt. 195 ELIAS, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bd., 13. Aufl., Frankfurt a.M. 1988 (erstmals 1939; Neuaufl. 1969); ders.: Die höfische Gesellschaft, 6. Aufl., Frankfurt a.M.

1992 (erstmals 1969). 196

WEBER, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 4. Aufl., Tübingen 1956; OESTREICH, Gerhard: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969. Bei Max WEBER ist Disziplinierung außerdem der Inbegriff von funktionierender Herrschaft: Die obrigkeitlichen Vorstellungen können so massiv wirken, daß sie von der Masse der Individuen verinnerlicht und übernommen werden. Dieser Prozeß markiert für Max Weber den Übergang von der religiössakralen zur modernen Gesellschaft - allerdings unter der Vorbedingung der protestantischen Reformation. Vgl.: BREUER, Stefan: Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerungen eines Konzepts bei Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault, in: SACHSSE, Christoph/TENNSTEDT, Florian (Hrsg.): Soziale Sicherung und soziale Disziplinierung, Frankfurt a.M. 1986, S. 45-69, hier: S. 47-51. Vgl. zum Zivilisationsprozeß allgemein: BURKE, Peter: Zivilisation, Disziplin, Unordnung. Fallstudien zu Geschichte und Gesellschaftstheorie, in: LEIMGRUBER, Nada Boskovska (Hrsg.): Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge, Paderborn/München 1997, S. 57-70; REINHARD, Wolfgang: Sozialdisziplinierung - Konfessionalisierung - Modernisierung. Ein historiographischer Diskurs, in: ebd., 5 . 3 9 - 5 5 ; SACHSSE, C./TENNSTEDT, F. (Hrsg.): Soziale Sicherung und soziale Disziplinierung, Frankfurt a.M. 1986. Als explizite Auseinandersetzung mit den Thesen Gerhard Oestreichs und unter Verwendung von nachgelassenen Schriften außerdem: SCHULZE, Winfried: Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit", in: Zeitschrift für historische Forschung, Bd. 14, 1987, S. 265-302.

82

1. Blicke auf und in den Menschen

konzept auch zur Verteidigung der Sozialgeschichte gegenüber der politischen Geschichtsschreibung diente und die ihre Thesen besonders in Hinsicht auf Produktionsbedingungen und soziale Hierarchien formulierten,197 bewegt sich Elias vornehmlich auf dem Terrain des Kulturellen. Trotz aller Kritik an Elias' Thesen und Methoden kommt ihm noch immer das Verdienst zu, die Historizität der menschlichen Vorstellungen von Moral und korrektem Verhalten aufgezeigt und die Idee einer Entwicklung von der Fremddisziplinierung hin zu einer Selbstdisziplinierung eingeführt zu haben. (Als gesellschaftliche Grundlage dieser Entwicklung konstatierte Elias die Veränderung des frühneuzeitlichen Staatssystems.198) Diese Aspekte sind besonders für das Verhältnis des Menschen zu seinem eigenen Körper entscheidend und hängen mit der Beschäftigung des Menschen mit dem eigenen Sein zusammen, mit Selbst- und Fremdbeobachtung. Für die Analyse der Medikalisierung kann dieses Konzept insofern fruchtbar gemacht werden, als es auch hier nicht nur um die Einbettung des einzelnen in ein übergeordnetes System von Annahmen, Ratschlägen und vorgeschriebenen Verhaltensweisen geht, sondern auch um die Übernahme dieser vorgeschriebenen Bewertungsmaximen durch den einzelnen. Dabei soll diesem Prozeß nicht von vornherein das Etikett Disziplinierung aufgeklebt werden, sondern vielmehr - wie zu Anfang dieses Kapitels betont - von vielfältigen gegenseitigen Beeinflussungen ausgegangen werden, von Beeinflussungen der Diskursteilnehmer, der Produzenten und der Konsumenten von Wissen und Vorstellungen. Zunächst soll es daher darum gehen, aufzuzeigen, welches Interesse für medizinische Themen bestand, also gleichsam: auf welchem Nährboden medizinische Theorien wachsen und ihren Einfluß ausbauen konnten. Anschließend wird mit der sogenannten „Diätetik" eine Facette der Medikalisierung näher beleuchtet werden, die besonderen Wert auf die Regelhaftigkeit des Lebens legte. Regeln mußten schließlich nicht nur aufgestellt werden, sondern deren Einhaltung bedurfte der Kontrolle - daraus entstand die Idee einer „medizinischen Polizey". Beide, Diätetik und medizinische Polizey, werden zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurückführen und den Bogen zur Disziplinierungsdebatte schließen.

Zum Zusammenhang von Disziplinierung und Medizingeschichte: LINDEMANN, Mary: Health and Healing in Eighteenth-Century Germany, Baltimore/London 1996, S. 23 f. 197 Vgl. etwa: SCHULZE, Gerhard Oestreichs Begriff, 1987, S. 271: „Mit der Erforschung der Grundstrukturen der Sozialdisziplinierung erfolgt eine weitere Emanzipation von der politisch-dynastischen Geschichtsschreibung." Außerdem, ebd.: S. 275 ff. 198 Vgl. etwa: ELIAS, Über den Prozeß, Bd. 2, 1988, S. 312f.

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

1.3.2. Interessen und Popularität.

83

Einflußnahmen

Zu Beginn dieser Arbeit haben wir einen Blick auf die zunehmende Bedeutung der Anatomie im Wissen(schaft)ssystem geworfen und dabei auch gesehen, daß das Interesse für anatomische Forschungen, besonders für skurrile Präparate oder ausgefallene Sektionen nicht nur in medizinischen Fachkreisen, sondern auch bei Laien groß war. Da aber die Möglichkeiten, einer öffentlichen Obduktion beizuwohnen, begrenzt waren, griff man zu anatomischen Büchern oder bewunderte die Objekte in den entsprechenden Ausstellungen. Es ist ebenfalls bereits erwähnt worden, daß in diesem Zusammenhang verstärkt Theorien der Pathologie ins Spiel kamen und Abweichungen von der Norm begutachtet wurden. Das Interesse des Publikums und der Leserschaft beschränkte sich jedoch längst nicht auf die anatomische und die pathologische Disziplin. Medizinisches Wissen als Wissen vom Menschen war allgemein gefragt; und war ja auch für die bereits vorgestellte Neuentwicklung eines anthropologischen Blicks unabdingbar. Außerdem las nicht nur die vermeintlich große Zahl von Hypochondern über Diagnosen, Krankheiten und Kurmethoden. Vielmehr spiegelte der enorme Zuwachs an medizinischen Veröffentlichungen ein generelles Interesse. Es ist heute allgemein akzeptiert, daß die Veränderungen des Publikationsmarktes im 18. Jahrhundert Kommunikation und Wissenstransfer revolutionierten und dadurch eine entscheidende Grundlage dafür bildeten, daß neue Denkkonzepte der .Aufklärung' entstanden. Ab den 1750ern und besonders ab den 1770ern boomte nicht nur die Produktion von Büchern, sondern auch die von Zeitschriften.199 Die Zahl der neuen Zeitschriften vermehrte sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt und erreicht schließlich zwischen 1781 und 1790 1225 Titel. Im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts gab es hingegen weniger als 70 Neupublikationen.200 Hans Erich Bödeker hat die (deutschsprachige) Medienlandschaft im 18. Jahrhundert detailliert analysiert und dabei auch die Gewichtung der einzelnen .Ressorts' berücksichtigt. Durch eine Auswertung des Göttinger Zeitschriftenindexes verfolgt Bödeker die Hauptthemen der zwischen 1750 und 1800 publizierten Aufsätze. Immerhin 9 Prozent der Artikel befaßten sich 199 BÖDEKER, Hans Erich: Journals and Public Opinion. The Politicization of the German Enlightenment in the Second Half of the Eighteenth Century, in: HELLMUTH, Eckhart (Hrsg.): The Transformation of Political Culture. England and Germany in the Late Eighteenth Century, Oxford 1990, S. 4 2 3 ^ 4 5 . Ich danke an dieser Stelle Professor Eckhart Hellmuth für seine vielen anregenden und nützlichen Hinweise. Zur Entwicklung des medizinischen Zeitschriftenmarktes vgl. auch: DREISSIGACKER, Erdmuth: Populärmedizinische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts zur hygienischen Volksaufklärung, Diss. Marburg 1970. Außerdem kritisch: DENEKE, Johann Friedrich Volrad: Arzt und Medizin in der Tagespublizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 1969, besonders S. 158-172. 200 BÖDEKER, Journals and Public Opinion, 1990, S. 428.

84

1. Blicke auf und in den Menschen

in diesem Zeitraum mit Medizin. Zum Vergleich: Kunst und Geisteswissenschaften erreichten 8.9 Prozent, Theologie 7.5 Prozent und Geschichte 4 Prozent. Den größten Anteil nahmen mit 23.4 Prozent die Naturwissenschaften ein. 201 Medizinische Themen wurden nicht nur in darauf spezialisierten Zeitschriften behandelt; auch viele allgemein angelegte Journale nahmen solche Artikel auf. 202 Betrachtet man die Themenverteilung auf dem Buchmarkt, dann fällt auf, daß theologische und religiöse Bücher, die noch 1770 25 Prozent des Angebots auf den Buchmessen ausgemacht hatten, bis 1800 auf unter 15 Prozent zurückfielen. Hingegen blieb der Anteil von medizinischen Publikationen weitgehend konstant, was angesichts des enormen realen Zuwachses des gesamten Marktes eine entsprechende Steigerung der Titelzahlen bedeutet. 203 Sicherlich: Man muß berücksichtigen, daß vielen der neuen Zeitschriften nur eine kurze Lebensdauer beschieden war (was angesichts der Redundanz etwa der diätetischen Schriften nicht unbedingt verwundert) und daß nicht jedes Journal derartig populär wurde wie etwa Unzers „Arzt". Der „Arzt" erschien erstmals 1759 bis 1765 und war sozusagen die erste .breitenwirksame' medizinische Zeitschrift. Die Beliebtheit dieser Zeitschrift führte zu mehreren Neuauflagen und Übersetzungen.204 Bödeker hat die Nummernstärke der Zeitschriften in seine Untersuchung miteinbezogen - die Zuwachstendenz bleibt auch unter dieser schärferen Brille eindeutig bestehen. Schließlich steigerte sich nicht nur die Anzahl der veröffentlichten Zeitschriften, sondern auch die Auflagenstärke und die soziale Breite der Leserschaft. 205 Bekanntermaßen richteten sich etliche der Zeitschriften - auch der medizinischen - an ein Publikum, das noch zu Beginn des Jahrhunderts völlig außerhalb des publizistischen Geschäfts lag. Denn obwohl auch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts maximal 15 Prozent der Bevölkerung lesen konnten, hatte sich der Kreis der Leser und Leserinnen entscheidend vergrößert: Lesen war nicht mehr nur die Beschäftigung eines verschwindend geringen Kreises von Gelehrten und extrem privilegierten Damen und Herren. 206 Nur deswegen konnte überhaupt die Idee von eigenen Zeitschriften für Frauen oder für die Landbevölkerung entstehen. 2

°i Ebd., S. 433f. So hatte beispielsweise das bedeutenste Rezensionsorgan der Spätaufklärung, die „Allgemeine Deutsche Bibliothek", eine eigene Abteilung für medizinische Literatur. 202

203

V g l . : HELLMUTH, Eckhart/PIERETH, W o l f g a n g : G e r m a n y 1 7 6 0 - 1 8 1 5 , i n : BARKER, H a n -

nah/BURROWS, Simon (Hrsg.): The Press and the Public Sphere in Europe and America, 1760-1840, Cambridge 2002, S. 69-92. 204 Vgl. zu Unzer: BILGER, Üble Verdauung, 1990; ADAM, Wolfgang: Medizin und Essayistik. Gattungspoetologische Überlegungen zu der Wochenschrift „Der Arzt", in: HOLZHEY, Helmut/BoscHUNG, Urs (Hrsg.): Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert. Referate der Tagung der Schweizerischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, Amsterdam 1995, S. 79-88. 205 DENEKE, Arzt und Medizin, 1969, S. 159. 206 Siehe zur Entwicklung des Medienmarktes auch Kap. 3.2.1.

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

85

Als medizinische Periodika mag man in diesem Zusammenhang unter etlichen anderen nennen: „Der Landarzt. Eine medicinische Wochenschrift" (17651769); „Arzt der Frauenzimmer. Eine medicinische Wochenschrift" (17711773); „Hygea. Eine heilkundige Zeitschrift dem weiblichen Geschlechte von Stande vorzüglich gewidmet" (1793/1794).207 Und wer diese Schriften nicht selbst lesen konnte, der konnte sie sich zumindest vorlesen lassen. Obwohl die geschilderten Veränderungen der Publikationsstrukturen den ärztlichen Einfluß enorm steigerten und auch das Interesse an medizinischen Themen gedieh, darf man nicht darüber hinwegsehen, daß die Position der Ärzte keineswegs so gefestigt und unangefochten war, wie diese sich das selbst wünschen mochten. 208 Die Aufklärungsschriften und -absichten mochten wohl klingen, doch in der Landbevölkerung gab es vehementen Widerstand und zwischen den akademischen Medizinern und den traditionell mit der Gesundheitspflege befaßten Frauen kam es zu regelrechten Machtkämpfen. 209 Derartige Kompetenzstreitigkeiten beflügelten jedoch meiner Meinung nach die (männlichen) Wissenschaftler noch in ihrem Publikationsdrang, den sie unter dem gewichtigen Aspekt der „Volksaufklärung" einordnen und rechtfertigen konnten. „[Medizinische Aufklärung" war dann „der Ausgang eines Menschen aus seiner Unmündigkeit in Sachen, welche sein physisches Wohl betreffen". 210 Hatten die Aufsätze in allgemeinen und in speziell medizinischen Zeitschriften den Anfang gemacht, so wurden besonders ab den 1770er Jahren verstärkt auch Monographien zur Gesundheitsaufklärung veröffentlicht. Goethe charakterisierte die medizinischen Aufklärungsschriften als „zu ihrer Zeit sehr wirksam" 211 . Platner verglich spöttisch die Beliebtheit der „medizinischen Schriften" mit der, welche die Rittergeschichten ein Jahrhundert zuvor in Spanien erlangen konnten, und lamentierte: „Selbst das andere Geschlecht hat itzt seine medicinischen Modebücher, und man sieht hier und da den Arzt ganz vertraut bey dem Moliere liegen." 212 In jedem Fall kann man aus der „Vielzahl dieser Aufklärungsschriften und ihre[r] mehrmalige[n] Auflage" ableiten, „daß ihr In207

Vgl.: DREISSIGACKER, Populärmedizinische Zeitschriften, 1970, S. 20, S. 26 u. S. 62. (Die Göttin Hygieia steht im hippokratischen Eid für Diätetik.) 208 Siehe FN 191. 209 FREVERT, Krankheit als politisches Problem, 1984, S. 38. 210 OSTERHAUSEN, Johann Karl: Ueber medicinische Aufklärung, Bd. 1, Zürich 1798, S. 8f. Vgl. zum Zusammenhang von Medikalisierung und Volksaufklärung auch: LINDEMANN, Health and Healing, 1996, S. 65 ff. Als weitere Distributionsmöglichkeit von medizinischem Wissen müssen hier die (Volks)Kalender genannt werden. 211 GOETHE, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (= Goethes Werke, hrsg. v. K. Heinemann, Bd. 12), Leipzig o. J., S. 307 f., zitiert nach: FREVERT, Krankheit als politisches Problem, 1984, S. 35. Vgl. zur Umsetzung der Medizinalpolitik: LOETZ, Vom Kranken zum Patienten, 1993, S. 253-257 u. passim. 212 PLATNER, Ernst: Briefe eines Arztes an seinen Freund über den menschlichen Körper, Bd. 1, Leipzig 1770, S. VI.

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1. Blicke auf und in den Menschen

halt auf ein großes Interesse in der bürgerlichen Öffentlichkeit stieß." 213 Oder - um die wackelige Definitionsgröße „bürgerlich" zu vermeiden: Diese Menge an Schriftlichkeit versinnbildlicht den Einfluß medizinischen Denkens. Dieser Eindruck verstärkt sich noch dadurch, daß sich der Bedeutungszuwachs der Medizin im Diskurssystem des 18. Jahrhunderts nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ausmachen läßt: Medizinisches Denken durchdrang verstärkt fachfremde Bereiche. Theologie und Jurisprudenz zählten dazu ebenso wie die sogenannte ,schöne' Literatur. Juristische und medizinische Interessen fanden in der forensischen Medizin zusammen; auf diese Verbindung sind wir bereits im Anatomiekapitel gestoßen und ich werde darauf nochmals aus einem anderen Blickwinkel in den Kapiteln über die strafrechtliche Bewertung des Suizids und die Individualisierung der Darstellungen eingehen. 214 Medizinische Ideen drangen jedoch nicht nur in Gestalt der Gerichtsmediziner in den Bereich der Rechtsprechung vor, sondern Juristen wie zum Beispiel Ernst Ferdinand Klein berücksichtigten selbst physiologische und psychologische Aspekte bei der Beurteilung ihrer Fälle. 215 Sinnbildlich für die Veränderungen innerhalb der juristischen Theorie waren jene Juristen, die die Einbeziehung von körperlichen Merkmalen der Delinquenten in die Bewertung der Straffähigkeit forderten und damit auch reklamierten, daß Juristen „physiologische Kenntnisse" brauchten. 216 Die Zusammenarbeit von Ärzten und Theologen mag im Vergleich überraschen, gerade auch weil Medikalisierung oft in eins gesetzt wird mit einer Art Säkularisierung: Gesundheit und Krankheit seien durch den Einflußgewinn der Medizin nicht länger als von Gott gegeben aufgefaßt worden. 217 Diese Annahme ist mit Sicherheit nicht aus der Luft gegriffen; Ärzte wurden zu (neuen) Ansprechpartnern in Seelen- und in Körperdingen und sie mochten hier auch

213

FREVERT, Krankheit als politisches Problem, 1984, S. 47. Siehe Kap. 2.2.3. u. Kap. 3.2.3.1. 215 Vgl. die von KLEIN kommentierten Fälle. Etwa: Verbrechen eines 63jährigen Mannes aus Gewissensunruhe über Vergehungen, die er im 17ten und 18ten Jahre begangen hatte, in: Annalen der Gesetzgebung, Bd. 2, 1788, S. 65-76. Zum Einfluß medizinischer Ideen auch: NUTZ, Strafanstalt als Besserungsmaschine, 2001, S. 77. 216 ECKARTSHAUSEN, Carl: Ueber die Nothwendigkeit physiologischer Kenntnisse bei Beurteilung der Verbrechen. Rede abgelesen auf der churfiirstl. Bibliothek, 10. December 1791, München 1791, S. 19: „Die Schwere des Verbrechens leuchtet nicht aus der That selbst, sondern aus den Umständen hervor, unter welchen sie ein Uebelthäter begieng." 214

In Auszügen auch abgedruckt in: WESTENRIEDER, Lorenz: Geschichte der baierischen Akademie der Wissenschaften, Bd. II, 1807, S. 3 9 9 ^ 0 5 . Es gälte noch, in einer sprachwissenschaftlichen Arbeit die sprachliche Durchdringung mit medizinischer Metaphorik zu untersuchen. Also zum Beispiel: „Wertherfieber", „soziale Geschwüre" ... Siehe am Rande dazu Kap. 3. 217 Etwa: ENGELHARDT, Dietrich: Krankheit, Schmerz und Lebenskunst. Eine Kulturgeschichte der Körpererfahrung, München 1999, S. 47.

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

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Ermächtigungsphantasien entwickeln, wie etwa der Mediziner Tode: „Es scheint die Zeit gekommen zu seyn, da die Ärzte regieren wollen. Vormals stand die Geistlichkeit hinter dem Steuermann; izt tritt die Medicin hinzu[.]" 218 Allerdings wurden Theologen und Geistliche durch die ,Aufklärung' nicht wirklich entmachtet. Einerseits blieb das Wort Gottes schwergewichtig und einflußreich - und das nicht nur gegenüber einer unwissenden Landbevölkerung. Andererseits integrierten viele der im ausgehenden 18. Jahrhundert tätigen und schreibenden Theologen medizinische Interpretationen in ihr eigenes Gedankensystem, ohne dadurch etwas von ihren religiösen Grundsätzen preiszugeben. (Auch dieser Aspekt wird sich am Beispiel des Suizids noch genauer zeigen lassen.) Daher würde ich für das späte 18. Jahrhundert längst noch nicht von einer Verdrängung religiös-theologischer Deutungen sprechen wollen. Auffällig ist vielmehr - bei allen Klagen über „falsche Frömmigkeit" und „Schwärmerei" - die häufige und sehr konkrete Zusammenarbeit von geistlichem und medizinischem Personal. Beispielsweise war den Geistlichen eine besondere Rolle bei der Gesundheitsaufklärung der Bevölkerung zugedacht; sie sollten ihre Predigten zur Verbreitung von diätetischen Lebensregeln nutzen, und sie taten das auch. 219 In diesem Sinne konstatiert Hebenstreit: „Die Geistlichen haben die beste Gelegenheit, durch mündliche Unterredung vernünftige diätetische Grundsätze und Regeln unter den Gliedern der Gemeinden zu verbreiten."220 Gesundheitsbewußtes Verhalten wurde in Predigten als gottgefälliges Verhalten dargestellt. Außerdem nahmen Theologen selbst in ihre Aufgabe als Seelsorger körperliche Aspekte mit hinein, indem sie etwa somatische Erklärungsansätze für melancholische Erkrankungen adaptierten.221 Zu guter Letzt sei noch eine Zeitschrift erwähnt, die die Zusammenarbeit von

218

TODE, J. C.: Der unterhaltende Arzt über Gesundheitspflege, Schönheit, Medicinalwesen, Religion und Sitten, Bd. 4, S. 53, zitiert nach: FREVERT, Krankheit als politisches Problem, S. 37. 219 Vgl.: LINDEMANN, Health and Healing, 1996, S. 66; FREVERT, Krankheit als politisches Problem, 1984, S. 64. FREVERT zitiert u.a. aus der „Churfürstlich Württembergischen Instruction für die evangelischen Geistlichen" von 1804: „Zur Erhaltung der Gesundheit ist es des Seelsorgers Pflicht, bewährte Entdeckungen allgemeiner zu machen, um Familienleiden zu entfernen, und dies um so mehr, wenn sie wie ζ. B. die Empfehlung der Kuhpocken-Impfung von Seiten des Staats ihm zur besonderen Obliegenheit gemacht werden." Schon 1740 veröffentlichte der Prediger HECKER einen eigenen diätetisches Ratgeber. (HERKER: Kurze Anleitung zur Erhaltung der Gesundheit, insonderheit an Studierende gerichtet, Halle 1740.) 220 HEBENSTREIT, Ernst Benjamin Gottlieb: Lehrsätze der medicinischen Polizeywissenschaft, Leipzig 1791, S. 261. 221 Etwa: Beobachtungen und Erfahrungen über Melancholische, besonders über die Religiöse Melancholie, von einem Prediger am Zuchthause zu T., Leipzig 1799. Oder vergleiche auch den Pastor Oberlin, dessen Behandlung des Dichters J.M.R. Lenz Georg Büchner geschildert hat. (BÜCHNER, Georg: Lenz, in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Henri Poschmann, Frankfurt a.M. 1992, Bd. 1, S. 223-250 (erstmals 1839).)

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1. Blicke auf und in den Menschen

,,Aerzte[n] und Seelsorgerfn]" schon im Titel führte; beide Gruppen sollten gemeinsam gegen die „Pockennoth" vorgehen.222 Wichtiger als die Verschiebungen von personellen Konstellationen erscheinen mir daher die veränderten Deutungen von Lebenszusammenhängen, die sich als eine beachtliche Einflußzunahme von medizinischem Denken fassen lassen - diese Art Medikalisierung betraf auch Theologen, gleichzeitig wirkten sie selbst an diesem Prozeß mit. Ein ähnliches Wechselspiel der Einflußnahmen findet sich auch bei den Romanschriftstellern. Woran läßt sich die Beeinflussung von Literaten durch medizinische Ideen festmachen? (Von persönlichen Verbindungen wie etwa im Fall von Goethe und Hufeland einmal abgesehen.) A m offensichtlichsten werden die Verknüpfungen, wenn man die Protagonisten mancher Romane betrachtet, die auch als Patienten agieren; zu ihnen gesellen sich die behandelnden Ärzte. Etliche Romane schreiben die Geschichten ihrer Figuren unter anderem als Krankheitsgeschichten. Goethes „Werther" ist nur eines unter vielen Beispielen für diese Tendenz, wenn auch gewiß das bekannteste. Bedeutend für unseren Zusammenhang ist „Werther" aufgrund seiner offensichtlich pathologisierenden Haltung gegenüber dem Phänomen Suizid - einer Haltung, die uns heute vertraut erscheint, zur Zeit der Publikation dieses Romanes jedoch erst im Entstehen begriffen war (dazu später mehr 223 ). Wenn die Figur Werther einen Suizid als den Endpunkt einer „Krankheit zum Tode" 224 bezeichnet, dann wurde hier folglich eine medizinische Argumentation für etwas übernommen, worauf zuvor ausschließlich moralische, philosophische, theologische und juristische Erklärungs- und Bewertungsmuster angewendet worden waren.225 Werthers Äußerungen gegenüber Albert gehen allerdings weit über das für die Zeitgenossen übliche Maß hinaus, da er seelisches Leiden ausschließlich auf eine „Unordnung im Kräftehaushalt des Menschen" zurückführt. So werden Gesundheit, Krankheit und Tod „als Ergebnis natürlicher Kräftebewegungen" aufgefaßt und der einzelne unterliegt daher „einer vom Willen und Wollen unabhängigen Naturgesetzlichkeit".226 Eine moralische Bewertung kann unter dieser Voraus-

Archiv der Aerzte und Seelsorger wider die Pockennoth, 1796-1799. Siehe Kap. 2. 224 GOETHE, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers, Leipzig 1774, zitiert nach der Ausg. Stuttgart 1985, S. 54f., Brief vom 12. August): „[...] wir nennen das eine Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so angegriffen wird, daß teils ihre Kräfte verzehrt, teils so außer Wirkung gesetzt werden, daß sie sich nicht wieder aufzuhelfen [...] fähig sind." 222 223

Die Bedeutung Goethes Romans für eine neue Interpretation des Suizids betont besonders: BUHR, Heiko: „Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun?" Studien zum Freitod im 17. und 18. Jahrhundert, Würzburg 1998, S. 13 u. S. 273. 225 Vgl.: FRIEDRICH, Hans-Edwin: Der Enthusiast und die Materie. Von den „Leiden des jungen Werthers" bis zur „Harzreise im Winter", Frankfurt 1991, S. 151. 226 Beidesmal: FLASCHKA, Horst: Goethes .Werther'. Werkkontextuelle Deskription und Analyse, München 1987, S. 236.

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

89

setzung nicht mehr statthaft sein - das aber ist eine Schlußfolgerung, die keineswegs den Diskurs bestimmte. Ich werde später noch näher darauf eingehen, wie gut moralische und medizinische Interpretationen vielen Aufklärern unter einen Hut paßten. Auffälligerweise läßt sich die Übernahme von medizinisch orientiertem Denken schon in Kestners Bericht über den Tod Jerusalems finden.227 Kestner hatte diesen Bericht für Goethe auf dessen Wunsch hin verfaßt; und Goethe daraus einige Inspiration für seinen Briefroman „Werther" gewonnen. Die Schlußszene beispielsweise übernimmt nahezu wörtlich die Passage, in der Kestner die Szenerie des Totenzimmers, das Auffinden der Leiche, die Beerdigung schildert. 228 Eine besondere Stellung nahmen die Mediziner auch in Wezeis „Wilhelmine Arend" ein, weshalb ich die Konstellationen des Romans ein wenig ausführlicher analysieren möchte. Goethes „Werther" in dem Sinne vergleichbar, daß wiederum die Geschichte der Hauptfigur als Leben, Lieben, Leiden und Sterben geschrieben wird, erinnert „Wilhelmine Arend" außerdem an Richardsons „Clarissa". Allerdings werden Denken und Fühlen Wilhelmines viel kritischer gezeichnet als das ihrer Schwester im Geiste, denn obwohl beide den Weg der Empfindsamkeit (bis zum eigenen Tod) zu Ende gehen, wird Wilhelmines Haltung nicht mehr akzeptiert, sie erscheint als zu empfindsam, als zu schwach, als „ein empfindsames girrendes Wesen" 229 und besonders auch als zu untätig 230 . Bei ihr ist Empfindsamkeit bereits zur Krankheit - zu einer „Art von Stockschnupfen" 231 geworden, zum pathologischen Zustand der überreizten Nervenund Seelenwelt. Ohne auf die Details einzugehen, möchte ich zunächst einen knappen Überblick über die Handlung und weitere Personen des Romans geben. Anlaß für Wilhelmines Betrübnis ist ihr treuloser Ehemann Arend, der sie wegen Pouilly, einer mehr oder weniger zwielichtigen Opernsängerin, verlassen hat. Wilhelmines Mann kehrt zwar zwischenzeitlich zurück, kann Pouilly aber nicht wirklich aufgeben; Wilhelmines Nerven werden zunehmend zerrüttet. Beobachtet und behandelt wird sie in dieser Situation von zwei Ärzten, Dr. Braun und 227

Kestners Nachrichten über den Tod Jerusalems. An Goethe abgesandt im November 1772, in: PAULIN, Roger: Der Fall Wilhelm Jerusalem. Zum Selbstmordproblem zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit, Göttingen 1999, S. 89-94, hier: S. 94. 228 GOETHE, Die Leiden des jungen Werthers, 1774/1985, S. 146. Vgl. dazu: FLASCHKA, Goethes .Werther', 1987, S. 42; WUNDERLICH, Uli: Sarg und Hochzeitsbett so nahe verwandt! Todesbilder in Romanen der Aufklärung, St. Ingbert 1998, S. 1 7 9 . 229 WEZEL, Johann Karl: Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit, 2 Bd., Karlsruhe 1783, hier: Bd. 1 S. 4. Zu Wezel siehe außerdem: KNAUTZ, Epische Schwärmerkuren, 1990; WUNDERLICH, Sarg und Hochzeitsbett, 1998, S. 2 1 6 - 2 3 2 . 230 231

Vgl. etwa: WEZEL, Wilhelmine Arend, Bd. 2, 1783, S. 104 ff. Ebd., Bd. 2, S. 106.

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1. Blicke auf und in den Menschen

Dr. Irwing. Beide Mediziner nehmen eine bedeutende Position im Roman ein, ja: Dr. Braun kann man sogar als „Schwungrad der gesamten Romanhandlung" 232 ansehen, bringt er zusammen mit einer Freundin Wilhelmine doch schließlich dazu, die Scheidung einzureichen und sich mit einem anderen Mann (Webson) zu verloben. Doch auch diese Beziehung macht Wilhelmine nicht glücklich, geplagt von Selbstzweifeln und Gewissensbissen zieht sie sich mehr und mehr in sich selbst zurück. Sie wird unendlich empfindlich und gibt sich Sterbe- und Begräbnisphantasien hin. Schließlich stirbt sie, durch ein neuerliches Auftauchen Arends in tödliche Aufregung versetzt, in den Armen des inzwischen ebenfalls melancholischen Webson. Bezeichnenderweise ist es einer der Ärzte, der die Federführung der ersten Sätze des Romans übereignet bekommen hat. Der erste Teil beginnt mit einem Schreiben Dr. Brauns an Dr. Irwing, in dem die Geschehnisse der letzten Wochen diskutiert werden: die Trennung Arends von seiner Frau Wilhelmine und sein Verhältnis mit Pouilly. Dr. Braun und Dr. Irwing repräsentieren außerdem verschiedene medizinische Schulen. Dr. Irwing ist der radikal-rationale Gegner seiner empfindsamen Patientin, seine Leitlinie ist „kruder physiologischer Materialismus"233, seine Lieblingsthemen sind die Notwendigkeit einer geregelten Verdauung und die Reizbarkeit der Nerven. 234 Dr. Braun hingegen steht selbst auf der empfindsamen Seite, deren Gefahren er aber sehr wohl erkennt, ja die er eben als Krankheit auffaßt. Dr. Braun ist mit der medizinischen Mode vertraut und verfolgt ein ,ganzheitliches' Konzept im Sinne der zeitgenössischen Anthropologen. „Er hatte den Grundsatz, daß man die Krankheiten der Seele am Körper, und die Krankheiten des Körpers an der Seele heilen müßte". 235 In der Konzeption dieses Romans wird folglich die Bedeutung der Medizin augenscheinlich. Aktuelle medizinische Debatten Uber die Zusammenhänge von Leib und Seele werden aufgegriffen. Empfindsamkeit wird auch als körperliches Leiden dargestellt, so wie es den Ideen der philosophischen Medizin und der Anthropologie entsprach: „Bey den meisten Leuten entsteht die Empfindsamkeit aus einem Ueberfiuß an scharfen Feuchtigkeiten, besonders im Kopfe; das Wasser will einen Ausgang haben, überfüllt die Thränendrüsen, die kleinen Kanälchen verstopfen sich; das verursacht einen Reiz, der durchs ganze Gehirn geht, und folglich Drücken und Aengstigen; die Augen weinen, um sich von der Ueberfüllung zu entledigen und die Kanäle zu räumen". 236

232

HEINZ, Wissen vom Menschen, 1996, S. 218. Ebd. 234 Etwa: WEZEL, Wilhelmine Arend, Bd. 2, 1783, S. 128 u. S. 133. 23 E b d . , S. 107. 236 Ebd, S. 122. Diese Absicht Wezeis, Empfindsamkeit als Krankheit darzustellen, benennt auch der Rezensent in der „Allgemeinen deutschen Bibliothek" (Bd. 54, S. 171 ff., hier: S. 171). 233

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

91

Ganz konkret ist Wezel von Ernst Platner beeinflußt worden.237 Ähnliche Beeinflussungen durch medizinische Theorien finden sich beispielsweise in so unterschiedlichen Werken wie Thiimmels „Reise" 238 oder (weniger deutlich) Millers „Siegwart", jenem oftmals geschmähten Urbild des Trivialromans. Siegwarts Sterben auf dem Grab seiner geliebten Marianne ist letztlich die unweigerliche Folge seiner überanstrengten Einbildungskraft.239 In der Literaturtheorie der Zeit hatte der Roman immer noch die Aufgabe, seine Leser und Leserinnen zu belehren; menschliches Handeln, Denken und Fühlen sollte nachvollzogen und die Folgen erkennbar gemacht werden, so daß der/die Leser(in) Rückschlüsse für ihr eigenes Leben ziehen konnten. 240 Schließlich stellte der pädagogische Roman die Erziehung der Leserinnen endgültig in den Mittelpunkt. Auch die medizinische Aufklärung war in manchem dieser Werke ein besonderes Anliegen. So verweist Frevert auf Christian Gotthilf Salzmanns Briefroman „Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend", der sich „auf weite Strecken wie ein Gesundheitsbrevier" lese.241

1.3.3. Diätetik als

Lebensordnung

Besonders ausgefeilte Ideen darüber, wie der Mensch mit seinem eigenen Körper umgehen solle, wurden im Rahmen der sogenannten „Diätetik" entworfen. Diätetik konnte im weitesten Sinne alles sein, was die Art der Lebensführung betraf, war also weit mehr als das, was wir heute unter Diäten verstehen, auch wenn die Ernährungsfrage schon im 18. Jahrhundert breiten Raum einnahm. Ich stelle die Diätetik im folgenden in den Zusammenhang des Medikalisierungsprozesses, auch wenn diese bei weitem nicht nur von Medizinern getragen wurde. Ohne den zunehmenden Einfluß von medizinischem Gedankengut wären diätetische Schriften jedoch nicht in dem Maße erdacht, publiziert und verbreitet worden, wie es bis zur Jahrhundertwende geschah. Gleichzeitig läßt sich an diesem Phänomen sehr gut veranschaulichen, daß Medikalisierung nicht gleichbedeutend mit der Abschaffung aller moralischen Wertungen war. Was aber verstand man im 18. Jahrhundert unter Diätetik?

237

Vgl.: KOSENINA, Ernst Platners Anthropologie, 1989.

238

Siehe Kap. 1.2.3.2.

239

MILLER, Johann Martin: Siegwart. Eine Klostergeschichte, 2 Teile, Frankfurt/Leipzig 1777, hier: 2. Teil, S. 557 ff. 240 BERGK, Johann Adam: Die Kunst, Bücher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller, Jena 1799, S. 203. 241 FREVERT, Krankheit als politisches Problem, 1984, S. 34. SALZMANNS Roman in sechs Bänden stammt von 1784-1788.

92

1. Blicke auf und in den Menschen

1.3.3.1. Was ist Diätetik? Diätetik wurde als Begriff abgeleitet von Diaita: Lebensordnung.242 Kant bestätigt in seiner Definition einmal mehr den ihm zugeschriebenen Hang zur Genußfeindlichkeit: „die Diätetik wird vor allem in der Kunst das Leben zu verlängern (nicht es zu genießen) ihre Geschicklichkeit oder Wissenschaft zu beweisen haben: wie es auch Herr Hufeland so ausgedruckt haben will." 243 Mit Hufeland nennt Kant bereits einen der wichtigsten diätetischen Autoren seiner Zeit; der Bezug kommt nicht von ungefähr, denn der zitierte Auszug stammt aus einer Replik Kants auf die „Makrobiotik" seines Arztes Hufeland, die über die „Kunst, das menschliche Leben zu verlängern" geschrieben war.244 Bereits in diesem Untertitel scheint ein wichtiger Grundzug durch. Denn nun bestand die Aufgabe der medizinischen Wissenschaft oder Kunst nicht mehr nur in der Bekämpfung von Krankheiten, sondern die Dauer des Lebens selbst schien beeinflußbar.245 Es entstand die Idee, daß durch medizinisches Geschick und Wohlverhalten der Patienten das Leben nicht nur bewahrt, sondern sogar verlängert werden könne. Das aber bedeutete für den/die einzelne(n) wie so oft sowohl Befreiung als auch neue Einengung: Einerseits war Krankheit nicht länger unvermeidbares Schicksal oder gar göttliche Strafe, andererseits aber wuchs die Verantwortung für den eigenen Gesundheitszustand. Es konnte letztlich zur Pflicht erklärt werden, Kenntnisse über die „körperliche Natur" und die „Regeln der Diätetik" zu haben 246 . (Barbara Duden hat darauf hingewiesen, daß das bewußte Streben nach Gesundheit keineswegs eine überzeitliche und transkulturelle Erscheinung ist.247) Gesundheit und langes Leben gewannen noch dazu an Gewicht, da man auf staatstheoretischer Ebene die Bedeutung der Biomasse, also der Bevölkerung und ihrer Stärke im zweifachen, quantitativen und qualitativen Sinne, entdeckt hatte.248 Die alte Metapher vom Staatskörper

242

SCHRENK, Über den Umgang mit Geisteskranken, 1973, S. 40. KANT, Von der Macht des Gemüts, 1798, S. 12. 244 HUFELAND, Christoph Wilhelm: Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, Jena 1796. 245 Noch sehr skeptisch gegen die ,,seltsame[n] Mittel", die zur Lebensverlängerung angewendet würden, zeigt sich hingegen: Von den Mitteln gegen den Tod, in: Der Mensch, Theil 11, 1756, 434. Stück, S. 193-208, hier: S. 195. 246 BECKER, Rudolf Zacharias: Vorlesung über die Pflichten des Menschen, Gotha 1792, S. 79f. 247 DUDEN, Geschichte unter der Haut, 1987, S. 33. Vgl. auch: JÜTTE, Robert: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit, München/Zürich 1991, S. 55 f. 248 Vgl. dazu und allgemein: FREVERT, Krankheit als politisches Problem, 1984, S. 21; GöKKENJAN, Gerd: Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1985, S. 94f.; LABISCH, Alfons: Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt a.M./New York 1992, S. 105; WIMMER, Johannes: Ge243

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

93

wieder aufgreifend, wurde die Gesundheit des (männlichen) einzelnen mit der Gesundheit des Staatsgefüges gleichgesetzt.249 Direkten Niederschlag fanden die Bemühungen um die Gesundheitsvorsorge darin, daß diätetische Ratschläge und Vorsorgemaßnahmen auch in die wohl populärste Veröffentlichungsform für die niedrigeren Stände, die Kalender, integriert wurden. 250 Denn im Verlauf des Jahrhunderts sollte verstärkt das ,Volk' mit den diätetischen Regeln vertraut gemacht und in die Schule der Gesundheitsaufklärung geschickt werden, selbst wenn man diese Notwendigkeit bedauern mochte, galten doch die Nicht-Gebildeten, die Nicht-Stadtmenschen lange Zeit als weniger anfällig für die Leiden der Zivilisationsgesellschaft. In jedem Fall erschien es besser, auch dem Gros der Bevölkerung das gehörige Verhalten beizubringen. Außer den Kalendern bot sich hierfür, wie gesagt, das von der Kanzel gesprochene Wort an. Krankheit konnte theoretisch sowohl im traditionellen religiös ausgerichteten, als auch im neuen medizinisch-diätetischen Deutungssystem als Stigma gewertet werden, als Zeichen eines moralisch-sittlichen Versagens, das entweder eine göttliche Sanktion nach sich gezogen hatte oder aber den Zügellosen, unvorsichtig Lebenden erkranken ließ. (Ich habe in diesem zusammenfassenden Satz bewußt das Wörtchen „theoretisch" eingefügt, um herauszustellen, daß diese Bewertungen in den Diskurssystemen angelegt und auch formuliert worden sind, sie aber nicht pauschal auf die ärztliche und seelsorgerische Praxis übertragen werden können.) Bevor ich jedoch die Implikationen einer möglichen (Zwangs-)Regulierung des menschlichen Daseins durch das medizinisch-diätetische System näher analysiere, möchte ich zunächst kurz die Inhalte dieses Systems betrachten: Was hatte man alles zu beachten, wenn man in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts gemäß eines diätetischen Ratgebers leben wollte? Wer sich darüber informieren wollte, konnte schon vor dem Erscheinen von Hufelands „Makrobiotik" (1796) beispielsweise zu Daniel Wilhelm Trillers in Versen abgefaßten ,,Diätetische[n] Lebensregeln" greifen oder zu Udens „Berlinischefm] Taschenbuch" oder zu Fausts „Gesundheits-

sundheit, Krankheit und Tod im Zeitalter der Aufklärung. Fallstudien aus den habsburgischen Erbländern, Wien/Köln 1991, S. 14. 249 Vgl · may, Franz Anton: Medicinische Fastenpredigten oder Vorlesungen über Körperund Seelen-Diätetik, 2Theile, Mannheim 1793/1794, hier: l.Theil, Vorbericht unp. May spricht von der „Aehnlichkeit des menschlichen Körpers mit jenem des Staats". 250 HEBENSTREIT, Lehrsätze der medicinischen PolizeyWissenschaft, 1791, S. 260. Vgl.: LINDEMANN, Health and Healing, 1996, S. 66f. Allerdings sahen sich die Gesundheitsaufklärer (zumindest im von Lindemann untersuchten Fall Braunschweig) letztlich in ihren Erwartungen enttäuscht, und so beklagten sie, daß die Verkaufszahlen der Kalender zurückgegangen wären und das Verhalten der Bevölkerung sich kaum verändert hätte (ebd., S. 68).

94

1. Blicke auf und in den Menschen

Katechismus" - die Liste ließe sich noch lange fortführen.251 Fausts im übrigen sehr erfolgreicher „Katechismus"252 zeigt schon im Titel, um was für eine ernste Angelegenheit es sich handelte, wie unumstößlich die aufgestellten Regeln waren und daß man die Schulkinder aufs genaueste mit ihnen vertraut machen müsse. 253 Es ging allerdings nicht etwa darum, in der Sorge um die Gesundheit eine Ersatzreligion zu schaffen. Faust betonte im Gegenteil, daß die Gesundheit eine Gabe Gottes sei. 254 Auch deswegen war ihre Erhaltung eine menschliche Pflicht.

251 FAUST, Bernhard Christoph: Gesundheits-Katechismus zum Gebrauche in den Schulen, Leipzig 1794; TRILLER, Daniel Wilhelm: Diätetische Lebensregeln nebst desselben noch nicht gedruckten Zusätzen und einigen hinzugefügten philologischen Anmerkungen, vermehrt herausgegeben von Carl Friedrich Triller, Wittenberg 1785; UDEN, Konrad Friedrich: Berlinisches Taschenbuch für Freunde der Gesundheit auf das Jahr 1783, Berlin 1783. Auch Unzers „Arzt" verfolgte ein klar diätetisches Konzept. (Vgl.: Unzer, Der Arzt, 2. Aufl., Teil 1, 1760 (1. Aufl., 1759), Vorrede, unp.) Zu den „diätetisch unterweisende(n) Zeitschriften" zählt DREISSIGACKER (Populärmedizinische Zeitschriften, 1970, S. 83) außerdem folgende: „Der Arzt der Frauenzimmer" (1771-1773); „Medicinische Unterhaltungen" (1781); „Diätetisches Wochenblatt für alle Stände, oder gemeinnützige Aufsätze und Abhandlungen zur Erhaltung der Gesundheit" (1781-1783); „Der unterhaltende Arzt. Ueber Gesundheitspflege, Schönheit, Medicinalwesen, Religion und Sitten" (1785-1789); „Allgemeine Gesundheitsregeln" (1790); „Hygea. Eine heilkundige Zeitschrift dem weiblichen Geschlechte von Stande vorzüglich gewidmet" (1793-1794); „Gesundheitsalmanach zum Gebrauch für die aufgeklärten Stände Deutschlands" (1794); „Der Gesundheitstempel. Eine diätetische Monatsschrift zur angenehmen und belehrenden Unterhaltung für Damen und Herren" (1797-1802). Eine weitere Gruppe von Zeitschriften definiert DREISSIGACKER (ebd., S. 88) als „moralhygienisch aufklärende"; er stellt aber selbst fest, daß sich diese Zeitschriften inhaltlich kaum von den diätetischen unterschieden. Als das Spezifikum dieser zweiten Gruppe sieht er vielmehr „die Verbindung von Moral und Medizin". Diätetische Zielsetzungen erscheinen mir jedoch fast immer mit moralischen verbunden zu sein. Das ergibt sich schon allein daraus, daß die Gesundheit des einzelnen auch für das Wohl der Allgemeinheit bedeutsam war, der einzelne also in der Sorge für sich selbst auch einer gesellschaftlichen Verantwortlichkeit nachkommen sollte. Daher sollen an dieser Stelle auch die „moralhygienischen" Zeitschriften nicht ungenannt bleiben: „Der patriotische Medicus" (1724-1727); „Allgemeinnützliches Wochenblatt" (1786-1788); „Archiv gemeinnüziger physischer und medizinischer Kenntnissse" (1787-1791); „Gemeinnüziges Wochenblatt physischen und medicinischen Inhalts" (1792); „Wochenblatt des aufrichtigen Volksarztes" (1796-1797); „Archiv der Aerzte und Seelsorger wider die Pockennoth" (1796-1799). Außerdem hatte zum Beispiel das eben erwähnte „Archiv gemeinnütziger physischer und medizinischer Kenntnisse" eine eigene Rubrik zur Diätetik. 252

FAUSTS „Katechismus" wurde in zehn Jahren 150 000 mal verkauft und in 10 Sprachen übersetzt. (ALBER, Wolfgang: Leib - Seele - Kultur. Diätetik als Modell sozialer Wirklichkeit. Skizzen zur Ideen- und Wirkungsgeschichte, in: JEGGLE, Utz (Hrsg.): Tübinger Beiträge zur Volkskultur, Tübingen 1986, S. 2 9 ^ 9 , hier: S. 39.) 253

A u f f a l l i g ist, d a ß sich die R e g e l n in F a u s t s B u c h in d e r A u f l a g e v o n 1826 ( L e i p z i g )

ziemlich vermehrt hatten. Das System war also noch ausgebaut worden. 254 FAUST, Gesundheits-Katechismus, 1794, S. 4.

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

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Nach allgemeiner Ansicht umfaßte die Diätetik sechs Teilbereiche, nämlich die sogenannten „nicht natürliche[n] Dinge": Licht und Luft; Speise und Trank, Arbeit und Ruhe; Schlaf und Wachen; Ausscheidungen und Absonderungen; Anregung und Ausgleich des Gemüts. 255 Als „nicht natürlich" wurden diese Angelegenheiten deswegen angesehen, „weil sie nemlich, obschon ohne dieselben ein thierischer Körper nicht leben kann, dennoch seine eigentliche Natur nicht ausmachen" 256 ; sie also nicht Teil des Körpers selbst waren. Das oberste diätetische Gebot war eigentlich in allen Lebensbereichen das Maßhalten: Man studiere nicht zu viel, man schweife nicht aus, wenn es um körperliche oder seelische Leidenschaften gehe, man schlafe nicht zu viel. Solche Zurückhaltung entsprach sowohl der Maxime aufklärerisch-rationaler Vernünftigkeit und Affektkontrolle, als auch der christlichen Ablehnung von sinnlicher Überschwenglichkeit. Die Belohnung für entsprechendes, vielleicht weniger genußvolles Verhalten war klar (und auf Genuß kam es ja laut Kant nicht an 257 ). Man könne sich darauf verlassen, versicherte Unzer, „daß die Mäßigkeit eine von den Haupttugenden ist, wodurch wir vermögend sind, unser Leben sogar über das gewöhnliche Ziel der Sterblichen zu verlängern."258 Auch für die richtige Ernährung galt das nämliche: So schrieb 1752 Loen, laut Busse ein „Vorkämpfer der Diätetik"259, daß man nichts Scharfes essen solle und „keine Speisen, die französische Namen führen; als da sind Potage, Fricassée, Boeuf à la mode, Ragouts à la d'aube, Gelée, Arlequin und dergleichen. Ferner nichts von Pasteten, Torten, Back- und Zuckerwerck, ausgenommen ein wenig eingemachte Pomerantzen und was nicht in Butter gebacken wird. Ingwer, Pfeffer und Muscat solten wir guten theils den Indianern lassen." 260

Diese Mahnung, bei den einheimischen Nahrungsmitteln zu bleiben, erinnert an die Ratschläge für Hypochondristen und zieht sich deutlich durch die diätetische Literatur. So lamentierte Johann Friedrich Zückert: „Bios der Europäer ist mit der gütigen und höchst weisen Einrichtung des Schöpfers nicht zufrieden [anders als Afrikaner, Asiaten und Amerikaner], sondern mit einer unersättlichen Begierde und mit der größten Lebensgefahr bringt er aus allen dreyen Welttheilen eine

255

SCHRENK, Über den Umgang mit Geisteskranken, 1973, S. 40. 256 WEBER, Friedrich August: Lebensordnung für Gesunde und Kranke, übers, u. verm. v. Hofr. Richter, Heidelberg/Leipzig 1786, S. 3. 257 Siehe vorheriges Zitat aus: KANT, Von der Macht des Gemüts, 1798, S. 12. 258 UNZER, Der Arzt, Teil 1, 1760, S. 244 (= „Vorteile der Mäßigkeit im Genüsse der Speisen", S. 241-257). Auch: ebd., Teil 2, S. 390f. (= Regeln, zu einem hohen Alter zu gelangen, S. 385-399). Vgl. allgemein dazu: BEGEMANN, Christian: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1987, S. 34. 259 BUSSE, Walter: Der Hypochondrist in der deutschen Literatur der Aufklärung, Diss. Mainz 1952, S. 110. 260 LOEN, Michael von: Von den Mitteln die Gesundheit zu erhalten, in: ders.: Gesammelte kleine Schriften (1749-1752), besorgt und herausgegeben von J. B. Müller, Bd. IV, Frankfurt/Leipzig 1752, Nachdr. Frankfurt a.M. 1972, S. 159-182, hier: S. 167.

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1. Blicke auf und in den Menschen

Menge von Nahrungsmitteln zusammen, deren er völlig entbehren kann. Wir brauchten gar keinen Pfeffer, Zimmt, Cardamom, keine Cubeben, Gewürznelken, Muscatenniisse u. s. w. Diese Gewürze sollten uns eigentlich nur zur Arzney dienen, und wir sollten sie ruhig den Einwohnern heißer Länder überlassen, die solcher starken Gewürze zur Stärkung ihrer von der Sonnenhitze geschwächten Fasern, und zur Ersetzung der durch die übermäßige Ausdünstung verschwendeten Nervengeister, bedürfen."261

Ich habe Zückert hier auch deswegen so ausführlich zitiert, weil in diesem Ausschnitt unvermittelt die medizinische Theorie wieder auftaucht: Es ging nicht nur um die Ablehnung von fremden Speisen, von überflüssigen und folglich luxusverdächtigen Zutaten, sondern die Begründung stützte sich sehr fest auf Überlegungen über die nervliche Konstitution des Menschen. Die Nerven sind es, die auf die klimatischen Bedingungen reagieren und die entsprechend dieser Bedingungen angeregt oder beruhigt werden müssen. Einer der Grundgedanken der Diätetik lautete, daß die Art zu leben, etwa die Nahrungsmittel, die man sich zuführte, nicht nur auf den Körper, sondern auch auf die Seele, ja auf den Charakter des Menschen wirkten. Diese Annahme stand offensichtlich in Einklang mit den Konzepten einer psycho-physischen Wechselwirkung, die im ausgehenden 18. Jahrhundert die medizinisch-anthropologischen Überlegungen bestimmten; darauf bin ich im vorangegangenen Kapitel schon näher eingegangen. Wer zu viel Fleisch aß, riskierte beispielsweise zum Choleriker zu werden, 262 wer seine Verdauung mit schwerer Kost malträtierte, lief Gefahr, an Hypochondrie zu erkranken, was teilweise auch eine charakterliche Eigenschaft war (diesen Effekt haben wir ebenfalls bereits im vorigen Kapitel näher kennengelernt). So vielzählig die diätetischen Schriften waren, so einhellig waren sie in ihren Ratschlägen. Denn auffalligerweise finden sich außer generellen Seitenhieben gegen die Kollegen auf den Einleitungsseiten - Klagen über die „Sparsamkeit fremder Beyträge" etwa 263 - kaum Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Autoren. Es schien im Gegenteil ein weitreichender Konsens darüber zu bestehen, was Inhalt eines diätetischen Ratgebers zu sein hatte. Selbst in Detailproblemen war man sich ziemlich einig und das, obwohl in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts scharfe Debatten auf fast allen medizinischen Gebieten tobten. Das diätetische Modell der Aufklärungszeit beschrieb keine Naturgegebenheiten, vielmehr dürfte deutlich geworden sein, daß es sich um ein künstliches System handelte. Was bleibt also als Erklärung für die auffallige Einmütigkeit der Diätetiker? Die große Übereinstimmung der Lebensregeln und Ernährungsvorschläge scheinen mir ein Zeugnis dafür zu sein, daß man eine solche Übereinstimmung wollte. Man wollte Einheitlichkeit der Diätetik, nicht etwa 261 ZÜCKERT, Johann Friedrich: Allgemeine Abhandlung von den Nahrungsmitteln, 2. Aufl., mit Anmerkungen von Kurt Sprengel, Berlin 1790, S. 277 f. 262 Ebd., S. 265. 263 FRANK, Johann Peter: System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 2, 3. verb. Aufl., s.l. 1786, S. IV.

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neue Unordnung durch divergierende Vorstellungen. Das heißt nicht, daß man sich gezielt absprach, aber man hielt sich mehr oder weniger bewußt mit Querschlägen zurück. Notwendige Voraussetzung dafür war, daß sich die diätetische Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts auf eine lange Tradition bezog. Die einzelnen Autoren hatten zwar verschiedene Erklärungen (also medizintheoretische Modelle) für die Richtigkeit der alten Vorgaben, ungeachtet dessen übernahmen sie auf der konkret-praktischen Ebene die alten Vorstellungen und verordneten daher die gleichen Verhaltensweisen. 1.3.3.2. Diätetik vor dem 18. Jahrhundert und Entwicklungen seitdem Ich habe bewußt zunächst einen kurzen Blick auf das späte 18. Jahrhundert und die zu dieser Zeit bestehenden diätetischen Ideen geworfen, ohne auf deren Vorgeschichte einzugehen. Auf diese Weise vermeide ich es, von vornherein meinen Untersuchungszeitraum lediglich als Folge- oder Gegenbild des Vorangegangenen zu zeichnen, und entgehe außerdem der Gefahr einer Fixierung auf Innovationen. Keineswegs soll unterschlagen werden, daß sich die dargestellten diätetischen Konzepte weniger durch ihre Neuartigkeit auszeichneten als durch ihre lange Vorgeschichte und Traditionslinie. Trotz sich verändernder Begriffe, trotz der Konjunktur der Nerventheorien sind uns viele der jetzt formulierten Ideen bereits aus der Renaissancezeit vertraut. Eine Anknüpfung bis in die Antike ergibt sich schon dadurch, daß die Sorge um die Balance der Körperkräfte und viele der Möglichkeiten, hier Einfluß zu nehmen, immer noch auf humoralpathologischen Modellen fußten. Aus der Vier-Säfte-Theorie stammte beispielsweise die Vehemenz, mit der das Gros der Autoren im 18. Jahrhundert auf eine geregelte Verdauung pochte. 264 Als einer der bedeutendsten Vorläufer der späteren Diätetik gilt Marsilius Ficino, dessen „De vita libri tres" von 1482 die antiken Ideen über eine gesunde Lebensführung wieder aufgriffen und außerdem eine äußerst resistente Tradition erweckten, nämlich jene, besondere Lebensregeln für den Gelehrten zu entwerfen. 265 Im 16. Jahrhundert rollte dann bereits eine erste Welle medizinisch-diätetischer Ratgeberliteratur über Europa, die von neuen Möglichkeiten des Buchdrucks vorangetrieben wurde, während man sich inhaltlich an die Humoralpathologie hielt. 266 Die Wiederholungen im 18. Jahrhundert sind bestechend: Die Säftelehre erlebte eine letzte Wiedergeburt und die Welt der Bücher und Zeitschriften eine zweite Revolution, die diesmal (und erstmals) zu einer 264

So etwa in der Hypochondriebekämpfung: KÄMPF, Abhandlung von einer neuen Methode, 1786. 265 LUMME, Christoph: Höllenfleisch und Heiligtum. Der menschliche Körper in autobiographischen Texten des 16. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1996, S. 76. Vgl. auch: KÜMMEL, Wemer Friedrich: Der Homo litteratus und die Kunst, gesund zu leben. Zur Entfaltung eines Zweiges der Diätetik im Humanismus, in: SCHMITZ, Rudolf/KEIL, Gundolf (Hrsg.): Humanismus und Medizin, Weinheim 1984, S. 67-85, hier: S. 75. 266 LUMME, Höllenfleisch und Heiligtum, 1996, S. 99.

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massenhaften Produktion führte. Das Fortleben älterer Traditionen wird offenkundig in einer Publikation des Philosophen Karl Heinrich Heydenreich über die „Kunst zu leben". 267 Diese Diätetik enthält auf 174 Seiten 200 Lebensregeln, die Heydenreich nach eigener Angabe direkt aus Gracians „el Oracula Manuel, y Arte de Prudentia" übernommen hat. Was aber veränderte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts, wenn man die diätetischen Ratgeber betrachtet? Im Vergleich mit den älteren „moralischen Wochenschriften", die am Beginn des Jahrhunderts den Zeitschriftenmarkt bestimmten und die zwischen vielen anderen Themen auch Lebens- und Gesundheitsregeln beinhalteten, läßt sich in den Diätetiken der letzten Jahrzehnte teilweise ein stärkerer Hang zu Rigidität erkennen. Martens hält fest, daß in den frühen „moralischen Wochenschriften" die Aufforderung zur Tugend „auf freundliche, nicht selten scherzhafte Weise" erfolgt sei. 268 Von dieser Leichtigkeit findet sich bei Hufeland, Unzer oder Faust nichts. Wog hier inzwischen der moralische Anspruch zu schwer? War Gesundheit zur Pflicht geworden? Dem entspräche die Ansicht Bilgers, daß den populärmedizinischen Schriften dieser Zeit „eine moralisierende, pädagogische Tendenz, die über die Maßregeln der alten Diätetik deutlich hinausgeht", gemeinsam gewesen sei. 269 Ähnlich konstatiert Böning, daß erst in den 1770ern die „Gesunderhaltung auch zu einer Frage der Sittlichkeit und Moral" wurde. 270 Sittlichkeit und Moral aber werden in der Forschung fast immer in einem Atemzug mit den entstehenden Konzepten von Bürgerlichkeit genannt. Entsprechend verwundert es nicht, daß als ein (ge)wichtiger Unterschied zur vorangegangenen Zeit außerdem die Verknüpfung von diätetischen Ideen und bürgerlichen Normvorstellungen gewertet wird, und das besonders in dem Sinn, daß hier eine Möglichkeit zur Abgrenzung gegenüber dem Adel bestanden habe. 271 In den Schriften selbst wird diese Opposition nicht formuliert - was auf politisches Kalkül zurückzuführen 267

HEYDENREICH, Karl Heinrich: Die Kunst zu leben. Vortreffliche Regeln eines alten Weltmannes fürs menschliche Leben, Leipzig 1786. 268 MARTENS, Wolfgang: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, S. 265. 2 n zu nehmen. Denn: „Medizin und Ärzte spiegeln als gegebene Bestandteile der gesellschaftlichen Entwicklung die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen wider" (ebd., S. 266).

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

111

Die in den Texten zur medizinischen Polizey formulierten Ideen und deren teilweise Umsetzung in den Medizinalverfassungen zeigen, wie wichtig staatliche Aufsicht, also Überwachung von außen, genommen wurde und daß keineswegs alle Kontrolle in das Individuum hinein verlagert wurde. Entsprechend besaß beispielsweise das preußische Collegium Medicum nicht nur die Aufsichtsgewalt über alle „Medizinal-Personen", sondern auch juristische Kompetenzen, um Verstöße gegen die „Medizinal-Gesetze" zu ahnden. 325 Disziplinierung meint immer (auch) Angleichung an einen vorgegebenen Sollwert. Dazu bedarf es eines Vergleichs mit den wahrgenommenen Gegebenheiten. Jedoch ist die Wahrnehmung selbst ebenfalls veränderlich und abhängig von kulturellen Bedingungen wie Betrachtungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Entscheidend ist für uns die Selbstwahrnehmung des Individuums; das hypochondrische Syndrom erscheint ja geradezu als ein Syndrom der übersteigerten Selbstbeobachtung in Kombination mit einem überkritischen Normvergleich. Auf einer mentalitätsgeschichtlichen Ebene steht hier allerdings ein weit komplexerer Prozeß im Hintergrund: Seit der Renaissance wurde die Eigenständigkeit der Selbstwahrnehmung stetig zurückgedrängt und durch eine Angleichung an die Fremdwahrnehmung ersetzt. Das heißt etwa, daß die Erfahrung des eigenen Körpers mit objektivierten Außenbildern kontrastiert wurde. Solche Außenbilder wurden von der medizinischen Wissenschaft produziert, genauso aber durch neuartige, das Abbild nicht verzerrende Spiegel. 326 So trat das Selbst auf der ersten Station dieser Wahrnehmungsentwicklung vor einen Spiegel, der ihm plötzlich und anders als die verschwommenen Wasserbilder, die ihm zuvor genügen mußten, ein scharfes Abbild entgegenhielt; es stand und betrachtete sich und schuf sich dabei auch ein eigenes neues Bild von sich. 327 Die beschriebenen Wahrnehmungsveränderungen lassen nochmals Zweifel an einer vollständigen Ablösung der Frewddisziplinierung durch die Selbstdisziplinierung aufkommen. Denn die neuen Selbstbilder bedurften immer wieder

Wie bereits erwähnt (siehe FN 250) schildert LINDEMANN, daß die Volksaufklärer ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt sahen. Auch deswegen hätte man sich verstärkt auf administrative Maßnahmen verlegt. (LINDEMANN, Health and Healing, 1996, S. 68.) Ich denke allerdings, daß man hier nicht von einem Ersatz der einen Methode durch die andere ausgehen kann. Diätetische Ratgeber wurden immer noch fleißig publiziert und Fausts „Katechismus", der - wie Lindemann selbst anführt - in Hessen als Schullektüre eingeführt wurde, erschien erst 1794. 325 Vgl.: LIEBERE, J. C. G. (Hrsg.): Auszüge aus den Königl. Preußischen Polizey-Gesetzen, in Beziehung auf Gesundheit und Leben der Menschen, Magdeburg 1805, S. 1 f. 326

327

Vgl.: BÖHME/BÖHME, D a s Andere, 1996, S. 53.

LACAN hat ausführlich über die Bedeutung dieses Momentes in der Genese des Kleinkindes referiert und ihn als „Spiegelstadium" definiert. (LACAN, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, in: ders.: Schriften, hrsg. v. Norbert Haas, 3. Aufl., Weinheim/Berlin 1991 (erstmals 1949), S. 61-70.)

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1. Blicke auf und in den Menschen

der Vorgabe eines Außenbildes, mit welchem sie sich vergleichen konnten. Daher können wir uns günstiger ein Zusammenwirken von Reaktion und Kreation vorstellen; neuere kulturwissenschaftliche Konzepte würden von einem ,performativen Akt' sprechen.328 In diesem Zusammenhang steht genauso die Übernahme des medizinischen Blickes in die Selbstbeobachtung, ja: der medizinische Blick als der - seinem Anspruch nach - ernsthafteste, als der wissenschaftliche, kreierte eine besonders starre Schablone der Wahrnehmung. Dazu trug bei, daß der Medizin ein unverrückbares System der Normierung und der Nomenklatur zugrunde lag, das die Unmittelbarkeit der Eigenwahrnehmung brechen mußte. 329 Solche Normierung und Bezeichnung waren indes Eigenarten, die die Aufklärungsgesellschaft in verschiedenen Spielarten produzierte. Die Dinge beim Namen zu nennen, bedeutete ihr schließlich per se, sie ins rechte Licht zu setzen. So legte Pestalozzi großen Wert darauf, daß den Kindern die Bezeichnungen der einzelnen Körperteile nahegebracht werden, und er entwickelte dabei eine absurde Genauigkeit: „Die rechte Augenbraue liegt über dem rechten oberen Augenlid, unten an der rechten Seite der Stirn. Die linke Augenbraue liegt über dem linken oberen Augenlid, unten an der linken Seite der Stirn" 330 - so wurden die Gliedmaßen wie ein lateinisches Substantiv durchdekliniert und damit die subjektive Eigenwahrnehmung unmöglich gemacht. Eng verwandt mit solcher Nomenklatur ist die Sortierung nach normal und unnormal, wie sie seit dem späten 18. Jahrhundert zu immer größerer Perfektion gebracht wurde. Es geht nicht darum, für die vorangehende Zeit goldene Zustände zu postulieren; das hieße, die Ausgrenzungsmechanismen von Religion und Absolutismus verharmlosen. Entscheidend ist, daß die Differenzierungen von normal und unnormal, untermauert durch eine medizinische Begründung, neue Räume in Sprache und Gesellschaft erhielten: das Regelgemäße wurde festgeschrieben·, das Regelwidrige einer besonderen Behandlung, 328

Vgl. etwa: PARKER, Andrew (Hrsg.): Performativity and Performance, New York 1995. 329 Vgl.: DENNELER, Iris: Die Kehrseite der Vernunft. Zur Widersetzlichkeit der Literatur in Spätaufklärung und Romantik, München 1996, S. 33: Die Flut der Schriften über alle Arten von Außenseitern sei weniger das Ergebnis von Verständnis, sondern des Bedürfnisses, die Normen klar festzulegen. Allerdings gilt es zu beachten, daß natürlich auch den vorhergehenden Betrachtungsarten, wie sie mythischen oder religiösen Systemen zu eigen waren, feste Vorgaben zugrunde lagen. 330 PESTALOZZI, Buch der Mütter. Sämtl. Werke, hrsg. von Buchenau, Spranger, Stettenbacher, Leipzig 1927 ff., Bd. 15, S. 347 ff. (erstmals 1803), zitiert nach: BÖHME/BÖHME: Das Andere, 1996, S. 65. Vgl. auch: FOUCAULT, Überwachen und Strafen, 1976, S. 174f. Die Verbildung des Kindes ist also nicht nur eine Eigenschaft der rein höfischen Kultur hier geht BEZOLD (Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz, Würzburg 1984, S. 158) fehl, er weist aber zurecht auf die Kritik Moritz' an der unnatürlichen Erziehung der Kinder hin - vgl.: MORITZ, Karl Philipp: Vorschlag zu einem Magazin, S. 496-499.

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113

oft an einem besonderen Ort unterzogen. Dahinter stand oft ein Besserungsgedanke und -wille, egal, ob es sich um Kranke, Ver-Rückte oder Delinquenten handelte. Bei diesen Separierungen spielte die Medizin als sich etablierende Disziplin eine wichtige Rolle, gerade auch, indem sie Ideen und Möglichkeiten für eine Besserung anbot. Viele denken an diesem Punkt voraussichtlich an Foucaults These der „großen Gefangenschaft", die die Verwahrung von Andersartigen, besonders „Wahnsinnigen" beschreibt.331 Foucaults Interpretation hat von geschichtswissenschaftlicher Seite überaus herbe Kritik erfahren. 332 Dessen ungeachtet hat die Überlegung Foucaults, daß durch medizinisch-pathologische Klassifizierungen ein neues Instrumentarium der Ausgrenzung geschaffen werden konnte, bis heute Bestand. Wer fragt, ob Disziplinierung ein Charakteristikum des späten 18. Jahrhunderts war, kommt nicht umhin die Stellung der Frau(en) zu berücksichtigen. Auch in ihrem Fall wirkte sich die Klassifizierung als etwas Besonderes auf Wahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen aus, auch in ihrem Fall wirkten medizinische Theorien an der Ausbildung der Normvorstellungen mit. 333 Wie das „Andere der Vernunft" sei auch das „andere Geschlecht" 334 ein Produkt, eine Konstruktion aufgeklärt-rationalen Denkens. In den Schriften der medizinischen Polizey und der Diätetik widerfuhr dem weiblichen Geschlecht eine merkwürdig zwiespältige Behandlung: Einerseits blieben Frauen in weiten Teilen der Theorien außen vor und werden aus der männlichen Sprachwelt ausgeschlossen, da das Männliche als das Normale den Ton angab.335 Andererseits widmete man ihnen in bestimmten Kapiteln besondere Aufmerksamkeit, näm-

331

FOUCAULT, Wahnsinn und Gesellschaft, 1996, S. 68-98 u. S. 394-400. Vgl. außerdem: Ders., Überwachen und Strafen, 1976, S. 256. 332 Als Kritiker besonders: PORTER, Roy: Mind-Forg'd Manacles. A History of Madness in England from the Restoration to the Regency, London 1987, S. 5 - 9 u. S. llOf. Auch: SCULL, Andrew: The Most Solitary of Afflictions. Madness and Society in Britain 1700-1900, New Haven/London 1993, S. 7. 333 Vgl. LAQUEUR, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, München 1996 (Original 1990), S. 177-181. 334 Der Begriff „das andere Geschlecht" geht zurück auf: BEAUVOIR, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1951 (Original 1949). 335 Die Beispiele sind vielfaltig. Besonders anschaulich: METZGER, Handbuch der Staatsarzneykunde, 1787, S. 11: .Jeder Mensch, welcher mannbar und gesund ist, fühlt den mächtigen Trieb zur Begattung und Fortpflanzung seines Geschlechts. Da nun aber die zügellose und aussereheliche Fortpflanzung die Ordnung im Staate stört, so muß die eheliche desto mehr begünstigt werden." .Jeder, der eine rechtmäßige Gattin anständig zu versorgen im Stande ist, und doch lieber außerehelich seinen Lüsten fröhnt, ist ein sittlich verdorbener Mensch." Die Verwendung der männlichen Bezeichnungsformen kann nicht als das weibliche einschließende Sprachpraxis vereinfacht werden. Solche Deutungen wiederholen lediglich die Ausgrenzung. (So etwa: FUNKE, Gerhard: Aufklärung - eine Frage der moralischen Haltung?, in: SCHOEPS, Hans-Joachim (Hrsg.): Zeitgeist der Aufklärung, Paderborn 1972, S. 7-41.)

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1. Blicke auf und in den Menschen

lieh dann, wenn es um Geburt und Sorge für die Nachkommenschaft geht. Erinnert man sich an die Äußerungen Franks über das Selbststillen oder analysiert man ähnlich angelegte Passagen in Johann Daniel Metzgers „Handbuch", dann wird deutlich, daß die weibliche Rolle nahezu ausschließlich durch die angestrebte Produktion von Bevölkerungsmitgliedern Gewicht erhielt.336 „Unwissende Hebammen" waren dann nicht etwa schädlich für das Wohl der werdenden Mütter, sondern „eine entvölkernde Pest des Staats."337 Nicht von ungefähr klagten die Ärzte notorisch darüber, daß, wenn sie zu einem Patienten gerufen würden, die Frauen des Hauses sich ihrem Wirken widersetzten.338 Daß trotzdem vieles an weiblichem Wissen und Fühlen verloren ging, ist, wie ich denke, nicht nur ein Mythos des Feminismus. Charakteristisch für die Deklassierung der weiblichen Heilkräfte (im doppelten Sinne) ist beispielsweise die Forderung, die Hebammen eines Ortes sollten der Aufsicht eines (männlichen) „Geburtshelfers" unterstellt werden. 339 Deutlich wird, daß es um die Ausweitung von Macht ging, um die Festigung des akademisch-medizinischen Standes, um eine Hierarchisierung. Wie sonst sollte man folgendes, ungewollt fast komische, Zitat interpretieren: „Sie [die Frauen] wollen klüger seyn als die Männer; und wenn sie es auch wären, so sind sie doch nicht gelehrt. Also, so lang keine Frau aufs Rathhauß gelassen wird, so lasset sie

336

METZGER, Handbuch der Staatsarzneykunde, 1787, S. 18: „Die Landes-Obrigkeit würde den Endzwek der Bevölkerung verfehlen, wann nicht alle ihre Sorge dahin ginge, alles aus dem Wege zu räumen, was eine unreife oder frühzeitige Geburt bey Schwangeren veranlassen könnte." 337 Ebd., S. 21. Metzger ist allerdings als ein überdurchschnittlicher Eiferer zu betrachten; anders als andere Autoren betreibt er auch keine kritische Reflexion der eigenen Zunft. Anders z.B.: ERHARD, Theorie der Geseze, 1800. Angesichts solcher und ähnlicher Klassifizierungen verfolgte die feministisch orientierte Forschung die Frage, ob im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht nur die Disziplinierung des Menschen, sondern auch die besondere Unterdrückung des Weiblichen forciert wurde. (Vgl.: FREVERT, Ute: Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a . M . 1986, S. 20f.) Es ist eine vielfach belegte These, daß die Philosophie und Anthropologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts die Polarität der Geschlechter neu definierte und, indem sie sie als eine natürliche Gegebenheit festlegte, zementierte. (Etwa. BERRIOT-SALVADORE, Evelyne: Der medizinische und andere wissenschaftliche Diskurse, in: FARGE, Arlette/DAVIS, Natalie Zemon (Hrsg.): Geschichte der Frauen, Bd. 3 (= Frühe Neuzeit), Frankfurt a. M./New York 1994, S. 367-407, hier: S. 407.) Allerdings gilt auch: Einerseits sind die Dichotomiemodelle der Geschlechtlichkeit durchaus auch von Frauen (mit)getragen worden, andererseits hat die Forschung der letzten Jahrzehnte herausgearbeitet, daß es trotz allem (Aktions)Räume für Frauen gab. So hat etwa Linda COLLEY die Bedeutung von weiblicher Aktivität bei der Konstituierung von nationalen Identitäen herausgearbeitet. (COLLEY, Linda: Britons. Forging the Nation 1707,1837, New Haven/London 1992, S. 262ff.) 338 339

FREVERT, Krankheit als politisches Problem, 1984, S. 48. Einige ohnmasgebliche und wohlgemeinte Vorschläge, 1791, S. 182.

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

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auch nicht zum Rath am Krankenbette."340 In diesem Sinne wirkte Medikalisierung folglich als Akademisierung, die weibliche Heilerinnen aus dem Gesundheitswesen verdrängen konnte. Der Einflußgewinn der (gelehrten) Medizin veränderte jedoch noch in anderer Weise die Definition der Geschlechter. Frauen galten als das empfindliche Geschlecht341 und daher als für bestimmte Aufgaben nicht geeignet. Dazu wurde die körperliche Differenz der Geschlechter neu - und nicht zum Vorteil der Frauen - festgelegt. 342 Frauen seien von Natur aus für die Sphäre des Hauses vorbestimmt; weibliche Sexualität wurde biologistisch herabgewürdigt.343 Die Differenzierung der Geschlechter ist schließlich auch für den Zusammenhang von Medikalisierung und moralischen Bewertungen relevant. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß manche der Kuren, die für Männer als äußerst heilsam galten, für Frauen aus moralischen Gründen nicht angewendet werden konnten. Moralische Überlegungen werden auch in einem von Reil angeführten Beispiel nicht ohne Einfluß gewesen sein, selbst wenn er eher pragmatisch-praktisch argumentiert: Für melancholische Männer könne der Beischlaf durchaus eine günstige therapeutische Wirkung haben, bei Frauen lasse sich diese Methode allerdings schlecht anwenden: „Männern kann man durch eine öffentliche Dirne, Weibern schwerer genügen, weil sie schwanger werden, und ihr Uebel auf die Frucht forterben können." 344 Die Unannehmlichkeiten, die der Frau aus einer solchen Schwangerschaft erwachsen könnten, erwähnt Reil nicht. Die Biologie der Frau, die als etwas Natürliches' besondere Beweiskraft hatte, führt auch Frank in seine „Medicinische Polizey" als Argument ein, um Frauen vom übermäßigen Tanzen abzuhalten: „Tausend Erfahrungen haben bewiesen, daß das weibliche Geschlecht, wenn es in seinem Monatlichen begriffen ist, sich durch das Tanzen meistens zu Grund richtet." Man könne diese Angelegenheit zwar nicht direkt überwachen, aber durchaus die Eltern haftbar machen, die nicht genug Sorge für ihre Tochter getragen hätten. 345 Wie wirkten Aufklärung und die beschriebene Medikalisierung zusammen und welche neuen Bedeutungen schufen sie? Böhme und Böhme gehen grundsätzlich davon aus, daß der Prozeß der Aufklärung als ein Prozeß der Verdrän340

SENFFT, Α. Α.: Gesundheitskatechismus für das Landvolk und den gemeinen Mann, Berlin 1781, S. 324, zitiert nach: FREVERT, Krankheit als politisches Problem, 1984, S. 48. Vgl. auch: BARTHEL, Medizinische Polizey, 1989, S. 163. 341 Etwa: PLATNER, Briefe eines Arztes, 1770, Bd. 1, S. 7. 342 Vgl.: LAQUEUR, Auf den Leib geschrieben, 1996, S. 172 ff. u. passim. 343 Vgl.: ebd., S.215. Diese Entwicklung ist übrigens von Lichtenberg als Gefahr aufgezeigt worden. (KLEISNER, Friederike: Körper und Seele bei Georg Christoph Lichtenberg, Würzburg 1998, S. 42. Kleiser bezieht sich auf: Lichtenberg, Sudelbücher, 1968, D 445.) 344 REIL, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, Halle 1803, S. 186. 345 FRANK, System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 2,1786, S. 672 f.

116

1. Blicke auf und in den Menschen

gung aufzufassen sei, und eine derartige Interpretation ist durchaus mit Foucaults Thesen vergleichbar.346 Mit der Etablierung der rationalen Vernunft, die ihr Anderes nicht länger unbe/ie//igt neben sich duldet, mußte alles Undurchschaubare vertrieben werden. In diesen Zusammenhang lassen sich auch Teile des Medikalisierungprozesses einordnen, besonders die Geometrisierung des Blicks, wie sie mit dem Bedeutungsgewinn der Anatomie einherging, und die Umdeutung der Leiblichkeit des Menschen zum Körperobjekt. Und doch müssen beim Lesen dieser Beurteilung, die letztlich immer auch eine Verurteilung mit ausspricht, Vorbehalte bleiben, weil hier, der analysierten Denkweise eigentlich ähnlich, zu Pauschalisierungen gegriffen wird. Solche Pauschalisierungen weisen uns auf ein grundsätzliches Problem der Zivilisierungs- und Disziplinierungsforschung hin: Die Verortung der im 18. Jahrhundert festzustellenden Zwänge und Kontrollen gerät allzu leicht zu einer fast schon nostalgischen Verlustgeschichte. Vor der Aufklärung hätte der Mensch, ein natürlicheres, also ein besseres Verhältnis zu seinem Körper und zu seiner Gesamtheit gehabt. Allerdings basieren solche Annahmen häufig auf bloßer, romantisch verklärender Spekulation.347 Lumme, der sich eingehend mit der Körperwahrnehmung in Autobiographien des 16. Jahrhunderts befaßt hat, kritisiert daher: „Die häufig stillschweigend oder explizit vorausgesetzte physisch-spirituelle Einheit als Charakteristikum des Körperbewußtseins vor Einsetzen des neuzeitlichen Zivilisationsprozesses entlarvt sich als Zerrbild einer vielschichtigeren Wirklichkeit, als Fehlinterpretation der unbestreitbaren Tatsache, daß Menschen ohne die heute selbstverständlichen Hilfen der Wissenschaften unmittelbarer auf den Organismus verwiesen waren und ihm eine entsprechend zentrale Position in ihrem Weltbild einräumten."348 Daraus ist

346

BÖHME/BÖHME, S. 6; FOUCAULT, Wahnsinn und Gesellschaft, 1996, S. 398.

Zum zunehmenden Einfluß der Mediziner vgl. auch: FOUCAULT, Die Geburt der Klinik, 1988, S. 4 7 f . 347 Vgl.: RIEDEL, Wolfgang: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: Intern. Archiv der Sozialgeschichte der Literatur, 6. Sonderheft, 1994, S. 9 3 - 1 5 7 , hier: S. 100. Eine andere Interpretation deklariert im Gegenteil Medikalisierung als Befreiung. Sinnfällig ist beispielsweise die Analyse von Adam Bernds Lebensgeschichte durch SCHINDLER. Dessen Deutung, Bernd habe den alten „irrationalen Sündenleib" durch einen rationalen Körper ersetzt, muß jedoch fehlgehen. Letztlich zwängt Schindler nämlich Bernd in genau jene Kategorien, die er selbst kritisiert, und verweigert ihm damit die eigene Körpererfahrung. Viel zu präsent sind in Bernds Beschreibung die göttliche Macht, religiöse Vorstellungen über Moral. Stimmig ist, daß Bernd sein eigenes Unbehagen auch durch die Übernahme von medizinischen Erklärungen zu mildern sucht. Dieser Versuch aber muß scheitern, da Bernd die Widersprüchlichkeiten, die Schuldgefühle nicht auflösen kann. (SCHINDLER, Stephan K.: „Selbstbeschmutzung". Der Gelehrte und sein Leib/Körper in Adam Bernds „Eigene Lebens-Beschreibung", in: ders./WILLIAMS, Gerhild Scholz (Hrsg.): Knowledge, Science, and Literature in Early Modern Germany, Chapel Hill/London 1996, S. 285-303, hier: S. 287f.) 348

LUMME, Höllenfleisch und Heiligtum, 1996, S. 129.

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

117

aber keine harmonische Einheit abzuleiten, verkörperte der Leib doch gleichzeitig viele Ängste und viele Leiden. Auch für das ausgehende 18. Jahrhundert müssen wir bereit sein, eine ebensolche Ambivalenz anzunehmen. Eher verschärfte sich sogar noch die Zwiespältigkeit, da alte und neue Wahrnehmungs- beziehungsweise Erklärungssysteme mit großer Vehemenz aufeinander trafen. 349 Daher kann weder die augenscheinliche Medikalisierung als das ausschließliche Produkt staatlicher Autorität aufgefaßt werden, 350 noch dieser Prozeß mit einer weitgehenden Verdrängung von moralischen Bewertungsmaßstäben gleichgesetzt werden. Im Gegenteil: Die gesundheitspolitischen Konzeptionen, ihre vielfältige Veröffentlichung, ihre Integration in die Diätetik machen deutlich, daß Gesundheit zu einer „moralischen Verhaltensnorm"351 wurde, um deren Durchsetzung man sich kümmern mußte. Moralität aber ist - meiner Meinung nach - weniger eine Frage von obrigkeitlichen Vorgaben als eines Wertekonsenses der gesamten (Bildungs-)Gesellschaft - einer (Bildungs-)Gesellschaft, die in ihrer engen Verflechtung mit der staatlichen Bürokratie, wie sie beispielsweise für Preußen charakteristisch war, dann auch Maßnahmen zur Durchsetzung ihrer moralischen Vorstellungen entwerfen wollte. 352 Schließlich entfaltete sich die Medikalisierung der persönlichen Leibwahrnehmung selbst als ein Paradox: Bei aller Sorge um den eigenen Körper, die durch medizinische Ratgeber angetrieben wurde, ist das Ideal doch die Entkörperlichung des Ichs. Mit dieser Entwicklung endet dann bald das 18. Jahrhundert. Faust hält in seinem „Gesundheits-Katechismus fest, daß der gesunde

349

Anders SCHINDLER, der ein Deutungssystem der Absolutheiten aufstellt: Durch die neuzeitlichen Wissenschaften, die auch die Seele abgespalten haben, seien wir „von unserem Leib total entfremdet, den wir als objektivierten Körper der Sprache, dem Wissen und der instrumenteilen Manipulation anderer, z.B. den Medizinern und Psychiatern, überantworten." (SCHINDLER, „Selbstbeschmutzung", 1996, S. 2 8 6 . ) 350 LINDEMANN, Health and Healing, 1996, S. 51 „They [the medical ordinances, J. S.] cannot, therefore, be seen simply in the light in which they are so o f t e n placed: as the manipulative tools of an academic or elite medicine, and of state-sanctioned medicine vigorously engaged in fixing standards and in promoting a medical monopoly for physicians. An undeniable aura of norm-setting and ordering clings to these ordinances, but it was not their only, and perhaps not even their most salient, feature. These are texts to be read as the admittedly distorted reflections of a complex medical reality." 351 LABISCH, Homo Hygienicus, 1992, S. 105. Vgl. auch: GÖCKENJAN, Gerd: Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1985, S. 94f. Ich denke, daß in diesem Zusammenhang moralische und ökonomische Aspekte nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen und können. Auch die medizinische Polizey ist nicht ausschließlich das Ergebnis „einer merkantilistisch orientierten Wirschaft". (PIEPER, Der Körper des Volkes, 1998, S. 117.) 352 In diesem Sinne ist der zweite Teil von MAYS „Fastenpredigten" eine moralische Abhandlung über das richtige, dem Staat förderliche Verhalten. (MAY, Medicinische Fastenpredigten, 2. Theil, 1794.)

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1. Blicke auf und in den Menschen

Mensch seinen Körper kaum fühlen würde; „er ist sich kaum seines Körpers bewußt; er lebt und herrscht und wirket mit seinem Geiste." 353 Zu guter Letzt kann man nicht außer acht lassen, daß die Flut der diätetischen Ratgeber ein Marktphänomen darstellte, das aus Angebot und Nachfrage bestand und daher gleichzeitig Konsumwünsche und Profitmöglichkeiten spiegelte. Nicht umsonst klagte man über die Masse der Veröffentlichungen, Uber die Unmenge von „mislungenen und schädlichen Producten der Volksmedicin, mit denen wir jetzt überschwemmt werden". 354 Zu solchen Veröffentlichungen, die mehr oder weniger dem Anspruch der Volksaufklärung folgten, kamen außerdem noch die vielfältigen zu erwerbenden Medikamente. „Especially in the late eighteenth century, the market was glutted; far from being devoid of health care, even rural areas swarmed with medical practitioners."355 Kaufen und Verkaufen halten das System aufrecht, denn ohne Absatz wären weder weitere Ratgeber geschrieben, noch neue Rezepte ersonnen worden. Selbst, wer dieses kommerzialisierte Szenario kritisierte, mochte trotzdem daran verdienen; so wie Unzer, der heftig gegen die wilden Versprechungen von AllHeilmitteln wetterte, und dennoch selbst eines verkaufen wollte.356 Daher durften die Selbstheilungsversuche der Kranken nicht zu weit getrieben werden, mußte die Abhängigkeit vom Arzt doch aufrechterhalten bleiben.357 Der Prozeß der Medikalisierung im Sinne der Durchdringung auch außermedizinischer Diskurse mit medizinischen Ideen und Wissen veränderte unweigerlich Bedeutungen und Bedeutungssysteme. Auch die Bedeutung des Suizids wurde im 18. Jahrhundert auf diese Weise beeinflußt und verändert. Darauf möchte ich im folgenden näher eingehen. Und wieder wird es darum gehen, den Beziehungen zwischen den verschiedenen Wissenssystemen Rechnung zu tragen, Ambivalenzen nicht zu verdecken und auch darum, vorschnelle Schlüsse auf einseitige Machtübernahmen zu vermeiden. Denn wie ich es am Ende des letzten Kapitels für die Hypochondrie dargestellt habe, kann letztlich auch der Suizid als Eigenwelthandlung interpretiert werden: Durch die Selbsttötung entzieht sich ein Mensch dem psychiatrisch-

353

FAUST, Gesundheits-Katechismus, 1794, S. 12.

In diesem Sinne interpretieren BÖHME und BÖHME: „Die Entdeckung des Körpers, als die wissenschaftliche Medizin ihren Siegeszug antritt, ist zugleich die radikalste Verdrängung des Leibes: die affektive Betroffenheit, leiblich gespürt, wird zur unheimlichen Anwandlung, zur Grille oder zum Krankheitssymptom." (BÖHME/BÖHME, Das Andere, 1996, S. 14f.) 354 Rezension zu: Taschenbuch für die Gesundheit auf das Jahr 1801, hrsg. v. Fr. HILDEBRANDT, Erlangen 1801, in: Allgemeine Literatur Zeitung, April 1801, Nr. 104, S. 41. 355 LINDEMANN, Health and Healing, 1996, S. 13. 356 Vgl.: BILGER, Üble Verdauung, 1990, S. 82. 357 Diese symbiotische Gemeinschaft galt besonders auch für die Hypochondristen - darauf werde ich später noch näher eingehen. Siehe Kap. 3.1.3.1. Vgl.: BILGER, Üble Verdauung, 1990, S. 87.

1.3. Medikalisierung: Die Macht der medizinischen Ideen

119

medizinischen Zugriff. 358 Selbst wenn sie als Folge von Krankheit definiert wird, kann deswegen diese Tat zum Affront werden, da sie sich dem Heilungsanspruch der Ärzte widersetzte. Die Bewertung des Suizids als pathologische Tat, die für uns heute die gängige ist, gilt es im folgenden als historisches Phänomen zu analysieren, das in enger Verknüpfung mit dem allgemeinen Einflußgewinn der Medizin stand. Es wird jedoch nicht um die simple Beschreibung von übernommenen Ideen gehen, sondern es soll vielmehr gezeigt werden, daß hier ganz bestimmte Funktionen erfüllt werden sollten, die ohne das medizinische System nicht erreichbar gewesen wären.

358

Vgl.: SZASZ, Thomas: The Ethics of Suicide, in: WOLMAN, Benjamin (Hrsg.): Between Survival and Suicide, New York, 1976, S. 163 ff.

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid Heute ist die A u f f a s s u n g fest etabliert, ein Suizid sei (fast) i m m e r die F o l g e v o n (psychischer) Krankheit und also i m Zustand v o n mangelnder Entscheidungsfreiheit erfolgt. 1 Es ist hier nicht der Ort, die letztlich hochphilosophische Frage, o b e i n vernünftiger Suizid m ö g l i c h und außerdem legitim sei, zu stellen, g e s c h w e i g e denn zu beantworten. 2 E s gilt j e d o c h die Pathologisierung des S u i z i d s als Ergebnis einer historischen Entwicklung zu beleuchten. D a s 18. Jahrhundert ist dafür v o n besonderer R e l e v a n z , rückte in dieser Zeit d i e Selbsttötung d o c h mehr und mehr in den Zuständigkeitsbereich der Mediziner. A m B e i s p i e l d e s Suizids läßt sich f o l g l i c h analysieren, w a s der E i n f l u ß g e w i n n medizinischer Ideen konkret bedeutete. Hintergründe, Spuren und Auswirkung e n dieser Entwicklung haben wir in den v o r a n g e g a n g e n e n Kapiteln kennengelernt. D i e Suizidproblematik verband in besonderer W e i s e Beiträge aus ganz unterschiedlichen Bereichen. S i e beschäftigte T h e o l o g e n e b e n s o w i e Juristen, M e d i z i n e r e b e n s o w i e P h i l o s o p h e n . 3 Deren Auseinandersetzungen mit d e m 1

Es sei angemerkt, daß die Opposition von melancholischer und rationaler Verfassung einer Person hinterfragt werden müßte. Selbst wenn die Ursache eines Suizids die melancholische, oder depressive Verstimmung, ja Erkrankung einer Person ist, so kann die Entscheidung, das Leben zu beenden, dennoch auf einer vernünftigen Basis erfolgen, eben in dem Sinne, daß das depressive, melancholische, unglückliche Leben als nicht weiter lebenswert eingeordnet wird. Der medizinisch-psychiatrische Erklärungsansatz schließt hingegen diese Verbindung von Erkrankung und logischer Handlungsweise aus. 2 Albert CAMUS konstatierte bekanntermaßen, es gebe nur ein „wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord". (CAMUS, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Frankfurt a.M. 1995, S. 9.) 3 Diese Vernetzungen der Diskurse sind in der bisherigen historischen Forschung zum Thema Suizid weitgehend außer acht gelassen worden. Statt dessen analysierte man die verschiedenen Bereiche als in sich abgeschlossen: Vgl. etwa für die Rechtsgeschichte: BERNSTEIN, Ossip: Die Bestrafung des Selbstmords und ihr Ende, Breslau 1907; DIESTELHORST, Jürgen: Die Bestrafung der Selbstmörder im Territorium der Reichsstadt Nürnberg, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, Bd. 44, 1953, S. 8-230; GEIGER, Karl August: Der Selbstmord im deutschen Recht, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht, Bd. 65, 1891, S. 3-36; REHBACH, Bernd: Bemerkungen zur Geschichte der Selbstmordbestrafung. Einige rechtshistorische Aspekte der Sterbehilfe, in: Deutsche Richterzeitung, B d . 7 , 1 9 8 6 , S. 2 4 1 - 2 4 7 . F ü r die K i r c h e n g e s c h i c h t e : BLÁSQUEZ, N i c e t o : D i e t r a d i t i o n e l l e

kirchliche Morallehre über den Suizid, in: Concilium, Bd. 21, 1985, S. 205-212; THÜMMEL, W.: Die Versagung der kirchlichen Bestattungsfeier. Ihre geschichtliche Entwicklung und gegenwärtige Bedeutung, Leipzig 1902. Für die Philosophiegeschichte: CHORON, J.: Philosophers on Suicide, in: ders.: Suicide, New York, 1972, S. 197-138; NOON, Georgia: On Suicide, in: Journal of the History of Ideas, Bd. 39, 1978, S. 371-386. Wichtige Impulsgeber für eine umfassende historische Analyse des Suizids waren: MACDONALD, Michael/MuRPHY, Terence R.: Sleepless Souls. Suicide in Early Modern England, Ox-

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2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Thema liefen aber nicht von einander separiert ab, sondern waren über die Grenzen der Fakultäten hinweg mit einander verbunden und reichten längst über die reinen Gelehrtenzirkel hinaus. Beispielsweise stand immer wieder die Behandlung von toten Selbstmördern' in Frage, was sowohl deren Begräbnis als auch rein juristische Aspekte betraf. Außerdem nahm die Debatte über Ursachen und Präventionsmöglichkeiten genauso wie die Befürchtung von überhandnehmenden Suizidfällen in den verschiedensten Medien breiten Raum ein. Es wird also das Zusammenwirken der unterschiedlichen Argumentationen zu beachten sein, die unmittelbar auf den Suizid Bezug nahmen, genauso müssen aber jene Stränge berücksichtigt werden, die scheinbar entfernt von der Thematik verliefen. Denn sie bildeten vielfach den Hintergrund für Modifikationen der Bedeutungen. Am Beginn steht nun die theologische Haltung gegenüber dem Suizid. Wie waren überhaupt die Grundmuster der Argumente, wie sie sich vor dem 18. Jahrhundert etabliert hatten? Hier finden wir Bewertungen, die über Jahrhunderte hinweg maßgeblich waren und die ihre Gültigkeit auch im 18. Jahrhundert längst nicht verloren hatten. Die folgenden Blicke auf das theologische Gedankengebäude bieten somit die notwendige Folie, um zu analysieren, auf welche Weise und wie weit sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Argumentationslinien veränderten. Im Vordergrund werden dann die Einflüsse medizinischer Ideen stehen.

2.1. Theologen, Moral und Medizin 2.1.1. Alte Meister: Traditionen des christlichen Suizidsverbots In der christlichen Dogmatik und Ideengeschichte ist das Selbstmordverbot keine immerwährende Grundkonstante, sondern letztlich eine Erfindung des vierten Jahrhunderts.4 Erst durch Augustinus wurde der Gedanke an ein Selbst-

ford 1990. In der deutschsprachigen Historiographie stechen insbesondere Markus SCHÄR (Seelennöte der Untertanen. Selbstmord, Melancholie und Religion im Alten Zürich 1500-1800, Zürich 1985) und der von Gabriela SIGNORI herausgegebene Sammelband (Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften, Tübingen 1994) hervor. Darüber hinaus liegt mit der Habilitationsschrift von Ursula BAUMANN (Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Weimar 2001) nun eine umfassende Analyse der Diskurs- und Sozialgeschichte des Suizids vor. Siehe auch Einleitung. Als ideenreiche literaturgeschichtliche Untersuchung sei genannt: ALVAREZ, Alvin Α.: Der grausame Gott. Eine Studie über den Selbstmord, Hamburg 1974 (Original 1972). 4 Um sich nicht - wie es so häufig geschieht - auf die sekundäre Reproduktion theologischer Lehrmeinungen zu beschränken und um tatsächlich die im 18. Jahrhundert verwendeten Diskussionsmuster herauszuarbeiten, sollen für die Darstellung der traditionellen' theo-

2.1. Theologen, Moral und Medizin

123

mordverbot in der Kirchenwelt eingeführt. 5 Zuvor hatte es keine diesbezügliche Regelung, keine Festlegung auf eine Verdammung des Suizids gegeben, was sicherlich vor allem durch die Tatsache bedingt war, daß weder das Alte noch das N e u e Testament ein solches Verbot beinhalten. 6 Zwar wurde das Fehlen eines Selbstmordverbots in der Bibel durchaus auch von theologischer Seite anerkannt - so stellte etwa Johann David Michaelis, ein Theologe des 18. Jahrhunderts, fest, „daß in der ganzen Bibel nirgends eine deutliche Entscheidung der Frage: ob der Selbstmord Sünde sey?" gegeben werde 7 - gleichwohl bezogen sich auch noch im 18. Jahrhundert etliche theologische Autoren auf die .heilige Schrift' und bemühten sich, ein Selbstmordverbot direkt aus der Bibelexegese abzuleiten. 8 D a es nun aber an einer wörtlichen Bestimmung mangelte, blieb man auf umständliche Konstruktionen angewiesen. Besonders der Selbstmord des Judas wurde als Exempel aufgebaut, das „zum Archetypus eines schändlichen und verdammenswerten Todes" werden sollte. 9 Eine zweite

logischen Lehrmeinung Texte des 18. Jahrhunderts mitverwendet werden - also nicht nur die .großen' Texte der Kirchenväter und sonstiger übermächtiger Diskurskoryphäen, sondern einfache Predigten und Traktate aus der Zeit. Diese Vorgehensweise erscheint insbesondere angebracht, um sich von den üblichen Darstellungen des philosophisch-theologischen Metadiskurses zu lösen, die Schnelldurchläufe bieten à la: Der Selbstmord in der Philosophie von Aristoteles bis Nietzsche. Vgl. kritisch: BACKER, B . A./HANNON, N./RUSSEL, N . A. (Hrsg.): Death and Dying. Individuals and Institutions, New York 1982; CHORON, Philosophers on Suicide, 1 9 7 2 , S. 1 0 7 - 1 3 8 . 5 Vgl.: MINOIS, Georges: Geschichte des Selbstmords, Düsseldorf/Zürich 1996, S. 48; WILLEMSEN, Roger: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Der Selbstmord in Berichten, Briefen, Manifesten, Dokumenten und literarischen Texten, Köln 1 9 8 6 , S. 1 3 - 5 2 , hier: S. 1 8 . 6 Im frühen Christentum war der Suizid - in Verbindung mit dem Märtyrerkult - möglicherweise sogar eher häufig: „The earliest Christians were morbidly obsessed with selfdestruction and committed suicide in large numbers for religious reasons." (ALLEN, Nancy: History and Background of Suicidology, in: HATTON, Corinne L./RINK, Alice (Hrsg.): Suicide. Assessment and Intervention, New York 1977, S. 1-19, hier: S. 4.) Vgl. auch: FABEROW, Ν. L.: Cultural History of Suicide, in: ders.: Suicide in Different Cultures, Baltimore 1975, S. 1-15, hier: S. 6. Gegen die Auffassung, Suizide seien bei den frühen Christen häufig oder sogar gebilligt gewesen, wendet sich: LARSON, Edward J.: A Different Death. Euthanasia and the Christian Tradition, Downers Grove 1998, S. 27 u. passim. 7 MICHAELIS, Johann David: Mosaisches Recht, Frankfurt a. M. 1775, 6. Theil, § 272, S. 8. 8 Etwa: MARPERGER, Β . W.: Nöthige Warnung für dem verdammlichen Selbst-Mord nebst einem Unterricht und Trost für angefochtene Seelen, Nürnberg 1715; NEUMEISTER, Johann Christoph: Eine Vernunfft- und Schriftmäßige Betrachtung des ewig tödtenden Selbstmordts, Dresden 1735; auch noch: BURKHARD, Johann Gottlieb: Briefe über den Selbstmord, Leipzig 1786, S. 22; LAVATER, Johann Casper: Ueber den Selbstmord. Eine Predigt ueber Geschichtsbuch XVI, 22-24, bey einer besondern Veranlassung gehalten bey St. Peter in Zürich, 11. April 1779, Wintherthur 1782. 9

MINOIS, Geschichte, 1996, S. 45.

Beispielsweise: DEGMAIR, George Andreas: Ein Wort zu seiner Zeit von der schröcklichen Sünde des Selbstmords, Augsburg 1771, S. 13; MARPERGER, Nöthige Warnung, 1715, S. 28f.; SPONSEL, Johann Ulrich: Abhandlung von dem Selbstmord, Nürnberg 1776, S. 30f.

124

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Möglichkeit der Rechtfertigung fand die christliche Dogmatik im allgemeinen Tötungsverbot, wie es das 5. Gebot formulierte. Man stellte also Mord und , Selbstmord' gleich: „Und ihr werdet völlig unsrer Meynung seyn, daß dasjenige was zum Wesen des Mords überhaupt und zum Begriffe deßelben gehört, auch zum Selbstmorde gehöre." 10 Allerdings mußte auch diese Beweisführung angreifbar bleiben, kannte die Kirche für dieses Gebot doch auch Ausnahmen, wie etwa das Töten im Krieg oder die Vollstreckung von Todesurteilen. Letztlich offenbarte der christliche Moraldiskurs zum Thema Suizid eine Vielzahl von Widersprüchen - nicht zuletzt wegen der Lebensfeindlichkeit der Kirche selbst.11 Festzuhalten bleibt, daß nicht nur das Verbot des .Selbstmords', sondern auch dessen angebliche Überzeitlichkeit menschliche Erfindungen waren. Erst durch Thomas von Aquin wurde die Verdammung der .Selbstmörder' innerhalb der christlichen Dogmatik endgültig unverrückbar, da dieser als erster den Selbstmord als Todsünde einstufte und das Selbstmordverbot außerdem „auf Jahrhunderte" mit philosophischen Argumenten festschrieb.12 Welche weiteren Argumente - neben dem Tötungsverbot des 5. Gebots und den oben angesprochenen, relativ komplizierten Versuchen, das Selbstmordverbot direkt aus der Bibel abzuleiten - konnte aber die theologische Seite (auch noch im 18. Jahrhundert) heranziehen, um ihr Selbstmordverbot zu begründen? Die freiwillige Selbsttötung, die als verfrühte Beendigung des eigenen Lebens erachtet wurde, stelle einen vehementen Eingriff in die Rechte Gottes dar, in dessen „Majestätsrechte", wie es der Theologe Degmair in einer

10

TELLER, Joh. Friedrich: Vernunft- und schriftmäßige Abhandlung über den Selbstmord, Leipzig 1776, S. 27. Vgl. auch: DEGMAIR, Ein Wort zu seiner Zeit, 1771, S. 21; MARPERGER, Nöthige Warnung, 1 7 1 5 , S . 9 ; NEUMEISTER, V e m u n f f t - u n d S c h r i f t m ä ß i g e B e t r a c h t u n g , 1 7 3 5 , S . 9 ; SPONSEL,

Abhandlung, 1776, S. 44. 11

V g l . : MINOIS, G e s c h i c h t e , 1 9 9 6 , S . 4 4 .

Auch im 18. Jahrhundert wurden der christlichen Dogmatik vergleichbare Vorwürfe gemacht. Etwa: BECKER, Rudolf Zacharias: Vorlesung über die Pflichten des Menschen, Gotha 1792, 2. Teil, S. 70: „Ja, es ist zu verwundem, daß die gewöhnlichen alttheologischen Vorstellungen von der Nichtswürdigkeit des sündhaften Erdenlebens und den Freuden des Himmels dieses Verbrechen [den Selbstmord] nicht noch mehr häufen". 12

MINOIS, G e s c h i c h t e , 1 9 9 6 , S . 5 6 .

Vgl. auch: FABEROW, Cultural History, 1975, S. 8; MACDONALD, Michael/MuRPHY, Terence R.: Sleepless Souls. Suicide in Early Modern England, Oxford 1990, S. 18; WILLEMSEN, E i n l e i t u n g , 1 9 8 6 , S. 18

Zu kurz greift Gerald HÄRTUNG, der ohne weitere Erläuterungen die Ursachen für die Entstehung des Selbstmordverbots auf eine „gesellschaftliche Notwendigkeit" reduziert und dadurch jeglicher Problematisierung aus dem Weg geht. (HÄRTUNG, Gerald: Über den Selbstmord. Eine Grenzbestimmung des anthropologischen Diskurses im 18. Jahrhundert, in: SCHINGS, Hans-Jürgen (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 33-53, hier: S. 35.)

2.1. Theologen, Moral und Medizin

125

Predigt von 1771 nannte.13 Man nahm an, daß alles Leben und Sterben dem genauen Plan Gottes folge, - was man im übrigen durch erste statistische Untersuchungen bestätigen wollte. 14 Ein .Selbstmörder' mußte daher als anmaßend gelten, weil er die Ordnung Gottes in Frage stellte. Alles Leiden war hingegen als von Gott auferlegte Prüfung zu bewerten und anzunehmen,15 denn so entsprach es den Grundsätzen des Christentums als einer Religion, die Leiden und Dulden als hohe Werte einschätzt(e). Jedes Übel mußte daher nicht nur ertragen werden, sondern wurde sogar als positiv für die Fortentwicklung des christlichen Menschen angesehen. 16 Der Selbstmörder jedoch verkürzte seinen Lebens- und Leidensweg und versuchte nach christlicher Heilsauffassung, zu früh in das Reich Gottes zu gelangen, war dafür aber nicht genug vorbereitet:17 Eine Abkürzung auf dem Weg ins Reich Gottes konnte es nicht geben. Der Selbstmörder machte sich aber nicht nur gegenüber Gott eines Vergehens schuldig, er entzog sich auch widerrechtlich seinen Pflichten gegenüber der Gesellschaft, dem Staat und sich selbst. So verstieß der Suizident letztlich gegen göttliches und menschliches Recht.18 Am meisten diskreditierte sich ein Selbstmörder nach der christlichen Absolutionslehre jedoch dadurch, daß er sich von jeder Möglichkeit ausschloß, seine Tat respektive Sünde zu bereuen, weshalb er unweigerlich verdammt würde. „Ein Selbstmörder demnach, der in seiner unbereuten Sünde gestorben, und der Beschaffenheit seiner That nach nothwendig darinn hat sterben müssen, ist ohne Vergebung derselben

13 DEGMAIR, Ein Wort zu seiner Zeit, 1771, S. 22. Ähnlich auch: SPONSEL, Abhandlung, 1776, S. 37: „Ein Mensch nun, der mit Gewalt seinem Leben eher ein Ende zu machen suchet, als es der Wille Gottes ist, greifet diesem seinem Oberherrn in seine Gerechtsame, und eignet sich das zu, wozu er nicht die geringste Befugniß hat." Auch: MILLER, Johann Peter: Theologisch moralische Abhandlung von der tugendhaften Erhaltung des Lebens und von der richtigen Beurtheilung des Selbstmordes, Leipzig 1771, S. 62f.; NEUMEISTER: Eine Vernunfft- und Schriftmäßige Betrachtung, 1735, S. 8. 14 Vgl. insbesondere: SÜSSMILCH, J. P.: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen, Berlin 1741. Süßmilch stellte seine statistischen Untersuchungen also ausdrücklich in den Dienst Gottes, dessen Eingreifen er - auch in Abgrenzung zu deistischen Vorstellungen - durch die Regelmäßigkeit der Abläufe bestätigt sah. (Siehe etwa: ebd., Vorrede des Verfassers, S. 20f.) Siehe auch: MILLER, Theologisch moralische Abhandlung, 1771, S. 63-70. 15 Vgl. etwa: GRIMM, Johann L.: Christliche Warnung vor dem Selbstmord am Tage Matthiä; der Gemeinde öffentlich vorgetragen, Regensburg 1776, S. 9. 16 Vgl.: BLOCK, Georg Wilhelm: Vom Selbstmord, dessen Moralität, Ursachen und Gegenmitteln, Aurich, 1792, S. 45. 17 Vgl.: ebd., S. 51. 18 Vgl.: BOCRIS, Johann C.: Dissertatio iuridica de eo, quod iustum est circa sepulturam propricidarum, vom Begräbniß der Selbstmörder, 2. Aufl., Altdorf 1760, S. 17.

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2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

in die Ewigkeit getreten. Er ist also auch ohne Gnade verlohren, und muß Pein leiden, das ewige Verderben, von dem Angesichte des Herrn, und von seiner herrlichen Macht." 1 9

Natürlich waren auch andere Sterbende, die ohne die christlichen Sakramente geblieben waren, von diesem Problem betroffen; also letztlich alle, die eines plötzlichen Todes gestorben waren.20 Jeder Selbstmörder verschlimmerte allerdings seine Situation noch immens dadurch, daß er diese selbst mutwillig verursachte. Die aufgeführten Gründe reichten aus, das Selbstmordverbot in den Traktaten und in der Kirche zu untermauern. Der Gemeinde wurde das Ausmaß der Sünde in scharfem Ton verdeutlicht und der Selbstmörder als „Erzbösewicht"21 diffamiert, dem die Hölle sicher war. Wie fest die Furcht vor einer ewigen Verdammung im Volksglauben verankert war, läßt sich erahnen, wenn man ein außergewöhnliches Phänomen einbezieht: den „indirekten Selbstmord". Nach Darstellung der zeitgenössischen Literatur versuchten diese „indirekten Selbstmörder" der nach einem Suizid drohenden Verdammnis dadurch zu entgehen, daß sie nicht sich selbst, sondern einen anderen Menschen töteten - am besten ein Kind, das noch unschuldig und frei von Sünden war - , um dann für diesen Mord hingerichtet zu werden. In Ernst Ferdinand Kleins Annalen werden etliche solcher Fälle aufgeführt, und der Biographiensammler Christian H. Spieß widmete ihnen einen eigenen Band. 22 Die tatsächliche Verbreitung dieser Fälle läßt sich nicht ausmachen

19 SPONSEL, A b h a n d l u n g , 1 7 7 6 , S . 2 7 f.

Vgl. auch: DEGMAIR, Ein Wort zu seiner Zeit, 1771, S. 25; MARPERGER, Nöthige Warnung, 1715, S. 11 ff. 20 Vgl.: ARIÈS, Philippe: Geschichte des Todes, München 1982, S. 390ff. Eben dieses Übel eines Todes, ohne zuvor die Sakramente empfangen zu haben, beklagt in „Hamlet" der Geist (Hamlets Vater): „In meiner Sünden Blüte hingerafft / Ohne Nachtmahl, ungebeichtet, ohne Ölung; Die Rechnung nicht geschlossen, ins Gericht / Mit aller Schuld auf meinem Haupt gesandt. O schaudervoll! o schaudervoll! höchst schaudervoll!" (SHAKESPEARE, William: Hamlet. Prinz von Dänemark, 1. Aufz., 5. Szene, zitiert nach der Ausg.: Stuttgart 1990, S. 27.) 21 NEUMEISTER, Vemunfft- und Schriftmäßige Betrachtung, 1735, S. 2. 22 Verbrechen eines 63jährigen Mannes aus Gewissensunruhe über Vergehungen, die er im 17ten und 18ten Jahre begangen hatte, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preussischen Staaten, Bd. 2, 1788, S. 65-76; Der liederliche Tauschill mordet, um seelig zu sterben, in: ebd., Bd. 3 (1789) 1795, S. 91-108; Anton Leikowsky mordet aus Ueberdruß des Lebens nach neuntägigem Hunger und gewinnt, nachdem er im Gefangnisse gesättiget worden, das Leben wieder lieb, in: ebd., S. 109-118 (ich zitiere den 3. Band nach der 2. Aufl. von 1795); Ueber die Brandstiftung der Eva Beronika Chiliin, in: ebd., Bd. 7, 1791, S. 3-14; Die Dorothee Catharine Wilhelmine Kramerinn tödtet ein fremdes Kind aus Ueberdruß des Lebens, in: ebd., Bd. 9, 1792, S. 3-19; Der Ruin der Orgel zu Benckenstein giebt Veranlassung, daß der Organist Ebeling sein Kind tödtet, in: ebd., S. 20-39; Friedrich Daniel Martini, Mörder seines eignen Kindes aus Melancholie, in: ebd., Bd. 10, 1793, S. 224-234; KLEIN, Ernst-Ferdinand: Selbstmord durch Tödtung anderer, dargestellt in der U n t e r s u c h u n g s s a c h e w i d e r d i e A n n e R o s i n e D u n k e l , i n : A n n a l e n d e r G e s e t z g e b u n g , in:

ebd., Bd. 14, 1796, S. 220-248. SPIESS, Christian H.: Biographien der Kinder-Mörder. Aus gerichtlichen Akten gezogen und

2.1. Theologen, Moral und Medizin

127

und auch nicht bestimmen, ob sie die letzten Jahrzehnte vor 1800 besonders betrafen. 2 3 D i e große Aufmerksamkeit, die man solchen Taten entgegenbrachte, fußte auf einer Mischung aus psychologischem und juristischem Interesse; die in dieser Zeit erst entstehenden Fallsammlungen boten ein günstiges Forum für deren Publikation. 2 4 S o entstand zumindest der Eindruck, als würden diese Tötungen zunehmen. „Nehmliche gemein Leute nicht von der besten Gemüthsart, die sich aber für der Hölle fürchten, [...] wenn sie von heiliger State oftmals gehöret, daß kein Selbstmörder selig werden könne, ermorden öfters anderer Leute unschuldige Kinder oder auch erwachsene Personen, und geben sich hernach in Gerichten selbst an, als hätten sie recht christliche That verübet, in brennender Begierde eine öfentliche Todesstrafe auszustehen, um desto sicherer im Himmel zu gelangen. [...] Es reißet dieses Gift sehr ein, und sehen wir tägliche Beyspiele. Meuchelmörderischer Weise überfallen sie andere Personen und besonders Kinder mit kalten Blute, in einem (ihrer Meynung nach) gotseligen Vorsaze, weil sie nehmlich auf solche Art gewiß seelig zu werden vermeynen, und sich vorstellen, daß das von ihnen öfters unter den süßsesten Schmeicheleyen ermordete fremde Kind, da es noch keine Sünde gethan, ebenermaasen die Seeligkeit erlange." 25 D i e s e s Zitat des Juristen Hommel verdeutlicht jedoch nicht nur die Wahrnehmung von „indirekten Selbstmorden". Mehr noch gibt es Einblick in die Angriffe auf bestehende religiöse Systeme, die über das Thema .Selbstmord' transportiert werden sollten. Denn unzweifelhaft steht H o m m e l s Klage im weiteren Kontext einer allgemeinen Kritik an irrationalen religiösen Auffassungen. Welche Debatten wurden auf diesem Terrain im späten 18. Jahrhundert ausgefochten, und w i e standen sie im Zusammenhang mit dem Suizidthema? Wie verliefen die Frontlinien? D i e s e n Fragen soll i m folgenden näher nachgegangen werden; besonders auch, um allzu einfache Oppositionen zwischen vermeintlich traditionellen Theologen und fortschrittlichen Medizinern oder

romantisch dargestellt. Seitenstück zu den Biographien der Selbstmörder, Leipzig/Neustadt 1802. 23

Auch wenn Heinrich GWINNER und Gustav RADBRUCH (Geschichte des Verbrechens, Stuttgart 1951, S. 249) diese Tat als typisch für das 18. Jahrhundert einstufen. Sie übernehmen dabei allerdings offensichtlich lediglich die Meinung von: WEBER, Hellmuth von: Selbstmord als Mordmotiv, in: Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform, 28, 1937, S. 161-181, hier: S. 162. 24 Vgl. neben den in FN 22 aufgeführten etwa: Geschichte des Kindermörders J. F. D. Seybell, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, Bd. 1, 1783, 1. Stück, S. 26-29; Ein Kindermörder aus Lebensüberdruß, in: ebd., Bd. 2, 1784, 1. Stück, S. 13-15. Siehe zu den neuartigen Publikationsmöglichkeiten im ausgehenden 18. Jahrhundert Kap. 3.2.1. 25 HOMMEL, Carl F.: Kommentar zu: Des Herren Marquis von Beccarias unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, auf das Neue selbst aus dem Italienischen übersetzt mit durchgängigen Anmerkungen, Breslau 1778, S. 179f. Vgl. auch: MOEHSEN, Johann Karl Wilhelm: Betrachtungen über die Berlinischen Selbstmörder, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 12, 1788, S. 200-223, hier: S. 202 f.

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2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Juristen zu vermeiden und statt dessen die Auseinandersetzungen selbst genauer zu betrachten.

2.1.2. Schwärmer, Tod und Teufel Erörterungen über den Suizid eigneten sich seit langem für Instrumentalisierungen.26 Daher kann die im Abschnitt zuvor zitierte Erwähnung der indirekten Selbstmorde durchaus als „Unterstützungserklärung" gelesen werden, die sich gegen abergläubische Religionsauffassungen richtete.27 Um Kritik an fehlgeleiteten' Religionsauffassungen der Zeitgenossen zu üben, ließen sich auf nämliche Weise auch christliche Jenseitsvorstellungen für Selbstmorde verantwortlich machen, insbesondere wenn man sie in bezug zur sonstigen Geringschätzung des irdischen Lebens setzte, die das Christentum auszeichnete. Etwa sinnierte Karl Friedrich Pockels: „Ob nicht vielleicht eine große Anzahl Menschen dem Märtyrertode thörichter Weise entgegen eilten, weil ihre von Scenen des künftigen Lebens erhitzte Phantasie ihnen dieß Leben schaal und abgeschmackt machte."28 An dieser Stelle ist es jedoch dringend geboten, die Debatte nicht auf eine simplifizierende Konfrontation von , Aufklärung' und Theologie zu reduzieren. Nicht nur gab es unter den deutschen Aufklärungsphilosophen (zumindest den bekannteren)29 keinen Verfechter einer wirklichen Liberalisierung' des Selbstmordproblems, sondern die Ideen der Aufklärung wurden außerdem zu einem großen Teil von Mitgliedern der theologischen Fakultäten getragen, wei-

26

MACDONALD und MURPHY schildern die Instrumentalisierung des Suizids in der Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen religiösen Gruppierungen in England. (MACDONALD/MURPHY, Sleepless Souls, 1990, S. 60-75.) 27 So wie es Baumann für ähnliche Äußerungen des Mediziners Moehsen (während eines Vortrags von 1787) tut. (BAUMANN, Ursula: Suizid als soziale Pathologie. Gesellschaftskritik und Reformdiskussion im späten 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd. 45, 1997, S. 485-502, hier: S. 487.) BAUMANN bezieht sich auf MOEHSENS Vortrag vom 27. 2. 1787 vor der Berliner Mittwochsgesellschaft, veröffentlicht in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 12, 1788, S. 200-223. Siehe dazu Kap. 2.3.1. 28 POCKELS, Karl Friedrich: Revision der drei ersten Bände dieses Magazins, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 4, 1783, 1. Stück, S. 1-56, hier: S. 25. Vgl. auch:. Rezension zu Block, Vom Selbstmord, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 1, 1793, S. 486-493, hier: S. 490: „so wird doch immer der Selbstmörder grade in dieser positiven Religion, wenn er ihre Versprechungen glaubt, einen höheren Grund seines Entschlusses finden". Siehe auch das Zitat BECKERS in FN 11. 29 Als Ausnahmen lassen sich nur die eher abseitigen Figuren ROBECK und BISCHOF anführen, die nicht zur ersten Garde der Philosophen und Theologen zählten. (BISCHOF, K. J.: Vers u c h ü b e r d e n f r e i w i l l i g e n T o d , N ü r n b e r g 1 7 9 7 ; ROBECK, J o h a n n e s : E x e r c i t a t i o p h i l o s o p h i c a

de Eulogo Exagoge sive morte voluntaria philosophorum et bonorum virorum etiam Iudaeorum et Christianorum, hrsg. v. loh. Nicolaus Funk, Rintelium 1736.)

2.1. Theologen, Moral und Medizin

129

terentwickelt und verbreitet. Allgemein wurde die Aufklärung im protestantischen Deutschland zwischen 1740 und 1780 „weithin nicht gegen Theologie und Kirche, sondern mit ihr und durch sie vollzogen." 3 0 Gleiches läßt sich zumindest in Teilbereichen auch für die katholischen Gebiete festhalten. 3 1 Innerhalb der Selbstmorddebatte verband das gemeinsame Interesse, gegen die Selbstmordgefahr vorzugehen. Irrationale Schwärmerei schien hier schädlich, religiös-rationale Erziehung dagegen geboten. 3 2 Entsprechend beklagte der Theologe Christian Friedrich Sintenis: „Und wer zählet alle die Arten von Aberglauben, durch welche sowohl Melancholische, als Nichtmelancholische schon, w i e zum Morde Anderer, also auch zum Selbstmord angetrieben wurden!" 3 3

30

SCHOLDER, Klaus: Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland, in: KoFranklin (Hrsg.): Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, München 1976, S. 294-318, hier: S. 295. Vgl. auch: SCHNEIDERS, Werner: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990, S. 11 f.; ders.: Das Zeitalter der Aufklärung, München 1997, S . 101. 31 Vgl.: KLUETING, Hans: „Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht." Zum Thema Katholische Aufklärung - Oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.): Katholische Aufklärung - Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993, S. 1-35, hier: S. 4. 32 Vgl.: BLOCK, Vom Selbstmord, 1792, S. 144; KNÜPPELN, Julius F.: Ueberden Selbstmord, Gera 1790, S. 273; VOGEL, Betrachtungen über den Selbstmord, in: KÖNIG, Johann Christoph: Der Freund der Aufklärung und Menschenglückseligkeit. Eine Monatsschrift für denkende Leserinnen und Leser aus allen Religionen und Ständen, Nürnberg 1785, S. 135-152 u. S. 179-194 u. S. 248-262, hier: S. 262. Vgl. zum Vernunftprinzip der Aufklärung: SCHNEIDERS, Hoffnung auf Vernunft, 1990, S. 21 ; VIERHAUS, Rudolf: Aufklärung als Lernprozeß, in: ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen, Göttingen 1987, S. 84-95, hier: S. 84. 33 SINTENIS, Christian Friedrich: Ueber die zweckmäßigsten Mittel gegen die Überhandnehmung des Selbstmords, Leipzig 1792, S. 45. Vgl. auch: BLOCK, Vom Selbstmord, 1792, S. 80; Zwei schwärmerische Selbstmörder, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 4, 1784, S. 428 f. Das Thema Schwärmerei und Schwärmerkritik provozierte unzählige Publikationen. Vgl. beispielsweise auch: Briefe über Schwärmerey in der Religion, Bern 1788; HEYDENREICH, Karl Heinrich: Psychologische Entwicklung des Aberglaubens und der damit verknüpften Schwärmerey, Leipzig 1798; MEISTER, Leonhard: Ueber die Schwermerei. Eine Vorlesung, Bem 1775. Auch in der Berlinischen Monatsschrift wurde ausführlicher über die Schwärmerproblematik diskutiert. Vergleiche den Beitrag von Moses MENDELSSOHN: „Soll man der einreißenden Schwärmerei durch Satyre oder durch äußerliche Verbindung entgegenarbeiten?", in: Berlininsche Monatsschrift, Bd. 5, 1785, S. 133-137. Vgl. auch: DÜLMEN, Richard van: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung. 16.-18. Jahrhundert, München 1994, S. 139; HINSKE, Norbert: Die Aufklärer und die Schwärmer. Sinn und Funktion einer Kampfidee, in: ders. (Hrsg.): Die Aufklärer und die Schwärmer, Hamburg 1988, S. 3-6. PITZSCH,

130

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Nicht zuletzt hatte Kant Aufklärung als „Befreiung vom Aberglauben" definiert, 34 während der katholische Theologe und spätere Bischof von Augsburg Sailer - gerade auch in bezug auf die Selbstmordproblematik - eine „Apologie der Vernunft" 35 forderte, die jeder zu sehr gefühlsbetonten, zu sehr empfindsamen Lebensweise entgegengestellt werden sollte. Sailer baute auf die gemeinsame Kraft von Rationalität und Christentum - wenn auch sicherlich letzterem in seiner Gedankenwelt immer noch der erste Rang gebührte. 36 In der Verbindung von Aufklärung und Theologie hatten sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts außerdem die Vorstellungen über das Jenseits und das Leben nach dem Tod verändert. Radikale Infragestellungen des gesamten christlichen Systems blieben zwar selten - ein deutscher David Hume läßt sich nicht benennen 37 - , doch begann man Tod und Jenseits von alten Schrecken zu befreien. Man verabschiedete allmählich die schaurigen Höllenszenarien, die die christliche Lebens- und Todeswelt über Jahrhunderte hinweg geprägt hatten. Diese Entwicklung, die bereits im 17. Jahrhundert eingesetzt hatte, 38 beeinflußte zwangsläufig die Bewertung des Suizids: Verdammungen hatten keinen Raum mehr, der Teufel wurde schrittweise vertrieben. Daher mußten selbst jene Autoren, die niemals die Legitimität einer Suizidtat akzeptiert hätten, ihre Argumente den veränderten religiösen und philosophischen Grundtendenzen anpassen; sie konnten sich nicht länger damit begnügen, den Selbstmörder als vom Satan Getriebenen zu verdammen. Dem entsprach etwa der protestantische Theologe Leß, der sich vehement gegen „die verbreitete religiöse Vorstellung, derzufolge der Impuls zur Selbsttötung vom Satan komme," wandte. 39 Der be34

KANT, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, B, 158f., in: ders.: Werke in 6 Bänden, hrsg. v. Wilhelm WEISCHEDEL, 5. Aufl., Darmstadt 1957, Bd. 5, S. 390f., zitiert nach: HINSKE, Die Aufklärung und die Schwärmer, 1988, S. 4. 35 SAILER, Johann Michael: Ueber den Selbstmord. Für Menschen, die nicht fühlen den Werth, ein Mensch zu seyn, München 1785, S. 213 f. Vgl. allgemein zu Sailer: GATZ, Erwin: Johann Michael Sailer, in: ders. (Hrsg.): Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945, Berlin 1983, S. 639-643; SCHWAIGER, Georg: Sailers frühe Lehrtätigkeit in Ingolstadt und Dillingen, in: ders./MAl, Paul (Hrsg.): Johann Michael Sailer und seine Zeit, Regensburg 1982, S. 51-96. An dieser Stelle sei Michael Schaich für etliche Hinweise - nicht nur zu J. M. Sailer - gedankt. 36 SAILER, Ueber den Selbstmord, 1785, S. 159: „Letztlich kommen alle Ursachen durch Mangel am festen, erleuchteten, thätigen Glauben an die Fürsehung." 37 Vgl.: WILLEMSEN, Einleitung, 1986, S. 25. - Allgemein: REHM, Walther: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik, Halle 1928, S. 247. 38 Vgl.: MINOIS, Georges: Die Hölle. Zur Geschichte einer Fiktion, München 1994, S. 285 u. S. 345 u. S. 366; RUSSELL, Jeffrey Burton: Mephistopheles. The Devil in the Modern World, New York 1986, S. 136. 39 LESS, Gottfried: Vom Selbstmorde, 2. verb. Aufl., Göttingen 1778, S. 51 f. LESS betonte im übrigen, daß das Selbstmordverbot durch den christlichen Glauben und die Bibel festgeschrieben werde. (Vgl.: LESS, Gottfried: Christliche Moral, 2. Aufl., Tübingen 1780, S. 176: „Die blosse Vernunft kann die Strafbarkeit des Selbstmordes nicht überzeugend darthun.")

2.1. Theologen, Moral und Medizin

131

reits erwähnte Sailer bemühte sich generell darum, die katholische Theologie von der alten Beschwörung häßlicher Höllenbilder zu lösen. 40 Daher mußte er auch in seiner Selbstmordschrift von einer Verantwortlichkeit des Teufels Abstand nehmen. Allerdings darf man sich nicht darüber täuschen, daß auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch Stimmen laut wurden, die eine Beteiligung des Satans an Selbstmorden proklamierten und die immer noch - auch um die besondere Verwerflichkeit der Tat zu charakterisieren - Suizide als „teuflische Ausbrüche des Unglaubens" bewerteten. 41 Diese Einschätzung konnte auf eine lange Tradition zurückblicken, die außerdem im Volksglauben fest verankert war. Der Selbstmörder wurde als vom Teufel getrieben stigmatisiert, sein toter Körper als Unheilbringer gefürchtet. Als Konsequenz kollektiver Angstvorstellungen existierte im Volksbrauch ein Sammelsurium an Ritualen und Abwehrmechanismen, die vor der düsteren Macht der Selbstmörder schützen und ihre Rückkehr als Wiedergänger verhindern sollten. Zwar weniger von abergläubischen Vorstellungen geprägt, jedoch nicht minder drohend, prophezeiten die Prediger dem Suizidenten seine (ewige) Verdammnis: „Das Brandmal / welches er sich selbst ins Herz brennet / ist weder zu lindern / noch auszulöschen. Er wird vom Grab hervor gehen / mit denen Anzeichen seiner Missethat. Er wird zur Hölle verwiesen werden / mit den Fesseln / die er ihm selbst angelegt." 42 Im Vergleich zu den theoretischen Schriften wurde (wie im eben zitierten Beispiel) in der Textgattung der Predigten der Teufel stärker beschworen und für .Selbstmorde' verantwortlich gemacht 4 3 Diese Auffälligkeit läßt sich insbesondere durch die Eigenart des Mediums begründen. Die Predigten waren diesseits der gelehrten Debatte angesiedelt und richteten sich an ein breiteres Publikum. In ihrer Argumentation wurden sie zu einem nicht geringen Teil durch die Adressaten bestimmt; schließlich konnte der Gemeinde durch eine Beteiligung des Satans die Verwerflichkeit des Selbstmords noch eindringlicher verkündet werden. Für das ,Volk' wurde die abschreckende Wirkung der Hölle „als Garant der gesellschaftlichen Ordnung" somit durchaus aufrechterhalten. 44 Nicht auszuschließen ist daher, daß diese Instrumentalisierung des Satans und der Hölle verteidigt werden mußte, um den Einfluß der Kirche zu sichern. Allerdings darf der Teufel im Suiziddiskurs nicht auf eine rhetorische

40

So etwa auch in seinem 1785 erschienen Werk „Vollständiges Gebetsbuch für katholische Christen". (Vgl.: SCHWAIGER, Sailers frühe Lehrtätigkeit, 1982, S. 61 f.) 41 D E G M A I R , Ein Wort zu seiner Zeit, 1771, S. 6. Vgl. auch: M A R P E R G E R , Nöthige Warnung, 1715, S. 19: „Er vollbringt des Teufels liebstes Werck / und fahrt in einem teuflischen Wesen dahin / bey seiner sichtbaren Höllenfahrt." 42 M A R P E R G E R , Nöthige Warnung, 1715, S. 13. 43 Beispielsweise: D E G M A I R , Ein Wort zu seiner Zeit, 1 7 7 1 ; LAVATER, Ueber den Selbstmord, 1 7 8 2 ; M A R P E R G E R , Nöthige Warnung, 1 7 1 5 ; NEUMEISTER, Vernunfft- und schriftmäßige Betrachtung, 1735. 44

MINOIS, D i e H ö l l e , 1994, S. 3 6 7 .

132

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Marionette reduziert werden, die gebildete Pfarrer geschickt führten, um das ,Volk' zu manipulieren. Im 18. Jahrhundert waren Teufel und Höllenangst noch nicht aus der Lebenswelt der Menschen verschwunden; statt Gewißheit herrschte eher Verunsicherung.45 Auch aus der Welt der Eliten wurde der Teufelsglaube nicht völlig vertrieben, was sich nicht auf konservative Bodensätze reduzieren läßt, sondern unter anderem in Zusammenhang mit neuen, eher mystizistischen Tendenzen stand. So war für einen Mann wie Lavater - der Exorzismen als Heilmethode verfocht und dessen Lebenswelt durch den Glauben an die Einflüsse der Höllenmächte mitbestimmt war 46 - die Bedrohung des Selbstmords vom Teufel (mit)veranlaßt, Selbstmörder von „satanischen Verblendungen" getrieben.47 Dem entsprach sein Vertrauen auf die Macht des Gebets als „das allersicherste Mittel gegen den unglücklichen Gedanken des Selbstmordes" 48 Unter einem allgemeineren Blickwinkel bleibt festzuhalten, daß die Lebenswelt der geistigen Eliten im 18. Jahrhundert keineswegs von gänzlicher Säkularisierung geprägt war. Die Übergänge waren fließend, die Ambivalenzen vielfältig - was sich gerade in der zum Teil an Unsicherheit grenzenden Argumentation zum Thema Suizid äußerte. Nicht jede(r) war Schwärmer oder Mystiker, aber auch nicht jede(r) Deist oder Atheist. Denn bei „allen kritischen Auseinandersetzungen mit Kirche, Religion und Christentum war das 18. Jahrhundert durchaus ein christliches, ja kirchlich-konfessionelles Jahrhundert."49 (Und auch Goethes Faust ließ sich schließlich erst vom Läuten der Osterglocken von seinen Selbstmordplänen abhalten.)

45

Vgl.: BRUNSCHWIG, Henri: Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert. Die Krise des preußischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts und die Entstehung der romantischen Mentalität, Berlin 1976, S. 242f.; allgemeiner: VOVELLE, Michel: La mort et l'occident de 1300 à nos jours, Paris 1983, S. 486 ff. 46 Vgl.: WEIGELT, Horst: Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991, S. 33. Lavaters Teufelsglaube trat etwa augenscheinlich im Konflikt mit dem aufklärerischen Theologen Salomo Semler zutage, der durch Lavaters Begeisterung für angebliche Krankenheilungen mit Hilfe von Teufelsaustreibungen provoziert worden war. (Vgl.: ebd.; auch: HORNIG, Gottfried: Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen, Tübingen 1996, S. 53ff.) 47 LAVATER, Ueber den Selbstmord, 1782, S. 30. « Ebd., S. 3 4 . V g l . : WEIGELT, L a v a t e r , 1 9 9 1 , S . 15.

Vgl. die ähnliche Akzentuierung etwa bei: GRIMM, Christliche Warnung, 1776, S. 19; Etwas über den Selbstmord in einer wahren Geschichte zur Warnung dargestellt und herausgegeben mit einer Vorrede von dem Freunde des grauen Mannes, Frankfurt a.M. 1802, S. 6. 49 DÜLMEN, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, 1994, Bd. 3, S. 148.

2.1. Theologen, Moral und Medizin

133

2.1.3. Neue Einflüsse Anhand des Selbstmorddiskurses läßt sich exemplarisch aufzeigen, daß sich aufgeklärte Theologen den neuen Tendenzen außerhalb ihres engeren Fachkreises nicht entziehen konnten, da sie sonst Gefahr liefen, sich aus dieser Debatte ausklinken zu müssen beziehungsweise nicht länger im Besitz der adäquaten Argumente zu sein. Um den Anschluß nicht zu verlieren, mußte die Theologie (paradoxerweise) ihren eigenen Diskurs säkularisieren'. Auffällig sind etwa die sprachlichen Veränderungen, die die Schriften der aufgeklärten' Theologen von den traditionellen Texten unterschieden. Während die orthodoxen Abhandlungen über den Selbstmord und die von der Kanzel gehaltenen Predigten sich durch scharfe Verurteilungen und radikale Drohungen auszeichneten, läßt sich bei den aufgeklärten Theologen der Einzug von mehr Milde und mehr Nachsicht diagnostizieren, der sich in Wortwahl und Ausdruck widerspiegelte. Exemplarisch kann nochmals die Schrift Sailers herangezogen werden: 50 Auch er verwirft zwar jeden Gedanken an eine Billigung des Suizids eindeutig, wendet sich aber ebenso gegen Verdammungen der Selbstmörder und grenzt sich dadurch von der traditionellen christlichen Dogmatik ab.51 Sailer stellte sich außerdem gegen jede Form der Schwärmerei, also nicht nur die religiöse, sondern gegen jede zu gefühlsbetonte, empfindsame Haltung. Bei genauerer Betrachtung fällt allerdings auf, daß sich Sailer in seiner Sprache selbst den empfindsamen Schriften anpaßte. In seiner pathetischen Art, den Leser direkt anzusprechen, ähnelte er letztlich denen, die er verdammte. Statt drohender Predigt oder lateinischer Dissertation verfaßte Sailer ein durchgängig populärwissenschaftliches Werk, dem er als Abschluß noch ein selbstverfaßtes Gedicht in ,,freye[r] Poesie" anfügte. 52 Durch seinen im allgemeinen eher unwissenschaftlichen Ton handelte sich Sailer bei einem Rezensenten sogar den Vorwurf ein, er habe sich um den Preis eines sachlichen Lehrvortrags zu sehr den Bedürfnissen seines Publikums angepaßt, um „seinen Zuhörern die ihnen mitgetheilten Kenntnisse zur Sache des Herzens zu machen, und neben der Einsicht auch Rührung und Entschlüsse zu bewürcken." 53 In jedem Fall hob sich Sailer deutlich von den eingangs geschilderten konservativen Drohungen ab und unterschied sich klar von den traditionellen theologischen Schriften zum Thema Selbstmord.54 50

Sailers Beitrag kommt auch deswegen eine besondere Bedeutung zu, da er zu den meist gelesenen Autoren der katholischen Aufklärung zählte. (Vgl.: GATZ, Johann Michael Sailer, 1983, S. 640f.) 51 SAILER, Ueber den Selbstmord, 1785, S. 208. 52 Ebd., S. 218. 53 Rezension zu Sailer, Ueber den Selbstmord, in: Tübingische gelehrte Anzeigen, 1785, 82. Stück, S. 655 f., hier: S. 656. 54 Entsprechend bezeichnet DÜLMEN Sailer als „vorbildlich" unter denjenigen katholischen Theologen, die sich bemühten, „die Kluft zwischen Priestern und dem Volk zu überwinden." (DÜLMEN, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, 1994, Bd. 3, S. 146.)

134

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Die alten Mauern der theologischen Argumentation standen nicht mehr so fest wie ehedem. Neue Aspekte mußten integriert werden. Sicherlich auch als Reaktion auf die Säkularisierungen des Selbstmordproblems durch französische und englische Philosophen gelangten aufgeklärte Theologen schließlich dahin, ihre Ablehnung des Selbstmords selbst außerhalb des Systems der christlichen Morallehre zu artikulieren, zu begründen, zu verorten. So ist die Schrift Sailers eine direkte Auseinandersetzung mit David Humes „On Suicide", dem einflußreichsten englischen Ansatz zu einer , Apologie' des Selbstmords. 55 Ebenso gingen von Überlegungen deutscher Philosophen, wenn auch weniger radikale, Herausforderungen aus: Moses Mendelssohn lieferte einen der wichtigsten Beiträge zur Säkularisierung der Bewertung des Suizids. Etwa wird der gesamte 13. Brief aus Mendelssohns Schrift „Ueber die Empfindungen" 56 , die seine entscheidende Auseinandersetzung mit der Selbstmordthematik darstellt, wortwörtlich in der „Moralischen Encyclopädie" zitiert. 57 Auch Immanuel Kant und Christian Wolff begründeten ihre Ablehnung des Selbstmords jenseits christlicher Moralvorstellungen. Neben Kants Argument, daß der Selbstmord ungerechtfertigt das moralische Subjekt auslösche - und somit die Basis des kategorischen Imperativs zerstöre, 58 gewann vor allem der Wölfische Leitsatz des Strebens nach Vollkommenheit als übergeordneter Lebensgrundsatz an Prominenz. Zwar ähnelte die Wolffsche Konzeption nach wie vor dem christlichen Leidensprinzip, begründete er doch seine Ablehnung jeder Möglichkeit zum Selbstmord damit, daß es keine Situation geben könne, „da nichts als lauter Jammer ohne alles Vergnügen ist", denn da selbst „die Geduld

55

Vgl.: BAUMANN, Ursula: Überlegungen zur Geschichte des Suizids (letztes Drittel 18. Jahrhundert bis erste Hälfte 20. Jahrhundert), in: SIGNORI, Gabriela (Hrsg.): Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften, Tübingen 1994, S. 311-340, hier: S. 320. V g l . zu H u m e auch: MACDONALD/MURPHY, S l e e p l e s s Souls, 1990, S. 1 6 0 - 1 6 4 ; WILLEMSEN,

Einleitung, 1986, S. 25: Von besonderer Wichtigkeit sei Hume auch, da er seine Rechtfertigung des Selbstmords mit einer Widerlegung der Unsterblichkeitslehre verknüpfte. 56 MENDELSSOHN, Moses: Ueber die Empfindungen, in: Philosophische Schriften, Teil 1, Berlin 1771, S. 97-114. Als Quelle zur Haltung Mendelssohns zum Suizid siehe außerdem Mendelssohns Brief an Resewitz vom l . M a i 1756, zitiert nach: Fernere Bruchstücke aus Moses Mendelssohn's Nachlasse, in: Neue Berlinische Monatsschrift, Bd. 24, 1810, S. 168-192. 57 ULRICH, Johann Heinrich Friedrich: Moralische Encyclopädie, Berlin 1779-1780, Bd. 3, Stichwort „Selbstmord", S. 6 2 8 - 6 4 7 , hier: S. 6 3 1 - 6 3 8 . 58

Vgl.: DURAN CASAS, Vicente: Die Pflichten gegen sich selbst in Kants „Metaphysik der Sitten", Frankfurt a.M. u.a. 1996, S. 217; MINOIS, Geschichte, 1996, S. 396f. Kritisch ist hingegen die Einschätzung HARTUNGS zu bewerten, Kant habe als erster den Versuch unternommen, die unterschiedlichen Disziplinen, die sich mit dem Suizid auseinandersetzten, zu einer umfassenden Anthropologie zu bündeln. Das hieße, denke ich, alle Entwicklungen auf gedankliche Leistungen der großen Philosophen zu reduzieren, ohne die komplexen Prozesse der Diskurse zu analysieren. (HÄRTUNG, Über den Selbstmord, 1992, S. 48.)

2.1. Theologen, Moral und Medizin

135

im Unglück eine Vollkommenheit" der Seele sei, müsse auch diese „vergnügen und den Jammer versüssen." 59 Dennoch ging die Entwicklung dahin, die philosophische Unmöglichkeit des Selbstmordes unabhängig von christlichen Glaubensgrundsätzen zu beweisen; eine Entwicklung, die auch auf kirchliche Kreise übergriff: So bemühte sich etwa Sailer das Selbstmordverbot ausschließlich in einem „Widerspruch zu [...] Vernunft und Natur" zu verankern. 60 Diese Umstrukturierung der Argumentationsweise erschien auch deshalb geboten, weil man so andere theologische Streitpunkte umgehen konnte, die in vielfältiger Verbindung mit der Selbstmorddebatte standen. Dazu zählte die Unsterblichkeitsfrage ebenso wie Vorstellungen über die Vergebung der Sünden. Daß in jedem Fall Klärungsbedarf bestand, wird dadurch verdeutlicht, daß 1784 die theologische Fakultät Göttingen folgende Preisfrage auslobte: „Ist der Selbstmord nach den Grundsätzen der christlichen Religion rechtmässig? - Ist er rechtmässig in allen Fällen, oder nur zuweilen, Beispiel ein Mensch, den das größte Elend drükt, dis für einen Befehl hung halten, die Welt zu verlassen, und sich also das Leben nehmen? mord unrecht, und aus welchen Gründen?"61

rechtmässig oder unund wann? Darf zum oder Wink der Vorse- Oder ist der Selbst-

Zur Debatte stand die Vereinbarkeit von christlichen Moralvorstellungen und Rechtfertigungen des Selbstmords. Zwar muß es letztlich spekulativ bleiben, welche genauen Entstehungszusammenhänge der Preisaufgabe zugrunde lagen, auf welche speziellen Entwicklungen die theologische Fakultät reagierte. 62 Von Beeinflussungen insbesondere durch die französische Philosophie ist jedoch auszugehen. 63 In jedem Fall war die Antwort auf die gestellte Frage nicht länger selbstverständlich - andernfalls hätte es sich erübrigt, eine Preisaufgabe zu stellen. Der Akt an sich symbolisiert somit den Verlust der Eindeutigkeit, die die christliche Dogmatik in den vorangegangenen Jahrhunderten für sich beanspruchen konnte. 64

59

WOLFF, Christian: Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen, 5. Aufl., Frankfurt u.a. 1736, S. 144. 60 BAUMANN, Überlegungen zur Geschichte des Suizids, 1994, S. 320. 61 Preisaufgabe der theologischen Fakultät Göttingen, 1784, zitiert nach: BLOCK, Vom Selbstmord, 1792, Vorrede, S. XI. 62 Leider sind im Universitätsarchiv Göttingen keinerlei Unterlagen zu dieser Preisaufgabe vorhanden. (Persönliches Schreiben von Dr. Ulrich Hunger, Universitätsarchiv Göttingen, 9. 4. 1997.) 63

Wenig hilfreich, da ohne Spezifizierungen, ist die Bemerkung STÄUDLINS, die Preisaufgabe hätte auf „Zeitumstände" reagiert. (STÄUDLIN, Geschichte, 1824, S. 225.) 64 Ohne Quellennachweise und die notwendigen genaueren Ausführungen geht auch AMELUNXEN von einer Verunsicherung zumindest innerhalb der evangelischen Theologie aus: „Die moralische Erlaubtheit des Selbstmordes war in der evangelischen Verkündigung dieser Zeit immerhin umstritten." (AMELUNXEN, Clemens: Der Selbstmord. Ethik, Recht, Kriminalistik, Hamburg 1962, S 21.)

136

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Rein inhaltlich ergaben sich durch den Wettbewerb zwar (zunächst) keine großartigen Neuerungen. Der Preis wurde Gottfried Groddeck, einem Göttinger Theologen und Schüler von Leß und Miller zugesprochen.65 Den „Accessit" erhielt Georg Wilhelm Block, der „Prediger zu Haltorf bey Gartow im Hannöverischen" war.66 Während Groddecks Beitrag weitgehend der Tradition der theologischen Dissertationen zur Selbstmordthematik verhaftet blieb und auch Block sich ursprünglich im traditionellen Rahmen bewegte, sind jedoch bei der Schrift des letzteren die Veränderungen interessant, die der Autor für die Drucklegung von 1792 vorgenommen hat:67 War die ursprüngliche Fassung weithin eine konventionelle Darstellung der moralisch-theologischen Gründe gegen den Selbstmord, so ergänzte Block für die deutsche Übersetzung seine Schrift um einen großen Abschnitt, der sich mit den Ursachen des Selbstmords auseinandersetzte.68 Zwar kam Block nicht umhin, diesen zweiten Teil als gleichsam ohne Einfluß auf die moralische Bewertung eines Suizids darzustellen - dieser Schritt gab ihm jedoch in der Folge andererseits die größtmögliche Freiheit bei der Behandlung seines Themas: Er hatte sich gegen alle Vorwürfe, er würde eine Rechtmäßigkeit des Selbstmords festschreiben wollen, abgesichert. Ein Mensch könne niemals „rechtmäßige, tugendhafte, notwendige Ursachen haben, sich das Leben zu nehmen, niemals in einen Zustand, in Lagen und Umstände gerathen, wo überlegter Selbstmord erlaubt wäre, d.h. gerechtfertigt oder gebilligt werden könnte; wohl aber gibt es viele Fälle und Ursachen, die den Selbstmord entschuldigen, d.h. seine Strafbarkeit vermindern oder aufheben". 69 Diese Differenzierung zwischen genereller Verdammung und Nachsicht für Einzelschicksale ist an sich nichts anderes als ein argumentatives Spagat. Der Ausweg aus dieser Bredouille bestand darin, daß der mitleiderregende Suizid als Tat ohne Handlungsfreiheit aufgefaßt wurde. Damit dieser Schritt möglich wurde, bedurfte es jedoch eine Vielzahl medizinischer Ideen, deren Einfluß und Wirkung erst bei detaillierter Analyse zu erkennen sind. Melancholie wurde zu einem der Haupterklärungsansätze für Suizide. Zumindest dann, wenn der/die Täter/in auf Nachsicht hoffen konnten. Auch Theologen wie der zuvor zitierte Block griffen diesen Ansatz auf. Damit die 65

GRODDECK, Gottfried E.: Commentatio de morte voluntaria, in concertatione civium academiae Georgiae Augustae IV. Lunii MDCCLXXXV ab ordine theologorum praemio ornata, Göttingen 1785. Vgl.: STÄUDLIN, Geschichte, 1824, S. 2 2 5 . 66

Eintrag in: Deutsches Biographisches Archiv. Vgl.: BLOCK, Vom Selbstmord, 1792, Vorrede, S. XII. 68 Auf die Veränderungen wird insbesondere auch in der Rezension in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek (Bd. 1, 1793, S. 485-493) hingewiesen. Eine weniger strukturierte Fassung von seinem Buch veröffentlichte Block außerdem bereits 1791: BLOCK, Georg Wilhelm: Vom Selbstmord, dessen Moralität, Ursachen und Gegenmitteln, in: Deutsches Magazin, Bd. 1, 1791, S. 4 6 1 ^ 9 1 u. S. 614-633. 69

BLOCK, Vom Selbstmord, 1792, S. 65.

2.1. Theologen, Moral und Medizin

137

Diagnose Melancholie aber tatsächlich Entlastung bringen konnte, mußten erst jene vielfältigen Veränderungen der Deutungssysteme von Körper und Seele greifen, die ich zuvor in dieser Arbeit geschildert habe. 70 Melancholie konnte nämlich noch im 17. Jahrhundert Sünde sein, da sie in Verbindung mit der „acedia", der frevelhaften Untätigkeit, gebracht wurde.71 Indem anthropologische und medizinische Ideen im Verlauf des 18. Jahrhunderts andere Bezüge zwischen Psyche und Physis herstellten, wurde Melancholie zu einer Krankheitsdiagnose. Diese Entwicklung hatte notwendigerweise großen Einfluß auf die Bedeutung des Suizids, der so nicht mehr Einflüsterung des Teufels, sondern die Folge von körperlichen oder seelischen Störungen war.72 Der Wiener Mediziner Leopold Auenbrugger ging schließlich so weit, eine eigene Krankheit, die zum Suizid führe, zu (er)finden: die „stille Wuth". Diese zähle zu dem „Geschlecht der Gemüthskrankheiten" und gehöre „in das Fach des Wahnwitzes einverleibt [...], weil hier der Körper nur als ein Unterthan betrachtet werden kann, der die Befehle der Seele, als seines regierenden Herrns in Erfüllung bringt."73 Auenbrugger stellte folglich nicht den Körper an die erste Stelle, sondern die „Unerträglichkeit des Gefühls" 74 . Dennoch verfolgte er in seinem Beitrag zur Suizidproblematik letztlich das Ziel, eine genaue Symptomatik jener „stillen Wuth" zu entwickeln und dem behandelnden Arzt einen Leitfaden an die Hand zu geben, um die Kennzeichen der Krankheit am Körper des Suizidgefährdeten zu diagnostizieren und dann rechtzeitig die empfohlenen Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Aus der Beobachtung erstens derjenigen „Zeichen, so [sie] in dem Körper, blos als Körper betrachtet, vorkommen," und zweitens jener, die sich „aus den körperlichen Gebärden in soweit selbe die Gesinnungen der Seele verrathen" ableiten lassen,75 Schloß Auenbrugger auf einen genauen, in drei Phasen eingeteilten Krankheitsverlauf, der en détail in seiner Schrift geschildert wird.76 Auenbrugger fand folglich die Befindlichkeit der Seele im körperlichen Zustand widergespiegelt. Die körperliche Erkrankung kategorisierte er zwar eigentlich nur als Symptom, seine Behandlungskonzeption richtete sich jedoch auf die Wiederherstellung der körperlichen Funktionsfähigkeit. Die körperliche Verfassung des Suizidenten stellte hingegen Melchior Adam Weikard an die Spitze seiner Ursachenhierarchisierung, wobei er in den ver-

™ Siehe Kap. 1.2. 71 Vgl.: RICKE, Gabriele: Schwarze Phantasie und trauriges Wissen. Beobachtungen über Melancholie und Denken im 18. Jahrhundert, Hildesheim 1981, S. 33. 72 Verknappend: DAHMEN-ROSCHER, Brigitte: Der Selbstmord in der medizinischen Literatur der Romantik, Diss. Heidelberg 1991. 73 AUENBRUGGER, Leopold: Von der stillen Wuth oder dem Triebe zum Selbstmord als einer wirklichen Krankheit, Dessau 1783, S. 11. 74 Ebd., S. 7. 75 Ebd., S. 14. 76 Ebd., S. 15-20.

138

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

schiedenen Auflagen seines „Philosophischen Arztes" unterschiedliche Theorien präferierte. 77 Zunächst knüpfte Weikard an die alte Tradition der Vier-Säfte-Lehre an, indem er die „schwarze Galle" als Verursacherin der „Milzkrankheit" diagnostizierte. 78 Die Milzkrankheit sei besonders für melancholische Zustände verantwortlich, aber auch andere Unstimmigkeiten des Blutes oder der Nerven (und ihrer „Zasern") konnten die Ursache sein: „Schweres dickes Blut kann zu Schwermuth eine physische Anlage geben. Die Empfindlichkeit der Zasern macht, daß sie in allzugroße Unruhe von jeder Kleinigkeit gesetzet werden." 79 In der späteren Auflage differenzierte Weikard dann zwischen einer „sthenischen", aktiven und einer „asthenischen", passiven Form und konzentrierte sich damit auf die Nerventheorie. 80 Verursachten körperliche Mißstände Schwermut und Melancholie, dann mußte auch die vom Arzt verordnete Kur auf den Körper wirken. Um Selbstmorde zu verhindern, mußte also nicht mehr nur die Sittlichkeit oder der rechte Glaube des Menschen gewährleistet sein, sondern auch die körperliche Gesundheit erhalten werden. Die präferierten Methoden entsprachen denjenigen, die wir bereits im Zusammenhang mit der Kur der Hypochondristen kennengelernt haben. Entsprechend empfahl beispielsweise Weikard die positive Wirkung von Bewegung: „Leibesübungen [...] können dem Gemüthe Heiterkeit, den Zasern gehörige Stärke, den Säften Bewegung oder Verdünnung verschaffen." 81 Die Pathologisierung des Suizids wurde auch von Theologen aufgegriffen und fortgeführt. Sailer verglich seine Rede über den ,Selbstmord' mit einer vom Arzt verschriebenen Medizin, 82 und Block spekulierte sogar darüber, die Ursachen für den Selbstmord ganz auf den Körper zu beschränken: „Vielleicht gibt es keine Seelenkrankheit ohne körperliche Anlässe". 83 Folgte man aber einer solchen Somatisierung, dann war es möglich, sich von theologischen Erklärungsmodellen zu emanzipieren. So verlor die Arbeit Blocks in ihrem zweiten Teil, der die Ursachen des Suizids abhandelt, selbst mehr und mehr jegli77

WEIKARD, Melchior Adam: Der philosophische Arzt, Frankfurt/Leipzig, 1775, 1. Stück, S. 210-219; ders.: Der philosophische Arzt, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1790, S. 264-275; ders.: Der philosophische Arzt, neue Überarb. Aufl., Bd. 1, Frankfurt a.M. 1798, S. 248-261. In der ersten Auflagen von 1775 läßt Weikard im übrigen die strafrechtliche Seite des Suizids völlig außer acht. Vgl. zu Weikard allgemein: MICHLER, Markwart: Medizin zwischen Aufklärung und Romantik. Melchior Adam Weikard (1742-1803) und sein Weg in den Brownianismus, Halle 1995. 78 WEIKARD, Der philosophische Arzt, 1790, S. 264, 268. Vgl.: MICHLER, Medizin zwischen Aufklärung und Romantik, 1995, S. 23. 79 WEIKARD, Der philosophische Arzt, 1790, S. 269. 80 WEIKARD, Der philosophische Arzt, 1798, S. 248. 81 WEIKARD, Der philosophische Arzt, 1790, S. 270. 82 SAILER, Ueberden Selbstmord, 1785, S. 143f. 83

BLOCK, Vom Selbstmord, 1792, S. 94.

2.1. Theologen, Moral und Medizin

139

chen Anschein jenes theologischen Traktats, das er ursprünglich für die Göttinger Preisfrage verfaßt hatte. 84 Auch wenn die Mehrzahl der Theologen in ihren Schriften und Predigten zum Selbstmord an traditionellen Erklärungsansätzen beziehungsweise Bewertungen festhielt, ist Blocks Schrift „Vom Selbstmord" charakteristisch für eine beginnende Andersartigkeit der Auseinandersetzung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der die Grenzen zwischen medizinischem und theologischem Diskurs zunehmend verwischten. Nach Blocks Meinung war gerade auch „die Beschaffenheit, Stimmung, und Bewegung des Bluts, der Eingeweide und des Nervensystems, das Medium, wodurch der ganze Mensch an Geist und Charakter gestimmt wird" 85 , so daß wohl kaum ein Selbstmord ohne die Beteiligung eines kranken Körpers verursacht werde. 86 Ganz ähnlich betonte auch der Theologe Sintenis, daß der Ursprung der Melancholie häufig im Körper und nicht in den Ideen liege, weshalb zunächst der Körper gesunden müsse: „[...] diese Ideen würden sie nicht martern, wenn sie gesund wären. Ist man so glücklich, ihren Körper wieder herzustellen, so lachen sie oft selbst über selbige, und man hat hemach nicht nöthig, sie noch besonders von der Selbstmordlust zu heilen, sondern diese verliehrt sich im geheilten Körper von selbst."87

Auch Sailers Selbstmord-Monographie wies über den engen theologischen Bereich hinaus. Zwar hielt Sailer von einer zu starken Betonung des Körpers als Ursache nichts, er griff jedoch erste Ansätze einer Psychologisierung der Thematik auf, und seine Ausführungen glichen daher in gewisser Hinsicht der Darstellung Blocks: Auch Sailer beschränkte sich eben nicht darauf, die moraltheologischen Gründe wider den Selbstmord darzulegen. Sicherlich war Sailer auch von den Beiträgen der Erfahrungsseelenkunde nicht unbeeinflußt geblieben, jenem nach heutigen Begriffen als .interdisziplinär' zu bezeichnenden Projekt, das zwischen Medizin, Psychologie, Philosophie und Pädagogik angesiedelt war. 88 Besonders die Kritik an religiöser Schwärmerei erhielt durch die Erfahrungsseelenkunde Unterstützung. So berichtete etwa das „Magazin zur 84

BLOCK erklärt im übrigen sogar, daß die deterministische Philosophie „vielleicht längst schon die Philosophie der Rechtgläubigen" wäre, wenn sie nicht durch die „Lehre des gottlosen Systems der Natur und anderer Ketzer" verdorben worden wäre. (Ebd., Vorrede, S. XV.) Block bezog sich auf die Schrift Paul Holbachs „Système de la Nature" (1770), die er als „eine der einflußreichen französischen Verteidigungsschriften des Selbstmords" bezeichnete. 85

86

BLOCK, Vom Selbstmord, 1792, S. 74.

Vgl.: ebd., S. 77: „Fast immer entsteht das falsche Räsonnement und die Geistesniedergeschlagenheit des Melancholikers aus traurigmachenden Gefühlen eines kränklichen Körpers, ohne das äussere Ursachen zur Klage da wären." 87 SINTENIS, Ueber die zweckmäßigsten Mittel, 1792, S. 40. 88 Vgl.: KERSHNER, Sybille: Karl Philipp Moritz und die „Erfahrungsseelenkunde". Literatur und Psychologie im 18. Jahrhundert, Herne 1991, S. 25. Siehe auch Kap. 3.2.3.

140

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Erfahrungsseelenkunde" die „Geschichte eines Selbstmords aus Verlangen seelig zu werden" 89 und Pockels „Neue Beyträge zur Bereicherung der Menschenkunde" über „Leben und Tod eines Selbstmörders, der bald Naturalist, bald Religionsschwärmer war" 90 . Die aufgeführten Selbstmordfälle waren dabei im Kontext von Melancholie und Melancholie-Kritik verortet, wobei Melancholie als Gegenstück jeder vernunftgeleiteten Lebens- und Religionsauffassung stilisiert und angeprangert wurde.91 Hier war wieder der Schulterschluß zwischen theologischen und nicht-theologischen Aufklärern gefragt. Auch Sailer zitierte einen Fall aus dem Magazin.92 Und plädierte dafür, „den Menschen in jedem Selbstmörder" zu sehen.93 Indem die Erfahrungsseelenkunde ihren Blick explizit auf Fallgeschichten lenkte, unterstützte sie außerdem die Differenzierung zwischen allgemeintheoretischer Abhandlung (die den Suizid verdammte) und einzelnen Lebensgeschichten.94 Genau diese Separierung war es ja, die es auch Block ermöglichte, sich von seiner ursprünglichen abstrakten Abhandlung zu lösen. Block selbst konstatierte: „Es ist doch ein grosser Unterschied, ob man die Moralität einer Handlung für sich betrachtet, und ihr Verhältnis zur menschlichen Natur überhaupt; - oder ob man fragt, wie über eine Handlung in einem geschehenen einzelnen Falle geurtheilt werden müsse?" 95 Wurden durch diesen Schritt aber alle moralischen Vorbehalte ausgeräumt? Beziehungsweise zumindest gut weggeräumt? In der Erfahrungsseelenkunde sah man insofern nicht gänzlich von moralischen Bewertungen ab, als es eines ihrer Ziele war, durch ihre Untersuchungen

89

Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, Bd. 1, 1783, 3. Stück, S. 28-32. Den dort geschilderten Fall rezipiert im übrigen auch: MÜLLER, Johann Valentin: Selbstmord nach seinen medizinischen und moralischen Ursachen betrachtet, mit beigefügten Lebensregeln und Rezepten zum Besten hypochondrischer und melancholischer Personen fur Aerzte und denkende Leser aus allen Ständen, Frankfurt a.M. 1796, S. 27. Müller konstatiert (ebd.), daß religiöse Schwärmerei ein „heftiges Verlangen nach einem künftigen Leben" verursache. 90 POCKELS, Carl Friedrich von: Neue Beyträge zur Bereicherung der Menschenkunde überhaupt und der Erfahrungsseelenlehre insbesondere, Hamburg 1798, S. 141-162. 91 Hans-Jürgen SCHINGS geht sogar soweit zu konstatieren, daß „die Melancholie-Diagnose, im Zuge der Erfahrungsseelenkunde noch weiter popularisiert, [...] in ihren Händen zu einem topischen Instrument [wird], das alle exzentrischen Abweichungen von der Linie einer toleranten, vernünftigen und praktischen Religion anzeigt." (SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, S. 127.) 92

SAILER, Ueber den Selbstmord, 1785, S. 145 ff. Vgl.: BAUMANN, Überlegungen zur Geschichte des Suizids, 1994, S. 321. 93 SAILER, Ueber den Selbstmord, 1785, S. 211 f. 94 Siehe dazu auch Kap. 3.2.3.1. 95 BLOCK, Georg Wilhelm: Nachschrift zu der Abhandlung über den Selbstmord, in: Deutsches Magazin, Bd. 3, 1792, S. 430-484, hier: S. 446f.

2.1. Theologen, Moral und Medizin

141

auf die Besserung des Menschen hinzuwirken. Man konzentrierte sich aber auf den Versuch, menschliche Handlungen nachvollziehbar zu machen. 96 Und wo blieb die Moral bei Medizinern und Theologen?

2.1.4. Wo bleibt die Moral?

(I)

Übernahmen Theologen und Juristen medizinische oder erfahrungsseelenkundliche Ideen in ihre Interpretationen des .Selbstmords', dann bedeutete das nicht, daß sie sich von aller Kritik der Tat verabschiedet hätten. Wie erwähnt, war etwa Sailer, speziell in seiner Beschreibung der Ursachen von Selbstmorden, von der Erfahrungsseelenkunde beeinflußt.97 Er vertraute mehr auf psychologische als auf physiologische Erklärungen. Entsprechend scharf grenzte sich Sailer von den Nerventheorien seiner Zeit ab und verwahrte sich mit Vehemenz dagegen, die Ursachen des Selbstmords auf körperliche Schwächen zu reduzieren. Solche Diagnosen sah er vielmehr als Ausreden für mangelhafte Erziehung oder auch falsche Lektüre. Seine Einschätzung, die er mit etlichen seiner Zeitgenossen teilte,98 überspitzte Sailer gekonnt zu einem polemischen Angriff auf jede Überbewertung des „schwachen Fibernbau[s]": „Man spricht vom schwachen Fibernbau - und giebt dem schwachen Geschöpfe Romane in die Hand, die die Empfindung auf's höchste spannen [...] Und wenn nun durch Erziehung, Lectüre, Schauspiele, Verführung etc. die Leidenschaft der Jünglinge, der Mädchen auf den Punct gespannt worden, daß sie sich, und ihre Familien mit Schandthaten gebrandmarkt: dann heißt's: „Der schwache Nervenbau war schuld daran"! Und wenn durch Erziehung, Lectüre, Umgang, Schauspiele etc. die Leidenschaft des schwachen Geschöpfes so hoch gespannt worden, daß er sich selbst mordete: dann dreht sich der Philosoph auf seinem Absatz, und singt sein Liedchen: „'s war schwacher Nervenbau".99

Während die Kritik Sailers an der Überbewertung des „Fibernbaus" eher durch einen satirischen Ton gekennzeichnet war, regten sich auch andere, heftigere Stimmen gegen die medizinischen Theorien, die körperliche Ursachen für den Selbstmord verantwortlich machten. Man wandte sich nicht nur gegen eine Überbetonung der körperlichen Sphäre - wie es Sailer tat - , sondern kam sogar

96

Allerdings entbrannte über die moralisch-erziehenden Ansprüche des „Magazins zur Erfahrungsseelenkunde" ein Konflikt zwischen den Herausgebern Karl Philipp Moritz und Karl Friedrich Pockels. So warf Moritz Pockels vor, er habe in seinen Revisionen das Magazin zu einer „blos moralischen Schrift" gemacht. (Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 7, 3. Stück, S. 4.) Vgl.: BEZOLD, Raimund: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz, Würzburg 1984, S. 120. 97 Allerdings muß es zweifelhaft bleiben, ob Sailer von den Theorien Auenbruggers beeinflußt wurde, wie es Baumann vorschlägt. (BAUMANN, Überlegungen zur Geschichte des Suizids, 1994, S. 321.) 98 Siehe Kap. 3.3.3. 99 SAILER, Ueberden Selbstmord, 1785, S. 115ff.

142

2. Pathologisiening und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

dazu, selbst körperliche Ursachen nicht als Milderungsgrund anzuerkennen, da der Mensch im christlichen Verständnis Herr über seinen Körper zu sein hatte: „Unser Cörper muß schon nach den Grundsätzen der Vernunft nicht sein eigner Herr seyn, und wir haben uns ja den Menschen, nicht als ein blos mechanisches oder physicalisches Wesen vorzustellen, sondern als ein mit Vernunft und Willen, und zwar freyen Willen begabtes, deßen herrschender Theil nicht der Cörper, als der unedelste Theil, sondern die Seele seyn soll." 1 0 0

Daher sei der Selbstmörder, auch wenn er „sich aus cörperlicher Melancholie Schaden an seinem Leibe" antue, dennoch „ganz gewis auch ein Unchrist", und, da er sich von seinem Körper hatte bestimmen lassen, verrate er, daß er „keine geheiligte Seele habe". 101 Wie bereits dargestellt, gab es nicht nur in der Theologie die Ansicht, daß jede(r) für den Zustand des eigenen Körper verantwortlich sei. Erinnert sei nur an die Bestrebungen der aufklärerischen Gesundheitserziehung oder der Idee einer „medizinischen Polizey." 102 Diese Tendenzen korrespondierten mit allgemeinen Veränderungen der Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungen von Körper und Krankheit, die Gesundheit zu einer moralischen Verpflichtung machten. In diesem Sinne wurde auch die Pathologisiening des Suizids selbst von Zeitgenossen wahrgenommen. Hufeland, als Autor einer der wichtigsten diätetischen Schriften, beklagte etwa, daß im Vergleich zu früher die Ursachen für Selbsttötungen andere geworden seien. Diese Veränderung sei charakteristisch für die allgemein negativen Zügen seiner Gegenwart: „Hier muss ich noch einer neuen schrecklichen und auf unmittelbare Destruction des Lebens abzweckende Krankheit gedenken: des Triebs zum Selbstmord. Dieser unnatürliche, ehedem blos durch traurige Nothwendigkeit und heroischen Entschluss mögliche Zustand, ist jetzt eine Krankheit geworden, die in der Bliithe der Jahre unter den glücklichsten Umständen, blos aus Ekel und Ueberdruss des Lebens, den entsezlichen und unwiderstehlichen Trieb hervorbringen kann, sich selbst zu vernichten." 103

Für Hufeland als Theoretiker des Kräftegleichgewichts war die zum Selbstmord' treibende Krankheit letztlich durch falsche Lebensart selbst verschuldet. In dieser Argumentation konnte folglich eine moralische Bewertung neben der pathologisierenden Interpretation Platz finden. Selbst wenn ein Suizident melancholisch war, galt es zu prüfen, ob er sich selbst mutwillig oder aus Leichtsinnigkeit in diesen Zustand gebracht hatte. 104 Wie der Suizid seinen Sündencharakter verlor und zu einem medizinischen Problem umgedeutet wurde, rückte auch eine andere am eigenen Körper voll100

TELLER, Vernunft- und schriftmäßige Abhandlung, 1776, S. 61. Ebd., S. 63 f. 102 Siehe Kap. 1.3.3 u. Kap. 1.3.4. 103 HUFELAND, Christoph Wilhelm v.: Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, Jena 1797, S. 366f. 104 Etwa: SPONSEL, Abhandlung, 1776, S. 4 0 f . 101

2.1. Theologen, Moral und Medizin

143

zogene Eigenmächtigkeit in den Zuständigkeitsbereich des Arztes: die Onanie. Ich erwähne deren Bedeutungsveränderung an dieser Stelle, da auch im Fall der Onanie die Medikalisierung keineswegs die moralischen Vorwürfe aufhob. Vielmehr verging sich der Onanist als einer der „Bösewichter der Moderne"105 an seinem eigenen Körper und an seiner Gesundheit. Als Folge hatte er unter den schlimmsten Krankheiten, die bis in den Tod führen konnten, zu leiden. 106 Außerdem gab es noch eine unmittelbare Verbindung zwischen Suizid und Onanie: Die Onanie wurde als eine der wichtigsten Ursachen des Suizids angesehen. So forderte etwa Sintenis - also einer derjenigen theologischen Autoren, die sich als durchaus offen für medizinische Theorien zeigten - die „Hemmung der verfrüheten und unnatürlichen Befriedigung des Geschlechtstriebes", denn diese sei zugleich eine „Hemmung des um sich greifenden Selbstmordes."107 Letztlich bestand der Vorteil der medizinischen Argumentation darin - und das habe ich bereits erwähnt - daß man trotz aller moralischen Bedenken eine Nische für die Betrachtung des einzelnen Falles offen lassen konnte. Es gibt Texte, die diese Ambivalenz in sich selbst vereinen; die Verständnis für Suizidenten fordern, obwohl sie sich an anderer Stelle aufs bitterste darüber beklagen, wie frevelhaft eine solche Tat sei. Die am Anfang darüber lamentieren, es sei „für das menschliche Gefühl empörend, daß ein Mensch den sträflichen Gedanken nähren und unterhalten kann, es ist besser nicht seyn, als seyn, und dann es keck wagen darf, sich mit kaltem Blute das Leben zu nehmen." Und damit enden: „Wie weit kann der Mensch sinken, und dennoch im Fallen un105 LAQUEUR, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, München 1996 (Original 1990), S. 257. Vgl. zur „Erfindung" der Onanie im 18. Jahrhundert auch: ders.: Onanie und Geschlecht, 1712-1990, in: BRAUN, Friederike/PASERO, Ursula: Wahrnehmung und Herstellung von Geschlecht, Opladen 1999, S. 21-36, hier: S. 21 f. 106 Sehr deutlich findet sich die Verbindung von medizinischer Erklärung und Verdammung bei HUFELAND: „Schrecklich ist das Gepräge, was die Natur einem solchen Sünder aufdrückt! Er ist eine verwelkte Rose, ein in der Blüthe verdorrter Baum, eine wandelnde Leiche. [...] Der ganze Körper wird krankhaft, empfindlich, die Muskelkräfte verlieren sich, der Schlaf bringt keine Erholung". (HUFELAND, Makrobiotik, 1797, S. 346f.) Vgl. auch: KÄMPF, Johann, Abhandlung von einer neuen Methode, die hartnäckigsten Krankheiten, die ihren Sitz im Unterleibe haben, besonders die Hypochondrie sicher und gründlich zu heilen, 2. Aufl., Leipzig 1786, S. 72. FREVERT deutet den Zusammenhang von Moral und medizinischer Erklärung dahingehend, daß alles, was moralisch nicht akzeptabel sei, als ungesund diffamiert werden könne. (FREVERT, Ute: Krankheit als politisches Problem 1770-1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung, Göttingen 1984, S. 35.) Vgl. zur medizinischen Deutung der Onanie außerdem: SINGY, Patrick: Le pouvoir de la science dans ,L'Onanisme' de Tissot, in: Gesnerus, Bd. 57, 2000, S. 27-41. Siehe zur Onanie auch Kap 3.3.3.2. 107 SINTENIS, Ueber die zweckmäßigsten Mittel, 1792, S. 82. Vgl. auch: VOGEL, Samuel Gottlieb: Weiblicher Selbstmord als Folge eines geheimen Lasters. Aus einem Briefe des Arztes der Unglücklichen, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 10, 1787, S. 172-176.

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2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

sere Nachsicht, unsere Schonung fordern, wenn wir uns in seine unglückliche Lage hinein denken wollen!" 108 Die pathologisierende Interpretation Schloß außerdem die Möglichkeit eines vernünftigen Selbstmordes aus. Denn „von einem für Wahrheit gehaltenen Irrthum wurde doch gewiß ieder tyrannisirt, welcher den Vorspiegelungen seiner zu reizbaren Empfindlichkeit oder seines dicken melancholischen Blutes traute". 109 Und nur der im vollen Besitz der geistigen Kräfte gewählte Freitod, der sogenannte „philosophische Selbstmord" war es ja schließlich, der außerhalb aller Rechtfertigungsmöglichkeiten lag. Konstatierte man aber, daß letztlich jeder Suizid in einem Zustand von Krankheit und also von Unzurechnungsfähigkeit begangen wurde, dann erübrigte sich die Frage nach der Legitimität des freiwilligen Todes. Die Tat könne „gar nicht moralisch gewürdigt werden, weil ein solcher so wenig moralisch als unmoralisch handelte, indem er dabei nicht mehr ganz frei, und seines Verstandsgebrauchs mächtig war. Entsteht in einem solchen Kranken nur der Gedanke an den Selbstmord, so ist seine Vernunft schon nicht mehr frei." 110 Selbst dann, wenn man dem Toten viel Ehre hätte zurechnen können, war es besser ihn als krank aufzufassen und darzustellen. So schreibt das „Deutsche Magazin" über den Suizid von James Sutherland: „Welcher Edelmuth! Welche feine Sorgfalt für Deinen Ruf! [...] Auch ward des Unglücklichen Tod allgemein betrauert. Ungeachtet seiner eigenen Versicherung, nahm man es als ausgemacht an, daß nur eine unwillkürliche Geistesschwäche seinen Entschlus möglich machte."111 Dieses Zusammenspiel der alten Macht Moral und der neuen Macht Medizin findet sich in auffälliger Übereinstimmung auch bei der juristischen Auseinandersetzung mit dem Thema Suizid.

2.2. Die juristische Perspektive Erinnern wir uns nochmals an den Tod des Theologen Danovius. Da er .Selbstmord' begangen hatte, mußten seine Beweggründe erforscht werden, weshalb man seine Leiche sezierte. Ziel der Obduktion war es, festzustellen, ob die Tat in einer vernünftigen Geistesverfassung ausgeführt worden war oder nicht. 108 Selbstmord ein Verbrechen und Krankheit nach Befinden, in: Almanach für Aerzte und Nichtärzte auf das Jahr 1794, Jena 1794, S. 165-177, hier: S. 165 f. u. S. 176. 109 Antwort an diese Unglückliche, in: Beiträge zur Beruhigung und Aufklärung über dieienigen Dinge, die dem Menschen unangenehm sind oder sein können, und zur nähern Kenntnis der leidenden Menschheit, Bd. 4, 1795, S. 827-853, hier: S. 833. 110 ZAHN, Johann Christ. Mathias: K. H. Heydenreichs, gewesenen Professors der Philosophie in Leipzig, philosophische Gedanken über den Selbstmord, freymüthig geprüft von einem seiner Freunde, Weißenfeld und Leipzig 1804, S. 50. 111 James Sutherland, in: Deutsches Magazin, Bd. 3, 1792, S. 608-625, S. 623f.

2.2. Die juristische Perspektive

145

Welchen hohen Stellenwert diese Frage für die moralische Bewertung des Toten hatte, haben wir bereits gesehen; und ebenso, daß die Diagnose, Danovius sei von einer „hypochondrischen Melancholie" befallen gewesen, die bestmöglichen Chancen für eine milde Beurteilung bot. 112 Aber nicht nur Mediziner, Moralisten oder Theologen interessierten sich für den körperlichen Zustand eines Suizidenten. Vielmehr waren die Untersuchungen, Befragungen von Verwandten oder Sektionen von großem Interesse für die juristische Fraktion. Denn noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ein Suizid in manchen der deutschen Territorien eine Straftat. Und selbst in Preußen, wo die Bestrafungen längst abgeschafft worden waren, gab es nichtsdestotrotz Bestimmungen über die Art des Begräbnisses von »Selbstmördern'.113 Deutschsprachige Juristen und Nicht-Juristen diskutierten im 18. Jahrhundert die strafrechtliche Beurteilung des Suizids ausdauernd und vehement. Wiederum gilt es, die Spuren medizinischer Ideen nachzuvollziehen. Welche Ursachen und welche Folgen hatte deren Einfluß?

2.2.1. Fakten und Diskurse

Ich habe bereits angedeutet, daß es im 18. Jahrhundert in den deutschsprachigen Gebieten keine einheitliche Gesetzeslage zum Tatbestand .Selbstmord' gab. Das entsprach der allgemeinen geopolitischen Situation. So hatte beispielsweise in Sachsen 1794 der Kurfürst nach entsprechenden Erlassen aus den Jahren 1723 und 1779 erneut angeordnet, die Körper der als nicht-melancholisch qualifizierten Suizidenten auf das „theatro anatomico" zu bringen, was wie das ebenfalls mögliche unehrenhafte Begräbnis den Suizid als strafwürdig bewertete. 114 Im Nachbargebiet Preußen war hingegen die Bestrafung des Suizids spätestens 1751 aufgehoben worden. 115 Dennoch war das Problem 112

Siehe: Kap. 1.1. Vgl.: SCHÜTZ, Christian Gottfried: Leben und Charakter des Herrn Ernst Jacob Danovius der Gottesgelahrtheit ersten Professors zu Jena, Halle 1783, S. 35 u. S. 51. 113 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, von 1794, hrsg. v. Hans Hattenhauer, Frankfurt a. M./Berlin 1970, Teil II, 20. Titel, 11. Abschn., § 803, S. 698: „Selbstmörder sollen [...] alles dessen, womit sonst das Absterben und Andenken andrer Leute von ihrem Stande oder Range geehrt zu werden pflegt, verlustig seyn." 114 Generale, die zu den anatomischen Theatern auf den Universitäten Leipzig und Wittenberg, und bei dem collegio medico-chirugico zu Dresden zu verabfolgenden Leichname betr., den 8. Juli, in: Codex Saxonicus, Chronologische Sammlung der gesammten praktisch-giiltigen Königlich Sächsischen Gesetze von den ältesten Zeiten, vom Jahre 1255 an bis zum Schlüsse des Jahres 1840, Bd. 1, Leipzig 1842, S. 1271. Noch 1829 wurde diese Bestimmung erneut bestätigt. (V. d. L. R., die Abgabe der Leichname der Selbstmörder und Verunglückten ... betr., vom 4. Juli 1829, in: ebd., Bd. 2, S. 307.) - Daß tatsächlich Suizidenten an die Anatomie überliefert wurden, belegen Akten des Universitätsarchivs Leipzig: Medizinische Fakultät: Med. Fak. A Illa 11 Bd. 1. 115 Rescript wegen der Körper der Selbst-Mörder und deren Beerdigung, 6. 12. 1751, in: Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium praecipue Marchicarum,

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2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Suizid ganz unabhängig v o n der j e w e i l i g e n strafrechtlichen Situation virulent: D i e B e v ö l k e r u n g widersetzte sich b i s w e i l e n v e h e m e n t d e m ehrenhaften B e gräbnis e i n e s S u i z i d e n t e n . 1 1 6 A u ß e r d e m schien man auch in der (^aufgeklärten') Strafrechtsdiskussion nicht davon auszugehen, daß das Problem der Suizidstrafen durch die Edikte Friedrichs II. ein für alle M a l gelöst w o r d e n war. Vielmehr war die Auseinandersetzung u m die Strafbarkeit des Suizids erstaunlich unabhängig v o n der bestehenden R e c h t s l a g e in Preußen - erstaunlich insofern, als auch G e g n e r einer Selbstmordbestrafung k a u m auf die v o n Friedrich II. erlassenen Edikte v e r w i e s e n , o b w o h l die Verfügungen des Preußenk ö n i g s d o c h mit Sicherheit als treffliche argumentative Stütze wider die althergebrachten Strafmaßnahmen hätten dienen k ö n n e n . 1 1 7 Eine s o l c h e Immunität g e g e n die vermeintliche .Macht des Faktischen', g e g e n die .Realität' der G e s e t z e läßt sich nur dahingehend deuten, daß die A b schaffung der Suizidstrafen nicht nur machbar, sondern auch denk- und sagbar Bd. 3, Berlin 1766, Sp. 1203f. Allerdings muß auch das angeordnete ,stille' Begräbnis, das also ohne die üblichen Feierlichkeiten ablaufen sollte, als Symbol der Ausgrenzung aus der Normalität verstanden werden. Bereits 1747 wurde in Preußen das schändliche (also nicht ehrenhafte) Begräbnis für „diejenige mitleidens-würdigen Personen, welche durch Wahnwitz, eingewurtzelte Melancholie, Gemüths-Schwachheit, hitzige Kranckheiten, Raserey, oder anderer dergleichen betrübte Ursachen zu dem Selbstmord gebracht werden," aufgehoben (Declaration derer bisherigen Edicté von dem Selbstmord, und Begrabung derer sich Selbst Entleibenden, 7. 3. 1747, in: Corpus Constitutionum Marchicarum, Continuatio, Bd. 3, Berlin 1748, Sp. 147 f.). Es bleibt quellenkritisch zu beachten, daß die im Corpus Constitutionum enthaltenen Edikte keinesfalls als vollständige Sammlung angesehen werden dürfen. So liegen etwa Hinweise auf Sonderbestimmungen für den Soldatenstand vor, die bereits 1743 melancholische Suizidenten nicht länger durch den Schinder begraben wissen wollten. (Circulare an sämmtliche Auditeurs, auch Guarnison-Auditeurs, 29. 4. 1743, in: M Ü L L E R , George Friedrich: KöniglichPreußisches Krieges-Recht, Oder Vollständiger Innbegriff aller derjenigen publicirten Gesetze, Observantzen und Gewohnheiten, welche bey der Königl. Preuß. Armée zu beobachten sind [...], Berlin 1760, S. 673, § 9.) 116

Es werden Fälle berichtet, in denen sich die Bevölkerung dem ehrlichen Begräbnis bis hin zur Auseinandersetzung mit königlichen Truppen widersetzte - vgl. etwa: Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, 1787, S. 67 f.; Journal von und für Deutschland, Bd. 1., 1784, 4. Stück, S. 477; ebd., Bd. 4, 1787, 1. Stück, S. 185 f; Schlesische Provinzialblätter, Bd. 2, 1785, S. 180f. 117 Die wenigen Autoren, die die preußische Rechtslage miteinbezogen, beließen es meist bei eher vagen Andeutungen; so etwa: Ueber die Behandlung der Selbstmörder. Aus der Gegend des Maynstroms, in: Journal von und für Deutschland, Bd. 2, 1785, S. 36-39, hier: S. 36. Hier ist die Rede von „menschenfreundlichen Regenten", die die Bestrafung abgeschafft hätten. Klar und auch positiv Bezug auf Friedrich II. nimmt allerdings: KNÜPPELN, Ueber den Selbstmord, 1790, S. 36. Auch die Begründung Ursula BAUMANNS, daß die „Verhältnisse in anderen Ländern" entscheidend dazu beigetragen hätten, daß „die Auseinandersetzung mit den Sanktionen noch Jahrzehnte nach den friderizianischen Edikten in Preußen von der Tagesordnung der Aufklärer nicht verschwunden war", erklärt kaum ausreichend, weshalb diese Aufklärer nicht auf die Gesetzgebung Friedrichs II. rekurrierten. (BAUMANN, Suizid als soziale Pathologie, 1997, S. 496.)

2.2. Die juristische Perspektive

147

gemacht werden mußte, daß also die im preußischen Strafrecht (bereits) vollzogene Aufhebung der Sanktionen nicht automatisch eine Aufhebung der bestehenden Denk- und Argumentationsschemata voraussetzte beziehungsweise bewirkte. Damit die Straffreiheit des Suizids allgemein akzeptierbar werden konnte, bedurfte es vielmehr einer langwierigen Diskussion, die auf verschiedenen Entwicklungen und Verschiebungen sowohl innerhalb als auch außerhalb der juristischen Debatte fußte. Außerdem trugen die veränderten, ja revolutionierten Kommunikations- und Publikationsstrukturen dazu bei, daß sich die Debatte um den Suizid sowohl allgemein als auch in strafrechtlicher Hinsicht im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts enorm ausweiten konnte. 118

2.2.2. Die strafrechtliche

Debatte

Die theoretische Begründung jeder strafrechtlichen Verfolgung des Suizids setzte offenkundig zweierlei voraus: Erstens mußte der Tat Verbrechenscharakter zugeschrieben werden, zweitens war von der Annahme auszugehen, daß auch ein Toter noch Strafen unterzogen werden könne. Beide Aspekte wurden im Verlauf des 18. Jahrhunderts entscheidend modifiziert. Wie sich die theologische Argumentation auf das Tötungsverbot des 5. Gebots stützte, wurde der Verbrechenscharakter des Suizids parallel zur Strafbarkeit des Mords festgelegt:119 Jegliche Tötung menschlichen Lebens sei gleich zu bewerten, egal, ob es sich um das eigene oder um ein fremdes Leben handle. Entsprechend wurde (lediglich) danach differenziert, ob die Tat vorsätzlich begangen worden war. 120 Es ist eine der auffälligsten Veränderungen im Verlauf des 18. Jahrhunderts, daß der Suizid diese Nähe zu Mord und Totschlag verlor. Beeindruckend deutlich und gleichsam visualisiert wird diese Entwicklung dadurch, daß man in der Kriminalrechtsliteratur den Suizidparagraphen nicht länger unter die Tötungsdelikte subsumierte, sondern ihm einen neuen Platz im 118

Siehe zu Ausmaß und Bedeutung der neuen Publikationsmöglichkeiten Kap. 3.2.1. Vgl.: Eintrag zum Stichwort „Selbstmord", in: ZEDLER, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 36, Leipzig/Halle 1743, Nachdr. Graz 1962, Sp. 1595-1614, hier: Sp. 1596 u. Sp. 1603; KRÖNER, Otto: Die vorsätzlichen Tötungsdelikte in ihrer Entwicklung von der Carolina bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Diss. Göttingen 1958, S. 112. 120 So etwa: ENGELHARD, Regnerus: Versuch eines allgemeinen peinlichen Rechtes aus den Grundsätzen der Weltweisheit, und besonderst des Rechtes der Natur hergeleitet, Frankfurt/ Leipzig 1756, S. 344, § 266: „Da nun eine jede Handlung, wodurch einem Menschen das Leben genommen wird, ein Todschlag heisset: So erhellet daraus, daß auch ein Todschlag an sich selbst begangen werden könne. Da solches wohl nicht änderst als mit dem Vorsatze geschiehet, sich das Leben zu nehmen; Ein solcher Todschlag aber, der aus eigentlichem Vorsatze begangen wird, ein Mord heisset: So wird ein solcher Todschlag, den einer an sich selbst begehet, oder eine jede Handlung, wodurch sich einer selbst das Leben nimmt, ein Selbstmord genennet". Vgl. zur Einordnung des Suizids als Mord auch: DORN, Johann Lorenz: Versuch über das peinliche Recht, Leipzig 1790, S. 300, § 104. 119

148

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Strafrechtssystem zuwies - das konnte etwa auch durch die Situierung in einem Anhang passieren.121 Die neue Zuordnung weist darauf hin, daß Unsicherheiten darüber bestanden, wo man den Suizidparagraphen sonst hätte unterbringen sollen. Diese Verunsicherung entstand daraus, daß etwas, das man nicht länger als Verbrechen einstufen wollte, dennoch im Strafrecht untergebracht werden sollte. Selbst ein zeitgenössischer Autor fand diese Neuordnung bemerkenswert: Karl Grolman begrüßte die Veränderung und begründete sie ausdrücklich damit, daß man durch „reiferes Nachdenken über das Criminalrecht" endlich die „Verbannung der unvernünftigen Verwechslung der Worte Verbrechen und Sünde" vollzogen habe. 122 Diese Einschätzung Grolmans entspräche einer in der Historiographie allgemein verbreiteten Annahme: Die „Trennung von Recht und Moral, Unrecht und Sünde" sei als grundlegende Errungenschaft der aufgeklärten' Strafrechtswissenschaft des 18. Jahrhunderts zugleich die entscheidende Voraussetzung für eine beginnende Entpönalisierung des Suizids gewesen. 123 Und nicht nur der zuvor zitierte Grolman, auch Carl Gottlieb Svarez folgte in seinen berühmten Kronprinzenvorträgen124 dieser von Montesquieu allerdings schon viel früher aufgestellten Forderung 125 . Dennoch sind Zweifel an einer absoluten Separierung der Sphären von Recht und Moral laut geworden. So kann es nicht anders als ernüchternd wirken, wenn Gerd Wächter „die Unterscheidung von Recht und Moral" als ein „Produkt des Absolutismus" charakterisiert, das nicht zu verwechseln sei mit der „wirklich aufklärerischen Kampfforderung[..] Trennung von Legalität und Moralität". 126 121

Folgende Autoren führen unter anderem den Selbstmord nicht mehr unter der selben Rubrik wie die Tatbestände Mord und Totschlag: GLOBIG, Hanns Ernst von/HuSTER, Johann George: Vier Zugaben zu der im Jahre 1782 von der ökonomischen Gesellschaft zu Bern gekrönten Schrift von der Criminalgesetzgebung, Altenburg 1785, S. 345; G R Ü N D E R , C. Α.: Grundsätze des teutschen peinlichen Rechts, Halle 1799, S. 196, § 410; TITTMANN, Carl August: Grundlinien der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde, Leipzig 1800, S. 254ff., § 316. 122 G R O L M A N , Karl: Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft. Nebst einer systematischen Darstellung des Geistes der deutschen Criminalgesetze, Glessen 1798, S. 284, § 447. 123 REHBACH, Bemerkungen, 1 9 8 6 , S. 2 4 5 . Vgl. auch: FISCHL, Otto: Der Einfluss der Aufklärungsphilosophie auf die Entwicklung des Strafrechts, Breslau 1913, Ndr. Aalen 1981, S. 125; GEIGER, Selbstmord im deutschen Recht, 1891, S. 27; KROMER, Die strafrechtliche Problematik, 1969, S. 93. 124 SVAREZ, Carl Gottlieb: Vorträge über Recht und Staat, 1791-1792, hrsg. v. Hermann Conrad u. Gert Kleinheyer, Köln/Opladen 1957, S. 405.

125

V g l . : MINOIS, G e s c h i c h t e , 1996, S. 3 3 1 f.

Gerd H . : Strafrechtliche Aufklärung. Strafrecht und soziale Hegemonie im achtzehnten Jahrhundert, Diss. Frankfurt a.M. 1987, S. 116. Kritisch anzumerken bleibt, daß Wächter letztlich aber hinter seinem eigenen Anspruch zurückbleibt, bei der „Analyse von strafrechtlichen Phänomenen und ihrer Entwicklung von einem Primat der ideologisch-kommunikativen Dimension und Funktion des Strafrechts" (ebd. S. 27) auszugehen, da er die Konstruiertheit der Kategorien Recht und Moral nicht genug berücksichtigt. 126 W Ä C H T E R ,

2.2. Die juristische Perspektive

149

Wie ist diese Interpretation Wächters damit in Einklang zu bringen, daß gegen Ende des 18. Jahrhunderts harte Suizidstrafen von der Mehrzahl der Juristen abgelehnt wurden? 127 Zunächst bleibt festzuhalten, daß moralische Vorstellungen sowohl in der allgemeinen Strafrechtsdebatte128 als auch in der uns hier besonders interessierenden Auseinandersetzung mit dem Suizid keineswegs völlig verbannt wurden. Allein die immer noch geforderten, auf das Begräbnis bezogenen Sanktionen - und sei es auch nur eine Reduzierung der erlaubten Feierlichkeiten - sind nur aus den moralisch-religiösen Kontexten heraus verstehbar:129 Der Verlust des normalen, ehrenvollen Begräbnisses bedeutete einerseits eine gesellschaftliche Diffamierung, andererseits bewertete man ein ehrliches Begräbnis als Voraussetzung, um im Jenseits das Seelenheil zu erlangen.130 Die Differenzierung von Moral und Recht, die man Wächter folgend als ,light-Version' einer klaren Trennung von Legalität und Moralität einschätzen mag, wurde indessen weniger als ein reflektierter Höchstanspruch eingeklagt, als daß sie den Juristen als argumentative Entlastungsfunktion diente: So ließ sich an der Verwerflichkeit des Suizids festhalten (und ein solcher Hinweis fehlte in kaum einem Text, sei es auch ein noch so reformfreudiger) und gleichzeitig - fein separiert - dennoch den Veränderungen des gesamten Strafsystems Rechnung tragen, die eine Bestrafung des Suizids aus dem System selbst immanenten Gründen mehr und mehr verunmöglichten. Was aber machte diese Veränderungen aus? Und wie konnten dabei moralische Vorstellungen weiter oder sogar wieder vermehrt131 - wirksam werden? Eine der zentralen Debatten der Rechtswissenschaft im 18. Jahrhundert kreiste um die Probleme Strafzweck und -legitimität. Grundsätzlich denkbar für eine strafrechtliche Sanktionierung des Suizids waren Strafen am Körper des Toten, ein unehrenhaftes oder gar schändliches Begräbnis132 oder aber die 127

Bezüglich der Gesetzgebung Friedrichs II. sind die Etikettierungen .aufgeklärt' oder .absolutistisch' oder .aufgeklärt-absolutistisch' wohl tatsächlich wenig hilfreich. 128 Vgl. dazu insb.: HELLMUTH, Eckhart: Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont, Göttingen 1985, S. 272-278. 129 Vgl.: BUHR, Heiko: „Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun?" Studien zum Freitod im 17. und 18. Jahrhundert, Würzburg 1998, S. 58. BUHR kontrastiert diese .religiöse' Strafe eines weniger ehrenvollen Begräbnisses mit der eher ,weltlichen' der Vermögenskonfiszierung. 130 THÜMMEL geht daher mit seiner Schlußfolgerung fehl, daß das vorenthaltene ehrliche Begräbnis ab dem 17. Jahrhundert als rein weltliche Strafe gewirkt habe. (THÜMMEL, Versagung der kirchlichen Bestattungsfeier, 1902, S. 120.) 131 HELLMUTH weist darauf hin, daß beispielsweise Wolff hinter die Strafrechtsauffassung Thomasius' zurückgehe, eben indem bei ihm eine klare Trennung von Recht und Moral fortfalle. (HELLMUTH, Naturrechtsphilosophie, 1985, S. 107.) 132 Bei einem unehrenhaften Begräbnis wurde der/die Tote zwar auf dem Friedhof, aber meist an einem besonderen Ort und ohne jede Feierlichkeit begraben, während das schändliche Begräbnis außerhalb des Friedhofs stattfinden mußte. Zur Unterscheidung der verschiedenen Begräbnisformen siehe auch: FRANK, Michael: Die

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2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Konfiszierung des Vermögens. Besonders letzteres mußte offensichtlich ausschließlich die Verwandten des/der Toten treffen. Aber auch das schändliche Begräbnis, das der Suizident selbst ja nicht mehr wahrnehmen konnte, wurde als hauptsächlich gegen die Angehörigen gerichtet verurteilt; beide Strafvarianten widersprachen somit dem Postulat der Persönlichkeit der Strafen.133 Ganz in diesem Sinne schrieb Julius Soden: „Das Verbrechen haftet einzig an der Person des Verbrechers. [...] Die Asche und das Andenken eines Selbstmörders kann nicht gebrandmarkt werden, ohne zugleich die Familie desselben zu kränken".134 Auch durch den - vermeintlich oder tatsächlich - erzielten Abschreckungseffekt konnten solche Maßnahmen nicht länger gerechtfertigt werden, denn es wurde mehr und mehr angenommen, daß „Abschreckung Anderer [...] der Hauptzweck der Strafen nicht seyn" könne. 135 Andernfalls, so der eben zitierte G. A. Kleinschrod, müßte man „jede That schwer und auffallend bestrafen, um desto mehr zu schrecken."136 Statt an einem überwiegenden Abschreckungszweck orientierte man sich nun verstärkt an der „Besserung des Bestraften"137, die bei einem toten Suizidenten natürlich nicht stattfinden konnte. Besserung aber hatte man immer auch im Sinne einer moralischen Besserung zu verstehen. Hier kehrte die Moral also mit Vehemenz zurück. Eckhart Hellmuth spricht angesichts der von Ernst Ferdinand Klein entwickelten Ideen sogar von einer „Fixierung auf die fehlende Geduld Hiobs. Suizid und Gesellschaft in der Grafschaft Lippe (1600-1800), in: SIGNORI, Gabriela (Hrsg.): Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften, Tübingen 1994, S. 152-188, hier: S. 167. 133 REHBACH, Bemerkungen, 1986, S. 246; WACKE, Andreas: „Selbstmord", in: Handbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 1616-1619, hier: Sp. 1618. 134 SODEN, Julius: Geist der peinlichen Gesetzgebung Teutschlands, Frankfurt a.M. 1792, S. 315, § 2 7 3 . Vgl. auch: HOMMEL, Kommentar, 1778, S. 173; in nämlicher Weise argumentiert selbst von theologischer Seite: BLOCK, Vom Selbstmord, 1792, S. 145. 135 KLEINSCHROD, Gallus Aloys: Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinlichen Rechts, 3 Theile, 2. verm. Aufl., Erlangen 1799, hier: Theil 2, S. 130, § 49. 136 Ebd. Vgl. auch: SCHAUMANN, Johann Christian Gottlieb: Ideen zu einer Kriminalpsychologie, Halle 1792, S. 72. 137 HIPPEL, Theodor: Beytrag über Verbrechen und Strafen, 2. Aufl., Königsberg 1797, S. 30. Natürlich wurde der Abschreckungsaspekt nicht völlig aus dem Gedankensystem der Strafrechtstheoretiker verabschiedet. Außerdem entstand die paradox anmutende Situation, daß gerade als überaus progressiv geltende Juristen wie Hommel harte Bestrafungen mit dem Hinweis auf den dadurch erzielten Präventionseffekt rechtfertigten. Vgl. dazu und allgemein zur äußerst ambivalenten Auseinandersetzung um den Strafzweck: CATTANEO, Mario Α.: Die Strafrechtsphilosophie der deutschen Aufklärung, in: Aufklärung, Bd. 5, 1990, S. 25-56, insbes.: S. 46-56.

2.2. Die juristische Perspektive

151

moralisch belehrende Wirkung der Strafvollstreckung".138 Gerade das Beispiel Kleins ist charakteristisch für die erstaunliche Ambivalenz des aufgeklärten' Denksystems. Während er einerseits betont, man dürfe „den Gesetzgeber und den Richter nicht mit dem Moralisten verwechseln",139 sollten die festgesetzten Strafen andererseits doch immer auch eine moralische Besserung des Delinquenten bewirken, ja er gestaltete sogar ausgefeilte Pläne für ein „Liebes- und Ehrengericht", das ausdrücklich der moralischen Erziehung (nicht nur des Delinquenten, sondern eigens geladener Zuschauer) verpflichtet sein sollte.140 Die veränderten Vorstellungen über den Strafzweck hatten außerdem zur Folge, daß Körperstrafen immer weniger präferiert wurden; an ihre Stelle traten vermehrt Arbeits- und Gefängnisstrafen.141 Jedoch sollte auch diese Entwicklung nicht oberflächlich und absolut mit einer bewußt erstrebten Humanisierung des Bestrafungssystems gleichgesetzt werden. Sicherlich wurde auch die Grausamkeit mancher als überkommen erachteter Strafrituale kritisiert, schien das Ende des „Straftheaters" 142 erreicht und statt dessen das „Zeitalter der Strafnüchternheit" 143 eingeläutet. Allerdings klangen in der ungeheuer umfangreichen Debatte über den Strafzweck auch ganz andere Töne an: Von vielen Seiten wurde der Zweck der Strafe eher auf eine Zweckmäßigkeit zurückgeführt, es galt dem Staat durch die vollzogene Strafe so viel Nutzen wie möglich zu verschaffen. Dabei ging es neben der Besserung des Delinquenten bisweilen ganz profan um den Profit durch die auferlegte Zwangsarbeit.144 Beide Aspekte konnten im Fall der (toten) Suizidenten naturgemäß nicht mehr grei-

138

HELLMUTH, Naturrechtsphilosophie, 1985, S. 2 7 7 .

139

KLEIN, Ernst Ferdinand: Herr Professor Carl Grolman, in: Archiv des Criminalrechts, Bd. 1, 1799, 4. Stück, S. 143-167, hier: S. 159. Vgl. auch: ders.: Ueber das Moralische in der Strafe, in: ebd., 3. Stück, S. 40-44. 140 Ders.: Fragmente eines peinlichen Gesetz-Buchs, nebst einer Anleitung dazu, in: ders.: Vermischte Abhandlungen über Gegenstände der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit, Bd. 1, Leipzig 1780, S. 2 3 - 8 8 , hier: S. 7 4 - 8 6 , nach: HELLMUTH, Naturrechtsphilosophie, 1985, S. 275.

Der „Entkriminalisierungsprozeß" des Suizids war folglich nicht nur im Vergleich von Theorie und Praxis ambivalent, wie LIND herausarbeitet, sondern außerdem auch innerhalb der juristischen Debatte von Widersprüchen geprägt. (LIND, Vera: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein, Göttingen 1999, S. 463.) 141 Vgl.: BREITENBORN, Anke: Randgruppen im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Berlin 1994, S. 175. 142 Vgl.: DÜLMEN, Richard van: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 1985, S. 182 ff.; FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976 (Original 1975), S. 19. 143 FOUCAULT, Überwachen und Strafen, 1976, S. 23. 144 So betonte selbst Voltaire in seiner Argumentation gegen die Todesstrafe, daß dem Staat durch Hinrichtungen wertvolle Arbeitskraft verloren gehen würde. (Vgl.: FISCHL, Einfluß der Aufklärungsphilosophie, 1913/1981, S. 46.)

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2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

fen, sie fielen also aus dem neuen Konzept der Strafbegründung heraus.145 Anders war es dementsprechend bei nicht tödlichen Selbstmordversuchen: Findet sich hier eine Erklärung dafür, daß manche Autoren für den .gescheiterten' Suizid ungleich härtere Maßnahmen verlangten als bei vollendetem? 146 Man begnügte sich nicht mit verpflichtender Aufsicht - was ja noch in die Kategorie .therapeutische Maßnahme' hätte fallen können - , sondern auch Haft- und Arbeitsstrafen standen auf dem Forderungskatalog (früher war auch noch Landesverweisung üblich gewesen). In diesem Sinne empfahl Goßlers Entwurf für das Allgemeine Landrecht, dem überlebenden Suizidenten, wenn nicht „Wahn oder Schwermuth ihn zu der That gebracht haben", eine ,,zweyjärige[..] Festungs- oder Zuchthaus-Strafe" aufzuerlegen, während er beim vollendeten Suizid ohne Unterschied das stille Begräbnis vorsah147 - der entsprechende Paragraph zum Suizidversuch ist allerdings schon in J. H. C. Carmers gedruckter Entwurfsfassung gestrichen worden. 148 Arbeit sollte zur Besserung der vom .Selbstmord' bedrohten Melancholiker führen. Hier wird einmal mehr der Einfluß der zeitgenössischen Behandlungskonzepte deutlich. Anschaulich erläutert Wieland: „Da nun die Triebfedern des versuchten Selbstmordes in heftigen sinnlichen Eindrücken, und folglich in gewaltsamen Erschütterungen des Körpers liegen: so werden Arbeiten, die den Körper beschäfftigen und ermüden, die schiklichste Strafe des versuchten Selbstmords seyn, weil man von ihnen erwarten kann, daß sie jene Triebfedern entkräften und zernichten werden." 149

145

Ähnlich konnte ja auch die Hauptforderung der Spezialpräventionstheoretiker - wie z.B. GROLMAN - , den Delinquenten von einer möglichen Wiederholung der Tat abzuhalten, nur im Falle des gescheiterten Suizidversuchs Anwendung finden, während der verstorbene Suizident davon natürlich nicht betroffen war. 146 Etwa: WIELAND, Ernst K.: Geist der peinlichen Gesetze, 2 Theile, Leipzig 1783/1784, hier: Theil 1, 1783, S. 324, § 247; QUISTORP, Johann Christoph: Grundsätze des deutschen peinlichen Rechts, 5. Aufl., Rostock/Leipzig 1794, 1. Teil, S. 443, § 300. Anders allerdings KLEIN, der sich auch ausdrücklich gegen die Strafen, wie sie QUISTORP und auch HOMMEL forderten, wendet. (KLEIN, Emst Ferdinand: Charlotte Louise Müller aus Fürstenwalde, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preussischen Staaten, Bd. 7, 1791, S . 5 8 - 8 1 , hier: S. 7 9 . ) 147

GStA PK, I. HA, Rep. 84, Nr. 7, Abt. XVI, Materialien des Entwurfs eines Allgemeinen Gesetzbuches für die Preußischen Staaten, Bd. 20: Vorarbeiten v. Goßler, fol. 19-99, hier: fol. 63, §§ 94, 96. Ähnliche Forderungen auch in der in den Mónita enthaltenen Preisschrift mit dem Motto Jure et More, in: ebd., Bd. 52 (Nr. 16), fol. 345-386, hier: fol. 372, §§ 6 7 1 - 6 7 3 . 148 CARMER, Johann Heinrich Casimir: Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten, 1. Teil, 3. Abteilung, Berlin/Leipzig 1786. 149 WIELAND, Geist der peinlichen Gesetze, Theil 1. 1783, S. 324, § 247. Vgl. auch: GMELIN, Christian Gottlieb: Grundsätze der Gesetzgebung über Verbrechen und Strafen, Linz 1786, § 81, S. 137.

2.2. Die juristische Perspektive

153

2.2.3. Medizin, Melancholie und die Suche nach den „Quellen des Hebels" Als Grundkonstante der gesamten preußisch-deutschen Debatte läßt sich festhalten, daß man zwar für die Straffreiheit des Suizids plädierte und durchaus vehement gegen die alten Strafen eintrat, die Tat selbst aber dennoch nicht in den Bereich des Legalen oder gar Legitimen rückte. Während etwa Beccaria, Montesquieu und Hume die Unbelangbarkeit des Suizidenten auch aus dessen Recht auf freie Verfügung über das eigene Leben ableiteten, blieben die deutschen Juristen demgegenüber stets einen argumentativen Schritt zurück: Entweder sie unterschieden weiter zwischen melancholischem und nicht-melancholischem Selbstmord und bewerteten dann den nicht-melancholischen immer noch als Verbrechen; oder sie stuften pauschal alle Suizidenten als unzurechnungsfähig ein und damit zugleich als unfähig, eine freie Entscheidung zu treffen. Somit gewann die Pathologisierung des Suizids immer mehr an Gewicht. 150 Selbst eigentlich oder vorgeblich wohlgesonnene Rezipienten Beccarias mochten sich nicht hundertprozentig zu seinen Schlußfolgerungen bekennen nicht zuletzt, was die Verabschiedung von den traditionellen moralisierenden Grundsätzen betraf. Julius Knüppeln findet sich etwa durchaus dazu bereit, Beccarias Ansichten bezüglich des Suizids über mehrere Seiten zu zitieren. Ein eindeutiges Bekenntnis zu dessen Gedanken gibt er jedoch nicht ab. Außerdem entschärft er die von ihm zitierte Radikalforderung nach einer Gleichstellung von Suizid und Auswanderung: Zwar erkennt er an, daß dem Staat in den meisten Fällen durch einen Suizid kein Schaden entstehe. Die Begründung dafür findet er aber darin, daß ein Mensch, der sich selbst töten wolle, für den Staat ohnehin wenig nützlich sei: Denn der „Melancholische und Wahnsinnige" könne nichts für „den Nutzen der Gesellschaft bewürken, da ihm die Kräfte des Verstandes mangeln". Ein Schaden wäre es aber nur, „wenn gesunde und starke, arbeitsame und thätige Bürger sich freiwillig tödten, und dieser Fall tritt gewiß sehr selten ein". 151 Die medizinische Interpretation des Suizids hatte also die Juristen ebenfalls überzeugt. Begünstigend für diese .Pathologisierung' war, daß auch in juristischen Texten Ursachenforschung einen zunehmend höheren Stellenwert erlangte. Sogar in einem Schreiben des Polizey-Direktoriums, das dieses 1796 an das kurmärkische Justiz-Department bezüglich der „Rügung des intendirten Selbstmordes" sandte, wird festgehalten, daß gesetzliche Vorschriften wohl kaum weiterbrächten, da es „hier auf die Quellen des Uebels" ankomme. 152

150

Vgl.: BACHHUBER, Uwe: Vom Täter zum Opfer. Der .Selbstmord' im Wandel sozialer Zuschreibungen, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Bd. 16, 1992, S. 32-45, hier: S. 40. 151 KNÜPPELN, Ueber den Selbstmord, 1790, S. 51. 152 An S. hochlöbl. Justiz-Departement, die Rügung des intendirten Selbstmords betr.,

154

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Diese neue Aufmerksamkeit bedeutete eine Veränderung der Perspektive, eine Neuakzentuierung der Wahrnehmung. Deutlich wird die wichtige Beeinflussung durch Impulse von außerhalb des juristischen Systems: Wie Theologen rekurrierten auch Juristen verstärkt auf medizinische und beginnend auch auf psychologische Theorien der Zeit und legten in Übereinstimmung mit diesen mehr und mehr Gewicht auf die Analyse der körperlichen Ursachen von Suizidfällen. Auf den Einflußgewinn der Anatomie beziehungsweise Pathologie auch in juristischen Fragen bin ich bereits eingegangen. Wie dargestellt, entwickelte sich mit der forensischen Medizin eine neue Möglichkeit, um Verbrechen zu bewerten. Schon durch ihren neuen Blickwinkel - in das Innere des Suizidenten hinein - mußte die Gerichtsmedizin die Wahrnehmungsmuster verändern und die Konzentration auf körperliche Ursachen unterstützen. 153 Das bedeutet außerdem, daß der Körper im Strafrechtssystem weiter eine wichtige Größe blieb, obwohl Körperstrafen verdrängt wurden. 154 Ein Thema förderte besonders, daß die von außen an den juristischen Diskurs herangetragenen Einflüsse in Neubewertungen umgesetzt wurden: die Frage nach der „Zurechnung", also nach Minderungsgründen der Straffähigkeit. 155 Es war keineswegs selbstverständlich, daß die speziellen Umstände einer Tat in Rechtsprechung und Rechtstheorie Berücksichtigung finden sollten. Erste Denkanstöße für eine Reform gab zwar bereits Pufendorf, an Breite und Bedeutung gewann die Auseinandersetzung aber erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. 156 Zuvor waren lediglich ,Raserey' oder .Wahnsinn' als Zustände anerkannt, die sich mildernd auf die Belangbarkeit der Delinquenten auswirken konnten. 157 Bis zur Entwicklung einer „Kriminal/wycÄo/ogi'e"158

ex officio, Berlin, 7 . 9 . 1796, in: GStA PK, II. HA, Abt. 14: Kurmark: Materien, Tit. CCXXXIII, Justiz-Sachen, Nr. 36: Acta wegen Rügung des intendirten Selbstmordes 1796. 153 Vgl. inbes.: ELVERT, Emanuel Gottlieb: Ueber den Selbstmord in Bezug auf gerichtliche Arzneykunde, Tübingen 1794. Auch: THOM, Georg: Auszug aus einem viso reperto, das ich über einen sich selbst Entleibten gegeben, dessen Speiseröhre und Mastdarm widernatürlich verenget waren, in: ders.: Erfahrungen und Bemerkungen aus der Arznei-, Wundarznei und Entbindungs-Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1799, S. llOf. 154 FOUCAULT hat außerdem darauf hingewiesen, daß auch das neue Strafsystem des Gefängnisses besonders die Disziplinierung des Körpers zum Ziel hatte. (Vgl.: FOUCAULT, Überwachen und Strafen, 1976, S. 36f.) 155 Vgl. zum Komplex der Zurechnung insbesondere: GSCHWEND, Lukas: Zur Geschichte der Lehre von der Zurechnungsfähigkeit. Ein Beitrag insbesondere zur Regelung im Schweizerischen Strafrecht, Diss. Zürich 1996. Dort finden sich auch Hinweise auf die ältere Literatur. 156 Vgl. dazu: ebd., S. 136f. u. S. 164. 157 Vgl.: GREVE, Ylva: Richter und Sachverständige. Der Kompetenzstreit über die Beurteilung der Unzurechnungsfähigeit im Strafprozeß des 19. Jahrhunderts, in: BERDING, Helmut/ KLIPPEL, Diethelm/Lorres, Günther: Kriminalität und abweichendes Verhalten. Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 69-104, hier: S. 70. 158 Erstmals: SCHAUMANN, Ideen zu einer Kriminalpsychologie, 1792.

2.2. Die juristische Perspektive

155

war es da noch ein weiter Weg, dessen erste Etappe auch erst kurz vor der Jahrhundertwende erreicht werden sollte. Schließlich kamen manche Autoren zu der Überzeugung, daß ein Suizident eigentlich schon deshalb nicht als straffähig anzusehen sei, da er in seiner Tat körperlichen Zwängen unterlag159 oder aus anderen Gründen ,νοη Sinnen' war: So formulierte etwa Knüppeln: „[...] wir finden, daß die mehresten Selbstmorde durch eine Zerrüttung der körperlichen Maschiene, und Verwirrung der Seelenkräfte veranlaßt werden, [...] Nach diesen [...] Grundsätzen, kann also der Selbstmord kein Verbrechen sein, weil es dem Menschen, dessen Denkorgane zerrüttet sind, an der Freiheit zu handeln fehlt". 160 Claproth bestimmte, daß, wer sich „selbst umbringet, entweder überall keinen richtigen Verstand, oder eine unrichtige Ueberzeugung hat, oder nothwendig heftige melancholische Anfälle gehabt haben muß, welche Beschaffenheiten aber alle Zurechnungen aufheben." 161 Doch selbst diese Argumentation bewahrte sich ein moralisches Sicherheitsnetz: Mochte auch eine Krankheit als Ursache des Suizids zunächst wertfrei erscheinen, so galt das nicht zwingend für die Ursache dieser Ursache: Denn es war ebenso gängige Ansicht, daß ein unmoralisches, lasterhaftes Leben - besonders prominent war in dieser Hinsicht der Rekurs auf „Onanitische [sie] Vergehungen" - häufig zu körperlichen Gebrechen, zur „Zerrüttung des Körpers" führe. 162 Über einen kleinen Umweg war der Suizident (wieder) seiner Immoralität überführt. So wie Gesundheit generell als ,,moralische[..] Verhaltensnorm" konstituiert wurde. 163 Auch den Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts lag die Annahme zugrunde, daß alle Suizidenten in einem Zustand der Verwirrung oder des Wahns handelten. So hatte es auch Goßler in seinem Entwurf noch ausdrücklich formuliert: es könne nicht „anders geurteilet werden [...], als daß er [der Suizident] keinen richtigen Verstand oder heftige Anfälle von Schwermuth gehabt habe." 164 Daß gleichzeitig aus dieser Vorannahme eines krankhaften Zustandes lediglich das Anrecht auf ein stilles Begräbnis, nicht aber auf ein normal159

Vgl. etwa: KLEINSCHROD, Systematische Entwicklung, 1799, Theil 1, S. 195 ff., § 101 f. KNÜPPELN, Ueber den Selbstmord, 1790, S. 71. 161 CLAPROTH, Justus: Ohnmasgeblicher Entwurf eines Gesetzbuches. Erste Fortsetzung welche das Criminal-Recht enthält, Frankfurt a.M. 1774, S. 69. 162 KNÜPPELN, Ueber den Selbstmord, 1790, S. 130. Vgl. ähnlich auch: Kommentar des Übers, zu Hume: Drei Untersuchungen, 1787, S. 50: wenn die Melancholie ihre Ursache in „Stolz, Wollust und Ehrgeiz" habe, dann nehme sie an der „Strafwürdigkeit Theil". Siehe zur umfangreichen Debatte über die Gefahren der Onanie Kap. 2.1.4. u. Kap. 3.3.3.2. 163 LABISCH, Alfons: Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 1992, S. 105. Vgl. auch: GÖCKENJAN, Gerd: Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1985, S. 94f. 164 GStA PK, I. HA, Rep. 84, Nr. 7, Abt. XVI, Materialien, Bd. 20: Vorarb. v. Goßler, fol. 63, §§ 96. 160

156

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

christliches abgeleitet wurde, kann nur als Zögerlichkeit interpretiert werden: Die Suizidenten waren somit pathologisiert, aber nicht rehabilitiert. Auch die Einordnung der Suizidparagraphen unter die Kategorie „Vorsätzliche Beschädigungen" weist auf die Suche nach einem Kompromiß hin. Der Suizid war so zwar nicht mehr hundertprozentig mit dem Mord gleichgesetzt, aber auch nicht zu weit von ihm entfernt.

2.2.4. Widerstände gegen die

Entpönalisierung

Wie überaus ambivalent sich die Auseinandersetzung über die Suizidbestrafung darstellt, sei nochmals an einem auffälligen Bruch mit der festgestellten Tendenz zur Entpönalisierung verdeutlicht. Auch im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden weiter Stimmen laut, die die Vorenthaltung selbst eines stillen Begräbnisses forderten. Derartige Ansichten wurden zwar zum Großteil nicht innerhalb des ,engeren' Zirkels der juristischen Debatte geäußert, sie sind aber aufschlußreich für die Meinungsvielfalt der Zeit. Der wohl prominenteste Vertreter dieser harten Linie, die sich gegen eine „zu gefällige" Bestattungspraxis wendete, war Justus Moser.165 In seinem Artikel aus den „Patriotische[n] Phantasien" stellt er sich ausdrücklich gegen die zu „milde" Handhabung, wie sie sich in der letzten Zeit durchgesetzt habe. 166 Als Hauptargument fungiert sowohl bei Moser als auch bei den anderen Gegnern eines ehrlichen Begräbnisses die abschreckende Wirkung des Strafrituals.167 Dabei bezieht sich Moser ganz offen darauf, daß das Vorurteil der „Gemeinen" geschont werden müsse und daß man besser die abschreckende Wirkung eines Begräbnisses außerhalb des Friedhofs bewahren solle.168 Außerdem habe sich der „Selbstmörder" selbst durch seine Tat aus der christlichen Gemeinde ausgeschlossen,169 die Gewährung eines ehrlichen Begräbnis-

165 MOSER, Justus: Also soll man mit Verstattung eines Begräbnisses auf dem Kirchhofe nicht zu gefällig seyn, in: ders.: Patriotische Phantasien, hrsg. v. Jenny Moser, Bd. 3, Berlin 1778, S. 71-75. 166 Ebd., S. 74. 167 So etwa auch: HELLER, Heinrich W.: Ueber den Selbstmord in Teutschland, Frankfurt a.M. 1787, S.45; Uiber Selbstmord und seine Bestrafung, in: Leipziger Magazin für Rechtsgelehrte, Bd. 2, 1785, S. 3 3 ^ 8 . Eine andere Strafvariante findet sich bei: BESEKE, Johann Melchior Gottlieb: Versuch eines Entwurfs zu einem vollständigen Gesezzesplan für Verbrechen und Strafen als Beytrag zur Preisaufgabe der ökonomischen Gesellschaft zu Bem, Deßau 1783, S. 110: „Wer sich selbst, ohne seines Verstandes, durch Krankheit oder höchsten Grad der Schwermuth, beraubt zu seyn, das Leben nimmt, sey es auf welche Art es wolle, dessen Leichnam soll auf dem Markte einen Tag lang zur Schau ausgestellt, und dann in der Nacht, ohne Sarg, von Tagelöhnern, oder Todtengräbem außerhalb dem Kirchhofe verscharret werden." 168 MOSER, Also soll man, 1778, S. 72. 16 » Ebd., S. 75.

2.2. Die juristische Perspektive

157

ses entspräche daher lediglich sonstigen schädlichen Tendenzen der „Gleichmacherei" 170 . In die nämliche Richtung wie Moser zielte ein anonymer (aber wohl aus Berlin stammender)171 Artikel aus Schlözers „Stats-Anzeigen", datiert auf den 17. April 1783,172 der in noch schärferem Ton für eine harte Bestrafung der .Selbstmörder' plädiert: „Leute von affectierter Empfindelei und modemäßiger MenschenLiebe" 173 forderten zwar Mitleid für Suizidenten, einzige Folge davon sei jedoch eine Zunahme der Selbstmordfälle. Daher müsse man wieder die Furcht vor dem Selbstmord schüren. Nur so würden die Interessen der Fürsten gesichert, die „hohe Ursache" hätten, „alle Entleibte, die des Selbst-Mords verdächtig sind, auf die schandbarste Art beerdigen zu lassen, um Eckel, Abscheu, und Grausen zu erwecken." 174 Im Mittelpunkt stand somit die Zielsetzung, die abschreckende Wirkung des schändlichen Begräbnisses zu erhalten, wofür man durchaus den Aberglauben des Volkes nützen solle: „Es wird immer besser seyn, wenn eines Unschuldigen Körper, zum Abschrecken anderer, zum Wol der Lebendigen, gemißhandelt, und zum Eckel und Abscheu gemacht wird; als wenn das Grausen vor dem SelbstMord vollends weggetändelt und weg empfindelt werden sollte." 175 Der zitierte Artikel in Schlözers „Stats-Anzeigen" löste durchaus beachtliche Reaktionen aus. Noch im selben und folgenden Jahr erschienen mehrere Antwortschriften, die das Interesse an der Thematik verdeutlichen.176 Eines der heftig umstrittenen Themen war, ob man den Aberglauben ausnutzen sollte, um vom ,Selbstmord' abzuschrecken.177 Die entstandene Diskussion

170

Ebd., S. 74 f. Vgl.: BERNSTEIN, Bestrafung des Selbstmords, 1907, S. 34. 172 Strafen des Selbst-Mordes. Ob, und wie, der Selbst-Mord zu bestrafen sei? Fragment eines Schreibens aus Β - , 17. Apr. 1783, in: Schlözer, August Ludwig (Hrsg.): Stats-Anzeigen, Bd. 6, 1784, S. 295-300. 173 Ebd., S. 296. 174 Ebd., S. 299. 175 Ebd., S. 300. 176 CELLA, Johann Jakob: Ueber Selbstmord und Infamie, in: ders.: Freymüthige Aufsätze, Ansbach 1784, Bd. 2, Nr. 3, S. 127-162; Eine kleine Betrachtung über den, oben Heft XXIII, S. 295, befindlichen Aufsatz: Ob und wie der Selbstmord zu bestrafen sei?, in: Schlözer, August Ludwig (Hrsg.): Stats-Anzeigen, Bd. 7, 1785, S. 170-178; Uiber Selbstmord und seine Bestrafung, 1785; Todesfälle, in: Journal von und für Deutschland, Bd. 2, 1785, 5. Stück, S. 466-468. 177 Das Thema .Aberglaube' reichte auch noch in anderer Hinsicht in die durch den Artikel ausgelöste Diskussion hinein: Einer der Hauptpunkte der Auseinandersetzung war die Forderung des ersten Verfassers, auch die Rettung von Ertrunkenen etc. nicht länger zur Bürgerpflicht zu machen. Vielmehr solle man durchaus auch in diesem Punkt den Aberglauben des Volkes gegenüber dem .Selbstmord' schüren (Strafen des Selbst-Mordes, 1784, S. 298): „[...] ich [bin] auch mit denjenigen noch lange nicht einig, die einem jeden Ersäuften oder Gehenkten oder Ermordeten, von jedermann, der ihn erblickt, beigesprungen, und nach der 171

158

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

war dabei offenkundig im weiteren Rahmen jener Debatte angesiedelt, die man unter dem Stichwort ,Volksaufklärung' einordnen kann. In Frage stand letztlich, ob die zwar irrationalen, aber möglicherweise gerade dadurch als um so wirksamer anzusehenden abergläubischen Vorstellungen der niedrigeren Stände effektiver vom Suizid abhielten, als es alle aufklärerischen Schriften jemals tun könnten. 178 Als argumentativer Hilfskonstruktion bediente man sich gleichsam einer Zweiteilung der Gesellschaft, wobei man die zugrundeliegende ,Täuschung' des Volkes durchaus reflektierte und billigend in Kauf nahm. 179 Entscheidend war lediglich die zu erwartende Nützlichkeit der angewendeten Mittel, und diese schien am ehesten durch ein schändliches Begräbnis gewährleistet. Hingegen wurde Milderungen bei Bestrafung und Begräbnis angelastet, kaum zur Verhinderung von Selbstmorden' beizutragen: „steht es besser um die weit, seitdem man die beschimpfung des toden körpers lächerlich machte, und alle Selbstmörder in wahnsinnige verwandelte, um sie zu gegenständen des mitleidens aufzustellen?" 180 Die Vertreter der Gegenmeinung betonten statt dessen, daß Maßnahmen zur Vorbeugung von Suiziden in einem weiteren Rahmen getroffen werden müßten. Sie vertrauten auf „Sittenverbeßerung, durch Aufklärung, durch Erziehungsanstalten" - Aufgaben, die von staatlicher Seite erfüllt werden müßten. 181 Die abschreckende Wirkung des schändlichen Begräbnisses wurde hingegen bezweifelt. Die Warnung anderer sei von „blos anscheinende[m] Nutzen", vielmehr sollte man besser das Leiden der Hinterbliebenen berücksichtigen. 182 Darüber hinaus mußte die Vorenthaltung eines ehrlichen Begräbnisses, mehr noch aber alle Zugriffe auf den Körper des Selbstmörders' den Aufklärern als Relikte jenes Aberglaubens erscheinen, den es zu bekämpfen galt. Trotz der aufgezeigten Meinungsvielfalt und Ambivalenzen dürfte deutlich geworden sein, daß in unserem Zusammenhang der Rahmen des Denk- und Sagbaren für die juristischen Autoren des 18. Jahrhunderts (und auch für die meisten anderen Beteiligten am deutschsprachigen Suiziddiskurs183) äußerst

ModeSprache, vom Tode gerettet, und wieder lebendig gemacht, dessen Unterlassung aber bestraft wissen wollen." Siehe zum Thema Rettung von Verunglückten Kap. 2.2.5. 178 Die Problematik der „Volksaufklärung" bzw. des „Volksbetrugs" war weit über den Suiziddiskurs hinaus ein viel diskutiertes Thema. Siehe Kap. 3.2.2 FN 166. 179 So etwa: Uiber Selbstmord und seine Bestrafung, 1785, S. 39. 180 Ebd. 181 CELLA, Ueber Selbstmord, 1784, S. 141. Vgl. auch: VOGEL, Paul Joachim Sigmund: Betrachtungen über den Selbstmord, in: KÖNIG, Johann Christoph: Der Freund der Aufklärung und Menschenglückseligkeit. Eine Monatsschrift für denkende Leserinnen und Leser aus allen Religionen und Ständen, Nürnberg 1785, S. 135-152 u. S. 179-194 u. S. 248-262, hier: S. 262. 182 Eine kleine Betrachtung, 1785, S. 172f. 183 Auch jenseits der .Eliten' ist kaum von einer Akzeptanz des Suizids auszugehen; eher

2.2. Die juristische Perspektive

159

strikt abgesteckt war: Straffreiheit des ,Selbstmords' sollte gewährt, die Tat aber keineswegs in den Bereich der Legitimität gerückt werden. Ein Suizident mochte Mitleid erregen, auf den Einzelfall bezogen konnte seine Tat als aus medizinischen und psychologischen Gründen nachvollziehbar dargestellt werden. Jede Andeutung eines möglichen philosophischen', also rational begründbaren Suizids wurde jedoch ausgeklammert, obwohl - wie kurz angedeutet - im gesamteuropäischen Diskurs auch solche Stimmen immer wieder vernehmbar waren. 184 Um eine uneingeschränkte Selbstbestimmung des Menschen über sein Leben zu postulieren, waren insbesondere die moralischen Vorbehalte zu groß und auch die Furcht vor einer - wie man dachte - dadurch unweigerlich heraufziehenden Bedrohung des Staates dürfte hier einiges an Denkmöglichkeiten verstellt haben. Zwei Sonderfälle innerhalb der Strafrechtsdebatten verdeutlichen nochmals diese grundsätzliche Tendenz. Bei einer detaillierten Analyse des zur Verfügung stehenden Quellenmaterials tritt unweigerlich zu Tage, daß letztendlich doch nicht alle Suizidenten von Bestrafungen ausgenommen werden sollten: Für schwangere Frauen und Soldaten wurden jeweils Sonderbestimmungen gefordert (und diese betrafen nicht nur den Fall, daß ein Suizidversuch überlebt wurde). „Schwangere Weibspersonen verdienen wegen des versuchten Selbstmordes härter gestraft zu werden, weil sie durch die wirkliche Ausführung ihrer That der bürgerlichen Gesellschaft nicht allein ihre eignen Kräfte entzogen, sondern auch die Hofnung vernichtet haben würden, in ihrem Kinde einst ein brauchbares Mitglied des Staats zu sehen." 185

Nicht nur angesichts des gegen ,normale' Suizidenten häufig geäußerten Mitleids und der aufgezeigten Entpönalisierungstendenz mag eine solch scharfe Forderung überraschen. Auch zur im ausgehenden 18. Jahrhundert immens wichtigen Debatte um die Verhütung des ,Kindsmords', die zu weiten Teilen von Verständnis und Bemühungen um Vorsorgemaßnahmen geprägt war, paßt die zitierte Ansicht Emst Wielands nur schlecht. (Wieland selbst hatte im übrigen ebenfalls für Milde bei der Behandlung von ,Kindsmörderinnen' plädiert. 186 ) Verantwortlich für diese (vermeintliche) Diskrepanz ist zu gewissen Teilen sicherlich der eklatant männliche Blickwinkel der Diskursteilnehmer, der es ihnen unmöglich machte, die Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Problemkreisen zu ziehen. Aber auch eine evident der männlichen Sphäre zugehörige Gruppierung blieb von der allgemeinen Milderung der noch deuten die oben geschilderten Widerstände gegen ein ehrliches Begräbnis der Suizidenten auf fest verankerte Vorbehalte hin. Siehe FN 116. 184 Als seltene Ausnahme, die die „Freiwilligikeit" sogar im Titel führt, sei nochmals erwähnt: BISCHOF, K. J.: Versuch über den freiwilligen Tod, Nürnberg 1797. 185 WIELAND, Geist der peinlichen Gesetze, 1783, Theil 1, S. 323 f., § 247. Vgl. auch: DORN, Versuch über das peinliche Recht, 1790, S. 307, § 106; GEIGER, Selbstmord im deutschen Recht, 1891, S. 21. 186 WIELAND, Geist der peinlichen Gesetze, Theil 2, 1784, S. 155 f., § 453.

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2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Rechtsansichten ausgeschlossen: der Soldatenstand. War i m Fall der suizidalen Schwangeren die Verletzung der Mutterpflichten übermächtig, so wurde ein Soldat, der - erfolgreich oder nicht - versucht hatte, sich selbst zu töten, schnell mit einem Deserteur gleichgesetzt. D a s alte Argument, daß ein Suizid einem unerlaubten Verlassen des Postens gleichzusetzen sei, hatte hier noch nicht ausgedient. 1 8 7 Zu beachten ist, daß keineswegs nur der verbrecherische' Soldat, der durch seinen Freitod einer Bestrafung entgehen wollte, betroffen war. N o c h 1801 hält Cavans Sammlung des Kriegs- oder Militär-Rechts fest: „Wenn bei dem Soldaten der Grund der Selbstentleibung weder in der Absicht, einer verwirkten Strafe zu entgehen, noch in Schwermuth oder Melancholie, sondern in bloßem Mutwillen oder in dem Vorsatze, eine Verachtung des Lebens zu beweisen, liegt: so kann nach Bewandtniß der Umstände in dergleichem Falle die nämliche Strafe, wie beim vollbrachten, oder versuchten Selbstmorde [...] zur Verhütung der Folgen eines so schändlichen Beispiels nothwendig seyn." D i e s e Strafen beliefen sich auf das Begräbnis unter dem Galgen beziehungsw e i s e auf zehn- bis zwanzigmaliges Gassenlaufen. 1 8 8 In beiden hier kurz umrissenen Ausnahmefällen erschien die vorgefallene Pflichtverletzung als zu übermächtig, als daß die übliche, gemilderte Reaktion noch im Bereich des Denk- und Sagbaren gelegen hätte. Gerade auch, daß diese Tatbestände weitgehend von der allgemeinen Pathologisierung ausgeschlossen wurden, ist auffällig: als sei eine Lossprechung von der Schuld durch die Annahme einer mangelnden Zurechnungsfähigkeit 1 8 9 unmöglich gewesen, da die Tat die Grundfesten des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch die

187 So ausdrücklich bei: Charlotte Louise Müller aus Fürstenwalde, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preussischen Staaten, Bd. 7, 1791, S. 58-81, hier: S. 81. Dieses Verdikt geht ursprünglich zurück auf Plato und findet sich auch bei PUFENDORF. Vgl.: PUFENDORF, Samuel: Le Droit de la Nature et des gens, ou systeme general des principes les plus importans. De la Morale, de la jurisprudence, et de la politique, Bd. 1, London 1740, 3. Buch, S. 305f. 188 CAVAN, e . W.: Das Kriegs- oder Militär-Recht wie solches jetzt bei der Königlich Preußischen Armee besteht, Bd. 2, Berlin 1801, S. 123, §§ 3258, 3262, S. 124, § 3268. Nach dem Kriegsartikel von 1749 sollte der gerettete Suizident „mit Vestungs-Arbeit und nach Befinden seiner Boßheit auf Zeit Lebens bestrafet werden." (Seiner Königl. Majestät in Preussen etc. allergnädigst neu-approbirte Kriegs-Articul, für die Unter-Officier, und gemeine Soldaten, so wohl von der Infanterie, als auch Cavallerie, Dragoner und Artillerie, 16.6. 1749, in: Corpus Constitutionum Marchicarum, Continuatio, Bd. 4, Berlin 1751, Sp. 155-162, hier: Sp. 160.) 189 Hier läßt sich übrigens noch eine weitere (interne) Widersprüchlichkeit im Strafrechtsdiskurs anführen: Denn nicht nur ist die Problematik der Kindstötung eines der Lieblingsthemen der (männlichen) Aufklärer gewesen, sondern im Zusammenhang mit der Diskussion über Willensfreiheit - oder um es mit einem nicht zeitgenössischem Begriff zu benennen .Unzurechnungsfähigkeit' - wurden Frauen aufgrund ihres Geschlechts von manchen Autoren strafmildernde Umstände zugesprochen. (Etwa: KLEINSCHROD, Systematische Entwicklung, 1799, Theil 1, S. 179-185, §§ 91-94.)

2.2. Die juristische Perspektive

161

Infragestellung der Tugendsysteme von Soldatenehre und Mutterliebe zu sehr gefáhrdet hätte. 2.2.5. Von Rettungsanstalten und Scheintoten Es bleibt im Zusammenhang mit dem Suizid noch eine andere Verbindungsstelle zwischen juristischen und medizinischen Ideen aufzuzeigen: die Bemühungen um die Rettung von Ertrunkenen, Erhängten, etc. Das Register des „Mylius" gibt Hinweise auf entsprechende Edikte in Preußen. Das erste wurde am 15. November 1775 erlassen - „wegen schleuniger Rettung der durch plötzliche Zufälle leblos gewordenen, im Wasser, oder sonst verunglückten, und für todt gehaltene Personen, nebst Unterricht dieserhalb."190 1788 wurde dieser Erlaß ergänzt;191 ungefähr zeitgleich trafen etliche andere Territorien ähnliche Verfügungen.192 Immer ging es dabei darum, die Hilfeleistung für Verunglückte oder auch Menschen, die sich selbst töten wollten, zu verbessern. Zwei verschiedene Aspekte kamen hier zusammen: die Diskussion über Wiederbelebung und Scheintod und die alten Ängste vor jenen, die keines natürlichen Todes gestorben waren. Noch 1787 berichtete die „Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde": „Die Abscheu vor Erhenkten ist beym gemeinen Manne noch so stark, daß die obrigkeitlichen Verordnungen wegen der Mittel, solche Unglücklichen zu retten, wenig befolgt werden." 193 Ähnlich begründete Scherf die Erneuerung des preußischen Edikts 1788 damit, daß „sehr oft den menschlichen Verstand entehrender Aberglaube, unverzeihliche Nachlässigkeit und Lieblosigkeit Schuld gewesen sind, daß viele solcher Unglücklichen ein Raub des Todes geworden" seien. 194 Die Furcht davor, den (fast) toten Körper anzufassen, 190 Edict wegen schleuniger Rettung der durch plötzliche Zufälle leblos gewordenen, im Wasser, oder sonst verunglückten, und für todt gehaltene Personen, nebst Unterricht dieserhalb, 15. 11. 1775, in: Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium praecipue Marchicarum, Bd. 5, Berlin 1776, Teil 3, Sp. 249-Sp. 254. 191 Declaration des Edicts wegen zu belohnender Rettung der ertrunkenen Personen, 24. 6. 1788, in: ebd., Bd. 8, Berlin 1791, Sp. 2139f. 192 Eine gute Übersicht dieser Verordnungen findet sich in: Archiv der medicinischen Polizey und der gemeinnützigen Arzneikunde, Bd. 1-6, Leipzig 1783-1787; Beyträge zum Archiv der medizinischen Polizey und der Volksarzneikunde, Bd. 1-8, 1789-1799. Siehe dazu das Register in: HARWARDT, Jürgen: J.C.E Scherf - Archive der medizinischen Polizei 1783-1799. Analysen und Indices, Diss, med., Marburg 1982. Vgl. außerdem: Brandenburg-onolzbachische Verordnung wegen Behandlung der Selbstmörder, ex Concistorio, in: Journal von und für Franken, Bd. 3., 1791, 1. Heft, S. 118 f.; Ueber Rettung verunglückter Menschen, Edikt vom 16. Dec. 1784, in: Sammlung aller für das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin gültigen Landes-Gesetze, von den ältesten Zeiten bis zum Ende des Jahres 1834, Schwerin 1851, Bd. V, S. 441 f. 193 Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, 1787, S. 67 f. 194 Beyträge zum Archiv der medizinischen Polizey und der Volksarzneikunde, Bd. 1, 1789, S. 142.

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2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

verband sich mit der Vorstellung, daß ein ehrlich begrabener Selbstmörder' Unglück über das ganze Dorf bringen konnte und als Wiedergänger umgehen würde. Auch hier regte sich häufiger und vehementer Widerstand gegen die obrigkeitlichen Anordnungen.195 Die befürchtete Wiederkehr des Selbstmörders unmöglich zu machen, forderte im Gedankensystem des Volks(aber)glaubens vielschichtige Abwehrmechanismen, die durch Rituale wie Pfählen des Toten, Begraben mit dem Kopf nach unten oder Verscharren am Wegesrand gewährleistet werden sollten. 196 Auch das sogenannte „Eselsbegräbnis" konnte diese Funktion erfüllen; diese Form eines unehrenhaften Begräbnisses „bestehet darinn, wenn die Körper der Selbstentleibeten, von dem Henker genommen, nach dem Gebrauche vieler Oerter zu dem Fenster hinaus geworfen, auf einer Karre fortgeschleppet, und als denn auf den Schindanger oder an einen andern unehrlichen Ort geworfen werden."197 Wenn sowohl Theologen als Juristen Abstand von Begräbnisstrafen für Suizidenten nahmen, dann mußten auch die Widerstände in der Bevölkerung gegen solche Milde bekämpft werden. Bisweilen sorgten Soldaten für die Einhaltung der Bestimmungen und Störenfriede wurden bestraft.198 Außerdem ver-

195 Vgl.: Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, 1787, S. 67: „Der Gerichtshalter verlangte, daß man sie [die Leiche eines Selbstmörders] begraben solle. [...] Allein die Meinung, daß der Erhenkte durch Schinders Hände begraben werden müsse, damit er nicht schöchte (scheuchte, spukte), wenn ihm sein Recht nicht angethan werde, behielt die Oberhand." SCHÄR schildert den Widerstand der Gemeindemitglieder gegen die Anordnungen der Obrigkeit, der so weit gehen konnte, daß ein bereits (ehrenhaft) begrabener Suizident nachts wieder aus seinem Grab geholt und an einem anderen Ort verscharrt wurde. (SCHÄR, Seelennöte, 1985, S. 67f.) 196 Thomas HAENEL führt - allerdings ohne genaue geographische Differenzierung - an, daß sich das Pfählen bis 1823 gehalten hätte. (HAENEL, Thomas: Suizidhandlungen. Neue Aspekte der Suizidologie, Berlin u.a. 1989, S. 12.) Zu Angstvorstellungen bzgl. Wiedergängern: LECOUTEUX, Claude: Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter, Köln/Wien 1987, insb.: S. 19ff. u. S. 33. Außerdem: MINOIS, Geschichte, 1996, S. 61; MACDONALD/MURPHY, Sleepless Souls, 1990, S . 4 7 f . ; Artikel zum Stichwort „Selbstmörder", in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hrsg. V. E. HOFFMANN-KRAYER, Bd. 7, Berlin/Leipzig 1935/1936, Sp. 1627-1633. 197 Von dem Begräbnisse der Selbstmörder, in: Neue Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens, 1754, 23. Stück, S. 369-402, hier: S. 384. Derartige oft Jahrhunderte alte Rituale müssen auch als Spiegelbilder von menschlicher Angst und abergläubischen Vorstellungen gelesen werden. (Vgl.: DELUMENAU, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek 1985, S. 121.) Zum „Eselsbegräbnis" auch: WÄCHTER, Carl Georg: Revision der Lehre vom Selbstmord, in: Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 10, 1828, S. 72-111, S. 216-266 u. S. 634-668, hier: S. 648f. 198 Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, 1787, S. 67f.; Schlesische Provinzialblätter, Bd. 2, 1785, S. 180f; Strafe ungehorsamer Zunftgenossen, welche einem ver-

2.2. Die juristische Perspektive

163

suchte man die Bereitschaft zur Hilfeleistung für Verunglückte zu verbessern. In Mecklenburg-Schwerin konnte man sich etwa eine Belohnung von 10 Thalern verdienen, bei Unterlassung drohte Strafe.199 Ähnliches galt in anderen Territorien.200 Ging es um die Rettungsmaßnahmen für Ertrunkene, Erhängte oder auch Vergiftete, um die sich wie erwähnt eine Masse von obrigkeitlichen Bestimmungen bemühte, dann bedurfte es hierfür noch einer weiteren Voraussetzung. Der Tod war nichts absolut Unabwendbares mehr, und die Grenze zwischen Leben und Tod wurde unsicherer. Das bedeutete einerseits, daß Mediziner immer neue Techniken zur Wiederbelebung entwickelten: Vom Aderlaß bis zum Rauchklystier wurde vieles heftig diskutiert.201 Andererseits wurde mit diesen neuen Möglichkeiten gleichzeitig eine neue Angst geboren: Die Befürchtung, lebendig begraben zu werden. 202 Die profane Folge war unter anderem, daß man sich die Einrichtung des Leichen(schau)hauses erfand. Für diese Institution setzte sich besonders Christoph Wilhelm Hufeland ein, der uns bereits mehrfach begegnet ist. 203 Trotz erster Fortschritte, was die Akzeptanz der neuen Einrichtung anging, 204 klagte Hufeland noch 1808, es habe sich gezeigt, „daß Unwissenheit oder Unvorsichtigkeit schon so manchem Scheintodten das Leben absprach, und ihn in dem Zustande gebundener Lebenskraft dem wirklichen Tode preisgab".205

meintlichen Selbstmörder ein ehrliches Begräbnis verweigern, in: KLEIN, Ernst Ferdinand: Merkwürdige Rechtssprüche der Hallischen Juristenfakultät, Bd. 5, 1802, S. 265-267. 199 Ueber Rettung verunglückter Menschen, Edict vom 16. Dec. 1784, in: Sammlung aller für das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin gültigen Landes-Gesetze, 1851, Bd. V, S. 441 f. 200 vgl.: Archiv der medicinischen Polizey und der gemeinnützigen Arzneikunde, Bd. 1, 1783, S. 99-120; Journal von und für Deutschland, Bd. 2 Suppl, 1784, S. 2. 201 Etwa: Kurze Anweisung zur Wiederherstellung leblos scheinender Personen die im Wasser verunglückt, erfroren oder erstickt sind, Bremen 1797. 202 Unter den vielzählichen Publikationen seien genannt: BRINKMANN, J. P.: Beweis der Möglichkeit dass einige Leute lebendig können begraben werden, nebst der Anzeige, wie man dergleichen Vorfalle verhindern könne, Düsseldorf 1772; STRUVE, E . F.: Das große Unglück einer zu frühzeitigen Beerdigung, Leipzig 1787; HOFFMANN, G. St.: Ueber den Scheintod und gewaltsame Todesarten überhaupt, nebst den Mitteln zur Wiederbelebung der Verunglückten und zur Verhütung, daß niemand lebendig begraben werde, Koburg 1790. 203 HUFELAND, Christoph Wilhelm: Über die Ungewißheit des Todes und das einzige untrügliche Mittel sich von seiner Wirklichkeit zu überzeugen und das Lebendigbegraben unmöglich zu machen nebst Nachricht von der Errichtung eines Leichenhauses in Weimar, Weimar 1791. 204 HUFELAND, Über die Ungewißheit des Todes, 1791, S. 44f. 205 HUFELAND, Christoph Wilhelm: Der Scheintod oder Sammlung der wichtigsten Thatsachen und Bemerkungen darüber in alphabetischer Ordnung, Berlin 1808, S. 1. Vgl. allgemein: STOESSEL, Ingrid: Scheintod und Todesangst. Äußerungsformen der Angst in ihren geschichtlichen Wandlungen (17.-20. Jahrhundert), Diss. med. Köln 1983, S. 30-42.

164

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Um auf der anderen Seite die Durchführung von Rettungsmaßnahmen besonders für Ertrinkende zu gewährleisten, gründete man außerdem Rettungsanstalten, ließ Tafeln mit Sofortmaßnahmen errichten und publizierte entsprechende Anleitungen.206 Ein „Rettungskasten" sollte beispielsweise Folgendes enthalten: „1. Ein Schlafrock. 2. Eine Mütze. 3. Sechs flanellene Tücher. 4. Drey Flaschen mit reiner Luft. 5. Eine Sprötze zum Einblasen der Luft in die Lunge, mit dazu nöthigen Röhre [...] 20. Eine [Flasche] mit spanischem Wein, und 21. Eine mit Salmiakgeist." 207

Die erste Rettungsanstalt wurde 1767 in Amsterdam gegründet und erlangte schnell Vorbildfunktion, ebenso wie die sieben Jahre später in London eingerichtete „Royal Humane Society". „Eine der nützlichsten und zweckmäßigsten Einrichtungen in den benachbarten vereinigten Niederlanden ist unstreitig die im Jahre 1767 in Amsterdam errichtete Gesellschaft zur Rettung der Ertrunkenen", hieß es 1791 in den „Blättern vermischten Inhalts".208 Auf die in den deutschen Territorien folgenden gesetzlichen Erlasse habe ich bereits hingewiesen. Um deren Durchsetzung zu unterstützen, wurden nicht nur Prämien ausgesetzt, sondern außerdem Pfarrer und Prediger damit betraut, die Bestimmungen zu verbreiten.209 Viele der Ertrunkenen wurden als mögliche Suizidfälle eingeschätzt. Das begründete ja überhaupt erst das Ausmaß der Erlasse beziehungsweise der Furcht in der Bevölkerung. Liest man allerdings die Beschreibung der Maßnahmen, die zur Wiederherstellung einer aus dem Wasser geretteten Person ergriffen werden sollten, so bleibt dieser Aspekt hier völlig unbeachtet. In diesen Schriften ist die Medikalisierung, ja Physikalisierung des Menschen und des Phänomens Suizid am weitesten fortgeschritten. Es geht ausschließlich um die

206

Etwa: STRUVE, C. Α.: Versuch über die Kunst, Scheintodte zu beleben und über die Rettung in schnellen Todesgefahren, Hannover 1797. („Ein tabellarisches Taschenbuch. Der Königlichen Gesellschaft der Humanität zu London aus Dankbarkeit und Verehrung gewidmet.") 207

Kurze Anweisung zur Wiederherstellung, 1797, S. 25 f. MUTZENBECHER, Ε. H.: Schreiben an die Herausgeber, in: Blätter vermischten Inhalts, Bd. 4, 1791, S. 35-52, hier: S. 35. Vgl. auch: ders.: Nachricht von der Amsterdamer Gesellschaft zur Rettung Ertrunkner, in: ebd., S. 125-145. Zur Humane Society: HUFELAND, Der Scheintod, 1808, S. 3. 209 Vgl. etwa: Friedrich Franz Herzog v. Mecklenburg-Schwerin: Landesherrliche Zirkularverordnung, d. d. 14. Jan. 1788, betreffend eine alljährlich zu haltende Predigt über die Patentverordnung von Rettung verunglückter Personen, in: Monatsschrift von und für Mecklenburg, Bd. 2, 1789, S. 809-811. Eigene Initiative ergriff: NIEMEYER, August Hermann: Ueber den Aberglauben bey Ertrunkenen. Eine Zuschrift an die Halloren und Fischer von Halle, nebst einer Nachschrift an die Vorsteher von Bürger- und Landschulen, Halle 1783. Vgl. außerdem: FRANK, Die fehlende Geduld Hiobs, 1994, S. 163-166. 208

2.3. Suizid, soziale Frage und Lebensumstände

165

Wiederherstellung der körperlichen Funktionsfähigkeit. Entsprechend mechanisch wirken manche der vorgeschlagenen Mittel: „Fünftens: Man läßt ferner dem Verunglückten Clystire beibringen: anfänglich gelinde aus Chamillen und Fliederblumen, mit etwas Salz und Seife, in der Folge mehr reizende, entweder aus blossen Eßig und Wasser, oder aus einem Aufguß von Wolferleyblumen mit einigen Unzen Meerzwiebeleßig [...] Hat sich nach diesen keine Veränderung gezeigt, so kann man seine Zuflucht zum Clystir von Tobacksrauch nehmen, das wegen des starken Reizes, den es den Gedärmen mittheilet, und wegen der Wärme, die es durch den Unterleib verbreitet, mit zu den kräftigeren Erweckungsmitteln gehöret." 210

Die Bemühungen um die Verbesserung der Rettungswahrscheinlichkeit von Suizidenten stellten konkrete Maßnahmen von obrigkeitlicher oder auch privater Seite dar. Es ging darum, das Leben des/der einzelnen zu bewahren. In diesem Sinne waren die beschriebenen Gesetze und Einrichtungen auch Reaktionen der Gesellschaft auf (versuchte) Selbsttötungen. Solche Reaktionen setzten allerdings erst dann an, wenn die Tat schon vollzogen war. Sah sich die Gemeinschaft beziehungsweise die Obrigkeit ebenso schon zur Prävention in die Pflicht genommen? Wurden die Ursachen für einen Suizid auch in der gesellschaftlichen Situation gesehen?

2.3. Suizid, soziale Frage und Lebensumstände Die vorangegangenen Kapitel haben deutlich gemacht, in welcher Weise das Phänomen Suizid im ausgehenden 18. Jahrhundert unter eine medizinische Erklärungsmaxime gestellt wurde und wie sich dadurch Bedeutungen und Bewertungen dieser Tat veränderten. Die Bestrafung eines Suizids, aber auch die Rettungsmaßnahmen sind dabei als Reaktionen der Gesellschaft beziehungsweise von Institutionen der Gesellschaft auf die Handlung einer/s einzelnen anzusehen. Wurde die Tat aber auch als Reaktion der/des einzelnen auf die Gesellschaft bewertet? Kann man der Welt vehementer die Möglichkeit zum Glück abstreiten als durch einen Suizid? Gibt es eine radikalere Art, den Wert des Lebens in Frage zu stellen? Wohl kaum. Welche Sprache spricht somit diese Handlung? Jeder Suizid ruft die Bevorzugung des Nicht-Lebens gegenüber dem Leben aus und ist in sich eine Ohrfeige für die umgebende Welt, deren Mangelhaftigkeit er anklagt.211 Die heutige ,Suizidologie' beziehungsweise Psychologie sieht daher in den meisten Suizidfällen einen (verspäteten) Appell an die Umwelt - als einen letzten Versuch, das eigene Unwohlsein in der Welt zu artikulieren. Daneben bleibt jedoch immer die übermächtige Erklärung bestehen, jeder Suizid 210

Kurze Anweisung zur Wiederherstellung, 1797, S. 10. Vgl.: BAECHLER, Jean: Tod durch eigene Hand. Eine wissenschaftliche Untersuchung über den Selbstmord, Berlin 1981, S. 51. 211

166

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

geschehe in einem Zustand von Krankheit. Somit muß die von der Tat ausgehende Kritik nicht notwendigerweise als Indiz dafür interpretiert werden, daß die Gesellschaft selbst der Reform bedarf. War eine Selbstmörderin' zum Zeitpunkt ihrer Tat nicht gesund, nicht zurechnungsfähig, dann wurde deren Appell an die Gesellschaft schnell weniger relevant. Wie wurde dieser Aspekt im späten 18. Jahrhundert betrachtet? Benannte man als Gründe für einen Suizid auch gesellschaftliche Umstände? Ursula Baumann beantwortet diese Frage mit einem klaren „ja" und konstatiert, für die späten 1780er und 1790er sogar einen „neuen sozialkritischen Diskurs, der den Suizidenten in erster Linie als Opfer darstellte." 212 In diesem Zusammenhang hätte sich außerdem der Wille zu gesellschaftlichen Reformen herausgebildet. 213 Ob dieser ,neue' Ansatz tatsächlich so weit verbreitet war, soll im folgenden Kapitel untersucht werden. Dabei werde ich von einem Aufsatz Johann Karl Wilhelm Moehsens ausgehen, der auf ganz spezielle Weise die Suiziddebatte mit Ansätzen sozialer Kritik verband und schon allein aufgrund des Ortes seiner Veröffentlichung besondere Aufmerksamkeit verdient: Ende 1788 in der Berlinischen Monatsschrift publiziert, konnte der Text sich einer breiten gelehrten Aufmerksamkeit sicher sein. 214 Daran anknüpfend wird nicht nur untersucht werden, wie weit diese Argumentation in den letzten zwei Jahrzehnten des Jahrhunderts verbreitet war, das eigentliche Augenmerk wird vielmehr darauf liegen, die Gründe dafür aufzuzeigen, warum sich dieser Aspekt (nicht) durchsetzte.

212

BAUMANN, Suizid als soziale Pathologie, 1997, S. 496. Dazu auch: Dies.: Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Weimar 2001, S. 106-127. 213 BAUMANN, Suizid als soziale Pathologie, 1997, S. 496. 214 MOEHSEN, Johann Karl Wilhelm: Betrachtungen über die Berlinischen Selbstmörder, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 12, 1788, S. 200-223. Dieser Artikel ist es im übrigen, den Ursula Baumann als Ausgangspunkt zu ihrem Aufsatz über „Suizid als soziale Pathologie" nimmt. Die Forschungen zur sozialen Frage im ausgehenden 18. Jahrhundert beschränken sich zu weiten Teilen auf Armenversorgung und -statistik. Die diskursive Praxis, die Bedeutung und Wahrnehmung von sozialen Verhältnissen bleiben dabei meist außen vor. Vgl. etwa: TULL, Stephen: Die soziale Frage im Spannungsfeld von Spätaufklärung und Vormärz, Frankfurt a. M. 1988. Für die Berliner Situation - aus der Perspektive ,νοη unten': HÜCHTKER, Dietlind: „Elende Mütter" und „Liederliche Weibspersonen". Geschlechterverhältnisse und Armenpolitik in Berlin (1770-1850), Münster 1999. Auf die Situation in Osnabrück und die Haltung des Juristen Justus Moser beschränkt sich: RUDERDORF, Manfred: Das Glück der Bettler. Justus Moser und die Welt der Armen. Mentalität und soziale Frage im Fürstbistum Osnabrück, Münster 1995. Ruderdorf stellt eindrücklich dar, daß im obrigkeitlichen, aber auch im .aufgeklärten' Verhältnis zum ,Armenproblem' häufig eher Ausgrenzung als Verbesserung der Lage im Fordergrund stand (ebd. S. 318).

167

2.3. Suizid, soziale Frage und Lebensumstände

2.3.1. Von der Not der Soldaten und melancholischen

Torschreibern

Am 27. 2. 1787 führte Johann Karl Wilhelm Moehsen, Leibarzt des preußischen Königs, in der Berliner Mittwochsgesellschaft seine „Betrachtungen über die Berlinischen Selbstmörder" aus; etliche Zeit später und wenig verändert wurde sein Papier dann wie erwähnt in der Berlinischen Monatsschrift einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ausgangspunkt für Moehsens Aufsatz ist die Annahme, „daß Berlin jährlich mehr Selbstmörder hat, als irgend von einer andern Europäischen Stadt aufgezeichnet werden". 2 1 5 Diese Einschätzung dürfte für die Zeitgenossen einiges an Überraschung geborgen haben, galt doch bislang stets London als Hochburg der Suizidenten. Moehsen legte seine Berechnungen offen dar und stellte die Richtigkeit der in den Kirchenbüchern aufgezeichneten Angaben, die bisher als Maßstab gegolten hatten, vehement in Frage. Er selbst stütze sich auf eine andere, ihm „unvermuthet" in die Hände gefallene Quelle: Akten aus der Polizeibehörde. 216 Recht schnell verläßt Moehsen dann allerdings dieses allgemeine Terrain, um zu seinem eigentlichen Anliegen zu kommen: der besonderes hohen Zahl von Suiziden innerhalb des preußischen Militärs. Wie lasse sich dieses Phänomen erklären? Sehr eindringlich weist Moehsen einige der herkömmlichen Erklärungsansätze zurück; nicht Irreligiosität oder die Lektüre von gefährlichen' Schriften seien verantwortlich. Moehsens Schrift zeigt vielmehr scharf die Lebensumstände der betroffenen Soldaten auf und geht mit den Verantwortlichen ins Gericht. Die Deutung, es liege dem Verfasser weit mehr noch als an einer Auseinandersetzung mit der Suizidproblematik an einer „Kritik am zeitgenössischen Militärwesen", zielt daher in die richtige Richtung. 2 1 7 Nach Moehsens Einschätzung seien die meisten Rekruten zu schlecht vorbereitet auf das harte Leben in der Armee; die Vorgesetzten seien zu unmenschlich und besonders in der Exerzierzeit auch die materielle Not bedrückend. 2 1 8 Der Soldat werde daher „seines mühseligen elenden Lebens müde, und sieht den willkührlichen Tod als das einzige Mittel an, das er noch in seiner Gewalt hat, um aus allen seinen Verlegenheiten und Drangsalen mit einemmale zu entkommen". 2 1 9 Moehsen analysiert aber auch väterlich streng die Gründe, die die Männer zur Armee geführt haben: oft sei es Mangel an anderweitiger Beschäftigung oder der Wunsch, der „Strenge der Gutsherrschaft" oder drohenden Strafen zu entgehen, oft aber auch schlicht falsche Vorstellungen und Versprechungen, die den jungen, unerfahrenen Männern gemacht würden 2 2 0

215

MOEHSEN, B e t r a c h t u n g e n , 1 7 8 8 , S . 2 0 9 .

216

Ebd., S . 205. BAUMANN, Suizid als soziale Pathologie, 1997, S. 491.

217 218

MOEHSEN, B e t r a c h t u n g e n , 1 7 8 8 , S . 2 1 4 .

219

Ebd., S. 217. Ebd., S. 215 f.

220

168

2. Pathologisiening und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Sollte man Moehsen aufgrund seiner Ausführungen als einen Vorläufer der Soziologie des 19. Jahrhunderts klassifizieren?221 Sicherlich: er operierte mit statistischem Material, um seine Auffassung bezüglich der überproportionalen Suizidhäufigkeit in Berlin zu belegen, und sein Blick richtete sich weniger auf (psycho- oder pathologische) Ursachen im Individuum, als auf die gesellschaftlichen Umstände, in denen sich die Soldaten bewegen mußten. Diese Konzentration auf eine gesellschaftliche Gruppierung und deren Lebensumstände unterschied Moehsen von Vorläufertexten. Wenn man diesen Text jedoch mit einem Etikett belegen will, so erscheint „sozialkritisch" passender als „soziologisch", gerade auch, wenn man die Intention des Aufsatzes weniger in einer Untersuchung der Suizidproblematik als in einer Anklage der bedrängenden Lebensbedingungen von Soldaten erfüllt sieht. Immerhin war es aber auch für Moehsen unumgänglich, zu erläutern, weshalb er sich nicht eingehender mit der moralischen Bewertung des Suizids beschäftige. Deswegen stellt er explizit klar, daß er sich völlig auf die Untersuchung der Suizidursachen beschränken wollte - Moralphilosophie sei hierfür nicht nötig. 222 Lassen sich die bei Moehsen anklingenden sozialkritischen Tendenzen bei anderen Autoren wiederfinden? Entwickelte sich hier sogar ein neues Argumentationsmuster? Zunächst wollen wir einen - eingehenden - Blick in die umfangreichen Monographien über den Suizid werfen, dann die Berichterstattung in verschiedenen Journalen einer genaueren Analyse unterziehen.223 Baumann nennt insbesondere Knüppeln mit seiner umfassenden (334 Seiten) Schrift „Ueber den Selbstmord" 224 als einen derjenigen Autoren, die ebenfalls aus der Auseinandersetzung mit dem Thema Suizid soziale Kritik entwikkelten. Und in der Tat ist Knüppeins Darstellung bemerkenswert, setzte sie doch mit der Intensität ihrer Gesellschafts- und Staatskritik einen besonderen Akzent. Knüppeins Anliegen ist eine umfassende Aufstellung und Erläuterung der Ursachen für die Suizide in Deutschland. Zuvor behandelt er die Problematik jeweils aus einer historischen, theologischen, juristischen und philosophischen Perspektive. Sein erklärtes Ziel, die Reduzierung der Suizidfälle, sah Knüppeln weder durch Androhung von Sanktionen noch durch theologische Strafpredigten erreichbar, sondern einzig und allein dadurch, daß man die zugrundeliegenden Ursachen aufdeckte und behob: „Alle Reflexionen über die 221

So: BAUMANN, Suizid als soziale Pathologie, 1997, S. 485.

222

MOEHSEN, B e t r a c h t u n g e n , 1 7 8 8 , S . 2 0 0 .

223

Nebenbei sei noch ein anonymer Autor erwähnt, der auch auf die besonders hohe Zahl von Suiziden in der Armee verweist, jedoch ganz andere Ursachen als Moehsen angibt: Personen, welche sich im Jahre 1785 in Berlin selbst entleibt haben, in: Bibliothek für Denker, Bd. 4, 1784, St. 1, S. 91 f.: „Wenn man aber bedenkt, daß zum Theil das loseste Gesindel, welches keinem Stande in der bürgerlichen Gesellschaft mehr nüzlich sein will, hier einen Zuchtmeister und Ordnungshalter findet und erkennen muß; so wird es ganz begreiflich, daß man auch hier die meisten Selbstmörder antrift." 224 KNÜPPELN, Ueber den Selbstmord, 1790.

2.3. Suizid, soziale Frage und Lebensumstände

169

Unmoralität und Strafbarkeit des Selbstmords sind unnütz und zwecklos, denn sie entkräftigen dieses Uebel nicht, und es wäre eben das, wenn man ein reissendes Wasser durch Dämme aufhalten wollte, ohne seine Quelle zu verstopfen." 225 Die Ursachen wiederum teilt der Autor in vier Kategorien ein. Er sieht keineswegs die gesamte Verantwortung bei den gesellschaftlichen und sozialen Umständen - diese werden erst an dritter Stelle genannt, nach den Suiziden, die in Zusammenhang mit einer Straftat stehen,226 und den Suiziden aufgrund „gänzlichefr] Zerrüttung der Körperlichen und Seelenkräfte". 227 Gerade diesen zuletzt genannten Themenkomplex behandelt Knüppeln sehr ausführlich, wobei er auf die üblichen Diskursmuster rekurriert: etwa auf die Schädlichkeit von Leidenschaften und Onanie oder die Ursachen der Melancholie. Während Knüppeln in seinen einleitenden Bemerkungen noch klar Abstand davon nimmt, die Moralität des Suizids zu bewerten, zögert er in diesem Kapitel nicht, die Lebensweise seiner Zeitgenossen scharf zu verurteilen. Daß Knüppeln aber gerade hier so hart argumentiert, findet seine Begründung im Text selbst, denn schließlich hält der Verfasser „überspannte Leidenschaften", besonders aber die unmoralische Liebe, für eine der allerhäufigsten Suizidursachen. 228 Bemerkenswert ist, daß Knüppeln den Frauen vorhält, beträchtlich zum Niedergang der Sitten beigetragen zu haben. In seinen Überlegungen zur Suizidprävention betont er daher auch die Notwendigkeit, das weibliche Geschlecht zu seiner ursprünglichen Bestimmung in Bescheidenheit und Mäßigung zurückzuführen: „[...] wenn der Mann schon dahin gebracht wird, sich der Herrschsucht und Untreue seines Weibes, durch einen freiwilligen Tod zu entziehen, so ist es wohl hohe Zeit, daß der Staat darauf merke, und die Gesetzgebung darauf Ihr Augenmerk richte, und um so eher ist diese Episode hier am rechten Ort angebracht, da die Erfahrung lehrt, daß so viele Selbstmorde durch den Luxus, die Untreue, und Herrschsucht des Weibes bewiirkt werden." 229

Diese bisher ausgeführte Argumentation des Julius F. Knüppeln und auch seine abschließenden Überlegungen zur Gefahr von Aberglaube und Schwärmerei bleiben (abgesehen von seiner extremen Misogynie) innerhalb des auch sonst üblichen diskursiven Rahmens. Was er aber über diejenigen Suizide schreibt, die er durch Unterdrückung oder materielles Elend veranlaßt sieht, verläßt diesen Rahmen durchaus. Besonderes Augenmerk verdient dabei bereits die formale Tatsache, daß Knüppeln für diese Suizidursache explizit eine eigene Kategorie einführt. Die sozialen Bedingungen erlangen dadurch einen gleichberechtigten Status neben den anderen Erklärungsmustern. Grundsätzlich liegt in 225

Ebd., S. 121. Unter diese Kategorie ordnet KNÜPPELN auch die sogenannten „indirekten Selbstmorde" ein (ebd., S. 124 ff.), die uns bereits im Zusammenhang mit religiösen Ängsten vor Verdammung begegnet sind. Siehe Kap. 2.1.1. 227 Ebd., S. 127. 228 Ebd., S. 132. 229 Ebd., S. 158. 226

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2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

dieser Kategorie die Verantwortlichkeit nicht mehr ausschließlich und in jedem Fall beim Individuum. Statt dessen lastet der Verfasser so manchen Selbstmord' der „Regierung" an, etwa „indem sie durch drückende Abgaben Ihre Bürger belastet, und Ihnen alle Erwerbungsmittel erschweret, indem sie die Bauern wie das Lastvieh behandelt". 230 Daraus folgt natürlich, daß sich der Handlungsbedarf nicht nur auf die Verbesserung der Sittlichkeit der Untertanen, auf Religionsaufklärung etc. richtet, sondern auf die Verbesserung der Regierungen selbst: „Wenn die Erfahrung lehrt, daß so viele Selbstmorde aus Mangel und Elend entstehen, da die Regierung Ihre Unterthanen zu Grunde richtet, und Ihnen alle Wege abschneidet, sich Narung und Unterhalt zu verschaffen, so fällt diese Art des Selbstmords, [...] der Regierung zur Last." 231 Trotzdem sollte man nicht so weit gehen, in diesem Buch einen klaren Schwerpunkt auf der politisch-sozialen Argumentation zu sehen, da diese eben nur eine der vier Ursachenkategorien ausmacht. 232 Das letzte Drittel seines Werkes füllt Knüppeln mit etlichen Fallbeschreibungen. Auffallend für unseren Zusammenhang sind einige dort abgedruckte (Abschieds)Briefe, die in Hinsicht auf die Veranlassung der Tat eine deutliche Sprache sprechen: „Ich habe es erlebt, daß schlechte Kerls Ihr Glück gemacht haben, niederträchtige Canaillen [...] werden stark salarirt, man nimmt sie in den höchsten Collégien auf, rechtschaffenen Leuten wird Brod und Wasser gereicht; [...] es ist keine Wohlthat, wenn man hungern muß, ich kann nicht um Brod betteln, das ich verdiene, hiezu kommt noch ein kränklicher Körper, gar kein Glück, viel Arbeit, Chikane und ein beständiges Elend." 233

... so schreibt der Enttäuschte an seinen Vater kurz vor seinem Tod 1782; genauso aus Berlin stammt die daran anschließende Klage über den Despotismus eines Dienstherrens. 234 Da es sich hier um unkommentiert veröffentlichte, fremde Textzeugnisse handelt, 235 können die Aussagen nicht ohne weiteres eins zu eins auf den Herausgeber übertragen werden - schon gar nicht im Fall von Abschiedsbriefen, die ihrer Natur nach höchst subjektiv sind. Andererseits ist bereits die bloße Publizierung eines Textes ein diskursiver Akt. Außerdem enthält sich Knüppeln jeglichen Kommentars, als Herausgeber hat er sich demnach nicht ausdrücklich zu einer Gegendarstellung herausgefordert gefühlt. Eine Spur von Kritik hat Knüppeln allerdings doch hinterlassen: Er ordnet die oben angeführten Briefe unter die Rubrik „Selbstmörder aus Ehrgeiz" ein, obwohl diese Kategorie zum Inhalt der Briefe nicht gerade gut zu passen scheint. Damit klingt eine leise Mißbilligung der Tathintergründe an. 230

Ebd., S. 151. Ebd., S. 212f. 232 Anders: BAUMANN, Suizid als soziale Pathologie, 1997, S. 497. 233 KNÜPPELN, Ueber den Selbstmord, 1790, S. 251 f. 234 Ebd., S. 253 ff. 235 Auch wenn natürlich nie auszuschließen ist, daß der Herausgeber selbst die Briefe fingiert hat. 231

2.3. Suizid, soziale Frage und Lebensumstände

171

Es bleibt festzuhalten, daß Knüppeln den rein theologischen, juristischen, philosophischen Überlegungen ein anders strukturiertes Konzept gegenüberstellt, ohne dabei ausschließlich auf die - unterdessen bewährten - medizinischen Argumente zu setzen. Im Gegensatz zu Knüppeln lassen sich alle anderen .großen' Monographien der 1780er und -90er zum Thema Suizid in Hinsicht auf ihre sozialkritischen Ansätze recht schnell abhandeln. Anders als bei Knüppeln finden sich kaum detailliertere Ausführungen, sondern „Armut und Elend" werden meist nur beiläufig in der Auflistung der verschiedenen möglichen Ursachen genannt. Bei Heller werden sie gar nicht erwähnt, Auenbrugger konzentriert sich ganz auf sein physiologisches System, Sailer wendet sich nur an den Lebensüberdrüssigen persönlich und ruft ihn dazu auf, sich stets der Gefahren von Unvernunft und Leidenschaften sowie der Unmoralität des Selbstmords bewußt zu sein. 236 Medizinisch-pathologisch ausgerichtet ist natürlich Müller, der ja schon im Titel die „medizinischen und moralischen Ursachen" des „Selbstmords" als sein Hauptinteresse ausweist. So ist der Aufruf, daß man „das Elende bei der ärmsten Menschenklasse" vermindern solle237, auch nur ein Punkt in seiner ganzen Liste von vorbeugenden Maßnahmen, die sonst auf die sittliche Verbesserung der Menschen oder die Heilung von Krankheiten abzielen. Block stellt zwar „äussere Lage und Schiksale" neben ein ganzes Heer an negativen Einflüssen auf den Menschen, aber „diejenigen Ursachen des Selbstmords, welche in der äussern Lage des Menschen liegen, würden wahrscheinlich niemals diese Wirkung haben, wenn er an Körper und Seele gesund wäre. Dis ist also die Hauptsache, welche vielleicht alle andren Mittel entbehrlich macht." 238 Dennoch soll nicht darüber hinweggegangen werden, daß Block die Verantwortung des Staates auch darin sieht, gegen ,,[s]chlechte Polizey und Justiz, schlechte Staatswirtschaft und Nahrungsanstalten, und verkehrte Erziehung auf einer Seite; militärischein] Despotismus, Sklavenhandel und Fabrikenzwang auf der andern" zu wirken. 239 Auch Sintenis sieht einen Handlungsbedarf der Obrigkeit, deren ,,erste[..] und heiligste[..] Pflicht" es sei, „für ihre Armen im Land zu sorgen." Diese (Für-)Sorge bestehe aber nicht nur im Verteilen von Almosen, sondern auch darin, alle, die noch dazu in der Lage seien, zum Arbeiten zu verpflichten. 240 Näher als an Knüppeln reichen seine Ausführungen an Moehsen heran, 236

AUENBRUGGER, Von der stillen Wuth 1783; HELLER, Ueber den Selbstmord, 1787; SAILER, Ueber den Selbstmord, 1785. 237 MÜLLER, Selbstmord nach seinen medizinischen und moralischen Ursachen betrachtet, 1 7 9 6 , S. 6 9 . 238

239

BLOCK, V o m S e l b s t m o r d , 1 7 9 2 , S . 1 4 4 .

Ebd., S. 1 6 7 . 240 SINTENIS, Ueber die zweckmäßigsten Mittel, 1792, S. 59FF. Er bezieht sich außerdem ausführlich auf mittellose junge Handwerker; um diesen zu helfen möchte er von staatlicher oder privater Seite Darlehen eingerichtet sehen. Sintenis gleicht Knüppeln überdies darin, daß er großes Gewicht auf die „zu frühe und unnatürliche Befriedigungen des Geschlechtstriebes" als Ursache von Melancholie und damit auch von Suiziden legt (ebd., S. 77f.).

172

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

klagt er doch besonders die Verhältnisse im Militär an. Statt Zwangsverpflichtung solle man wieder zu einem freiwilligen Heer zurückkehren;241 und dann die Befehlshaber mehr Menschlichkeit walten lassen.242 In den gerade analysierten .großen' Abhandlungen blieben die sozialkritischen Ansätze also vereinzelt; man zog sich auf philosophisch-theoretische oder psychologisierende Auseinandersetzungen zurück. Andernorts finden sich Zeilen, die mehr die Gesellschaft als den Suizidenten anklagen. So fordert Baumgartens „Traumgesicht" (1785), Arme und Kranke besser zu unterstützen, 243 so sprechen andere die Verzweifelten von der Schuld für ihr Elend, für ihren Hunger frei. 244 Allerdings sind diese Tendenzen in Richtung „Sozialkritik" weniger Appelle an obrigkeitliche Veränderungen als Aufrufe an die Mitmenschen, dem christlichen Gebot der Nächstenliebe zu folgen: „[...] gebt Wittwen und Waisen Arbeit und Brod! unterstützt diejenigen, die vielleicht wider ihr Verschulden auf einmal in Elend gesunken sind, und nehmt euch der Unglücklichen an, die bei einer annähernden Krankheit oft kein Bündel Stroh haben, worauf sie ihr Haupt zur Ruhe legen können, [...] Thut das, und dann wird der Selbstmord unter dieser Art von Leuten seltner sein!" 245

Hier werden die um das Grab der Toten stehenden - nicht Regierungen - zum Handeln aufgefordert. Es scheint bezeichnend, daß ein anderer Autor anführt, gegen Not etc., die auch er als Suizidursache anführt, könne der Staat nicht viel unternehmen, anders als gegen schlechte moralische Vorbilder.246 Insgesamt wurden somit gesellschaftliche Veränderungen nur sehr vereinzelt als probates Mittel zur Suizidverhinderung angesehen. Soziale Kritik entwickelte sich in diesem Zusammenhang nicht zu einem durchgängigen Diskursmuster. Wenn man sich darüber hinaus noch der Berichterstattung in einigen Zeitschriften zuwendet, fällt die Beständigkeit moralischer Verurteilungen mehr ins Auge als die Ansätze einer sozialkritischen Ursachenanalyse.247 In den herangezogenen Zeitschriften finden sich neben knappen Auflistungen der vorgefallenen Suizide, die lediglich Namen des/der Toten sowie Zeitpunkt, Art und Ort des Todes nennen und die insgesamt betrachtet den größten 241

Ebd., S. 74. Ebd., S. 75 f. 243 BAUMGARTNER, Anton: Fanny, die den 14ten Wintermonat 1785 in München vom Fraunthurm stürzte. Ein Traumgesicht, München 1785, S. 59 f. 244 Als ein bemerkenswerter .Vorläufer', der explizit die schlechte wirtschaftliche Lage seiner zwei Fallbeispiele (sie tragen die Namen „Traugott Nothfall" und „Viktor Hülflos") für deren Suizide verantwortlich macht, sei genannt: ABDALLI, Sedir Zid: Gedanken eines bekehrten Türken über den Selbstmord, s.l. 1769. Vgl. auch: Vom Selbstmord, in: Skeptische Abhandlungen über wichtige Gegenstände der menschlichen Erkenntniß, Marburg 1789, S. 94-98, hier: S. 97 f. 242

245

246

BAUMGARTNER, Fanny, 1780, S. 6 0 .

HUSZTY, Zacharias Gottlieb: Diskurs über die medicinische Polizey, 2 Bd., Preßburg/ Leipzig 1786, hier: Bd. 1, S. 294. 247 Anders: BAUMANN, Suizid als soziale Pathologie, 1997, S. 501 f.

2.3. Suizid, soziale Frage und Lebensumstände

173

Teil der Dokumentationen ausmachen, immer wieder ausführlichere Darstellungen, die genauer auf die Lebens- und Todesumstände der/des Betreffenden eingehen. 248 (In der „Deutschen Zeitung" sind es ausschließlich solche ausführlicher dargestellten Fälle.) Die in den Journalen berichteten Fälle beschäftigen sich überproportional mit Personen aus den unterbürgerlichen Schichten. Sollte man daraus ableiten, daß man sich besonders um die Darstellung der Lebens-/Sterbens-Situation dieser Menschen bemühte? Oder ist hier eher die gängige These anzuwenden, daß Suizide aus höher stehenden Gesellschaftskreisen besser verborgen gehalten werden konnten? 249 Wahrscheinlich ist von einer Mischung aus zwei Erklärungen auszugehen: Absolut nahmen sich mehr Menschen aus den unterbürgerlichen Schichten das Leben als aus anderen Schichten, da sie schlichtweg die bei weitem größte Bevölkerungsgruppierung stellten.250 Darüber hinaus waren Möglichkeiten und Interesse, eine Selbsttötung zu verbergen, bei vielen der berichteten Fälle nicht groß: Oft waren es Lehrlinge oder Gesellen, die fern ihrer Familie lebten, oder auch .Landstreicher', so daß häufig eine soziale Einbindung fehlte. Daß es außerdem den Herausgebern ein besonderes Anliegen war, über Suizidfälle aus den unterbürgerlichen Schichten zu berichten, ist aus den Texten nicht herauslesbar. Gewiß werden Stimmen vernehmbar, die konkret auf das Elend der Person hinweisen, welche sich das Leben genommen hat, die beispielsweise nicht nur Schwermut, sondern auch „Nahrungskummer" verantwortlich machen.251 Stilistisch interessant ist allerdings, daß derartige Aussagen häufig direkt in den Mund des/der - noch kurzfristig überlebenden - Suizidenten/in gelegt werden, sie also subjektiviert werden. Dieses Vorgehen ähnelt dem Abdruck von Briefen. Außergewöhnlich ist in diesem Zusammenhang ein Bericht aus den „Schlesischen Provinzialblättern": Geschildert wird der Fall einer verarmten Frau, die sich zusammen mit ihrem Kind ertränkte. Anders als üblich wird hier

248

Schlesische Provinzialblätter, Bd. 1-31, 1785-1800; Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde. Oder Moralische Schilderungen der Menschen, Sitten und Staaten unserer Zeit, 1784-1795; Journal von und für Deutschland, 1784-1792. 249

250

MINOIS, G e s c h i c h t e , 1 9 9 6 , S . 2 1 7 - 2 2 0 .

Es erübrigt sich zu diskutieren, ob auch die relative Zahl der Suizide höher lag als bei besser gestellten Gesellschaftskreisen, da hierfür das statistische Material nicht ausreichend ist. In diese Richtung tendiert etwa die Deutung Alexandra LUTZ', es wären aufgrund von ,,stärkere[n] Belastungen und existentielle^ Nöte[n]" in den Unterschichten mehr Menschen seelisch erkrankt und daher in das Lübecker „Irrenhaus" eingewiesen worden. (LUTZ, Alexandra: Von rasenden Dims und tiefsinnigen Schiffern. Ein Lübecker Irrenhaus und seine Insassen, 1693-1828, in: CHVOJKA, Erhard/DüLMEN, Richard van/JuNG, Vera (Hrsg.): Neue Blicke. Historische Anthropologie in der Praxis, Wien/Köln/Weimar 1997, S. 2 4 9 274, hier S. 253.) 2 51 Schlesische Provinzialblätter, Bd. 4, 1786, S 493. Vgl. auch: ebd., Bd. 1, 1785, S. 186; Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, 1784, S. 339 f.; Journal von und für Deutschland, 1787, II., S. 153.

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2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

direkt die „Härte ihrer Mitmenschen" angeklagt und diese für den Tod der zwei Menschen (mit)verantwortlich gemacht. 252 „Wer stehet dafür, daß der Arme, der um eine kleine Gabe, nicht um das Zehntel von dem, was man im Spiele oder sonst Preis giebet, bettelt, weil es ihm versaget wird, von Mangel und Verzweiflung getrieben, Hand an sich leget." 253

Doch handelt es sich auch bei diesem Beitrag um eine gegen die direkte Umwelt gerichtete Anklage - beziehungsweise Einklagung von mehr Mitgefühl, nicht aber um Vorschläge für obrigkeitliche Veränderungen. Viele Aufsätze schlagen darüber hinaus ganz andere Töne an: häufig wird nicht nur Krankheit für die Tat verantwortlich gemacht, sondern auch ein lasterhaftes Leben der Suizidenten angeprangert. Die Angaben, die sich auf Melancholie oder Schwermut als Motiv zurückziehen, überwiegen bei weitem ein Phänomen, daß einmal mehr darauf hinweist, wie mächtig diese Deutungskonzepte waren. So erläutert ein Kommentar in den selben „Provinzialblättern" zur bisherigen Berichterstattung, daß deren Hauptinteresse ein psychologisches sei, denn „welche Gebrechen und Krankheiten der Seele den Menschen so häufig zu dem verzweifelten Entschluß treiben [...] verdienet eine genaue Untersuchung, damit die Quellen dieses Uebels und die Mittel aufgefunden werden, durch welche ihm der Seelsorger, der Erzieher, und der Gesetzgeber entgegen arbeiten kan". 254 Auch der Kommentar im folgenden Band zielt in die nämliche Richtung und konstatiert, daß die Zunahme der Suizidfälle in Schlesien auf eine Zunahme der „Gemüthskrankheiten" schließen lasse, diese Gemüthskrankheiten wiederum hätten jedoch zu weiten Teilen physische Ursachen. 255 Häufig sind diejenigen Fallbeschreibungen, die dem Suizidenten direkt oder indirekt eine moralische (Mit-)Schuld an seiner Tat aufbürden - sei es, indem man ihr/ihm anlastet, sich selbst in die verzweifelte Lage gebracht zu haben, sei es durch den direkten Vorwurf eines schlechten Charakters. So bemerkt man (wiederum in den „Schlesischen Provinzialblättern") über einen Torschreiber in Hirschberg, der sich völlig verarmt erhängte, er habe „von jeher sehr unmoralisch gelebt und war besonders dem Trunk und den Ausschweifungen der sinndlichen Liebe sehr ergeben gewesen. Beydes hatte seine Vermögensumstände sehr zerrüttet". 256 Und zu einem anderen Erhängten: „Völlerei und liederliche Lebensart hatten diesen Menschen, der nie verheiratet und stets

252

Schlesische Provinzialblätter, Bd. 5, 1787, S. 375 f. Ebd. 254 Ebd., Bd. 5, 1787, S. 566. 255 Ebd., Bd. 6., 1787, S. 458. 256 Ebd., Bd. 3, 1786, S. 176. Vgl. auch: ebd., Bd. 2, 1785, S. 88 (als Ursache wird Spielsucht genannt); ebd., Bd. 3, 1786, S. 390 (Leichtsinnigkeit); ebd., Bd. 9, 1789, S. 579f. (dieser Fall wird unter der Rubrik Trunksucht geführt); ebd., Bd. 21, 1795, S. 268 (ein „versoffener Schuster"). 253

2.3. Suizid, soziale Frage und Lebensumstände

175

unstät und flüchtig gewesen, ohne Zweifel zu diesem traurigen Entschluß gebracht". 257 Auch unter den im „Journal von und für Deutschland" berichteten Fällen finden sich mehrere, bei welchen die Armut der Suizidenten als selbstverschuldet dargestellt wird. 258 Aber nicht nur materielle Not, auch Wahnsinn konnte als Folge von „Lasterhaftigkeit" aufgefaßt werden. Der Tod eines Bauern bei Chemnitz, der als „eigenwilliger, unordentlicher, schlechter Mann" charakterisiert wird und der sich erhängte und gleichzeitig sein Haus anzündete, wird auf diese Weise gedeutet. Man solle sein Beispiel als Warnung nehmen, „für alle, die in Lastern grau geworden, damit nicht endlich auch vielleicht aus ihnen, selbst wider ihren Willen, ein solcher Auswurf gebildet werde." 259 Selbst in dem von Baumann als Beleg für sozialkritische und mitleidsvolle Ansätze herangezogenen Artikel über einen „Unbekannte [n] Selbstmörder zu Frankfurt am Mayn" im „Journal von und für Deutschland" wird ausdrücklich darauf verwiesen, daß es unter der „ganzen Liste von Selbstmördern", die dem Verfasser in den letzten acht Jahren bekannt geworden seien, „nur zwey das Mitleiden guter Menschen" verdienten, am meisten aber der dargestellte Fall. 260 Generalisiert wird folglich nicht: Weder wird eine Vielzahl von Suiziden auf eine unzureichende materielle Lage zurückgeführt, noch die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse stringent kritisiert. (Knüppeln wollte hingegen in gewisser Weise auch die Politik mit ins Spiel bringen, rief er doch die „Fürsten" vehement dazu auf, die Situation ihrer Untertanen, besonders auch der bürgerlichen, zu verbessern. 261 ) Eine weite Verbreitung von gesellschaftskritischen Ansätzen zu konstatieren, funktioniert letztlich also nur, wenn man den Blickwinkel auf die Texte arg verengt und viele der nicht nur psycho- und pathologisierenden, sondern auch eindeutig moralisierenden Darstellungen außer acht läßt. Die hartnäckige Resistenz gegen den Gedanken, Suizide durch die Verbesserung der Lebensumstände verhindern zu können, muß auf verschiedenen Ebenen analysiert werden. Zunächst ist zu bedenken, ob hier dem 18. Jahrhundert schlicht eine ausschließlich heutige Sichtweise übergestülpt wird, in dem Sinne, daß Schlußfolgerungen erwartet werden, für die jedoch zu diesem Zeitpunkt der historischen Entwicklung noch die nötigen Denkkategorien fehlten. So gaben etwa die Lebensumstände der verschiedenen Schichten - die aus heutiger Sicht fremdartig und bestürzend wirken mögen - für den im 18. Jahrhundert lebenden Betrachter ein gewohntes Bild ab. Um aber ein gewohntes Bild als etwas ungünstiges zu erkennen, bedarf es zunächst einer veränderten Per257

Ebd., Bd. 28, 1798, S. 592. Journal von und für Deutschland, 2. Jhg., 1785, S. 159f. u. S. 503ff.; ebd., 3. Jhg., 1786, S. 165; ebd., 4. Jhg, 1787, S. 152; ebd., 6. Jhg, 1789, S. 183. 259 Ebd., 3. Jhg., 1786, S. 380f. 260 Ebd., 4. Jhg., 1787, S. 151; BAUMANN, Suizid als soziale Pathologie, 1997, S. 501. 261 KNÜPPELN, Ueber den Selbstmord, 1790, S. 212f. 258

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2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

spektive - etwa durch einen (Denk-)Anstoß von außen. Oder aber das Bild selbst mußte Veränderungen aufzeigen, sich schärfen, das Elend offensichtlicher - und auch: bedrohlicher - machen. Sobald sich allerdings neben der gewohnten Lesart auch nur eine gegenläufige Stimme finden läßt, zeigt diese auf, daß eine Perspektivveränderung im Bereich des Möglichen, des Denkbaren lag. Wie dargelegt, spricht aus den Texten Knüppeins und Moehsens und auch aus einigen anderen, vielleicht leiseren, so eine Stimme. Die Nicht-Artikulation von gesellschaftskritischen Ansätzen kann daher nicht auf ein Fehlen dieses Gedankenbausteins zurückgeführt werden. Daß die deutschen Aufklärer zumindest teilweise in eine eher systembewahrende Richtung tendierten, mag zur Resistenz gegen reformfreudiges Gedankengut beigetragen haben - auch wenn man ihnen nicht gleich durch „staatsfromme Gesinnung erzeugte[..] Denkblockaden" zu unterstellen braucht. 262 Diese strukturelle Interpretation hilft uns jedoch nicht wirklich weiter, um die Eigenarten des Suiziddiskurses zu interpretieren; außerdem schreckten die deutschen „Aufklärer" ja nicht grundsätzlich und generell vor jeglicher Form der Sozialkritik zurück. Ein kurzer Blick auf die schon zuvor zum Vergleich herangezogene Debatte über den Kindsmord soll dies veranschaulichen.263 Wie für den Suizid konnte es natürlich auch für die Tötung eines neugeborenen Kindes keine moralische Rechtfertigung geben - anders aber als im Fall der Selbsttötung rekurrierten die Autoren in ihrer Analyse häufig auf die sozialen Umstände der Mütter. Und umgesetzt in praktische Aufklärung' wurden dann sehr konkrete Vorschläge entwickelt, um die Lebenssituation der Schwangeren und ledigen Mütter zu verbessern.264 Wie sind diese unterschiedlichen Sichtweisen zu erklären? Es gibt nur wenige Autoren, die direkt Suizid und Kindsmord miteinander kontrastieren. Peter Camper und sein deutscher Kommentator stellen quasi-mathematische Berechnungen darüber an, welche Tat dem Staat mehr Schaden zufüge - es ist der Suizid, weil er erstens einen erwachsenen (männlichen) Menschen in dem Lebensabschnitt töte, da dieser dem Staat am besten dienen könnte, während der Verlust des Kindes geringer sei, „wenn man erwäget, daß die Erziehung solcher Kinder durchgehends so vernachlässiget wird und sie eben durch diese Vernachlässigung öfters die grösten Verbrecher werden, und der Gesellschaft nachtheilig sind". 265 Zweitens würden 20 von 32 Kindern sterben, bevor sie

262

BAUMANN, Suizid als soziale Pathologie, 1997, S. 493. Siehe auch Kap. 2.2.4. 264 DÜLMEN, Richard van: Frauen vor Gericht. Kindsmord in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1991, S. 106. Vgl. allgemein: ULBRICHT, Otto: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990, insb.: S. 217-334. 265 CAMPER, Peter: Gedanken ueber die Missethat des Kindermords, ueber die Bequemlichkeit Fuendlingshäuser einzufuehren, ueber die Ursachen des Kindermords und ueber den 263

2.3. Suizid, soziale Frage und Lebensumstände

177

„mannbar" seien. „Also kann das Verhältnis des Selbstmords zu dem Kindermord in Ansehung des Interesses der Gesellschaft gerechnet werden als 32 zu 12."266

Abgesehen von solcher (heute) sophistisch anmutender Arithmetik, die den Federn der kameralistisch geprägten Autoren entsprang, läßt sich die zwischen den beiden Auseinandersetzungen bestehende Differenz nur entschlüsseln, wenn die innere Logik des Diskurses betrachtet wird: Stets ging es darum, wem die Verantwortung anzulasten sei, wer hingegen davon befreit werden dürfe und welchen Teil die Gesellschaft beziehungsweise der ,Staat' zu tragen habe. Hinsichtlich des Kindsmords zeichnete sich hier im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine entscheidende Veränderung ab: Die gesellschaftliche Ächtung, die drohende Schande der unverheirateten Mutter wurden verstärkt als Ursache der Tat aufgefaßt. 267 Die Beseitigung der Kirchen- und Unzuchtstrafen war daher eines der vordringlichsten Anliegen der Reformer.268 Eine grundsätzliche Idee, um die Zahl der Kindstötungen zu reduzieren, bestand außerdem darin, den Frauen und ihren Kindern einen sicheren Lebensraum zu geben, sie also in einer Art Heim unterzubringen. Um die den Frauen gewährte Hilfe unangreifbar zu machen, war es allerdings nötig, die Schuld beziehungsweise die Verantwortung der Frauen für ihre Tat abzuschwächen. Um die moralische Verwerflichkeit der Frauen aus dem Blickfeld zu räumen, wurde einerseits der Figur des männlichen Verführers ein stärkeres Gewicht beigemessen, die Frau zum Opfer umgedeutet.269 Andererseits argumentierte man, daß die Tötung selbst im Zustand verminderter Zurechnungsfähigkeit ausgeführt worden war.270 Wie im Fall des Suizids konnte so durch physiologische und psychologische Argumente die Verantwortung der Frauen reduziert werden. Die schwangeren Frauen sollten der staatlichväterlichen Obhut und auch Kontrolle übergeben werden. Hier widersprachen sich Pathologisierung und Reform also nicht - den Frauen konnte vielmehr durch die angestrebten Maßnahmen ein gesichertes Auskommen gewährt werden, während sie zugleich quasi vor sich selbst und ihrer Irrationalität geschützt waren. Selbstmord, aus dem Holl, übersetzt u. mit Anmerkungen von J. F. M. Herbell, Frankfurt 1777, S. 188, Anm. d. Übers. Daß ein Kindermord dem Staat keinen (großen) Schaden zufüge, schreibt auch: EGGERS: Geschichte eines Kindermordes, nebst allgemeinen Betrachtungen, in: Deutsches gemeinnütziges Magazin, 1. Jhg., 1788, 1. Quartal, S. 197-217, hier: S. 198f. 266 CAMPER, Gedanken ueber die Missethat des Kindermords, 1777, S. 117. 267 Etwa: EGGERS, Geschichte eines Kindermordes, 1788, S. 201. 268

269

ULBRICHT, K i n d s m o r d u n d A u f k l ä r u n g , 1 9 9 0 , S . 2 7 8 - 2 9 6 .

Vgl.: HULL, Isabel: Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700-1815, Ithaca/ London 1995, S. 283. Hull analysiert überzeugend den Zusammenhang von allgemeinen Rollenstereotypen und der Darstellung von Frauen in Erzählungen über Kindstötungen. 270 Etwa: Ueber die Glaubwürdigkeit der Medizinalberichte in peinlichen Rechtshändeln, Berlin 1780, S. 86f. Siehe auch Kap. 3.2.3.1.

178

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel S u i z i d

Anders lagen die Dinge im Fall des Suizids: Hier hätte die Anerkennung von sozialen Gründen impliziert, daß sich die Tat rational begründen ließe, indem sie dann eine unabänderliche - oder zumindest verständliche - Konsequenz der äußeren Umstände darstellte. In dieser Lesart hätte der Suizid jedoch nicht nur seinen schändlichen Charakter eingebüßt. Mehr noch: er wäre auch nicht länger die bloße Folge einer krankhaften Konstitution, sondern (nachvollziehbare) Antwort auf die Lebenswelt gewesen. In diesem Sinne schloß die Pathologisierung des Suizids es nahezu aus, die sozialen Gründe für diese Tat stärker einzubeziehen. Die Schaffung von ,Frauenhäusern' setzte darüber hinaus an der Situation einer sehr gut begrenzten, und damit auch überschaubaren Gruppierung der Gesellschaft an: den ledigen Müttern. Ein entsprechendes Pendant stand im Fall des Suizids nicht zur Verfügung. Die Suizidgefährdeten waren zu schwer zu ermitteln und zu erfassen. Lediglich die Vorschläge, alle, die offensichtlich schwer melancholisch waren oder gar schon einen Suizidversuch hinter sich hatten, unter Aufsicht (einer Einrichtung oder der Familie) zu stellen, sind in etwa vergleichbar. 271 Zur Verhinderung von Suiziden setzte man weniger auf eine soziale, als auf eine moralische Verbesserung der Gesellschaft, nicht die materielle Versorgung, sondern die Erziehung und ,Aufklärung' stand im Vordergrund.

2.3.2. Die andere Seite: Luxuskritik Auf einer anderen wirtschaftlich-materiellen Ebene forderten allerdings viele ein Eingreifen der Staatlichkeit: Nicht nur im Suiziddiskurs, sondern allgemein im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden die Gefahren des (vermeintlich) sich ausbreitenden Luxus heftig beklagt. 2 7 2 Dazu gesellten sich die Angriffe gegen das Lotto und gegen Spiele um Geld allgemein. Diese Themen sind offensichtlich weniger in Verbindung mit den im vorigen Abschnitt verstärkt im Blickpunkt stehenden ,unterbürgerlichen' Schichten zu sehen. Und auch wenn die Texte eine allgemein gefährliche Verbreitung von Luxus und Lotto anprangerten, ist dies eher Resultat des speziellen Blickwinkels auf diejenige Gesellschaftsschicht, der die Autoren selbst entstammten, also dem, was man gemeinhin als das ,aufgeklärte Bürgertum' klassifiziert. So betonte man, „wird auch die Hemmung des überhandnehmenden Luxus in den mittlem Ständen von äuserster Nothwendigkeit sein. Die Erfarung lehret nicht weniger sonnenklar, daß dieser eine der vorzüglichen Quellen des Selbstmordes sei." 2 7 3 Etwa: DALBERG, Carl Theodor: Entwurf eines G e s e t z b u c h s in Criminalsachen, Frankfurt/Leipzig 1792, S . 154; Entwurf eines Sitten- und S t r a f g e s e t z b u c h e s für einen deutschen Staat, U l m 1793, S . 131 f. 2 7 2 Auch in der Debatte über die „ m e d i z i n i s c h e P o l i z e y " waren die Gefahren d e s L u x u s ein T h e m a : HUSZTY, D i s k u r s über die medicinische Polizey, 1786, B d . 1, S . 27. 2 7 3 SINTENIS, U e b e r die zweckmäßigsten Mittel, 1792, S . 63. 271

2.3. Suizid, soziale Frage und Lebensumstände

179

Welche Ursache hatte diese Klage über den Luxus? Antike und mehr noch christliche Autoren hatten das luxuriöse Leben natürlich schon lange in Mißkredit gebracht, und seit Augustinus war es im Sündenkanon fest verankert. Dennoch haftete dem luxuriösen Leben keineswegs immer und überall der Makel des Schädlichen oder gar Unsittlichen an. Vielmehr hatten Autoren wie Mandeville oder Hume bereits zur „Demoralisierung" des Luxus beigetragen; man versprach sich zeitweise gerade von der Luxusgüterproduktion einen Zuwachs an wirtschaftlicher Prosperität.274 Und man lebte ja auch in einer Zeit des Konsums, der Mode, der exotischen Importartikel, der Devotionalien. Nicht umsonst entstanden Zeitschriften wie das „Journal des Luxus und der Moden" oder die „Zeitschrift für Freunde der schönen Künste, des Geschmacks und der Moden". 275 Wie als Gegenreaktion auf diese Entwicklungen verschärfte sich allerdings im ausgehenden 18. Jahrhundert die Auseinandersetzung mit allem, was man mit dem Etikett,Luxus' belegen konnte. 276 Und daher mag man konstatieren: „Für das 18. Jahrhundert war ,der Luxus' eines der wichtigsten Gesprächsthemen überhaupt".277 In unserem Zusammenhang rekurrierte man auf die Gefahr, sich durch übermäßig luxuriöses Leben materiell zu ruinieren, weniger aber auf die gesamtgesellschaftliche Problematik einer wirtschaftlichen Mißverteilung der Güter.278 Mindestens so viel Gewicht wie auf der Warnung vor den individuellen wirtschaftlichen Folgen lag jedoch auf der Implikation, daß eine solche Lebensweise lasterhaft sei: ungezügelt, den Leidenschaften frönend, den Tugenden Mäßigung und Bescheidenheit diametral entgegengesetzt und auch die herkömmlichen (Standes-)Grenzen sprengend. So definiert Zedlers Lexikon knapp, aber stellvertretend für viele: „Luxuria: verschwenderische Ausgabe, [...] die Geilheit, Schwelgerey, Uebermäßigkeit im Essen und Trincken und Kleidern."279 Und so beklagt Knüppeln „die Zügellosigkeit der Sitten, und den 274

Vgl.: BERRY, Christopher J.: The Idea of Luxury. A Conceptual and Historical Investigation, Cambridge 1994, S. 142 f.; GRUGEL-PANNIER, Dorit: Luxus. Eine begriffs- und ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von Bernhard Mandeville, Frankfurt a. M. u.a. 1996; WIRTZ, Rainer: Kontroversen über den Luxus im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1996, S. 165-175. 275 Berlin. Eine Zeitschrift für Freunde der schönen Künste, des Geschmacks und der Moden, 1799-1800/1801; Journal des Luxus und der Moden, 1786-1825. 276 Vgl.: BAUMANN, Suizid als soziale Pathologie, 1997, S. 500f. 277 PALLACH, Ulrich-Christian: Materielle Kultur und Mentalitäten im 18. Jahrhundert. Wirtschaftliche Entwicklung und politisch-sozialer Funktionswandel des Luxus in Frankreich und im Alten Reich am Ende des Ancien Régime, München 1987, S. 2. 278 Vgl.: ebd., S. 121. 279 ZEDLER, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 18, Leipzig/Halle 1738, Nachdr. Graz 1961, Sp. 1404. Vgl. auch: BAHRDT, Carl Friedrich: Handbuch der Moral für den Bürgerstand 1789, Tübingen 1789, Nr. 430, zitiert nach MÜNCH, Paul (Hrsg.): Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden", München 1984, S. 273-279, hier: S. 275: „Luxus heißt ein solcher Aufwand, der keinen der eigentlichen Zwecke des

180

2. Pathologisierung und die Beständigkeit der Moral: Fallbeispiel Suizid

Verfall der Tugend" und bezeichnet sie als „schädliche Folgen des Luxus". 280 Auffallend ist in der Knüppeischen Argumentation die sprachliche Parallelität zu seinen Auslassungen über die Onanie. Beide führten zu Verweichlichung und Niedergang der Moral; die Menschen seien bald nicht mehr als Abbilder ihrer eigenen Schatten.281 Knüppeln steht damit ganz in der christlichen Tradition, „luxuria" auch als sexuelle Ausschweifung und Unzucht zu definieren.282 Naheliegender Ausgangspunkt der Luxuskritik, wie sie um 1750 wieder verstärkt und besonders in Frankreich entwickelt wurde, ist zunächst die Opposition zum höfischen Überfluß. Schnell trat hinzu, daß man den Luxus als etwas Un-Natürliches auffaßte; und es ist wohl keine Überraschung, diesen Antagonismus speziell bei Rousseau zu finden.283 Auf fruchtbaren Boden fiel dieser Gedanke überall dort, wo es darum ging, die Gefährlichkeit und die Laster des städtischen Lebens darzustellen. Diese besonders an den großen Metropolen ausgerichtete Kritik ist nicht erst eine Schöpfung marx-engelscher Philosophie, sondern bereits im 18. Jahrhundert weit verbreitet.284 Sie wurde in Hinsicht auf die Ursachen des Suizids immer wieder vorgetragen, standen die Städte doch im Verdacht, daß dort „unnatürliche Lüste und Laster die menschliche Natur am frühesten schwächen und erschöpfen". 285 Daher war auf dem Land angeblich „der Selbstmord seltner als in den reichern Städten". 286 Schließlich, und dabei beide Aspekte mit einander verbindend und ergänzend, wurde ein luxuriöses Leben deswegen als fatal definiert, weil es Untätigkeit implizierte, also einen Frevel am (besonders bürgerlichen, teilweise auch protestantischen) Leistungsethos bedeutete.287 Die Kritik am sich ausbreitenden Luxus gestaltete sich im Suiziddiskurs somit zwar als Gesellschaftskritik, sie entließ dabei das Individuum aber keineswegs aus der Verantwortung. Denn der Suizid passierte nicht als GegenreakAufwandes befördert, sondern blos für Eitelkeit und Veränderlichkeit des Geschmacks geschieht." 280 KNÜPPELN, Ueberden Selbstmord, 1790, S. 152. 281 Ebd., S. 153 f. 282

283

V g l . : GRUGEL-PANNIER, Luxus, 1996, S. 1 0 8 f .

Vgl.: SAISSELIN, Rémy G.: The Enlightenment against the Baroque. Economics and Aesthetics in the Eighteenth Century, Berkeley u.a. 1992, S. 27if. Für die Debatte im England der gleichen Zeit, die eher von Mitgliedern der Gentry gegen die (vermeintlich) überzogenen Ansprüche der unteren Schichten geführt wurde, vgl.: SEKORA, John: Luxury. The Concept in Western Thought, Eden to Smollett, Baltimore/London 1977, S. 6 4 f . 284 Siehe dazu auch Kap. 3.1.3.2. 285 MEINERS: Ueber den Hang mancher Völker zum Selbstmord, in: Göttingisches Historisches Magazin, 1788, 2. Bd., S. 104-109, hier: S. 105. 286 Bildersaal seltener Selbstmörder. Ein Beitrag zur Beurtheilung der Sittlichkeit des Selbstmordes, Berlin 1804, S. 161. 287 Auf die Gefahren des untätigen Lebens werden wir noch in anderer Hinsicht stoßen, ζ. B. wenn es um die Gefahren der Empfindelei und des (übermäßigen) Romanelesens gehen wird. Siehe Kap. 3.3.3.

2.3. Suizid, soziale Frage und Lebensumstände

181

tion auf die (unerträglich werdende) Lasterhaftigkeit der Welt, sondern er war Teil dieser Lasterhaftigkeit; nährte sich aus ihr und nährte sie zugleich selbst. Darüber hinaus lag der argumentative Schwerpunkt wiederum weniger auf den wirtschaftlichen Konsequenzen des sich ausbreitenden Luxus als auf der sittlichen Verwerflichkeit, Schädlichkeit. „Besonders sind es Liiderlichkeit, Ausschweifungen aller Art, Verschwendung, und dadurch bewirkter Mangel und physisches Elend, Faulheit und Arbeitsscheu, Geldgeiz und Ehrgeiz, Spielsucht und daraus folgende Verzweiflung, und andere grobe Gebrechen mehr, welche den Sensualisten endlich zur Selbstentleibung fuhren." 288

Auch die Debatte um die schädlichen Folgen des Luxus unterstützte also erneut die moralische Ausrichtung des Diskurses und war wenig interessiert an der Analyse der gesellschaftlichen Lebensbedingungen einzelner Gruppen, dem also, was wir eingangs dieses Abschnittes unter der Rubrik „Sozialkritik" untersucht haben. Das Individuum wurde in dieser Hinsicht folglich nicht entlastet. Die Tatsache aber, daß es überhaupt ins Blickfeld rückte, ist für sich genommen schon eine beachtenswerte Entwicklung. Diese Loslösung von der rein theoretischphilosophischen Auseinandersetzung zu Gunsten eines neuen Interesses für den Einzelfall sei noch einmal als eine entscheidende Veränderung gegenüber dem beginnenden 18. Jahrhundert (und der vorangehenden Zeit) herausgestellt. Der Blick auf das Individuum wird uns auch im folgenden weiter beschäftigen, genauso, wie das weite Feld der Wahrnehmungen erneut ins Zentrum unserer Überlegungen rücken wird.

288

Bildersaal seltener Selbstmörder, 1804, S. 151.

3. Wahrnehmungen: Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts? „Leider, ist die Menschheit sehr tief gesunken, [...] wenn alte und junge Akademiker Strick, Wasser, Degen und Pistol für den letzten Act ihres rühmlichen oder unrühmlichen Lebens aufbewahren, und die Gesetze hierbei zu liberal werden. Allzu große Strenge ohne Unterschied dürfte oft Ungerechtigkeit seyn, allzu große Nachsicht zur epidemischen Mordsucht führen." 1 Der erste Teil dieser Untersuchungen war der Bedeutungsveränderung von Phänomenen im Zeichen ihrer Pathologisierung gewidmet und untersuchte daher notwendigerweise unter anderem den Einflußgewinn der Medizin im 18. Jahrhundert. Auch der Begriff Epidemie, an den sich die oben zitierte Klage über die „epidemische Mordsucht" anlehnt, stammt offensichtlich aus diesem Fachbereich - genauso wie die LesesiícAí und das Wertherfieber. Um all diese (vermeintlichen?) Epidemien des späten 18. Jahrhunderts soll es im folgenden gehen; und außerdem um die Verbreitung von Melancholie und Hypochondrie, die so manche sorgenvolle Reaktion hervorrief. Ich werde diese Themen als Perspektiven auf meinen Untersuchungszeitraum nutzen und den entsprechenden Selbstbeschreibungen der Zeitgenossen nachgehen. Dieser Ansatz unterscheidet sich von der bisherigen Forschung, die ihre Analyse auf die Rekonstruktion von Kausalitäten ausrichtete und dazu immer einen tatsächlichen gesamtgesellschaftlichen Gemütszustand voraussetzen mußte, dessen Ursprünge es zu ergründen galt.2 Zwischen den verschiedenen Phänomenen Suizid und Melancholie, Hypochondrie und Lesesucht etc. besteht ein zweifacher Zusammenhang: Einerseits werden sie in den zu analysierenden Texten selbst auf einander bezogen, also zum Beispiel Verbindungen zwischen übermäßigem Lesen und Melancholieanfälligkeit hergestellt. Andererseits rücken sie in der forscherlichen Sicht eng zusammen, da sich mehrere verbindende Erklärungsmomente aufzeigen lassen. Diese Bezüge stehen im Zentrum des folgenden dritten Teiles meiner Arbeit und sind daher in der Mitte dieses Hauptkapitels angeordnet. Davor und danach sollen die einzelnen ,Epidemien' der Hypochondrie und der Suizidneigung jeweils ein eigenes Kapitel bekommen. Die Perspektive dreht sich also mehrmals und gibt dadurch den Blick auf verschiedene Aspekte des Themas 1

Selbstmord ein Verbrechen und Krankheit nach Befinden, in: Almanach für Aerzte und Nichtärzte auf das Jahr 1794, 1794, S. 165-177, hier: S. 171. 2 Besonders: LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, Überarb. Aufl., Frankfurt a.M. 1998 (Original 1969). Als Kritik an der Reduzierung der Geschichtswissenschaft auf die Suche nach Kausalitäten vgl.: FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973 (Original 1969), S. 231.

184

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

frei. Am Anfang und Ende wird aus einer spezielleren Problematik heraus analysiert, wie bestimmte Wahrnehmungen entstehen konnten, wobei auch die jeweilige bisherige Forschung diskutiert wird. Dazwischen siedeln sich im Mittelteil die Leitlinien Veränderungen der Medienlandschaft, Kommunikationsmöglichkeiten und Individualisierung an.

3.1. Melancholie und Hypochondrie: Interpretationen Seit geraumer Zeit beschäftigen sich Forschungen der verschiedensten Disziplinen mit den Phänomenen Hypochondrie und Melancholie und nehmen dabei eine historische Perspektive ein. 3 Dem ausgehenden 18. Jahrhundert kam und kommt dabei große Aufmerksamkeit zu. Wieso? Zum Teil sicherlich, da sich hier die Bedeutungszuschreibungen besonderes stark veränderten, mehr noch aber, da man eine spezifische Affinität der Zeit zu diesen Krankheits- beziehungsweise Stimmungstypen auszumachen glaubte. Stellt es sich also folgendermaßen dar: das späte 18. Jahrhundert bevölkert von Hypochondristen und Melancholikerinnen? Epidemisch erkrankt? (Und damit nicht genug, auch noch von anderen Unmäßigkeiten bedroht. Einer Suizidwelle? Einer Empfindsamkeitsseuche?) Das 18. Jahrhundert sei das Jahrhundert „der unvergnügten Seele".4 Es hätte an „Gemütsverdüsterung" gelitten,5 zumindest aber sei es tränenselig, mehr als

3

Ich fasse im folgenden diese beiden Phänomene in dem Sinn zusammen, wie sie von der Forschung selbst oft in eins gesetzt werden, um so die ganze Bandbreite der zur Verfügung stehenden Deutungsmöglichkeiten aufzeigen zu können. Den bedeutenden Anfangspunkt zur historischen Erforschung der Melancholie setzten: PANOFSKY, Erwin/SAXL, Fritz: Dürers „Melancolía I". Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung, Leipzig 1923. Noch wichtiger in der (inhaltlich und um einen Autor) erweiterten Fassung: dies./KLBLANSKY, Raymond: Saturn and Melancholy. Studies in the History of Natural Philosophy, Religion and Art, London 1964. Für einen Überblick über die ältere Melancholieforschung siehe: SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, S. 1-10. Als neuere Arbeiten sind zu nennen: ENTERLINE, Lynn: The Tears of Narcissus. Melancholia and Masculinity in Early Modern Writing, Stafford 1995; WAGNER-EGELHAAF, Martina. Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration, Stuttgart 1997. 4 BURGER, Heinz Otto: Die Geschichte der unvergnügten Seele. Ein Entwurf, in: ders.: Dasein heißt eine Rolle spielen. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, München 1963, S. 120-143. 5 BEGEMANN, Christian: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1987, S. 165. Ähnlich auch: BILGER, Stefan: Üble Verdauung und Unarten des Herzens. Hypochondrie bei Johann August Unzer, Würzburg 1990, S. 86.

3.1. Melancholie und Hypochondrie: Interpretationen

185

empfindsam, eben melancholisch gewesen.6 Die Klischeebildungen sind in jedem Fall reichhaltig. Die Abgrenzungen bleiben dabei meist schwammig. Es drängt sich die Frage auf, wie solche Beschreibungen mit jener anderen Vorstellung von einer rationalen Welt der Aufklärung zusammenpassen, wo deren Begeisterung für Neuentdeckungen, ihr Tatendrang, ihr Glaube an den unermüdlichen Fortschritt in der Welt bleiben. Voraussichtlich lassen sich beide Betrachtungsweisen zusammenführen, indem sie als mögliche Ausschnitte eines einzigen Gegenstandes aufgezeigt beziehungsweise deren Eigenarten als Konstruktionen herausgearbeitet werden. Ähnliches gilt auch für die vermeintliche Opposition von aufklärerischer Geselligkeit und melancholischer Eigenbrötelei; von eifrigem Schaffensdrang und empfindsamen Müßiggang. Diese Ambivalenzen voraussetzend, geht es mir im folgenden um zweierlei: Einerseits sollen kurz zeitgenössische Selbstbeschreibungen (des späten 18. Jahrhunderts) zur Debatte stehen; Selbstbeschreibungen, die nicht als hundertprozentige Spiegelbilder eines tatsächlichen Zustandes aufzufassen sind, sondern die mehrfachen Brechungen unterliegen und also lediglich Rückschlüsse auf Situationswahrnehmungen beziehungsweise -Interpretationen zulassen.7 Andererseits werde ich durchaus kontrastierend mit mancher (gängigen) Deutung in der bisherigen Forschung Analyse-, ja Eñlarungsmoglichkeiten aufzeigen, die sich gezielt auf eben diese Wahrnehmungen und deren Veränderungen konzentrieren. Daher sind mir Beobachtungspunkte, Kommunikationsmöglichkeiten und Bedingungen des Sehens besonders wichtig. 3.1.1. Selbstaussagen im späten 18. Jahrhundert Tagebuch Johann Anton Leisewitz', Eintrag vom 30. Januar 1779: „Ein äußerst hypochondrischer Tag. [...] Den ganzen Morgen, jedoch einige mahle unterbrochen, in Amts-Geschäften gearbeitet. Auf dem Archive ward es mir mit einemmahle so warm in der Brust, und nachher warf ich etwas Blut aus. Ich habe seit einiger Zeit den Husten und bin überhaupt diesen ganzen Monat durch sehr elend gewesen. Einsamkeit und überhäufte Arbeit haben ihren Theil daran." 8

Einen Tag später: „Ein höchst schwarzer, hypochondrischer Tag. Morgens in Landschaftl. Sachen gearbeitet, allein oft durch Schwachheit, oft durch Verdruß über die verdriesliche Arbeit unterbrochen. [...] Aller Orten voller

6

Vgl.: RIHA, Ortrun: Das weinende Jahrhundert. „Melancholie" im Zeitalter der Aufklärung, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen, Bd. 4, 1986, S. 23-38. 7 Vgl.: Interview mit Hayden WHITE, in: DOMANSKA, Ewa: Encounters. Philosophy of History after Postmodernism, Charlottesville/London 1998, S. 13-38, hier: S. 16. 8 LEISEWITZ, Johann Anton: Tagebücher, hrsg. v. Heinrich Mack und Johannes Lochner, Bd. 1, Weimar 1916, S. 8 (30. 1. 1779).

186

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Schwermuth. [...] Mein Blut war sonderlich Abends in entsetzlicher Wallung." 9 Aus solchen oder ähnlichen Äußerungen mag Busse schöpfen, um Leisewitz als einen Gesundheitshypochonder abzustempeln. 10 Ein vergleichbares Schicksal widerfährt Lichtenberg, dem Busse ankreidet, seine Kränklichkeit häufig lediglich als Vorwand für Untätigkeit benutzt zu haben. 11 Problematisch sind solche Charakterisierung neben der offensichtlichen Gefahr, P a u s c h a l i e rungen zu befördern, hauptsächlich deswegen, da sie die Bedeutung der Begriffe nicht aus dem zeitgenössischen, sondern aus dem eigenen Verständnis erschließen. Wir haben jedoch bereits erfahren, daß die Hypochondrie nach der im ausgehenden 18. Jahrhundert gängigen Auffassung körperliche und seelische Komponenten in sich vereinte. 12 Leisewitz' Bekenntnisse tragen sicherlich schwermütige Züge, er schildert aber immer auch die Erfahrung einer physischen Krankheit. 13 Deutlich macht diese uns heute möglicherweise fremd erscheinende Eigenart auch eine Passage aus einem Brief Georg Forsters (war der aufstrebende Forschungsreisende ein Hypochonder?!): „Diese Hypochondrie war wirklich Krankheit, die den Tag darauf in einem so gewaltigen Grade ausbrach, daß ich mich zu Bett legen mußte. Ich wußte mich vor dem Uebermaas der Kopfschmerzen nicht zu retten, ob ich gleich aus Gewohnheit ziemlich viel aushalten kann." 14 Forster erscheint hier nicht als ein schwächlicher Krankspieler und seine Hypochondrie nicht als nervöses Zipperlein. Es ist augenscheinlich, daß eine quantifizierende Aussage über die Hypochondriehäufigkeit auf dieser Ebene nicht möglich ist, auch wenn sich solche Versuche in der Forschungsliteratur finden und dementsprechende Kennzeichnungen für eine Zeit vergeben werden - oder auch für bestimmte Gruppierungen. Dichter erscheinen dann beispielsweise als per se hypochondrieanfällig, 15 ungeachtet dessen, daß nicht eine solche Konstitution, sondern die oftmals kritische soziale Lage, mehr noch aber die Produktion von Text (als Möglichkeit von Selbstaussagen) diese Berufsgruppe von anderen differenziert(e). Ähnli-

9 Ebd. (31. 1. 1779). 10 BUSSE, Walter: Der Hypochondrist in der deutschen Literatur der Aufklärung, Diss. Mainz 1952, S. 86-89. 11 Ebd., S. 83. Differenzierter zu Lichtenberg: GRAVENKAMP, Horst: Geschichte eines elenden Körpers. Lichtenberg als Patient, 2. Aufl., Göttingen 1992 (Original 1989). 12 Siehe Kap. 1.2.3. 13 Diese Krankheitserfahrung wird noch an etlichen anderen Stellen des Tagebuchs deutlich. Die Schilderung der Zahnschmerzen, der „Beschwerden der Brust" etc. (vgl. LEISEWITZ, Tagebücher, Bd. 2, Weimar 1920, S. 156 (1781)) als Folge von bloßer „Einbildung" abzutun, wäre anmaßend und spekulativ. 14 FORSTER, Georg: Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 12. August 1791, in: ders.: Werke, Bd. 16 (= Briefe 1790-1791), hrsg. v. Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1980, S. 331 f., hier: S. 331. 15 Vgl. nochmals: BUSSE, Der Hypochondrist, 1952, S. 118.

3.1. Melancholie und Hypochondrie: Interpretationen

187

ches muß auch für die autobiographischen Zeugnisse veranschlagt werden. Sicher: Man kann etliche Tagebücher oder Briefeditionen aufschlagen und wird auf etliche melancholisch oder hypochondrisch anmutende Aussagen stoßen. Doch daraus stringent eine umfassende Tendenz abzuleiten, erweist sich schnell als unmöglich. Zu vielzählig sind die Gegenbeispiele, zu sehr ist außerdem das autobiographische Medium selbst förderlich für eine melancholischhypochondrische Introspektion, so daß man schlußfolgern kann, daß durch diese Eigenart der Gattungsform gewisse Wahrnehmungsmuster erst produziert werden. (Auf den Zusammenhang von Selbstbeobachtung, Hypochondrie und verfaßter Sprache werde ich weiter unten noch ausführlich eingehen.) Darüber hinaus ist es beachtenswert, wie sehr die Interpretationsmuster aus der Fachliteratur jenen der autobiographisch-selbstreflexiven Texte gleichen. So zeichnet etwa Leisewitz die Gestalt des Hypochonders Leisewitz in der gängigen Kontrastierung von Genialität und Handlungsunfähigkeit.16 Worüber wir hier allenfalls sprechen können (und über alles andere dementsprechend schweigen sollten) begrenzt sich auf die Aussagen, die in der Zeit selbst über die Häufigkeit der Hypochondrie getroffen wurden. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird die Hypochondrie als „Modetemperament" deklariert,17 dreißig Jahre vorher spricht man von einer „Modekrankheit", die fast jede Nation und „die mehresten Individua" befallen habe.18 Auch in der .schönen' Literatur ist die große Verbreitung der Hypochondrie Thema. Beispielsweise charakterisiert sich Thümmels Reisender (in die mittäglichen Provinzen) als typischen Berliner „sowohl meiner Geburt, als Krankheit nach, die mich viele schwermüthige Jahre hindurch am Verdauen und Lachen verhindert hat." 19 Hier tritt die zeitgenössische Debatte anschaulich hervor und es läßt sich schließen, daß dieses Thema als extrem problematisch angesehen wurde, daß hier besondere Aufmerksamkeit geweckt wurde, ja, daß sogar ein Bedrohungspotential angenommen wurde. So hatte bereits Bilguer, dessen Monographie von 1767 als Anfangspunkt der konzedierten Auseinandersetzung gewertet werden kann, die Hypochondrie dadurch charakterisiert, daß sie „eine fast allgemeine Krankheit" sei, daher eine „Ursache der Entvölkerung abgeben" könne und diese Meinung außerdem schon im Titel seines Buches festgeschrieben. 20 Wir müssen diese Aussage jedoch nicht deswegen als Konstruktion auf-

LEISEWITZ, Tagebücher, Bd. 2, 1920, S. 158f. (21. u. 22. 2. 1784). WEBER, Karl Julius: Demokritos oder Hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen. In neuer Anordnung hrsg. v. K. M. Schiller, 12 Bd., Leipzig 1927, Bd. I, S. 259, zitiert nach: SCHINGS, Melancholie, 1977, S. 48. 18 Ueber die Hypochondrie, Dreßden 1777, S. 2. 19 THÜMMEL, Moritz August: Reise in die mittäglichen Provinzen, in: Sämtliche Werke, Leipzig 1811/12, Bd. 2-6, hier: Bd. 6, S. 333. - Der Roman erschien erstmals 1791-1805. 20 BILGUER, Johann Ulrich: Nachrichten an das Publicum in Absicht der Hypochondrie. Oder Sammlung verschiedener [...] die Hypochondrie, ihre Ursachen und Folgen betref17

188

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

fassen, weil sie uns heute abwegig und absurd erscheinen würde, sondern sie von vornherein als eigenständige Trägerin und Gestalterin von Bedeutung annehmen, die sich außerdem nicht auf eine bloße Anschlußreaktion auf eine w i e auch immer geartete Realität reduzieren läßt. Vielmehr handelt es sich um ein Wechselspiel zwischen den beiden Komponenten Sprachaussage und erfahrene Wirklichkeit. Meiner Analyse liegt die Annahme zugrunde, daß nicht die Materialität der Krankheit zum Gegenstand gemacht werden kann, sondern ausschließlich deren „metaphorische Dimensionen", da diese bestimmen, über was in w e l c h e m Ausmaß geredet und nachgedacht wird. 2 1

3.1.2. Theorien der Forschung:

Die Geburt der Melancholie

des Bürgertums

aus dem

Geist

?

W i e deutet(e) nun die Forschung die auffällige Auseinandersetzung mit dem Thema Hypochondrie und Melancholie, wie sie im 18. Jahrhundert stattfand? Beschäftigt man sich mit der Geschichte dieser Interpretationen, so entstehen unweigerlich Verbindungen zwischen den verschiedenen Konjunkturen von Erklärungsansätzen und allgemeineren Zyklen der Historiographie. Es ist legitim (wenn auch oft problematisch), zu hinterfragen, w e l c h e Konstellationen eine besondere Häufigkeit der Phänomene Hypochondrie und M e lancholie befördert haben könnten.

D i e s e Herangehensweise ist allerdings

fende medicinische Schriftstellen, und daraus gezogener Beweis, daß die Hypochondrie heutiges Tages eine fast allgemeine Krankheit ist, und daß sie eine Ursache der Entvölkerung abgeben kann, Kopenhagen 1767. 21 MAUSER, Wolfgang: Glückseligkeit und Melancholie in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts, in: BENZENHOEFER, Udo: Melancholie in Literatur und Kunst, Huertgenwald 1990, S. 48-88, hier: S. 54. Bahnbrechend für diese Auffassung war bekanntermaßen die Arbeit von Susan SONTAG, die am Beispiel von Tuberkulose und der Krebserkrankung analysiert hat, wie auf einer metaphorischen Ebene die Bedeutungen von Krankheiten konstruiert werden. Für das Beispiel Krebs veranschlagt Sontag, daß das Ausmaß der Präsenz dieser Krankheit in der öffentlichen Diskussion nicht im Verhältnis zur tatsächlichen Zahl der Krankheitsfälle stehe. (SONTAG, Susan: Illness as Metaphor, London 1979 (Original 1978).) Es soll jedoch nicht unterschlagen werden, daß ein solches Vorgehen in gewissem Sinne zu einer Entkörperlichung der Analyse führt; keineswegs gehe ich von einer bloßen Textlichkeit des Körpers aus, wie es Teilen der Körpergeschichte in letzter Zeit vorgeworfen wurde. (Vgl. etwa: DUDEN, Barbara: In Tuchfühlung bleiben. Anmerkungen zur poiesis in Soziologie und Historie, in: Werkstatt Geschichte, Bd. 19, 1998, S. 75-87, hier: S.77; WISCHERMANN, Clemens: Geschichte des Körpers oder Körper mit Geschichte?, in: ders./HAAS, Stefan (Hrsg.): Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung, Stuttgart 2000, S. 9-31, hier: S. 16.) Vielmehr stehe ich einerseits auf dem Standpunkt, daß die Überlieferung von Aussagen über den Körper immer nur als Text erfolgen kann und in dieser Hinsicht die Körpererfahrung selbst zum Text werden muß. Andererseits verfolge ich schlichtweg eine andere Fragestellung, indem es mir um die Wahrnehmung der Krankheitsausbreitung geht, nicht um die Erfahrung der hypochondrisch-melancholischen Symptomatiken.

3.1. Melancholie und Hypochondrie: Interpretationen

189

grundsätzlich zu unterscheiden von jener Frage nach den Wahrnehmungen und Interpretationen in der Zeit selbst und den Begründungsmöglichkeiten für diese. Zwei Hauptstränge der zuerst genannten Analyseabsicht lassen sich differenzieren: ein religiös-weltanschaulicher Ursprung wird angenommen oder ein sozial-politischer. Die Vorliebe für die eine oder andere Maxime hat in nicht zu unterschätzendem Grad ihren Ursprung in grundsätzlichen Forschungsansätzen, den jeweiligen Thesen zur Genese des Bürgertums im 18. Jahrhundert etwa oder den bevorzugten Antworten auf die Säkularisierungsfrage. Dieses letzte Stichwort möchte ich als erstes aufgreifen: Eine besondere Anfälligkeit für melancholische Tendenzen hätte im 18. Jahrhundert insbesondere deswegen entstehen können, da in dieser Zeit die Grundfesten des Glaubens stärker als je zuvor erschüttert wurden. Ohne daß dieser Verlust durch ein neues System der Sinnstiftung ersetzt worden wäre, sah sich der frühneuzeitliche Mensch mit einer unbeschreiblichen metaphysischen Leere konfrontiert.22 Diese Annahme einer umfassenden Säkularisierung übersieht jedoch einen entscheidenden Aspekt: So sehr sich die philosophischen Denkansätze von den theologischen emanzipierten, so sehr auch naturwissenschaftliche Perspektiven auf den Menschen und seine Welt an Bedeutung gewannen, so wenig darf dennoch daraus geschlossen werden, daß in der persönlichen Lebenswelt Religion unwichtig geworden wäre, noch daß sie ihre Rolle in der intellektuellen Auseinandersetzung verloren hätte.23 Vielmehr erscheint es auffällig, wie einerseits die sich verändernden Welt(an)sichten mit Raffinesse in die alten Traditionen integriert wurden (Beispiel Physiko-Theologen) und daß selbst Tendenzen der Individualisierung sich im Umgang mit Glaubensdingen wiederfanden (Beispiel Freimaurerei).24 Andererseits war aber die Macht der Theologen noch bis ins 19. Jahrhundert keineswegs gebrochen.25 (Eine solche Integration und Verschmelzung der alten mit den neuen - in diesem Falle den medizinischen - Bedeutungsinhalten habe ich am Beispiel des Suizids ausführlich dargestellt.) Was in unserem Zusammenhang als entscheidende Veränderung zu beachten ist - und in diesem Sinne mag man tatsächlich von einem Verlust sprechen, man kann aber auch von einem Gewinn reden - ist die neuverteilte 22

BÖHME, Gemot/BÖHME, Hartmut: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a.M. 1996 (1. Aufl., 1983), S. 70. Vgl. auch: RIEDEL, Wolfgang: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: Internationales Archiv der Sozialgeschichte der Literatur, 6. Sonderheft, 1994, S. 93-157, hier: S. 98. 23 SCHNEIDERS, Werner: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990, S. 11 f. 24 Zur Entwicklung eines ,dritten' Weges auf dem Gebiet der Religion durch die Freimaurer-Logen vgl.: MAURICE, Florian: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997, S. 366-381. 25 Vgl.: MAURER, Michael: Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert, München 1999, S. 50 f.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Verantwortung für den Lauf der Dinge. Nicht weil Gott als Schöpfer und Lenker gänzlich verabschiedet worden wäre, sondern weil der Mensch mehr und mehr Einflußmöglichkeiten auf sein Leben, auf seine Umgebung, auf Situationen und Entwicklungen entdeckte, wuchs die Verantwortung, die er für viele Aspekte seines Lebens zu tragen hatte. War aber das Glück eines Menschen nicht nur bereits im Diesseits zu erreichen, sondern auch von diesem selbst zu gestalten, dann konnte daraus aus zweierlei Gründen eine melancholische Reaktion erfolgen: Man verzweifelte an der eigenen Unfähigkeit, oder man entzog sich der Verantwortung und floh in den Zustand der Passivität, Sehnsucht, Melancholie. 26 Ein anschauliches Beispiel für die veränderten Zuständigkeiten im religiösweltlichen System bietet nochmals die Sicht auf Krankheit und Sterben, wurde hier doch nicht mehr nur ein bloßes Ausgeliefertsein erfahren, sondern Handlungsoptionen wahrgenommen. War Krankheit jedoch nicht länger auf einen göttlichen Beschluß zurückzuführen, dann hatte man selbst noch mehr Sorge für den eigenen Körper zu tragen. In diesem Sinne ist dann von einer Säkularisierung zu sprechen. Augenscheinlich wird diese Entwicklung auch in Zusammenhang mit der Melancholie, die noch im 17. Jahrhundert einen umfassenden religiösen Bezug aufwies, ja im Sündenkanon fest verankert war. Durch den Einflußgewinn der Medizin im Verlauf des folgenden 18. Jahrhunderts verlor sich diese Bedeutung; allerdings ohne, daß die Theologie ihre Zuständigkeit gänzlich abgetreten hätte. Vielmehr blieb die religiöse Melancholie weiter Thema - auch als Angriffspunkt bei der Debatte um rechte Religionserziehung 27 - und der Theologe widmete als See/sorger dem Melancholiker immer noch seine besondere Aufmerksamkeit, auch wenn der Mediziner als Ansprechpartner zunehmend an Bedeutung gewann. 28 Das Säkularisierungsparadigma ist jedoch nicht angesichts solcher Relativierungen verabschiedet worden, sondern weil es als Kind der Geistesge-

26

Für die erste Deutung: MAUSER, Glückseligkeit und Melancholie, 1990, S. 54: „Die symptomatische Krankheit des 18. Jahrhunderts war die Melancholie. Nicht deshalb, weil man so häufig von ihr (auch als Schwermut oder Hypochondrie) sprach, sondern weil sie in innerer Korrelation zur Glückseligkeitsforderung stand. [...] Man leidet im 18. Jahrhundert nicht an Melancholie, weil äußere Faktoren die Glückseligkeit verhindern, sondern eher aus dem Bewußtsein, daß es das eigene Ich ist, das der Erfüllung von Vollkommenheitsvorstellungen im Wege steht. Diese Erfahrung des Verfehlens ist ungleich schmerzhafter, als es die Folgen äußerer Hemmnisse je sein könnten." Für die zweite: MARQUARD, Odo: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: FABIAN, Bernhard u.a. (Hrsg.): Die Neubestimmung des Menschen. Wandlungen des anthropologischen Konzepts im 18. Jahrhundert, München 1980, S. 193-209, hier: S. 195. 27 Vgl. etwa: Ueber den Schilderer Schlesiens im deutschen Zuschauer, in: Schlesische Provinzialblätter. B d . 6, 1788, S. 4 9 0 - 5 1 7 , hier: S. 4 9 8 f . 28

Vgl. etwa: Beobachtungen und Erfahrungen über Melancholische, besonders über die Religiöse Melancholie, von einem Prediger am Zuchthause zu T., Leipzig 1799.

3.1. Melancholie und Hypochondrie: Interpretationen

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schichte (oder war die Geistesgeschichte das Kind des Säkularisierungsparadigmas?) zusammen mit dieser aus dem Blick geraten mußte. 29 Anthropologie rückte statt dessen in den Mittelpunkt, als Perspektive und als Gegenstand. Ein zweiter Interpretationsweg wurde von jener Forschung eingeschlagen, die durch sozialhistorische Ansätze beeinflußt und daher besonders an schichtenspezifischen Unterscheidungskriterien interessiert war. Dabei konnte sowohl dem Adel 30 als auch dem Bürgertum eine außergewöhnliche Melancholieanfälligkeit attestiert werden. Zwei Oppositionen ließen sich hier klischeehaft aufstellen: erstens dekadente Hofkultur versus bürgerliche Leistungsethik und zweitens adeliger Übermut des Rokokos gegen bürgerliche Ohnmacht. Die größere Attraktivität entwickelte die Argumentation, das politisch unmündige - also besonders das deutsche - Bürgertum habe sich entweder aus Verzweiflung über seine Lage oder mangels anderweitiger Aktionsräume in den Reichen der Melancholie eingefunden. Lepenies, der wichtigste Vertreter dieser These, stützt sich auf die Annahme, das deutsche Bürgertum hätte an „Handlungshemmung" gelitten und sich daher auf das „Räsonnement" zurückgezogen. 31 Die Reaktion auf die Bevormundung durch den Adel sei kollektive Innerlichkeit, ja Melancholie gewesen. 32 (Erstaunlicherweise wurde diese Annahme bisher noch nicht mit der sogenannten Sonderwegsthese verbunden, obwohl sich Parallelen zwischen der Melancholieanfälligkeit des Kulturmenschen, der Beschränkung der Deutschen auf die Kultur(nation) und der bürgerlichen Flucht in die Melancholie anbieten.) Knapp zehn Jahre nach Lepenies erweiterte Schings die Perspektive und analysierte die Umtriebe der schwarzen Galle gezielt interdisziplinär. Seine breit angelegte Studie begab sich auf die Suche nach den Bedeutungen der Melancholie, wie sie sowohl von Betroffenen als auch von Kritikern vorgegeben wurden. Damit aber nicht genug, zielte der Literaturwissenschaftler Schings außerdem darauf ab, aus der Analyse dieses Phänomens Rückschlüsse auf „bestimmte Strukturen, Sehweisen, Strategien der Aufklärung" 33 zu ziehen, und seine Arbeit ist in diesem Sinne der vorliegenden durchaus verwandt. Genau andersherum als Lepenies sieht Schings im übrigen das aufgeklärte Bürgertum nicht durch eine besonders melancholische, sondern durch eine antimelancho-

29

Vgl.: RIEDEL, Anthropologie und Literatur, 1994, S. 98. Allerdings würde ich nicht so weit gehen wie Riedel und eine Niederlage der Geistesgeschichte gegenüber der Körpergeschichte und - was Riedel nahezu in eins mit der Körpergeschichte setzt - der Diskursanalyse zu konstatieren. 30 RICKE mit Bezug auf Walter Benjamins „Ursprung des deutschen Trauerspiels". (RICKE, Gabriele: Schwarze Phantasie und trauriges Wissen. Beobachtungen über Melancholie und Denken im 18. Jahrhundert, Hildesheim 1981, S. 36.) 31 LEPENIES, Melancholie und Gesellschaft, 1998, besonders S. 198f. 32 Ebd., u. S. 76. Ähnlich auch: BEST, Otto F.: Der weinende Leser, Frankfurt a.M. 1985, S. 50. 33

SCHINGS, M e l a n c h o l i e , 1977, S. 8.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

lische Haltung geprägt.34 In dieser Interpretation wird die Melancholiedebatte dann insbesondere zu einem Mechanismus der Ausgrenzung von unliebsamen Elementen - diese mögen eher theoretischer Art (Konservatismus, Orthodoxie ...) sein oder eher leibhaftiger (Müßiggänger, Schwärmer ...). Demnach ließ sich das Phänomen (wie es ähnlich dem Suizid passierte35) instrumentalisieren, was gut das Beispiel der Schwärmerdebatte zeige.36 Zu bedenken ist, daß die Verbindung mit einer solch prominenten Diskussion die Angriffe auf die Irrationalen, die Überempfindlichen der Zeit zwangsläufig multiplizieren mußte, und das nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ, da man das Problem ja durchaus als bedrohlich einstufte; (wahrscheinlich überrascht es nicht, daß auch die Schwärmer das ausgehende 18. Jahrhundert vermeintlich in Massen bevölkerten); im Gegensatz zum naheliegenden Frankreich ging es jedoch immer um eine Bewahrung der vernünftigen Religion, nicht um die Verabschiedung der Religion an sich.37 Von einem entgegengesetzten Blickwinkel aus ließe sich Hypochondrie als Ausdruck eines von der eigenen Rationalität überforderten Zeitalters auffassen - beziehungsweise Melancholie als Widerstand gegen die überzogene Rationalität. Rationalität hatte sich als unbarmherzige Alleinvertreterin der Wahrheit durchgesetzt.38 Diesem Wahrheitsanspruch mochten Melancholikerinnen und Hypochondristen die Macht ihrer Phantasie(welt) entgegenstellen,39 damit konnten sie aber der Forderung nach Vervollkommnung nicht gerecht werden, die ein Leitmaßstab der rationalen Aufklärungsphilosophie war.40 Denn Vollkommenheit entstand nur durch tugendhaftes Tätigsein - dieser Vorgabe konnte der nach der gängigen Vorstellung eher handlungsgehemmte Melancholiker nicht gerecht werden, beziehungsweise wenn er tätig wurde, dann verfiel er wieder in die ungezogene Maßlosigkeit des Geniehaften.

34

Ebd., S. 9. Vgl.: MACDONALD, Michael/MuRPHY, Terence R.: Sleepless Souls. Suicide in Early Modem England, Oxford 1990, S. 6 0 - 7 5 . Siehe auch Kap. 2.1.2. 36 Vgl.: SCHINGS, Melancholie, 1977, S. 185-197. 37 Vgl.: STOLLBERG-RILINGER, Barbara: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 97 ff. 38 Vgl.: BERTHOLD, Christian: Fiktion und Vieldeutigkeit. Zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert, Tübingen 1993, S. 52. 39 Entsprechend betont WAGNER-EGELHAAF, daß die Auseinandersetzung um die Einbildungskraft, also die schiefe oder falsche Wahr-Nehmung besonderes Gewicht in der aufklärerischen Debatte über Melancholie erlangte. (WAGNER-EGELHAAF, Die Melancholie, 1997, S. 22.) 40 Insbesondere Christian WOLFF etablierte das Streben nach Vollkommenheit als den übergeordneten Lebensgrundsatz. (Vgl. etwa: WOLFF, Christian: Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen, 5. Aufl., Frankfurt u.a. 1736, S. 144.) Vgl. außerdem: BENEKEN, J. B.: Weltklugheit und Lebensgenuß oder praktische Beyträge zur Philosophie des Lebens, 1791, Bd. 1, S. 51. 35

3.1. Melancholie und Hypochondrie: Interpretationen

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Hypochondrie und Melancholie erscheinen so als dunkle Gegenspielerinnen der hellen Aufklärung. Sie widerstreben der Vernünftigkeit, nähren die Macht der Einbildungen, hintertreiben die Ansprüche an Selbstlosigkeit und Wohlgefälligkeit. Diese Opposition wird auch von der bisherigen Forschung herausgearbeitet, ja als entscheidendes Charakteristikum der Debatte aufgefaßt. 41 In den bisher geschilderten Interpretationskonzepten wird allerdings nicht berücksichtigt, daß jene Bedrohlichkeit, die die aufklärerische Perspektive den Gemütsverdüsterungen zuschrieb, unweigerlich die Wahrnehmung dieser Dunkelheiten verschärfen mußte. Die Ausformung der Krankheit als einen Zustand der Untätigkeit, des Rückzugs aus der Gesellschaft bedeutete nichts anderes, als daß sich der einzelne, als Sinnbild einer übertriebenen, also gerade nicht maßvollen Subjektivierung, der Gesellschaft entziehen konnte. Dadurch konnte er/sie nicht nur eine gewisse Unangreifbarkeit erreichen, sondern hinterging vor allem die vermeintlich allgemein akzeptierten Tugenden Geselligkeit, Mäßigkeit, Affektkontrolle.42 Denn der Melancholiker „liebet [...] die Einsamkeit mehr, als die Geselligkeit, vergräbet sich gerne im dunkelsten Zimmer seines Hauses, in einem entlegenen und dicken Gebüsche, in einer finsteren Grotte". 43 Als ähnliche Infragestellung ihrer Kompetenz und damit auch der vorgegebenen Hierarchien mußte der Ärzteschaft das Vagabundieren der Hypochonder vorkommen. Der/die Kranke lieferte sich sprunghaft den Behandlungsmethoden aus, um sich dann diesen wieder zu entziehen. Selbst der Körper des Hypochondristen schien solchen Widerstand zu leisten und erwarb sich daher zwingendermaßen einen gewissen Grad an Unheimlichkeit. Wo Unheimliches oder Unerhörtes wahrgenommen wird, ist der übliche Reflex eine Steigerung der Aufmerksamkeit, so daß unweigerlich jedem einzelnen Fall ein größeres Gewicht zufällt. (Außerdem ist zu bedenken, daß nach der zeitgenössischen Symptombeschreibung dem Hypochondristen genau solche Aufmerksamkeit sehr erwünscht gewesen wäre; hier also wieder eine vortreffliche Wechselwirkung stattfinden konnte.) Es bleibt die Frage, ob und wenn ja, warum Krankheiten wie Hypochondrie und Melancholie trotz all ihrer Makelhaftigkeit attraktiv sein konnten. Im Fall der Melancholie ließe sich ihre Anziehungskraft damit begründen, daß ihr (zurückreichend bis zu antiken Texten) eine gewisse Affinität zur Genialität zugeschrieben wurde.44 Auch im Geniebegriff des Sturm und Drangs findet sich diese Konstruktion wieder, was im übrigen mit dazu beigetragen hat, daß eben dieses stürmische Genie von den vernunftorientierten Aufklärern alles andere 41

Besonders: SCHINGS, Melancholie, 1977, S. 47 ff. Vgl.: BEGEMANN, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung, 1987, S. 29. 43 LAWÄTZ, Heinrich Wilhelm: Versuch Uber die Temperamente, Hamburg 1777, S. 70, zitiert nach: SCHINGS, Melancholie, 1977, S. 47. 44 Vgl.: MOHR, Ute: Melancholie und Melancholiekritik im England des 18. Jahrhunderts, Diss. Frankfurt a. M., 1990, S. 1. 42

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

als gerne gesehen wurde, stellte es doch die (Maß-)Regeln ihrer Gesellschaft durch sein Ungestüm ebenso in Frage wie durch seine phasenweise Weitabgewandtheit, seinen Fatalismus, ja auch durch seine Suizidalität. Die Literaturwissenschaft fand besondere Spuren der Melancholie in den Texten der Empfindsamkeit; höchste Steigerung bildete hier der „joy of grief'. 4 5 Die Aufwertung des Gefühls schuf Raum, um die traurige, aber doch süße Sehnsucht auszudrücken: Sehnsucht nach dem Freund, der Freundin, nach dem/der Geliebten. Wieder bestand eine Wechselwirkung mit der qualitativen Veränderung eines Mediums, nämlich des Briefes. Melancholie konnte insofern positiv konnotiert werden, als sie Ergebnis eines gefühlvollen Wesens war. Und ums Fühlen, ums Empfinden ging es im empfindsamen Briefwechsel, der sich deutlich von der Briefkultur der ersten Jahrhunderthälfte abhob. 46 Indem nicht nur die persönliche, sondern auch die kleinste Empfindung mitteilenswert wurde, konnte Lust am Fortschreiben der Beobachtungen entstehen und dadurch auch die Beobachtungen selbst vertieft werden. Bilger geht davon aus, daß die Hypochondrie durch ihre Symptomvielfalt, die jedoch nicht die Verrücktheit miteinschloß, und in ihrer Eigenschaft als Krankheit des Individuums dem Bürgertum angenehm werden konnte. 47 Wieso trotzdem die Texte über Hypochondrie durchgängig als „Anti-HypochondrieSchriften" auftreten, 48 wird dadurch jedoch nicht erklärbar. Außerdem ist es fraglich, ob im 18. Jahrhundert selbst der Krankheit die von Bilger veranschlagte Qualität einer überhöhten, aber positiv bewerteten Individualität zugeschrieben wurde. 49 Denn die beste Behandlung, die der Hypochonder in der Literatur erwarten durfte, ist meines Erachtens eine ironische, vielleicht auch fürsorgliche - so wie es etwa Thümmels Wilhelm widerfährt oder den Adressaten von Ackermanns „Briefen". 50 45

Vgl.: RICKE, Schwarze Phantasie, 1981, S. 1-4. Vgl. zur Briefkultur: SCHLAFFER, Hannelore: Glück und Ende des privaten Briefes, in: BEYRER, Klaus/TÄUBRICH, Hans-Christian (Hrsg.): Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, Heidelberg 1996, S. 34-45, bes.: S. 34. RICKE urteilt zu pauschal, wenn sie annimmt, es habe ein besonderes Interesse der Literatur an den negativen Empfindungen gegeben, da dem Leiden stets eine tiefere Qualität als den anderen Gefühlen zukomme. Eine solche Interpretation fügte in die Psychopathologie der Aufklärung letztlich noch eine masochistische Veranlagung ein. (RICKE, Schwarze Phantasie, 1981, S. 25.) WAGNER-EGELHAAF geht so weit, eine Affinität der Literatur insgesamt mit der Melancholie zu veranschlagen. (WAGNER-EGELHAAF, Die Melancholie, 1997, S. 4.) 47 BILGER, Üble Verdauung, 1990, S. 33. 48 Ebd., S. 32. « Ebd., S. 32f. 50 THÜMMEL, Moritz August: Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich, 10 Teile, Bd., 1791-1805. Ich zitiere nach der Gesamtausgabe von 1811/12, Bd. 2-6. Siehe Kap. 1.2.3.2. ACKERMANN, Johann Karl Heinrich: Ueber Blähungen und Vaperus. Briefe, hypochondrischen und hysterischen Personen gewidmet, Naumburg 1794. 46

3.1. Melancholie und Hypochondrie: Interpretationen

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Immerhin war die Hypochondrie an einen bestimmten sozialen Status gebunden - nicht umsonst galt sie vornehmlich als eine Krankheit der Gelehrten. Diese Konnotation dürfte selbst dann noch mitgeschwungen haben, wenn der Hypochonder insgesamt negativ gezeichnet wurde. So lamentiert Tode: „Zuweilen glaubt ein Mensch, daß es mit zu seinem Stande gehöre, daß er für hypochondrisch gehalten werde, und zieret sich daher mit einer finstern Miene und den übrigen Symptomen [...] Jedoch sein körperlicher Zustand, die Abwesenheit so vieler Beschwerden verräth schon die Verstellung".51 Und ähnlich Unzer: „Denn, weil man diese Krankheit gemeinigtlich bei Gelehrten findet, so geben die dümmsten [sie] Leute am meisten vor, daß sie hypochondrisch wären."52 War Hypochondrie also ein Elitenphänomen? Sie wurde zumindest als ein solches wahrgenommen - und artikuliert.53 Es kann kaum zu oft betont werden, daß häufiger als positive Bilder von Hypochondrie und Melancholie die Kritik an denselben vorherrschte; daß gegen die Gefühlsseligkeit der Empfindsamen die Gefahren der Empfindsamkeit, mehr noch der Empfindelei kontrastiert wurden;54 daß auch im Paradetext der Emotionalität „Werther" der stumpfe Melancholiker keine gute Figur abgibt;55 daß „Siegwart" nicht nur einer der tränenreichsten Romane (und es darf unterstellt werden, daß gerne mitgeweint wurde), sondern auch die Geschichte eines schmerzvollen Todes ist. 56 Denn so sehr Siegwart durch sein Schicksal (und das seiner geliebten Marianne) die Leserinnen bis zu Tränen rühren mochte, so sehr war er auch das Paradebeispiel, ja Pseudonym verfehlter Schwärmerei und wurde als solches geschmäht.57 Im Fall der Hypochondrie waren die Fronten 51 TODE, Johann Clemens, Nöthiger Unterricht für Hypochondristen, die ihren Zustand recht erkennen und sich vor Schaden hüten wollen, Kopenhagen 1797, S. 51. 52 Der Arzt, Teil 4, 1760, S. 475. 53 Im Herbst 2000 komme ich in Berlin mit einer koreanischen Studentin ins Gespräch: Auf meine Frage, wie es denn in ihrem Land mit der Melancholie aussehe, dachte sie kurz nach und meinte dann, daß in Korea die Menschen wahrscheinlich keine Zeit zum Melancholisch-Sein hätten. Was noch nichts über die tatsächliche Glücklichkeit aussage. Genau in diesem Sinn geht es mir ausschließlich um die Se/tewahmehmung und Beschreibung der Diskursbeteiligten, aber auch um die Interpretation dieser Wahrnehmungen. Dazu zählt auch, die Gruppen zu klassifizieren, die über sich selbst eine Aussage machen (können), die also Zeit und Möglichkeit zur Selbstbeschreibung (und möglicherweise, wie es die Aussage der Studentin andeutet, auch zur Symptombildung) besaßen. Interessant ist LEPENIES Vorhersage, mit dem Verschwinden der Erwerbsarbeit - also dem Fehlen von Beschäftigung - werde die Melancholie „zum Allgemeinbefinden herabsinken" und nicht länger ein Elitenphänomen sein. (LEPENIES, Wolf: Neue Einleitung. Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie, in: ders.: Melancholie und Gesellschaft, 1998, S. VII-XXVIII, hier: S. XX.) 54 Siehe zu Empfindsamkeit und Empfindelei auch Kap. 3.3.3.1. 55 GOETHE, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers, Leipzig 1774, zitiert nach der Ausg. Stuttgart 1985, S. 35 ff. 56 MILLER, Johann Martin: Siegwart. Eine Klostergeschichte, 2 Teile, Frankfurt/Leipzig 1777 (Original 1776), hier: 2. Teil, S. 557ff. 57 Rezension zu: MILLER, Siegwart, eine Klostergeschichte, in: Der Teutsche Merkur, 1777,

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

noch klarer: Mit ihr konnte man keinen guten Eindruck machen, besonders auch, weil sie so eng mit den wenig angesehenen Verdauungsvorgängen verbunden war. Bevor ich mich von den einzelnen Epidemienphänomenen löse und dann einen anderen, gleichsam quer dazu liegenden Zugang wähle, möchte ich einmal mehr diese Hypochondrie separieren und in den Mittelpunkt der Interpretation rücken.

3.1.3. Hypochondrie revisited 3.1.3.1. Ärzte und ihre Patienten: zwischen Profit und Erklärungsnot Zu Beginn muß eine notwendige Differenzierung stehen, die sowohl für die Bedeutung der Hypochondrie als auch für deren Ausbreitungsmöglichkeiten entscheidend ist. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß die Hypochondrie im ausgehenden 18. Jahrhundert viel mehr war als eine bloße .eingebildete' Krankheit. 58 Einerseits kann man sie in den letzten Jahrzehnten durchaus als Synonym für eine verschärfte Beobachtung der eigenen Befindlichkeit nehmen, und in diesem Sinne hatte sie auch Züge der von Showalter beschriebenen „psychological plagues" 59 . Aber das war keineswegs die einzige Erscheinungsform der Hypochondrie und ich denke, daß hier Hinweise auf die Hintergründe für deren vermeintlich große Ausbreitung liegen. Denn andererseits war die Hypochondrie eine uns heute fremd erscheinende Bezeichnung für eine Vielzahl von leiblichen Übeln. Wie zahlreich die Bedeutungs- und Behandlungsmöglichkeiten der Hypochondrie waren, ist schon an anderer Stelle aufgezeigt worden. 60 Diese Mannigfaltigkeit an Erscheinungen mußte die unter jenem einen Krankheitsbegriff zusammengefaßten Zustände häufig erscheinen lassen, konnte doch nahezu jedes Symptom auf eine hypochondrische Ursache zurückgeführt werden. 61 Kämpf bestimmte dementsprechend, es handle sich bei dem „malum hypochondriocum sine materia" um eine „Universalkrankheit". 62 Es liegt der Schluß nahe, daß diese Universalität auch einen Ausweg aus manchem ärztlichen Erklärungsnotstand bot. Andererseits läßt sich Kämpfs Schrift zur Belehrung der Hypochondristen ohne weiteres als eine Werbemaßnahme für die von seinem Vater erfundenen 2. Vierteljahr, S. 255ff. Milder hingegen: Rezension, in: Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 33, 1778, Stück 1, S. 48-62. 58 Siehe Kap. 1.2.3. 59 SHOWALTER, Elaine: Hystories. Hysterical Epidemics and Modern Culture, London 1998, S. 4. 60

Siehe Kap. 1.2.3.2. Siehe Kap. 1.2.3.1. 62 KÄMPF, Johann: Abhandlung von einer neuen Methode, die hartnäckigsten Krankheiten, die ihren Sitz im Unterleibe haben, besonders die Hypochondrie sicher und gründlich zu heilen, 2. Aufl., Leipzig 1786, S. 114. 61

3.1. Melancholie und Hypochondrie: Interpretationen

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und von ihm selbst empfohlenen und angewendeten Viszeralklystiere deuten. Neben der umfassenden Ursachenschilderung und den durchaus moralisierenden Seitenhieben auf den Lebenswandel der Patienten steht in diesem Text immer wieder die Rolle des Unterleibes bei der Entstehung der Krankheit im Mittelpunkt - und damit Kämpfs Behandlungsmethode. Zur Veranschaulichung fügt der Verfasser nicht weniger als 65 eindrucksvolle Fallbeispiele an, die seine Heilungserfolge schildern. Dabei werden nach immer gleichem Muster kurz die Krankheitsursachen- und umstände angegeben und dann die Hilfe durch die Klystiere geschildert. Das liest sich zum Beispiel so: „Im verwichnen Jahr ward ich zu einem Jüngling gerufen, der, nach einer Erhitzung durchs Tanzen, in ein heftiges Fieber verfiel. Ein phrenetisches Rasen mit wilden Blicken und wenigem, nicht erleichterndem Nasenbluten wechselten mit einem Stupor, mit Ohnmächten, und mühsamem Erbrechen ohne Materie ab." Die zunächst angewendeten Aderlässe hätten nichts geholfen, erst die Klystiere Abhilfe gebracht. „Mit Beihülfe der nun mildern konvulsivischen Bewegungen, brach die schwarze, pechartige Galle unter sich los. Nach deren häufigen Ausleerungen erholte sich der Kranke zusehends; er erhielt wieder seine vollen Kräfte, und genießt dermalen einer weit bessern Gesundheit, als er vor der Krankheit genossen." 63 In der Wechselhaftigkeit seiner Zustände, aber auch in seiner besonderen Empfindlichkeit schien zumindest der wohlhabende Hypochondrist ein treuer Patient zu sein, wodurch dem behandelnden Arzt ein größeres Einkommen in Aussicht gestellt war. In diesem Sinne konnten sich Arzt und Patient nahezu symbiotisch ergänzen, indem sie Aufmerksamkeit gegen Bezahlung tauschten. 64 Dieses Zusammenwirken funktionierte jedoch nur so lange, wie die Krankheit nicht zum Stigma wurde. Andererseits bewahrte der Hypochonder seine Eigenständigkeit65, indem er der Penetranz des medizinischen Blicks das Eigenleben seiner Krankheit entgegenzusetzen wußte, die sich auch nicht auf ein bestimmtes Stereotyp reduzieren ließ und sich vielmehr den wissenschaftlichen Klassifizierungsbemühungen vehement entzog.66 63

Ebd., S. 476 f. Laut BILGER verkaufte auch Unzer Geheimmittel gegen Verdauungsstörungen, nämlich „Pulvis digestivus Unzen" u. „Album Graecum". (BILGER, Üble Verdauung, 1990, S. 82.) Auch: LUYENDIJK-ELSHOUT, Antonie: Of Masks and Mills. The Enlightened Doctor and his Frightened Patient, in: ROUSSEAU, G. S. (Hrsg.): The Language of Psyche. Mind and Body in Enlightenment Thought, Berkeley u. a. 1990, S. 186-230, hier: S. 194f.: „The main diseases of the time which held anxiety as an underlying symptom were hypochondria and hysteria. The diagnosis of such a disease was of great importance for a medical practitioner. The treatment would be lengthy and the patient would need serious attention. If he succeeded in curing the patient, he was considered a successful doctor and he could afford himself a praxis aurea, earning much money from usually well-to-do patients. Hypochondria thus became an especially fashionable disease." 65 Siehe Kap. 1.2.3.2. 66 Durch die Vielfalt der Symptomatik entzog sich der Hypochonder überdies der entstehen64

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Eine besondere Voraussetzung für das Funktionieren dieses balanceartigen Systems war die Informiertheit der kranken Hypochondristen. Diese A u f g e klärtheit', ihre medizinischen Kenntnisse zeichneten die meisten Hypochonder nach Meinung der Zeit aus. So spottete Platner über „einen hypochondrischen Freund, welcher alle Krankheiten, deren bloße Namen ein durchängsteter Candidatus Medicinae noch mit Mühe und Noth den letzten Tag vor dem Examen seinem undienstfertigen Gedächtnisse aufdringt, nicht nur zu nennen weis, sondern auch mit einer so lebhaften Anwendung auf sich, kennt, daß er eine jede ganz genau in seinem Körper wahrnimmt".67

Die Hypochondristen trieben jedoch (entsprechend der ihnen zugeschriebenen Unmäßigkeit) lediglich eine allgemeine Mode auf die Spitze, denn die Beschäftigung mit medizinischen Texten war ja generell en vogue. Dieser Zusammenhang ermöglicht eine neue Sicht auf die Frage nach der HypochondrieEpidemie im ausgehenden 18. Jahrhundert. Unbestritten veränderten sich die Blicke auf den eigenen Körper, verstärkte sich die Beschäftigung mit der eigenen Gesundheit; unbestritten erweckten in gebildeten Kreisen Medizin und Diätetiken viel Aufmerksamkeit, entstand in dieser Zeit eine ungekannte Masse an medizinischer Ratgeberliteratur. 68 Die Vielfältigkeit der medizinischen Theorien eröffnete noch dazu immer neue Perspektiven, um den eigenen Körper - kritisch! - zu betrachten. 69 Gleichzeitig waren diese Informationen aber auch Normbeschreibungen beziehungsweise Pathologisierungen der Abweichung. Hier griff letztlich der Effekt, der noch heute jeder Medizinstudentin bekannt ist: Die meisten der im Unterricht behandelten Krankheiten entdeckt sie zunächst einmal an sich selbst. Zur Zeit der Spätaufklärung aber gingen ganze Bevölkerungsteile in die ersten Klassen der medizinischen Schule (in den höheren Stufen relativiert sich zumeist die Hypertrophierung der Symptomwahrnehmung). Die Vielzahl der Texte, die eine Vielzahl an Krankheitsbedeutungen benannte, mußte zwingend auch die Wahrnehmung der Realität verändern. Daher ist ,Aufklärung' in solchen Zusammenhängen auch ein äußerst diffiziles Unterfangen, weil einerseits das erlernte Wissen über den eige-

den Nosologie und der Neuordnung der Krankheiten, die Foucault als eine grundsätzliche Veränderung der Medizin im 18. Jahrhundert beschrieben hat. (FOUCAULT, Michael: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a. M 1988 (Original 1963) S. 20.) 67 PLATNER, Ernst: Briefe eines Arztes an seinen Freund über den menschlichen Körper, Bd. 1, Leipzig 1770, S. 7. Ähnlich auch: KANT, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798 (erstmals 1792), S. 141. 68 Siehe Kap. 1.3.3. 69 VILA beschreibt dieses Phänomen für die Theorien des Vitalismus und der Sensibilität, in deren Folge sich der Mensch plötzlich einer Vielzahl von Irritationen ausgesetzt sah. ( V I L A , Anne C.: Enlightenment and Pathology. Sensibility in the Literature and Medicine of Eighteenth-Century France, Baltimore 1998, S. 46f.)

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nen Zustand eine Verbesserung verspricht, andererseits aber auch neue Krankheitsoptionen schafft. 70 Entscheidend für den hypersensiblen, und in diesem Sinne .hypochondrischen', Zustand im ausgehenden 18. Jahrhundert war nicht nur die Ausbreitung medizinischer Literatur, sondern außerdem die große Begeisterung für das Reich der Visualität und jegliche Form von Beobachtung. Neben der Herrschaft der Wörter wurde die Vormacht des Augensinns gegenüber den anderen menschlichen Sinnen etabliert.71 Da man ohnehin eine schiere Obsession für optische Phänomene, etwa für Vergrößerungen, entwickelt hatte, mußte sich auch die Mikroskopierung des eigenen Körpers unter dem hypochondrischen Blick schnell verbreiten. Man nahm sich selbst unter die Lupe. Die Hypochondrie war damit zugleich Folge und Ursache einer Wahrnehmungsverschärfung. In diesem Sinne stellte Lichtenberg, der die neue Sehkraft ansonsten durchaus zu schätzen wußte, eine (negative) Analogie zwischen Mikroskopie und Hypochondrie her. Über der Kleinteiligkeit würde man schnell den Blick für das Wesentliche verlieren und die Hypochondrie sei in dieser Art „eigentlich eine Fertigkeit aus jedem Vorfalle des Lebens, er mag Namen haben wie er will, die größtmögliche Quantität Gift zu eigenem Gebrauch auszusaugen."72 Die Hypochondrie förderte entsprechend die negative Sicht auf die Außen- genauso wie auf die Innenwelt. Gleichzeitig fand man in unzähligen Büchern, worauf man besonders achten sollte. Beim Lesen der Schriften über Hypochondrie gehörte dann der Wiedererkennungseffekt nahezu gattungsspezifisch hinzu. Das hatte schon Unzer am Beginn der populären Auseinandersetzung mit dem Phänomen konstatiert: „Heute werden viele meiner Leser die Ehre haben, sich selbst kennen zu lernen. Sie sind krank. [...] Wofern ich nur treffen kann, so möchte ich heute wol die Stimmen zählen, die, wenn sie dies Blatt lesen, sagen werden: Das bin ich!" Worauf die Auflistung der Beschwerden und ihrer Entwicklung folgt. 73 Andererseits wurden die Erfahrungen der hypochondrisch Erkrankten (oder sich hypochondrisch fühlenden oder der als hypochondrisch diagnostizierten ...) selbst wiederum publiziert, also auch die Selbstbeobachtung öffentlich gemacht, wie es dem allgemeinen Interesse an autobiographischen Zeugnissen

70

Vgl.: SHOWALTER, Hystories, 1998, S. 5.

Ein vergleichbarer Mechanismus findet sich beispielsweise in der heute so akuten Eßstörungsproblematik: Das Wissen über die Möglichkeit der Erkrankung trägt mit zur Symptombildung bei. Daher ist der Erfolg von Aufklärungsprogrammen solange zweifelhaft, wie sie sich auf eine bloße Beschreibung der Erkrankung beschränken. 7 ' Siehe Kap. 1.1.7. 72 LICHTENBERG, Georg Christoph: Sudelbücher (= Schriften und Briefe, Bd. 1 u. 2), hrsg. v. Wolfgang Promies, München 1968, Κ 23. (Hinweis auf diese Quelle in: BRAUERS, Claudia: Lichtenberg am Fenster. Der gesunde Menschenverstand und die Krankheit der Beobachtung, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, NF 46, 1996, S. 16-33, hier: S. 28.) 73 Der Arzt, 2. Aufl., Teil 1 1760 (1. Aufl., 1759), S. 385.

200

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

entsprach. 7 4 Dadurch wurden weitere B e l e g e für die Ausbreitung der Krankheit kreiert. 7 5 D i e B e o b a c h t u n g selbst konnte andererseits keine Gesundheit schaffen, sondern lediglich neue R e g e l n , neue B e h a n d l u n g s m e t h o d e n und damit letztlich auch neue Krankheitsmöglichkeiten. 7 6 B e i s p i e l s w e i s e fügt K ä m p f in seine „Krankengeschichten", die den letzten Teil seines Werkes ausmachen, z w e i persönliche Z e u g n i s s e v o n Kranken ein. Tagebuchartig werden minutiös die e i n z e l n e n B e s c h w e r d e n und ihre Veränderungen beobachtet und referiert. In K ä m p f s S i n n e steht a m Ende die g l ü c k l i c h e H e i l u n g . 7 7 Allerdings führte die fortgesetzte Wiederholung der Krankheitsbeschreibung e n auch dazu, daß sie an B e d e u t u n g e n verloren. Ein ähnlicher Effekt tritt ein,

74

Besonders auffällig ist die Wiedergabe der „Lebensbeschreibungen" MAIMONS in den „Beiträgen zur Aufklärung und Beruhigung". Es wird genau jener Auszug zitiert, in dem MAIMÓN seine hypochondrischen Anfalle schildert, die ihn beinahe in den Selbstmord getrieben hätten. Man übersehe aber nicht die ironische Blickrichtung des Verfassers, der gleichsam die Stereotypen selbst kolportiert: „Da ich in Holland an nichts, als an einer meinen Kräften angemessenen Beschäftigung Mangel hatte: So wurde ich, wie natürlich, hypochondrisch. Ich gerieth nicht selten aus Lebensüberdruß auf den Einfall, mich selbst zu entleiben, und auf diese Art meinem Leben, das mir zur Last war, eine Ende zu machen." (Versuche zum Selbstmord, in: Beiträge zur Beruhigung und Aufklärung über dieienigen Dinge, die dem Menschen unangenehm sind oder sein können, und zur nähern Kenntnis der leidenden Menschheit, Bd,4, 1795, S. 810-817, hier: S. 810.) - Ebenso in: Salomon Maimons Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben, Berlin 1988 (Original 1792/3) S. 165 f. Nochmals: Fragmente aus Ben Josua's Leben, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 9, 1792, 1. Stück, S. 24-69. Als weitere autobiographische Zeugnisse vgl. etwa: Geschichte und diaetischer Rat eines ehemals grossen Hypochondristen, der durch Mittel völlig gesund geworden ist, die in Jedermanns Gewalt stehen, an Hypochondristen, Gelehrte, überhaupt vielsitzende Personen, von sicherer Heilung, auch Verhütung der Krankheit, ihres Zustandes und Erhöhung der Gesundheit, Berlin 1782; STURZ, Helfrich Peter: Fragmente aus den Papieren eines verstorbenen Hypochondristen, in: Deutsches Museum, Teil 4, 1776, S. 190-198. 75 Diese Texte entsprechen den von SHOWALTER analysierten „Hystories". Auch SHOWALTER betont in ihrer Arbeit die Macht der Fortschreibung von Krankheits wahrnehmungen. (SHOWALTER, Hystories, 1998, S. 6.) 76

In diesem Sinn klagt Franz von BAADER: „Krank sind wir und all unser Tun und Arbeiten, alle unsere Philosophie und - Religion ist nur für uns Kranke. Die Kunst, zu leben, an Seel' und Leib gesund zu sein, und die Kunst, zu sehen, und die ganze Menge von Künsten, die in unserem Professorenzeitalter gelehrt und ex professo von wahren Ärzten und von schelmischen Marktschreiern gegeben und gehört, geschrieben und - gelesen werden, und von denen man in andern, barbarischen Zeiten vielleicht so wenig wußte, als von der Kunst, zu gehen und zu laufen, alle diese Künste zeigen eigentlich, daß wir das wahre Leben, Gesundsein, Sehen usw., verlernt haben, daß wir krank, lahm und blind und also freilich wohl aller dieser Arzeneien hochbedürftig sind." (24. 6. 1786, in: Tagebücher aus den Jahren 1786-1793, hrsg. v. E. A. v. Schoden, in: BAADER, Franz v.: Sämtliche Werke, Bd. 11, Leipzig 1850, S. 56.)

77

KÄMPF, Abhandlung von einer neuen Methode, 1 7 8 6 , S. 5 2 0 - 5 3 5 . In der für meine Untersuchungen verwendeten zweiten Auflage hat Kämpf außerdem bereits Rezensionen und Leserbriefe eingearbeitet. Auch so wird der Fortgang der Debatte deutlich. (Ebd., S. 3 6 6 - 4 1 4 . )

3.1. Melancholie und Hypochondrie: Interpretationen

201

wenn man ein beliebiges Wort zwanzigmal und öfter vor sich hin sagt: Irgendwann bleibt nur noch die Buchstabenhülle. Ganz so weit ging es mit der Hypochondrie nicht, aber es finden sich doch Anzeichen dafür, daß verschiedene Krankheitsinhalte stereotyp, ja fast karikierend wiedergegeben wurden. Wie lassen sich sonst folgende Aussagen ,,[a]us den Papieren eines Hypochondristen" interpretieren: Nach gängigen Ängsten davor, ermordet zu werden oder auch „Hungers zu sterben", bekennt er sich als voll von ,,üble[r] Laune". 78 Die Inhalte sind in diesem Fall weniger entscheidend als die verwendete Sprache, die einiges an Reflexion, aber auch Spott erkennen läßt: „[...] mein liebes Weib erscheint mir viel schlimmer, als es in der That ist." 79 Indem der Hypochonder äußerst belesen in der medizinischen Literatur und geübt in der Selbstbeobachtung seines Körpers war, setzte er folglich den medizinischen Wissensstand fort, multiplizierte die Krankenberichte und brachte sich selbst in die Debatte ein, nicht nur als Fall, sondern auch als Sprecher. Gleichzeitig handelte es sich aber auch um ein System des Profits und des Konsums, denn der Hypochonder schien ein dankbarer Abnehmer von Rezepturen, Medikamenten etc. zu sein. Beide, Arzt und Hypochonder, hingen also von einander ab und standen doch in notwendiger Opposition zueinander. Auch in den Texten des 18. Jahrhunderts wird gefolgert, daß genau die beschriebene Kombination aus medizinischer Kenntnis und Beobachtung der eigenen Körperfunktionen zur Ausbreitung der Hypochondrie führen müsse. 80 Entsprechend war die Lektüre medizinischer Literatur nicht unumstritten. Besonders diejenigen, die schon von der Hypochondrie befallen waren, sollten sich von ihr fern halten81 - sie taten es aber gemäß ihrer Informationsbegierde nicht: „Sammlen [sie] nicht Hypochondristen zur Folter ihrer Aerzte immer medicinische Bibliotheken?"82 Ähnlich gesteht der Erzähler in jenem Kapitel in Jean Pauls „Unsichtbarer Loge", das sich mit der Kur der Hypochondrie beschäftigt: „Hallers verdammte und doch vortreffliche Physiologie hätte mich beinahe niedergearbeitet, die acht Bände hier."83 Schließlich ist der Akt des Lesens selbst und dessen Bedeutung für die Körperlichkeit des lesenden Menschen zu beachten. Lesen ist eine evident unkörperliche Handlung, selbst der Raum der Gedanken und der Raum des Körpers 78

Aus den Papieren eines Hypochondristen, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 6, 1788, 2. Stück, S. 20-24, hier: S. 22. 79 Ebd. Ähnlich ironisiert auch THÜMMELS Reisender schon ganz zu Beginn des Romans die von ihm angewendete Medikation und verweist im übrigen dabei u. a. auf die „Kraftbrühe des D. K ä m p f . (THÜMMEL, Reise, Bd. 1, 1811, S. 11.) 80 Etwa: PLATNER, Briefe eines Arztes, Bd. 1, 1770, S. VII. 81 TODE, Nöthiger Unterricht für Hypochondristen, 1797, S. 131. 82 Ueber die Hypochondrie 1777, Vorerinnerung, S. V f. 83 JEAN PAUL: Die Unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung (= Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, 1. Abt., 2. Bd., hrsg. von Eduard Berend, Weimar 1927, erstmals 1793), 2. Teil, 48. Sektor, S. 357.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

stimmen nicht überein. Ähnliches findet sich in diesem Maße höchstens beim Beten. Die besondere Aufmerksamkeit für den eigenen Körper gerade zu einer Zeit, da sich die Kultur des Lesens entscheidend zu verändern begann und mehr Leute als je zuvor in (stillen 84 ) Buchwelten verschwanden, läßt sich folglich als Gegenreaktion auf die gleichzeitige Vernachlässigung des Physischen deuten.85 Es verwundert aus dieser Perspektive nicht, daß genau jene Gruppe, die den besten Zugang zu jeglicher Art von Literatur hatte und sich am ausdauerndsten in sie vertiefte, nämlich die Gelehrten, als besonders anfällig für die Hypochondrie galt. Dadurch war die Definition des Phänomens Hypochondrie außerdem eindeutig geschlechtsspezifisch konnotiert. 3.1.3.2. Krank-Schreiben: einsame Gelehrte und hypochondrische Städter Eine der Hauptbegründungen, die man im 18. Jahrhundert für die besondere Anfälligkeit der Gelehrten anführte, war deren Bewegungsmangel: „Gelehrte, die beim gänzlichen Mangel der Leibesübung immer lesen und schreiben, über einen Gegenstand lang und anhaltend meditiren, sind unter allen Menschen die ungesundesten und unglücklichsten, sie verlieren die Empfindlichkeit für das Vergnügen, und verfallen endlich in die gefährlichste Feindin des Lebens, in die Schwermuth [.. ,]" 8 6

Besonders das viele Sitzen in abgeschlossenen Räumen prädestinierte nach Meinung der verschiedenen medizinischen Theorien diese Bildungsmenschen zu Hypochondern, sei es, daß die Verdauung durch die ungünstige Haltung gestört wurde, sei es, daß die Nerven erschlafften, sei es, daß mehrere Ursachen zusammenwirkten: „Der Kreislauf des Bluts wird durch das anhaltende Sitzen und durch das beständige Vorbeugen des Körpers, besonders in den Eingeweiden des Unterleibes gehemmt, die Anstrengung des Geistes lockt das Blut allmählich stärker nach dem Gehirn und wird endlich zu stark in dem selben angehäuft, daß die Gefäße ausgedehnt und die Nerven gedruckt werden müssen. Die Nervenzasern werden weicher und unfähig, den verschiedenen üblen Eindrükken zu widerstehen, die dem Kranken zur Folter, nach und nach sich entspinnen. Das ganze

84 Die Abkehr vom lauten Lesen wird als ein Charakteristikum der sich verändernden Lesekultur angesehen. Auffälligerweise konnte das Lautlesen aber noch als Therapeutikum eingesetzt werden, zum Beispiel wenn das Wetter für einen Spaziergang zu schlecht war. (Vgl.: WITTMANN, Reinhard: Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts?, in: CAVALLO, Guglielmo/CHARTIER, Roger (Hrsg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a . M . / N e w York 1999 (Original 1995), S. 4 1 9 ^ 5 4 , hier: S. 438.) 85 Vgl.: SCHNEIDER, Irmela: Anthropologische Kränkungen. Z u m Zusammenhang von Medialität und Körperlichkeit in Mediendiskursen, in: dies./BECKER, Barbara (Hrsg.): Was vom Körper übrig bleibt. Körperlichkeit - Identität - Medien, Frankfurt a.M./New York 2000, S. 13-39, hier: S . 2 4 f . 86 MÜLLER, Johann Valentin: Selbstmord nach seinen medizinischen und moralischen Ursachen betrachtet, mit beigefügten Lebensregeln und Rezepten zum Besten hypochondrischer und melancholischer Personen für Aerzte und denkende Leser aus allen Ständen, Frankfurt a. M. 1796, S. 18.

3.1. Melancholie und Hypochondrie: Interpretationen

203

System der Verdauung leidet durch eine ausserordentliche Schwäche, es entstehen Blähungen, Verschleimungen der Gedärme [.. .]"87

Es ging somit um die Auseinandersetzung mit der allgemeinen Lebensweise der Gelehrten, Gebildeten, Denkenden, also jener im 18. Jahrhundert erstmals entscheidend anwachsenden Gruppe von Menschen, meist Männern, die einen Großteil ihres (Arbeits-)Tages mit Sitzen, Schreiben und Lesen verbrachten. Diese neuartige und daher gewöhnungsbedürftige Situation, deren Auswirkungen auf die geistige und körperliche Gesundheit erkundet werden mußten, schärfte die Wahrnehmung der negativen Folgen, die mit dem früheren, natürlicheren, Leben kontrastiert wurden. Widerhall fanden diese Bedenken schließlich in der vielfachen Kritik am städtischen, ja letztlich am .zivilisierten' Leben. Ich denke, daß in diesem Sinne der Hypochondriediskurs als gesellschaftlich-soziales Phänomen aufgefaßt werden sollte, nicht als Reflex auf die eingeschränkte politische Handlungsfähigkeit des .Bürgertums'. Es handelte sich um eine Selbstkonfrontation mit der eigenen Lebensweise; die Lebensweise der Autoren war nun einmal die Lebensweise von Autoren. Und unter diesem Gesichtspunkt mag das dem Hypochonder gerne verordnete Reisen nicht nur eine Möglichkeit, den trägen Körper zu bewegen, gewesen sein, sondern, wie es Müller für Thümmels Wilhelm annimmt, auch „Urlaub von der Aufklärung". 88 Wurde der Gelehrte, der doch früher eine angesehene Person war, verdrängt und zum kränklichen Schreibtischsitzer degradiert? Zählte er tatsächlich „unter allen Menschen" zu den „ungesundesten und unglücklichsten" 89 ? In wieweit spielten veränderte Berufs(selbst)bilder bei dieser Beurteilung eine Rolle? Viele der Angriffe stammten aus medizinischen Schriften; sie waren von Medizinern verfaßt, die für sich selbst eine ganz andere Art des Tätigseins veranschlagten. .Praxis' war für sie viel entscheidender. So zeigt sich bei genauer Betrachtung, daß die von Medizinern verfaßten Ratgeber die Gelehrten unter ein unfreundlicheres Licht stellten als die Schriften der Nichtmediziner. Selbst Kant hatte ja zugestanden, daß der Hypochonder, sobald er einmal erkrankt war, sich nicht mehr durch einfache Willensanstrengung aus seinem Zustand

87

GESENIUS, Wilhelm: Medicinisch-Moralische Pathematologie oder Versuch über die Leidenschaften und ihren Einfluß auf die Geschäfte des körperlichen Lebens, Erfurt 1786, S. 79f. 88 MÜLLER, Lothar: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl P. Moritz' Anton Reiser, Frankfurt 1987, S. 127. 89 MÜLLER, Selbstmord nach seinen medizinischen und moralischen Ursachen, 1796, S. 18. Auch der „Kohlrabiesser" Schulz (siehe Kap. 1.2.3.2) war übrigens ein Gelehrter und erkrankte nach eigener Auskunft aufgrund übermäßigen Studierens. (SCHULZ, Friedrich: Geschichte meiner Hypochondrie. Ein Beytrag zur Seelen-Naturkunde, in: Der Teutsche Merkur, 1786, Teil 1, S. 152-169, hier: S. 152.)

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

befreien könne. 90 Und Campe wendete sich mit einer „fröhlichen Botschaft" an die Hypochondristen.91 Trotz des überwiegenden Negativurteils, das im besten Fall Mitleid zuließ, im schlimmsten aber harten Spott ausschüttete, konnte die Krankheit Hypochondrie in ihrer Eigenart als besonderes Leiden der Gelehrten - wie erwähnt auch den Anschein von Attraktivität erlangen. Als Beispiel für diese Einschätzung wird gerne Schillers Gutachten über den „Eleven Grammont" zitiert, in welcher er die Hypochondrie als „die Krankheit tiefdenkender, tiefempfindender Geister und der meisten großen Gelehrten" veredelt. Allerdings sollte hier der Entstehungszusammenhang dieser Bewertung, im Rahmen von Schillers Akademieausbildung, berücksichtigt werden und außerdem nicht unterschlagen werden, daß Schiller im selben Atemzug vom „unglücklichefn] Zustand eines Menschen", und vom ,,schwärmerische[n] Pietismus" als möglicher Ursache spricht.92 Andere Texte, die über den Zusammenhang von Hypochondrie und gesellschaftlichem Status reflektieren, sind hingegen voll des Spottes für diejenigen, die glaubten, hier ihr Ansehen verbessern zu können. 93 Doch treffen wir an dieser Stelle wieder einmal auf eine diffizile (Un-)Unterscheidbarkeit von Ursache und Wirkung. Die Meinung, der Gelehrte, der Schriftsteller sei besonders anfällig für die Hypochondrie, setzte sich im Text fort, wurde festgeschrieben, wieder gelesen und wieder fortgesetzt. Schon Anfang der 1750er wurde dieser Zusammenhang hergestellt: „Ich wurde also einer von den Leuten die man Authoren nennet und von denen man mir sagte, daß sie öfters, wegen vielem Sitzen und Nachdenken, mit einem gewissen Übel [sie] geplagt würden, welches man die Hypochondrie zu nennen pflegt. Die blose Furcht vor einem solchen Übel gab mir vor einigen Tagen davon eine wirkliche Empfindung. Ich war so dickblütig und so verdrieslich, daß mir alles misfiel".94 Die Männer der Bücher hatten am leichtesten Zugang zum Wissen ihrer Zeit, auch zum medizinischen, daher mußte sie auch der allgemeine Hang zur Selbstbeobachtung besonders stark erfassen. Gleichzeitig waren sie diejenigen, 90

KANT, Immanuel: Von der Macht des Gemüts durch den blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein, Jena 1798, S. 19. Siehe Kap. 1.2.3.1. Eine Zwischenstellung nahm TODE ein, der als „Hofmedicus", aber auch als Betroffener für seine „Krankheitsgenossen" schrieb. (TODE, Nöthiger Unterricht für Hypochondristen, 1797, S. 135.) 91 CAMPE, J. H.: Fröhliche Botschaft für die Süchtlinge oder Hypochondristen, in: Der Neue Teutsche Merkur, Bd. 2, 1803, S. 185-202. Unter „Süchtlingen" versteht Campe Chronischkranke. 92 SCHILLER, Friedrich: Über die Krankheit des Eleven Grammont, in: ders.: Nationalausgabe, Bd. 22 (= Vermischte Schriften), Weimar 1958 (Original 1780), S. 19-30, hier: S. 19. 93 Siehe FN 51 u. FN 52. 94 LOEN, Michael von: Vom Bücherschreiben, in: ders.: Gesammelte kleine Schriften (1749-1752), besorgt und herausgegeben von J. B. Müller, Bd. IV, Frankfurt/Leipzig 1752, Nachdr. Frankfurt a.M. 1972, S. 3-11, hier: S. 4.

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die am ehesten ihre Eindrücke wieder zu Papier brachten und wie Kant über ihre Konstitution referierten; sie sei nun hypochondrisch oder auf andere Weise auffällig. Indem man die Beobachtungen niederschrieb, mußte jedoch gleichzeitig eine weitere Verschärfung der Aufmerksamkeit bewirkt werden - in gewissem Sinn entstand so die Möglichkeit, sich selbst krank zu schreiben. Nebensatz: Waren/sind die Dichter und Denker also in besonderer Weise vom hypochondrischen Übel bedroht?95 Historiker(innen) sind auch Schreibtischsitzer, genauso wie Sekretärinnen, Lektoren und Lektorinnen, Graphikerinnen, wie heute also ein Großteil der mitteleuropäischen Bevölkerung. Und daß etliche, vielleicht sogar die meisten von ihnen von Berufswegen an Bewegungsmangel leiden, dürfte kaum bezweifelt werden. Ob wir außerdem von einer gewissen Mißmutigkeit ge(kenn)zeichnet sind, bleibt dem Urteil jedes/r einzelnen überlassen. (Ebenso wie die Frage, ob gegebenenfalls die Trägheit zuerst da war, und der Entschluß, einen der Sitzberufe zu ergreifen erst daraus folgte.) 96 Erstaunlich sind letztlich weniger die Klagen über die Gefahren des Gelehrtentums oder des Vielsitzens, als daß diese Klagen eigentlich keine Konsequenzen hatten. Jenseits vom Militärdienst setzte sich in den gebildeten Kreisen die sitzende Lebensart durch. Bestenfalls Turnübungen für die (männliche) Jugend wurden angeregt.97 Und das, obwohl die Gefahren des Bewegungsmangels in den Diätetik- und Antihypochondrieschriften nahezu gebetsmühlenhaft wiederholt wurden. Allerdings war Bewegung ohnehin nicht gleich Bewegung; Holzhacken sollte man, wie geschildert, besser meiden, reiten war bestens geraten und wie immer galt es, das rechte Maß zu wahren. „In der That, wenn eines Theils der Geist zu lebhaft und anhaltend beschäftiget wird, so saugen die zu sehr gespannten Fibern des Gehirns eine große Menge der Lebensgeister ein, und dehnen sich nur zum Schaden der Maschine aus; wenn andern Theils der Körper zu heftig und zu lange bewegt wird, so gehet durch seine beständige Bewegung sehr viel von dem Nervengeiste verlohren. Ein doppelter Grund, warum auf der einen Seite Gelehrte so schwächlich, kalt und weichlich sind; und warum auf der andern Seite, die Landleute und

95

So: BUSSE, Der Hypochondrist, 1952, S. 118: „So leidet der geistig Tätige im allgemeinen stärker an Nervosität und ist gegen Krankheiten anfälliger, da er konstitutionell häufig schwächer ist als der Durchschnittsmensch. Freilich gibt es Fälle, in denen dichterische Begabung ungeweckt bleibt oder unterdrückt wird und dem betreffenden Menschen damit die Schädigungen, die ein gesteigertes, dem Geiste gewidmetes Leben nach sich ziehen können, erspart bleiben." 96 So eine ältere Deutung aus dem 16. Jahrhundert, die sich bei LUMME findet. LUMME bezieht sich auf die Autobiographie von Hieronymus Wolf (1515-1580), der angibt, daß ihm, weil er melancholisch gewesen sei, keine andere Wahl geblieben sei als die, ein Gelehrter zu werden. (LUMME, Christoph: Höllenfleisch und Heiligtum. Der menschliche Körper in autobiographischen Texten des 16. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1996, S. 76.) 97 Etwa: GUTSMUTHS, Johann Christoph Friedrich: Spiele zur Uebung und Erholung des Körpers und des Geistes, für die Jugend, ihre Erzieher und alle Freunde unschuldiger Jugendfreuden, Schneppenthal 1796.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

alle diejenige [sie], deren Arbeit heftig und anhaltend ist, so stark, plump, und so ungeschikt zum Denken sind." 98

Hier klingt nicht nur die besondere Gefährdung der Gelehrten an, sondern es wird noch ein anderes, häufig diskutiertes Thema angesprochen: die negativen Folgen des Lebens in der Stadt. Zwar kann man im 18. Jahrhundert noch nicht in dem Sinn von einer Urbanisierung sprechen, daß die Mehrzahl der Bevölkerung nicht mehr auf dem Land gewohnt hätte, und die meisten Städte muten uns heute in ihren Ausmaßen klein an. Trotzdem sind die Veränderungen gegenüber dem Beginn des Jahrhunderts nicht zu verleugnen. Wichtiger noch als die Zunahme der Einwohnerschaft (Berlin erreichte 1800 ca. 170000 Einwohn e r " ) ist die Eigenart des städtischen Lebens als Sinnbild: Es stand im Kontrast zum ländlichen Leben, das auf die tägliche Produktion von Greifbarem ausgerichtet war und sich vor allem (nach Vorstellung der städtischen Autoren) in gesunder Luft abspielte. 100 Der Schreiber, Schriftsteller, Beamte hingegen arbeitete in geschlossenen Räumen und auf dem Papier. Und er war den Lastern der Stadt ausgesetzt: Denn auch Luxus, Unmoral, Spielsucht etc. waren eindeutig der Stadt zugeordnet. (Das Kartenspielen war übrigens ebenfalls nicht nur deswegen schädlich, weil man dabei teures Geld verlieren konnte, sondern weil man außerdem die Zeit dabei im Sitzen zubrachte. 101 ) Dem wurde der Raum vor den Toren entgegengesetzt; von anderen Autoren als dem gerade zitierten Huszty auch verklärend. 102 Auch von der Hypochondrie war der Landmensch nur selten betroffen, in der Stadt hingegen schien sie ein andauerndes Übel. In dieser Vorstellung konnte dann die Hypochondrie nicht nur Folge des Stadtlebens sein, sondern auch zu dessen Sinnbild stilisiert werden. Eine solche Instrumentalisierung stand offensichtlich im Kontext einer allgemeineren Zivilisationskritik, die den .gebildeten' Menschen als einen schwachen, bleichen Weichling schmähte und ihn also zu einem Zwillingsbruder des 98

HUSZTY, Zacharias Gottlieb: Diskurs über die medicinische Polizey, 2 Bd, Preßburg/Leipzig 1786, hier: Bd. 1.S.490. 99 SCHULTZ, Helga: Berlin 1650-1800. Sozialgeschichte einer Residenz, Berlin 1987, S. 296. 100 Die Qualität der Luft spielte in den Diätetiken eine entsprechend große Rolle und stand oft an erster Stelle. Vgl. etwa: KÜHN, Johann Gottlieb: Diät oder Lebensordnung, Breslau/ Hirschberg 1788, S. 6-15; WEBER, Friedrich August: Lebensordnung für Gesunde und Kranke, übers, u. verm. v. Hofr. Richter, Heidelberg/Leipzig 1786, S. 4—32. 101 Vgl.: GUTSMUTHS, Spiele zur Uebung und Erholung, 1796, S. 35 f.: Es sei mehr als verwunderlich, daß die „kultivirtesten Classen der Europäer [...] sich, nach sitzenden Kopfarbeiten an sitzenden, den Kopf eben so sehr angreifenden, und die fatalsten Leidenschaften erregenden Spielen erholen wollen". 102 „Seit ich das Landhaus verlassen habe, welches ich eine halbe Stunde vor der Stadt [...] bewohnte, bin ich weder so gesund noch so zufrieden. Es ist, als wenn ich die engen Straßen nicht vertragen könnte, daher geh ich noch izt zuweilen, um freies Feld zu gewinnen, nach meinem Sanssoucis." (GOECKINGK, Leop. Friedr. Günther: Brief an Gottfried August Bürger, 19. 10. 1779, in: Strodtmann, Adolf (Hrsg.): Briefe von und an Gottfried August Bürger, Bd. 2, Berlin 1874, S. 365 f., hier: S. 365.)

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Hypochondristen machte. 103 Und noch ein weiterer Themenkreis war mit dieser Zivilisations- und mit der Hypochondriedebatte eng verknüpft: die breite Auseinandersetzung mit dem Luxus. Luxus wurde als eine der Ursachen der Hypochondrie (wie auch des Suizids104) angesehen; Luxus galt als ein negatives Kennzeichen der unmoralischen Städte. Diese Vernetzungen mußten aber die Auseinandersetzung mit den einzelnen Phänomenen multiplizieren, da in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder die gleichen Aussagen zitiert wurden. So schrieb sich der Diskurs fort. Eine ganz ähnliche Verbindung, die ebenso die Beschäftigung mit dem Phänomen Hypochondrie weiter vorantrieb, bestand mit dem Thema Einsamkeit. 105 Vornehmlich wenn die Hypochondrie weniger als körperliche denn als seelische Erkrankung eingeschätzt wurde, lag die Schlußfolgerung nahe, daß sich der Hypochondrist „so wenig als möglich mit sich selbst beschäftigen" und also „selten allein auf (der) Stube sein" und statt dessen sinnvolle Beschäftigung und Gesellschaft suchen solle.106 Die Auseinandersetzung um die Folgen der Einsamkeit füllte im 18. Jahrhundert unzählige Bücher (allein Zimmermann widmete ihr mehrere Werke und allein im letzten gut 1500 Seiten107). Selbst „Robinson Crusoe" läßt sich als die Geschichte eines auf eine Insel geworfenen Mannes lesen, der sich dort in das Leben eines Einsiedlers einfinden und in der Abgeschiedenheit tätig und kreativ werden muß. 108 Offensichtlich waren die Fronten hier nicht ganz so klar aufgeteilt wie im Fall der Hypochondrie, gab es doch auch positive Aspekte des zurückgezogenen, ungestörten, vom gesellschaftlichen Treiben separierten Lebens. Gerade Zimmermann

103

ACKERMANN, Johann Christian Gottlieb: Ueber die Krankheiten der Gelehrten und die leichteste und sicherste Art sie abzuhalten und zu heilen, Nürnberg 1777, S. 4: „Mit den Sitten wurden unter dem erhabenen Theil der Menschen die Laster verfeinert". Entsprechend wurde der zivilisierten Lebensweise eine erhöhte Anfälligkeit für Suizide zugeschrieben; der Selbstmord komme bei „gebildeten Völkern" häufiger vor als bei „rohern" meint etwa: BECKER, Rudolf Zacharias: Vorlesung über die Pflichten des Menschen, 2. Teil, Gotha 1792, S. 71. 104 Siehe Kap. 2.3.2. 105 Etwa: HEYDENREICH, Karl Heinrich: Psychologische Bemerkungen über die Einsamkeit und ihren Einfluß auf Geistesbildung und Sittlichkeit, in: MERCIER, J. B.: Über die Einsamkeit und ihren Einfluß auf Geist und Herz nach Zimmermann, Leipzig 1797, S. 297-S. 310, hier: S. 307. 106 Schreiben an einen Hypochondristen, in: Olla Potrida, 1785, 3. Stück, S. 133-137, hier: S. 134 f. 107 ZIMMERMANN, Johann G.: Betrachtungen über die Einsamkeit, Zürich 1756; ders.: Von der Einsamkeit, Leipzig 1773; ders.: Ueber die Einsamkeit, 4 Bd., Leipzig 1784-1785. Vgl. zu Zimmermanns „Einsamkeit": WAGNER-EGELHAAF, Martina: Unheilbare Phantasie und heillose Vernunft. Johann Georg Zimmermann „Über die Einsamkeit" (1784/1785), in: ASSMANN, Aleida/AssMANN, Jan (Hrsg.): Einsamkeit (= Archäologie der literarischen Kommunikation, VI), München 2000, S. 265-279. 108 Vgl.: MADUSCHKA, Leo: Das Problem der Einsamkeit im 18. Jahrhundert im besonderen bei J. G. Zimmermann, Weimar 1933, Nachdr. Hildesheim 1978, S. 19 u. S. 37.

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verwendete einen Großteil seines Opus Magnum auf die „Vortheile der Einsamkeit" im allgemeinen sowie „für den Geist" und „für das Herz" im besonderen. 109 Strebte man nach .Natürlichkeit', so konnte zu viel menschlicher, künstlicher Umgang eher hinderlich sein; suchte man die Fähigkeit zu feinsten Empfindungen zu bewahren, dann bedeutete geselliges Treiben schnell schädliche Ablenkung, ja Abstumpfung. „Lässige Menschen, so gesellig sie auch seyn mögen, streben nach Vergnügen, und finden es nie. Allenthalben ist ihnen der Kopf roht und die Brust beklommen." 110 Einsamkeit in der Natur konnte hier ein ideales Gegenbild werden. Man konnte folglich zwischen ,richtiger' und .falscher' Einsamkeit unterscheiden, wobei sich die Gewichtung allmählich auf die Seite der letzteren zu verschieben begann. Besonders mönchische Abgeschiedenheit (mit oder ohne Soutane) geriet ins Kreuzfeuer der aufklärerischen Kritik und alles, was mit vermeintlich falsch verstandener Frömmigkeit, eben mit „Schwärmerei" zu tun hatte.111 Der Schritt zu einer Instrumentalisierung der Argumente war da wiederum klein; aber man fürchtete auch tatsächlich eine schnelle Ausbreitung irrationaler, die Nerven belastender und damit Hypochondrie förderlicher Tendenzen.112 Augenscheinlich wurden die negativen Eigenschaften des Hypochondristen und auch des Melancholikers auf den Schwärmer, die Schwärmerin übertragen (oder auch umgekehrt): Sie seien irrational, würden nichts .schaffen', lebten im Reich ihrer Einbildungen, was sie bis in den Tod treiben könne. 113 Das Schwärmerproblem wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert umfangreich diskutiert, aber der Begriff war in dieser Zeit schon schwammig geworden und bezeichnete verschiedenste Formen von Irrationalität. An der Debatte über die beste „Schwärmer"-Kur beteiligten sich große Namen in großen Journalen, und man überlegte, ob man dem Schwärmer wie dem Hypochonder eine Behandlung mit Ironie angedeihen lassen sollte. Entsprechend fragte Mendels-

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ZIMMERMANN, Ueber die Einsamkeit, 1785, Bd. 3 u. 4. Ebd., 1784, Bd. 1 . S . 4 3 . 111 Vgl.: ebd., 1785, Bd. 4, S. 444-^82; SCHINGS, Melancholie, 1977, S. 192. Hier richteten sich die Bewertungen offensichtlich danach, auf welcher Seite man stand und was man als .richtig' oder .falsch' beurteilte. So wurde in pietistischen Kreisen die Einsamkeit durchaus wertgeschätzt, da man in ihr einen möglichen Zugang zu Gott sah. (Vgl. dazu: MADUSCHKA, Das Problem der Einsamkeit, 1933/1978, S. 25.) 112 Vgl. etwa: Zwei schwärmerische Selbstmörder, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 4, 1784, S. 428f.; REIMARIUS, Johann Heinrich Albert: Über die Schwärmerei unserer Zeiten. Ein Schreiben eines Ungenannten, in: Göttingisches Magazin, Bd. 3, 1782, 2. Stück, S. 2 3 7 - 2 5 5 (anonym veröffentlicht). 110

113 Bei der Melancholie lag die Nähe der Gefahr außerdem darin begründet, daß sie seit langem auch in der Spielart der „religiösen Melancholie" bekannt war, was nach Auffassung der Kritiker meist mit übermäßigem Beten, Sehnsucht nach dem Jenseits, eben mit Schwärmerei einherging. Vgl.: Beobachtungen und Erfahrungen über Melancholische, besonders über die Religiöse Melancholie, von einem Prediger am Zuchthause zu T., Leipzig 1799.

3.2. Die Entdeckung des Individuums

209

söhn in der „Berlinischen Monatsschrift": „Soll man der einreißenden Schwärmerey durch Satyre oder äußerliche Verbindung entgegenarbeiten?"114 Die Kritik an der hypochondrischen Vereinzelung hatte aber noch eine andere, gleichsam säkulare Komponente. Wer die Abgeschiedenheit suchte, galt schnell als Misanthrop und stand in Opposition zum „geselligen Jahrhundert"115. In gewissem Sinne entzog sich der Hypochondrist außerdem den .reellen' Gegebenheiten, verschwand in einer Parallelwelt, die nur ihm selbst zugänglich war: „mißtrauisch gegen Jedermann liebte er die Einsamkeit und brachte einen grossen Theil des Tages auf seiner Studierstube zu, wo er meist dem Spiel seiner traurigen Phantasie Raum gab".116

3.2. Die Entdeckung des Individuums Wenn hypochondriegefährdete Gelehrte sich in medizinische Ratgeber vertiefen wollten, wenn in Zeitschriften über die Häufigkeit der Suizide geklagt wurde, wenn sogar eine „Kunst, Bücher zu lesen" den richtigen Umgang mit Literatur darlegte,117 dann bedurfte es dazu jeweils einer bestimmten, grundlegenden Voraussetzung, nämlich der tiefgreifenden Veränderung des Publikationsmarktes, die weit mehr als eine bloße Steigerung der Produktion bedeutete. Es ist unstrittig, daß diese Veränderungen Kultur und Denken im späten 18. Jahrhundert geprägt haben, und es gibt wohl keine Debatte, die sie nicht beeinflußt hätten.118 Die Entwicklungen des Medienmarktes sind uns daher im

114

MENDELSSOHN, Moses: Soll man der einreißenden Schwärmerey durch Satyre oder äußerliche Verbindung entgegenarbeiten?, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 5, 1785, S. 133-137. Mendelssohn bezog sich auf Shaftesbury, der sich aber der „Satyre bloß, als Vehikulum zu den Arzneien, und des Scherzes, als Würze zu den gesundem Nahrungsmitteln" bedient habe. Der zeitgenössische Spott sei hingegen abzulehnen. (Ebd., S. 133 f.) Vgl. auch die frühere Frage Christoph Martin WIELANDS: „Wird durch die Bemühungen kaltblütiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das, was sie Enthusiasmus und Schwärmerei nennen, mehr Böses als Gutes gestiftet?" (Teutscher Merkur, 1776, Jan., S. 82); vgl. auch ebd., Aug., S. 111-131. 115 IM HOF, Ulrich: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982. 116 Sektionsgeschichte eines Hypochondristen, von: Dr. Naumburg in Erfurt, in: Museum der Heilkunde, hrsg. von der Helvetischen Gesellschaft correspondirender Aerzte und Wundärzte, 4. Bd., Zürich 1797, S. 47-56, hier: S. 49f. 117 BERGK, Johann Adam: Die Kunst, Bücher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller, Jena 1799. 118 Gerade auch die Forschungen zur frühneuzeitlichen Identitätenbildung haben diesen Aspekt miteinbezogen. So versteht etwa Benedict ANDERSON die Entwicklung eines Nationalgefühls (bzw. Vorformen) als Resultat veränderter Kommunikation. Erst durch die ausgeweitete Produktion von Druckerzeugnissen, durch die Möglichkeit eines Zugriffs auf einen gemeinsamen Wissenshaushalt konnte die Idee einer nationalen Gemeinschaft entstehen.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Verlauf dieser Arbeit schon begegnet (im Zusammenhang mit dem Thema Medikalisierung), und sie werden uns auch in der Folge immer wieder beschäftigen. Denn hier findet sich die Grundlage für einen neuen, weitreichenden Ideenaustausch, der sehr eng mit unserer Frage nach der Wahrnehmung der (vermeintlichen?) epidemienhaften Ausbreitung von Melancholie, Hypochondrie und Suizid verknüpft ist. Ich werde daher zunächst kurz umreißen, wie sich die Produktion von Büchern und periodischer Presse im 18. Jahrhundert entwickelte. Dann werde ich Analysemodelle vorstellen, die Kommunikationsmöglichkeiten, Diskursphänomene und Wahrnehmungsmuster miteinander verbinden und besonders der Herausbildung des Konzeptes Individualität' nachgehen.119 Ich spreche ausdrücklich von Modellen, um zu veranschaulichen, daß es nicht um die vollständige Rekonstruktion von Realitäten gehen kann, sondern darum, Interpretationen und Erklärungen anzubieten, die Prozesse nachvollziehen, aber nicht eins zu eins widerspiegeln, die Veränderungen aufzeigen und plausibel machen können, aber nicht mehr als Vereinfachungen sind. 120 3.2.1. Marktbedingungen Präzise Angaben über die tatsächliche Entwicklung der Buchproduktion im 18. Jahrhundert sind immer noch ein ungelöstes Forschungsproblem, und sie werden es voraussichtlich bleiben.121 Es lassen sich aber zum Beispiel mit Hilfe der Meßkataloge Zahlen angeben, die uns eine gute Vorstellung vom Ausmaß der Produktionssteigerung vermitteln. Allein die jährlich vorgestellten Neuerscheinungen zählten im Jahr 1795 3257 Titel. Zehn Jahre zuvor, 1785, waren es erst 2713, 1775 1892 und 1765 1384 gewesen. 122 Auch wenn heute die Frankfurter Buchmesse ganz andere Ausmaße erreicht und die Neuerscheinungsliste mancher Verlage für sich genommen schon mehrere hundert Titel führt, sahen sich Buchhändler und Leserinnen im späten 18. Jahrhundert doch mit einer in der Relation vergleichbaren jährlichen Bücherflut konfrontiert. Die „Vielschreiberey" war in Deutschland ausgebrochen.123 Vgl.: ANDERSON, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1993 (Original 1983), insb. S. 44-54. 119 Ich verstehe Individualisierung nicht im soziologischen Sinne einer .Ausdifferenzierung funktionaler Teilbereiche", sondern als die Ausrichtung des Erkenntnis- und Wahrnehmungsinteresses auf den einzelnen Menschen. (Zitat aus: EIBL, Karl/WILLEMS, Marianne: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Individualität, Aufklärung, Jahrg. 9, Heft 2, S. 3-6, hier: S. 3.) 120 Vgl.: Interview mit Hayden WHITE, in: DOMANSKA, Ewa: Encounters. Philosophy of History after Postmodernism, Charlottesville/London 1998, S. 13-38, hier: S. 16. 121 SCHÖN, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987, S. 38. 122 WITTMANN, Gibt es eine Leserevolution, 1999, S. 442. 123 Schreiben an einen Freund über die Ursachen der jetzigen Vielschreiberey in Deutschland, in: Journal von und für Deutschland, 6. Jahrg., 1789, S. 139-143. Der Verfasser be-

3.2. Die Entdeckung des Individuums

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Bücher werden geschrieben, damit sie gelesen werden. Der Begriff „Leserevolution" mag zu euphorisch klingen beziehungsweise (im Gegenteil) durch seine häufige Verwendung an Aussagekraft eingebüßt haben. So oder so: Er beschreibt die Umwälzungen, die das Lesen im 18. Jahrhundert erfahren hat, immer noch zutreffend, auch wenn zu berücksichtigen ist, daß diese Leserevolution nur einen verhältnismäßig kleinen Ausschnitt der Bevölkerung erreichte. Denn selbst gegen Ende des Jahrhunderts konnten maximal 15 Prozent, wahrscheinlich sogar nur 1,5 Prozent der Bevölkerung lesen. 124 Noch dazu bestanden starke regionale Unterschiede, sowohl was die Lesefähigkeit als auch was „die Quoten des tatsächlichen Lesens" anging. 125 Die relative Veränderung der Produktion und des spezifischen Leseverhaltens bestimmter Bevölkerungssegmente und damit der Kommunikationsmöglichkeiten waren dennoch immens. Trotz mancher quantitativen Unsicherheit kann man unbestreitbar von einer gravierenden Veränderung in der Hinsicht ausgehen, daß sich die rein elitäre Gelehrtenleserschaft, wie sie noch für den Beginn des Jahrhunderts charakteristisch war, hin zu einem breiteren (gängiger Weise als .bürgerlich' bezeichneten) Publikum ausweitete. Diese Entwicklung zeigt sich allein schon an der Veränderung der verwendeten Sprache. Mehr und mehr wurde deutsch statt lateinisch geschrieben. Waren 1740 noch 27,7 Prozent der auf den Buchmessen vorgestellten Werke in der alten Gelehrtensprache verfaßt worden, so waren es 1800 nur noch 3,97 Prozent.126 Damit war eine Voraussetzung dafür geschaffen, daß sowohl neue Lesarten als auch neue Lesergruppen entstehen konnten. Denn einerseits ermöglichte die Publikation in deutscher Sprache allen, die des Lateins nicht mächtig waren, Texte zu lesen. Gerade der Anteil von lesenden Frauen sollte hier nicht unterschätzt werden. 127 Andererseits stand der Wechsel der Sprache oft dafür, daß die alte abstrakte Theorie stückweise verabschiedet wurde, war Latein doch in dieser Zeit eine Sprache des universitären, gelehrten Systems, wenn man einmal von der Kirchenwelt absieht. Die neue Sprachkultur zeigt also eine Popularisierung im doppelten Sinne an: Texte wurden einem breiteren Publikum verständlich und zugänglich. Mindestens so entscheidend ist die Veränderung der Publikationsarien beziehungsweise der Fachrichtungen. Wie bereits an anderer Stelle deutlich wurde, verloren theologische Publi-

schreibt unter anderem seinen Eindruck, den er von der Zunahme der Meßkataloge hat: „So ist z.B. der M[ichaelis]. M[esse]. Katalogus von 1770. nur 51 / 2 Bogen stark, der M. M. Katalogus von 1788. hingegen 17'/ 2 Bogen stark, so daß die Biicherschreiberey also jetzt, nach 18 Jahren, mehr als dreymahl stärker ist, als im Jahr 1770." 124 WrrrMANN, Gibt es eine Leserevolution, 1999, S. 426 f. 125 SCHÖN, Erich: Publikum und Roman, in: JÄGER, Hans-Wolf (Hrsg.): „Öffentlichkeit" im 18. Jahrhundert (= Das achtzehnte Jahrhundert Supplementa, Bd. 4), Göttingen 1997, S. 295-326, hier: S. 298. 126 WITTMANN, Gibt es eine Leserevolution, 1999, S. 442. 127 Vgl.: SCHÖN, Publikum und Roman, 1997, S. 295.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

kationen ihre marktbestimmende Position.128 Zugewinne hatte hingegen die sogenannte , schöne Literatur' zu verzeichnen.129 Die Beteiligung und Einbindung der Leser und teilweise auch der Leserinnen in den Publikationsprozeß wird evidenter bei der Betrachtung der periodischen Presse. Die Vielzahl der Autoren und Rezensenten sorgte nicht nur für einen dichten Informations- und Meinungsaustausch. Sie schufen auch die Grundlage für die Entstehung eines kommunikativen Netzes, das zwar auf einen bestimmten, elitären Personenkreis begrenzt war, dennoch aber nie dagewesene Dimensionen erreichte. Immer mehr Zeitschriften publizierten zu immer mehr Themen; es ereignete sich eine „quantitative Explosion der periodischen Presse". 130 Gab es zwischen 1701 und 1740 ca. 490 Zeitschriftenneugründungen, so waren es zwischen 1741 und 1765 754. Zwischen 1765 und 1790 wurde dann die beachtliche Zahl von 2191 neuen Zeitschriften erreicht.131 Demnach lassen sich die von Kirchner für das gesamte 18. Jahrhundert recherchierten 4000 Zeitschriften wohl noch um weitere 2000 Titel aufstocken.132 Eine wichtige Rolle sowohl bei der Weiterentwicklung der unterschiedlichsten Diskussionen als auch für unsere heutigen Zugangsmöglichkeiten zu den verhandelten Ideen spiel(t)en die Rezensionsorgane,133 deren Vielfältigkeit sich dem wachsenden Themenspektrum anpaßte. Schließlich bleibt zu erwähnen, daß etliche Zeitschriften gezielt Briefe und Zuschriften der Leserschaft integrierten. Auf die Bedeutung dieser Praxis wird noch ausführlich einzugehen sein. 134 Insgesamt erreichte der boomende Zeitschriftenmarkt immer mehr Leser und Leserinnen, auf die sich Verleger und Schriftsteller auch bewußt auszurichten hatten, um sich gegen Konkurrenten durchzusetzen, um ,marktfähig' zu bleiben. Daher ist die Entstehung und Veränderung von Bedeutungen als Austauschprozeß von Lesenden, Schreibenden und Publizierenden zu verstehen. Einer literarischen Gattung, die später noch näher beleuchtet werden wird, kam in zweifacher Hinsicht eine herausragende Bedeutung zu: Der Aufstieg des Romans manifestierte sich quantitativ besonders eindrucksvoll; sein Anteil 128 siehe Kap. 1.3.2. 129

SCHÖN, Publikum und Roman, 1997, S. 295. BÖNING, Holger: Aufklärung und Presse im 18. Jahrhundert, in: JÄGER, Hans-Wolf (Hrsg.): „Öffentlichkeit" im 18. Jahrhundert (= Das achtzehnte Jahrhundert Supplementa, Bd. 4), Göttingen 1997, S. 151-163. 131 MARTINO, Alberto: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914), Wiesbaden 1990, S. 5. Die kontinuierliche Steigerung der Neugründungszahlen verlief wie folgt: zwischen 1766 und 1770 248 Neugründungen, zwischen 1771 und 1780 718 und zwischen 1781 und 1790 1223. (Ebd.) 132 BÖNING, Aufklärung und Presse, 1997, S. 157. 133 Vgl.: RAABE, Paul: Die Zeitschrift als Medium der Aufklärung, in: Wolfenbiitteler Studien zur Aufklärung, Bd. 1, 1974, S. 99-136, hier: S. 104. 1 34 Siehe Kap. 3.2.4. 130

3.2. Die Entdeckung des Individuums

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an der gesamten Bücherproduktion erhöhte sich zwischen 1740 und 1800 von 2,6 Prozent auf 11,7 Prozent.135 Gleichzeitig zeichnete den Roman (beziehungsweise den durch veränderte Konzepte und Inhalte nochmals neu geschaffenen Roman 136 ) eine qualitative Besonderheit aus, die das Lesen als individuelle Tätigkeit, ja als Kreation von Individualität ermöglichte, da hier persönliche statt schematische Welten erschaffen wurden. Die Figuren entwickelten ein Eigenleben und folgten nicht länger stereotypen Modellen.137 Die Fiktionen öffneten Räume jenseits der ,Realität'. 138 Lesen ist kein ausschließlich passiver Prozeß, sondern aktiv schon allein in der Gestaltung der Gedanken. 139 Heute lesen wir Romane nahezu ausschließlich, um uns zu unterhalten; Lesen ist damit Selbstzweck, und niemand stört sich daran. Dem liegt allerdings eine historische Entwicklung zugrunde, die auf der beginnenden Andersartigkeit des Romans im 18. Jahrhundert fußt. Es war zunächst notwendig, Lesen von seiner Belehrungsfunktion zu emanzipieren, denn literarische Bücher waren bislang fast immer auf einen pädagogischen Zweck hin geschrieben worden. 140 Es sollte die richtige Art zu leben und zu denken gelehrt werden. Die Loslösung von dieser Vorgabe vollzog sich nur allmählich und stieß auf durchaus vehemente Kritik und Gegnerschaft. Hingegen, faßt Christian Gottlob Hempel den Konflikt zusammen, sei „ein guter Romanschreiber, der sich in den Schranken des Wahrscheinlichen zu erhalten weis, und sein Hauptabsehen auf die Verbesserung der Sitten richtet, ganz und gar nicht zu verachten".141 Die ,zweckfreie' Lektüre war folglich um 1800 keineswegs bereits voll etabliert. 142 So war der sogenannte Trivialroman den Angriffen der Kritiker besonders ausgesetzt, da er sich eben genau dadurch definiert beziehungsweise darüber definiert wird und wurde, daß er ausschließlich der leichten Unterhaltung dient und keinerlei andere Aufgabe erfüllen muß - außer den Geldbeutel 135

WITTMANN, Gibt es eine Leserevolution, 1999, S. 443. Vgl.: BERTHOLD, Fiktion und Vieldeutigkeit, 1993, S. 3. 137 BRENNER, Peter J.: Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung, Tübingen 1981, S. 71. 138 Siehe auch Kap. 3.3.1. 139 Vgl.: CHARTIER, Roger: Le livre en révolutions, Paris 1997, S. 77. 140 Vgl.: WEGMANN, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, S. 110. 141 HEMPEL, Christian Gottlob: Ueber die Thorheiten meiner Zeitgenossen oder Versuch einer neuen Charakteristik der Menschen, vornehmlich der Deutschen, Hamburg 1792, S. 32. 142 Hingegen zeichnet SCHÖN die Verläufe zu glatt, wenn er die Widerstände gegen die Umdeutung des Romans außer acht läßt. (SCHÖN, Erich: Publikum und Roman, 1997, S. 297.) Schön bezieht sich auf Rezensionen, das Werturteil der Nützlichkeit sei durch ästhetische Kriterien abgelöst worden - das läßt sich, denke ich, sehr schnell widerlegen, wozu zum Beispiel ein kurzer Blick auf eine positive Rezension von Thümmels „Reisen" oder eine negative von Millers „Siegwart" genügt. (Rezension zu: THÜMMEL, Reisen in die mittäglichen Provinzen, in: Allgemeine deutsche Bibliothek, 1792, Bd. 108, S. 343-359; Rezension zu: MILLER, Siegwart, eine Klostergeschichte, in: DerTeutsche Merkur, 1777, 2. Vierteljahr, S . 255 ff.) 136

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

der Autoren ein wenig zu füllen, die in den späten Jahren des Jahrhunderts als konsalikähnliche Vielschreiber auftraten. Auf einen von ihnen, Christian Heinrich Spieß, der neben Ritter- und Gespenstergeschichten auch Biographien produzierte, werden wir bald noch einmal treffen. 143 Es ist in der Forschung die Frage aufgeworfen worden, ob angesichts der gefühlsreichen (Roman-)Lektüre tatsächlich die alte Differenzierung von intensivem und extensivem Lesen aufrecht erhalten werden kann, die lange üblich war, um die Veränderungen des Leseverhaltens im 18. Jahrhundert zu beschreiben. Während noch bis zur Mitte des Jahrhunderts das ausdauernde und wiederholte Lesen einzelner weniger Bücher, hauptsächlich der Bibel, charakteristisch gewesen sei, zeichnete sich die Folgezeit dadurch aus, daß immer mehr verschiedene Werke gelesen, ja konsumiert wurden. 144 Für den einzelnen Text bliebe dann zwangsläufig nur noch eine reduzierte Aufmerksamkeit. Andererseits beschrieb die Forschung genauso wie die zeitgenössische Kritik die Romanleserlnnen, besonders die empfindsamen, innig versunken in ihrer Lektüre. 145 Sind nicht die Romane von Goethe oder Richardson „ständig wieder gelesen, auswendig gelernt, zitiert und rezitiert" worden? 146 Das extensive Lesen im Sinne vom Lesen vielerlei verschiedener Lektüre Schloß das intensive Versinken im einzelnen Buch nicht aus. Vor der Jahrhundertmitte beziehungsweise sogar vor den 1770er Jahren war allerdings für das Gros derjenigen, die überhaupt Zugang zu irgendeinem Buch hatten (und sei es als abendliche Zuhörerin des patriarchalen Vorlesers), dieses eine Buch die Bibel. 147 Das konnte sich erst im Zuge der vergrößerten Produktion und der leichteren Verfügbarkeit von Lektüre ändern. Bücher genauso wie Zeitschriften mußten hierzu nicht nur veröffentlicht, sie mußten auch zugänglich gemacht werden. Nicht alle, die ein Buch lesen wollten, konnten dieses selbst käuflich erwerben. Denn trotz der verbesserten Produktionsbedingungen, trotz billigerer Raubkopien und Nachdrucke zählten Bücher noch mehr als Zeitschriften zu den hochpreisigen Gütern. 148 Große Be-

143

Siehe Kap. 3.2.3.2. Vgl.: SCHÖN, Verlust der Sinnlichkeit, 1987, S. 4 0 f . 145 Etwa: GESENIUS, Medicinisch-Moralische Pathematologie, 1786, S. 40; WITTMANN, Gibt es eine Leserevolution, 1999, S. 434. 146 CAVALLO, Guglielmo/CHARTIER, Roger: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a.M./New York 1999 (Original 1995), S. 9 - 5 7 , hier: S. 43. Die Autoren weisen außerdem darauf hin, daß auch unter den Humanisten viele schon recht .extensiv' gelesen hätten (ebd.). 147 WITTMANN erläutert, daß der Unterschied im Leseeifer, der zwischen katholischer und protestantischer Konfession noch bis zum Ende des Jahrhunderts auszumachen ist, auch in Zusammenhang mit dem unterschiedlichen Stellenwert der persönlichen Bibellektüre stand. Da in der katholischen Lehre der Traditio ein viel stärkeres Gewicht zukam, wurde dem stillen Studieren der Bibel nicht so viel Bedeutung beigemessen wie im Protestantischen. Lektüre war daher noch ungewohnter. (WITTMANN, Gibt es eine Leserevolution, 1999, S. 433.) 144

148

Immerhin kostete ein Roman Ende des 18. Jahrhunderts noch so viel, daß von dem aus-

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deutung hatte die Weitergabe von Lektüre im privaten Kreis beziehungsweise auch das gemeinsame Lesen. Präzise Zahlenangaben, die außerdem die Unterschiede zwischen den einzelnen Territorien, Städten und Gesellschaftsgruppen berücksichtigen würden, sind hier unmöglich. Ein plausibler Schätzwert geht jedoch davon aus, daß bis zu zehn Augenpaare eine Zeitschrift lasen, etwas weniger sind für Romane zu veranschlagen.149 Außerdem ist bei dieser Art der Verteilung von Lektüre entscheidend, daß die Weitergabe des jeweiligen Tauschobjekts mit Kommentaren, also mit Meinungsaustausch verbunden war. Schon bevor ein Buch zur nächsten Leserin, zum nächsten Leser überging, war vieles zu besprechen und sei es nur zu beklagen, daß das gewünschte Buch gerade von anderen beansprucht würde. So schrieb Heinrich Christian Boie an Gottfried August Bürger: „Ich habe alle die Bücher selbst, die Sie gern lesen wollen, und kann Ihnen doch keins schikken. Clavigo, Werther, Menoza, der Hofmeister, alle wandern herum in der Weiber Hände, worin ich meine Bücher nicht gern kommen laße, und ich werde sie vielleicht nie wiedersehn." 150

Bei der Verbreitung von Gedrucktem wirkten außerdem vor allem zwei Einrichtungen kräftig mit, nämlich Leihbibliotheken und Lesegesellschaften. Beide waren Erfindungen des 18. Jahrhunderts und gediehen ab den 1770ern zu ungekannter Blüte. 151 Doch trotz dieser Parallelen vertraten sie jeweils unterschiedliche Prinzipien des Lesens. Denn während man in den Lesegesellschaften zum gemeinsamen, also geselligen Lesen und Diskutieren über das Gelesene zusammenkam, lieh man sich in der Bibliothek Bücher für die individuelle Lektüre zu Hause aus. Außerdem waren die Lesegesellschaften keineswegs jedermann und schon gar nicht jeder Frau frei zugänglich, so daß besonders diejenigen, die dort keinen Einlaß finden konnten, auf das Ausleihen von Büchern angewiesen waren. Denn sie waren gleichzeitig diejenigen, die sich den eigenen Erwerb von Büchern kaum leisten konnten. Schließlich unterschied sich das Lesematerial, das jeweils bereit gehalten wurde. Die zumindest nach ihrem Selbstverständnis eher exquisiten Lesegesellschaften legten Wert auf gepflegte Debatten und lasen neben aktuellen Zeitungen und Zeitschriften viel Wissenschaftliches. Literarisches war hingegen kaum bis gar nicht vertreten. 152 Im Gegensatz dazu waren die Leihbibliotheken in ihrer Auswahl popu-

gegebenen Geld eine Familie zwei Wochen lang leben konnte. (WITTMANN, Gibt es eine Leserevolution, 1999, S. 443.) 149 Vgl.: SCHÖN, Publikum und Roman, 1997, S. 300; WILKE, Jürgen: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfangen bis ins 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2 0 0 0 , S. 9 3 . 150

BOIE, Heinrich Christian: Brief an Gottfried August Bürger, 12. Dec. 1775, in: Strodtmann, Briefe von und an Gottfried August Bürger, Bd. 1, 1874, S. 218 f. 151 Vgl. allgemein: WITTMANN, Gibt es eine Leserevolution, 1999, S. 448-452. 152 SCHÖN, Verlust der Sinnlichkeit, 1987, S. 305. Schön betont, daß daher die Lesegesellschaften auch nicht in Bezug zur Entstehung einer bürgerlich-literarischen Öffentlichkeit im

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

lärer eingestellt und verfügten über einen, wenn schon nicht „überwiegend[en]", so doch zumindest umfangreichen belletristischen Bestand, weshalb sie in der einschlägigen Lesesuchtdebatte heftig unter Beschüß gerieten.153 Denn oft fanden sich hier die besagten Ritter- und Gespensterromane in großer Zahl. So klagte Heinrich Kleist über eine Würzburger Leihbibliothek: „Was stehen denn also eigentlich für Bücher hier an diesen Wänden? Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts Rittergeschichten mit Gespenstern, links ohne Gespenster, nach Belieben." 154 Die Leserschaft des späten 18. Jahrhunderts war folglich keineswegs homogen. Vor diesem Hintergrund ist in der Forschung der Vorwurf laut geworden, die üblichen Untersuchungen des Leseverhaltens würden sich auf Elitenphänomene beschränken und ausschließlich die professionellen Leser beachten.155 Hier gilt es, denke ich, genauer nach der jeweiligen Fragestellung zu differenzieren. Natürlich kann sich eine Geschichte des Lesens nicht auf die Diskussionen in gelehrten Rezensionsorganen beschränken. Natürlich steckt in der Kategorisierung von Literatur nach ihrer vermeintlichen Trivialität immer etwas hochgradig Willkürliches beziehungsweise Arrogantes. In unserem Kontext geht es jedoch nicht um die Rekonstruktion von sozialen Leserprofilen. Vielmehr stehen die Möglichkeiten aller Medien als Transportmittel von Ideen im Mittelpunkt. Dabei spielt die vergrößerte Verbreitung schon für sich genommen eine wichtige Rolle, da die Art des Mediums und seine Reichweite die Veränderung von Deutungen und Bedeutungen beeinflußten. Dieser Zusammenhang wird besonders bei unserer Suche nach den Ursprüngen von zeitgenössischen Wahrnehmungsmustern zutage treten.

Sinne Habermas' gestellt werden könnten, wie außerdem die doch eher privatintime Lektüre der „schönen Literatur" wenig mit öffentlichem Raisonnement zu tun habe. (Ebd., S. 305 f.; vgl. auch: ders.: Publikum und Roman, 1997, S. 316.) Allerdings führt HABERMAS für die Lesegesellschaften selbst an: „Am meisten gehalten und gelesen wurden Journale politischen Inhalts". (HABERMAS, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1993 (Original 1962), S. 141.) 153 WITTMANN spricht von einem „überwiegend belletristische[n] Bestand" der Leihbibliotheken, während sich SCHÖN der Meinung anschließt, es seien „allgemeinwissenschaftliche Leihbibliothek(en)" gewesen, die erst ab der Restaurationszeit des 19. Jahrhunderts ihre wissenschaftlichen Bestände marginalisiert hätten. (WITTMANN, Gibt es eine Leserevolution, 1999, S. 449; SCHÖN, Der Verlust der Sinnlichkeit, 1987, S. 306.) Vgl. allgemein zum Thema Leihbibliotheken: MARTINO, Die deutsche Leihbibliothek, 1990. Zu den Lesegesellschaften außerdem: WILKE, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, 2000, S. 138-141. 154 KLEIST, Heinrich von: Brief an Wilhelmine von Zenge, 14. 9. 1800, in: Briefausg. hrsg. v. E. SCHMIDT, Bd. V, S. 124, zitiert nach: BEAUJEAN, Marion: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Ursprünge des modernen Unterhaltungsromans, Bonn 1964, S. 27. 155

SCHÖN, Erich: Publikum und Roman, 1997, S. 302.

3.2. Die Entdeckung des Individuums

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3.2.2. Lesen, Schreiben und Fortschreiben: Die Kreation von Ideen Es ist zu bedenken, daß man die beschriebene Expansion der Leserschaft nicht nur hinsichtlich einer Geschichte des Lesens interpretieren kann. Genauso muß die Seite der Schreibenden einbezogen werden. Die Vielzahl an Publikationen ist Ausdruck eines Artikulationsbedürfnisses und zeigt, wie Gedanken fortgeführt wurden, aber auch die weitgehend einfallslose Reproduktion von Formulierungen anderer Autoren. Die kommerziellen Gründe für solche Nac/ischriften sollten nicht gering eingestuft werden; das mindert die möglichen Rückschlüsse jedoch nicht, kann man doch folgern, daß ein gewisses Interesse im Publikum zumindest erwartet wurde. Zwischen den Texten wurden, wie am Beispiel des Suizids gezeigt, oftmals fächerübergreifend Bezüge hergestellt.156 Es entstand ein enges Geflecht an Verbindungen und somit von Ideenaustausch, von Kommunikation, wie es ohne die Veränderungen des publizistischen Marktes nicht möglich gewesen wäre. Andererseits unterstützte das Bedürfnis nach Kommunikation offensichtlich die entsprechenden Veränderungen. Das entstehende Forum für Diskussion, Informations- und Meinungsaustausch ist als Basis für die entstehende „bürgerliche Öffentlichkeit" beschrieben worden.157 Was mich in diesem Zusammenhang mehr interessiert, sind die Modifikationen der Diskurse, die durch die kommunikativen Spielräume vorangetrieben wurden und die besonders für unsere Frage nach der Epidemienwahrnehmung entscheidend sind. In bezug auf die Hypochondriehäufigkeit haben sich diesbezüglich schon enge Verknüpfungen gezeigt. Nicht nur, daß die Information über eine scheinbar besonders weit verbreitete Krankheit namens Hypochondrie nur über das Distributionssystem der Texte weiter getragen werden konnte; nicht nur, daß sich die Symptome von Text zu Text fortschrieben und vermehrten, wodurch es zu einer regelrechten Inflation der assoziierten Phänomene kam; 158 sondern die Krankheit selbst wurde als eine Krankheit der besonderen Aufmerksamkeit auf die Krankheit (was nicht das selbe wie eine eingebildete Krankheit ist!) charakterisiert und als Krankheit des lesenden Menschen konstituiert. Diese Bedeutung wurde durch Texte weitergegeben und festgeschrieben. Die Aufmerksamkeit und Selbstbeobachtung des einzelnen sowie die Schlußfolgerung, sich selbst als hypochondrisch zu bewerten, wurde durch die gelesenen Beschreibungen von Krankheiten mitinitiiert. Genauso konnte nur dadurch, daß das Wissen über die Krankheit sprachlich verbreitet wurde, überhaupt die Wahrnehmung einer gehäuft auftretenden Hypochondrie zustande kommen. Das gilt bereits für den kleinsten Schritt dieser Verbreitung, nämlich 156

Siehe Kap. 2. Immer noch: HABERMAS, Strukturwandel, 1993, S. 104 ff. 158 In diesem Sinne läßt sich auch die von Esther FISCHER-HOMBERGER konstatierte Vielfalt der Symptome interpretieren. (FISCHER-HOMBERGER, Esther: Hypochondrie. Melancholie bis Neurose. Krankheiten und Zustandsbilder, Bern u.a. 1970, S. 45.) 157

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

die bloße Benennung der Krankheit. Ohne diese Namensgebung käme es zu keiner Interpretation des eigenen Zustandes, die über die Unmittelbarkeit etwa der Schmerzen im Bauch, der heißen Hände etc. hinausginge. Die Verbindung mit einem allgemeineren Phänomen wird erst durch den Begriff „Hypochondrie" hergestellt. Entscheidend ist dafür außerdem, daß medizinische Texte nicht nur von Medizinern gelesen wurden, was einmal mehr damit zusammenhing, daß entsprechende Literatur auch für Nicht-Gelehrte zugänglich wurde, mehr noch aber mit dem allgemeinen großen Bedeutungsgewinn medizinischer Interpretationen an sich.159 Vorbereitet, begleitet und gefördert wurde die Tendenz zur hypochondrischen Selbstbeobachtung außerdem durch die diätetischen Schriften, die nicht nur detaillierte Vorgaben für die richtige Lebensweise und den richtigen Umgang mit dem eigenen Körper machten, sondern diese Regelwerke außerdem noch moralisch untermauerten. Diätetiken sind dabei Fortschreibungen der offensichtlichsten Art; ihre Vorschriften sind größtenteils Muster, die von Text zu Text weitergegeben wurden und außerdem auf eine gemeinsame ältere Tradition zurückgriffen. Hier stellt sich dann lediglich die Frage: Schufen sich die Bücher ihre Leser oder die Leser ihre Bücher? Die vielfaltigen Veränderungen des Lesens und Publizierens können in einer Studie über das 18. Jahrhundert nicht als bloße Allgemeinplätze oder als „Reprise von längst Bekanntem" 160 abgetan werden. Vielmehr sind die Bedeutungen dieser Veränderungen für die zeitgenössischen Denk- und Wahrnehmungsmöglichkeiten und außerdem die Wahrnehmung und Reflexion dieser Veränderungen selbst noch genauer zu analysieren. Zusammenfassen lassen sich die Entwicklungen in unserem Kontext als eine Popularisierung der Debatten, die sowohl aktive und passive Diskursbeteiligte betraf als auch die Auswahl und Gestaltung der jeweiligen Gegenstände. Durch neue Publikationsformen (Artikel, Aufsätze, Rezensionen) entstand die entscheidende Möglichkeit für eine „breite und schnelle Kommunikation", auch über den engen wissenschaftlichen Rahmen hinaus.161 Es entstand ein neues Publikum für neuartige Themengebiete, die wissenschaftliche Perspektive und populäre Darstellung miteinander verbanden. Dazu trugen besonders die Anfänge der Psychologie in Gestalt der „Erfahrungsseelenkunde" bei, deren Autoren noch dazu ein spezielles Interesse an Melancholien, Hypochondristen und Suizidfällen hatten. Die allgemeinen Entwicklungen der Popularisierung und Diskursveränderungen lassen sich in der Debatte über den Suizid wiederfinden, die durch die modifizierte Kommunikation entscheidend beeinflußt wurde. Die Revolution 159

Siehe Kap. 1.3., Kap. 2.1.3. und Kap. 2.2.3. NAGL, Manfred: Wandlungen des Lesens in der Aufklärung. Plädoyer für einige Differenzierungen, in: ARNOLD, Werner/VODOSEK, Peter (Hrsg.): Bibliotheken und Aufklärung, Wiesbaden 1988, S. 21-40, hier: S. 21. 161 VIERHAUS, Rudolf: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, S 7 - 1 8 , hier: S. 11. 160

3.2. Die Entdeckung des Individuums

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in der Zeitschriftenwelt schuf Platz für kleinere, weniger theoretisch orientierte Texte. Vergleicht man nämlich die Textbeiträge vom Anfang und vom Ende des 18. Jahrhunderts, so fällt einmal mehr auf, daß die gelehrten (in diesem Fall meist moralphilosophischen beziehungsweise theologischen) Erörterungen nach und nach verabschiedet wurden. Selbst Theologen richteten ihren Blick auf das Schicksal von einzelnen .Selbstmördern' und wandten sich an ihre Leser, um sie vor vorschnellen Urteilen zu warnen: ,,[B]ei jedem Menschen [muß] auf angebohrne Fähigkeit, Disposizionen, Temperament, Erziehung, Beispiele, Antriebe, und äussere Lage in der Welt gesehen werden [...], welches alles fehlerhaft seyn kann, ohne seine Schuld." 162 Ohne den Austausch zwischen den verschiedenen Disziplinen wäre eine derartige Äußerung kaum zustande gekommen. Denn die Bewertung des Suizids veränderte sich zu einem Großteil dadurch, daß medizinische Interpretationen an Einfluß gewannen und von Theologen und Juristen rezipiert wurden. 163 Auch die Bedeutung des Suizids unterlag den Einflüssen der Popularisierung, die sich sowohl quantitativ als qualitativ auswirkten. Text- und Leservielfalt hatte sich durch die geschilderten Marktbedingungen enorm verändert, so daß „im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts [...] eine öffentliche Auseinandersetzung um den Suizid" beginnen konnte. 164 Allerdings war dieser Prozeß nicht unumstritten. Sowohl in der allgemeinen Aufklärungsdebatte als auch in der speziellen Auseinandersetzung über den Suizid wurde Kritik an allzuviel Öffentlichkeit laut. War Wissen wirklich jedem/r zuträglich? Oder durften bestimmte Informationen nicht für zu viele zugänglich sein? Hier ging es nicht nur um die Gefährdung der Hypochondristen durch zu viele medizinische Kenntnisse;165 oder um die indirekten Folgen von ausufernder Lektüre. Publizität stand vielmehr generell zur Diskussion. Das zeigt sich offensichtlich in der großangelegten Debatte über „Volksaufklärung", die die Gemüter in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts reichlich erregte und die 1780 zur berüchtigten Preisfrage an der Berliner Akademie führte: „Est-il utile au peuple d'être trompé, soit qu'on l'induise dans de nouvelles erreurs, ou qu'on l'entretienne dans celles où il est?" 166

162 BLOCK, Georg Wilhelm: Nachschrift zu der Abhandlung über den Selbstmord, in: Deutsches Magazin, Bd. 3, 1792 S. 430-484, hier: S. 447. 163 Siehe Kap. 2.1.3. und Kap. 2.2.3. 164 BAUMANN, Ursula: Überlegungen zur Geschichte des Suizids (letztes Drittel 18. Jahrhundert bis erste Hälfte 20. Jahrhundert), in: SIGNORI, Gabriela (Hrsg.): Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften, Tübingen 1994, S. 311-340, hier: S. 319. 165 Siehe Kap. 3.1.3.1. u. Kap. 3.3.3.2. 166 Zitiert nach: SCHNEIDERS, Werner: Die Wahre Aufklärung, Freiburg/München 1974, S. 28. Vgl. auch: ebd., S. 135f.; HELLMUTH, Eckhart: Aufklärung und Pressefreiheit. Zur Debatte der Berliner Mittwochsgesellschaft während der Jahre 1783 und 1784, in: Zeitschrift für Historische Forschung, Bd. 9, 1982, S. 315-345, hier: S. 320ff.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Um genau diese Frage ging es auch in vielen Texten, die die Möglichkeiten, Suizide zu verhindern, thematisierten. Was war wirksamer, der Schrecken abergläubischer Vorurteile oder gezielte Aufklärung? Während Julius F. Knüppeln als Maßnahme gegen die Ausbreitung des Suizids ausdrücklich Publizität nennt, denn diese diene „sowohl zur Aufrechterhaltung guter Sitten und Aufdeckung schändlicher Handlungen, als auch zur Bekanntmachung der Ursachen des Selbstmords"167, warnt ein anonymer Autor des „Deutschen Zuschauers": „Es giebt Verbrechen, die so delikat behandelt werden müssen, daß schon ihr Name giftig ist." 168 Aufklärung im wörtlichen Sinne stand also gegen Zensur. Doch auch die Diskussion darüber, was man öffentlich sagen durfte und was nicht, trug mit zur Ausweitung der Textualität bei. Auch die Artikulation eines Tabus bricht das Tabu. Stillstand brächte erst das Schweigen oder die leere Formelhaftigkeit.169 Worin bestand die Bedrohlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung? Oberstes Anliegen der Kritiker von zu viel Diskussionen über den Suizid war es, das moralische Stigma dieser Tat zu bewahren. Aus eben diesem Grund mußte auch von übermäßigen Mitleidsbezeugungen abgesehen werden, damit diese nicht die „Abscheu" verdeckten, mit der man immer einen Suizid betrachten solle.170 Der Urheber dieser Meinung in der „Deutschen Zeitschrift für die Jugend und ihre Freunde" nahm letztlich vorweg, was zweihundert Jahre später die Forschung ganz ähnlich interpretierte: Die größere Öffentlichkeit der Debatte veränderte die Bedeutung des Suizids. Besonders persönlichere Beiträge machten das Nachempfinden der jeweiligen Situation möglich. Zeitschriftenartikel schilderten einzelne Fälle und gaben dabei bisweilen deren spezielle Hintergründe mit an, so daß neue Identifikationsmöglichkeiten der Leser mit Suizidenten geschaffen wurden. Das las sich etwa wie folgt: „In der Mitte des Aprils erhenkte sich zu Düsseldorf ein Bergbeamter in seinem Schlafzimmer. Ein in seinem häuslichen Betragen, Amts- und Religionspflichten, ganz ordentlicher Mann. Keine Ursache zu einer solchen That war auszuspüren; nur wußte man, daß Melancholie von jeher tief in seinem Charakter gelegen hatte."171

Die Suizidforscher und Historiker Michael MacDonald und Terence R. Murphy charakterisieren diese Form der Darstellung zutreffend als „a new mode of communication that changed the ways in which people learned about 167

KNÜPPELN, Julius F.: Ueber den Selbstmord, Gera 1790, S. 226. Wahrscheinliche Ursachen der häufigen Selbstmorde unserer Tage, in: Der Deutsche Zuschauer, Bd. 7, 1788, S. 166-173, hier: S. 170. 169 Solcher Stillstand ist das Kennzeichen der Diktatur und kann nur über tatsächliche repressive Maßnahmen durchgesetzt werden. In meiner Aussage, daß negative Diskussion eines Themas auch eine Fortsetzung der Diskussion ist, beziehe ich mich offensichtlich auf Michel FOUCAULT. (FOUCAULT, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983 (Original 1976), S. 18.) 170 Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, 1785, S. 302. 171 Journal von und für Deutschland, 1. Jahrg., 1784, 4. Stück, S. 477, Rubrik Todesfalle. 168

3.2. Die Entdeckung des Individuums

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suicides and interpreted their significance". 172 Durch die Berichterstattung in der Presse seien die Suizidenten zu „members of the community of its readership" geworden, die ähnliche Erfahrungen und Gefühle wie die Leser umgetrieben hätten. Daher wäre eine Verdammung der Toten schwerer gefallen. 173 Diese Art der Darstellung stand im Einklang damit, daß allgemein die Betrachtung des Suizids sich gewissermaßen zweiteilte. Wie wir an anderer Stelle gesehen haben, stellten sich neben die abstrakten Theorien moralphilosophischer oder strafrechtlicher Art Überlegungen über das Schicksal einzelner Menschen. 174 Das Wissen, das in den Zeitschriften über einzelne Fälle transportiert wurde, trug maßgeblich zu dieser Bedeutungsveränderung bei. Es scheint in dieser Interpretation außerdem noch eine andere Entwicklung durch, die für die Bewertung des Suizids genauso wie für das allgemeine Denken im ausgehenden 18. Jahrhundert entscheidend war: die Konzentration auf das Individuum.

3.2.3. Das Individuum

als Fall

Für die Vorstellungen vom Suizid ebenso wie für die Wahrnehmung der Hypochondriehäufigkeit war die Veränderung der Perspektive von entscheidender Bedeutung: der Mensch, das Individuum rückte in das Zentrum der Aufmerksamkeit. 175 Menschenkenntnis wurde zur Basis für die verschiedensten Bereiche: „Man muß die Menschen kennen gelernet haben, wenn man ihnen Gesetze, Religion, und Wissenschaften anmessen will." 176 So wie der Hypochonder sich selbst, sein eigenes Wesen beobachtete und in Briefen und in der Autobiographie das eigene Ich im Mittelpunkt stand, so wurde außerdem das fremde Individuum zum Thema. Fallgeschichten wurden als äußerst beliebter Gegenstand von Publikationen entdeckt, Beschreibungen des eigenen Lebens und fremder Erfahrungen veröffentlicht. Zusammenfassen kann man diese Entwicklungen unter dem Begriff Individualisierung. Diese Individualisierung war eng mit der zuvor beschriebenen Popularisierung verbunden; beide waren Grundbedingungen für die hier zu analysierende Wahrnehmung von Epidemienphänomen. Beide wirkten in- und miteinander auf die Veränderung von Bedeutungen ein. Das Interesse am Individuum machte Publikationsmöglichkeiten nötig, ebenso wie die Ausweitung des Medienmarktes und dessen neue

172 MACDONALD, Michael/MURPHY, Terence R.: Sleepless Souls. Suicide in Early Modern England, Oxford 1990, S. 221. 173 Ebd., S. 336. 174 Siehe Kap 2. 175 Vgl.: VOVELLE, Michel: Einführung, in: ders. (Hrsg.): Der Mensch in der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1996, S. 7-41, hier: S. 8: „Das 18. Jahrhundert, dessen Grenzen dahingestellt sein mögen, hat den Menschen in den Mittelpunkt seiner Weltanschauung und Reflexion gestellt." 176 WEIKARD, Melchior Adam: Einleitung, in: Der philosophische Arzt, 4 Stücke, 1775-1777, hier: 1. Stück, 1775, unp.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Strukturen überhaupt erst Optionen für andersartige Sichtweisen eröffneten. Die Personenbezogenheit des Romans ist bereits erwähnt worden. Die kleinräumige Veröffentlichungsform der Zeitschriften schuf Nischen für kürzere Beobachtungen, Fallgeschichten, Exempel. Die Anfänge lagen hier in ersten kurzen Anmerkungen über Hochzeiten und Todesfälle; allmählich rückte der Blick dem (Mit-)Menschen näher, die Beschreibungen wurden ausführlicher, die Absonderlichkeiten erhielten mehr Aufmerksamkeit. So heißt es im „Plan zum gegenwärtigen Journale" in der ersten Ausgabe des „Journals von und für Deutschland": Der Hauptteil der Zeitschrift solle dazu dienen, „die in einem so weiten Reiche zerstreuten merkwürdigen Deutschen und Deutschlands Merkwürdigkeiten bekannter zu machen, mit einem Worte, vorzüglich dem individuellen Menschen und individuellen Dingen bestimmt seyn." 177 Gemäß diesem Programm wurde dann eben auch mancher „Selbstmord aus Melancholey" erzählt.178 3.2.3.1. Der Andere. Geschichten des einzelnen Menschen Wodurch ließ sich überhaupt der einzelne Mensch bestimmen? Worin bestand dessen Wesenskern? Solche philosophischen Fragen hatten die weitreichendsten Konsequenzen, bis hinein in die Konstitution von Freiheits- und Gleichheitsrechten etwa oder die Sorge für das Wohl des einzelnen.179 Ohne diese Linie der ,großen' Philosophie weiterzuverfolgen, ohne diese Geschichte zu erzählen, will ich die Hinwendung zum einzelnen Fall, zum ,Anderen', wie sie sich im 18. Jahrhundert abspielte, in mehreren konkreten (Fachbereichen aufzeigen. Zur Sprache kommen: Medizin, Erfahrungsseelenkunde und Rechtswissenschaft. So zeigt sich das Zusammenwirken von vielen verschiedenen Disziplinen, die sich durch die Beschäftigung mit ihrem neuen Objekt selbst veränderten, beziehungsweise erst erschaffen wurden. Der Medizin kam im Prozeß der Individualisierung eine Vorreiterrolle zu, da in den angewandten Bereichen dieses Fachgebiets offensichtlich seit jeher der einzelne Patient behandelt wurde, auch wenn die Fortentwicklung der Theorien sich jenseits solcher Praxis abspielte und die entstehende Klassifizierungsmacht der Krankheit die Person der Kranken in ihren Besonderheiten außer acht ließ. 180 Hinweise darauf, inwiefern die individualisierte Perspektive in die 177

Plan zum gegenwärtigen Journale, in: Journal von und für Deutschland, 1. Jahrg., 1784, 1. Stück, unp. 178 Neben dem vorhin zitierten Fall eines Bergbeamten (siehe FN 171), z.B.: Selbstmord eines melancholischen Schusters aus Zahna, in: Journal von und für Deutschland, 3. Jahrg., 1786, 1. St., S. 95. 179 HEINZ, Jutta: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York 1996, S. 40. 180 Vgl. zur Entstehung des .modernen' Krankheitsbegriffs, der klare Abgrenzungen und Verläufe kennt: HESS, Volker: Von der semiotischen zur diagnostischen Medizin. Die Entstehung der klinischen Methode zwischen 1750 und 1850, Husum 1993, S. 31.

3.2. Die Entdeckung des Individuums

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medizinische Theorie übernommen beziehungsweise dort eigenständig neu entwickelt wurde, geben die Veröffentlichungen von Fallsammlungen. Damit begannen die Hallenser Ordinarien Georg Ernst Stahl und Friedrich Hoffmann in den 1730er Jahren. Sie stellten ihre Konvolute in offenen Gegensatz zur bisherigen spekulativ-theoretischen Medizin.181 Voraussetzung waren Veränderungen sowohl des Erkenntnisinteresses als auch und damit verbunden der Darstellungsweisen. Die Konzentration auf den einzelnen Patienten bot die Möglichkeit, die empirische Methode neu zu etablieren. Circa ab den 1770er Jahren bezogen die Plädoyers für eine stärkere Berücksichtigung von Empirie und Beobachtung auch die Belange des Individuums mit ein. Wenn die Stichwörter Empirie und Beobachtung im Zusammenhang mit dem 18. Jahrhundert fallen, dann rückt automatisch die Anthropologie ins Blickfeld. In deren empirischer Ausrichtung lag eine der Möglichkeiten, sich von spekulierender Philosophie abzugrenzen.182 Gleichzeitig formulierten Anthropologen ihr Interesse am Menschen auf ganz verschiedene Weise und kehrten sogar gegen Ende des 18. Jahrhunderts oftmals zu theoretischen Systemen zurück. 183 Inzwischen war eine andere ,Disziplin' geboren worden, die sich in ihrem Programm noch mehr als die Anthropologie auf den einzelnen Menschen konzentrierte und Fälle, Briefe, Kommentare und persönliche Aufzeichnungen veröffentlichte. Hier wurde aber nicht nur der einzelne (manchmal auch die einzelne) näher entdeckt und als Thema etabliert. Es galt auch, das Innenleben des Menschen genauer und eben mit den Mitteln der Empirie zu erkunden. Eine solche Erforschung des/r einzelnen wies in Richtung Seelenkunde oder, moderner ausgedrückt, in Richtung Psychologie. Was bilden im ausgehenden 18. Jahrhundert Psychologie und Empirie zusammengenommen? Erfahrungsseelenkunde. „Gäbe es doch wahre moralische Aerzte," sinniert Karl Philipp Moritz, „welche so wie die phisikalischen, sich mehr mit Individuis beschäftigten, und von ihren Heilungsarten, zum algemeinen Besten, öffentliche Berichte abstatteten!" Es sei doch „fast schändlich, daß man bis izt noch Schneckenhäuser und Spinnen beinahe mehr als den Menschen seiner Aufmerksamkeit wert gehalten hat!" 184 Wäre sie nicht Erfahrungsseelenkunde genannt worden, dann hätte diese neue Wissenschaft vom Menschen „Experimentalseelenlehre" geheißen, was 181

GEYER-KORDESCH, Johanna: Medizinische Fallbeschreibungen und ihre Bedeutung in der Wissensreform des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Bd. 9, 1990, S. 7-19. 182 Siehe auch Kap. 1.2.1 und Kap. 1.2.2. 183 HEINZ, Wissen vom Menschen, 1996, S. 47 f. 184 MORITZ, Karl Philipp: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfarungs-Seelenkunde. An alle Verehrer und Beförderer gemeinnüziger Kentnisse und Wissenschaften, und an alle Beobachter des menschlichen Herzens, welche in jedem Stande, und in jeglichem Verhältniß, Wahrheit und Glückseligkeit unter den Menschen thätig zu befördern wünschen, in: Deutsches Museum, Bd. 1, 1782, S. 485-503, hier: S. 487 u. S. 491.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

zeitweilig zur Diskussion stand und die empirische Methode stärker betonte.185 Ein sehr ähnlicher Titel ist uns bereits an anderer Stelle untergekommen, nämlich als es um die Vermittlung zwischen Philosophie und Medizin und die daraus entstehende Anthropologie ging. Als einer der ersten hatte Johann Gottlob Krüger den „Versuch einer Experimentalseelenlehre" gewagt. 186 Worin bestanden die Verbindungen der Erfahrungsseelenkunde zur Anthropologie? Natürlich interessiert hier nicht die bloße Parallelität der Titelfindungen. Vielmehr ist zu beachten, daß einerseits die Entfaltung eines anthropologischen Erkenntnisinteresses die Entstehung der Erfahrungsseelenkunde extrem förderte, indem sie es legitimierte, den Menschen und außerdem auch seine seelische Komponente zu erforschen. Andererseits entwickelte die Erfahrungsseelenkunde die anthropologische Perspektive weiter, ja sie ist sogar als Konkurrenzunternehmen zur Anthropologie zu verstehen.187 Denn während die Anthropologie sich um Kategorisierungen bemühte und nach Ausflügen in die Empirie verstärkt zur theoretischen Auseinandersetzung zurückkehrte, setzte beispielsweise Moritz in seinem erfahrungsseelenkundlichen Projekt auf die Veröffentlichung von Beobachtungen und Beschreibungen persönlicher Lebensläufe. 188 Einige Überschriften aus dem ersten Band des Magazins für Erfahrungsseelenkunde lesen sich wie folgt: „Ein Schreiben aus Schlesien über einen Blödsinnigen", „Einige Nachrichten von dem Leben des seeligen Herrn Matthias Klug", „Geschichte eines Inquisiten Friedrich Wilhelm Meyer aus den Kriminalakten gezogen" und so fort. 189 Moritz bestimmte explizit, daß ,,[i]n einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde [...], insbesondere anfänglich, der eingestreuten Reflexionen so wenige als möglich seyn" sollten.190 Es war durchaus 185

HEINRITZ, Charlotte: Wiedergelesen. Karl Philipp Moritz: „Vorschlag zu einem Magazin einer Erfarungs-Seelenkunde", in: BIOS, Bd. 9, 1996, S. 213-225, hier: S. 213. 186 KRÜGER, Johann Gottlob: Versuch einer Experimental-Seelenlehre, Halle 1756. Siehe Kap. 1.2.1. 187

SCHINGS, M e l a n c h o l i e , 1 9 7 7 , S . 2 8 .

188 Vgl.: KAISER, Marita: Zum Verhältnis von Karl Philipp Moritz' Psychologischer Anthropologie und Literarischer Selbstdarstellung, in: BARKHOFF, Jiirgen/SAGARRA, Eda (Hrsg.): Anthropologie und Literatur um 1800, München 1992, S. 120-140, hier: S. 128. Allerdings übertreibt Kaiser etwas, wenn sie feststellt, „Moritz' gesamte psychologischen Erkenntnisse und Einsichten beruhen ausschließlich auf autobiographischen Texten von Betroffenen und auf biographischen Berichten [...]" (Ebd.) 189 Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 1, 1783, 1. Stück. In diesem Sinne ist das von MAUCHART herausgegebene „Repertorium" dem Moritzschen Konzept ähnlich, während JAKOBS „Grundriß der Erfahrungs-Seelenlehre" ein theoretischer Entwurf bzw. ein Lehrbuch sein will. (Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften, 1792-1793; JAKOB, Ludwig Heinrich: Grundriß der Erfahrungs-Seelenlehre, 3. verb. Aufl., Halle 1800 (1. Aufl., 1791).) 190 Grundlinien zu einem ohngefähren Entwurf in Rücksicht auf die Seelenkrankheitskunde, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, 1783, 1. Stück, S. 31-38, hier: S. 31. WEIKARD, der den eher populärwissenschaftlichen Flügel der Anthropologie vertrat (HEINZ, Wissen vom Menschen, 1996, S.41), folgte hingegen in seinem „Philosophischen Arzt"

3.2. Die Entdeckung des Individuums

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umstritten, wie die Empirie im Verhältnis zur theoretischen Schlußfolgerung und Überlegung gewichtet werden sollte. Oder, wie es Immanuel Daniel Mauchart faßte, was der Unterschied zwischen „empirischer" und „rationaler" Psychologie sei.191 Ein Blick in das „Psychologische Magazin" von Carl Christian Schmid macht die Schwierigkeiten dieser Differenzierung deutlich. Einerseits grenzte sich Schmid in seiner Vorrede gegen Moritz' Zeitschrift ab, denn in seinem Projekt „sollen nicht nur rohe Materialien niedergelegt, sondern auch Versuche mitgetheilt werden, die schon vorhandenen Stoffe unter allgemeine Begriffe zu ordnen, und Naturregeln von möglichster Allgemeinheit, Bestimmtheit [...] aufzustellen." 192 Andererseits standen die im zweiten und dritten Band abgedruckten Hypochondrie-Geschichten in erfahrungsseelenkundlicher Tradition.193 Zwar waren sie etwas ausführlicher als bei Moritz, doch wird ebenfalls jeweils nur eine Biographie geschildert, nicht etwa aus mehreren übergeordnete Schlüsse gezogen. Und was noch entscheidender ist: Die Basis der Schilderung ist die „engste Verbindung" des Verfassers mit dem Kranken, die es ermöglicht habe, „ihn von vielen Seiten zu beobachten, welche anderen, die mit ihm lebten, verborgen blieben, und in seinen innern Gemüthszustand zu blicken, von dem andere nur die Wirkungen sahen." 194 Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, daß, egal unter welchem Vorzeichen, in den letzten Jahrzehnten vor 1800 Darstellungen von persönlichen Bezügen nichts Fremdes mehr hatten. Die Erkundung der menschlichen Natur hatte viele der deutschen Aufklärungsschriftsteller gefangen genommen. 195 Der Einfluß, der von der Erfahrungsseelenkunde und anderen Psychologien auf die Geisteswelt des 18. Jahrhunderts ausging, war demnach erheblich. Die hier

noch dem traditionellen philosophischen Raisonnement. Seine Kapitel bearbeiten entsprechend Themen wie „Von der Phantasie oder Einbildungskraft", „Von dem philosophischen Geiste", „Von dem Charakter und Temperamente des Philosophen". Allerdings fügte er bereits hier und dort persönliche Erfahrungen ein und stellte seine eigene Krankheitsgeschichte vor, um seine Überlegungen zu untermauern. (WEIKARD, Der philosophische Arzt, 1775/1776, 2. u. 3. Stück.) Weikards Kompendium wurde 1790 und 1798 jeweils in zwei Bänden in Frankfurt wieder aufgelegt. Jede der Ausgaben ist inhaltlich überarbeitet, wenn auch die Gliederung beibehalten wurde. 191 MAUCHART, Immanuel Daniel: Vorrede, in: Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften, Bd. 1, 1792, S. III-XVIII, hier: S. III ff. 192 SCHMID, Carl Christian Erhard: Vorrede, in: Psychologisches Magazin, Bd. 1,1796, unp. 193 Geschichte eines Hypochondristen, in: Psychologisches Magazin, Bd. 2, 1797, S. 276-348; Geschichte einer Hypochondrie, in: ebd., Bd. 3, 1798, S. 112-155. 194 Geschichte einer Hypochondrie, in: Psychologisches Magazin, Bd. 3, 1798, S. 113f. 195 KAUFMANN, Doris: Dreams and Self-Consciousness. Mapping the Mind in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, in: DASTON, Lorraine (Hrsg.): Biographies of Scientific Objekts, Chicago/London 2000, S. 67-85, hier: S. 68. Anders als Kaufmann (ebd., S. 69) würde ich den Zweck dieser Erforschungen des eigenen und des fremden Wesens aber nicht darin sehen, daß „bürgerliche identity" kreiert werden sollte.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

entwickelten Ideen reichten bis in die literarische Produktion hinein. Als bekanntestes Beispiel wäre „Anton Reiser" zu nennen, der Roman, in dem Karl Philipp Moritz seine autobiographischen Erkundungen umsetzte. 196 Auch das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" wandte sich gezielt an „Gelehrte und Ungelehrte" 197 und war somit durchaus auf „Breitenwirkung" ausgerichtet. 198 Der Anspruch des Magazins war daher keine rein wissenschaftliche Analyse und Debatte. Es stellte eher ein Konglomerat aus verschiedensten Ansätzen dar. Wenn auch unter der Priorität, etwas „zur Beförderung der Menschenkenntniß" beizutragen, 199 zielte es außerdem darauf ab, die Leser und Leserinnen zu unterhalten. 200 Ein Thema, das diesen vielfältigen Aspekten gerecht werden konnte, war der „Selbstmord", dessen Ursprüngen man auf den Grund zu gehen suchte, dessen Darstellung anhand von Beispielen aber auch Skurrilität und Tragik lieferte. 201 Überhaupt waren Hypochondrie, Suizid und Melancholie sowohl für das psychologische als auch für das publizistische Interesse naheliegende Themen: Es ließen sich exemplarisch menschliche (Un-)Tiefen beschreiben und außerdem eine breite Resonanz seitens der Leserschaft erwarten. Offensichtlich wirkten hier die zwei grundlegenden Neuerungen der Jahrzehnte nach 1750 synergetisch zusammen. Ohne die Entdeckung eines psychologischen Gegenstandes ,Mensch' und ohne die extrem veränderten Publikationsmöglichkeiten wäre das Wissen über die uns hier interessierenden Phänomene oder Krankheitszustände weder in dieser Form entwickelt, noch in diesem Maße verbreitet worden, wie es Lesende im späten 18. Jahrhundert erlebten. Der Blick auf das Individuum betrachtete immer die persönlichen Umstände und berücksichtigte oft Krankheiten oder Seelenempfindungen, denn dafür waren die Augen durch den Einfluß der Medizin besonders gut geschult. So konnte neben theoretischen Überlegungen eine zumindest gleichwertige zweite Betrachtungsebene entstehen. Daß, wie der zeitweilige Mitherausgeber Karl Friedrich Pockels selbst in seiner „Revision" bemerkte, die meisten Beschreibungen in den ersten 196

MORITZ, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, Heilbronn 1886 (Orginal 1785-1790). 197 Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, Bd. 1-10, 1783-1793. 198 SCHINGS, Melancholie, 1977, S . 28. 199 Geschichte eines Selbstmords aus Verlangen seelig zu werden, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 1, 1783, 3. Stück, S. 28-32, hier: S. 28. 200 Vgl..· KERSHNER, Sybille: Karl Philipp Moritz und die „Erfahrungsseelenkunde". Literatur und Psychologie im 18. Jahrhundert, Herne 1991, S. 101. 201 Vgl.: Geschichte eines Selbstmords aus Verlangen seelig zu werden, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 1, 1783, 3. Stück, S. 28-32; Eigener Aufsatz von einem Selbstmörder unmittelbar vor der That, in: ebd., S. 32-39; Ein neuer Werther. Auszug aus einem Briefe, in: ebd., Bd. 3, 1785, 3. Stück, S. 115-120; Merkwürdige Beispiele von Lebensüberdruß, in: ebd., Bd. 6, 1788, 3. Stück, S. 22—41; Selbstmord aus Rechtschaffenheit und Lebensüberdruß, von: L Bendavid, in: ebd., Bd. 9, 1792, 2. Stück, S. 1-9.

3.2. Die Entdeckung des Individuums

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Bänden des Magazins aus der „Krankheitsseelenkunde" stammten, weist außerdem wohl tatsächlich auf die besondere Vorliebe von Autoren wie der Leserschaft für „alles Fürchterliche und Grauenvolle" hin. 202 Zugleich gab es aber auch eine theoretische Begründung für diese Auswahl, die im übrigen psychologische Forschung bis ins 20. Jahrhundert hinein bestimmte, nämlich die Annahme, aus der Beobachtung von abweichendem Verhalten könne auf menschliche Grundmuster geschlossen werden. Bei der Erfahrungsseelenkunde handelte es sich weniger um eine ausdifferenzierte Disziplin als um ein interdisziplinäres Projekt. 203 Oder, um es anders zu fassen: die Beiträge, die explizit unter den Titel „Erfahrungsseelenkunde" gestellt wurden, symbolisieren nur besonders ausdrücklich jene allgemeine Tendenz, der wir hier nachgehen wollen und die ich als die neue Konzentration auf den einzelnen Menschen eingeführt habe. Entsprechend sollte keine einseitige Einflußnahme der Erfahrungsseelenkunde auf andere Wissensgebiete veranschlagt werden. Vielmehr ist besser von einem wechselseitigen Austausch auszugehen. So übernahmen etwa Rechtswissenschaftler Überlegungen aus der entstehenden Seelenwissenschaft, ebenso aus der Anthropologie und aus der traditionellen wie der philosophischen Medizin. 204 Andererseits stellten sie in Fallsammlungen selbst reiches Material zur Verfügung und betrieben den zugrundeliegenden Perspektivwechsel auch aus Gründen, die innerhalb ihrer eigenen Disziplin lagen. Denn ohne die große Debatte über den Strafzweck, ohne die Einbeziehung von naturrechtlichen Argumentationen wäre es genauso obsolet wie undenkbar gewesen, sich dem einzelnen Delinquenten zuzuwenden. 205 Ein Kristallisationspunkt dieser verschiedensten Einflüsse war die Debatte über die ,Zurechnungsfähigkeit ' 2 0 6 Wo die Frage beantwortet werden sollte, welche Umstände auf die Willensbeziehungsweise Handlungsfreiheit eines Menschen einwirken konnten, mußten auch die körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen behandelt wer202

POCKELS, Karl Friedrich: Revision der drei ersten Bände dieses Magazins, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 4, 1786, 1. Stück, S. 1-56, hier: S. 1. 203 Vgl.: KERSHNER, Karl Philipp Moritz, 1991, S. 25. 204 Siehe auch Kap. 2.2.3. 205 Vgl.: GREVE, Ylva: Die Unzurechnungsfähigkeit in der „Criminalpsychologie" des 19. Jahrhunderts, in: NIEHAUS, Michael/ScHMiDT-HANNISA, Hans-Walter (Hrsg.): Unzurechnungsfähigkeiten. Diskursivierungen unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1998, S. 107-132, hier: S. 107. 206 Dieser Begriff wurde erst von Feuerbach eingeführt. (Nach GSCHWEND, Lukas: Zur Geschichte der Lehre von der Zurechnungsfähigkeit. Ein Beitrag insbesondere zur Regelung im Schweizerischen Strafrecht, Diss. Zürich 1996, S. 113.) Zuvor sprach man einfach von „Zurechnung". Vgl. zur juristischen Debatte über dieses Thema auch: KAUFMANN, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die Erfindung der Psychiatrie in Deutschland 1770-1850, Göttingen 1995, S. 315.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

den. Die Überschneidungen mit medizinischen und frühen psychologischen Problemstellungen werden hier offensichtlich (und sie sind uns bereits in Zusammenhang mit der strafrechtlichen Bewertung des Suizids begegnet207). Man denke nur an die zahlreichen anthropologischen Untersuchungen über die Wirkung der Leidenschaften und der Einbildungskraft oder die medizinischen Abhandlungen über die Ursachen von Wahnsinn und Hypochondrie. Indem diese Themen auch in der juristischen Debatte zunehmend berücksichtigt wurden, begann sich die forensische Medizin als neu entstehende Vermittlerin zwischen den Fakultäten zu etablieren, die neben der Klärung von Todesursachen Gutachten über „den Gemüthszustand der Inquisiten" erstellte.208 Der Inquisit war allerdings oftmals eine Inquisitin, zählte doch der , Kindsmord' zu den prominentesten Untersuchungsgegenständen. Nicht nur zum Problem der Verhinderung solcher Taten, sondern auch zur Zurechnungsfähigkeit der Täterinnen gab es in den 1780er und 1790er Jahren eine interdisziplinäre Debatte. 209 In der Diskussion über den Kindsmord wird außerdem die Verbindung zwischen der Berücksichtigung der Zurechnung und der Verwendung von Falldarstellungen deutlich. Beide Ansätze zusammen ermöglichten es, die betroffenen Frauen auch als Opfer zu sehen, als Opfer ihrer Umstände.210 Schließlich änderte sich der Tonfall, in dem der männliche Berichterstatter schrieb, und es wurde versucht, die körperlichen Schmerzen, Vorgänge, Empfindungen der Täterin nachvollziehbar zu machen. Nicht nur die Perspektive, sondern auch die Sprache wurde persönlicher.211 „[...] und nun erschien, an einem heissen Tage, nach vorangegangenen Wehen, die Geburtsarbeit. Wer denkt sich hier nicht die Gebährende mit Mitleid. Alle Gefäße ihres Leibes scheinen sich zersprengen zu wollen: jedes Nervchen der empfindlichen Mutter scheint von Dolchen zerrissen zu werden. Hier sollte nicht selbst plötzlich [...] ein hitziges Fieber entstanden sein?" 212

Um solche Umstände zu berücksichtigen, sollte von den Rechtsgelehrten noch viel öfter als üblich „einem Arzte jene Untersuchung über den Thäter aufgegeben" werden. 213 In der Praxis dienten medizinische Gutachten, wenn eines eingeholt wurde, dem Gericht als Material, bestenfalls als Ratschlag. Eine entsprechende gesetz207

Siehe Kap. 2.2.3. Ueber die Glaubwürdigkeit der Medizinalberichte in peinlichen Rechtshändeln, Berlin 1780, S. 64. 209 Einen wichtigen Anstoß für diese Debatte gab die Preisfrage von 1780 „Welches sind die besten ausführbaren Mittel, dem Kindermord Einhalt zu thun?", die 4 0 0 Einsendungen provozierte. (Nach: NIEHAUS, Michael: Andere Zustände. Kindermörderinnen im ausgehenden 18. Jahrhundert und ihre Zurechnungsfähigkeit, in: ders./ScHMlDT-HANNlSA, Unzurechnungsfähigkeiten, 1998, S. 85-106, hier: S. 87.) 208

210

Vgl.: ebd. Ueber die Glaubwürdigkeit der Medizinalberichte, 1780, S. 82-94. 2 2 > Ebd., S. 86. 213 Ebd., S. 95. 211

3.2. Die Entdeckung des Individuums

229

liehe Regelung gab es vor dem 19. Jahrhundert nicht.214 Zwischen Medizinern und Juristen bestanden Kompetenzstreitigkeiten darüber, wer die Verantwortlichkeit eines Delinquenten beurteilen sollte.215 Noch dazu erhoben auch Vertreter der philosophischen Disziplin Anspruch auf dieses Entscheidungsgebiet, waren sie doch traditionell die eigentlichen Erforscher des Menschen und damit der menschlichen Seele gewesen. 216 Aus solchen Konflikten braucht man allerdings nicht zu schließen, daß die Wortmeldungen der Mediziner auf dem Gebiet der Zurechnungsfähigkeit „revolutionär" gewesen wären. 217 Jedoch vermehrten die Auseinandersetzungen die Debatte und zeigen an, wie groß das Interesse an diesem Thema war, das letztlich das Wesen des Menschen und seiner Verbrechen beleuchten sollte. Grundlegend für diese relative Offenheit war einerseits, daß sowohl die medizinische als auch die juristische Disziplin sich in einem Zustand des Überdenkens und Reformierens befanden. Es war die Zeit der Gesetzbuchentwürfe und der philosophischen Medizin. Andererseits müssen die persönlichen Kontakte innerhalb der Gelehrtenrepublik beachtet werden. Es entspricht der Virulenz der Debatte über die Zurechnungsfähigkeit, daß in den Fallsammlungen der Juristen wie der Gerichtsmediziner viele der veröffentlichten Gutachten in diesen Überschneidungsraum der Fakultäten fielen. Dem Thema Zurechnung ist die Differenzierung zwischen verschiedenen Angeklagten wesenseigen. Ebenso wichtig war das Bemühen, aus der Darstellung von einzelnen Beispielen Schlüsse auf die allgemeine Konstitution des Menschen zu ziehen, Verhaltensweisen erklärbar zu machen, Zusammenhänge zwischen physischen und psychischen Bedingungen herzustellen. Entsprechend gab selbst Ernst Ferdinand Klein in der Vorrede zum ersten Band seiner „Annalen" an, einige der Darstellungen würden sich „durch die Merkwürdigkeit der Personen" auszeichnen, „andere durch den Anlaß zu psychologischen Betrachtungen." 218 Es ging Klein also keineswegs nur um juristische Abstraktionen. 214

LORENZ, Maren: Kriminelle Körper - Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg 1999, S. 255. 215 Vgl.: KERSHNER, Karl Philipp Moritz, 1991, S. 70. 216 KAUFMANN, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die Erfindung der Psychiatrie in Deutschland 1770-1850, Göttingen 1995, S. 316. (Kaufmann verweist auf Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", 1792, S. 146: „Wenn also jemand vorsätzlich ein Unglück angerichtet hat, und nun [...] ausgemacht werden muß, ob er damals verrückt gewesen sei oder nicht, so kann das Gericht ihn nicht an die medizinische, sondern müßte (der Inkompetenz des Gerichtshofes halber) ihn an die philosophische Fakultät verweisen.") 217 GREVE, Ylva: „Richter und Sachverständige". Der Kompetenzstreit über die Beurteilung der Unzurechnungsfähigeit im Strafprozeß des 19. Jahrhunderts, in: BERDING, Helmut/KupPEL, Diethelm/LoTTES, Günther: Kriminalität und abweichendes Verhalten. Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 69-104, hier: S. 72. 218 KLEIN, Ernst Ferdinand: Vorrede, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preussischen Staaten, Bd. 1, 1788, S. III-VI, hier: S. IV. Allerdings waren die Beeinflussungen tendenziell einseitig; offenbart doch ein Blick auf die

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Vielmehr bildeten persönliche Geschichten von Angeklagten und Straffälligen einen Großteil seiner Sammlung. Nicht nur die Debatte über Zurechnungsfähigkeit wurde durch die dargestellten Einzelfälle weiter vorangetrieben, sondern das Feld der Rechtswissenschaft insgesamt erweitert. Juristen wurden zunehmend dafür zuständig, über die besonderen Umstände einer Tat zu urteilen. 219 Das bedeutete allerdings nicht, daß Moralisierungen außen vor blieben, ebensowenig wie der pädagogische Anspruch abgelegt wurde. 220 Außerdem erfüllten die Fallgeschichten das Bedürfnis nach Unterhaltung. So dienten Klein zwar gerichtliche Akten als Quelle, die er durch Kommentare und eindeutige Überschriften ergänzte, zu lesen war aber oft nichts anderes als Schauergeschichten. Die Abläufe einer Ermordung wurden vielfach en détail geschildert. Klein hatte nach eigenem Bekunden die Fälle so ausgewählt, „daß sie auch denjenigen Lesern, die keine Rechtsgelehrten sind, eine angenehme und nützliche Leetüre verschaffen werden." 221 Indizien für das weit verbreitete Interesse an Devianz, am abweichenden Fall als Unterhaltungs-, Anschauungs- und Forschungsobjekt lassen sich noch viele angeben. Geschichten aus den „Criminalakten" finden sich auch bei Mauchart und im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde". 222 Sogar in einer „Zeitschrift für Freunde der schönen Künste, des Geschmacks und der Moden" konnte man kurz vor der Wende zum 19. Jahrhundert eine Rubrik „Criminelle Verbrechen" finden, die der Herausgeber damit begründet, daß „Criminal-Prozesse [...] für jeden dem der Mensch werth ist," von großem Interesse seien. „Wir lernen dabei den Menschen in so mancher Gestalt und in so verschiedenen Modificationen seiner Kräfte kennen". 223 In eben diesem Sinne sollten die Fallsammlungen nicht nur juristische Entscheidungsmöglichkeiten aufzeigen, sondern das Interesse an persönlichen Geschichten befriedigen.

Liste der Pränumeranden, daß sich neben einigen Behörden und Bibliotheken nahezu durchgängig Juristen eingetragen hatten. 219 Vgl.: MCCARTHY, John Α.: „Ein Verbrechen, wozu man gezwungen wird, ist kein Verbrechen mehr". Zur Spannung zwischen Rechtspflege und Aufklärungsmoral im 18. Jahrhundert, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, Bd. 20, 1996, S. 22-44, hier: S. 32f. 220 Mit dem Problem der moralischen Bewertungen werden wir uns noch ausführlicher beschäftigen müssen. Siehe Kap. 3.2.3.3. 221 KLEIN, Vorrede, in: Annalen der Gesetzgebung, Bd. 1, 1788, S. IV. 222 Etwa: Geschichte eines Inquisiten Friedrich Wilhelm Meyer aus den Kriminalakten gezogen, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 1, 1783, 1. Stück, S. 16-20; Geschichte des Inquisiten Daniel Völkners aus den Kriminalakten gezogen vom Herrn Referendarius Frölich, in: ebd., 2. Stück, S. 10-18; Auszüge aus Criminal-Acten, in: Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften, Bd. 1, 1792, S. 183-198 u. Bd. 3, 1793, S. 101-120. 223

Berlin. Eine Zeitschrift für Freunde der schönen Künste, des Geschmacks und der Moden, Bd. 1, 1799, S. 165-172, hier: S. 165.

3.2. Die Entdeckung des Individuums

231

Der Blick auf die einzelnen, das Anormale, den Delinquenten unterlag somit auch den allgemeinen Kommerzialisierungs- und Popularisierungsprozessen. Am deutlichsten wird diese Entwicklung, wenn man die ebenfalls in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts entstehende Form der Kriminalerzählung betrachtet. Im Vergleich mit Vorläuferphänomenen - zu nennen wäre hier etwa die französische Pitavaltradition des 17. Jahrhunderts - ist wieder entscheidend, daß sich die Kriminalerzählung von der juristischen Rekonstruktion der Tat ab- und der Motivation des Täters zuwandte.224 Wieder wird, zumindest von einzelnen Autoren, die Untersuchung der Verantwortlichkeit für die Tat in den Mittelpunkt gestellt,225 allerdings bereits aus einer anderen Perspektive als bei den Fallsammlungen à la Klein, aus einer gewissermaßen „paradoxen" Perspektive.226 Indem der Verfasser auch sein eigenes Empfinden mit in die Erzählung einbrachte, also nicht nur den Tathergang und die vorangehenden Umstände schilderte, verstärkte er einerseits noch die Subjektivierung der Darstellung, andererseits stellte er sich zwischen die juristisch vorgegebene Verurteilung des Angeklagten und das moralisch denkbare Mitgefühl. Diese Akzentverschiebung ist aber nicht als Entmoralisierung zu verstehen, vielmehr ging es gerade um die moralische Bewertung der Tat - diese konnte dann auch anders ausfallen als die juristische. 227 August Gottlieb Meißner gilt allgemein als der Begründer dieser Art von Kriminalerzählung in der deutschen Literatur.228 Und so war gleich seine erste in den „Skizzen" veröffentlichte Geschichte sinnbildlich für die eben umrissene Paradoxie. Die Hauptfigur konnte „Blutschänder, Mordbrenner und Mörder" sein „und doch ein Jüngling von edler Seele". 229 Ein Prediger beschreibt hier das merkwürdige Schicksal eines jungen Mannes, den er als Gefängnispriester traf. Die Subjektivierung der Erzählung wird noch dadurch verdoppelt, daß nach einleitenden Worten der Bericht des Gefangenen selbst wiedergegeben wird. Dessen Heirat wurde durch unglückliche Zufälle vereitelt, worauf er 224

DAINAT, Holger: „Wie wenig irgend ein Mensch für die Unsträflichkeit seiner nächsten Stunde sichere Bürgschaft leisten könne!" Kriminalgeschichten in der deutschen Spätaufklärung, in: SCHÖNERT, Jörg (Hrsg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991, S. 193-204, hier: S. 195. 225 Etwa: BÜHLER, Carl Friedrich: Kriminalfälle für Rechtskundige und Psychologen, Frankfurt/Leipzig 1794, S. 7; MOCHLER, Karl: Kriminalgeschichten. Aus gerichtlichen Akten gezogen, Theil 1, Berlin 1792, S. 6. 226 DAINAT, Holger: Der unglückliche Mörder. Zur Kriminalgeschichte der deutschen Spätaufklärung, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 107, 1988, S. 517-541, hier: S. 522. 227 Daher geht RIEDEL fehl, wenn er annimmt, Meißners Kriminalerzählungen würden sich dadurch auszeichnen, daß sie Abschied von einer moralisierenden Darstellung nähmen. (RIEDEL, Anthropologie und Literatur, 1994, S. 139.) 228 SCHÖNERT, Jörg: Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 9, 1983, S. 49-68, hier: S. 49. 229 MEISSNER, August Gottlieb: Skizzen, Bd. 1, Leipzig 1778, S. 68-94.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

und seine schwangere Geliebte ins Gefängnis gerieten. Bei verzweifelten Fluchtversuchen tötet er einen Wächter und brennt die Hütte nieder, wo die Frau gefangen gehalten wird. Er wird somit nicht als böswilliger Mensch dargestellt, sondern als Opfer der Umstände, der nach dem Gesetz zwar die Verurteilung zum Tode verdiente, dem Erzähler aber als der „arme Jüngling" erscheint, der ihm „so werth geworden" sei. 230 Die Suche nach einer neuen Perspektive auf die Delinquenten läßt sich auch in den Vorreden zu anderen Sammlungen von Kriminalgeschichten finden. Die Herausgeber zeigen ihre Kenntnisse über die damals aktuellen anthropologisch-psychologischen Theorien. Außerdem wird ein hoher Anspruch an die Weiterentwicklung der Menschenkenntnis, der Gerechtigkeit, ja letztlich der Vervollkommnung der Menschen erhoben. Gerade die eindringliche Darstellung von Einzelschicksalen schien hierfür geeignet. In diesem Sinne bestehen Carl Friedrich Bühler und Karl Müchler darauf, mehr als eine bloße Aneinanderreihung von interessanten Geschichten zu liefern, es gelte vielmehr, die Umstände einer Tat zu beleuchten.231 Warum mußte dieses Ziel immer wieder betont werden, das uns heute doch so vertraut erscheint? Es wird deutlich, daß hier erst noch argumentative Sicherungsanker gesetzt werden mußten. Denn die Individualisierung der Perspektive war keine Selbstverständlichkeit. Noch galt es die Linien abzustecken, entlang derer das Thema verhandelt werden sollte. 3.2.3.2. Biographien, Romane und ein „Traumgesicht" Möchte man die Linie der Popularisierung von Fallgeschichten weiterführen, dann landet man voraussichtlich irgendwann bei Christian Heinrich Spieß. Spieß war einer der produktivsten Autoren des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Neben seinen Gespenster- und Ritterromanen, die uns hier weniger interessieren dürfen, machte er sich vor allem durch die Publikation von Biographiensammlungen einen Namen. In der Art der Darstellung den Autoren Müchler oder Meißner ganz ähnlich, widmete er verschiedene Bände „Kindermördern", „Wahnsinnigen" und „Selbstmördern".232 Das Konvolut über die Selbstmörder 230 231

Ebd., S. 94. BÜHLER, Kriminalfälle, 1794, S. 7F.; MÜCHLER, Kriminalgeschichten, Theil 1, 1792,

S. 10.

Vgl. auch: Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle aus dem Gebiete des peinlichen Rechts. Ein Lesebuch für Juristen und Nichtjuristen, Nürnberg 1794, Vorrede unp. 232 SPIESS, Christian H.: Biographien der Kinder-Mörder. Aus gerichtlichen Akten gezogen und romantisch dargestellt. Seitenstück zu den Biographien der Selbstmörder, Leipzig/Neustadt 1802; ders.: Biographien der Selbstmörder, Leipzig u.a. 1785-1802; ders.: Biographien der Wahnsinnigen, Leipzig 1795-1796. V g l . z u S p i e ß : PROMIES, W o l f g a n g : C h r i s t i a n H e i n r i c h S p i e ß , o d e r : W a h n s i n n in g u t e r G e -

sellschaft, in: ders.: Reisen in Zellen und durch den Kopf. Ansichten zur Aufklärung, Tübingen 1997, S. 47-83.

3.2. Die Entdeckung des Individuums

233

war insofern das erfolgreichste, als es nicht nur Neuauflagen, Fortsetzungsbände und sogar Übersetzungen erlebte, sondern außer den üblichen Raubkopien auch mehrere Nachahmungen. 233 Der zeitgenössischen Vorliebe folgend, möchte ich mich im folgenden auf die „Selbstmörder" konzentrieren. Es wäre verlockend, die Bände von Spieß oder seinen Nachschreibern Tzschirner, Hoff und Albrecht schnell in die Ecke der Trivialität zu stellen. So einfach ist es aber nicht. Sie lassen sich auch nicht auf bloße Trittbrettfahrer des Goetheschen „Werther" reduzieren234 - ganz davon abgesehen, daß dieser Zug zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung von Spieß' „Biographien" tatsächlich schon eine Weile abgefahren war. Das Thema Suizid hatte vielmehr im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts allgemein viel Resonanz gefunden. Die Biographien griffen diese Tendenz auf und verbanden sie mit dem geschilderten Interesse an persönlichen Geschichten. Dabei waren sie zwar von den psychologisierenden Ansätzen der Erfahrungsseelenkunde beeinflußt, reichten aber letztlich weit über diese hinaus; beziehungsweise blieben sie, wie es die meisten Kritiker des 18. Jahrhunderts gesehen hätten, hinter den seelenwissenschaftlichen Bemühungen zurück. In ihrer eigenwilligen Mischung aus publikumswirksamer Darstellung, moralisierender Erzählweise und dem Anspruch, ,reale' Fälle zu schildern, betrieben diese Texte eine extreme Popularisierung des Themas Suizid. Denn die Vielzahl der Veröffentlichungen legt nicht zuletzt kommerzielle Gründe nahe - Suizidgeschichten ließen sich gut vermarkten. 235 Die Veröffentlichung von (guten) Selbstmörder-Biographien wurde trotz dieser Publikationsflut weiter gefordert: „Wirklich gute Biographien der Selbstmörder würden für die Moral und Psychologie gewiß von großem Nut233

ALBRECHT, Joh. Fr. C.: Neue Biographien der Selbstmörder, Frankfurt/Leipzig 1794; HOFF, Heinrich Georg: Biographische Skizzen von Selbstmördern, als eine Nachlese zu den Biographien der Selbstmörder, Leipzig 1793; TZSCHIRNER, Heinrich Gottlieb: Leben und Ende merkwürdiger Selbstmörder, nebst einigen Abhandlungen über den Selbstmord, Weissenfels 1805. 234 So: WILLEMSEN, Roger: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Der Selbstmord in Berichten, Briefen, Manifesten, Dokumenten und literarischen Texten, Köln 1986, S. 13-52, hier: S. 23. Willemsen ordnet im übrigen unkorrekter Weise auch KNÜPPELN unter die Biographienautoren (ebd.). Knüppeln nahm zwar in sein Buch „Ueber den Selbstmord" (1790) auch Selbstmörderviten auf, ging aber - im Gegensatz zu Spieß, Abrecht, Tzschirner und Hoff - weit darüber hinaus und erörterte das Thema auch auf einer allgemein-theoretischen Ebene. Fehl läuft auch DÖRNERS psychologisierende Interpretation, daß der Erfolg von solchen „Schauerromanen" im Zusammenhang mit der deutschen Tendenz (während des 18. Jahrhunderts) stünde, statt für rationale Aufklärung eher für „romantischen Emotionalismus" empfänglich zu sein. (DÖRNER, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1984, S. 198 ff. (Original 1969).) 235 Dem widerspricht meiner Ansicht nach auch nicht, daß Spieß laut PROMIES den Profit aus seinen Büchern verschenkt hat. Er reagierte mit seinen Veröffentlichungen doch auf einen im Publikum vorherrschenden Geschmack. (PROMIES, Christian Heinrich Spieß, 1997, S. 53.)

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

zen sein können. 236 Bereits in Moritz' „Vorschlag zu einem Magazin" waren „Selbstmörder" als vielversprechendes Thema aufgeführt worden. 237 Warum wurden Spieß' Bücher oder auch die seines Konkurrenten Albrecht diesen Anforderungen nicht gerecht? Alle Autoren reklamierten doch für sich, die einzig authentischen Fälle darzustellen. Man warf sich gegenseitig vor, zu romanhaft zu schreiben, zu viel zu den tatsächlichen Begebenheiten' hinzu zu erfinden. 238 Während beispielsweise Tzschirner für sich beanspruchte, einen Beitrag zur Menschenkunde zu leisten, und versuchte, sich gegen den Rivalen Spieß abzugrenzen, der dieses Ziel verfehle und nur „ein Gemisch von Wahrheit und Dichtung" geschrieben habe, 239 wandte sich Spieß gegen (angebliche oder tatsächliche) nicht „ächte" Ausgaben seines Werkes. 240 Diese Betonung der eigenen Authentizität war unter anderem Ausdruck eines Konkurrenzkampfes zwischen Autoren, die denselben Gegenstand gewählt hatten und um die Gunst des Publikums buhlten. Letztlich bewegten sich jedoch alle Autoren im weiten Feld zwischen Schauerromanen und Kriminalbiographien. 241 Ihre Darstellungen ähnelten sich weitgehend. So hätte sich auch die Kritik eines Rezensenten an Spieß, es würde ihm zu sehr um Unterhaltung und Staunen gehen, sein Ziel, „auf das Herz [...] zu wirken", würde er aber erreichen, 242 genausogut auf Tzschirner oder Albrecht beziehen können. Ebenso sei es offensichtlich, daß die Sammlung von Spieß und Albrecht „für den gemischten bloss leselustigen Haufen überhaupt keine Leetüre sey, und auch ohnehin ganz anders beschaffen seyn müsse, wenn sie für Psychologie und Moral Ausbeute geben solle." 243 Sie seien halt nicht mehr als „rührende[..] Dinger!" 244 Außerdem wurde den biographischen Darstellungen vorgeworfen, sie würden zur Nachahmung einladen. 245 In dieser Hinsicht hatten sie dann schließlich doch etwas

236

Versuche zum Selbstmord, in: Beiträge zur Beruhigung und Auklärung, Bd. 4, 1795, S. 810-817, hier: S. 816. 237 MORITZ, Vorschlag zu einem Magazin, 1782, S. 488. 238 vgl. etwa auch: KNÜPPELN, Ueber den Selbstmord, 1790, S. 229: „Solche Biographien unglücklicher Menschen müssen nach der Wahrheit dargestellt werden, [...] man muß durch keine romanhafte Ideen nur täuschen und blenden wollen." 239 TZSCHIRNER, Leben und Ende merkwürdiger Selbstmörder, 1805, S. VI. 240 YGI · SPIESS, Biographien der Selbstmörder, Prag/Leipzig 1792: Vorrede zur „einzig ächte[n] vom Verf. verbesserte^] Originalausgabe". 241 Vgl.: KAISER, Gerhard: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, 4. Aufl., Tübingen 1991 (Original 1976), S. 175. 242 Rezension zu: SPIESS, Biographien der Selbstmörder, in: Revision der Literatur für die Jahre 1785-1800 in Ergänzungsblättern zur Allgemeinen Literatur Zeitung, 3. Jahrg., 1804, S . 165. 243 Rezension zu: ALBRECHT, Neue Biographien der Selbstmörder, 4. Band und SPIESS, Biographien der Selbstmörder, 3. Aufl., in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 5, 1793, S. 95 f., hier: S. 95. 244 Ebd. 245 Etwa: BLOCK, Nachschrift zu der Abhandlung über den Selbstmord, 1792, S. 468. We-

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mit Goethes „Werther" gemeinsam. Aber die Werther-Debatte soll uns erst später beschäftigen. Im weiten Feld zwischen den Selbstmörderviten von Spieß und Konsorten, dem Briefroman „Werther" und den Fallbeschreibungen oder Briefdokumenten der Erfahrungsseelenkunde ist Anton Baumgartners Buch „Fanny [...] Ein Traumgesicht" angesiedelt.246 Wie die Selbstmörderbiographien als Mixtur aus fiktionalen und ,realen' Elementen zu verstehen, wie diese auch mit einer gehörigen Portion Moralismus ausgestattet, behandelte „Fanny" den Tod der Fanny von Ickstadt, die in München vom Frauendom stürzte.247 Die detaillierte und subjektivierte, da zu großen Teilen von Fanny selbst gesprochene Darstellung zielte darauf ab, die (vermeintliche) Selbstmörderin vor vorschnellen Urteilen der Leser zu bewahren, seien diese positiver oder negativer Art: man solle sie weder verdammen, noch zur Romanheldin stilisieren.248 Bei näherer Betrachtung des „Traumgesichts" ergibt sich eine merkwürdige Zwischenstellung von Baumgartners Buch: Sprachlich, insbesondere in der Vorrede, selbst empfindsam verklärend, wird das Mitleid der Leserschaft für den tragischen Vorfall geweckt, Fanny zu einem reinen Geschöpf voller Schönheit stilisiert. Die Figur Fanny selbst wendet sich jedoch gerade gegen solche Beschönigungen ihrer Tat, wobei ihr Hauptanliegen die moralische Besserung des Lesers oder der Leserin zu sein scheint. Speziell die Gefahren übermäßiger Empfindsamkeit, wie sie auch durch das Lesen der entsprechenden Romane gefördert würden, werden ausführlich diskutiert. In dieser - zumindest aus der Entferntheit eines analysierenden Blicks auffallenden - Zwiespältigkeit läßt sich Baumgartner letztlich insofern in generelle Tendenzen seiner Zeit einordnen, als diese eben gerade nicht durch scharflinige Abgrenzungen, sondern

gen der Gefahr der Nachahmung halte er die „bekante Biographie der Selbstmörder für eins der gefährlichsten und schädlichsten Bücher". 246 BAUMGARTNERS Schrift ist uns bereits im Zusammenhang mit dem Thema Sozialkritik und Suizid begegnet. Siehe Kap. 2.3.1. BAUMGARTNER, Anton: Fanny, die den 14ten Wintermonat 1785 in München vom Fraunthurm stürzte. Ein Traumgesicht, München 1785. Vgl.: METKEN, Sigrid (Hrsg.): Die letzte Reise. Sterben, Tod und Trauersitten in Oberbayern, Ausstellungskatalog, München 1984, S. 176f. 247 Der Fall der Fanny von Ickstadt schlug sich noch in weiteren Darstellungen nieder: HOFF, Biographische Skizzen, 1793, S. 9; KNÜPPELN, Ueber den Selbstmord, 1790, S. 234; NESSELRODE, F. G. v.: Die Leiden der jungen Fanni. Eine Geschichte unserer Zeit in Briefen, Augsburg 1785. Fehl geht im übrigen ENGEL in ihrer Einschätzung, die Darstellung Nesselrodes würde sich auf den Fall der Christiane Laßberg beziehen, der in bezug zu Goethes „Werther" gestellt wurde. (ENGEL, Ingrid: Werther und die Wertheriaden, Diss. St. Ingbert 1986, S. 171.) Um Nesselrodes Darstellung entbrannte außerdem ein heftiger Streit zwischen den Angehörigen der Toten und dem Autor, bei dem es wie so oft um die Wahrhaftigkeit der Darstellung ging: An das Publicum über die Broschüre: Die Leiden der jungen Fanni, in: Journal von und für Deutschland, 2. Jahrg., 1785, 7. Stück, S. 3-16. 248

BAUMGARTNER, Fanny, 1785, S. 18.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

vielmehr durch mannigfaltige Ambivalenzen geprägt war.249 Hintergrund war etwa das komplizierte Verhältnis von Empfindsamkeit und Aufklärung, das in den Selbstmorddiskurs ebenso wie in die von Baumgartner thematisierten Gefahren des Romanelesens hineinwirkte. Eben der Roman zählte andererseits zu jenen Darstellungsformen, die im 18. Jahrhundert den/die einzelne(n) ins Visier nahmen. Der Roman ist uns bereits in einem andern Teil dieser Untersuchungen, als es um die Entwicklung der Anthropologie ging, als diejenige Gattung begegnet, die sich par excellence mit der „inneren Geschichte" eines Menschen befaßte. 250 Ich habe dort ausgeführt, daß diese Literarisierung einiges zur Entwicklung der anthropologischen Perspektive beigetragen hat. Es sei daher nur noch kurz vermerkt, daß sich im Zuge von Ästhetisierung und Geniekult nicht nur die Inhalte, sondern auch das Schreiben von Romanen individualisierte.251 Manche formale und inhaltliche Vorgabe begann an Kraft zu verlieren. 3.2.3.3.

Individualisierungen und Epidemien. Wo bleibt die Moral? (II)

Gleich in welcher Textform, es begegnet uns Individualisierung als ein herausragendes Kennzeichen.252 Sie läßt sich als basale Andersartigkeit des späten 18. Jahrhunderts beschreiben: Der allgemeine Bedeutungszuwachs des Individuums, die Ansätze zu einer „modern conception of person" 253 wurden gleichsam zu Leitthemen des aufklärerischen Diskurses und waren mit keiner vorangegangen Entwicklung vergleichbar.254 Die Fortsetzung der Debatte wurde unter anderem dadurch gewährleistet, daß die Herausgeber der Zeitschriften immer wieder an ihre Leserschaft appellierten, ihnen Material über Fälle zukommen zu lassen. Dazu zählten auch solche Seufzer: „Wie sehr wünschte ich von den Lebensumständen dieses Unglücklichen, seinen ersten Anlagen, seiner Erziehung, u.s.w. mehr zu erfahren!" 255 249

Nach den Artikeln im „Deutschen Biographischen Archiv" war Baumgartner Jurist und ab 1799 „Policeydirektor" in München. Außerdem zeichnete ihn eine reiche Publikationstätigkeit aus. 250 Siehe Kap. 1.2.2. 251 Vgl.: GOETSCH, Paul: Einleitung. Zur Bewertung von Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, S. 1-23, hier: S. 18. 252 Vgl. auch die Untersuchung BREWERS über die vielfaltigen Darstellungen des Mordes an Martha Ray (London, 7. 4. 1779), die das große Interesse an persönlichen Geschichten in England deutlich macht. (BREWER, John: Liebe und Wahnsinn. Die Narrativik der Empfindsamkeit und die Inszenierung des Leids im Roman des späten achtzehnten Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie, Jahrg. 8, 2000, S. 321-343.) 253

MACDONALD/MURPHY, Sleepless Souls, 1990, S. 342. Vgl.: SCHNEIDERS, Hoffnung auf Vernunft, 1990, S. 23; VIERHAUS, Einleitung, 1985, S . 12 f. 255 Kommentar zu: Geschichte des ehemaligen Inspektors am Joachimsthalischen Gymnasium Johann Peter Drieß, nach einer mündlichen Erzählung des Herrn Moses Mendelssohn 254

3.2. Die Entdeckung des Individuums

237

Der Mensch zog die geballte Aufmerksamkeit auf sich, zumindest idealiter gedacht. In vielen Fragen interessierte lediglich der weiße Mann, nämlich immer dann, wenn es um Grundsätzliches, Grundrechte, Grundlagen ging. Alle anderen galten schnell als abnorme Sonderfälle. Indem aber gerade Fallbeschreibungen als Darstellungs- und Erkenntnismöglichkeit viel (Papier-)Raum gegeben wurde, erhielten auch diese .Anderen', diese Abweichungen von der ,Norm' ihren Platz. In der Zeit der Pathologisierung rückten auch Melancholiker und Hypochonder auf die Seite der Sonderbaren, dorthin, wo Suizidenten seit langem eingeordnet worden waren. Wie dargestellt, beschäftigten sich viele der Fallbeschreibungen genau mit diesen Zuständen, Problemen, Todesfällen. Besteht hier ein Zusammenhang zur Wahrnehmung von einer epidemienhaften Verbreitung dieser Phänomene? Dazu ist zunächst festzuhalten, daß die Konzentration auf den einzelnen Fall und die Berichterstattung darüber Voraussetzungen dafür waren, daß quantifizierende Aussagen über Krankheitsphänomene gemacht werden konnten. Hinzu kam die Statistik, die im eigentlichen Sinne erst eine Erfindung in der Mitte des 18. Jahrhunderts war.256 Mit dieser Methode des Zählens und Messens wurde eine Wahrnehmungskategorie für die Steigerung von Krankheitszahlen und ähnlichem geschaffen. Die Macht der Statistik als Argument rührt schließlich nicht von ungefähr; sie besitzt den Anschein größtmöglicher Objektivität. Nicht umsonst griff Moehsen in seinem Vortrag über die „Berlinischen Selbstmörder" zu unterstützendem Zahlenmaterial.257 Und trug es in den .öffentlichen' Raum hinaus. Im Verlauf dieser Untersuchungen sind wir immer wieder auf die Frage nach der Beständigkeit von moralischen Konzepten gestoßen.258 Wie wirkte sich in diesem Zusammenhang die beschriebene Individualisierung der Perspektive aus? Am Beispiel von Meißners „Skizzen" haben wir bereits gesehen, daß gerade die moralische Bewertung ein wichtiger Bestandteil seiner Erzählungen

und einem schriftlichen Bericht des Herrn Assessor Hagen, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 1,1783, 2. Stück, S. 18-28, hier: S. 27. Vgl. auch: POCKELS, Revision der drei ersten Bände dieses Magazins, 1786, S. 26: „Wie sehr wünschte ich, daß mir jemand von der Erziehung und den vorhergehenden Schicksalen dieses Inspektor Drieß" mehr mitteilen könne. Ähnlich: MEISSNER, August Gottlieb: Lezter Aufsatz eines Selbstmörders, in: Zeitschrift für Aeltere Literatur und Neuere Leetüre, 2. Jahrg., 1784, 4. Quart., 2. Heft, S. 71-74, hier: S. 73. 256 Vgl.: SÜSSMILCH, Johann Peter: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen, Berlin 1741. 257 MOEHSEN, Johann Karl Wilhelm: Betrachtungen über die Berlinischen Selbstmörder, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 12, 1788, S. 200-223, hier: S. 222 f. Siehe Kap. 2.3.1. 2 58 Siehe etwa Kap. 1.3.3.2., Kap. 2.1.4. und Kap. 2.2.2.

238

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

war. Die Fortdauer moralischer Beurteilungen läßt sich sehr deutlich auch in Hinsicht auf den Suizid zeigen. Der Suiziddiskurs wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert ganz maßgeblich durch die Betrachtung von einzelnen Fällen bestimmt und verändert. Offensichtlich ist jedoch auch, daß das Plädoyer für eine eingehendere Betrachtung der einzelnen Fälle niemals damit verbunden war, den Selbstmord als moralisch .erlaubt' einzuschätzen. Folglich darf,Individualisierung' nicht mit gänzlicher Abkehr von moralischen Maßstäben gleichgesetzt werden. Bisweilen verlief die Stoßrichtung gerade gegenläufig, standen doch innerhalb des aufklärerischen Denkens Moral und moralische Verbesserung des Menschen hoch im Kurs. 259 Die Schlußfolgerungen von MacDonald und Murphy, die auf eine weitreichende Entmoralisierung des Diskurses hinauslaufen, müssen daher zumindest für den deutschsprachigen Diskurs relativiert werden. Wie erwähnt halten MacDonald und Murphy fest, daß durch die Ausweitung der Berichterstattung über Selbstmorde engere kommunikative Verbindungen von Lesern und Suizidenten entstanden. Darüber hinaus geht das Autorenduo davon aus, daß die Zeitungsartikel durch ihre knappe und sachliche Darstellung, die sich jeglicher Bewertung enthalten hätte, das Thema Selbstmord entmoralisiert hätten. 260 Damit stehen sie in Widerspruch zu ihrer eigenen Einschätzung, der Journalismus sei durch „blood and politics" 261 bestimmt gewesen - was alles andere als kurze, sachliche Berichte impliziert. Außerdem vernachlässigen sie die Vielfältigkeit des Diskurses. 262 Betrachtet man beispielsweise die Suizidberichte in den „Schlesischen Provinzialblättern", dem „Journal von und für Deutschland" und der „Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde", so wird deutlich, daß von einer völligen Loslösung von moralischen Konzeptio-

259

Vgl.: DÜLMEN, Richard van: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung. 16.-18. Jahrhundert, München 1994, S. 225. 260 MACDONALD/MURPHY, Sleepless Souls, 1990, S. 301. 261 Ebd., S. 304. 262 Der Suiziddiskurs spannt sich zwischen ganz widersprüchlichen Eckpunkten auf, die u.a. bestimmt werden durch die neue Masse der verfügbaren Informationen und die Versachlichung der Darstellungen, durch pädagogische Ansprüche und moralisierende Bewertungsgrundsätze und durch Kommerzialisierung und das Streben, den Geschmack des Publikums zu befriedigen. Die zuletzt genannte Tendenz korrespondiert mit einem Grundzug des Medienmarktes im 18. Jahrhunderts; denn die Umgestaltung des Buch- und Zeitschriftenmarktes, wie sie das 18. Jahrhundert kennzeichnete, wird längst nicht mehr als Teil eines abgeschlossenen Systems betrachtet, das lediglich auf die Vermehrung von abstrakten Werten wie Bildung oder Aufklärung ausgerichtet war. Vielmehr wurde in der Historiographie der letzten Jahre betont, wie sehr diese Entwicklungen wirtschaftlichen Aspekten, etwa der Erfüllung von Konsumwünschen, gefolgt sind. Vgl. etwa (in bezug auf England) exemplarisch: PLUMB, J. H.: The Commercialization of Leisure, in: MCKENDRICK, Neil: The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-Century England, Bloomington 1982, S. 265-285.

3.2. Die Entdeckung des Individuums

239

nen nicht die Rede sein kann. Vielmehr durfte ein Hinweis auf die Unzulässigkeit der Tat selten fehlen. 263 Stellvertretend sei die „Deutschen Zeitung für die Jugend und ihre Freunde" herausgegriffen. Deren Darstellungen reichten weit über eine bloße Schilderung der Vorgänge hinaus. 264 Vielmehr zeigt sich die Trennlinie, die die Texte selbst zogen, indem sie allgemeine Erläuterungen - oft mit moralisch-pädagogischem Impetus - und die Einzelfalldarstellungen voneinander abgrenzten. Der allgemeine Teil war quasi noch den alten rein theoretischen Arbeiten verpflichtet und beschränkte sich häufig auf pauschale Verurteilungen des Selbstmords. 265 Selbstmörder konnten so als „Lasterhaftef..]" und ihre Tat als Verbrechen abgeurteilt und dennoch der einzelne Fall dem Publikum als tragisch geschildert werden. 266 Die Darstellung des Schicksals eines einzelnen Menschen wurde aber nicht nur benutzt, um Verständnis zu wecken, sondern konnte ebensogut als abschreckendes Beispiel dienen, das auf individuelle oder gesellschaftliche Mißstände hinweisen sollte. Als Exempel für mangelnde Erziehung wurde etwa der Suizid eines 18jährigen geschildert, dem seine „wahre Bestimmung hier auf Erden" nicht recht vermittelt worden sei, nämlich sich durch Vernunft zu bilden. Als seine Liebe zu einer Schneiderstochter nicht gestattet wurde, „ermordete sich der Thor" - „anstatt [...] fleißig zu lernen, um bald in den Stand zu kommen, die Geliebte zu heiraten."267

263

Schlesische Provinzialblätter, Bd. 1-31, 1785-1800; Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde. Oder Moralische Schilderungen der Menschen, Sitten und Staaten unserer Zeit, 1784-1795 (Von 1784 bis 1787 als „Deutsche Zeitung"); Journal von und für Deutschland, 1784-1792. 264 Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde. Oder Moralische Schilderungen der Menschen, Sitten und Staaten unserer Zeit, 1784-1795. Zutreffend sind hingegen die Argumente MacDonalds und Murphys für die geschilderten Fälle in: Journal von und für Deutschland, 4. Jahrg., 1787, 8. Stück, S. 151-155. 265 Auch die heftige Diskussion um Goethes „Werther" läßt sich dahingehend deuten, daß Goethes Fauxpas darin bestand, auf einen moralisierenden Deckmantel - etwa in Form einer ausgedehnten Schlußrede gegen die Erlaubtheit des Selbstmordes - zu verzichten und sich auf die Entwicklung seines ,Falles' Werther zu beschränken. Vgl. etwa die Kritik LESSINGS in seinem Brief an Johann Joachim Eschenburg, 26. Okt. 1774 (LESSING, Gotthold Ephraim: Sämtliche Schriften, hrsg. v. K. Lachmann, Leipzig 1907, Bd. 18, S. 115 f., zitiert nach: MANDELKOW, Karl Robert (Hrsg.): Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland, Teil 1 1773-1832, München 1975, S. 20f.): „Wenn aber ein so warmes Produkt nicht mehr Unheil als Gutes stiften soll: meinen Sie nicht, daß es noch eine kleine kalte Schlußrede haben müßte? Ein paar Winke hinterher, wie Werther zu einem so abentheuerlichen Charakter gekommen; wie ein anderer Jüngling, dem die Natur eine ähnliche Anlage gegeben, sich dafür zu bewahren habe. Denn ein solcher dürfte die poetische Schönheit leicht für eine moralische nehmen, und glauben, daß der gut gewesen seyn müsse, der unsere Theilnehmung so stark beschäftigt." 266 Deutsche Zeitung, 1785, S. 301 f. 267 Ebd., 1787, S. 398. Ähnlich auch: Ebd., 1790, S. 250f.: Ein wichtiges Mittel zur Verhinderung von Selbstmor-

240

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Die augenscheinliche Widersprüchlichkeit zwischen moralisierenden und verständnisvollen Ansätzen mag zum Teil auch das Produkt einer rhetorischen Vorsicht gewesen sein; man wollte sich gegen den Vorwurf, ein Apologet des Suizids zu sein, schützen. Vor allem war diese Trennung von allgemeiner und individueller Bewertung aber eine generelle Denkfigur des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Im Fall des Suiziddiskurses trug sie darüber hinaus den Ambivalenzen und Brüchen Rechnung, die dadurch entstanden, daß sich die Loslösung vom traditionellen (und weitgehend homogenen) System, in welchem die moralische Verwerflichkeit des .Selbstmords' eindeutig festgeschrieben war, nur als allmählicher Prozeß vollziehen ließ. Nicht zuletzt mangelte es gewissermaßen an einem gleichwertigen Ersatzkonzept. Letztes (hochgestecktes) Ziel fast aller Beiträge war es außerdem, moralisch-pädagogisch auf die Leserinnen) einzuwirken, ihnen Gefahren anhand eines beispielhaften Falles aufzuzeigen und sie selbst auf einen besseren Weg zu führen. Ein ähnlich pädagogischer Anspruch findet sich etwa in Kleins „Annalen": „Daß dieses das gewöhnliche Schicksal solcher Bösewichter sey, können die Volkslehrer bey ihrem Unterrichte nicht fleißig genug einschärfen." 268 Die Schilderung von individuellen Schicksalen und Geschichten bedeutete also keineswegs, daß man von moralischen Maßstäben Abschied nahm. Deren Langlebigkeit sei an einem weiteren Beispiel veranschaulicht: Der anonyme Autor des ,,Bildersaal[s] seltener Selbstmörder" stellt zwar zu Beginn seiner Schrift in Rechnung, daß es vielleicht „Unrecht ist, die Unmoralität oder Moralität eines Selbstmordes nach allgemeinen Regeln zu bestimmen", 269 aber schon im Titel hatte er seine eigentliche Zielsetzung, nämlich einen „Beitrag zur Beurtheilung der Sittlichkeit des Selbstmordes" zu schreiben, vorweggenommen. Die Auswahl der Beispiele,270 spätestens aber die Angriffe gegen den „Sensualismus" im letzten Kapitel, verdeutlichen die Absicht, den Leser/ den sei es, „von Jugend auf dem Menschen seine wahre Bestimmung, die fortschreitende Verädlung seines Wesens, so richtig und werth" zu machen. Vgl. zum moralischen Anspruch des Herausgebers Rudolph Zacharias Becker: WILKE, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, 2000, S. 91. 268 Musketier Kusatz, ein 22jähriger hartnäckiger Bösewicht, in: Annalen der Gesetzgebung, Bd. 2, 1788, S. 109-134, hier: S. 133. Siehe zum Thema Ernst Ferdinand Klein und die Moral Kap. 2.2.2. Vgl. außerdem: NUDOW, Heinrich: Anthropologische Reisen, s.l. 1793, S. 231. Der Verfasser zitiert aus einer Rede, die beim Begräbnis eines Suizidenten gehalten wurde. Dessen „trauriges Beispiel" sei „nüzlich und lehrreich". Wenig später wird auf die möglichen Fehler des Toten verwiesen: „Die erste Vernachlässigung eines Anfangs auch noch so klein scheinenden Fehlers in der Diät, so wie in der Moral, legt oft den Grund und schlägt Wurzel - zu einem in Jahre langem Anwüchse, nie wieder auszurottendem Stamme." (Ebd., S. 234f.) 269

Bildersaal seltener Selbstmörder. Ein Beitrag zur Beurtheilung der Sittlichkeit des Selbstmordes, Berlin 1804, S. IX. 270 Etwa: Der Fall „Selbstmord aus Schwärmerei", in: ebd., S. 20-49, hier: S. 49: „Schwärmerei, zu welchen Abscheulichkeiten und fluchwürdigen Verbrechen verleitest du die Sterblichen!"

3.2. Die Entdeckung des Individuums

241

die Leserin in eine bestimmte - moralisierende - Richtung zu beeinflussen. Denn Laster seien „die reichhaltigsten Quellen des Selbstmordes":271 Besonders sind es Lüderlichkeit, Ausschweifungen aller Art, Verschwendung, und dadurch bewirkter Mangel und physisches Elend, Faulheit und Arbeitsscheu, Geldgeiz und Ehrgeiz, Spielsucht und daraus folgende Verzweiflung, und andere grobe Gebrechen mehr, welche den Sensualisten endlich zur Selbstentleibung führen. 272

Angesichts solcher und ähnlicher Beispiele wäre es also zu pauschal, die Diskursgeschichte des Suizids im 18. Jahrhundert als einförmige Entwicklung hin zu einer völlig säkularisierten und entmoralisierten Sichtweise zu beschreiben. Dagegen ermöglicht es der Blickwinkel des Individualisierungskonzepts, die Veränderungen des Diskurses zu verdeutlichen, ohne dessen Ambivalenzen zu verdecken. Bei der Auseinandersetzung mit .Selbstmördern' genauso wie mit anderen Delinquenten bemühte man sich, neben der generellen Verurteilung des abstrakten Verbrechens den einzelnen Fall zu analysieren, um unter anderem die Ursachen besser erkennen und damit bekämpfen zu können.

3.2.4. Das eigene Ich.

Selbstdarstellungen

Individualisierung bedeutete aber nicht nur, daß sich ein neuartiges Interesse für den Anderen, den Fremden, den Fall entwickelte, sondern außerdem, daß man das eigene Ich erkundete. Schon im Zusammenhang mit dem Phänomen Hypochondrie ist angeklungen, daß dieses Interesse an der persönlichen Innenwelt im Verlauf des 18. Jahrhunderts neue Formen annahm. 273 Angeregt durch die entsprechende Lektüre betrachtete man den eigenen Körper, beobachtete dessen Funktionen und sorgte sich um Abweichungen von vermeintlichen Normen. Ebenso geriet das eigene Seelenleben ins Blickfeld. Bei der Entwicklung solcher Introspektion fielen wiederum verschiedene Medien besonders ins Gewicht. Ganz offensichtlich ist hier die Rolle von Journalen wie dem „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde". Das zeigt ein weiterer Blick in Karl Philipp Moritz' „Vorschlag zu einem Magazin". In diesem Artikel formulierte der spätere Herausgeber programmatisch, daß man schließlich zu keiner Seele einen besseren Zugang habe als zur eigenen. „Wer sich zum eigentlichen Beobachter des Menschen bilden wolte, der müßte von sich selber ausgehen: erstlich die Geschichte seines eignen Herzens von seiner frühesten Kindheit an sich so getreu wie möglich entwerfen; auf die Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit aufmerksam sein, und nichts für unwichtig halten, was jemals einen vorzüglich starken Eindruck auf ihn gemacht hat, [.. .]" 274

271

Bildersaal, 1804, S. 151. Ebd. 273 Siehe Kap. 3.1.3.1. 274 MORITZ, Vorschlag zu einem Magazin, 1782, S. 492. Als Vorläufer, der ebenfalls bereits die Erkenntnismöglichkeiten einer autobiographischen Perspektive betonte, wäre außerdem HERDER ZU nennen. (HERDER, Johann Gottfried: Vom

272

242

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Entsprechend richtete Moritz dann seine seelenkundliche Zeitschrift ein und forderte immer wieder zur Einsendung von persönlichen Zeugnissen auf. 275 Der von Moritz für Veröffentlichungen geschaffene Raum wurde in der Folge rege genutzt, so daß hier möglicherweise einem ohnehin bestehenden Bedürfnis des Publikums entgegengekommen wurde. 276 Es finden sich Briefe, Tagebuchartiges, Aufzeichnungen, Selbstbeobachtungen; und dem Programm des Magazins entsprechend ging es jeweils um besondere, in jedem Fall mitteilenswerte Erscheinungen aus dem Seelenleben.277 Bei manchen der publizierten Se/¿wízeugnisse kann deren tatsächliche .Authentizität' sicherlich bezweifelt werden; oftmals stellt es der jeweilige Einsender so dar, als seien ihm die Briefe oder Aufzeichnungen eher zufällig in die Hände gefallen. Auffällig ist überdies die Offenheit gerade in Beiträgen von weithin bekannten Personen. In fast schon pedantisch erscheinender Detailtreue schildert beispielsweise der Mediziner Marcus Herz seine eigene Erkrankung und Genesung. 278 Daß der Autor mit dem Herausgeber Moritz befreundet war, hat hier sicherlich eine Rolle gespielt. Aber auch das Ziel, einem allgemeinen Interesse zu dienen, wird deutlich. Das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" stand mit dieser Art der persönlichen Veröffentlichungen keineswegs alleine da, aber es fungierte durchaus als Trendsetter. „Selbstgeständnisse" und persönliche Anekdoten fanden sich beispielsweise in den „Beiträgen zur Aufklärung und Beruhigung"; 279 „Vertraute Briefe" veröffentlichte das „Deutsche Magazin" als „Beitrag zur Menschenkenntnis". 280 Nicht zuletzt sind solche Briefe Ausdruck einer neuartigen Form Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume, 1778, in: ders.: Über Literatur und Gesellschaft. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Claus Träger, Leipzig 1988, S. 65-123.) Vgl. dazu: HEINZ, Wissen vom Menschen, 1996, S. 33; PFOTENHAUER, Helmut: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte - am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1 9 8 7 , S. 14. 275 Etwa: Kommentar zu: Geschichte des ehemaligen Inspektors am Joachimsthalischen Gymnasium Johann Peter Drieß, nach einer mündlichen Erzählung des Herrn Moses Mendelssohn und einem schriftlichen Bericht des Herrn Assessor Hagen, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 1, 1783, 2. Stück, S. 18-28, hier: S. 27. 21f

> So: SCHING, Melancholie, 1977, S. 2 8 f .

277

Etwa: Aus einem Tagebuche, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 1, 1783, 1. Stück, S. 44-47; Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette, in: ebd., Bd. 3, 1785, 2. Stück, S. 63-79. 278 HERZ, Marcus: Psychologische Beschreibung seiner eignen Krankheit, in: Magazin der Erfahrungsseelenkunde, Bd. 1, 1783, 2. Stück, S. 44-73. 279 Etwa: Versuche zum Selbstmord, in: Beiträge zur Beruhigung und Aufklärung, Bd. 4, 1795, S. 810-817. (Darin u.a. ein Auszug aus „Der Tannenbauer, eine wahre Geschichte, von ihm selbst beschrieben".) Vgl. allgemein zum aufklärerischen Interesse an Selbstzeugnissen: DÜLMEN, Richard van: Die Entdeckung des Individuums, 1500-1800, Frankfurt a. M. 1997, S. 77. 280 OLSHAUSEN, D. J. W.: Vertraute Briefe. Als Beitrag zur Menschenkenntnis, in: Deutsches Magazin, Bd. 9, 1795, S. 197-208. Vgl. auch: ebd., Bd. 8, 1794, S. 103-111.

3.2. Die Entdeckung des Individuums

243

der Kommunikation, die den Lesern zumindest die Fiktion einer Teilhabe am diskursiven Prozeß ließ: Die Herausgeber veröffentlichten nicht mehr nur die theoretischen Texte sachkundiger Autoren, sondern ermöglichten den Austausch mit Lesern, publizierten Briefe etc. und wandten sich in ihren Kommentaren direkt an ihr Publikum: Diejenigen, welche mir [ . . . ] künftig dergleichen mittheilen wollen, ersuch ich, doch j a so viel Umstände, wie möglich, von der Erziehung, Lebensart und Umständen der Personen beizubringen, welche [ . . . ] sowohl ein Gegenstand des Mitleids, als der Aufmerksamkeit der Nachgebliebenen geworden sind. 281

Noch breiteren Raum als in den Zeitschriften nahm die Betrachtung des eigenen Ichs in den Autobiographien ein. Im Vergleich zu den vorher gängigen „autobiographischen Zweckformen" wandte man sich im späten 18. Jahrhundert dem privaten Leben zu und bemühte sich, Entwicklungslinien aufzuspüren. 2 8 2 Nicht zufällig findet sich hier wiederum Moritz als einer der ersten Autoren und schrieb den wohl subjektivsten Roman des 18. Jahrhunderts. 283 Die solcher Art belebte Muße zur Fremd- und Selbstbeobachtung konnte zwar hypochondrische Wahrnehmungen beziehungsweise Wahrnehmungsverzerrungen fördern, hat aber, wie ich denke, nichts mit Kompensation bürgerlicher Langeweile zu tun. 2 8 4 Die Erfahrungs- und andere Seelenkunden unterstützten die Erforschung des Individuums, indem sie diese zu einem legitimen Gegenstand von Wissenschaft machten und ihr öffentlichen Raum zur Darstellung boten. 285 Mit den Publikationen in Zeitschriften und von Autobiographien haben wir zunächst jene Innerlichkeit verfolgt, die nach außen getragen wurde - wobei offen bleiben muß, welche Beiträge in den Journalen .authentisch' waren beziehungsweise eigentlich den privaten Schrank nicht hätten verlassen sollen. POCKELS, Revision der drei ersten Bände dieses Magazins, 1786, S. 12. MÜLLER, Klaus-Detlef: Die Autobiographie der Goethezeit. Historischer Sinn und gattungsgeschichtliche Perspektiven (erstmals 1976), in: NIGGL, Günter: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, erw. Neuausg. Darmstadt 1998, S. 4 5 9 - 4 8 1 , hier: S. 460. 2 8 3 MORITZ, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, Heilbronn 1886 (Original Berlin 1 7 8 5 - 1 7 9 0 ) . Mein Dank gilt an dieser Stelle Martin Majewski, der Moritz' Werk mit mir diskutierte. 281

282

Ich halte daher nicht viel von der These, ob der politischen Ohnmacht und Untätigkeit hätte das bürgerlich-deutsche Wesen sich in den Bereich des Seelischen flüchten müssen. So besonders: LEPENIES, Melancholie und Gesellschaft, 1998, etwa S. 76 u. S. 198f. SCHINGS hinterfragt zurecht kritisch die Annahme SAUDERS, die psychologische Erkundung des eigenen Ichs sei eine weitere Ersatzhandlung des vom politischen Wirken ausgeschlossenen Bürgertums. (SAUDER, Gerhard: Empfindsamkeit, Bd. 1, Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974, S. 108; SCHINGS, Melancholie, 1977, S. 29.) 2 8 5 Die folgerichtige Weiterentwicklung dieser in Journalen verstreuten Selbstzeugnisse waren eigene Sammlungen für „Originalbriefe". Vgl. etwa: ECKARTSHAUSEN, Karl von: Originalbriefe unglücklicher Menschen. Als Beyträge zur Geschichte des menschlichen Elendes den Freunden der Menschheit geweiht, Brünn 1790. 284

244

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Eingehender wurde der Blick auf das eigene Ich in weniger öffentlicher Form zelebriert, in Tagebüchern und Briefen - Texten, die sich dennoch dem .öffentlichen' Interesse weder gänzlich entziehen konnten, noch wollten.286 Beide Arten der Kommunikation - mit dem Papier und/oder einer anderen Person bestanden selbstverständlich bereits vor dem 18. Jahrhundert, aber in dieser Zeit erreichten sie neue Formen, Ausmaße, Konjunkturen. Themen und Darstellungsweisen veränderten sich. Neben den weiter bestehenden .gelehrten' Briefwechsel trat beispielsweise der weitgehend private - im übrigen vielfach von Frauen kultivierte. Darüber hinaus ließen sich die Beiträge im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" oder in anderen Journalen als Anleitungen für die eigene Seelenerkundung lesen; - genauso wie die Texte über Hypochondrie die Selbstbeobachtung förderten, was sich dann ebenfalls in den privaten Aufzeichnungen niederschlug.287 Wie im Tagebuch ging es in den Brieftexten um die Beschreibung persönlicher Erfahrungen, Eindrücke und Gefühle; neben dem Austausch von Alltäglichkeiten und praktischen Dingen sind das Wesenseigenarten der Gattung, wie sie sich im 18. Jahrhundert entwickelte. In „einem neuen Kult des Briefwechsels" 288 entstand die Möglichkeit, sich über die innersten Dinge des eigenen Ichs auszutauschen. Wo dieser Raum zur Artikulation wuchs, wurde gleichzeitig neues Interesse am eigenen und fremden Innenleben genährt. Wie wirkte sich das auf die Gefühlskultur der Zeit aus? Und: Welches Koordinatensystem spannten die Emotionen allgemein auf?

3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust Das 18. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Aufklärung, also der Vernunft, der Philosophie, der gelehrten Debatte. Ging es hingegen um Gefühle, verwies man lange auf eher literarisch eingeordnete Phänomene. „Sensibility" ist das 286

Nicht nur erschienen bereits etliche tagebuchartige Aufzeichnungen im Verlauf des 18. Jahrhunderts, angefangen mit BERNDS „Lebensbeschreibung", sondern wieder hatte MORITZ bereits in seinem „Vorschlag" auf den besonderen Quellenwert genau dieser Art von Texten hingewiesen. (BERND, Adam: Eigene Lebensbeschreibung, Leipzig 1738; MORITZ, Vorschlag zu einem Magazin, 1782, S. 488 f.) 287 Siehe Kap. 3.1.3.2. 288 STOLLBERG-RILINGER, Europa im Jahrhundert der Aufklärung, 2000, S. 133. Vgl. auch: HABERMAS, Strukturwandel, 1993, S. 113. Die veränderten Kommunikationsmöglichkeiten trugen nicht unwesentlich dazu bei, daß die von der Gesellschaft vorgegebenen Strukturen weniger stark den persönlichen Umgang bestimmten. Soziale Hierarchien verloren zwar keineswegs ihre Bedeutung, aber sie wurden mehr und mehr durch „funktionale Differenzierungen" ergänzt und ersetzt. Es begann die Zeit der WaWverwandtschaften. (Vgl.: WILLEMS, Marianne: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang. Studien zu Goethes „Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***", „Götz von Berlichingen" und „Clavigo", Tübingen 1995, S. 88 f.)

3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust

245

erste Stichwort; die empfindsame Kultur erreichte ausgehend von der britischen Insel bald den deutschsprachigen Raum. Hier treffen wir auf ein früheres Stereotyp zur Beschreibung des späten 18. Jahrhunderts. Als Gegenreaktion zur unterkühlten Rationalität der Aufklärung wären Tendenzen wie „Die Empfindsamkeit" oder „Der Sturm und Drang" entstanden.289 Sie hätten der Vernunft die Gefühle entgegengesetzt und der Mäßigung die Leidenschaft. So leicht sind die Oppositionen aber nicht aufzustellen. 290 Was war Moritz „Vorschlag zu einem Magazin der Erfarungs-Seelenkunde" anderes als ein aufklärerisches Konzept? Was wollte Mesmer anderes als neue Erklärungsmöglichkeiten für Krankheiten aufzeigen? Esoterik und/oder Gefühlserkundungen gehörten mit in diese aufgeklärte Welt. Nicht zuletzt die Blüte der Geheimgesellschaften symbolisierte diese Vorliebe.291 Sicherlich trafen verschiedene Vorstellungen, oft vertreten durch verschiedene Generationen, auf einander - doch sie fanden gleichzeitig unter dem Signum der Aufklärung wieder zusammen. 292 Debatten und Kontroversen wurden innerhalb dieses Rahmens geführt, stets auf der Suche nach der wahren Aufklärung. Die Fronten, die hier aufgezeigt werden sollen, verliefen folglich vielfach innerhalb der Reihen der ,Aufklärer', manchmal sogar innerhalb einer Person. Selbst die Personifizierung altehrwürdiger, rationaler Aufklärung Friedrich Nicolai war nicht vor „Phantasmen" gefeit. Wichtiger noch: Nicolai Schloß diese Überlegungen nicht in seinem Kopf oder in seinem privaten Raum ein, sondern er veröffentlichte seine Erlebnisse und Eindrücke in der „Berlinischen Monatsschrift". 293 Solche Ambivalenz ist charakteristisch für aufklärerisches Denken und entspricht außerdem auf das genaueste den von Böhme und Böhme konstatierten 289

Etwa: KAISER, Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, 1991, S. 29. Hingegen faßt KOSCHORKE Empfindsamkeit als ,jene tiefgreifende Modernisierung des menschlichen Gefühlslebens", die weit mehr als eine kurze literarische Episode gewesen sei. (KOSCHORKE, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 11.) 290 Bereits SAUDER betont, daß Empfindsamkeit nur als Teil der Aufklärung erfaßt werden könne. (SAUDER, Empfindsamkeit, 1974, S. XI.) 291 Vgl. etwa: MULSOW, Martin: Vernünftige Metempsychosis. Über Monadenlehre, Esoterik und geheime Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, in: Neugebauer-Wölk, Monika (Hrsg.): Aufklärung und Esoterik, Hamburg 1999, S. 2 1 1 - 2 7 3 ; MAURICE, Florian: Die Mysterien der Aufklärung. Esoterische Traditionen in der Freimaurerei, in: ebd., S. 2 7 4 - 2 8 7 . 292 Ygi · Ego, Anneliese: .Animalischer Magnetismus' oder ,Aufklärung'. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zum Konflikt um ein Heilkonzept im 18. Jahrhundert, Würzburg 1991, S. VIII f. 293

NICOLAI, Friedrich: Beispiel einer Erscheinung mehrerer Phantasmen nebst einigen erläuternden Anmerkungen, in: Neue Berlinische Monatsschrift, Bd. 1, 1799, S. 3 2 1 - 3 5 9 . Vgl. auch: CRAIG, Charlotte: Nicolai and the Occult, in: TIMM, Eitel (Hrsg.): Subversive Sublimities: Undercurrents of the German Enlightenment, Columbia 1992, S. 7 0 - 7 5 , hier: S. 74.

246

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Effekten des verdrängten „Anderen" der Vernunft. 294 Allerdings durfte dieses „Andere" nicht nur in dunklen Gefilden walten, sondern kam allerorts und offen zu Tage. Denn Empfindsamkeit, auch im Sinne von Nach-Empfinden, war zunächst ein ureigen aufklärerisches Anliegen, wurde hier doch eine neue Zugangsmöglichkeit zur Welt, ein Weg zur angestrebten Erkenntniserweiterung gesehen. 295 Solange der von der Vernunft gesteckte Rahmen eingehalten wurde, waren Gefühle tugendhaft und wertvoll; 296 und sie hatten eine unmittelbare Rolle bei der Kreation von Individualität. 297 Entscheidend und unabdingbar für die Entfaltung des Individuums und seiner Gefühle war jedoch, daß es Raum gab, um sich zu artikulieren. Hier liegt eine wichtige Verbindung zur angedeuteten veränderten Kommunikationskultur im späten 18. Jahrhundert. Wiederum wurden nicht nur in Zeitschriften Innenansichten publiziert. Briefe boten Ausdrucksmöglichkeiten selbst für jene Empfindungen, die in der großen Öffentlichkeit unsagbar gewesen wären. Dazu zählten nicht nur offensichtlich intime Liebesbekenntnisse, sondern auch Klagen über das Elend des eigenen Lebens. Es schreibt Johann Georg Jacobi an Sophie von La Roche: „Seit ein paar Jahren bin ich so wenig zur Ruhe gekommen, habe mehr als einmal gewünscht, in den Schlummer gewiegt zu werden, von welchem man nie mehr erwacht." 298 Solche nach Todessehnsucht schmeckende Äußerungen hätten auf öffentlicherem Papier nicht stehen dürfen. War aber die Ausdrucksmöglichkeit da, so wurde auch Platz für entsprechende Gedanken geschaffen. Es ergab sich daraus jene Verbindung zwischen Briefkultur und hypochondrischer Selbstwahrnehmung, die zuvor angeklungen ist. Hypochondrische Empfindungen psychischer oder physischer Art ließen sich genauso wie Anflüge von Melancholie in Briefen nieder- und festschreiben und dadurch manifestieren, weitertransportieren und wiederholen. 299 Welche Bedeutung Gefühle gewannen, zeigt sich in ganz unterschiedlichen Bereichen: in der sich verändernden literarischen Landschaft; in neuen LesArten; in der Bewertung von Beziehungen und Liebesverhältnissen; ja selbst im Verhältnis zum Sterben und zu den Toten.

294

BÖHME/BÖHME, Das Andere, 1986. 295 Vgl.: JÄGER, Georg: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 1969, S. 20ff.; KRÜGER, Renate: Das Zeitalter der Empfindsamkeit. Kunst und Kultur des späten 18. Jahrhunderts in Deutschland, Wien/München 1972, S. 9. 296 Vgl.: CAMPE, Joachim Heinrich: Ueber Empfindsamkeit und Empfindelei in pädagogischer Hinsicht, Hamburg 1779, S. 5. 297 KAISER, Marita: Passionierte Liebe als exklusives Refugium, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, Bd. 14, 1990, S. 207-214, hier: S. 214. 298 JACOBI, Johann Georg: Brief an Sophie von La Roche, 10. 6. 1779, in: Sopie La Roche: Ich bin mehr Herz als Kopf. Sophie von La Roche. Ein Lebensbild in Briefen, hrsg. v. Michael Maurer, München 1983, S. 211 f., hier: S. 212. 299 Siehe Kap. 3.1.3.1.

3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust

247

Solche Gefühls- und Gedankenwelten waren, wie bereits angedeutet, eng verknüpft mit den Vorstellungen vom (einzelnen) Menschen. Auch deswegen müssen sie uns hier interessieren. Außerdem werden und wurden die von uns verfolgten melancholischen Phänomene, Suizidfälle, Hypochondristen als Konsequenz von (gestörten) Gefühlen angesehen. Die jeweiligen Bedeutungen mußten sich also gegenseitig beeinflussen.

3.3.1. Lesen

Blicken wir nochmals auf die Kultur des Lesens und tun wir das diesmal von einer anderen Seite als der der Zahlen. Hier finden sich am ehesten Spuren jener seligen Melancholie, die das späte 18. Jahrhundert angeblich überflutet hatte. 300 Lesen, darüber weinen, darüber berichten - versunkene Lektüre verband sich mit Gefühlsrausch und kommunikativem Austausch. Lesen konnte Intimität herstellen, so wie „Ossian" zwischen Werther und Lotte den Moment der größten Nähe provoziert.301 Lenz schreibt an LaRoche über ihr „Fräulein von Sternheim": „Liebe, gnädige Frau! der Himmel belohne Sie. - War es auch nur für all die wollüstigen Tränen, die Sie mir haben aus den Augen schwärmen machen, und in denen die ganze Welt um mich her verschwand." 302 Und Bürger an Goethe: „Gestern Abend erst hab ich Werthers Leiden gelesen. Du bist mir diese Nacht im Traum erschienen, und ich habe - [ . . . ] in deinen Armen überlaut geschluchst".303 Sicherlich sind diese beiden Zitate willkürlich ausgewählt. Aber ihr jeweiliger Verweis auf einen Roman der frühen 1770er Jahre ist bezeichnend. Es entstand eine charakteristische Verbindung zwischen Lesen, Fühlen und dem Schreiben von Briefen. Denn das war es, was Briefe und Romane in dieser Zeit gemeinsam hatten: Sie waren Ausdrucksmöglichkeiten individueller Gefühlsund Lebenswelten. Nicht umsonst war der Brieftomm en vogue. Außerdem weisen die Briefauszüge auf die Beziehung zwischen Lesenden und Schreibenden hin, die jedoch nicht nur über ,reale' freundschaftliche Beziehungen intimisiert wurden, sondern ebenso durch fiktive Verbindungen zu den literarischen Figuren. 304 300

Etwa: RICKE, Schwarze Phantasie, 1981, S. L^T. GOETHE, Die Leiden des jungen Werthers, 1774/1985, S. 135. Vgl. zur Herstellung von Intimität durch gemeinsame Lektüre auch: Mix, York-Gothart: Medialisierungsstrategien im 18. Jahrhundert. Prämissen und Perspektiven der Forschung, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, Bd. 23, 1999, S. 40-58, hier: S. 50. 302 LENZ, Jakob Michael Reinhold, Brief an Sophie La Roche, 1. 5. 1775, in: Sopie La Roche: Ich bin mehr Herz als Kopf. Sophie von La Roche. Ein Lebensbild in Briefen, hrsg. v. Michael Maurer, München 1983, S. 182ff., hier S. 184. 303 BÜRGER, Gottfried August: Brief an Johann Wolfgang v. Goethe, 6. Febr. 1775, in: Stordtmann, Adolf (Hrsg.): Briefe von und an Gottfried August Bürger, Bd. 1, Berlin 1874, S . 2 1 9 f . , hier: S. 219. 301

304

Vgl.: GOETSCH, Einleitung, 1994, S. 18.

248

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Auch in anderer Hinsicht wurde die Trennlinie zwischen ,Fiktion' und Realität' unter dem Einfluß der Gefühle unscharf. Romanfiguren konnten zu Vorbildern und Objekten von Inszenierungen werden und vice versa Realgestalten in Literatur verwoben werden. Wieder ist „Werther" das wohl bekannteste Beispiel für solche Kultivierung der Sehnsüchte. Dessen Hauptfigur gewann an Lebensechtheit durch die Person Karl Wilhelm Jerusalems, dessen unglückliche Liebe und Suizid Goethe selbst als Anregung gedient hatten.305 Laukard schildert, wenn auch mit unverkennbar spitzem Unterton, eine „Prozession" zum Grab Jerusalems, das zum Grab Werthers geworden war: Die Teilnehmer „versammelten sich an einem zu diesen Vigilien festgesetzten Tage des Abends, lasen die Leiden des jungen Werthers von Herrn von Göthe vor, und sangen alle die lieblichen Arien und Gesänge, welche dieser Fall den Dichterleins entpreßt hat. Nachdem dies geschehen war, und man tapfer geweint und geheult hatte, gieng der Zug nach dem Kirchhof." 306 Die Frage: Wer war Werther, wer Lotte? nahm die Leserschaft gefangen, beschäftigte Schriftsteller307 und verstärkte die Identifikationsmöglichkeiten. Die Überlappungen zwischen Realem und Literatur verminderten nicht jene Kunst der Romane, eine eigene Welt zu schaffen - eher intensivierten sie die Möglichkeiten des Nacherlebens noch. Romane gewährten Rückzugsmöglichkeiten aus der Alltäglichkeit, aus der Gesellschaft. Diese Eigenart von Literatur, auch als Fiktion, erscheint uns heute selbstverständlich oder zumindest nicht anrüchig. Im 18. Jahrhundert mußte sie jedoch erst etabliert werden genauso wie die maßgebliche Gattung, der Roman, selbst erst im Laufe der Zeit akzeptiert wurde (gegen Ende des Jahrhunderts erreichten Romane allerdings einen gewaltigen Erfolg). Den Kritikern schien jedoch, daß Fiktionalität schlecht in Einklang zu bringen war mit dem Erziehungsauftrag der Literatur, lenke sie doch die Aufmerksamkeit der Leserinnen zu sehr vom , wirklichen Leben' ab. 308 Nicht nur der fiktive Charakter, auch die Erzählung einer individuellen Lebensgeschichte mußte erst als Programm etabliert werden. Auf die Beziehung zwischen neu geschaffenem Roman und entstehender Anthropologie habe ich bereits mehrfach verwiesen.309 Außerdem wirkten sich die Ideen der Erfah305 Vgl.: FLASCHKA, Horst: Goethes .Werther'. Werkkontextuelle Deskription und Analyse, München 1987, S. 36F.; KAULITZ-NIEDECK, Rosa: Goethe und Jerusalem, Gießen 1908. 306

LAUKARD, Friedrich Christian: Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben, und zur Warnung für Eltem und studierende Jünglinge herausgegeben, Halle 1792, S. 141 f. 307 Etwa: BREIDENBACH zu BREIDENSTEIN, Karl W. von: Berichtigung der Geschichte des jungen Werthers, 2. verb. Aufl., Frankfurt u.a. 1775. 308 Etwa: BERGK, Die Kunst, Bücher zu lesen, 1799, S. 211; HEINZMANN, Johann Georg: Über die Pest der deutschen Literatur, Bern 1795, S. 135. Siehe auch Kap. 3.2.1, FN 140f. 309 Siehe Kap. 1.2.2. Vgl. außerdem: BRENNER, Die Krise der Selbstbehauptung, 1981, S. 71: „Zentrales Thema des aufklärerischen Romans ist, darauf verweist meist schon der Titel, in der Regel das Individuum. Dies ist nicht so selbstverständlich, wie es vorderhand scheinen mag; es hat viel-

3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust

249

rungsseelenkunde darauf aus, wie man Literatur schrieb. Indem die Entwicklung eines einzelnen Menschen in den Mittelpunkt gerückt wurde, folgte man letztlich der Aufforderung Moritz', der Romanschriftsteller solle sich „genötigt sehen, erst vorher Erfarungsseelenlehre zu studiren, ehe er sich an eigene Ausarbeitungen wagt." 310 Was für Leben wurden aber beschrieben? Wer waren die ,empfindsamen' Figuren? Millers Siegwart gilt hier als Paradebeispiel.311 Diese „Klostergeschichte" erreichte mindestens die gleiche Popularität wie Goethes „Werther".312 In zwei Bänden faßte der Roman eine schiere Überdosis an Gefühl. Literaturwissenschaftler haben sich die Mühe gemacht, die tränenvollen Szenen zu zählen; bald auf jeder zweiten Seite wird geweint, mit zunehmender Tendenz, wenn es gegen das Ende der Geschichte geht. 313 Was sagt aber der Erfolg - der unbestreitbar ist - eines solchen gefühlsseligen und traurigen Buches aus? Welche Welt eröffnete es? Natürlich die einer unglücklichen Liebe, wobei die Unbeholfenheit des unglücklichen Siegwart für heutige Begriffe groteske Züge annimmt. Siegwart hatte seine Marianne schon tot geglaubt, als er ans Sterbebett einer Nonne gerufen wird, und sie dort wiederfindet.314 Für ihn stirbt die Geliebte also zweimal, was für seine Lebenskraft zu viel ist 315 was er allerdings durch etwas mehr Tatkraft hätte verhindern können. Aber Siegwart wird für alles frei, ja selig gesprochen und man bestattet ihn, was völ-

mehr einer langen real- und literaturhistorischen Entwicklung bedürft [sie], bis das Individuum in seiner Vereinzelung sich als Gegenstand literarischer Darstellung qualifiziert hat." 310 MORITZ, Vorschlag zu einem Magazin, 1782, S. 491. 311

MILLER, Siegwart, 1777.

Vgl.: PROMIES, Christian Heinrich Spieß, 1997, S. 55. 312 Zur Popularität von „Siegwart" siehe: BEAUJEAN, Der Trivialroman, 1964, S. 50-54; WUNDERLICH, Uli: Sarg und Hochzeitsbett so nahe verwandt! Todesbilder in Romanen der Aufklärung, St. Ingbert 1998, S. 206f. Unter den Nachdichtungen z.B.: Siegwart der Märtyrer der Liebe. Eine Erzählung mit bezüglichen Gesängen fühlenden Herzen gewidmet, Frankfurt a. O./Berlin 1780. (Das Buch ist eine 100-seitige Kurzfassung des Romans. Auf der ersten Seite wird auch direkt auf diesen Bezug genommen: Der Roman habe „viel Aufregung erregt und viele reizbare Gemüther in Bewegung gesetzt, aber gewiß nichts Böses gestiftet, wie so manche andere Bücher und Romane, die von Mode-Autoren ans Licht gebracht wurden - um auf Kosten der guten Sitte sich einen Namen zu manchen, die den Lesern die Köpfe verdrehen und die Herzen verderben, indem sie Manchen zu einem leichtsinnigen und verächtlichen Leben, das aller geselligen Liebe, Ordnung und Zufriedenheit ermangelt, anreizen. - Die Schwärmereien eines Siegwart und Consorten, die jetzt ein neues Publikum zu begeistern anfangen, können auf die Menge der kalten, herzlosen Gemüther, die nur für ihr Wohlbehagen und den äußeren Schein bedacht sind, nur wohlthätig einwirken und sie zu edleren Gefühlen erwecken". 313 SAUDER, Gerhard: Der empfindsame Leser, in: Das weinende Saeculum. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert Gesamthochschule Wuppertal, Heidelberg 1983, S. 9-23, hier: S.9. 314 MILLER, Siegwart, 2. Teil, 1777, S. 543. 315 Dieser Aspekt ist in der bisherigen Forschung unberücksichtigt geblieben, dabei gibt er doch Aufschluß über die tödliche Schwächung Siegwarts.

250

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

lig unrealistisch scheint, auf dem Friedhof des Nonnenklosters neben seiner geliebten Marianne. 316 „Siegwart" ist folglich nichts anderes als eine schaurigschöntraurige Geschichte; hatte der Roman Erfolg, so bedeutet das Erfolg für schaurigschöntraurige Geschichten. Das hat weniger etwas mit Todessehnsucht zu tun, als mit dem, was man heute als „Kitsch" bezeichnen würde. 317 So öffneten sich in der Fiktion Tore in eine andere, aber nicht völlig entfernte Welt. In diesem Sinne fördert(e) Lesen die Phantasie, wie es die Kritiker im 18. Jahrhundert verurteilten und heutige Pädagogen wertschätzen. 318 Romane bauten also mit an der eigenen Welt des Ichs, indem sie Gestaltungsmöglichkeiten und Denkräume anboten. Immer wenn die bürgerlichen' sich einer zurückgezogenen Beschäftigung zuwandten, wird als Erklärung gerne auf deren politische Ohnmacht verwiesen. 319 Hier werden, denke ich, die vielfältigen Handlungsräume übersehen, die den Subjekten jenseits eines direkten politischen Agierens offen standen, und außerdem wird unterschlagen, daß die Dominanz des Politischen als Maßstab der Handlungsfreiheit eine Konstruktion ist. Daher ist es zu einseitig, die kulturelle beziehungsweise private Sphäre ausschließlich als einen ErsatzRaum für die fehlenden politischen Aktionsmöglichkeiten zu interpretieren; vielmehr muß auch in diesem Zusammenhang von den ganz eigenen Lebenskonzepten und -bildern der Zeit ausgegangen werden. Dabei soll gar nicht geleugnet werden, daß Widrigkeiten der Erfahrungswelt mit zur Begeisterung für die Romanlektüre beigetragen haben können. Besonders Frauen mochten hier Entfaltungsmöglichkeiten entdecken, die ihnen sonst verwehrt blieben. Und gerade dieses Leben in einer selbst geschaffenen beziehungsweise aus den Romane aufgesogenen Phantasiewelt wurde ihnen ja dann auch zum Vorwurf gemacht. 320 Doch nicht nur im Kopf schuf das Lesen Raum für Privatheit. Wer liest, ist für die Außenwelt nur noch begrenzt zugänglich; noch mehr, wenn er/sie sich mit einem Buch zurückzieht. Bei aller Geselligkeit und gemeinsamen Debatte über die neuesten Veröffentlichungen wurde Lesen zu einer privaten Angele-

316 MILLER, Siegwart, 2. Teil, 1777, S. 559: Siegwart wird neben Marianne auf dem Klosterfriedhof begraben: „Die beyden Märtyrer der Liebe ruhten bey einander." In der überarbeiteten Auflage ebenfalls von 1777 darf Siegwart allerdings nicht bei seiner Geliebten bleiben. Er wird in seinem eigenen Kloster begraben. (MILLER, Siegwart, 2. Aufl. in 3 Bd., Leipzig 1777, 3. Bd., S. 975.) 317 Vgl. die überschwänglich positive Rezension in: Frankfurter gelehrte Anzeigen, Bd. 5, 1776, S. 597 ff. 318 Die Euphorie über „Harry Potter" lesende Kinder zeigt das überdeutlich. 319 BRENNER, Die Krise der Selbstbehauptung, 1981, S. 150; LEVOT, Valérie: Des livres à la vie. Lecteurs dans le roman allemand des lumières. Bern u.a. 1999, S. 18f. 320 Vgl.: BECHER, Ursula A. J.: Lektürepräferenzen und Lesepraktiken von Frauen im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung, Jahrg. 6, 1991, Heft 1, S. 27-42, besonders S. 40.

3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust

251

genheit und nicht umsonst das Bett als Ort der Lektüre Mode. 321 Die praktizierte Eigenständigkeit zeigte sich in neuen Räumen des Lesens. Der Rückzug ins eigene Zimmer (vorausgesetzt man verfügte über diesen Luxus) wurde üblich, 322 wodurch Bücher zu intimen Gegenständen gemacht werden konnten. Manchmal galt es allerdings lediglich, der strengen väterlichen Aufsicht zu entkommen, so wie es Anton Reiser versucht, der in seiner Kammer verbotenerweise „Tausend und eine Nacht" und die „Insel Felsenburg" liest.323 3.3.2. Lieben Wenn von Romanen und von Gefühlen die Rede ist, dann muß außerdem zugleich die Liebe ins Spiel kommen. Die Bezüge sind vielfältig, auch zu unseren Themen Epidemien und Individualisierung: Unglückliche Liebe war eine der am häufigsten genannten Ursachen für Suizide; die Entstehung moderner Subjektivität und moderner Liebe sind eng miteinanderverbunden und wären ohne den jeweils anderen Widerpart undenkbar; schließlich: der Aufstieg des Romans im späten 18. Jahrhundert bedeutete vor allem den Aufstieg des Liebesromans. 324 Gefühle mögen uns zwar als anthropologische Konstanten erscheinen, sie haben aber eine Geschichte und sind von kulturellen Bedingungen abhängig. 325 Das gilt ebenso für die Liebe und ihr Verhältnis zur Zweierbeziehung. Keineswegs gehörten Liebe und Ehe immer zusammen. Deren enge Verknüpfung unter dem Ideal der „romantischen Liebe" und/oder der Liebesheirat wurde im späten 18. Jahrhundert erfunden und prägt bei aller Variation unser Verständnis bis heute. 326 An der Neubestimmung der Liebe im späten 18. Jahrhundert seien natürlich die Romantikerinnen schuld, sinniert Hans Magnus Enzensberger in einer fiktiven „Nachrede" an Auguste Bussmann: „Liebe unglückliche Auguste, Sie können nicht ahnen, was Sie angerichtet haben, Sie und eine Handvoll ihrer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Ich übertreibe kaum, wenn ich behaupte, Sie (eine Handvoll Menschen zwischen dem achtzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert) hätten ,die Liebe' erfunden - oder sagen wir lieber, das was man in Europa bis auf den heutigen Tag darunter versteht. Denn was war das schon vordem?" 327

321

LEVOT, D e s L i v r e s , 1 9 9 9 , S . 2 8 0 .

322

Ebd., S. 273. MORITZ, Anton Reiser, 1886 (1785), Theil 1, S. 27.

323 324

325

GOETSCH, E i n l e i t u n g , 1 9 9 4 , S . 2.

BENTHIEN, Claudia/FLEIG, Anne/KASTEN, Ingrid: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln u.a. 2000, S. 7-20, hier: S. 8. 326 Vgl.: SASSE, Günther: Die Ordnung der Gefühle. Das Drama der Liebesheirat im 18. Jahrhundert, Darmstadt 1996. 327 ENZENSBERGER, Hans Magnus: Nachrede, in: Requiem für eine romantische Frau. Die

252

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Ja, was war „vordem" und was kam dann? Eine Beschreibung der Liebeskonzepte im 18. Jahrhundert wird unweigerlich auf Stereotype zurückgreifen. Säße differenziert plausibel zwischen „vernünftiger", „zärtlicher" und,»romantischer Liebe". 328 Entscheidend für uns ist es, zu beachten, welche Rolle jeweils die Individualität der geliebten Person spielte. 329 Die „vernünftige" Liebe orientierte sich an übergeordneten Tugendmodellen, nicht an der Persönlichkeit des/der Anderen. Die Erfüllung solcher moralischen Ansprüche konnte Standesschranken überwinden und Zuneigung wecken, das Herz verlor sich aber nicht und schon gar nicht an die Einzigartigkeit eines Menschen. 330 Hingegen wurde die „zärtliche" Liebe durch die individuelle Charakteristik eines Menschen geweckt und entsprach in diesem Sinne eher unseren heutigen Vorstellungen von Liebe. Diese persönliche Liebe sollte zur Voraussetzung einer Heirat gemacht werden; allerdings rückte sie gerade dadurch noch weiter weg von aller Leidenschaft, die vormals außerehelich erlebt werden konnte. Statt dessen glich sie sich freundschaftlichen Gefühlen an. 331 Als Vorboten der „romantischen Liebe" zogen gegen Ende des 18. Jahrhundert zwar Empfindsamkeit und Gefühlsüberhöhung in das enge Feld der Zweierbeziehungen ein. Dieser Prozeß hatte aber weniger Wildes, Ungezwungenes, als daß die Geburtsstunde der (Klein-)Familie als Lebensideal gefeiert wurde. 332 Damit sind unab-

Geschichte von Auguste Bussmann und Clemens Brentano, Berlin 1988, S. 225-232, hier: S. 228. 328 SASSE, Die Ordnung der Gefühle, 1996, S. 31 u. S. 38f. u. S. 48. 329 Zum Zusammenhang von Subjektivität und Liebesdiskurs: GREIS, Jutta: Drama Liebe. Zur Entstehungsgeschichte der modernen Liebe im Drama des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, S. 172. 330 SASSE, Die Ordnung der Gefühle, 1996, S. 31. Vgl. auch: BOBSIN, Julia: Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe. Studien zur Liebessemantik in der deutschen Erzählliteratur 1770-1800, Kiel 1993, S. 80. 331 SASSE schildert den Hintergrund für diese Entwicklung sehr eindrücklich: Ursprünglich war Liebe mit Sexualität verbunden. Indem nun Liebe als Voraussetzung einer Eheschließlung konstruiert wurde, war diese Sexualität aber ein lästiger Konnex. Denn die Frau mußte ja weiterhin ,unberührt' in die Ehe gehen, mußte also ohne sexuelle Begierde lieben. Damit die Reihefolge erst Liebe, dann Heirat aufrechterhalten werden konnte, mußte daher die Liebe von der Sexualität befreit, gereinigt werden. (SASSE, Die Ordnung der Gefühle, 1996, S. 41 ; auch: LUHMANN, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 1994 (Original 1982), S. 144.) Allerdings war auch in dieser Ehekonzeption Vernunft nicht mehr alles. Vgl.: MEISTER, Leonhard: Sittenlehre der Liebe und Ehe für meine Freundin, Winterthur 1779, S. 48: „Langweil und Ueberdruß machen eine furchtbare Verschwörung gegen die Liebesgötter und verscheuchen dieselben. Pflicht trit an die Stelle des Vergnügens und Vernunft sucht den Mangel des Gefühls zu ersetzen." 332 Vgl.: FREVERT, Ute: Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 17f. Diese Entwicklung machte selbst vor Fürsten und Königen nicht halt, so daß man sich auch in diesen Kreisen als .bürgerliche' Familie zu inszenieren begann, was nebenbei den Effekt hatte, daß Mätressen und Liebhaber nur mehr schwer zu legitimieren waren. (Vgl. etwa:

3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust

253

dingbar Rollenzuschreibungen an Mann und Frau verbunden. Bei aller Liebe galt: Die Frau sollte zur Vervollkommnung des Mannes dienen, nicht umgekehrt.333 Liebesromane wie „Clarissa" oder „Werther" schreiben jedoch über die unmögliche Verwirklichung der Liebe. Hier bleibt die Deutung, daß solche absolute Liebe gar nicht in eine Ehe umgeformt hätte werden können. Werther hätte Lotte gar nicht heiraten können, nicht weil Albert ihm im Weg stand, sondern weil seine Vorstellung von Liebe keinen Platz im herkömmlichen Ehemodell gefunden hätte.334 Die Überhöhung der reinen Liebe konnte statt dessen zum Tod führen. War das glückliche Zusammensein zweier Liebender das höchste Ziel und bestand die ausschließliche Erfüllung des Lebens in engster, idealistischer Zweisamkeit, mußte ein Scheitern allen Lebenssinn in Frage stellen und als Ausweg nur noch der freiwillige Tod bleiben. Dieses Suizidmotiv ist in deutschsprachigen Texten das einzige, das ein wenig Akzeptanz finden konnte. Denn obwohl die Kritiker heftig gegen verklärende Darstellungen von Suiziden wetterten, allgemeine Verteidigungsschriften finden sich nicht. Allerdings konnte der Selbstmord aus Liebe in empfindsamen Romanen und Theaterstükken idealisiert werden, wenn er das tragische Ende einer durch und durch reinen (aber unglücklichen) Liebe war - die Selbstmörderin oder den Selbstmörder also keine Schuld an ihrem Schicksal traf.335 In diesem Sinne konstatiert auch der oben zitierte Laukard, daß für die Teilnehmer der Werther-Prozession lediglich feststand, „daß der Selbstmord - versteht sich aus Liebe, - erlaubt

SCHMID, Pia: Zeit des Lesens. Zeit des Fühlens. Anfänge des deutschen Bildungsbürgertums. Ein Lesebuch, Darmstadt 1985, S. 34.) 333 SASSE, Die Ordnung der Gefühle, 1996, S. 52. 334 Vgl.: BOBSIN, Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe, 1993, S. 88; FRIEDRICH, HansEdwin: Autonomie der Liebe - Autonomie des Romans. Zur Funktion von Liebe im Roman der 1770er Jahre: Goethes Werther und Millers Siegwart, in: HUBER, Martin/LAUER, Gerhard (Hrsg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 209220, hier: S. 211. 335 Vgl. etwa: MÜLLER, Heinrich: Selbstmord und Raserey, die Folgen der zärtlichsten Liebe. Ein Beytrag zur Erfahrungs-Seelenkunde, Magdeburg 1798. Eine ähnliche Wirkung hatte die Liebe auch in den Kriminalgeschichten. Erinnern wir uns noch einmal an die Anfänge der Kriminalerzählungen und MEISSNERS Beitrag in seinen „Skizzen". Die Liebe fungiert hier zwar nicht als Rechtfertigung der Tat, diese wird vielmehr aus einer ungünstigen Verkettung von Umständen erklärt. Das Wohlwollen des erzählenden Predigers und damit auch der Leserschaft weckt der Gefangene aber durch sein tiefes Gefühl, dem von der Gemeinschaft, die die Heirat verhindern will, Unrecht zugefügt wurde. Die Fluchtversuche, die ihn schließlich endgültig ins Unglück stürzen, sind als Taten der Liebe zu verstehen, zu verzeihen, ja sogar zu würdigen. Die Liebe als Motiv einer Unrechten Handlung konnte also - bei aller Kritik an Schwärmerei und Leidenschaft - die moralische Beurteilung entschärfen, die Verdammung abwehren. (MEISSNER, Skizzen, Bd. 1, 1778, S. 68-94.)

254 sey"

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts? 336 N a h m sich eine reine (natürlich auch schöne und junge) Frau aus

unglücklicher Liebe das Leben, dann weinte „alles [...], selbst der Priester, der ihr eine Leichenrede halten [ . . . ] wollte." 3 3 7 Wichtig ist in diesem Zusammenhang außerdem, daß neue Vorstellungen v o m Leben nach dem Tod entstanden und die Möglichkeit einer Vereinigung der Liebenden im Jenseits eröffneten. 3 3 8 Selbst auf bestehende eheliche Verbindungen brauchten die beiden dann keine Rücksicht mehr zu nehmen. 3 3 9 „Wir werden uns wieder sehen" 3 4 0 wurde ein Leitmotiv in Romanen über unglücklich Verliebte. 3 4 1 Und nicht nur Liebende konnten v o m Wiedersehen im Jenseits reden. Auch Freunden bot sich diese Möglichkeit; man wollte die gesellschaftlichen Verbindungen jenseits des Todes fortsetzen. „Ich sterbe, lieber Klopstock! - A l s ein Sterbender sag' ich: In diesem Leben haben wir für und miteinander nicht genug gelebt; in j e n e m wollen wir's nachholen". 3 4 2 Hinzu kam, daß gerade ernsthafteste Aufklärer - nicht empfindsame Gefühlsenthusiasten - sich darum bemühten, den Vorstellungen v o m Tod ihren Schrecken zu

336

LAUKARD, Leben und Schicksale, 1792, S. 141 f. (Siehe obenstehendes ausfuhrliches Zitat.) Vgl. auch: Strafen des Selbst-Mordes, 1784, S. 296: „Eben als wenn alle SelbstMörder verliebte Narren seyn müßten." 337 NESSELRODE, Die Leiden der jungen Fanni, 1785, S. 57. (Fanni schildert in einem Brief die Geschichte der Therese von Lilienheim, die sich aus unglücklicher Liebe umgebracht hätte.) 338 Beeinflussungen gingen insbesondere von den Jenseitskonzeptionen Emanuel Swedenborgs aus. (Vgl.: LANG, Bernhard/MCDANNELL, Colleen: Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens, Frankfurt 1990, S. 292.) Vgl. zur Todesauffassung der Empfindsamkeitsbewegung auch: REHM, Walther: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik, Halle 1928, S. 283. 339 HAGSTRUM, Jean H.: Sex and Sensibility. Ideal and Erotic Love from Milton to Mozart, Chicago/London 1980, S. 262; LANG/MCDANNELL, Der Himmel, 1990, insb. S. 330. 340 Werther in seinem letzten Brief an Lotte: „Ich träume nicht, ich wähne nicht! Nahe am Grabe wird mir es heller. Wir werden sein! Wir werden uns wieder sehen!" (GOETHE, Die Leiden des jungen Werthers, 1774/1985, S. 139.) Ähnlich auch: KLINGER, F. M.: Die Neue Arria, Berlin 1776, S. 133: Vor ihrem gemeinsamen Selbstmord im Gefängnis verspricht Solina ihrem Geliebten Julio (die Liebenden wurden durch Intrigen zu Fall gebracht): „Julio: Kein Lebwohl, wir bleiben beysammen. Ich halte dich wie ich dich iezt umfaß. Umschlungen unsre Seelen!" Vgl. auch: MÜLLER, Selbstmord und Raserey, 1798, S. 146; CRANZ, August Friedrich: Des jungen Werthers Freuden in einer besseren Welt. Ein Traum, vielleicht aber voll süßer Hoffnung für fühlende Herzen, von dem Verfasser der Lieblingsstunden, Berlin u. Leipzig 1780, Vorrede, unp. 341 Vgl.: MASON, Eudo C.: „Wir sehen uns wieder!" Zu einem Leitmotiv des Dichtens und Denkens im 18. Jahrhundert, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Bd. 5, 1964, S. 79-109, hier: S. 95f. Allerdings ist „Dichten und Denken" ziemlich wage und weit gefaßt. 342 GLEIM, Johann Wilhelm Ludwig: Brief an Friedrich Gottlieb Klopstock, Halberstadt 24. Jan. 1803, in: LINDEN, Ilse (Hrsg.): Der letzte Brief. Eine Sammlung letzter Briefe, Berlin 1919, S. 41 f., hier: S. 41.

3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust

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nehmen. Sterben wollte man einem Einschlafen gleich sehen. 343 Diese Sanftheit trug ihren Teil dazu bei, daß der Tod nicht länger als abruptes Ende des bisherigen Lebens gesehen wurde. Wurde man hingegen von einer schaurigen Gestalt abgeholt, folgte gar noch düsteres Fegefeuer, dann war Geselligkeit in der anderen Welt nicht mehr so leicht vorzustellen. Antikenrezeption beziehungsweise der Streit über die richtige Deutung der überlieferten Todesdarstellungen trugen mit dazu bei, daß Teile der christlich geprägten Tradition verabschiedet wurden. 344 Folglich griffen bei der Veränderung der Liebes- und Todeskonzepte verschiedenste Einflüsse ineinander. Konnte man eine Liebe nicht im Diesseits verwirklichen, so war unter den beschriebenen Voraussetzungen eine mögliche Schlußfolgerung, sein Glück im Jenseits zu versuchen. Daher konnte der Endpunkt einer idealisierten, aber unerfüllten Liebe ein Selbstmord sein. Noch dazu war eine Liebe, die in ihrer Erhabenheit im Diesseits keinen Platz finden konnte, ohnehin im Himmel besser aufgehoben. Bei vernunftgeleiteten Aufklärern mußte ein derartiges Liebeskonzept jedoch notwendigerweise auf Widerstand stoßen, da es sich über deren Moralvorstellungen hinwegsetzte.345 Stellte es einerseits die Unantastbarkeit der Ehe in Frage, so widersprach andererseits die Konzentration auf abgeschlossene Zweisamkeit jenem Leitprinzip, das die Nützlichkeit des einzelnen für das Allgemeinwohl in den Vordergrund stellte. Trotz der vehementen Kritik, ja sogar in ihr selbst, scheint in den beschriebenen Vorstellungen die Möglichkeit durch, daß außer dem Leben und den Gefühlen, auch der Tod und das Jenseits individualisiert werden konnten. Alltag wurden diese Konzepte zwar nicht, sie finden sich in Romanen, die die Inszenierung des Lebens bis in den Tod beschreiben. Man konnte als der Mensch sterben, als der man gelebt hatte. 346 Richardsons Clarissa und Rousseaus Julie zelebrierten etwa noch in ihrem Tod ihre Tugendhaftigkeit.347 Mit Blick auf Suizide im 18. Jahrhundert gehen Murphy und MacDonald sogar so weit, diese Todesart als eine Möglichkeit der Selbstdarstellung zu deuten 343

Besonders: LESSING, Gotthold Ephraim: Wie die Alten den Tod gebildet, Berlin 1769. Vgl.: WUNDERUCH, Sarg und Hochzeitsbett, 1998, S. 121. Vgl. außerdem: MÜCKE, Dorothea von: The Powers of Horror and the Magic of Euphemism in Lessing's ,Laokoon' and ,How the Ancients Represented Death', in: dies./KELLY, Veronica: Body and Text in Eighteenth Century, Stanford 1994, S. 163-180; ANZ, Thomas: Der schöne und der häßliche Tod. Klassische und moderne Normen literarischer Diskurse über den Tod, in: RICHTER, Karl/SCHÖNERT, Jörg (Hrsg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß, Stuttgart 1983, S. 4 0 9 ^ 3 2 . 345 Vgl.: HERMANN-HUWE, Jasmin: „Pathologie und Passion" in Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers", Diss. Frankfurt a.M. 1997, S. 11 f.; SASSE, Die Ordnung der Gefühle, 1996, S. 48 f. 346 WUNDERLICH, Sarg und Hochzeitsbett, 1998, S. 262. 347 BRONFEN, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1996, S. 117f. 344

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

„suicide became a means of selfexpression". 348 Dazu bedurfte es Publizität: Abschiedsbriefe und Notizen wurden veröffentlicht. Aus diesen Texten jedoch auf eine Inszenierung der Sterbenden zu schließen, muß fehl gehen. Für den deutschsprachigen Bereich läßt sich ein derartiger Hintergrund der veröffentlichten Selbstmördernotizen nicht nachweisen. Wird ein Suizid als Selbstinszenierung beschrieben, dann verfolgte man damit pädagogische Ziele. Entsprechend heftig sind die Angriffe gegen einen „neuen Werther", dessen Fall im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" geschildert wird. Die ursprüngliche Darstellung erfolgt zwar noch kommentarlos, in der „Revision der ersten drei Bände" fällt die Kritik dafür um so schärfer aus. Schon der bloße Verdacht, es könnte sich um den Versuch einer Selbstdarstellung gehandelt haben, erscheint empörend. Das Bedürfnis, sich selbst nach außenhin zu präsentieren, ja zu inszenieren war nicht menschlich legitim, sondern eitel. Die Schlußfolgerung ist eindeutig: Der geschilderte Suizid sei „in einer lächerlichen Eitelkeit des jungen Menschen" begründet gewesen. „Der junge Mensch schien nun einmal glänzen und eine Art von großer Rolle spielen zu wollen, sollte es auch mit Verlust seines Lebens seyn." 349

3.3.3. Das Unglück der Unmäßigen: Lesesucht - Empfindelei - Onanie Die Kritik an der neuen Innerlichkeit der Gefühle, des Lesens, der Liebe konnte nicht ausbleiben. Ohne Widerstände lassen sich derartige Veränderungen des Lebens nicht vollziehen. Kritiker und Verfechter der neuen Linie schaukelten sich in ihren Äußerungen gegenseitig hoch; wieder entstand der Verdacht von epidemischen Verbreitungen der „Lesesucht", der Empfindelei. Es wird im folgenden die Verflechtung dieser Debatten aufgezeigt, die alle gemeinsam haben, daß sie eine Bedrohung für die Gesellschaft diagnostizierten. Zersetzenden Rückzug warf man, wie wir gesehen haben, auch Hypochondristen und Einsamkeitsapologeten vor. Überhaupt jegliches Übermaß an Beschäftigung mit sich selbst konnte dieser Vorwurf treffen. Selbst Philosophen waren davor nicht gefeit, „da sie nicht allein alle Wesen ausser sich, sondern ihr eigenes Wesen, aus der Würklichkeit ins leere Reich der Einbildungen hinein räsonieren wollen." 350 Es mag überraschen: Aber vom selbstversunkenen Philosophieren zu einer anderen Eigenmächtigkeit, der Onanie, war es in der Argumentation des späten

348

MACDONALD/MURPHY, Sleepless Souls, 1990, S. 325. POCKELS, Revision der drei ersten Bände dieses Magazins, 1786, S. 31 f. - Pockels bezieht sich auf: Ein neuer Werther. Auszug aus einem Briefe, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 3, 1785, 3. Stück, S. 115-120. 350 Über die Schwärmerei unserer Zeiten. Ein Schreiben eines Ungenannten, in: Göttingisches Magazin, Bd. 3, 1782, 2. Stück, S. 237-255, hier: S. 240. Als Verfasser ist Johann Heinrich Albert Reimarius anzusehen. 349

3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust

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18. Jahrhunderts gar nicht so weit. Daher werden zu guter Letzt die großen Diskussionen über diese Form der Sexualität behandelt werden. 3.3.3.1. Lesesucht Erinnern wir uns: Mäßigkeit war eines der Leitmotive nicht nur diätetischer Ratgeber, sondern allgemein aufklärerischer Moral. 351 Außerdem stand das gemeine Wohl höher im Kurs als die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse. Vor solchem Hintergrund mußte es manchem Kritiker ein Dorn im Auge sein, wenn Leser und Leserinnen alleine und abgeschieden in der Welt ihrer Bücher verschwanden. Wieso glaubte man aber an eine epidemische Verbreitung solcher „Lesesucht" - und griff außerdem zu diesem desavouierenden und zugleich pathologisierenden Namen? Ich habe bereits die quantitativen und qualitativen Veränderungen der Bücherproduktion und des Lesens dargestellt - sie waren unleugbar massiv.352 Insofern verwundert es nicht, daß viele Zeitgenossen auf die Entwicklung reagierten, indem sie die Folgen des übermäßigen Lesens schrecklich ausmalten. Ebenso wenig ist es erstaunlich, daß besonders Romane unter Beschüß gerieten. Sie waren die Gattung der Zeit, denn ihre Verbreitung und Popularität erhöhte sich explosionsartig. Romane waren speziell als Produkte einer „Trivialisierung" der Literatur in Verruf geraten 353 - schließlich gehörte „nur halbe Verstandesreife und kaum ein Quentchen Gefühl dazu, um an einem Roman in dem trivialen Sinne des Wortes Geschmack zu finden."354 Das Lesen von Romanen etablierte sich in einer merkwürdigen Zwischenwelt von Privatheit und Öffentlichkeit. Beide Sphären waren für den rasanten Erfolg dieser Literaturform nötig; in beiden entwickelte sich jene neuartige Gefühlskultur, zu der auch gehörte, sehnsüchtig in den literarischen anderen Leben zu versinken. Diese gefühlsintensive Anbindung an das Gelesene trug entscheidend dazu bei, daß Romane sich derartig schnell und umfassend etablieren konnten. Hier liegt denn auch ein weiterer wichtiger Unterschied zur früheren Lektürepraxis. Erst

351

Vgl. etwa den Ratschlag SAILERS: „Lerne Mäßigung in allem, was Freude oder Kummer, Begierde oder Furcht heißt." (SAILER, Johann Michael: Ueber den Selbstmord. Für Menschen, die nicht fühlen den Werth, ein Mensch zu seyn, München 1785, S. 149.) 352 Hier liegt auch der Unterschied zu früheren Angriffen auf übermäßiges Lesen, die durchaus eine lange Tradition hatten. Vgl. dazu: GOLDMANN, Stefan: Lesen, Schreiben und das topische Denken bei Georg Christoph Lichtenberg, in: GOETSCH, Paul (Hrsg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, S. 79-90, hier: S. 79. Siehe zur Entwicklung des Buchmarktes Kap. 3.2.1. 353 BAUSINGER, Aufklärung und Lesewut, 1980, S. 185 f. 354 GRÄTER, Johann Friedrich: Mein Besuch bei Amalien und ihrem Gatten, 1793, zitiert nach: BAUSINGER, Aufklärung und Lesewut, 1980, S. 186.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

die „Verankerung" durch die evozierten Gefühle ermöglichte den Erfolg der Romane. 355 Gleichzeitig nährten Romane ihrerseits die Entfaltung der Gefühlskultur im späten 18. Jahrhundert. Sie waren dasjenige Medium, daß am besten dazu geeignet war, in eine andere, in eine Phantasiewelt wegzutauchen. Nicht von ungefähr, zielte die Kritik gerade auf diesen Punkt und verdammte die mögliche Wirkung der Romane auf die Einbildungskraft der Leserinnen und die beim Lesen vergeudete Zeit. Es sei doch bekannt, hielt Leonhard Meister fest, „daß der zarten Phantasie junger Damen nichts schädlicher sey als die übertriebene Leserey." 356 An diese Argumentation, die das Lesen von Romanen in Zusammenhang mit überreizter Phantasie stellte, mußte nahezu automatisch auch das nächste Glied in der Reihe der Analogien anknüpfen: die Bedrohung für die Gesellschaft. Denn zu große Einbildungskraft bedeutete Untätigkeit und damit Unbrauchbarkeit für ein tugendhaftes Leben. 357 Dazu paßte das Bild, von dem in seiner Kammer abgeschieden lesenden Jüngling, von der zurückgezogen in ihr Buch versunkenen Frau. „Gutes Mädchen - guter Jüngling, das laß vorzüglich dir gesagt seyn; Glaub mirs, daß unter hunderten, die sich ins Verderben stürzen, gewiß achtzig ihr Verderben schlechten Büchern zu zuschreiben haben." 358 Durch das Lesen von Romanen würden „die warmen und gesunden Empfindungen der Thätigkeit und menschlichen Größe [...] nach und nach zu einer siechelnden Empfindelei umgeschaffen." 359 Schließlich könne sogar Selbstmord die Folge sein. (Hier verschränkten sich einmal mehr die verschiedenen Befürchtungen.) Entsprechend konstatierte Knüppeln: „Auch überspannte Empfindsamkeit durch Schwärmerei und Romanlektüre genährt, hat manchem Jüngling, und manches Mädchen zu dem Entschluß gebracht, das Ziel ihres Lebens zu verkürzen."360

Doch selbst wenn ein Autor die Bedrohung mit den Umstürzen der Französischen Revolution verglich, 361 das heraufbeschworene Szenario läßt sich nicht auf antiaufklärerische Taktik reduzieren oder darauf, daß man einer breiteren

355

GLADWELL, Malcolm: Der Tipping Point. Wie kleine Dinge Grosses bewirken können, Berlin 2000 (Original 2000), S. 97-135. 356 MEISTER, Leonhard: Ueber die Schwermerei. Eine Vorlesung, Bern 1775, S. 13. 357 Vgl.: BAUSINOER, Aufklärung und Lesewut, 1980, S. 188. 358 BENEKEN, Friedrich Burchard: Weltklugheit und Lebensgenuß oder praktische Beyträge zur Philosophie des Lebens, 2 Bd., Hannover 1788/1789, hier: Bd. 1, S. 268. 359

BAUMGARTNER, Fanny, 1785, S. 28.

Vgl. auch: EBERHARD, Johann August: Ueber den Werth der Empfindsamkeit besonders in Rücksicht auf die Romane, Halle 1786, Vorrede, S. III. Eberhard beklagt hier die in bezug auf die „Moderomane" „traurigen Erfahrungen von den schädlichen Folgen dieser Lektüre." Vgl. allgemein zur Kritik an den empfindsamen Romanen: JÄGER, Empfindsamkeit und Roman, 1969, S. 59. 360 KNÜPPELN, Ueber den Selbstmord, 1790, S. 135. 361 So: HEINZMANN, Über die Pest der deutschen Literatur, 1795, S. 139.

3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust

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Masse Wissen und Bücher vorenthalten wollte. 362 Die Kritik an übermäßiger Lektüre zog vielmehr weite Kreise und beschränkte sich nicht auf .konservative' Bildungseliten. Selbst Baumgartners „Traumgesicht" Fanny klagt über die Gefahren, die denjenigen drohten, die sich zu sehr auf das Lesen stürzten. 363 Allerdings fiel weniger das Lesen an sich in Mißkredit, als die Lektüre bestimmter Inhalte. „Empfindelei" war hier das gängige Etikett, das man den Angeklagten auf die Stirn klebte. „Empfindelei" war die schlechte Schwester der Empfindsamkeit, die sich .falschen' Gefühlen ergab, die „unnatürlich" war.364 Daher konnte Jung-Stilling, ein bekanntermaßen „empfindsamer" Autor, dennoch über die Gefahren der Empfindelei klagen: „Ich kann des Klagens nicht satt werden, wenn ich so überschaue, wie viel die Schriften vieler unserer Modeschriftsteller verdorben haben; eine grenzenlose Empfindelei ohne Empfindsamkeit gegen das Wahre, Gute und Schöne, ohne Überwindungskraft gegen das Falsche, hat sich der Herzen der Jünglinge durchgehends bemeistert."365 Ein anderes Stereotyp der zeitgenössischen Kausalkonstruktionen aufgreifend, sah man selbst körperliche Gefahren, sei es doch bekannt, daß „die Unthätigkeit und die Faulheit"366 krank mache; oder man sah die Nerven durch alle Arten von „empfindelnden" Schriften bedroht,367 weshalb der Pädagoge Campe klagte: „Ein einziges empfindelndes oder zu empfindsames Duodezbändchen bringt mehr fehlerhafte Disposizionen in die junge Sele, als ganze Folianten, vol der lautersten Vernunft, wider ausglätten können. Und o wie viel sind dieser Bändchen! Wie Aigen sie umher von Nachttisch zu Nachttisch [...] wie girig saugen junge Leser und Leserinnen aus ihnen das süße Gift falscher oder übertribener Empfindsamkeit ein [... ]" 368 362

Vgl.: BAUSINGER, Aufklärung und Lesewut, 1980, S. 185. BAUMGARTNER, Fanny, 1785, S. 29: „Die Leidenschaften der Menschen sind ohnehin immer empörend und ungestüm, und lehnen sich gerne wider die Eindrücke der Wahrheit auf. Erhitzt man sie nun noch mehr durch das Lesen empfindelnder Romane, [...] so wird endlich der Kampf der Ueberlegung vergebens gemacht: die Phantasie verknüpft gleiche Bilder mit ungleichen, und bringt Ungeheuer in Gedanken und Thaten hervor. Nun trift den armen zerrütteten Menschen ein oder der andere Unfall, der entweder wahrhaft wichtig ist, oder ihm nach seiner verstimmten Einbildungskraft wichtig scheint. Mit betäubten Sinnen wird er sich ganz dem Gefühle seines Schmerzes überlassen, ohne an etwas zu denken, was ihn trösten oder aufrichten könnte". 364 CAMPE, Ueber Empfindsamkeit und Empfindelei, 1779, S. 5: „Der Empfindsame und der Empfindler unterscheiden sich erstlich durch die Arth, wie jeder von ihnen zu demjenigen, was er seine Empfindungen nennt, veranlaßt wird. Die wirklichen Gefühle des Ersten sind ihm natürlich, die wirklichen oder angeblichen Gefühle des Andern hingegen sind erkünstelt." 365 JUNG-STILLING, Johann Heinrich: Brief an Sophie von La Roche, Kaiserlautern, 4. 7. 1779, in: Sopie La Roche: Ich bin mehr Herz als Kopf. Sophie von La Roche. Ein Lebensbild in Briefen, hrsg. v. Michael Maurer, München 1983, S. 212f. 366 BERGK, Die Kunst, Bücher zu lesen, 1799, S. 210. 367 BAUSINGER, Aufklärung und Lesewut, 1980, S. 188. 368 CAMPE, Ueber Empfindsamkeit und Empfindelei, 1779, S. 40f. 363

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

In der Debatte über die Lesesucht entstand offensichtlich ein durchgängiges Paradox: Die Autoren kritisierten, ja verdammten das übermäßige Lesen und schrieben doch selbst Bücher. Und was sollte der Sinn von Büchern anderes sein, als daß sie gelesen würden? Wie ließ sich der offensichtliche Widerspruch auflösen? Entscheidend scheint mir zweierlei zu sein: Einerseits differenzierte man im ausgehenden 18. Jahrhundert bei vielen Tätigkeiten zwischen richtiger und falscher Ausführung. Erinnert sei nur an Chodowieckis Serie, die in jeweils zwei Stichen die „natürliche" und die „affectirte" Variante einer Handlung oder einer Eigenschaft mit einander kontrastierte.369 Entsprechend gab es auch richtiges und falsches Lesen, wobei sowohl Art als auch Ausmaß der Lektüre entscheidend waren. Jeder Autor konnte folglich sein Buch als tugendhaft und lehrreich darstellen. Andererseits sollte der Wettbewerb auf dem Büchermarkt nicht unterschätzt werden; man mußte sich gegen eine durchaus große Zahl von konkurrierenden Publikationen durchsetzen. Ein Weg konnte dabei sein, die Werke anderer Autoren als schädlich für die Gesundheit zu diffamieren.3™ Besonders medizinische Schriften, die sich nicht nur an ein Fachpublikum wandten, sahen sich Kritik ausgesetzt. So ging es ja auch in der Hypochondriedebatte häufig um die negativen Folgen des vielen Lesens allgemein und des Lesens von medizinischen Schriften im speziellen.371 Doch wieder waren es die Autoren selbst, die solche Klagen führten. Etwa polemisierte Platner über das Übermaß an medizinischen Schriften, die auch von Nicht-Medizinern gelesen würden, was ihn selbst jedoch nicht davon abhielt, ein eigenes, auf vier Bände angelegtes Kompendium zu konzipieren. Als Rechtfertigung blieb Platner, sein eigenes Werk von den anderen abzuheben: er schreibe nicht über die Krankheiten des Körpers, sondern über dessen Aufbau. 372 Daher gebe er niemandem Nahrung, um sich zu sehr in vermeintliche Krankheiten zu vertiefen. Selbst Romane sind nicht frei von Kritik an ihrem eigenen Genre. Etwa berichtet in Wezeis „Wilhelmine Arend" Wilhelmines zweiter Ehemann Webson ihrem Arzt Doktor Braun, er habe die Patientin ohnmächtig auf ihrem Kanapee gefunden. „Da ein Buch auf dem Tische lag, so glaubte ich im ersten Augenblicke, daß vielleicht eine rührende Stelle ihre schwachen Nerven einmal zu stark angegriffen und sie in diesen Zustand versezt hätte, welches meistens die 369

Die Stiche erschienen 1779 und 1780 im Goettinger Taschenkalender und wurden von Georg Christoph Lichtenberg kommentiert. (BUSCH, Werner: Daniel Chodowieckis „Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens", in: HINRICHS, Ernst/ZERNACK, Klaus (Hrsg.): Daniel Chodowiecki (1726-1801). Kupferstecher - Illustrator - Kaufmann, Tübingen 1997, S. 77-99, hier: S. 77. Bei Busch finden sich auch Abbildungen.) 370 Vgl.: GOETSCH, Einleitung, 1994, S. 4; KOSCHORKE, Körperströme und Schriftverkehr, 1 9 9 9 , S. 3 9 8 . 371 Siehe Kap. 3.1.3.1. 372 PLATNER, Ernst: Briefe eines Arztes an seinen Freund über den menschlichen Körper, Bd. 1, Leipzig 1770, S. VI ff. u. S. 6.

3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust

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Ursache ihrer vorhergehenden Ohnmächten war." 373 Solche Schilderungen entsprachen dem Anspruch Wezeis, die „Gefahren der Empfindsamkeit" aufzuzeigen, wie es der Untertitel seines Buches ankündigte. Wilhelmine wird im übrigen als Repräsentantin jener besonders empfindsamen und empfindlichen Frauen geschildert, wie sie nach Ansicht der männlichen Autoren typisch für ihre Zeit waren. 374 In ihrer leichten Reizbarkeit mußten Frauen besonders angreifbar durch schädliche Lektüre scheinen.375 Das schwache Geschlecht hatte seine vormalige Position als Sachwalterin der Vernunft verloren und wurde zum Patienten mit schwachen Nerven. 376 Hier treten Ähnlichkeiten hervor: Von zerrütteten Nerven wurden auch die Hypochondristen und Melancholikerinnen geplagt; und außerdem noch eine andere Figur des ausgehenden 18. Jahrhunderts: der Onanist. 3.3.3.2. Gemeinsame Leiden, gemeinsame Symptome Zwischen Lesesucht und anderen Phänomenen, die als epidemisch eingeordnet wurden, bestanden auffällige Übereinstimmungen hinsichtlich der wahrgenommenen Erscheinungsformen, der angenommenen Ursachen und der gegen sie vorgebrachten Vorwürfe. Auf eine Verbindung zur Hypochondrie sind wir schon gestoßen, als es um die Gefahren des Bewegungsmangels ging. Wer viel las, der saß viel und setzte sich damit der Bedrohung durch die Hypochondrie aus. 377 Adam Bernd, einer der frühesten Selbstbeobachter, beschreibt den Zusammenhang zwischen übermäßiger Lektüre und hypochondrischem Leiden: „Wenn man lieset, so brauchet man die Lebens-Geister im Gehirne, und folgentlich schwächet man diejenigen, welche im Magen und Unter-Leibe die Säffte herum treiben sollen, als die alsdenn in Kopff hinauf gezogen werden. Sind im Unter-Leibe und im kleinen Geäder der Lebens-Geister zu wenig, so entstehen wegen vorhandenen Schleimes, weil die Säffte nicht können recht circuliren, Spasmuli und kleine Convulsiones, welche Furcht, Zittern, und dieses Auffahren [er meint: wie vor Schreck, wie ein Epileptiker, J.S.] verursachen."378

Pockels zählte Bernd „zu den sonderbarsten Hypochondristen, deren Geschichte der Welt bekannt geworden ist", und unterstellte ihm zugleich, daß die „Schwäche seiner Nerven [...] ohnstreitig von den jugendlichen Ausschweifungen her[kam], die er frühzeitig begangen, und die er nicht mit Namen nen-

373

WEZEL, Johann Karl: Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit, Bd. 2, 1783, S. 223. 374 Etwa: GESENIUS, Medicinisch-Moralische Pathematologie, 1786, S. 46. 375 Auf die Geschlechterzuweisungen in der Lesesuchtdebatte weist hin: SCHÖN, Publikum und Roman, 1997, S. 314. 376 Vgl.: GÖTZ, Adam Julius: Kurzer Beytrag zur Geschichte von den Hysterischen Krankheiten, Meiningen 1771, S. 16. 377 Siehe Kap. 3.1.3.2. 378 BERND, Eigene Lebensbeschreibung, 1738, S. 292.

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3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

nen wollte." 379 Pockels verdächtigte Bernd also der Onanie und heftete ihm den dritten Makel aus unserem Kabinett der Unmäßigen an. Die Gedankengänge über Bewegungsmangel, Hypochondrie und Vielleserei wurden außerdem dadurch verbunden, daß man jeweils eine Überreizung der Einbildungskräfte befürchtete. Zu viel sitzen, zu viel lesen regte diesen dunklen Teil des Menschen zu sehr an, genauso wie die Hypochondristen meist unter ihren Phantasien litten. 380 Daher galt der allgemeine Ratschlag: „Meide die allzusehr sitzende Lebens-Art. So schädlich sie überhaupt der Gesundheit ist, so sehr erzeugt und nährt sie auch die wildesten und thörigsten, auch schädlichsten Einbildungen." 381 Und da die verschiedenen Gefahren in Verbindung mit einander gebracht wurden, hieß es außerdem: „Im Lesen sey der Hypochondrist ja behutsam. Seine Lecture [sic] muß ja nichts rührendes haben, das seine Leidenschaften, zumal seine Aengstlichkeit nähren könnte." 382 Es verband sich folglich das Klischee des schmächtigen Hypochonders mit dem des hohlwangigen Onanisten ebenso wie das der blassen nervösen Frau mit dem der Leserin im Bett. Die überreizten Reaktionen der Empfindsamen glichen der Überempfindlichkeit der Hypochonder; die Wahrnehmung beider hing nach Meinung der .Realisten' schief. Alle aufgeführten Typen zeichneten sich dadurch aus, daß sie wenig durch Nützlichkeit glänzten, sei es in Öffentlichkeit und Arbeit, sei es im Haushalt und bei der Kindererziehung. Wenn daraus heute Verstöße gegen die .bürgerliche' Norm abgeleitet werden, 383 ist allerdings zu beachten, inwieweit diese Interpretation von unseren eigenen Vorstellungen von bürgerlicher Lebenswelt' geprägt ist und inwiefern diese Vorstellungen erst im (späten) 19. Jahrhundert generiert wurden, gerade in der Zeit also, als zum Beispiel die Auseinandersetzung mit weiblicher Hysterie ihren eigentlichen Höhepunkt erreichte. 384 Zwar waren manche der .bürgerlichen' Lebenskonzepte in unserem Untersuchungszeitraum, dem späten 18. Jahrhundert, noch in der Entstehungs- oder zumindest Erprobungsphase, Pflichterfüllung war jedoch ein Schlüsselbegriff des moralischen Kanons; das galt für Männer wie für Frauen. 385 Daher rührte auch die Bedrohung, die unseren Gestalten - den gestalteten Typen - innewohnte, kennzeichnete sie doch allesamt Rückzug aus der Gesellschaft und 379

Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 5, 1787, 1. Stück, S. 103-127 u. 2. Stück, S. 17-39, hier: 1. Stück, S. 103 u. 2. Stück, S. 37. 380 Etwa: SCHULZ, Friedrich: Geschichte meiner Hypochondrie, ein Beytrag zur SeelenNaturkunde, in: Der Teutsche Merkur, 1786, Teil 1, S. 152-169, hier: S. 160ff. 381 Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der Religionen, [...], 3 Theile, Berlin 1783, hier: Theil 2, S. 61. 382 383

TODE, Nöthiger Unterricht für Hypochondristen, 1797, S. 131. BRENNER interpretiert so das Verhalten von Melancholikern und der Figur Werther.

(BRENNER, D i e K r i s e d e r S e l b s t b e h a u p t u n g , 1 9 8 1 , S . 1 1 0 u. S . 1 1 7 . ) 384

V g l . : SHOWALTER, H y s t o r i e s , 1 9 9 8 , S . 3 0 .

385

Vgl.: BEGEMANN, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung, 1987, S. 29.

3.3. Intime Gefühle: lesen, lieben, lasterhafte Lust

263

Untätigkeit. Leicht drohte hier ein Circulus vitiosus: „Müßiggang" führe die „jungen Leute" zur „Romanen-Lektüre"; solche Lektüre selbst aber mache sie wiederum müßiggängerisch, klagt Johann Georg Heinzmann. 386 Dem Rückzug aus der Gesellschaft entsprach die übertriebene, also unmäßige, Beschäftigung mit sich selbst, wie sie Hypochondristen ebenso wie Onanisten praktizierten. Ort der Abgeschiedenheit war oft die eigene Schlafkammer, wo man unter der Bettdecke las oder den eigenen Körper erkundete.387 Selbst in der physiologischen Begründung wurden Onanie und Hypochondrie in einem Atemzug genannt: „Aus dem nemlichen Grunde, aus welchem die Verschwendung des Saamens [...] die Schwächung der festen Theile, und die Alterationi der flüssigen, folglich die Erzeugungen der Inf. [Infarkti J.S.] begünstigen, trägt auch das öftere Speicheln der Hypochondristen [...] nicht wenig dazu bei." 388 Der Infarktus aber, als eine Verstopfung besonders der Pfortadern, war für den zitierten Kämpf die Ursache der hypochondrischen Erkrankung.389 In die Kausalkette rückte schließlich auch der Suizid mit ein, der aus dieser Perspektive letztlich nur die äußerste Verschwendung von Lebenskraft darstellte. Menschen, denen das Leben unwert erscheine, seien „fast immer diejenigen, welche durch zu frühzeitige Ausschweifung, durch eine zu frühzeitige Verschwendung jener balsamischen Lebenssäfte, die unser eignes Leben würzen sollen, sich erschöpft und lebensarm gemacht haben."390 Wie bereits erwähnt, war Onanie eine der häufig genannten Ursachen für Suizide. 391 386

HEINZMANN, Über die Pest der deutschen Literatur, 1795, S. 140. In dieser Zeit entstanden dann auch die ersten Ratschläge darüber, wie Kinder zu schlafen, zu lernen etc. hatten - nämlich immer so, daß die Hände sichtbar auf der Bettdecke oder auf dem Tisch waren. (Vgl.: BRAUN, Karl: Die Krankheit Onania. Körperangst und die Anfänge moderner Sexualität im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 251. Braun betont den Unterschied zwischen solcher Tabuisierung der Sexualität und vorangegangenen Bemühungen, die Onanie durch .Aufklärung' zu bekämpfen.) Vgl. auch: LAQUEUR, Thomas: Onanie und Geschlecht, 1 7 1 2 - 1 9 9 0 , in: BRAUN, Friederike/ PASERO, Ursula: Wahrnehmung und Herstellung von Geschlecht, Opladen 1 9 9 9 , S. 2 1 - 3 6 , hier: S. 30 f. 388 KAMPF, Abhandlung von einer neuen Methode, 1786, S. 85. Vgl. auch: MAY, Franz Anton: Medicinische Fastenpredigten oder Vorlesungen über Körperund Seelen-Diätetik, 2 Theile, Mannheim 1793/1794, hier: 2. Theil, S. 92: Die Onanie zerrütte die VerdauungsWerkzeuge: „Aus dieser unausbleiblichen Zerrüttung der Verdauungswerkstätte entstehen jene fürchterliche Zufälle der Hypochondrie, jene tägliche Qualen bei der Verdauung der Speisen, die tobende Blähungen". 389 Ähnlich auch: HEYDENREICH, Karl Heinrich: Philosophie über die Leiden der Menscheit, ein Lesebuch für Glückliche und Unglückliche, speculativen und populairen Inhalts, 3 Teile, Leipzig 1797-1799, hier: Teil 3, 1797, S. 146f.: zur „Wollust, [...] deren Uebermaß, besonders wenn sie unnatürlich ist, aus leicht zu begreifenden Gründen Hypochondrie nach sich zieht." 390 HUFELAND, Christoph Wilhelm: Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, Jena 1796, S. 367 f. 391 Vgl. etwa: SINTENIS, Christian Friedrich: Ueber die zweckmäßigsten Mittel gegen die 387

264

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Hier zeigt sich einmal mehr, daß die medizinische Erklärung der Zusammenhänge keineswegs die moralische Bewertung erübrigte. Vielmehr blieb Onanie genauso wie übermäßige Lektüre oder selbst der Suizid immer ein Vergehen an der Gesellschaft. 392 Die Gefahren, die man beispielsweise in der Onanie sah, waren nicht bloße pädagogische Übertreibungen. 393 Sie entstammten einem komplexen Wahrnehmungssystem, in dem die .Verschwendung' von Samenflüssigkeit einer Reduzierung von Lebenskraft gleichkam und daher sogar die Gefahr von „Entvölkerung" bedeuten konnte. 394 „Kein Laster, keine Gewohnheitssünde konnte je [...] auf die Gesundheit des ganzen Körpers, auf das Wohl unserer Nachkommenschaft, auf das Beste des Vaterlandes mehr wüthen, als die bezaubernde Wollust der Selbstbefleckung, diese Pest unseres Jahrhunderts, dieses verabscheuungs würdige Modelaster auf hohen Schulen und in Seminarien." 395 Entscheidend ist außerdem, daß sich die Bedrohlichkeit dieser verschiedenen Phänomene durch ihre Verbindung untereinander noch potenzierte. In den vielfältigen Diskussionen über Suizidenten und Hypochonder, Melancholikerinnen, Onanisten und Romanleserinnen tauchten immer wieder vergleichbare und sogar gleiche Versatzstücke auf. Nicht nur waren die einzelnen Abweichungen vom gesellschaftlichen Wunschbild eng mit einander verbunden, sondern die beschriebenen Menschen selbst zeichneten sich durch einen hohen Grad an Übereinstimmung aus. Es wurden folglich nicht ausdifferenzierte Persönlichkeitskonzepte entworfen, sondern vielmehr immer wieder die gleichen Stereotype übernommen. Das bedeutete aber insbesondere, daß sich ein Muster der kränklichen Gestalt herausbildete, die durch ihre eigene Unachtsamkeit oder sogar mutwillig erkrankt war. Indem sich die von mir beschriebenen Ge-

Überhandnehmung des Selbstmords, Leipzig 1792, S. 82; VOGEL, Samuel Gottlieb: Weiblicher Selbstmord als Folge eines geheimen Lasters. Aus einem Briefe des Arztes der Unglücklichen, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 10, 1787, S. 172-176. Siehe auch Kap. 2.1.4. 392

HUFELAND, M a k r o b i o t i k , 1 7 9 6 , S . 3 4 8 .

393

Es wird über Wachsplastinate berichtet, die die Folgen der Onanie darstellten: Bericht über B. Betrand's anatomische Wachspräperate [in Paris], in: Beiträge für die Zergliederungskunst, 1. Band, Leipzig 1800, S. 146-152, hier: S. 150f.: „Um die Folgen der Onanie recht lebhaft zu schildern hat Betrand einen in den letzten Zügen liegenden Jüngling nach der Natur abgebildet, der sich durch seine heimlichen Ausschweifungen die Auszehrung zugezogen, und nun seinem gesunden Freunde, dem er sich noch vor seinem Ende entdeckt hatte, ein trauriges Lebewohl sagt. Vier andere Büsten stellen einen Jüngling und ein Mädchen in gesunden Tagen, und eben dieselben einige Zeit nachher vor, so wie sie durch die Befriedigung dieses Hanges entstellt waren." 394

MÜLLER, Selbstmord nach seinen medizinischen und moralischen Ursachen, 1796, S. 16: „Dies Laster [die Onanie] herrscht im Dunkeln, zerrüttet die Gesundheit der Jünglinge und Mädgen auf die unwiderbringlichste Art [...] richtet Entvölkerung und unfruchtbare Ehen an, und ist die Quelle von unzähligen Verderben für die Gesundheit." Vgl. allgemein: BRAUN, Die Krankheit Onania, 1995, S. 87f. 395 MAY, Medicinische Fastenpredigten, 2. Theil, 1794, S. 79.

3.4. Vom ,Wertherfieber' und .Selbstmordepidemien'

265

stalten auf diese extreme Weise glichen, mußte auch deren Unterscheidbarkeit erschwert werden beziehungsweise sie zu einer größeren Masse einer einzelnen unerwünschten Gestalt werden. Diese Gestalt wurde durch die Verwendung der aufgezeigten Stereotype von Debatte zu Debatte, von Text zu Text fortgeschrieben. Ihr Auftreten erschien dadurch unweigerlich massenhaft. Diese Überlegungen werden uns auch in unserem letzten Kapitel weiter begleiten. Denn auch der Suizid erschien manchen Zeitgenossen ein epidemienhaftes Phänomen zu sein. Die Analyse dieser Wahrnehmung wird viele der bisher aufgezeigten Entwicklungen des späten 18. Jahrhunderts nochmals aufgreifen und neu zusammenfuhren. Denn Publikationsmöglichkeiten im allgemeinen und Bedeutungsveränderungen des Suizids im speziellen spielen ebenso eine Rolle wie Gefühlswelten und Furcht vor den Auswirkungen einer Lesesucht, wenn es um die Frage geht: Gab es im späten 18. Jahrhundert besonders viele Suizide, ja sogar eine Suizidwelle?

3.4. Vom ,Wertherfieber' und ,Selbstmordepidemien' Wenn ich, gefragt, worüber ich forschen würde, bekannte, daß sich meine Arbeit unter anderem mit dem Suizid im späten 18. Jahrhundert beschäftigt, dann war die erste Reaktion meiner Gesprächspartner(innen) fast immer: „Ach so, ja. Mmmm. Werther. Oder? Dieses Buch hat doch eine Suizidwelle ausgelöst." Und diese Reaktion erfolgte ganz unabhängig davon, ob die- oder derjenige Historikerin oder Germanist war oder völlig außerhalb der Wissenschaftswelt lebte. Die geschilderte Erfahrung spiegelt die weit verbreitete Meinung wider, daß Goethes Briefroman „Werther" etliche Nachfolgesuizide, wenn nicht gar eine „Selbstmordepidemie" ausgelöst habe. So haben wir es schon in der Schule gelernt, so findet es sich in der historischen und germanistischen Forschung.396 So hat es im übrigen auch Thomas Mann fortgeschrie396 YGI ETWA: BORRIES, Erika/BORRIES, Ernst: Aufklärung und Empfindsamkeit, Sturm und Drang (= Deutsche Literaturgeschichte, Bd. 2) München 1991, S. 292; CONDRAU, G.: Der Mensch und sein Tod, 2. Aufl., Stuttgart 1991 (1. Aufl., 1984), S. 257; NOON, Georgia: On Suicide, in: Journal of the History of Ideas, Bd. 39, 1978, S. 371-386, hier: S. 381; RINGEL, Erwin: Vorwort, in: KOLLER, Margit: Selbstmord und Schriftstellerexistenz. Texte von 21 Autoren, Eisenstadt 1990, S. 7F, hier: S. 7; SZITTYA, Emil: Selbstmörder. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte aller Zeiten und Völker, Leipzig 1925, S. 363; WOLFF, Reinhold: Die Ästhetisierung aufklärerischer Tabukritik bei Montesquieu und Rousseau, München 1972, S. 17. Darüber hinaus hat die zugrundeliegende Vorstellung als „Werther-Effekt" Eingang in die Begrifflichkeit der Psychologie gefunden. Eingeführt wurde der Begriff von David PHILIPS. (Vgl. etwa: PHILIPS, D. P.: Der Werther-Effekt. Selbstmord und der Einfluß von Suggestion und Imitation, in: WELZ, Rainer/PoHLMEiER, Hermann (Hrsg.): Selbstmordhandlungen. Suizid und Suizidversuch aus interdisziplinärer Sicht, Weinheim/Basel 1981, S. 100-124.) Es bleibt zu betonen, daß heutige Programme zur Suizidprävention zu Recht für eine zurück-

266

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

ben. 3 9 7 Von einer „epidemic of romantic suicides throughout Europe" 398 , einer „Suizidwelle" 3 9 9 ist zu lesen und davon, daß Goethe den Selbstmord zumindest rehabilitiert 400 und zu einem Modethema, 4 0 1 wenn nicht gar „salonfähig" gemacht hätte. 4 0 2 Erübrigen sich angesichts solcher Feiischreibungen weitere Fragen bezüglich des Phänomens „Werther"?

3.4.1. Die multiplizierte

Debatte:

Goethes Roman zwischen

Euphorie

und Kritik Machen wir uns trotz des (zumindest auf den ersten Blick) bestehenden Konsenses die Mühe, die Texte erneut zu befragen und dadurch möglicherweise bewährte Lesarten zu Rekonstruieren'. Denn Dekonstruktion impliziert gerade, das (scheinbar) Selbstverständliche neu zu betrachten, das Unzweifelhafte in Zweifel zu ziehen und es zu „exotisieren". 403 Nur so findet sich die Option auf veränderte Perspektiven, die wiederum den Blick auf andere als die gängigerweise gesehenen Zusammenhänge frei geben. Es geht also um unsere Wahrnehmungen als Forschende und um die Wahrnehmungen in einer vergangenen Zeit. Es nicht zu bestreiten, daß Goethes „Werther" in nahezu einzigartiger Weise im Brennpunkt zeitgenössischer Diskussionen stand, daß er eine Fülle von Rehaltende Berichterstattung über Suizide plädieren. (Dazu jüngst:

HEGERT, V./ZIEGLER, W . :

Der Werther-Effekt. Bedeutung, Mechanismen, Konsequenzen, in: Der Nervenarzt, 73, 2002, S. 41-49.) 397 MANN, Thomas: Goethes Werther (= Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten, in: Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann, F. a.M. 1953, S. 198-214, zitiert nach: HERRMANN, Hans Peter (Hrsg.): Goethes „Werther". Kritik und Forschung, Darmstadt 1994, S. 88-101, hier: S. 90): ,,[D]ie melancholische Gefolgschaft ging bis zum äußersten: Selbstmorde ereigneten sich, die offenkundig und erklärtermaßen Befolgungen von Werthers Beispiel waren". 398 EVANS, Glen/FARBEROW, Norman L.: The Encyclopedia of Suicide, New York 1988, S. 140. 399 WITTMANN, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München 1991, S. 184. 400 ALVAREZ, Alvin Α.: Der grausame Gott. Eine Studie über den Selbstmord, Hamburg 1974 (Original 1972), S. 216. 401 MINOIS, Georges: Geschichte des Selbstmords, Düsseldorf/Zürich 1996 (Original 1995), S. 395. 402 AMELUNXEN, Clemens: Der Selbstmord. Ethik, Recht, Kriminalistik, Hamburg 1962, S. 2 2 . 403 BASSLER, Moritz: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a. M. 1995, S. 7-28, hier: S. 1 Dem entspräche auch die Forderung Rudolf VIERHAUS', in der kulturhistorischen Forschung seien „auch die bekanntesten Quellen neu zu lesen [...], die explizite Bedeutungsebene ihrer Sprache zu durchdringen". (VIERHAUS, Rudolf: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten, in: ders./CHARTLER, Roger: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, Göttingen 1995, S. 7-25, hier: S. 22.)

3.4. Vom ,Wertherfieber' und ,Selbstmordepidemien'

267

aktionen auslöste und für Furore sorgte.404 Ebenso unzweifelhaft ist, daß Begeisterung und Aufregung über den Roman so weit reichten, daß die Wertherfigur zum Ideal- oder Schreckensbild empfindsamer Jugend, rauschhaften Genies und absoluter Liebe stilisiert wurde. Die Euphorie mag dabei sogar zur Entstehung eines Kultes geführt haben, der entsprechende Devotionalien kreierte. 405 Damit sich solche Begeisterung und die entsprechenden Befürchtungen verbreiten und fortsetzen konnten, mußten sie jedoch kommuniziert, vertextet werden. Notwendige Voraussetzung für ein Modethema „Werther" waren folglich die beschriebenen Kommunikations- und Publikationsmöglichkeiten, wie sie bis zum späten 18. Jahrhundert entstanden waren und einen nie dagewesenen Ideenaustausch produzierten.406 Nur ihretwegen füllt heute diese beeindruckende Menge an Rezensionen und Nachschriften die Bibliographien,407 nur so konnte der Roman mit dieser Intensität und Ausdauer besprochen, verhandelt und beurteilt werden. Allerdings darf die große Resonanz auf Goethes Roman nicht mit einem Plädoyer für den ,Selbstmord' gleichgesetzt werden. Werther ist nicht wegen seines Selbstmords gefeiert worden, vielmehr war diese Tat der umstrittenste Bestandteil der ausufernden Debatte. Das Publikum verlor sich in der Geschichte einer absoluten Liebe, was sich im übrigen in den Illustrationen zum Roman spiegelte, die sich auf Darstellungen der Liebe, der Liebenden und der Sehnsucht konzentrierten.408 „Die reinsten Quellen des stärksten Gefühls von Liebe und Leben" wurden gefeiert. 409 War die Liebe absolut, dann konnte sie

404 YGI (¡JE umfangreichen bibliographischen Angaben in: GOEDEKE, Karl: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, 2. überab. Aufl., Bd. 4, Dresden 1891, S. 652-656. Besonders begeistert zeigte sich: LENZ, Jacob Michael Reinhold: Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers, 1775, zitiert nach: ENGEL, Werther, 1986, S. 88: „Oh guter edler Jüngling, heiliger Werther! könnte ich jemals nur den Schatten deines Werts mir eigen machen." 405 Vgl. etwa die Anmerkung LAUKARDS: „Das Grab des jungen Werthers wird noch immer besucht, bis auf den heutigen Tag." (LAUKARD, Leben und Schicksale, 1792, S 143.) Berichtet wird in der Literatur von einer „Werthertasse" und ansonsten natürlich von der berühmten „Werthertracht". (Vgl.: WITTMANN, Geschichte des deutschen Buchhandels, 1991, S. 1 8 4 . ) Vgl. außerdem: MÜLLER, Peter: Der junge Goethe im zeitgenössischen Urteil, Berlin 1969, S. 2 1 5 . 4

«> S i e h e K a p . 3 . 2 . 1 .

407

Vgl.: GOEDEKE, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, Bd. 4,

1891,

S. 6 5 2 - 6 5 6 .

408 vgl. die verzeichneten Abbildungen in: Werther-Illustrationen, Stadtmuseum Ratingen, K ö l n 1982, S. 9 5 - 1 4 4 . 409

HEINSE, Johann Jakob Wilhelm: Über die Leiden des jungen Werthers, in: Iris. Zeitschrift für Frauenzimmer, Dezember 1774, zitiert nach: MANDELKOW, Goethe im Urteil seiner Kritiker, 1975, S. 23 f.

268

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

sogar bis zum eigenen Tod führen. 410 Aber selbst dieses Szenario eines verklärten Suizids aus Liebe findet nahezu ausschließlich in der aufklärerischen Kritik statt.411 Als Hintergrund muß berücksichtigt werden, daß von Leidenschaft gelenkte Liebe als eine der häufigsten Ursachen für Selbstmorde angesehen wurde 412 und die argumentative Verbindung zwischen Liebes- und Suizidproblematik die Angriffe gegen Schwärmerei und Empfindelei untermauern konnte. Im Wertherdiskurs kulminierten sowohl Verklärungstendenzen als auch die scharfe - aufklärerische oder konservative413 - Kritik an den Gefahren überschwenglicher Liebe und an vermeintlichen Angriffen gegen traditionelle Lebens· und Moralvorstellungen. Der Roman selbst aber war extreme Ausarbeitung, Produkt und Fortführung von bestehenden Tendenzen der Zeit, die Liebe und Tod neu konnotierten.414 Somit verbindet sich unsere Analyse des Wertherphänomens mit den zuvor erläuterten Veränderungen der Gefühlswelten im späten 18. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang sei nochmals an die Befürchtungen bezüglich eben dieser andersartigen Gefühle erinnert, sowie an die verwandte Kritik am übermäßigen Lesen. Im „Werther" wurde beides, die Welt der Gefühle und die Welt der Literatur überhöht, wobei die Briefform außerdem Einblicke größter Nähe gewährte. Der Roman setzte sich darüber hinaus über die bestehenden Regeln seines „Genres" hinweg und wagte es, gerade in seiner vermeintlich biographischen Anbindung, die Leserinnen in den weiten Raum der Fiktion zu locken.415 Von den aufgezählten vielseitigen (Norm-)Abweichungen führt denn auch eine Spur zu der heraufbeschworenen Selbstmordwelle. Um die Verbindung aufzufinden, soll zunächst die Begrifflichkeit (von Forschung und Zeitgenossen) näher betrachtet werden. Stellt man den sonst allzu leicht verschwimmenden Konturen ein wiederholtes Lesen der Texte entgegen, fällt die Vermischung von „Wertherfieber" und „Empfindsamkeitsepidemie" zu einer durch die Werther-Lektüre ausgelösten „Selbstmordepidemie" auf. „Wertherfieber" 41

° Siehe Kap. 3.3.2.

411

Vgl.: ENGEL, Ingrid: Werther und die Wertheriaden, Diss. St. Ingbert 1986, S. 337: „Dieses so heftig umstrittene Ende Werthers findet in der nachschaffenden Literatur nur vorsichtige Nachahmung." 412 Etwa: BURKHARD, Johann Gottlieb: Briefe über den Selbstmord, Leipzig 1786, S. 37; KNÜPPELN, U e b e r d e n S e l b s t m o r d , 1 7 9 0 , S . 2 3 0 - 2 4 5 . 413

Zur Differenzierung der Werther-Gegner vgl.: FLASCHKA, Goethes ,Werther', 1987, S. 2 5 3 . 414 In diese Richtung zielte auch GOETHES (rückblickende) Einschätzung der Wirkung seines Romans in: Dichtung und Wahrheit, zitiert nach: FLASCHKA, Goethes .Werther', 1987, S. 289: „Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf [...]" 415 Vgl.: KREBS, Roland: Lenz' Beitrag zur Werther-Debatte: die .Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers', in: Aufklärung, Jahrg. 10, 1998, Heft 1, S. 67-79, hier: S. 7 2 .

3.4. Vom ,Wertherfieber' und ,Selbstmordepidemien'

269

bedeutete zunächst lediglich eine - zwar durchaus als schädlich anzusehende übersteigerte Empfindsamkeit,416 eine überhöhte Euphorie für Goethes Roman. Diese Begeisterung schien manchem Aufklärer zu realitätsfern und zu bedrohlich für das Gleichgewicht zwischen Vernunft und Einbildungskraft, folglich war sie der gleichen Kritik wie die gesamte „Empfindelei" ausgesetzt. In letzter, extremster Konsequenz entstand hier der Vorwurf, daß die Zerrüttung durch übermäßige Lektüre zum Selbstmord führen könne. So galt es allgemein für die „Lesesucht". Erst am Ende einer Entwicklung war das „Wertherfieber" schließlich nicht mehr nur als Verbindung von Empfindelei und überreizter Lektüre codiert, sondern es wurde auch ein Zusammenhang zwischen (vermeintlich) beobachteten vermehrten Selbstmorden und dem Roman impliziert. Heller beklagte sogar einen ,,wertherische[n] Todtenreigen".417 Gleichzeitig wurden die Gefahren von häufigen Suiziden jedoch auch jenseits des Wertherphänomens von vielen Seiten beschworen.

3.4.2. Die „ Überhandnehmung des Selbstmords "4IS Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts häuften sich die Klagen darüber, daß immer mehr Menschen sich das Leben nehmen würden.419 Diese Klagen sollen zunächst unabhängig von ihrem ,realen' Fundament als Zeugnisse von Wahrnehmungen ernst genommen werden 4 2 0 Allein die Flut von entsprechenden 416

So definiert noch KNÜPPELN das „Wertherfieber" als die „Epoche, wo die Empfindelei weit um sich griff, wo beide Geschlechter von dieser Epidemie angesteckt wurden [...]" Schließlich sei es dann so weit gegangen, daß sich Liebeskranke in den Tod stürzten. (KNÜPPELN, Ueber den Selbstmord, 1790, S. 135 f.) Vgl. auch das zwischen Satire und Empfindsamkeit situierte Theaterstück: GÖCHHAUSEN, Emst A. von: Das Werther-Fieber, ein unvollendetes Familienstück, s.l. 1776. 417 HELLER, Heinrich W.: Ueber den Selbstmord in Teutschland, Frankfurt a. M. 1787, S. 61. 418 SINTENIS, Ueber die zweckmäßigsten Mittel gegen die Überhandnehmung des Selbstmords, 1792. 419 Vgl.: GRIMM, Johann L.: Christliche Warnung vor dem Selbstmord am Tage Matthiä; der Gemeinde öffentlich vorgetragen, Regensburg 1776, S. 5; KNÜPPELN, Ueber den Selbstmord, 1790, S. 7 f.: „Wie zahlreich sind in unsern Tagen diese Beispiele? in unsern aufgeklärten Zeitalter"; HELLER, Ueber den Selbstmord, 1787, S. 61 ; Kommentar des Übersetzers zu: HUME, David: Drei Untersuchungen über den Selbstmord, aus dem Englischen übersetzt, mit Zusätzen und Anmerkungen begleitet, Hannover 1787, S. 103; SAILER, Ueber den Selbstmord, 1785, Instruction für dieses Büchlein: „die Leichen vorzählen, die der Menschenfeind Selbstmord in nahen und fernen Landen seit kurzem gehäuft hat"; TZSCHIRNER, Leben und Ende merkwürdiger Selbstmörder, 1805, S. 45: „so zahlreich in den neueren Zeiten die Beispiele derer sind, welche hoffnungslose Liebe und verliebte Schwärmerei zum Selbstmord leitete [...]" Schon im Titel zielen in die nämliche Richtung: SINTENIS, Ueber die zweckmäßigsten Mittel gegen die Überhandnehmung des Selbstmords, 1792; Wahrscheinliche Ursachen der häufigen Selbstmorde unserer Tage, in: Der Deutsche Zuschauer, Bd. 7, 1788, S. 166-173. 420 Eine Rekonstruktion der .tatsächlichen' Selbstmordfalle ist unmöglich. (Vgl.: BAUMANN, Überlegungen zur Geschichte des Suizids, 1994, S. 319.)

270

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Publikationen, die in dieser Zeit erschien, versinnbildlicht die Bedeutung, die man dem Thema ,Selbstmord' gab. 421 In den diagnostizierten ,Selbstmorden' sah man eine massive Bedrohung für Gesellschaft und Staat. Artikulierte man diese Befürchtungen, dann ging es immer um mehr als um bloße Instrumentalisierungen des Sujets. Sicherlich gab es derartige Verbindungen, da sich gerade durch die Etabliertheit des Arguments andere Kritik verschärfen ließ; Kritik an Empfindlern zum Beispiel oder an „Lesewütigen". Darüber hinaus ist jedoch jeder Suizid per se ein Angriff auf die Gesellschaft, dergestalt daß der Suizident es vorzieht, seine Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft aufzukündigen. 422 Damit widersprach die Tat vehement dem aufklärerischen Tugendideal, das immer die Unterordnung des einzelnen unter das allgemeine Wohl forderte. 423 In diesem Sinne war der Suizid auch die Hypertrophie jener Individualisierungen, die ich zuvor beschrieben habe und letztlich die größtmögliche Steigerung an Unmäßigkeit. Der Gedanke, daß die Gesellschaft durch die wahrgenommene Zunahme der Suizide Schaden nehmen könne, war im Denksystem auf zweierlei Weise plausibel verankert: Einerseits mußte man annehmen, daß die .Gesundheit' der Gesellschaft unterwandert würde, indem jeder Suizid als Angriff auf Moral und Tugend wahrgenommen wurde und außerdem als negatives Beispiel, das auch andere auf einen vermeintlich leichten Fluchtweg aus dem Leben und somit aus ihren Pflichten führen könnte: „Ja, gewiß schadet Selbstmord der menschlichen Gesellschaft, indem man durch denselben ein schreckliches Beispiel giebt, welches, zur Zeit des Elends und der Noth allgemein nachgeahmt, ein Land, das man vertheidigen sollte, verwüsten würde." 424

Andererseits wurde, wie es schon im vorhergehenden Zitat anklingt, jeder Selbstmord als direkte (negative) Einflußnahme auf die ,Stärke' des Staates gewertet, indem diesem nützliche Mitglieder vorzeitig entzogen würden: „Der Staat verliert immer dadurch Glieder, welche sonst lange zu seinem Dienste hätten leben, und dan im Glauben an ihn und in der Furcht vor ihm sterben können." 425 421

V g l . d i e in d e n B i b l i o g r a p h i e n v o n BERNARDINI u n d ROST a u f g e f ü h r t e n Titel: BERNAR-

DINI, Paolo: Literature on Suicide 1516-1815, Lewinston 1996; ROST, Hans: Bibliographie des Selbstmordes, mit textlichen Einführungen zu jedem Kapitel, Augsburg 1927. 422 Vgl.: BACHHUBER, Uwe: Vom Täter zum Opfer. Der .Selbstmord' im Wandel sozialer Zuschreibungen, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Bd. 16, 1992, S. 32-45, hier: S . 3 9 f . ; NOON, O n S u i c i d e , 1 9 7 8 , S . 3 7 1 . 423

Vgl. zum Tugendkonzept der Aufklärung: BEGEMANN, Furcht und Angst, 1987, S. 29. Kommentar des Übersetzers zu: HUME, Drei Untersuchungen, 1787, S. lOOf. 425 Ebd., S. 1 0 3 . Diese relativ pietätlos scheinende Äußerung steht in offensichtlichem Zusammenhang mit dem Topos des ,Todes fürs Vaterland' und war weniger abseitig, als ein heutiger Betrachter annehmen könnte. Der Opfertod für das .Vaterland' war Sinnbild des durchweg .guten' Todes und wurde daher diametral dem Suizid entgegengestellt. Entscheidend: ABBT, Thomas: Vom Tod für das Vaterland, Berlin 1761. 424

3.4. Vom .Wertherfieber' und ,Selbstmordepidemien'

271

Solche Befürchtungen wurden dadurch verstärkt, daß überhaupt die Bedeutung der Bevölkerungsstärke für die Macht eines Staates neu entdeckt wurde, wie ich es bereits im Kontext des Themas Medikalisierung eingehender ausgeführt habe. 426 Schließlich schien die Gefahr derart bedrohlich, daß Gegenmaßnahmen gefordert wurden, „weil im entgegengesetzten Fall die Sicherheit des Staates und das Leben der Bewohner desselben gefährdet würden." 427 Wie bereits dargestellt, wurde in diesem Zusammenhang im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts besonders die Frage der Suizidstrafen diskutiert.428 Obwohl die Tendenz eindeutig zu mehr Milde und einer Abschaffung der Strafen ging, gab es immer noch Stimmen, die ein hartes Durchgreifen des Staates forderten. Die Ambivalenzen blieben vielfältig. Ohne die Einzelheiten nochmals darzustellen, möchte ich exemplarisch die Postulate des Mediziners Johann Valentin Müller und des Anonymus aus den „Stats-Anzeigen" gegenüberstellen. Beiden gemeinsam war, daß sie einen dringenden Handlungsbedarf sahen, ihre Schlußfolgerungen trennten sie jedoch weit voneinander. Der eine war ein Verfechter strengster Bestrafungen und polemisierte gegen die „Leute von affectierter Empfindelei und modemäßiger Menschenliebe", die die Bestrafungen des Selbstmords abgeschafft hätten 429 der andere verlangte - gemäß seiner eher an somatischen Konzepten orientierten Theorie - unter anderem: „man sorge für gymnastische Spiele und andere Volkszerstreuungen, die den Körper gesund erhalten". 430 Auch gegen den „Werther" wurden konkrete Maßnahmen gefordert, was sich am extremsten in den Bemühungen der Leipziger theologischen Fakultät niederschlug, ein Verbot des Romans durchzusetzen; Bemühungen, die zu guter Letzt tatsächlich Erfolg hatten.431 Als Begründung disqualifizierte man den „Werther" als eine „Apologie und Empfehlung des Selbst Mordes", die geeignet sei, „üble Impressiones" zu machen, „zumal bey schwachen Leuten, Weibs Personen"; für diese könne der Roman „verführerisch werden." 432 In diesem

Vgl. auch: KURZBECK, Joseph Edler von: Von dem Begräbnisse der Selbstmörder, Wien 1786, S. 14: „Die Republik muß also eine Strafe darauf setzen, wenn Jemand sein Leben angreift. Der Schaden, der ihr durch den Selbstmord zuwächst, besteht darinnen, daß sie auf solche Art viele Mitglieder verlieret, wenn ein jeder mit seinem Leben nach Belieben umgehet". 426 Siehe Kap. 1.3.3.1. 427 E-N: Ueber die Behandlung der Selbstmörder, in: Journal für Bayern und die angrenzenden Länder, Bd. 1,1800, Heft 4, S. 394^*10, hier: S. 398. 428 Siehe Kap. 2.2. 429 STRAFEN DES SELBST-MORDES. Ob, und wie, der Selbst-Mord zu bestrafen sei? Fragment eines Schreibens aus Β - , 17. Apr. 1783, in: Schlözer, August Ludwig (Hrsg.): Stats-Anzeigen, Bd. 6, 1784, S. 295-300, hier: S. 296. 430 MÜLLER, Selbstmord nach seinen medizinischen und moralischen Ursachen, 1796, S. 68 f. 431 Vgl.: FLASCHKA, Goethes .Werther', 1987, S. 281 f. 432 Johann August ERNESTI, Dekan der theologischen Fakultät, Promemoria an die Kurfürst-

272

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Kausalkonstrukt tauchte folglich einmal mehr die Macht der Einbildungen auf. Akut würde der Handlungsbedarf besonders dadurch, „dazumal itzo die Exempel des Selbstmordes frequenter werden."433 Die Leipziger theologische Fakultät schrieb damit an der Einschätzung mit, daß man in einer durch häufige Selbstmorde (mit)geprägten Zeit lebe. Teilweise mag diese Betonung einer vermeintlichen Selbstmordhäufigkeit (wiederum) als Unterstützungsargument zu lesen sein, um das Weither-Verbot durchzusetzen - ein Ziel, das man nicht nur, aber besonders aufgrund der angeblichen Selbstmordverherrlichung anstrebte. Dieses diskursive Versatzstück ist, wie gezeigt, jedoch allgemein zu präsent, um ausschließlich als bewußte manipulative Maßnahme gewertet zu werden. 434 Daher läßt sich die Kritik am „Werther" auch nicht auf einen Widerstand „platter bürgerlicher Verhaltensnormen" reduzieren.435 Statt dessen wird die Eigendynamik des Diskurses mehr und mehr augenscheinlich. Die Sorge um die Auswirkungen dieses einzelnen Romans, die ja mit dem frühen Leipziger Verbot von 1775 längst nicht aus der Welt geschafft worden waren, verband sich mit umfangreichen Debatten Uber die Gefahren des Lesens generell. Darüber hinaus ist zu hinterfragen, ob die dargestellten Vorwürfe und Befürchtungen mit einer allgemeinen Krisenstimmung korrespondierten. Dieses Szenario findet sich für das ausgehende 18. Jahrhundert in

liehe Bücherkommission und Zensurbehörde, Leipzig am 28. Jan. 1775, zitiert nach: FLASCHKA, Goethes .Werther', 1987, S. 281. « 3 Ebd_ 434

Foucaults Ansatz des durch (Wissens-)Macht gelenkten Diskurses ist in diesem Zusammenhang daher nicht in völliger Übereinstimmung Folge zu leisten; diskursive Prozesse entwickeln auch eine (mehr oder weniger ungesteuerte, oder auch ursprünglich in eine andere Richtung gesteuerte) Eigendynamik. (Vgl.: DANIEL, Uta: Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten in der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, B d . 4 8 , 1997, S. 1 9 5 - 2 1 8 u. S . 2 5 9 - 2 7 8 , hier: S . 2 6 6 ; FINK-EITEL, H i n r i c h : M i c h e l

Foucault, 3. Aufl., Hamburg 1997, S. 64.) 435 So bei: DOKTOR, Wolfgang: Die Kritik der Empfindsamkeit, Frankfurt a. M. 1975, S. 3 0 1 . Ebenso fehl geht auch SCHERPE, der die aufklärerische Kritik an Goethes Jugendwerk auf ein allgemeines Problem der „bürgerlichen Moralphilosophen, die den Tod nie recht in Einklang mit ihrer sonnigen Gemeinschaftslehre hatten bringen können" reduziert. (SCHERPE, Klaus R.: Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert, Bad Homburg 1975, S. 68.) Außerdem sollte sich die historische Analyse weder auf Belehrungen noch auf Glättung des Widersprüchlichen oder die Suche nach .modernem' Verhalten verlegen, wie es folgenden Äußerungen WITTMANNS immanent ist: „Goethes Bestseller wurde von vielen seiner Leser exemplarisch mißverstanden. [...] Eine Suizidwelle und Verbotsforderungen von Sittenwächtem kennzeichnen die schlimmen Folgen solch obsoleter Rezeptionsweise. Moderner verhielten sich jene Leser, die sich mit dem .Werther' nur auf säkulare Weise identifizierten, indem sie die Kleidung des Helden (blauen Frack und gelbe Beinkleider) zum Signal rebellischer Jugend erhoben". (WITTMANN, Geschichte des deutschen Buchhandels, 1991, S. 184.)

3.4. Vom ,Wertherfieber' und ,Selbstmordepidemien'

273

der Forschung.436 In die gleiche Richtung zielte die Feststellung Hellers, daß die bedrohliche und schädliche Wirkung der Suizide auf den Staat sich nur deshalb derart entfalten könne, da dieser ohnehin schon von anderer Seite in seinen Grundfesten erschüttert sei, „da es von schriftstellerischen Herostaten, die Frömmigkeit, Patriotismus und Ehrbarkeit in den Seelen der Menschen einäschern [...], in läppischen Klagen über die Regierung ihres Vaterlands, närrische Unzufriedenheit über die Welt, schwärmerisches Ringen nach Entfeßlung, und baare Zuversichtlichkeit auf himmlische Absolution einblaßen, wimmelt [.. .]" 437

Dabei war zur Zeit der Veröffentlichung von Hellers Schrift die französische Revolution noch zwei Jahre entfernt, die einen heftigen Schub an neuer Verunsicherung brachte,438 andererseits aber auch stichhaltige Argumente für die Gegner jener „heillos aufgeklärten Zeiten",439 die für die Revolution verantwortlich gemacht wurden. Wieder wurde die Verbindung zum Suizidproblem hergestellt und „Rebellion, Königs- Menschen- und Selbstmord" in eins gesetzt, 440 wodurch sich das wahrgenommene Bedrohungspotential multiplizierte.

3.4.3. Wahrnehmungsphänomene und die Macht der Kommunikation Doch trotz aller Krisenszenarien, die heraufbeschworen wurden, ist nicht zu übersehen, daß die Bedrohlichkeit des „Werthers" von den Zeitgenossen selbst in Frage gestellt wurde. Nicht jeder Autor, ja noch nicht einmal jeder Kritiker Goethes glaubte an die verheerende Wirkung des Romans. Selbst wenn es eine „Selbstmordmode" gebe, hielt etwa Paul Joachim Sigmund Vogel fest, dann sei nicht „Werther allein [...] indessen der Stifter dieser Mode; nicht alle modischen Selbstmörder bringen sich aus Wertherischen Gründen um."441 Aus436

Die in der Forschung genannten Ursachen für das Bewußtsein einer Krisenzeit reichen von Unzufriedenheit mit der sozialen und/oder politischen Situation bis hin zu (konservativen) Ängsten vor den Entwicklungen im Nachbarland Frankreich. (Vgl. als .Klassiker': BRUNSCHWIG, Henri: Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert. Die Krise des preußischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts und die Entstehung der romantischen Mentalität, Berlin 1976, S. 187-342. Außerdem u.a.: VIERHAUS, Rudolf: Politisches Bewußtsein in Deutschland vor 1789, in: BERDING, Helmut/ULLMANN, Hans-Peter (Hrsg.): Deutschland zwischen Revolution und Restauration, Düsseldorf 1981, S. 161-183, insb. S. 163.) 437 HELLER, Ueber den Selbstmord, 1787, S. 43. Ähnlich auch: SCHLETTWEIN, Johann Α.: Briefe an eine Freundinn über die Leiden des jungen Werthers, Carlsruhe 1775, S. 9: wenn ein Roman wie Goethes „Werther" derart positiv aufgenommen werde, „so ist gewiß schon das ganze Fundament von Glückseligkeit der Gesellschaft untergraben". 438 Vgl.: SCHNEIDERS, Die Wahre Aufklärung, 1974, S. 127-133. 439 MAY, Medicinische Fastenpredigten, 1. Theil, 1793, Vorbericht, unp. 440 Selbstmord ein Verbrechen und Krankheit nach Befinden, 1794, S. 169. 441 VOGEL, Betrachtungen über den Selbstmord, in: KÖNIG, Johann Christoph: Der Freund der Aufklärung und Menschenglückseligkeit. Eine Monatsschrift für denkende Leserinnen

274

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

drücklich Abstand von den Beschuldigungen gegen den „Werther"-Roman nahm auch der Jurist Carl F. Hommel, denn: „Alle Welt hat dieses Buch gelesen, aber sich noch niemand erschossen." 442 Worauf gründete sich dann aber die Furcht vor einer Suizidwelle? Wie wurden die Vorwürfe von einem Autor zum nächsten weitergetragen? Konkrete Beispiele werden selten aufgeführt, das gilt sowohl für die Forschungs- als auch für die zeitgenössische Literatur. Prominent ist allerdings der Fall der Christiane Laßberg, einer Frau aus dem direkten Umkreis Goethes, die sich in der Ilm ertränkte und dabei den „Werther" bei sich getragen haben soll.443 Außerdem findet sich im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" der bereits erwähnte Aufsatz mit dem Titel ,,[e]in neuer Werther", der den Suizid eines jungen Mannes als leichtsinnige Selbstdarstellung beschreibt.444 Dieser Hinweis auf eine Nachahmung Werthers stammte jedoch aus dem Jahr 1786. Und auch Laßbergs Tod lag gut drei Jahre nach dem Erscheinen des Romans. Woher kamen die Massen von Jünglingen und jungen Frauen, die sich mit dem Roman in der Hand das Leben nahmen und bis heute unsere Vorstellungen bevölkern? Als Diskursphänomen, als Debatte gab es das Phänomen „Werther" natürlich. Seine Wirkung als Thema, das heißt seine Verbreitung im kommunikativen Netz des späten 18. Jahrhunderts, ist kaum zu gering einzuschätzen. Noch im Erscheinungsjahr 1774 häuften sich die Stellungnahmen von überall her 445 - seien sie positiver oder negativer Art. Wohl kaum ein anderes Werk ist mit solcher Ausdauer rezensiert worden, weckte derartigen Überschwang der Begeisterung und der Verdammung gleichermaßen und häufte, damit nicht genug und trotz aller Tragik, noch dazu Spott auf sich. 446

und Leser aus allen Religionen und Ständen, Nürnberg 1785, S. 135-152 u. S. 179-194 u. S. 248-262, hier: S. 250. Ähnlich auch: GARVE, Christian: Aus einem Briefe, über die Leiden des jungen Werthers, in: ENGEL, J. J.: Der Philosoph für die Welt, 1. Teil, Carlsruhe 1783, S. 17-27, hier: S. 25 f.; STÄUDUN, Carl Friedrich: Geschichte der Vorstellungen und Lehren vom Selbstmorde, Göttingen 1824, S. 222. 442

HOMMEL, Carl F.: Kommentar zu: Des Herren Marquis von Beccarias unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, Breslau 1778, S. 172. 443 Zu diesem Fall etwa: RADBRUCH, Gustav/GwiNNER, Heinrich: Geschichte des Verbrechens, Stuttgart 1951, S. 249; SZITTYA, Selbstmörder, 1925, S 363. 444 Ein neuer Werther. Auszug aus einem Briefe, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 3, 1786, 3. Stück, S. 115-120. 445 GILLE, Klaus F.: Die Leiden und Freuden des jungen Werthers, in: Weimarer Beiträge, Bd. 39, 1993, S. 122-134, hier: S. 129: Es gab eine „Fülle von privaten Stellungnahmen, öffentlichen Rezensionen, Nachahmungen und Parodien". Vgl. auch: FLASCHKA, Goethes ,Werther', 1987, S. 249. 446 Vgl. als satirische Antworten auf Goethes Roman: BRETSCHNEIDER, Heinrich G. von: Eine entsetzliche Mordgeschichte von dem jungen Werther. Wie sich derselbe den 21. December durch einen Pistolenschuß eigenmächtig ums Leben gebracht. Allen jungen Leuten zur Warnung, in ein Lied gebracht, auch den Alten fast nutzlich zu lesen, s.l. 1776; Eine trostreiche und wunderbare Historia betittult: Die Leiden und Freuden Werthers des Mannes;

3.4. V o m ,Wertherfieber' und ,Selbstmordepidemien'

275

In seinen Ausmaßen war das Phänomen „Werther" wie dargelegt auch ein Produkt des ausgeweiteten Distributionssystems Buchmarkt, der neuartig verknüpften Kommunikationswege und einer ,,multimediale[n] Verbreitung"447 durch Werther-Mode, Werther-Grabstätte, Werther-Gesänge und anderes mehr. Jede Information wurde durch Rezensionen, Nachschriften oder Zeitschriftenartikel potenziert. Auf diese Weise konnte ein kollektives Interesse aufgebaut werden, ein Interesse, das notwendigerweise auch auf den .Skandal' wartete. Gemäß seiner Eigenart als Sensationsthema mußte es daher zu Überzeichnungen kommen. Davon waren auch Befürchtungen und wahrgenommene Bedrohungen betroffen. Als Folge der durch das „Wertherfieber" provozierten absoluten Aufmerksamkeit löste ein Suizid, der tatsächlich in bezug zum „Werther" gebracht werden konnte, ein breites Echo aus, nicht zuletzt, da die Suizidthematik ja einer der großen Angriffspunkte der Kritik gewesen war. Selbst wenn die Zahl der explizit geschilderten Fälle gering war, entstand nach und nach und auf dem Weg vielzähliger Fortschreibungen der Eindruck von häufigen Todesfällen. Der Suizid der Christiane Laßberg konnte außerdem sowohl bei Zeitgenossen als auch in der Forschung deswegen besonders große Aufmerksamkeit erwecken, da Goethe sich in der entsprechenden Zeit selbst in Weimar aufgehalten hatte. 448 Goethe wollte ihr noch dazu ein Denkmal setzen, und suchte eine Stelle, von wo man „in höchster Abgeschiedenheit, ihre lezte[n] Pfade und den Ort ihres Tods" übersehen konnte, 449 und baute so an der Mythenbildung mit. Voraussichtlich hätte schon dieser einzelne Suizid, der in Verbindung mit der Wertherlektüre gebracht werden konnte, genug suggestive Wirkung gehabt, um das Klischee auf den Weg zu bringen, das dann als willkommener Angriffspunkt gegen Goethe und seinen Roman aufgenommen, fortgeschrieben und verbreitet werden konnte. Durch die Dominanz des Wertherdiskurses drängten sich außerdem Verbindungen mit Suiziden auf, die eigentlich nicht in bezug zum Roman standen. 450 Starke Zweifel an den Verknüpfungen, die zwischen

zur Erbauung der lieben Christenheit in Reime gebracht, und fast lieblich zu lesen und zu singen, s.l. 1774; NICOLAI, Friedrich: Freuden des jungen Werthers, Leiden und Freuden Werthers des Mannes, hrsg. von Curt Grützmacher, Nachdr. d. Ausg. Berlin 1775, München 1972. Vgl. allgemein zur Literatur in Werther-Nachfolge: ENGEL, Werther, 1986. 447 FLASCHKA, Goethes .Werther', 1987, S. 296. Vgl. auch: ENGEL, Werther, 1986, S. 92; HERMANN-HUWE, „Pathologie", 1997, S. 110. 448

449

V g l . : SZITTYA, S e l b s t m ö r d e r , 1 9 2 5 , S . 3 6 3 .

GOETHE, Wolfgang v.: Brief an Charlotte v. Stein, 19. 1. 1778, in: ders.: Briefe 1775-1778 (= Werke, IV. Abth., 3. Bd. ), Weimar 1888, S. 207f., hier: S. 207. 450 Vgl.: BRUNSCHWIG, Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert, 1976, S. 342: „Die Statistiken der Zeitgenossen sind zu vage, als daß man eine klare Aussage über die zunehmende Zahl der Selbstmorde und deren Ursachen treffen könnte. Es ist möglich, daß seit Werther die Aufmerksamkeit mehr darauf gelenkt wurde, diese Tatsachen zu beachten oder viele Unfälle als freiwilligen Tod zu interpretieren."

276

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

der Wertherlektüre und einem konkreten Selbstmordfall gezogen wurden, hegte in diesem Sinne auch August Gottlieb Meißner: „Man giebt, soviel mir gesagt worden, seiner Liebe zu einer gewissen Art von Lektüre, hauptsächlich seinem öftem Lesen des Werthers, große Schuld. Diese Anklage ist so oft, und fast immer unerwiesen dagewesen, daß es sich wirklich einmal der Mühe verlohnte, desfals eine genauere Untersuchung anzustellen." 451 D i e s e Mühe hat sich aber bisher niemand gemacht. Es bleibt nochmals zu betonen, daß außerdem nicht nur die dem „Werther" angelasteten Suizide, sondern Suizide allgemein durch die veränderten Darstellungsmöglichkeiten anders wahrgenommen wurden. Wo über mehr Selbsttötungen berichtet wurde, mußte automatisch der Eindruck entstehen, daß sich mehr Leute als zuvor das Leben nahmen. Dieser Mechanismus hatte i m 18. Jahrhundert besonders England getroffen, das früher als andere Länder umfangreiche „bills of mortality" veröffentlichte und daher in dem hartnäckigen Ruf stand, mehr Selbstmörder' als alle anderen hervorzubringen. 4 5 2 D i e s e Auffassung wurde außerdem, sobald sie sich einmal im Diskursnetz festgesetzt hatte, unbesehen von einem Autor zum anderen weitergetragen. 4 5 3 D i e Macht der Berichterstattung bekamen ähnlich die Autoren und Leser der „Schlesischen Provinzialblätter" zu spüren, denn die dortige ungewöhnlich ausführliche Darstellung von Suiziden hatte dazu geführt, daß man bald als besonders suizidgefährdet galt:

Ausgewogen ist die Einschätzung SWALES': „It was even rumoured that the suicide rate rose. This has not been authenticated [...]; but the anxiety, that this might have happened was real". (SWALES, Martin: The Sorrows of Young Werther, Cambridge 1987, S. 94.) 451 MEISSNER, Lezter Aufsatz, 1784, S. 73. Vgl. auch: VOGEL, Betrachtungen über den Selbstmord, 1785, S. 260ff.: „Dank sey dem Mangel an Festigkeit in ihren Seelchen, es sind ihrer wohl viele, die nach Pistolen raffen, aber nur wenige, die sie losdrücken, und selbst an diesen wenigen verliehrt oft der Staat nicht viel". 452 Diese Charakterisierung findet sich etwa in: BECKER, Vorlesung über die Pflichten des Menschen, 1792, S 72; BURKHARD, Briefe über den Selbstmord, 1786, S. 8; ELVERT, Emanuel Gottlieb: Ueber den Selbstmord in Bezug auf gerichtliche Arzneykunde, Tübingen 1794, S. 62; MÜLLER, Selbstmord nach seinen medizinischen und moralischen Ursachen betrachtet, 1796, S. 20 u. S. 28; SÜSSMILCH, Die göttliche Ordnung, 1741, S. 297; TELLER, Joh. Friedrich: Vernunft- und schriftmäßige Abhandlung über den Selbstmord, Leipzig 1776, S. 95; Von dem Begräbnisse der Selbstmörder, in: Neue Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens, 1754, 23. Stück, S. 369^102, hier: S. 398. Der grundlegende Artikel zu diesem Diskursphänomen ist: BARTEL, Roland: Suicide in Eighteenth-Century England. The Myth of a Reputation, in: Huntington Library Quarterly, Bd. 23, 1959/60, S. 145-158. 453 Beispielsweise übernahm Gottfried LESS von Johann David MICHAELIS wörtlich die Aussagen darüber, daß der hohe Bierkonsum für die unzähligen Selbstmorde in England verantwortlich sei. (LESS, Gottfried: Vom Selbstmorde, 2. verb. Aufl., Göttingen 1778, S. 19; die 1. Aufl. stammte von 1776; Michaelis, Johann David: Mosaisches Recht, Frankfurt a.M. 1775, 6. Theil, § 272, S. 13.)

3.4. Vom ,Wertherfieber' und .Selbstmordepidemien'

277

„Daß wir Monat für Monat eine Gallerie von Selbstmördern aufzustellen haben, hat Schlesien den ungerechten Vorwurf zugezogen, daß dieses Verbrechen in diesem Lande vorzüglich im Schwange gehe - [ . . . ] Erst seitdem die Provinzialblätter das traurige Geschäft übernahmen, diese Verirrungen aufzuzeichnen, weiß man, daß sie so gewöhnliche Erscheinungen sind, vorher existirten sie eben so häufig, aber sie wurden außer dem nächsten Greis ihrer Existenz nicht bekannt". 454

Gleichzeitig mit den Berichten über Suizide wurde in der Bücherwelt das „Wertherfieber" weitergetragen, und sei es als publikumswirksamer Titel eines Theaterstücks,455 während auf der anderen Seite die Kritik an Theaterstücken und Romanen generell nicht nachließ. Besonders mit Blick auf den Roman ist nochmals festzuhalten, daß die Neuartigkeit des Genres, seine Macht der Fiktion zusammen mit den aufgewerteten Gefühlswelten Konfrontationen schaffen mußte. Negativ gewendet, in den Augen der Kritiker, bedeutete das, daß Romane nicht nur die „überhandnehmende Weichlichkeit und Empfindelei" förderten, sondern auch dafür verantwortlich gemacht wurden, daß der „Selbstmord [...] in einigen Provinzen mehr Mode" geworden zu sein schien.456 Letztlich kann man von der Verflechtung zweier verschiedener Diskursstränge ausgehen, die sich aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe ergab: der Werthereuphorie und der wahrgenommenen Selbstmordhäufigkeit. Ausgehend von einem Abwehrmechanismus gegen den Werther-Enthusiasmus und gegen alle vermeintlichen Verteidiger des .Selbstmords' einerseits und von der Selbstverstärkung des Wahrnehmungssystems durch die neuartige Kommunikationsflut andererseits setzte sich der Diskurs fort und produzierte immer neue Fäden und Verknüpfungen. Schließlich erreichte die Debatte ihren „Tipping Point" - sie war epidemisch geworden und konnte sich selbständig fortsetzen 457 Werther ... Suizide ... Bedrohungen ... Suizidhäufigkeit ... Werther ... Euphorie ... Bedrohung... Suizid... und so weiter. Eine Bedeutung stieß die andere an. Ein Text setzte den anderen fort, (selbst dann, wenn schon viel über Werther geredet worden war 458 ).

454

Schlesische Provinzialblätter, Bd. 5, 1787, S. 566 f., hier: S. 566. HOFFMANN, L. Α.: Das Werther-Fieber: Ein Schauspiel in fünf Aufzügen, Wien 1785. Der Hauptdarsteller ist im übrigen auch zunächst vom „Romanfieber" befallen, das sich dann allmählich in ein ,,ächte[s] Wertherfieber" auswächst. (Ebd., S. 29 u. S. 36.) Außerdem: GOCHHAUSEN, Das Werther-Fieber, ein unvollendetes Familienstück, 1776. 456 Diskurs über die medicinische Polizey, Bd. 1, 1786, S. 294. 457 Ich beziehe mich hier auf: GLADWELL, Der Tipping Point, 2000. Die Grundidee von Gladwells Buch ist, daß die Verbreitung von Ideen, Produkten oder Verhaltensweisen sich genauso verhält wie die Verbreitung von Viren. Ab einem bestimmten Punkt - dem Tipping Point - ist ihr Wachstum nicht mehr langsam, sondern von dramatischer Schnelligkeit. Es kommt zu einer Potentierung der Verteilung. (Ebd. S. 14ff.) 458 DILTHEY, Isaak Daniel: Werther an seinen Freund Wilhelm, aus dem Reiche der Todten. Motto: Wehe dem, durch den Aergemiß kömmt. Matth. XVIII, Berlin 1775, S. 3: Es sei zwar schon viel über Werther geredet worden, dennoch würde es nicht schaden, die „schädlichen Grundsätze in diesem Buche" zu beleuchten. 455

278

3. Melancholie, Hypochondrie und Suizid als Signen des 18. Jahrhunderts?

Die Bedrohung, die in den Köpfen entstand, ist statistisch nicht zu erfassen. Deswegen ist sie aber nicht geringer einzuschätzen, als wenn sich tatsächlich eine lange Liste aufstellen ließe, die all diejenigen benannte, die sich mit Goethes Roman in der Hand das Leben nahmen. Entscheidend ist lediglich die Wahr-Nehmung einer Suizidzunahme. Denn aus Wahrnehmungen jeglicher Art setzen sich unsere subjektiven und intersubjektiven Wirklichkeiten zusammen.4^

459

BERGER, Peter L./LUCKMANN, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1994 (Original 1966), S. 24.

Resümee Schon der englische Theologe Robert Burton hielt Anfang des 17. Jahrhunderts seine Zeitgenossen für besonders melancholieanfällig und schenkte ihnen daher seine „Anatomy of Melancholy".1 Im 18. und 19. Jahrhundert beklagte man die Häufung von Suiziden ebenso wie im späten 20.2 Und heute fragen wir uns, ob wir ein „Volk von Hypochondern" sind.3 So sehr sich diese Befürchtungen und Lamenti ähneln, so sehr stehen sie doch immer in ihren ganz eigenen Kontexten und beziehen sich auf jeweils unterschiedliche (und zu unterscheidende) Bedeutungsinhalte. Ich bin diesen Kontexten für das späte 18. Jahrhundert nachgegangen. Entsprechend habe ich in dieser Arbeit dargelegt, wie sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Bedeutungen von Melancholie, Suizid und Hypochondrie veränderten und welche speziellen Entwicklungen dabei in den letzten Jahrzehnten vor 1800 zum Tragen kamen. Stichwortartig lassen sich die wichtigsten Prozesse, die zu diesen Bedeutungsveränderungen beitrugen, als ,Medikalisierung', .Individualisierung' und Ausweitung der Publizität zusammenfassen. Diese Prozesse waren immer auch Veränderungen der Perspektive, von der aus man den Menschen und sein Leben betrachtete. Die sich verändernden Blickwinkel brachten für Betrachtende wie für Betrachtete sowohl Entlastungen als auch neue Zwänge. Einerseits fielen alte Bedrohungen - Anklagen aufgrund des Sündenkodex' etwa. Andererseits wurden neue Regeln aufgestellt - besonders auch Regeln, wie man auf die Menschen und Dinge blicken sollte. So wurde der,Selbstmord' nicht länger strafrechtlich verfolgt und nur noch selten als Tat des Teufels diskriminiert; so wurde Melancholie nicht mehr als Sünde, sondern als Krankheit bewertet; so wurde dem/der einzelnen neue Aufmerksamkeit geschenkt. .Aufmerksamkeit' zu bekommen, beinhaltet jedoch zweierlei: Fürsorge, aber auch Kontrolle. Die Konzentration auf das Individuum implizierte eine neue Beobachtung des Menschen. Eigene und fremde Handlungen wurden genau beäugt und außerdem \e,wjfentlicht. Körperliche Vorgänge wurden mit medizinischen Begriffen belegt und dadurch der inneren Erfahrung entfremdet. Kontrolle von außen und Selbstkontrolle wirkten jeweils zusammen.4

1 BURTON, Robert: Anatomy of Melancholy, Oxford 1989 (erstmals 1621). Vgl.: BENZENHOEFER, Udo: Vorwort, in: ders. (Hrsg.): Melancholie in Literatur und Kunst, Huertgenwald 1990, S. 1-5, hier: S. 2. 2 Etwa: FRIEDUEB, L.: Die Selbstmordmanie in der Gegenwart, Würzburg 1877; AMIS, Martin: Night Train, London 1997, S. 67. 3 Siehe Einleitung. 4 In diesem Sinne ist nicht von einer völligen Ablösung der Fremd- durch die Selbstdisziplinierung auszugehen.

280

Resümee

Außerdem war weder das neue Interesse für das Subjekt, noch der zunehmende Einfluß von medizinischen Interpretationen auf die (Be)Deutung von Körper, Seele, Handlungen und Gedanken darauf ausgerichtet, alle moralisierenden Bewertungen abzulegen.5 Im Gegenteil: Die Flut der diätetischen Schriften etwa, die bisweilen für jede Alltäglichkeit eine Vorgabe bereithielten, bewirkte auch, daß neue (moralische) Verantwortungen entstanden. Gesundheit konnte zur Pflicht werden. Welcher Zustand als krank und welcher als gesund gilt, hängt von kulturellen, von gesellschaftlichen Bedingungen ab. Es handelt sich oftmals um Krankschreibungen. Ich habe ausführlich dargestellt, wie im 18. Jahrhundert neue - und besonders medizinische - Blicke auf den Menschen geworfen wurden. Anatomiker schauten in den Körper hinein, die Sichtweise der Pathologie selektierte nach normal und unnormal, selbst die Seelenwelten sollten seziert werden.6 Diese Betrachtungsweisen standen in enger Verbindung und gegenseitigem Austausch mit jenem Prozeß, der das Verhältnis von Körper und Seele neu verhandelte. Texte aus dem Feld der Anthropologie, der (philosophischen) Medizin und der Erfahrungsseelenkunde betonten verstärkt den Einfluß des Körpers auf die Seele. Dadurch veränderten sich auch die Erklärungen für die Phänomene Melancholie, Hypochondrie und Suizid. Allerdings kam es weder zu einer völligen Somatisierung des ,Leib-Seele-Verhältnisses', noch dazu, daß sich ein einziges Modell durchsetzte. Vielmehr konkurrierten alte mit neuen Deutungsansätzen, wirkten die Konzepte der Humoralpathologie noch nach, während beispielsweise die Nerven als Verbindung zwischen Physis und Psyche gefunden wurden. Besonders im Fall der Hypochondrie entstand so ein vielfältiges Gemisch aus verschiedenen Krankheitsbildern, Erklärungsmustern und Behandlungsmöglichkeiten. Die Krankheit konnte unzählige Gestalten annehmen, wodurch sie um so häufiger erscheinen mußte. Der Einflußgewinn medizinischer Ideen und die veränderten Vorstellungen über den Zusammenhang von Körper und Seele wirkte sich in besonderem Maße auf die Vorstellungen aus, die im 18. Jahrhundert über den ,Selbstmord' entwickelt wurden. Ohne die Pathologisierung dieses Phänomens wäre dessen Kriminalisierung und Verteufelung kaum gefallen. Die Entpönalisierung des Suizids wurde außerdem durch Entwicklungen innerhalb der Rechtswissenschaft notwendig. Etwa wurde in einer breiten Debatte der Sinn und Zweck von Strafen neu diskutiert; mit dem Ergebnis, daß die Besserung des/der Tä5

Vgl.: VILA, Anne C : Enlightenment and Pathology. Sensibility in the Literature and Medicine of Eighteenth-Century France, Baltimore 1998, S. 187. 6 Vgl.: MORITZ, Karl Philipp: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfarungs-Seelenkunde. An alle Verehrer und Beförderer gemeinnüziger Kentnisse und Wissenschaften, und an alle Beobachter des menschlichen Herzens, welche in jedem Stande, und in jeglichem Verhältniß, Wahrheit und Glückseligkeit unter den Menschen thätig zu befördern wünschen, in: Deutsches Museum, Bd. 1, 1782, S. 485-503, hier: S. 488.

Resümee

281

ter(innen) in den Vordergrund gestellt wurde. Damit fiel jeder Selbstmörder' aus dem Strafsystem heraus. Allerdings bedeutet die Pathologisierung einer Tat auch, daß diese Tat nicht in den Rahmen des .Normalen' aufgenommen wird. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ging die bei weitem überwiegende Meinung dahin, daß ein .Selbstmörder' oder eine .Selbstmörderin' per se als krank anzusehen seien. Selbst Theologen schlossen sich dieser Haltung nicht nur an, sondern wirkten an ihrer Durchsetzung mit. Dabei ging es jedoch immer auch darum, die Möglichkeit eines legitimen ,Freitods' auszuschließen. In diesem Sinne half die Pathologisierung jeder Art von Selbsttötung, die Stigmatisierung der Täter(innen) aufrechtzuerhalten. Obwohl der Suizident aus dem Zugriff des Strafrechts weitgehend entlassen wurde, konnte dessen Unmoralität weiter festgeschrieben werden. Das lag keineswegs an einer völligen Separierung der Sphären von Recht und Moral.7 Die Täter(innen) handelten vielmehr lediglich in einem Zustand der Unzurechnungsfähigkeit. Dafür, daß man in diesen Zustand (der Melancholie, der Schwermütigkeit, der Krankheit) geraten war, konnte man weiter verantwortlich gemacht werden. Etwa wurde genau untersucht, ob man vor dem Tod ein unmoralisches Leben geführt hatte - und in vielen Fallgeschichten wurde ein solches als Ursache für den Todeswunsch diagnostiziert, nicht die gesellschaftliche Situation. Der Mechanismus, der die Pathologisierung als Ausgrenzung wirken ließ, betraf auch Hypochondristen und Melancholikerinnen. Indem ihr Zustand als krank klassifiziert wurde, fielen sie gleichzeitig unter das Verdikt, un-normal zu sein. Sie hatten sich in die Reihe derjenigen zu stellen, die auf der anderen Seite der Vernunft standen.8 Diese Funktion der Pathologisierung ist jedoch nicht auf eine bewußte Steuerung irgendeiner übergeordneten Macht zurückzuführen, sondern das Ergebnis der vielfältigen Veränderungen, Bewegungen und Verbindungen innerhalb des Diskurses, die in dieser Arbeit aufgezeigt wurden. Medizinische Erklärungen wirkten sich nicht nur auf die (Be-)Deutungen der Phänomene Melancholie, Hypochondrie und Suizid aus, sondern beeinflußten allgemein die Denk- und Lebenswelten des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Dieser Einflußgewinn zeigte sich einerseits darin, daß Mediziner ihren Stand festigen und institutionalisieren konnten, andererseits in einem großen Interesse an medizinischen Interpretationen des Menschen. Dieses Interesse konnte über die neuen Möglichkeiten des Bücher- und Zeitschriftenmarktes, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelten, befriedigt

7

WÄCHTER, Gerd H.: Strafrechtliche Aufklärung. Strafrecht und soziale Hegemonie im achtzehnten Jahrhundert, Diss. Frankfurt a.M. 1987, S. 116. 8 Vgl.: BÖHME, Gernot/BöHME, Hartmut: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a.M. 1996 (1. Aufl., 1983).

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Resümee

werden und reichte dadurch weit über die rein akademische Welt hinaus. Beispielsweise förderte die Medizin den Blick auf den einzelnen Fall. Das Individuum war eines der grundlegenden Themen des 18. Jahrhunderts. Man veröffentlichte juristische, medizinische und erfahrungsseelenkundliche Fallsammlungen und nutzte die neuentstehenden Journale zur Publikation von persönlichen Geschichten über sich und andere. Auch diese Darstellung von einzelnen Lebensschicksalen trug zur veränderten Sicht auf Suizid, Melancholie und Hypochondrie im 18. Jahrhundert bei. Während man etwa an der generellen Mißbilligung des Suizids festhielt, konnte man gleichzeitig Mitleid für einen besonderen Fall äußern. Die Konzentration auf den (einzelnen) Menschen rückte auch Melancholie und Hypochondrie in ein helleres Licht. Dadurch wurde einmal mehr die Vielgestaltigkeit dieser Erscheinungen deutlicher sichtbar. Das führte wiederum dazu, daß auch ihr Erscheinen als häufig wahrgenommen wurde. Man beobachtete aber nicht nur den anderen, sondern auch sich selbst - betrachtete die Welt der eigenen Seele, verglich die Funktionen des eigenen Körpers mit den Vorstellungen der medizinischen Schriften.9 Und man ging daran, die eigenen Beobachtungen wiederum zu publizieren. Die Vielzahl derartiger Texte, wie wir sie heute aus der Zeit des späten 18. Jahrhunderts finden, verweist auf das große Interesse, auf das solche Fremd- und Selbsterkundungen stießen. Verschiedene Entwicklungen, die ich im Verlauf dieser Arbeit dargestellt habe, haben dazu beigetragen, daß dieses Interesse entstehen und wachsen konnte: der Aufstieg der medizinischen Wissenschaft, die Verbreitung der medizinischen (und später dann auch anthropologischen und erfahrungsseelenkundlichen) Ideen durch die neu entstehenden Publikationsmöglichkeiten, die zunehmende Vorliebe für die Sphäre des Optischen, Visuellen. Die Texte über Hypochondrie verzeichneten die möglichen Folgen dieser neuartigen Blicke auf das eigene Ich. Dabei griffen sie zwar eine alte Krankheit auf, füllten diese aber mit (teilweise) neuen Inhalten und schrieben sie selbst fort, indem sie weitere Anknüpfungspunkte für die an der Selbstbeobachtung Erkrankten lieferten. So potenzierten sich die Zeugnisse über Hypochonder. Eine der Eigenarten .hypochondrischer' Erkrankungen ist und war, Wissen über Krankheitszustände quasi in den eigenen Körper zu absorbieren - aus solchen Kenntnissen eigene Symptome aufzubauen. Das bedeutet nicht, daß solche Krankheiten .eingebildet' waren, aber sie waren durch Wahrnehmungen beeinfiußt. Unabdingbar für die Verbreitung dieser Wahrnehmungen genauso wie für die Verbreitung der Wahrnehmungen der fremden Krankheitsphänomene war deren Umsetzung in Sprache. In der veränderten Medienlandschaft 9

Das betraf zunächst natürlich nur diejenigen, die über solche Schriften verfügten. Und auf diese Gruppierung der Lesenden habe ich meine Untersuchung weitgehend eingeschränkt Allerdings sollten die entsprechenden Ideen über die medizinische ,Volksaufklärung' weiter verbreitet, eben unter das Volk gebracht werden.

Resümee

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des späten 18. Jahrhunderts und der dadurch ermöglichten neuen Informiertheit liegt daher ein entscheidender Hintergrund für diejenigen Zuschreibungen, in denen die eigene Zeit als eine besonders melancholische, hypochondrische und suizidgefährdete interpretiert wurde. Die Welt der Schriftlichkeit änderte sich jedoch nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Die neue Aufmerksamkeit für das Individuum und die Durchdringung der Texte mit medizinischen Ideen habe ich bereits erwähnt. In unserem Zusammenhang ist außerdem wichtig, daß ein (halb-)öffentlicher Raum für die Welt der Gefühle geschaffen wurde, der so vorher nicht existiert hatte. Sowohl in den (fiktiven) Romanen als auch in den (intimen) Briefen konnten Empfindungen artikuliert und damit auch entwickelt werden. Dabei wurde paradoxerweise zugleich mehr Öffentlichkeit und mehr Privatheit geschaffen. Melancholie und Hypochondrie genauso wie die Ursache von Suiziden wurden jedoch oftmals als ungeregelte Gefühle, Leidenschaften, Empfindeleien gedeutet. Die vermehrte Beschäftigung mit Gefühlswelten förderte daher auch die Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen. Wieder führt hier eine Spur zu den (Selbst-)Wahrnehmungen der Zeit. War man im ausgehenden 18. Jahrhundert besonders gefühlvoll! Empfindsam? Melancholisch? Die Texte scheinen uns voll von Widersprüchen - den Widersprüchen ihrer Zeit. Die im Verlauf dieser Arbeit beschriebenen Entwicklungen - die Transformationen der Ideen, die veränderten Kommunikationswege, die Umdeutungen des Menschen, seines Körpers, Lebens, Todes kamen vielfältigen Umbrüchen gleich. Alte und neue Erklärungsmodelle trafen aufeinander, ergänzten und vermischten sich. Daraus mußten vielfache Ambivalenzen entstehen, und sie begegnen uns in vielen Zusammenhängen: Man bemühte sich etwa, den (eigenen) Körper zu erklären, ihn genauer zu beobachten; gerade dadurch verlor man den direkten Bezug zu ihm. Während man Bewertungen von fremdem und eigenem Verhalten säkularisierte, schaute manchmal noch immer der Teufel hinter den Bücherwänden hervor - und blieb Gott präsent. Die Untersuchung der eigenen Seele schuf gleichzeitig ihre speziellen Phantasmen. Die Begeisterung für Mikroskope und ähnliches wollte gerade auch das Unsichtbare sichtbar machen; dabei kannte man bisweilen andere Definitionen von Sinnlichem oder Übersinnlichem, als wir sie heute geben würden. Erinnert sei außerdem an die Debatte über den Strafzweck, die zwar eine Rationalisierung des Rechts anstrebte, dennoch aber moralischen Ansprüchen verhaftet blieb. Viele Texte des ausgehenden 18. Jahrhunderts klagten darüber, daß Hypochonder die Städte massenhaft bevölkerten, daß die Melancholie epidemische Ausmaße angenommen habe, daß sich Scharen von jungen Männern und Frauen in Gedanken an ein bestimmtes Buch das Leben nähmen. Diese Texte beschrieben Wahrnehmungen; und sie schrieben sie fort. Denn die Berichterstattung über Suizidfälle, über Melancholiker und die Eigenarten der Hypochondrie formte die Wahrnehmung (und damit auch die Bedeutung) dieser

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Phänomene. Daher kommt der Entwicklung des Publikationsmarktes bei den von mir untersuchten Vorstellungen, die im späten 18. Jahrhundert über die Kennzeichen der eigenen Zeit entwickelt wurden, eine so große Bedeutung zu. So lassen sich beispielsweise die Euphorie und die Befürchtungen im Zusammenhang mit Goethes „Werther" als Medienereignis beschreiben. Durch die neuartigen Kommunikationsmöglichkeiten wurden hier ganz unterschiedliche Stränge des Diskurses zusammengeführt: Die Sorge über die Folgen des Romanelesens paarte sich mit aufklärerischer Kritik an zu viel Empfindsamkeit und der Kritik an Goethes Darstellung des Suizids seines Protagonistens Werther. Noch dazu wurden die Befürchtungen durch die Berichterstattung über das Ansteigen von .Selbstmorden' genährt. Ähnliche Mechanismen wirkten auch in Hinsicht auf die Wahrnehmung von Melancholie und Hypochondrie. Unabhängig davon, wie deren ,realer' Widerpart aussah - also wie viele Suizide, Melancholikerinnen, Hypochonder es .tatsächlich' gegeben hat - müssen wir diese Texte ernst nehmen. Sie kreierten , Wirklichkeit' und diese ist die einzige, auf die wir heute bezug nehmen können.10 Diese Arbeit hat sich gezielt auf die dunklen Spuren des späten 18. Jahrhunderts konzentriert und sich damit nur eine von vielen möglichen Perspektiven gewählt, nur einige von vielen Ausschnitten der Zeit gezeigt. Eine andere Perspektive hätte ein anderes Bild entworfen, hätte eine andere Welt gesehen. „Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen"*

10 In diesem Sinne galt und gilt für unseren Quellenzugang heute: „il n'y a pas de horstexte". (DERRIDA, Jacques: Grammatologie, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1992, S. 274, zitiert nach: CONRAD, Christoph / KESSEL, Martina: Geschichte ohne Zentrum, in: dies. (Hrsg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne, Stuttgart 1994, S. 9-36, hier: S. 18.) * WITTGENSTEIN, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M. 1963 (erstmals

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Personen- und Sachregister 18. Jahrhundert - Charakterisierung 183, 282 f. - Geselligkeit 209 - Häufigkeit der Melancholie 183, 188 f. - ,Krisenstimmung' 272 - Rationalität 192,244 - .Selbstmordepidemie' 265,268 - und Visualität 29, 50, 52ff., 199 Abel, Jacob Friedrich 58, 69 Aberglaube 128 f., 162, 169, 220 - Angst vor .Selbstmördern' 156f. Abschreckung (vom .Selbstmord') 131, 157 f. Ackermann, Johann Karl Heinrich 69, 194 Adel (und Melancholie) 191 Affektkontrolle 95, 193 Albrecht, Joh. Fr. C. 233 f. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten 152 „Almanach für Aertze und Nichtärzte" 35 Anatomie 16, 31, 34 f., 83, 116, 280 - Leichenmangel 37 ff. - Öffentlichkeit 47 f. - und Pathologie 45 - der Renaissance 47 Anatomisches Theater, Berlin 51 Anthropologie 28, 59-66, 83, 90, 191, 223, 228, 280 - Ganzheitlichkeit 60,62 - Historiographie 18 f. - und Roman 18 f., 62 f., 248 „Anton Reiser. Ein psychologischer Roman" 63,226,251 Arbeitsstrafen 151 Archiv der medicinischen Polizey und der gemeinnützigen Arzneywissenschaft" 40 Arnim, Achim v. 36 Auenbrugger, Leopold 137 Aufklärung 12, 176, 184 - als Disziplinierung 115 f. - und Esoterik 245 - und Religion/Theologie 128 ff. „Aufsätze und Beobachtungen aus der gerichtlichen Arzneywissenschaft" 24, 40 Augustinus 122, 179

Autobiographische Texte 187,199, 243 - und Hypochondrie 199 - und Melancholie 187 Bauch, R. C. 44 Baumann, Ursula 20, 166, 168, 175 Baumgartner, Anton 172, 235 f. Beccaria, Cesare 153 Begemann, Christian 18 Begräbnis - Bedeutung des christlichen 149 - von .Selbstmördern' 25, 32, 40f., 122, 145 f., 149 f., 155-158, 162 - stilles 155 - ,unehrliches' 35, 149 f. - Verweigerung des christlichen 34,156, 162 „Beiträge zur Aufklärung und Beruhigung" 242 „Berlinische Monatsschrift" 166, 209 Bernd, Adam 261 f. Bestrafung - Prinzip der Persönlichkeit 150 - von .Selbstmördern' 34, 145-161 - des Suizidversuchs 152 - von Toten 147, 149 Bevölkerungsstärke 92,105,108,271 Bewegung - als Kur der Hypochondrie 72,138 - als Teil der Diätetik 101 f. Bewegungsmangel 202, 262 Bilger, Stefan 17, 98, 194 Bilguer, Johann Ulrich 187 bills of mortality 104, 276 Biographien von Selbstmördern' 232f., 235 - und Erfahrungsseelenkunde 233 Blanckenburg, Friedrich v. 63 „Blätter vermischten Inhalts" 164 Blick auf den Einzelfall 143, 220-224, 226, 230 f., 238 f. - und moralische Bewertungen 240 Blicke auf den Körper 52, 198 Blicke in die Seele 53 Block, Georg Wilhelm 136, 138, 140, 171 Bödeker, Hans Erich 83 f. Böhme, Gemot 115,245

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Personen- und Sachregister

Böhme, Hartmut 115, 245 Boie, Heinrich Christian 215 Böning, Holger 98 Briefe 25, 187, 283 - und Gefühlskultur 194, 244, 246 f. - und Introspektion 242,244,246 Büchermarkt 83, 210f„ 257, 260, 281 Bühler, Carl Friedrich 232 Bürger, Gottfried August 247 Bürgertum/Bürgerlichkeit 18, 86,98,101, 178,203,262 - und Melancholie 189,191 - und Romane 250 Burton, Robert 279 Busse, Walter 95, 186 Bussmann, Auguste 251 Camera obscura 27 Camper, Peter 176 Carmer, Johann Heinrich 152 Cavan, C. W. 160 Chodowiecki, Daniel 260 Claproth, Justus 155 Collegium Sanitatis 104 Commercium-Problem 56 Danovius, Ernst 32f.,40ff., 144f. Degmair, George Andreas 124 „Der Deutsche Zuschauer" 220 „Der Philosophische Arzt" 61 Descartes, René 56, 59 „Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde" 173, 238f. „Deutsches Magazin" 242 Diätetik 79, 82, 91-103, 198, 218 - und Adelskritik 99 - Begriff 92 - Bewertung 100 - und Disziplinierung 101 - für Gelehrte 100 - Geschlechterdifferenz 99, 112 - Inhalte 95 - als Marktphänomen 118 - als Verhaltenskontrolle 101 - vordem 18. Jh. 97 Diskursanalyse 22 Diskursbegriff 14,80 - und Repression 80 Disziplinierung 28, 8 1 f „ 101, 110-118 Duden, Barbara 1 6 , 4 5 , 5 8 , 9 2 Durkheim, Emile 19

Eberhard, Johann August 64 Einbildungskraft 65, 67 f., 73, 91, 228, 258, 262 - als Erkenntnismöglichkeit 65 - als Kurmethode 65 - als Verbindung von Körper und Seele 65 Einsamkeit 207 ff., 256 Elias, Norbert 81 f. Elvert, Emanuel 43 Empfindelei 65,195, 256, 259, 271 Empfindsamkeit 62-65, 259, 269 - Gefahren 195,235,262 - und Individualisierung 246 - als Krankheit 89 - und Liebe 252 - und Melancholie 194 - Verhältnis zur Aufklärung 64, 236, 245 f. England (.Selbstmord'-Häufigkeit) 276 Entkörperlichung des Ichs 117 Enzensberger, Hans Magnus 251 Erfahrungsseelenkunde 23, 30, 61, 139 f., 218, 222 f., 227, 233,243, 280 - und Anthropologie 224 - Einfluß auf Rechtswissenschaft 227 - Einfluß auf Theologie 139 f. - und Introspektion 2 4 I f f . - und moralische Bewertungen 140 f. - und Roman 248 f. - und Suizid 226 Erlasse für die Rettung Ertrunkener 162 ff. Ernährung 7 3 , 9 1 , 9 5 - Ablehnung fremdländischer Speisen 95 f. - Einfluß auf die Seele 96 ,Eselsbegräbnis' 162 Esoterik (und Aufklärung) 245 Fallgeschichten 140,221,232,236 Fallsammlungen 127, 223, 229 f., 282 Faust, Bernhard Christoph 93 f., 98 Fiktionalität 2 5 , 2 1 2 , 2 4 8 , 2 5 0 Fischer-Homberg, Esther 17 Forster, Georg 186 Foucault, Michel 15, 21 ff., 45, 71, 80, 113,116 Frank, Johann Peter 105 ff., 114 f. Frauen (als Leserschaft) 99 Freimaurerei 189

Personen- und Sachregister Fremddisziplinierung 82, 111 Frevert, Ute 91 Friedrich IL, König in Preußen 41, 146 Friedrich Wilhelm /., König in Preußen 39 Friedrich Wilhelm, Kurfürst v. Preußen 104 Furcht vor den Toten Galen

161

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Gall, Franz Joseph 33 Galle (schwarze) 44, 68, 73, 138, 191 Gefängnis 34 Gefängnisstrafen 151 Gefühle 283 - Aufwertung 63 f., 246 - und Briefe 194,244 - Kritik 256 - und Lesen 247, 257 f. Geheimgesellschaften 235 Geistesgeschichte 190 f. Gelehrte - diätetische Ratgeber für 203 - als Hypochonder 67, 70,75, 195, 202-206 Gerichtsmedizin 23, 3 9 ^ 2 , 86, 229 Geschlechterrollen 67, 115, 169, 253, 261 - und medizinische Polizey 112 Geselligkeit 209 Gesellschaft - Bedrohung durch Hypochondrie 187 - und Suizid 165, 168 Gesundheit - als Interesse des Staates 105, 108 - als Pflicht 9 2 f f . , 9 8 , 1 0 8 , 1 1 7 Gesundheitsaufklärung 87,93,110 Gesundheitsfürsorge 104 Glücksspiel 178,206 Goethe, Johann Wolfgang v. 25, 30, 85, 88 f., 132, 214, 235, 247 f., 265 ff., 273 ff., 284 Goßler, Christoph 152, 155 „Göttingisches Magazin" 49 f. Groddeck, Gottfried 136 Grolman, Karl 148 Giinderrode, Karoline v. 36 Haller, Albrecht v. 4 6 , 5 7 , 2 0 1 - Irritabilitätskonzept 57 Harmonismus 56 Hebammen 114 Hebenstreit, Ernst 87

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Heiligenstedten, Sophia Henrietta 41 Heinz, Jutta 1 8 f . , 5 7 , 7 8 Heinzmann, Johann Georg 263 Heller, Heinrich W. 171, 273 Hellmuth, Eckhart 150 Hempel, Christian Gottlob 213 Herder, Johann Gottfried 64 Herz, Henriette 65 Herz, Marcus 52, 65 f., 242 Heydenreich, Karl Heinrich 98 Hilfeleistung für Verunglückte (staatliche Anordnung) 161 ff. Hoff, Heinrich Georg 233 Hoffmann, Friedrich 223 Hölle 130 f. Hommel, Carl F. 127,274 Hufeland, Christoph Wilhelm 92, 98, 142, 163 Hume, David 134, 153, 179 Humoralpathologie 44, 58, 61, 67 f., 74, 97, 280 Huszty, Zacharias Gottlieb 102 Hypochonder 11, 256 - belesen in medizinischer Literatur 198201 - als .eingebildeter Kranker' 68, 78 - als lächerliche Person 70 - Lebenswandel 70 - und Mediziner 77 f., 193, 197 f., 201 - Spott über 77,204 - Verantwortlichkeit 69, 71 f., 77 Hypochondrie 6 6 - 7 2 , 1 9 6 - 2 0 9 , 2 2 5 - in autobiographischen Texten 187 - Bedeutung 12,14,26,66-72,186,191, 196 - Bedrohlichkeit 187 - Behandlung 66, 194 - Differenzierung zur Melancholie 66 f. - Einfluß der Ernährung 75 f., 96 - unter Einfluß medizinischer Ideen 79 - Forschung/Historiographie 184 ff., 188-196 - als Gelehrtenkrankheit 67, 70, 75, 195, 202-206 - Geschlechterrollen 67 - Häufigkeit im 18. Jh. 186 ff., 217 - Interesse an 12, 194 - körperliche Ursachen 69, 196 - Kritik an 195 - Kuren 72, 138, 196

318

Personen- und Sachregister

-

und Lesesucht 261 als Nervenstörung 67, 70f., 75 Psychologisierung 70 im Roman 66 als Selbstbeobachtung 111,196, 199ff„ 218,246 - Somatisierung 70 - Ursachen 72, 138, 142 Hysterie 67,71,78 Ickstadt, Fanny v. 235 Individualisierung 209, 213, 221, 226, 236, 279 - und Introspektion 241-244 - und Moral 237 f., 280 - und Publikationsmöglichkeiten 221 Individuum - Erforschung des 61,221,282 - und Medizin 222 - Selbstwahrnehmung 111 Influxionismus 56 f. Informationsaustausch 212 Introspektion 234, 243 Irritabilitätskonzept 57 Isenflamm, Jacob Friedrich 69

Jacobi, Johann Georg 246 Jean Paul 76,201 Jenseitsvorstellungen 128,254 Jerusalem, Karl Wilhelm 89, 248 „Journal des Luxus und der Mode" 179 „Journal für die Chirurgie, Geburtshülfe und gerichtliche Arzneykunst" 40 .Journal von und für Deutschland" 175, 222, 238 Jurisprudenz 23, 25 - und medizinische Ideen 86,153-156, 227 Kämpf, Johann 196f., 200, 263 Kant, Immanuel 61, 68, 71 f., 92, 95, 130, 134, 205 Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 40 Kestner, Johann Christian 89 Kindsmord 159, 176 f., 228 f. Klein, Ernst Ferdinand 86, 126, 150f., 229 ff.,240 Kleinschrod, G. Λ. 150 Kleist, Heinrich

216

Knüppeln, Julius 153, 155, 168 ff., 175 f., 179 f., 220,258 Köhler, Johann Valentin 47 Kommunikationskultur 12f„ 30, 83, 147, 185, 211 f., 215, 217f„ 243, 246, 267, 277 Konsum 179 Körper - Bewertung 50 - Einflußnahme der Mediziner 46 - Historizität 116 - Idealbilder 48 - Normierung 45,49 f., 83,198 - Objektivierung 37f., 116 - Verantwortlichkeit für 142 - Verhältnis zur Seele 29 - Vorstellungen von 16 - Wahrnehmung 142 Körpergeschichte 16,21 Körperstrafen 149, 151 Krankheit 92, 101 - Bedeutung 142 - Begriff 11 - Erfahrung 16, 45, 190 - Historizität 11,15,280 - metaphorische Dimension 188 - moralische Verantwortung 174 - als Stigma 93 Kriegs- und Militärrecht 160 Kriminalerzählungen 231 f., 234 Krüger, Johann Gottlob 57, 224 La Roche, Sophie v. 246 Landleben (idealisiertes) 206 Laßberg, Christiane 274 f. Laukard, Friedrich Christian 248, 253 Lavater, Johann Kaspar 33, 53, 132 Ledermüller, Martin Frobenius 53 Leibniz, Gottfried Wilhelm 104 f. Leib-Seele-Problem 56 Leib-Seele-Verhältnis 29, 31,42,44, 55-79, 90, 280 - jenseits der Metaphysik 57 f. Leichenschauhaus 163 „Die Leiden des jungen Werthers" 25, 30, 63, 88 f., 195, 235, 247 f., 265 - Bedrohlichkeit 273 - Fiktionalität 247 -

als M o d e t h e m a

-

, Nachahmungstäter'

267

274

Personen- und Sachregister - und .Selbstmordepidemie' 265, 268278 - Verbotsantrag der Leipziger theologischen Fakultät 271 f. Leihbibliotheken 215 f. Leisewitz, Johann Anton 185 ff. Lepenies, Wolf 191 Lesefähigkeit 84, 211, 216 f. Lesegesellschaften 215 Lesen medizinischer Literatur 201 - Gefahren 260 Lesen 247-251 - und Gefühle 247 Leserevolution 211 Lesesucht 183,256-262,269 - und Hypochondrie 261 Leß, Gottfried 130, 136 Lessing, Gotthold Ephraim 49 f., 67 Lichtenberg, Georg Christoph 53,76, 101, 186, 199 Liebe 246, 251-256, 267 f. - Historizität 251 - und Romane 251,253 - und Tod 254 f. - als Ursache von Suiziden 251,253,255, 268 Liebeskonzepte 252 Lind, Vera 20 Loder, J.C. 33, 40f„ 47, 51 Loen, Michael v. 95 Lotto 178 Lumme, Christoph 116 Luxus 107,178,206 - und Hypochondrie 207 - Kritik 179 MacDonald, Michael 19, 220, 238, 255 Macht der Sprache 27 „Magazin für gerichtliche Arzneikunde und medicinische Polizei" 24,40 „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" 24, 139 f., 224, 226f., 256, 274 - und Introspektion 241 f. Mandeville, Bernhard 179 Mann, Thomas 265 Marsilius Ficino 97 Marsyas 50 Materialismus 60 Mauchart, Immanuel Daniel 225, 230 Medien 12f„ 24, 26, 30, 83, 85, 147, 209f., 216, 221,282

319

Medikalisierung 48,79-118,164,279 - als Disziplinierung 110 f. - und medizinische Polizey 109 - und Moral 115,117,143,264 - als Verdrängung 115 f. Medizinalverfassung 104, 109,111 Mediziner - Einfluß 40,46,79f., 85, 115 - und Hypochonder 77 f., 193, 197 f. - Interessen 40, 80 - Machtkämpfe 85, 193 - Professionalisierung 109 f., 113 - Spott über 77 - und weibliche Heilkräfte 114 Medizingeschichte 17 Medizinische Ideen 24, 28 - Einfluß auf die Bewertung des Suizids 86 f., 153-156 - Einflußgewinn 86, 91, 118, 121, 190, 219, 226, 280 - Interesse an 82, 198 - Veröffentlichung 49, 83f„ 199, 218 Medizinische Polizey 82,103-110 - Geschlechterdifferenz 112 f. - als moralisches Konzept 107 - Standesschutz der Ärzte 105 - als Verhaltenskontrolle 103 Medizinischer Blick 112 - auf den Körper 37 f., 44, 50 Medizinischer Unterricht 33, 37 f. Meißner, August Gottlieb 231, 237, 276 Melancholie - in autobiographischen Texten 187 - Bedeutung 14,26 - Bedrohlichkeit 193 - unter Einfluß medizinischer Ideen 79 - und Empfindsamkeit 194 - als Folge körperlicher MißVerhältnisse 61 - Forschungen/Historiographie 17f., 184 f., 188-196 - und Genialität 193 - Häufigkeit im 18. Jh. 183, 188 - Interesse an 12 - als Krankheit 137 - Kritik an 140, 195 - als Sünde 137 Mendelssohn, Moses 134, 208 f. Merck, Johann Heinrich 42 Metaphysik 57 f. Metzger, Johann Daniel 114

320

Personen- und Sachregister

Michaelis, Johann David 123 Mikroskopie 27f., 52ff„ 199, 283 Miller, Johann Martin 91, 249 Miller, Johann Peter 136 Moehsen, Johann Karl Wilhelm 166 ff., 171, 176, 237 Montesquieu, Charles de Secondât, Baron de 148,153 Moral 13, 28, 34f„ 91, 98, 235 - und Diätetik 91 - und Individualisierung 237 f. - und Medikalisierung 115,117,143, 264 - im Roman 64 morale sensitive 64 Moralische Wochenschriften 98 Moritz, Karl Philipp 24, 59, 63, 65 f., 223-226, 234, 241 ff., 245, 249 Moser, Justus 156 f. Miichler, Karl 232 Müller, Johann Valentin 171,271 Müller, Lothar 203 Murphy, Terence R. 19, 220, 238, 255 Mutterpflichten 106f, 160f.

Physiognomie 53 Plainer, Emst 59, 61 f., 85,91, 198, 260 Pockels, Karl Friedrich 128, 140, 226, 261 f. Pope, Alexander 62 Popularisierung 218 f., 221 - des Themas Suizid 233 Porter, Roy 70 Präparatensammlungen 45 f., 51, 83 Preisfrage - der Berliner Akademie 64,219 - der Göttinger theolog. Fakultät 135 f., 139 Preußisches Militär (Suizidfälle) 167 Psychologie 58 Publizität 28, 97, 209f., 212, 217f„ 256, 265, 267, 279 - und Individualisierung 221 - Kritik an 219 - medizinische Bücher 49,97,218 Puf endo r f , Samuel v. 154 Pyl, Johann Theodor 41

Nerventheorie 58ff„ 67, 70f., 75, 96f„ 138, 141,208, 280 „Neue Beyträge zur Bereicherung der Menschenkunde" 140 Nicolai, Friedrich 36,51,245 Normen 21,45 f., 101,117, 262, 280 Nudow, Heinrich 52

Rationalität 184, 192 Rechtswissenschaft - der Aufklärung 148 - Bewertung des Suizids 144-161 - und Moral 148-152 Reil, Johann Christian 70, 115 „Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich" 90,187,203 Reisen 101 - als Kur der Hypochondrie 73, 203 Rettungsanstalten 161-165 Richardson, Samuel 89, 214, 255 Romane 23, 63, 212f., 255, 283 - und Anthropologie 18 f., 62 f., 236, 248 - und Erfahrungsseelenkunde 248 f. - Erzählstrukturen 62 - Fiktionalität 25,212,248 - und Gefühle 247, 252f„ 257 - Kreation von Individualität 212 - Kritik an 235, 257 ff., 272, 277 - und medizinische Ideen 86 - Moral 64,91 - Neuerfindung im 18. Jh. 62 - Psychologisierung 64

Obduktionsberichte 49 Occasionalismus 56 Oestreich, Gerhard 81 Öffentlichkeit 31 Onanie 143,169, 256,261,263 f. - als Suizidursache 263 Parallelismus 56 Pathologie 45,83 - Bewertung des Körpers 45 Pathologisierung 28, 83, 113, 198, 236, 280 f. - und Moral 155 f., 281 - des Suizids 44, 121, 138, 142, 153-156 Peinliche Halsgerichtsordnung 39 f. Pestalozzi, Johann Heinrich 112 Philosophische Medizin

Physiko-Theologen

189

60

Quistorp, Theodor Johann

Roman-Lektüre

67

214, 263

Rousseau, Jean-Jacques

180, 255

Personen- und Sachregister Royal Humane Society Ruysch, Frederic 50

164

Sailer, Johann Michael 130, 133 f., 138, 140 f., 171 Säkularisierung 132, 189 ff. Salzmann, Christian Gotthilf 91 Sawday, Jonathan 16, 35,48 Schär, Markus 19 Scheintod 161 Scherf, J. D. F. 161 Schiller, Friedrich 63, 204 Schings, Jürgen 191 „Schlesische Provinzialblätter" 173 f., 238, 276 Schlözer, August Ludwig 157 Schmid, Carl Christian 225 Schreiben von Geschichte 27 Schulz, Friedrich 75 f. Schulz, Johann Heinrich 65 Schulze, Winfried 81 Schütz, Jacob 32 f. Schwangere (als Suizidentinnen) 159 ff. Schwärmerei 87, 129, 132 f., 204, 208 - Kritik an 139,169,192 Schwärmer-Kur 208 f. Sektionen 32-55,83 - Bedeutung 35 f. - Darstellungen 50 - der Seele 52 - von .Selbstmördern' 25, 32, 40f., 145 - als Strafe 33-37 Sektionsbericht 52 Selbstbeobachtung 61,111 f., 187,243,282 - und Hypochondrie 111, 196, 199f., 218, 243 - Publikationen 199,204,242 Selbstbeschreibungen aus dem späten 18. Jhd. 183f., 189 Selbstdisziplinierung 82, 111 .Selbstmord' siehe Suizid .Selbstmörder' - Begräbnis 25, 41, 122, 145f., 149f„ 155-158 - in der preußischen Armee 167 - Sektionen 25, 32, 40f„ 145 Selbstmordverbot - in der Bibel 123 - christliches 122 ff. sensibility 62

321

„Siegwart. Eine Klostergeschichte" 91, 195, 249 f. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, dritter Earl v. 76 Showalter, Elaine 16, 196 Signori, Gabriela 20 Sinnlichkeit 62 Sintenis, Christian Friedrich 129, 139 Soden, Julius 150 Soldaten (als Suizidenten) 159 ff. Sontag, Susan 16 Sozialgeschichte 81, 191 Sozialkritik (und Suiziddiskurs) 166-178 Spieß, Christian H. 126, 214,232-235 Staatskörper 92 Stadtleben 101 - Gefahren 180,206 Stafford, Barbara 54 Stahl, Georg Emst 223 Statistik 237 - medizinische 104 „Stats-Anzeigen" 157 Sterben 52, 190, 246 Storch, Arzt in Eisenach 58 Strafrecht - Arbeitsstrafen 151 - unter dem Einfluß medizinischer Ideen 153-156 - Gefängnisstrafen 151 - Körperstrafen 149,151, 154 - und Moral 148-152 - preußisches 147 Strafvollzug 34 Strafzweck 23, 28, 149, 151 f., 227, 283 - Besserung des Delinquenten 151 Streben nach Natürlichkeit 208 Sturm und Drang 235 Subjektivität als Bedrohung 193 Suizid - als Appell an die Gesellschaft 165 - Bedeutung 14,26 - als Bedrohung 270,273 - Berichterstattung in Zeitschriften 173 - Blick auf den Einzelfall 143 f., 220f„ 238 f. - unter Einfluß medizinischer Ideen 79, 153 ff., 280 - Entpönalisierung 147-156,159,280 - als Folge körperlicher Mißverhältnisse 61,88, 155, 174,279 - Forschung/Historiographie 19 f.

322

Personen- und Sachregister

-

.indirekter' 126f. Instrumentalisierung 128 Interesse an 12 juristische Bewertung 144-161,279 Luxus als Ursache 179 aus Melancholie 32,41,136,145,153 moralische Bewertung 32, 88, 134ff., 141, 144 f., 174, 238,240 - Pathologisierung 44, 121, 138, 142ff., 153-156 - philosophische Einordnung 135 - Popularisierung 233 - und Onanie 169 - von Schwangeren 159 - von Soldaten 159 - und Sozialkritik 166-178 - Strafen 34,145-158,271 - theologische Bewertung 122-128, 281 - unterbürgerliche Schichten 173 - Ursachensuche 32, 42, 153ff., 168 f. - Widerstände gegen Entpönalisierung 156-161 Suizidepidemie 183 f., 265-278 Suizidversuch (Bestrafung) 152 Süßmilch, Johann Peter 104 Svarez, Carl Gottlieb 148

Triller, Daniel Wilhelm 93 Trivialroman 213 Tugendideale 192f., 258 Tzschirner, Heinrich Gottlieb

233 f.

Uden, Konrad Friedrich 93 Unterbürgerliche Schichten (und Suizide) 173 Unzer, Johann August 84, 98, 118 Verantwortung für das eigene Glück 190 Verhaltenskontrolle 101, 103, 110, 279 Vesalius, Andreas 47, 50 Vier-Säfte-Lehre siehe Humoralpathologie Visualität 29, 50, 52f., 199 - Aufwertung des Visuellen 54, 57 - als Hierarchisierung 54 - kalte Wahrnehmungen 55 Vogel, Paul Joachim S. 273 Voigt, Johann Karl Wilhelm 32, 42 Volksaufklärung 85, 118, 158, 219f. Vollkommenheit (Streben nach) 134 f., 192

Tagebücher 25,187,244 Tanz (als Gefahr für die Gesundheit) 108 Tätigsein als Tugendideal der Aufklärung 192 Teufel (als Anstifter zum .Selbstmord') 130 f. Teufelsglaube 132 Theologie 23, 211 f. - und Aufklärung 128,133,189 - und Erfahrungsseelenkunde 139 f. - und medizinische Ideen 86f., 281 - Selbstmordverbot 122-128 Thomas v. Aquin 124 Thümmel, Moritz August 73, 76, 91, 187, 194, 203 Tissot, Simon Andre 100 Tod 52 - Historiographie 15 Tode, Johann Clemens 11 f., 87, 195 Todesvorstellungen 50f., 163, 246, 254

Wächter, Gerd 148 f. Wahrnehmungen 44, 56, 112,117,185, 193, 198, 266, 277 f., 283 - des Körpers 117 - von Melancholie, Hypochondrie u. Suizid 210, 217, 221, 237, 262, 264f„ 269 Weber, Max 81 Weikard, Adam Melchior 61, lOOf., 137 f. „Werther" siehe „Leiden des jungen Werthers" Wertherdiskurs 268-278 Wertherfieber 183, 268f., 275, 277 Wezel, Johann Karl 25, 63, 89 ff., 260 f. White, Hayden 26 Wiedergänger 130, 162 Wieland, Ernst K. 152,159 „Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit" 25, 89 ff., 260f. Wöbkemeier, Rita 100 Wolff, Christian 54, 61, 134 „Zeitschrift für Freunde der schönen Künste, des Geschmacks und der Moden" 179 Zeitschriften 24,97,212,236,281

-

-

Antikenrezeption

Totentänze 51

255

Berichterstattung über Suizide

219-222

173,

Personen- und Sachregister - und Sozialkritik 172ff. - Verbreitung medizinischer Ideen 83 f. Zimmermann, Johann G. 207

Zuckert, Johann Friedrich 95f., 99 .Zurechnungsfähigkeit' 40,154,227, 229 f., 281

323

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Geschichte der Neuzeit/ Frühe Neuzeit

Ancien Régime, Aufklärung und Revolution

Herausgegeben von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer

Band 24: Manfred Jakubowski-Tiessen Sturmflut 1717 Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit 1992. VIII, 315 S. ISBN 3-486-55939-7

Band 29: Markus Meumann Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft 1995. 456 S. ISBN 3-486-56099-9

Band 25: Werner Giesselmann Die Manie der Revolte Protest unter der Französischen Julimonarchie (1830-1848) 1993. XV, 1.086 S. in 2 Halbbänden ISBN 3-486-55955-9 Band 26: Michael Weinzierl Freiheit, Eigentum und keine Gleichheit Die Transformation der englischen politischen Kultur und die Anfänge des modernen Konservativismus 1791-1812 1993. 224 S. ISBN 3-486-55998-2 Band 27: Michael Wagner England und die französische Gegenrevolution 1789-1802 1994. VIII, 344 S. ISBN 3-486-56066-2 Band 28: Rudolf Schlögl Glaube und Religion in der Säkularisierung Die katholische Stadt - Köln, Aachen, Münster - 1 700-1840 1995. 447 S. ISBN 3-486-56080-8

Band 30: Wolfgang Schmale Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit Ein deutsch-französisches Paradigma 1997. 551 S. ISBN 3-486-56294-0 Band 31 : Angela Taeger Intime Machtverhältnisse Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden Ancien Régime 1999. VI, 181 S. ISBN 3-486-56423-4 Band 32: Christoph Ernst Den Wald entwickeln Ein Politik- und Konfliktfeld in Hunsrück und Eifel im 18. Jahrhundert 2000. X, 408 S. ISBN 3-486-56510-9 Band 33: Thomas Nutz Strafanstalt als Besserungsmaschine Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft 1775-1848 2001. X, 435 S., 27 Abb. ISBN 3-486-56578-8

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