Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts 9783110902426, 9783110179774, 3110179776

Falk Wunderlich advances a fundamentally new approach to an understanding of Kant's theory of consciousness. In the

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Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts
 9783110902426, 9783110179774, 3110179776

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
I Bewußtsein und Selbstbewußtsein im 18. Jahrhundert
1 Voraussetzungen
1.1 Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Reflexion bei Locke und Leibniz
1.2 Humes Bündeltheorie des Ich
1.3 Thomas Reid
2 Die wolffianische Schulphilosophie
2.1 Christian Wolff
2.2 Die Anhänger Wolffs
2.3 Die Auseinandersetzungen um Wolffs Philosophie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
3 Selbständigere rationalistische Theorien
3.1 Martin Knutzen
3.2 Die Neo-Wolffianer
3.3 Friedrich Carl von Creuz
3.4 Johann Heinrich Lambert
3.5 Gottfried Ploucquet
4 Empiristische Theorien
4.1 Johann Nikolaus Tetens
4.2 Ernst Platner, Karl Franz von Irwing und Johann Christian Lossius
4.3 Die Göttinger Empiristen
4.4 Johann Bernhard Merian
4.5 Dieterich Tiedemann
4.6 Johann Jacob Hentsch
5 Étienne Bonnot de Condillac und Charles Bonnet
6 Zusammenfassung: Bewußtseinstheorie im 18. Jahrhundert
II Kant über Bewußtsein, Apperzeption und Selbstbewußtsein
1 Kants Begriffserklärungen
1.1 Bewußtsein: Unterscheiden, Klarheit und Deutlichkeit
1.2 Apperzeption als Selbstbewußtsein und Bewußtsein der Vorstellungen
2 Spontaneität der Apperzeption
3 Reinheit und Ursprünglichkeit der Apperzeption
3.1 Reine und empirische Apperzeption
3.2 Ursprüngliche Apperzeption
4 Bewußtsein und Urteil
4.1 Urteil und Deutlichkeit der Vorstellungen
4.2 Einheit des Bewußtseins
5 Zusammenfassung: Kant und die Tradition
III Die Apperzeptionstheorie in der transzendentalen Deduktion B
1 Identität und Einheit der Apperzeption
Exkurs: Identität und Einheit der Apperzeption in der A-Deduktion
2 Warum ist analytische Einheit der Apperzeption nur unter Voraussetzung einer synthetischen möglich?
3 Erklärungen aus der Literatur
3.1 Das Analytizitäts-Argument
3.2 Das Aktivitäts-Argument
3.3 Das Übergangs-Argument
3.4 Das Objektivitäts-Argument
3.5 Das Bündel-Argument
4 Ein alternativer Erklärungsansatz
4.1 Ein Argument aus dem Begriff des Selbstbewußtseins
4.2 Erweiterung des Arguments aus dem Begriff des Selbstbewußtseins
Schluß
Bibliographie
A Primärtexte
B Sekundärliteratur
Personenregister

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Falk Wunderlich Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts

W G DE

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Dominik Perler, Jens Halfwassen

Band 64

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts von Falk Wunderlich

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-11-017977-4 ISBN-10: 3-11-017977-6 Bibliograßsche Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2005 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Das vorliegende Buch ist die etwas erweiterte Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2002/03 vom Fachbereich Philosophie und Geistes Wissenschaften an der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Mein erster Dank gilt Andreas Arndt und Wolfgang Lefevre für die exzellente Betreuung und freundschaftliche Zusammenarbeit seit mehr als zehn Jahren. Für die finanzielle Förderung meines Dissertationsprojekts und der daran anschließenden Forschung möchte ich mich beim Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, besonders bei Jürgen Renn, und beim Erasmus Institute an der University of Notre Dame bedanken. Die Möglichkeit, meine Arbeit in verschiedenen Phasen in Colloquien und Seminaren zu diskutieren, war mir eine große Fülfe. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und ihren Leitern, Rolf-Peter Horstmann (Berlin), Eric Watkins (San Diego), Alfred Nordmann (Darmstadt) sowie den Kolleginnen und Kollegen am Erasmus Institute (Notre Dame). Für vielfältige Anregungen, Kritik und Unterstützung möchte ich mich besonders bedanken bei Karl Ameriks, meinen Eltern, Hannah Ginsborg, Gideon Freudenthal, Peter McLaughlin, Thomas Sturm, Udo Thiel, Bernhard Thöle, Daniel Warren und Eric Watkins. Den Herausgebern der "Quellen und Studien zur Philosophie" danke ich für die Aufnahme meines Buches in die Reihe, Gertrud Grünkorn vom Verlag de Gruyter für die geduldige Betreuung. Mein Dank gilt auch der Geschwister Böhringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Nicht zuletzt möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen von der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte bedanken. Ohne ihre tatkräftige Unterstützung wäre der umfangreiche historische Teil dieser Untersuchung nicht zustandegekommen. Berlin, im August 2005

Falk Wunderlich

Inhaltsverzeichnis Vorwort Einleitung

I 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.3

Bewußtsein und Selbstbewußtsein im 18. Jahrhundert Voraussetzungen Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Reflexion bei Locke und Leibniz Humes Bündeltheorie des Ich Thomas Reid

V l

5 7 7 13 14

Die wolffianische Schulphilosophie Christian Wolff Die Anhänger Wolffs Die Auseinandersetzungen um Wolffs Philosophie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

18 18 32

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Selbständigere rationalistische Theorien Martin Knutzen Die Neo-Wolffianer Friedrich Carl von Creuz Johann Heinrich Lambert Gottfried Ploucquet

47 47 49 62 65 67

4 4.1 4.2

Empiristische Theorien Johann Nikolaus Tetens Ernst Plainer, Karl Franz von Irwing und Johann Christian Lossius Die Göttinger Empiristen Johann Bernhard Merian

69 69

4.3 4.4

40

81 90 101

VIII

Inhaltsverzeichnis

4.5 4.6

Dieterich Tiedemann Johann Jacob Hentsch

107 113

5

Etienne Bonnot de Condillac und Charles Bonnet

115

6

Zusammenfassung: Bewußtseinstheorie im 18. Jahrhundert

122

Kant übet Bewußtsein, Apperzeption und Selbstbewußtsein

129

s

II 1 1.1 1.2

Kants Begriffserklärungen Bewußtsein: Unterscheiden, Klarheit und Deutlichkeit Apperzeption als Selbstbewußtsein und Bewußtsein der Vorstellungen

131 135

2

Spontaneität der Apperzeption

154

3 3.1 3.2

Reinheit und Ursprünglichkeit der Apperzeption Reine und empirische Apperzeption Ursprüngliche Apperzeption

159 159 174

4 4.1 4.2

Bewußtsein und Urteil Urteil und Deutlichkeit der Vorstellungen Einheit des Bewußtseins

190 190 194

5

Zusammenfassung: Kant und die Tradition

203

145

III Die Apperzeptionstheorie in der transzendentalen Deduktion B 207 1

2 3 3.1 3.2

Identität und Einheit der Apperzeption Exkurs: Identität und Einheit der Apperzeption in der -Deduktion

209 219

Warum ist analytische Einheit der Apperzeption nur unter Voraussetzung einer synthetischen möglich?

222

Erklärungen aus der Literatur Das Analytizitäts-Argument Das Aktivitäts-Argument

225 225 226

Inhaltsverzeichnis

IX

3.3 3.4 3.5

Das Übergangs-Argument Das Objektivitäts-Argument Das Bündel-Argument

228 230 232

4 4.1 4.2

Ein alternativer Erklärungsansatz Ein Argument aus dem Begriff des Selbstbewußtseins Erweiterung des Arguments aus dem Begriff des Selbstbewußtseins

236 236 239

Schluß

248

Bibliographie A Primärtexte B Sekundärliteratur

251 251 257

Personenregister

271

Einleitung Der Ausgangspunkt dieser Untersuchung ergibt sich aus dem Umstand, daß Kant seine Bewußtseinstheorie einerseits nicht im einzelnen ausgearbeitet hat, sie andererseits aber an zentralen Stellen der Argumentation — besonders in der transzendentalen Deduktion der Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft — zum Tragen kommt. Dieses Mißverhältnis wird meist als ein Indiz dafür gewertet, daß Kant mit der Ausarbeitung weiterer Implikationen, die sich aus der transzendentalphilosophischen "Revolution" ergeben, so ausgelastet war, daß er sich der Bewußtseinstheorie nicht in ausreichendem Maße zuwenden konnte.1 Dieser Ansicht zufolge ist die Weiterentwicklung der Bewußtseinstheorie also gewissermaßen aufgrund von Kants Arbeitsüberlastung unterblieben. Daraus ergibt sich zugleich die These, daß die Bewußtseinstheorie, so wie sie sich aus den vorhandenen Bruchstükken rekonstruieren läßt, verbesserungsbedürftig und noch nicht dem Niveau der Transzendentalphilosophie angemessen sei. Ich möchte in dieser Untersuchung demgegenüber eine alternative Erklärung erproben. Daß Kant die Bewußtseinstheorie nicht weiter ausgearbeitet hat, muß nämlich nicht zwingend einen Mangel bedeuten. Es wäre ebensogut möglich, daß Kant ihr einfach deshalb keine weitere Aufmerksamkeit gewidmet hat, mil er es selbst nichtfür nötig hielt. Das würde des näheren bedeuten, daß Kant die traditionelle Bewußtseinslehre, wie er sie in Gestalt der wolffianischen Systeme vorfand, für ausreichend und mit seinen eigenen Überlegungen prinzipiell vereinbar hielt. Viele Aspekte der traditionellen Metaphysik, die er für änderungsbedürftig hielt, hat Kant schließlich in der transzendentalen Dialektik ausführlich abgehandelt, darunter auch die mit der Bewußtseinstheorie eng verbundenen Seelentheorien der Psychologia rationalis. Um die Haltbarkeit dieser Überlegung beurteilen zu können, soll zunächst ein umfassender Überblick über die Bewußtseinstheorien im deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhundert gewonnen werden. Gab 1

So etwa Dieter Henrich [1976] 9-15.

2

Einleitung

es Standardansichten oder Theoreme, die überwiegend geteilt wurden? Gab es typische Varianten der Standardansichten einerseits, grundsätzliche Alternativen andererseits? Wichtig ist dabei insbesondere, daß sich die Untersuchung nicht auf die "Heroen" der Philosophiegeschichte — Descartes, Leibniz, Locke, Hume — beschränkt. Erst wenn die heute weniger bekannten scheinbaren Nebenfiguren einbezogen werden, kann sich ein einigermaßen realistisches Bild der Diskussionslagen ergeben, denen Kant gegenüberstand.2 Sodann sind Kants verstreute Einlassungen zu diesen Standardansichten in Beziehung zu setzen. Lassen seine Ausführungen durchblicken, ob er sie übernimmt oder seinerseits modifiziert? Sind die Modifikationen mit den Standardansichten noch vereinbar, oder verlangen sie nach grundsätzlicheren Änderungen? Es geht dabei aber gerade nicht darum, direkte Einflüsse einzelner zeitgenössischer Positionen nachzuweisen; dies wäre ein seinerseits umfangreiches, methodisch anders anzugehendes Unternehmen.3 Ziel ist vielmehr, Kants Einlassungen zur Bewußtseinstheorie in ein Verhältnis zu den Diskussionslagen seiner Zeit zu setzen, ungeachtet dessen, ob er direkt mit jedem ihrer Aspekte vertraut war. Die Frage ist also nicht, was Kant im einzelnen beeinflußt und zu dieser oder jener Wendung veranlasst haben mag, sondern welche Auswahl an Möglichkeiten ihm in den zeitgenössischen Theorien prinzipiell zur Verfügung stand.4 Schließlich sollen die Resultate dieser historischen Situierung für ein besseres Verständnis von Kants transzendentaler Deduktion B nutzbar gemacht werden. Wenn sich die 2

3

1

Die Ansicht, daß die unmittelbaren Zeitgenossen Kants der näheren Betrachtung nicht würdig sind, hat eine lange Tradition. Hans Vaihinger bringt sie ohne jegliche Begründung, dafür mit beispielhafter Arroganz zum Ausdruck: "Kant, ein Mann strengster Consequenz, betrachtete dies Treiben [seil, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts] mit Verachtung, griff zu den principiellen Grundsätzen, zu Leibniz und Hume zurück [...] Mit jenem Stolz, welcher jedem Genie eigenthümlich ist, ignorirte er seine 'halbschlächügen' Zeitgenossen und behandelte die ganze Angelegenheit als eine Sache, welche sozusagen im Reich der Geister zwischen ihm und jenen beiden großen Männern auszumachen sei, wobei jene Popularphilosophen höchstens die Zuschauer bildeten." (Vaihinger [1881] I 5) Die umfangreiche Literatur zum Verhältnis von Kant und Hume belegt, wie schwierig es selbst in Fällen ist, in denen der bedeutende Einfluß einer anderen Position außer Zweifel steht, genauer zu bestimmen, worin dieser Einfluß eigentlich besteht; vgl. zu dieser Frage Wolff [1960], Kühn [1983], Gawlick & Kreimendahl [1987], Kreimendahl [1990] und Kühn [2001 b] 76 ff. In der neueren Literatur finden sich zunehmend Versuche, den zeitgenössischen Kontext stärker für das Verständnis Kants fruchtbar zu machen, vgl. etwa Ameriks [1982/2], [2000], Heßbrüggen-Walter [2004], Klemme [1996], Kühn [1997], [2001b], Lefevre & Wunderlich [2000], McLaughlin [1989], Thiel [1996], [2001b] und Watkins [2005].

Einleitung

3

Deduktion auf dieser Grundlage besser verständlich machen läßt, dann wird zugleich auch plausibler, daß Kant tatsächlich die zeitgenössische Theorie zugrundelegt. Diese drei Hauptaspekte entsprechen den drei Teilen des Buchs. Der erste Teil befaßt sich mit den Grundlagen der Bewußtseinstheorie im 18. Jahrhundert. Die Untersuchung konzentriert sich aus mehreren Gründen auf den deutschsprachigen Raum. Zum einen liegt dieser Kontext Kant natürlich am nächsten. Zum zweiten ist hier die Philosophie der Zeit "zwischen Leibniz und Kant" in der jüngeren Vergangenheit verhältnismäßig wenig erforscht worden. Drittens sind Theorien wie die Lockes und Humes selbst umfassend untersucht worden, ebenso wie ihr Verhältnis zu Kant. Um die Untersuchung nicht ausufern zu lassen, ist es erforderlich, die Darstellung auf einige wenige Problemzusammenhänge zu konzentrieren, die für Kant von besonderer Bedeutung sind. Dabei steht zunächst im Vordergrund, was die einbezogenen Autoren eigentlich genau unter Bewußtsein, Apperzeption und Selbstbewußtsein verstehen. Zentral ist weiterhin die Frage, wie das Verhältnis von Bewußtsein und Selbstbewußtsein bestimmt wird und ob und wie Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Selbstbewußtsein und dem Bewußtsein von Gegenständen hergestellt werden. In diesem Zusammenhang ist der ambivalente Charakter der Apperzeption von besonderer Bedeutung, insofern diese sich sowohl auf die Vorstellungen von Gegenständen als auch auf das Subjekt zu beziehen scheint. Schließlich wird auch der Frage nachgegangen, ob sich für Kants einschlägige Bestimmungen der Apperzeption als "spontan", "rein" und "ursprünglich" Vorbilder in den zeitgenössischen Theorien finden lassen. Der zweite Teil setzt bei dem Umstand an, daß es in der Bewußtseinstheorie des 18. Jahrhunderts eine Reihe grundlegender Gemeinsamkeiten gab. Daran schließt sich die Frage nach Indizien dafür an, in welchen Hinsichten Kant diesem Standard folgt und welche Aspekte er modifiziert oder neu gestaltet. Liegt seinen bewußtseinstheoretischen Fragmenten eine grundlegend eigenständige Theorie zugrunde, oder lassen sie sich als Varianten der Standardansichten des 18. Jahrhunderts verstehen? Diese Fragestellung wird zunächst wiederum hinsichtlich der Begriffserklärungen verfolgt, und zwar unter Einbeziehung einer großen Anzahl solcher Passagen aus Kants Werk, die Definitionen enthalten oder in denen die relevanten Termini in ander-

4

Einleitung

weitig aussagekräftiger Weise verwendet werden. Sodann wird unterrucht, ob die Aspekte, die im allgemeinen als Ausdruck bewußtseinstheoretischer Innovation angesehen werden - die "Spontaneität", "Reinheit" und "Ursprünglichkeit" der Apperzeption -, tatsächlich einen Bruch mit der Tradition anzeigen oder sich nicht doch integrieren lassen. Im dritten Teil schließlich werden die Resultate der ersten beiden Teile auf die Bewußtseinstheorie der transzendentalen Deduktion bezogen, und zwar vor allem auf deren zweite Redaktion. Dies dient zwei Zielsetzungen: Erstens soll derjenige Teil von Kants Bewußtseinstheorie detaillierter herausgearbeitet werden, der im allgemeinen als der innovativste und systematisch folgenreichste angesehen wird. Zweitens soll überprüft werden, ob mit den in dieser Untersuchung entwikkelten Interpretamenten verständlich gemacht werden kann, wie Kant aus der Analyse der Apperzeption ein Argument für die objektive Gültigkeit der Kategorien gewinnen kann.

I Bewußtsein und Selbstbewußtsein im 18. Jahrhundert

l Voraussetzungen /. / Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Reflexion bei John Locke ist für die Bewußtseinstheorie vor allem in zwei Hinsichten von Bedeutung: Zum einen durch sein Verständnis von personaler Identität, zum anderen durch seine Diskussion der "ideas of reflection".5 Personale Identität ist für Locke vollständig unabhängig von der Beschaffenheit ihres materiellen oder immateriellen Trägers. Hinsichtlich der Frage, ob die menschliche Seele materiell oder immateriell ist, verhält sich Locke neutral oder agnostisch:6 Wir können nicht wissen, ob der Schöpfer der Materie eine Kraft zu denken mitgegeben hat oder nicht — und für die Frage nach der Identität der Person ist das auch nicht entscheidend: I say, in all these cases, our consciousness being interrupted, and we losing the sight of our past selves, doubts are raised whether we are the same thinking thing; i. e. the same substance or not. Which however reasonable, or unreasonable, concerns not personal Identity at all. The Question being what makes the same Person, and not whether it be the same Identical Substance, which always thinks in the same Person, which in this case matters not at all.7

Die Identität der Person hängt so ebensowenig von einer Seelensubstanz ab wie vom Körper. Locke bestimmt sie vielmehr durch den Be-

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6

7

Die folgende Darstellung orientiert sich besonders an Udo Thiel [1983], [1998] und [2001a]. Vgl. weiter Gibson [1917] und Ayers [1991], zur Rezeption Lockes in Deutschland Fischer [1975]. "We have the Ideas of Matter and Thinking, but possibly shall never be able to know, whether any mere material Being thinks, or no; it being impossible for us, by the contemplation of our own Ideas, without revelation, to discover, whether Omnipotency has not given to some Systems of Matter fitly disposed, a power to perceive or think, or else joined and fixed to Matter so disposed, a thinking immaterial Substance". (Locke [1690/N] 540; IV, 3,6) Interessanterweise hat Michael Hißmann, einer der wenigen konsequenteren Empiristen in Deutschland, Locke in diesem Zusammenhang als Materialisten und nicht als Agnostiker verstanden (Hißmann [1777] 270). Locke [1690/N] 336; II 18,10. Vgl. Locke [1690/N] 332 (II, 27, 7).

8

Voraussetzungen

griff des Bewußtseins ("consciousness").8 Bewußtsein bestimmt Locke als Wahrnehmung oder Gewahrwerden ("perception") dessen, was im Geist vor sich geht.9 Dieses Bewußtsein ist Locke zufolge unmittelbar mit jeder Vorstellung verbunden, was weiter bedeutet, daß es keine unbewußten Vorstellungen geben kann. Dementsprechend ist eine Person ... a thinking, intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider it self as it self, the same thinking thing in different times and places; which it does only by that consciousness, which is inseparable from thinking, and as it seems to me essential to it: It being impossible for any one to perceive, without perceiving, that he does perceive.10

Daß kein Perzipieren ohne Perzipieren des Perzipierens stattfinden soll, scheint auch zu bedeuten, daß mit jedem Bewußtseinsakt zugleich unmittelbar ein Selbstbezug einhergeht, so daß Gegenstandsbewußtsein für Locke zugleich eine Art von Selbstbewußtsein einzuschließen scheint. Mit dem Bewußtsein der Ideen ist Locke zufolge auch ein Wissen von der Existenz ihres Trägers verbunden, und die Existenz des Ich ist daher ebenso gewiß wie die der Ideen.11 Von diesem unmittelbaren Selbstbezug der Vorstellungen ist derjenige zu unterscheiden, den Locke als "reflection" bezeichnet und dem inneren Sinn zuordnet. "Reflection" ist ebenso wie "sensation" eine Quelle der Ideen, und sie unterscheidet sich vom unmittelbaren Bewußtsein dadurch, daß sie auf eine gesonderte Aktivität des Subjekts zurückzuführen ist und sich eben nicht unmittelbar zusammen mit der Vorstellung einstellt: The other Fountain, from which experience furnisheth the Understanding with Ideas, is the Perception of the Operations of our own Minds within us ... which Operations, when the Soul comes to reflect on, and consider, do furnish the Understanding with another set of Ideas, which could not be had from things 8

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11

"For as to this point of being the same self, it matters not whether this present seifbe made up of the same or other substances" (Locke [1690/N] 341; 11,27,341). Vgl. Thiel [2001 a] 81. "Consciousness is the perception of what passes in a Man's own mind." (Locke [1690/N] 115; II, 1,19) Locke [1690/N) 335, II, 27, 9. Vgl. ibd. 115; II, 1,19: "For 'tis altogether as intelligible to say, that a body is extended without parts, as that any thing thinks without being conscious of if, or perceiving, that it does so." Vgl. ibd. 592 (IV, 7, 4). "As for our own Existence, we perceive it so plainly, and so certainly, that it neither needs, nor is capable of any proof. For nothing can be more evident to us, than our own Existence. / think, I reason, I feel Pleasure and Pain; Can any of these be more evident to me, than my own Existence?" (Locke [1690/N] 618; IV, 9, 3)

Locke und Leibniz

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without; and such are, Perception, Thinking, Doubting, Believing, Reasoning, Knowing, Wit/ing, and all the different actings of our own Minds ... 12

Hier wird deutlich, daß Locke Reflexion als Vorstellung zweiter Ordnung versteht, die sich auf die Handlungen des Geistes richtet und diese also voraussetzt. Ebenso wird deutlich, daß sie sich nicht auf Vorstellungen äußerer Dinge bezieht, sondern nur auf die eigenen Handlungen. Reflexion ist Ursprung bestimmter Ideen, unmittelbares Bewußtsein ist wesentlich mit allen Handlungen des Geistes verbunden.13 Es ist daher das alle Gedanken und Handlungen begleitende unmittelbare Bewußtsein, das unsere Gegenwart mit unserer Vergangenheit verknüpft und durch diese Verknüpfung denjenigen Zusammenhang konstituiert, der als personale Identität bezeichnet wird:14 ... yet 'tis plain consciousness, as far as ever it can be extended, should it be to Ages past, unites Existences, and Actions, very remote in time, into the same Person, as well as it does the Existence and Actions of the immediately preceding moment ... 15

Personale Identität drückt sich weiter in der Selbstzuschreibung der Vorstellungen aus. Die Person schreibt sich Vorstellungen und Handlungen soweit als die eigenen zu, soweit sie ihr als bewußte Vorstellungen vorliegen: That with which the consdousness of this present thinking thing can join it self, makes the same Person, and is one Ji^with it, and with nothing else; and so attributes to it self, and owns all the Actions of that thing, as its own, as far as that consciousness reaches, and no farther ... 16 11

Locke [1690/N) 105; II, 1, 4. "In time, the Mind comes to reflect on its own Operations, about the Ideas got by Sensation, and thereby stores it self with a new set of Ideas, which I call Ideas of Reflection. These are the Impressions that are made on our Senses by outward Objects, that are extrinsical to the Mind; and its own Operations, proceeding from Powers intrinsical and proper to it self, which when reflected on by it self, become also Objects of its comtemplation, are, as I have said, the Original of all Knowledge." (Locke [1690/N) 117 f.; II, 1, 24) Vgl. ibd. 525 (IV, 1,4), 592 (TV, 7,4). Locke macht den Unterschied von Reflexion und unmittelbarem Bewußtsein nicht besonders deutlich; herausgearbeitet wird er von Thiel [1983] 94, Webb [1857] 63-65 und Gibson [1917] 57, eine ausführliche Diskussion findet sich bei Kulstad [1991] 82-115. 14 Das Bewußtsein von der eigenen Identität bezieht sich also nicht auf die Reflexion, sondern auf das unmittelbare Bewußtsein: "which it does only by that consciousness, which is inseparable from thinking" (Locke [1690/N] 335; II, 38, 9). 15 Locke [1690/N] 340; II, 27,16. Vgl. ibd. 344; II, 27,23: "Since 'tis evident \hcpersonal Identity would equally be determined by the consciousness, whether that consciousness were annexed to some individual immaterial Substance or no." 16 Locke [1690/N] 341; II, 27,17. 13

10

Voraussetzungen

Gottfried Wilhelm Leibniz' komplexe und sich im Laufe seines Schaffens wandelnde Bewußtseinstheorie kann hier keiner befriedigenden Analyse unterzogen werden.17 Ich möchte lediglich zwei für die nachfolgende Diskussion wichtige Aspekte herausstellen: den Begriff der Apperzeption und die Gradeinteilung der Vorstellungen in klare und deutliche. Beide kommen in der nachleibnizschen Philosophie weit verbreitet zur Anwendung. In den 1765 posthum publizierten Nouveaux Essais vertritt Leibniz gegenüber Locke die Ansicht, daß sich im menschlichen Geist eine Vielzahl unbewußter Vorstellungen befindet. Diese Vorstellungen, die Leibniz "petits perceptions" nennt, können zum Bewußtsein gelangen, wenn sich ihnen die Aufmerksamkeit durch irgendeinen Anlaß -z.B. die Verstärkung eines sinnlichen Eindrucks - zuwendet. Diesen Vorgang des Bewußtwerdens und sein Resultat bezeichnet Leibniz als "apperception":18 J'aimerois mieux distinguer entre perception et entre s'appercevoir. La perception de la lumiere ou de la couleur par exemple, dont nous nous appercevons, est composee de quantite de petites perceptions, dont nous ne nous appercevons pas, et un bruit dont nous avons perceptions, mais ou nous ne prenons point garde, devient apperceptible par une petite addition ou augmentation.19

Daraus ergibt sich, daß Perzeptionen nicht von sich aus bewußt sind, sondern aufgrund einer besonderen Aktivität des Subjekts. Anders als bei Locke, der zwischen unmittelbarem und reflexivem Bewußtsein unterscheidet, ist für Leibniz jedes Bewußtsein reflexiv und damit eine 17

Vgl. dazu aus der Gegenwart die differenzierten Untersuchungen von Robert McRae [1976], Mark Kulstad [1991], Udo Thiel [1994b] und Martin Schneider [1998]. Einen Überblick über ältere Diskussionen gibt Kurt Grau [1916] 158, einen Überblick über die Entwicklung von Leibniz' Bewußtseinstheorie Anton Sticker [1900]. 18 Leibniz hat "apperception" bzw. "apperceptio" als philosophische Fachtermini geprägt, vgl. z. B. Davies [1990] 51 ff. 19 Leibniz [1765/G] 5,121; 11,9,4. Man kann sich die sachlichen Schwierigkeiten, die mit dem Begriff der Apperzeption verbunden sind, deutlich machen, wenn man die verschiedenen Übersetzungen der französischen bzw. lateinischen Texte vergleicht. Ernst Cassirer übersetzt die erwähnte Passage: "Ich würde vorziehen, zwischen Perception und Apperzeption zu unterscheiden. Die Perzeption des Lichts oder der Farbe z. B., die wir gewahr werden, ist aus einer Menge kleiner Perzeptionen zusammengesetzt, die wir nicht gewahr werden, und ein Geräusch, das wir perzipieren, auf das wir aber nicht achtgeben, wird durch eine kleine Zugabe oder Veränderung merklich." (Leibniz [1765/C] 113). Hans Heinz Holz übersetzt dagegen auch das Wort "apperception", und zwar als "bewußte Wahrnehmung", während er "perception" direkt mit "Perzeption" wiedergibt (Leibniz [1765/H] 155). Vgl. auch Leibniz [1765/G] 5, 159 (II, 21, 5) und zu den "petits perceptions" Leibniz [1765/G] 5,104 (II, l, 13), 5,108(11, l, 22), 5, 46-51.

Locke und Leibniz

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Vorstellung zweiter Ordnung. Die Apperzeption bezieht sich ihrerseits grundsätzlich auf die Perzeptionen und nicht direkt auf Objekte. In den Principes beschreibt Leibniz den Unterschied von Perzeption und Apperzeption so: Ainsi il est bon de fake distinction entre la Perception qui est l'etat Interieur de la Monade tepresentant les choses externes, et YApperception qui est la Conscience, ou la connoissance reflexive de cet etat interieur, laquelle n'est point donnee ä toutes les Ames, ny tousjours a la meme Ame.20

Leibniz stellt den Unterschied von Perzeption und Apperzeption hier hinsichtlich ihres Gegenstandsbezugs dar. Perzeptionen richten sich danach auf äußere Dinge, Apperzeptionen auf die inneren Zustände des Subjekts. Dieser Begriff der Apperzeption bezeichnet daher nur in einem sehr eingeschränkten Sinn ein Selbstbewußtsein, insofern sich das Subjekt hier auf seine eigenen Zustände richtet. Anscheinend hat Leibniz jedoch auch die Möglichkeit erwogen, daß sich Apperzeption nicht nur auf die Vorstellungen, sondern auch auf den Geist selbst bezieht.21 Die Begriffserklärung in der Monadologie entspricht dagegen eher derjenigen der Nouveaux Essais, insofern Apperzeption auch hier als Bewußtwerdung für sich genommen unbewußter Perzeptionen verstanden wird.22 Der Rückbezug auf mich selbst fügt Leibniz zufolge den Empfindungen etwas hinzu, was nicht in ihnen selbst enthalten ist. Daher ist zu unterscheiden, ob ich an etwas denke oder ob ich zugleich über die20

Leibniz [1714a/G] 6, 600. Cassirer übersetzt, sichtlich interpretierend: "Man muß demnach unterscheiden zwischen der Perception, oder dem inneren Zustand der Monade, sofern er die äußeren Dinge darstellt und der Apperzeption, die das Selbstbewußtsein oder die reflexive Erkenntnis dieses inneren Zustandes ist." (Leibniz [1714a/C] 426) 21 Zu beiden Aspekten Thiel [1994b] 198-200. Nicholas Rescher [1967] 125 f. vertritt mit Entschiedenheit die Ansicht, daß Apperzeption als Selbstbewußtsein im Sinne reflexiver SelbstPerzeption und nicht als Perzeption der Perzeption zu verstehen sei. Johannes Rehmke bringt m. E. die Ambivalenz der Apperzeption, so wie sie hier diskutiert wurde, besser zum Ausdruck: "Mit Recht hat man darauf hingewiesen, daß das Leibnizsche Wort 'apperception' etwas vom 'Selbstbewußtsein' mit sich führe, und wenn wir hier genauer zusehen, so läuft es darauf hinaus, daß in jeder apperception die Seele nicht nur die Vorstellung, sondern auch sich als das Tätige (Vorstellende) wissen soll. Es ist aber zu weit gegangen, wenn man behauptet, in die 'apperception' schlechtweg lege Leibniz ein 'Selbstbewußtsein' im Sinne der 'klaren Vorstellung der Seele von sich selbst' hinein" (Rehmke [1910] 15). ~ "L'etat passager qui enveloppe et represente une multitude dans l'unite ou dans la substance simple n'est autre chose que qu'on appelle la Perception, qu'on doit bien distinguer de l'apperception ou de la conscience, comme il paroitra dans la suite. Et c'est en quoy les Cartesiens ont fort manque, ayant compte pour rien les perceptions dont on ne s'appercoit pas." (Leibniz [1714b/G] 608 f.)

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Voraussetzungen

sen Gedanken reflektiere.23 Daß ich einen Gedanken von meinem Ich erfassen und Vorstellungen als die meinigen ansehen kann, führt Leibniz auf reflexive Akte ("actes reflexives") zurück.24 Darin zeichnet sich bereits ab, was Wolff später als die Grundbestimmung von Selbstbewußtsein herausarbeiten wird: die Unterscheidung des Selbst von den Objekten, die sich durch das Gewahrwerden seiner reflexiven Aktivität herausbildet (vgl. Kapitel I 2.1). Die Einteilung von Erkenntnissen und Wahrnehmungen in dem Grad nach klare und deutliche geht auf Descartes zurück und wurde von Leibniz in die im 18. Jahrhundert gebräuchliche, präzisere Form gebracht.25 Leibniz bestimmt die Klarheit eines Begriffs als das Gegenteil seiner Dunkelheit. Dunkel ist ein Begriff dann, wenn es nicht möglich ist, seinen Inhalt wiederzuerkennen und von ähnlichen Begriffen zu unterscheiden, mit anderen Worten, wenn er unbewußt bleibt.26 Ein klarer Begriff kann entweder verworren oder deutlich sein. Verworren ist er, wenn ich die einzelnen Merkmale nicht aufzählen kann, die zur Unterscheidung einer Sache von anderen ausreichen. Deutlich wird ein Begriff dagegen dann, wenn er Merkmale angibt, aufgrund derer eine Sache von anderen unterschieden werden kann.27

23

"Cette pensee de moy, qui m'appercois des objets sensibles, et de ma propre action qui en resulte, adjoute quelque chose aux objets des sens. Penser a quelque couleur et considerer qu'on y pense, ce sont deux pensees tres differentes, autant que la couleur meme differe de moy qui y pense." (Leibniz [G] 6, 502, Brief an Königin Sophie Charlotte 1702) 24 Monadologie § 30, Leibniz [1714b/G] 612. Dem Ich liegt die Seelensubstanz zugrunde, und sie ist auch der Grund dafür, daß das Ich identisch bleibt: "Pour ce qui du soj, il sera bon de le distinguer de Vapparance du soj et de la conscienciosite. Le soj fait l'identite reelle et physique, et Tappannce du soj, accompagnee de la verite, y joint l'identite personelle." (Leibniz [1765/G] 219) 25 Vgl. Gabriel [HWB] 4, 846-848. 26 Leibniz [1684/G] 422. 27 Ein deutlicher Begriff ist "ein solcher, wie ihn die Münzprüfer vom Golde haben, auf Grund von Merkmalen und Untersuchungen, die ausreichen, die Sache von allen anderen Körpern zu unterscheiden." (Leibniz [1684/G] 423, zitiert nach der Übersetzung von Herbert Herring, Leibniz [SLM] 10)

Humes Bündeltheorie des Ich

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1.2 Humes Bündeliheone des Ich David Hume thematisiert den Begriff des Bewußtseins nicht ausdrücklich und übernimmt ihn, wie Udo Thiel gezeigt hat, im wesentlichen so, wie er in England in den Debatten seiner Zeit unterstellt wurde. Bewußtsein tritt zwar unmittelbar mit den Vorstellungen ein, dennoch scheint Hume es nicht für einen direkten Bestandteil der Vorstellungen zu halten.28 Enorm folgenreich ist dagegen seine konsequente Ablehnung aller substantialistischen Vorstellungen von der Seele, die ihn zu seiner sogenannten Bündeltheorie des Ich führt. Hume erklärt die Annahme eines identischen Subjekts, kraft dessen Aktivität die Vorstellungen in Zusammenhang gebracht werden, zur Illusion: The identity, which we ascribe to the mind of man, is only a fictions one, and of a like kind with that which we ascribe to vegetables and animal bodies. [...] Tis evident, that the identity, which we attribute to the human mind, however perfect we may imagine it to be, is not able to run the several different perceptions into one, and make them lose their character of distinction and difference, which are essential to them.29

Was den Anschein der Identität des Subjekts und der Einheit der Vorstellungen im Subjekt hervorruft, ist danach lediglich die kontinuierliche Verbindung panschen den Vorstellungen. Diese Verbindung erfolgt nach Humes drei Assoziationsprinzipien Ähnlichkeit, Berührung in Raum und Zeit und Kausalität.30 Von den Schwierigkeiten der eigenen Theorie, die Hume im Appendix zum Treatise diskutiert, ist hier eine Inkonsistenz besonders hervorzuheben. Diese folgt aus Humes genereller Ansicht, daß es keine realen Verknüpfungen zwischen an sich getrennten Entitäten gibt, sondern nur scheinbare aufgrund der Gewöhnung an ihr gemeinsames Auftreten. Zu den an sich getrennten Entitäten sollen nun aber auch die Vorstellungen gehören. Zugleich sollen sie aber real im Bewußtsein verbunden sein und auf diese Weise den Anschein hervorrufen, es gebe ein identisch bleibendes Subjekt. Hume

28 29 30

Thiel [1994a] 109. Hume [1739] 259. "Tis, therefore, on some of these three relations of resemblance, contiguity and causation, that identity depends; and as the very essence of these relations consists in their producing an easy transition of ideas; it follows, that our notions of personal identity proceed entirely from the smooth and uniterrupted progress of the thought along a train of connected ideas, according to the principles above-explaine'd." (Hume [1739] 260).

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Voraussetzungen

muß eingestehen, daß sich dieses Problem im Rahmen seiner Theorie nicht lösen läßt.31 Es ist eine vieldiskutierte Frage, welchen Einfluß Hume auf die Debatten des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum nehmen konnte. Die erste deutsche Übersetzung des Treatise erschien erst 1790, und Kenntnisse des Englischen gehörten damals nicht zur üblichen Ausbildung eines Gelehrten. Hinsichtlich Kants läßt sich sagen, daß er mit großer Wahrscheinlichkeit prinzipielle Kenntnis der Bündeltheorie besaß. Denn in Johann Nikolaus Tetens' Philosophischen Versuchen, die Kant nach eigenem Bekunden intensiv studiert hat, befindet sich eine ausführliche Paraphrase, die den Grundgedanken der Bündeltheorie enthält.32 Diese Passage reicht aber völlig aus, um den Grundgedanken erfassen zu können.

1.3 Thomas Reid Thomas Reid ist hier nicht nur durch seine Kritik an Humes Bündeltheorie des Geistes von Interesse, sondern vor allem deshalb, weil er sich, anders als Hume, eingehender zum Begriff des Bewußtsein einläßt.33 Reid bestimmt Bewußtsein als ein unmittelbares Wissen, das wir von unseren mentalen Operationen haben. Reid zufolge können wir uns nur solcher Vorstellungen bewußt sein, die uns gegenwärtig sind. Bewußtsein ist somit strikt vom Gedächtnis zu unterscheiden: Consdousness is a word used by Philosophers, to signify that immediate knowledge which we have of our present thoughts and purposes, and, in general, of all the present operations of our minds. Whence we may observe, that consciousness is only of things present. To apply consciousness to things past,

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32

33

"In short there are two principles, which I cannot render consistent; nor is it in my power to renounce either of them, viz. that all our distinct perceptions are distinct existences, and that the mind never perceives any real connexion among distinct existences. Did our perceptions either inhere in something simple and individual, or did the mind perceive some real connexion among them, there wou'd be no difficulty in the case. For my part, I must plead the privilege of a sceptic, and confess, that this difficulty is too hard for my understanding." (Hume [1739] 636) Vgl. AA 10,231. Vgl. Gawlick & Kreimendahl [1987] 187 f. zu Tetens und weiteren möglichen indirekten Quellen für Kants Bekanntschaft mit Hume. Tetens' Verständnis der Bündeltheorie wird in Kapitel I 4. l behandelt. Vgl. zur deutschen Rezeption der schottischen Philosophie insgesamt Kühn [1987a].

Thomas Reid

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which sometimes is done in popular discourse, is to confound consciousness with memory.34

Gedächtnis ist das unmittelbare Wissen von vergangenen mentalen Zuständen, so wie Bewußtsein das unmittelbare Wissen von gegenwärtigen ist.35 Die Unmittelbarkeit des Bewußtseins äußert sich Reid zufolge darin, daß Bewußtsein nicht "logisch definiert" werden kann.36 Wir können Reid zufolge vom Bewußtsein nicht getäuscht werden; so haben wir z. B. qua Bewußtsein ein infallibles Wissen von der Existenz unserer gegenwärtigen Vorstellungen.37 Diese Gewißheit ist selbst, in Übereinstimmung mit Reids genereller Bewußtseinserklärung, unmittelbar und intuitiv und nicht das Resultat eines Denkprozesses.38 Ebenso wie vom Gedächtnis ist Bewußtsein auch von der äußeren Wahrnehmung (perception) zu unterscheiden: 14

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38

Reid [1785/E] 24. Vgl. ibd. 420: "Mr LOCKE very properly calls consciousness an internal sense. It gives the like immediate knowledge of things in the mind, that is, of our own thoughts and feelings, as the senses give us of things external." Der Unterschied von Bewußtsein und Gedächtnis wird ibd. 470 weiter illustriert: "The objects of it [seil, consciousness] are our present pains, our pleasures, our hopes, our fears, our desires, our doubts, our thoughts of every kind; in a word, all the passions, and all the actions and operations of our own minds, while they are present. We may remember them when they are past; but we are conscious of them only while they are present." Keith Lehrer [1986] 3 erläutert die Unmittelbarkeit des Bewußtseins weiter so, daß unmittelbares Bewußtsein undeutlich sein soll und sofort vergessen wird. Er gibt keine Textevidenz dafür an, der zweite Aspekt ergibt sich allerdings in gewisser Weise aus Reids Behauptung, daß es kein Bewußtsein von vergangenen mentalen Zuständen gibt, sondern nur eine Erinnerung an sie (vgl. Reids Kritik an Lockes (angeblicher) "memory theory" der personalen Identität, z. B. [1785/E] 277). Lehrer legt ibd. 7 weiterhin dar, daß Reid schwankt zwischen der Ansicht, daß Bewußtsein mit dem unmittelbaren Wissen von unseren mentalen Operationen identisch ist, und der Ansicht, daß Bewußtsein von einem solchen Wissen begleitet wird. "... That Mr LOCKE attributes to consciousness the conviction we have of our past actions, as if a man may now be conscious of what he did twenty years ago. It is impossible to understand the meaning of this, unless by consciousness be meant memory, the only faculty by which we have an immediate knowledge of our past actions." (Reid [1785/E] 277) "Consciousness is an operation of the understanding of its own kind, and cannot be logically defined." (Reid [1785/E] 470) "As by consciousness we know certainly the existence of our present thoughts and passions" (Reid [1785/E] 42); "We have an immediate conception of the operations of our own minds, joined with the belief of their existence; and this we call consciousness." (ibd. 227) Vgl. zur Diskussion der Infallibilität des Bewußtseins bei Reid Lehrer [1986] 1-3, zur Infallibilität der ersten Prinzipien im Inquiry Lehrer [1989] 80. "When a man is conscious of pain, he is certain of its existence; when he is conscious that he doubts, or believes, he is certain of the existence of those operations. But the irresistible conviction he has of the reality of those operations is not the effect of reasoning; it is immediate and intuitive." (Reid [1785/E] 470). Ibd. 67 schließt Reid aus, daß Bewußtsein auf Urteilen basieren könnte.

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Voraussetzungen

It is likewise to be observed, that consciousness is only of things in the mind, and not of external things. It is improper to say that I am conscious of the table which is before me. I perceive it, I see it, but do not say I am conscious of it.39

Im Unterschied zum Bewußtsein ist Wahrnehmung ausschließlich auf äußere Objekte bezogen, und deshalb gibt es Reid zufolge auch keine Wahrnehmung innerer Zustände.40 Ebenso wendet er sich gegen die Vorstellung, wir würden Ideen wahrnehmen.41 Bewußtsein, Gedächtnis und Wahrnehmung sind für Reid zusammen mit der Einbildungskraft die gleichursprünglichen und einfachen Kräfte des Geistes.42 Reid unterscheidet unter expliziter Bezugnahme auf Locke weiterhin zwischen dem unmittelbaren Bewußtsein und der aufmerksamen Reflexion. In der Reflexion richtet sich der Verstand auf sich selbst und macht die eigenen Operationen zu seinem Objekt: This power of the understanding to make its own operations its object, to attend to them, and examine them on all sides, is the power of reflection, by which alone we can have any distinct notion of the powers of our own, or of other minds.45

Reid legt großen Wert auf diesen Unterschied und moniert, daß Locke selbst ihn nicht konsequent genug herausgearbeitet habe.44 Der Unter39 40

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42

43 44

Reid [1785/E] 24. "Secondly, Perception is applied only to external objects, not to those that are in the mind itself. When I am pained, I do not say that I perceive pain, but that I feel it, or that I am conscious of it. T\ms perceptions distinguished from consciousness." (Reid [1785/E] 22) "Philosophers sometimes say that we perceive ideas, sometimes that we are conscious of them. I can have no doubt of the existence of any thing, which I either perceive, or of which I am conscious; but I cannot find that I either perceive ideas or am conscious of them." (Reid [1785/E] 322) Ebenso schließt Reid in einem Manuskript von 1748 aus, daß wir in sinnvoller Weise von einem Bewußtsein von Wahrnehmungen sprechen können: "I know nothing that is meant ... by Consciousness of Present Perceptions but the perceiving that we perceive them. I cannot imagine there is any thing more in perceiving that I perceive a Star Simply otherwise there might be perceptions of perceptions in Infinitum." (Reid [1748] 317) "Perception, consciousness, memory, and imagination, are all original and simple powers of the mind, and parts of its constitution." (Reid [1785/E] 193) Reid [1785/E] 58. "This reflection ought to be distinguished from consciousness, with which it is too often confounded, even by Mr LOCKE. All men are conscious of the operations of their own minds, at all times, while they are awake; but there are few who reflect upon them, or make them objects of thought." (Reid [1785/E] 58) Vgl. ibd. 42: "But it is to be observed, that we are conscious of many things to which we give little or no attention. We can hardly attend to several things at the same time; and our attention is commonly employed about that which is the object of our thought, and rarely about the thought itself."

Thomas Reid

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schied tritt Reid zufolge besonders darin zutage, daß aufmerksame Reflexion einen willentlichen Akt darstellt, Bewußtsein dagegen ohne willentliches Zutun mit allen mentalen Ereignissen verbunden ist.43 Soweit ich sehen kann, hat Reid nur an einer Manuskriptstelle Überlegungen zum Selbstbewußtsein angestellt, das er als unmittelbares und einfaches Bewußtsein von der eigenen Existenz ansieht. Er ist unsicher hinsichtlich seiner Zuordnung zu Empfindung und Reflexion: Perhaps besides the Consciousness of past & present Perceptions there is also a Consciousness or Perception if my being, which is simple & original to my Nature & cannot be explained tho it be felt by every one. If this be so it ought at least to have a Name I shall call it Self-Consciousness. It would methinks be improper to call it an Idea or an Impression at least it seems not to have been considered under either of these heads by those who have treated them. And I apprehend it will be hard to say whether it is an Impression of Sensation or Reflexion?46

In seiner nachdrücklichen Kritik an Humes Bündeltheorie des Geistes spielen Annahmen über das von Reid in dieser Passage Selbstbewußtsein genannte Phänomen allerdings eine wichtige Rolle. So macht er es zur Grundlage seines Arguments gegen Hume, daß jeder Mensch eine unmittelbare Überzeugung sowohl von seiner gegenwärtigen Existenz habe, als auch von seiner eigenen Identität und kontinuierlichen Existenz.47 Daneben hält Reid es für absurd, daß bloße Bündel von Wahrnehmungen etwa Erinnerungen oder einen Willen haben oder bejahen und verneinen können.48

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"Attention is a voluntary act; it requires an active exertion to begin and continue it; and it may be continued as long as we will; but consciousness is involuntary and of no continuance, changing with every thought." (Reid [1785/E] 59) Reid [1748] 318. "I take it for granted that all the thoughts I am conscious of, or remember, are the thoughts of one and the same thinking principle, which I call myself, or my mind. Every man has an immediate and irresistible conviction, not only of his present existence, but of his continued existence and identity, as far back as he can remember." (Reid [1785/E] 42) Vgl. ibd. 476 sowie Falkenstein [1995b]. Zur Kritik an Lockes Theorie der personalen Identität vgl. Reid [1785/E] 275-277 sowie Woudenberg [2004] 214-221. Reid [1785/E] 473 f.

2 Die wolffianische Schulphilosophie 2.1 Chnstian Wolff Christian Wolff ist die dominierende Figur in der deutschsprachigen Philosophie der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.49 Wolff entwickelt seine Bewußtseinstheorie in den beiden Psychologien sowie in denjenigen Teilen seiner Metaphysik, die sich mit der Seelenlehre beschäftigen.50 In der Deutschen Metaphysik setzt die Bewußtseinsanalyse beim Begriff der Seele an. Die Erfahrung soll Wolff zufolge zeigen, daß wir von unserer Seele zuerst wahrnehmen, ... daß wir uns vieler Dinge als ausser uns bewust sind. Indem dieses geschiehet, sagen wir, daß wir gedencken, und nennen demnach die Gedancken Veränderungen der Seele, deren sie sich bewust ist ... Hingegen wenn wir uns nichts bewust sind, als z. E. im Schlafe, oder auch wohl zuweilen im Wachen es davor halten, pflegen wir zu sagen, daß wir nicht gedencken^

Als Gedanken werden also solche Veränderungen der Seele bezeichnet, derer wir uns bewußt sind.52 Wolff folgt hier den Annahmen, die in der neuzeitlichen Metaphysik üblich sind: Die Seele gilt als eine einfache, immaterielle Substanz, deren Akzidenzen die Gedanken sind.33 49

50

51

Zur dominierenden Stellung und schulbildenden Wirkung Wolffs in der deutschsprachigen Philosophie im allgemeinen vgl. Zart [1881] 17-30, Ueberweg [1923] III 448-466, Wundt [1945] 122-230, Beck [1969] 261 und Corr [1998]. Wolff hat auch ganz allgemein die deutschsprachige wissenschaftliche und philosophische Terminologie geprägt, vgl. dazu Piur [1903] und Blackall [1959] 19-48. Zu Wolffs Bewußtseinsbegriff und seinen Wirkungen gibt Grau [1916] 181-218 einen ausführlichen historischen Überblick, vgl. weiterhin König [1884], Sommer [1892] 7; 16-18, Dessoir [1902] I 81 ff, Salomon [1902] 40-47, Rehmke [1910], Knüfer [1911] 11-20, Kehr [1916], Wundt [1945] 122; aus jüngerer Zeit Blackwell [1961], Ecole [1990] 263-326, Vidal [2000] und Euler [2004]. Auch das Verhältnis von Kant und Wolff erfährt seit einiger Zeit verstärkte Aufmerksamkeit, vgl. Kim [1994], Mohr [1995], Kühn [1997], Kühn [2001 b], Longuenesse [1998] 95-106, Hinske [1999], Rosales [2000] 53-66, Zammito [2002] 15, 43-53 sowie Heßbrüggen-Walter [2004]. Wolff [1720/11] (Deutsche Metaphysify Kap. 3 und 5, Wolff [1732/2] (Psychologia empima) und Wolff [1734/2] (Psychologia rationalis). Die lateinische Ontologia (Wolff [1729/2]) enthält kein eigenes Kapitel zur Seelenlehre. Wolff [1720/11] 108 §194.

Christian Wolff

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Er legt allerdings besonderen Wert darauf, daß die Veränderungen der Seele sich aus einer einzigen Kraft herleiten lassen sollen, der Kraft nämlich, sich die Welt nach der Stellung des Körpers vorzustellen.54 Da die Seele ein einfaches Ding sein soll, kann sie Wolff zufolge nur diese eine Kraft haben, und daher sind ihre Vermögen wie Einbildungskraft, Reflexionsvermögen oder Verstand als von der Vorstellungskraft abgeleitet anzusehen.55 Auf dem Substanzcharakter der Seele basiert auch Wolffs Erklärung für personale Identität. Die numerische Identität der Person ergibt sich jedoch nicht unmittelbar aus der Identität der Seelensubstanz, sondern aus dem Bewußtsein über sie: Da man nun eine Person nennet ein Ding, das sich bewust ist, es sey eben dasjenige, was vorher in diesem oder jenem Zustande gewesen; so sind die Thiere auch keine Personen: hingegen weil die Menschen sich bewust sind, daß sie eben diejenigen sind, die vorher in diesem oder jenem Zustande gewesen; so sind sie Personen.56 52

53

54 55

56

Der Begriff des "Gedankens" fungiert damit als Terminus technicus für "bewußte Vorstellung", den sich auch viele andere Autoren der Zeit zu eigen gemacht haben, vgl. Wolff [1740] 127 § 56, Baumgarten [1761] 8 § 15 sowie Grau [1916] 186. Im Register der Deutschen Metaphysik wird "Gedancke" allerdings sowohl mit "Cogitatio" als auch mit "Perceptio" übersetzt (Wolff [1720/11] 674). Kants Gebrauch des Terminus ist uneinheitlich. So heißt es in A 350 im Wölfischen Sinne, daß "das Bewußtsein das einzige ist, was alle Vorstellungen zu Gedanken macht"; in anderen Zusammenhängen dagegen identifiziert Kant "Denken" spezifischer mit dem Gebrauch von Begriffen, z. B. B 94, B 146. "Weil weder ein Cörper seinem Wesen und seiner Natur nach gedencken (§. 738. 739.), noch ihm oder der Materie eine Kraft zu dencken mitgetheilet werden kan (§. 741.); so kan die Seele nichts cörperliches seyn, noch aus der Materie bestehen (§. 192.). Und da aus den Beweisen der angeführten Gründe überhaupt erhellet, daß die Gedancken keinem Zusammengesetzen Dinge zukommen können; so muß die Seele ein einfaches Ding seyn [...] Da alle einfache Dinge für sich bestehende Dinge sind (§. 127.); so muß auch die Seele ein für sich bestehendes Ding seyn" (Wolff [1720/11] 463 f. § 742 f.). Daß Wolff mit "für" oder "vor" sich bestehenden Dingen Substanzen meint, ist ibd. 59 § 114 zu sehen: "Nehmlich ein vor sich bestehendes Ding oder eine Substantz ist dasjenige, welches die Quelle seiner Veränderungen in sich hat". Im "ersten Register" der Deutschen Metaphysik ist "Substantia" die Übersetzung für "Vor sich bestehendes Ding" (ibd. 677). Wolff [1720/11] 488 f. § 784. Wolff [1720/11] 468 ff. § 753 ff. Zu Wolffs Ansicht, daß die Seele nur eine Grundkraft haben kann und zur Unterscheidung von Kraft und Vermögen vgl. Heßbrüggen-Walter [2004] 57-84. Wolff [1720/11] 570 § 924. Im Kontext dieser Passage diskutiert Wolff den Substanzcharakter der Seele (wovon im Zitat selbst nicht ausdrücklich die Rede ist); vgl. auch Wolff [1734/2] 660 § 741. Während bei Locke das Bewußtsein von Gedanken und Handlungen personale Identität konstituiert, werden wir nach Wolff durch ein Bewußtsein unserer Identität zu Personen; die Identität der Seelensubstanz wird also, anders als bei Locke, vorausgesetzt (vgl. Thiel [2001a] 91).

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Die wolffianische Schulphilosophie

Das Subjekt einer Serie von Vorstellungen ist dann und deshalb dasselbe, weil und insofern diese Vorstellungen Akzidenzen einer und derselben Seelensubstanz sind. Ebenso können die Vorstellungen untereinander in einen Zusammenhang treten, weil sie Akzidenzen derselben Substanz sind und insofern in demselben Medium zusammenstehen.57 Wolff definiert Bewußtsein als Unterscheiden von Dingen. Bewußtsein von einem Ding haben wir dann, wenn wir es von anderen Dingen unterscheiden: Wir finden demnach, das wir uns alsdenn der Dinge bewust sind, wenn wir sie von einander unterscheiden.58

Diese Passage muß nicht zwingend so verstanden werden, daß Bewußtsein per definitionem Bewußtsein von Gegenständen ist. Sie besagt zunächst einmal nicht mehr, als daß wir, sofern wir Bewußtsein von Dingen haben, dieses deshalb haben, weil wir sie unterscheiden.59 Wolff unterscheidet in der Bewußtseinsdiskussion der Deutschen Metaphysik nicht zwischen Dingen und Vorstellungen und dem jeweiligen Bewußtsein, das wir von ihnen haben können.60 Im Gegensatz dazu behandelt Wolff in den späteren Psychologien Bewußtsein grundsätzlich als das Bewußtsein von Vorstellungen.61 Der soeben zitierten Definition entsprechend sind wir uns der Dinge nicht bewußt, wenn wir sie nicht unterscheiden. Unsere Gedanken sind dann Wolff zufolge "dunkel". Wie Leibniz geht er davon aus, daß wir Vorstellungen haben, ohne uns ihrer bewußt zu sein:62 57

Dieser Einheitsaspekt wird von Martin Knutzen besonders herausgearbeitet, vgl. Kap. I 3. l. Wolff [1720/11] 454 § 729. 59 Die Bewußtseinserklärung im Disa/rsusprae/iminaris erstreckt sich nur auf die Tatsache, daß wir Bewußtsein haben, und auch hier läßt sich nicht entnehmen, ob Wolff auch die Möglichkeit eines Bewußtseins von Vorstellungen (ohne Objektbezug) einräumen würde: "Etenim si ad nosmetipsos attendimus, quovis temporis momento nobis sumus conscii rerum extra nos praesentium & organa sensoria nostra commoventium; quilibet vero etiam sui ipsius conscius est." (Wolff [1728/GK] 66) 60 Er diskutiert allerdings den Unterschied von "Dingen ausser uns" und "in uns", Wolff [1720/11] 109. Vgl. dazu Euler [2004] 23-26. " Auf diese Unterschiede zwischen der Deutschen Metaphysik und den Psychologien gehe ich weiter unten ein. Hervorzuheben ist bereits hier, daß einige von Wolffs Anhängern größeren Wert auf die Unterscheidung von Vorstellungen und Dingen legen. So ist sich nach Georg Bernhard Bilfinger die Seele ihrer selbst und der Vorstellungen von Dingen, die von ihr verschieden sind, bewußt (Bilfinger [1725] 231 f. § 238). Johann Christoph Gottsched weist darauf hin, daß man hinsichtlich der Empfindungen die empfundenen Sachen von den Vorstellungen unterscheiden muß (Gottsched [1733/7] I 113 24). 58

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Derowegen wenn in demjenigen, was wir uns auf einmahl vorstellen, gar kein Unterscheid zu bemercken ist, so, daß wir in der gantzen Vorstellung nicht das geringste unterscheiden, so wären unsere gantzen Gedancken dunckel. [...] Also hebet die völlige Dunckelheit das Bewustseyn auf.63

Um ein Ding von anderen unterscheiden zu können, muß es mit anderen verglichen werden, und dieses Vergleichen, das in einem Unterscheiden resultiert, nennt Wolff "Überdencken".64 Wolff argumentiert weiter, daß das Überdenken nicht ohne Gedächtnis möglich ist, und insofern Bewußtsein auch Gedächtnis voraussetzt.65 Die Funktion des Gedächtnisses scheint dabei zu sein, die Feststellung zu ermöglichen, ob ein Gedanke im Hinblick auf einen gegebenen Zeitraum identisch bleibt oder sich verändert.66 Die Voraussetzungsverhältnisse, die Wolff ansetzt, lassen sich so zusammenfassen, daß Bewußtsein Unterscheiden voraussetzt, Unterscheiden aber auf dem Vergleichen basiert, und Vergleichen wiederum Gedächtnis voraussetzt. Es bleibt freilich unbeantwortet, warum wir nur solche Gedanken unterscheiden können sollen, die sich über einen gewissen Zeitraum erstrecken. In der Psychologie? empinca tritt zu Reflexion und Gedächtnis noch die Aufmerksamkeit als weitere Bedingung des Bewußtseins hinzu, während diese in der Deutschen Metaphysik nur für verschiedene Grade der Klarheit sorgt.67 Das Bewußtsein von Dingen kann Wolff zufolge in zwei prinzipielle Grade eingeteilt werden, deren Erklärung er von Leibniz über62

Wolff diskutiert diesen Aspekt weniger ausführlich als einige seiner Anhänger wie Meier und Sulzer oder auch Leibniz selbst. Ein Beispiel für eine dunkle Vorstellung gibt Wolff in [1720/11] 111 § 199: "Z. E. Ich sehe auf dem Felde von weitem etwas weisses, weiß aber nicht, was ich daraus machen soll, indem ich einen Theil von dem ändern nicht recht unterscheiden kan; so ist der Gedancke, den ich davon habe, dunckel." 63 Wolff [1720/11] 457 § 731. Vgl. Wolff [1720/11] 112 § 201: "Also entstehet die Khrtmtzus der Bemerckung des Unterscheides im mannigfaltigen; die Dunckelheit aber aus dem Mangel dieser Bemerckung." 64 Dem "ersten Register" der Deutschen Metaphysik zufolge handelt es sich beim Überdenken um eine Übersetzung des lateinischen "reflectere". 65 Wolff [1720/11] 458 § 734 f. Er gibt für diese Behauptung allerdings keine nachvollziehbare Begründung an. 66 "Nemlich wenn wir etwas gedencken; so behalten wir einen Gedancken durch eine merckliche Zeit, und unterscheiden ihn gleichsam von sich selbst durch die Theile der Zeit, die wir, ob zwar nur undeutlich (§ 214) von einander unterscheiden. Wir halten ihn gegen ihn selbst, und erkennen, daß er noch derselbe ist ... und auf solche Weise bedencken wir zugleich, daß wir ihn forthin gehabt. Und also bringet das Gedächtnis und Ueberdencken das Bewußtseyn hervor" (Wolff [1720/11] § 735). 67 Vgl. in der Deutschen Metaphysik § 268 (Wolff [1720/11] 149) sowie in der Psychologia empinca § 25 (Wolff [1732/2] 20).

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Die wolffianische Schulphilosophie

nimmt.68 Wenn wk einen Unterschied im Mannigfaltigen bemerken und somit verschiedene Dinge voneinander unterscheiden können, ist unsere Vorstellung klar; stellen wir auch die Teile eines Dinges klar vor, so ist die Vorstellung deutlich: Hingegen da die Klarheit aus Bemerckung des Unterscheides im mannigfaltigen ... und die Deutlichkeit aus der Klarheit der Theile entspringet ... so lasset sich auf eben die Art begreifen, daß die Klarheit und Deutlichkeit der Gedancken das Bewußtseyn gründet.69

Wolff beschreibt den Unterschied von Klarheit und Deutlichkeit auch noch auf eine andere Weise. Deutlich ist etwas dann, so Wolff, wenn ich den Unterschied von anderem bestimmen und ihn anderen Subjekten mitteilen kann: Unterweilen geschiehet es, daß wk den Unterscheid dessen, was wk gedenken, bestimmen, und also auch auf Erfordern ihn ändern sagen können. Und alsdenn sind unsere Gedancken deutlich.™

Da Wolff im unmittelbaren Anschluß an diese Passage ebenfalls die bereits bekannte Erklärung, daß Gedanken durch die Klarheit der Teilgedanken deutlich werden, verwendet, ist nicht anzunehmen, daß es sich um konkurrierende Erklärungen handelt. Die Möglichkeit, Unterschiede auf Verlangen anzugeben, scheint vielmehr eine Folge des deutlichen Unterscheidens zu sein, denn dazu muß man ja diejenigen Aspekte einer Sache namhaft machen können, die sie nicht mit anderen Sachen teilt. Diese Möglichkeit kann auch als Kriterium für das Vorhegen einer deutlichen Vorstellung dienen: deutliche Erkenntnis liegt genau dann vor, wenn ich die differentia specifica einer Sache benennen kann. Wolff bestimmt durch die Unterscheidung von Klarheit und Deutlichkeit verschiedene Grade des Bewußtseins, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ineinander übergehen. Ebenso können Klarheit und Deutlichkeit selbst unterschiedliche Grade annehmen: Es wkd demnach die Deutlichkeit der Gedancken immer grosser, je mehr wk Theile in den Theilen, oder auch je grössere Mannigfaltigkeit wk in einem 68 69 70

Vgl. Kapitell 1.1. Wolff [1720/11] 457 § 732. Vgl. ibd. 110-112, § 198-202 sowie 114-117, § 206-208. Wolff [1720/11] 114 f. § 206. Wolff erläutert dies durch das Beispiel, wie sich der Unterschied eines Dreiecks von einem Viereck und anderen geometrischen Figuren bestimmen läßt: Um eine deutliche Vorstellung handelt es sich dann, wenn ich angeben kann, daß der Unterschied auf der Anzahl der Seiten beruht.

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entdecken. Und also wird die Deutlichkeit grosser, je mehr wir Grade der Klarheit bekommen.71

Entsprechend unterscheidet Wolff Grade der Klarheit, in denen sich ein Gedanke schrittweise vom Zustand der Dunkelheit entfernt.72 Gedanken, die zwar eine gewisse Klarheit aufweisen, in denen aber der Unterschied nicht bestimmt und anderen mitgeteilt werden kann, bezeichnet Wolff als undeutlich. Undeutlichkeit bezeichnet Wolff auch als einen "Mangel der ferneren Grade der Klarheit".73 Das Klarheit-Deutlichkeit-Schema liegt nicht nur der Bewußtseinstheorie Wolffs zugrunde. So wird die Vernunft als Vermögen der Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten bestimmt, und dieser wird dadurch ermöglicht, daß wir uns verschiedene Dinge zugleich deutlich vorstellen können. Auch die Urteile werden als eine Weise des Unterscheidens bestimmt, nämlich als Unterscheiden der Prädikate vom Subjekt, die zugleich als mit dem Subjekt verknüpft vorgestellt werden.74 Wolff bestimmt Bewußtsein also grundsätzlich als Unterscheiden von Dingen oder Vorstellungen, und dieses Unterscheiden hat zwei weiter einteilbare Hauptgrade, Klarheit und Deutlichkeit. Kennzeichnend für diesen Bewußtseinsbegriff ist sein relationaler Charakter. Vorstellungen können nur im Zusammenhang bewußt sein, denn eine einfache und isolierte Vorstellung könnte von keiner anderen unterschieden werden. Bewußtsein ist daher für Wolff keine Eigenschaft der je einzelnen Vorstellung: Der Wölfische Begriff des Bewußtseins erfordert es, daß die Vorstellungen als unterschiedene aufeinander bezogen werden. Damit liegt im Wolffschen Begriff des Bewußtseins auch schon in gewisser Hinsicht so etwas wie ein Prinzip einer notwendigen 71

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Wolff [1720/11] 116 § 208. Dementsprechend bedeutet Deutlichkeit jeweils einen höheren Grad an Klarheit: "Es erhellet hieraus zugleich, daß die Klarheit immer einen Grad tiefer herunter kommet als die Deutlichkeit. Der erste Grad der Klarheit hat keine Deutlichkeit... mit dem ändern Grade der Klarheit fanget sich der erste Grad der Deutlichkeit an" (Wolff [1720/11] 118 §212). "Daher finden wir, daß uns ein Ding immer klärer wird, jemehr wir seinen Unterschied von anderen bemercken: hingegen um so viel dunckler ist, je weniger wir ihn wahrnehmen." (Wolff [1720/11] 112§202) Wolff [1720/11] 119 § 214 f. In den lateinischen Psychologien wird die Klarheit-Deutlichkeit-Lehre ebenfalls detailliert dargestellt, vgl. Wolff [1732/2] 22-30, Wolff [1734/2] 13-17. Wolff [1720/11] 536 § 865 und 157 § 288. Wolffs Urteilstheorie wird meist hinsichtlich der Frage thematisiert, ob Urteile als analytisch oder synthetisch zu verstehen sind, vgl. Risse [1964] II 594 ff., Amdt [1965] 67 ff. und lenders [1971] 79.

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Verbindung der Vorstellungen.75 Diese Notwendigkeit beschränkt sich aber auf eine Verbindung jeweils einiger, empirisch vorliegender Vorstellungen, wie auch an Wolffs Illustrationen in diesem Zusammenhang zu sehen ist.76 Wolff leitet den Begriff des Selbstbewußtseins direkt aus dem Begriff des Bewußtseins her. Selbstbewußtsein liegt dann vor, wenn der Unterschied zwischen dem Subjekt und den Dingen bewußt gemacht wird: Eben hieraus erhellet, wenn wk uns unser bewust sind, nehmlich wenn wk den Unterscheid unserer und der anderen Dinge bemercken, deren wk uns bewust sind.77

Dieser "Unterscheid" von Selbst und Dingen zeigt sich unmittelbar, wenn wir uns der Dinge bewußt sind. Denn wir bemerken dabei Wolff zufolge, daß die Seele Dinge vorstellt und unterscheidet, und erkennen dadurch den Unterschied der Seele als Vorstellendes und Unterscheidendes von dem, was vorgestellt und unterschieden wird. Wolff bezeichnet die Fähigkeit des Subjekts, sich der Vorgänge in ihm bewußt zu werden, gelegentlich auch als inneren Sinn. Er verfolgt diese Überlegung jedoch nicht weiter und gibt auch über die Quellen für diesen Sprachgebrauch keine Auskunft.78 Selbstbewußtsein ist bei Wolff also, wie Udo Thiel deutlich macht, zweifach derivativ: es hängt ebenso vom Bewußtsein von Objekten ab, wie vom Bewußtsein von unserem mentalen Akt des Unterscheidens.79 Zugleich impliziert aber auch jedes Gegenstandsbewußtsein die Möglichkeit, sich seiner selbst bewußt zu werden, denn der Unterschied des Selbst von den Dingen soll sich 75

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Dieser Aspekt der Wölfischen Bewußtseinstheorie wird im Zusammenhang mit Kants Ansichten über Bewußtsein und Synthesis in Teil II und III wieder aufgegriffen. Ich bin "mir bewust, daß ich den Spiegel sehe, wenn ich nicht allein die verschiedenen Theile, die ich in ihm wahrnehme, von einander unterscheide, sondern mir auch selbst den Unterscheid des Spiegels von anderen Dingen, die ich entweder mit ihm zugleich sehe, oder kurz vorher gesehen, vorstelle. Gleichergestalt bin ich mir bewust, daß ich das SchnupfTuch ergreife, indem ich es nicht allein von dem Spiegel, den ich vorher in Händen gehabt, sondern auch von den Händen, von dem Tische, wo ich es wegnehme, und von anderen Dingen, die ich zugleich sehe, unterscheide." (Wolff [1720/11] 454 f.) Wolff [1720/11] 455 §730. So heißt es in der Logifa: "Mens etiam sibi conscia est eorum, quae in ipsa contingunt ... atque sie veluti seipsam percipit sensu quodam interno." (Wolff [1728/3] II 125 § 31) Zur weiteren Verbreitung dieser Verwendungsweise im deutschen Sprachraum vgl. Thiel [1997] 61 f. Thiel weist darauf hin, daß hier der "innere Sinn" weniger die reflexive Bedeutung wie bei Locke hat, sondern die in dem Wolff-Zitat erkennbare Bedeutung eines Vermögens. Thiel [1996] 219.

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unmittelbar daran zeigen, daß und wie wir uns der Dinge bewußt sind. Dennoch tritt Selbstbewußtsein nicht sogleich mit jedem Bewußtsein eines Gegenstandes ein. Es soll nun noch auf ein mögliches Problem fur Wolffs Theorie hingewiesen werden. Wolff bekennt sich grundsätzlich zur Lehre von der prästabilierten Harmonie, obwohl er sie recht reserviert nur als die plausibelste der möglichen Hypothesen bezeichnet.80 Nach dieser Lehre findet zwischen Körper und Seele keine Interaktion statt, und demgemäß auch kein durch die Sinne vermittelter Austausch zwischen dem Subjekt und äußeren Dingen. Wie soll es dann aber zu verstehen sein, daß die Seele sich ihrer selbst dadurch bewußt wird, daß sie die Dinge unterscheidet und sich dadurch zugleich des Unterschieds zwischen den Dingen und ihr selbst bewußt wird? Auch in Wolffs allgemeine Beschreibung der Grundkraft der Seele - die Seele hat die Kraft, sich die Welt nach Lage des Körpers in ihr vorzustellen - gehen Formulierungen ein, die die Möglichkeit direkter Interaktion nahezulegen scheinen.81 Die Frage, ob die von Wolff diskutierten Affektionen der Seele eine Inkonsistenz bedeuten oder sich doch als nur intrasubstantiale Einflußnahmen verstehen lassen, muß jedoch einer ausführlicheren Untersuchung vorbehalten bleiben. In beiden lateinischen Psychologien, die deutlich später als die Deutsche Metaphysik erscheinen, legt Wolff die von Leibniz eingeführte Unter80 81

Vgl. Wolff [1734/2] 451-487. So lassen sich bei Wolff Stellungnahmen zum Verhältnis von Subjekt und Außenwelt finden, die sich ohne weitere Erklärungen zunächst einmal ausschließen. Wolff behauptet einerseits, daß die Grundkraft der Seele durch die Veränderungen des Körpers eingeschränkt wird: "Alle Veränderungen demnach, die man in ihr [seil, der Seele] wahrnimmet, sind nichts denn verschiedene Einschränckungen derselben Kraft wodurch sie determiniret wird [...] Der Grund der Einschränkung bestehet in dem Stande des Cörpers in der Welt (§. 753.), und weil er veränderlich ist, in allen seinen Veränderungen." (Wolff [1720/11] 489 § 784) Wenn Wolff andererseits die Leib-Seele-Theorien diskutiert, behauptet er, daß "der Leib zu den Würckungen der Seele nicht das allergeringste beyträget" (ibd. 570 § 922). Und daher wären auch alle Empfindungen in der Seele vorhanden, wenn es keine äußere Welt gäbe (ibd. 483 § 777). Erwähnenswert ist, daß auch Leibniz' Verständnis von Selbstbewußtsein einen Bezug auf äußere Wirklichkeit einschließt, ohne daß er darin einen Konflikt mit der prästabilierten Harmonie sieht. Der Bezug auf die äußere Wirklichkeit soll sich hier bereits durch die Annahme einer Mannigfaltigkeit innerhalb der Vorstellungen des Subjekts ergeben. Vgl. besonders in De synfhesi et analyst: "Percipio autem intra me non tantum me ipsum qui cogito, sed et multas in cogitationibus meis differentias, ex quibus alia praeter me esse colligo et sensibus paulatim fidem concilio Scepticisque occurro, nam in talibus quae non sunt metaphysicae necessitatis, pro veritate habendus est nobis consensus phaenomenorum inter se, qui temere non fiet sed causam habebit" (Leibniz [G] 7, 296).

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Scheidung von Perzeption und Apperzeption zugrunde.82 Dem Bewußtsein der Vorstellungen sollen, so Wolff hier, deren "Perceptio" und "Apperceptio" zugrundeliegen. An der bewußten Vorstellung, "Cogitatio", sollen sowohl Perzeption als auch Apperzeption beteiligt sein: Quoniam cogitamus, quando nobis conscii sumus eorum, quae in nobis contingunt, & quae nobis tanquam extra nos repraesentantur (§. 23.); omnis cogitaiio &perceptionem (§ 24.), & apperceptioneminvolvit... K

Wenn der Geist sich ein Objekt vorstellt, perzipiert er Wolff zufolge; der Geist perzipiert dabei sowohl sich selbst als auch die Veränderungen, die in ihm vorgehen: Mensperapere dicitur, quando sibi objectum aliquod repraesentat [...] mens percipit seipsum & mutationes in se contingentes.84

Wird sich der Geist seiner eigenen Perzeptionen bewußt, so apperzipiert er: Menti tribuitur Apperceptio, quatenus perceptionis suae sibi conscia est.85

Bewußte Vorstellungen (Cogitationes) enthalten also neben ihrem jeweiligen Gehalt, der auf ein Objekt bezogenen Perzeption, stets auch einen reflexiven Anteil, der in der Apperzeption besteht. Die Apperzeption ist insofern reflexiv, als sie sich auf die Tätigkeiten und Veränderungen des Subjekts selbst richtet.86 Sie, und damit das Bewußtsein der Vorstellungen, ist als gesonderter Akt zu verstehen und tritt nicht unmittelbar zusammen mit den Gegenstandsvorstellungen ein; sie kann insofern als eine Perzeption zweiter Ordnung bezeichnet werden.87 Vorstellungen, die wir nur perzipieren, aber nicht apperzipieren, sind diesem Schema zufolge unbewußt oder "dunkel".

K

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Grau [1916] 188 ist der Ansicht, daß Wolff die Leibnizschen Termini eher äußerlich zu seiner Theorie hinzufügt und sie dadurch komplizierter macht. Capesius [1894] 20 behauptet einerseits, daß Wolff den Leibnizschen Apperzeptionsbegriff gemäß der Monadologie und den Pnndpes vollständig übernimmt. Dort soll Leibniz aber Capesius zufolge unter Apperzeption Selbstbewußtsein verstanden haben. Wolff verwende aber andererseits den Begriff gar nicht im Sinne von Selbstbewußtsein, sondern nur in dem von klarem Bewußtsein. Daß diese beiden Thesen sich ausschließen, ist Capesius anscheinend entgangen. Wolff [l732/2] 17 §26. Wolff [1732/2] 17 § 24. Wolff hebt hier auch den tätigen Charakter des Perzipierens hervor, indem er die Perzeption als "actus mentis" bezeichnet. Wolff [l732/2] 17 §25.

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In der Psychologia rationalis bezieht Wolff den Bewußtseinsbegriff wieder auf das Unterscheiden, und zwar hier nun auf das Unterscheiden von Vorstellungen (und nicht von Dingen wie in der Deutschen Metaphysik}. Er bestimmt "conscius esse" als das Unterscheiden von Vorstellungen, die einem Vorstellungsganzen zu einem bestimmten Zeitpunkt angehören: Quae simul percepta anima a se invicem distinguit, eorum sibi conscia est & contra: Quorum sibi conscia est, ea a se invicem distinguit ... 88

Wolff bezieht sich hier auch ausdrücklich auf den Begriff der Apperzeption aus der Psychologia empinca und hebt hervor, daß der dort exponierte Begriff nun weiterer Analyse bedarf.89 Es wird dadurch deutlich, daß Wolff in den Psychologien die ursprüngliche Bewußtseinserklärung Bewußtsein ist Unterscheiden - nicht aufgegeben hat. Auch wenn die Bewußtseinserklärung aus der Deutschen Metaphysik gültig bleibt, so fragt sich doch, in welchem Verhältnis Apperzeption zu Bewußtsein und Selbstbewußtsein steht. Wie bereits erwähnt, sollen an der bewußten Vorstellung, Cogitatio, stets Perzeption und Apperzeption beteiligt sein.90 Danach wäre es unmöglich, daß eine Vorstellung Inhalt meines Bewußtseins wird, ohne daß beide beteiligt sind. Das scheint zunächst einmal auszuschließen, Bewußtsein (nach der Deutschen Metaphysik?) und Apperzeption einfach gleichzusetzen.91 Weiterhin ist der Begriff des 86

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Reflexion in diesem Sinne, wie beispielsweise bei Locke oder Merian gebräuchlich (Merian [1749a/d] 117), ist von demjenigen zu unterscheiden, was Wolff selbst als Reflexion bezeichnet, nämlich das "Überdencken" genannte Gegeneinanderhalten von Vorstellungen. Zu diesen und anderen zu der Zeit gebräuchlichen Bedeutungen von Reflexion vgl. Zahn in [HWB] 8, 397, zu Wolffs Begriff der Reflexion Kim [1994] 44-46. Gelegentlich versteht Wolff unter Reflexion etwas Spezielleres, nämlich den Akt, in dem die Aufmerksamkeit sukzessive auf die Teile einer ganzen Vorstellung gerichtet wird (vgl. Wolff [l 732/2] 187 § 257). Diese Verwendungsweise begegnet auch bei Baumgarten [1739/7] 229 § 626, Formey [1741] V 79 und Darjes [1743] II 8 § 9, sowie bei Condillac [1746/R] 22A. Es ist dann allerdings schwer nachzuvollziehen, inwiefern auch die Perzeption einen Selbstbezug enthalten soll, wie im obigen Zitat zu sehen. Meines Wissens ist dies aber auch die einzige Passage, in der Wolff die Perceptio als zugleich auf das Selbst bezogen beschreibt. Wolff [1734/2] 9 §10. Wolff [1734/2] 10. Der Cogitatio entspricht in den deutschen Schriften der "Gedancke", der seinerseits als bewußte Vorstellung bestimmt wird, bzw. "cogitare" dem "Denken", vgl. Wolff [1720/11] 108 § 194 und Wolff [1720/11] 674; dort wird allerdings "Perceptio" ebenso als "Gedancke" wiedergegeben. So etwa Jacob Capesius [1894] 21. Capesius geht davon aus, daß auch ansonsten die Theorie der deutschen Schriften mit der der lateinischen vollständig übereinstimmt.

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Bewußtseins bei Wolff als deutsche Übersetzung für die Cogitatio gedacht und nicht als Übersetzung für Apperceptio.92 Und schließlich sollte sich Bewußtsein in der Deutschen Metaphysik auf Dinge beziehen, von Apperzeption ist aber immer als Bewußtsein der Vorstellungen die Rede. Im Ergebnis würde das bedeuten, daß Bewußtsein, das Unterscheiden von Dingen, als Einheit von Perzeption und Apperzeption zu verstehen ist. Auf der anderen Seite hieß es aber in der Psychologia empinca, daß der Geist gerade dann über Apperzeption verfugt, wenn er sich seiner Vorstellungen bewußt ist. Das bedeutet, daß die bloßen Perzeptionen genau dann bewußt werden, wenn wir sie apperzipieren, während sie ohne Apperzeption unbewußt bleiben.93 Worin liegt dann der sachliche Unterschied von Apperzeption und Bewußtsein? Dies wird insbesondere fraglich, wenn man sich vergegenwärtigt, warum denn Wolff zufolge Cogitatio Perceptio und Apperceptio einschließen sollte. Die Funktion der Perceptio besteht nämlich darin, sich ein Objekt vorzustellen, oder sie repräsentiert, etwas allgemeiner gesprochen, den Gehalt der Vorstellung. Dann hätte es natürlich wenig Sinn, von einer apperzipierten Vorstellung ohne Perzeption zu sprechen, denn das wäre eine Vorstellung ohne jeden Gehalt, und es wäre in der Tat fraglich, was es heißen soll, daß ich mir einer Vorstellung bewußt bin, die keinerlei Gehalt autweist. Im übrigen setzt ja auch die Bewußtseinserklä92

Vgl. Rehmke [1910] 3 f. Rehmke zufolge hat Leibniz allerdings die "apperception" als Übersetzung der cartesischen "conscientia" verstanden, ibd. 16. " Diese Ansicht ist in der Wolff-Literatur weit verbreitet. Richard Blackwell [1961] 345 versteht unter der bloßen Perceptio das Produkt eines vorbewußten Aktes, welches das direkte Objekt des Denkens darstellt und erst durch die Apperceptio ins Bewußtsein tritt. Für Lewin Salomon [l 902] 44 ist Perceptio die Wahrnehmung oder Empfindung eines Objekts, die wir noch nicht als die unsrige erkennen können, und erst vermittels der Apperceptio findet das Vergleichen und Unterscheiden statt, welches das Bewußtsein sowohl von der Vorstellung des Objekts als auch von der Seele hervorbringt. Salomon hebt hervor, daß Apperzeption und Bewußtsein nicht identisch sind, sondern das Bewußtsein durch die apperzeptive Tätigkeit hervorgebracht wird. Auch Theodor Kehr [1916] 120 f. ist der Ansicht, daß die Wölfische Apperzeption das Unterscheiden der Perzeptionen bezeichnet. Vgl. weiterhin Ecole [1990] l 279 f. und Thiel [1996] 218 f. Auch einige von Wolffs Zeitgenossen scheinen dies so verstanden zu haben, wie das folgende Kapitel I 2.2 zeigen wird. Vgl. in diesem Sinne auch Sulzer [1764/d] 200 und Lossius' Real-Lexikon, Lossius [1803] l, 338. Grau [1916] 188 sieht einen weiteren möglichen Unterschied darin, daß Perzeption und Apperzeption eher die seelischen Akte bezeichnen, während der Inhalt der Vorstellung eher mit "repraesentatio" oder "idea" wiedergegeben werde. So nennt Wolff die Perceptio auch einen "actus mentis", Wolff [1732/2] 17. Grau räumt allerdings ein, daß Wolff dabei keineswegs konsequent verfährt.

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rung in der Deutschen Metaphysik bereits bei der Vorstellung von Objekten an: Wir sind uns dann der Objekte bewußt, wenn wir sie unterscheiden. Und in der Psychologia empinca wird nun, so kann man sagen, etwas näher erklärt, auf welche Weise uns Objekte gegeben sind: wk perzipieren, wenn wir uns ein Objekt vorstellen. Man könnte aber immer noch argumentieren, daß die bewußte Vorstellung auf einer Einheit von Perzeption und Apperzeption beruht, insofern sie einen bestimmten Gehalt hat (die Perzeption), dessen sich das Subjekt qua Apperzeption bewußt ist. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß die Theorie der Psychologien im Hinblick auf den Objektbezug von der Deutschen Metaphysik abweicht: Der Begriff des Bewußtseins in den Psychologien bezieht sich nicht primär auf Dinge und deren Unterscheidung, sondern auf Vorstellungen. Der Unterschied ist aber nicht gravierend, denn der Objektbezug wird hier durch die Perzeption hergestellt, so daß sich Bewußtsein präziser auf die Vorstellungen von Objekten (und nicht direkt auf Objekte) bezieht. Ebenso ist der Bewußtseinsbegriff der Deutschen Metaphysik, wie sich oben zeigte, nicht exklusiv im Hinblick auf Objekte formuliert. Er reicht allerdings weiter als der Begriff der Apperzeption, denn Bewußtsein kann sich sowohl auf äußere Objekte beziehen wie auf das Subjekt selbst, während Apperzeption sich grundsätzlich auf die eigenen Vorstellungen bezieht.94 In der Psychologia rationalis bezieht sich Wolff auch wieder auf das Bewußtsein von Dingen; danach soll sich die Seele dann, wenn sie innerhalb eines gegebenen Vorstellungsganzen Teile unterscheidet, auch der wahrgenommenen Dinge bewußt sein, und Apperzeption soll dann vorliegen, wenn eine Gesamtvorstellung sich in Teilvorstellungen differenzieren läßt.95 Wenn nun Apperzeption dem Grundsatz nach dem Bewußtseinsbegriff aus der Deutschen Metaphysik entsprechen soll, welcher systematische Ort kommt dann dem Selbstbewußtsein zu? Zwar enthält Apperzeption insofern eine Bezugnahme des Subjekts auf sich selbst, als sie sich auf die je eigenen Vorstellungen begeht. Sie ist aber kein Bewußtsein von einem Selbst, wie es sich in der Deutschen Metaphysik auf Grundlage der Unterscheidung der Seele von den äußeren Dingen ergeben 94 93

Vgl. Thiel [2001 b] 469. "Si anima in perceptione totall partiales distinguit, rerum perceptarum sibi conscia est: & contra." (Wolff [1734/2] 11 § 11) "Ex claritate perceptionum partialium nascitur apperceptio." (Wolff [l734/2] 16 §20)

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sollte.96 Die Psychologia empinca enthält keine weitergehenden Ausführungen über Selbstbewußtsein, wohl aber die Psychologia rationalis. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit, so Wolff hier, auf die Tatsache lenken, daß wir uns der perzipierten Dinge bewußt sind, dann sind wir uns auch unserer selbst bewußt. Wir perzipieren die Apperzeption als Handlung der Seele und unterscheiden uns vermittels ihrer als das perzipierende Subjekt von den Objekten, die wir perzipieren. Die Seele ist sich also ihrer selbst bewußt, wenn sie sich ihrer Handlungen und Veränderungen bewußt ist: Anima sibi sui conscia est, quatenus sibi consaa est suarum mutationum, veluti actionum [...] Dum enim attentionem nostram in hoc convernmus, quod rerum perceptarum nobis conscii sumus; nostri etiam nobis conscii sumus. Sed turn apperceptionem, actionem quandam animae, percipimus ... & nos per earn tanquam subjectum percipiens ab objectis, quae percipiuntur, distinguimus, agnoscentes utique percipiens subjectum esse quid diversum a re percepta.97

Die Apperzeption als Aktivität der Seele unterscheidet also zugleich auch die Seele oder das Selbst von den vorgestellten Objekten. Wird die Aufmerksamkeit nun auf diese Aktivität selbst gelenkt, so wird sich die Seele jenes Unterschiedes von den Dingen bewußt, und damit ist sie sich ihrer selbst bewußt. Diese Bestimmungen entsprechen ganz der Selbstbewußtseinstheorie aus der Deutschen Metaphysik, und insbesondere wird hier auch die Beziehung des Subjekts auf Objekte wieder aufgenommen, die ansonsten in der Apperzeptionstheorie nicht zur Sprache kommt. Auch die Theorie der Psychologien verlangt, daß ein Subjekt sich zu Objekten in Beziehung setzt und von ihnen unterscheidet, um ein Bewußtsein seiner selbst zu erlangen. Auch zu dem Bewußtsein, das die Seele von sich selbst hat, gehören Perzeption und Apperzeption.98 Die Apperzeption als Aktivität der Seele unterscheidet also zugleich auch die Seele oder das Selbst von den vorgestellten Objekten. Wird die Aufmerksamkeit nun auf diese Aktivität selbst gelenkt, so wird sich die Seele jenes Unterschiedes von den Dingen 56

So kann man auch im Schlaf apperzipieren (Wolff [1732/2] 77 § 121), und auch Tiere können sich ihrer Vorstellungen bewußt sein und sie somit apperzipieren (Wolff [1734/2] 667 § 751). Auf diesen nur partiellen Subjektbezug der Apperzeption weist auch Thiel [2001b] 469 hin. "Wolff [1734/2] 12§12. 98 "Etenim si anima sibi conscia esse debet, necesse est ut se percipiat & appercipiat, aut, ut aliquas habeat de se perceptiones & harum perceptionum sibi conscia sit." (Wolff [1734/2] 12 § 12)

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bewußt, und damit ist sie sich ihrer selbst bewußt. In Wolffs Bewußtseinstheorie lassen sich damit drei Ebenen unterscheiden: (1) die Vorstellung des Gegenstandes oder allgemeiner eines bestimmten Gehalts (in heutiger Terminologie: eines intentionalen Objekts), die Perception; (2) das Bewußtsein der Vorstellung des Gegenstandes, die Apperzeption (oder Perception zweiter Ordnung); (1) und (2) zusammen ergeben die bewußte Vorstellung (Cogitatio); (3) das Bewußtsein von der Aktivität der Seele, die im Apperzipieren liegt und sie von den Dingen unterscheidet: Selbstbewußtsein. Das Bewußtsein seiner selbst wird so nicht auf einen eigenständigen Akt zurückgeführt (wie es Perception und Apperzeption jeweils darstellen). Sondern es wird als ein Implikat der Apperzeption verstanden, das man sich seinerseits bewußt machen kann. Es handelt sich also eigentlich mehr um ein Gewahrwerden dessen, was in der Apperzeption liegt. Das heißt jedoch nicht, daß jede bewußte Vorstellung unmittelbar mit einem Selbstbewußtsein einhergeht. Sie schließt nur einen impliziten Selbstbezug ein, nicht aber Selbstbewußtsein. Ganz in diesem Sinne diskutiert Wolff in verschiedenen Zusammenhängen die Möglichkeit, daß jemand Bewußtsein von Gegenständen hat, ohne sich zugleich seiner selbst bewußt zu sein." Es fällt auf, daß für Selbstbewußtsein auch in Wolffs lateinischen Schriften ein Bewußtsein von äußeren Objekten notwendig ist und nicht etwa nur die Unterscheidung eines Selbst von seinen eigenen Vorstellungen. Damit ließe sich der spätere Theorieentwurf wiederum mit demjenigen der Deutschen Metaphysik zusammenführen, in der ja Selbstbewußtsein auch von der Unterscheidung der Seele von äußeren Objekten abhängig sein sollte. Wolffs Begriffserklärungen für Bewußtsein und Selbstbewußtsein wurden in der Folgezeit zum Standard im deutschsprachigen Raum, und zwar bei weitem nicht nur für den Kreis seiner unmittelbaren Schüler und Anhänger.100 Dies wird sich aus der nachfolgenden Darstellung ergeben. Ich beginne hierbei zunächst mit denjenigen Autoren, die Wolff sehr weitgehend folgen und deren Zurechnung zu seiner Schule daher unstrittig sein dürfte — ebenso wie sich ihre Ausführungen aufgrund der großen Übereinstimmungen auf kurzem Raum darstellen lassen. 99 100

Wolff [1720/11] 456. Vgl. Grau [l 916] 197 ff.

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2.2 Die Anhänger Wolfs Die Ausbreitung und Weiterentwicklung des Wolffianismus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzog sich in erster Linie durch die Lehrbücher, die Wolff und seine Anhänger in den verschiedenen philosophischen und wissenschaftlichen Disziplinen verfaßten.101 Die Lehrbücher über Metaphysik sind durchweg, dem Vorbild Wolffs entsprechend, in Ontologie einerseits (Metaphysica generalis) und Psychologie, Kosmologie und natürliche Theologie andererseits (Metaphysica specialis) eingeteilt.102 Die bewußtseinstheoretischen Ausführungen befinden sich dementsprechend in der Regel in den Anfangsabschnitten über empirische und rationale Psychologie. Alexander Gottlieb Baumgarten bezeichnet die Seele als dasjenige im Subjekt, das sich seiner und anderer Dinge bewußt ist (Baumgarten [1739/7] 174 § 504). Sie ist eine Substanz (ibd. 295 § 743) und als solche eine Monade (ibd. 296 § 745), die Gedanken sind ihre Akzidenzen (ibd. 174 § 505). Baumgarten kehrt im Unterschied zu Wolff zu der Leibnizschen Auffassung zurück, daß alle Monaden (und nicht nur die vernunftbegabten) eine Vorstellungskraft besitzen, wobei sich einige dieser Kraft bewußt sind, andere nicht (Baumgarten [1739/7] 127 § 401).10} Die grundlegende Kraft der Seele ist wie bei Wolff die Kraft, sich die Welt nach der Lage des Körpers in ihr vorzustellen (Baumgarten [1739/7] 293 § 741). Georg Friedrich Meier versteht unter der Seele "ein Ding, welches ein Theil eines ändern Dinges ist, und denken kan, oder welches sich einiger Sachen bewußt seyn kan" (Meier [l 755] III 18). Sie ist eine Substanz, und die Gedanken sind ihre Akzidenzen (Meier [1755] III22 f. § 482-483); sie besitzt die Kraft, sich die Welt als Ganzes vorzustellen.104 Auch Israel Gottlieb Ganz, Nikolaus Burkhäuser, Andreas Böhm, Johann Peter Reusch, Johann Christoph Gott101

Vgl. zu den Lehrbüchern der Wolff-Schule insgesamt Wundt [1945] 211-230, zur Entwicklung des Wolffianismus im allgemeinen vgl. weiter Mühlpfordt [1986] und Hammerstein [1986]. 102 Das schließt nicht aus, daß die Lehrbücher noch weitere Wissensgebiete umfassen wie Natur-, Rechts- oder Moraltheorie, wie bei Gottsched [1733/7] und Thümmig [1725]. 103 Vgl. zu diesem Aspekt Poppe [1907] 16, 21. 104 "Eine iedwede Substanz in dieser Welt steh, die ganze Welt und alle ihre Theile, in sich vor; oder es ist in ihr eine vollständige Abbildung aller Theile der Welt, der ganzen Welt und alles dessen, was in ihr befindlich ist, anzutreffen ... Da nun die menschliche Seele, eine Substanz in dieser Welt, ist; so ist in ihr, eine Vorstellung der ganzen Welt, enthalten." (Meier [1755] III 431 § 740; vgl. ibd. III 23 483)

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sched und Ludwig Philipp Thümmig bezeichnen die Seele als Substanz, deren erste Bestimmung das Bewußtsein ist.103 Böhm bezeichnet "per vocabulum ego"die. Seele als das Wesen, das sich seiner selbst bewußt ist (Böhm [1767] 211 § 332, s. a. 394 § 586) Auch bei Georg Bernhard Bilfinger ist das erste, was wir von der Seele wahrnehmen sollen, die "conscienfiasui: Das bewust seyn" (Bilfinger [1725] 231 § 238), die er auch mit dem ungewöhnlichen Ausdruck "Egoitas" bezeichnet (ibd. 232 § 240).106 Bei der Diskussion von Wolffs Bewußtseinsbegriff im vorigen Kapitel trat das Problem auf, wie die Theorie der Apperzeption aus seinen lateinischen Schriften mit der Bewußtseins theorie aus den deutschen Schriften in Zusammenhang zu bringen ist. Die Unklarheiten bei Wolff finden ihre Entsprechung darin, daß auch seine mehr oder weniger orthodoxen Anhänger den Zusammenhang zwischen Bewußtsein, Apperzeption und Selbstbewußtsein durchaus unterschiedlich verstehen. Einige orientieren sich ersichtlich an der lateinischen Version der Theorie, einige an der deutschen, und wieder andere versuchen, beide Ansätze zu verbinden. Bevor ich jedoch auf diese Unterschiede eingehe, werde ich mich zunächst mit einem Aspekt beschäftigen, der anscheinend von allen hier berücksichtigten Autoren geteilt wird, nämlich der Lehre von der Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen. Die Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen liegt, wie sich im vorigen Kapitel zeigte, dem Wölfischen Bewußtseinsbegriff zugrunde, und die einhellige Weiterverwendung dieses Schemas bei den Anhängern relativiert damit auch die Differenzen, die in anderen Hinsichten bestehen. Dem Klarheit-Deutlichkeit-Schema zufolge sind solche Vorstellungen klar, bei denen die vorgestellte Sache von anderen unterschieden wird, und deutlich sind zusammengesetzte Vorstellungen, deren Teile als ihrerseits klare Vorstellungen unterschieden sind. Das Schema findet sich in dieser Form z. B. bei Ganz, Böhm, Thümmig, Friedrich 5

Ganz nennt die Seele dasjenige Wesen, das sich seiner und der anderen Dinge außerhalb seiner bewußt ist (Ganz [l744] 290 § 1882); ihre Natur besteht in der Kraft zu denken, und vermöge dieser Kraft ist sie eine Substanz (Ganz [1744] 372 § 2479); vgl. Burkhäuser [1773] II 258 § 312; Keusch [1735] 240 § 317 und 449 § 674; Gottsched [1733/7] I 476 § 868 (das Werk befand sich in Kants Besitz, vgl. Warda [1922] 49); Thümmig [1725] 162 § 175. 6 Der Ausdruck wird auch von Gottfried Ploucquet verwendet, vg}. Ploucquet [1759] 172 und [1782] 239; in deutschsprachigen Texten findet sich gelegentlich das Pendant "Ichheit", so bei Carl v. Creuz [1754] 28.

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Christian Baumeister, Jean Louis Samuel Formey und Joachim Georg Darjes.107 Bilfinger bindet die Unterscheidung von Vorstellungen wie Leibniz an das Kriterium der Wiedererkennbarkeit, so daß also klare Vorstellungen wiedererkennbar sind, dunkle und damit ununterscheidbare dagegen nicht (Bilfinger [1725] 232 § 240). Deutlich nennt er die Vorstellung einer Sache dann, wenn man deren Teile oder die Begriffe davon unterscheiden und aufzählen kann, verworren aber, wenn es eine Vorstellung von einem Ganzen gibt, aber keine von den Teilen oder den Begriffen davon (ibd. 233). Wenn wir Perzeptionen erkennen und von anderen unterscheiden können, sind sie Keusch zufolge klar (Keusch [1735] 240 § 317); deutlich ist eine Perzeption dann, wenn das, was in ihr vorgestellt wird, einzeln vorgestellt und bezeichnet werden kann (ibd. 242 § 322). Auch bei Meier kann das Bewußtsein einer Vorstellung die beiden bekannten Grade haben: Sind wir uns einer Vorstellung oder Sache bewußt, unterscheiden aber innerhalb ihrer nichts, dann handelt es sich um undeutliche Erkenntnis oder "einfaches Bewußtseyn"; unterscheiden wir die Vorstellung oder Sache nicht nur im Ganzen betrachtet von anderen, sondern auch Merkmale innerhalb ihrer, so handelt es sich um deutliche Erkenntnis oder "vielfaches Bewußtseyn" (Meier [1752] 28 f. § 28)108. Grund für die Unterscheidungen und somit "Quelle des Bewußtseyns" sind die Merkmale, durch die wir dasjenige vorstellen, was in einer Vorstellung oder Sache im Unterschied zu anderen vorhanden oder nicht vorhanden ist (Meier [1752] 169 f. § 146). Deutlicher und richtiger Erkenntnis steht dabei das Mittel des Urteils zur Verfugung, das eine Form darstellt, in der über die Zugehörigkeit eines Merkmals zu einer Sache entschieden werden kann.109 Damit meint Meier jedoch keine prinzipielle Abhän107

Ganz [1744] 293 § 1902; 294 § 1916; Böhm [1767] 213 § 337 f. und 216 § 344; Thümmig [1725] 119 f. § 19-26; Baumeister [1738] 337 § 484 und 342 § 493 ff. sowie [1735a] § 694; Formey [1741] V 13, 20; Darjes [1743] II 4, § 2. 108 Vgl. Meier [1755] III 26 § 485 sowie Meier [1752/A] 80 § 14: "Wenn wir uns einer Vorstellung bewusst sind, so sind wir uns derselben entweder bloss im Ganzen betrachtet bewusst, so dass wir in derselben selbst nichts von einander unterscheiden; oder wir sind uns auch des Mannigfaltigen in derselben bewusst. In dem ersten Falle haben wir eine undeutliche oder eine verworrene Erkenntniss (cognitio indistincta et confusa), in dem ändern aber eine deutliche (cognitio distincta); zum Exempel, wenn wir einen Menschen von ferne sehen, so haben wir so lange eine undeutliche Erkenntniss von seinem Gesichte, so lange wir die Theile und Züge des Gesichts nicht erblicken, Kommt er uns aber näher, und wir fangen an, seine Augen, seine Nase und die Züge seines Gesichts gewahr zu werden, so erlangen wir eine deutliche Erkenntniss von seinem Gesichte."

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gigkeit deutlicher Erkenntnis von der Urteils Struktur, wie Kant sie später behauptet (vgl. Kapitel III 4.1). Nach Gottsched sind "Empfindungen" klar, wenn wir die empfundene Sache von anderen unterscheiden können (Gottsched [1733/7] I 479 § 877), und deutlich, wenn wir die verschiedenen Aspekte, die wir an einem Ding wahrnehmen, auch angeben können, also die Merkmale als Teilvorstellungen der Dinge ihrerseits klar sind (ibd. I 480 § 878).no Entsprechend heißt es in den Anfangspassagen der Ersten Gründe, daß Begriffe klar sind, wenn man sie sogleich erkennen und nennen kann, sobald man ihnen begegnet; und deutlich, wenn man ihre Merkmale aufzählen kann (ibd. I 113 § 25). Baumgarten unterscheidet in § 510 seiner Metaphysica deutliche Vorstellungen von verworrenen (Baumgarten [1739/7] 175). Wer verworren denkt, stellt sich eine Sache vor und unterscheidet sie damit von anderen, ohne ihre Merkmale voneinander zu unterscheiden (in diesem Sinne ibd. 181 § 522: deutliche Vorstellungen sind solche, deren Merkmale klar sind). Undeutliche Vorstellungen können entweder dunkel oder verworren sein und sind als solche durchweg sinnlich (ibd. 180 § 521). Wer sich eine Sache vorstellt und sie zugleich von anderen unterscheidet, der stellt sich mehr vor, als der, der sich eine Sache dunkel vorstellt, also ohne sie von anderen zu unterscheiden.111 Als Unterscheiden wird Bewußtsein bei Meier, Ganz, Darjes und Keusch definiert, Gottsched beruft sich nur bei der Definition des Selbstbewußtseins darauf. Burkhäuser, Thümmig, Böhm und Baumeister nehmen keinen Bezug auf das Unterscheiden, sondern auf Perzeption und Apperzeption. Während Meier den Bewußtseinsbegriff ent' Man muß "in den meisten Fällen das Ding sich vorstellen, und ein Merkmal von demselben; und alsdenn untersuchen, ob dieses Merkmal in ihm angetroffen werde oder nicht: und daraus entstehen die Urtheile." (Meier [1752] 482 § 324) 0 In der lateinischen Marginalie zu § 875 der Ersten Gründe übersetzt Gottsched "empfinden" mit "perceptio" (Gottsched [1733/7] I 479 § 875, desgleichen § 24 I 113). Wolff dagegen übersetzt "perceptio" mit "Gedancke" (Wolff [1720/11] 674), während er den Begriff Empfindung nur im Zusammenhang mit Perzeptionen der fünf Sinne verwendet (ibd. 122 ff. § 220 ff.) und sich dagegen ausspricht, Perzeptionen als Empfindungen zu übersetzen (Wolff [1740] 133). Zu dem Umstand, daß unter "Empfindungen" in den Diskussionen der Zeit sehr Unterschiedliches verstanden wurde, vgl. auch Feder [1769/5] 32. 1 "Anima mea quaedam cognoscit obscure, quaedam confuse cognoscit, §. 510. iam, caeteris paribus, percipiens rem, eamque diuersam ab aliis, plus percipit, quam percipiens rem, scd non distinguens, §. 67." (Baumgarten [1739/7] 180 § 520) Dieses Mehr, das eine klare gegenüber einer dunklen Vorstellung durch den Akt des Unterscheidens von anderen Vorstellungen auszeichnet, entspricht genau dem Wölfischen Definiens für Bewußtsein, ohne daß Baumgarten hier ausdrücklich von Bewußtsein spricht.

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sprechend Wolffs Deutscher Metaphysik zugrundelegt112 und Bilfinger die "conscientia sui" auf dieser Grundlage erklärt, lehnen sich Burkhäuser, Böhm und Baumeister an die Psychologia empinca an;113 auch Gottscheds Einführung des Bewußtseinsbegriffs entspricht der Psychologia empirical Ganz, Darjes und Reusch schließlich stellen eine Verbindung her zwischen dem Bewußtseinsbegriff, der auf dem Unterscheiden der Vorstellungen basiert, und andererseits der Apperzeptionslehre. Besonders hervorzuheben ist, daß Thümmig die Leibnizsche Unterscheidung von Perzeption und Apperzeption einsetzt, bevor Wolffs Psychologien erschienen, in denen Wolff selbst erstmals diese Terminologie verwendet: Quatenus mens objectum sibi repraesentat, illud perapere dicitur. quatenus vero huius perceptionis sibi est conscia, stylo Leibnitiano eidem adperceptio tribuitur.115

Bilfinger stellt einige Überlegungen zum Selbstbewußtsein an, die auf dem Begriff des Unterscheidens basieren. Nach Bilfinger muß zunächst die Aufmerksamkeit auf die Verschiedenheit der Dinge gelenkt werden, deren wir uns bewußt sind, um über die "Conscientia sui" Aufschluß zu erhalten (Bilfinger [1725] 233 f. § 242): Wir stellen Dinge uns unserer

Vorstellungen oder Erkenntniß bewußt, in so ferne wir sie und den Gegenstand derselben von ändern Vorstellungen und Sachen unterscheiden. [. . .] Eine Vorstellung, welcher wir uns bewußt sind, ist eine doppelte Vorstellung; eine Vorstellung einer Sache, und eine Vorstellung ihres Unterschiedes zusammengenommen." (Meier [1752] 27 § 27; vgl. Meier [1755] III 44 § 498) 113 Burkhäuser [1773] 240 § 300: "Nam apperceptio est conscientia perceptionis, sicut perceptio est conscientia objecti". Böhm [1767] 212 § 335: "Rem aliquam sibi repraesentare & esse sibi eius repraesentationis conscium cogitare est. [. . .] Qui sibi alicuius repraesentationis conscius est, vocabulo recepto appercipere illam, adeoque conscientia metaphysice sumta apperceptio dicitur; hinc repraesentatio conjuncta cum apperceptione cogitatio dicitur." Baumeister [1738] 341 § 491: "lila ipsa rei in mente repraesentatio, quam appellamus perceptionem, dicitur alias quoque idea. Quatenus uero anima huius repraesentationis siue perceptionis simul sibi est conscia, dicitur apperapere. Repraesentatio autem talis, cuius anima sibi est conscia, appellatur cogitatio" 114 Gottsched [1733/7] I 479 § 875: "So oft unsere Seele sich etwas vorstellet, es mag nun dasselbe entweder außer ihr, oder in ihr seyn; so oft empfindet sie. Wenn sie aber auch diese in ihr vorgehende Empfindung gleichsam fühlet, oder davon versichert ist: so ist sie sich ihrer selbst bewußt. Wenn endlich beydes zusammen trifft, daß nämlich diese Empfindung mit einem Bewußtseyn verbunden ist so saget man, daß man denket". 115 Thümmig [1725] 118 § 16. Ob der Vorschlag dazu von Thümmig selbst stammt oder aber auf Wolffs Vorlesungen beruht, läßt sich nicht entscheiden. Bekannt ist allerdings, daß auch die Einteilung der Psychologie in empirische und rationale erstmals von Thümmig schriftlich niedergelegt wurde; Wolff [1726/2] 252 weist selbst auf diesen Umstand hin; vgl. dazu Wundt [1945] 213 und Ecole [1986] 123.

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in uns und außer uns vor, und darunter sind zahlreiche Vorstellungen, die sich auf etwas beziehen, das von demjenigen unterschieden ist, der sich seiner selbst bewußt ist. Diese Dinge stellen wir uns als außer uns vor, die anderen als in uns. In § 269 der Diluddationes gibt Bilfinger eine detaillierte Aufzählung der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ich Bewußtsein von etwas haben kann, und diese Aufzählung enthält als letzten Ordnungspunkt einen integralen Selbstbezug des Gegenstandsbewußtseins, wie er auch in Wolffs Deutscher Metaphysik zu finden ist. Im einzelnen wird gefordert: l. daß irgendeine Idee vorhanden ist; 2. daß diese den Unterschied einer Sache von anderen entweder klar oder deutlich vorstellt; 3. daß sie eine gewisse Zeit dauert; 4. daß die Aufmerksamkeit auf sie gerichtet wird; 5. daß sie andere Ideen hervorruft, 6. diese mit ihr verglichen werden und 7. sie dabei als eben dieselbe erfaßt wird. Das Bewußtsein setzt also den inneren oder den äußeren Sinn voraus, die Fähigkeit Ideen zu vergleichen, sowie Gedächtnis und Zeit. Wenn wir uns schließlich 8. der Dinge als außer uns bewußt sind, wird ferner verlangt, daß zugleich ein Unterschied jener von uns vorgestellt wird.116 Nach Gottsched sind wir uns dann unserer selbst bewußt, wenn wir unsere Empfindungen als unsere Wirkungen von uns selbst unterscheiden. Ebenso notwendig dazu sind Einbildungskraft und Gedächtnis, denn durch die Einbildungskraft erinnern wir uns Gottsched zufolge vergangener Empfindungen, und dabei vergewissern wir uns mittels des Gedächtnisses unserer Identität im Hinblick auf die vergangenen und die gegenwärtigen Empfindungen. Gottscheds Selbstbewußtseinskonzept unterscheidet sich von dem Wolffs also dadurch, 6

"Ex hisce declarari potest, ^«rfpertineat ad consaentiam sui, quam prime loco allegavimus §. 238. 242. Ut mihi conscius sim repraesentationis rerum, requiritur: l. ut adsit idea rei aliqua: 2. eademque talis, ut discrimen huius rei a ceteris repraesentet: adeoque vel distincta plane, vel clara saltern: 3. ut ea duret per aliquod tempus: ut 4. peculiaris in illam mentia attentio vertatur: ut 5. alias excitet ideas; & 6. in diversis hisce seriebus secum comparata, 7. deprehendatur esse eadem. Ita, ut mihi conscius sim, me cogitare de mensa, requiritur, ut adsit idem mensae; ut illa discrimen mensae ab aliis rebus comprehendat, ut adeoque sit minimum clara; ut aliquamdiu duret; ut praesens, sensatione-excitata, idea comparetur cum ea, quam exhibet Phantasia ab antiquo; ut utraque deprehendatur esse eadem, sive, ut idea ilia nunc praesens, si ad pristinam tanquam ad normam quasi suam conferatur, cum eadem congruat. Intelligitur itaque, ad conscienuampraesupponi sensum sive externum sive internum, cuius opa praesto est idea; reqimi facultatem comparand! ideas & memoriam, &. temporis aliquem tractum. Denique 7. si rerum ut extemarum nobis conscii sumus, requiritur ulterius, ut discrimen illarum a nobis simul repraesentetur; si ut infernarum, requiritur, ut per illas ipsas nosmet agnoscamus" (Bilfinger [1725] 256 § 269).

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daß ihm nicht das Unterscheiden des Subjekts von den Dingen, sondern eine Unterscheidung zwischen den Wirkungen des Subjekts und dem Subjekt selbst zugrundeliegt.117 Zusammengefaßt müssen Gottsched zufolge insgesamt sechs Bedingungen für Selbstbewußtsein erfüllt sein: zunächst Empfindung, Aufmerksamkeit und Überdenken, sodann Absonderung, Einbildungskraft und Gedächtnis (Gottsched [1733/7] 1525 §1011). Ganz bestimmt in seiner Philosophia fundamental zunächst die Perceptio als Akt des Vorstellens und die Adperceptio als eine Perceptio der Perceptio, die Cogitatio aber bestimmt er als eine Perceptio, die Dinge unterscheidet.118 Später wird die Cogitatio dann als zusammengesetzter Akt verstanden, der sich aus zwei Gegenstandsperzeptionen und einer Perzeption ihres Unterschiedes zusammensetzt: Cogitatio est actio composita, quae tres simpliciores actiones continet: 1) perceptionem rei A. 2) perceptionem rei B. 3) perceptionem discriminis, quo ambae differunt.119

Darjes erklärt Bewußtsein als Unterscheiden und bezieht sich anschließend eher referierend auf Leibniz' Begriff der Apperzeption.120 Keusch gibt zunächst eine ungewöhnliche Erklärung für Apperzeption: Conscium esse «?/aliorum perceptibilium «?/sui ipsius Leibnitius adpellat adperceptionem seu adpercipere.121

Ungewöhnlich ist hier, daß Keusch zwei Arten der Apperzeption unterscheidet, von denen die eine sich auf vom Subjekt unterschiedenes 117

"Wenn wir uns unserer selbst bewußt sind, so stellen wir uns nicht nur unsere Empfindungen, sondern auch uns selbst zugleich vor: das heißt, wir unterscheiden unsere Wirkungen von uns selbst, durch eine Absonderung. Und da wir uns, vermöge der Einbildungskraft, auch anderer vergangenen Empfindungen erinnern; vermöge des Gedächtnisses aber uns versichern, daß wir noch eben dieselben sind, die wir dazumal in ändern Umständen gewesen; so fassen wir gleichsam dieses stille Urtheil ab: Ich weis, daß ich sonst viel andere Empfindungen gehabt, voritzo aber diese vor ändern habe, und also dessen ungeachtet, noch dasselbe Wesen bin. Denket man gleich dieses alles, nicht jederzeit ganz deutlich: so darf doch nichts daran fehlen, wenn wir uns bewußt seyn sollen." (Gottsched [1733/7] I 525 § 1010) 118 "Substantia cogiiat, si rerum percipit discrimina." (Ganz [1744] 292 § 1894). "Perceptio, seu conceptus, est actus mentis, quo obiectum quodcunque sibi repraesentat." (ibd. § 1897) "Adperceptio dicitur ilia, qua ipsam nostram perceptionem percipimus." (ibd. § 1898) 119 Ganz [l 744] 373 §2484. 120 "Mediantibus hisce repraesentationibus obiecta ilia, quorum sunt repraesentationes, distinguo ... Et hoc facto dicitur, quod mihi obiectorum, quorum repraesentationes in me existunt, consdus sim, seu, quod obiecta illa cqgitem." (Darjes [1743] 4 f. § 2) "Habeo itaquefacultatem cogitandi, quam Leibnitius facultatem apperapiendi appellare solebat. Appercipio enim ex ipsius sententia perceptionem, quatenus eiusdem mihi conscius sum." (ibd. 5 § 5)

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Wahrnehmbares bezieht, die andere dagegen auf das Subjekt selbst. Etwas später in Reuschs Systema metaphysicum werden die Theorieansätze aus Wolffs deutschen und lateinischen Schriften miteinander verbunden: Quae simul percepta a se inuicem distinguit anima, eorum sibi conscia est, et contra quorum sibi anima est conscia, illa distinguit a se inuicem ... 1) si anima in perceptione totali partiales distinguit, rerum perceptarum sibi conscia est; et contra ... 2) si anima suam adperceprionem, veluti sui actionem, ab obiectis perceptis distinguit, sui, tamquam subiecti appercipientis, conscia sit; nee alio modo fieri potest sui conscia, aliter enim se non distinguit ab aliis ... 122

Die Seele ist sich danach dann der verschiedenen Sachen bewußt, die sie zugleich perzipiert, wenn sie sie voneinander unterscheidet, und dies hat die beiden Aspekte, daß sie sich einerseits eben der Objekte bewußt ist, andererseits aber den Akt der Apperzeption von den Objekten unterscheidet und sich damit zugleich ihrer selbst bewußt ist. Keusch unterteilt die Herausbildung einer Apperceptio in vier Schritte: 1) Die Seele unterscheidet sich von den perzipierten Dingen und die perzipierten Dinge untereinander. 2) Die Seele vergleicht die wahrgenommenen Dinge untereinander und mit sich. 3) Die Seele reflektiert über die Gesamtvorstellung und lenkt die Aufmerksamkeit darauf (denn in der Vergleichung richtet die Seele die Aufmerksamkeit nacheinander auf die Teilvorstellungen, die in dem Ganzen enthalten sind). 4) Die Seele bewahrt die Vorstellungen für eine bestimmte Zeit auf und unterscheidet deren Zustände im zeitlichen Verlauf.123 Da die Cogitatio Perceptio und Apperceptio einschließt, setzt sie Aufmerksamkeit, Reflexion und Gedächtnis voraus (Reusch [1735] 447 § 670). In Baumgartens Metaphysica wird der Bewußtseinsbegriff nicht diskutiert, nur einmal wird der "sensus internus" als "conscientia strictius dicta" bezeichnet.124 Demgegenüber bestimmt Wolff in der Lägica den inneren Sinn als die Fähigkeit des Subjekts, sich der Vorgänge in ihm 121

Reusch [1735] 241 § 319. Reusch kann als ein relativ origineller Wolffianer bezeichnet werden, z. B. vertritt er auch, anders als Wolff, die Theorie des Influxus physicus von Leib und Seele; vgl. dazu Grau [1916] 199 und Erdmann [1876] 81 f. Zu den vorsichtigen Versuchen Gottscheds, eine Influxus-Theorie zu etablieren, vgl. Watkins [1995b] 300-307. '-Reusch [l735] 445 §667. 123 Reusch [l735] 446 §669. i:j "Hinc sensatio est vel interna per sensum internum (conscientia strictius dicta), vel externa, senso externo actuata" (Baumgarten [1739/7] 188 § 535).

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bewußt zu werden.125 In s einer Acroasisljogica übersetzt Baumgarten jedoch die Apperzeption direkt als Unterscheiden: Quae ab aliis disringuimus, ea apperapimus, eorum nobis sumus conscii. Percepüo appercepta est cogitatio.™

Die deutsche Übersetzung, die Baumgarten dabei zu "conscius" notiert, führt die terminologische Vieldeutigkeit plastisch vor Augen: "eorum sumus conscii" heißt danach: "das stellen wir uns vor, des sind wir uns bewust, das bemerken wir, das nehmen wir wahr" (ibd.).

2.3 Die Auseinandersetzungen um Wolffs Philosophie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts In den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts bildete sich eine pietistische Gegnerschaft zu Wolff heraus, die vor allem theologisch motiviert war. Ihre Protagonisten waren Joachim Lange und Franz Budde, die die Wölfische Philosophie der Beförderung des Atheismus bezichtigten. In dem Streit zwischen den Wolffianern und ihren Gegnern spielen auch im weiteren Sinne bewußtseinstheoretische Fragen eine wichtige Rolle. Insbesondere wird die Lehre von der prästabilierten Harmonie von Leib und Seele angegriffen, weil sie die Möglichkeit der Herrschaft der Seele über den Körper verneine. Die Begriffserklärung für Bewußtsein steht dagegen nicht im Zentrum der Angriffe, einige der Wolff-Gegner üben jedoch auch an ihr Kritik.127 Dennoch ist für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung, daß die weit über Wolffs Schule hinaus kanonisierte Bewußtseinserklärung eben doch

125

Wolff [1728/3] II 125 § 31, vgl. Bilfinger [1725] 256 § 269. Ähnlich beschreibt Meier den "innerlichen Sinn": vermöge seiner "stelt sich die Seele ihren jedesmaligen gegenwärtigen eigenen Zustand vor" (Meier [l 755] III90 § 530). Auch Formey identifiziert Bewußtsein bzw. Selbstbewußtsein und inneren Sinn: " ... la conscience, ou le sentiment interne . . . " (Formey [1741] V 11); "... le sentiment interne, le consaum sui ... " (ibd. V 13). 126 Baumgarten [1761] 8 § 15. Die Acroasisljogica befand sich in Kants Besitz, vgl. Warda [1922] 45. 127 Zu den wesentlichen philosophischen Aspekten dieses Streits vgl. Wundt [1945] 230-264, Ciafardone [1986] und Watkins [1998], zur theologischen Seite vgl. Poppe [1907] 3-9. Zu diesen Auseinandersetzungen im Königsberger Umfeld Kants vgl. Kühn [2001b]. Auf die kontroversen Positionen zum Bewußtseinsbegriffselbst gehen Grau [1916] 218-226 und Thiel [1996] 220 f. ein.

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von einigen in Zweifel gezogen wird. Wolff selbst beantwortet die diesbezüglichen Einwände nicht. Die Kritik Daniel Strählers, der sich als erster schriftlich gegen Wolff wendet, richtet sich nicht gegen die Bestimmung des Bewußtseins als Unterscheiden.128 Er wendet sich nur gegen Wolffs Bindung des Bewußtseins an äußere Dinge, wie sie in der Deutschen Metaphysik erfolgt, und merkt an, daß die Seele sich auch vieler Dinge als in ihr bewußt ist, die als "verschiedene Arten des Seyns der Seele" anzusehen sind.129 Weiterhin ist Strahler mit Wolffs Unterscheidung zwischen klaren und deutlichen Vorstellungen nicht einverstanden. Die Klarheit erwachse nicht aus der Bemerkung eines Unterschiedes im Mannigfaltigen, sondern daraus, daß Gedanken das, worauf sie sich beziehen, völlig in sich enthalten.130 Unter Deutlichkeit möchte Strähler dagegen dasjenige verstanden wissen, was bei Wolff Klarheit bedeutet, nämlich einen Zustand der Vorstellungen, aufgrund dessen wir den Unterschied eines Dinges von anderen bemerken und zu bestimmen vermögen.131 Andreas Rüdiger formuliert seine Einwände gegen Wolff in einem kritischen Kommentar zum fünften Kapitel der Deutschen Metaphysik.^2 Er wendet sich dabei auch gegen Wolffs Bestimmung des Bewußtseins als Unterscheiden von Dingen bzw. Vorstellungen. Rüdiger versteht Wolff so, daß das Unterscheiden Ursache des Bewußtseins ist. Dagegen behauptet er, daß das Unterscheiden schon ein Bewußtsein von den unterschiedenen Vorstellungen voraussetzt: Daß das Bewustseyn auf das Unterscheiden ankomme, will der Hr. Autor [sc. Wolff] hier behaupten, er beweiset es aber meines Erachtens nicht. Denn er will weisen, wie es zugehe, daß wir uns einer Sache bewust sind, und sagt, das Unterscheiden mache es. Nun sage ich also: Das Unterscheiden ist entweder eine causa des Bewustseyns, oder ein Effect: Eine causa des Bewustseyns kan es nicht seyn, weil zum Unterscheiden zuvor schon Bewustseyn erfordert 128

Daniel Strähler war ursprünglich ein Schüler Wolffs, der später zu einem Gegner konvertierte, vgl. Wundt [1945] 234 und Risse [1964] II 624. 129 Strähler [1723] II 2 f. 130 Wir "erkennen, daß die Klarheit der Gedancken in der vollständigen Vorstellung dessen bestehet, worauf sie sich beziehen." (Strähler [1723] II 8) 131 "Wenn wir aber den Unterscheid bemercken; so ist unser Gedancke nicht nur klar, sondern noch deutlich." (Strähler [1723] II 8) 132 Rüdiger [1727]. Zu Rüdiger insgesamt vgl. Schepers [1959], zu seiner Theorie des inneren Sinnes dort 50-59 und Thiel [1997] 62. Zu Rüdigers Kritik an Wolffs Bewußtseinsbegriff vgl. Grau [1916] 218-221 und Thiel [1996] 220.

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Die wolffianische Schulphilosophie

wird [...] Wollte nun gleich der Hr. A. das Unterscheiden vor den Effect des Bewustseyns ausgeben, so würde er, wie ihm selbst wohl bewust, den modum, wie es mit dem Bewustseyn zugienge, (728) durch den Effect nicht erklären können.133

Rüdigers zweiter Einwand richtet sich dagegen, das Unterscheiden als wesentliches Merkmal des Bewußtseins aufzufassen: Noch eins ließe sich vor den Hr. A. sagen, wenn man annähme, er habe nur von dem Bewustseyn ein criterium existentiae suppeditiren sollen, daß nämlich das Unterscheiden ein Kennzeichen des Bewustseyns wäre. AUerin auch dieses möchte nicht angehen, weil solchergestalt das Unterscheiden müste ein wesentlicher und eigener Effect des Bewustseyns seyn. Hingegen ist man sich vieler Dinge bewust, dabey man nichts unterscheidet.134

Vorstellungen müssen also nach Rüdiger bewußt sein, bevor sie unterschieden werden können, und sie können auch bewußt sein, ohne unterschieden zu werden, wie die Erfahrung zeigen soll.135 Das Bewußtsein ist danach nicht die Ursache des Unterscheidens, sondern eine seiner Bedingungen. Dies gilt ebenso für das Selbstbewußtsein: Denn wir sind uns unser nicht bewust, wenn wir an die Wirckungen unserer Seele nicht gedencken, das Unterscheiden mag darzu kommen oder nicht, wie einen jeden seine innerliche Empfindung versichern wird. [...] Und dieses ist auch die eintzige Ursache, daß wir uns unserer nicht bewust sind: und wenn ein Unterscheiden darzu kömmt, so thut es nichts zum Bewustseyn.136

Rüdiger scheint das Unterscheiden auch den Urteilen zuzuordnen, denn er spricht vom "Unterscheiden des judicii" (ibd. 14). Darauf, daß Unterscheiden Urteile voraussetze und somit als komplexerer Repräsentationsmodus nicht zur Erklärung des Bewußtseins dienen kann, basiert später die Kritik von Dieterich Tiedemann am wolffianischen Bewußtseinsbegriff (s. Kap. I 4.5). Rüdiger begründet seine Ansichten eigentlich nicht, er spricht aber ein sachlich wichtiges Problem an: Wie soll man sich die Bewußtwerdung von Vorstellungen als Übergang von nicht unterschiedenen, dunklen Vorstellungen zu unterschiedenen, bewußten erklären? Das Subjekt müßte auch die dunklen Vorstellungen in irgendeinem Sinn 153

Rüdiger [1727] 4. Auf diesen Einwand geht Johann Stiebritz ein, s. weiter unten in diesem Kapitel. 134 Rüdiger [l 727] 5. 135 "Ich habe allbereit ein exemplum in contrarium angeführet: daß nemlich man sich einer Saehe bewust seyn kan, wenn man schon nichts unterscheidet." (Rüdiger [1727] 6) 136 Rüdiger [l 727] 9 f.

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"haben", und in welchem Sinn "hat" ein Subjekt Vorstellungen, deren es sich nicht bewußt ist? Rüdiger hält dies für nicht sinnvoll darstellbar, und es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß er auch die Lehre von den dunklen Vorstellungen ablehnt.137 Sein Alternatiworschlag überzeugt freilich noch weniger: Wenn man eine Empfindung nicht bemerkt, dann soll das daran liegen, daß man nicht zwei Gedanken zugleich haben kann — eine wenig plausible Annahme.138 Rüdiger läßt auch einfließen, was seiner Ansicht nach unter Bewußtsein zu verstehen ist: Bewustseyn, ist zwar nichts anders, als eine Erinnerung desjenigen, was unsere Seele durch die Sinne empfunden ... 1J9

Wolff ist nach Rüdigers Vermutung nicht auf diese einfache Idee gekommen, weil ihn die Lehre von der prästabilierten Harmonie und die daraus resultierende "Unberührlichkeit" der Seele durch den Körper daran gehindert hat. Dies kann man einerseits als empiristischen Zug deuten, andererseits entspricht die Ablehnung der prästabilierten Harmonie auch ganz der generellen pietistischen Opposition gegen den Wolffianismus.140 Christian August Crusius, Schüler Rüdigers, behandelt die Bewußtseinslehre in seinem Metaphysiklehrbuch, dem Entwurff der notwendigen Vernunft-Wahrkeiten. Bewußtsein wird zunächst als Wahrnehmung der eigenen Gedanken eingeführt. "Innerliche Empfindungen" heißen Vorstellungen,

137

"Woher wissen wir aber, daß wir eine gantz dunckle Gedancke von einer Sache haben, wenn wir uns der gantz dunckel gedachten Sache nicht bewust sind? Und weil das Unterscheiden die Klarheit soll ausmachen, und eine gantz dunckle Gedancke von einer gantz klaren recht wohl kan unterschieden werden, ingleichen auch eine gantz dunckel gedachte Sache von einer gantz klar gedachten, so folget nach des Hn. A. Gnind=Sätzen, daß eine gantz dunckle Gedancke, und gantz dunckele Sache eben so klar sey, als eine gantz klare Gedancke und gantz klare Sache." (Rüdiger [1727] 11 f.) 138 "Nemlich man höret deßwegen nicht, das der ander sagt, weil man zweierley Gedancken nicht zugleich haben kan, als (1) die die Wörter des Buchs, und dann (2) die die Worte des redenden erwecken." (Rüdiger [1727] 6) Rüdiger bezieht sich hier auf ein Beispiel aus § 729 der Deutschen Metaphysik. 139 Rüdiger [1727] 3. Vgl. Rüdiger [1727] 14: "Dieses ist gäntzlich, und so gar wahr, daß auch zum Bewustseyn nichts mehr als ein Gedächtniß, durch dessen Krafft man die empfundene Bewegung seiner Leibes, oder seiner Seelen behält, und sich dadurch etwas bewust ist". 140 Vgl. dazu auch Grau [1916] 219.

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Die wolffianische Schulphilosophie ... wenn wir uns darinnen etwas als in dem Dinge selbst, welches in uns dencket, vorstellen. Durch dieselben sind wir uns unserer selbst, unserer Gedanken, und unseres Gemüths^Zustandes, bewust.141

Crusius hebt zwei Aspekte besonders hervor, hinsichtlich derer er mit den üblichen Bewußtseinserklärungen nicht übereinstimmt: Das Bewußtsein muß aus einer besonderen Grundkraft der Seele erklärt werden, und es geht dem Unterscheiden voraus und folgt nicht aus ihm. Durch das Bewußtsein ... kömmt zu der Action, wodurch ein Object vorgestellet wird, etwas hinzu, welches in der Vorstellung des Objects gar nicht enthalten ist. Durch das Bewußtseyn haben wir von unsern Gedanken selbst eine Vorstellung. So wenig nun die Sonne selbst, und die Vorstellung der Sonne, einerley ist: So wenig kan auch die Idee der Sonne, d. i. die Action, wodurch sie gedacht wird, mit derjenigen Vorstellung einerley seyn, wodurch die vorige Action selbst gedacht wird. Denn wie die Sonne das Object von der Idee der Sonne ist: So ist die Idee von der Sonne beym Bewustseyn wiederum das Object derjenigen Idee, wodurch sie selbst vorgestellet und gedacht wird.142

Crusius grenzt sich hier also von zwei Positionen ab: von der sensualistischen, für die Bewußtsein nur ein höherer Intensitätsgrad einer Empfindung und insofern in den Vorstellungen selbst enthalten ist, und ebenso von der wolffianischen, für die alle Handlungen des Geistes auf eine einzige Grundkraft, nämlich die Kraft, sich die Welt vorzustellen, zurückgehen sollen.143 Er hebt hervor, daß das Bewußtsein eine Vorstellung zweiter Ordnung ist, nämlich eine Vorstellung von unseren Gedanken. Ebenso legt er Wert auf den Unterschied zwischen den Vorstellungen eines Gegenstandes und diesem Gegenstand selbst — eine Unterscheidung, die in Wolffs deutschen Schriften vernachläs141

Crusius [1745] 825, das Werk befand sich in Kants Besitz (vgl. Warda [1922] 47). Die Literatur zu Crusius geht im allgemeinen nicht näher auf den Bewußtseinsbegriff ein, vgl. etwa Finster [1986],Ciafardone [1986] und Carboncini [1991]. Auch Untersuchungen über Kants Verhältnis zu Crusius diskutieren das Thema nicht, vgl. Heimsoeth [1956a], Schulthess [1981] 149-153, Finster [1982],Treash [1989] und Kanzian [1993]. Crusius' Ansichten zum Leib-Seele-Problem werden bei Kopper [1976], Casula [1979] und Watkins [1995b] behandelt, seine Theorie der Seelenvermögen bei Heßbrüggen-Walter [2004] 84-109. 142 Crusius [l 745] 863. 145 "Man wird dahero zugeben müssen, daß das Bewußt seyn eine besondere Grund=Kraft erfordere, wodurch es möglich ist. Diejenigen bedencken also das Wunderbare in dem Bewußtseyn nicht genugsam, welche dasselbe so schlecht tractiren, daß sie vor bekannt annehmen, daß eine iedwede Idee bey einem gewissen Grade der Lebhaftigkeit das Bewußtseyn mit sich bringe." (Crusius [1745] 863) Vgl. dazu Ameriks [1982/2] 246 sowie Heimsoeth [1956a] und Henrich [1955].

Die Auseinandersetzungen um Wolffs Philosophie

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sigt wird. Crusius wendet sich schließlich ebenso wie Rüdiger gegen Wolffs Begriff des Bewußtseins: Eben so wenig kan man denenjenigen Recht geben, welche das Bewußtseyn aus der Unterscheidung der Begriffe herleiten. Sie haben sich dadurch verführen lassen, daß sie gefunden, daß das Bewußtseyn und die Unterscheidung allezeit beysammen sind. Allein wir sind uns der Dinge nicht darum bewußt, weil wir sie unterscheiden, sondern darum können wir sie allererst unterscheiden, weil wir uns bewußt sind. Das Bewußtseyn ist der Natur nach eher als das Unterscheiden, und ist eines von den wirckenden Ursachen des Unterscheidens. Man verwirre nur die beyden Zustände nicht mit einander, da in einem Geiste nur unterschiedene Dinge vorgestellet werden, und da er sie selbst unterscheidet. Wenn wir sagen, wir unterscheiden Dinge, so heißt dieses so viel, als wir sind uns des Unterschiedes derselben bewußt. Daher das Unterscheiden allererst durch die Abstractions-Kraft, und durch die Kraft des Bewußtseyns, möglich wird. Die Begriffe aber bleiben unterschieden, wir mögen uns ihres Unterschiedes bewußt seyn oder nicht.144

Aus der Tatsache, daß wir uns üblicherweise solcher Vorstellungen bewußt sind, die wir unterscheiden, folgern die Wolffianer fälschlicherweise, so Crusius, daß das Bewußtsein auf dem Unterscheiden der Begriffe beruht. Tatsächlich sei es jedoch umgekehrt: das Bewußtsein ist neben der Abstraktionskraft eine der Ursachen des Unterscheidens. Diese Gegenthese will Crusius durch zwei Überlegungen stützen: Wir seien uns darüber bewußt, daß die Dinge unterschieden sind, und insofern sei dem Unterscheiden ein Bewußtsein vorausgesetzt, und die Unterschiede der Begriffe blieben auch dann bestehen, wenn wir uns ihrer nicht mehr bewußt sind. Da der Bewußtseinsbegriff nur einen Nebenaspekt des Streits um den Wolffianismus darstellt, gehen nur einige der Verteidiger Wolffs auf die entsprechenden Einwände ein, wobei sie sich meist auf Rüdigers Version der Kritik beziehen. Unter dem Pseudonym Hieronymus Aletophilus wird gegen Rüdigers Kritik eingewandt, daß man sehr wohl auch unbekannte Sachen voneinander unterscheiden könne, denn "Kinder müssen alle Dinge das erste mal von einander unterscheiden, ohne sich deren zuvor bewust zu seyn". Daher müßten Vorstellungen nicht bewußt sein, bevor sie unterschieden werden können.145 Aletophilus wendet sich auch dagegen, daß Rüdiger Bewußtsein 144 145

Crusius [l 745] 863 f. Aletophilus [1729] 19 f. Lt. Zedler [UL] Suppl. I, 1034 sind Johann Gottlieb Klosse und Hermann Adolph Lefevre die Autoren dieser Schrift.

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Die wolffianische Schulphilosophie

ausschließlich durch das Gedächtnis begründen will.146 Diesen Erwiderungen auf Rüdiger schließt sich auch Martin Knutzen an.147 Etwas mehr Substanz haben die Erwiderungen von Johann Friedrich Stiebritz. Stiebritz wendet ein, daß das Unterscheiden "die Forme und das Wesen" des Bewußtseins ist, und sich somit Rüdigers Frage, ob Unterscheiden Ursache oder Wirkung des Bewußtseins ist, als falsch gestellt erweist.148 Auch Stiebritz hält Rüdigers Bewußtseinsbegriff für zu eng.

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"Die Erinnerung geht auf das vergangene, das Bewust seyn aber auch auf das gegenwärtige." (Aletophilus [1729] 19). 1J7 Knutzen [l 741/d] 11 f. 148 Stiebritz [1742] 557 f.

3 Selbständigere rationalistische Theorien j?. / Martin Knuten Martin Knutzen stellt seine bewußtseinstheoretischen Ansichten vor allem in der Philosophischen Abhandlung von der immatenellen Naiur der Seele dar.149 Er richtet sich hier in erster Linie gegen materialistische Theorien der Seele und weicht dabei kaum von der wolffianischen Lehre ab.150 Die Seele ist für Knutzen dasjenige Ding, das in uns denkt, und Hauptziel der Abhandlung ist es, sie als einfache Substanz auszuweisen.151 Ganz im Sinne des Wolffianismus erklärt Knutzen: Eine ermunterte Aufmerksamkeit, wird uns mit rührender Klarheit überzeugen, daß wir alsdann unserer selbst uns bewußt sind, wann wir uns von anderen Sachen unterscheiden; und daß wir dann erst ein Eewußtseyn anderer Sachen in uns bemerken, wann wir den Unterscheid derselben von einander erkennen. 152 149

Knutzen wird meist als recht orthodoxer Wolffianer sowie als erster akademischer Lehrer und Förderer Kants angesehen (vgl. z. B. Erdmann [1876] 130-148). Sowohl seine Zugehörigkeit zur wolffianischen Schule als auch seine Unterstützung Kants sind in jüngerer Zeit von Manfred Kühn in Zweifel gezogen worden, vgl. Kühn [2001a] und Kühn [2001b] 6199. Zu Knutzens Lehre vom Influxus physicus und ihrem Einfluß auf Kant vgl. Watkins [1995a], [1995b], zur Eigenständigkeit seiner Ansichten zur Logik Risse [1964] II 652. 150 Die Philosophische Abhandlung erschien zuerst 1741 in lateinischer Sprache als Commentatiophilosophica de kutnanae mentis individua natura und wurde 1744 in der Übersetzung von Georg Heinrich Püschel herausgegeben. Die lateinische Fassung wurde 1745 zum zweiten Mal aufgelegt, zusammen mit der zweiten Auflage des Systema causarum effidentium (Knutzen [1735/ 2]). Zur Philosophischen Abhandlung vgl. auch Erdmann [1876] 103-107; zur möglichen Vorbildfunktion von Knutzens Argumenten für die Positionen, die Kant im Paralogismenkapitel der Kritik der reinen Vernunft behandelt, vgl. Meyer [1870] 225 und Wunderlich [2001a]. 151 Knutzen [1741/d] 2. 152 Knutzen [1741/d] 9. Ich teile Heiner Klemmes Befund nicht, daß Knutzen sich gegen Wolffs Lehre von den dunklen Vorstellungen richtet. Es mache Knutzen zufolge, so Klemme, "keinen Sinn zu sagen, eine Person, die ein Gemälde in der Ferne in Augenschein nimmt, sei sich auch der 'subtilen Pinselstriche' bewußt" (Klemme [1996] 190). Nun ist es doch aber gerade das Kennzeichen dunkler Vorstellungen, daß wir sie zwar haben, uns ihrer aber nicht bewußt sind; daß wir in dem diskutierten Fall die Vorstellungen der subtilen Pinselstriche aber auch gar nicht haben, wird von Knutzen nicht behauptet.

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Selbständigere rationalistische Theorien

Knutzen wendet sich auch direkt gegen Rüdigers Kritik an Wolffs Bewußtseinsbegriff, wonach umgekehrt das Bewußtsein dem Unterscheiden vorausgesetzt sein sollte.153 Er hebt besonders hervor, daß bewußte Vorstellungen von Sachen immer auch Selbstbewußtsein einschließen sollen, also ... zum Gedenken ein Bewustseyn unserer selbst und anderer Sachen erfordert werde ... 154

Knutzen identifiziert drei Hauptmomente des Unterscheidens: (1) es müssen Vorstellungen von mehreren Sachen vorliegen, (2) die Unterscheidung muß innerhalb eines Subjekts vollzogen werden - die zu unterscheidenden Sachen können nicht auf mehrere Subjekte verteilt werden - und (3) das Unterscheiden muß vom oder im Subjekt vollzogen werden, es beruht auf seiner Aktivität.155 Der zweite Aspekt ist Knutzen zufolge durch die zwei Weisen der "Einheit des Subjects" zu erklären: I. Die Einheit des Subjects in welchem die Vorstellungen der unterschiedlichen Sachen zugleich sich finden müßen, wenn anders die Unterscheidung derselben, oder das Anschauen des Unterscheides soll zur Würklichkeit gelangen. Es muß fürwahr eine Menge der äußerlichen Gegenstände aus ihrer Zerstreuung in dieses einzige Subject, oder gleich wie Radii in einen Mittelpunct zusammen gebracht und vereiniget werden.156 II. Die Einheit des Subjects, von welchem die Zusammenhaltung der Vorstellungen unternommen wird. Eben dasselbe Subject nemlich, eben dieselbe Kraft ist es, die eins mit dem ändern vergleichet, und alles übrige gegen einander hält.157 153

Knutzen [1741/dJ 11. Daß das Unterscheiden dem Bewußtsein vorausgesetzt ist und nicht umgekehrt, will Knutzen durch eine Reihe von Beispielen belegen, wie etwa: "Die Erfahrungen, die man mit den Vergrößerungsgläsern angestellet, legen inbesonderheit hievon die deutlichsten Zeugnisse ab. Wer würde sich zum Exempel wol jemals haben in den Sinn kommen laßen, daß es gewiße kleine Thierchens und allerley Arten von kleinen Würmchens gäbe, davon der Eßig manchmal wimmelt, wer würde sich derselben wol jemals bewußt gewesen seyn, da zudem ja alle Tropfen in dergleichen flüßigen Materie dem bloßen Auge fast vollkommen gleich zu seyn vorkommen" (Knutzen [1741/d] 10 f.). 154 Knutzen [l 741/d] 8. 155 "Es gehören dannenhero inbesonderheit drey Hauptstücke zur Unterscheidung der Dinge: 1) Daß Vorstellungen von mehrern Sachen zugegen seyn. 2) Daß diese in einem einzigen Subject vorgehen. 3) Daß die Gegeneinanderhaltung in oder von diesem Subject in Ausübung gebracht werde." (Knutzen [1735/2] 15) 156 Knutzen [1741/d] 16. 157 Knutzen [1741/d] 18. Für diese Unterscheidung der beiden Einheitsgesichtspunkte beansprucht Knutzen [1741/d] 20 Originalität.

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Knutzen spricht hier zwei Aspekte an, die auch in Kants Bewußtseinstheorie von Bedeutung sind: Einerseits den Zusammenhang der Vorstellungen, den sie als Vorstellungen eines und desselben Subjekts haben, und andererseits die Identität des Subjekts, das die Vorstellungen zusammenhält.158 Knutzen fährt fort: Wer ist unter uns, der jemals von einem erhabenen Ort, von einem Thurm, oder von dem Gipfel eines Berges, die mannigfaltigen unteren Gegenden in Augenschein nimmt, der nicht auch bey einem aufmerksamen Blick auf sich selbsten, aufs allerdeutlichste wahrnehmen sollte, daß er, der die mit den hellesten Ströhmen bewäßerte Felder, von einer bergigten Gegend unterscheidet, auch dasselbe Subject sey, welches die Lustwälder und Gebüsche, von den Dörfern, Bauerhütten, und von dem Vieh, so in den belaubten Gegenden geweidet wird, im Anschauen von einander abgesondert.159

Man kann hier wie auch in anderen Zusammenhängen sehen, daß Knutzen sich nicht in erster Linie für den zeitlichen Aspekt personaler Identität interessiert, sondern für den Gegensatz einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen und eines gleichbleibenden Bezugspunktes derselben. In moderner Terminologie bezieht er sich also auf die synchrone Einheit der Person, während sich die meisten Theorien mit ihrer diachronen Einheit beschäftigen, die der Identität gegenüber dem Wechsel der Vorstellungen entspricht.160

5.2 Die Neo-Wolffianer 161 Johann Georg Sulzer ist prinzipiell Anhänger der Leibniz-Wölfischen Philosophie, betont aber die erkenntnistheoretische Bedeutung der 158

Diesem Zusammenhang der Vorstellungen entspricht bei Kant die "analytische Einheit der Apperzeption", s. Kapitel III 1. Auch wenn sich die Problemstellungen bei Kant und Knutzen teilweise ähneln, liegen sie doch sachlich zu weit auseinander, um etwa auf eine direkte Beeinflussung schließen zu können, wie auch Klemme [1999] 527 zurecht argumentiert. So bezeichnet Knutzen beispielsweise im Gegensatz zu Kant mit der "Einheit des Subjects" eine Einheit der Seelensubstanz. 159 Knutzen [l 741/d] 19. 160 Vgl. zu dieser Unterscheidung Shoemaker [1984] 75. Mit der synchronen Einheit des Subjekts befassen sich auch Johann Spalding [1748] 20 und Christoph Meiners [1776] II 23, vgl. zu letzterem Kapitel I 4.3. 161 Diese Bezeichnung verwendet z. B. Manfred Kühn [1995] 198 für die Autoren, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Wolff anknüpfen, aber das dogmatische Verfahren der früheren Lehrbücher weitgehend hinter sich lassen.

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Sinne stärker, zumindest soweit es sich um Vorstellungen von der Körperwelt handelt.162 Eigenständig ist er auch dadurch, daß er Emotionen als vom Intellekt unabhängige Vorstellungsart betrachtet.163 Im Hinblick auf die Bewußtseinstheorie sind vor allem die Artikel Erklärung eines psychologischen paradoxen Saftes (Sulzer [1759/d]), Von dem Bewußtseyn, und dessen Einflüsse auf unsre Urtheile (Sulzer [l 764/d]) und Gedanken über einige Eigenschaften der Seele (Sulzer [1771/d]) zu beachten. Sulzer gibt als gebräuchliche Erklärung des Bewußtseins an: Die Philosophen verstehen durch das Wort Eewußiseyn (apperceptio) diejenige Handlung des Geistes, wodurch wir unser Wesen von den Ideen, welche uns beschäfftigen, unterscheiden, und also deutlich wissen, was wir thun und was in uns und um uns vorgeht.164

Die Apperceptio oder das Bewußtsein soll eine Handlung des Geistes sein, durch die wir unser Wesen von unseren Vorstellungen unterscheiden und aufgrund dessen wir von unserem Tun und den Vorgängen in uns und außerhalb unser deutliche Vorstellungen erlangen. Man kann diese Ausführungen so verstehen, daß Sulzer hier dem Selbstbewußtsein qua Unterscheiden des Subjekts von seinen Vorstellungen einen Vorrang gegenüber dem Bewußtsein von den Vorstellungen einräumt. Etwas später scheint er jedoch von einer Gleichrangigkeit des Selbst- und des Gegenstandsbezugs im Bewußtsein auszugehen: Das Bewußtseyn setzet also auf der einen Seite die klare Idee von sich selbst, und von dem, was man thut, voraus, da sich indessen auf der ändern Seite der Verstand noch mit irgend einer ändern Sache beschäfftiget, welche er als außer sich und von seinem Wesen unabhängig betrachtet.165

Bemerkenswert ist weiter, daß Sulzer die Aufmerksamkeit, die er als Ursache des Unterscheidens von Vorstellungen betrachtet, für einfach und unanalysierbar hält.166 Schließlich legt Sulzer auch großen Wert darauf, daß die Seele sich selbst vermittels des Körpers empfindet und insofern auch auf die Wirklichkeit äußerer Gegenstände angewiesen ist; ohne die "materialische Welt" wäre die Seele "nichts anders als eine 162

Zu diesem Aspekt vgl. Palme [1905J, 6-29; Knüfer [1911] 34-39 paraphrasiert im wesentlichen Palmes Untersuchung. 163 Vgl. Palme [l 905] 29 f. 164 Sulzer [l 764/d] 200. In den Gedanken über einige Eigenschaften der Seele bezeichnet Sulzer die Apperzeption als das, "was Descartes Bewußtseyn nennt" (Sulzer [1771/d] 351), und man befindet sich "in dem Zustande der Apperception, oder des klares Bewußtseyns ... wie es Descartes nennte" (ibd. 367). 165 Sulzer [l 764/d] 201.

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todte Kraft".167 Die Leistungen des Verstandes sind jedoch selbst nicht von den Sinnen abhängig, sondern haben ihren Ursprung ausschließlich in der Seele: Dieses beweist, daß die Wirkungen des Verstandes, in so fern er sich deutliche Begriffe machet, und nach den Regeln des vernünftigen Denkens handelt, weder von den Sinnen noch von der Organisation des Körpers abhängen, sondern zum Wesen der Seele selbst gehören.168

Sulzer hebt mehrfach den tätigen Charakter der Seele hervor: Diese Betrachtungen sind, wie ich glaube, hinreichend zu beweisen, daß die Seele ein thätiges Wesen ist, welche, unabhängig von den Einwirkungen der materiellen Welt, in sich selbst Kräfte besitzt, vermittelst derer sie sich bestrebt, die empfangenen Ideen durch neue Verhältnisse einzuschränken, und dadurch ihren eigenen Zustand zu verändern.169

Den Materialisten wird jedoch zugestanden, daß ... die Seele ohne die Beyhülfe der körperlichen Organen keine klaren Vorstellungen, und kein Bewußtseyn ihres Daseyns haben kann.170

Sulzer ist ein überzeugter Anhänger der Leibniz-Wolffschen Theorie von den dunklen Vorstellungen. Er bekräftigt dies mehrfach und 166

"Die Aufmerksamkeit scheint eine so einfache Handlung zu seyn, daß es vielleicht unmöglich ist, sie anders als nach ihren Wirkungen zu beschreiben. Ihre merklichsten Wirkungen aber sind folgende: sie läßt uns eine Idee, oder Vorstellung von jeder ändern, dem Geiste zugleich gegenwärtigen, unterscheiden" (Sulzer [1758/d] 253). Zu Sulzers Aufmerksamkeitstheorie vgl. Palme [1905] 19 ff. und Uebele [1911] 120. 167 Es zeige sich, "daß die Seele sich nicht anders als vermittelst des Körpers und einer gewissen Wirkung, welche andere Körper auf das Nervensystem haben, empfinde; und daß sie keine absolute Idee von sich selbst habe, weil sie sich nicht anders empfinden kann, als wenn sie sich mit ändern Dingen vergleicht. Die Seele würde also ohne die materialische Welt nichts anders als eine todte Kraft seyn, die in einer ewigen Unwirksamkeit bleiben würde." (Sulzer [1764/d] 202 f.) Sulzer greift auch die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreiteten spekulativ-physiologischen Erklärungen auf: "Man bemerke also zuvörderst, daß nichts in der Seele vorgehe, ohne daß zu gleicher Zeit eine gewisse gleichförmige Bewegung in dem Nervensysteme erfolge, so, daß einer jeden Vorstellung in der Seele eine gewisse Erschütterung in den Nerven entspricht. Bey der bloßen Vorstellung wirken nur die Nerven des Gehirns, und je mehr die Vorstellung zusammengesetzt ist, desto größer ist die Anzahl der sich bewegenden Nerven. Wenn sich die Vorstellung in Empfindung verwandelt, so theilt sich diese Bewegung den Nerven der Brust mit. Das Gehirn scheint also der Sitz der Gedanken, und das Zwerchfell der Sitz der Empfindung und der unsern Willen ausrichtenden Kräfte der Seele zu seyn." (Sulzer [1759/d] 112) 168 Sulzer [1764/d] 222. 169 Sulzer [1771/d] 354. Vgl. ibd. 349 f., 351 f.; er spricht auch von dem "Actus des Selbstbewußtseyns" (ibd. 366). 170 Sulzer [1771/d] 373, Herv. getilgt.

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macht diese Theorie ihrerseits zur Grundlage seiner Erklärung für eine Reihe von psychischen Phänomenen: Außer den klaren, oder denjenigen Vorstellungen, deren sich die Seele bewußt ist, und die ihre Aufmerksamkeit festhalten, giebt es zugleich eine große Menge anderer, mehr oder weniger dunkeln, Vorstellungen, die sie entweder gar nicht oder doch so wenig bemerket, daß sie dieselben nicht unterscheidet. Diese dunkeln Vorstellungen bringen oft sehr merkliche Wirkungen hervor.171

Auch der Unterschied von deutlichen und verworrenen Vorstellungen wird orthodox verstanden.172 Sulzer ergänzt die Theorie dunkler Vorstellungen noch um die Annahme "dunkler Handlungen": Ich fuge noch hinzu, daß nicht bloß die Vorstellung einer Idee, sondern alle andere Handlungen der Seele dunkel seyn können. Es giebt dunkle Urtheile, die wk fällen, ohne uns dessen bewußt zu seyn, dunkle Empfindungen, ein dunkles Verlangen und einen dunkeln Abscheu. Das sind die, Ich weiß nicht was, die jedermann zuweilen empfindet.173

Herrmann Samuel Reimarus versteht Bewußtsein und Selbstbewußtsein, wie in den wolffianischen Theorien üblich, als Unterscheiden.174 Aus dem "natürlichen Bestreben" der Menschen, so heißt es in der ersten Auflage der Vemunßlehre, 171

Sulzer [1759/d] 107. Dunkle Vorstellungen sollen auch zur Erklärung dafür dienen, warum wir oft gegen den eigenen Willen handeln (Sulzer [1759/d] 107); sie sollen der eigentliche Antrieb ([1764/d] 213) und schließlich auch der Grund dafür sein, daß die Seele oft passiv zu sein scheint, während sie doch unbewußt tätig ist ([1771 /d]); das soll dann wiederum zur Widerlegung des Materialismus dienen (vgl. zu diesem Aspekt Holzhey [1996] 212-214). Zu Sulzers Lehre von den dunklen Vorstellungen vgl. Grau [1916] 208-211. Die Seele soll Sulzer zufolge auch tätig sein können, ohne sich dessen bewußt zu sein; dann spricht man von "aufgehobenem Selbstbewußtseyn" (Sulzer [1771/d] 366, vgl. ibd. 202, 351). 172 "Eine Vorstellung ist nur darum verworren, weil ihre Theile, oder die einfachen Ideen, woraus sie besteht, in Eins vermenget sind, und auf einmal wahrgenommen werden. Soll eine Vorstellung deutlich werden, so muß man die Theile derselben von einander absondern, und jeden insbesondere betrachten." (Sulzer [1759/d] 113) 173 Sulzer [1759/d] 108. 174 Reimarus' Vornehmste Wahrkeiten der natürlichen Reägion werden von Kant erwähnt (AA 2,161; 5, 476), die erste Auflage der Vemunftlehre befand sich in seinem Besitz (vgl. Warda [1922] 53; erwähnt AA 2, 191). Auf Reimarus' Bewußtseinstheorie beziehen sich Engert [1908], Büttner [1909] und Grau [1916] 206. Engert kritisiert, daß Reimarus ebenso wie Wolff den Allgemeinbegriff des Bewußtseins nicht ausreichend vom reflexiven Begriff der Selbstbewußtseins unterschieden habe (Engert [1908] 86). Engfer [1980] befaßt sich mit Reimarus' Verhältnis zu Kants Unterscheidung synthetischer und analytischer Urteile, Schmidt-Biggemann [1988] mit seinem theologischen Wirken.

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... über die Dinge in ihrer Vorstellung zu reflectiren, oder sie miteinander zu vergleichen, uns dahin bringt, daß wir theils den Unterschied der Dinge wahrnehmen, und sie also klar und deudich begreifen; theils auch ihre Aehnlichkeit, und folglich das, was allen gemein ist, einsehen ... 175

Gegenstandsbewußtsein scheint für Reimarus immer auch Selbstbewußtsein zu enthalten, insofern zum Bewußtsein eines Dinges sowohl die Unterscheidung von anderen Dingen als auch die Unterscheidung vom Subjekt gehört: Weil ferner sich einer alsobald eines Dinges bewußt wird, sobald er dasselbe von sich und ändern Dingen unterscheidet, und in seiner Vorstellung zu denen ähnlichen hingesellet: so ist auch offenbar, wie wir uns durch die Reflexion bewußt werden ... 176

Das bewußte Unterscheiden der Vorstellungen beschreibt Reimarus auch als ein Wissen von ihnen und bringt so, expliziter als Wolff, den Begriff des Bewußtseins in direkten Zusammenhang mit dem Wissen von den Vorstellungen.177 Anders als bei Wolff, für den Bewußtsein aus der Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen resultiert, ergibt es sich bei Reimarus nur aus ihrer Deutlichkeit:178 So bald wir ein beachtetes und mit ändern verglichenes Ding in unserer Vorstellung kennen und von ändern unterscheiden, so sind wir uns ... dessen bewußt, d. i. wir wissen, daß wir uns etwas, und was wir uns vorstellen. Dieser Zustand des Gemüths, da es Dinge beachtet und darüber reflectirt, um sie zu kennen, und von einander zu unterscheiden, wird der Zustand deutlicher Vorstellungen genannt: folglich richtet sich unser Bewußtseyn nach dem Zustande deutlicher Vorstellungen.179

Die Erklärungen für Klarheit und Deutlichkeit entsprechen jedoch den im Wolffianismus üblichen.180 Unter einem Begriff versteht Rei-

175

Reimarus [1756] 29 f. § 27. Reimarus [l 756] 30 §27. 177 Kant bringt in der frühen Refl. 1679 in ähnlicher Weise Unterscheiden und Wissen der Vorstellungen in Zusammenhang, s. Kapitel III 1.1.1. 178 Vgl. Wolff [1720/11] 457 § 732 sowie Kap. I 2.1. 179 Reimarus [1756] 62 f. § 60. Vgl. in der dritten Auflage: "Da nun das Bewußtseyn zu jedem Begriffe gehöret... so gebt die bloße Vorstellung, an sich, noch keinen Begriff, sondern es muß erst das Bewußtseyn hinzukommen; d. i. wir müssen dabey auch wissen, daß wir uns etwas vorstellen, und was wir uns vorstellen." (Reimarus [1756/3] 25 § 31) 180 "Man nennet eine Vorstellung klar, wenn man ein Ding dadurch im Ganzen kennen und von ändern unterscheiden kann; deutlich aber, wenn man auch die Theile eines Dinges dadurch kennen und von ändern Theilen unterscheiden kann." (Reimarus [1756] 40 § 37). 176

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marus die "Vorstellung eines Dinges mit einem Bewußtseyn".181 Ein Begriff, also eine bewußte Vorstellung ... ist also eine einzelne Vorstellung eines Dinges, dabey wir uns sowohl unserer Vorstellung, als des vorgestellten Dinges bewußt sind.182

Dies erinnert insofern an die Wolffsche bewußte Vorstellung aus den lateinischen Psychologien (Cogitatio), als auch dort eine bewußte Vorstellung sowohl ein Bewußtsein des Gegenstandes (qua Perceptio) als auch ein Bewußtsein der Vorstellung (qua Apperceptio) enthält.183 Ähnlich heißt es in der ersten Auflage der Vernunftlehre von der "inneren Empfindung", daß wir durch diese ... uns die Leidenschaften und Verrichtungen unserer Seele vorzustellen, und uns derselben bewußt zu seyn, fähig sind. [...] Wenn wir uns nämlich auch von sinnlichen Dingen Begriffe machen, oder davon etwas urtheilen und schliessen, so denken wir doch, und sind uns nicht allein der äusserlichen Dinge bewußt, woran wir denken, sondern auch unsers Denkens selbst.184

Grundlegend für den Begriff des Ich ist für Reimarus seine Unterscheidung von anderen Dingen: Ein jeder unterscheidet sein Ich, von fremden Dingen ausser sich, durch ein Gefühl in einem gewissen Körper. [...] Und ich betrachte alle solche Empfindungen als ein Bewußtseyn unsers einzelnen Wesens in einem gegenwärtigen Zustande.185

Für den Begriff des Ich ist jedoch nicht seine Verbindung mit einem Körper entscheidend, obwohl sich dieser Begriff auch auf den Körper zu erstrecken scheint.186 Für uns selbst halten wir uns Reimarus zufolge, weil wir uns unserer selbst und anderer Dinge außer uns bewußt sind. Dieses Bewußtsein ist seinerseits in der Seele begründet,187 die

161

Reimarus [1756/3] 23 § 29. Reimarus [1756/3] 23 § 30. 183 Vgl. Wolff [1732/2] 17 sowie Kap. I 2.1. 184 Reimarus [1756] 65 f. § 64. 185 Reimarus [1754/3] 432. 186 "Wir kennen daher auch keines von unsern eigenen körperlichen Theilen an sich durch irgend ein Merkmaal, dadurch einzelne Dinge von ändern zu unterscheiden sind; bloß, so lange wir darinn empfinden, so wissen wir daran, daß es Theile von uns sind; folglich ist allein unsere Empfindung oder Bewußtseyn ein gegenwärtiges Merkmaal der einzelnen Theile des Körpers, der unser Ich ausmachet. Aber, wenn die Theile erst verdunstet, abgerieben, und von uns getrennet sind, so wissen wir dieselbe, für sich, nicht mehr von denen, die uns nimmer angehöret haben, zu unterscheiden." (Reimarus [1754/3] 438) 182

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Reimarus als Substanz ansieht.188 Der Substanzcharakter der Seele wkd besonders durch die Identität der Person verdeutlicht: Dieses erhellet noch deutlicher, wenn wir uns in unserer Dauer betrachten; da ein jeder Mensch, in dem Verlaufe vieler Jahre, sich für einen und eben denselben Menschen hält. Gewiß nicht nach seinen körperlichen Theilen. Denn die kennet er nicht an sich selbst, aus inneren dauerhaften Merkmaalen, als die seinen; sondern nur allezeit gegenwärtig, so lange er darinn Empfindung hat.189

Reimarus benennt Erinnerung und Bewußtsein von der eigenen Identität als Bedingungen für Gegenstandsbewußtsein. Wir können Reimarus zufolge nur dann Dinge unterscheiden, wenn wir es unter Gattungs- oder Artbegriffe bringen können, und dazu müssen wir sie auf frühere Vorkommnisse der gleichen Gattung oder Art beziehen: Wir kennen und unterscheiden aber ein Ding nicht eher, als wenn wir es zu seiner eigenen Art oder Gattung hinrechnen, das ist, zu den ähnlichen Dingen, deren wir uns vormals in unserm Leben bewußt gewesen sind, und die wir mit einem gemeinen Namen zu bezeichnen und zu unterscheiden gelernet haben. Ich könnte nämlich die weiße und schwarze Farbe, den Blitz und Donner, die Kühe, das Hundebellen, nicht als solche erkennen, und von ändern unterscheiden, wenn ich mich nicht besonne, dergleichen Farben, Licht, Schall, oder Thiere öfters in meinem Leben gesehen und gehöret zu haben 190

Hinsichtlich des Identitätsbewußtseins gilt: Es ist also kein einziges gegenwärtiges Bewußtseyn möglich, als in einem Wesen, das schon unter verschiedenen Veränderungen und Zustande fortgedau-

187

"Wenn wir uns demnach nicht darum für uns selbst halten, oder uns als einzelne Menschen kennen, und von ändern Dingen unterscheiden, weil wir einen gewissen Körper, in gewisser Größe, mit gewissen Gliedmaßen haben; sondern weil wir uns unser selbst und anderer Dinge ausser uns bewußt sind, es sey auch in welchem Körper und von welcher Größe es wolle: so ist offenbar, daß eigentlich nicht der Körper, sondern das Wesen, welches sich im Körper bewußt ist, den Menschen, und unser einzelnes Ich, ausmache." (Reimarus [1754/ 3] 440) 188 " ... so ist ja auch so offenbar, als was seyn kann, daß unsere Seele, die durch ihr eigen Bewußtseyn überführet ist, daß sie eben noch diejenige ist, welche vormals mancherley erfahren, gedacht und gewollt hat, für eine Substanz gehalten werden müsse" (Reimarus [1754/ 3] 44 . 189 Reimarus [l 754/3] 440. "° Reimarus [l 754/3] 442.

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ret hat, und auch weis, daß es eben dasselbe sey, welches vorhin mehrmals in einem ähnlichen Zustande gewesen.191

Man könnte diese beiden Bedingungen möglicherweise so zusammenführen, daß die Fortdauer des Subjekts Bedingung für Erinnerung ist und Erinnerung ihrerseits Bedingung für das Unterscheiden. Das würde jedoch nicht erklären, warum sich das Subjekt, wie in der soeben zitierten Passage behauptet, auch seiner Identität bewußt sein muß. Johann August Eberhard, der Adressat von Kants Streitschrift Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, setzt in seiner Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens ganz wolffianisch dabei an, daß die Seele und ihre "Urkraft" einfach sind.192 Dies schlägt sich nach Eberhard in dem Gefühl nieder, "daß unsere Seele nicht nur Eines sondern auch beständig Dieselbige sey." Der erste Aspekt der Einfachheit kommt darin zum Ausdruck, ... daß sich das Wesen, welches in uns denkt, als das alleinige Subjekt, aller seiner Veränderungen, seines Denkens, Empfindens, Handelns, Leidens u. s. w. vorstellt. Dies kann nicht geschehen, wofern es nicht Eines ist, das den Grund aller dieser unzertrennlichen und in Einem zusammenkommenden Bestimmungen enthält.193

Daneben kann, so Eberhard, auch die Identität des Ich nur durch eine einfache Urkraft der Seele sichergestellt werden: Ohne diese innige und wesentliche Einfachheit der Urkraft kann sich hiernächst auch die Seele nicht als Ebettdasse/bige'Wtstn die ganze Dauer ihres Da191

Reimarus [1754/3] 442. Vgl. weiter zum Identitätsbewußtsein: "Die Seele aber ist sich selbst bewußt, daß sie ein fortdaurendes Wesen sey, welche alle diese Veränderungen von tausenderley Geschmacke, Gerüche, Tönen und Bildern, nach und nach, alleine in ihrem einzelnen Wesen angenommen, und welche in dem gegenwärtigen Zustande ihre vergangenen sieht; mithin selbst in den Veränderungen erkennet, annoch eine und dieselbe zu seyn, die sie in verschiedenen vorigen Zeiten war, Die Seele ist also keine bloße veränderliche Beschaffenheit eines ändern Dinges, sondern eine Substanz, die ein Vermögen des Bewußtseyns von ihrem verschiedenen Zustande hat." (Reimarus [1754/3] 450) "Allein, die Seele, das Wesen in uns, das sich bewußt ist, kennet sich innerlich, als eins und dasselbe in verschiedener Beschaffenheit und Zustande, und hat durch solch Bewußtseyn einen Begriff und eine Ueberführung von seinem Daseyn, seiner Dauer, und von der Zeit derselben." (Reimarus [1754/ 3] 446 f.) 192 Palme [1905] 36 behauptet ohne weitere Begründung, daß Eberhard in dieser Schrift nur Sulzers Theorien wiedergibt. 193 Eberhard [1776] 23 f. Kant diskutiert ein ähnliches Argument im zweiten Paralogismus der -Redaktion, vgl. Wunderlich [2001a].

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seins hindurch denken. Die Seele kann nicht das nämliche Ich, ebendieselbige Person bleiben, ohne die genaueste Einfachheit ihrer Kraft.194

Die "Erhaltung" des Ich und der Persönlichkeit soll aber ebenso von einem Bewußtsein über diese Identität abhängen, und das Identitätsbewußtsein soll seinerseits in der Selbstzuschreibung aller Veränderungen gründen, die ein Subjekt durchlaufen hat: Denn die Erhaltung des Ichs und der Persönlichkeit hängt schlechterdings von dem Bewußtseyn ihrer ununterbrochen Fortdauer ab. Um diese Identität ihrer selbst zu erkennen, muß sie sich als das Subjekt aller der Veränderungen denken, deren sie sich bis auf den gegenwärtigen Augenblick ihres Denkens bewußt ist.195

Dabei ist es erforderlich, daß das Subjekt alle seine Veränderungen gleichermaßen auf sich selbst beziehen kann, und das wiederum setzt voraus, daß es kontinuierliche Übergänge zwischen den einzelnen Vorstellungszuständen gibt: Man sieht daher leicht, daß es bloß das Bewußtseyn der Stätigkeit in unsern Vorstellungen ist, wodurch unsere Seele ihre numerische Identität anerkennet, und sich davon versichert, daß sie noch immer als dasselbige Ich oder moralische Individuum fortdaure.196

Nähme man mehrere statt einer einzigen Grundkraft der Seele an, so könnte man das "allgemeine Band" nicht erklären, das zwischen allen Vorstellungen eines Subjekts besteht, und es ließe sich "nicht angeben, wie eine Modification der Seele in eine andere übergehe".197 Im Zustand des deutlichen Denkens sind wir uns Eberhard zufolge, im Unterschied zum Zustand des Empfindens, des Überganges von einer Idee zur anderen bewußt, und wir fühlen vermittels dieses Bewußtseins unsere eigene Tätigkeit: Sind wir uns bey dem deutlichen Denken des Ueberganges von einer Idee auf die andere bewußt, und fühlen wir vermittelst dieses Bewußtseyns unsere eigene Thärigkeit, so fehlt uns dieses bey dem Empfinden ganz.1198 194

Eberhard [l776] 25. Eberhard [l 776] 25. 196 Eberhard [1776] 26. In pathologischen Fällen (durch "eine Verrückung") kann jemand vergangene Vorstellungen einer anderen Person zuschreiben, und ein "solcher Zufall läßt sich durch nichts anders erklären, als dadurch, daß in einer solchen Seele gewisse Vorstellungen dergestalt sind ausgelöscht worden, daß der Uebergang aus dem einen Zustand in den ändern zerstört , . . worden." (Eberhard [1776] 26) 197 Eberhard [l776] 27, 29. 198 Eberhard [1776] 38. 105

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Beim Denken sieht die Seele den Gegenstand, mit dem sie sich beschäftigt, als außer sich befindlich an, während sie es bei den Empfindungen mit ihrem eigenen Zustand zu tun zu haben glaubt: Wenn ich in dem Zustande des deutlichen Denkens die Gegenstände selbst deutlich sehe, und ihre Theile wohl von einander unterscheide: so muß sich diese Deutlichkeit auch auf mich, das denkende Subjekt, erstrecken. Ich muß auch mich, das Denkende, von den Gegenständen, als dem Gedachten, unterscheiden.199

Im Gegensatz dazu lassen die Menge und Stärke der Vorstellungen, die den Zustand der Empfindung kennzeichnen, eine Unterscheidung seiner selbst als "subjectum inhaesionis" von den Vorstellungen nicht zu.200 Eberhard folgt auch Leibniz' Lehre von den petits perceptions, wonach eine bewußte Vorstellung durch die Verbindung kleiner, unbewußter Vorstellungen entsteht.201 Da alle Vorstellungen in der Seele verknüpft sind, hängt auch "der ganze Grund der Seele" mit derjenigen Perzeption zusammen, auf die sich die Aufmerksamkeit gerade richtet.202 Moses Mendelssohns Phädon stellt einen vieldiskutierten Beweis für die Immaterialität der Seele vor, den auch Kant in der B-Variante der Paralogismen aufgreift.203 Aus einigen Passagen im Phädon ist zu entnehmen, daß Mendelssohn sich den wolffianischen Grundbestimmungen anschließt. So soll die Seele im Schlaf nicht ganz ohne Vorstellungen sein, sondern über schwache Empfindungen verfügen, die nicht zum Bewußtsein gelangen und gemäß der wolffianischen Terminologie als "dunkel" bezeichnet werden.204 Selbstbewußtsein bezeichnet er dagegen meist als "Selbstgefühl". Er bezieht sich damit auf ein Bewußtsein der eigenen Identität, wie es beispielsweise die Seele nach 199

Eberhard [l776] 45. Eberhard [1776] 46. 201 Eberhard [1776] 67. 202 Eberhard [1776] 74. 203 Mendelssohn [1767/B). Vgl. zu Mendelssohn weiter Holzhey [1996], Altmann [1982], [1973], Guyer [1991]; eine neuere Gesamtdarstellung bietet Arkush [1994]. 204 "Die Seele des Schlafenden muß nicht ganz ohne Begriffe seyn: die Gegenstände umher müssen durch schwächere Eindrücke auf seine Sinne wirken, und in der Seele wenigstens schwache Empfindungen erregen ... Aber was sind dieses für Begriffe? Ein dunkles Gefühl ohne Bewußtseyn, ohne Erinnerung, ein vernunftloser Zustand, in welchem wir uns des Vergangenen nicht erinnern, und dessen wir uns auch in Zukunft nie wieder besinnen." (Mendelssohn [1767/B] 83). 200

Die Neo-Wolffianer

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dem Tod haben soll,205 oder allgemeiner auf "alles Bewußtseyn deiner selbst, alles Gefühl deines Daseyns".206 Die Identität der Person erklärt Mendelssohn durch die Einfachheit der Seelensubstanz.207 Eine Bezugnahme auf den wolffianischen Apperzeptionsbegriff wird deutlich, wenn Mendelssohn davon spricht, daß alle "Fühlungen und Naturtriebe ... Beschaffenheiten des einfachen, unkörperlichen Wesens, das sich in ihnen seiner selbst und anderer Dinge bewußt ist", sind.208 Wolffianisch ist hier insbesondere der direkte Zusammenhang, der zwischen Selbst- und Gegenstandsbewußtsein hergestellt wird. In der 1764 publizierten Preisschrift Abhandlung über die Eviden^ greift Mendelssohn im Kontext erkenntnistheoretischer Fragen auf cartesianische Überlegungen zurück. Eine der Möglichkeiten, in der Metaphysik zu gesicherten Aussagen zu gelangen, besteht Mendelssohn hier zufolge darin, daß wir "einen Erfahrungssatz" zugrundelege11* ... davon wir gewiß sind, daß er keine blosse Erscheinung sey, ich meyne die innerliche Ueberzeugung, ich denke, worinn, wie wir in der Folge sehen werden, kein Zweifel zu setzen ist, und daraus sich mit Gewißheit schliessen läßt; also bin ich. [ . . . ] nur diese einzige innere Empfindung, ich denke, hat das Vorrecht, daß man mit völliger Gewißheit von ihr sagen kann, sie sey keine blosse Erscheinung, sondern eine wahre Realität ... 209

Bemerkenswert ist an dieser Passage, daß Mendelssohn die Überzeugung "Ich denke" als "innerliche Empfindung" für einen Erfahrungssatz hält, dem zugleich eine Gewißheit zuzusprechen ist, die allen anderen Erfahrungen nicht zugesprochen werden kann, und der insofern eine gerechtfertigte "innerliche Überzeugung" zum Ausdruck bringt.

205

Mendelssohn zufolge könne der Zustand der Seele nach dem Tod nicht mit dem Schlaf gleichgesetzt werden, denn wir müssen "die wir uns allhier unser bewußt sind, noch in jedem Leben dieses Selbstgefühl behalten, und uns des Gegenwärtigen erinnern können. Wir müssen das, was wir seyn werden, mit dem, was wir jetzt sind, vergleichen, und darüber urtheilen können." (Mendelssohn [1767/B] 83 f.) 8)6 Mendelssohn [1767/B] 104. 207 "Wir würden weder uns erinnern, noch überlegen, noch vergleichen, noch denken können, ja wir würden nicht einmal die Person seyn, die wir vor einem Augenblick gewesen, wenn unsere Begriffe unter vielen vertheilet und nicht irgend wo zusammen in ihrer genauesten Verbindung anzutreffen wären. Wir müssen also wenigstens eine Substanz annehmen, die alle Begriffe der Bestandteile vereiniget" (Mendelssohn [1767/B] 96). 208 Mendelssohn [1767/B] 108 f. 209 Mendelssohn [1764/B] 294.

60

Selbständigere rationalistische Theorien

Die Formel "Ich denke, also bin ich" scheint er, wie Wolff, als Enthymem auf2ufassen. In seinen Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit hebt Markus Herz hervor, daß Relationen stets ein Subjekt voraussetzen, das diese herstellt und die beteiligten Teilgedanken vereinigt: Es muß also notwendig bei jedem Verhältnis irgendein Subjekt vorausgesetzt werden, welches diese Gegenstände miteinander vergleicht und aus der Verschiedenheit, welche es in den Wirkungen beider wahrnimmt, wirklich ein einfaches Resultat herausbringt.210

Daraus folgert Herz, daß das Subjekt einfach sein muß: Hätte man zufolge meiner vorigen Betrachtung diese Wahrheit nie aus den Augen gelassen, daß jedes Verhältnis irgendein Subjekt voraussetzt, in dessen Vorstellung zwei oder mehrere Objekte miteinander verglichen werden und ein einfaches Resultat geben, so würde man auf das deutlichste innegeworden sein, daß dieses Subjekt, welches die Vergleichung anstellt, notwendig eine einfache Substanz sein müsse.211

Herz spricht hier einen Gedanken an, der für Kant, aber auch für andere Autoren wie Tetens zentral ist, nämlich daß Relationen grundsätzlich nicht im Gegebenen vorzufinden sind, sondern auf eine Aktivität des Subjekts zurückgehen.212 Heiner Klemme sieht aus diesem und einer Reihe von weiteren Gründen ausreichende Indizien dafür, daß Kant durch Herz' Einfluß zu der folgenreichen Entscheidung gelangt ist, daß der Ursprung aller Verbindung von Vorstellungen im Ich zu suchen ist.213 Kant stimmt jedoch in der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr mit der Folgerung überein, daß das Subjekt eine einfache Substanz sein muß. Im Versuch über den Schwindel hebt Herz zwar auch hervor, daß die Seele eine einfache Substanz ist.214 Für grundlegender hält 210

Herz [1771] 36 f. Herz [1771] 40. Herz spezifiziert diese Überlegung einerseits auf die Vorstellung der Kausalität als Relationsgedanke hin (Herz [1771] 37), andererseits auf das Urteilen (ibd. 80 f.); vgl. ibd. 81: "... ich mag so weit hinausdenken wie ich will, zuletzt muß ich doch auf ein einfaches Wesen kommen, das die wunderbare Erscheinung des Denkens hervorzubringen fähig ist." Zu Herz' Ablehnung der Möglichkeit dunkler Vorstellungen vgl. Grau [1916] 229. 212 Vgl. Tetens [1777] II 180 sowie Kapitel I 4.1. 213 Klemme [1999] 510,519. Herz stützt sich dabei wiederum Klemme zufolge auf Moses Mendelssohn, vgl. besonders Mendelssohn [1767/B] 92. 214 Vgl. Herz [1786] 70: "Die Seele ist eine einfache Substanz, bey der weder Ausdehnung noch Erweiterung noch Nachgiebigkeit sich im eigentlichen Verstande denken läßt. Ihr Wesen besteht nur in der einfachen Ausübung ihrer Kraft, die nur beständig fort wiederholet wird." 211

Die Neo-Wolffianer

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er hier aber, daß das Wesen der menschlichen Seele in der Vorstellungskraft besteht; dies soll ganz unabhängig davon der Fall sein, ob die Seele materiell oder überhaupt vom Körper unterschieden ist, und auch von den verschiedenen Verständnissen des Leib-Seele-Verhältnisses.215 Herz hebt besonders hervor, daß die Vorstellungskraft der Seele keine passive Disposition ist, sondern eine Tätigkeit zum Ausdruck bringt.216 Die Seele ist insbesondere dadurch unablässig tätig, daß sie von Vorstellung zu Vorstellung übergeht.217 Daß sie von Vorstellung zu Vorstellung übergehen muß, liegt in der Endlichkeit ihrer Kraft begründet: Die Seele wendet ihre Thätigkeit entweder auf eine einzelne Vorstellung oder auf mehrere an. Da aber ihre Kraft eine endliche ist, so kann sie sie nicht zu gleicher Zeit auf verschiedene richten, ohne daß die Thätigkeit auf jede besonders in einem verhältnißmäßigten Grade vermindert wird. Sie muß also bey mehreren Vorstellungen, wenn sie von einiger Lebhaftigkeit seyn sollen, der Reihe nach von einer zur ändern übergehen, und bey jeder einzelnen die Anstrengung ihrer Kraft von neuem äußern.218

In der zweiten Auflage des Versuchs über den Schwindel wendet sich Herz gegen die wolffianische Klarheit-Deutlichkeit-Lehre. Er räumt zwar ein, daß Vorstellungen und Bewegungen in der Seele Spuren hinterlassen, die unbewußt bleiben und bei Gelegenheit wieder aktuelle Vorstellungen hervorrufen können. Aus diesem Umstand soll aber Herz zufolge nicht die Konsequenz gezogen werden, daß "alle Vorstellungen, welche die Seele je gehabt, in ihr beständig gegenwärtig wären".219 Der Seele gegenwärtig seien vielmehr nur die Vorstellungen, derer sie sich jeweils bewußt ist: Und man bedachte nicht, dass gegenwärtig seyn, in einer einfachen Substanz nichts anders heisst, als: in sie wirken; und wirken in eine einfache Substanz, nichts anders als: Vorstellungen hervorbringen; und vorstellen, nichts anders als: wts-

215

Herz [1786] 2. Herz selbst scheint eine auf empirischen Überlegungen beruhende InfluxusLehre zu vertreten; so behauptet er einen direkten Zusammenhang von Vorstellung und Gehirnzustand: "Wenn also die Seele die zu einer Vorstellung erforderliche Bewegung im Gehirne nicht hervorbringen kann, so kann sie auch die Vorstellung nicht haben, indem jene eine unumgänglich nothwendige Bedingung (conditio sine qua non) von dieser ist." (ibd. 74, vgl. ibd. XVIII, XXX) 216 Herz [1786] 3, 62. 217 Herz [1786] 63. 218 Herz [1786] 5 f. 219 Herz [l 786/2] 217.

62

Selbständigere rationalistische Theorien sen, dass das vorgestellte vorhanden ist. Wo dieses Wissen fehlt, ist keine Vorstellung, keine Wirkung, folglich keine Gegenwart.220

Herz spricht sich damit nicht prinzipiell gegen die Existenz unbewußter Veränderungen in der Seele aus, sondern bestreitet nur, daß sie als aktuelle Seelenzustände vorliegen; sie sollen nur "Fertigkeiten", d. h. Anlagen zu Vorstellungen sein.221

3.3 Friedrich Carl von In Friedrich Carl Casimir von Creuz' Versuch über die Seele steht die erstaunliche These im Mittelpunkt, daß die Seele zwar nicht zusammengesetzt, genausowenig aber einfach sein kann. Sie soll daher ein "Mittelding" zwischen Zusammengesetztem und Einfachem sein, das einige Eigenschaften mit dem Zusammengesetzten und einige mit dem Einfachen teilt.222 Für diese Untersuchung ist Creuz vor allem deshalb relevant, weil er auch als moderater Kritiker von Wolffs Bewußtseinstheorie auftritt. Hinsichtlich der generellen Begriffserklärung folgt Creuz Wolff: Indem das denkende Wesen . . . sich nun seiner und anderer Dinge außer ihm bewußt ist; so unterscheidet es sich auch von ändern Dingen, und andere Dinge, deren es bewußt, wieder von einander: Denn eines Dings bewußt seyn, heißt: dasselbe von ändern unterscheiden.223

Daraus soll allerdings gerade nicht folgen, daß ein Selbstbewußtsein auf das Bewußtsein äußerer Dinge angewiesen ist, wie Wolff behauptet: 220

Herz [l 786/2] 2l7. "' Vgl. Herz [1786/2] 225-229: "Wenn ich die Gegenwart der Vorstellungen in der Seele auf das Bewusstseyn derselben einschränke, so möchte ich um vieles nicht so missverstanden werden, als wenn ich das Daseyn solcher Veränderungen in der Seele, denen das lebhafte Bewusstseyn fehlt, völlig läugnete. Es kann niemand mehr als ich überzeugt seyn, dass der Zustand der Dunkelheit in der Seele, wie ihn IFö/^nennt, die Quelle von dem grössten Theil ihrer Thätigkeiten ist. Nur ist es mir bedenklich anzunehmen, dass dieser Zustand in einem wirklichen Vorrath aller ehedem gehabten Vorstellungen bestehe". 222 Eine vehemente Kritik von Creuz' Inkonsistenzen gibt Eleutheropulos [1895], zum Bewußtseinsbegriff ibd. 25-27. Kurze Zusammenfassungen seiner Bewußtseinstheorie finden sich bei Grau [1916] 221 f. und Wundt [1945] 226. Zu seinen philosophischen Ansichten insgesamt vgl. auch Hartmann [1890] 41-47. -'Creuz [l754] 111.

Friedrich Carl von Creuz

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Allein können wir uns nicht mit uns selbst beschäfftigen, und unserer bewußt seyn, ohne an etwas außer uns zu gedenken? Wenn wir uns von Dingen außer uns unterscheiden; so sind wir freylich uns unserer bewußt; allein daraus folgt nicht, daß wir uns nothwendig von Dingen außer uns unterscheiden müßten, wenn wir uns unserer bewußt seyn wollten. Wir können in uns selbst so viel zu unterscheiden finden, als zu unserem Bewußtseyn erfordert wird.224

Auch im Unterscheiden unserer eigenen Vorstellungen liegt also ein Unterscheiden des Subjekts und seiner Handlung des Unterscheidens als dem Unterscheidenden von den unterschiedenen Vorstellungen. Wolffs Selbstbewußtseinsbegriff wird also von Creuz insofern modifiziert, als das Subjekt auch hinreichend von der Mannigfaltigkeit seiner eigenen Vorstellungen unterschieden werden kann, um als solches bewußt werden zu können. Damit steht auch in Einklang, daß Creuz betont, daß wir zwischen den Zeichen von Dingen unterscheiden und nicht unmittelbar zwischen den Dingen selbst.225 Jeder Bewußtseinsakt soll Selbstbewußtsein voraussetzen, so daß es erhellt, ... daß ein Ding, welches eine Kraft hat, Gedanken, das ist, ein Bewußtseyn herfür zu bringen; sich auch, so bald es existirt, seiner selbst bewußt seyn müßte; und es wäre schlechterdings nicht zu begreifen, wie es, ohne sich seiner selbst bewußt zu seyn, sich bemühen könne, seiner selbst und anderer Dinge bewußt zu werden.226

Wenn wir aber, so Creuz weiter, den Grund unseres Daseins in uns selbst hätten, dann könnten wir uns unserer bewußt sein, ganz ohne etwas in oder außer uns zu unterscheiden; und im Unterscheiden allein kann das Bewußtsein nicht bestehen.227 Was außer dem Unterscheiden noch zum Bewußtsein gehören soll, laßt Creuz an dieser Stelle dann allerdings offen und begnügt sich mit der kryptischen Bemerkung, das Bewußtsein sei eigentlich "eine Fortsetzung unserer Existenz (conti224

Creuz [1754] 90. Später relativiert Creuz diese Modifikation; es sei zwar wahr, daß wir an uns selbst denken können, ohne zugleich an äußere Dinge zu denken, "allein es folgt daraus nichts weiter, als daß in uns selbst auch etwas mehreres, als das Bewußtseyn anderer Dinge anzutreffen sey." (Creuz [1754] 111) 223 Wenn "unsere Seele, als Seele, ein Ding von dem ändern unterscheidet; so geschiehet solches vermittelst der Gegeneinanderhaltung gewisser Zeichen, sie unterscheidet also nicht sowol die Dinge selbst, als vielmehr die Zeichen derselben, oder sie unterscheidet die Dinge nicht unmittelbar." (Creuz [1754] 132) 226 Creuz [l 754] 96. 227 "Wenn wir den Grund unseres Daseyns in uns selbst hätten; so könnten wir uns unserer bewußt seyn, ohne etwas in uns, oder uns von etwas außer uns zu unterscheiden. Indessen kann doch unser Bewußtseyn nicht allein darinnen bestehen, daß wir etwas in uns, oder uns von etwas außer uns unterscheiden." (Creuz [1754] 92).

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Selbständigere rationalistische Theorien

nuatio existentiae nostrae)" und mache sogar "unsere ganze Existenz in gewissem Verstand aus".228 Später erläutert er, daß das Bewußtsein deshalb nicht nur als Unterscheiden bestimmt werden kann, weil auch der Grund für das Unterscheiden beachtet werden muß. Dabei handelt es sich um das spezifische Merkmal eines Dinges, "ein Merkmaal, woran man ein Ding erkennen kann, daß es nicht das andere" ist.229 Creuz weicht in einer weiteren, wichtigen Hinsicht von der wolffianischen Theorie ab. Er ist der Ansicht, daß es keine unbewußten ("dunklen") Vorstellungen geben kann: Es läßt sich also ... das Bewußtseyn von der Vorstellung nicht trennen; eine Vorstellung eines Dings, in so ferne solches der Seele zugeschrieben wird, kann nichts anders, als das Bewußtseyn eines solchen Dinges seyn ... 23°

Daher kritisiert Creuz den gebräuchlichen Begriff des Gedankens als einer Vorstellung mit Bewußtsein und setzt Repraesentatio, Perceptio und Apperceptio gleich.231 Dementsprechend modifiziert er auch das Klarheit-Deutlichkeit-Schema. Weil wir uns aller Vorstellungen und auch aller Teilvorstellungen oder Merkmale prinzipiell immer bewußt sind, können wir auch nur deutliche Vorstellungen haben.232 Daß uns dennoch nicht alle Vorstellungen, die wir haben, jederzeit präsent sind, erklärt Creuz so, daß die Seele ... sich etwas wirklich bewußt seyn, und dennoch sich dessen nicht bewußt zu seyn scheinen [seil, kann], daß man also zwischen ihrem wirklichen und scheinbaren Denken einen Unterschied machen, und ersteres ihr geistliches oder reines, sie nämlich als ein Geist betrachtet; letzteres aber ihr sinnliches oder unreines, sie nämlich als Seele und folglich in Gemeinschaft mit ihrem Leibe betrachtet, nennen kann.233

228

Creuz [1754] 91. Creuz [l 754] 112. 230 Creuz [l 754] 93. Vgl. Creuz [1754] 116: "Nun aber läßt sich das Bewußtseyn von der Vorstellung nicht trennen; sondern sich ein Ding vorstellen und dessen Bewußtseyn ist eins." 231 "Einen Gedanken eine mit einem Bewußtseyn verknüpfte Vorstellung zu nennen, dieses macht die Sache nicht aus. Wo eine Vorstellung ist, da muß wohl ein Bewußtseyn seyn" (Creuz [1754] 90). "Es sind aber Empfindungen solche Veränderungen oder Vorstellungen (perceptiones, repraesentariones seu appercepti'ones) unserer Seele, welche sich aus gewissen in den Gliedmaßen ihres Leibes vorgehenden Veränderungen erklären lassen." (Creuz [1754] 121) 232 "Ein Geist kann also keine andere, als deutliche Vorstellungen haben, und in diesem Fall wird der Unterschied zwischen klaren und deutlichen Vorstellungen von keinem Nutzen seyn." (Creuz [1754] 113) 233 Creuz [l 754] 115. 229

Johann Heinrich Lambert

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In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, daß Creuz behauptet, daß man sich äußerer Dinge "unmittelbar bewußt" sein könne, und das heißt für Creuz ohne Beteiligung der Sinnesorgane.234 Das ergibt sich seinerseits aus der Lehre von der prästabilierten Harmonie von Leib und Seele, durch die eine Einwirkung des Leibes auf die Seele ausgeschlossen ist und der sich Creuz offenbar anschließt.

3.4 Johann Heinrich Lambert2}5 Johann Heinrich Lambert identifiziert Vorstellungen und Begriffe und verzichtet auf die Unterscheidung von Perzeption und Apperzeption.236 Er folgt jedoch den wolffianischen Vorgaben hinsichtlich der Dunkelheit, Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen: Wir haben einen klaren Begriff, wenn wir die Sache wieder erkennen können. Es gibt immer an der Sache etwas, woran wir sie erkennen, und von jeden ändern Sachen unterscheiden. Und dieses wird das Merkmal, oder wenn es mehrere Stücke sind, die Merkmale genannt; können wir uns diese jedes besonders und in ihrer Verbindung vorstellen, oder sie einem ändern mit Worten herzählen, so ist der Begriff dieser Merkmale ebenfalls klar, und der Begriff von der Sache selbst wird in diesem Fall deutlich genennet. Die Deutlichkeit beruhet demnach auf der Klarheit der Merkmale der Sache.237

Lambert hält im Einklang mit der wolffianischen Theorie unbewußte Vorstellungen für möglich, bezeichnet aber mit dem Begriff der Vorstellung meist nur bewußte Zustände. Er spricht allerdings von "dunklen Begriffen" und bezieht sich dabei auf solche, die zwar momentan bewußt sind, deren Bewußtsein aber nicht zur Wiedererkennung aus-

234

Creuz [1754] 101,134. Ob man Johann Heinrich Lambert in einem Kapitel über rationalistische Positionen abhandeln sollte, kann bezweifelt werden, da er sich generell auch an Locke orientiert. Hinsichtlich der Bewußtseinstheorie erscheint mir die Zuordnung jedoch vertretbar. 236 Vgl. Lambert [1764] I 6 Dianoi. § 6: "Wer eine Sache begreift, kann sich dieselbe in Gedanken vorstellen ... Die Vorstellung selbst nennen wir einen Begriff, und dieser hat mit der Vorstellung gleiche Stufen der Ausführlichkeit. Keinen Begriff von einer Sache haben, heißt sich dieselbe nicht vorstellen können." Vgl. dazu Knüfer [1911] 27 f. und Salomon [1902] 60 f. Zum Verhältnis von Lambert und Kant vgl. z. B. König [1884], Schulthess [1981] 154 f. und Falkenstein [1991]. 237 Lambert [1764] I 8 Dianoi. § 9. Als Wiedererkennbarkeit wird die Klarheit der Vorstellungen speziell bei Bilfinger spezifiziert, vgl. Bilfinger [1725] 232 § 240, Kap. I 2.2. 235

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Selbständigere rationalistische Theorien

reicht.238 Lambert betont weiterhin den reflexiven Charakter zumindest solchen Bewußtseins, das mit Erfahrungen einhergeht: Erfahren, heißt eine Sache mit Bewußtsein empfinden, und zwar gehört zu diesem Bewußtsein nicht nur die Vorstellung der empfundenen Sache, sondern auch die Vorstellung, daß es nur eine Empfindung sei.239

Hier äußert sich der reflexive Aspekt jedoch nicht in einem Wissen von der Vorstellung, sondern in dem Wissen, daß es sich nur um eine bestimmte Art von Vorstellung, nämlich Empfindung, handelt, also einen subjektiven Eindruck. Das Bewußtsein unserer eigenen Existenz begründet für Lambert in Anlehnung an Descartes sowohl den Begriff der Existenz überhaupt240, als auch die Gewißheit der Erkenntnis: Dieses Bewußtsein unsrer Existenz gibt uns den Begriff und zugleich den Maßstab der Gewißheit.2"

Bewußtsein gehört Lambert zufolge wie Ausdehnung, Solidität oder Bewegung zur — an Locke angelehnten — Liste der einfachen und unanalysierbaren Begriffe;242 ebenso wie der Begriff der Einheit, der uns in dem Wort "Ich" gegenwärtig sein soll.243

Bewußtsein so weit, daß wir die Sache jedesmal wieder erkennen können, so ist der Begriff klar, widrigenfalls nur dunkel." (Lambert [1764] 17 Dianoi. § 8) Ebenso spricht er davon, daß es "gar nicht notwendig ist, daß wir alle Sachen sehen oder empfinden, oder uns der empfundenen immer bewußt sei[e]n" (ibd. I 295 Dianoi. § 590, vgl. ibd. I 356 Aleth. § 14, ibd. II 650 Phän. § 11). Dagegen scheint zu Beginn des zitierten Paragraphen 8 der Dianoiologie Vorstellen und Bewußtsein identifiziert zu werden: " . . . alles, was uns die Sinne an einer Sache empfinden machen, uns vorzustellen, oder dessen bewußt zu sein." (ibd. I 7 § 8) Das scheint jedoch nicht zu bedeuten, daß Lambert die Lehre von den unbewußten Vorstellungen ablehnt, wie Knüfer [1911] 30 und Salomon [1902] 65 f. behaupten; vgl. im Gegensatz dazu Grau [1916] 207 f. 239 Lambert [1764] I 272 Dianoi. § 552. 240 "Den Begriff der Existing haben wir noch unmittelbarer aus dem Bewußtsein, daß wir sind, weil wir ohne sein kein Bewußtsein haben können. Cartesius hatte daher sein: Cogito, ergo sum, zum ersten Grundsatze angenommen, und eben dieses hat auch Wo/fin seiner deutschen Metaphysik getan." (Lambert [1764] I 362 Aleth. § 24; vgl. ibd. I 386 Aleth. § 71) 241 Lambert [1764] 1386 Aleth. § 72. Entsprechend bemerkt Lambert [1764] 1435 Aleth. § 210, daß "das Bewußtsein unsrerExisten^ der eigentliche und wahre Maßstab der Gewißheit sei, und eine absolute Einheit ausmache." 242 Vgl. auch Lambert [1764] I 326 Dianoi. § 653 sowie I 368 Aleth. § 36. 243 "Der Begriff der Einheit ist ebenfalls einfach, und wir haben ihn unmittelbar in dem Wort / eigene Gefühlsart.393 Der Sache nach handelt es sich dabei wohl um eine spezielle Art der Apperzeption. Dieses Gefühl kann sich entweder auf den materiellen oder auf den formellen Unterschied unserer Vorstellungen beziehen, wobei der materielle Unterschied anzeigt, ob Vorstellungen einfach oder zusammengesetzt sind, der formelle Unterschied dagegen zwischen der Klarheit und Dunkelheit der Vorstellungen besteht.394 Eher auf die Seite der Conscientia sui ipsius gehören dagegen wohl ... diejenigen Gefühle, vermittelst welcher wir nicht die Modifikationen unsrer Seelenkräfte, sondern die Seele selbst und ihre Kräfte in uns entdecken. Nur dieser Theil unsers innern Sinns belehret uns von dem Daseyn eines Theils in uns, der da denkt, und will. Hätten wir diese Gefühle nicht, so könten wir schlechterdings nicht wissen, daß wir eine Seele haben.395

Hißmann legt im ausdrücklichen Gegensatz zu Meiners Wert darauf, daß das Gefühl der Personalität nur diachron sein kann, sich also nicht auf eine Vereinigungsleistung des Subjekts gegenüber einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen bezieht.396 Der Grund für dieses Verdikt ist wohl darin zu sehen, daß sich für Hißmann aus der synchronen Einheit der Vorstellungen das Hauptargument für die Einfachheit der Seele ergibt.397 Hißmann tendiert demgegenüber — wie Meiners auch — zu einer Bündeltheorie des Ich. Es müsse, so Hißmann, beachtet werden, daß unser Gefühl der Personalität kein Gefühl der Identität des Subjekts ist; letzteres sei "physisch unmöglich": 392

"Menschen von gesunden Organen haben allemal das Gefühl der Personalität, so oft sie das Gefühl ihres gegenwärtigen Daseyns haben. Keine Empfindung, kein Gedanke komt ganz abgerissen in unsre äußern und innern Organen hinein. Wir haben nie eine Vorstellung, die sich mit keiner einzigen verknüpfen lassen solte, weil die Gehirnfibern, die durch die Vorstellungen gerührt, und in denen sie aufbewahrt werden, auf das genaueste mit einander verknüpfet sind." (Hißmann [1777] 147) 393 Hißmann [1777] 128. 394 Hißmann [l777] 129,132. 395 Hißmann [1777] 135. 396 Diese abgelehnte Position charakterisiert Hißmann so: "Person, in dieser Bedeutung ist daher das Etwas, das diese gleichzeitigen Veränderungen der inneren und der äußeren sinnlichen Werkzeuge mit Bewustseyn wahrnimt." (Hißmann [1777] 156) 397 "Man hat also die Einfachheit des Bewustseyns für den Hauptbeweis des Wesens, das sich bewust ist, angesehen, und noch gestehen die besten Vertheidiger der Lehre von der Einfachheit der Seele, daß mit dem Ruin dieses Beweises zugleich die ganze Lehre über einen Haufen fallen müsse." (Hißmann [1777] 157)

Johann Bernhard Merian

101

Allein wir können gar nicht fühlen, daß wir, die wir jezt sind, noch gerade dieselbige Personen seyn, die wir ehedem waren.398

Legitimerweise kann jemand nur von einem "Gefühl der Einheit seiner Person" ausgehen, das all die früheren Vorstellungen einschließt, an die er sich noch erinnert und die er sich noch selbst zuschreiben kann.399 Dieses Gefühl der "Einheit der Person" ist danach stets veränderlich und erstreckt sich genau so weit, wie das Gedächtnis reicht.400

4.4 Johann Bernhard Merian

Johann Bernhard Merian, Mitglied der Berliner Akademie und nach Formeys Tod deren Sekretär, hat zum Problem des Bewußtseins nur zwei Artikel verfaßt.401 Daß ihm hier dennoch größere Aufmerksamkeit gewidmet wird, hat zwei Gründe: Zum einen kritisiert er in diesen Artikeln Wolffs Bewußtseinstheorie, zum anderen plädiert er nachdrücklich dafür, Apperzeption nicht als reflexive Aktivität zu verstehen, sondern als eine solche, die unmittelbar mit den Vorstellungen einhergeht.402 Er spricht in diesem Zusammenhang von "ursprünglicher Apperzeption", ein Ausdruck, der sonst nur von Kant her vertraut ist.403 398

Hißmann [1777] 148. Physisch unmöglich soll das Gefühl der Identität deshalb sein, "weil unsre Seele das unwandelbare und unveränderliche Wesen nicht ist, wofür man es in den heutigen gangbaren psychologischen Systemen zu halten pflegt." (Hißmann [l 777] 149) Das ist allerdings kein sonderlich gutes Argument, weil es einfach die Prämisse der Immaterialisten bestreitet. 399 Hißmann [1777] 151. 400 "Wir fühlen die Einheit (nicht die Einerleyheit oder Einfachheit) unsrer Person immer, wenn wir während eines gewissen Zeitraums unsers Lebens uns gewisser Empfindungen, Vorstellungen und Handlungen bewust sind, und dabey uns bewust sind, daß wir die Eindrücke empfunden, die Vorstellungen gehabt, und die Handlungen ausgeübt haben." (Hißmann [1777] 151) 401 Merian [1749a/d] und Merian [1749b/d]. Beide Artikel werden hier nach der 1778 von Michael Hißmann im Magazin für die Philosophie und ihn Geschichte herausgegebenen deutschen Übersetzung zitiert. Weitere Angaben zu Merians Werk und zu seiner Tätigkeit an der Berliner Akademie finden sich bei Harnack [1900] 1,1, 455. 402 Zu diesen beiden Aspekten vgl. Thiel [1996] und [2001 b] 473 f. sowie Frank [2002] 154-171. Das Verhältnis von Merians Bewußtseinstheorie zu Descartes und Ixacke wird von Baertschi [1996] beleuchtet. Über Merian im allgemeinen vgl. weiter Altmann [1969] 68-72, Häseler [1996], über seine Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus Gawlick & Kreimendahl [1987] 90 f., Laursen [1996] und Laursen [1997]. 403 Merian[1749a/d]117.

102

Empiristische Theorien

Merian beschäftigt sich in dem ersten der beiden Artikel mit der Frage, ob Apperzeption auf Reflexion beruht oder unmittelbar mit dem zusammen gegenwärtig ist, was apperzipiert wird. Merian plädiert mit Nachdruck dafür, sie als unmittelbar anzusehen: Wir halten es für gut, die Apperzeption in unsern Untersuchungen für unmittelbar anzusehn, und das nicht blos in Ansehung der Unabhängigkeit, die die apperzipirten Gegenstände von allen vorhergehenden Apperzeptionen haben; sondern auch, in so ferne sie der Seele in der Bedeutung unmittelbar gegenwärtig sind, in welcher ihr alle Gedanken, ohne Ausnahme, gegenwärtig sind, die man alle im Augenblick ihrer Apperzeption so ansehn kann, als wenn sie von dem, was in der Seele folgt, oder was in ihr vorhergegangen ist, völlig abgerissen wären.404

Apperzeptionen sollen danach also unmittelbar mit den Vorstellungen zusammen eintreten und nicht von vorhergegangenen Apperzeptionen abhängen, und sie sollen der Seele in keiner anderen Weise gegeben sein als die Vorstellungen selbst. Zugleich bedeutet Unmittelbarkeit für Merian auch, daß gegenwärtige Apperzeptionen von früheren Apperzeptionen unabhängig sind. Damit richtet er sich gegen alle Theorien, die Gedächtnis als Bedingung der Apperzeption behandeln. Nun gibt es Merian zufolge drei Arten von Gegenständen, die unmittelbar apperzipiert werden können, nämlich uns selbst, unsere Ideen und unsere Handlungen. Wie hier deutlich zu sehen ist, identifiziert er also keineswegs die Apperzeption mit einem Bewußtsein unserer selbst, sondern das "conscium sui" ist eine Art der Apperzeption unter anderen, es ist "die Apperzeption unsrer eignen Existenz".405 Merian strebt keine umfassende Erklärung für Selbstbewußtsein im allgemeinen an, sondern konzentriert sich vor allem auf einen Aspekt, nämlich die Frage, wie sich aufgrund des Selbstbewußtseins unsere eigene Existenz beweisen läßt: "Ich weiß, daß ich existire; wie bin ich dazu gekommen, mich hievon zu überzeugen?"406 Daß wir uns unserer eigenen Existenz unbezweifelbar gewiß sind und daß dies auf das Bewußtsein unserer selbst zurückzuführen ist, steht für Merian nicht in Frage; was in Frage steht, ist vielmehr die Art und Weise, wie dieses Wissen zustande kommt und wie es gerechtfertigt werden kann.407 Er setzt sich dabei zunächst mit demjenigen Verständnis des cartesischen "Cogito, 404

Merian [1749a/d] 95. Merian [1749a/d] 96. 406 Merian[1749a/d]96. 405

Johann Bernhard Merian

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ergo sum" auseinander, für das dieses ein abgekürzter Syllogismus ist, richtet sich aber auch gegen ein reflexives Verständnis der Apperzeption überhaupt, dagegen also, "meine Existenz ... mittelst des Räsonnements oder der Reflexion" zu erkennen.408 Allerdings wird kein prinzipieller Unterschied der beiden Verfahrensweisen angegeben, was sich dahingehend auswirkt, daß in die Diskussion des syllogistischen Verfahrens des öfteren Argumente gegen Reflexion im allgemeinen einfließen. Das cartesianische Enthymem vervollständigt Merian so: Alles, was denkt, existirt. Ich denke. Folglich existire ich ... 409

Christian Wolff ist ein prominenter Vertreter der Ansicht, daß die cartesische Formel als Schluß zu verstehen ist, und er schlägt selbst eine Vervollständigung vor, die sich von Merians allerdings unterscheidet. Die Gewißheit dieses Syllogismus ist für Wolff zugleich Grund dafür, das syllogistische Verfahren insgesamt für überlegen zu halten.410 Merians Haupteinwand gegen den Syllogismus ist, daß er auf einer Petitio principii beruht, denn der Untersatz könne nicht gedacht werden, ohne die Conclusio vorauszusetzen. Weiterhin wendet er ein, daß der Untersatz Resultat einer Reflexion ist, denn "Ich denke" könne man nur sagen, wenn man vorher schon etwas gedacht hat.411 Reflexion hält Merian aber ebenso wie die syllogis tische Lehrart für ein ungeeignetes Mittel, die Evidenz der Existenz unserer selbst auszudrücken, es gibt also keine "zurückgehende Apperzeption".412 Sowohl unmittelbare als auch mittelbare Reflexion setzen Merian zufolge das conscium sui schon voraus und können daher nicht erklären, wie es zustande-

407

"Gern gebe ich zu, daß keine Gewißheit die Gewißheit von unserm eignen Daseyn übersteigt; das leugne ich hingegen, daß sie von der Stärke irgend einer Demonstration herrühre." (Merian [1749a/d] 102) 408 "Räsonnement" oder "Raisonnement" im engeren Sinne war ein Ausdruck für die syllogistische Darstellungsweise, vgl. Walch [PL] 2, 541 oder Krug [AHW] 3, 417. m Merian [1749a/d] 98. 410 Wolff [1720/11] 4 § 6. Merian meldet später Zweifel an, ob Descartes selbst wirklich einen abgekürzten Schluß oder nicht doch eine sich intuitiv erschließende Wahrheit meint (Merian [1749a/d] 113). Wie der intuitive und zugleich folgernde Charakter der Cogito-Formel bei Descartes zu verstehen ist, ist auch in der gegenwärtigen Diskussion umstritten, vgl. etwa Hintikka [1962] oder Markie [1992]. 411 Merian [1749a/d] 99. Dieses Argument ist aus gegenwärtigen Diskussionen über die Reflexionstheorie des Bewußtseins vertraut, vgl. Henrich [1966], [1970], Frank [1991a]. 41 -Merian [l 749a/d] 117.

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Empiristische Theorien

kommt.413 Da weder Syllogismus noch Reflexion eine Erklärung anbieten, bleibt nur übrig, Apperzeption für unmittelbar zu halten: Daraus können wir nun mit Recht schließen, daß wir uns selbst unmittelbar und anschaulich apperzipiren. Auch erhellet hieraus, daß die Apperzeption seiner selbst der erste Akt, und ein wesentlicher Akt eines denkenden Wesens, als eines denkenden Wesens, ist; weil alle Kenntnisse diesen Akt voraussetzen, er hingegen ganz allein nichts voraussetzt.414

Diese Passage enthält zwei Thesen darüber, was die Apperzeption unmittelbar oder ursprünglich machen soll: (1) Wir apperzipieren uns selbst unmittelbar und anschaulich; (2) die Apperzeption unserer selbst ist der erste und wesentliche Akt eines denkenden Wesens. Für Merian ist die ursprüngliche Apperzeption deshalb ein wesentlicher Akt, weil die Vorstellung eines denkenden Wesens, das sich selbst nicht apperzipiert, "ungereimt und widersprechend ist". Jeder andere Gedanke ist dem denkenden Wesen gegenüber zufallig, das Selbstbewußtsein hingegen soll ihm notwendig und wesentlich zukommen: Wenn ich alle mögliche Ideen, die ich haben kann, durchgehe: so finde ich keine, die meiner Denkkraft so wesentlich wäre, daß ich mir nicht vorstellen könnte, derselben auf ewig beraubet seyn zu können; da hingegen die Vorstellung eines denkenden Wesens, welches sich selbst nicht apperzipiret, ungereimt und widersprechend ist.415

Die Vorstellungen sind Modifikationen des denkenden Wesens, und die Apperzeption seiner selbst ist seine einzige wesentliche Bestimmung. Würde es sich nicht selbst apperzipieren, so wäre es kein denkendes Wesen, und ohne denkendes Wesen könnten die Vorstellungen nicht existieren. Diese Beschreibung des denkenden Wesens als mit zufälligen und wesentlichen Eigenschaften ausgestatteter Entität läßt eine Affinität Merians zur traditionellen Substanzkonzeption der Seele erkennen. So spricht er auch von einer "apperzipierenden Substanz".416 Wesentlich ist nun die Frage, wieweit die traditionelle Seelentheorie in Merians Apperzeptionslehre einfließt. Udo Thiel hat argumentiert, daß Merians Apperzeptionslehre überhaupt nicht von der Seelenkonzeption abhängt.417 In der Tat spielen die üblichen Eigenschaften der See413

Worin der Unterschied von mittelbarer und unmittelbarer Reflexion bestehen soll, bleibt unklar. Vgl. aber eine Interpretation bei Thiel [1996] 222. 414 Merian [1749a/d] 119. Vgl. ibd. 107: "wenn es unmöglich ist, an seinem eignen Daseyn zu 2weifeln: so kann diese Unmöglichkeit nur davon herrühren, daß es eine anschauliche Wahrheit ist". 415 Merian [l 749a/d] 119.

Johann Bernhard Merian

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lensubstanz wie Immaterialitat, Identität oder Unsterblichkeit keine Rolle in Merians Theorie. Doch daß die Apperzeption allen Vorstellungen vorhergehen soll, ergibt sich bei Merian direkt aus seiner Bestimmung dessen, was die wesentliche Eigenschaft der Seelensubstanz sein soll, nämlich die Apperzeption ihrer selbst. Merian stimmt zwar mit Leibniz und Wolff nicht darin überein, welches die wesentlichen Eigenschaften der Seele sind, wohl aber stimmt er mit ihnen darin überein, daß die Seele überhaupt eine Substanz mit wesentlichen und zufälligen Eigenschaften ist, und seine Rede von "ursprünglicher Apperzeption" ergibt sich direkt daraus, welche Eigenschaft er als die wesentliche ansieht. Daß "alle Kenntnisse diesen Akt [seil, der Apperzeption] voraussetzen, er hingegen nichts voraussetzt" ist bei Merian kein Resultat einer transzendentalen Überlegung über die Bedingungen der Möglichkeit des Denkens, sondern folgt aus der wesentlichen Bestimmung der Seele und hängt insofern mit der traditionellen Seelenlehre zusammen.418 Aus dieser wesentlichen Bestimmung der Seele ergibt sich auch, daß für Merian die in der Leibruz-Wolff-Tradition gängige Annahme von Vorstellungen ohne Bewußtsein nicht in Frage kommt. Ein großer Teil von Merians zweitem Artikel zum Bewußtseinsproblem handelt von diesem Thema.419 Konsequenterweise bezeichnet er dort die Theorie der dunklen Vorstellungen als sinnlos, denn wenn man die Seele durch die Apperzeption definiert, dann kann sie in der Tat in keinem angebbaren Sinn nicht-apperzipierte Vorstellungen "haben".420 Merian ist sich im klaren darüber, daß seine Apperzeptionstheorie nicht mit dem Wölfischen Bewußtseinsbegriff vereinbar ist, und dementsprechend muß er eine alternative Erklärung entwickeln. Er interpretiert Wolff zunächst so, daß dieser Apperzeption einfach synonym 416

Merian [1749a/d] 121 f. Vgl. ibd. 123: "Wir können alle Gedanken, und überhaupt alle Operationen unsrer Seele, gleichsam in der Entfernung betrachten; weil sie vorübergehende Modifikationen sind, die wir uns als vergangen denken, wenn wir uns derselben erinnern, oder wenn wir darüber reflektiren. Nicht so verhält es sich mit der Substanz, die, weil sie bleibend ist, und sich selbst zugehöret, ihre Existenz weder in der vergangenen Zeit, noch in der Entfernung betrachten, noch einen Gesichtspunkt außer ihr selbst wählen kann." Erstaunlicherweise meint Merian hier Lockesche Gedanken wiederzugeben. 417 "Conversely, his argument concerning the original apperception of one's own existence do not depend in any way on his belief that the self is a mental substance or soul." (Thiel [1996] 231) In Thiel [2001b] 476 wird das als eine der wesentlichen Gemeinsamkeiten von Merians und Kants Apperzeptionstheorie bezeichnet. 418 Merian [l 749a/d] 119. 419 Merian [l749b/d] 155 ff. 420 Merian [1749b/d] 169.

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Empiristische Theorien

für Bewußtsein verwendet hat, und gibt die aus der Deutschen Metaphysik bekannten Bestimmungen als verbindlich an:421 Gegenstände apperzipieren heiße nach Wolff, sie zu unterscheiden, und sich selbst apperzipieren, sich von irgendeiner anderen Sache zu unterscheiden. Merian gesteht zu, daß man Dinge bzw. sich selbst von anderem unterscheidet, wenn man apperzipiert; daraus folge aber nicht, daß die Apperzeption aus dem Unterscheiden folgt; Apperzeption und Unterscheidungsvermögen könnten auch einfach koexistieren.422 Seine eigene Ansicht ist, daß vielmehr umgekehrt das Unterscheiden Apperzeption voraussetzt, und er faßt zusammen: Wenn man also die Sache recht ansieht: so findet kein Unterscheiden ohne Apperzeption Statt; die Apperzeption hingegen ist vom Unterscheiden völlig unabhängig, und sie geht vor ihm, wie vor einem jeden ändern Seelenvermögen voraus. Auf das conscium sui läßt sich dasjenige, was von der Apperzeption überhaupt wahr ist, leicht anwenden ... 423

Neben der Apperzeption unserer selbst sollten, so Merian zu Beginn des ersten Artikels (Merian [1749a/d]), auch Ideen und Handlungen apperzipiert werden können. Während über die Apperzeption von Handlungen nichts weiter zu erfahren ist, wird im zweiten Artikel (Merian [1749b/d]) der Unterschied zwischen der Apperzeption unserer selbst und der Apperzeption der Ideen hervorgehoben. Eine Idee zu haben oder etwas zu apperzipieren bedeutet danach nicht, sich seiner selbst bewußt zu sein. Jedoch kann man sich ein denkendes Wesen oder eine Seele nicht ohne Apperzeption ihrer selbst vorstellen, und daher ist indirekt alles, was man apperzipiert, mit der "Adapperzeption" oder "Koapperzeption" seiner eigenen Existenz verbunden.424 Es wird nicht diskutiert, inwieweit auch die Apperzeption der Ideen 421

Er zitiert falsch aus Wolffs Deutscher Metaphysik und ersetzt einfach "Bewußtsein" durch "Apperzeption" (Merian [1749a/d] 124 f.). Udo Thiel deutet diesen Sachverhalt so, daß Merian damit zum Ausdruck bringen will, daß sein Begriff der Apperzeption weiter ist als der Wolffs und dessen Begriff des Bewußtseins (der sich auf Objekte richtet und nicht nur wie der Begriff der Apperzeption auf Vorstellungen) einschließt (Thiel [1996] 220). 422 Merian [l 749b/d] 125 f. 423 Merian [1749a/d] 128. Thiel [1996] 225 zufolge unterscheidet sich Merians Theorie sowohl von Wolffs als auch von Rüdigers: Gegen Wolff argumentiert Merian, daß wir von der eigenen Existenz nicht durch Schlüsse und Reflexionen wissen; das conscium sui ist bei jedem Akt schon vorausgesetzt. Rüdiger behauptet, daß wir uns unserer selbst nicht bewußt sind, wenn wir uns unserer geistigen Aktivitäten nicht bewußt sind. Das impliziert, daß es ein Bewußtsein von den eigenen Aktivitäten ohne Selbstbewußtsein gibt. Merian dagegen sagt, daß Selbstbewußtsein ursprünglich und unabhängig vom Bewußtsein der eigenen Aktivitäten ist.

Dieterich Tiedemann

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unmittelbar ist oder auf Reflexion basiert, wiewohl man vermuten kann, daß auch sie unmittelbar sein soll. Abgesehen von der ursprünglichen und grundlegenden Apperzeption unserer selbst hat Merian noch eine weitere Form einer abgeleiteten Apperzeption unserer selbst beschrieben. So kann ich, wenn ich mich selbst zusammen mit einem Gegenstand apperzipiere, mir durch einen Reflexionsakt im nachhinein klar machen, daß ich es bin, der den Gegenstand apperzipiert hat.423 Als zusammenfassenden Ausdruck für die verschiedenen Apperzeptionsarten verwendet Merian gelegentlich die "Apperzeption überhaupt".426

4.5 Dieterich Tiedemann Dieterich Tiedemann argumentiert in seinen Untersuchungen über den Menschen recht eigenständig auf empiristischer Grundlage. Er bezieht sich oft auf Fallbeispiele aus der Psychologie, die nicht nur zur Illustration dienen wie in den meisten wolffianischen Lehrbüchern, sondern vielmehr als Prüfsteine für die Theorien fungieren.427 So hält er beispielsweise die Existenz unbewußter Gemütszustände deshalb für erwiesen, weil sie eben durch zahlreiche Fälle belegt ist, und Tiedemann mißt die unterschiedlichen Theorien daran, wie sie diese Tatsache erklären können. Tiedemann ist später als empiristischer Kritiker Kants, Fichtes und Schellings bekannt geworden.428 424

"Man wird aus jenem Aufsatz haben abnehmen können, daß es etwas anders ist, sich seiner selbst bewußt seyn, und wiederum etwas anders, Perzeptionen haben, die von seinem Selbst verschieden sind, und daß der Ausdruck, eine Idee haben, gar nicht bedeutet, sich seiner selbst bewußt seyn, man habe eine Idee, oder sich seiner selbst bewußt seyn, indem man apperzipiret; wenn man sich gleich ein denkendes Wesen, oder die Seele, in so fern sie denkt, nicht vorstellen kann, sobald sie aufhöret, sich selbst zu apperzipiren; so daß eben deswegen alles, was man apperzipiret, mit der Adapper^eption oder der Koapper^eption seiner eignen Existenz vergesellschaftet ist." (Merian [1749b/d] 139 f.) 425 "Nur nach einem Reflexionsakt, und nachdem ich das Bewußtseyn meiner selbst mit der Apperzeption des Objekts verbunden habe, weiß ich, daß ich es bin, der den Gegenstand apperzipirt hat." (Merian [1749a/d] 121) 426 Merian [l 749a/d] 128. 427 Vgl. etwa Tiedemann [1777] I 59 f. und 88 ff. Vgl. zu Ticdemanns Bewußtseinstheorie Grau [1916] 217. 428 Vgl. Tiedemann [1804]. Da ich Kants Rezeption nicht untersuche, gehe ich hier nicht näher darauf ein.

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Empiristische Theorien

Tiedemann setzt sich zunächst mit Descartes' Beweis für die eigene Existenz auseinander, den er — anders als etwa Merian - für überzeugend hält.429 Klärungsbedarf sieht er hinsichtlich der Frage, ob es angemessen ist, die verschiedenen Gemütszustände des Denkens, Wollens oder Imaginierens unter einen gemeinsamen Begriff zu fassen, und aus welchen Gründen dies möglich ist.430 Tiedemann entwickelt seine Position in der Diskussion von Descartes, Leibniz und den Sensualisten und kommt zu dem Ergebnis, daß alle Gemütszustände in einen allgemeinen Begriff "zusammenlaufen": "sie vereinigen sich in den Begriff der Vorstellungs-Kraft; entwickeln sich aber aus Empfindungen."431 Die Gemütszustände fallen aber nicht nur unter den allgemeinen Begriff der Vorstellungskraft, sondern sind auch der Sache nach die "nähern Einschränkungen und Bestimmungen dieses logisch angenommenen Principiums".432 Dies ergibt sich Tiedemann zufolge daraus, daß keine Seelenkraft isoliert wirkt, sondern immer im Zusammenhang mit anderen Seelenkräften steht. So sollen sich etwa Störungen der Einbildungskraft auf das Urteilsvermögen auswirken oder kein Urteil ohne Gedächtnis möglich sein.433 Daraus ergibt sich, ... daß nicht nur alle Seelen-Kräfte sich unter einem einzigen Begriff zusammen faßen laßen; sondern daß sie auch in der That nichts als Einschränkungen einer einzigen Grund-Kraft sind.434

Diese Grundkraft ist die Vorstellungskraft, und sie soll wie bei Leibniz und Wolff "die erste und ursprüngliche" Seelenkraft sein.435 Tiedemann geht von einem physischen Einfluß des Körpers auf die Seele aus und wendet sich insofern kritisch gegen Leibniz' und Wolffs Lehre 429

"Zweyerley Arten von lauten haben ihn [seil. Descartes] deswegen getadelt, Nicht-Denker und Sophisten. Nicht-Denker, weil sie es für pedantisch und lächerlich hielten, etwas beweisen zu wollen, das ihnen keines Beweises zu bedürfen schien; Sophisten, weil sie den Satz, ich bin, für eben so einleuchtend einsahen, als den, ich denke, und folglich ihn unfähig erklärten, aus dem letztern bewiesen zu werden. Beyde haben sich in ihrem Urtheile übereilt" (Tiedemann [1777] I 3 f.). Tiedemann geht allerdings nicht auf Merians Diskussion des Beweises ein. 430 « 1) Laßen sie sich alle unter einen gemeinschaftlichen Begriff fassen; 2) sind sie alle Aeußerungen einer einzigen Grund-Kraft; 3) sind sie alle miteinander verbunden." (Tiedemann [1777] 19) 431 Tiedemann [1777]! 14. 432 Tiedemann [l 777] I I 6 . 433 "Niemahls wirkt also eine Seelen-Kraft für sich allein, immer arbeiten sie mit einander, an einander, und durch einander." (Tiedemann [1777] 118) 434 Tiedemann [l 777] 118. 435 Tiedemann [l 777] 120.

Dieterich Tiedemann

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von der prästabilierten Harmonie.436 Vorstellungen erhalten wir vermittels unserer Organe, und daher gilt: Alle Versuche, die Natur der Dinge unabhängig von unserm jetzigen Organen-Baue aufzudecken, sind daher nothwendig vergeblich ... 437

Damit wir Vorstellungen haben können, müssen also Gegenstände von außen auf den Körper wirken, oder unser Körper muß selbst innerlich wirksam sein, und "so ist es ausgemacht, daß alle Ursachen von Vorstellungen außer der Seele Hegen".438 Tiedemann bemüht sich als einer der wenigen, genauer zu bestimmen, was es eigentlich heißen soll, daß man etwas als außer sich vorstellt, während Wolff beispielsweise diese Möglichkeit in der Deutschen Metaphysik ohne weitere Erklärung voraussetzt.439 Tiedemann unterscheidet zwischen Gegenständen außer uns und Gegenständen in uns. Er macht deutlich, daß "sich etwas außer sich vorstellen" vernünftigerweise nicht bedeuten kann, "eine Vorstellung von einer Sache außer sich haben unabhängig von allem Eindrucke der Sache auf die Seele". Vielmehr sei es so zu verstehen, daß man den "Gegenstand, der die Modifikation hervorbringt, als außer sich existierend" denkt: ... die Modifikation, die der Gegenstand in uns hervorbringt, wird als nicht in unserer Seele existierend vorgestellt.440

Auch einige Gegenstände in uns werden Tiedemann zufolge von der Seele unterschieden, nämlich solche, die wir, wie beispielsweise bildliche Vorstellungen, als Repräsentationen von äußeren Dingen ansehen. Von diesen "Schatten-Bildern" äußerer Dinge sind solche Vorstellungen wie Freude, Trauer, Gedächtnis oder Urteil zu unterscheiden, die 436

"Der Zustand des Körpers; wir müßten allen Erfahrungen und Empfindungen widersprechen, wenn wir läugnen wollten, daß der Körper in diesen Fällen Einfluß auf die Seele hat; die Erfahrung sagt uns, daß bey Ohnmächten, Ermüdungen, dem Anfange des Schlafes in unserm Körper große Veränderungen vorgehen; sie sagt uns, daß auf diese Veränderungen auch die des Bewußtseyns unausbleiblich folgen; daß endlich die Seele niemahls von selbst, und ohne eine äusere Veränderung in die Zustände kömmt, in den sie sich bey Ohnmächten, Ermattungen, Anwandlung des Schlafes befindet" (Tiedemann [1777] I 63). 437 Tiedemann [l 777] 176. 438 Tiedemann [1777] I 23 f. Auf dieser Grundlage läßt sich auch der Begriff der Vorstellungskraft näher bestimmen als "die Kraft, sich der Modifikationen von äusern Dingen in so fern bewußt zu seyn, als diese Dinge auf die Organe wirken und wirken können; der Modifikationen von innern Gegenständen, in so fern als sie aus den Gesetzen der Wirksamkeit der Seele folgen." (Tiedemann [1777] I 80) 439 Vgl. Wolff [1720/11] 454 § 729 f. sowie Kap. I 2.1 in dieser Untersuchung. 440 Tiedemann [l 777] 126.

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im engeren Sinne "Modifikationen der Seele" selbst sind. Tiedemann spricht oft von "Modifikationen der Seele" anstatt von Vorstellungen im allgemeinen und verbindet damit auch einen systematischen Sinn.441 Er löst den Streit über die Existenz dunkler Vorstellungen nämlich so auf, daß einerseits zwar alle Vorstellungen bewußt sein sollen, andererseits aber die Existenz unbewußter "Modifikationen" der Seele zugestanden wird.442 Danach sind Modifikationen der Seele also entweder unbewußt (dunkel) oder bewußt, und eine bewußte Modifikation der Seele ist eine Vorstellung. Die Seele wird stets modifiziert, sie ist sich aber nicht immer der Modifikationen bewußt.443 Das Bewußtsein der Modifikation wird als Aktivität der Seele verstanden: Außer der Modifikation gehört auch das Bewußtseyn zur Vorstellung, und daß die Seele sich etwas bewußt ist, ist kein Leiden, sondern Thätigkeit.444

Tiedemann will mit diesen Mitteln auch den Streit zwischen Locke und Leibniz über die Frage auflösen, ob die Seele immer denkt. Der Streit beruht, so Tiedemann, auf einer Begriffsverwirrung, die Streitenden ... verbinden mit dem Worte denken, nicht einerley Begriffe ... Cartesius nemlich und Leibniz den, von Modifikationen ohne Bewußtseyn; Locke hingegen den, von Modifikationen mit Bewußtseyn ... 445

Tiedemann wendet sich ausdrücklich gegen Wolffs Bewußtseinserklärung, und zwar aus folgendem Grund: Diejenigen Philosophen, die versucht haben, es in eine Definition zu bringen, haben durch ihr Beyspiel bewiesen, daß dies unmöglich ist; das Unterscheiden einer Vorstellung von der ändern, in welchem sie das Bewußtseyn beste441

Tiedemann [1777] I 27. Nach Grau [1916] 214 hat Tiedemann damit als erster den "starren Perzeptionalismus" der Wolff-Schule überwunden. Kant spricht nur an einer Briefstelle von "modificationen der Seele" (AA 10,130), öfter aber von "Modifikationen unserer Sinnlichkeit" (A 491 B 519) oder "Modifikationen des Gemüts in der Anschauung" (A 97). 442 "Das Bewußtseyn, daß man eine Vorstellung hat, gehört so unzertrennlich zu jeder Vorstellung, daß sich ohne dieses keine Vorstellung im eigentlichen Verstande denken läßt" (Tiedemann [1777] I 41) — andererseits kann die Existenz von Unbewußtem in der Seele nicht ernsthaft bestritten werden: Leibniz habe "ihr Daseyn zuerst bewiesen" (ibd.). 443 " ... die Seele hat immer Modifikationen, sie weiß aber nicht immer, daß sie sie hat; sie denkt nicht immer, sie ist aber immer auf eine gewiße Art modificiert." (Tiedemann [1777] I 53) 444 Tiedemann [1777] I 44. Die Entstehung der Vorstellungen wird so erklärt: "ein äuserer oder innerer Gegenstand modificiert die Seele, daraus entsteht Bewußtseyn, daß eine Veränderung vorgegangen ist, und daraus, durch eine neue Anstrengung der Seele, die Bemerkung der Veränderung selbst, und diese letzte ist eigentlich die Vorstellung." (Tiedemann [l 777] 194) 445 Tiedemann [l 777] 147.

Dieterich Tiedemann

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hen laßen, kommt eigentlich dem Urtheile zu, und Bewußtseyn ist nicht Urtheil. Ein wenig mehr Aufmerksamkeit auf diesen Begriff würde sie gelehrt haben, daß er sich nur fühlen, nicht definiren läßt: man mag ihn faßen wie man will: so entwischt er entweder, oder verwickelt sich in andere Begriffe, mit denen er nicht vermischt werden darf.446

Tiedemann weist also Wolffs Erklärung mit dem Argument zurück, daß das Unterscheiden die Form des Urteils voraussetzt, und hält es darüberhinaus generell für unmöglich, den Begriff des Bewußtseins zu definieren. Neben Wolffs Definition diskutiert er in diesem Zusammenhang die Versuche, Bewußtsein als Gefühl oder Wissen zu bestimmen.447 Der Gehalt des Bewußtseinsbegriffs soll nur dem Gefühl, nicht aber einer Definition zugänglich sein. Wenn wir uns einer Sache bewußt werden, dann "lehrt uns das innere Gefühl, wir bemerken Anspannung, Richtung der Seele auf eine Modifikation".448 Daß das Bewußtsein keiner Definition fähig sein soll, scheint insbesondere daran zu Hegen, daß Bewußtsein leicht mit anderen verwandten Begriffen konfundiert werden kann — wie eben dem des Urteils — und zugleich in Verbindung mit den unterschiedlichsten Gemütsregungen auftritt. Die Idee des Bewußtseins, soviel läßt sich Tiedemann zufolge immerhin sagen, ist einfach; sie ist ... so einfach, daß sie unmöglich in andere aufgelöset, unter ein Genus gebracht, und folglich definiert werden kann ... 449

Was eine Modifikation der Seele ist, soll sich im übrigen ebensowenig definieren lassen.450 Tiedemann verfährt allerdings selbst nicht ganz konsequent. Aus einigen Äußerungen läßt sich entnehmen, daß er Bewußtsein doch als Wissen von den eigenen Vorstellungen versteht. Das ist zum Beispiel an seiner Behauptung zu sehen, daß eine Modifikation der Seele manchmal mit und manchmal ohne Bewußtsein auftritt,

446

Tiedemann [l 777] 153 f. "Sagt man Bewußtseyn ist Gefühl: so verirrt man sich in einen Zirkel, wenn man das Gefühl definiren soll, denn Gefühl läßt sich nicht ohne Bewußtseyn denken: sagt man, es ist Wißen, oder Ueberzeugung davon, daß man einen Gedanken hat; so verstrickt man sich in den Begriffen des Wißens und der Ueberzeugung, denn was ist Ueberzeugung anders als Bewußtseyn?" (Tiedemann [1777] I 54) 448 Tiedemann [l 777] 144. 449 Tiedemann [l 777] 144. 450 Tiedemann [l 777] I 69 f. 447

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Empiristische Theorien

... heißt, manchmahl wißen wir es, daß wir so oder so modificiert sind, manchmahl auch nicht.451

Doch selbst wenn Tiedemann diese Erklärung durchgängig unterstellt haben sollte, wäre er in der Tat als eine der wenigen Ausnahmen im deutschsprachigen Raum zu notieren, die Bewußtsein grundsätzlich nicht als Unterscheiden verstehen. Auch in seinem posthum erschienenen Handbuch der Psychologie vertritt Tiedemann die Ansicht, daß das Bewußtsein einfach und unanalysierbar und daher keiner weiteren Begriffserklärung fähig ist. Interessanterweise hatte Tiedemann anscheinend auch den Eindruck, daß er mit dieser Ansicht allein ist und alle anderen Erklärungen Bewußtsein als Unterscheiden verstehen.452 Gegen die Unterscheidens-Definition setzt Tiedemann nun auch eine Überlegung ein, die von Rüdiger und Crusius bekannt ist, nämlich daß das Unterscheiden schon Bewußtsein voraussetze und nicht umgekehrt. In Übereinstimmung mit Wolff befindet sich Tiedemann jedoch in der Annahme, daß Aufmerksamkeit eine der Bedingungen für Bewußtsein ist.453 Tiedemann unterscheidet grundlegend zwischen dem Bewußtsein von Gegenständen und dem Bewußtsein unserer selbst als den "zwo Haupt-Gattungen". Das Selbstbewußtsein versteht er als ein Bewußtsein von unserer Existenz.454 Auch hierin unterscheidet sich Tiedemanns Ansatz von dem Wolffs. Dagegen ist sowohl Wolff als auch Tiedemann zufolge das Selbstbewußtsein nicht ursprünglich und unmittelbar, sondern eine Folge des Gegenstandsbewußtseins: Das Bewußtseyn unsers Daseyns ist eine Folge des erstem [sc. Gegenstandsbewußtseins], denn eben dadurch daß wir uns bewußt sind, wir haben eine gewiße Modifikation, sind wir uns auch bewußt daß wir existieren; und dadurch daß das Bewußtseyn einzelner Veränderungen fortgesetzt wird, sind wir uns bewußt daß wir fortfahren zu existieren.455

451

Tiedemann (l 777] 140. - "Die Erklärungen gehen alle darauf hinaus, daß das Bewußtseyn in einem Unterscheiden besteht" (Tiedemann [1777] l 24); er diskutiert Leibni2 und Reinhold als Vertreter zweier unterschiedlicher Varianten dieser Erklärung. 4 " "Das Bewußtseyn einer gewißen Modifikation scheint mir aus der Richtung der Seele auf sie zu entstehen" (Tiedemann [1777] I 55). Vgl. Wolff [1732/2] 20. 454 "Zwo Haupt-Gattungen sind mir bisher davon vorgekommen 1) Bewußtseyn daß wir an eine gewiße bestimmte Sache denken, eine gewiße bestimmte Modifikation erfahren, und 2) Bewußtseyn unsers Daseyns." (Tiedemann [1777] I 54 f.) 455 Tiedemann [l 777] 156. 45

Johann Jacob Hentsch

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Hier ist zu sehen, daß Selbstbewußtsein für Tiedemann auch ein Bewußtsein von der eigenen Identität in der Zeit ist. Ausdrücklich wendet er sich auch gegen die Ansicht, man könnte Selbstbewußtsein haben, bevor man ein Bewußtsein von Dingen hat.456

4.6 Johann Jacob Hentsch In seinem Versuch über die Folge der Veränderungen in der menschlichen Seele von 1756 argumentiert Johann Jacob Hentsch recht früh auf empiristischer Grundlage.457 Es ist für Hentsch unstrittig, daß uns die in uns selbst vorgehenden Ereignisse zugänglich sind, und daß wir auf ihrer Grundlage Gesetzmäßigkeiten erkennen können, die gegenüber denen der Naturlehre gleichberechtigt sind.458 Gedanken richten sich nach Hentsch teils auf Sachen außer uns, teils auf Sachen in uns. Die Sachen außer uns sind alle körperlichen Dinge, die die Sinne berühren, die Sachen in uns alle Veränderungen, die wir in uns selbst wahrnehmen. In beiden Fällen sagen wir, daß wir uns der Gedanken bewußt sind, wenn wir sie voneinander unterscheiden — die von Wolff bekannte Bewußtseinserklärung. Hentsch diskutiert die theoretische Möglichkeit, daß wir über kein Vermögen verfugen, den Unterschied der Dinge wahrzunehmen. In diesem Fall, so Hentsch, "könnten zwar die Abdrücke der Sachen in uns wirklich geschehen; allein wir würden von allen dergleichen Veränderungen nichts wissen" und über kein Bewußtsein verfugen. Damit wird das Bewußtsein zu einem "untrüglichen Merkmaale" unserer Gedanken.459 Zwar schließt sich Hentsch soweit der wolffianischen Bewußtseinserklärung an, er sieht sie jedoch nur als eine Erläuterung und eben nicht als eine zufriedenstellende Erklärung des Bewußtseins an, weil "sich seiner Gedanken bewußt sein" und "seine J

* Tiedemann [l 804] 25. So sollen wir Hentsch [1756] 5 zufolge vermittels der Sinne zur Kenntnis der Sachen außer uns gelangen. Er bezieht sich ibd. 17 auf eine der seit 1701 verfügbaren lateinischen Übersetzungen von Lockes Essay. 458 "Denn einmal haben wir unstreitig ein Vermögen, die in uns vorgehende Veränderungen zu empfinden. [...] Hernach lassen sich aus dergleichen Empfindungen, die wir von unsern eigenen Gedanken, und damit verknüpften Leidenschaften der Seele haben, allerhand Schlüsse ziehen, die, wenn sie nach den Regeln der Vernunftlehre formiret werden, eben die Gewißheit haben, welche man den Sätzen der Naturlehre, die sich auf Erfahrungen und Versuchen gründen, beyleget." (Hentsch [1756] 10) 459 Hentsch [l 756] 14. 457

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Empiristische Theorien

Gedanken unterscheiden" synonym zu verstehen sei.460 Weiterhin gehöre der Begriff des Bewußtseins zu den einfachen Begriffen, und aus eben diesem Grund ist keine Erklärung im eigentlichen Sinne möglich: Es gehöret vielmehr das Bewußtseyn unter diejenigen Begriffe der Sachen, die sich in keine einfachere mehr zergliedern, und also nicht weiter erklären lassen; ob ich gleich zugebe, daß man dergleichen erstere Begriffe, wie man sie nennet, durch gleichgültige Wörter erläutern könne ... 461

Zu den weiteren Synonymen, mithilfe derer man den Begriff des Bewußtseins erläutern kann, gehört auch der des inneren Sinnes, den Hentsch zugleich als das Vermögen, die Gedanken zu unterscheiden, bezeichnet.462 Wie im deutschen Empirismus üblich ist Hentsch von der wirklichen Existenz der Seele überzeugt. Die Seele sei ein notwendiges Wesen, weil die Gedanken nichts anderes als Veränderungen sind und daher ein Wesen benötigen, an dem sie sich ereignen. Aus der Existenz von Gedanken soll sich Hentsch zufolge also direkt auf die Existenz der Seele schließen lassen, und aus eben diesem Grund ist auch der cartesische Schluß auf die Existenz unserer selbst gültig.463

460

"Ich habe zwar das Bewaßtsey» durch den Unterscheid der Gedanken, den wir erkennen, zu erläutern gesucht; allein ich bin nicht gesonnen, dieses mit ändern für eine Erklärung des Bewußtseyns auszugeben." (Hentsch [1756] 14) 461 Hentsch [1756] 14. 462 In deutlicher Anknüpfung an Locke heißt es dazu: "Das mit unsern Gedanken vergesellschaftete Bewußtseyn wird von ändern der innerliche Sinn genennet, und von den sogenannten sinnlichen Werkzeugen des Leibes ... unterschieden. Es ist der innerliche Sinn in der That eben dasjenige, was wir das Beawßtsey» nennen, und daher ein Vermögen, die mancherley Gedanken von einander zu unterscheiden." (Hentsch [1756] 15) 463 "Derowegen machen wir mit Recht von den Gedanken auf die Seele den Schluß, und sind zugleich von unserm wirklichen Daseyn überführet, eben deswegen, weil wir denken." (Hentsch [1756] 16)

5 Etienne Bonnot de Condillac und Charles Bonnet Etienne Bonnot de Condillac ist für die vorliegende Untersuchung vor allem deshalb von Bedeutung, weil er in den bewußtseinstheoretischen Diskussionen der Zeit eine Extremposition einnimmt.464 Condillac behauptet, daß Bewußtsein lediglich eine Eigenschaft der Vorstellungen ist und demnach keine eigenständige Instanz; er lehnt auch Lockes "Ideas of reflection" ab. Er setzt sich nicht dabei nur mit Locke, sondern auch mit Leibniz auseinander und ist nach eigenem Bekunden auch mit den lateinischen Schriften Wolffs vertraut.465 Condillacs Theorie steht sowohl in konsequenter Opposition zu allen relationalen Bewußtseinstheorien als auch zu denjenigen, die zwischen den Vorstellungen und dem Bewußtsein von ihnen unterscheiden. Im Essai sur l'ongene des connoissances humaines beschreibt Condillac sein generelles Verfahren als eines der Ableitung aller mentalen Phänomene aus der Perzeption: D'un cote, je suis remonte a la perception, parce que c'est la premiere operation qu'on peut remarquer dans Tame; et j'ai fait vok comment et dans quel ordre eile produit toutes celles dont nous pouvons acquerir l'exerir l'exercice.466 464

So wird er z. B. bei Tetens [1777] I 7 diskutiert. Möglichen Einflüssen von Condillac auf Kant wird von Beal [1973] nachgegangen, während George [1981] die weitreichende These vertritt, daß Kants theoretische Philosophie insgesamt als eine komplexe Erweiterung des Sensualismus zu verstehen sei. Zu Condillacs Philosophie insgesamt vgl. Knight [1968] und Le Roy [1937). 465 Condillac [1749/R] 151, vgl. zu diesem Aspekt Hine [1979] 83-121. In seiner anonymen Einsendung zur Preisfrage der Berliner Akademie über die Monaden diskutiert Condillac Wolff ausführlich; auch Wolffs Bewußtseinsbegriffist ihm bekannt, vgl. Condillac [1748/B] 125-134. 466 Condillac [1746/R] 4B. Vgl. "II s'agit d'en developper les progres, et de voir comment elles [seil, les operations de Tarne] s'engendrent toutes d'une premiere qui n'est qu'une simple perception." (Condillac [1746/R] l OB) Im Tratte des sensations behauptet Condillac entsprechend, daß die Empfindung alle Seelenvermögen enthält: "La sensation renferme toutes les facultes de 1'ame." (Condillac [1754/R] 239B) Zu diesem Ansatz Condillacs und der damit verbundenen Kritik an Locke vgl. auch Mühlhaupt [1875] 2, Knight [1968] 29 f., Krüger [1973] 56-68, Duchesnau [1974], Davies [1990] 60 f.

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Kennzeichnend fur die Empfindungen oder Sinneseindrücke ist, daß sie sich aus einfachen Perzeptionen zusammensetzen.467 Dieser Ansatz ist unter anderem gegen Locke gerichtet, dessen "Ideas of reflection" nicht direkt aus der Empfindung abgeleitet werden. Condillac kritisiert, daß Locke und seine Nachfolger nicht konsequent der Genese aller Vorstellungen in der einfachen Perzeption nachgegangen sind: Ainsi, Tarne n'ayant pas, des le premier instant, l'exercice de toutes ses operations, il etoit essentiel, pour developper mieux l'origene de nos connoissances, de montier comment eile acquiert cet exercice, et quel en est le progres. II ne paroit pas que Locke y ait pense, ni que personne lui en ait fait le reproche, ou ait essaye de suppleer a cette partie de son ouvrage. Peut-etre meme que le dessein d'expliquer la generation des op6rations de l'ame, en les faisant naitre d'une simple perception, est si nouveau, que le lecteur a bien de la peine ä comprendre de quel maniere je l'executerai.468

Condillac leitet seinen Begriff der Reflexion diesem Verfahren gemäß über die Zwischenstufen des Bewußtseins und der Aufmerksamkeit aus den einfachen Perzeptionen ab. Eine Perzeption, aufgrund deren das Subjekt weiß, daß es Perzeptionen hat, bezeichnet Condillac als Bewußtsein (conscience);469 und die Operation, durch die der Grad des Bewußtseins im Hinblick auf eine Perzeption erhöht wird, wird Aufmerksamkeit genannt.470 Aus der Aufmerksamkeit soll sich wiederum die Reflexion ergeben,471 so daß Condillac nun eine über eine Ableitung 467

"La perception, ou l'impression occasionnee dans l'ame par l'action des sens, est la premiere de l'entendement." (Condillac [1746/R] l OB) 468 Condillac [1746/R] 5B. Condillacs Position wird in dieser Hinsicht in den späteren Schriften noch deutlicher, während seine Position im Essai als unentschieden angesehen wird, vgl. z. B. O'Neal [1996] 18. Besonders deutlich wird die Kritik an Locke im Extrait raisonne formuliert: "Locke distingue deux sources de nos idees, les sens et la reflexion. II seroit plus exact de n'en reconnoitre qu'une, soit parce que la reflexion n'est dans son principe que la sensation meme, soit parce qu'elle est moins la source des idees, que le canal par lequel elles decoulent des sens ... Cette inexactitude, quelque legere qu'elle paroisse, repand beaucoup d'obscurite dans son Systeme; car eile le met dans 1'impuissance d'en developper les principes." (Condillac [1754E/R] 325B) Vgl. auch Condillac [1754/R] 280A. 469 "II suffit dans celuici de remarquer que, de l'aveu de tout le monde, il y a dans Tame des perceptions qui n'y sont pas ä son insu. Or ce sentiment qui lui en donne la connoissance, et qui l'avertit du moins d'une partie de ce qui se passe en eile, je Pappellarai consdence" (Condillac [1746/R] 11 A) 470 "Quoi qu'il en soit, cette operation par laquelle notre conscience, par rapport ä certaines perceptions, augmente si vivement qu'elles paroissent les seules dont nous ayons pris connoissance, je 1'appelle attention." (Condillac [1746/R] 11B) 471 "La reflexion n'etant dans I'origene que 1'attention meme, on pourroit la concevoir de maniere qu'elle auroit lieu avec chaque sens." (Condillac [l 754/R] 264A Fn.) Vgl. Condillac [1746/R] 22A.

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der Reflexion aus der Perception über die Stationen des Bewußtseins und der Aufmerksamkeit verfügt. Was die unmittelbare Ableitung des Bewußtseins aus der Perzeption, die dieser Erklärung zugrundeliegt, hinsichtlich des Bewußtseinsbegriffs bedeutet, wird deutlich, wenn man Condükcs Diskussion der unbewußten Vorstellungen betrachtet. Bekanntlich ist Locke der Ansicht, daß es keinen Sinn ergibt, anzunehmen, die Seele könnte Vorstellungen haben, von deren Existenz sie nichts weiß und die folglich unbewußt bleiben. Demgegenüber gehen die meisten Rationalisten seit Leibniz davon aus, daß es sehr wohl unbewußte Vorstellungen geben kann. Für Locke sind Vorstellen und unmittelbares Bewußtsein identisch, während die Rationalisten sie auf zwei unterschiedliche Akte zurückführen.472 Condillac tritt in diese Diskussion mit einem Vorschlag ein, der beide Konzepte verbinden soll. Er geht dabei von der Beobachtung aus, daß wir uns zu einem gegebenen Zeitpunkt der einen Vorstellung mehr, der anderen weniger bewußt sein können. Dies deutet Condillac zufolge auf die Möglichkeit hin, daß das Bewußtsein einer Vorstellung so schwach werden kann, daß das Subjekt sofort vergißt, sie besessen zu haben: Je pense done que nous avons toujours conscience des impressions qui se font dans Pame, mais quelquefois d'une maniere si legere, qu'un moment apres nous ne nous en souvenons plus.473

Condillac folgt also Locke in der Annahme, daß es keine Vorstellungen gibt, die vollständig unbewußt bleiben.474 Das, was die Rationalisten als unbewußte Vorstellungen bezeichnen, erklärt er so, daß es sich dabei um schwach bewußte Vorstellungen handelt, die das Subjekt sofort wieder vergißt, sobald der Sinneseindruck nachgelassen hat. Condillac unterscheidet daher zwei Weisen, in denen wir Bewußtsein von Perzeptionen haben: An einige Perzeptionen erinnern wir uns zumindest einen Moment lang, während wir andere in demselben Moment vergessen, 473

Zur Unterscheidung von unmittelbarem Bewußtsein und Reflexion bei Locke vgl. Kapitel 11.1. 473 Condillac [1746/R] 12B. Ein solcher Zustand eines schwachen Bewußtseins, das nicht zur Erinnerung ausreicht, wird auch im Tratte des sensations diskutiert, Condillac [1754/R] 309B f. An anderer Stelle beschreibt er, wie der Wechsel in der Intensität zweier gleichzeitiger Vorstellungen dazu fuhren kann, die jeweils andere Vorstellung auszublenden, und so den Anschein einer Sukzession der beiden Vorstellungen hervorruft (Condillac [1746/Rj 22B). 474 Es entspricht auch Lockes Ansicht, daß Gedanken ebenso wie Bewegungen nur momentan existieren, vgl. Locke [1690/N] 329.

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in dem sie uns affizieren. Bewußtsein ist für Condillac also ein Iniensitätsgrad der Perception und nur eine Eigenschaß der Perception selbst.41^ In einer anderen Hinsicht bezeichnet Condillac Bewußtsein jedoch als eine von der einzelnen Perception unterschiedene Handlung, nämlich insofern, als es uns auch über einige Aspekte des Subjekts selbst Aufschluß geben soll: Lorsque les objets attirent notre attention, les perceptions qu'ils occasionnent en nous, se lient avec le sentiment de notre etre et avec tout ce qui peut y avoir quelque rapport. De-la il arrive que non seulement la conscience nous donne connoissance de nos perceptions, mais encore, si elles se repetent, eile nous avertit souvent que nous les avons de ja eues, et nous les fait connaitre comme etant ä nous, ou comme affectant, malgre leur variete et leur succession, un etre qui est constamment le meme nous.m

Auskunft über sich selbst kann das Subjekt dieser Passage zufolge anscheinend in zwei Hinsichten erhalten: (1) Ganz allgemein sollen die Perzeptionen, die Objekte in uns hervorrufen, zugleich mit einer Empfindung unserer selbst verbunden sein. Diese Überlegung verfolgt Condillac aber nicht weiter, sondern er erläutert (2) einen weiteren Aspekt, der von der spezielleren Bedingung abhängt, daß Perzeptionen wiederholt werden. Wenn die Perzeptionen wiederholt werden, dann wissen wir zusätzlich, (a) daß wir sie zuvor schon hatten, (b) daß sie uns angehören (wir sie uns also zuschreiben können) und (c), daß sie ein solches Wesen affizieren, das trotz der Verschiedenheit und Sukzession der Vorstellungen dasselbe Selbst bleibt.477 Von der Perzeption verschieden ist diese Handlung insofern, als es sich um eine Wiederholung von Perzeptionen und den Akt des Erinnerns han475

So behauptet Condillac auch, daß Perzeption und Bewußtsein lediglich dieselbe Operation mit unterschiedlichen Namen bezeichnen, [l 746/R] 13B. Jean-Jacques Rousseau hat hinsichtlich des Selbstbewußtseins eine vergleichbare Frage gestellt, diese allerdings für unbeantwortbar erklärt. In den "Professions de foi du vicaire Savoyard" im Emile fragt Rousseau, ob das Gefühl meiner Existenz nur in meinen Sinneseindrücken liegt oder unabhängig von ihnen besteht: "Ai-je un sentiment propre de mon existence, ou ne la sens-je que par mes sensations? Voilä mon premier doute, qu'il m'est, quant a present, impossible de resoudre." (Rousseau [1762/G] 570), vgl. Thiel [1996] 223 f. 476 Condillac [1746/R] 14A. 477 Entsprechend behauptet Condillac im Tratte des sensations, daß Persönlichkeit, die Fähigkeit, "Ich" zu sagen, vom Gedächtnis abhängt: "Ce qu'on entend par ce mot [seil, moi], ne me paroit convenir qu'ä un etre qui remarque que, dans le moment present, il n'est plus ce qu'il a ete. Tant qu'il ne change point, il existe sans aucun retour sur lui-meme: mais aussitot qu'ü change, il juge qu'il est la meme qui a ete auparavant de teile maniere, et il dit moi." (Condillac [1754/R] 238B)

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delt.478 Anders als Descartes und Locke geht Condillac also nicht davon aus, daß Selbstbewußtsein unmittelbar zusammen mit den Vorstellungen eintritt, sondern zusätzlich vom Gedächtnis abhängt.479 Obwohl sich Condillac auf der einen Seite gegen Locke wendet mit dem Argument, dieser folge seinen empiristischen Intentionen nicht konsequent genug, geht er auf der anderen Seite von der Existenz einer immateriellen Seelensubstanz aus.480 Condillacs Argument für die Immaterialität der Seele im Essai basiert auf einer Überlegung zur Einheit des Gedankens, die der kritisierten Position in Kants zweitem Paralogismus A entspricht: Wäre ein Gedanke Eigenschaft des Körpers, dann müßte er ein Aggregat sein, was aber der Art und Weise widerspricht, in der uns Gedanken gegeben sind.481 Kurz nach Veröffentlichung des Essai publiziert Condillac anonym eine eigene Monadologie, die sich von den Lehren von Leibniz und Wolff vor allem durch die Ablehnung unbewußter Vorstellungen unterscheidet.482 Es ist verschiedentlich argumentiert worden, daß Condillac demgegenüber im Tratte eine Humes Bündeltheorie verwandte Position vertreten hat, obwohl er den Treatise vermutlich nicht kannte.483 Durch das Statuenmodell, das dem Tratte zugrundeliegt - eine zunächst leblose Statue erwirbt sukzessive die fünf Sinne und die damit verbundenen Vorstellungen - ist es aber grundsätzlich schwierig zu bestimmen, welche Eigenschaften nur für den jeweiligen Entwicklungsstand der Statue spezifisch sind und welche allgemein gelten. In seinen psychologischen Schriften, dem Essai de Psychologie und dem Essai analytique, stellt Charles Bonnet einerseits detaillierte Spekulationen über die physiologischen Grundlagen mentaler Prozesse an, andererseits verteidigt er die Annahme einer immateriellen Seelensub478

"La conscience, consideree par rapport a ces nouveaux effets, est une nouvelle operation qui nous serf ä chaque instant et qui est le fondement de l'experience." (Condillac [l746/R] 14A) Vgl. Condillac [1754/R] 238A. 479 Vgl. Knight [1968] 31, 34; vgl. Davies [1990] 72 zu dieser Funktion des Gedächtnisses bei Bonnet und Helvetius. 480 Diese bemerkenswerte Spannung zwischen sensualistischer Methodologie und traditioneller Seelenlehre ist anscheinend also kein auf den deutschen Empirismus eingeschränktes Phänomen. 481 Condillac [1746/R] 7A, vgl. Falkenstein [2002] Fn. l sowie Knight [1968] 97 f., 137-143 und Yolton [1991] 72-74. 48 -Condillac [1748/B]. Vgl. Kreimendahl [1982]. 483 Condillac [1754/R] 239A. Vgl. Perkins [1969] 56, Davies [1990] 80 f.

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stanz.484 So soll der Mensch ein aus zwei Hauptteilen zusammengesetztes Ding sein, von denen das eine körperlich, das andere immateriell ist.485 Das Ich ist einfach, eins und unteilbar.486 Alle Ideen rühren ursprünglich von den Sinnen her,487 und die Seele empfindet und bewegt nur mit Hilfe der Nerven.488 Die Seele soll auch sich selbst nicht erkennen können, sondern alle Kenntnisse sollen auf den Sinnen beruhen.489 Bonnet fordert dementsprechend, daß man nicht versuchen soll, sich einen Begriff von der Seele zu machen, wenn man noch nicht über sinnlich vermittelte Ideen verfügt.490 Eine ähnliche Vermischung rationalistischer und sensualistischer Interpretamente findet sich in seiner Erklärung der Empfindungen: Einerseits sollen sie Vibrationen der Nervenfasern im Gehirn sein, andererseits sollen sie auf einer Aktivität der Seele beruhen.491 Es ist vor diesem Hintergrund nicht sonderlich überraschend, daß Bonnets Theorie des Selbstbewußtseins im wesentlichen Lockeanisch ist, zugleich aber auf eine immaterielle Seelensubstanz Bezug nimmt. Zunächst lehnt Bonnet die Existenz unbewußter Vorstellungen ab, um dann auf dem Begriff der Erinnerung eine Theorie der personalen Identität und des Bewußtseins davon zu begründen.492 In der Erinnerung, so Bonnet, kann die Seele wissen, daß sie sich früher schon einmal in dem Zustand befunden hat, in dem sie sich aktuell befindet. Das soll die Seele weiterhin darüber in Kenntnis setzen, daß sie es selbst ist, die sich in diesen beiden Zuständen befunden hat. Diese Kenntnis hat selbst den Status einer Empfindung als "die Empfindung, welche ein empfindendes Wesen von seiner Persönlichkeit, von seinem Selbst hat."493 Eine recht eigentümliche Wendung erhält Bonnets Erklärung 484

Bonnet [1755], Bonnet [1760/dj. Relevant ist hier vor allem der Essay analytiqm, der nach der 1770 erschienenen deutschen Übersetzung von Christian Gottfried Schütz zitiert wird. Zu Bonnets Theorie des Geistes vgl. Offner [l 893], Savioz fl 948] 163-263, Anderson [l 982] 91-121, O'Neal [l 996] 61-82. 485 Bonnet[1760/d]I6. 486 Bonnet [l 755] 107-117. 47 Bonnet [l 760/d] I I 6 . 488 Bonnet [l 760/d] 120. 485 Bonnet [l760/d] I XXIII. Heiner Klemme [1996] 29 wertet insbesondere diesen Aspekt als ein Indiz dafür, daß Bonnet die Substanzmetaphysik doch weitgehend überwunden hat und eher in der Nachfolge Lockes zu sehen ist. 490 Bonnet (l 760/d] I I 6 . 491 Bonnet [l 760/d] II00. 492 Bonnet [l760/d] II 96.

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der personalen Identität auf dieser Grundlage. Die Identität des Selbst besteht Bonnet zufolge in dem jeweiligen Gesamtzusammenhang aller Vorstellungen: Die Kette der Ideen mag erweitert oder verengert werden, so bleibt doch die Empfindung von dem Selbst in dem empfindenden Wesen immer die nemliche. Damit will ich nicht soviel sagen, als ob sie immer von einerley Grade des Vergnügens begleitet würde; sondern ich meine nur, daß sie in diesem Falle wie in dem ändern identisch ist. Denn die Seele kann eben so gut Ideen verlieren, als erhalten, und ihr Selbst erhält sich in denen, welche das Gedächtnis beybehalten hat.494

Konsequenterweise kann das Selbst den Verlust einzelner Vorstellungen überstehen, nicht aber den vollständigen Verlust des Gedächtnisses.495 Dies hindert Bonnet nicht daran, im selben Zusammenhang zu behaupten, daß "die Persönlichkeit eines vermischten Wesens ... eben sowohl auf dem Körper als auf der Seele" beruht.496 Ihren "Sitz" soll die Erinnerung schließlich in etwas Materiellem, dem Gehirn nämlich, haben.497 Bonnet unterscheidet weiterhin zwei Arten der "Persönlichkeit". Während die erste dem gerade diskutierten Lockeanischen Modell entspricht, ist die zweite ... nichts anders als die erste, in so fern sie überdacht wird. Diese besteht in der Rückkehr der Seele in sich selbst, wodurch sie gewissermaßen ihre eignen Empfindungen von sich absondert, und überdenkt, daß sie es ist, welche sie erfahrt oder erfahren hat.498

An anderer Stelle bezieht sich Bonnet auf den wolffianischen Apperzeptionsbegriff.499 493

Bonnet [1760/d] II 96. Zu diesem Aspekt vgl. Klemme [1996] 25-30. Bonnet [1760/d] II 97. Es ist möglich, daß Tetens' Erklärung für personale Identität (Kap. I 4.1) von dieser Überlegung beeinflußt wurde. 495 "Die Empfindniß der Persönlichkeit geht bey ihm verlohren, so bald es das Gedächtnis gänzlich verliert. Alsdenn ist es nicht mehr im Stande, seine gegenwärtige Situation mit der vorhergehenden zu vergleichen. Alle seine Empfindungen werden isolirt, sobald sie nicht mehr durch das Gedächtnis oder die Erinnerung mit einander verknüpft werden. Eben so geht es mit den Graden jeder Empfindung. Das Selbst wird so zu sagen bey jeder Empfindung erneuert, oder von neuem geschaffen." (Bonnet [1760/d] II 99) 496 Bonnet [1760/d] II 98. 497 Bonnet [1760/d] II 125. 498 Bonnet [1760/d] 183. 499 "Ich weiß daß ich wirklich bin, weil ich über meine Vorstellungen nachdenke, und dieses ist eine Wirkung meiner Seele, wodurch sie die Vorstellung von dem Subject, welches die Vorstellung hat, unterscheidet. Dis ist das was die Metaphysiker das Bewustseyn, (Apperception) nennen, und was das Ich, oder das Selbst ausmacht." (EA I 34) 494

6 Zusammenfassung: Bewußtseinstheorie im 18. Jahrhundert In den vorangegangenen Kapiteln wurde auseinandergesetzt, welche Standard-Vorstellungen, Varianten und Alternativen die Bewußtseinstheorie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum bestimmt haben. Dabei zeigte sich, daß die von Wolff ausgebildeten Grundbestimmungen schulübergreifend Anerkennung fanden. Diese Bestimmungen blieben - mit wenigen Ausnahmen - auch für diejenigen Ausgangspunkt und Grundlage, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehr an Locke und Hume orientieren. Wolff bestimmt Bewußtsein als das Unterscheiden von Gegenständen und Selbstbewußtsein als das Unterscheiden des Subjekts von den Gegenständen. Die Möglichkeit, sich seiner selbst bewußt zu werden, liegt im Akt des Unterscheidens, denn durch die Aktivität des Unterscheidens kann der Unterschied zwischen dem, der unterscheidet und dem, was unterschieden wird, hervortreten. Wolff verbindet den Begriff des Bewußtseins direkt mit der Leibnizschen Stufenleiter der Vorstellungsgrade: Bewußte Vorstellungen sind klar und deutlich. Es wird grundsätzlich von der Existenz unbewußter Vorstellungen ausgegangen, die im Rahmen der Stufenleiter als "dunkel" zu bezeichnen sind. In der lateinischen Variante seiner Theorie unterscheidet Wolff zwischen Perzeption und Apperzeption. Es zeigte sich, daß Apperzeption als Bewußtsein von den Vorstellungen einen Doppelcharakter besitzt: Einerseits bezieht sie sich auf den Inhalt der Perzeptionen und damit mittelbar auch auf Gegenstände, andererseits bezieht sie sich auf die Vorstellungen als einen Aspekt des Subjekts selbst. Im Akt des Apperzipierens liegt analytisch, entsprechend dem Akt des Unterscheidens, die Möglichkeit, sich seiner selbst als des apperzipierenden Subjekts bewußt zu werden. Im Unterschied zur deutschsprachigen Variante der Theorie bezieht sich der Bewußtseinsbegriff in der lateinischen Variante nicht (oder nur indirekt) auf Objekte, sondern auf Vorstellungen; Selbstbewußtsein hängt dagegen in beiden Varianten von Objek-

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ten ab. Dieser relationalen Bewußtseinstheorie stehen solche Theorien gegenüber, in denen Bewußtsein unmittelbar mit jeder Vorstellung verbunden ist. Dies ist der Fall bei Locke, Reid und, noch konsequenter, bei Condillac, für den Bewußtsein nur ein Intensitätsgrad des Perzipierens ist. Für Reid drückt sich die Unmittelbarkeit des Bewußseins auch darin aus, daß der Begriff des Bewußtseins nicht definiert werden kann. Wie Locke unterscheidet Reid zwischen unmittelbarem Bewußtsein und Reflexion. Alle Theorien, die von der Unmittelbarkeit des Bewußtseins ausgehen, lehnen zwangsläufig die Möglichkeit unbewußter Vorstellungen ab, denn wenn Bewußtsein zu jeder Vorstellung gehört, dann ist es unmöglich, daß Bewußtsein einer Vorstellung zukommen oder auch nicht zukommen kann. Condillac räumt jedoch die Möglichkeit eines schwachen Bewußtseins ein, das zu schwach zur Erinnerung ist und so den Anschein unbewußten Vorstellens hervorruft. Ein Teil der Wolffianer (Ganz, Meier, Baumgarten, Darjes, Reusch; Gottsched hinsichtlich des Selbstbewußtseins) schließt sich an die Unterscheidens-Definition aus den deutschsprachigen Schriften an, auf das Perzeption-Apperzeption-Schema beziehen sich Thümmig, Burkhäuser, Böhm und Baumeister. Ganz, Darjes, Reusch und Baumgarten verbinden die beiden Ansätze in unterschiedlicher Weise. Reusch unterscheidet eine Apperzeption der Vorstellungen von einer Apperzeption des Selbst, Baumgarten setzt Apperzeption mit dem Unterscheiden gleich. Die Unterscheidens-Definition wird auch von Knutzen, Reimarus und im Fiinblick auf das Selbstbewußtsein von Lossius und Sulzer verwandt, Tetens verbindet sie mit einer eigenen, differenzierten Apperzeptionstheorie. Der Relationscharakter des Bewußtseins wird von Tetens und Irwing besonders betont. Die Unterscheidung von Perzeption und Apperzeption wird auch von Sulzer, Platner, Irwing, Meiners und Hißmann eingesetzt. Ausdrücklich auf ein Unterscheiden von Vorstellungen (und nicht Dingen) beziehen sich Gottsched, Sulzer, Creuz, Lambert, Tetens, Lossius und Hißmann. Das Klarheit-Deutlichkeit-Schema ist sachlich direkt mit der Erklärung des Bewußtseins als Unterscheiden verbunden und demgemäß ebenso weit verbreitet. Geringfügige Abweichungen von Wolffs Schema gibt es etwa bei Reimarus, der Bewußtsein nur mit der Deutlichkeit und nicht auch mit der Klarheit der Vorstellungen in Verbindung bringt. Tetens schlägt einige Differenzierungen innerhalb des Schemas vor: es sollen sich verschiedene Klarheitsarten unterscheiden

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lassen, und Verworrenheit soll nicht nur auf den Mangel an Klarheit zurückfuhrbar sein. Meiners akzeptiert nur die Unterscheidung zwischen unbewußten und bewußten Vorstellungen und lehnt die weitere Differenzierung der bewußten Vorstellungen in klare und deutliche ab. Nahezu alle Anhänger des Klarheit-Deutlichkeit-Schemas gehen auch von der Existenz unbewußter Vorstellungen aus. Nur Herz meldet einige Zweifel daran an. Creuz schließt sich zwar den wolffianischen Begriffserklärungen an, behauptet dann aber, daß Bewußtsein von der Vorstellung nicht zu trennen ist, weshalb es keine unbewußten Vorstellungen geben könne; er lehnt auch die Unterscheidung der bewußten Vorstellungen in verworrene und deutliche ebenso ab wie die Unterscheidung von Perzeption und Apperzeption. Gegen die Unterscheidens-Definition wenden sich ausdrücklich Rüdiger, Crusius, Merian und Tiedemann. Rüdiger, Crusius und Merian kehren das Begründungsverhältnis um und sehen Unterscheiden als Resultat des Bewußtseins an. Merian geht davon aus, daß Apperzeption unmittelbar mit jeder Vorstellung einhergeht und lehnt dementsprechend, ebenso wie Rüdiger, die Möglichkeit unbewußter Vorstellungen ab. Für Crusius dagegen ist, im Unterschied zu Merian, Bewußtsein eine Vorstellung zweiter Ordnung. Merian bezeichnet Selbstbewußtsein als ursprünglich. Tiedemann hält Bewußtsein für einen einfachen und prinzipiell keiner Definition zugänglichen Begriff, während er das Unterscheiden in Abhängigkeit vom Urteil sieht. Er hält die Existenz unbewußter "Modifikationen" der Seele dagegen für erwiesen, während er den Begriff der Vorstellung auf bewußte Zustände einschränken will. Auch Hentsch ist der Ansicht, daß Bewußtsein einfach ist, weshalb es durch die wolffianische Theorie nur erläutert, nicht aber erklärt werde. Strahler wendet sich gegen Wolffs Theorie in der Deutschen Metaphysik, insofern sie Bewußtsein an die Unterscheidung äußerer Dinge bindet. In der wolffianischen Theorie ergibt sich die Erklärung für Selbstbewußtsein direkt aus der Erklärung für Bewußtsein. Wolff stellt Selbstbewußtsein als Implikat des Unterscheidens bzw. Apperzipierens dar. Im Bewußtsein liegt die Möglichkeit, sich der Aktivität des Subjekts beim Unterscheiden der Dinge bewußt zu werden, und diese Aktivität unterscheidet das Subjekt von den Dingen. Demnach ist nach Wolff nicht mit jedem Bewußtseinsakt sogleich auch Selbstbewußtsein verbunden; es liegt nur der Möglichkeit nach vor und muß in einem ei-

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genen Akt bewußt gemacht werden. Selbstbewußtsein hängt somit sowohl von dem Bewußtsein von Objekten als auch von dem Bewußtsein von unserem mentalen Akt des Unterscheidens ab. Es finden sich kaum Diskussionen über den Stellenwert dieser Theorie, derzufolge Selbstbewußtsein aus der Relation des Subjekts zu den Objekten zu erklären ist. Dies äußert sich auch darin, daß hinsichtlich des Verhältnisses von Gegenstands- und Selbstbewußtsein einige Varianten anzutreffen sind, ohne daß deren Verhältnis von den Beteiligten reflektiert würde. Aus der zumeist geteilten Prämisse, daß Selbstbewußtsein ein Implikat des Gegenstandsbewußtseins ist, lassen sich nämlich Konsequenzen unterschiedlicher Reichweite ziehen. Während Wolff selbst anscheinend der Ansicht ist, daß die Selbstbewußtsein zugrundeliegende Aktivität des Subjekts eigens zum Bewußtsein gebracht werden muß, suggerieren Knutzen, Sulzer, Eberhard, Reimarus, Irwing und möglicherweise Reusch und Platner, daß Selbstbewußtsein unmittelbar zugleich mit Gegenstandsbewußtsein eintritt, oder, daß Selbstbewußtsein neben der direkten Bezugnahme auf das Objekt integraler Bestandteil jedes Bewußtseins ist. Einige Formulierungen z. B. bei Platner legen sogar nahe, daß Selbstbewußtsein Bedingung für Gegenstandsbewußtsein ist und nicht umgekehrt. Bei Creuz wird dieser Zusammenhang etwas anders so gefaßt, daß Selbstbewußtsein Voraussetzung für alle Bemühungen ist, sich anderer Dinge und seiner selbst bewußt zu werden. Tetens ist einerseits der Ansicht, daß man sich in der Regel nicht zugleich seiner selbst und anderer Dinge bewußt sein kann, behauptet aber auch, daß man im Bewußtsein meist sich selbst und den Gegenstand zugleich fühlt. Mehr im ursprünglichen Sinne Wolffs wird das Verhältnis bei Meiners, Hißmann, Tiedemann und Merian dargestellt. Meiners, Hißmann und Merian legen auf die Unterscheidung von Apperzeption und Selbstbewußtsein Wert. Meiners und Hißmann halten Zustände für möglich, in denen Gegenstandsbewußtsein ohne Selbstbewußtsein vorliegt, wobei Meiners annimmt, daß auch diese zumindest von einem dunklen Selbstgefühl begleitet werden. Tiedemann bezeichnet Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein als die zwei Hauptgattungen des Bewußtseins, wobei Selbstbewußtsein vom Gegenstandsbewußtsein abhängt. Als Ergänzung der Wölfischen Theorie können prinzipiell solche Ansätze gelten, die das Selbstgefühl als eigenständige Instanz aufrufen. Dies ist naturgemäß bei den empiristisch beeinflußten Autoren der

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Fall, die das Selbstgefühl aber nur selten explizit mit dem Selbstbewußtsein in ein Verhältnis setzen. Tetens stellt hier eine Ausnahme dar, er fuhrt aus, daß Selbstbewußtsein das Gefühl des Unterschiedes von Selbst und Dingen zuzüglich der Gewahrnehmung dieses Unterschiedes ist.500 Einige Autoren versuchen auch mehr oder weniger entschieden, Selbstbewußtsein ohne Bezugnahme auf Dinge zu erklären. So argumentiert Creuz, daß Selbstbewußtsein auch aus dem Akt des Unterscheidens der eigenen Zustände ohne Bezug auf äußere Realität hinreichend erklärt werden kann. Hißmann diskutiert, ob Zustände von Selbstbewußtsein ohne Bezug zur Außenwelt empirisch möglich sind. Merian bezeichnet die Apperzeption seiner selbst als ersten Akt, der jedem Wesen notwendig zukommt. Ploucquet zufolge ist nur die Existenz des Ich gewiß, und Selbstbewußtsein ist das einzige, was direkt aus dem Ich entspringt. Für Lossius schließlich ist Selbstbewußtsein einfach und nichtempirischen Ursprungs. Neben dem Selbstbewußtsein qua Unterscheiden von den Objekten befinden sich vor allem zwei weitere Weisen der Bezugnahme auf sich selbst in der Diskussion: das Bewußtsein vom eigenen Dasein beziehungsweise von der Gewißheit desselben (Platner, Merian, Mendelssohn, Meiners, Hißmann, Lambert, Lossius und Feder; oft in Verbindung mit dem Selbstgefühl) sowie das Bewußtsein von der eigenen Identität (Meiners, Hißmann), die unschwer mit Descartes im ersten Fall und mit Locke im zweiten in Verbindung zu bringen sind. Zu den großen bewußtseinstheoretischen Gemeinsamkeiten gehört, daß bis auf Meiners und Hißmann, die eine Bündeltheorie des Ich vertreten, sämtliche Autoren eine einfache Seelensubstanz unterstellen. Daher kann in den meisten Theorien die Identität des Subjekts und der Zusammenhang der Vorstellungen einfach durch diesen Sub500

Zum Begriff des Selbstgefühls vgl. Thiel [1997] und Frank [2002]. Michael Ignaz Schmidt, der sich als erster in seiner allerdings kaum professionellen Standards genügenden Geschichte des Selbstgefühls von 1772 ausführlicher zum Thema einläßt, scheint ohne weiteren philosophischen Einfluß geblieben zu sein (Schmidt [1772]). Schmidt läßt sich jedoch klar derjenigen Richtung zuordnen, die Selbstbewußtsein qua Selbstgefühl als Aspekt ansieht, der jedem Gegenstandsbewußtsein zukommt: Wir finden, "daß er [seil, der Mensch] allzeit mit sich beschäftigt sey, daß er sich niemal ganz verlasse; sondern vielmehr in allen Dingen entweder sich nur allein, oder doch vorzüglich fühle. Dieses Selbstgefühle in alle seine Gedanken, in all seine Empfindungen, Thun und Lassen eingeflochten." (ibd. 2) Noch weiter geht er später mit der Behauptung, jede Empfindung sei im Kern Selbstgefühl: "Jede Empfindung ist nichts änderst als das verschiedentlich modiftcirte Selbstgefühl." (ibd. 7)

Zusammenfassung: Bewußtseinsthcoric im 18. Jahrhundert

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Stanzcharakter der Seele erklärt werden, und nur Meiners und Hißmann untersuchen des näheren, wie Identitätsbewußtsein zustande kommt. Im Hinblick auf Kant ergibt sich zunächst, daß Apperzeption von vielen als Gegenstands- oder Vorstellungsbewußtsein verstanden wird, während er in erster Linie Selbstbewußtsein damit bezeichnet. Zugleich zeigte sich aber, daß Selbstbewußtsein sachlich eng mit dem Gegenstands- oder Vorstellungsbewußtsein zusammenhängt. Einige Autoren wie Merian kennen auch durchaus eine Apperzeption des Selbst neben anderen Formen der Apperzeption.301 Bei nahezu allen einbezogenen Autoren herrscht die Ansicht vor, daß Bewußtsein und Apperzeption auf einer Aktivität des Subjekts beruhen — auf demjenigen also, was Kant die "Spontaneität" der Apperzeption nennt. Dies liegt für alle Theorien nahe, für die Bewußtsein nicht unmittelbar mit den Vorstellungen verbunden ist: Wenn Bewußtsein zu den Vorstellungen erst hinzukommt oder auch ausbleiben kann, dann liegt es nahe, dies auf eine gesonderte Aktivität des Subjekts zurückzuführen, wie sie im Unterscheiden der Vorstellungen liegt. Ebenso basiert die wolffianische Theorie des Selbstbewußtseins gerade auf dem Gewahrwerden der eigenen Aktivität, die in diesem Unterscheiden liegt. Besonders eindringlich wird dieser Zusammenhang von relationaler Bewußtseinstheorie und Aktivität oder Spontaneität des Subjekts von Tetens, Plainer und Herz diskutiert. Im Unterschied dazu finden sich für Kants "Reinheit" und "Ursprünglichkeit" der Apperzeption nur wenige zeitgenössische Entsprechungen. Daß Selbstbewußtsein nichtempirische Aspekte oder Gründe haben könnte, wird nur gelegentlich von Lossius, Creuz und Ploucquet erwogen. Merian spricht zwar von "ursprünglicher Apperzeption", meint damit aber eher die unmittelbare Gewißheit unserer Existenz.502

501 502

Vgl. zu diesem Problem im folgenden Kapitel II 1.2. Es sei noch angemerkt, daß von Selbstbewußtsein a priori auch Adolph Friedrich v. Reinhard in seinem obskuren System der Wesen spricht; Warda [l 922] 53 zufolge befand sich dieses Werk neben anderen desselben Verfassers in Kants Besitz. Reinhard führt aus: "Dieser Generalbegriff unsers Selbstbewustseyns ist unserm Wesen eingewebet, und daher sehr begreiflich, daß, da wir uns nur a priori kennen, d. i. mittels eines Generalbegriffes, wir uns gar nicht eigentlich zu kennen scheinen; aber eines schließt das andere nicht aus." (Reinhard [1768] 72)

II Kant über Bewußtsein, Apperzeption und Selbstbewußtsein

l Kants Begriffserklärungen Im folgenden Teil soll der Versuch unternommen werden, Kants Ansichten über Bewußtsein zu dem Tableau an theoretischen Standardvorstellungen und Alternativen in Beziehung zu setzen, das im ersten Teil entwickelt wurde. Dieser Versuch steht unter der Leitfrage, ob und wieweit Kants fragmentarische Theorie sich noch im Rahmen der wolffianischen Vorgaben bewegt, wesentliche Aspekte derselben modifiziert oder eine Revision der Grundlagen nötig macht. Es gehört zu den Standardannahmen über Kant, daß seine Bewußtseinstheorie, insbesondere sofern sie von der "Einheit der Apperzeption" handelt, einen völlig neuen bewußtseinstheoretischen Zugang eröffnet und die Tradition des 18. Jahrhunderts hinter sich läßt. Dieser Eindruck drängt sich besonders durch eine prominente Passage aus der transzendentalen Deduktion B auf. Kant nennt die Apperzeption dort auch die ... reine Apperzeption, um die von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle anderen muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann. Ich nenne auch die Einheit derselben die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen.503

In der Tat ist es in den Diskussionen der Zeit nicht üblich, Aspekte des Selbstbewußtseins als rein und ursprünglich anzusehen, mit den Ausnahmen, die in Teil I dieser Untersuchung erläutert wurden. Doch welche Konsequenzen sind aus dieser Feststellung zu ziehen? Etwas plakativ formuliert: Kündigt Kant in diesem Zitat eine grundlegend neue Bewußtseinstheorie an - oder hebt er vielleicht nur gerade diejenigen Aspekte seiner Theorie hervor, die vom wolffianischen Kanon abweichen, während dieser ansonsten seine Gültigkeit behält? Die Konsequenz, daß Kant eine vollständig neue Theorie, wenn auch vielfach un503

B 132.

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artikuliert, vor Augen hat, haben, um nur zwei prominente Stimmen zu erwähnen, Dieter Henrich und Wolfgang Carl gezogen.504 Henrich zufolge betritt Kant vor allem dadurch ganz neuen Boden, daß er Selbstbewußtsein als oberstes Prinzip einführt, auf das alle Formen der Rationalität zurückgehen sollen.505 Zwar geben Kant die Begriffsbildungen und Theoreme des Wölfischen Systems einen Rahmen der Orientierung und Reorganisation vor, aber die Grundlegung muß, so Henrich, ganz neu ausgearbeitet werden. Carl zufolge unterscheidet sich Kants Theorie der Apperzeption von denen seiner Vorgänger vor allem dadurch, daß Kant Apperzeption nicht in erster Linie in Beziehung auf mentale Akte, sondern hinsichtlich des Subjekts selbst verwendet.506 Die bisher diskutierten Positionen beziehen sich auf Kants Begriff der Apperzeption. Unter Apperzeption wird im Zusammenhang mit Kant in aller Regel Selbstbewußtsein verstanden — was seinerseits in den folgenden Kapiteln in Frage gestellt werden wkd. Einige Interpreten haben auch den Traditionsbezug von Kants Begriff des Bewußtseins beleuchtet. So argumentiert etwa Johannes Rehmke, daß Kant zunächst auf der Wölfischen Bewußtseinstheorie aufbaut. Dies soll sich bei Kant aber bald "verlieren" zugunsten seiner eigenen Theorie, wonach Bewußtsein als "Wissen schlechtweg", "Wissensgegenstand" und "Wissendes" (Subjekt des Denkens) zu verstehen sei.507 In allgemeinerer Hinsicht behaupten auch Theodor Kehr und Hans Amrhein, daß Kant an den wolffianischen Bewußtseinsbegriff anknüpft, und in jüngerer Zeit hat Tobias Rosefeldt diese Ansicht vertreten.508 Der Versuch einer Rekonstruktion von Kants Bewußtseinstheorie bereitet einige grundsätzliche Schwierigkeiten. Kant hat seine Theorie 504

Selbst Karl Ameriks, der argumentiert, daß Kant bei seiner Kritik an den Paralogismen der rationalen Psychologie entgegen dem Augenschein rationalistischen Positionen der WolffTradition verpflichtet bleibt, bezeichnet die Apperzeptionstheorie, wie sie in der transzendentalen Deduktion entwickelt wird, als revolutionär (Ameriks [1982/2] xii). Nach meiner Kenntnis hat es bisher nur Udo Thiel nicht für evident gehalten, daß Kants Apperzeptionstheorie einen vollständigen Bruch mit der Tradition darstellt (Thiel [2001b], bes. 468 und 474-476). Thiel hat insbesondere untersucht, inwiefern es zeitgenössische Vorbilder für die Ursprünglichkeit der Apperzeption gibt, vgl. dazu Thiel [1996]. 505 Henrich [1988] 40. Auf die weiteren Konsequenzen dieser Ansicht gehe ich im Zusammenhang der "Ursprünglichkeit" der Apperzeption näher ein (Kap. II 3.2), hier geht es zunächst einmal nur darum, was Kant eigentlich unter Bewußtsein und Apperzeption versteht. 506 Carl [1992] 61. Daß dies im Hinblick auf die zeitgenössische Diskussion nicht zutrifft und einige ihrer Vertreter sehr wohl auch von einer Apperzeption des Subjekts sprechen, hat sich in Teil I gezeigt und wird auch von Thiel [1996] 213 angemerkt.

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des Bewußtseins nicht im Zusammenhang formuliert, und es ist daher fraglich, ob er überhaupt über eine konsistente Theorie verfügt. Die Rekonstruktion sollte nicht den Fehler begehen, dies vorauszusetzen. Da Kants Theorie nicht im Zusammenhang vorliegt, kann nur so vorgegangen werden, daß definitionsartige Passagen oder solche, in denen die entsprechenden Termini in anderweitig aussagekräftiger Weise verwendet werden, hinsichtlich der wichtigsten Teilaspekte zusammengestellt und kommentiert werden. Dieses Vorgehen ist seinerseits methodisch nicht ganz unproblematisch: Theoriestücke aus verschiedenen Schaffensphasen können auch hinsichtlich des Bewußtseinsproblems unterschiedliche Entwicklungsstufen repräsentieren. Sie müssen aber auch nicht zwingend später revidiert worden sein. Die sog. Reflexionen und insbesondere die Vorlesungsnachschriften sind mit besonderer Vorsicht zu behandeln. Reflexionen sind oft bruchstückhafte Bemerkungen mit unklarem Status, die Verläßlichkeit ihrer Datierung ist grundsätzlich problematisch. Die Vorlesungsnachschriften stammen nicht aus Kants eigener Feder und folgen der Systematik der zugrundegelegten Lehrbücher; zudem entspricht ihre einzige vollständige Edition in der Akademie-Ausgabe nicht den üblichen Standards.509 Daher sollen Äußerungen aus den Reflexionen und insbesondere aus den Vorlesungsnachschriften nur dann als Kantische Gedanken angesehen werden, wenn sie in mehreren, voneinander unabhängigen Zusammenhängen ähnlich vorzufinden sind.510 507

Rehmke [1910] 103-106. Rehmke bezieht sich dabei jedoch nicht auf Wolffs Bewußtseinserklärung als Unterscheiden von Dingen. Zwar ordnet Rehmke den verschiedenen von ihm eingeführten Bewußtseinsaspekten etliche Kant-Zitate zu (grundsätzlich ohne Quellenangabe), er erläutert diese Zuordnungen aber nicht. So leuchtet beispielsweise nicht ein, warum das Bewußtsein der Identität seiner selbst nicht mit der Wolff zugeordneten Bestimmung des Bewußtseins als Klarheit der Vorstellungen vereinbar und das Identitätsbewußtsein eben nicht einfach eine klare Vorstellung von der eigenen Identität sein sollte. Noch schwerer wiegt die Tatsache, daß Rehmke bei aller weiteren Differenzierung weder terminologisch noch sachlich zwischen Gegenstandsbewußtsein, Selbstbewußtsein und Apperzeption unterscheidet. 508 Kehr [1916] 125, Amrhein [1908] 6, Rosefeldt [2000] 213. Amrhein schreibt zwar, daß Kant sich die Termini der Apperzeption von Leibniz und des Bewußtseins von Wolff zu eigen gemacht und durch seine Unterscheidung von transzendentaler und empirischer Apperzeption und das "Bewußtsein überhaupt" "bereichert" habe, bleibt aber vage im Hinblick auf systematische Konsequenzen dieser Aneignung. 509 Vgl. Naragon [2000], Oberhausen [2000]. 510 Zu ausführlicheren Überlegungen zum methodischen Umgang mit den Vorlesungsnachschriften vgl. Satura [1971] 22.

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Die beiden Redaktionen der transzendentalen Deduktion und der Paralogismen sind für das Bewußtseinsproblem natürlich von besonderer Bedeutung. Das wird sich im folgenden Teil zunächst darin niederschlagen, daß Passagen aus diesen Kapiteln besonders haufig vertreten sind. Die verwickelte Argumentation der Deduktion macht es jedoch erforderlich, auch stärker auf den Aufbau dieser Argumente im Zusammenhang einzugehen. Dies wird vor allem in Teil III geschehen. In den Paralogismen dagegen setzt sich Kant in erster Linie kritisch mit den traditionellen Vorstellungen von der Beschaffenheit des Subjekts auseinander und läßt nur wenig von seiner eigenen positiven Theorie durchblicken. Da zum zeitgenössischen Hintergrund der Paralogismen bereits eine differenzierte und kontroverse Diskussion besteht, werden diese hier weniger im Mittelpunkt stehen.511 Im folgenden werden die einzelnen Fragestellungen in dieser Reihenfolge angesprochen: (1) Versteht Kant Bewußtsein im wolffianischen Sinne als Unterscheiden, und wie stellt er sich zum Klarheit-Deutlichkeit-Schema (Kapitel II 1.1)? (2) Wie verhalten sich bei Kant Apperzeption als Gegenstandsbewußtsein und Apperzeption als Selbstbewußtsein zueinander, und wie ist dieses Verhältnis im Hinblick auf die Tradition zu verorten (Kapitel II 1.2)? (3) Versteht Kant Selbstbewußtsein als Unterscheiden? Diese Frage hängt entscheidend mit seiner Unterscheidung von empirischem und reinem Selbstbewußtsein zusammen und ist daher Teil von Kapitel II 3.1. (4) Wie sind die Bestimmungen zu verstehen, die Kant der Apperzeption insbesondere in der Deduktion gibt? Indizieren sie einen Bruch mit der Tradition oder sind sie mit ihr vereinbar? Dies betrifft die Aspekte der Spontaneität der Apperzeption (Kapitel II 2) sowie der Reinheit und Ursprünglichkeit (Kapitel II 3); Identität und Einheit der Apperzeption sind Thema von Teil III. (5) Was ist unter der "Einheit des Bewußtseins" zu verstehen, und in welchem Verhältnis steht sie zu den Urteilen (Kapitel II 4)?

511

Vgl. Amenks [1982/2], Carl [1992] 65-71, Ameriks [1995a], Ameriks [1998], Klemme [1996], Ameriks [2000].

Bewußtsein: Unterscheiden, Klarheit und Deutlichkeit

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/. / Bewußtsein: Unterscheiden, Klarheit und Deutlichkeit Kant hat nur wenige explizite Erklärungen für Bewußtsein im allgemeinen gegeben. In der Ijogik findet sich die eher beiläufige Erläuterung: Eigentlich ist das Bewußtsein eine Vorstellung, daß eine andre Vorstellung in mir ist.512

Hier ist zu erkennen, daß Kant Bewußtsein als eine Vorstellung ^weiter Ordnung ansieht, und zwar als eine solche, die das Vorhandensein einer anderen Vorstellung anzeigt. Bewußtsein ist danach reflexiv in dem Sinne, daß sich Vorstellungen auf Vorstellungen desselben Subjekts zurückbeziehen — so wie die Wölfische Apperzeption, Lockes "ideas of reflection" und auch Crusius' Begriff des Bewußtseins (nicht aber Condillacs).3'3 In einigen frühen Reflexionen aus der Mitte der fünfziger Jahre schließt sich Kant explizit an die Erklärungen aus der WolffTradition an: Sich einer [sache] Vorstellung bewust seyn, ist: wißen, daß man diese Vorstellung hat; das heißt: diese Vorstellung von den ändern unterscheiden.314

Kant legt hier nicht nur fest, daß unter Bewußtsein das Unterscheiden von Vorstellungen zu verstehen ist, sondern auch, daß dieses Unterscheiden zugleich ein Wissen vom Besitz dieser Vorstellungen bedeutet. Daran ist abzulesen, daß '"Wissen" und "Unterscheiden" zumindest für Kant keine konkurrierenden Bewußtseinserklärungen begrün-

512

AA 9,32. Vgl. Refl. 3929: "Eigentlich ist die Vorstellung aller Dinge die Vorstellung unseres eigenen Zustandes und die relation einer Vorstellung zu der ändern nach unsern innern Gesetzen." (AA 17, 352) Vgl. auch: "Das Bewustseyn ist eine [idee] [klare] Vorstellung seiner Eigenen idee [...] Den Weil die Seele weis, was sie sich vorstellt und wie sie sichs vorstelt, so kan sie auf verschiedene Art mit ihren Vorstellungen umgehen, sie vergleichen, absondern, verbinden und dadurch dasjenige verrichten, was man nachdenken nennt." (Refl. 1678 AA 16, 80) "Das Bewußtseyn ist ein Wissen dessen, was mir zukommt. Es ist eine Vorstellung von meinen Vorstellungen, es ist eine Selbstwahrnehmung, Perception." (Metaphysik L ,, nach Pölitz, AA 28.1 227) 513 Vgl. Wolff [1732/2] 17 § 25, Kap. l 2.1 und Locke [1690/N] 105 (Kap. l 1.1). Crusius hebt diesen Aspekt besonders hervor (vgl. Crusius [1745] 863, Kap. I 2.3), obwohl er ansonsten Wolffs Bewußtseinskonzeption kritisiert; Manfred Frank vermutet, daß Crusius Kant auf den Gedanken von der Reflexivität des Bewußtseins gebracht haben könnte, da er diesen Aspekt stärker hervorhebe als Wolff (Frank [1991a] 23). 5U Refl. 1679, AA 16, 80.

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den.515 Wie Meier, Baumgarten und auch Wolff bezeichnet Kant in den fünfziger Jahren das Bewußtsein weiterhin als "inneren Sinn": Das Bewust seyn ist sensus interims.516

Bei Wolff und seinen Anhängern können Vorstellungen in zwei Weisen unterschieden werden, nämlich als klare und deutliche. Kant macht sich in verschiedenen Zusammenhängen die Unterscheidung klarer und deutlicher Vorstellungen zu eigen, nimmt aber auch einige Modifikationen an diesem Schema vor. Einen Zusammenhang zwischen der Klarheit und dem Bewußtsein einer Vorstellung behauptet er beispielsweise in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft: So hat nämlich das Bewußtsein, mithin die Klarheit der Vorstellungen meiner Seele und derselben zu Folge auch das Vermögen des Bewußtseins, die Apperception, mit diesem aber selbst die Substanz der Seele einen Grad, der größer oder kleiner werden kann, ohne daß irgend eine Substanz zu diesem Behuf entstehen oder vergehen dürfte.517

Es läßt sich an dieser Passage nicht mit Bestimmtheit ablesen, ob Bewußtsein durch Klarheit definiert sein soll; zumindest konstatiert Kant ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Bewußtsein, Klarheit der Vorstellungen, Vermögen des Bewußtseins und Seelensubstanz, das auch darin zum Ausdruck kommt, daß sie durchweg Grade haben. Sowohl hinsichtlich des engen Zusammenhangs von Bewußtsein und Klarheit als auch darin, daß beide Grade haben sollen, befindet sich Kant hier in Übereinstimmung mit den Wölfischen Vorstellungen.518 Noch ausdrücklicher schließt sich Kant der wolffianischen Lehre von der Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen in der Ijogik an: Die Verschiedenheit der Form des Erkenntnisses beruht auf einer Bedingung, die alles Erkennen begleitet, auf dem Bewußtsein. Bin ich mir der Vorstellung bewußt: so ist sie klar; bin ich mir derselben nicht bewußt, dunkel. [...] Alle klare Vorstellungen, auf die sich allein die logischen Regeln anwenden lassen, können nun unterschieden werden in Ansehung der Deutlichkeit und Undeutlichkeit. Sind wir uns der ganzen Vorstellung bewußt, nicht aber 515

Einen solchen direkten Zusammenhang zwischen dem Unterscheiden und dem Wissen von den Vorstellungen stellt explizit beispielsweise Reimarus her (Reimarus [1756] 62 § 60, s. Kapitel I 3.2). Vgl. auch Refl. 1681: "Eine obscure idee ist, deren Wir uns nicht bewust seyn, oder die wir weder von uns noch von ändern Dingen unterscheiden. Wir wißen also nicht einmal, daß wir sie haben. Wir müßen sie schließen." (AA 16, 81) 516 Refl. 1680, AA 16, 80. 517 AA 4, 542. 518 Zur Apperzeption als