Jüdische Geschichte in Thüringen: Strukturen und Entwicklungen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert [1 ed.] 9783412525934, 9783412525910

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Jüdische Geschichte in Thüringen: Strukturen und Entwicklungen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert [1 ed.]
 9783412525934, 9783412525910

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H a n s -We r n e r H a h n / M a r ko K re u t z m a n n ( H g . )

Jüdische Geschichte in Thüringen Strukturen und Entwicklungen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert

Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen Kleine Reihe Band 64

Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen Kleine Reihe Band 64

Hans-Werner Hahn, Marko Kreutzmann (Hg.)

Jüdische Geschichte in Thüringen Strukturen und Entwicklungen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

Gedruckt mit Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill Deutschland GmbH (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Erfurter Judeneid und Große Synagoge Erfurt, Stadtarchiv Erfurt. Wiss. Redaktion: Dr. Philipp Walter, Jena Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Druck und Bindung: x Hubert & Co BuchPartner, Göttingen Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52593-4

Inhalt

Vorwort........................................................................................................................... 9 M arko K reutzmann Jüdische Geschichte in Thüringen. Bilanz und Perspektiven der Forschung................................................................... 11 I. Jüdisches Leben in Thüringen im Mittelalter M aike L ämmerhirt Migration von Juden in Thüringen, insbesondere nach 1349 und Mitte des 15. Jahrhunderts.................................................................................. 31 K arin Sczech Der mittelalterliche jüdische Friedhof in Erfurt. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt................................................................ 49 A ndreas Lehnertz Hebräische Rückvermerke an Thüringer Geschäftsurkunden des Mittelalters: Überreste jüdischer Archive und Einblicke in Wirtschaftspraktiken.................................................................................................... 65 II. Jüdisches Leben in Thüringen in der Frühen Neuzeit Johannes Mötsch Juden in Thüringen in der frühen Neuzeit.............................................................. 81 Ulrich H ausmann Im Bunde mit dem Feinde? Juden während des Bauernkrieges in Thüringen 1524/25.................................................................................................. 99 K ai Lehmann Um Abschaffung der Juden angesucht – Judenfeindlichkeit während des Dreißigjährigen Krieges in den Gebieten südlich des Thüringer Waldes. Eine regional andere Einführung......................................... 115

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Inhalt

K atharina Witter Die jüdische Gemeinde Marisfeld/Themar vom Ende des 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im Spiegel von Archivalien des Staatsarchivs Meiningen..................................................................................... 139 M arko K reutzmann Hofjuden in den thüringischen Residenzen. Das Beispiel der Familie Elkan in Weimar im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts............. 157 III. Das „lange“ 19. Jahrhundert und die Weimarer Republik H ans-Werner H ahn Emanzipation – Integration – Antisemitismus: Deutsch-jüdische Geschichte in Thüringen im langen 19. Jahrhundert........... 179 A lfred Erck Die Bedeutung der Bankiersfamilie Strupp aus Meiningen für die wirtschaftliche Entwicklung im Thüringer Raum zwischen 1850 und 1920............................................................................................201 Steffen R assloff Zwischen Anerkennung und Ausgrenzung. Erfurts jüdische Bürger vom 19. Jahrhundert bis zum Dritten Reich.......................................................... 217 Stefan Gerber Jüdische Studentenverbindungen und Vereine an der Universität Jena in der Weimarer Republik.........................................................................................229 Uwe Dathe … dass wir ausser deutsch auch noch jüdisch sind – Carl Plaut aus Schmalkalden schreibt dem Jenaer Philosophen und Nobelpreisträger Rudolf Eucken.............................................................................................................255 Gerhard Lingelbach Eduard Rosenthal und die Verfassung des Landes Thüringen von 1920/1921.........................................................................................269 Uwe Rossbach/Judy Slivi Juden und Jüdinnen in der Thüringer Arbeiterbewegung. Zur Dokumentation eines Ausstellungsprojektes................................................. 293

Inhalt

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IV. Verfolgung, Vernichtung und neues jüdisches Leben im 20. Jahrhundert A nnegret Schüle Verfolgung, Selbstbehauptung, Vertreibung und Vernichtung. Zur Geschichte der Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Thüringen.....................................................................................................................311 Monika Juliane Gibas Im Kreis Arnstadt befinden sich noch folgende Firmen im Besitz von Juden. „Arisierung“ der Wirtschaft in Thüringen am Beispiel Arnstadts.................... 331 M ichael Löffelsender Das Konzentrationslager Buchenwald und die Verfolgung der Juden............. 359 Stefan Hellmuth Restitution, Entschädigung, Aneignung. Das Thüringische Wiedergutmachungsgesetz vom 14. September 1945 und seine Umsetzung.........................................................................................................377 Sören Gross/Ron Hellfritzsch Verantwortung – Aufarbeitung – Erinnerung. Provenienzforschung am Deutschen Optischen Museum Jena.........................403 M arie-Luis Zahradnik Das kulturelle Erbe digital erhalten – Dokumentation und Präsentation der jüdischen Friedhöfe im Landkreis Nordhausen..................... 427 Abendvortrag Chaim Noll Jude Sein Heute........................................................................................................... 451

Abkürzungsverzeichnis.............................................................................................467 Abbildungsnachweis..................................................................................................469 Ortsregister.................................................................................................................. 471 Personenregister.......................................................................................................... 477 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren..............................................................489

Vorwort

Der Band geht auf eine Tagung zurück, die im September 2021 von der Historischen Kommission für Thüringen und dem Verein für Thüringische Geschichte in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle für Neuere Regionalgeschichte Thüringens in Schmalkalden veranstaltet worden ist. Ziel der Tagung war es, eine Bilanz der bisherigen Forschung zur Geschichte jüdischen Lebens in Thüringen zu ziehen, aktuelle Projekte vorzustellen und Perspektiven für die künftige Forschung aufzuzeigen. Den Anlass für dieses Vorhaben bot das 2020/21 begangene Themenjahr „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“. Dieses wurde durch die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und das katholische Bistum Erfurt initiiert und von der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen (JLGT) unterstützt. Die zahlreichen Veranstaltungen, Forschungsund Bildungsprojekte des Themenjahres wurden durch den Freistaat Thüringen finanziell gefördert. Das Ziel des Themenjahres war es, in Ergänzung zu der in Thüringen fest verankerten Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung der Juden im 20. Jahrhundert den Blick auch auf die fruchtbaren Kapitel der jüdischen Geschichte in Thüringen zu lenken. Das Thüringer Themenjahr fand zeitgleich mit dem Festjahr „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, welches durch den Verein „321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ mit Unterstützung u. a. durch das Bundesministerium des Innern, das Land Nordrhein-Westfalen und die Stadt Köln organisiert wurde, statt. In den Band haben die meisten der Tagungsvorträge Eingang gefunden. Darüber hinaus wurden auch einige Beiträge aufgenommen, die auf der Tagung zwar nicht vorgestellt werden konnten, für die Gesamtthematik aber wichtig erscheinen. Insgesamt können die Beiträge zwar kein vollständiges Bild, aber einen breit gefächerten Einblick in die vielfältigen Forschungsaktivitäten bieten, die in den letzten Jahren zur Geschichte jüdischen Lebens in Thüringen in der Zeit vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert zu verzeichnen waren, aktuell betrieben werden oder für die Zukunft geplant sind. Der Band möchte in exemplarischer Weise die Vielfalt jüdischen Lebens in Thüringen mit seinen spezifischen Strukturen und Entwicklungen, aber auch seinen Brüchen und Leerstellen verdeutlichen. Der Unterschiedlichkeit der Epochen, Themen und Fragestellungen entspricht zudem die Vielfalt der theoretischen und methodischen Zugänge, die hier vertreten sind. So wie die Region Thüringen nicht als ein kohärentes, in sich geschlossenes und homogenes Ganzes aufgefasst wird, so soll auch kein einheitliches, in sich geschlossenes Bild einer jüdischen Geschichte in Thüringen präsentiert werden. Vielmehr wird diese in Thüringen als vielfältig differenziert und transregional verflochten

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Vorwort

wahrgenommen. Die regionale Perspektive schärft jedoch den Blick auf die besonderen Bedingungen vor Ort, welche das jüdische Leben in einer spezifischen, jedoch räumlich keineswegs kohärenten Weise prägten. Die Aufsätze selbst stellen sowohl geschichtswissenschaftliche Forschungsbeiträge als auch Berichte über museale Forschungs- und Ausstellungsprojekte oder denkmalpflegerische Arbeiten dar. Sie spiegeln damit die institutionelle und fachliche Vielfalt der Beschäftigung mit der Geschichte jüdischen Lebens in Thüringen in den letzten Jahren und Jahrzehnten wider. Auch der Abendvortrag hat Eingang in den Band gefunden. Er reflektiert in einer eher essayistischen Form die aktuellen und mitunter kontroversen Diskussionen über jüdisches Leben in Deutschland aus der Sicht eines deutsch-israelischen Publizisten vor dem Horizont des Jahres 2021. Auch wenn die Herausgeber nicht jede Wertung teilen, respektieren sie dessen Positionen, markieren diese doch nicht zuletzt den zeitgenössischen Kontext, in dem gegenwärtige Forschungen und Debatten zur jüdischen Geschichte stattfinden. Allen Mitwirkenden sei an dieser Stelle ganz herzlich für ihr Engagement bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung und bei der Entstehung des Tagungsbandes gedankt. Der Dank gilt neben den Referentinnen und Referenten der Tagung und Autorinnen und Autoren des Bandes namentlich auch den Moderatorinnen und Moderatoren der Sektionen und Mitwirkenden bei der Gestaltung des Tagungsprogrammes: Frau Prof. Dr. Sabine Schmolinsky (Erfurt), Frau Dr. Maike Lämmerhirt (Erfurt), Herrn Dr. Johannes Mötsch (Meiningen), Herrn Prof. Dr. Uwe Schirmer (Jena) und Herrn Prof. Dr. Jörg Ganzenmüller (Jena). Außerdem sei den Kooperationspartnern vor Ort mit Herrn Dr. Kai Lehmann an der Spitze sowie der Direktorin der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, Frau Dr. Doris Fischer, für die logistische und der Thüringer Staatskanzlei Erfurt für die finanzielle Unterstützung gedankt. Ein herzliches Dankeschön gilt ferner dem Geschäftsführer der Historischen Kommission für Thüringen, Herrn Dr. Philipp Walter, bei dem die Fäden der Tagungsorganisation zusammenliefen und der diesen Band redigierte. Und gedankt sei schließlich auch den Herren Stefan Eggenstein, Jonas Kuttig und Robert Proske für die Erstellung der Register. Jena und Aßlar, im September 2022

Prof. Dr. Hans-Werner Hahn PD Dr. Marko Kreutzmann Herausgeber Prof. Dr. Werner Greiling Vorsitzender der Historischen Kommission für Thüringen

M arko K reutzmann

Jüdische Geschichte in Thüringen. Bilanz und Perspektiven der Forschung

1. Einführung Vom 1. Oktober 2020 bis zum 30. September 2021 wurde in Thüringen das Themenjahr: „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“ begangen. Zugleich fand im Jahr 2021 deutschlandweit das Festjahr: „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ statt. Sowohl in Thüringen als auch in Deutschland insgesamt wurde durch eine Vielzahl von Projekten und Veranstaltungen auf die lange Tradition, die Entwicklung, die Vielfalt und die Bedeutung jüdischen Lebens aufmerksam gemacht.1 Die jüdische Geschichte in Deutschland war jedoch seit dem Beginn ihrer kontinuierlichen Entfaltung im 10./11. Jahrhundert nicht nur durch zahlreiche Verbindungen und einen gegenseitigen fruchtbaren Austausch zwischen der jüdischen Minderheit und der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung, sondern in hohem Maße bekanntlich auch durch Ausgrenzung, Diskriminierung, Verfolgung, Unterdrückung, Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Minderheit durch die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft gekennzeichnet. Diese äußerst negativen Erscheinungen fanden ihren beispiellosen und grauenhaften Höhepunkt in der Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland und weiten Teilen Europas durch den Holocaust in der Zeit des Nationalsozialismus.2 Keine Beschäftigung mit der deutsch-jüdischen Geschichte kann seit 1945 das furchtbare Ereignis der Shoah ausblenden. Dennoch kann die deutsch-jüdische Geschichte seit dem Mittelalter auch nicht auf eine einseitige Entwicklung hin 1

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Vgl. die Website des Themenjahres in Thüringen: https://www.juedisches-leben-thueringen.de/home/; sowie die Website des Vereins „321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“: https://2021jlid.de/ (letzter Aufruf: 22.2.2022). – Die Veranstaltungen der beiden Themenjahre wurden freilich durch die starke Einschränkung des öffentlichen Lebens infolge der sich seit Anfang 2020 ausbreitenden Corona-Pandemie in ihrer Durchführung behindert. Sie mussten zum Teil entfallen, in virtuelle Formate verlagert oder verschoben werden. Das deutschlandweite Festjahr wurde daher bereits im Juli 2021 bis Ende Juli 2022 verlängert. Als neueren konzisen Überblick zur jüdischen Geschichte vgl. Michael Brenner, Kleine Jüdische Geschichte, München 22019; zum Holocaust vgl. Wolfgang Benz, Der Holocaust, München 92018.

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Marko Kreutzmann

zum nationalsozialistischen Völkermord an den Juden verkürzt werden. Vielmehr wurde nicht zuletzt auch in dem oben angesprochenen Themenjahr von vielen Seiten gefordert, stärker als bisher ebenso die positiven, gemeinsamen und produktiven Elemente in der deutsch-jüdischen Geschichte herauszuarbeiten.3 Darüber hinaus richtet sich der Blick der historischen Forschung zunehmend auf die regionale Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland.4 Dabei wird die Aufmerksamkeit auch auf solche Regionen gelenkt, die bislang nicht im Zentrum der Forschungen zur deutsch-jüdischen Geschichte standen. Zu diesen Regionen zählt auch Thüringen. Dabei hat sich hier über viele Jahrhunderte hinweg ein vielfältiges, wenn auch oft gefährdetes und an den Rand gedrängtes jüdisches Leben entwickelt, dessen zusammenhängende Erforschung und Darstellung über die in der Geschichtswissenschaft etablierten Epochengrenzen hinweg die Kenntnisse zur allgemeinen deutsch-jüdischen Geschichte zu vertiefen und zu erweitern vermag. Eine solche zusammenhängende Forschung muss aber zunächst an den bestehenden Forschungsstand anknüpfen. Bislang fehlt es jedoch an einem Überblick und einer Einordnung der vielfältigen, insgesamt aber sehr disparaten Forschungsarbeiten.5 Im Folgenden sollen daher nach einem kurzen Abriss zur jüdischen Geschichte in Thüringen die bisherige Entwicklung und neue Ansätze der Forschung zur jüdischen Geschichte in Thüringen knapp skizziert werden. 3 4

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Vgl. u. a. die oben genannten Websites der Themenjahre 2020/21. Vgl. u. a.: Michael Brenner/Daniela F. Eisenstein (Hg.), Die Juden in Franken, München 2011; Michael Brenner/Renate Höpfinger (Hg.), Die Juden in der Oberpfalz, München 2009; Michael Brenner/Sabine Ullmann (Hg.), Die Juden in Schwaben, München 2013; Peter Fassl (Hg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, 3 Bde., Sigmaringen/ Stuttgart 1994–2007; Bettina Goldberg, Abseits der Metropolen. Die jüdische Minderheit in Schleswig-Holstein, Neumünster 2011; Monika Grübel/Georg Mölich (Hg.), Jüdisches Leben im Rheinland. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2005; Rolf Kiessling, Jüdische Geschichte in Bayern. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 2019; Michaela Schmölz-Häberlein (Hg.), Jüdisches Leben in der Region: Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft im Süden des Alten Reiches, Baden-Baden 2018. Als Überblick zur Forschung und Versuch einer regionalhistorischen Konzeption zur jüdischen Geschichte in Thüringen vgl. bislang in Bezug auf die neuere jüdische Geschichte und die Thüringen einschließende Region „Mitteldeutschland“: Stephan Wendehorst, Geschichte der Juden in „Mitteldeutschland“ zwischen Römisch-Deutschem Reich und Weimarer Republik. Forschungsstand, Methode, Paradigma, in: Giuseppe Veltri/Christian Wiese (Hg.), Jüdische Bildung und Kultur in Sachsen-Anhalt von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, Berlin 2009, S. 21–65; außerdem: Maike Lämmerhirt, Neue Forschungen zum jüdischen Leben in Thüringen im Mittelalter, in: Thüringer Museumshefte, Jg. 2021, H. 2, S. 9–13; Marko Kreutzmann, Neuere Forschungen zur jüdischen Geschichte in Thüringen in der Neuzeit, in: ebd., S. 14–17; sowie die Beiträge in: Heimat Thüringen. Kulturlandschaft, Umwelt, Lebensraum 27 (2020), H. 2 (Thema: „900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen“).

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2. Grundlinien jüdischer Geschichte in Thüringen Seit dem 11./12. Jahrhundert hat sich jüdisches Leben in der Region Thüringen an zahlreichen Orten angesiedelt. Zudem existierte in der unter der Herrschaft des Mainzer Erzbischofs stehenden Stadt Erfurt eine der mit zeitweise bis zu 50 Familien größten jüdischen Gemeinden des damaligen Reiches.6 Deren große Bedeutung wird nicht zuletzt durch die noch heute vorhandenen baulichen Denkmale und die wertvollen kulturellen Artefakte unterstrichen.7 Am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Frühen Neuzeit kam es allerdings durch zahlreiche Schutzaufkündigungen, Ausweisungen und Vertreibungen zu einem deutlichen Rückgang jüdischen Lebens in Thüringen.8 Die Region war dabei durch eine starke territoriale Vielfalt gekennzeichnet. Anteil daran hatten um 1500 v. a. die Länder des seit 1485 in eine ernestinische und eine albertinische Linie geteilten Hauses der Wettiner, die Gebiete der Schwarzburger und der Reußen, der Grafen von Henneberg und der Grafen von Hohnstein,9 die Reichsstädte Nordhausen und Mühlhausen, die zum Erzbistum und Kurfürstentum Mainz gehörigen Gebiete mit der Stadt Erfurt und dem Eichsfeld sowie Exklaven der Landgrafschaft Hessen. Hinzu kamen einzelne Gebiete der Reichsritterschaft des fränkischen Ritterkreises, die im Südwesten in die Region Thüringen hineinreichten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts übernahm das Königreich Preußen die meisten der kurmainzischen und albertinischen Gebiete in Thüringen sowie die beiden Reichsstädte. Von 1807 bis 1813 hatte auch der napoleonische „Modellstaat“ Westphalen Anteil an Thüringen, vor allem in den bislang kurmainzischen und hessischen Gebieten sowie den beiden Reichsstädten, während die Stadt Erfurt in dieser Zeit zum unmittelbaren Herrschaftsbereich des Kaisers Napoleon I. gehörte.10 Aus den meisten Thüringer Gebieten wurden die Juden spätestens im Lauf des 16. Jahrhunderts vertrieben. In der Stadt Erfurt lebten seit 1453 bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts keine Juden mehr. In den ernestinischen Territorien wurde ihnen durch die Ausweisungsmandate des 15. und 16. Jahrhunderts, deren Bestim6 Vgl. Lämmerhirt, Neue Forschungen (wie Anm. 5), S. 11. 7 Vgl. dazu u. a. die Publikationen aus der von der Landeshauptstadt Erfurt gemeinsam mit der Universität Erfurt herausgegebenen Reihe: „Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte“, bislang 6 Bde., Erfurt 2012–2020. 8 Vgl. Johannes Mötsch, Jüdische Siedlung in Thüringen, in: Heimat Thüringen 27 (2020), H. 2, S. 4–6; vgl. als knappen Überblick zur jüdischen Geschichte in Thüringen mit Schwerpunkt auf der NS-Zeit auch: Anna-Ruth Löwenbrück/Gabriele Olbrisch/Daniela Kranemann, Juden in Thüringen, in: Karl Schmitt (Hg.), Thüringen: Eine politische Landeskunde, Baden-Baden 22011, S. 249–264. 9 Die Grafen von Henneberg starben 1583, die Grafen von Hohnstein 1593 aus. 10 Vgl. zur territorialen Entwicklung Thüringens in der Neuzeit zusammenfassend: Steffen Rassloff, Geschichte Thüringens, München 22020, hier bes. S. 41–48, 58–73.

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Marko Kreutzmann

mungen im Wesentlichen in die Landesordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts übernommen wurden, zeitweise noch nicht einmal der Durchzug und die Übernachtung gestattet.11 Letzte Rückzugsgebiete der Juden in Thüringen blieben zunächst v. a. die Gebiete der Grafen von Henneberg, der Landgrafen von Hessen und der Reichsritterschaft, wo die Juden vor allem aus finanziellen Gründen Aufnahme fanden, da die Reichsritter von den hohen Abgaben, welche die Juden leisten mussten, profitierten. Erst seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts ließen auch einige der größeren thüringischen Territorien wieder Juden zu. Aus anderen Ländern, etwa den Herzogtümern Sachsen-Gotha-Altenburg und Sachsen-Weimar-Eisenach oder aus den reußischen Gebieten, blieben sie bis ins 19. Jahrhundert hinein, von Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich ausgeschlossen.12 Thüringen gehörte damit in der Frühen Neuzeit zur Region im Nordosten und Osten des Reiches um Kurbrandenburg und Kursachsen, in der den Juden seit dem Ende des Mittelalters die Ansiedlung weitgehend untersagt war. Dennoch spielte gerade Kursachsen u. a. durch die von zahlreichen jüdischen Händlern besuchten Leipziger Messen eine wichtige Rolle für das jüdische Leben in der Region.13 Auch im Verlauf des 19. Jahrhunderts gestaltete sich die Entfaltung jüdischen Lebens in Thüringen trotz des Wegfalls alter Beschränkungen eher zögerlich. Am dynamischsten entwickelte sich das jüdische Leben in den preußischen Gebieten Thüringens, vor allem in den Städten Erfurt, Nordhausen und Mühlhausen.14 Diese Entwicklung ist zum einen auf die Attraktivität großer Städte zurückzuführen, welche den Juden, die zumeist trotz gegenteiliger Bestrebungen der Regierungen in ihren traditionellen Berufen des Handels und des Geldgeschäftes blieben, bessere Erwerbschancen boten. Zum anderen war die Rechtslage in Preußen in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts 11 Vgl. Stefan Litt, Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit (1520–1650), Köln/Weimar/ Wien 2003, S. 156 f. 12 Vgl. als Überblick zu jüdischen Ansiedlungen in Thüringen in der Frühen Neuzeit auch Franz Levi (Bearb.), unter Mitarbeit von Johannes Mötsch u. Katharina Witter, 12 Gulden vom Judenschutzgeld … Jüdisches Leben in Berkach und Südwestthüringen, München/Jena 2001, S. 11–16. 13 Vgl. J. Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001, S. 10–13, hier bes. S. 11; Max Freudenthal, Leipziger Messgäste. Die jüdischen Besucher der Leipziger Messen in den Jahren 1675 bis 1764, Frankfurt a. M. 1928. 14 Vgl. Olaf Zucht, Die Geschichte der Juden in Erfurt von der Wiedereinbürgerung 1810 bis zum Ende des Kaiserreiches. Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Geschichte Thüringens, Jena, Univ., Diss., 1999; Marie-Luis Zahradnik, Vom reichsstädtischen Schutzjuden zum preußischen Staatsbürger jüdischen Glaubens. Chancen und Grenzen der Integration der Nordhäuser Juden im 19. Jahrhundert, Nordhausen 2018; Hans-Werner Hahn, Vom reichsstädtischen Schutzjuden zum preußischen Staatsbürger. Wege der deutschen Judenemanzipation am Beispiel Mühlhausens, in: Hessen und Thüringen. Festschrift für Jochen Lengemann zum 75. Geburtstag, hg. v. Jens Beger, Jena 2013, S. 207–224.

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zwar zum Teil noch uneinheitlich und widersprüchlich, aber doch vergleichsweise günstig.15 Dem gegenüber machte die rechtliche Gleichstellung der Juden in den thüringischen Kleinstaaten zunächst nur langsame Fortschritte. Darüber hinaus gab es anhaltende gesellschaftliche Widerstände gegen die Integration von Juden. Auch die städtischen Zentren in den Kleinstaaten entwickelten sich zunächst nur langsam im Hinblick auf Bevölkerungszahl und wirtschaftliche Bedeutung. Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts und verstärkt mit dem Beitritt zum Norddeutschen Bund und dem Kaiserreich kam es durch den Wegfall von Zuzugsbeschränkungen und den wirtschaftlichen Aufschwung zu einer wachsenden Zuwanderung auch in manche Städte der thüringischen Kleinstaaten wie Eisenach oder Gera, während in anderen wie Altenburg und Weimar die Zahl der jüdischen Einwohner weiterhin sehr gering blieb.16 Zudem gab es eine signifikante Abwanderung aus vielen ländlichen Gemeinden, die meist in die größeren Städte oder in andere Länder, u. a. nach Amerika, führte.17 Erschwerend kam der sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelnde moderne Antisemitismus hinzu, der sich auch in Thüringen über die Zeit des Ersten Weltkrieges hinaus bis zum Ende der Weimarer Republik ausgebreitet hat und u. a. in der Stadt Erfurt ein Zentrum besaß.18 Obwohl die Juden auch in der Zeit der Weimarer Republik noch ein fester Bestandteil der Gesellschaft blieben und an politischen Entwicklungen wie der Gründung des Landes Thüringen 1920 an führender Stelle beteiligt waren, gerieten sie durch die politische Krise der Weimarer Republik und den wachsenden Antisemitismus in eine defensive 15 Vgl. Hans-Werner Hahn, Zwischen Emanzipation und Restauration: Die Auseinandersetzungen um die preußische Judengesetzgebung zwischen Wiener Kongress und dem Judengesetz von 1847, in: Winfried Speitkamp/Hans-Peter Ullmann (Hg.), Konflikt und Reform. Festschrift für Helmut Berding, Göttingen 1995, S. 183–197. 16 Vgl. Reinhold Brunner, Von der Judengasse zur Karlstraße. Jüdisches Leben in Eisenach, Weimar 2003, S. 48; Werner Simsohn, Juden in Gera, hg. v. Erhard Roy Wiehn, Bd. 1: Ein geschichtlicher Überblick, Konstanz 1997, S. 27–31; Ingolf Strassmann, Die Juden in Altenburg – Stadt und Land. Woher kamen sie und wo sind sie geblieben, Langenweißbach 2004, S. 27 f.; Erika Müller/Harry Stein (Hg.), Jüdische Familien in Weimar vom 19. Jahrhundert bis 1945. Ihre Verfolgung und Vernichtung, Weimar 1998, S. 24. 17 Vgl. die Lebenserinnerungen eines jüdischen Unternehmers aus Sachsen-Meiningen: Moritz Siegel, Meine Familiengeschichte, Meiningen 1900–1917, in: Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte, hg. u. eingel. von Monika Richarz, New York 1976, S. 268–274, hier S. 271. 18 Vgl. Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866 bis 1914. Aus dem Nachlass hg. v. Volker Wahl, Weimar 1991, S. 170; vgl. zudem die Beiträge von Hans-Werner Hahn und Steffen Raßloff in diesem Band sowie allgemein zur Geschichte des Antisemitismus in Deutschland: Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; Stefan Scheil, Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen 1881 und 1912. Eine wahlgeschichtliche Untersuchung, Berlin 1999.

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Lage.19 Von der Verfolgung und Vernichtung in der Zeit des Nationalsozialismus waren die Juden in Thüringen, wo die Nationalsozialisten schon seit 1930 an der Regierung beteiligt waren und diese seit 1932 sogar führten, ebenfalls in vollem Ausmaß betroffen. Neben die ideologische Ausgrenzung durch die Rassenideologie der Nationalsozialisten traten bald auch die rechtliche Ausgrenzung, die Enteignung durch die so genannte „Arisierung“ jüdischen Eigentums sowie die Verfolgung, der Terror und schließlich die systematische Ermordung.20 Insgesamt etwa 1.000 Juden aus Thüringen wurden 1942 in zwei großen Transporten in die Konzentrationslager Bełżyce und Theresienstadt deportiert. Viele weitere Juden aus Thüringen wurden in Einzel- und Gruppentransporten verschleppt. Die allermeisten überlebten nicht. Etwa 12.000 Juden aus unterschiedlichen Gegenden kamen zudem im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar ums Leben.21 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lebten nur noch wenige Juden in Thüringen. In der Zeit der DDR kam es kaum zu einem neuen Zuzug. Dies war nicht nur die Folge der Erfahrung des Holocaust in der Zeit des Nationalsozialismus. Es war auch eine Auswirkung der antijüdischen Politik im sowjetischen Machtbereich bis etwa 1953 und danach des schwierigen Verhältnisses der DDR zum Staat Israel.22 Erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Neugründung des Landes Thüringen im Jahr 1990 nahm die jüdische Bevölkerung in Thüringen wieder zu. Dies war vor allem eine Folge der Zuwanderung aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Während der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen im Jahr 1989 nur noch 26 Mitglieder angehört hatten, waren es im Jahr 2002 schon 580 und im Jahr 2021 rund 700 Mitglieder.23 Seit 1990 gewann zudem die Forschung zur Geschichte jüdischen Lebens in Thüringen eine neue Dynamik.

19 Vgl. anhand der Debatten im Thüringer Landtag: Timo Leimbach, Landtag von Thüringen 1919/20–1933, Düsseldorf 2016, S. 179 f., 317 und 325; vgl. auch den Beitrag von Gerhard Lingelbach in diesem Band. 20 Vgl. mit weiteren Literaturhinweisen die Beiträge von Monika Gibas, Michael Löffelsender und Annegret Schüle in diesem Band. 21 Vgl. Harry Stein, Juden in Buchenwald 1937–1942, Weimar 1992; Carsten Liesenberg, „Wir täuschen uns nicht über die Schwere der Zeit …“ Die Verfolgung und Vernichtung der Juden, in: Detlev Heiden/Gunther Mai (Hg.), Nationalsozialismus in Thüringen, Weimar 1995, S. 443–462; Löwenbrück/Olbrisch/Kranemann, Juden in Thüringen (wie Anm. 8), S. 255; sowie den Beitrag von Michael Löffelsender in diesem Band. 22 Vgl. grundlegend: Michael Brenner (Hg.), Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart: Politik, Kultur und Gesellschaft, München 2012; Jörg Ganzenmüller (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland und Europa nach der Shoah: Neubeginn – Konsolidierung – Ausgrenzung, Göttingen 2020. 23 Vgl. die Website der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen: http://www.jlgt.org/geschich.html (letzter Zugriff: 8.3.2022).

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3. Forschungen im 19. Jahrhundert und in der Weimarer Republik Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte der Juden in Thüringen setzte um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Die moderne Historiographie zur jüdischen Geschichte in Deutschland hatte bereits 1820 mit dem Beginn des Erscheinens des neunbändigen Werkes von Isaak Markus Jost über die „Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Maccabäer“ ihren Anfang genommen. Neben dieser und anderen, aus dem universal- und geistesgeschichtlichen Ansatz der „Wissenschaft vom Judentum“ hervorgegangenen Arbeiten entstanden bald auch regionale Untersuchungen zur Geschichte der Juden.24 Im Jahr 1840 erschien die rechtshistorische Arbeit von Isidor Kaim über die Geschichte der Juden in Sachsen. Sowohl die Arbeit selbst als auch das vom Leipziger Historiker und Staatswissenschaftler Friedrich Bülau beigesteuerte Vorwort waren dem Streben nach rechtlicher Emanzipation der Juden verpflichtet. In der Arbeit wurden daher die rechtlichen Beschränkungen, Unterdrückungen und Verfolgungen der Juden seit dem Mittelalter als ein zu überwindendes Unrecht gekennzeichnet. Die Publikation behandelt teilweise auch die Region Thüringen, insbesondere für die Zeit des Mittelalters und soweit Thüringen unter der Herrschaft der sächsischen Wettiner stand.25 Von einem emanzipatorischen Ansatz war auch der Beitrag des aus dem dänischen Herzogtum Schleswig stammenden Jenaer Historikers und früheren Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49, Andreas Ludwig Jacob Michelsen,26 über die Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Erfurt und die Ermordung der meisten ihrer Mitglieder im Jahr 1349 geleitet. Der Aufsatz erschien in zwei Teilen 1860 und 1861 in der Zeitschrift des 1852 gegründeten „Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde“.27 Quellenbasierte Untersuchungen 24 Vgl. zur Entwicklung der (deutsch-)jüdischen Geschichtsschreibung: Michael Brenner, Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006; Thomas Brechenmacher, Deutsch-jüdische Geschichte als Wissenschaft. Zur historischen Entstehung einer akademischen Disziplin, in: Historische Zeitschrift 292 (2011), S. 95–123. 25 Vgl. K. Sidori [Isidor Kaim], Geschichte der Juden in Sachsen mit besonderer Rücksicht auf ihre Rechtsverhältnisse. Zum Theil nach archivalischen Quellen bearbeitet. Mit einer Vorrede vom Professor Friedrich Bülau, Leipzig 1840; vgl. zum Kontext: Michael Schäbitz, Juden in Sachsen – jüdische Sachsen? Emanzipation, Akkulturation und Integration 1700–1914, Hannover 2006. 26 Vgl. zu Michelsen: Enno Bünz, Vom Antiquar zum Landeshistoriker. Andreas Ludwig Jacob Michelsen in Jena, in: Konrad Marwinski (Hg.), 150 Jahre Verein für Thüringische Geschichte (und Altertumskunde). Vorträge zum Vereinsjubiläum 2002, Jena 2004, S. 51–74. 27 Vgl. A[ndreas] L[udwig] J[acob] Michelsen, Zur Beurkundung des Judensturms zu Erfurt im Jahre 1349, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 4 (1860/61), S. 145–158; Ders., Urkundlicher Nachtrag zur mittelalterlichen Geschichte der Juden in Erfurt, in: ebd., S. 319–330.

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über die Geschichte der Juden in Nordhausen wurden 1865 aus dem Nachlass des Gymnasiallehrers Ernst Günther Förstemann publiziert.28 Im Jahr 1868 erschien eine ebenfalls größtenteils aus den Quellen gearbeitete Geschichte der Juden in Erfurt aus der Feder des dortigen Rabbiners Adolph Jaraczewsky. Dieser stammte aus Borek in der preußischen Provinz Posen, wurde bei seinem Studium in Breslau durch Abraham Geiger gefördert und wirkte von 1862 bis 1879 als Rabbiner in Erfurt. Auch Jaraczewsky verfolgte mit seiner Darstellung das Ziel, die inzwischen erreichten Fortschritte der rechtlichen Gleichstellung der Juden durch die Gegenüberstellung mit den rechtlichen Einschränkungen, den Verfolgungen, Beraubungen und Ermordungen der Juden in den früheren Jahrhunderten umso deutlicher herauszustellen, damit diese Zeit „nie wiederkehren möge“, und „die Humanität, welche unsere Zeit characterisirt, immer heller und heller erglänzen“29 solle. Die frühen Veröffentlichungen zur jüdischen Geschichte in Thüringen waren somit vom anhaltenden Ringen um die rechtliche Gleichstellung, die Abwehr antijüdischer Einstellungen, im Ganzen aber vor allem vom Optimismus geprägt, dass die Zeit der Ausgrenzung und Unterdrückung nun endgültig überwunden sei oder bald überwunden sein werde. Eine intensivere Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte in Thüringen blieb jedoch zunächst aus. Die große Untersuchung zur Geschichte der Juden im Herzogtum Sachsen-Meiningen(-Hildburghausen) aus der Feder des Pfarrers und Orientalisten Armin Human im Jahr 1898 stellte eine singuläre Erscheinung dar.30 Human war vielseitig gebildet, aufgeschlossen für verschiedene Religionen und wirkte v. a. als Vorsitzender des Vereins für Sachsen-Meiningische Geschichte und Altertumskunde engagiert für die Erforschung der Landesgeschichte. Seine Darstellung war auch bereits ein Versuch zur Abwehr des an Einfluss gewinnenden Antisemitismus. Nicht ohne Grund stellte Human seiner Publikation Zitate des früheren Reichskanzlers Otto von Bismarck voran, die insgesamt auf eine Zurückweisung oder doch auf eine Relativierung antisemitischer Positionen hinausliefen.31 Noch im Erscheinungsjahr seiner Veröffentlichung sah sich der Verfasser jedoch dazu gezwungen, auf 28 Ernst Günther Förstemann, Die Juden in der Reichsstadt Nordhausen, in: Nordhusana. Aus dem Nachlasse des Prof. Dr. G. E. Förstemann, hg. v. Th. Perschmann, in: Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen 11 (1865), S. 265– 288, hier S. 272–281. 29 Adolph Jaraczewsky, Die Geschichte der Juden in Erfurt. Nebst Noten, Urkunden und Inschriften aufgefundener Leichensteine. Grösstentheils nach primären Quellen bearb. Mit einer Abb. der Erfurter Synagoge im Jahre 1357, Erfurt 1868, S. VIII; vgl. zur Person: Zucht, Die Geschichte der Juden in Erfurt (wie Anm. 14), Bl. 196–198. 30 Vgl. Hanspeter Wulff-Woesten, Rudolf Armin Human – ein bedeutender Theologe, Historiker und Forscher, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 18 (2003), S. 9–28. 31 Vgl. Armin Human, Geschichte der Juden im Herzogtum S[achsen]-Meiningen-Hildburg­ hausen, Hildburghausen 1898, S. 3–5.

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der Hauptversammlung des Vereins für Sachsen-Meiningische Geschichte und Altertumskunde den in Zeitungsartikeln erhobenen Vorwurf zurückzuweisen, er habe eine „philosemitische Streitschrift“ verfasst, „mit dem Ziel, den immer kräftiger auftretenden Antisemitismus zu vernichten“.32 Eine größere Arbeit zur Geschichte der Juden in Thüringen und Sachsen erschien erst wieder 1917, also zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Verfasser war der 1891 in Berlin geborene, seit 1915 als Rabbiner im westpreußischen Briesen und zum Zeitpunkt des Erscheinens des ersten Bandes seines Werkes als Feldrabbiner in Polen und Litauen tätige Siegbert Neufeld. Neufeld hatte beim Abschluss seines Studiums in Berlin und Straßburg eine Dissertation zur Geschichte der Halberstädter Juden vorgelegt. Auch in der Folge befasste er sich intensiv mit der deutsch-jüdischen Geschichte und war u. a. mehrere Jahre Vorsitzender des Verbandes der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Ostpreußen.33 Der erste Band seiner Geschichte der „Juden im thüringisch-sächsischen Gebiet während des Mittelalters“ war noch ganz vom Bestreben nach Einbindung der jüdischen Geschichte in die deutsche Nationalgeschichte geprägt, indem er mit seiner Arbeit nachzuweisen versuchte, dass auch die deutschen Juden „an der Erhaltung und Verbreitung der Kultur an der Grenzmark, im Elb-Saale-Gebiet, arbeiteten“.34 Der zweite Teil von Neufelds Werk erschien aufgrund der schwierigen äußeren Verhältnisse infolge von Kriegsende, Inflation und wirtschaftlicher Not zunächst kapitelweise in größeren Abständen in der „Thüringisch-sächsischen Zeitschrift für Geschichte und Kunst“. Dieser zweite Teil behandelte die schwere Zeit der Verfolgungen und Vertreibungen der Juden seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.35 Zugleich erschienen um diese Zeit noch einige wenige Studien zur Geschichte einzelner jüdischer Gemeinden in Thüringen.36 32 Zitiert nach: Manuel Schwarz, Armin Human und die Neuauflage seiner „Geschichte der Juden im Herzogtum S.-Meiningen-Hildburghausen“ im Jahre 1939, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 29 (2014), S. 263–270, hier S. 263. 33 Vgl. zur Person: Andreas Brämer, „Neufeld, Siegbert“, in: NDB 19 (1998), S. 115 f. [Onlinefassung]; URL: https://www.deutschebiographie.de/pnd138419396.html (letzter Zugriff: 9.3.2022). 34 Siegbert Neufeld, Die Juden im thüringisch-sächsischen Gebiet während des Mittelalters, Bd. 1: Von den ältesten Zeiten bis zum schwarzen Tod (1348), Berlin 1917, S. 9. 35 Vgl. Ders., Die Einwirkung des „Schwarzen Todes“ auf die sächsisch-thüringischen Juden, in: Thüringisch-sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 9/1 (1919), S. 42– 52; Ders., Die Zeit der Judenschuldentilgungen und -schatzungen in Sachsen-Thüringen, in: ebd. 12 (1922), S. 66–87; Ders., Die Vertreibung der Juden aus Sachsen und Thüringen, in: ebd. 15/2 (1926), S. 182–202; alle Teile zusammen in: Siegbert Neufeld, Die Juden im thüringisch-sächsischen Gebiet während des Mittelalters, Bd. 2: Vom „Schwarzen Tod“ 1348 bis zum Ausgang des Mittelalters, Halle 1927. 36 Vgl. u. a. Jacob Jacobson, Akten-Inventar der Synagogengemeinde Walldorf/Werra. Anlage: Zur Begründung des Landrabbinats und zur Entstehung der Synagogen- und Gottesdienstordnung für das Herzogtum Sachsen-Meiningen, in: Mitteilungen des Gesamt-

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4. Die Zäsur von 1933 und der schwierige Neubeginn nach 1945 Die Verfolgung, Entrechtung, Enteignung, Vertreibung und Vernichtung der Juden im „Dritten Reich“ wurde in Thüringen durch intensive Anstrengungen begleitet, diese Maßnahmen durch scheinbar wissenschaftliche historische Forschungen zu legitimieren. Dabei taten sich die aus der Stadt Kahla in Thüringen stammenden Brüder Erich und Gerhard Buchmann hervor. Erich Buchmann, persönlicher Referent des Reichsstatthalters Fritz Sauckel, hoher Beamter im Thüringer Innenministerium und in der Landesgeschichtsforschung aktiv, gab seit 1939 die Schriftenreihe „Thüringer Untersuchungen zur Judenfrage“ heraus, von deren geplanten zehn Bänden bis 1944 neun erschienen sind. An dieser Schriftenreihe war auch Erich Buchmanns Bruder Gerhard als Verfasser zweier Bände beteiligt.37 Die Schriftenreihe war ganz der nationalsozialistischen Rassenideologie verpflichtet. Unter dem Deckmantel angeblicher historischer „Aufklärung“ sollte die rassistisch motivierte und schon in ihrer Formulierung antijüdisch-abwertende Behauptung vermittelt werden, dass sich „der Jude im Wandel der Zeiten […] immer wieder als derselbe betrügerische Ausbeuter und blutsaugende Schmarotzer“38 erwiesen habe. In dieser Reihe wurde auch die Studie von Armin Human über die Geschichte der Juden in Sachsen-Meiningen aus dem Jahr 1898 neu herausgegeben. Allerdings wurde der originale Text so bearbeitet und verfälscht, dass er ganz den ideologischen Vorstellungen des Herausgebers entsprach und mit der ursprünglichen Darstellung nicht mehr viel gemein hatte.39 Außerhalb der „Thüringer Untersuchungen zur Judenfrage“ erschien 1939 außerdem eine Abhandlung von Otto Bessenrodt über die Geschichte der Juden in Gotha „mit Ausblicken auf die Geschichte der Juden in Thüringen und Deutschland“, die ebenfalls vollkommen der NS-Ideologie verpflichtet war.40 Abgesehen von diesen, durch die NS-Ideologie geleiteten „Untersuchungen“, die in ihrem Kern nichts weiter als NS-Propagandaschriften darstellten, erschienen ab 1933 für die nächsten rund fünfzig Jahre keine größeren Arbeiten zur archivs der deutschen Juden 6 (1926), S. 54–97; Heinrich Stern, Geschichte der Juden in Nordhausen, Nordhausen 1927. 37 Vgl. Manuel Schwarz, „Judenforschung“ im „Mustergau“: Die Brüder Buchmann und die Schriftenreihe „Thüringer Untersuchungen zur Judenfrage“ (1939–1944), Berlin 2015. 38 So Erich Buchmann in einem programmatischen Beitrag in der Zeitschrift „Die Pflicht“ von 1938, der beinahe unverändert auch in den ersten Heften der „Thüringer Untersuchungen zur Judenfrage“ als Vorwort des Herausgebers erschien. Zitiert nach Schwarz, „Judenforschung“ (wie Anm. 37), S. 40. 39 Vgl. Schwarz, Armin Human (wie Anm. 32). 40 Vgl. Otto Bessenrodt, Juden in Gotha. Ein geschichtlicher Rückblick mit Ausblicken auf die Geschichte der Juden in Thüringen und Deutschland, Gotha 1939.

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jüdischen Geschichte in Thüringen mehr. Insofern zeigt sich für die Forschungen zur jüdischen Geschichte in Thüringen ebenso wie zur jüdischen Geschichte in Deutschland insgesamt eine „große Lücke, die mit der Zäsur von 1933 an einsetzte“.41 Denn auch nach dem Ende des „Dritten Reiches“ spielte die jüdische Geschichte Thüringens lange Zeit kaum eine Rolle in der historischen Forschung. Nach der deutschen Teilung 1949 erhielten Wissenschaftler aus der Bundesrepublik Deutschland, in der sich die Forschung zur jüdischen Geschichte ebenfalls erst allmählich entwickelte, nur schwer Zugang zu den Archiven in der DDR. In der marxistischen Geschichtswissenschaft der DDR wiederum kam der jüdischen Geschichte lange Zeit nur eine sehr untergeordnete Bedeutung zu, auch wenn nach neueren Forschungsergebnissen von einer völligen Ignoranz des Themas keine Rede mehr sein kann. Die Juden als größte Opfergruppe des NS-Regimes wurden jedoch aus politischen Gründen zugunsten der Erinnerung an die kommunistischen Gegner und Opfer der NS-Diktatur in der Geschichtsforschung der DDR bewusst zurückgedrängt.42 Diese Defizite spiegelten sich auch in der Forschung zur jüdischen Geschichte in Thüringen wider. Von den rund 14.000 Titeln, die in der 1965/66 von Hans Patze veröffentlichten Bibliographie zur thüringischen Geschichte aufgeführt werden, betreffen nur 25 Arbeiten die jüdische Geschichte, wobei auch die in der NS-Zeit entstandenen Publikationen aus der Reihe „Thüringer Untersuchungen zur Judenfrage“ unkritisch mitgenannt werden.43 Auch in dem von 1967 bis 1984 in sechs Bänden erschienenen Handbuch zur Geschichte Thüringens, das in der Bundesrepublik unter der Leitung von Walter Schlesinger und Hans Patze erarbeitet wurde, kommt die jüdische Geschichte zumindest für den Zeitraum der Neueren Geschichte kaum vor.44 Das in der DDR von dem akade41 Maike Lämmerhirt, Juden in den wettinischen Herrschaftsgebieten. Recht, Verwaltung und Wirtschaft im Spätmittelalter, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 1. 42 Vgl. Alexander Walther, (Jüdische) Historiker*innen in der DDR und die Erforschung von Judentum und Shoah, in: Ganzenmüller (Hg.), Jüdisches Leben (wie Anm. 22), S. 195–218; Stefan Meining, Kommunistische Judenpolitik. Die DDR, die Juden und Israel, Hamburg 2002. 43 Vgl. Hans Patze, Bibliographie zur thüringischen Geschichte, Halbbd. 1: Titel, Köln 1965; Halbbd. 2: Register, Köln 1966, hier Halbbd. 2, S. 1089; unter den 25 Titeln werden als ein Titel auch 5, die jüdische Geschichte in Thüringen betreffende Hefte der „Thüringer Untersuchungen zur Judenfrage“ aus der NS-Zeit genannt; außerdem wird die Arbeit von Armin Human zur Geschichte der Juden in Sachsen-Meiningen-Hildburg­ hausen von 1898 in ihrer zweiten, 1939 in der erwähnten Reihe von Erich Buchmann publizierten und durch eine Umarbeitung im Sinne der NS-Ideologie verfälschten Auflage genannt. Vgl. ebd., Halbbd. 1, S. 828. 44 Vgl. Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.), Geschichte Thüringens, 6 Bde., Köln/Wien 1967–1984; hier bes. Bd. 2: Hohes und spätes Mittelalter, Teilbd. 1, Köln/Wien 1974, S. 360–363 (Kapitel zur Rechtsstellung der Juden); Teilbd. 2, Köln/Wien 1973, S. 9 f. (Abschnitt zur Sozialgeschichte der Juden); Bd. 3: Das Zeitalter des Humanismus und der

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mischen und politischen Außenseiter Helmut Eschwege gegen starke politische Widerstände erarbeitete dreibändige Werk zur Geschichte der Juden auf dem Gebiet der DDR wurde circa 1991 lediglich als Manuskript vervielfältigt und in verschiedenen Bibliotheken zur Benutzung für die Öffentlichkeit bereitgestellt. Es handelt sich im Wesentlichen um eine Datensammlung zur Geschichte der jüdischen Gemeinden in den einzelnen Orten des Untersuchungsraums.45 Einen größeren Aufschwung nahm die Forschung zur jüdischen Geschichte in Deutschland insgesamt jedoch bereits seit den 1970er und 80er Jahren.46 Dies hing nicht zuletzt auch mit einer intensivierten Beschäftigung mit dem Holocaust zusammen, die sich sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR zeigte und vielfach auch zur Erforschung der oftmals in Vergessenheit geratenen Geschichte der jüdischen Gemeinden vor Ort führte. In der DDR war für diese Initiativen staatlicherseits nicht zuletzt auch das Bemühen um eine außenpolitische Anerkennung durch die USA maßgebend, wofür ein Bekenntnis zur historischen Verantwortung für den Holocaust und die Zahlung von Entschädigungen an Überlebende eine Voraussetzung war. In diesem Zusammenhang wurde das öffentliche Gedenken an den 50. Jahrestag des Novemberpogroms von 1938 durch entsprechende historische Forschungen vorbereitet.47 Eine wichtige Rolle spielten aber auch die eigenständigen Initiativen kirchlicher Gruppen und christlich-jüdischer Gemeinschaften, welche zunehmend die Beschäftigung mit der lokalen jüdischen Geschichte anregten.48 Darüber hinaus kam schließlich in diesem Zusammenhang sowohl in West- wie auch in Ostdeutschland dem

Reformation, Köln/Graz 1967 und Bd. 4: Kirche und Kultur in der Neuzeit, Köln/Wien 1972, enthalten laut Register keine Erwähnungen von Juden; in Bd. 5: Politische Geschichte in der Neuzeit, sind Juden nur im ersten Teil von Teilband 1 (= Bd. 5/1/1: Politische Geschichte von 1572 bis 1775, Köln/Wien 1982) und im Teilband 2 (= Bd. 5/2: Politische Geschichte von 1828 bis 1945, Köln/Wien 1978) an einzelnen Stellen erwähnt, im letzteren Band besonders im Zusammenhang mit der Verfolgung und Vernichtung in der NS-Zeit. 45 Vgl. Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, 3 Teile, maschinenschriftl. Manuskript [Dresden 1991]; hier bes. Teil 2, S. 794–988, der die Geschichte der jüdischen Gemeinden im „Land Thüringen“, aufgeteilt nach den DDR-Verwaltungsbezirken Erfurt, Gera und Suhl, enthält. 46 Vgl. zu diesen Tendenzen: Dirk Blasius, „Judenfrage“ und Gesellschaftsgeschichte, in: Neue Politische Literatur 23 (1978), S. 17–33; Arno Herzig, Juden und Judentum in der sozialgeschichtlichen Forschung, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. 4: Soziale Gruppen in der Geschichte, Göttingen 1987, S. 108–132. 47 Vgl. Edgar Wolfrum, Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Göttingen 22002, S. 114–122. 48 Vgl. Walther, (Jüdische) Historiker*innen in der DDR (wie Anm. 42), S. 217.

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methodischen Wandel hin zur Alltags-, Lokal- und Heimatgeschichte eine nicht unwesentliche Bedeutung zu.49 In dieser Zeit entstanden zahlreiche Arbeiten, die sich der Geschichte der jüdischen Gemeinden vor Ort und dem Schicksal jüdischer Mitmenschen in der Zeit des Nationalsozialismus widmeten. Dabei stand auch die Sicherung der meist vom endgültigen Verschwinden bedrohten materiellen Zeugnisse jüdischen Lebens, wie Synagogen oder jüdische Friedhöfe, im Zentrum der Bemühungen.50 Es begannen erste Erhaltungs- und Restaurierungsarbeiten, etwa an der Alten Synagoge in Erfurt.51 All diese Bemühungen wurden nach dem Ende der DDR und der deutschen Wiedervereinigung 1990 fortgesetzt und erhielten zugleich neue Impulse.52 Diese neuen Impulse bestanden zunächst einmal in der erneuten Zunahme jüdischen Lebens in Thüringen durch das zahlenmäßige Wachstum der jüdischen Landesgemeinde. Darüber hinaus kam es zur Wiederbegründung bzw. organisatorischen und personellen Neuausrichtung 49 Vgl. in kritischer Perspektive zu diesen neuen Ansätzen: Monika Richarz, Luftaufnahme – oder die Schwierigkeiten der Heimatforscher mit der jüdischen Geschichte, in: Babylon: Beiträge zur jüdischen Gegenwart 8 (1991), S. 27–33. 50 Vgl. u. a. Herbert Eilers, Die jüdische Gemeinde in Eisenach, in: Wartburgland 16 (1985), S. 26–33; Ders., Der jüdische Teil des Eisenacher Friedhofs, in: Wartburgland 18 (1987), S. 17–22; Carsten Liesenberg, Juden in Mühlhausen – ihre Geschichte, Gemeinde und bedeutende Persönlichkeit, Mühlhausen [1989] (Maschinenschriftlicher Abdruck); Eva Schmidt, Jüdische Familien im Weimar der Klassik und Nachklassik und ihr Friedhof, Weimar 1984 (2. Aufl. 1993 unter dem Titel: Jüdische Familien im Weimar der Klassik und Nachklassik: In Memoriam Else Behrend-Rosenfeld); Harry Stein, Quellen zum antisemitischen Pogrom in Thüringen 1938, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 36 (1988), H. 10, S. 900–910. 51 Vgl. Maria Stürzebecher, Das jüdische Erbe in Erfurt nach 1989 – (Wieder-)Entdeckung und Erschließung, in: Theologie der Gegenwart 63/3 (2020), S. 173–179; Eike Küstner, Jüdische Kultur in Thüringen. Eine Spurensuche, Erfurt 2012, S. 97–104. 52 Vgl. u. a. Manfred Schröter, Die Verfolgung der Nordhäuser Juden 1933 bis 1945, Bad Lauterberg im Harz 1992 (überarbeitete und ergänzte Neuauflage: Nordhausen 2013); Thomas Bahr (Hg.), Beiträge zur Geschichte jüdischen Lebens in Thüringen (Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde, Beiheft 29), Jena 1996; Monika Kahl, Denkmale jüdischer Kultur in Thüringen, Bad Homburg 1997; Juden in Jena. Eine Spurensuche, hg. v. Jenaer Arbeitskreis Judentum, Jena 1998; Carsten Liesenberg, Zur Geschichte der Juden in Mühlhausen und Nordthüringen und die Mühlhäuser Synagoge, Mühlhausen 1998; sowie die umfangreiche Dokumentationsreihe: Hans Nothn ­ agel (Hg.), Juden in Südthüringen geschützt und gejagt. Eine Sammlung jüdischer Lokalchroniken in sechs Bänden, Suhl 1998–1999; vgl. auch die bereits 1995 abgeschlossene, aber erst 2007 in aktualisierter Form durch die Landeszentrale für politische Bildung Thüringen im Internet veröffentlichte Dokumentation: Israel Schwierz, Zeugnisse jüdischer Vergangenheit in Thüringen. Eine Dokumentation. Unter Mitarbeit von Johannes Mötsch, Erfurt 2007 (https://www.lztthueringen.de/downloads/?pub=57&func=show; letzter Zugriff: 4.3.2022).

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von Institutionen der landesgeschichtlichen Forschung, die sich auch der Erforschung der Geschichte jüdischen Lebens in Thüringen zuwandten. Diese Institutionen bestanden u. a. in der neu begründeten Historischen Kommission für Thüringen, den Geschichtsvereinen, den Archiven, Museen und Bibliotheken sowie den geschichtswissenschaftlichen Bereichen der Universität Jena und der 1994 neu begründeten Universität Erfurt.

5. Neue Forschungen seit 1990 In zahlreichen lokalen Forschungs- und Ausstellungsprojekten wurden auch in jüngerer Zeit weiterhin neue Erkenntnisse zur Geschichte jüdischen Lebens in einzelnen Orten oder in den früheren Territorien vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert zusammengetragen und der Öffentlichkeit präsentiert.53 Zum anderen entstanden auch wissenschaftliche Untersuchungen zu verschiedenen Epochen und Themen, welche die lokale oder regionale jüdische Geschichte in die größeren Zusammenhänge der Forschungen zur jüdischen Geschichte in Deutschland und Europa einordneten. Im Folgenden sollen kurz die jüngeren historiographischen Schwerpunkte in vier chronologischen Bereichen skizziert werden. Zahlreiche neue Arbeiten entstanden erstens zur Geschichte jüdischen Lebens in Thüringen im Mittelalter. Dabei spielte zunächst einmal die Erforschung der materiellen und baulichen Überreste eine wichtige Rolle. Hierzu gehören insbesondere die Reste mittelalterlicher Synagogen, jüdischer Friedhöfe oder Mikwen. Der einzigartigen Überlieferung zum mittelalterlichen jüdischen Leben in Erfurt kommt dabei eine besondere Bedeutung zu.54 Dazu zählt nicht nur die restaurierte und der Öffentlichkeit 2009 als Museum zugänglich gemachte Alte Synagoge, sondern auch der 1998 entdeckte „Erfurter Schatz“, der neben zahlreichen Silbermünzen und Barren auch mehr als 700 Einzelstücke gotischer Goldschmiedekunst aus dem 13. und 14. Jahrhundert enthält, sowie die 2007 53 Vgl. u. a. Juden in Schwarzburg: Festschrift zu Ehren Prof. Philipp Heidenheims (1814– 1906), Rabbiner in Sondershausen, anlässlich seines 100. Todestages, hg. v. Schlossmuseum Sondershausen, Bd. 1: Beiträge zur Geschichte der Juden Schwarzburgs; Bd. 2: Der jüdische Friedhof von Sondershausen, Dresden 2006; Helge Wittmann (Hg.), Distanzen. Jüdisches Leben in Mühlhausen (Ausstellungen des Stadtarchivs Mühlhausen, 2/Schriftenreihe der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung, 28), Petersberg 2013; Jüdische Familien aus Arnstadt und Plaue. Katalog zur Sonderausstellung im Schlossmuseum Arnstadt 2. Mai bis 14. November 2021, hg. v. Schlossmuseum Arnstadt, Weimar 2021. 54 Vgl. die Publikationen aus der Reihe: „Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte“; sowie: Die mittelalterliche jüdische Kultur in Erfurt, hg. v. Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie durch Sven Ostritz, 4 Bde., Langenweißbach 2009– 2011.

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entdeckte mittelalterliche Mikwe. Bedeutsam ist auch die Erforschung der mittelalterlichen jüdischen Handschriften aus Erfurt, die wahrscheinlich während des Pogroms von 1349 in die Hände des Stadtrats gelangten, später in den Besitz des evangelischen Ministeriums im Augustinerkloster übergingen und 1880 an die Königliche Bibliothek in Berlin, heute Staatsbibliothek zu Berlin, verkauft wurden.55 Im Jahr 2021 brachte das Land Thüringen einen Antrag auf Aufnahme der baulichen Zeugnisse jüdischen Lebens in Erfurt im Mittelalter in die Liste des UNESCO-Welterbes auf den Weg. Daneben entstanden auch grundlegende Untersuchungen zur Ansiedlung von Juden in Thüringen im Mittelalter, zu ihrer Rechtslage und wirtschaftlichen und sozialen Stellung.56 Diese Arbeiten beschränkten sich nicht allein auf Erfurt, sondern befassten sich auch mit anderen Orten, an denen sich jüdisches Leben entwickelte. Auch zu den immer wieder stattfindenden Verfolgungen und Pogromen sind inzwischen spezielle Untersuchungen entstanden, etwa über den durch den angeblichen Mord an einem christlichen Jugendlichen ausgelösten Pogrom von 1303 in Weißensee und anderen Orten, bei dem die jüdische Gemeinde in Weißensee ausgelöscht wurde und in dessen Gefolge ein lokaler christlicher Heiligenkult entstand.57 Nachdem in vielen Forschungsarbeiten zunächst die Ansiedlung und Entfaltung jüdischen Lebens seit dem 12. Jahrhundert bis zu den Pestpogro55 Vgl. Michael Ludscheidt, Zur Geschichte der Erfurter hebräischen Handschriften, in: Stadt und Geschichte 35 (2007), S. 21–23; Ders., Überlieferung und Erforschung der Erfurter hebräischen Handschriften zwischen 1349 und 1880, in: Erfurter Hebräische Handschriften, hg. von der Landeshauptstadt Erfurt, Erfurt 2010, S. 27–45; Ders., „Seltenheiten orientalischer Literatur“: Überlieferung, Erforschung und Verkauf der Erfurter hebräischen Handschriften, in: Zu Bild und Text im jüdisch-christlichen Kontext im Mittelalter (Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte, 3), Erfurt 2014, S. 80–107; vgl. auch die Dokumentation zu dem von 2017 bis 2020 unter der Leitung von PD Dr. Annett Martini an der Freien Universität Berlin durchgeführten Forschungsprojekt: „Die hebräischen Handschriften der ‚Erfurter Sammlung‘ als kulturhistorische Zeugen jüdischen Lebens im Mittelalter.“ (Online unter: https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/erfurter_ sammlung/index.html; letzter Aufruf: 3.3.2022). 56 Vgl. Lämmerhirt, Juden in den wettinischen Herrschaftsgebieten (wie Anm. 41); Dies., Die Anfänge der jüdischen Besiedlung in Thüringen, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 69 (2015), S. 57–91; Dies., Jüdisches Leben im mittelalterlichen Mühlhausen, in: Mühlhäuser Beiträge 34 (2011), S. 73–90; Reinhold Ruf-Haag, Juden und Christen im spätmittelalterlichen Erfurt. Abhängigkeiten, Handlungsspielräume und Gestaltung jüdischen Leben in einer mittelalterlichen Großstadt, Dissertation, Universität Trier 2007 (Mikrofiche-Ausgabe 2009). 57 Vgl. Hartmut Kühne/Johannes Mötsch (Hg.), Der „Gute Conrad“ von Weißensee: Judenmord und Heiligenverehrung zwischen Spätmittelalter und Reformation, Berlin 2017; Maike Lämmerhirt, Die Ritualmordlegende im thüringischen Raum und die Verfolgung der Juden von Weißensee 1303, in: Enno Bünz/Stefan Tebruck/Helmut G. Walther (Hg.), Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag, Weimar 2007, S. 738–762.

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men von 1349 im Zentrum gestanden hatte, rücken in letzter Zeit die neuen jüdischen Siedlungen seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts „als Blütezeit jüdischen Lebens in Thüringen“58 im Mittelalter bis zu den endgültigen Vertreibungen um die Mitte des 15. Jahrhunderts in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.59 Zweitens befassen sich neuere Arbeiten mit dem jüdischen Leben in Thüringen in der Frühen Neuzeit. Aufgrund der Vertreibungen im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts, die erst im 18. und 19. Jahrhundert einer umfangreicheren Neuansiedlung Platz machten, gab es jedoch nur wenige Ansatzpunkte für entsprechende Forschungen. Ein erster Überblick zu jüdischen Siedlungen reicht nur vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts.60 Darüber hinaus wurden einzelne jüdische Gemeinschaften im Süden und Westen Thüringens, die dort u. a. in den Gebieten der Reichsritterschaft Schutz gefunden hatten, in Spezialstudien untersucht.61 Dem Phänomen der Konversion von Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit ist jüngst ebenfalls eine eigene, umfangreiche Studie gewidmet worden.62 Eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren in letzter Zeit auch die Hofjuden, die seit dem 18. Jahrhundert in größerer Zahl in den thüringischen Residenzen zu finden sind. Sie waren mitunter der Kern für die Herausbildung neuer jüdischer Gemeinschaften und spielten zudem eine nicht unwesentliche Rolle für die Entfaltung der Hofkultur sowie für die grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Wandlungsprozesse an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.63 Auch zur jüdischen Geschichte in Thüringen im „langen“ 19. Jahrhundert entstanden drittens zahlreiche neuere Arbeiten. Mit den grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen um 1800 setzte für die jüdische Geschichte in Thüringen ein neues Kapitel ein, das vor allem durch den Wegfall alter Beschränkungen, die erneute Ausbreitung jüdischen Lebens und das Ringen um rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Integration, aber auch durch die Auseinandersetzung mit einem neuen Antisemitismus gekennzeichnet ist.64 58 Lämmerhirt, Neue Forschungen (wie Anm. 5), S. 9. 59 Vgl. auch Maike Lämmerhirt, Die mittelalterlichen jüdischen Gemeinden in Erfurt – neue Forschungsansätze und -ergebnisse, in: Theologie der Gegenwart 63/3 (2020), S. 162–172; sowie den Beitrag von Maike Lämmerhirt in diesem Band. 60 Vgl. Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 11). 61 Vgl. Levi (Bearb.), 12 Gulden vom Judenschutzgeld (wie Anm. 12); Katharina Witter, Anmerkungen zur jüdischen Geschichte von Themar, Teil 1: Die jüdische Gemeinde Marisfeld als Vorläufer der jüdischen Gemeinde Themar, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 32 (2017), S. 165–186; Teil 2: Die jüdische Gemeinde in Themar, in: ebd. 33 (2018), S. 195–208; Teil 3: Nachträge zur jüdischen Geschichte von Marisfeld, in: ebd. 34 (2019), S. 197–202. 62 Vgl. Anke Költsch, Konversion und Integration: Konversionen vom Judentum zum lutherischen Christentum im frühneuzeitlichen Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg, Berlin u. a. 2021. 63 Vgl. mit weiteren Literaturhinweisen den Beitrag von Marko Kreutzmann in diesem Band. 64 Vgl. den Beitrag von Hans-Werner Hahn in diesem Band.

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Zahlreiche neuere Arbeiten widmeten sich der Neuansiedlung jüdischen Lebens, vor allem in den Städten des preußischen Thüringens wie Erfurt, Nordhausen und Mühlhausen, in denen die alten Beschränkungen am frühesten fielen.65 Darüber hinaus wurde dem rechtlichen Emanzipationsprozess in den thüringischen Kleinstaaten, besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Aufmerksamkeit geschenkt.66 Eine eigene Studie ist auch den staatlichen Versuchen zur Steuerung des jüdischen Gemeindelebens durch die Schaffung so genannter Landrabbinate gewidmet worden.67 Schließlich befasste sich eine instruktive Aufsatzsammlung mit der Bedeutung jüdischer Themen und der Rolle jüdischer Abgeordneter in den Thüringer Parlamenten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts.68 Weniger ist dagegen bislang über das innerjüdische Leben bekannt sowie über die unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Judentums in Thüringen, sowohl im Hinblick auf die eigene, religiöse und kulturelle Ausrichtung, als auch in Bezug auf die rechtliche Gleichstellung. Diese Strömungen lassen sich beispielsweise über jüdische Zeitschriften fassen, die auch in Thüringen verbreitet waren.69 In wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive ist die Rolle von jüdischen Unternehmen und Unternehmern für die ökonomische Entwicklung in Thüringen durch Fallstudien untersucht worden.70 Gerade am wirtschaftlichen Erfolg vieler Juden, an ihrem Anteil an den tiefgreifenden sozioökonomischen Wandlungsprozessen, entzündete sich seit den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts jedoch der moderne Antisemitismus. Dieser ist für Thüringen bislang 65 Vgl. Zucht, Die Geschichte der Juden in Erfurt; Zahradnik, Vom reichsstädtischen Schutzjuden; Hahn, Vom reichsstädtischen Schutzjuden (alle wie Anm. 14). 66 Vgl. Ulrike Schramm-Häder, „Jeder erfreuet sich der Gleichheit vor dem Gesetze, nur nicht der Jude“: Die Emanzipation der Juden in Sachsen-Weimar-Eisenach (1823–1850), München 2001; Franz Levi/Rainer Liedtke/Stefan Wendehorst, Die Frühphase der Judenemanzipation in Sachsen-Meiningen (mit Urkundeneditionen), in: Bahr (Hg.), Beiträge zur Geschichte jüdischen Lebens (wie Anm. 52), S. 39–103. 67 Vgl. Gabriele Olbrisch, Landrabbinate in Thüringen 1811–1871. Jüdische Schul- und Kultusreform unter staatlicher Regie, Köln u. a. 2003. 68 Vgl. Harald Mittelsdorf (Red.), Zwischen Mitgestaltung und Ausgrenzung. Jüdische Abgeordnete und jüdisches Leben als Thema in Thüringer Parlamenten, hg. v. Thüringer Landtag, Weimar 2007. 69 Vgl. Werner Grossert, Zur Geschichte der Emanzipation der Juden anhand der jüdischen Zeitschrift „Sulamith“, in: Jürgen John (Hg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Weimar u. a. 1994, S. 371–383. 70 Vgl. Alfred Erck, Gustav Strupp als Bankier und Industrieller, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 24 (2009), S. 163–180 (Teil 1); 25 (2010), S. 155– 180 (Teil 2); 26 (2011), S. 249–283 (Teil 3/1); 27 (2012), S. 173–192 (Teil 3/2); 28 (2013), S. 193–223 (Teil 4); 29 (2014), S. 235–262 (Teil 5/1); 30 (2015), S. 212–242 (Teil 5/2); sowie den Beitrag von Alfred Erck in diesem Band; Ulrike Schulz, Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856–1993, Göttingen 2013.

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noch nicht systematisch erforscht.71 Dabei gehörte Thüringen, wie die Region Mitteldeutschland insgesamt, zu den frühen Zentren der antisemitischen Bewegung.72 So wurden in Erfurt 1889 ein antisemitischer „Deutscher Reformverein“ und 1890 die „Antisemitische Volkspartei“ sowie der „Thüringer Antisemiten-Bund“ gegründet.73 Auch für die jüdische Geschichte in Thüringen während der Zeit der Weimarer Republik liegen kaum übergreifende Studien vor. Ausnahmen bilden u. a. Arbeiten zum Leben und Wirken des Jenaer Juristen Eduard Rosenthal, der u. a. die Verfassung des 1920 gegründeten Landes Thüringen erarbeitete, bald darauf aber ebenfalls Ziel antisemitischer Attacken wurde.74 Weitere Themen sind in jüngerer Zeit die politische Tätigkeit von Jüdinnen und Juden, u. a. in der Arbeiterbewegung,75 oder die Erforschung der Alltagsgeschichte anhand neu aufgefundener Selbstzeugnisse.76 Viertens bildeten die Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung jüdischen Lebens in der Zeit des „Dritten Reiches“ einen Schwerpunkt der jüngeren Forschung. Dabei stand zum einen die Enteignung jüdischen Eigentums, insbesondere jüdischer Unternehmen, im Zuge der so genannten „Arisierung“ im Mittelpunkt des Interesses.77 Einen Forschungsschwerpunkt bildete außerdem der 71 Dies gilt auch für frühe Formen der Judenfeindlichkeit im 19. Jahrhundert. Vgl. als Ausnahme: Christoph Gann, Meiningen als Ausgangspunkt der antijüdischen Krawalle von 1819 („Hep-Hep-Krawalle“), in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 32 (2017), S. 253–284; ausführlicher untersucht wurden antijüdische Einstellungen bei herausragenden Exponenten der Geistes- und Kulturgeschichte in Thüringen, etwa bei Luther und Goethe. Der unmittelbare Bezug zum regionalen Kontext wurde dabei jedoch selten hergestellt. Vgl. u. a. Michael Beyer, Martin Luther und die Juden, in: Werner Greiling/Armin Kohnle/Uwe Schirmer (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 109–133; W. Daniel Wilson, Goethes Haltung zur Judenemanzipation und jüdische Haltungen zu Goethe, in: Annette Weber (Hg.), „Außerdem waren sie ja auch Menschen.“ Goethes Begegnungen mit Juden und Judentum, Berlin/Wien 2000, S. 19–45. 72 Vgl. Wendehorst, Geschichte der Juden in „Mitteldeutschland“ (wie Anm. 5), S. 27. 73 Vgl. Steffen Rassloff, Flucht in die nationale Volksgemeinschaft. Das Erfurter Bürgertum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur, Köln u. a. 2003, S. 84; vgl. auch den Beitrag von Steffen Raßloff in diesem Band. 74 Vgl. Gerhard Lingelbach, Eduard Rosenthal (1859–1926). Rechtsgelehrter und „Vater“ der Thüringer Verfassung von 1920/21, Weimar/Jena 2006; sowie den Beitrag von Gerhard Lingelbach in diesem Band. 75 Vgl. die Dokumentation eines entsprechenden Ausstellungsprojektes vom Oktober/ November 2021 im Beitrag von Uwe Roßbach und Judy Slivi in diesem Band. 76 Vgl. Jacob Simon, Ein jüdisches Leben in Thüringen. Lebenserinnerungen bis 1930, hg. v. Johannes Mötsch/Katharina Witter, Köln/Weimar/Wien 2009; Anke John, Das Tagebuch der Eva Schiffmann – Jüdisch sein und erwachsen werden in der Weimarer Republik, in: Heimat Thüringen 27 (2020), H. 2, S. 36 f. 77 Vgl. Monika Gibas (Hg.), „Arisierung“ in Thüringen: Entrechtung, Enteignung und Vernichtung der jüdischen Bürger Thüringens 1933–1945 (Quellen zur Geschichte Thü-

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alltägliche nationalsozialistische Terror gegen die Juden, u. a. mit dem Höhepunkt der „Reichspogromnacht“ von 1938. Mit der Zerstörung zahlreicher Synagogen, der zumindest vorübergehenden Verhaftung vieler Juden und den folgenden Auswanderungen bedeutete dies einen ersten tiefen Einschnitt für das jüdische Leben in Thüringen.78 Zum anderen wurde die Deportation und Ermordung der Juden aus Thüringen in den Vernichtungslagern dokumentiert.79 Eine eigene Rolle in der Forschung spielt wiederum das 1937 errichtete Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Dieses wurde bald zu einem Symbol für die NS-Schreckensherrschaft einschließlich der Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen. Das Konzentrationslager Buchenwald diente der Inhaftierung politischer Gegner und sonstiger, als „Gemeinschaftsfremde“ und „Volksfeinde“ stigmatisierter Personen. Unter den bis 1945 insgesamt mehr als 250.000 Häftlingen waren etwa 75.000 Personen, die von den Nationalsozialisten unabhängig von deren Selbstwahrnehmung als Juden klassifiziert worden waren und von denen geschätzt 12.000 die Lagerhaft nicht überlebten.80 Die Forschung zur NS-Zeit versucht jüngst allerdings auch, Formen der alltäglichen jüdischen Selbstbehauptung, die es in gewissem Maße gab, in den Blick zu nehmen.81 Außerdem richtet sich der Blick nun auch auf den schwierigen und

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ringens, 27), 2 Halbbde., Erfurt 2006 (42010); Dies., „Arisierung“ in Thüringen: ausgegrenzt, ausgeplündert, ausgelöscht, Leipzig 2009; Dies., Ausgegrenzt und ausgeplündert: Judenverfolgung in Thüringen 1933–1945. Zur Bilanz eines Wanderausstellungsprojektes, Leipzig 2013; sowie den Beitrag von Monika Gibas in diesem Band. Vgl. Ramona Bräu/Thomas Wenzel (Hg.), „ausgebrannt, ausgeplündert, ausgestoßen“. Die Pogrome gegen die jüdischen Bürger Thüringens im November 1938 (Quellen zur Geschichte Thüringens, 31), Erfurt 2008. Vgl. Juden in Thüringen 1933–1945. Biographische Daten, hg. v. Europäischen Kulturzentrum in Thüringen, Erfurt, Forschungsgruppe „Geschichte der Juden im nationalsozialistischen Thüringen“ (Wiss. Betreuung: Siegfried Wolf), Bd. 1: A–L, Erfurt 1995 (32000); Bd. 2: M–Z, Erfurt 1997 (22002); Ergänzungen und Korrekturen zu Bd. 1 u. Bd. 2, Erfurt 2001/2002; dieses Projekt wurde seit 2006 vom Hauptstaatsarchiv Weimar in Kooperation mit dem Bundesarchiv weitergeführt; vgl. Bernhard Post, Jüdische Residenten in Thüringen 1933–1945. Eine Kooperation der staatlichen Archive Thüringens mit dem Bundesarchiv, in: Archive in Thüringen 1/2007, S. 5 f.; vgl. außerdem: Carsten Liesenberg/Harry Stein (Hg.), Deportation und Vernichtung der Thüringer Juden 1942 (Quellen zur Geschichte Thüringens, 39), Erfurt 2012 (32014). Vgl. Buchenwald – Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945. Begleitband zur Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald, hg. im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora von Volkhard Knigge, in Zusammenarbeit mit Michael Löffelsender, Rikola-Gunnar Lüttgenau u. Harry Stein, Göttingen 2016; Michael Löffelsender, Das KZ Buchenwald 1937 bis 1945, Erfurt 2020; sowie den Beitrag von Michael Löffelsender in diesem Band. Vgl. Annegret Schüle, Jüdische Selbstbehauptung durch Sport im nationalsozialistischen Thüringen, in: Heimat Thüringen 27 (2020), H. 2, S. 38 f.; vgl. auch den Beitrag von Annegret Schüle in diesem Band.

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konfliktreichen Neubeginn jüdischen Lebens in Thüringen nach dem Ende des „Dritten Reiches“ 1945 bzw. in den 1952 anstelle der Länder eingerichteten Verwaltungsbezirken der DDR.82 Obwohl trotz der Rückkehr von jüdischen Überlebenden der NS-Zeit letztlich nur sehr wenige Juden in Thüringen blieben, was auch durch die zunehmend juden- und israelfeindliche Politik im sowjetischen Machtbereich bedingt war, verschwand das jüdische Leben nicht völlig. Im Gegenteil wurde in Erfurt noch 1952 eine neue Synagoge anstelle der 1938 zerstörten Großen Synagoge errichtet. Die Rückgabe ehemals jüdischen, während der NS-Zeit „arisierten“ Eigentums gestaltete sich allerdings schwierig.83 Ebenso schwierig bzw. lange Zeit fast unmöglich war die Aufarbeitung des Schicksals der Juden während der NS-Zeit wie der jüdischen Geschichte insgesamt. Hier sollten erst, wie bereits erwähnt, die 1980er Jahre neue Akzente setzen.84 Insgesamt ist deutlich erkennbar, dass die Erforschung der jüdischen Geschichte in Thüringen seit 1990 einen signifikanten Aufschwung erlebt hat bzw. sich nach Jahrzehnten eines weitgehenden, vor allem politisch bedingten Stillstandes überhaupt erst frei und systematisch entfalten konnte. Seitdem ist eine Reihe sowohl von übergreifenden Arbeiten, als auch von Spezialstudien entstanden, welche die jüdische Geschichte in Thüringen wieder sichtbar gemacht haben. Recht gut erforscht sind inzwischen das mittelalterliche jüdische Leben in Erfurt sowie die schwere Zeit der Verfolgung und Vernichtung jüdischen Lebens in der Zeit des „Dritten Reiches“. Auch für die Frühe Neuzeit und das „lange“ 19. Jahrhundert liegen inzwischen wichtige Studien vor. Jedoch besteht auf vielen Feldern nach wie vor grundlegender Forschungsbedarf. Dies gilt u. a. für die neue Entfaltung jüdischen Lebens nach den Ausweisungen und Vertreibungen der jüdischen Bevölkerung im 15. und 16. Jahrhundert. Diese Neuansiedlung setzte bereits vor den tiefgreifenden Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts im 17. und 18. Jahrhundert ein. Noch weitgehend am Anfang steht darüber hinaus die Erforschung des schwierigen Neubeginns jüdischen Lebens in Thüringen in der Zeit nach 1945.

82 Vgl. Jeannette van Laak, Jüdische Remigrant*innen und ihr Refugium in der SBZ/DDR, in: Ganzenmüller (Hg.), Jüdisches Leben (wie Anm. 22), S. 67–81; Moshe Zuckermann (Hg.), Zwischen Politik und Kultur. Juden in der DDR, Göttingen 22003. 83 Vgl. den Beitrag von Stefan Hellmuth in diesem Band. 84 Vgl. Walther, (Jüdische) Historiker*innen in der DDR (wie Anm. 42).

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Migration von Juden in Thüringen, insbesondere nach 1349 und Mitte des 15. Jahrhunderts

In der Geschichte der Juden im Mittelalter bilden sowohl die Verfolgungen um das Jahr 1349 als auch die endgültigen Ausweisungen der Juden aus vielen Städten und Herrschaftsgebieten im 15. Jahrhundert gravierende Einschnitte. Dies gilt auch für die verschiedenen thüringischen Herrschaftsgebiete. Beide Zeitphasen riefen die Migration jüdischer Familien hervor, bedingt durch Flucht oder Vertreibung, der aber natürlich die Neuansiedlung an einem anderen Wohnort folgte. Im vorliegenden Aufsatz sollen daher weniger die Gründe oder die Abfolge der Entscheidungen der christlichen Herrscher oder Stadträte, sondern vielmehr die jüdischen Familien selbst im Vordergrund stehen sowie die Reaktionen dieser Familien auf die erzwungene Migration und ihr weiterer Lebensweg. Dabei konnte schon innerhalb Thüringens der Wechsel eines Wohnorts den Wechsel des Landesherrn bedeuten. Denn bekanntermaßen unterteilte sich das Gebiet des heutigen Thüringens in verschiedene Herrschaftsbereiche, deren Grenzen sich durch Erbfälle, aber auch durch Kauf, Verkauf oder Tausch verändern konnten.1 Die älteste jüdische Ansiedlung ist in Erfurt belegt, dem geistlichen und wirtschaftlichen Zentrum Thüringens. Spätestens in den 1240er Jahren, wahrscheinlich sogar früher bestand in Erfurt ein jüdischer Friedhof, was der jüdischen Siedlung den Status einer Gemeinde verlieh.2 In den folgenden Jahrzehnten weitete sich das jüdische Siedlungsgebiet in nördlicher und östlicher Richtung weiter aus,3 bis es 1349 zum Bruch durch die Verfolgungen kam. 1

Vgl. beispielsweise die Karte bei Hans Beschorner, Die Chemnitzer Teilung der wettinischen Lande von 1382 im Kartenbilde, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 54 (1933), S. 135–142, hier hinter S. 136. 2 Maike Lämmerhirt, Der jüdische Friedhof in Erfurt. Historische Betrachtung, in: Landeshauptstadt Erfurt/Universität Erfurt (Hg.), Die Grabsteine vom mittelalterlichen jüdischen Friedhof in Erfurt (Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte, 2), Jena/ Quedlinburg 2013, S. 12–27, hier S. 13 f.; vgl. auch den Aufsatz von Karin Sczech im vorliegenden Band. 3 Vgl. die Karten bei Maike Lämmerhirt, Die Anfänge der jüdischen Besiedlung in Thüringen, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 69 (2015), S. 57–91. Die Quellen zur Geschichte der Juden bis einschließlich 1347 sind als Regest oder im Volltext abrufbar bei:

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Nach 1349 entstanden neue jüdische Siedlungen selbst an Orten, an denen in der Zeit zuvor gar keine Juden belegt sind, und dies setzte sich noch nach 1400 fort. Soweit Zahlen bekannt sind, lassen sich in den einzelnen Orten ganz unterschiedlich große jüdische Siedlungen ausmachen: von ein oder zwei jüdischen Familien bis hin zu 15 Familien.4 Eine Ausnahme war die Gemeinde in Erfurt, die mit zeitweise über 50 Haushalten zu den größten jüdischen Gemeinden im Reich gehörte.5 Dazu beigetragen hatte auch die Zuwanderung teils wohlhabender jüdischer Familien aus den Regionen Schlesien, Böhmen und Mähren in den 1350er und 1360er Jahren.6 Im Jahr 1436 wurden die Juden aus der Landgrafschaft Thüringen ausgewiesen. In den Jahren darauf wurde jüdischen Familien der Aufenthalt in der Markgrafschaft Meißen erschwert. 1454 kündigte schließlich die Stadt Erfurt den dort lebenden Juden den Schutz auf.7 Im Jahr 1496 erfolgte die Ausweisung aus dem Gebiet der Grafen von Schwarzburg zu Arnstadt.8 In Mühlhausen und Alfred Haverkamp/Jörg R. Müller (Hg.), Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, Trier/Mainz 2015, vgl. die Übersicht URL: http://www. medieval-ashkenaz.org/quellen/1273–1347/tw01.html (letzter Zugriff: 29.11.2021). 4 Maike Lämmerhirt, Juden in den wettinischen Herrschaftsgebieten. Recht, Verwaltung und Wirtschaft im Spätmittelalter (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 21), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 86–92, 488–490. 5 Michael Toch, Siedlungsstruktur der Juden Mitteleuropas im Wandel von Mittelalter zur Neuzeit, in: Alfred Haverkamp/Franz-Josef Ziwes (Hg.), Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 13), Berlin 1992, S. 29–39, hier S. 35; Maike Lämmerhirt, Die zweite jüdische Gemeinde, in: Barbara Perlich (Hg.), Wohnen, beten, handeln. Das hochmittelalterliche jüdische Quartier ante pontem in Erfurt. Mit einer Neuedition des Liber Judeorum der Stadt Erfurt (Schriftenreihe der Bet Tfila-Forschungsstelle für jüdische Architektur in Europa, 11), Petersberg 2019, S. 179–186, hier S. 179. 6 Etliche dieser aus den östlichen Nachbarregionen zugewanderten Familien treten in Erfurt als Geldhändler auf; Reinhold Ruf-Haag, Juden und Christen im spätmittelalterlichen Erfurt. Abhängigkeiten, Handlungsspielräume und Gestaltung jüdischen Lebens in einer mitteleuropäischen Großstadt. Dissertation Universität Trier 2007, Mikrofiche-Ausgabe 2009, S. 184–187 u. Anm. 512; Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 79–81, 440–450. Vgl. generell zu den Herkunftsorten bis 1407 die Neuedition des Liber Judeorum der Stadt Erfurt, hg. von Maike Lämmerhirt, in: Perlich (Hg.), Wohnen, beten, handeln (wie Anm. 5), S. 297–399, besonders das Register S. 384–399. 7 Siehe dazu ausführlich das Folgende. 8 Wir haben auch bedacht gemeyner herschafft zw gute hinfurder keyne iwden anzwnemen, und ab itzd etliche in der herschaft weren, die von stund zcu vorurlauben; Urkundenbuch der Stadt Arnstadt 704–1495, hg. von Carl August Hugo Burckhardt (Thüringische Geschichtsquellen, 4, NF 1), Jena 1883, Nr. 889, S. 421–431, hier S. 424 f.; vgl. Martina Guss/Andrea Kirchschlager, Jüdische Ansiedlungen in Arnstadt von den Anfängen im Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, in: Schlossmuseum Arnstadt (Hg.), Jüdische Familien aus Arnstadt und Plaue. Katalog zur Sonderausstellung im Schlossmuseum Arnstadt 2. Mai bis 14. No-

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Nordhausen endete die Anwesenheit jüdischer Familien nach 1500.9 Ansonsten sind aber gerade für diese Zeit noch nicht alle Quellen erschlossen.

1. Die Suche nach Schutz – 1349 Die Judenverfolgungen um 1349 mit ihren zahlreichen Opfern bedeuteten den schwersten Einschnitt in der Geschichte der Juden im Mittelalter.10 Vor allem zeitgenössische jüdische Memorbücher gedenken der untergegangenen jüdischen Gemeinden und Siedlungen. Allerdings waren die Verhältnisse an der Saale und östlich davon wohl gar nicht so gut bekannt. In christlichen Quellen sind Verfolgungen beispielsweise durch Belege zum Umgang mit dem hinterlassenen Besitz der ermordeten Juden bezeugt. Zudem nennt die Chronik des Erfurter Petersklosters die Namen etlicher Orte in Thüringen, in welchen im Februar und März 1349 Verfolgungen stattfanden.11 vember 2021, Weimar 2021, S. 20–32, hier S. 26. – Ich danke Frau Martina Guß, die mir freundlicherweise ein Exemplar dieser Publikation überlassen hat. 9 Die Mühlhäuser Juden verließen zwischen 1510 und 1514 die Stadt; Maike Lämmerhirt, Jüdisches Leben im mittelalterlichen Mühlhausen, in: Mühlhäuser Beiträge 34 (2011), S. 73–90, hier S. 84. In Nordhausen endete die Anwesenheit von Juden erst Mitte des 16. Jahrhunderts; vgl. Peter Kuhlbrodt, Jüdisches Leben in Nordhausen von den Anfängen bis 1802 (Nordhäuser Flohburgblätter 2, 4), Nordhausen 2013, S. 6. 10 Die Gründe für die Verfolgungen waren neben der Furcht vor der herannahenden Pest auch sozialer, wirtschaftlicher und politischer Art; Alfred Haverkamp, Die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte, in: Ders. (Hg.), Zur Geschichte der Juden in Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 24), Stuttgart 1981, S. 27–93; Christoph Cluse, Zur Chronologie der Verfolgungen zur Zeit des „Schwarzen Todes“, in: Alfred Haverkamp (Hg.), Geschichte der Juden im Mittelalter von der Nordsee bis zu den Südalpen. Kommentiertes Kartenwerk, Teil 1: Kommentarband (Forschungen zur Geschichte der Juden, A 14/1), Hannover 2002, S. 223–242. 11 Cronica S. Petri Erfordensis Moderna, hg. von Oswald Holder-Egger (MGH SS 30, 1), Hannover 1896, S. 335–489, hier Continuatio III und II, S. 462 f., 470; Rainer Barzen, Regionalorganisation jüdischer Gemeinden im Reich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Eine vergleichende Untersuchung auf Grundlage der Ortslisten des Deutzer und des Nürnberger Memorbuches zur Pestverfolgung, in: Haverkamp (Hg.), Kartenwerk. Teil 1: Kommentarband (wie Anm. 10), S. 293–366, hier S. 344–346. Vgl. Lämmerhirt, Anfänge (wie Anm. 3), S. 83; Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 28–31, wo im Zusammenhang mit der Chronik des Petersklosters Ilmenau durch Stadtilm zu ersetzen ist. – An weiterer Literatur siehe beispielsweise zu Erfurt Christian Maria Weigelt, Das Erfurter Pestpogrom 1349. Eine kritische Rekonstruktion, in: Landeshauptstadt Erfurt/Universität Erfurt (Hg.), Die Erfurter jüdische Gemeinde im Spannungsfeld zwischen Stadt, Erzbischof und Kaiser (Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte, 4), Jena/Quedlinburg 2016, S. 30–122; zu

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Keine Belege zu Verfolgungen gibt es aus dem Vogtland, wo um 1349 Juden wohl in Plauen, Weida und Gera wohnten.12 Offenbar blieben die Juden hier unbehelligt. Ähnlich verhielt es sich an den meisten Orten im benachbarten Böhmen.13 Aus anderen Orten ist bekannt, dass Juden entkommen konnten. Beispielsweise fanden manche Magdeburger Juden 1349 Schutz in den Burgen des Erzbischofs und anderer Adeliger. Auch in Halle gab es Überlebende, die später auf ihre Häuser verzichten mussten.14 In Erfurt konnten sich im November 1354 erneut zwei jüdische Familien niederlassen.15 Als 1355 oder 1356 erstmals die Hauszinsen, also Mieteinnahmen, in einer Liste verzeichnet wurden, lebten bereits 10 jüdische Familien in Erfurt. Diese erste Hauszinsliste wurde immer wieder mit Zusätzen und Nachträgen versehen und bis einschließlich 1359 genutzt, bevor 1360 eine neue Hauszinsliste angelegt wurde. So ist zu erkennen, dass sich zwischen 1354 und 1359 insgesamt wohl 33 jüdische Familien in Erfurt niederließen. Beinahe alle jüdischen Hauszinszahler in der Liste werden mit Beinamen genannt, welche auf frühere Wohnorte verweisen.16 Ein Problem solcher Herkunftsnamen ist allerdings die Unsicherheit, ob es sich um den unmittelbar vorherigen oder um einen noch früheren Wohnort handelt.

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Mühlhausen siehe Lämmerhirt, Jüdisches Leben Mühlhausen (wie Anm. 9), S. 76 f.; zu Nordhausen siehe Kuhlbrodt, Jüdisches Leben Nordhausen (wie Anm. 9), S. 4 f. Germania Judaica, Bd. 2: Von 1238 bis Mitte des 14. Jahrhunderts, hg. von Zvi Avneri, Tübingen 1968, S. 277, 656, 866. Die Angabe zu einer möglichen Verfolgung in Gera beruht lediglich auf einer Vermutung in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich sind für Gera, Weida und Plauen bisher keine quellenbasierten Hinweise zu Verfolgungen bekannt, auch nicht in Memorbüchern oder Chroniken. In Böhmen ist nur eine Verfolgung in Eger belegt; Germania Judaica, Bd. 3: 1350–1519, hg. von Arye Maimon/Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim, Teilbd. 3: Gebietsartikel, Einleitungsartikel und Indices, Tübingen 2003, S. 1817. Gesta archiepiscoporum Magdeburgensium, hg. von Wilhelm Schum (MGH SS 14), Hannover 1883, S. 361–486, hier S. 436; Urkundenbuch der Stadt Halle, ihrer Stifter und Klöster. Bd. 3 (1351–1403), Teil 1 (1351–1380), bearb. von Arthur Bierbach (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Landes Anhalt, NF 10), Magdeburg 1954, Nr. 773, S. 10 f. – Auch anderswo konnten Juden Schutz finden, vgl. Haverkamp, Judenverfolgungen (wie Anm. 10), S. 86; Jörg R. Müller, Juden und Burgen im Mittelalter – Eine nur scheinbar marginale Beziehung, in: G. Ulrich Grossmann/Hans Ottomeyer (Hg.), Die Burg. Wissenschaftlicher Begleitband zu den Ausstellungen „Burg und Herrschaft“ und „Mythos Burg“, Dresden 2010, S. 110–125, hier S. 112. Cronica S. Petri Erfordensis (wie Anm. 11), S. 384; vgl. Ruf-Haag, Juden und Christen (wie Anm. 6), S. 127 f.; Maike Lämmerhirt, Die Schutzaufkündigung 1453 und das Ende der zweiten jüdischen Gemeinde, in: Landeshauptstadt Erfurt/Universität Erfurt (Hg.), Die Erfurter jüdische Gemeinde im Spannungsfeld (wie Anm. 11), S. 124–137, hier S. 124. Neuedition des Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 1–2, S. 303–306. Der ersten Liste folgen ein Nachtrag von 1360 und die 1360 neu angelegte Liste; ebd. Nr. 3–4, S. 306–309.

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Für die bis 1359 genannten Herkunftsorte von Juden in Erfurt kann festgestellt werden, dass sie nur teilweise als Orte der Verfolgung im Jahr 1349 belegt sind. Dies gilt etwa für die Namen, die auf die Städte im Vogtland verweisen, wo es, wie erwähnt, wohl gar nicht zu Verfolgungen gekommen war. Auffällig sind zudem einige Orte im Gebiet der Brüder Gunther und Heinrich, Grafen von Schwarzburg zu Arnstadt. Sie hatten ihr Herrschaftsgebiet 1346 aufgeteilt, wie zwei diesbezügliche Urkunden belegen. Arnstadt selbst blieb damals unter gemeinsamer Verwaltung, während andere Orte jeweils einem Teil des Herrschaftsgebiets zugeschlagen wurden. Leider erwähnen die beiden Urkunden nicht, welcher Bruder genau welchen Anteil erhielt.17 Allerdings nennt eine andere Urkunde im Jahr darauf Gunther als Herrn zu Frankenhausen.18 Zu den in den Teilungsurkunden von 1346 genannten schwarzburgischen Orten gehören Dornburg, Rudolstadt und Saalfeld, welche ab 1354 bis 1359 im Erfurter Judenbuch als Herkunftsorte von Juden erscheinen, ohne dass dort zuvor Verfolgungen bezeugt sind. Das Gleiche gilt für Ranis, das ab 1379 als Herkunftsort einer jüdischen Familie genannt wird.19 Es handelt sich um jene Orte, die vermutlich Heinrich unterstanden. Aus diesem Grund ist es ebenso möglich, dass der als Plawe genannte Herkunftsort eines Erfurter Juden20 nicht zwangsläufig Plauen im Vogtland meinen muss, sondern sich vielleicht auf Plaue im Thüringer Wald bezieht. Dieses ging nach der Teilungsurkunde von 1346 ebenfalls offenbar an Heinrich. Darüber hinaus werden jüdische Familien aus Arnstadt genannt,21 das Heinrich und Gunther gemeinsam unterstand. In Arnstadt ist ebenso eine Verfolgung bezeugt, wie auch in Frankenhausen, das Gunther alleine regierte.22 Die Verfolgungen in Thüringen sind durch die hebräischen und christlichen Quellen recht gut dokumentiert. Dennoch sind mehrere Orte weder als Orte der Verfolgung noch als Wohnorte von Juden vor 1349 bezeugt, erscheinen aber nach 1354 als Herkunftsorte jüdischer Familien in Erfurt.23 Demnach können 17 LATh-StA Rudolstadt, Archivum Commune, 78 u. 79. 18 Als solcher schloss Gunther 1347 einen Vertrag mit Friedrich II., Landgrafen von Thüringen; Wieland Held, Die spätmittelalterliche Salzgewinnung in Mitteldeutschland am Beispiel Frankenhausens und Salzungens, in: Wilhelm Rausch (Hg.), Stadt und Salz (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas, 19), S. 247–274, hier S. 250. 19 Vgl. Neuedition Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 1, S. 303–305, zu Kalman von Ranis Nr. 28,40, S. 343. – Für Saalfeld wird in der älteren Literatur die Übertragung der Judenschule an einen Christen 1364 als Beleg für eine Verfolgung angesehen. Die mehrfache Erwähnung von Juden aus Saalfeld an anderen Orten zwischen 1354 und 1364 scheint allerdings eher auf eine Auflösung der Saalfelder jüdischen Siedlung erst zu dieser Zeit zu deuten; vgl. Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 33 f. 20 Gerson von Plaue; Neuedition Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 1, 20, S. 305. 21 Es handelt sich um die Familien des Kassel und seines Sohnes David, des Hoflieb sowie des Meir und Libong; Neuedition Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 1, S. 305. 22 Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 28–30. 23 Beispielsweise Greußen, das 1356 von den Grafen von Hohnstein an die Grafen von

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sich diese Herkunftsangaben auf die Zeit zwischen 1349 und 1354 beziehen. Tatsächlich handelt es sich um kleinere, aber befestigte Orte. Generell ist bekannt, dass vielerorts Juden in Burgen des Adels flüchten konnten.24 Möglicherweise also hatten in den besagten thüringischen Orten jüdische Familien Schutz gefunden, als es an ihren eigentlichen Wohnorten zu Verfolgungen kam. Graf Heinrich von Schwarzburg gehörte offenbar zu jenen, die den jüdischen Familien diesen Schutz gewährten. Über den genauen Ablauf der Verfolgungen in Thüringen ist mit Ausnahme Erfurts kaum etwas bekannt. Der Landgraf von Thüringen und Markgraf von Meißen erklärte am 2. Mai 1349, er habe die Juden in seinen Gebieten „brennen lassen“ und forderte den Stadtrat von Nordhausen auf, es ihm gleichzutun.25 Wie genau die Verfolgungen in den wettinischen Gebieten vonstatten gegangen sind, ist jedoch unbekannt.26 Es ist völlig offen, ob vor Ort nicht doch vereinzelt Warnungen gegenüber den jüdischen Familien ausgesprochen wurden. In Erfurt erfolgte am 21. März 1349 ein Angriff auf das jüdische Wohnquartier. Zu dessen Vorbereitung hatten mindestens vierzehn Treffen stattgefunden, auf welchen über 160 Erfurter Bürger zusammengekommen waren.27 Während dieser ganzen Zeit und bei dieser Menge an Beteiligten könnten die Erfurter Juden durchaus von dem geplanten Angriff erfahren haben. Dies lässt etwa der gut verborgene Schatz des Kalman von Wiehe vermuten.28 Letztendlich muss aber offen bleiben, woher genau die Juden kamen, die sich wohl um 1349 oder kurz danach in den oben erwähnten kleinen Orten nieder-

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Schwarzburg fiel; Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, Bd. 9: Thüringen, hg. von Hans Patze, Stuttgart 21989, S. 170; ebenso Heringen, das den Grafen von Hohnstein unterstand, und Kölleda, das den Grafen von Beichlingen unterstand; Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, Bd. 11: Provinz Sachsen-Anhalt, hg. von Berent Schwineköper, Stuttgart 21987, S. 208, 247. Vgl. dazu Neuedition Liber Judeorum (wie Ann. 6), Nr. 1, 13 u. 21, S. 304 f.; Nr. 3, S. 306. Haverkamp, Judenverfolgungen (wie Anm. 10), S. 85 f.; Müller, Juden und Burgen (wie Anm. 14), S. 112. daz wir alle vnze Juden haben lozen burnen; StadtA Nordhausen, 1.1–I R 3; vgl. Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 43 f. Die Cronica S. Petri Erfordensis, Continuatio III und II (wie Anm. 11), S. 462 f., 470, gibt lediglich den Zeitraum vom 2. bis 25. Februar an, nennt die betroffenen Orte und erwähnt das Gerücht der Quellen- und Brunnenvergiftung; vgl. Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 28 f., 46. Zu den verschiedenen Verlaufsformen von Verfolgungen, seien es spontane Pogrome oder Gefangennahmen mit anschließender Hinrichtung vgl. Haverkamp, Judenverfolgungen (wie Anm. 10), S. 59–61. Weigelt, Erfurter Pestpogrom (wie Anm. 11), S. 89, vgl. S. 104–113. Vgl. Maria Stürzebecher, Der Schatzfund aus der Michaelisstraße in Erfurt, in: Sven Ostritz (Hg.), Die mittelalterliche jüdische Kultur in Erfurt, Bd. 1: Der Schatzfund. Archäologie – Kunstgeschichte – Siedlungsgeschichte, Langenweißbach 2010, S. 60–323, besonders S. 145.

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ließen.29 Dass es Juden erst nach 1354 möglich war, erneut in Erfurt wohnhaft zu werden, hing mit dem bis Ende 1353 währenden Streit um das Amt des Mainzer Erzbischofs zusammen. Erst nach dem Amtsantritt des neuen Erzbischofs, dem Stadtherrn und Schutzherrn der Juden,30 konnten jüdische Familien dauerhaft nach Erfurt kommen, wo der Friedhof lag und wo es die Memoria zu wahren galt. Generell wurden gerade Orte, in denen Friedhöfe lagen, wieder früh von Juden als Wohnorte aufgesucht.31 Sollten die ab 1354 nach Erfurt ziehenden Juden schon vor 1349 in thüringischen Städten gelebt haben, so dürften auch ihre eigenen Vorfahren auf dem Friedhof bestattet gewesen sein. Zu den ersten jüdischen Familien in Erfurt gehörte die Familie des Adelkind von Dornburg. Die kleine Stadt Dornburg unterstand von 1344 bis 1358 den Grafen von Schwarzburg32 und ab 1346 wohl Graf Heinrich von Schwarzburg.33 Eine Verfolgung ist dort nicht bezeugt. Die Familie kam nicht mittellos nach Erfurt, da es Adelkinds Söhnen Loszer, Simon und Samuel finanziell möglich war, je nach Bedarf zwei bis drei Gebäude zu mieten.34 Ebenso sind die Brüder gemeinsam als Kreditgeber von Bürgern der Stadt Erfurt bezeugt,35 und Loszer erscheint 1385 und 1386 mit anderen jüdischen Geschäftspartnern als Kreditgeber der Grafen von Schwarzburg zu Arnstadt und des Landgrafen zu Thüringen.36 Das Kapital, das Adelkinds Familie nach 1354 bei ihrer Übersiedlung nach Erfurt mitbrachte, dürfte aber nicht alleine in Dornburg zusammengekommen sein, sondern wohl an einem früheren, vermutlich größeren Wohnort, 29 Die Quellen aus der Zeit vor 1349 lassen keinen Abgleich der Namen zu. Zwar nennen die Freizinsregister in Erfurt zahlreiche jüdische Hausbesitzer und Mieter. Allerdings wurden diese Register nicht regelmäßig aktualisiert; vgl. den Kommentar in Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden, TW01, Nr. 55, URL: http://www.medieval-ashkenaz. org/TW01/CP1-c1-00h6.html (letzter Zugriff: 29.11.2021); Lämmerhirt, Anfänge (wie Anm. 3), S. 86. 30 Ruf-Haag, Juden und Christen (wie Anm. 6), S. 127–130; Lämmerhirt, Schutzaufkündigung (wie Anm. 15), S. 124. 31 Rosemarie Kosche, Erste Siedlungsbelege nach 1350 – Siedlungsnetz und „jüdische“ Raumperzeption, in: Haverkamp (Hg.), Kartenwerk, Teil 1: Kommentarband (wie Anm. 10), S. 243–247, hier S. 246. 32 Handbuch der Historischen Stätten, Bd. 9 (wie Anm. 23), S. 82. 33 Siehe die obigen Ausführungen und Anm. 17 f. 34 So etwa 1365; Neuedition Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 10, 3 u. 25, S. 311–313; ebenso 1370; ebd., Nr. 15, 44 u. 46 f., S. 321. 35 Die Pfandnahme eines Hauses durch die Brüder wurde nach November 1374 im Freizinsregister eingetragen und erst nach November 1377 wieder gestrichen; LASA, Cop. 1392, fol. 293v, 305r, 317r, 328r. 36 Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt, Urkunde Nr. 26; vgl. Urkundenbuch Arnstadt, Nr. 204, S. 145; LATh-StA Gotha, QQ Ic 13/37; vgl. Hubert Ermisch (Hg.), Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen, Bd. 1 (1381–1395), CDS I B 1, Leipzig 1899, Nr. 193, S. 144.

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der unbekannt bleibt. Dornburg erscheint eher als zeitweiliger Aufenthaltsort. Vielleicht handelte es sich um den Ort, an welchem die Familie 1349 Schutz fand. Ein anderes Beispiel ist die Familie des Kassel von Arnstadt, welcher ebenfalls in der ersten, kurz nach 1354 angelegten Hauszinsliste genannt wird.37 Arnstadt unterstand, wie erwähnt, der gemeinsamen Verwaltung der Brüder Heinrich und Gunther von Schwarzburg. Eine Verfolgung im Jahr 1349 wird in einem jüdischen Memorbuch und in der Chronik des Erfurter Petersklosters erwähnt.38 Kassel selbst verstarb in Erfurt wohl vor 1360 und sein Sohn David bereits nach 1372.39 Davids Witwe Hanna führte mit ihren Söhnen Jakob und Isaak die Geschäfte weiter. Mindestens einmal ist Hanna auch als Kreditgeberin der Grafen von Schwarzburg zu Arnstadt bezeugt.40 Auf den Wohlstand der Familie verweist wohl ebenso ein an der Stelle ihres Wohnhauses im Jahr 1876 aufgefundener Schatz.41 Zu diesem gehörten ein goldenes Gefäß, über fünfzig kleinere goldene Stücke, die wohl als Gewandbesatz zu deuten sind, weiterhin über fünfzig goldene Gewandverschlüsse, eine römische Münze sowie insgesamt 69 Münzen des 14. Jahrhunderts, zumeist deutscher, aber auch englischer und italienischer Herkunft. Dieser Fund wurde nach seiner Auffindung 1876 ausführlich dokumentiert, für historisch ohne Wert befunden und anschließend von der Stadt Erfurt verkauft. Erhalten sind mittlerweile nur noch die römische Münze und ein Schließenpaar. Da die Münzen eindeutig aus der Zeit vor und nach 1349 datieren,42 ist vorstellbar, dass Teile davon von der Familie selbst über das Jahr 1349 hinweg aufbewahrt werden konnten. Zudem waren die jüngsten Münzen erst 1368 in Venedig geprägt worden und somit vier Jahre, bevor David verstarb. Vielleicht hatte die Familie nach seinem Tod den Schatz nicht mehr finden können. Im Jahr 1404 zogen Davids Söhne Jakob und Isaak mit ihren Familien und ihrer Mutter nach Eisenach,43 während die auf Lebenszeit erworbenen Häuser in 37 Neuedition Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 1, 1, S. 303. 38 Barzen, Regionalorganisation (wie Anm. 11), S. 344; Cronica S. Petri Erfordensis, Con­ tinuatio III und II (wie Anm. 11), S. 462 f., 470. 39 Schon in der Hauszinsliste von 1360 wird David ohne seinen Vater Kassel genannt. Letztmals wird David 1372 erwähnt, danach erscheint nur noch Davids Witwe Hanna mit ihren Söhnen; Neuedition Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 4, 5, S. 307; Nr. 17, 58, S. 328; Nr. 19, 53, S. 333. 40 Siehe zu dieser Familie Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 79. 41 Stürzebecher, Der Schatzfund (wie Anm. 28), S. 160. Erst neuere Forschungen konnten aufzeigen, dass der Bereich, in welchem der Schatz aufgefunden wurde, dem Haus der Familie von Arnstadt zugeordnet werden kann. Siehe dazu die auf Grundlage neuester Erkenntnisse und Analysen 2021 erstellte Karte im Museum Alte Synagoge in Erfurt. 42 Stürzebecher, Schatzfund (wie Anm. 28), S. 160, 162–164. 43 Schutzbrief des Landgrafen vom 31. Oktober 1404; SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0032, fol. 29v. Der neue Wohnort Eisenach wird erst nachträglich in einem weiteren

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Erfurt weiter in ihrem Besitz blieben.44 1407 ließ sich Isaak in Gotha nieder. Sein Bruder Jakob wohnte weiter in Eisenach.45 Es zeigt sich, dass die Familien von Dornburg und von Arnstadt sich selbst und sogar ihr Vermögen oder Teile davon über das Jahr 1349 retten konnten. Damit war es ihnen allerdings wohl auch möglich gewesen, den Schutz vor Verfolgungen notfalls zu erkaufen. Später konnten beide Familien von Erfurt aus die Geschäfte wieder aufnehmen. Dabei nutzten sie die Kontakte zu den adeligen Herrschern der Umgebung, insbesondere zu den Grafen von Schwarzburg zu Arnstadt. Zumindest Heinrich von Schwarzburg dürfte für einige Jahre bis zu ihrer Übersiedlung nach Erfurt auch der Schutzherr beider Familien gewesen sein. Darüber hinaus tritt der Landgraf von Thüringen als Aussteller von Geleitbriefen in Erscheinung, die Mitgliedern dieser und anderer jüdischer Familien den Handel in seinen Gebieten ermöglichten.46 Solche Belege gibt es generell eher für die wohlhabenden Familien. Denn diese tätigten höhere Kreditvergaben, welche schriftlich fixiert wurden, und sie konnten solche mit einer Steuer verbundenen Geleitbriefe finanzieren. Die Lebenswege der weniger bemittelten Familien lassen sich deutlich schwerer über einen längeren Zeitraum beobachten.

2. Ausweisung aus der Landgrafschaft Thüringen – 1436 Die Tatsache, dass vor allem wohlhabende Familien in den Quellen erscheinen, gilt in gleicher Weise für das 15. Jahrhundert, für das aber ohnehin wohl noch viele Quellen unbekannt sind. Auch deshalb beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die Landgrafschaft Thüringen, die Bischofsstadt Erfurt und die Markgrafschaft Meißen. Im Jahr 1430 weiteten sich die Hussitenkriege bis nach Thüringen aus. In den Jahren darauf führten Naturkatastrophen zu Missernten und einer Hungersnot. Brief von 1407 genannt, vgl. unten Anm. 45 sowie Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 79. 44 Die Brüder Isaak und Jakob erscheinen in der Hauszinsliste von 1407, die nach neuesten Erkenntnissen lediglich die auf Lebenszeit erworbenen Häuser nennt; Neuedition Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 65, 14 u. 20, S. 381. Der Erwerb auf Lebenszeit konnte auch bei Abwesenheit fortbestehen, siehe dazu den unten folgenden Abschnitt zu Erfurt. 45 Der Schutzbrief des Landgrafen vom 7. Dezember 1407 nennt auch Isaaks bisherigen Wohnort Eisenach; SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0032, fol. 91v; vgl. Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 79. In einer Steuerliste von 1418 wird Isaak in Gotha erwähnt und Jakob mit dem namentlich nicht genannten Sohn und Schwiegersohn in Eisenach; Hohenlohe Zentralarchiv Neuenstein, E 59 13, fol. 2r, 4r. 46 Vgl. Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 67, 79.

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In dieser wirtschaftlichen Krise ließ Landgraf Friedrich von Thüringen 1436 alle Juden aus seinem Herrschaftsgebiet ausweisen und ein Durchreiseverbot verhängen.47 Für Gotha ist überliefert, dass die dortigen Juden in Haft genommen wurden, bevor sie das Land verlassen mussten. Mit einem Urfehdeschwur vom 4. Juni 1436 mussten sie zusagen, den Landgrafen und seine Amtsleute nicht weiter zu belangen. In der entsprechenden Urkunde werden alle Familien mit ihren Kindern oder zumindest den erwachsenen Kindern genannt.48 An erster Stelle der Urkunde aus Gotha erscheint die Familie des Salomo Bischof, zu welcher der Schwiegersohn Lewi gehörte. Dieser dürfte mit Lewi von Gotha identisch sein, welcher sich nur drei Wochen später mit seinem Bruder Liebmann in Erfurt aufhielt. Beide ließen im Erfurter Stadtbuch, dem Liber Causarum, eintragen, dass die Schulden eines verstorbenen Mannes aus Sundhausen durch dessen Erben beglichen worden waren. Die zugehörigen zwei Schuldbriefe waren, wie es heißt, entfremdet und abhanden gebracht worden,49 so dass sie nicht wieder ausgehändigt werden konnten. Es wird nicht klar, ob dies in Zusammenhang mit der Gefangennahme aller Juden in Gotha stand. Im Urfehdeschwur fehlen Hinweise darauf, dass den Juden ihr Besitz oder ihre Schuldbriefe genommen wurden. Lewi und Liebmann lebten später offenbar in Göttingen, wo ein gleichnamiges Brüderpaar bezeugt ist. Im Jahr 1438 ließ sich dort auch Vives von Halle nieder, der im Erfurter Stadtbucheintrag von 1436 als Liebmanns Schwiegervater genannt wird. Nach Vives’ Tod in Göttingen 1441 waren Lewi Senior und Lewi Junior dessen Erben.50 Einer der beiden könnte der aus Gotha stammende Lewi gewesen sein. Der Urfehdebrief aus Gotha von 1436 nennt ebenso Mose Gans und seine Ehefrau Hözlin. Auch Mose wandte sich anschließend nach Erfurt, wo sein Vater und sein Bruder lebten. Hier ist er als zeitweiliger Bewohner des Hauses zur Weinrebe bezeugt.51 Ein anderes Haus wurde im Dezember 1448 von Lewi 47 Überliefert ist eine diesbezügliche Mitteilung an die Städte Erfurt, Mühlhausen und Nordhausen vom 2. Juni 1436; Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 461–463. – Für den 26. Mai 1436 findet sich in den Stadtrechnungen im schwarzburgischen Arnstadt ein Eintrag zu Kosten bei der Gefangennahme der Juden (so man dy Juden ving); Guss/Kirchschlager, Jüdische Ansiedlungen (wie Anm. 8), S. 25 u. Abb. S. 26. Bisher ist die Bedeutung dieses Eintrags unklar, zumal in Arnstadt selbst weiter Juden lebten. Vielleicht bezieht sich der Rechnungseintrag auf die Ereignisse in der Landgrafschaft. 48 LATh-StA Gotha, Geheimes Archiv QQ I c, Nr. 14 – Eine ähnliche Urkunde könnte für die Juden in Langensalza existiert haben; Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 462. 49 die selb[i]n Juden sprechin, daz on soliche zcwene briefe entfromdet vnd[e] aphende bracht; StadtA Erfurt, 1–1/21 7–21, 213v–214r. 50 Peter Wilhelm, Die jüdische Gemeinde in der Stadt Göttingen von den Anfängen bis zur Emanzipation (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen, 10), Göttingen 1973, S. 27, 31, 34, 40, vgl. S. 38. 51 Mose Gans wird als früherer Bewohner erwähnt, als sein Bruder Israel Gans und dessen

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und Bruna, Kinder der Huzlin Gans auf Lebenszeit erworben.52 Vermutlich ist Huzlin Gans mit der 1436 in Gotha genannten Hözlin, Ehefrau des Mose Gans, gleichzusetzen.

3. Schutzaufkündigung in Erfurt – 1453 Die Ereignisse um die Aufkündigung des Schutzes der Juden durch den Erfurter Stadtrat und die Folgen für die jüdischen Familien sind vor allem im sogenannten Briefbuch des Rates dokumentiert, welches Schreiben des Stadtrats an auswärtige Herrscher, Amtsleute und Städte enthält. Die Briefe sind jedoch nicht durchgehend chronologisch angeordnet, was bisher leider unbemerkt blieb und weshalb in bisherigen Publikationen einige Datierungen zu korrigieren sind.53 Im Frühjahr 1453 erklärte der Rat der Stadt Erfurt gegenüber dem Erzbischof von Mainz, dass die Stadt den Schutz der Juden nicht länger gewähren könne. Zur Begründung wurden religiöse Motive, vor allem aber wirtschaftliche Argumente vorgebracht.54 Die jüdischen Familien verloren damit ihre Rechtssicherheit. Binnen eines Jahres wanderten die meisten Familien ab.55 Zumindest Isaak

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Ehefrau Froide 1441 das Haus auf Lebenszeit erwarben; Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle, Urkunde Yl–b, Nr. 77; vgl. Neuedition Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 34, Anm. 6, S. 352. Siehe zu dieser Familie künftig den in Vorbereitung befindlichen Band zu Kreditvergaben Erfurter Juden in der Reihe der „Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte“. LASA, U 14 XLIV, Nr. 38; vgl. Neuedition Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 65, Anm. 2, S. 382. Offenbar wurden in jedem Ratsjahr mehrere Hefte für die Abschriften der ausgehenden Briefe des Erfurter Rats angelegt. Die Einträge in den Heften erfolgten zwar chronologisch. Beim Zusammenstellen als Buch wurden die Hefte jedoch aufeinandergelegt, so dass die Datierung dort, wo jeweils ein anderes Heft beginnt, immer wieder zurückspringt. Dies ist anhand der Tagesdaten erkennbar. Zudem zeigen gelegentlich Überschriften den Beginn eines neuen Heftes an; StadtA Erfurt, 1–1/21 1a–1a, Bd. 1–3. Lämmerhirt, Schutzaufkündigung (wie Anm. 15), S. 137. – Der Brief vom 7. April 1453, Samstag nach Ostern, ist der zweite Brief in der Angelegenheit. Erwähnt wird die Übergabe eines ersten Briefs an den Provisor des Erzbischofs durch Mitglieder des Rates, welche sogleich eine schriftliche Antwort erhalten hatten. Dieser erste Brief ist nicht mehr überliefert, er dürfte aber einige Tage oder Wochen vor dem zweiten Brief verfasst worden sein, also vielleicht in der religiös bedeutsamen Karwoche oder der Fastenzeit. Zudem lag der Ratswechsel nicht lange zurück. Dieser fand stets zum 2. Februar statt, wie sich aus mehreren Bemerkungen im Briefbuch ergibt; vgl. StadtA Erfurt, 1–1/21 1a-1a, Bd. 1, fol. 17v; Bd. 3, fol. 251v. Lämmerhirt, Schutzaufkündigung (wie Anm. 15), S. 129. Einige dort angegebene Daten sind zu korrigieren, vgl. oben Anm. 53.

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von Arnstadt erhielt vom Verwalter des Mainzer Erzbischofs eine Geleitzusage, die ihm einen längeren Aufenthalt in Erfurt ermöglichte. Noch eineinhalb Jahre später, im Dezember 1454 ist Isaak in Erfurt nachweisbar. Möglicherweise nutzte er diese Zeit, um noch ausstehende Kredite einzufordern.56 Die meisten jüdischen Familien mussten jedoch schon im Jahr 1453 recht plötzlich die Stadt verlassen. Mehrere baten von ihren neuen Wohnorten aus um Erlaubnis, noch einmal nach Erfurt reisen zu dürfen, um dort Schulden einfordern, zurückgelassene Bücher abholen oder eine Regelung wegen ihrer Häuser treffen zu können.57 Viele Familien hatten Häuser auf Lebenszeit gekauft, was ihnen bei weiterhin anfallenden jährlichen Mietzahlungen zusätzliche Rechte einräumte. So konnten Hausinhaber auf Lebenszeit das Haus vermieten oder weiterverkaufen. Beim Tod des eigentlichen Hausinhabers fiel das Haus an den Rat zurück.58 Deshalb schien der Stadtrat nach der erzwungenen Abwanderung der Juden zunächst häufig auf Zeit zu spielen, um sich selbst oder den neuen christlichen Hausbewohnern Zahlungen für den Rück- oder Ankauf der Häuser zu ersparen. Teilweise forderte der Rat seinerseits sogar die Zahlung rückständiger Mieten, obgleich er doch den Juden den Aufenthalt in Erfurt unmöglich gemacht hatte.59 Erst in den 1460er Jahren wurde es für Juden offenbar einfacher, direkt nach Erfurt zu kommen und Regelungen wegen der Häuser oder wegen ausstehender Kredite zu treffen. So quittierte 1461 der in Hessen lebende Kalman eine Einigung wegen der Häuser der Familie von Abraham Fridel.60 Zwei andere Urkunden, welche die Hauskäufe auf Lebenszeit durch jüdische Familien bestätigten, wurden beim Weiterverkauf in den 1460er Jahren an den Rat zurückgegeben, 56 Vgl. zwei Schreiben des Erfurter Rates; StadtA Erfurt, 1–1/XXI 1a–1a, Bd. 3, fol. 372r (28. September 1453), 328v (16. Dezember 1454). Siehe zu dieser Familie den Aufsatz von Andreas Lehnertz in diesem Band sowie künftig eine Publikation in der Reihe „Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte“. Die Familie ist nicht mit der oben genannten Familie des Kassel und David von Arnstadt verwandt. 57 Lämmerhirt, Schutzaufkündigung (wie Anm. 15), S. 130 f.; Ruf-Haag, Juden und Christen (wie Anm. 6), S. 334–342. Einige dort angegebene Daten sind zu korrigieren; vgl. oben Anm. 53. – Auch anderswo baten ausgewiesene Juden aus verschiedenen Gründen um die kurzzeitige Rückkehr zum alten Wohnort; Markus J. Wenninger, Geleit, Geleitsrecht und Juden im Mittelalter, in: Aschkenas 31, 1 (2021), S. 29–77, hier S. 60–62, 69. 58 Mittlerweile sind vier Urkunden zum Hauserwerb auf Lebenszeit nachweisbar: StadtA Erfurt, 0–1/6–5; Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle, Abt. Sondersammlung Urkunden Yl–b 77; LASA, U 14 XLIV, Nr. 36 u. 38; vgl. Neuedition Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 34, Anm. 6, S. 352; Nr. 65, Anm. 2 u. 4, S. 382 f.; Ruf-Haag, Juden und Christen (wie Anm. 6), S. 152 f., dem damals nur die erste Urkunde bekannt war. 59 Einige Häuser nutzte der Rat, indem er sie Ratsdienern als Wohnung zur Verfügung stellte; Ruf-Haag, Juden und Christen (wie Anm. 6), S. 334–337. 60 StadtA Erfurt, 0–0/A 47, Nr. 41; vgl. Ruf-Haag, Juden und Christen (wie Anm. 6), S. 337; Lämmerhirt, Schutzaufkündigung (wie Anm. 15), S. 130 f.

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und auf der Rückseite wurden Angaben zum Weiterverkauf eingetragen. Das Haus der bereits erwähnten Kinder der Huzlin Gans konnte die Jüdin Lehelin 1463 zurück an den Rat übertragen und sich mit dem neuen christlichen Haus­ inhaber offenbar über ein Entgelt einigen.61 1466 hielt sich Salman, Sohn des eben erwähnten Isaak von Arnstadt, in Erfurt auf und verkaufte das Haus der Eheleute Zener und Rifka. Der neue christliche Hausinhaber zahlte 26 Schock Groschen teils an den Erfurter Rat als Eigentümer des Hauses und teils an Salman in Vertretung der bisherigen Hausinhaber. Für diese wollte Salman den Verkauf gewähren, wie es heißt.62 In welcher Beziehung Lehelin und Salman jeweils zu den vorherigen jüdischen Hausinhabern standen, ist leider nicht bekannt. Möglicherweise hatten diese sie mit dem Verkauf beauftragt, nachdem die erzwungene Abwanderung schon einige Jahre zurücklag.

4. Das Ende der jüdischen Besiedlung in der Markgrafschaft Meißen – nach 1437 Während in der Landgrafschaft Thüringen für 1436 eine konkrete Ausweisung aller Juden belegt ist und in Erfurt 1453 den Juden der Schutz aufgekündigt wurde, stellen sich die Ereignisse in der Markgrafschaft Meißen ganz anders und komplexer dar. Wie auch andere Herrscher erteilten die Markgrafen von Meißen und späteren Herzöge von Sachsen den in ihren Gebieten lebenden Juden regelmäßig Schutzbriefe. Diese bestätigten für eine bestimmte Frist die Rechte der Juden und benannten deren Steuer. Einzelne wohlhabende Familien erhielten individuelle Schutzbriefe, alle weiteren Juden erhielten kollektive Schutzbriefe. Diese folgten einem Briefformular, das seit 1368 gebräuchlich war und immer wieder leicht geändert oder durch Zusätze ergänzt wurde.63 Im Jahr 1432 nahm die Abschrift des kollektiven Schutzbriefs daher im Kopialbuch ganze zweieinhalb Blatt in Anspruch.64

61 LASA, U 14 XLIV, Nr. 38; vgl. Neuedition Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 65, Anm. 2, S. 382. 62 LASA, U 14 XLIV, Nr. 36; vgl. Neuedition Liber Judeorum (wie Anm. 6), Nr. 65, Anm. 4, S. 383. 63 Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 176–178. Zur dortigen Liste ist noch ein Schutzbrief vom 27. Februar 1432 hinzuzufügen; SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0015, fol. 76r–76v. Aus diesem wurden Isaak zu Kahla, Abraham zu Leipzig und Schalam zu Altenburg herausgenommen, da sie individuelle Schutzbriefe erhalten hatten. Zu solchen Schutzbriefen für Abraham zu Leipzig und Isaak von Jena vgl. Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 313 f., 415–420. Zu Schalam von Altenburg siehe unten Anm. 76. 64 SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0015, fol. 76r–76v.

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Die Erneuerung des Schutzes von 1437 dagegen fiel mit nur einem Blatt deutlich kürzer aus, auch wenn alle wesentlichen Artikel früherer Briefe enthalten sind. Stattdessen wird zu Beginn erwähnt, dass die Juden den Markgrafen für den Erhalt des Schutzbriefs ein Geschenk zugesagt haben. Dies war zuvor nie der Fall, weshalb es sich um eine Geldsumme zusätzlich zur eigentlichen Steuer gehandelt haben dürfte.65 Möglicherweise wurde zu diesem Zeitpunkt eine weitere Verlängerung des Schutzprivilegs bereits ausgeschlossen. Denn in den Jahren danach enden die Nachrichten zu vielen jüdischen Siedlungen in der Markgrafschaft.66 1441 wurden in Weißenfels die Synagoge und in Weida Synagoge und Friedhof als Lehen an christliche Bürger übertragen.67 Allerdings durften in späteren Jahrzehnten einzelne jüdische Familien in Dresden, Plauen und Oelsnitz wohnen.68 Ebenso waren Juden noch in den fränkischen Städten des wettinischen Herrschaftsgebiets ansässig, also in Coburg und Umgebung.69 Zudem gibt es in den Kopialbüchern der wettinischen Herrscher Nachrichten über jüdische Familien, deren Wohnorte nicht genannt werden. Zunächst aber zeigt sich, dass mindestens drei wohlhabende Familien von Schatzungen durch die Landesherren betroffen waren. Bereits 1433, also vier Jahre vor dem letzten Schutzbrief, ist eine solche Schatzung für Isaak in Jena, genannt Kischke, überliefert. Die abschriftlich erhaltene Urkunde erwähnt 65 [D]as sich alle vnsir Judischeyd, die noch siczen in vnsirn landen dissyd des Waldes, willichen angegriffen vnde eyn geschencke zcu gesaget haben, darumb halden wir vns gnediclich gein yn bedacht vnde zcu gesaget, das wir sie weder getruͤwelich wullen siczen lassen yderman uff sien geschosz, sy schuczen schirmen; SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0001, fol. 51r; vgl. Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 463. 66 Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 463–467, noch in Unkenntnis weiterer Quellen; vgl. dazu die folgenden Anm. 67 Siehe zu Weißenfels SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0040, fol. 129r–v, zu Weida ebd., fol. 176v. Die ohne Tagesdatum ausgestellte Urkunde bezüglich eines Hofs und der Synagoge in Weißenfels nennt den Juden Schalam als vorherigen Lehnsinhaber (eӱnen hof, der Schalams, Juden, biszher frӱ lehen ist gewest […] mitsambt der freien Judenschule daselbs); vgl. Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 456, 465, noch ohne Kenntnis des Originals. – Nur ein Regest bezeugt die Urkunde vom 24. Februar 1441 zur Übertragung von Friedhof und Synagoge in Weida (den Juden kirchoff vnd die Judenschule zcu Wӱda). Dies ist der einzige Beleg zu einem jüdischen Friedhof in Weida, durch den die dortige jüdische Ansiedlung den Status als Gemeinde erlangt haben müsste. 68 Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 472 f. Die Angaben sind zu ergänzen um zwei Schutzbriefe von 1481 für in Plauen und Oelsnitz lebende einzelne Familien; SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0061, fol. 91r–92r. 69 Zu Juden in Franken nach 1430 vgl. Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 474–476. Siehe einen weiteren kollektiven Schutzbrief SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0040, fol. 201v–202r; Briefe für Michel zu Coburg sowie vermutlich dessen Witwe Golda und die Kinder 1444 und 1446 ebd. Nr. 0041, fol. 179v–180r; ebd., Nr. 0048, fol. 227r; zwei Briefe für Salman von Luxemburg in Coburg 1444 und 1446 ebd. Nr. 0041, fol. 22r; ebd. Nr. 0047, fol. 130v–131r.

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Schulden, die die Herzöge von Sachsen bei Isaak hatten. Es ist aber Isaak, der den Herzögen 2.000 Gulden zu zwei Terminen zahlen musste. Anschließend sollte er seinen Panzer und offenbar auch weiteren beschlagnahmten Besitz zurückerhalten. Zugleich werden ihm noch einmal für zwei Jahre seine Freiheiten bestätigt. Allerdings müssen fünf weitere wohlhabende Juden jeweils zu dritt und zu zweit für bestimmte Teilsummen der Geldzahlung bürgen.70 Zwei dieser jüdischen Bürgen wurden später ähnlich wie Isaak von Jena in Haft genommen und mussten für ihre Entlassung alle Schuldbriefe des Herzogs von Sachsen aushändigen sowie eine hohe Geldsumme zahlen. Der in Leipzig lebende Abraham war 1439 betroffen,71 für Isaak in Kahla lässt sich ein entsprechender Beleg vermutlich ins Jahr 1441 datieren.72 Isaak von Kahla zog anschließend nach Stadtilm. Von dort forderte er einige an ihn verpfändete Güter gerichtlich ein und verkaufte sie weiter, was die Herzöge von Sachsen im September 1441 als Lehnsherren der Güter bestätigen mussten. Ihr Bestätigungsbrief erwähnt sogar, dass Isaak selbst zu ihnen gekommen sei, ihnen alles zum Güterverkauf mitgeteilt habe und sie die Gerichtsbriefe habe lesen lassen.73 Indem Isaak von Jena, Abraham von Leipzig und Isaak von Kahla ihre Schuldbriefe an die Herzöge von Sachsen zurückgeben mussten, verloren alle drei die Kreditgelder, die sie den Herzögen einst gegeben oder ausgelegt hatten. Dagegen schien Schalam zu Altenburg, der ebenfalls als Kreditgeber der Herzöge bezeugt ist,74 deren Gunst nicht verloren zu haben. Allerdings lässt sich Schalams genauer Wohnort bald nicht mehr aus den Quellen erschließen. Es ist nicht sicher, ob Schalam von Altenburg noch direkt in Altenburg oder überhaupt noch im Herrschaftsgebiet der Wettiner lebte. In den 1440er Jahren erteilte Herzog Wilhelm von Sachsen gleich mehreren jüdischen Familien Geleitbriefe, welche den zollfreien Aufenthalt in seinen Gebieten gewährten sowie die Möglichkeit, offene Kredite einzufordern. Zumeist sind die Briefe abschriftlich in den Kopialbüchern erhalten.75 Für Schalam von 70 SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0034, 104v–105r. Bürgen waren Isaak zu Kahla, Meir zu Weißenfels, Zacheus zu Saalfeld, Abraham zu Leipzig und Schalam zu Altenburg. – Dass Isaak zu Jena auch Kischke genannt wird, geht nur aus dieser Quelle hervor. Eine andere Quelle von 1430 nennt zwar Kischke, jedoch ohne ihn mit Isaak zu identifizieren. Dies war daher auch Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 346–351, unbekannt. 71 SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0001, fol. 28v–29v; vgl. Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 436–439. 72 SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0001, fol. 30r; vgl. Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 396 f., 438, mit veralteter Datierung, da hierzu mittlerweile die im Folgenden genannte Quelle herangezogen werden kann. 73 25. August 1441: das vor vns komen ist Ÿsaack, Jode von Kahel, iczund zcu Ylmen wonhafftig, vnd hat vns furbracht […] alsdas auch des gerichts brieue, die er vns hat lesin lassen; SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0042, fol. 169v–170r, vgl. zu diesem Vorgang auch ebd. fol. 171v. 74 SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0034, fol. 45r; ebd., Nr. 0035, fol. 7r–9v. 75 Überliefert sind Briefe Wilhelms der 1440er Jahre für die Familien von Isaak von Jena,

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Altenburg, seine Frau Reine und seinen Freund Sloman ist ebenso ein Originalbrief von 1448 überliefert. Interessant ist, dass dieser noch einmal verlängert wurde, indem Ausstellungsort und Datum sowie einige Details im Text gestrichen und korrigiert wurden. Demzufolge galt der Brief ab 1450 noch einmal für zwei weitere Jahre. Darüber hinaus findet sich auf der Rückseite eine Beschriftung durch Schalam mit der Angabe, dass es sich um die neue Urkunde handelte.76 Auch zu Isaak von Jena, der im Mai 1433 von einer Schatzung betroffen war, sind noch weitere Nachrichten bekannt. Zwar hätte Isaak, wie erwähnt, für zwei weitere Jahre in Jena bleiben können, doch Ende Oktober 1433 ließ er sich in Mühlhausen nieder.77 Weitere Belege aus Mühlhausen sind bisher nicht bekannt und da Isaak 1442 nicht unter den jüdischen Steuerzahlern in Mühlhausen erscheint, dürfte er die Stadt bald wieder verlassen haben.78 Bezeugt ist Isaak nämlich noch einmal im Jahr 1445, als er mit seiner Frau Machala und seinem Sohn Smoel zu jenen Familien gehörte, die von Herzog Wilhelm Schutz und Geleit erhielten. Aus dem Brief geht nicht klar hervor, ob sie selbst im Herrschaftsgebiet des Herzogs lebten oder doch noch außerhalb.79 Machala und Smoel wiederum erscheinen erneut 1451, als sie die Begleichung eines Kredits quittierten, den der mittlerweile wohl verstorbene Ehemann und Vater Isaak mit anderen Geschäftspartnern an die Deutschordensballei Thüringen vergeben hatte. Die hier in Kürze wiedergegebene Kreditvergabe ist auf 1422 datiert,80 wohingegen eine weitere Abschrift der Schuldurkunde die Jahreszahl 1432

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Schalam von Altenburg, Jakob von Halle, Lakus, der in Nordhausen lebt, und Mose von Eilenburg, der in Magdeburg lebt; SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0041, fol. 18v–19v, 22v; ebd., Nr. 0042, fol. 273r–v. LATh-StA Weimar, EGA, Geleite und Straßen, Reg. CC 1, 125, fol. 1r–v. Ein Wort der direkt am Rand geschriebenen hebräischen Notiz ist nicht ganz zu lesen, da ein Stück vom Rand weggebrochen ist. Offenbar ist aber ‫ אוש שריפיט מין ]הכת׳[ החדש‬oder „Ausschrift von der neuen Urkunde“ gemeint. Ich danke Andreas Lehnertz für die Transkription und Übersetzung des Vermerks. – Zwei frühere Schutzbriefe für Schalam vom 27. November 1441 und vom 19. Januar 1445 sind als Abschriften überliefert; SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0041, fol. 19r, 22v. Oberhalb einer im Volltext notierten Vereinbarung des Mühlhäuser Rats mit einem anderen Juden wurde notiert, dass Isaak von Jena am 29. Oktober 1433 einen gleichlautenden Brief für zwei Jahre bei einer Steuer von 12 Gulden erhalten habe; StadtA Mühlhausen, 10–X1, Nr. 2, fol. 15r. Vgl. das Kämmereiregister von 1442; StadtA Mühlhausen, 2000/7, fol. 3r. Die Kämmerei­ register enthalten jeweils die Abgaben für die Schutzbriefe der Juden unter der Überschrift de pactis judeorum. Leider sind die Jahrgänge für den Zeitraum von 1431 bis 1442 nicht überliefert. SächsStA-D, 10004 Kopiale, Nr. 0041, fol. 19v, evtl. auch 18v. LASA, U 24, Nr. 12.

Migration von Juden in Thüringen

Abb. 1 u. 2: Geleitbrief für Schalam von Altenburg und seine Familie aus dem Jahr 1448 mit einer Verlängerung im Jahr 1450 (oben), auf der Rückseite ein Vermerk Schalams zum Inhalt des Briefes (unten)

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nennt.81 Als die Deutschordensballei bei Smoel und Machala ihre Schuld beglich, hatte diese Schuld also bereits seit fast 20 oder fast 30 Jahren bestanden.

5. Fazit Selbst nach zwei oder drei Jahrzehnten mühten sich Smoel und Machala um den Rückerhalt von Kreditgeldern, so wie manche Erfurter Juden sich noch nach Jahren um die Durchsetzung ihres Rechts bezüglich der Häuser bemühten. Lewi und sein Bruder Liebmann dagegen konnten 1436 schon kurz nach Lewis Ausweisung aus Gotha und vor ihrer Übersiedlung nach Göttingen eine Kreditrückzahlung erhalten. Isaak von Kahla wiederum begab sich 1441 wegen der erforderlichen Zustimmung zu einem Güterverkauf sogar persönlich zu den Herzögen von Sachsen, die ihm wohl kurz zuvor im gleichen Jahr sein Vermögen genommen und ihn ihres Landes verwiesen hatten. Einerseits waren Juden von den Landesherren abhängig, die ihnen ihre Gunst entziehen und sogar Strafzahlungen fordern und die Rückzahlung von Krediten verweigern konnten. Andererseits wurden bestimmte Kontakte auch genutzt und eingesetzt, sei es um Kredite zu vergeben oder um Schutz- und Geleitbriefe zu erhalten. Auch während der tragischen Verfolgungen von 1349 dürften manche jüdische Familien bestehende Kontakte genutzt oder eben solche Kontakte gesucht haben, um vor Verfolgungen geschützt zu sein. Auch damals dürften wohlhabende Familien im Vorteil gewesen sein, da sie ihre Bitte um Schutz mit finanziellen Mitteln unterstützen konnten. Über die Strategien und Möglichkeiten weniger bemittelter Familien lässt sich, wie schon gesagt, nur spekulieren. Gerade angesichts der Verfolgungen von 1349 stellt sich die Frage, wie Familien mit geringeren finanziellen Mitteln diese Zeit überstehen konnten.

81 Geheimes StA Preußischer Kulturbesitz, XX. HA, OBA 10425, fol. 2r; vgl. Lämmerhirt, Juden (wie Anm. 4), S. 314.

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Der mittelalterliche jüdische Friedhof in Erfurt Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt*

Europaweit liegen nur wenige archäologische Untersuchungen mittelalterlicher jüdischer Friedhöfe vor. Die ewige Totenruhe, die in der jüdischen Religion eine besonders wichtige Rolle spielt, verbietet eine Umlagerung, wenn sie nicht nach Israel erfolgt. Bodeneingriffe verbieten sich dadurch in Bereichen, in denen Friedhöfe überliefert sind oder vermutet werden, ganz grundsätzlich. Forschungsgrabungen fanden daher auf mittelalterlichen Friedhöfen bisher nicht statt, es handelte sich bei allen publizierten Beispielen um durch Bauarbeiten notwendig gewordene Ausgrabungen. Ole Harck publizierte 2014 in seiner umfangreichen Arbeit: Archäologische Studien zum Judentum für den aschkenasischen Bereich 16 Orte mit archäologischen Befundangaben.1 Darin sind die Untersuchungen in England oder Nordfrankreich nicht enthalten, die Arbeit umfasst neben Deutschland auch Tschechien, Österreich und die Schweiz. Seit Harcks Publikation sind außer Erfurt keine weiteren Orte mit Friedhofsbefunden dazugekommen, allerdings an einigen Orten weitere Grabungen. Alle bisherigen Publikationen beruhen auf unter eher ungünstigen Umständen ergrabenen und untersuchten Grabungsbefunden: Bei der bislang größten Friedhofsgrabung in York/Jewbury in England waren 1982 und 1983 fast 500 Bestattungen freigelegt worden. Die anthropologischen Untersuchungen hatten bereits parallel zur Freilegung und Bergung begonnen, als auf Intervention der Jüdischen Landesgemeinde alle Arbeiten abgebrochen und die Gebeine wieder bestattet werden mussten.2 Trotz dieser Schwierigkeiten ist diese Grabung bis heute am umfangreichsten vorgelegt und in ihrer Publikation der Maßstab, an dem sich die folgenden Veröffentlichungen orientieren müssen. Weitere Unter*

Mein Beitrag gibt einen sehr verkürzten Einblick in ein noch nicht abgeschlossenes Forschungsprojekt. Ich danke allen beteiligten Kollegen, die mir ihre bisherigen Ergebnisse zur Verfügung gestellt haben. Die Veröffentlichung ist in der vom Thüringer Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie herausgegebenen Reihe „Die mittelalterliche jüdische Kultur in Erfurt“ geplant. 1 Ole Harck, Archäologische Studien zum Judentum. In der europäischen Antike und dem zentraleuopäischen Mittelalter, Petersberg 2014. 2 Jane M. Lilley/Gillian Stroud/Don Reginald Brothwell u. a. (Hg.), The Jewish Burial Ground at Jewbury (The Archaeology of York, 12), York 1994.

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suchungen folgten in Basel,3 hier sind die Grabungsbefunde sehr gut mit Erfurt vergleichbar. Auch in Basel wurde ein relativ kleiner Ausschnitt des Friedhofes ausgegraben, allerdings gab es bereits ältere Beobachtungen, die in die Publikation mit aufgenommen werden konnten. Eine Besonderheit in Basel, und nur hier nachgewiesen, waren Erdkissen, auf denen die Schädel der Toten in den Särgen ruhten. In Prag wurde seit 1970 der mittelalterliche Friedhof in zahlreichen Grabungskampagnen in Ausschnitten untersucht, dabei wurden insgesamt mehrere Hundert Bestattungen freigelegt.4 Inzwischen ist die Friedhofsfläche südlich der ehemaligen Neustadt als archäologisches Kulturdenkmal unter Schutz gestellt. Zwischen den ausgegrabenen Friedhofsbereichen liegen noch ungestörte Bereiche und einige unter nicht tief gegründeten Bauten konservierte Bereiche. Eine komplette Publikation steht aus, ein erster Überblick stellt die verschiedenen Untersuchungsflächen bis 2013 vor. In Prag wurden die Toten ebenfalls in Särgen bestattet, zusätzlich wurden manche Gräber noch mit senkrecht gestellten Steinplatten ausgekleidet, die mutmaßlich auch dazu dienten, die Gräber an der Oberfläche zu markieren. Eine weitere Besonderheit in Prag sind die kleinen Keramikbruchstücke, mit denen die Augen einiger Toter und in manchen Fällen auch der Mund abgedeckt wurden. Für Frankreich ist eine Dissertation zu allen mittelalterlichen Friedhöfen in Arbeit. Das klingt sehr viel, tatsächlich handelt es sich bisher um 3 von 116 mittelalterlichen Friedhöfen, die für Frankreich bekannt sind.5 Der Doktorand Philippe Blanchard untersuchte 2021 einen weiteren Friedhof, was unter strengem Ausschluss der Öffentlichkeit geschehen musste. Im sephardischen Bereich wurden umfangreiche Friedhofsgrabungen in Spanien und Italien durchgeführt. Hier liegen bislang ebenfalls nur Vorberichte vor. Gerade die spanischen Beispiele zeigen große Unterschiede zu den aschkenasischen Friedhöfen, was sicher nicht alleine im unterschiedlichen geologischen Untergrund begründet liegt. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass Grabungen und alle nachfolgenden Untersuchungen an Bestattungen nur unter enger Einbeziehung der jeweiligen jüdischen Gemeinde erfolgen können. Wir waren daher sehr froh, dass die Jüdi-

3 Cornelia Alder/Christoph Philipp Matt, Der mittelalterliche Friedhof der ersten jüdischen Gemeinde in Basel, in: Materialhefte zur Archäologie in Basel 21 (2010), S. 9–135. 4 Tomasz Cymbalak/Veronika Staňková/Daniel Polakovič, The Jewish Garden in the new Town of Prague, in: Eva Doleżalová et al. (Hg.), Juden in der mittelalterlichen Stadt. Colloquia medievalia Pragensia, Prag 2015, S. 149–168. 5 Philippe Blanchard/Patrice Georges-Zimmermann/Gérard Nahon, Le paysage des cimetières juifs au Moyen Âge. Matthieu Gaultier/Anne Dietrich/Alexis Corrochano, Rencontre autour des paysages du cimetière médiéval et moderne, FERACF, S. 269–279, Tours 2015, 60e Supplément à la Revue Archéologique du Centre de la France. https:// hal.archives-ouvertes.fr/hal-01764574 (letzter Abruf: 14.02.2022).

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sche Landesgemeinde ihr Einverständnis zu allen Untersuchungen erklärte, die vorab abgesprochen wurden.

1. Historische Quellen6 Jüdische Friedhöfe sollten nach der Mischna mindestens 50 Ellen von einer Stadt entfernt liegen. Dies lässt sich bei vielen Orten nachvollziehen, in einigen Fällen wurden die Regeln jedoch nicht eingehalten, da beispielsweise jüdische Viertel umverlegt werden mussten oder die Städte sich im Laufe der Zeit über die Friedhöfe hinaus ausweiteten.7 In den städtischen Quellen sind Informationen zu den jüdischen Friedhöfen in erster Linie durch die Abgaben zu fassen, die durch die Gemeinden oder Gemeindemitglieder zu leisten waren. Neben den allgemeinen Abgaben für den Friedhof kamen in Erfurt, wie in anderen Kehillah-Orten, noch 30 Pfennige für die Beerdigung von Toten aus den umliegenden Orten hinzu, in denen keine eigenen Friedhöfe bestanden.8 Die erste Erwähnung des jüdischen Friedhofes in Erfurt erfolgte am 4. März 1287: Heinrich, Erzbischof von Mainz, verzichtet auf alle Forderungen gegenüber Rat, Bürgern und Gemeinde von Erfurt und der Jüdischen Gemeinde der Stadt, ihren Kirchhof, ihre Synagoge und alle anderen Dinge betreffend. Der Friedhof muss zu diesem Zeitpunkt schon länger bestanden haben, denn die Erfurter Synagoge wurde bereits um 1100 errichtet und im weiteren Umkreis gab es keine Gemeinde mit nachgewiesenem Friedhof. Die ältesten bislang bekannten Grabsteine aus Erfurt sind wenig älter als die schriftliche Überlieferung, sie stammen aus den 1240er-Jahren.9 Die in einer Abschrift aus dem 16. Jh. überlieferten Stadtrechnungen führen als ersten Eintrag für 1336 u. a. 6

Maike Lämmerhirt hat bereits 2013 im Rahmen des Grabsteinkatalogs die historischen Belege zum Erfurter Friedhof untersucht. Maike Lämmerhirt, Der jüdische Friedhof in Erfurt. Historische Betrachtung, in: Landeshauptstadt Erfurt (Hg.), Erfurter Schriften zur Jüdischen Geschichte, Bd. 2, Die Grabsteine des mittelalterlichen jüdischen Friedhofs von Erfurt Jena/Quedlinburg 2013, S. 12–27. Durch ihre fortlaufende Beschäftigung mit den mittelalterlichen jüdischen Gemeinden Erfurts sind jedoch so viele neue Erkenntnisse hervorgegangen, dass auch ihr Beitrag in die geplante Publikation einfließen wird. 7 Susanne Härtel, Jüdische Friedhöfe im mittelalterlichen Reich, in: Michael Borgolte/ Wolfgang Hurschner (Hg.), Europa im Mittelalter, Bd. 27, Berlin/Boston 2017, S. 36–47, Abb. 1–5. 8 Siehe Anm. 6, S. 17. 9 Landeshauptstadt Erfurt (Hg.), Erfurter Schriften zur Jüdischen Geschichte, Bd. 2, Die Grabsteine des mittelalterlichen jüdischen Friedhofs von Erfurt Jena/Quedlinburg 2013. Nach Drucklegung des Bandes wurden bei verschiedenen Baumaßnahmen so zahlreiche Grabsteine geborgen, dass auch hier eine neue, ergänzte Vorlage sinnvoll erscheint.

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Ausgaben zu pasteÿenn uf dem juhden kirchoff an.10 Ob diese Bastei tatsächlich auf dem Friedhof errichtet wurde, geht leider aus dem Eintrag nicht hervor. Denkbar wäre ein Zusammenhang mit dem Stadttor an der Moritzstraße, das direkt östlich neben dem Friedhof lag. Nach der Peterschronik wurden die im Pogrom 1349 getöteten Juden auf ihrem Friedhof vor dem St. Moritztor bestattet. Nach der Auslöschung der Gemeinde durch den Pogrom traten ein Jahr später christliche Besitzer als Zahler der Freizinsen auf.11 Nach den Stadtrechnungen zahlte die Stadt 1355 Zur Erbauung von fünf Judenhäuser zu bessern an denn BornnKammern und an der Mauer an dem Judenkirchhof den Steinweg vor und innerhalb dem Krämpferthor und auf der Krämerbrücke zu pflastern 712 Marck 1 fert 1 Loth.12 Die Maßnahmen an der Mauer am Friedhof könnten im Zusammenhang mit der Wiederansiedlung der Juden gestanden haben und sich nicht auf die Stadtmauer, sondern auf die Einfriedung des Friedhofes beziehen. Ob es sich bei den zwischen Häusern und Friedhof angeführten Brunnenkammern um jüdische Brunnen handelt, lässt sich der Rechnung leider nicht entnehmen. Erst 1363 tritt die zweite jüdische Gemeinde als Freizinszahler für den Friedhof auf.13 1375 erfolgt eine Erweiterung des Friedhofes auf den ehemaligen Blidenhof und die Stadt gibt die Erlaubnis eine oder zwei Pforten durch die Stadtmauer zu brechen. 1380 und 1383 zahlt die in der Krautgasse/Krautsteg wohnende Ester die Zinsen für den Friedhof. Ab 1386 übernimmt die Gemeinde die Zahlungen. 1414 ist erstmals ein Friedhofswärter belegt, was aber nicht ausschließt, dass das Amt schon länger bestand. Nach der Vertreibung der Juden 1454 wurde der Friedhof aufgegeben. 1456 erfolgte zunächst ein Scheunenbau auf dem Gelände, 1464–1472 wurde der städtische Kornhofspeicher errichtet, der heute noch steht. Der Erfurter Friedhof lag, wie nach den religiösen Vorschriften zu erwarten, außerhalb des Siedlungsgebietes, nicht nur der beiden mittelalterlichen jüdischen Gemeinden, sondern auch der Christen. Wie eine Stadtansicht von Dedekind aus dem 17. Jahrhundert zeigt, wusste man noch 200 Jahre nach der Aufgabe des Friedhofes um seine ungefähre Lage.14 Zu diesem Zeitpunkt gab es mit Sicherheit keine Grabsteine mehr, die obertägig den Friedhof markierten. Sie waren als Baumaterial vor allem in die Befestigungsanlagen der Stadt eingebaut wor10 StadtA Erfurt, Acta des Magistrats zu Erfurt betr. Auszüge aus den Rechnungen der Stadt Erfurt über alle Ausgaben für öffentliche Bauten in den Jahren 1336–1509, 1–1/IIa Nr. 1. 11 Nach Lämmerhirt, Der jüdische Friedhof (wie Anm. 6) S. 18 f. 12 Wie Anm. 10. 13 Wie Anm. 11. 14 Dedekind, StadtA Erfurt, 7-240/10. Die Ansicht zeigt neben dem Kornhofspeicher den Eintrag „Judenkirche“. Dies führte in der Forschung zum Missverständnis, es habe sich dabei um eine weitere Synagoge gehandelt.

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Abb. 1: Noch Ende des 17. Jahrhunderts ist die periphere Lage des jüdischen Friedhofes gut zu erkennen. Unverstanden allerdings das Gebäude auf dem ehemaligen Friedhof: Hier hat sich nie eine Synagoge „Judenkirche“ befunden. den und vermutlich in noch größerer Zahl in den Kornhofspeicher. Für seinen Bau liegen sehr ausführliche Abrechnungen vor, selbst die Zahl der Dachziegel ist aufgelistet. Keine Erwähnung findet dabei die Verwendung der jüdischen Grabsteine, diese standen ja kostenlos zur Verfügung. Für den Speicher nutzte man als Südwand die Stadtmauer der Romanik, die Nordwand bildete in Teilen die Zwingermauer, die vermutlich im 14. Jahrhundert errichtet wurde.

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Abb. 2: Gesamtplan der Grabung Jüdischer Friedhof in der Großen Ackerhofsgasse in Erfurt

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2. Archäologie15 Anlass für die archäologische Grabung war die Umnutzung des Kornhofspeichers zu einem mehrstöckigen Parkhaus. Da der Einbau eines Aufzuges für die Fahrzeuge im Inneren des Gebäudes verworfen worden war, musste außen eine Auffahrtsspindel errichtet werden. Dazu waren westlich des Giebels Bodeneingriffe nötig. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits die Arbeiten innerhalb des Gebäudes begleitet worden und es war klar, dass dort keine Gräber mehr im Boden lagen. Auf dem Grundstück waren außerdem bereits mehrere Gebäude abgebrochen und an ihrer Stelle Neubauten errichtet worden. Zahlreiche Leitungstrassen wurden baubegleitend untersucht. Nur bei einem Ersatzbau für eine große Scheune auf dem Gelände war bei Schachtungen für Streifenfundamente eine Bestattung angeschnitten worden. Umgelagert fanden sich jedoch immer wieder sehr viele einzelne menschliche Knochen. In den Mauern der abgebrochenen Gebäude steckten eine Reihe von Grabsteinen und -fragmenten. Aus den für die Ein- und Ausfahrten notwendigen Wanddurchbrüchen an der Ostseite des Kornhofspeichers wurden alleine drei Grabsteine geborgen und durch aufmerksame Bauarbeiter gerettet. Darunter war auch ein kompletter Doppelgrabstein. Nach Beendigung der archäologischen Begleitung wurde für den Ersatzbau der Scheune – ein Wohn- und Bürohaus – ein Durchbruch in die an dieser Stelle nach dem 15. Jahrhundert erneuerte Zwingermauer gesägt. Dabei entdeckte man weitere Grabsteine. Eine denkmalfachliche Begleitung dieser Arbeiten war nicht erfolgt, die Steine wurden erst später übergeben und dabei wurde auch die Mauer begutachtet. Die Anpassungen an die durchgesägten Steine konnten dadurch noch im Nachgang aus der Mauer geborgen werden, so dass die Einzelteile durch die Restauratoren der Fachhochschule Erfurt wieder zusammengefügt werden konnten. Die genaue Lage und Ausdehnung des mittelalterlichen Friedhofes geht aus den Schriftquellen nicht hervor. Daher sollte im Vorfeld des Baus der Auffahrtsspindel eigentlich durch archäologische Sondagen abgeklärt werden, ob hier noch Bestattungen in situ vorhanden waren. Alleine die Geländehöhe, die fast zwei Meter über dem Niveau innerhalb des Kornhofspeichers lag, ließ vermuten, dass der Friedhof hier noch komplett erhalten sein musste. Entgegen der Absprachen wurden durch die Baumaschinen unbeaufsichtigt die obersten Erdschichten bereits abgetragen und bei der Kontrolle der Baustelle einen Tag vor den abgesprochenen Sondagen hatte der Bagger ein Kinderskelett im Löffel, das nicht mehr geborgen werden konnte. Nach dem sofortigen Baustopp fanden zwischen dem 8. März und dem 17. April 2013 archäologische Grabungen statt, die zwischenzeitlich mehrfach witterungsbedingt unterbrochen werden muss15 Stellvertretend für das gesamte Team sei hier den Grabungsleitern Martin Sowa und Ronny Krause sowie dem Grabungstechniker des Landesamtes Roland Altwein gedankt.

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ten. Da Grabgruben nicht erkennbar waren, wurde zunächst maschinell ein Planum angelegt, in dem bereits Holzreste und manchmal erste Knochen zu erkennen waren. Ab da wurde nur noch in Handarbeit vorgegangen. Die jüdische Landesgemeinde war bereits weit im Vorfeld über die geplante Baumaßnahme informiert worden, mit der Erteilung des Baustopps erfolgten erneute Absprachen. Im Laufe der Ausgrabung wurde nach Vorschlag des Bauherrn die Bergung der Skelette auf die Bereiche eingeschränkt, in denen die für die Auffahrtsspindel notwendigen Bodeneingriffe die Gräber zerstörten. In den Bereichen, in denen ein flacherer Bodeneingriff nötig war, verblieben die Skelette im Boden. Aus archäologischer Sicht hätte man sie sicher ebenfalls geborgen, die Vorgaben der Landesgemeinde waren aber ausschlaggebend für die Entscheidung. Nach Beendigung der Grabung erfolgte zunächst eine Kiesaufschüttung über der Fläche zum Schutz der Bestattungen. Im Sommer wurden die Fundamente geschachtet für den Anbau. Dabei wurden in den Bauprofilen zwar einzelne Gräber beobachtet, jedoch keines komplett erfasst.

Abb. 3: Blick auf den Kornhofspeicher mit dem Grabungsfeld. Im Vordergrund die freigelegte Zwingermauer Die Größe der Grabungsfläche betrug rund 16 x 12 Meter. Der Gesamtplan der Grabung spiegelt jedoch aus den oben angeführten Gründen nicht wirklich die Belegung des Friedhofes wider. Es ist davon auszugehen, dass die gesamte Fläche so dicht belegt war wie im Nordteil des Grabungsfeldes. Der Friedhof setzt sich

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nach Westen weiter fort, es wurde keine Grenze festgestellt. Im Osten wurden Bestattungen durch den Bau des Kornhofspeichers teilweise zerstört. Das Bodenniveau des Kornhofspeichers liegt so tief, dass durch den Bau auf einer Länge von über 80 Metern sämtliche Grabstätten zerstört wurden. Rechnet man mit einer Belegung in ähnlicher Dichte wie im Grabungsfeld, wurden durch den Kornhofspeicher rund 1.000 Grabstätten zerstört. Dabei ist eine Belegung nur auf einer Ebene angenommen, wie sie im Grabungsbereich angetroffen wurde. Die archäologische Dokumentation umfasst 47 Bestattungen, weitere sechs Gräber wurden lediglich baubegleitend dokumentiert und konnten nur teilweise geborgen werden. Auffällig war die sehr dichte Belegung des Friedhofes. Teilweise lagen die Särge fast unmittelbar aneinander. Bei fast allen Gräbern konnten Sargreste erfasst werden, bei einigen war die Holzart als Tanne bestimmbar.16 Die Särge wiesen bis zu 26 Eisennägel auf, Griffe oder Beschläge wurden nicht geborgen. Mit einer Ausnahme lagen alle Bestatteten mit dem Kopf annähernd im Westen, so dass sie nach Osten – also in etwa Richtung Jerusalem – blickten. Die Ausrichtung der Gräber scheint aber eher auf die Stadtmauer als auf die genaue Himmelsrichtung Bezug zu nehmen. Durch die nur in einem Planum durchgeführte Grabung ist es nicht möglich, Fragen zu Stratigraphie und zeitlicher Abfolge der Befestigungsanlage zu beantworten. Die romanische Stadtmauer war hier in einer Qualität erhalten, wie sie bisher nirgends beobachtet wurde: Große exakt bearbeitete Sandsteinblöcke bildeten die ursprüngliche Mauerschale, wo sie fehlten, wurde Kernmauerwerk in opus spicatum-Technik sichtbar, wie sie typisch für romanische Bauten ist. In Analogie mit anderen Bereichen der Stadtbefestigung wäre in der ersten Bauphase ein vorgelagerter Graben zu erwarten gewesen. Möglicherweise ist die parallel zur Mauer verlaufende Befundgrenze mit der Nummer 12 die Südkante dieses Grabens. Nördlich davon waren Dokumentationen nur unter schwierigen Bedingungen während der Fundamentschachtungen durch den Bagger möglich. Aus Sicherheitsgründen konnte keines der beobachteten Profile nachgeputzt werden. So gibt es für den Graben zwar Anhaltspunkte, er kann jedoch nicht mit Sicherheit belegt werden. Im Brühl, im westlichen Teil der Stadtbefestigung, konnten die romanische Stadtmauer und der vorgelagerte Stadtgraben nicht nur dokumentiert, sondern über Holzaussteifungen auch datiert werden. Die jüngsten Holzpfähle datierten auf 1324/25.17 Der dort erfasste Graben hatte einen näher zur Stadtmauer gelegenen Vorgänger. Dessen Abstand entsprach etwa dem des am Ackerhof angenommenen Grabens. Im Brühl errichtete man nach Aufgabe des jüngeren Grabens eine Zwingermauer, deren Bau nicht vor 16 Ich danke dafür Jörg Hägele, Restaurierungsabteilung des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie in Weimar. 17 Karin Sczech, Bericht zur Stadtarchäologie. Bericht über Stadtarchäologische Untersuchungen im Jahr 2002, in: MVGAE 64/NF 11 (2003), S. 18–23.

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dem zweiten Viertel des 14. Jahrhundert erfolgt sein kann. Nimmt man ein ähnliches Baudatum am Kornhofspeicher an, so ist es schon aus verteidigungstechnischen Gründen eher wahrscheinlich, dass erst die zweite jüdische Gemeinde in diesem Bereich ihren Friedhof anlegen durfte.18

3. Anthropologie Der Anthropologe Stefan Flohr19 untersuchte 47 Skelette und 1.400 Einzelknochen, die als Lesefunde geborgen wurden. Bei der geringen Zahl an Individuen ist die Aussagekraft statistischer Analysen begrenzt, aber Tendenzen lassen sich dennoch herausarbeiten. Auffällig ist die geringe Zahl an Neugeborenen und Kleinkindern bis zu drei Jahren, die bei der allgemein hohen Sterberate dieser Altersgruppe im Mittelalter zu erwarten gewesen wäre. Die Beobachtung von zwei Fällen, in denen Kleinkinder weniger tief bestattet waren als Erwachsene und die Tatsache, dass die Grabung erst auf dem Niveau der Erwachsenenbestattungen einsetzte, sind eine mögliche Erklärung, vielleicht lagen aber kleinere Kinder auch separiert auf einem anderen, nicht untersuchten Teil des Friedhofes. Bei dem kleinen untersuchten Ausschnitt ist auch dazu eine Aussage nicht möglich. Auffällig ist der relativ hohe Anteil an Personen, die nach dem 50. Lebensjahr verstorben sind, darunter auch einige, bei denen verschiedene Merkmale auf ein Alter jenseits der 60 hindeuten. In dieser Gruppe der ältesten Toten überwiegt der Frauenanteil mit sechs von acht Personen sehr deutlich. Das hohe Alter kann als Indiz für einen relativ hohen Lebensstandard angesehen werden. Die Körperhöhen der Bestatteten sind relativ gering. Leider fehlen die direkten Vergleichsuntersuchungen mit christlichen Friedhöfen aus dem näheren Umfeld. Auffällige Mangelerscheinungen wurden bei den Bestattungen nicht gefunden, die Lesefunde ergeben jedoch ein anderes Bild. Einen weiteren Hinweis liefert auch die Untersuchung im Hinblick auf Arthrose-Erkrankungen: Da die Entstehung einer Arthrosis deformans durch dauerhafte, hohe körperliche (Fehl-)Beanspruchungen gefördert werden kann, ist im Umkehrschluss das geringe Ausmaß an solchen Veränderungen an den Skeletten dadurch zu erklären, dass das körperliche Belastungsniveau dieser Menschen offenbar eher moderat war. 18 In den Stadtrechnungen kann man aus den Aufzählungen vermuten, dass im Zuge des Befestigungsausbaus zunächst Türme vor der Stadtmauer errichtet wurden. 1373 wird das äußerste Moritzthor gebessert, Arbeiten am Tor und an den Mauern folgen. Die geplante genauere Analyse der Stadtrechnungen könnte Aufschluss darüber geben, in welcher Reihenfolge im 14. und 15. Jahrhundert der Ausbau der Stadtbefestigung erfolgte. 19 Stefan Flohr, heute Universität Hildesheim, begann die Bearbeitung der Skelette als zuständiger Anthropologe des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie in Weimar.

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Die meisten Spuren von Traumata an den Skeletten sind eher unspezifisch und lassen sich über Unfälle im täglichen Leben erklären. Hiervon ausgenommen sind eindeutig die Spuren scharfer Gewalt an dem Mann mit der Befundnummer 53. Mindestens 66 Individuen lassen sich aus den als Lesefunde geborgenen Knochen erschließen. Manche Lesefunde wurden bei der Baubegleitung als Komplexe geborgen, wobei häufig Knochen anderer Individuen mit aufgesammelt wurden. Die Arbeitsbedingungen auf der Baustelle ließen keine dokumentierbare Bergung zu. Unter den Lesefunden überwiegen die großen und kompakten Knochen, angesichts der Umstände wiederum nicht überraschend. Den Archäologen wiederum überrascht die große Zahl an erfassten Schädelknochen. Das hängt jedoch damit zusammen, dass diese Knochen für den Anthropologen auch als kleinste Fragmente sehr eindeutig zu bestimmen sind. Für Stefan Flohr war bemerkenswert, dass eine große Zahl an pathologischen Knochenveränderungen an den Lesefunden nachzuweisen war. Dies verändert das Gesamtbild der Bestattungen entscheidend, auch ohne eine mögliche archäologische Zuordnung der einzelnen Knochen. In der Gesamtbeschau ergibt sich ein sehr facettenreiches Bild. Es gibt Hinweise auf lebenslange schwere körperliche Arbeit sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Es gibt aber auch einige Personen, die ohne bedeutsame (erkennbare) Spuren harter körperlicher Arbeit ein relativ hohes Alter erreichten. Die insgesamt recht hohe Lebenserwartung spricht für einen eher hohen allgemeinen Lebensstandard. Schwere Erkrankungen, die am Skelett nachweisbar sind, wurden nur ausnahmsweise gefunden, wobei die Lesefunde in dieser Hinsicht ein deutlich breiteres Spektrum zeigten. In den meisten Fällen waren die Krankheitsspuren an den Skeletten nicht sehr stark ausgeprägt oder aber die Skelette waren nicht vollständig genug erhalten, um belastbare Diagnosen treffen zu können. Das betrifft vor allem Veränderungen am Skelett, die auf eine gewisse „Opulenz“ hindeuten könnten. Das wohl größte körperliche Leiden der Menschen betraf die Zähne. Die sehr hohen Kariesfrequenzen von Kindesalter an sprechen für einen hohen Zuckeranteil in der Nahrung. Vergleiche zu nicht-jüdischen Bestattungen aus der Zeit und der Region könnten helfen, diesen Befund inhaltlich einzuordnen. Leider liegen solche Referenzbefunde (noch) nicht vor. Die vielen Kariesläsionen an den Zähnen der Skelette von der Großen Ackerhofsgasse zeigen in etlichen Fällen die typischen Komplikationen, die sich aus einer Karies entwickeln können. Auf apikale Prozesse folgen sehr häufig Fistulierungen in das Vestibulum, nach oral und im Bereich der Maxilla in die Kieferhöhlen hinein. Neben den Schmerzen, die mit diesen Läsionen verbunden sind, besteht grundsätzlich immer auch die Möglichkeit, dass die lang andauernden Entzündungen fatale Folgen haben können. So ist bekannt, dass die fokalen Entzündungsherde im Bereich der Zahnwurzel streuen können und

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an entfernten Strukturen wie dem Herz oder dem Gehirn tödliche Komplikationen hervorrufen können.20 Die Menschen, die auf dem mittelalterlichen jüdischen Friedhof bestattet wurden, waren durchweg von kleiner Statur. Damit liegen sie zwar in dem generellen für Mittel- und Nordeuropa dokumentierten Trend einer kontinuierlichen Abnahme der Körperhöhe von der Völkerwanderungszeit aus bis in das späte Mittelalter hinein. Dennoch liegen die Körperhöhenwerte von Erfurt im Mittel noch etwas unter dem Durchschnitt, der für diese Phase angesetzt wird.21 Die anthropologischen Befunde (Demographie, Paläopathologie) legen nahe, dass diese geringe Körperhöhe weniger auf ungünstige Lebensbedingungen zurückzuführen ist als vielmehr auf eine populationsspezifische Eigenschaft. Der Vergleich der Befunde aus den Bestattungen und den Lesefunden ist insofern interessant, als dass er zu einer gewissen Vorsicht gegenüber solcher wie den eben getroffenen allgemeinen Aussagen mahnt. Denn der Ausschnitt aus der gesamten jüdischen Gemeinde im späten Mittelalter in Erfurt und Umgebung wird nur durch eine recht kleine Anzahl an Personen vertreten. Zwar lieferten die Bestattungen und die Lesefunde bei den Skeletten von Erwachsenen durchaus sehr ähnliche Resultate, was als Indikator für eine gute Repräsentativität angesehen werden kann, bei den Skeletten von Kindern ergaben sich aber durchaus bedeutsame Unterschiede. Diese betrafen zum einen die demographische Zusammensetzung, die wiederum ein wichtiger Marker für die allgemeinen Lebensbedingungen ist. So ist die Kindersterblichkeit bei sehr armen Bevölkerungen deutlich höher als bei wohlhabenderen Bevölkerungen.22 Zum anderen zeigte sich eine deutlich abweichende Krankheitsbelastung bei den Kindern, die durch die Lesefunde repräsentiert sind, gegenüber denen aus den Bestattungen. So sind schwere Fälle von Mangelerkrankungen an den Lesefunden festzustellen, die bei den Bestattungen fehlen. Wie die tatsächlichen Verhältnisse bezüglich der Mortalität und Morbidität bei den Kindern aus der spätmittelalterlichen jüdischen Gemeinde in Erfurt und Umgebung waren, ist durch diese Arbeit somit nur kasuistisch belegt.

20 Yolanda Jiménez/José Vicente Bagán/J. V., Judith Murillo/Raphael Poveda, Odontogenic infections. Complications. Systemic manifestations, in: Medicina oral, patologia oral y cirugia bucal 9 Suppl, 2004, S. 139–147. 21 Frank Siegmund, Die Körpergröße der Menschen in der Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas und ein Vergleich ihrer anthropologischen Schätzmethoden, Norderstedt 2010, S. 131. 22 Tony Waldron, T. 2009: Palaeopathology (Cambridge manuals in archeology), Cambridge 2009.

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4. Genetik Ein israelisch-amerikanisches Team von Genetikern unter Leitung von Shai Carmi 23 und David Reich24 untersuchte anhand von 33 bei der Grabung geborgenen Zähnen die DNA der Bestatteten. Zusätzlich erfolgte bei einigen der Toten auch eine Datierung über 14C-Analysen. Letztere führte nicht zu einem eindeutigen Ergebnis, allerdings zeigten mit einer Ausnahme alle Proben ein sehr einheitliches Bild. Sie datieren alle in das 14. Jahrhundert. Die Analysen konnten jedoch nicht klären, ob die Toten der ersten oder zweiten Gemeinde zuzuordnen sind. Sehr unwahrscheinlich ist jedoch ein Zusammenhang des Friedhofes mit dem Pogrom von 1349. Genau für diese Zeit zeigt die Analysekurve einen sehr flachen Ausschlag. Anhand von wenigen Beispielen soll gezeigt werden, zu welchen Ergebnissen die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Disziplinen führte: Durch die Genanalysen konnten zwei Familien bestimmt werden: In einem Fall handelt es sich um Vater und Tochter, die direkt nebeneinander bestattet wurden (Befund 53 und 48). Interessant sind die archäologischen und anthropologischen Untersuchungsergebnisse zum Vater: Er ist mit mindestens 1,70 m25 der größte und robusteste Tote und lag in einem der größten Särge von 1,90 m Länge. Er erreichte ein Alter von 40 bis 60 Jahren. An beiden Oberschenkeln lagen Schnallen, eine aus Bronze, eine aus Eisen, die darauf hinweisen, dass er vollständig bekleidet, nicht im Totengewand bestattet wurde. Er wurde durch Schwerthiebe getötet. Der Schädel wies mindestens fünf Hiebverletzungen auf. Aus dem Grab der Tochter wurde eine wenig aussagekräftige Wandscherbe geborgen, die in das 14. oder 15. Jahrhundert datiert. Im zweiten Fall handelt es sich um eine zwischen 40 und 50 Jahre alte Frau (Bef. 19) und deren zwischen 14 und 17 Jahre alten Sohn (Bef. 50) sowie eine zwischen 10 und 13 Jahre alte Tochter (Bef. 51). Die beiden Kinder lagen direkt nebeneinander, die Mutter zwei bis drei Reihen östlich der Kinder. Die Mutter war die einzige Bestattung, die mit dem Kopf im Westen beerdigt wurde. Außerdem fand sich an ihrer rechten Schläfe ein kleines Schmuckstück in Form eines silbernen, vergoldeten „G“, ausgebildet als Majuskel. Es wurde vermutlich an einem Stirnband oder Schleier befestigt getragen. Sehr ähnliche Objekte, jeweils in Form eines „E“, sind aus den Schätzen von Weißenfels und Lingenfeld bekannt, die im Zusammenhang mit den Pestpogromen von 1349 vergraben 23 Braun School of Public Health and Community Medicine, The Hebrew University of Jerusalem, Israel. 24 Department of Genetics, Harvard Medical School, Boston, USA. 25 Nach der Grabungszeichnung war er etwa 1,74 m groß. Die anthropologische Bestimmung erfolgte über mehrere Maße einzelner Knochen, dadurch liegen die ermittelten Körpergrößen zwischen 169,2 und 175,9 cm.

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Abb. 4: Die Gräber 19 bis 21. Die mittlere Bestattung ist Nr. 19, Mutter der beiden Kinder 50 und 51

Abb. 5: Der durch Schwerthiebe Getötete. Direkt oberhalb ist gerade noch die durch genetische Untersuchungen nachgewiesene Tochter zu erkennen

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wurden.26 Aus den Gräbern der beiden Kinder wurden einige umgelagerte urgeschichtliche Scherben geborgen. Das Hauptinteresse der aktuellen genetischen Forschungen liegt in der Untersuchung von genetischen Entwicklungen. Die heutige DNA aschkenasischer Juden weist vor allem Merkmale aus dem mittleren Osten und Europa auf. Dabei zeigen zahlreiche genetische Defekte an, dass zu einem unbekannten Zeitpunkt ein so genannter Flaschenhalseffekt bestanden haben muss, d. h. eine radikale Reduzierung der Bevölkerungsgruppe stattgefunden hat, denn gleichartige Genmutationen tauchen heute bei nicht eng miteinander verwandten Personen auf. Die Theorie beruhte bisher nur auf Untersuchungen moderner DNA, weder Zeitpunkt noch Ort der Bevölkerungsreduzierung können so bestimmt werden. Daher ist die Untersuchung mittelalterlicher DNA ein großer Glücksfall für die Forschung. Der derzeitige Stand der Analysen zeigt, dass sich bereits im 14. Jahrhundert eine sehr enge genetische Nähe zum heutigen aschkenasischen Judentum entwickelt hatte, das bedeutet, die angenommene Dezimierung der Bevölkerung muss bereits vorher stattgefunden haben. Innerhalb der Erfurter Untersuchungsgruppe ließen sich eine mehr südeuropäisch und eine mehr osteuropäisch geprägte Untergruppe unterscheiden, die aber bei der Belegung des Friedhofes nicht an unterschiedlichen Stellen bestattet wurden. Durch die Kombination aus genetischen und anthropologischen Untersuchungen lässt sich bereits jetzt sagen, dass die Bestattungen nicht nach Geschlechtern unterschieden angeordnet wurden, sondern die familiären Zusammenhänge dabei die größere Rolle spielten. Der archäologische Befund der extrem eng nebeneinander liegenden Gräber lässt zudem vermuten, dass die Gräber obertägig nicht nur durch Grabsteine markiert wurden, sondern noch eine exaktere Markierung vorgenommen wurde, von der jedoch während der Grabungen nichts mehr beobachtet werden konnte.

26 Maria Stürzebecher, Der Schatzfund aus der Michaelisstraße in Erfurt, in: Sven Ostritz (Hg.), Die mittelalterliche jüdische Kultur in Erfurt, Bd. 1: Der Schatzfund, Archäologie – Kunstgeschichte – Siedlungsgeschichte, Weimar 2010, S. 296.

Andreas Lehnertz

Hebräische Rückvermerke an Thüringer Geschäftsurkunden des Mittelalters: Überreste jüdischer Archive und Einblicke in Wirtschaftspraktiken

Rückvermerke und andere marginale Notizen an Urkunden sind Quellen, die lange Zeit wenig Beachtung durch die Forschung genossen.1 Noch im Jahr 1998 titelte Werner Delbanco in einem Aufsatz, dass es sich insbesondere bei Rückvermerken um „ein Leben im Verborgenen“ handele.2 Dabei bieten ebensolche Rückvermerke oft Informationen, die über andere Wege nicht zu erfahren sind. Rückvermerke – wie auch andere hier zu besprechende Marginalia – werden nämlich an Urkunden angebracht durch deren Empfänger und gehören damit nicht zu den Informationen, die von den Ausstellern der Urkunde im Rechtstext des Geschäftsvertrags festgehalten wurden.3 Die Empfängerinnen und Empfänger solcher Urkunden – Privatpersonen sowie Institutionen – notierten oftmals die für sie wichtigen Eckdaten des Geschäfts auf der Urkunde, vornehmlich auf der Rückseite, und boten damit kurze Zusammenfassungen des Urkundeninhalts. Durch diese Praxis können derartige Notizen regelrechte Geheimnisträger sein.4 Da Urkunden gefaltet und die an ihnen hängenden Siegel wie ein Päckchen eingefaltet wurden, bot die freie Rückseite Raum für kurze Notizen. Die kurzen Inhaltsangaben der Rückvermerke ermöglichten es ihren Verwaltern, sich in 1

Die Arbeit an diesem Aufsatz wurde mit einem Stipendium der Martin Buber Society of Fellows in the Humanities and Social Sciences an der Hebräischen Universität von Jerusalem gefördert. Ich danke Maike Lämmerhirt für ihre Hilfe und zahlreichen Hinweise beim Verfassen des Beitrags. 2 Werner Delbanco, Ein Leben im Verborgenen: Rückvermerke auf den Urkunden des Stifts Börstel, in: Osnabrücker Mitteilungen 103 (1998), S. 43–70. Siehe ferner die frühen Arbeiten von Paul Staerkle, Die Rückvermerke der rätischen Urkunden, in: Freiburger Geschichtsblätter 52 (1963/64), S. 1–13, online via http://www.mgh-bibliothek.de/ dokumente/a/a144578.pdf (letzter Zugriff: 27.11.2021); Ders., Die Rückvermerke der älteren St. Galler Urkunden (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte St. Gallen, 45), St. Gallen 1966. 3 Es soll hier von hebräischen Rückvermerken und Notizen gesprochen werden – und zwar auch dann, wenn die Sprache nicht Hebräisch, sondern Deutsch bzw. Jiddisch ist, dennoch aber das hebräische Alphabet zur Verschriftlichung verwendet wurde. 4 Ebenso hält der Umbug (Plica) von Urkunden ein großes Potenzial für weitere Informationen, wenn auch weitaus seltener als Rückvermerke.

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möglichst kurzer Zeit einen Überblick über den Urkundeninhalt zu verschaffen und so auch eine größere Menge von gleichzeitig aufbewahrten Schuldbriefen organisieren zu können. Neben den Eckdaten der Geschäfte, wie etwa Daten bzw. Rückzahldatum, Namen der Geschäftspartner, Summen und Bürgen, konnten hier auch weiterführende Informationen angebracht werden, die den persönlichen oder korporativen Gebrauch der Urkunden in Archiven5 belegen: Stille Geschäftspartner werden gelegentlich genannt, versteckte Zinsen,6 Neuverrechnungen, Besitzerwechsel, sprachliche und kulturelle7 sowie topographische Informationen8 oder auch persönliche Kommentare finden Eingang in solche Notizen. Damit können Rückvermerke also Informationen beinhalten, die beispielsweise den weiteren Verlauf des im Urkundentext festgehaltenen Geschäfts beschreiben, insbesondere im Falle der Geldleihe.9

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Die Bezeichnung „Archiv“ ist in Anführungszeichen zu setzen, handelte es sich doch nicht um Archive im heutigen Sinne. Ich verstehe ein Archiv hier als einen Ort, an dem Dokumente gesammelt, organisiert, aufbewahrt und wann immer nötig überprüft werden. Das kann auch eine große hölzerne Truhe in einem Privathaus sein. Vgl. Christoph Cluse, Studien zur Geschichte der Juden in den mittelalterlichen Niederlanden (Forschungen zur Geschichte der Juden, A 10), Hannover 2000, online via https://ubt.opus.hbz-nrw.de/frontdoor/index/index/docId/817 (letzter Zugriff: 27.11.2021), S. 123–132, hat hervorgehoben, dass hebräische Rückvermerke praktisch die einzige Möglichkeit darstellen, versteckte Zinsen in den Geldgeschäften auszumachen. Vgl. Martha Keil, … und seinen Köcher Anglis. Kulturtransfer, Polemik und Humor in jüdischen Geschäftsurkunden des mittelalterlichen Österreich, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 26, 1 (2016), S. 99–113; Andreas Lehnertz, Katavti al ha-Tsetel. Aschkenasische Wörter in Quellen des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Jiddistik Mitteilungen. Jiddistik in deutschsprachigen Ländern 51 (2014), S. 1–15, online via http://www.medieval-ashkenaz.org/fileadmin/user_upload/online-publikationen/Lehnertz__Katavti.pdf (letzter Zugriff: 27.11.2021). Vgl. Christian Scholl, Hebräische Rückvermerke als Quellen für den Historiker. Erkenntnismöglichkeiten und Überlieferung anhand Ulmer Beispiele des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Alfred Haverkamp/Jörg R. Müller (Hg.), Verschriftlichung und Quellenüberlieferung. Beiträge zur Geschichte der Juden und der christlich-jüdischen Beziehungen im spätmittelalterlichen Reich (13./14. Jahrhundert) (Forschungen zur Geschichte der Juden, A 25), Peine 2014, S. 83–96. Die Relevanz von hebräischen Rückvermerken haben etwa Cluse, Studien (wie Anm. 6), S. 123–132; David Schnur, Die Juden in Frankfurt am Main und in der Wetterau im Mittelalter: christlich-jüdische Beziehungen, Gemeinden, Recht und Wirtschaft von den Anfängen bis um 1400 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, 30), Wiesbaden 2017, S. 431–437, hervorgehoben. Vgl. auch Andreas Lehnertz, Hebräische Dorsualvermerke, in: Mareike Hartmann (Bearb.)/Dorothea Weltecke (Hg.), Zu Gast bei Juden. Leben in der mittelalterlichen Stadt. Begleitband zur Ausstellung, Konstanz 2017, S. 179–183.

Hebräische Rückvermerke an Thüringer Geschäftsurkunden

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Abb. 1: Urkunde mit Rückvermerken und Faltungen, die zeigen, wie die Siegel in das Pergament eingefaltet wurden, 1373 Wo es schon schlecht um die Erforschung von Rückvermerken im Allgemeinen bestellt war (und oft noch ist), da fielen hebräische Rückvermerke für gewöhnlich beinahe gänzlich durch das Raster der Forschung. Nur wenige Urkunden­ editionen notierten ihre Existenz, einige aber editierten sie immerhin vollständig.10 In den letzten Jahren haben insbesondere die beiden Editions- und Regestenprojekte „Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reichsgebiet“11 und „Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter“12 zahlreiche dieser hebräischen Rückvermerke mitsamt

10 So etwa in Westfalia Judaica. Urkunden und Regesten zur Geschichte der Juden in Westfalen und Lippe, Bd. 1: 1005–1350, bearb. von Bernhard Brilling/Helmut Richtering (Studia Delitzschiana, 11), Stuttgart u. a. 21992; ebenso in den Monumenta Boica, 65 Bde., hg. von der Academia Scientiarum Boica, München seit 1763; für den Herrschaftsbereich der Landgrafen von Thüringen und Markgrafen von Meißen sind die Übersetzungen der Rückvermerke des Abraham zu Leipzig zu nennen, wiedergegeben in den Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen Bd. 4 (1419–1427), bearb. von Hubert Ermisch/Beatrix Dehne, hg. von Hans Beschorner (CDS I B 1), Leipzig 1941. 11 Siehe hierzu http://www.medieval-ashkenaz.org/ (letzter Zugriff: 27.11.2021), mit zahlreichen, hebräische Rückvermerke enthaltenen Teilcorpora. 12 Siehe Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter, hg. von Eveline Brugger/Birgit Wiedl, bisher 4 Bde., Innsbruck 2005–2018.

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weiteren Marginalia an Urkunden ermittelt, ediert und in Hebräisch sowie in Übersetzung zugänglich gemacht. Das wahrscheinlich größte noch erhaltene Corpus hebräischer Rückvermerke an Geschäftsurkunden für das mittelalterliche Reichsgebiet stammt gerade aus Thüringen. Da es sich hierbei in gewisser Weise um Selbstzeugnisse jüdischer Geschäftsleute – und zwar insbesondere zweier Erfurter Familien – handelt, verdienen die hebräischen Notizen eine besondere Beachtung. Die beiden hier wichtigsten jüdischen Familien sind die der „von Arnstadt“ und „Gans“. Ihre Mitglieder – Mose, Fromut und Isaak von Arnstadt sowie Chajim, Luza und Reine Gans – werden in diesem Aufsatz immer wieder erscheinen.13 Als Schuldbriefkonvolute mit hebräischen Rückvermerken aus Thüringen sind neben den beiden genannten Erfurter Familien auch die des Erfurter Juden Smohel von Dresden und mehrere Schuldbriefe der Grafen von Orlamünde bekannt. Hinzu kommen einzelne Schuldurkunden aus Mühlhausen und Jena, die hebräische Rückvermerke tragen.14 Der vorliegende Beitrag widmet sich diesen für die Forschung ungewöhnlichen Quellen der hebräischen Rückvermerke sowie Notizen und stellt sie im Kontext des jüdischen Lebens und Geschäftslebens im mittelalterlichen Thüringen vor.15 Welchen Charakter haben solche hebräischen Rückvermerke und Notizen? Welche Potentiale bieten sie der Forschung und welcher Mehrwert kann aus ihrer Erforschung gewonnen werden?

1. Hebräische Rückvermerke und Notizen an jüdischen Geschäftsurkunden aus Thüringen Seit der Neuansiedlung von Jüdinnen und Juden in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts finden sich vereinzelt hebräische Notizen und seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts dann verstärkt hebräische Rückvermerke an jüdischen Geschäftsurkunden. Sie belegen die Existenz von jüdischen Privat- bzw. Familienarchiven ebenso wie vereinzelt auch von jüdischen Gemeindearchiven. Während die Geldgeschäfte noch liefen, mussten die Schuldurkunden nicht selten über mehrere Jahre hinweg aufbewahrt werden. Aus der sowohl bei Chris13 Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Maike Lämmerhirt im vorliegenden Band. 14 Es handelt sich um LASA, Rep. U 14 XLVII, Nr. 25–118; LATh-HStA Weimar, Urkunden Nr. 3586–3597; LATh-StA Gotha, Geheimes Archiv, QQ XIVa, Nr. 1142; StadtA Mühlhausen, UK 581 sowie UK 609; und LATh-HStA Weimar, Urkunde 1428 September 28 (2). Weitere Quellen liegen möglicherweise noch unentdeckt in den Archiven. 15 Gemeinsam mit Maike Lämmerhirt ist eine Edition und Analyse der Erfurter Quellen und Rückvermerke in Arbeit, die in der Reihe Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte erscheinen soll.

Hebräische Rückvermerke an Thüringer Geschäftsurkunden

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ten als auch bei Juden verbreiteten Praxis der Rückvermerke lassen sich gewisse Techniken der Archivierung ablesen. Vorbild für diese Archivierung und die Organisation durch Rückvermerke sowie andere Notizen waren zweifellos die Klöster, welche im Verlauf des Mittelalters schließlich auch eine besondere Form der Kontinuität besaßen und so Quellen vor der Vernichtung bewahrten. Für eine Aufbewahrung von Urkunden in jüdischen Gemeindearchiven sprechen Formulierungen in den hebräischen Notizen, die eine Relevanz für die gesamte Gemeinde hatten. Hinweise auf solche jüdischen Gemeindearchive – in welcher Form auch immer16 – sind für Thüringen in einem Fall bekannt.17 Die hier behandelten Thüringer Rückvermerke beinhalten etwa eine Erfurter Urkunde vom Jahr 1447, die eine Geldleihe über 33 Schock im Namen der gesamten jüdischen Gemeinde darstellt und auch einen hebräischen Rückvermerk trägt. Darin heißt es unter anderem, die Urkunde „gehört der Gemeinde“.18 Auch der Urkundentext zeigt dies, wenn der Schuldner und kurmainzische Küchenmeister Heinrich Rommershausen zur verliehenen Summe erklärt, er schulde sie den parnoßen und der gemeynde der Judden czu Erffurt, also den Gemeindeführern (von Hebräisch parnas) und der gesamten jüdischen Gemeinde. Auf jüdische Privat- und Familienarchive lässt sich insbesondere anhand von Formulierungen in der ersten Person Singular schließen. Die private Archivierung wird auch in den in dieser Studie untersuchten Thüringer Schuldbriefen nicht zuletzt durch entsprechende Formulierungen bezeugt. Es sind darin Notizen wie „ich habe abgerechnet“,19 „ich habe empfangen“20 oder „ich habe [Zinsen] erlassen“21 enthalten. Erst der Fakt einer solchen privaten Archivierung führte zu Rückvermerken mit wertvollen zusätzlichen Informationen, die sonst nicht in den Urkundentexten enthalten sind und auch nicht für fremde Augen bestimmt waren.

16 Ein Gemeinde- bzw. korporatives Archiv konnte etwa auch im Privathaus eines Mitglieds aufbewahrt werden. Im christlichen Umfeld beispielsweise bewahrten Ratsherren nicht selten wichtige kommunale Urkunden in ihren Häusern auf, ebenso Zunftmeister Urkunden ihrer Zünfte. 17 Ein eindrückliches Beispiel mit Hinweis auf ein jüdisches Gemeindearchiv außerhalb Thüringens stellt die wichtige Urkunde über die Aufnahme der Juden als concives (Mitbürger) durch die Stadtgemeinde Koblenz im Jahr 1307 dar. Sie wurde offenbar im jüdischen Gemeindearchiv gelagert und trägt den hebräischen Rückvermerk „Von den Bürgern, dass [auch] die Juden Bürger in der Stadt sind“ ‫ ;מין העירונים שהיהודים הם עירונים בעיר‬vgl. Christoph Cluse, 1307 – Die Koblenzer Juden werden Bürger, in: Quellen zur Geschichte des Rhein-Maas-Raumes. Ein Lehr- und Lernbuch, hg. von Winfried Reichert/Gisela Minn/Rita Voltmer, Trier 2006, S. 115–132. 18 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 25: ‫של קהל‬. 19 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 40: ‫חישבתי‬. 20 StadtA Erfurt, 0–1 / 6–3: ‫קיבלתי‬. 21 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 55: ‫בנחתי‬.

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Die Thüringer hebräischen Notizen an Urkunden unterrichten uns nämlich über Details, die nicht in den Urkundentexten selbst stehen. So dürfte es sich bei einer Geschäftsurkunde der jüdischen Geschäftspartner Josef und Lakus in Jena, Zacheus in Saalfeld und Lipman mit den Grafen von Orlamünde vom Jahr 1425 um den Hinweis auf einen in der Urkunde nicht genannten, stillen Geschäftspartner handeln, wenn es heißt: „Zu Händen des Gelehrten Herr Chajim von Gotha“.22 Auch helfen die oftmals genauen Datierungen in den hebräischen Rückvermerken, Zinsen zu berechnen und daraus Details des Geschäftsverlaufs zu bestimmen. Datierungen nach dem hebräischen Kalender werden im Folgenden stets umgerechnet und in eckigen Klammern angegeben. Dabei handelt es sich für die Jahreszählungen um eine verkürzte Angabe, die die Jahre seit Beginn des 5. Jüdischen Millenniums im Jahr 1240 angibt; so wird etwa die jüdische Jahreszahl 200 zu 1240 addiert und ergibt damit das christliche Jahr 1440. Ein Schuldbrief des Erfurter Bürgers Hugo der Lange (der Ältere) und dessen Frau Zina vom Jahr 1440 legt erst aufgrund seines hebräischen Rückvermerks nahe, dass es sich um einen versteckten Zins handeln dürfte: Obwohl der Urkundentext von einem Kapital über 27 Schock handelt und angeblich keine Zinsen bis Jacobi (25. Juli) anfallen sollten, nennt der Rückvermerk nur 22 Schock Kapital: „22 Schock, 29. Adar, 200 [= 1440 März 4]. Gerechnet auf 27 Schock auf Jacobi, 200 nach der [kleinen] Zeitrechnung [= 1440 Juli 25]“.23 Damit hätte der Kreditgeber Smohel von Dresden einen versteckten Zins von 5 Schock auf das Geschäft geschlagen und nicht im Urkundentext festgehalten. Erst der hebräische Rückvermerk weist darauf hin. Es kann angenommen werden, dass Hugos Kreditwürdigkeit bei Smohel jedenfalls keinen hohen Status besaß und deshalb schon gleich zu Beginn ein – wenn auch versteckter – Aufschlag berechnet wurde, so dass Smohel auf seine Kosten kam und höhere Sicherheiten für seinen Kredit einfuhr. Mehrfach haben Kreditgeber in ihren Rückvermerken festgehalten, dass keine Zinsen bzw. kein Aufschlag verrechnet wurden. Ein Kreditgeschäft zwischen Kurt Mannstedt und Kaspar Krumpholz mit dem Erfurter Geldhändler Mose von Arnstadt und dessen Sohn Isaak über 5 rheinische Gulden vom Jahr 1431 trägt die folgende hebräische Notiz: „Ich habe abgerechnet mit Kurt Mannstedt. 22 LATh-StA Gotha, Geheimes Archiv, QQ XIV a, Nr. 1142: ‫ליד הח׳׳ר חיים מגוטא‬. Diese Urkunde ist eine von zahlreichen Schuldbriefen der Grafen von Orlamünde für mehrere jüdische Geschäftspartner; vgl. Maike Lämmerhirt, Juden in den wettinischen Herrschaftsgebieten. Recht, Verwaltung und Wirtschaft im Spätmittelalter (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 21), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 361–371, leider ohne Erwähnung der hebräischen Rückvermerke, die sich auf mehreren dieser Urkunden finden. Zur hier genannten Urkunde vgl. ebd. die Tabelle S. 364, Nr. 15. 23 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 95: ‫כ׳׳ב שוק כ׳׳ט אדר ר׳׳ל חישב על כ׳׳ז שוק על יעקו ר׳׳ל‬.

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Dies ist die Urkunde über 10 Gulden und ich habe davon eine Abrechnung [über] 6 Schock [und mehr] erhalten. Und ich habe ihm [den Zins] erlassen auf 3 Schock und ½ [Schock], Donnerstag, 29. Nissan 194 [= 1434 April 8] bis Walpurgis [1. Mai], ohne Aufschlag“.24 Damit war das Geschäft also erst nach mehr als drei Jahren abgeschlossen und Mose schrieb den Kredit schließlich ohne Zinsen ab – offenbar, weil er schon froh war, das Kapital überhaupt zurückerhalten zu haben. Da Mose aber 6 Schock zurückerhielt, die er nicht als Zinsen bezeichnete, und sich das Kapital laut Urkundentext auf nur 5 Schock belief, war vermutlich schon zu Beginn die Summe von 1 Schock versteckter Zins aufgerechnet worden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kredite oft in Naturalien zurückgezahlt wurden. Diese Rückzahlungsmodalitäten sind allerdings nicht immer festgehalten. Rückvermerke helfen uns hier weiter: Der Erfurter Jude Chajim Gans und seine Frau Reine erhielten nach Auskunft des auf den 18. Juli 1443 datierten hebräischen Rückvermerks für ein Kreditgeschäft vom 4. Juli 1442 eine Teilrückzahlung von „Wein [in der Menge von] drei Hin“25 durch die Schuldner Hans Buchelo und dessen Frau Margareta mitsamt ihrem Sohn und dem weiteren Schuldner Apel [Abel] Winter.26 Derselbe Chajim Gans erfuhr offensichtlich gelegentlich auch Probleme mit seinen Schuldnern. Dies war der Fall mit dem wenig zahlungswilligen Christen und Erfurter Bürger Kurt Sorer, mit dem er am 25. August 1429 ein Geschäft über 10 rheinische Gulden abgeschlossen hatte.27 Auf der Rückseite der Urkunde notierte Chajim Gans deshalb: „Ich habe die 6 Schock auf Rechnung empfangen, denn er lügt und sagt, es war zu Mittfasten“.28 Dieselbe Urkunde hat darüber hinaus insgesamt vier verschiedene Rückvermerke, die anhand der Neuverrechnungsdaten identifiziert werden können: Zunächst notierte Chajim Gans – wie gewöhnlich – die Eckdaten des Geschäfts: „Kurt Surer und Schol, 10 Gulden, 24. Elul, Freitag, 189 [= 1429 August 24]“29. Am 24. Juni 1431, also 22 Monate nach Geschäftsbeginn (25. August 1429), notierte Chajim die erste Neuverrechnung wie folgt: „Ich habe 6 Gulden empfangen [am] 21. Siwan, Freitag, 24 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 55: ‫חשבנתי עם קורט מנשטיט זה הכתב על י׳ זהו׳ וקבלתי מזה החשב]ו[ן ו׳ שוק ]ועוד[ ובנחתי לו על ג׳ שוק‬ ‫וחצי ה׳ כ׳׳ט ניסן קצ׳׳ד עד וולפרק בחנם‬ 25 Hin ist ein biblisches Hohlmaß und entsprach etwa 3,3 bis 6,5 Liter. 26 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 105: ‫וויין ג׳ הין‬. 27 An diesem Geschäft war ferner der Christ Hans Scholle beteiligt. 28 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 50: ‫קבלתי הו׳ שוק על חשבון כי הוא משקר ואמ׳ שהיה בחצי עינוי‬. 29 Ebd.: ‫קורט זורער ושול עשרה זהו׳ כ׳׳ד אלול ו׳ קפ׳׳ט‬. Minimale Unterschiede von einem Tag sind in den Datierungen nicht ungewöhnlich und tauchen des Öfteren auf, da gemäß jüdischem Kalender und Tradition der Tag schon mit Sonnenuntergang beginnt. Dies dürfte auch darauf hindeuten, dass das vorliegende Geschäft erst nach Sonnenuntergang getätigt worden ist.

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Abb. 2: Neuverrechnungen des Erfurter Geldhändlers Chajim Gans, 1429 191 [= 1431 Juni 2] und ich habe gerechnet, dass man noch 7 Gulden geben muss auf Johannis [ jechoram], 191 [= 1431 Juni 24]. Entsprechend der Summe von 3 Gulden [Zinsen]“.30 Das heißt also, dass von den geliehenen 10 Gulden zunächst 6 Gulden zurückgezahlt wurden, die restlichen 4 Gulden aber nach nun 22 Monaten weitere 3 Gulden Zinsen akkumuliert hatten. Nun gab es zu dieser Neuverrechnung oder später einen Konflikt, denn Kurt Sorer behauptete wohl, er habe schon früher gezahlt. Aus diesem Grunde forderte Chajim Gans also zum Beweis offenbar eine Rechnung von Kurt Sorer, „denn er lügt“.31 Weitere drei Jahre und zwei Monate nach der Neuverrechnung fand eine weitere Rückzahlung statt, für die Chajim Gans nun notierte: „Bis jetzt 6 Gulden, 19. Elul, Donnerstag, 194 [= 1434 August 24], entsprechend der Summe“.32 Zwar wissen wir nicht, wie viel Kurt Sorer (und Hans Scholle) seit dem Beginn der Kreditlaufzeit fünf Jahre zuvor schon zurückgezahlt hatten, aber auch nach den letzten Zahlungen standen nun offenbar noch immer weitere 6 Gulden aus. Dieses ausführlichere Beispiel zeigt, wie die oft als Konsumtivkredit begonnenen Geldgeschäfte – wahrscheinlich nicht selten – auf Jahre hinweg weiterlaufen konnten, ohne dass sie von den Schuldnern getilgt wurden bzw. getilgt werden konnten. Die eigentlichen Laufzeiten der Kredite kennen wir in den wenigsten Fällen. Auch dieses Geschäft war fünf Jahre nach Beginn noch immer 30 Ebd.: ‫קבלתי ו׳ זהו׳ כ׳׳א סיון ו׳ קצ׳׳א וחישבתי שעוד יתן ז׳ זהו׳ על יחרם קצ׳׳א ל׳׳ע ג׳ זהו׳‬. Die Notiz wurde später durchgestrichen, weil ein neuer Rückvermerk sie ersetzte. 31 Ebd.: ‫כי הוא משקר‬. 32 Ebd.: ‫עדיין ששה זהו׳ י׳׳ט אלול ה׳ קצ׳׳ד ל׳׳ע‬.

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nicht abgeschlossen. Es ist zu vermuten, dass es bald getilgt wurde, zur Not mithilfe eines Gerichtsprozesses. Ob derselbe Chajim Gans, der den Christen Sieward Pythave in einer Notiz als „Seifrit der Tyrann“33 bezeichnete, auch hier einen Hinweis auf Spannungen zu erkennen gibt, kann nicht geklärt werden. Polemische Bemerkungen in solchen Geschäftsnotizen sind jedenfalls nicht ganz ungewöhnlich.34

2. Datierungen und Heiligennamen Ein besonders augenfälliger religiöser Unterschied zwischen Juden und Christen ist der Umgang mit christlichen Datierungen für die Rückzahlungstermine, welche sich bekanntermaßen an Heiligentagen und Festen orientierten. Die hebräische Literatur des Mittelalters hat eine größere Anzahl von Texten hervorgebracht, die sich insbesondere aus rabbinischer Sicht mit diesem Problem befassen: Die Feste und Heiligen der Christen waren für Juden naturgemäß Götzendienst (avoda sara). Um die Gefahr eines solchen Götzendienstes selbst beim Schreiben der Daten zu vermeiden, wurden verschiedene Strategien entwickelt, die neben der Vermeidung der entsprechenden Namen auch die bewusste abwertende Bedeutung (Pejorisierung) – etwa in Form von Wortspielen – beinhalten konnten.35 So beließ es die in Erfurt lebende jüdische Geldhändlerin Rachel von Magdeburg nicht allein beim Namen „Hans“ für das Rückzahlungsdatum zu St. Johannis in einem Kreditgeschäft mit dem Würzburger Bischof Gerhard von Schwarzburg (1373–1400) im Jahr 1381; Rachel fügte nämlich dem Namen das Epithet „der Unreine“ hinzu und machte damit deutlich, dass es sich um einen christlichen Heiligen handelte.36 Weitere polemische Schreibungen finden sich in den hebräischen Rückvermerken auch durchweg für die christliche Fastenzeit bzw. Mittfasten. Der Erfurter Jude Chajim Gans notierte im Jahr 1429 auf dem oben erwähnten Schuldbrief Kurt Sorers für das Rückzahldatum an Mittfasten die hebräische Form chetzi inui, das heißt „die halbe Folter“.37 Ein weiteres Beispiel ist das Rückzah33 Vgl. LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 74. 34 Vgl. Keil, Köcher (wie Anm. 7). 35 Vgl. Ebd.; C. Philipp E. Nothaft, Calendars Beyond Borders: Exchange of Calendrical Knowledge Between Jews and Christians in Medieval Europe (12th–15th Century), in: Medieval Encounters 20 (2014), S. 1–37; Elisheva Baumgarten, Shared and Contested Time: Jews and the Christian Ritual Calendar in the Late Thirteenth Century, in: Viator 46, 2 (2015), S. 253–276. 36 BayStA Würzburg, WU 2911: [‫ ;טמ]א‬vgl. Monumenta Boica 45 (wie Anm. 10), Nr. 264, S. 378 f. 37 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 50: ‫חצי ענוי‬.

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lungsdatum Johannis, was – so im Falle eines Geschäfts zwischen Hans Knorre, Vogt zu Mühlberg, und dem Erfurter Bürger Hans Kutzleben sowie dessen Frau mit Chajim Gans und seiner Frau Luza im Jahr 1419 – mit dem hebräischen jechoram (statt johan oder jochan[an]) bezeichnet wurde.38 Das ähnlich klingende Wort jechoram bedeutet allerdings „möge er zerstört werden“ und spielt auf die Verehrung dieses Heiligen an. Als beliebtes Rückzahlungsdatum zu Martini bot auch dieser Name Gelegenheit für polemische Äußerungen: In einer Urkunde Albrechts von Brandenstein zu Oppurg und des Erfurter Bürgers Heinrich von Molschleben, die sich im Jahr 1434 bei Chajim Gans 25 rheinische Gulden liehen, notierte Chajim das Datum des Heiligen als charatin bzw. auch als chertin zu lesen, was zwei Konnotationen besitzt, nämlich „Scheiße“ und „Reue“.39 Dieses Spielen mit den christlichen Daten, insbesondere den Heiligennamen, darf durchaus als Polemik verstanden werden – selbst wenn Christen diese Polemik ja gar nicht lasen. In den letzten Jahren haben Forscherinnen und Forscher sich allerdings auch für eine Definition von Polemik ausgesprochen, die nicht zwingend nach außen gerichtet ist, sondern insbesondere der eigenen Gruppe diente, nämlich um diese zu stärken.40 Die polemisierenden Heiligennamen in hebräischen Rückvermerken sind also ein innerjüdisches, ja sogar privates Phänomen, das eine selbstversichernde Haltung der Schreiberinnen und Schreiber nahelegt, da die Urkunden in der Regel in Privatarchiven der jüdischen Geldhändlerinnen und Geldhändler gelagert wurden. Es muss an dieser Stelle allerdings auch betont werden, dass die Heiligennamen und christlichen Festtage gelegentlich genauso gut phonetisch, also ganz gewöhnlich geschrieben worden sind. In diesen Fällen steht für Michaelis, Martini und Johannis nichts anderes als auch in den deutschen Urkundentexten, nämlich etwa Michel, Martin und Johan. Der Erfurter Jude Isaak von Arnstadt notierte im Jahr 1437 als Rückzahlungsdatum schlicht ostorn („Ostern“).41 Die hebräischen Rückvermerke beinhalten in den meisten Fällen auch genaue Datierungen nach dem hebräischen Kalender, in denen der Geschäftsbeginn und, bei Neuverrechnungen, auch die entsprechenden weiteren Daten festgehalten wurden. Wir haben oben schon einige Beispiele gesehen. Eine Besonderheit besteht bei den Datierungen in den Rückvermerken darin, dass die Rückzahlungstermine fast immer nach den Heiligentagen des christlichen bzw. julianischen Kalenders datiert wurden – und eben nicht nach dem jüdischen Kalender. Woran liegt das? Es dürfte pragmatische Gründe haben: Warum sollten die Schreiber den Rückzahlungstermin, der anhand des Urkundentextes nach dem 38 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 40: ‫יחרם‬. 39 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 66: ‫חרטין‬. 40 Vgl. Martin Przybilski, Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters (Quellen und Forschungen zur Literaturff und Kulturgeschichte, 61 [= 295]), Berlin u. a. 2010. 41 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 77: ‫אושטורן‬.

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christlichen Kalender festgesetzt wurde, in den jüdischen Kalender umrechnen, wenn doch die Termine der weitaus meisten Geschäfte gängige Termine waren, welche oft mit Messen in Zusammenhang standen? Es handelt sich dabei etwa um die Termine Martini (11. November)42 , Johannis (24. Juni) und Michaelis (29. September). Dies führte dazu, dass häufig Mischformen der Datierung zu beobachten sind, welche den Geschäftsbeginn nach dem jüdischen Kalender vermerkten und das Rückzahlungsdatum anhand des Heiligentages des christlichen Kalenders festhielten. Mose von Arnstadt und dessen Sohn Isaak notierten sich auf einem Schuldschein des Erfurter Bürgers Henne Waldenrode vom Jahr 1428 den folgenden Inhalt: „Henne Waldenrode, 30 Gulden, Mittwoch, 15. Tammus, 188 [= 1428 Juni 29] bis Michaelis [29. September] ohne Aufschlag“.43 Damit wurde das Datum des Geschäftsbeginns gemäß Urkundendatum zwar nach dem hebräischen Kalender verschriftlicht, das Rückzahldatum aber lediglich nach dem christlichen Festtagskalender. Auch geben hebräische Rückvermerke und Notizen an Urkunden gelegentlich recht sichere Hinweise darauf, dass auch jüdische Geschäftsfrauen offenbar schreiben und lesen konnten.44 Die Forschung ignorierte diese Hinweise lange Zeit und ging davon aus, dass beispielsweise die Männer dieser Frauen die Notizen schrieben. Gleichzeitig wurden Notizen der jüdischen Männer nie hinterfragt. Neuere, die Methoden der Gender Studies nutzende Studien haben hier zahlreiche bedeutende Erkenntnisse erzielt, welche helfen, entsprechend veraltete Vorstellungen zu korrigieren.45 42 St. Martin ist in Erfurt auch einer der Termine für die halbjährliche Hauszinszahlung und für die halb- oder vierteljährliche Steuerzahlung. Vgl. hierzu Maike Lämmerhirt, Neuedition des Liber Judeorum der Stadt Erfurt, in: Barbara Perlich (Hg.), Wohnen, beten, handeln: das hochmittelalterliche jüdische Quartier „ante pontem“ in Erfurt: mit einer Neuedition des Liber Judeorum der Stadt Erfurt (Schriftenreihe der Bet-Tfila-Forschungsstelle für Jüdische Architektur in Europa, 11), Petersberg 2019, S. 297–399. 43 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 47: ‫חנא וולאדון רעדא ל׳ זהו׳ ד׳ ט׳׳ו תמוז קפ׳׳ח עד מיצל בחנם‬. 44 Vgl. auch Martha Keil, Jewish Business Contracts from Late Medieval Austria as Crossroads of Law and Business Practice, in: John V. Tolan/Nora Berend/Youna Hameau-Masset (Hg.), Religious Minorities in Christian, Jewish and Muslim Law (5th–15th Centuries) (Religion and Law in Medieval Christian and Muslim Societies, 8), Turnhout 2017, S. 353–368; Andreas Lehnertz, Margarete, Reynette and Meide: Three Jewish Women from Koblenz in the 14th-Century, in: Jewish Studies Quarterly 28 (2021), S. 388–405, hier S. 499 f. 45 Siehe beispielsweise Elisheva Baumgarten, Mothers and Children. Jewish Family Life in Medieval Europe. Jews, Christians, and Muslims from the Ancient to the Modern World, Princeton 2004; Dies., Practicing Piety in Medieval Ashkenaz. Men, Women, and Every­ day Religious Observance, Philadelphia 2014; Dies., Rolle und Alltagsleben jüdischer Frauen im mittelalterlichen Aschkenas, in: Carol Bakhos/Gerhard Langer (Hg.), Das jüdische Mittelalter, Stuttgart 2020, S. 19–36; Martha Keil, Namhaft im Geschäft, unsichtbar in der Synagoge: Die jüdische Frau im spätmittelalterlichen Aschkenas, in: Chris-

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Abb. 3: Neuverrechnungen des Mühlhäuser Juden Gottschalk von Kassel mit ungeübter hebräischer Schrift, 1369 toph Cluse (Hg.), Europas Juden im Mittelalter. Beiträge des internationalen Symposiums in Speyer von 20. bis 25. Oktober 2002, Trier 2004, S. 344–354; Dies., Mobilität und Sittsamkeit: Jüdische Frauen im Wirtschaftsleben des spätmittelalterlichen Aschkenas, in: Elisabeth Müller-Luckner (Bearb.)/Michael Toch (Hg.), Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 71), München 2008, S. 153–180; Michael Toch, Die jüdische Frau im Erwerbsleben des Spätmittelalters, in: Julius Carlebach (Hg.), Zur Geschichte der jüdischen Frau in Deutschland, Berlin 1993, S. 37–48.

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Abb. 4: Kurze Notiz mit allen wichtigen Eckdaten des Urkundeninhalts des Geldhändlers Isaak von Jena, 1428 Die hebräischen Rückvermerke und Notizen aus Thüringen bieten einen guten Einblick in die Schreibfertigkeiten der jüdischen Kreditgeber. So war der Mühlhäuser Jude Gottschalk von Kassel nach Auskunft seiner recht schwerfällig geschriebenen hebräischen Notiz an einer Urkunde vom Jahr 1369 kein geübter

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Schreiber (siehe Abb. 3).46 Der Jude Isaak zu Jena hingegen zeigt eine geübte und schnelle Hand, die offenbar viel und regelmäßig schrieb.47 Selten sind Einblicke in Konflikte zwischen Geschäftspartnern. In einer schon weiter oben genannten Urkunde des Erfurter Bürgers Hugo Lange und dessen Frau Zina vom Jahr 1440 bezeichnet der Kreditgeber Smohel von Dresden denselben Hugo als „Hog der Lügner“, was einem alltagssprachlichen Jiddisch sehr nahekommt und kein bloßes Hebräisch mehr ist.48 Die Bezeichnung Hugos als Lügner dürfte auf komplizierte Geschäftsbeziehungen mit Smohel verweisen.

3. Fazit In vielerlei Hinsicht verdienen die hebräischen Rückvermerke und Notizen an Geschäftsurkunden Thüringer Juden des Mittelalters gesonderte Beachtung. Ihre Erforschung bietet zahlreiche Potenziale, die insbesondere Geschäfts- und Archivierungspraktiken jüdischer Geldhändler genauer beleuchten können. Ungeachtet der Erkenntnisse zur Zinsnahme und insbesondere der außergewöhnlichen Einsichten in die teilweise sehr langen Laufzeiten der Schuldbriefe muss betont werden, dass die Daten nicht repräsentativ für Kreditgeschäfte generell sein können. Wir wissen nicht, was verloren gegangen ist, welche Kreditgeschäfte rechtzeitig abgelöst wurden, welche weiteren jüdischen Familien hebräische Rückvermerke an ihre Urkunden anbrachten, und christliche Kreditgeschäfte sind gar nicht erst berücksichtigt. Dennoch liegt der Mehrwert der analysierten Schuldurkunden gerade in der oftmals detaillierten Praxis der hebräischen Rückvermerke, die uns eine völlig andere Zeitlichkeit der Kreditgeschäfte belegen. So handelt es sich nicht mehr um punktuelle Geldleihe, sondern in den uns überlieferten Beispielen zeigen sich Laufzeiten von mehreren 46 StadtA Mühlhausen, UK 581v. 47 LATh-HStA Weimar, Urkunde 1428 September 28 (2); vgl. Urkundenbuch der Stadt Jena und ihrer geistlichen Anstalten. Bd. 3: Nachtrag (c. 890–1525; 1526–1580), hg. von Ernst Devrient (Thüringische Geschichtsquellen, 6, NF 3,3), Jena 1936, Nr. 113, S. 70 f. – Zu Isaak in Jena siehe auch den Aufsatz von Maike Lämmerhirt im vorliegenden Band. 48 LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 95: ‫הוק דער טפל‬. Es ist aber auch an dieser Stelle hervorzuheben, dass Hugo aus ebenjener Erfurter Patrizierfamilie Lange stammte, die in den verheerenden Pogrom gegen die jüdische Gemeinde in Erfurt vom Jahr 1349 involviert war. Aus seiner Familie stammt der nach dem Pogrom gestiftete antijüdische Altar in der Predigerkirche. Siehe hierzu Maria Stürzebecher, Das Judenbild in der christlichen Kunst in Erfurt, in: Landeshauptstadt Erfurt/Universität Erfurt (Hg.), Die jüdische Gemeinde von Erfurt und die SchUM-Gemeinden. Kulturelles Erbe und Vernetzung (Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte, 1), Jena/Quedlinburg 2012, S. 130–135, hier S. 134 f.

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Jahren bei gleichzeitig stark ansteigenden Zinseszinsen. Darüber hinaus sind solche Rückvermerke auch Selbstzeugnisse von Individuen wie gelegentlich sogar ganzer Gemeinden, die es unbedingt zu beachten gilt, da doch gerade solche mittelalterlichen Quellen in den meisten Fällen verloren gegangen sind.

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Juden in Thüringen in der frühen Neuzeit

Zu den Kriterien, die im Mittelalter einen Ort zur Stadt machten, gehörte auch die Ansiedlung von Juden.1 Dies ist durch ihre Rolle im Wirtschaftsleben begründet, die im einschlägigen Beitrag dieses Bandes ausführlich dargestellt worden ist. Deshalb stellen die Daten, die die Ansiedlung von Juden in den thüringischen Städten belegen, gleichsam eine Rangliste dieser Orte dar. Die Juden hatten sich aus freier Entscheidung an diesen Orten angesiedelt, weil sie dort günstige Bedingungen für ihre wirtschaftliche Betätigung vorfanden oder erwarteten. Voraussetzung war aber immer die Zustimmung der jeweiligen Landesherren – und deren Haltung war schon im Mittelalter mehrfach Schwankungen unterworfen. Der wichtigste Einschnitt für das jüdische Leben in Thüringen waren die Pogrome im Umfeld der Pestepidemie von 1349. In den größeren Städten aber waren Juden schon nach kurzer Zeit wieder wohnhaft geworden. Das 15. Jahrhundert brachte erste Ausweisungen. Im 16. Jahrhundert haben dann fast alle Inhaber größerer Territorien die Juden auf Dauer aus ihren Herrschaftsbereichen vertrieben. Daher sind Kenntnisse dieser Territorien und ihrer Grenzen – nicht nur in Thüringen – grundlegend für das Verständnis der jüdischen Siedlung. Deshalb wird hier zunächst ein Überblick über die Territorien und ihre Haltung zu den dort lebenden Juden geboten. Dabei geht es nur um die Grundzüge, nicht um Details. Die sind kaum noch im Auge zu behalten, da sich erfreulicherweise an vielen Orten private Initiativen oder Vereine um die Aufklärung der jeweiligen jüdischen Geschichte bemühen und dazu Veröffentlichungen vorlegen. Nach dieser Übersicht folgt die Betrachtung eines Einzelfalls mit besonders guter Quellenlage (Berkach).

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Vgl. Franz Irsigler, Was machte eine mittelalterliche Siedlung zur Stadt?, in: Volker Henn/Rudolf Holbach/Michel Pauly/Wolfgang Schmid (Hg.), Miscellanea Franz Irsigler. Festschrift zum 65. Geburtstag, Trier 2006, S. 469–486, zur Rolle der Juden dort S. 469.

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1. Die einzelnen Territorien2 Aus der Landgrafschaft Thüringen hatte Landgraf Friedrich im Juni 1436 die Juden ausgewiesen.3 Die gültigen Schutzbriefe wurden widerrufen. Künftig sollte kein Jude mehr das Land durchwandern und dafür Geleit erhalten. In der ebenfalls den Wettinern gehörenden Markgrafschaft Meißen wurden die Schutzbriefe letztmals 1437 für sieben Jahre verlängert. Nach 1452 sind keine Schutzbriefe mehr belegt.4 In der Folgezeit haben sich im wettinischen Territorium wieder einzelne Juden angesiedelt; größere Gemeinden gab es nicht. Im Jahr 1536 wies Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen die Juden erneut aus seinem (dem ernestinischen) Territorium aus; dazu gehörten bekanntlich auch die sogenannten Ortlande in Franken um Coburg und Hildburghausen.5 In Erfurt, dem wirtschaftlichen Zentrum Thüringens, gab es nach 1453/54 keine jüdischen Einwohner mehr. Eine geschäftliche Betätigung in der Stadt blieb erlaubt. Davon haben unter anderem Juden Gebrauch gemacht, die mit Schutzbriefen des Erzbischofs von Mainz in Dörfern der Umgebung lebten.6 Die gefürsteten Grafen von Henneberg (Linie Schleusingen) haben 1555 die Schutzbriefe der in mehreren Städten und an weiteren größeren Orten ansässigen Juden nicht mehr verlängert. Sie beugten sich dabei dem Druck der Landstände, die im Gegenzug bereit waren, Schulden der Grafen zu übernehmen.7 2

Für alle im Folgenden genannten Orte Thüringens einschlägig: Israel Schwierz, Zeugnisse jüdischer Vergangenheit in Thüringen. Eine Dokumentation. Landeszentrale für politische Bildung Thüringen 2007 (www.lztthueringen.de/downloads/Thüringen; letzter Zugriff: 19.7.2021). Dort keine Belege, aber ein sehr ausführliches Literaturverzeichnis (mit dem Stand von 2006). 3 U[ta] Löwenstein, Wettinische Territorien, in: Arye Maimon (Hg.), Germania Judaica Bd. III, 1350–1519, 3 Teilbde., Tübingen 1987, 1995 u. 2003, hier 3. Teilbd., S. 2063– 2073. – Maike Lämmerhirt, Juden in den wettinischen Herrschaftsgebieten. Recht, Verwaltung und Wirtschaft im Spätmittelalter (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 21), Köln/Weimar/Wien 2007, hier S. 461–463. 4 Lämmerhirt, Juden in den wettinischen Herrschaftsgebieten, S. 463–467. 5 Stefan Litt, Juden in Thüringen in der frühen Neuzeit (1520–1650) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 11), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 156–158. 6 U[ta] Löwenstein, Erfurt, in: Germania Judaica III, 1 (wie Anm. 4), S. 308–329. – Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 58–60 sowie Tab. 4, S. 150–155 (mit Schutzbriefen für Juden in Daberstedt u. Hochheim) – Alfred Haverkamp (Hg.), Geschichte der Juden im Mittelalter von der Nordsee bis zu den Südalpen. Teil 2, Ortskatalog (Forschungen zur Geschichte der Juden, A 14/2), Hannover 2002, S. 111. 7 U[ta] Löwenstein, Henneberg, Grafschaft, in: Germania Judaica III, 3 (wie Anm. 4), S. 1871 f. – Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 159–161. – Franz Levi (Bearb.), 12 Gulden vom Judenschutzgeld … Jüdisches Leben in Berkach und Südwestthüringen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. GR, 7), München/

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Die Linie Henneberg-Römhild ist 1549 erloschen. Die Herrschaft Römhild war 1548 an die Grafen von Mansfeld und von diesen 1555 an die Ernestiner verkauft worden. Weitere Teile wurden 1549 von der Linie Schleusingen übernommen. Beide Rechtsnachfolger duldeten keine Juden mehr. Eine Ausnahme war Schwarza, das Wittum der letzten Gräfin von Henneberg-Römhild. Darauf wird zurückzukommen sein. Aus der Grafschaft Schwarzburg waren die Juden 1496 ausgewiesen worden. Das wirtschaftlich bedeutende Arnstadt hatten sie schon 1466 verlassen müssen. Weil sich in der Folge offenbar wieder einzelne Juden ansiedelten, erneuerten die Grafen von Schwarzburg im Jahr 1532 den Beschluss, keine Juden mehr im Territorium zu dulden.8 „Vereinzelte Spuren jüdischer Präsenz finden sich noch bis 1536 in Arnstadt, in Frankenhausen und in Rudolstadt“.9 In der Grafschaft Hohnstein war 1580 die Ausweisung der Juden verfügt, aber wohl nicht vollständig umgesetzt worden. Nach dem Tod des letzten Grafen (1593) fiel das Territorium an den Lehnsherrn Herzog Heinrich Julius von Braunschweig(-Wolfenbüttel), der 1594 die Ausweisung erneuerte.10 Im Territorium der Herren bzw. Grafen Reuß sind während des Mittelalters einzelne Juden offenbar nur in Gera (1478, 1500, 1502) und Schleiz (1473, 1490) ansässig gewesen. Im Jahr 1500 gab es angeblich eine Vertreibung.11 In der Reichsstadt Mühlhausen war es 1452, ausgelöst durch eine Predigt des Johannes Capistrano, zu einer lokalen Verfolgung gekommen. Juden, die sich in Jena 2001, hier S. 35–37 Nr. 1 (letzter Schutzbrief, 1552 Nov. 28) u. S. 37 f. Nr. 2 (Vertreibung, 1555 Juni 21). 8 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 44 f. (Arnstadt). – Haverkamp, Ortskatalog (wie Anm. 6), S. 24. 9 Stefan Litt, Die Juden in den Schwarzburgischen Territorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Juden in Schwarzburg. Festschrift zu Ehren Prof. Philipp Heidenheims (1814–1906). Bd. 1, Beiträge zur Geschichte der Juden Schwarzburgs, Dresden 2006, S. 8–18. – Martina Guss/Andrea Kirchschlager, Jüdische Ansiedlungen in Arnstadt von den Anfängen im Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, in: Jüdische Familien aus Arnstadt und Plaue. Katalog zur Sonderausstellung im Schlossmuseum Arnstadt, Arnstadt 2021, S. 20–32, Zitat S. 28. 10 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 161 f. – Die Herzöge hatten 1553 und 1591 Edikte zur Austreibung der Juden erlassen, ließen jedoch später wieder einzelne jüdische Familien zu: Albert Marx, Geschichte der Juden in Niedersachsen, Hannover 1995, S. 66 f. 11 U[ta] Löwenstein, Gera, in: Germania Judaica III, 1 (wie Anm. 4), S. 433 f. – Dies., Schleiz, in: Germania Judaica III, 2 (wie Anm. 4), S. 1317. Beide Städte fehlen bei Haver­ kamp, Ortskatalog (wie Anm. 6). – Belege zu Schleiz: Berthold Schmidt, Die urkundlichen Nachrichten von Schleiz aus dem Mittelalter (von 1232 bis 1550). 1. Band der Geschichte der Stadt Schleiz, Schleiz 1908, hier S. 33 (1473) bzw. S. 42 f. (1490). Werner Simsohn, Juden in Gera I. Ein geschichtlicher Überblick, Konstanz 1997. Für diese Hinweise ist Jens Beger, LATh-StA Greiz, zu danken.

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Abb. 1: Thüringen um 1540

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der Folgezeit wieder ansiedelten, wurden zu Beginn des 16. Jahrhunderts ausgewiesen; die Synagoge war 1513 in christlichem Besitz.12 Die Reichsstadt Nordhausen, in der seit Mitte des 15. Jahrhunderts wieder Juden ansässig waren,13 hat diesen 1546 das Wohnrecht entzogen; 1551 wurden sie auf Dauer vertrieben.14 Neben diesen, die Landkarte von Thüringen dominierenden Territorien waren dort in geringem Umfang auch weitere (größere) Territorien vertreten, deren Schwerpunkte in der Nachbarschaft lagen: Im Hochstift Würzburg (dem weltlichen Territorium, zu dem weite Teile des an Thüringen angrenzenden Unterfrankens und bis 1542 auch Meiningen gehörte) hatten die Bischöfe mehrfach (1488, 1496, 1507/08) die Ansiedlung von Juden eingeschränkt.15 In Meiningen hatten die Bürger 1525 vergeblich die Vertreibung der Juden gefordert.16 Im Jahr 1560 verwies Bischof Friedrich von Wirsberg die Juden aus seinem Territorium, verschob allerdings wenig später den Vollzug.17 Nachdem der Versuch des Bischofs gescheitert war, die Juden auch aus den reichsritterschaftlichen Besitzungen zu vertreiben, erhob er seit 1570 Geleitgelder von den Juden, die sein Territorium passierten.18 Sein Nachfolger Julius Echter erließ 1574 und 1575 weitere Mandate zur Einschränkung des jüdischen Handels.19 12 U[ta] Löwenstein, Mühlhausen in Thür., in: Germania Judaca III, 2 (wie Anm. 4), S. 885– 893. – Haverkamp, Ortskatalog (wie Anm. 6), S. 240. 13 [Herbert] Reyer, Nordhausen, in: Germania Judaica III, 2 (wie Anm. 4), S. 994–1000. – Haverkamp, Ortskatalog, S. 258. 14 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 158 f. 15 Alfred Wendehorst, Die Bischofsreihe von 1455 bis 1617 (Bistum Würzburg 3; Germania Sacra N.F. 13), Berlin/New York 1978, S. 37 (1488) u. S. 61 (1496 u. 1507/08, Ausweisung mit Ausnahme der Juden zu Heidingsfeld). 16 U[ta] Löwenstein, Meiningen, in: Germania Judaica III, 2 (wie Anm. 4), S. 854 f. 17 Wendehorst, Bischofsreihe (wie Anm. 15), S. 145, demnach erfolgten 1561 Ausführungsbestimmungen, die den Vollzug aufschoben. Auf dem alten Würzburger Judenfriedhof errichtete Bischof Julius Echter im Jahr 1576 das Juliusspital (ebd. S. 217). Die Grabsteine wurden für den Bau eines Klosters verwendet und 1987 beim Abriss eines Gebäudes wiedergefunden: Karlheinz Müller, Die Geschichte des mittelalterlichen Friedhofs der Juden in Würzburg, in: Ders./Simon Schwarzfuchs/Abraham Reiner, Die Grabsteine vom jüdischen Friedhof in Würzburg aus der Zeit vor dem Schwarzen Tod (1147–1346) (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, IX, 58), Stegaurach 2011, S. 175–211, zu den Vertreibungen dort S. 196 f. 18 Müller, Geschichte des jüdischen Friedhofs (wie Anm. 17), S. 198. 19 Sabine Ullmann, Julius Echter von Mespelbrunn und die Juden – Motive und Funktionen seiner Politik, in: Wolfgang Weiss (Hg.), Fürstbischof Julius Echter – verehrt, verflucht, verkannt (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, 75), Würzburg 2017, S. 341–361, dort S. 341 f. zum „Erfolg“ der Maßnahmen des Vorgängers.

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Zum Erzstift Mainz gehörten die sogenannten „Küchendörfer“ bei Erfurt sowie das Eichsfeld. In mehreren Orten sind bis in die 1560er Jahre Juden belegt, die vermutlich durch Ausweisungsmandate der Jahre 1579 und 1583 vertrieben worden sind.20 Die Äbte von Fulda haben die Ansiedlung von Juden zugelassen, aber versucht, ihre Anzahl zu begrenzen. 1516 lehnte man eine Vertreibung der Juden ab. 1517 kam es allerdings zur Zerstörung der Synagoge in Fulda.21 1582 verlangten die Städte des Stifts, darunter auch das heute in Thüringen gelegene Geisa, die Ausweisung der Juden. 1591 kam es in der Stadt Fulda zu einem Pogrom.22 In Geisa sind auch in den Folgejahren Juden ansässig geblieben.23 Den Landgrafen von Hessen gehörten im heutigen Thüringen u. a. Vacha (zunächst zwei Drittel, 1648 ganz) und die halbe Herrschaft Schmalkalden.24 Deren zweite Hälfte stand den Grafen von Henneberg-Schleusingen zu, fiel bei deren Erlöschen (1583) jedoch auch an Landgraf Wilhelm IV. von Hessen (-Kassel). Dessen Vater Landgraf Philipp hatte 1524 die Vertreibung der Juden aus seinen Territorien erwogen, dann aber davon Abstand genommen; 1539 erließ er für sein Territorium eine Judenordnung.25 In der Landgrafschaft konnten daher Juden dauerhaft ansässig bleiben. In diesem Punkt bildet sie eine Ausnahme.26 Die erwähnten, größeren Territorien waren vielfach von Klein- und Kleinst­ herrschaften niederadliger Familien durchsetzt, die zumeist in Lehnsbeziehungen zu den Landesfürsten standen. Das gilt besonders für den Westen und Südwesten des heutigen Freistaates Thüringen, der zum fränkischen Reichskreis gehörte. Die Niederadligen, die sich in einem längeren Prozess zur Reichsritter20 U[ta] Löwenstein, Hochheim, in: Germania Judaica III, 1 (wie Anm. 4), S. 564. – Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 64 (Dorf Gerbershausen, 1577), S. 66 (Hohengandern), S. 150–155 (Tabelle, dort genannt werden Daberstedt, Hochheim und Heiligenstadt) u. S. 161. siehe oben Anm. 6. 21 U[ta] Löwenstein, Fulda, Reichsabtei, in: Germania Judaica III, 3 (wie Anm. 4), S. 1853– 1855. 22 Otto Schaffrath, Fürstabt Balthasar von Dermbach und seine Zeit (Veröffentlichung des Fuldaer Geschichtsvereins, 44), Fulda 1967, S. 135 f. 23 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 62 f. Dort auch S. 51 ein Beleg für einen im ebenfalls zum Stift Fulda gehörenden Dorf Borsch ansässigen Juden. 24 Haverkamp, Ortskatalog (wie Anm. 6), S. 319 (Schmalkalden) u. S. 359 (Vacha). 25 U[ta] Löwenstein, Hessen, Landgrafschaft, in: Germania Judaica III, 3 (wie Anm. 4), S. 1873–1879 (1524). – Wolfgang Breul, Anfänge moderner Toleranz? Philipp und die religiösen Minderheiten, in: Landgraf Philipp der Großmütige 1504–1567. Hessen im Zentrum der Reform, hg. von Ursula Braasch-Schwersmann, Hans Schneider und Wilhelm Ernst Winterhager, in Zusammenarbeit mit der Historischen Kommission für Hessen, Marburg/Neustadt an der Aisch 2004, S. 105–112, hier S. 109. 26 U[ta] Löwenstein, Schmalkalden, in: Germania Judaica III, 2 (wie Anm. 4), S. 1326 f. Demnach bestand in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts dort keine Judenschaft mehr.

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schaft des Landes zu Franken zusammenschlossen,27 bestanden unter Berufung auf den Augsburger Religionsfrieden von 1555 darauf, die Konfession ihrer Untertanen festlegen und Juden ansiedeln zu dürfen. Sie protestierten daher 1567 erfolgreich beim Kaiser gegen den bereits erwähnten Versuch des Bischofs von Würzburg, die Juden auch aus den reichsritterschaftlichen Besitzungen zu vertreiben.28 Die in der Region ansässigen Reichsritter gehörten zum Kanton Rhön und Werra. Der Graf von Henneberg hat ebenfalls mehrfach versucht, adlige Lehnsleute zur Vertreibung der Juden zu nötigen. Belegt ist dies für die Familien vom Stein und von Boyneburg in Barchfeld, das – wie Schmalkalden – zur Hälfte hessisch war (1557),29 für die Familie von Maßbach in Maßbach (1556)30 sowie in Walldorf, das mehreren niederadligen Familien gehörte (1567).31 Aus dieser Auflistung der Territorien, aus denen die Juden bis etwa 1560/1570 vertrieben worden sind, ergibt sich, dass ihnen eine Ansiedlung fast nur noch in Klein- und Kleinstterritorien möglich war. Zu den Ausnahmen gehörte, wie erwähnt, die Landgrafschaft Hessen, die im heutigen Thüringen aber nur an wenigen Orten (Barchfeld, Schmalkalden, Vacha) begütert war. In Barchfeld und Schmalkalden waren seit Anfang des 17. Jahrhunderts Juden wohnhaft.32 Für zahlreiche dieser Juden lässt sich die Herkunft belegen.33 Die Gemeinde in Schmalkalden besaß eine Synagoge, einen Friedhof und eine vor kurzer Zeit entdeckte Kellermikwe. In Vacha sind im 16. Jahrhundert einzelne Juden ansässig gewesen.34 1630 werden zehn Schutzgeldzahler erwähnt, später nahm die Zahl der ortsansässigen Juden ab.35 1777 wurde eine jüdische Gemeinde gegrün-

27 Vgl. Cord Ulrichs, Die Entstehung der fränkischen Reichsritterschaft. Entwicklungslinien von 1370 bis 1590 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, 31), Köln/Weimar/ Wien 2016. 28 Wendehorst, Bischofsreihe (wie Anm. 15), S. 145. – Müller, Jüdischer Friedhof (wie Anm. 17), S. 197 f. 29 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 45 mit ausführlicher Schilderung des weiteren Verlaufs, gestützt u. a. auf LATh-StA Meiningen, GHA IV Nr. 365. 30 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 74 f. Das zur Grafschaft Henneberg gehörige Maßbach liegt im Landkreis Bad Kissingen in Unterfranken. 31 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 120 f. nach LATh-StA Meiningen, GHA IV Nr. 369. 32 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 45–47 (Barchfeld) u. S. 94–108 (Schmalkalden). – Hans Nothnagel, Juden in Südthüringen – geschützt und gejagt. Eine Sammlung jüdischer Lokalchroniken in sechs Bänden, Suhl 1998–1999, hier Bd. 4: Kurt Pappenheim, Die jüdische Gemeinde Schmalkalden und ihr Ende im Holocaust. 33 Tabelle bei Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 106 f.; genannt werden als Herkunftsorte u. a. Barchfeld, Felsberg, Fulda, Mühlhausen und Prag (mit Fragezeichen). 34 U[ta] Löwenstein, Vacha, in: Germania Judaica III, 2 (wie Anm. 4), S. 1528. 35 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 115–119.

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det, die 1786 eine Schule und einen Betraum erhielt.36 Der noch vorhandene Friedhof wird bereits 1732 erwähnt. Auch im Stift Fulda sind Juden weiterhin ansässig gewesen.37 In Geisa betrieb die wohl seit dem 18. Jahrhundert bestehende jüdische Gemeinde eine eigene Schule (1786–1875); 1862 wurde eine neue Synagoge eingeweiht; sie ersetzte eine durch einen Stadtbrand zerstörte Vorgängerin.38 Aus der Grafschaft Hohnstein waren, wie erwähnt, die Juden 1594 vom neuen Landesherrn, dem Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, ausgewiesen worden. Dessen Nachfolger haben jedoch zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Ansiedlung von Juden in Bleicherode (1620) und Ellrich (1619) wieder gestattet.39 Schwarza bei Meiningen war Wittum der Katharina von Stolberg, Witwe des letzten Grafen von Henneberg-Römhild, und fiel nach deren Tod (1577) an ihre Brüder, die Grafen von Stolberg. Deren Nachkommen erlaubten seit 1652 Juden die Ansiedlung. Zur Gemeinde, die über eine 1841 errichtete und 1938 verwüstete Synagoge verfügte, gehörten im Jahr 1846 287 Personen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl schnell ab (1933 noch zehn Personen). Erhalten geblieben ist der außerhalb des Dorfes gelegene Friedhof.40 Für die zur Reichsritterschaft gehörigen Familien erwuchs aus dieser Situation die Möglichkeit, in ihren Dörfern Juden anzusiedeln und von diesen eine Schutzgebühr zu erheben – quasi als neues Geschäftsmodell. Nicht alle haben davon Gebrauch gemacht. Die es taten, haben in der Regel eine größere Anzahl von Juden angesiedelt, häufig in Gebäuden, die der Ortsherrschaft gehörten und so eine neue, von Einnahmen begleitete Nutzung erhielten. Diese jüdischen Gemeinden waren selbstständig; sie legten auf ihre Autonomie und die interne Regelung aller Streitigkeiten den größten Wert.41 An ihrer Spitze stand ein „Par36 Gabriele Olbrisch, Landrabbinate in Thüringen 1811–1871. Jüdische Schul- und Kultusreform unter staatlicher Regie (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 9), Köln/Weimar/Wien 2003, hier S. 55. – Olaf Ditzel, Chronik jüdischen Lebens in Vacha, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 5, S. 206–242. 37 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5). S. 62 f. Dort auch S. 51 ein Beleg für einen im ebenfalls zum Stift Fulda gehörenden Dorf Borsch ansässigen Juden. 38 Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 53–55. – Heinz Kleber, Chronik jüdischen Lebens in Geisa, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 5, S. 164– 205. 39 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 49–51 (Bleicherode) u. S. 55–58 (Ellrich). Vgl. auch oben Anm. 10. 40 Hans Nothnagel/Elke Schwerda/Lothar von Hausen, Chronik über jüdisches Werden und Vergehen in Schwarza, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 1: Über jüdisches Leben und Erbepflege im Evangelischen Kirchenkreis „Henneberger Land“, S. 165–230. 41 Vgl. zum Folgenden: Mordechai Breuer/Michael Graetz, Deutsch-Jüdische Geschichte

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nas“, der zu den wohlhabenderen unter den Juden gehörte und dem Dorfherrn für die Leistung aller Abgaben verantwortlich war. Die Klärung religiöser und ritueller Streitigkeiten erfolgte durch Rabbiner, an die man in solchen Fällen herantrat. Um sicherzustellen, dass ein solcher Entscheid nicht außerhalb des Landes gefällt wurde, schufen in der Folge mehrere Landesherren das Amt eines Land(es)rabbiners.42 Das tat dann auch die Reichsritterschaft. Der auch für den Kanton Rhön und Werra zuständige Rabbiner hatte seinen Sitz in Burgpreppach im benachbarten Kanton Baunach.43 Bis die staatlichen Verwaltungen in den 1840er Jahren die Anlage von Friedhöfen vor Ort vorschrieben, gehörten die im Folgenden behandelten jüdischen Gemeinden zu den Nutzern des 1574 angelegten Bezirksfriedhofs in Kleinbardorf, auf dem derzeit noch etwa 4.400 Grabstätten vorhanden sind.44 In folgenden reichsritterschaftlichen Dörfern haben seit dem 17. Jahrhundert Juden gelebt: Aschenhausen (Landkreis Schmalkalden-Meiningen – SM). Hier gestattete die Familie von Speßhardt 1695 die Ansiedlung von Juden und den Bau von Häusern. Belegt sind Synagoge, Schule und Friedhof. Der vorhandene Friedhof wurde 1707 angelegt, die noch stehende Synagoge ersetzte 1843 die abgebrannte Vorgängerin.45 Barchfeld (Wartburgkreis – WAK). 1557 lebten hier Juden im Schutz der adligen Familien vom Stein und von Boyneburg. Die Gemeinde wuchs im 18. Jahrhundert stark an. Der vorhandene Friedhof stammt aus dieser Zeit; belegt sind daneben Schule und Synagoge (1845 geweiht, 1880 renoviert, 1938 abgerissen).46 in der Neuzeit, Bd. 1: 1600–1780, München 1996, hier S. 160–186: Gemeinde, Gesellschaft und häusliches Leben. 42 Vgl. ebd., S. 187–200: Die Landjudenschaften. – Daniel J. Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland als Organe jüdischer Selbstverwaltung von der frühen Neuzeit bis ins neunzehnte Jahrhundert. Eine Quellensammlung (Fontes ad res Judaicas spectantes), Jerusalem 1997. 43 Der entschied z. B. im Jahr 1801 einen Streit um das Aufrufen zur Thora in Berkach: Levi, 12 Gulden (wie Anm. 7), S. 270 f. Nr. 67. 44 Reinhold Albert, Jüdische Friedhöfe im Landkreis Rhön-Grabfeld (Schriftenreihe der Kulturagentur des Landkreises Rhön-Grabfeld, 1), Mellrichstadt 2015, hier S. 24–30. – Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern (Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, A 85), München 1988, hier S. 75 f. Der Friedhof liegt auf einem von der Familie v. Bibra zur Verfügung gestellten Gelände. Er ersetzte vermutlich den im benachbarten (hennebergischen) Sulzfeld, der nach der Vertreibung der Juden aus der Grafschaft Henneberg wohl nicht mehr genutzt werden durfte. Zu Sulzfeld vgl. Albert, Jüdische Friedhöfe, S. 63 f. 45 Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 52 f. mit der älteren Literatur. – Stefan Frühauf/Elke Schwerda, Aschenhausen. Entstehen und Vergehen einer jüdischen Landgemeinde, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 5, S. 52–89. 46 Hans Nothnagel/Klaus Schmidt/Reinhard Schmidt, Der tragische Weg der jüdischen

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Bauerbach (SM). Hier waren möglicherweise seit dem 17. Jahrhundert Juden ansässig. Sie lebten außerhalb des Ortes im sogenannten „Judenbau“. Belegt sind Schule, Synagoge und der wohl zu Beginn des 18. Jahrhunderts angelegte, auch durch die Juden aus Bibra genutzte Friedhof (ältester Grabstein von 1722).47 Berkach (SM) wird im Folgenden noch im Detail behandelt.48 Bibra (SM), Stammsitz der gleichnamigen Adelsfamilie, die hier 1658 Juden ansiedelte.49 Diese wohnten in einem der Dorfherrschaft gehörenden, noch stehenden „Judenbau“. Dort befand sich auch die Synagoge, bis 1846 ein Neubau erfolgte. Die Gemeinde unterhielt von 1839 bis 1876 auch eine eigene Schule.50 Gehaus (WAK), Besitz der Familie von Boyneburg zu Lengsfeld, die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in ihren Besitzungen Juden aufnahm. Die Anzahl in Gehaus war zunächst klein, nahm aber im 18. Jahrhundert zu. Die Gemeinde unterhielt zeitweise eine Schule und einen außerhalb des Ortes gelegenen, noch vorhandenen Friedhof.51 Gleicherwiesen (Landkreis Hildburghausen – HBN) war ebenfalls im Besitz der Familie von Bibra, die erstmals im Jahr 1680 Juden aufnahm; 1681 lebten dort vier Familien. 1787 schlossen diese sich mit den Juden im benachbarten Simmershausen zu einer Kultusgemeinde zusammen. Belegt sind Synagoge (1787, erweitert 1817, zerstört 1938), Schule, Mikwe und der 1846 angelegte, noch vorhandene Friedhof.52 Gemeinde und ihrer Chronik, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 6, S. 13–87. – Klaus Schmidt, Leben und Schicksal der jüdischen Landgemeinde Barchfeld/Werra, Petersberg 2021. 47 Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 41 f. mit der älteren Literatur. – Elke Schwerda/Hans Nothnagel, Juden im Schillerort Bauerbach, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 3, S. 69–91. 48 Hans Nothnagel/Otto Neubert/Gundela Bach/Simone Ziegler, Berkach, ein einmaliger Hort jüdischen Kulturerbes im Freistaat Thüringen, in: Nothnagel, Juden in Süd­ thüringen (wie Anm. 32), Bd. 3, S. 93–133. 49 A[rmin] Human, Geschichte der Juden im Herzogtum S-Meiningen-Hildburghausen (Schriften des Vereins für Sachsen Meiningische Geschichte und Landeskunde, 30), Hildburghausen 1898, hier S. 13. Human behandelt S. 90–94 die Synagogen, S. 94 f. die Schulen, S. 95 f. die Mikwen und S. 96 f. die Friedhöfe. 1939 erschien in Weimar eine zweite, durch antisemitische Passagen erweiterte Auflage. 50 Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 41 mit der älteren Literatur. – Dimitrana Flossmann/Hartwig Flossmann, Bibra (ein Rückblick auf 300 Jahre jüdischen Lebens), in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 3, S. 135–178. 51 Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 51 f. – Paul Gerstung/Heinz Kleber, Chronik jüdischen Lebens in Gehaus, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 5, S. 128–150. 52 Human, Geschichte der Juden (wie Anm. 49), S. 12 (1681). – Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 43–45 mit der älteren Literatur. – Karl-Heinz Ross, „Seit Gleicherwiesen Juden hat wird es berühmte Handelsstadt“, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 75–91.

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Lengsfeld (Stadtlengsfeld, WAK). Die Herren von Boyneburg haben seit dem Ende des 16. Jahrhunderts Juden aufgenommen. Belegt sind Synagoge, Schule, Mikwe und Friedhof (noch vorhanden). Stadtlengsfeld kam 1815 an das Großherzogtum Sachsen-Weimar und wurde 1824 Sitz des Landesrabbiners für das Großherzogtum, weil hier die größte jüdische Gemeinde ansässig war.53 In Marisfeld (HBN) haben die Ortsherren aus der Familie Marschalk von Ostheim mit Genehmigung des Landesherrn seit 1678 Schutzbriefe für Juden ausgestellt. Belegt sind Synagoge (1832), Schule und der noch vorhandene, außerhalb des Dorfes gelegene Friedhof.54 Völkershausen (WAK, nahe Vacha). Hier lebte eine kleinere Anzahl jüdischer Familien unter dem Schutz der am Ort ansässigen Herren von Völkershausen, die seit etwa 1600 Juden aufgenommen hatten.55 Die Gemeinde, die den Friedhof in Vacha mitbenutzte, wurde 1903 aufgelöst.56 Walldorf (SM): Am Dorf besaßen die niederadligen, zur Reichsritterschaft gehörigen Familien Marschalk von Ostheim, Diemar und von Bibra Anteile. Frühe Belege für die Anwesenheit von Juden stammen aus den Jahren 1567, 1575 und 1621.57 Ein Schwerpunkt geschäftlicher Tätigkeit der Walldorfer Juden war stets das benachbarte Meiningen. 1621 ging die dort ansässige Hennebergische Regierung gegen Bürger vor, die den Juden in ihren Häusern die Abhaltung von Gottesdiensten gestattet hatten.58 Erst 1789 schlossen sich die drei von den verschiedenen Dorfherren zugelassenen jüdischen Gemeinden zu einer Kultusgemeinde zusammen. Diese verfügte über Synagoge (1797 errichtet, 1845 erweitert), Schule (vor 1836, Neubau 1840, 1909 mit der christlichen Schule zusammengelegt) und Friedhof (1737, noch vorhanden).59 Nachdem Walldorf 1808 an 53 Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), passim, zur Gemeinde S. 50 f. – Rolf Leimbach, Ein Rückblick auf jüdisches Leben in Stadtlengsfeld, einst Sitz des großherzoglichen Landrabbinats, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 5, S. 13–51. 54 Human, Geschichte der Juden (wie Anm. 49), S. 13 (1679). – Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 46 f. – Hans Nothnagel, Eine Nachlese zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Marisfeld, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 127–132. – Katharina Witter, Anmerkungen zur jüdischen Geschichte von Themar: Teil 1. Die jüdische Gemeinde Marisfeld als Vorläufer der jüdischen Gemeinde Themar, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 32 (2017), S. 165–186. – Dies., Nachträge zur jüdischen Geschichte von Marisfeld, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 34 (2019), S. 197–202, hier S. 197 der Beleg zu 1678 (in der älteren Literatur ist stets von 1679 die Rede). 55 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 119. – Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 56. – Olaf Ditzel, Helge Blankenburg, Chronik jüdischen Lebens in Völkershausen, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 5, S. 243–256. 56 Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 56. 57 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 120 f. 58 Ebd., S. 75 f. 59 Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 35–38. – Elke Schwerda, Chronik jüdischen

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das Herzogtum Sachsen-Meiningen gefallen war, wurde es 1839 Sitz des Landrabbiners, da hier die größte Gemeinde im Herzogtum ansässig war. 1869 verlegte der Landrabbiner seinen Sitz nach Meiningen. Das Archiv Synagogengemeinde Walldorf gehört zu den wenigen Archiven, die erhalten geblieben sind.60 Es wird jetzt im Archiv der Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum in Berlin (Oranienburger Straße) aufbewahrt. Die Juden zahlten hohe Schutzgelder, ihre Ansiedlung war aus diesem Grund für die Inhaber der (Dorf-)Herrschaft attraktiv. Dazu hat dazu geführt, dass Juden nun auch die Ansiedlung in einzelnen Territorien gestattet wurde, aus denen sie im 16. Jahrhundert vertrieben worden waren. Das hat die Obrigkeit jedoch immer nur an wenigen Orten gestattet. In folgenden Territorien ist das zu beobachten: Sachsen-Meiningen: In Dreißigacker, einer herrschaftlichen Domäne, heute Stadtteil von Meiningen, haben sich Juden eventuell schon im 17. Jahrhundert, sicher im Jahr 1715 niedergelassen (darunter der Ahnherr der Familie Strupp). Seit den 1820er Jahren gab es eine Synagoge und eine Schule. Nachdem diese 1867 abgebrannt waren, schloss man sich der Gemeinde in Meiningen an.61 Herzog Georg I. erließ 1784 und 1799 Mandate zu den Kreditgeschäften der Juden in seinem Territorium.62 Sachsen-Hildburghausen: Im neu entstandenen Fürstentum gestattete der Herzog 1680 den Juden die Anlage eines Begräbnisplatzes in Weitersroda. 1714 bestimmte er einen Juden zu seinem Hoffaktor. 1726 lebten zwölf jüdische Familien in der Stadt. 1811 stiftete der Parnas Simon Levi eine in seinem Haus befindliche Synagoge, 1824 eine Schule.63 In den Jahren nach 1711 genehmigte der Herzog auch die Niederlassung in einigen Dörfern seines Territoriums (Streufdorf, Simmershausen).64 Die Gemeinde in Simmershausen benutzte die Lebens in Walldorf, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 3, S. 197– 232. 60 Akten-Inventar der Synagogengemeinde Walldorf a. Werra, mit Anlage: Zur Begründung des Landrabbinats und zur Entstehung der Synagogen- und Gottesdienstordnung für das Herzogtum Sachsen-Meiningen. In: Mitteilungen des Gesamtarchivs der deutschen Juden, hrsg. von J[acob] Jacobson 6 (1926), S. 54–97, Anlage S. 66–97. 61 Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 38 f. – Human, Geschichte der Juden (wie Anm. 49), S. 14 (Erstbeleg 1735). – Hans Nothnagel, Die fast vergessene jüdische Gemeinde in Meiningen, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 3, S. 13–68 (behandelt auch Dreißigacker). 62 Druck: Levi, 12 Gulden (wie Anm. 7), S. 65–69 Nr. 13 und S. 70–73 Nr. 14. 63 Human, Geschichte der Juden (wie Anm. 49), S. 9 (1714, 1726). – Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 45 f. – Karl-Heinz Ross/Hans Nothnagel, Juden in Hildburghausen – ein chronikalischer Überblick von 1331 bis 1943, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 31–73. 64 Human, Geschichte der Juden (wie Anm. 49), S. 12 (Simmershausen, 1711) u. S. 13 f. (Streufdorf, 1722). – Siegfried Erbach/Hans Nothnagel, Ein Rückblick auf jüdisches

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Synagoge im benachbarten Gleicherwiesen mit; 1885 haben sich beide Gemeinden zusammengeschlossen.65 Ein Teil der Grafschaft Henneberg war bei der Aufteilung im Jahr 1660 an Kursachsen gefallen und dann der bis 1718 bestehenden Nebenlinie Sachsen-­ Zeitz zugeordnet worden. 1815 kam das Gebiet an Preußen. Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz gestattete 1704 die Niederlassung von Juden in Schleusingen. 1725 wurde das Statut der jüdischen Kultusgemeinde bestätigt, zu der auch die Juden in Heinrichs (heute Stadt Suhl) gehörten.66 Die 1881 eingeweihte Schleusinger Synagoge wurde 1938 im Inneren zerstört, der im nahe gelegenen St. Kilian gelegene Friedhof ist noch erhalten. In dem zum gleichen Territorium gehörenden Dorf Heinrichs lebten ebenfalls seit Beginn des 18. Jahrhunderts Juden, die 1859 eine eigene Kultusgemeinde bildeten, zu der auch die Juden in Suhl gehörten. Dorthin zog in der Folge die Mehrzahl der in Heinrichs lebenden Juden, die Synagoge wurde 1872 verkauft. Der Friedhof ist noch vorhanden.67 1695 erhielt eine Gruppe von Juden die Erlaubnis zum langfristigen Aufenthalt in der Schwarzburgischen Residenzstadt Sondershausen.68 1705 ist Philipp Abraham Wallich als Hofjude belegt. Nachdem die Anzahl der Juden zunächst bis zum Ende des 18. Jahrhunderts abgenommen hatte, wuchs sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder. 1825/26 errichtete die Gemeinde eine Synagoge. 1860 wurde eine Synagogengemeinde für alle im Fürstentum lebenden Juden (also auch die in Arnstadt) eingerichtet. Die Synagoge wurde 1938 geschändet. Der 1699 angelegte Friedhof ist noch vorhanden. Zu erwähnen ist auch eine aus dem Mittelalter stammende Mikwe.69 Fürst Friedrich Anton von Schwarzburg-Rudolstadt gestattete 1727 zwei jüdischen Familien die Niederlassung im Dorf Immenrode (westlich Sondershausen, Kyffhäuserkreis). Weitere Familien folgten wenig später, so dass die in Leben in Simmershausen, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 93–107. – Jacob Simon, Ein jüdisches Leben in Thüringen. Lebenserinnerungen bis 1930 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, GR, 17), Köln/ Weimar/Wien 2009, hier S. 2 (Einleitung), S. 11 u. S. 266 f. (Schutzbriefe von 1711 u. 1722). 65 Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 43–45. 66 Hans Nothnagel/Kerstin Möhring, Chronik jüdischen Lebens in Schleusingen, in: Nothn ­ agel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 1, S. 111–163. – Kerstin Möhring, Jüdisches Leben in Schleusingen von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert, in: Schleusinger Blätter 2 (2005), S. 12–14. – Dies., Jüdisches Leben in der Stadt Schleusingen im 19. Jahrhundert, in: Schleusinger Blätter 3 (2006), S. 12–14. 67 Hans Nothnagel/Hans Michael/Annekathrin Peters, Eine dokumentarische Nachlese zur Geschichte der Juden in Suhl, in: Nothnagel, Juden in Südthüringen (wie Anm. 32), Bd. 1, S. 14–109. 68 Bettina Bärnighausen, Zur Geschichte der Synagogengemeinde Sondershausen, in: Juden in Schwarzburg (wie Anm. 9), S. 35–48. 69 Falk Nicol, Die mittelalterliche Mikwe von Sondershausen, in: Juden in Schwarzburg (wie Anm. 9), S. 87–92.

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einem eingezäunten Viertel wohnhaften Juden einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausmachten.70 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wanderte die große Mehrheit der Juden ab. Die Synagoge, für deren Bau 1748 ein Grundstück erworben worden war, wurde 1926 verkauft. Erhalten ist der außerhalb des Dorfes gelegene Friedhof. In Mühlhausen sind seit 1628 wieder einzelne Juden wohnhaft gewesen.71 Gleiches gilt für die Reichsstadt Nordhausen nach 1630.72 Belege für die Anwesenheit einzelner Juden, denen der jeweilige Landesherr die Ansiedlung gestattet hatte, liegen vor aus Eisenach (1621)73 und Jena (1651).74 In Weimar wurde 1770 der aus Franken stammende Jakob Elkan zum Hofjuden ernannt.75 Wegen der Nähe zu den Ansiedlungen in den reichsritterschaftlichen Dörfern regulierte das Herzogtum Sachsen-Weimar und Eisenach die Handelstätigkeit der Juden in seinem Territorium.76

2. Der Fall Berkach Das unmittelbar an der Landesgrenze zu Bayern (Unterfranken) gelegene Dorf Berkach hat – wie viele Dörfer in der Region – eine komplizierte Besitzgeschichte.77 Anteile besaßen im 17. Jahrhundert das Hochstift Würzburg (Amt Mellrichstadt), die Grafschaft Henneberg bzw. nach deren Aufteilung einzelne Linien der Ernestiner (Sachsen-Meiningen, Sachsen-Gotha, Sachsen-Hildburghausen) sowie die niederadlige Familie von Stein, die zwischen 1595 und 1680 etliche Güter und Rechte zu Berkach von niederadligen Vorbesitzern erwarb.78 Da die Adelsfamilie im benachbarten Nordheim (im Grabfeld) lebte, benötigte 70 Doreen Winker/Hannelore Kutscha, „Juden-Immenrode“. Die größte jüdische Gemeinde des Fürstentums Schwarzburg-Rudolstadt im 18. und 19. Jahrhundert, in: Juden in Schwarzburg (wie Anm. 9), S. 49–58. 71 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 5), S. 77–82. 72 Ebd., S. 83–88. 73 Ebd., S. 55. 74 Ebd., S. 72 f. 75 Ulrike Schramm-Häder, Jeder erfreuet sich der Gleichheit vor dem Gesetze, nur nicht der Jude. Die Emanzipation der Juden in Sachsen-Weimar-Eisenach (1823–1850) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, KR, 5), München/Jena 2001, S. 17–22 (Juden und Judenpolitik in Sachsen-Weimar-Eisenach vor 1815), hier S. 17. 76 Levi, 12 Gulden (wie Anm. 7), S. 43 Nr. 4 (Bekanntmachung vom 13. Juli 1784 unter Verweis auf ein Patent vom 24. Nov. 1754). 77 Ebd., S. 16–26, zur hier interessierenden frühen Neuzeit S. 21–26. 78 Ebd., S. 23 f. – Ingo Frhr. von Berchem/Gerhard Schätzlein, Die Nordheimer Linie der Freiherren von Stein zu Nord- und Ostheim, Mellrichstadt 2013, mit Biografien zahlreicher Familienangehöriger.

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sie die in Berkach erworbenen Gebäude nicht. In diesen wurden daher die gegen eine Schutzgeldzahlung aufgenommenen Juden untergebracht. 1654 ist davon die Rede, dass der Jude Männlein bereits seit 28 Jahren in Berkach wohnte. Demnach sind spätestens 1626 Juden am Ort angesiedelt worden. Andere Adelsfamilien, die am Ort in geringerem Umfang begütert waren, sind diesem Beispiel gefolgt. Später tat das auch das Hochstift Würzburg. Die Herzöge von Sachsen haben offenbar Juden die Ansiedlung in Berkach nicht erlaubt. 1799 standen in Berkach 82 Wohnhäuser und die „Burg“ der Freiherren von Stein. Im Dorf lebten – mit Dienstboten und Kindern – 300 christliche Untertanen; 27 Haushaltungen standen dem Hochstift Würzburg zu, 14 dem Herrn von Stein zu Nordheim und drei dem Herrn von Kalb (als Erben der Marschalk von Ostheim zu Waltershausen); in 18 jüdischen Haushaltungen lebten 102 Personen.79 Aus einer Aufstellung des Jahres 1803 geht hervor, dass 21 jüdische Haushalte unter dem Schutz der Freiherren von Stein standen, drei unter dem des Kurfürsten von Bayern (als Rechtsnachfolger des Hochstifts Würzburg) und eine Witwe unter dem des Freiherrn von Kalb.80 Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 brachte das Ende der Reichsritterschaft. Landesherren in Berkach waren zunächst der Kurfürst von Bayern (1803–1806), danach Erzherzog Ferdinand als Großherzog von Würzburg (1806–1814), der 1808 seine Rechte in Berkach an die Herzöge von Sachsen-Meiningen und Sachsen-Gotha als gemeinsame Herren des Amts Römhild abtrat. Auch die übrigen vormals reichsritterschaftlichen Dörfer im Westen und Südwesten von Thüringen kamen bei der territorialen Neuordnung an das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach sowie die Herzogtümer Sachsen-Meiningen und Sachsen-Hildburghausen. Mit den daraus erwachsenden Problemen sahen sich nun deren Verwaltungen konfrontiert. Das komplizierte Zusammenleben von Christen und Juden sowie die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Seiten der staatlichen Verwaltung getroffenen Regelungen haben zu einer Fülle von Akten geführt. Franz Levi (1920–1999), dessen Vater aus Berkach stammte und der selbst per Kindertransport nach England gelangt war,81 hat unmittelbar nach der Wende mit der Sammlung von Material zur Geschichte der Juden in Berkach, insbesondere zu der seiner eigenen Vorfahren, begonnen. Mit großem Spürsinn hat er zahlreiche Akten im Archiv der Freiherren von Stein (in Völkershausen, Kreis Rhön-Grabfeld) und im Staatsarchiv Meiningen ermittelt und transkribiert. Das Material wurde der Historischen

79 Levi, 12 Gulden (wie Anm. 7), S. 24 nach Johann Kaspar Bundschuh, Geographisches Statistisch-Topographisches Lexikon von Franken, Bd. 1, Ulm 1799, hier Sp. 355–357. 80 Levi, 12 Gulden (wie Anm. 7), S. 27 (Einleitung) u. S. 184–187 (Dokument Nr. 35). 81 Wolfgang Benz/Claudia Curio/Andrea Hammel, Die Kindertransporte 1938/39, Frankfurt am Main 2003.

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Kommission für Thüringen angeboten und ist 2001 im Druck erschienen, angereichert durch weitere Dokumente staatlicher Provenienz aus dem Staatsarchiv.82 Vergleichbares – allerdings wohl meist nicht erhaltenes – Material dürfte in den meisten reichsritterschaftlichen Dörfern mit jüdischer Bevölkerung entstanden sein. Es konzentriert sich auf folgende Themenfelder: – Landesherrliche Verordnungen der benachbarten Territorien, die die Juden aus den reichsritterschaftlichen Dörfern bei ihren Geschäften aufsuchten oder durchquerten.83 Dabei wurde auch bei jedem Passieren von Grenzen der demütigende Leibzoll fällig – demütigend deshalb, weil Zoll nur im Allgemeinen von Sachen, nicht von Menschen erhoben wurde. In territorial stark zersplitterten Gebieten – wie Franken – legten die Betroffenen großen Wert darauf, möglichst viele Grenzen zu umgehen und möglichst wenige zu passieren. – Rechnungen der Landes- und Ortsherren, in denen die Juden vor allem als Zahler von Schutzgeld auftauchen, daneben als Erwerber von Genehmigungen und Erlaubnissen. Ähnliches gilt für Gemeinderechnungen. Aus diesen Quellen lassen sich z. B. Informationen zur sozialen Schichtung innerhalb der jüdischen Gemeinde ziehen: Wohlhabende Juden handelten mit Pferden und Rindern, andere mit Ziegen und Schafen (natürlich nicht mit Schweinen), wieder andere zogen in der Woche (von Sonntag bis Freitagabend) als Hausierer über Land.84 Insbesondere das Hausieren war der Obrigkeit ein Dorn im Auge. Die Verwaltung des Herzogtums Sachsen-Meiningen veranlasste daher eine Untersuchung zu Nutzen und Schaden des Hausierens.85 Im Ergebnis ließ man das weiter zu. Die Hausierer nahmen Bestellungen für Waren entgegen, die sie bei ihrer nächsten Tour ablieferten. Alternativ hätte der Bauer einen ganzen Arbeitstag verloren, wenn er die 10 oder 15 Kilometer in die nächste Kleinstadt gegangen wäre, um die Ware dort zu kaufen. Im 19. Jahrhundert gingen viele Hausierer dazu über, in den Dörfern, in denen sie lebten, kleine Ladengeschäfte einzurichten. – Streitigkeiten mit den christlichen Nachbarn. Diese konnten sich etwa auf die Mitnutzung der Gemeindeweide durch jüdische Viehhändler,86 auf den (lange nicht möglichen) Erwerb von Immobilien,87 auf Übergriffe (eingeworfene Fensterscheiben)88 oder auf Schulden von Christen bei Juden beziehen.89 Am Sabbat dürfen sich Juden nur innerhalb des Hauses bewegen. Dieser Bereich 82 Levi, 12 Gulden (wie Anm. 7) (Kurzbiografie von F. Levi im Schutzumschlag). 83 Ebd., S. 38–45 Nr. 3–5 (Hochstift Fulda, Herzogtümer Sachsen-Weimar-Eisenach und Sachsen-Coburg-Saalfeld). 84 Ebd., S. 196–198 Nr. 41 (1819) sowie S. 337–342 Nr. 98 (Lebensbeschreibung des Hausierers Löb Doctor aus Walldorf). 85 Ebd., S. 111–113 Nr. 21. 86 Ebd., S. 279 Nr. 72 (1654) u. S. 279–281 Nr. 73 (1684). 87 Ebd., S. 293–297 Nr. 79. 88 Ebd., S. 298 Nr. 80. 89 Ebd., S. 287–290 Nr. 76.

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konnte, wenn nötig, durch Zäune oder durch einen Draht erweitert werden. Die regelmäßige Einrichtung eines solchen eingegrenzten Bereichs (Eruf, an jedem Sabbat) hatte natürlich immer wieder Konflikte mit den christlichen Nachbarn zur Folge.90 – Streitigkeiten innerhalb der jüdischen Gemeinde. Diese wurden, wenn immer möglich, intern ausgetragen. Falls erforderlich, beschaffte man das Gutachten eines Rabbiners, der ja erst im 19. Jahrhundert vom Gelehrten mit Kenntnis der Tradition und der über Jahrhunderte ergangenen Regelungen von Streitfällen zum Seelsorger und Prediger wurde (letzteres auf Druck der christlichen Obrigkeit).91 Dennoch haben auch solche Streitigkeiten gelegentlich einen schriftlichen Niederschlag in Akten der weltlichen Gemeinde, des Ortsherren oder der staatlichen Verwaltung gefunden. Dies gilt z. B. für die Erhebung und Abgabe des Schutzgeldes durch die jüdische Gemeinde. Verantwortlich gegenüber dem Ortsherrn war der Vorsteher der Gemeinde (Parnas), in der Regel ein wohlhabender Jude. Die von den einzelnen Familienvorständen (auch Witwen) fälligen Sätze richteten sich nach dem sozialen Status. Die Eingruppierung entsprach natürlich nicht immer den Vorstellungen der Betroffenen. Da die meisten Berkacher Juden sehr dicht aufeinanderlebten, waren nachbarschaftliche Konflikte nahezu unvermeidlich. Die fanden ihren Ausdruck dann auch in Streitigkeiten um die Reihenfolge beim Vorlesen aus der Thora während des Gottesdienstes.92 Im 19. Jahrhundert hat der Staat in zunehmendem Maß in das Leben der jüdischen Gemeinde eingegriffen: Sachsen-Meiningen erließ 1811 ein Toleranzpatent,93 Sachsen-Hildburghausen 1814 ein Edict, die bürgerlichen Verhältnisse der Juden betreffend.94 Vorgeschrieben wurde u. a. die Annahme fester Familiennamen. Die von der staatlichen Verwaltung durchgesetzten Hygienevorstellungen der Zeit erzwangen in Berkach den Bau einer Gemeindemikwe (1837)95 und die Anlage eines Friedhofs (1846). Bis dahin hatte man den 25 km entfernten Bezirksfriedhof bei Kleinbardorf benutzt (dort heute ca. 4.500 Gräber erhalten). Später folgte die Errichtung einer jüdischen Schule und einer Synagoge

90 Ebd., S. 242–250 Nr. 60 (Eruf, 1750–1752). 91 Mordechai Breuer, Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, hier: Gemeinde, Gesellschaft und häusliches Leben, in: Breuer/Graetz, Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit (wie Anm. 41), S. 160–186. 92 Levi, 12 Gulden (wie Anm. 7), S. 270 f. Nr. 67 (1831 f.). 93 Vgl. Franz Levi/Rainer Liedtke/Stefan Wendehorst, Die Frühphase der Judenemanzipation in Sachsen-Meiningen (mit Urkundenedition), in: Thomas Bahr (Hg.), Beiträge zur Geschichte jüdischen Lebens in Thüringen (Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte, 29. Beiheft), Jena 1996, S. 39–103, sowie Levi, 12 Gulden (wie Anm. 7), S. 92–95 Nr. 16. 94 Levi, 12 Gulden (wie Anm. 7), S. 59–65 Nr. 12. 95 Ebd., S. 228–232 Nr. 57.

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(beide 1854 eingeweiht).96 Eine wichtige Rolle spielte dabei der Lehrer Hermann Ehrlich (1815–1879), der als einer der ersten Juden am Lehrerseminar in Hildburghausen ausgebildet worden war und in Berkach eine im gesamten deutschen Sprachraum verbreitete „Liturgische Zeitschrift“ herausgab.97 Sein Ziel war die Verbesserung des Gesangs beim Gottesdienst und dessen Begleitung durch das Orgelspiel – damals ein sehr umstrittenes Feld, da orthodoxe Gemeinden sich dem widersetzten. Das Amt eines Landrabbiners war in Sachsen-Meiningen bereits durch das Toleranzpatent von 1811 geschaffen worden. Besetzt wurde es jedoch erst 1839 mit dem aus Walldorf stammenden Josef Hofmann (1806– 1845).98 1856 wurden die jüdischen Gemeinden aufgelöst und in die christlichen Gemeinden integriert. In Berkach hatte das u. a. zur Folge, dass Juden gemäß ihrem Anteil an der Bevölkerung im Gemeinderat vertreten waren. Die volle bürgerliche Gleichstellung erlangten die Juden erst durch die Gesetze des norddeutschen Bundes (ab 1866). Dazu gehört auch die Freizügigkeit bei der Wahl des Wohnortes. Dies führte dazu, dass sehr bald die aktiveren (vor allem die jüngeren) Juden in die benachbarten Städte (Meiningen, Eisenach, Themar, Hildburghausen) und in der Folge dann auch nach Erfurt oder Berlin zogen. Daraus ergab sich eine zunehmende Überalterung der Dorfgemeinden, die bald ihre Schulen aufgeben mussten (in Berkach 1898). Von den antisemitischen Maßnahmen in den Jahren nach 1933 waren in den einzelnen Dörfern nur noch kleinere Gruppen von Juden betroffen. Die Folge waren weitere Wegzüge in die Städte. Die Deportationen von 1942 brachten dann das Ende jüdischen Lebens in den südwestthüringischen Dörfern.

96 Ebd., S. 234–242 Nr. 59. 97 Lebenserinnerungen: ebd., S. 346–364 Nr. 102. Zu ihm Jascha Nemtsov, „Treu in allen seinen Taten“: Hermann Ehrlich (1815–1879) – ein Kantor und Lehrer im Zeitalter der jüdischen Emanzipation, in: Jüdische Familien aus Arnstadt und Plaue (wie Anm. 9), S. 149–176. 98 Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 36), S. 157–166.

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Im Bunde mit dem Feinde? Juden während des Bauernkrieges in Thüringen 1524/25

1. Einführung und Problemstellung Die in den Jahren 1524 und 1525 in vielen Regionen Südwest- und Mitteldeutschlands ausgebrochenen Aufstände überwiegend ländlich geprägter Bevölkerungsgruppen gingen als „Bauernkrieg“ in die deutsche Geschichte ein. Der in der Historiografie fest etablierte Begriff sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in Städten Erhebungen und gewaltsame Übergriffe stattfanden.1 Solche „Bürgerunruhen“ wurden entweder von den Bewohnern des Umlandes in die Stadt getragen oder selbst von städtischen Gruppen initiiert. Beim Frankfurter Zunftaufstand vom 17. April 1525 erhoben sich zahlreiche Handwerker – angeführt von der „Gemeinschaft der evangelischen Brüder“ – und brachten ihren Unmut gegen das Stadtregiment und den Klerus zum Ausdruck, indem sie sich gewaltsam der Stadt bemächtigten sowie das Dominika­ nerkloster und den Mainzer Fronhof plünderten. Die Aufständischen versuchten auch in die Judengasse einzudringen, was jedoch loyal zum Rat stehende Bürger mit Waffengewalt verhindern konnten. Knapp zwei Wochen später kursierte das Gerücht, der bei Miltenberg kampierende Schwarze Haufen aus Odenwälder Bauern plane nach Frankfurt zu ziehen, um die dortige Kommende des Deutschen Ordens zu plündern und über die Frankfurter Juden herzufallen.2 Geistige Nahrung fanden die Aufständischen in reformatorischen Predigten und in den Schriften Martin Luthers (1483–1546). Seine bereits 1520 gedruckte Denkschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ und sein gegen Profitstreben und Machtmissbrauch gerichtetes Traktat „Von Kaufshandlung und Wucher“ aus dem Jahr 1524 fanden rasche Verbreitung3 und wurden als Aufruf für einen 1 2 3

Siehe hierzu Otthein Rammstedt, Stadtunruhen 1525, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Der Deutsche Bauernkrieg 1524–1526 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 1), Göttingen 1975, S. 239–276. Siehe Sigrid Jahns, Frankfurt am Main im Zeitalter der Reformation, in: Frankfurter Historische Kommission (Hg.), Frankfurt am Main – Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, S. 151–204. Vgl. Adolf Laube, Zur Rolle sozialökonomischer Fragen in frühreformatorischen Flugschriften, in: Hans-Joachim Köhler (Hg.), Flugschriften als Massenmedium der Refor-

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gesellschaftlichen Wandel begriffen.4 Ebenfalls unter enger Bezugnahme auf das Evangelium prangerte Thomas Müntzer (1489–1525) in der am 13. Juli 1524 gehaltenen Fürstenpredigt die Willkürherrschaft geistlicher wie weltlicher Obrigkeiten an. Damit versuchte er das Selbstbewusstsein einfacher Christen als Diener Gottes und neues Volk Israel gegenüber den besitzenden und herrschenden Schichten zu stärken.5 Als Auserwählte sollten sie sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch unchristliche Fürsten zur Wehr setzen, um gemäß dem Evangelium eine bessere Gesellschaft aufzurichten.6 Vor diesem Hintergrund spricht Peter Blickle gar von einer „Revolution des gemeinen Mannes“,7 was unweigerlich an den von Friedrich Engels im Sommer 1850 beschriebenen vergeblichen „Kampf gegen Feudalismus und Kapitalismus“ anklingt8 und stark das moderne Bild der Bauern- und Bürgeraufstände prägt.9 mationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980, Stuttgart 1981, S. 205–224, hier S. 210 u. 220–224; Hans-Jürgen Pries, Luthers Wirtschaftsethik, Göttingen 1992, S. 9. 4 Vgl. Martin Luther, Von Kaufshandlung und Wucher, Wittenberg 1524, fol. D4v: „[…] und geht nach dem Spruch Jesaja: deine Fürsten sind der Diebe Gesellen worden. […] Was wird aber zuletzt Gott dazu sagen? Er wird thun, wie er durch Ezekiel spricht, Fürsten und Kaufleut, einen Dieb mit dem andern in einander schmelzen wie Blei und Erz, gleich als wenn eine Stadt ausbrennet, daß weder Fürsten noch Kaufleute mehr sein […]. Soll Recht und Redlichkeit bleiben, so müssen die Gesellschaften untergehen.“ 5 Symbolisch hierfür stehen mag die Fahne der aufständischen Bauern, welche mit einem Regenbogen als Zeichen göttlicher Herrlichkeit und Einheit versehen war und mit dem Schriftwort „dies ist das Zeichen des ewigen Bund Gottes“ (1 Mos 9,1–17) in Verbindung steht. 6 Siehe Eike Wolgast, Thomas Müntzer. Ein Verstörer der Ungläubigen, Berlin 1988; Werner Schubert, Thomas Müntzer und sein auserwähltes Volk, in: Italo M. Battafarano (Hg.), Begrifflichkeit und Bildlichkeit der Reformation (Ricerche di cultura europea, 5), Bern u. a. 1992, S. 115–128; Hans-Jürgen Goertz, Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten. Eine Biografie, München 2015. 7 Peter Blickle, Der Bauernkrieg. Die Revolution des Gemeinen Mannes, München 52018. Siehe auch Heinz Angermeier, Die Vorstellung des gemeinen Mannes von Staat und Reich im deutschen Bauernkrieg, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 53 (1966), S. 329–343; Volker Press, Herrschaft, Landschaft und „Gemeiner Mann“ in Oberdeutschland vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 123 (1975), S. 169–214; Peter Blickle, Untertanen in der Frühneuzeit. Zur Rekonstruktion der politischen Kultur und der sozialen Wirklichkeit Deutschlands im 17. Jahrhundert, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 70 (1983), S. 483–522. 8 Vgl. Friedrich Engels, Der deutsche Bauernkrieg, Berlin 141984, S. 152 f.: „Wer profitierte von der Revolution von 1525? Die Fürsten. […] Die Revolution von 1525 war eine deutsche Lokalangelegenheit. Englänger, Franzosen, Böhmen, Ungarn hatten ihre Bauernkriege schon durchgemacht, als die Deutschen den ihrigen machten.“ 9 Siehe Günter Vogler, Bäuerliche und städtische Aufstände zwischen Harz und Thürin­ ger Wald, in: Ders. (Hg.), Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald, Stuttgart 2008, S. 65–90.

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„Die Absicht, die gesellschaftliche Ordnung nach den Normen des ‚göttlichen Rechts‘ einzurichten, war im Bauernkrieg nicht neu. […] Während des Bauernkrieges wurde in dieser Tradition der Widerstand des ‚gemeinen Mannes‘ gegen geistliche und weltliche Obrigkeiten, das Ringen um eine neue Ordnung und der Kampf um eine Verbesserung der Lage der Untertanen mittels des ‚göttlichen Rechts‘ legitimiert. […] Die Beschwerden der Aufständischen galten religiösen, sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Belangen.“10

Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass Thüringen als „Kernland der Reformation“ vergleichsweise intensiv vom „Bauernkrieg“ beeinträchtigt wurde.11 Ähnlich wie der deutsche Südwesten war es „sowohl in politisch-administrativer als auch wirtschaftlich-sozialer Hinsicht“ stark differenziert und wies zahlreiche Städte mit einem „ackerbürgerlichen Charakter“ und rapide steigendem Anteil besitzloser Schichten auf.12 Aus Protest gegen kirchliche Abgaben und Wucherzinsen verübten Bürger und Bauern gemeinsam mit Studenten und Adeligen bereits im Juni 1521 erste Pfaffenstürme und plünderten die Häuser der Domherren, Kanoniker und Vikare in Erfurt.13 Den mitunter engen Zusammenhang zwischen Reformation und ‚Revolution‘ verdeutlichen die Vorgänge in der altehrwürdigen Reichsstadt Mühlhausen, wo infolge von Müntzers Agitationen kurzzeitig ein „Zentrum des Widerstandes und der städtisch-bäuerlichen Opposition“ gegen die etablierte Ordnung entstand.14 Die Frage, inwieweit die jüdische Bevölkerung von den Aufständen der Bürger und Bauern in den einzelnen Territorien des Alten Reichs betroffen war, fand bislang erstaunlich geringe Beachtung. Selbst auf dem Ende September 2020 in Mühlhausen durchgeführten 47. Tag der Landesgeschichte, dessen reichhaltiges Vortragsprogramm das Thema „Bauernkrieg. Aufruhr in den 10 Ders., Der Bauernkrieg in Thüringen und im Reich, in: Ders. (Hg.), Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald (wie Anm. 9), S. 11–30, bes. S. 16. 11 Siehe Joachim Bauer, Die Reformation in Thüringen 1525 (Thüringen. Blätter zur Landeskunde, 9,1), Erfurt 1999 und zuletzt Steffen Rassloff, Geschichte Thüringens, München 22020, S. 1; Michael Flohr, Kulturpolitik in Thüringen. Praktiken – Governance – Netzwerke, Bielefeld 2018, S. 141; Julia Mandry, Armenfürsorge, Hospitäler und Bettel in Thüringen in Spätmittelalter und Reformation (1300–1600) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 10), Wien/Köln/Weimar 2018, S. 20. 12 Joachim Bauer, Der Bauernkrieg in Thüringen 1525 (Thüringen. Blätter zur Landeskunde, 9,2), Erfurt 1999, S. 2. 13 Vgl. Johannes Mötsch, Die aufständische Führungselite in Henneberg und ihre Bestrafung nach dem Bauernkrieg, in: Werner Greiling/Thomas T. Müller/Uwe Schirmer (Hg.), Reformation und Bauernkrieg (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 12), Köln 2019, S. 115–148, bes. S. 124. 14 Bauer, Bauernkrieg (wie Anm. 12), S. 4. Vgl. Vogler, Bauernkrieg (wie Anm. 10), S. 25– 27; Gerhard Günther, Die innerstädtische Bewegung in der Reichsstadt Mühlhausen und die Aktionen im Bauernkrieg 1523 bis 1525, in: Vogler (Hg.), Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald (wie Anm. 9), S. 91–112, bes. S. 100 f.

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deutschen Landen“ aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtete, wurde dieser Aspekt mit keinem einzigen Wort erwähnt. Die Ansätze und Ergebnisse aus dem Bereich der jüdischen Geschichte sind offenbar immer noch nicht hinreichend und nachhaltig in die allgemeine Historiografie integriert. Gerade die Landesgeschichte könnte und sollte hier mit bestem Beispiel vorangehen, zumal die allermeisten Studien zur Geschichte der Juden im Alten Reich nach wie vor regional bzw. territorial zugeschnitten sind und auf diese Weise ihrerseits die landesgeschichtliche Forschung nicht unwesentlich befruchten können. Insofern gilt das berühmte Diktum des Mainzer Landeshistorikers Ludwig Petry „in Grenzen unbegrenzt“ in besonderem Maße für die Erforschung der Lebensbedingungen von Jüdinnen und Juden in vormodernen Zeiten.15 Der vorliegende Beitrag soll auf Grundlage des bisherigen Forschungsstandes einen ersten Problemaufriss darstellen und einige grundsätzliche Überlegungen anstellen, um für die Relevanz des Themenfeldes zu sensibilisieren und weiterführende regionalhistorische Studien anzuregen.

2. Bemerkungen zum Forschungsstand Zur Reformation und zum Bauernkrieg in Thüringen existieren zahlreiche Publikationen, welche sowohl die allgemeinen und spezifischen Merkmale als auch die zeitlichen und räumlichen Umstände vielseitig behandeln.16 Charakteristisch für Thüringen – im Gegensatz zum deutschen Südwesten – waren zum einen das Fehlen einer seit dem Spätmittelalter ausgeprägten ländlichen Widerstands­ tradition oder einer staatstheoretischen Programmatik, zum anderen die überdurchschnittliche Bedeutung städtischer Bewohner für die Unruhen.17 Die Auswirkungen dieser tiefgreifenden Auf- und Umbruchszeit auf die jüdische Bevölkerung sind hingegen bisher denkbar schlecht erforscht. Dabei beste15 Ludwig Petry, In Grenzen unbegrenzt. Möglichkeiten und Wege der geschichtlichen Landeskunde, Mainz 1961. Siehe auch Rolf Kiessling/Peter Rauscher/Stefan Rohrbacher/Barbara Staudinger (Hg.), Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300–1800, Berlin 2007 (bes. die Einführung auf S. 11–22); Sabine Ullmann, Methodische Perspektiven der Herrschaftsgeschichte in komplexen territorialen Landschaften der Frühen Neuzeit, in: Sigrid Hirbodian/Christian Jörg/Sabine Klapp (Hg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte, Ostfildern 2015, S. 191–208. 16 Siehe besonders Thomas T. Müller, Bauernkrieg in Thüringen. Eine kurze rezeptionsgeschichtliche Einführung, in: Greiling/Müller/Schirmer (Hg.), Reformation und Bauernkrieg (wie Anm. 13), S. 9–19; Uwe Schirmer, Die Ursachen des Bauernkrieges in Thüringen. Eine sozial-, verfassungs- und reformationsgeschichtliche Spurensuche, in: ebd., S. 21–69. 17 Siehe Vogler, Bauernkrieg (wie Anm. 10), S. 23–25. Vgl. ebd., S. 25: „Städtebürger erhoben sich oftmals gegen den Rat oder den Stadtherrn, ehe ländliche Untertanen aktiv wurden. Dorfgemeinden folgten gleichsam dem städtischen Beispiel.“

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hen frappierende zeitliche wie strukturelle Koinzidenzen zwischen den Ausweisungen der Juden aus städtischen Lebensbereichen aufs Land und den Erhebungen der ländlichen Bevölkerung gegen die adeligen und patrizischen Herrschaftsträger. Diese reichsweiten Ausweisungen setzten bekanntlich zur Epochenwende ein und fanden um das Jahr 1525 ihren Abschluss.18 Zu den Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung Thüringens in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts lassen sich nur wenige verlässliche Aussagen treffen. Nach den Ausweisungen von Juden aus einigen Städten dürfte es kaum noch größere jüdische Gemeinden gegeben haben.19 Laut Israel Schwierz lebten „in weiten Teilen Thüringens“ überhaupt „keine Juden mehr“.20 Vermutlich basiert diese Einschätzung nicht unwesentlich auf der mäßigen Überlieferungslage aus dem frühen 16. Jahrhundert. Vielerorts könnte die Durchsicht der lokalen Archivalien, insbesondere der protokollarischen Quellen, sicherlich weitere Belege zu Tage fördern.21 Zu den Vorgängen der eigentlichen Unruhen selbst existieren zumeist nur narrative bzw. chronistische Darstellungen, authentische Zeugnisse sind naturgemäß spärlich überliefert. Umso fantasievoller sind die Vermutungen, die bereits von Zeitgenossen geäußert wurden. Der Gothaer Kanoniker und Humanist Konrad Muth alias Mutianus Rufus schrieb im April 1525 an Kurfürst Friedrich von Sachsen: Er habe „aus brieflichen und mündlichen Mitteilungen der einsichtsvollsten Männer die Überzeugung gewonnen, dass die Reichsstädte durch geheime Umtriebe unter dem Schein des Evangeliums die Bauern aufhetzten und durch ihre Wühlerkünste, mit Hilfe der Juden, die fürstlichen und hochadligen Häuser zu vernichten strebten, 18 Vgl. Michael Toch, Spätmittelalterliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz: Die Verfolgungen, in: Sabine Hödl/Peter Rauscher/Barbara Staudinger (Hg.), Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit, Berlin/Wien 2004, S. 19–64, bes. S. 28–30; Markus Wenninger, Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergrunde ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert, Wien/ Köln/Graz 1981, bes. S. 217–230, 237–244 u. 251–262; J. Friedrich Battenberg, Aus der Stadt auf das Land? Zur Vertreibung und Neuansiedlung der Juden im Heiligen Römischen Reich, in: Monika Richarz/Reinhard Rürup (Hg.), Jüdisches Leben auf dem Lande, Tübingen 1997, S. 9–35. 19 Siehe Stefan Litt, Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit (1520–1650) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 11), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 75, 83, 90 u. Israel Schwierz, Zeugnisse jüdischer Vergangenheit in Thüringen. Eine Dokumentation, unter Mitarbeit von Johannes Mötsch, Sömmerda 2007, S. 15, 45 f., 140 u. 175. 20 Schwierz, Zeugnisse (wie Anm. 19), S. 15. 21 Exemplarisch sei hier verwiesen auf Carsten Liesenberg, Zur Geschichte der Juden in Mühlhausen und Nordthüringen und die Mühlhäuser Synagoge (Mühlhäuser Beiträge, Sonderheft 11), Mühlhausen 2002 u. Carsten Liesenberg/Helge Wittmann, Distanzen. Jüdisches Leben in Mühlhausen (Ausstellungen des Stadtarchivs Mühlhausen, 2), Petersberg 2013.

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Ulrich Hausmann um zugleich mit den Bischöfen nicht nur die geistlichen Fürstentümer, sondern die Fürstenwürde überhaupt zu beseitigen und nach Art der Alten Griechen und Venetianer der republikanischen Staatsform das Übergewicht zu verschaffen“.22

Laut dem deutsch-jüdischen Historiker Alfred Stern (1846–1936) hat Mutians These „etwas Bestechendes“. Denn die Bauern seien bestrebt gewesen, die ständischen Schranken zu durchbrechen und auf Grundlage des göttlichen Naturrechts eine bessere Gesellschaft zu bauen. Der Rat des jungen Reformators Martin Luther, „an den Juden der christlichen Liebe Gesetz zu üben und sie freundlich anzunehmen“, habe die Bauern bewogen, jenen Unterdrückten und Verachteten zu helfen und „wenn nicht gleich anfangs die Rolle thätiger Mitkämpfer, so doch die Rolle heimlicher Vermittler zwischen gleichstrebenden Parteien zuzutrauen“. Hierfür waren sie geradezu prädestiniert, da sie durch „ihre Geschäfte in den Spelunken städtischer Proletarier wie in den Hütten der Bauern“ beiden Gruppen vertraut gewesen seien.23 Dennoch – so resümiert Stern – ist Mutians These durch die „Thatsachen“ eher widerlegt als bestätigt. Dies gilt auch für die Behauptung des protestantischen Theologen, Historikers und Paulskirchenabgeordneten Wilhelm Zimmermann in seiner Monografie zum „Großen Bauernkrieg“: „[D]ie Juden haben im Bauernkrieg keinerlei Mißhandlung erfahren“. Daher sei es wahrscheinlich, dass sie „in einer Beziehung zu der Bewegung und ihren Leitern standen, welche ihnen Sicherheit ihrer Habe und Person gewährleistete“, ja womöglich sogar, dass „sie ihre Reichthümer öffneten, um entweder schon die Einleitung der Bewegung oder wenigstens die bereits ausgebrochene Bewegung mit ihren Geldern zu unterstützen“24. Stern entkräftete auch diese Behauptung und verwies auf zahlreiche Übergriffe aufständischer Bauern gegenüber Juden. Ähnlich wie Jahrhunderte zuvor bei den Kreuzzugs- und Pestpogromen hätten Juden in der kritischen Umbruchszeit um 1500 als „Blitzableiter für das Feuer“ in den Köpfen der großen Masse fungiert.25 Eine derartige Deutung dürfte heutzutage eher konsensfähig sein, wenn auch unter zwei Bedingungen. Erstens: Sofern Juden überhaupt in Verbindung mit Reformation und „Bauernkrieg“ gebracht werden; denn seit Sterns Studie aus dem Jahr 1870 wurde diese Frage nicht mehr mit einer eigenen Untersuchung bedacht. Zweitens: Sofern Juden nicht lediglich als Objekte bzw. Betroffene von Handlungen gelten, sondern im Sinne einer „selbstbewussten Untertä22 Mutianus Rufus, zitiert nach Johannes Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters. Zweiter Band, Freiburg 1883, S. 516 (die Rechtschreibung wurde angepasst). 23 Alfred Stern, Die Juden im großen Deutschen Bauernkriege, in: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 8 (1870), H. 1, S. 57–72, hier S. 58 f. 24 Wilhelm Zimmermann, Geschichte des großen Bauernkriegs nach den Urkunden und Augenzeugen. Bd. 2, Stuttgart 1856, S. 36 (Fünftes Buch, Kap. 13). 25 Stern, Juden (wie Anm. 23), S. 71.

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nigkeit“26 als Akteure fungierten und die Spielräume ihrer Lebensbedingungen aktiv mitgestalteten.27 Freilich sind Pauschalurteile ohnehin problematisch und beim gegenwärtigen Forschungsstand verfrüht. Vielmehr erscheint zielführend, die unterschiedlichen Rollen jüdischer Individuen in Bezug auf den Bauernkrieg phänomenologisch zu beschreiben und zu systematisieren. Vor dem Hintergrund der reichsweiten Geschehnisse sollen hierzu zunächst grundsätzliche Überlegungen angestellt und Kategorien abgeleitet werden. In einem zweiten Schritt sind die bereits ermittelten Einzelbefunde zu Thüringen in dieses Schema einzuordnen und zu interpretieren.

3. Grundsätzliche Überlegungen Die für das frühe 16. Jahrhundert spärlich belegte Präsenz von Jüdinnen und Juden in deutschen Landen im Allgemeinen und in Thüringen im Speziellen dürfte nicht der einzige Grund dafür sein, weshalb Zusammenhänge zwischen den bürgerlichen bzw. bäuerlichen Erhebungen und den Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung bislang nicht systematisch untersucht wurden. Sicherlich stellten und stellen Juden eine gewisse Herausforderung für die je nach den politischen Umständen stark variierende Rezeptionsgeschichte des „deutschen Bauernkriegs“ dar.28 Denn wie bereits die Zitate von Historikern aus dem 19. Jahrhundert aufzeigten, wurde die Rolle der Juden im Kontext der Bauernkriege überaus ambivalent gedeutet. Einerseits galten Juden aus Sicht einiger Zeitgenossen als Unterstützer und Finanziers der Bauern- und Bürgeraufstände sowie als Komplizen bei der Veräußerung von erbeuteten Kirchengütern und Kleinodien. Der sogenannte Helle Haufen wurde auf seinem Zug von Neckarsulm nach Gundelsheim „von Juden umschwärmt“, die den Bauern die aus Gottes- und Privathäusern geplünderte Beute abhandelten.29 Für Juden, die mit Pfandleihe, Kramhandel und sonstigen Nischengeschäften jenseits zünftiger Beschränkungen ihr karges Auskommen finden mussten, boten sich hier riskante, aber einträgliche Geschäfte. Das in die Kritik geratene, doch vielerorts noch übliche „Hehlerprivileg“ minimierte zwar das Risiko, erregte aber den Unmut bürgerlicher Kreise. Als prominentes Bei26 Johannes Mordstein, Selbstbewusste Untertänigkeit. Obrigkeit und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen 1637–1806, Epfendorf 2005. 27 Siehe Ulrich Hausmann, Prolegomena zur Analyse und Interpretation obrigkeitlicher Judenpolitik im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Die frühneuzeitlichen Residenzstädte Mainz und Wien als prominente Fallbeispiele, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 26 (2016), H. 2, S. 351–410. 28 Vgl. Vogler, Bauernkrieg (wie Anm. 10), S. 28. 29 Zimmermann, Geschichte, Bd. 2 (wie Anm. 24), S. 42.

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spiel mag der bereits eingangs erwähnte Aufruhr der Zünfte in Frankfurt am Main dienen: In ihren 46 Frankfurter Artikeln, welche sich teilweise an den berühmten „Zwölf Artikeln“ der oberschwäbischen Bauernschaft orientierten, forderten sie u. a. die Abschaffung jenes Hehlerprivilegs und des durch Juden verübten „unleidlichen großen Wuchers“ (Art. 12 u. 25). Gravamina wegen ungebührlicher Zinsen und weiterer vermeintlicher Übervorteilungen sind für nahezu alle Regionen belegt. Insofern sollten sie nicht vorschnell als antijüdische Stereotype abgetan, sondern in einen größeren Kontext gestellt werden. Ein eklatantes Problem des 16. Jahrhunderts, gegen das sich auch die Bauern erhoben, war die zunehmende Monetarisierung und das daraus resultierende Streben nach Geldmitteln, was die auf Ständeordnung und Lehnswesen basierende Gesellschaft strapazieren, ja womöglich sogar in Frage stellen musste. Andererseits zählten Juden zu den maßgeblichen Betroffenen und Opfern der turbulenten Jahre im Vorfeld, während und im Gefolge der Reformation. Schließlich wurden die jüdischen Bewohner bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts aus den meisten Städten insbesondere des süd- und mitteldeutschen Raumes ausgewiesen, also eben aus jenen Regionen, in denen die bäuerlichen Unruhen besonders heftig tobten. Ein regionales Beispiel hierfür ist die Stadt Meiningen, deren Vertreter auf einem in Würzburg abgehaltenen Landtag die „Vertreibung“ der jüdischen Bewohner forderte.30 Manche Bauernbünde wie etwa der sogenannte Bundschuh im Elsass forderten sogar, alle „Juden zu tödten und ihnen ihr Gut zu nehmen“.31 Gängige Parolen wie „Pfaffen und Juden strafen!“ riefen dazu auf, die Kapitalien, die Kleriker und Kaufleute nur auf Kosten der Bauern erlangt hätten, sozusagen wieder den eigentlichen Besitzern zuzuführen und zurückzugeben. Einen nicht geringen Anteil an der damals verbreiteten antijüdischen Stimmung hatten reformatorische Prediger, welche die Bevölkerung gegen alle Antichristen, nach Profit strebende Kaufleute und sogenannte „Fürstendiener“ aufhetzten. Noch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts führten derartige Predigten, angeregt nicht zuletzt durch Luthers Spätschriften, zu Ausweisungen der jüdischen Bevölkerung, so etwa 1588 aus Hannover. Ein bekanntes Beispiel aus Thüringen stellt der „Eisenacher Wucherstreit“ der Jahre 1523 und 1525 dar, in dessen Rahmen der Reformator Jakob Strauß heftige Invektiven gegen Kirchenbesitz, Profitstreben und jüdische „Wucherer“ richtete.32 30 Litt, Juden (wie Anm. 19), S. 75. Vgl. Schwierz, Zeugnisse (wie Anm. 19), S. 175. 31 Heinrich Schreiber, Der Bundschuh zu Lehen im Breisgau, Freiburg im Breisgau 1824, S. 3. 32 Vgl. Gustav Lebrecht Schmidt, Jakob Strauß, der erste evangelische Prediger in Eisenach, Eisenach 1863, S. 16: „Fürwahr es ist nicht eine kleine Schande und Laster, daß wir Christen unter dem armen Herrn Christo so geldsüchtig und unersättlich uns erzeigen, und gröber und auch härter unsern nächsten Menschen beschweren, denn die gottlosen Juden einer dem andern thut.“ Siehe auch Joachim Bauer/Michael Haspel (Hg.), Jakob

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Juden schienen somit den Zeitgenossen „im Bunde mit dem Feinde“ zu stehen. Dieser Vorwurf war doppeldeutig und abhängig vom jeweils eingenommenen Standpunkt. Aus Sicht der aufständischen Bauern verbündeten sich jüdische Kaufleute und privilegierte Schutzjuden als Fürstendiener mit der ihnen verhassten Obrigkeit, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen galt. Aus Sicht der Landesherren sowie der geistlichen und bürgerlichen Eliten wurde vielfach geargwöhnt, dass einzelne Juden als Informanten, Handelspartner und Komplizen fungieren und sich womöglich gar an den aufrührerischen Protesten beteiligen könnten. Gerade christliche Kaufleute versuchten sich mit solchen Vorwürfen ihrer jüdischen Konkurrenten endgültig zu entledigen und deren Geschäftsanteile zu übernehmen. Nach der Verdrängung der Juden aus der lu­ krativen Geldleihe und ihrer Ausweisung aus nahezu allen süd- und mitteldeutschen Städten waren sie auf neue Erwerbsmöglichkeiten angewiesen und sannen – so stand zumindest zu befürchten bzw. konnte glaubhaft dargestellt werden – auf Rache an den bürgerlichen Eliten. Derartige Gerüchte wurden genährt durch Vereinbarungen, die Juden aus Angst vor Plünderungen mit Bauern getroffen hatten. Kein Geringerer als Josel von Rosheim, der politische Repräsentant der deutschen Judenschaft, wagte sich in eine Versammlung der Bauernführer beim Kloster Altdorf und erlangte durch Aushandeln „das Versprechen, dass die Juden geschont werden sollen“. Denn bei „Ausbruch des Bauernkrieges geriethen die Juden zwischen zwei Feuer“,33 nachdem breite Bevölkerungskreise durch reformatorische Prediger und in mehreren Regionen erhobene Ritualmordvorwürfe ohnehin kritisch bis feindlich gegenüber Juden eingestellt waren.34 Bei den bisher reichsweit überlieferten Geschehnissen und Handlungszusammenhängen zeichnen sich als Selbst- bzw. Fremdzuschreibung vier unterschiedliche Verhaltensmuster jüdischer Individuen im Bauernkrieg ab:35 Strauß und der reformatorische Wucherstreit. Die soziale Dimension der Reformation und ihre Wirkungen, Leipzig 2018; Andreas Dietmann, Die Prediger Jakob Strauß und Wolfgang Stein im Bauernkrieg, in: Greiling/Müller/Schirmer (Hg.), Reformation und Bauernkrieg (wie Anm. 13), S. 175–197, hier S. 182–184. 33 Oscar Lehmann, Art. Joselmann von Rosheim, in: Der Israelit 42 (1901), Beilage zu Heft 14 (18.2.1901). Siehe auch Avraham Siluk, Die Juden im politischen System des Alten Reichs. Jüdische Politik und ihre Organisation im Zeitalter der Reichsreform, München 2021, bes. S. 139 f. 34 Siehe etwa Wilhelm Vogt, Die Vorgeschichte des Bauernkrieges (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 20), Halle 1887, S. 26–28. 35 In Anlehnung an Robert Jütte, Ehre und Ehrverlust im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judentum, in: Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff (Hg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 144–165, bes. S. 164 u. Beverly Ann Tlusty, „Seit ir Juden oder Landsknecht?“ Waffenpflicht, Waffenrecht und gesellschaftliche Ausgrenzung in der Frühen Neuzeit, in: Rüdiger Bergien/Ralf Pröve (Hg,), Spießer, Patrioten, Revolutionäre. Militärische Mobilisierung und gesellschaftliche Ordnung in der Neuzeit, Göttingen 2010, S. 325–345.

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1. Juden als Widersacher bzw. Gegner, 2. Juden als Opfer, 3. Juden als Nutznießer und gelegentliche Unterstützer, 4. Juden als verbündete Mitstreiter.36 3.1 Juden als Widersacher bzw. Gegner Bereits Jahrhunderte vor dem „Zeitalter der Hofjuden“ suchten einzelne Juden die Nähe zu Herrscherhöfen. Neben dem unmittelbaren sozioökonomischen Nutzen trugen diese Kontakte auch wesentlich zur Verbesserung der politischen und rechtlichen Stellung der Juden im Reich bei. Privilegierte und in obrigkeitlichen Schutz aufgenommene Juden waren geradezu dazu verpflichtet, den Wünschen und Aufträgen ihrer Herren zu entsprechen. Derartige Beziehungen lassen sich selbst in den Wirren der Bauernkriege nachweisen. 1524 wird in Schleusingen bei Hildburghausen ein jüdischer Arzt im Dienst des Grafen Wilhelms IV. genannt.37 Im gleichen Jahr nahm Graf Günther XXXIX. von Schwarzburg einen namentlich nicht genannten Juden auf sechs Jahre in seinen Schutz zu Frankenhausen auf. Laut Stefan Litt wurde er gewissermaßen in ein Dienstverhältnis aufgenommen, denn er hatte dafür zu sorgen, die Gemahlin des Grafen und das Hofgesinde mit allen Waren ihres Bedarfs zu versorgen, wofür er das Recht erhielt, wie jeder andere Dienstmann ein Hofgewand zu tragen und jegliche Unterstützung zur Erlangung seiner Rechte zu erhalten.38 Ähnlich gelagert ist der Fall des Arztes Moses Staffelsteiner, der seit 1509 am Hof der Markgrafen Georg und Casimir vom Brandenburg-Ansbach wirkte und der spätestens ab 1529 mit einem Schutzbrief in Weimar lebte. Ebenfalls 1525 wurden die Juden der Reichsstadt Nordhausen ohne Nennung eines Grundes nach Erfurt zum Vertreter Kaiser Karls V. geladen. Lippmann aus Sulzfeld geriet 1523 in Schwierigkeiten, da er in Frankfurt beschuldigt wurde, Falschgeld in Umlauf zu bringen.39 Laut eigener Aussage soll er falsche Münzen in „welschen Landen“ beschafft und diese in deutschen Landen ausgegeben haben. Solche vermeintlichen Silbermünzen hat auch Moses zu Wasungen gekauft.40 Der-

36 Weitere Quellenbeispiele wären freilich noch aufzufinden und systematisch auszuwerten, um das Gesamtbild stärker konturieren zu können. 37 In diesen Jahren wurden einige Juden aus Mainz, Frankfurt, Schweinfurt, Schnaittach und Gochsheim nach Schleusingen (Landkreis Hildburghausen) geladen, um zur Klärung einer komplizierten Streitsache im Zusammenhang mit einer jüdischen Ehescheidung beizutragen. Vgl. LATh-StA Meiningen, 4-10-1040: GHA Sektion IV, Nr. 346. 38 LATh-StA Rudolstadt, Copialbuch Nr. 62, fol. 45 b, vgl. Litt, Juden (wie Anm. 19), S. 60. 39 Vgl. Litt, Juden (wie Anm. 19), S. 112. An dieser Stelle sei dem verdienten Landeshistoriker und pensionierten Archivdirektor Johannes Mötsch herzlich gedankt für wertvolle Hinweise zur Geschichte der Juden in der Grafschaft Henneberg. 40 Vgl. Litt, Juden (wie Anm. 19), S. 121.

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artige Meldungen und Gerüchte reichten vielfach aus, um die einfache Bevölkerung gegen die Juden als „Betrüger“ und „Fürstendiener“ aufzubringen. 3.2 Juden als Opfer Besonders wirkmächtig ist das Bild von Juden als Opfer von Gewaltakten und bevorzugte Zielgruppe von Plünderungen, stellten sie doch bereits in friedlichen Zeiten Ziele obrigkeitlicher Politik und Ausbeutungsobjekte dar.41 Freilich konnten sich einzelne privilegierte Schutzjuden durch die Einschaltung mächtiger Personen oder die Inanspruchnahme von Gerichten als Akteure erfolgreich gegen Anfeindungen zur Wehr setzen. Dennoch gehörten Juden insbesondere zu Kriegszeiten „stets zu den gefährdeten Minderheiten“.42 Auch in Thüringen kam es zu einzelnen Übergriffen auf Juden in den Wirren des Bauernkrieges. Für Räuber, marodierende Landsknechte sowie für ausgehungerte Bauern stellten jüdische wie christliche Kaufleute schließlich lohnende Ziele dar. Die Hemmschwelle gegenüber Juden war sicherlich niedriger als gegenüber Christen. Stereotype und Antipathien taten ihr Übriges. So musste Jakob zu Wasungen während der Unruhen im Bauernkrieg 1525 die Plünderung seines Besitzes, insbesondere von Kleinodien, durch Mitbürger und Hintersassen erleiden. Anlass für Agitationen und Schädigungen bot mitunter auch das Motiv, jüdische Konkurrenten schwächen oder ausschalten zu können. Für die Stadt Mainz und den Rheingau ist belegt, dass die Aufständischen „eine feindselige Haltung gegenüber den Juden“ vorwiesen und sie durch Beschlüsse aus dem Geschäftsleben zu drängen versuchten.43 Der reiche Hammerschmied Hans Dobereiner aus Schmalkalden prahlte, dass er sich nur deshalb zum Aufruhr auf die Seite der Bauern geschlagen habe, „um Juden und Pfaffen schatzen zu helfen“.44 Eine im Stadtarchiv Wasungen in Kopie überlieferte Stadtrechnung aus dem Jahr 1525 nennt den Betrag von 8 ½ Gulden für das Beschlagen von Pferden, „als man den bawerischen Heubtleut des Juden [Gut] und Clostergut geyn Schmalkalden gefuhrt hat“.45 Vermutlich wurde der Besitz des mindestens seit 1518 zu

41 Siehe etwa Hausmann, Prolegomena (wie Anm. 27), S. 389 f. u. Siluk, Juden (wie Anm. 33), S. 52–61. 42 Johannes Mötsch, Der Aufstand im südlichen Thüringen, in: Vogler (Hg.), Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald (wie Anm. 9), S. 113–134, hier S. 126. 43 Wolf-Heino Struck, Der Bauernkrieg am Mittelrhein und in Hessen. Darstellung und Quellen, Wiesbaden 1975, S. 69 f. Vgl. Rammstedt, Stadtunruhen (wie Anm. 1), S. 262. 44 Zitiert nach Johannes Wierssing, Schmalkalden. Eine kleine Stadt mit großer Geschichte, Wetzlar 2013, S. 184. 45 StadtA Wasungen, Bestand vor 1945, Signatur 9/93/1. Vgl. Wilhelm Germann, Aus Wasungens vergangenen Tagen. Urkunden des Wilhelmiter-Klosters Wasungen und der incorporirten Pfarrei, Meiningen 1890, S. 69.

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Wasungen lebenden Juden Jakob durch die Aufständischen geplündert.46 Die Raubzüge und Zerstörungswut schreckten nicht einmal davor zurück, obrigkeitliche Besitzungen heimzusuchen. Am 12. Juli 1525 schrieb Graf Wilhelm IV. von Henneberg-Schleusingen an Friedrich von Schwarzenberg, dass seine Untertanen in seinem Amt Mainberg bestreiten würden, das gräfliche Haus zu Mainberg, in dem ein würzburgischer Schutzjude wohnte, geplündert und demoliert zu haben.47 In Sulzfeld mussten die Aufständischen im Spätsommer 1525 sogar das Wohnhaus eines Juden wieder aufbauen, nachdem sie es niedergerissen hatten. Das hierfür benötigte Baumaterial gewährte ihnen Äbtissin Dorothea von St. Johanniszelle unter Wildberg.48 Im Gefolge der Bauernaufstände war das Leben auf dem Land gefährlicher geworden, weshalb viele Menschen versuchten, kurzzeitig in eine benachbarte Stadt oder in andere Regionen zu fliehen. Im Hauptstaatsarchiv Weimar ist eine Supplik des wegen des Bauernkriegs geflohenen Juden Salomon überliefert, worin er bittet, nicht unter seinen Herrn Hans von Milz nach Zimmerau in Franken zurückkehren zu müssen,49 sondern sich wie bereits früher seine Vorfahren und Eltern in kursächsischen Landen niederlassen zu dürfen.50 Selbst nach der Beilegung der Unruhen blieben die Rahmenbedingungen jüdischer Existenz auf dem Gebiet des heutigen Thüringens prekär. So befahl Kurfürst Johann Friedrich zu Sachsen im Jahr 1536 die Ausweisung der Juden aus seinen Ländern.51 Der Jude Abraham zu Berka, zwischen Eisenach und Bebra im Grenzgebiet gelegen, beschwerte sich daraufhin bei Landgraf Philipp von Hessen, dass er aufgrund dieses Mandats binnen 14 Tagen das Land verlassen müsse, obwohl er bereits seit 30 Jahren dort lebe und immer ehrlich und ohne Wucher versucht habe, seine 13 Kinder zu ernähren. Da das Amt Breitenbach zur Hälfte dem hessischen Landgraf unterstellt war, durfte Abraham dort wohnen bleiben. Drei Jahre später wurde allerdings er oder ein anderer Jude aus Berka auf der Landstraße nach Hausbreitenbach von Bauern gefangen genommen, da er kein sächsisches Geleit vorweisen konnte. Der „daraufhin benachrichtigte hessische Vogt in Hausbreitenbach“ ließ indes „den Juden frei und die Bauern einsperren“, was eine Streitigkeit über die

46 Vgl. Germann, Urkunden (wie Anm. 45), S. 66–70. 47 Otto Merx/Günther Franz (Hg.), Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland. Bd. 1, Leipzig 1934 (ND Aalen 1964), S. 602 (Nr. 969). 48 Merx/Franz, Akten (wie Anm. 47), S. 638 f. (Nr. 1024). 49 Der Ort ist direkt hinter der heutigen Landesgrenze bei Sulzdorf an der Lederhecke gelegen. 50 LATh-HStA Weimar, 6-11-0016: Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. N. (Religionswesen), Nr. 984. 51 Vgl. Andreas Reinke, Eine Bestandsübersicht (Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer, 1), München 1996, S. 397 (5559 Sekt. IV F Nr. 352).

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Kompetenzen in diesem Amt auslöste und zu einem Austausch über die in Frage gestellte Duldung von Schutzjuden in der Folgezeit führte.52 3.3 Juden als Nutznießer und gelegentliche Unterstützer Unruhen und kriegerische Aktivitäten stellen eine ernste Belastung für jegliche Handelstätigkeit in den betroffenen Gebieten dar. Die Auseinandersetzungen des Bauernkriegs trafen die meisten Juden in einer generell schwierigen sozio­ ökonomischen Lage, da sie sich im Zuge der wirtschaftlichen Veränderungen seit dem 15. Jahrhundert oftmals neue Erwerbsmöglichkeiten erschließen mussten. Gelegenheitsgeschäfte erschienen daher sicherlich willkommen, der Verkauf von fragwürdigen Wertsachen oder Hehlerware war riskant, aber lukrativ. Dass Juden im großen Stil als Nutznießer und gelegentliche Unterstützer aufständischer Bürger und Bauern fungiert hätten, ist bislang für Thüringen nicht überliefert. Archivalische Belege für den Verkauf von Gegenständen, die Juden von plündernden Bauern erhalten haben, sind bisher nicht ermittelt.53 Es ist allerdings stark davon auszugehen, dass es zu solchen – ob geplanten oder zufälligen – fallbezogenen Komplizenschaften und Zweckbündnissen gekommen ist. Am 25. Juni 1525 befahl Graf Heinrich von Hohnstein dem Rat der Reichsstadt Nordhausen, ihrem Juden anzuordnen, dass er den gräflichen Untertan Hans Polde entschädige. Denn der Nordhäuser Jude hatte ihm ein Pferd verkauft, was laut seiner Beteuerung nicht gestohlen sei. Allerdings stellte sich kurze Zeit später heraus, dass das Pferd bei den Unruhen („lermen“) zu Gernrode bei Quedlinburg entwendet worden war.54 Der Jude Freytag, der in dem an der Grenze zu Hessen im Eichsfeld liegenden Dorf Wahlhausen lebte, wurde 1523 beschuldigt, von zwei Dieben gestohlene Gegenstände gekauft zu haben. Jakob von Wasungen wurde 1525 eine gestohlene Perlenkette verpfändet, deren Herausgabe er unter Berufung auf das sogenannte Hehlerprivileg nur gegen Kostenerstattung zustimmte. Im Staatsarchiv Meiningen befindet sich ein Briefwechsel zwischen Georg von Thüna, dem letzten Abt der Benediktinerabtei Saalfeld, und Graf Wilhelm IV. von Henneberg, wegen einiger gestohlener Kelche, die vom Juden Hitzig zu

52 Litt, Juden (wie Anm. 19), S. 48. Siehe Uta Löwenstein (Hg.), Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Marburg 1267–1600. 3 Bde., Wiesbaden 1989, Nr. 1097 u. 1247. 53 Im Jahr 1523 wurden Untersuchungen gegen Margarete Koch und ihre der Hehlerei verdächtige Mutter aus Heldburg angestellt, da sie mehrfach Diebstahl begangen und Diebesgut an einen Juden weiterverkauft hatten. Vgl. LATh-StA Meiningen, 4-11-2300: Amtsarchiv Heldburg, Nr. 1544. 54 Walther P. Fuchs/Günther Franz (Hg.), Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland. Bd. 2, Jena 1942 (ND Aalen 1964), S. 505 (Nr. 1704). Im Mai 1525 rotten sich die Bauern von Gernrode zusammen, um das dortige Stift zu plündern.

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Mainberg angekauft wurden.55 Gemäß einem Eintrag in einer Wasunger Stadtrechnung des Jahres 1525 erhielt offenbar ein Jude Geld dafür, dass er Bauern Büchsensteine, also steinerne Kugeln, für ihre Hakenbüchsen (Arkebusen) besorgt hatte.56 Derartige Kleinstlieferungen, Botengänge oder auch der ‚Verkauf‘ von Informationen etwa über die sich formierenden Truppen zur Niederschlagung der Unruhen dürften gefragte Dienstleistungen gewesen sein. Finanzielle Unterstützungen aufständischer Bauern seitens einzelner Juden sind bislang für Thüringen nicht dokumentiert und in Anbetracht der sozioökonomischen Verhältnisse auch nicht sehr wahrscheinlich. Häufiger kam dagegen vor, dass sich Juden aus Angst vor Übergriffen absicherten, indem sie Zahlungen leisteten. Durchaus vergleichbar zu den Verhandlungen Josels von Rosheim erhielt ein in der Stadt Römhild lebender Jude im Jahr 1525 Geleit von den aufständischen Bauern.57 Seitdem das Judenregal an die Territorialherren übergegangen war, gehörte es zu den Rahmenbedingungen jüdischen Lebens, dass Einzelpersonen Schutz- oder Geleitgeld zahlten, um sicher reisen oder sich unbehelligt an einem Ort aufhalten zu können. Die Wirren des Bauernkrieges führten mancherorts zu einem Kontrollverlust der Landesherren, so dass sie nicht mehr die Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung und damit auch nicht die Einhaltung der Geleitsrechte gewährleisten konnten. 3.4 Juden als verbündete Mitstreiter Dass sich Juden als verbündete Mitstreiter oder gar Aufständische an den Unruhen im Bauernkrieg beteiligt haben könnten, erscheint vor dem Hintergrund der bisherigen Rezeptionsgeschichte als geradezu unvorstellbar revolutionär. Dieses Verhaltensmuster ist auch im Zusammenhang mit anderen frühneuzeitlichen Ereignissen zweifelsohne besonders strittig und naturgemäß sehr dürftig archivalisch dokumentiert. Indizien hierfür sind Bestimmungen einzelner Bauernverbände wie etwa des Bildhäuser Haufens, dem sich auch Bauern aus dem heutigen Thüringen angeschlossen hatten und der zusammen mit Aufständischen aus Meiningen im Juni 1525 durch eine von Kurfürst Johann von Sachsen angeführte Streitmacht geschlagen wurde. Unter seinen Bestimmungen findet sich folgender Passus: „Wenn Juden in die Versammlung des Haufens begehren, so ist es des ganzen Lagers ernste Meinung, sind diese ohne Vorbehalte und aus freien Stücken aufzunehmen. Sollten den Juden die o[ben] a[ngeführten] Artikel nicht gefallen, so ist es unsere ernste Meinung, muss von den Juden Abstand genommen werden bis zum Ausgang unseres Vorhabens. Es soll jedem Schultheiß und jedem Dorfmeister geschrieben werden, dass 55 LATh-StA Meinungen, 4-10-1010: GHA Sektion I, Nr. 3774. 56 StadtA Wasungen, Bestand vor 1945 Signatur 9/93/1. Vgl. Germann, Urkunden (wie Anm. 45), S. 68. 57 Schwierz, Zeugnisse (wie Anm. 19), S. 208.

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die Juden […] in ihren Häusern verbleiben dürfen unter der Bedingung, dass sie keine Verbindung mit anderen Juden, Edelleuten oder sonstigen haben dürften. Weiterhin dürften sie aus ihren Häusern oder von ihren Gütern nichts beiseiteschaffen, sei es wenig oder viel. Wer aber von ihnen bei der Übertretung dieser Artikel festgestellt wird, der soll in das Lager abgeführt werden mit alldem, was man bei ihm vorgefunden hat.“58

Die Hauptleute und der verordnete Rat des Lagers Bildhausen hatte bereits am 2. Mai 1525 an Graf Hermann geschrieben, auf dessen Anbringen Graf Bert­ hold von Henneberg „drei Priester uf dem Stift vergleitet“ sowie Binis zu Römhild und anderen dem Graf „zugewanten Juden zu Hein [=Haina] und Schwartza gleit zugesend[e]t“ zu haben.59 Einen überaus spannenden Einblick in die damaligen Verhältnisse bietet der bereits erwähnte Jude Salomon, der aus Zimmerau nach Thüringen geflohen war und 1526 um Niederlassung im Amt Heldburg oder andernorts in kursächsischen Landen ersuchte. Um sein Gesuch zu rechtfertigen und die Gunst des Kurfürsten von Sachsen zu gewinnen, betont er, sich stets „ehrlich, redtlich getrew und fromb“ verhalten zu haben, was eine gängige Redewendung in vergleichbaren Bittschriften darstellt. Doch darüber hinaus führt Salomon als begünstigendes Argument an, dass er sich „auch der peüerischen Auffrühr gantzs entschlagenn“ habe und mit der bäuerischen „Emborung und Auffruer in nichtte verwandt“ gewesen sei.60 So lag es offensichtlich nicht jenseits der Vorstellungskraft, ja vielmehr war – aus Sicht sowohl des Verfassers als auch des Empfängers der Bittschrift – eher davon auszugehen, dass Juden im Bunde mit den aufrührerischen Bauern standen. Gerade auf dem Land lebenden jüdischen Händlern blieb ja mitunter gar nichts anderes übrig, als sich mit den erhebenden Bauern zu arrangieren und zumindest gelegentlich gemeinsame Sache mit ihnen zu machen und auf dubiose Geschäfte einzugehen. Schließlich stellten die weiteren Handlungsoptionen keine lohnenden Alternativen dar. Bei der damals unter Handwerkern verbreiteten aufgeheizten Stimmung gegen Juden erschien die Flucht in eine Stadt mit deutlich größeren Risiken verbunden. Zudem hätten sie ihre Familien in diesen unruhigen Zeiten nicht guten Gewissens alleine auf dem Land zurücklassen können. In seiner Supplik versprach Salomon, im Falle einer Aufnahme „o[h]ne allen Wucher“ mit Kaufmannswaren und „ertzeney“ 58 Bestimmungen der Gemeinen Versammlung zu Bildhausen vom 6. Mai 1525, zitiert nach Lorenz Fries, Die Geschichte des Bauern-Krieges in Ostfranken. Bd. 1, Würzburg 1883, S. 369 („Wie die Bildhauser baurn der edelleut, Juden, getraids und anderer sachen halben ain ordnung furgenommen und im ring beschlossen haben“, der zitierte Text wurde an die heutige Schriftsprache angepasst). Siehe Benjamin Heidenreich, Ein Ereignis ohne Namen? Zu den Vorstellungen des „Bauernkriegs“ von 1525 in den Schriften der „Aufständischen“ und in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, Berlin 2019, S. 111–120. 59 Merx/Franz, Akten (wie Anm. 47), S. 392 f. (Nr. 554). 60 LATh-HStA Weimar, 6-11-0016: Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. N. (Religionswesen), Nr. 984, fol. 1r.

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Ulrich Hausmann

zu handeln, wie er es bereits am früheren Wohnort getan hatte. Vermutlich wegen seiner besonderen Expertise mit Arzneimitteln bestand Hans von Milz darauf, ihn nicht freizustellen („urlauben“), sondern „widerumb zw sein auffruerischen Untterthan zw dringen“.61

4. Zusammenfassung und Ausblick Jüdinnen und Juden konnten – das legen die ersten Erkenntnisse nahe – durch die Vorgänge des großen Bauernkriegs in ähnlich fundamentaler Weise betroffen sein wie ihre christlichen Zeitgenossen. Auch ihr Leben wurde durch die politischen und militärischen Kampagnen der Zeit entscheidend geprägt. Zugleich jedoch waren sie durch den Krieg, zu dessen Zeitzeugen sie zwangsläufig wurden, als ökonomisch, sozial und politisch abgegrenzte Minderheit in besonderer Weise beeinträchtigt: Ihre Erfahrungen sind somit zweifelsohne ‚typisch‘ für die Zeitumstände und zugleich spezieller Natur, weshalb sie geeignet sind, der landes- und regionalgeschichtlichen Untersuchung des Bauernkrieges, nicht nur in Thüringen, eine wichtige Komponente hinzuzufügen. Keinesfalls begegnen uns Juden dabei als homogene Gruppe, sondern in unterschiedlichen Kontexten jüdischen Lebens, in verschiedenen jeweils sehr speziellen Beziehungslagen zu anderen gesellschaftlichen Gruppen: besonders zu Bürgern, Bauern und Adeligen. Auf der Bühne des Bauernkrieges erscheinen sie dabei als Widersacher, Opfer, Komplizen und Mitstreiter, und dies einerseits als Akteure und andererseits als Projektionsfläche. Insofern waren Juden auch zur Zeit des Bauernkriegs nicht nur Betroffene der um sie herum eintretenden Entwicklungen, sondern sie versuchten proaktiv Bedrohungen abzuwehren und ihre Lage zu verbessern. Allen bisherigen Erkenntnissen nach litten sie mehrheitlich unter den Wirren, welche das erste Viertel des 16. Jahrhunderts bestimmten. In Ausnahmefällen konnten bzw. mussten sie sich an die veränderten Lebensbedingungen anpassen und zumindest gelegentlich ‚gemeinsame Sache‘ mit den Aufständischen machen. Auf diese Weise standen Juden – abhängig von der jeweiligen Perspektive und Zuschreibung – mitunter im Bunde mit dem Feinde, was weitere Vorwürfe ihnen gegenüber nach sich zog und antijüdische Stereotype verfestigte. Der Bauernkrieg spielte definitiv eine einschneidende Rolle für die jüdische Bevölkerung der betroffenen Gebiete. Inwiefern Juden ihrerseits – rein struktur- und politikgeschichtlich betrachtet – einen nennenswerten Einfluss auf die Ereignisse der Bauernaufstände ausübten, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht ermessen. Hierzu bedarf es noch weiterer Detailstudien, zu denen die vorgestellten Überlegungen vielseitige Anknüpfungspunkte bieten sollten. 61 Ebd., fol. 1v.

K ai Lehmann

Um Abschaffung der Juden angesucht – Judenfeindlichkeit während des Dreißigjährigen Krieges in den Gebieten südlich des Thüringer Waldes Eine regional andere Einführung

1612, die freie Reichsstadt Frankfurt am Main. Schon längere Zeit gärte es in der Bürgerschaft. Immer lauter wurden Stimmen, die dem patrizisch dominierten Rat Misswirtschaft vorwarfen und größere politische Einflussnahme der Zünfte forderten. Die Stimmung innerhalb der Bürgerschaft kulminierte immer mehr. An die Spitze der Koalition aus Vertretern der opponierenden Frankfurter Zünfte stellte sich der Krämer und Lebkuchenbäcker Vinzenz Fettmilch. Unter anderem wurde ein größeres Mitspracherecht im patrizisch dominierten Frankfurter Rat gefordert sowie eine Senkung des angeblichen Wucherzinses der Frankfurter Juden von zwölf auf sechs Prozent. Um die beginnende Aufstandsbewegung wieder in den Griff zu bekommen, willigte der Rat in den Kompromiss ein, das Gremium zu erweitern und eine zünftische Kommission einzurichten, die auch das Recht besaß, die reichsstädtischen Rechnungsbücher zu überprüfen. Bei dieser Prüfung wurde festgestellt, dass die Stadt hohe Schulden angehäuft hatte und dass das Schutzgeld der Juden nicht in die Stadtkasse geflossen, sondern unter den Ratsmitgliedern aufgeteilt worden war. Jetzt entlud sich die aggressiv angeheizte Stimmung endgültig. Im Mai 1613 wurde der Frankfurter Römer gestürmt; der alte Rat für abgesetzt erklärt. Der Aufstand nahm in der Folge eine judenfeindliche Wendung. Nicht zuletzt auch deswegen, weil sich Kaufleute, Handwerksmeister und andere Schuldner ihrer Gläubiger mosaischen Glaubens zu entledigen hofften. Am 22. August 1613 stürmte der nach vermeintlicher Gerechtigkeit gellende Mob die Frankfurter Judengasse; ein abgeschlossenes Ghetto am östlichen Stadtrand, welches von Mauern umgeben und durch drei Tore zugänglich war. Tote waren zu beklagen und Sachschäden im Wert von 170.000 Gulden. Am nächsten Tag erzwangen Fettmilch und seine Anhänger die Ausweisung der Juden aus der Stadt. Die meisten suchten in Hanau oder Höchst Schutz. Mit dem Aufstand und dem Sturm auf das Judenviertel war Fettmilch allerdings zu weit gegangen; über ihn wurde die Reichsacht verhängt. Die Exekution der Acht und zugleich Niederschlagung des Aufstandes wurde Kurmainz und

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Hessen-Kassel übertragen. Fettmilch und sieben weitere Rädelsführer enthauptete man schließlich und mit einem kaiserlichen Mandat wurde im August 1614 die Wiedereinsetzung der vertriebenen Juden geboten. In einer feierlichen Prozession wurde die Judenschaft wieder in die Judengasse zurückgeführt. Obwohl sie die eigentlichen Opfer waren, wurden die Frankfurter Juden Restriktionen unterworfen. Eine versprochene Entschädigung aus der Stadtkasse erhielten sie nicht. Die Zahl der in Frankfurt lebenden jüdischen Familien sollte auf 500 begrenzt werden, jährlich durften nur maximal zwölf jüdische Paare heiraten. Wirtschaftlich wurden die Juden weitgehend den christlichen Beisassen gleichgestellt; wie diese durften sie keine offenen Läden halten, keinen Kleinhandel in der Stadt betreiben, keine Geschäftsgemeinschaft mit Bürgern eingehen und keinen Grundbesitz erwerben; alles Einschränkungen, deren Wurzeln weit ins Mittelalter zurückreichten. Neu im städtischen Recht war, dass den Juden nun der Großhandel ausdrücklich gestattet war, etwa der mit Pfandgütern wie Korn, Wein und Spezereien oder der Fernhandel mit Tuch, Seide und Textilien. Der Aufstand der Frankfurter Zünfte ging als der „Fettmilch-Aufstand“ oder aber auch als die „Frankfurter Händel“ in die Geschichte ein.1 22 Jahre später war erneut von den „Frankfurter Händeln“ die Rede. Allerdings im Zusammenhang mit Ereignissen in einer Stadt, die rund 180 Kilometer nordöstlich der Freien Reichsstadt anzusiedeln ist. Im September des Jahres 1636 wandte sich Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt an seine Räte und Beamte in Schmalkalden: es bestünde die ernsthafte Gefahr, dass aus dem in der Stadt am Südhang des Thüringer Waldes immer mehr Überhand nehmenden Judenhass „Frankfurter Händel“ entstehen könnten, was unbedingt unterbunden werden müsse.2

1

2

Vgl. ausführlich zum sogenannten „Fettmilch-Aufstand“: Christopher Friedrichs, Politics or Pogrom? The Fettmilch Uprising in German and Jewish History, in: Central European History 19 (1986), S. 186–228; Rainer Koch, 1612–1616. Der Fettmilchaufstand. Sozialer Sprengstoff in der Bürgerschaft, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 63 (1997), S. 59–79 sowie Heidi Stern, Die Vertreibung der Frankfurter und Wormser Juden im frühen 17. Jahrhundert aus der Sicht des Zeitzeugen Nahman Puch. Edition und Kommentar eines jiddischen Liedes, in: Naharaim. Zeitschrift für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte 3,1 (2009), S. 1–53. Vgl. HessStA Marburg, Bestand 17 e Schmalkalden, Nr. 458, ohne Blattangabe: Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt an seine Räte und Beamte in Schmalkalden vom 18.09.1636.

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1. Überblick über die territorialen Verhältnisse und die Entwicklung der jüdischen Gemeinden südlich des Thüringer Waldes bis in die 1620er Jahre Dominierendes herrschaftliches Gebilde südlich des Thüringer Waldes war die gefürstete Grafschaft Henneberg-Schleusingen, die im 16. Jahrhundert die Majorität des Territoriums einnahm. Die an die Grafschaft im Südosten angrenzenden Gebiete um Hildburghausen, Eisfeld und Heldburg gehörten zum ernestinischen Herzogshaus. Daneben bildete die Herrschaft Schmalkalden mit der gleichnamigen und einwohnerreichsten Stadt Südthüringens sowie etwa 50 Dörfern und Höfen einen größeren landesherrlichen Bezirk, der bis 1583 einem Kondominat zwischen den Henneberger Grafen und den Landgrafen von Hessen unterworfen war und dann in den alleinigen Besitz der Landgrafen von Hessen-Kassel überging (unterbrochen von einer zwischen 1626 und 1646 währenden Phase der Pfandherrschaft von Hessen-Darmstadt).3 In der gefürsteten Grafschaft Henneberg-Schleusingen hatten im Jahr 1552 die beiden gemeinsam regierenden Grafen Wilhelm IV. und Georg Ernst – Vater und Sohn – den kollektiven Schutzbrief für die jüdischen Familien in ihrem Hoheitsbereich zwar verlängert, stießen mit dieser Maßnahme aber auf den breiten Protest der hennebergischen Landstände. Diese verlangten vom Grafenhaus unverhohlen und wie es andere Reichsstände bereits getan hatten, die Juden auszuweisen. Angeblich hätten die Untertanen von den Juden nur Unbill, Beschwernisse und andere Widrigkeiten zu erdulden. In der Tat erließ das Grafenhaus am 21. Juni 1555 eine Ausweisungsverfügung und kündigte damit den Schutz der Juden auf. Aus christlichen Ursachen sollten die jüdischen Familien die Grafschaft verlassen, in der etwa zehn Jahre zuvor begonnen wurde, die Reformation einzuführen. Dennoch wurde gräflicherseits acht Tage später ein neuerlicher Schutzbrief ausgestellt, der allerdings nur die ungewöhnlich kurze Gültigkeitsdauer von einem Jahr auswies. Mit einer großen Wahrscheinlichkeit verbarg sich hinter dieser diametralen Vorgehensweise eine Intervention der hennebergischen Judenschaft, die sich diese Frist zur Regelung ihrer Geschäfte und dem Verkauf ihrer Häuser ausgebeten haben dürfte. Nach der Jahresfrist waren dann aber alle Juden gezwungen, die Grafschaft zu verlassen.4 Als Grund und Motivation der Schutzaufkündigung und der Ausweisung muss neben der 1555 mit der Generalvisitation abgeschlossenen Einführung der Reformation und ihrem damaligen teilweise antijüdischem Gedankengut sowie dem Druck der Landstände, vor allem der mit dem sächsisch-ernestinischen 3 4

Vgl. Kai Lehmann, Die Einführung der Reformation (Beiträge zur Reformationsgeschichte in Thüringen, 8), Jena 2016, S. 6 f. Vgl. Stefan Litt, Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit (1520–1650) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. KR, 11), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 159 f.

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Herzogshaus geschlossene Erbverbrüderungsvertrag von Kahla aus dem Jahr 1554, gesehen werden. Dieser nahm den finanziellen Druck aus dem kurz vor der Explosion stehenden hennebergischen Schuldenkessel. Die Erbverbrüderung von Kahla sah vor, dass im Fall des Aussterbens der männlichen Linie des Hauses Henneberg-Schleusingen Sachsen die Anwartschaft auf das Territorium der Grafschaft erhalten sollten. Im Gegenzug übernahmen sie das Gros des ohnehin immensen Schuldenbergs der hennebergischen Grafen. Damit mussten Wilhelm IV. und sein Sohn Georg Ernst nicht mehr so verzweifelt jede noch so kleine geldwerte Einnahmequelle suchen, um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Die Erbverbrüderung von Kahla hatte die Motivation zur Ausweisung der Juden aus der Grafschaft Henneberg in einem nicht unerheblichen Teil monetär beeinflusst, weil man die Schutzgeld zahlenden Juden und deren Finanzaufkommen nicht mehr benötigte.5 Die ohnehin nicht allzu vielen jüdischen Familien in Meiningen, Schleusingen, Suhl, Frauenbreitungen, Obermaßfeld oder Wasungen verließen nach 1555/56 die hennebergischen Gebiete.6 1583 starb das Henneberger Grafenhaus tatsächlich im Mannesstamm aus; beide sächsisch-wettinischen Linien der Ernestiner und Albertiner erhoben Erbansprüche, die zunächst aber nicht geklärt werden konnten. Deswegen wurde eine gemeinsame wettinische Regierung in Meiningen installiert, von wo aus die hennebergischen Lande bis 1660 verwaltet wurden (erst dann erfolgte eine staatliche Aufteilung des territorialen Gebildes).7 Einer Neuansiedlung von Juden waren diese dynastischen Vorgänge ohnehin nicht förderlich, hatte doch der damalige ernestinische Kurfürst Johann Friedrich bereits 1536 die Ausweisung der Juden verfügt, 1543 sogar deren Durchzug durch die ernestinischen Lande verboten.8 Erst in der späteren zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann eine langsame und vereinzelte Ansiedlung von Juden im Henneberger Land.9 Da für den „thüringischen“ Teil des Herzogtums Sachsen-Coburg keine adäquaten Aussagen über jüdisches Leben vor und während des Dreißigjährigen 5

6 7 8 9

Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 160 f. sowie zum Erbverbrüderungsvertrag von Kahla: Kai Lehmann, Die Plünderung der gefürsteten Grafschaft Henneberg im Jahr 1554 (Sonderveröffentlichungen des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins, 20), Hildburghausen 2005, S. 173–175 sowie Lehmann, Einführung der Reformation (wie Anm. 3), S. 49 f., 58. Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 75 f. (Meiningen), S. 91–93 (Schleusingen), S. 111 f. (Suhl), S. 61 f. (Frauenbreitungen), S. 90 (Obermaßfeld) und S. 121 (Wasungen). Vgl. ausführlich dazu: Ulrich Hess, Die Verwaltung der gefürsteten Grafschaft Henneberg 1584–1660 (Sonderveröffentlichung des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins, 32), Leipzig/Hildburghausen 2018, S. 27–37. Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 156–158. Ebd., S. 75 f. (Meiningen), S. 91–93 (Schleusingen), S. 111 f. (Suhl), S. 61 f. und S. 121 (Wasungen).

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Krieges möglich sind, bleibt folglich noch die Herrschaft Schmalkalden. Für die Stadt selbst finden sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts spärliche Belege für die Anwesenheit von einzelnen jüdischen Familien. So etwa sind in den Stadtrechnungen10 für die Jahre 1521 und 1522 sowie 1534 zunächst ein Jude Jacob und dann ein Abraham nachweisbar; beide als einzige mosaische Familienvorstände im Ort.11 In den Dörfern der Herrschaft Schmalkalden kann die Existenz von jüdischen Familien für Brotterode und Barchfeld belegt werden.12 In letztgenanntem Ort sollte sich im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eine der größten jüdischen Landgemeinden auf dem Gebiet Thüringens etablieren.13 Aus den nur wenig „sprudelnden“ Quellen ist zu entnehmen, dass vermutlich ab 1570 rund vier Dekaden keine jüdischen Familien in der Stadt Schmalkalden lebten, obwohl einzelne Juden die Stadt aufgesucht zu haben scheinen. Die Rentmeister vermerkten für erhaltene Zeitabschnitte in den Ämterrechnungen ausdrücklich, dass keine Judenschutzgelder eingenommen wurden.14 Ab 1611 sollte sich das jüdische Leben in Schmalkalden aber grundsätzlich wandeln: Landgraf Moritz von Hessen-Kassel – die Geschichte hat ihm den Beinamen „der Gelehrte“ gegeben – gestattete in diesem Jahr den ersten jüdischen Familien den Zuzug nach Schmalkalden: Zunächst Isaak Samuel von Felsberg, südlich von Kassel, und Samuel von Barchfeld, aus dem westlichsten Zipfel der Herrschaft Schmalkalden.15 Auch wenn es bereits zu dieser Zeit Bestrebungen seitens des Rates gab, den Zuzug weiterer Juden, vor allem aus Fulda, zu unterbinden – 1613 etwa untersagte der Rat den Juden bei Leibesstraf […] keinen von Fulda anzunehmen – setzte eine „für Thüringen beispiellose Entwicklung der jüdischen Bevölkerung“ ein.16 Bis zum Jahr 1622 erhöhte sich die Zahl bereits auf acht jüdischen Familien, in denen insgesamt 40 Menschen lebten. Der Zuzug der Familien erfolgte erneut aus Barchfeld, aber auch aus Prag und Mühlhausen.17

10 Diese sind für das 16. Jahrhundert nur lückenhaft erhalten. 11 Vgl. StKA Schmalkalden, B II/1, 46 (Stadtrechnung von 1521), 47 (Stadtrechnung von 1522) sowie 49 (Stadtrechnung von 1534). 12 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 45–47 (Barchfeld) sowie S. 51–53 (Brotterode). 13 Vgl. Klaus Schmidt, Leben und Schicksal der jüdischen Landgemeinde Barchfeld/Werra, Petersberg 2021. 14 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 95. 15 Ebd., S. 96 sowie Carl Plaut, Die jüdische Gemeinde Schmalkaldens, in: Heimat-Kalender für den Kreis Herrschaft Schmalkalden auf das Jahr 1930, S. 31 sowie Johann Conrad Geisthirt, Historia Schmalcaldica oder Historische Beschreibung der Herrschaft Schmalkalden […] von ao. 1075 bis 1734 […], Nachdruck der Veröffentlichungen der Zeitschrift des Vereins für Hennebergische Geschichte und Landeskunde zu Schmalkalden von 1881/1889, Schmalkalden 1992, Buch III, S. 16. 16 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 96. Dort auch das zeitgenössische Zitat von 1613. Original in: StKA Schmalkalden, B IV 7, Bl. 95. 17 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 96 f.

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Abb. 1: Auszug aus der Schmalkalder Stadtrechnung von 1639 die jüdischen Steuerzahler betreffend

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Im selben Jahr 1622 wurde durch Isaak Samuel auch eine Synagoge erbaut, in einem Hofe und Winkel der Judengasse […] ein kleiner niedriger Bau.18 Ob an der Stelle des Synagogenneubaus möglicherweise ein mittelalterlicher Vorgängerbau gestanden hatte, kann nicht geklärt werden, erscheint aber aufgrund eines nur vier Jahre zuvor erlassenen landgräflichen Kammeral-Reskripts vom 22. Juni 1618 durchaus wahrscheinlich. Dort heißt es u. a. […] dass man keinen Synagogen wo zuvor keine gewesen, de novo aufbauen oder gestatten soll, als werdet ihr dasselbe in Acht zu nehmen wissen, in ihren Häusern aber mögen sie ihr Gebet doch ohne Geschrei und Ärgernis der Christen wohl verrichten.19 Die Anzahl der jüdischen Familien ließ mit Sicherheit einen vollwertigen Gottesdienst unter Beteiligung von mindestens zehn männlichen Juden über 13 Jahre zu. Die Annahme, dass in Schmalkalden eine Synagoge bereits vor 1622 existiert haben könnte, wird durch ein Intermezzo aus dem Jahr 1629 bekräftigt. In diesem Jahr ordnete Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt – ihm unterstand inzwischen Stadt und Herrschaft Schmalkalden – die Schließung des jüdischen Gotteshauses an, weil solche conventicula nicht zu dulden sind. Dagegen protestierte jedoch die Judenschaft. Statthalter, Vizekanzler und Räte folgten deren Argumentation und ordneten an, dass die Schließung rückgängig gemacht werden soll, da Zusammenkünfte gemäß der hessisch-darmstädtischen Judenordnung in alten, bereits bestehenden Synagogen ausdrücklich zugelassen seien. Der neue Schmalkalder Amtmann berichtet bestätigend, dass er die Synagoge bei seinem Dienstantritt 1626 bereits vorgefunden habe.20 Bis zum Jahr 1638 wuchs die Zahl der jüdischen Schutzgeldzahler in Schmalkalden sogar auf 21 Familienvorstände an, verringerte sich 1639 aber wieder auf 20, was in etwa einer Seelenzahl von knapp unter 100 entsprach.21 Bei einer ins18 Plaut, Die jüdische Gemeinde Schmalkaldens (wie Anm. 15), S. 31. Ganz ähnlich auch der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts schreibende Schmalkalder Stadtchronist Geisthirt. Bei ihm heißt es: „[…] die aber in der Stadt haben nun über 100 Jahre ihre eigene Synagoge gehabt, welche in der Juden-Gasse in eines niedrigen Hauses Hof und Winkel gelegen, von dem ersten Juden Isaac Samuel ao. 1622 erbaut, welcher, nachdem er alle seine Kinder ehelich ausgesetzt, in das gelobte Land gezogen und zu Jerusalem gestorben“. Geisthirt, Historia Schmalcaldica (wie Anm. 15), Buch III, S. 17. 19 Kammeral-Reskript der Juden Synagogen, Commerzien, Gewerbe und Woll-Handel auch Schutz- und Silber-Geld ingleichen die Steuer-Anlagen betreffend vom 22.07.1618, in: Christoph Ludwig Kleinschmid (Hg.), Sammlung Fürstlich Hessischer Landes=Ordnungen und Ausschreiben […] Zweiter Theil […] vom Jahr 1627 bis in das Jahr 1670, Kassel 1770, S. 343. 20 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 98. Siehe dazu auch: HessStA Marburg, Bestand 17e Schmalkalden, Nr. 360. Zur Judenordnung vgl. StKA Schmalkalden, C I / 3, Nr. 10 b: Judenordnung von Landgraf Georg II. aus dem Jahr 1629. 21 Die Zahl von 21 jüdischen Haushaltsvorständen im Jahr 1638 findet sich bei: Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 100. Gemäß der Schmalkalder Stadtrechnung von 1639 waren 20 Juden mit ihren Familien in der Stadt ansässig. Vgl. StKA Schmalkalden, B II/1–139: Schmalkalder Stadtrechnung von 1639. Zur Verwendung des Faktors 4,5 zur Ermittlung der

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Abb. 2: Eingang zur alten Schmalkalder Synagoge, Foto: Gerhard Oehring, 1927 gesamten Haushaltszahl von um die 900 lag also der Anteil der jüdischen Bevölkerung Schmalkaldens bei ca. zwei Prozent.22 Die jüdischen Einwohner verteilten sich gemäß dem 1639er Steueranschlag über verschiedene Straßenzüge der Stadt: Vier Familien lebten in der Pfaffengasse, drei in der Judengasse, ebenso viele in der Hoffnung. Jeweils eine jüdische Familie wohnte in der Stiller Gasse und in der Auer Gasse. Hinter acht jüdischen Familienvorständen wurde keine Straßenzuordnung angegeben. Auch wenn es die Begrifflichkeit „Judengasse“ ähnlich der in Frankfurt am Main assoziieren könnte, gab es folglich keine Ghettoisierung der Juden in Schmalkalden. Seelenzahl anhand der Haushaltsanzahl vgl. Kai Lehmann, Projekt 1719 – Lebenserwartung im 17. und 18.Jahrhundert in der Herrschaft Schmalkalden, in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 116 (2011), S. 137–162, hier besonders S. 141 f. 22 Gemäß der Stadtrechnung von 1599 lebten in Schmalkalden 980 Familienvorstände, vgl. Kai Lehmann, Die Bevölkerungsentwicklung der Stadt Schmalkalden im 16. Jahrhundert, in: Nova Historia Schmalcaldica 2 (2005), S. 3–32, hier besonders S. 25. Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 100, arbeitet mit der Haushaltszahl der Stadtrechnung von 1585, die bei 887 lag. Er nimmt an, dass durch die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges die Zahl der Haushalte auf höchstens 800 geschrumpft sei und errechnet so einen jüdischen Bevölkerungsanteil von 2,5 %.

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Abb. 3: Schmalkalder Synagoge nach dem Umbau von 1930 mit neuem zentralen Eingangsbereich; zerstört 1938, Foto: Gerhard Oehring, 1930

2. Schlaglichtartiger Überblick über den Verlauf des Dreißigjährigen Krieges in der Herrschaft Schmalkalden Die Ereignisse um den Prager Fenstersturz, den Winterkönig Friedrich V. von der Pfalz und die Krone Böhmens waren südlich des Rennsteiges noch weit entfernt; vom Kanonendonner der Schlacht am Weißen Berg war in Schmalkalden noch nichts zu hören. Ab Mitte der 1620er Jahre kam es zu ersten Truppendurchzügen und Einquartierungen von Söldnereinheiten in der Region südlich des Rennsteiges, die aber mehr oder weniger immer noch im geordneten Rahmen stattfanden. Zu Beginn des Krieges achteten zumindest in diesem Teil des Reiches die militärischen Befehlshaber auf eine konsequente Einhaltung der Disziplin; Übergriffe auf die Zivilbevölkerung wurden in aller Regel streng geahndet.23

23 So etwa wurde am 7. August 1624 ein einquartierter kaiserlicher Soldat auf dem Schmalkalder Altmarkt hingerichtet, der eine Magd aus Steinbach auf offener Straße vergewaltigt hatte. Vgl. Geisthirt, Historia Schmalcaldica (wie Anm. 15), Buch IV, S. 37.

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Abb. 4: Schmalkalden um 1650, Kolorierte Zeichnung von Wimmitz, 1865 Mit der drei Jahre währenden Einquartierung der Leibkompanie des kaiserlichen Generals Tilly ab Januar 1628 in der Stadt Schmalkalden stiegen die materiellen Belastungen der Bevölkerung allerdings merklich an. Die Truppe wurde aus der Bevölkerung heraus versorgt; Kontributionen wurden seitens der Stadt und der umliegenden Dörfer entrichtet. Es herrschte aber eine weitgehende konfliktfreie Koexistenz zwischen Militär und Zivilbevölkerung. 1629 wurden beispielsweise laut Kirchenbuch der Stadt elf Söldner nach lutherischem Brauch getraut, bei fünf der Eheschließungen kam die Braut aus Schmalkalden.24 Als 1630 das Königreich Schweden in den Krieg eintrat und seine Truppen zunächst von Sieg zu Sieg nach Süden marschierten, sollten die aus den Kriegsereignissen resultierenden Folgen für die Zivilbevölkerung zunächst schleichend, dann aber mit schlimmster Intensität eine dramatische Dimension annehmen. Mehr und mehr, größere wie kleinere Söldnereinheiten nahmen ihren Weg durch die Gebiete südlich des Thüringer Waldes; protestantische wie katholische Einheiten mussten versorgt und bezahlt werden. Im Oktober des Jahres 1634 war die diabolische Macht des Krieges dann endgültig in der südlichen Rennsteigregion angekommen und sollte bis zum Friedensschluss von Münster und Osnabrück die Gegend nicht mehr verlassen. Am 16. Oktober 1634 kam es zum sogenannten „Kroateneinfall“. Die auf Seiten des Kaisers kämpfenden und für ihre Grausamkeit berühmt-berüchtigten kroatischen Reitereinheiten fielen im ihnen preisgegebenen Henneberger Land ein. Suhl, Themar, Kaltennordheim und viele weitere Orte gingen fast vollständig in Flammen auf. Plünderungen, verbunden mit brutalen Grausamkeiten, Folter und Morden auch in den Dörfern der Herrschaft Schmalkalden waren an der Tagesordnung. Nur die Stadt Schmalkalden blieb verschont, weil sie durch einen dynastischen Zufall auf der vermeintlich richtigen Seite stand. Seit 1626 24 Vgl. Kirchenbuch der Stadt Schmalkalden, 1628–1640, Trauungen 1629.

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waren Stadt und Herrschaft Schmalkalden im Pfandbesitz der protestantischen, aber während des gesamten Krieges fest an der Seite des katholischen Kaisers stehenden Landgrafen von Hessen-Darmstadt. In der Stadt wurden zwar für mehrere Monate kroatische Einheiten einquartiert, die schrecklichen „Begleit­ erscheinungen“, die die Bevölkerung der im nahen und fernen Umfeld liegenden Orte über sich ergehen lassen mussten, blieben den Einwohnern weitestgehend erspart. Im Gepäck der Kroaten und dem späterer Truppenkontingente lauerten weitere Geiseln des Krieges. Die Pest und andere Seuchen wie das hitzige Fieber rafften zu Tausenden die mehr und mehr ausgezehrten Menschen hinweg.25 Spätestens ab Mitte der 1630er Jahre wurde das südliche Thüringen zu einem nicht mehr endenden Durchmarschgebiet. Zahllose Söldnereinheiten beider Konfessionen marschierten über die Pässe des Thüringer Waldes, nahmen Quartier, raubten, plünderten, vergewaltigten, mordeten. Die Folge war eine riesige und bis zum Kriegsende nicht mehr aufhörende Flüchtlingsbewegung hinter den doppelten Mauerring der Stadt Schmalkalden. Die Flüchtlinge, die in der am besten befestigten Stadt Südthüringens versuchten ihr Leben zu retten, blieben Tage, Wochen oder Monate und stammten nicht nur aus den umliegenden Dörfern, sondern nahezu aus jedem Ort der gesamten Region. Es herrschten teils eine dramatische Enge und unmögliche hygienische Verhältnisse in der Stadt,26 vor allem aber eine dramatische Lebensmittelknappheit. Namenlose Kinder wie ältere Witwen verhungerten zu Hunderten auf offener Straße.27 Aber nicht nur in der Stadt Schmalkalden, sondern auch auf den Dörfern der Herrschaft war der Hungertod allgegenwärtig. In machen Jahren ist fast hinter jedem Todeseintrag der Kirchenbücher verschmachtet zu lesen.28 25 Als Beispiel: Im Jahr 1637 raffte das hitzige Fieber, eine typhusartige Erkrankung, ein Drittel der Einwohner des bevölkerungsreichen und im Werra-Tal gelegenen Dorfes Fambach hinweg. 190 Tote waren dort zu beklagen. Der Fambacher Pfarrer hielt im Kirchenbuch fest: Gott sei der kleinen, übrig gebliebenen Herde gnädig. Kirchenbuch Fambach, 1559–1703, Todeseinträge des Jahres 1637. 26 Als Beispiel: Am 16.02.1639 stirbt eine 44-jährige Frau aus Fambach in Schmalkalden auf der Flucht. Im Todeseintrag heißt es: Eine lange Zeit ist sie in Elend und Armut, Hunger und Blöße herum gegangen […] Ist in der Auer Gasse im Kot tot aufgefunden worden. Ist verschmachtet und verhungert und zu Schmalkalden auf dem Kirchhof ohne Sang und Klang begraben worden. Kirchenbuch Fambach, 1559–1703, Todeseintrag vom 16.02.1639. 27 Zu Beginn der amtlichen Einträge für das Jahr 1637 heißt es beispielsweise im Kirchenbuch Schmalkalden, 1620–1640: Über hundert verschmachtet. 28 Als Beispiele: Von Januar bis Juni 1638 verzeichnet das Kirchenbuch von Herrenbreitungen 16 Begräbnisse; bei 12 der Toten, darunter ein 7-jähriges Mädchen und zwei über 70-jährige Witwen, wird ausdrücklich erwähnt, dass sie verschmachtet und Hungers gestorben waren. Vgl. Kirchenbuch Herrenbreitungen, 1627–1726. Das Kirchenbuch des Kirchspiels Trusen (heutiges Trusetal) verzeichnet für die Monate Juni und Juli 1638 ebenfalls 16 Tote. Davon starben 11 Menschen nachweislich den Hungertod, darunter eine Frau,

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Ab Oktober 1634 stiegen die Todeszahlen innerhalb der einzelnen Kirchenbücher auf ein nie dagewesenes Ausmaß. Sie erreichten ein Mehrfaches im Vergleich zu den Normaljahren. Das große Sterben währte bis zum Jahr 1640. Im Juni kam es zum sogenannten „Schwedischen Generaldurchmarsch“, die komplette schwedisch-französisch-hessisch-lüneburgische Armee mit 44.000 Söldnern und ein etwa dreifach so großer Tross marschierten vom Thüringer Wald nach Süden. Damit einhergehend waren furchtbarste Gräueltaten. Nach 1640 gingen die Todeszahlen in den Kirchenbüchern rapide zurück: Es war niemand mehr da zum Sterben. In einigen Ämtern und Dörfern mussten innerhalb dieser wenigen Jahre 80 Prozent Verlust der Vorkriegsbevölkerung beklagt werden. Die Stadt Schmalkalden, die 1636 von den Schweden geplündert wurde und deren drei Vorstädte nach Kriegsende in Schutt und Asche lagen, war bei den schier endlosen Truppendurchmärschen und Einquartierungen der Zahlmeister. Die Söldnerführer pressten astronomische Summen an Kontributionszahlungen oder Brandschatzungen aus der Bevölkerung heraus.29 Die extreme Notsituation, Verarmung und Verelendung breiter Bevölkerungsschichten, Existenz- und Lebens­ ängste waren der Nährboden für den aufkommenden Judenhass in Schmalkalden.

3. Die Auseinandersetzung der Stadt Schmalkalden mit den Juden während des Dreißigjährigen Krieges Bereits zu Beginn der 1620er Jahre beschwerten sich Bürgermeister und Rat Schmalkaldens über den Zuzug der vielen Juden bei Landgraf Moritz von Hessen-Kassel. Die Juden würden teilweise ohne Wissen der Ehemänner christlichen Frauen viel Geld leihen und diese so in Schulden stürzen. So hätte Isaak Samuel – der Errichter der Schmalkalder Synagoge – eine der angesehensten Frauen der Stadt ohne Wissen ihres Ehemanns eine Summe von 500 Gulden geliehen; ein großer Betrag, wenn man bedenkt, dass eine Milchkuh damals zwischen sechs und acht Gulden kostete. Man bat den Landesherrn deswegen, keinen neuen Juden den Zuzug in die Stadt zu gewähren. Moritz verwies die Angelegenheit an seine Räte, die aber eine Entscheidung trafen, die nicht im Sinne der Stadt war. Ein Jahr später wurde vier weiteren Juden und deren Familien eine Zuzugserlaubnis nach Schmalkalden erteilt.30 die mit zwei Kindern zu Gotha, dahin sie nach Brot gegangen, verschmachtet sein. Kirchbuch Kirchspiel Trusen, 1632–1731, Todeseintrag nach dem Eintrag vom 01.07.1638. 29 Vgl. ausführlich zum Dreißigjährigen Krieg in der Herrschaft Schmalkalden: Kai Lehmann, Leben und Sterben im Dreißigjährigen Krieg, Zwei authentische Familienschicksale aus dem 17. Jahrhundert, Untermaßfeld 2014, S. 29–227. 30 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 97. In der Novellierung der „Juden-Ordnung“ von Landgraf Georg von Hessen-Darmstadt aus dem Jahr 1629 wurde die konkrete

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Abb. 5: Schmalkalden, Hoffnung 38, Fachwerkhaus, erbaut im 1. Drittel des 17. Jahrhunderts unter Einbeziehung von Teilen des Vorgängerbaus, von ca. 1726 bis 1875 nachweislich im Besitz der jüdischen Familie Mandel, Foto: Sascha Bühner Waren diese Auseinandersetzungen noch nicht auf die Aus- und Nachwirkungen der militärischen Ereignisse zurückzuführen, so änderte sich dies ab Ende der 1620er, vor allem aber in den 1630er Jahren. Erstmals traten die Spannungen während der dreijährigen Einquartierung der Leibkompanie des kaiserlichen Generals Tilly deutlich zu Tage. Bürgermeister, Rat und Bürgerschaft SchBeschwerde der Schmalkalder Petition aufgegriffen. Dort heißt es: Zum 9. soll kein Jude einigem unseren Untertanen ohne Vorwissen unserer Beamten, noch auch einem Mann ohne seiner Frau oder auch einem Weib ohne ihres Mannes Vorwissen etwas leihen […]. Vgl. StKA Schmalkalden, C I / 3, Nr. 10 b: Judenordnung von Landgraf Georg II. aus dem Jahr 1629.

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malkaldens monierten im Frühjahr 1629, dass die Juden nur eine wöchentliche Kontribution in Höhe von fünf Goldgulden und damit nach ihrem Dafürhalten deutlich zu wenig zahlten. Bereits bei diesem ersten kleineren Konflikt zeigte sich die bis zum Ende der Pfandherrschaft hinziehende ausgleichende und vermittelnde, zugleich sich aber seiner Schutzzusage bewusste Haltung von Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt und seiner Räte. Es wurden zunächst gütliche Verhörtage angesetzt, damit dieser schwelende Streit in der Güte beigelegt werden möchte und auf denen die Argumente beider Seiten abgewogen wurden. Einerseits sei die Stadt in elenden Zustand und ihre Bürger litten große Armut, der Einlogierung der Offiziere und Soldaten in ihren eigenen Häusern wegen. Andererseits müsste berücksichtigt werden, dass die Juden wegen ihrer wenigen Anzahl und dem Umstand, dass nur drei von ihnen bei notdürftiger Leibs Unterhaltung und Vermögen seien, nicht so viel wie von der Stadt gefordert zahlen könnten. Der ausgehandelte und von beiden Seiten akzeptierte Kompromiss sah vor, dass die Juden wöchentlich zwei Goldgulden mehr zahlen mussten, aber nur so lange, bis die Einquartierung endet. Bürgermeister und Rat waren dagegen verpflichtet, die Juden bei dem Herrn Obristen Wahl, Kapitänleutnant und anderen Offizieren und Soldaten zu vertreten, damit ihnen keine neuen und mehr Lasten zu wachsen möchten. Mit der ab 2. Juli 1629 gültigen Abmachung sei der bisher vorgefallene Widerwill, Missverstand und Streitigkeit zwischen diesen Parteien insgemein aufgehoben und sie zu Grund verglichen worden.31 Auch drei Jahre später gelang es der darmstädtischen Diplomatie, vermittelnd zu wirken. Zuvor hatte sich die Judenschaft von Schmalkalden über die geforderte Kriegsanlage und deren Aufteilung beim Landesherrn beschwert, der darauf seinen Beamten den Befehl erteilte, zwischen Bürgermeister und Stadt und der Judenschaft zu schlichten, damit kein Teil übers andere mit fügen sich zu beschweren habe.32 Die Zunahme der Truppendurchzüge und Einquartierungen, die Gewaltakte und Plünderungen von Söldnereinheiten führten zu einer zunehmenden Verelendung vor allem der Landbevölkerung. Zugleich verdoppelten sich die monetären und materiellen Belastungen der Schmalkalder Bürgerschaft ab Mitte der 1635er Jahre. Bis dato galt der fiskalische Grundsatz, dass ein Drittel der sogenannten Kriegskontribution – also die Geldmittel und Güter, die zur Unterhaltung, Verpflegung und Unterbringung von Truppenkörpern aufgebracht 31 HessStA Marburg, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 319, ohne Blattangabe: Von dem darmstädtischen Kommissar Heinrich Christoph von Wiestum ausgehandelter Kompromiss zwischen der Stadt Schmalkalden und der Judenschaft vom 30.06.1629 (dort auch alle anderen Zitate). Aufgrund der besseren Verständlichkeit wird hier und folgend nicht buchstabengetreu zitiert, sondern der modernen Rechtschreibung und Grammatik angepasst. 32 HessStA Marburg, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 319, ohne Blattangabe: Landgraf Georg von Hessen-Darmstadt an Amtmann und Rentmeister von Schmalkalden vom 14.03.1632.

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werden mussten33 – von Seiten der Stadt und zwei Drittel von den Dörfern der Herrschaft Schmalkalden zu entrichten waren. Nicht zuletzt der immensen Verwüstungen im Umland Schmalkaldens geschuldet, wurde diese Regelung zunächst dahingehend novelliert, dass eine Kostenteilung zwischen Stadt und Land erfolgen sollte, temporär trat sogar der Fall ein, dass die Bürgerschaft zwei Drittel der Kriegssteuer zu schultern hatte.34 Als 1633 – ein Jahr mit langwierigen und wechselnden Einquartierungen von schwedischen Einheiten bzw. deren Verbündeten35 – erneut ein Streit zwischen der Stadt und den Juden bezüglich der zu tragenden Kriegslasten ausbrach, brachte der erneute landgräfliche Kompromiss allerdings einen Kardinalsfehler ein, der in seiner Konsequenz die Zwistigkeiten langfristig dominieren und kulminieren lassen sollte. Falls das Reich, der Reichskreis oder der Landesherr Steuern wie Werbe- oder Antrittsgelder oder Verpflegung der Soldaten oder wie solches sonst Namen haben möchte erheben, dann sollten diese die Bürger wie Juden zu den gleichen Konditionen tragen. Das zu versteuernde Kapital der Schmalkalder Judenschaft wurde mit 4.000 Gulden angeschlagen. Komme es aber zu einer Einquartierung von Söldnereinheiten, dann wurde den Juden die Möglichkeit eingeräumt (auch und vor allem, weil dann die landesherrschaftliche Schutzzusage nicht mehr gewährleistet war), sich mit den Kommandanten und Kriegsoffizieren [des jeweiligen Truppenkörpers] abzufinden und sie für ihren Schutz zu bezahlen. Aufgrund dieser Geldleistungen mussten die Juden so lange die Einquartierung währt, keine Wochensteuer [gemeint: Kontribution] aufs Rathaus zu geben schuldig sein. Mit eigener Hand unterschrieben wurde dieser Kompromiss neben dem Schmalkalder Bürgermeister auch von den beiden Ältesten Issac und Salomon.36 Diese mit Kontributionsbefreiung verbundenen Sonderzahlungen der Juden wurden für beide Seiten zum Dauerstreitthema. Zunächst beschwerte sich zu 33 Vgl. ausführlich auch zu anderen Arten von Kontributionszahlungen: Lehmann, Dreißigjähriger Krieg (wie Anm. 29), S. 67–69. 34 Die Bürgerschaft Schmalkaldens machte die Steigerung der Kostenspirale vornehmlich an den ungeliebten darmstädtischen Beamten, dem Amtmann Baumbach, dessen Nachfolger Wechmar sowie dem Rentmeister Küchler, fest. Vgl. HessStA Marburg, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 198, ohne Blattangabe: Rat und Bürgerschaft der Stadt Schmalkalden an Landgräfin Amalie Elisabeth von Hessen-Kassel vom 10.09.1646. Vgl. dazu auch: Johann Georg Pforr, Beschreibung etzlicher deckwürdigen Geschichden, Eine Chronik von Schmalkalden 1400–1680, kommentiert und herausgegeben von Renate T. Wagner, Jena 2007, S. 139–147, auf S. 145 vornehmlich um die Lastenerhöhung. 35 Vgl. zu diesen Einquartierungen: Geisthirt, Historia Schmalcaldica (wie Anm. 15), Buch IV, S. 43 f. sowie Pforr, Beschreibung (wie Anm. 34), S. 117–124. 36 HessStA Marburg, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 319, ohne Blattangabe: Landgräflicher Kompromiss zwischen Stadt und Juden wegen der Kriegslasten vom 20.05.1633 (dort auch alle anderen Zitate). Zur Verringerung des Kapitalanschlages von ursprünglich 5.500 Gulden auf 4.000 Gulden vgl. auch: ebd., Offener Brief der Judenschaft zu Schmalkalden vom 20.05.1633.

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Abb. 6: Mikwe im Keller des Hauses Hoffnung 38 in Schmalkalden. Das jüdische Ritualbad wurde 2015 bei Grabungen des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie entdeckt und bis 2021 umfangreich saniert und restauriert. Heute kann die Mikwe im Rahmen der Stadtführung „Jüdisches Leben in Schmalkalden“ oder nach Voranmeldung besichtigt werden, Foto: Sascha Bühner Beginn des Jahres 1634 – ein Oberst des Herzogs von Sachsen-Weimar hatte sich mit seinen Truppen für 13 Wochen in der Stadt einquartiert, was die Bürgerschaft knapp 14.000 Taler an Kontribution kostete37 – die Judenschaft, dass sie dem Obristen und dessen nachgesetzten Offizieren hohe Geldsummen Schutz geld zahlen müsste, dennoch aber zu wöchentlich zu leistenden Kontributionen von Seiten der Stadt herangezogen und somit doppelt besteuert werden würde. Mittels landgräflichen Befehls wurde dieses untersagt. Zudem sollten die Beamten vor Ort dafür Sorge tragen, dass unsere schutzverwandten Juden zu Schmalkalden keine Söldner in ihre Häuser gelegt bekommen.38 Dass Juden trotz ihrer Schutzgeldzahlungen an die militärischen Befehlshaber nicht vor der Soldateska sicher waren, zeigt sich an einem Beispiel vom Oktober 1634. Zugleich wird daran das Versagen der landesherrschaftlichen 37 Vgl. Pforr, Beschreibung (wie Anm. 34), S. 124 sowie Geisthirt, Historia Schmalcaldica (wie Anm. 15), Buch IV, S. 44. 38 Vgl. HessStA Marburg, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 319, ohne Blattangabe: Landgräflicher Befehl an die Schmalkalder Beamtenschaft vom 31.01.1634.

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Schutzmechanismen erkennbar. Als der schwedische Obrist Graf Hoditz mit seinem Reiterregiment aus Schmalkalden abzog, forderte er u. a. 2.000 Taler von den Dörfern der Herrschaft Schmalkalden. Da diese das Geld jedoch nicht aufbringen konnten, wollte er zunächst Schultheiß und Beamte als Geiseln nehmen, die sich aber verkrochen hatten, so dass er ihner nicht mächtig noch habhaft werden konnte. Darauf der Graf an uns Juden gefallen, so berichtet es der Jude Isaac, die allerdings nicht in der Lage waren, die geforderte Summe zu zahlen. Deswegen hätte er drei Juden aus ihren Häusern gezogen, alle drei in Eisen zusammengeschlagen, gefänglich mit sich zur Stadt hinaus neben den Pferden geführt, in Kot durch dick und dünn gleichsam wie die Hunde [bis nach Erfurt] geschleppt. Dort gelang es den Juden bei Kaufleuten das Geld aufzutreiben und an den Grafen zu übergeben. Nach der Freilassung hatten sich die Juden vergeblich bemüht, die 2.000 Taler von der Herrschaft Schmalkalden zurückzuerhalten.39 Es waren aber nicht nur diese Gelder, die noch ausstehend waren, sondern die Stadt würde sich in keiner Weise an die landgräflichen Bestimmungen halten, so eine umfangreiche Beschwerdeschrift. Die Judenschaft – mittlerweile waren kroatische Reitereinheiten in Schmalkalden einquartiert40 – musste neben den Geldern für die Offiziere große Mengen an Getreide liefern, zudem sieben Ochsen und die Bürgermeister würden [sie] mit Gewalt zwingen, sich auch an den Kontributionszahlungen zu beteiligen. Zudem würden sie bedroht, dass sich keiner auf der Gasse sehen lassen soll, sonst würde man sie allswohl bändig machen. Fünf Juden hätte der Rat sogar verhaftet und in das ärgste Gefängnis geworfen. Die Juden seien so jämmerlich in die äußerste Armut gefallen, dass Ihrer Fürstlich Gnaden gebührliches Schutz-Geld nicht mehr zahlen könne.41 Die Stadt reagierte geharnischt mit mehreren Schreiben und Gegenberichten an den Landgrafen. Darin ist von handgreiflicher Unwahrheit, kundbarer Unwahrheit, grober Unwahrheit, lauter Lüge und Betrug die Rede, welches die Juden verbreiten würden. Die Juden würden von doppelten Steuern sprechen, dagegen zahlen sie fast vier Mal weniger dann ein Bürger und Christ. Aktuell – so die Argumentation seitens der Stadtverantwortlichen – gelte die Steuererhebung dahingehend, dass von 100 Gulden Vermögen vier Taler an Kontribution gezahlt werden mussten. Das Vermögen der Judenschaft war mit 4.000 Gulden veranschlagt, von dem folglich 40 Taler als wöchentliche Steuer fällig würde. Aufgrund des oben behandelten landgräflichen Rezesses von 1633 wurden diese Kontributionsleistungen der Juden während einer Einquartierung von Söldnereinheiten ausgesetzt, weil diese den militärischen Befehlshabern Schutzgeld zahlen mussten. Diese Schutzgelder 39 Vgl. HessStA Marburg, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 458, ohne Blattangabe: Isaac Jud an darmstädtischen Kanzler und Räte vom 24.11.1634 (dort auch die Zitate). 40 Vgl. Pforr, Beschreibung (wie Anm. 34), S. 130–135 sowie Geisthirt, Historia Schmalcaldica (wie Anm. 15), Buch IV, S. 46–48. 41 Vgl. HessStA Marburg, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 319, ohne Blattangabe: Judenschaft von Schmalkalden an die landgräfliche Kanzlei vom 25.03.1635.

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belaufen sich derzeit auf 12 Taler (nicht auf 20 Taler, wie von den Juden angegeben) wöchentlich. Für diese 12 Taler, die die gesamte Judenschaft aufbrachte, waren sie zudem noch von Einquartierungen verschont, wären vor den Soldaten sicher und könnten ungestört Handel und Wandel treiben. Die Bürger hätten auf der anderen Seite Soldaten im Haus, müssten diese zudem mit Holz, Licht, Salz, Gemüse und Lagerstatt, auch mit Baumöl, Butter, Gewürzen etc. versorgen, könnte ihrem Handwerk nicht sicher nachgehen und manche Bürger müssten zudem noch teils 10, 12, 15 und mehr Taler wöchentlich geben. Drangsal, Not, Jammer und Beschwerung seien jetzt in der Stadt so gar exorbitant und große, dass Schmalkalden in Kürze gar ruiniert sei. Deswegen müssten auch die Juden zu den Kontributionszahlungen mit herangezogen werden, so die unverhohlene Forderung der Schmalkalder Bürgerschaft.42 Die landgräfliche Kanzlei verlangte daraufhin eine Auflistung, was den Schmalkalder Juden außer den Schutzgeldzahlungen durch die einzelnen Truppenkörper noch abgepresst worden sei, um diese Gelder ggf. mit den nicht geleisteten Kontributionszahlungen gegenzurechnen.43 Die Judenschaft legte wie gefordert die Verzeichnisse vor, die sich geldwert in allem auf 1.083 ½ Taler summierten. Hinzu kamen die vom schwedischen Grafen Hoditz abgepressten 2.000 Taler für die Freilassung der drei bis Erfurt mitgeführten jüdischen Geiseln.44 Auch gegen diese Register erhob die Stadt Schmalkalden Einspruch, warf den Juden Lüge und die Unwahrheit [zu] berichten vor und versuchte, die Ansprüche mit zum Teil hanebüchenen Argumenten zu widerlegen.45 Auch andere Diskreditierungen, um die Vorwürfe der Judenschaft zu entkräften, nahmen abenteuerliche Züge an. So etwa hätte sie die Mitführung der drei Geiseln selbst zu verschulden

42 Vgl. HessStA Marburg, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 319, ohne Blattangabe: Bürgermeister und Rat von Schmalkalden an landgräflich-darmstädtische Kanzlei vom 23.04.1635; ebd., Bürgermeister und Rat von Schmalkalden an Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt vom 13.05.1635.; ebd., Bürgermeister und Rat von Schmalkalden an Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt vom 27.05.1635 (dort auch alle Zitate). 43 Vgl. HessStA Marburg, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 319, ohne Blattangabe: Landgräflicher Schlichtungsvorschlag im Streit zwischen der Stadt Schmalkalden und den dort ansässigen Juden vom 25.05.1635 sowie ebd., Landgräfliche Kanzlei an Bürgermeister und Rat von Schmalkalden vom 05.06.1635. 44 Vgl. HessStA M, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 319, ohne Blattangabe: Verzeichnis, was für Korn, Geld und Viehe wir Endes benannte Juden zu Schmalkalden auf das Rathaus liefern und ihnen vorsetzen müssen sowie ebd., Spezifikation der Juden Kriegskosten vom 16. Oktober 1634 bis zum 16. April 1635. Darunter waren neben Geldleistungen auch Sachwerte wie bspw. 1 Selber Becher im Wert von 127 Talern oder 1 Paar Pistolen im Wert von 10 Talern. 45 Vgl. HessStA Marburg, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 319, ohne Blattangabe: 15-seitiger Gegenbericht von Bürgermeister und Rat Schmalkaldens zu der von den Juden vorgelegten Spezifikation ihrer Kriegskosten.

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(sei ihnen selbst zuzuschreiben) oder die Verhaftung der fünf Juden sei von ihnen aus freiwillig geschehen (sie wären aus freien Stücken ins hinterste Gefängnis […] gegangen).46 Der Streit zwischen Bürgermeister, Rat und Bürgerschaft einerseits sowie den in Schmalkalden lebenden Juden andererseits verfestigte sich immer weiter. Die Stadtverantwortlichen verlangten die vollständige Beteiligung der Juden an den Kontributionslasten, die Juden wiederum pochten auf ihre verbrieften Rechte. 1636 verlangte die Stadt schließlich die vollständige Ausweisung der Schmalkalder Juden. Wegen ihres großen Wuchers und Schinderei würden sie die christlichen Bürger noch mehr ins Unglück stürzen, in dem sie sich ohnehin schon befänden. Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt lehnte das Ersuchen entschieden ab und erstickte so möglich erscheinende gewaltsame Auseinandersetzungen bereits im Keim: Er könne ihrer [der Juden] nicht entbehren. Mehrfach betonte der Landesherr, dass die Juden, als welche in seinen F. G. Schutz begriffen sind, derer er sich getreulich annehmen werde. Das Ansinnen der Bürgerschaft sei zudem eine von der Geistlichkeit angestiftete Sache und man solle sich hüten, dass keine Frankfurter Händel hierdurch entstehen mögten.47 Durch die Rigorosität der landgräflichen Order kehrte kurzfristig eine Atempause in die Auseinandersetzungen ein. Nicht zuletzt geschah dies auch deswegen, weil man von Seiten des Landgrafen der dauerhaften Forderung der Stadt entgegenkam und den Rezess von 1633 wieder kassierte, so dass sich die Judenschaft vollständig an den Kontributionen zu beteiligen hatte.48 Es dürften sicherlich auch die kurz darauf ebenfalls für die städtische Bevölkerung und deren Verwaltungsobrigkeit plastischer werdenden Kriegsfolgen gewesen sein, die mehr und mehr in den Vordergrund traten und die zuvor noch fast eskalierenden Auseinandersetzungen mit den Juden temporär aus dem Fokus geraten ließen: Im November 1636 wurde Schmalkalden von schwedischen Einheiten geplündert, wobei große Beute gemacht wurde, kurz darauf quartieren sich mehrere Tausend schwedische Söldner gewaltsam in der Stadt ein – von beiden für den fürchterlichen Krieg so signifikanten Begebenheiten waren auch die Juden betroffen – und im Januar 1637 lässt ein schwedischer Obrist den gesamten

46 Vgl. HessStA Marburg, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 319, ohne Blattangabe: Bürgermeister und Rat von SM an Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt vom 27.05.1635. 47 HessStA Marburg, Bestand 17 e, Schmalkalden, Nr. 458, ohne Blattangabe: Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt an seine Räte und Beamte in Schmalkalden vom 18.09.1636. Nahezu identisch wiedergegeben auch bei Pforr, Beschreibung (wie Anm. 34), S. 139 sowie bei Geisthirt, Historia Schmalcaldica (wie Anm. 15), Buch III, S. 16. 48 Falls es bei Einquartierungen aber von den fürstlichen Beamten nicht abgewendet werden könnte, dass die Juden von den jeweiligen Befehlshabern zur Erlegung eines Stücks Geld beweislich gezwungen würden, sollen sie befugt sein, solches an ihrer wöchentlichen Kontribution abzuziehen. HessStA Marburg, Bestand 17e, Schmalkalden, Nr. 319, ohne Blattangabe: Protokollnotiz des Hermann von Wersabe vom 30.04.1636.

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Stadtrat für mehrere Tage ohne Essen und Trinken einkerkern, um etliche tausend Taler herauspressen zu können.49 1638 kam es allerdings zur erneuten Konfrontation der städtischen Verantwortlichen mit der Judenschaft. Bürgermeister und Rat beschwerten sich in mehreren Schreiben bei Landgraf Georg über die Juden der Stadt. Die Juden würden die Einwohner mit übermäßigem Wucher beschweren: von 100 geliehenen Reichstalern forderten sie 34 Reichstaler an Zinsen. Zudem würden die Juden viele hundert Zentner Stahl, Eisen, Zinn und Kupfer den Bürgern aus den Augen hinweg kaufen. Dergestalt, dass sie nicht erwarten, bis die Leute [Händler] ihre Sachen in die Stadt bringen, sondern laufen ihnen auf der Straße entgegen und kaufen alle Sachen auf. Ein einziger Jude hier, Meyer genannt der Ältere, hätte in einem Jahr 370 Zentner und 34 Pfund lauter Erz, Zinn und Kupfer eingekauft und ein stattliches mehr erworben, also ist die Rechnung leicht zu machen, was andere Juden aufgekauft haben müssen.

Den Schmalkalder Schmieden würde so die Existenzgrundlage entzogen, weil die Juden die Metalle entweder anderswo oder zu weit überteuerten Preisen verkaufen würden. Die Verantwortlichen der Stadt monierten ebenso sehr scharf, dass die Juden ihre veranschlagten und zu versteuernden Kapitalien in Höhe von 4.000 Gulden mit ihrem gewöhnlichen Lamentieren auf 2.250 Gulden gesenkt bekommen hatten. Wenn die Juden so viele Zentner Metall aufkaufen könnten – so die Argumentation der kommunalen Obrigkeiten – und zudem Berücksichtigung fände, was sie an Kleinodien, Silber und Bargeld im Handel haben, damit sie täglich schachern und wuchern, dann müsse der volle Steuersatz gezahlt werden. Allein der Jude Meyer würde ein Vermögen in Höhe von 4.000 Gulden aufweisen. Der Petitionskatalog der Schmalkalder umfasste denn auch gleich mehrere Punkte. Es müsste gerade in diesen entbehrungsreichen Zeiten dafür Sorge getragen werden, dass die Juden wegen ihres übermäßigen Wuchers gestraft würden. Die Judenordnung verlangte ausdrücklich, dass ein Jude nur den gesetzten Zins verlangen und nehmen darf. Außerdem sollten den Juden alle bürgerlichen Geschäfte mit Einkaufen von Stahl, Eisen, Zinn, Kupfer, Erz und dergleichen gänzlich verboten sein und sie sollen wieder die 4.000 Gulden Kapital versteuern. Erneut kulminierte die Bittschrift der Stadt an den Landesherrn in der Forderung, die Juden abzuschaffen.50 Landgraf Georg ließ durch seine Kanzlei wiederholt und unumwunden mitteilen, dass er als Schutzherr seinen eingegangen Verpflichtungen nachkommen werde. Er beabsichtigte zwar, seine Beamten vor Ort anweisen und prüfen zu lassen, was an den Vorwürfen der Realität entspräche, und verwies auf die trau49 Vgl. ausführlich dazu: Lehmann, Dreißigjähriger Krieg (wie Anm. 29), S. 140–150 (hier auch Auszüge aus dem Plünderungs- und Einquartierungsverzeichnissen). 50 Vgl. HessStA Marburg, Bestand 17 e, Schmalkalden, Nr. 458, ohne Blattangabe, hier vor allem: Bürgermeister und Rat von Schmalkalden an Landgraf Georg II. von Hessen-­ Darmstadt vom 28.06.1638 (hier auch die Zitate). Vgl. dazu auch: Lehmann, Dreißigjähriger Krieg (wie Anm. 29), S. 164 f.

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rigen Umstände der Zeit (bei diesen grundverderblichen geldlosen Zeiten), betonte aber zugleich, wo alles danieder lag, müsse solidarisch gehandelt werden und alle hätten sich an den Beschwerlichkeiten zu beteiligen. Diesbezüglich ging er sogar so weit, den Rat aufzufordern, dass der Judenschaft die durch die Stadt gemachten Schulden wieder erstattet werden.51 Offensichtlich führte die landgräfliche Order zur Deeskalation der Lage, denn weitere Beschwerden seitens der städtischen Verantwortlichen blieben aus. Die Gemüter seitens der Stadt wurden möglicherweise auch dadurch etwas besänftigt, weil in diesem Jahr die Schmalkalder Juden tatsächlich 500 Goldgulden Strafe an die landgräflichen Kassen abführen mussten. Es waren aber nicht die geschilderten Klagen aus der Bürgerschaft, die zur Strafgeldzahlung führten, sondern der Umstand, dass – wohlgemerkt seit dem Oktober 1634 flohen jährlich Hunderte, wenn nicht gar Tausende Menschen hinter den doppelten Mauerring, um in Schmalkalden Schutz vor den Kriegsgräuel zu suchen – sie über Jahre hinweg, fremden Juden, die ebenfalls vor Plünderungen und Gewalttaten ihre Heimat verlassen hatten und die keine Schutzbriefe besaßen, Unterschlupf in ihren Häusern gewährt hatten.52 Ende der 1630er Jahre verhungerten die Menschen in ganz Südthüringen in sehr großer Anzahl.53 In dieser dramatischen Situation beschwerte sich 1639 der Jude Isaak Samuel bei den landgräflichen Räten über die Schmalkalder Metzger­ zunft: Die Metzger hätten abrupt und willkürlich bei den Juden Fleisch beschlagnahmt. Auf Nachfrage rechtfertigten sich die Metzger damit, dass die Juden Fleisch und dieses zu extrem überteuerten Preisen an Christen verkauft hätten. Zum Beweis brachten sie u. a. vor, dass Schlacht-Utensilien in den Judenhäusern gefunden worden seien. Die landgräflich-darmstädtische Kanzlei orderte gesetzeskonform und gegen die Argumentation der Schmalkalder Metzger die Herausgabe des Fleisches bzw. die Zahlung von Schadenersatz an.54 Gemäß der von Landgraf Georg II. erlassenen Judenordnung aus dem Jahr 1629 war es unter Punkt 19 den Juden ausdrücklich gestattet, zum eigenen Bedarf zu schächten; allerdings nur in ihren eigenen Häusern. Was ihnen dabei misslang, also unkoscher geworden war, durfte an Christen verkauft werden.55

51 Vgl. HessStA Marburg, Bestand 17 e, Schmalkalden, Nr. 458, ohne Blattangabe: Darmstädte Kanzler und Räte an Bürgermeister und Rat von Schmalkalden vom 06.07.1638 (hier auch die Zitate). 52 Vgl. Pforr, Beschreibung (wie Anm. 34), S. 147 (hier auch die Zitate). Nahezu identisch auch bei: Geisthirt, Historia Schmalcaldica (wie Anm. 15), Buch III, S. 46–48. 53 Lehmann, Dreißigjähriger Krieg (wie Anm. 29), S. 165–174. Hier Beispiele aus zahlreichen Kirchenbüchern. 54 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 101. 55 Vgl. StKA Schmalkalden, C I / 3, Nr. 10 b: Judenordnung von Landgraf Georg II. aus dem Jahr 1629.

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Bis zum Friedensschluss von Münster und Osnabrück ging die Zahl der schutzgeldpflichtigen Juden zwar leicht zurück, welches allerdings der allgemeinen Entwicklung zu schulden war.56 Auch nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges setzten sich die „Querelen“ zwischen der Bürgerschaft und den in Schmalkalden ansässigen Juden fort bzw. flammten erneut auf. Mehrfach beschwerten sich die Schmalkalder Handelsleute und Krämer über die höchst schädliche Judenschaft, die den Segen, so Gott hiesiger Stadt gegönnt mit jüdischem Geiz an sich ziehen und uns arme Christen unterdrücken versuchen würden.57 Dabei ging es um zum einen um den laxen Umgang der landgräflichen Beamten – Schmalkalden gehörte seit 1646 wieder zur Landgrafschaft Hessen-Kassel58 – mit der zugelassenen Anzahl der in Schmalkalden mit Schutzbrief lebenden jüdischen Familien; seit 1651 war deren Zahl auf nur noch maximal sechs begrenzt worden.59 Zum anderen drehten sich die Auseinandersetzungen um die Frage, in welchen Gewerben und Gewerken die mit fürstlichen Schutz versehenen Juden überhaupt tätig werden durften. Auch das Haus Hessen-Kassel setzte den darmstädtischen Weg der Diplomatie und des Ausgleiches fort. Um den Querelen gründlich abzuhelfen wurde eine Kommission nach Schmalkalden entsandt, welche notdürftige Erkundigungen bei beiden Parteien einholen sollte, um den Streit zu schlichten.60 Es waren die Landgrafen von Hessen-Darmstadt und ihre örtliche Beamtenschaft, die, als die Lage in Schmalkalden – allerdings in einer unbeschreiblichen 56 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 101 f. sowie Lehmann, Dreißigjähriger Krieg (wie Anm. 29), S. 245. 57 HessStA Marburg, Bestand 5, Nr. 2364, Bl. 10–12: Handelsleute und Krämer von Schmalkalden an Bürgermeister und Rat von Schmalkalden vom 30.01.1662 (die letzten beide Zitate auf Bl. 10) sowie ebd., Bl. 4: Kommissionsbericht über die Verhandlungen zwischen Bürger- und Judenschaft in Schmalkalden vom 30.11.1660. 58 Zum erneuten Übergang der Herrschaft Schmalkalden an das Haus Hessen-Kassel im sogenannten „Hessenkrieg“ vgl. Lehmann, Dreißigjähriger Krieg (wie Anm. 29), S. 215–218. 59 […] in Ao. 1651 erhaltenen Befehl zu folgen den darin denominierten 6 Juden partirerei auf gewisse und schädliche weise eingeschränkt und die Übrigen ausgeschafft werden sollten. HessStA Marburg, Bestand 5, Nr. 2364, Bl. 10–12: Handelsleute und Krämer von Schmalkalden an Bürgermeister und Rat von Schmalkalden vom 30.01.1662 (Zitat Bl. 10). […] unsern gnädigen Fürsten und Herren uns hierbevor in Anno 1651 gnädigst erteilt und nachgehends wiederholte Begünstigung, dass mehr nicht als sechs Juden namentlich 1) der alte Meyer 2) Michael von Prag 3) Michael Salomon 4) Fritz der Lange 5) Hirsch 6) Schmüel Meyers Sohn möge gelassen, sie übrigen aber allhier befindlichen Juden abgeschafft werden. Ebd., Bl. 2: Forderungskatalog der Handelsleute und Krämer von Schmalkalden in Bezug auf den weiteren Umgang mit den Juden in der Stadt vom 29.11.1660. 60 Vgl. HessStA Marburg, Bestand 5, Nr. 2364, Blatt Kommissionsbericht über die Verhandlungen zwischen Bürger- und Judenschaft in Schmalkalden vom 30.11.1660 (dort auch die Zitate). Zugelassen sollte ihnen u. a. der Handel mit Gold, Silber, Samt, Seite brabantischen Waren, Stahl, Eisen und Eisenwaren, Kupfer, Zinn und anderen Metall, Gewürze, Bremer und insgemein mit allen anderen Waren, wie sie Namen haben mögen., ebd.

Um Abschaffung der Juden angesucht

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Notsituation der Bevölkerung – hinsichtlich der ansässigen Juden zu eskalieren drohte, einen kühlen Kopf und auch die Zügel fest in der Hand behielten. Sie waren sich ihrer Schutzpflicht bewusst und – wie es 1636 auch ausdrücklich so festgehalten wurde – weil sie die Juden nicht entbehren konnten. Die monetären Interessen der landgräflich-darmstädtischen Potentaten an den Juden müssen durch andere dahingehende Regionalstudien weiter beleuchtet werden. So ist es auch dem Durchgreifen Hessen-Darmstadts zu verdanken, dass von 1611 bis zur Mitte des 20. Jahrhundert kontinuierlich und dauerhaft jüdische Familien in Schmalkalden lebten.61

Abb. 7: Wandbild in Schmalkalden, Hoffnung 17. Das Graffiti zeigt die Holocaustüberlebende Magda Brown. Es trägt die Aufschrift „Ich teile meine Geschichte, um diese Generation an die Gefahren von Hass, Vorurteilen und Diskriminierung zu erinnern.“ Das Wandbild, welches der weltweit arbeitende Künstler Akut (alias Falk Lehmann) im Jahr 2020 geschaffen hat, entstand im Rahmen des vom Schmalkalder Kulturverein Villa K initiierten Projektes „Gegen das Vergessen“. In Schmalkalden zieren und erinnern mehrere solcher Wandbilder Hausfassaden, Foto: Sascha Bühner 61 Litt, Juden in Thüringen (wie Anm. 4), S. 96, 103.

K atharina Witter

Die jüdische Gemeinde Marisfeld/Themar vom Ende des 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im Spiegel von Archivalien des Staatsarchivs Meiningen

1. Fokussierung auf Quellen im Staatsarchiv1 Die Stadt Themar hat in den letzten Jahren in der Presse mehrfach Negativschlagzeilen verursacht, weil dort Konzerte von Neonazis stattgefunden haben. Umso wichtiger ist es mir an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass es in Themar eine Reihe von Bürgern gibt, die sich dem aktiv entgegenstellen. Zu ihren Aktivitäten gehört es auch, sich mit der Geschichte der dortigen jüdischen Gemeinde zu beschäftigen und die Ergebnisse ihrer Nachforschungen auf einer Website zu präsentieren.2 Diese Gruppe hat auch Kontakt zu Nachkommen ehemaliger jüdischer Einwohner aufgenommen und Besuche aus aller Welt empfangen, so dass dieser Teil der Stadtgeschichte lebendig bleibt. Dass Stolpersteine in Themar verlegt wurden, ergibt sich aus diesen Bemerkungen fast selbstverständlich. Da also durch die Arbeit der Themarer Bürger, unterstützt durch die kanadische Historikerin Sharon Meen, durch Auswertung der Quellen vor Ort bzw. die Befragung von Zeitzeugen bereits Vieles über die Geschichte der jüdischen Gemeinde Themar/Marisfeld veröffentlicht worden ist, war es aus archivischer Sicht interessant zu sehen, welche Quellen hier noch beigesteuert werden können, die uns das Leben der jüdischen Landbevölkerung im südlichen Thüringen beispielhaft näherbringen.

2. Bemerkungen zur rechtlichen Situation: Die in Thüringen und Franken vor allem in den Städten lebenden Juden wurden, nachdem sie bereits im Mittelalter mehrfach durch Pogrome verfolgt und 1 Vgl. Katharina Witter, Anmerkungen zur jüdischen Geschichte von Themar: Teil 1. Die jüdische Gemeinde Marisfeld als Vorläufer der jüdischen Gemeinde Themar, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 32 (2017), S. 165–186; Teil 2. Die jüdische Gemeinde in Themar, in: ebd. 33 (2018), S. 195–208; Nachträge zur jüdischen Geschichte von Marisfeld, in: ebd. 34 (2019), S. 197–202. 2 https://judeninthemar.org/de/die-stadt-themar/ (letzter Zugriff: 24.01.2022).

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Katharina Witter

vertrieben worden waren, durch landesherrliche Verordnungen im 15. und 16. Jahrhundert wiederholt schikaniert und schließlich erneut ausgewiesen. Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen wies 1536 die Juden aus seinen Landen aus. Die Grafen von Henneberg kündigten den Juden 1556 den Schutz auf, im Hochstift Würzburg geschah das Gleiche 1560. In dieser Situation fanden viele jüdische Familien Aufnahme in verschiedenen reichsritterschaftlichen Kleinherrschaften Frankens. Die also nunmehr vielfach im ländlichen Bereich lebende jüdische Bevölkerung wuchs im 18. Jahrhundert, und vor allem in Unterfranken war die Zahl der Orte, die jüdische Einwohner aufwiesen, sehr hoch. Die dortigen jüdischen Gemeinen bildeten einen stark traditionell geprägten Charakter aus. Die in einigen Dörfern des späteren Herzogtums Sachsen-Meiningen lebende jüdische Bevölkerung gehörte kulturell und verwandtschaftlich zu dieser unterfränkischen Landjudenschaft.3 Zu diesen Orten im südlichen Thüringen gehörten u. a. Aschenhausen (Sachsen-WeimarEisenach), Bauerbach, Berkach, Bibra, Gleicherwiesen, Marisfeld und Walldorf, aber auch die den Grafen von Stolberg gehörige Herrschaft Schwarza. Den Gutsherren, die nicht oder nur mit Gebietsanteilen Vasallen der benachbarten Landesherren waren, kamen die aus dem Judenschutz resultierenden Einnahmen sehr gelegen, die wohl das ausschlaggebende Motiv zur Aufnahme der teilweise ungeliebten Zuwanderer darstellten. Im 18. Jahrhundert änderte sich die Politik der Landesherren gegenüber jüdischer Einwanderung teilweise wieder. In dem Meiningen benachbarten Fürstentum Sachsen-Hildburghausen siedelten sich Juden seit dem 18. Jahrhundert in der Stadt Hildburghausen an. In dem nach dem Aussterben der Grafen von Henneberg an Hessen gefallenen Schmalkalden konnten sich sogar ab 1611 wieder Juden niederlassen. In Schleusingen erhielt 1704 ein Jude wieder befristetes Wohnrecht, später kamen weitere Familien hinzu. Für die Meininger Herzöge waren in Dreißigacker lebende jüdische Familien als Bankiers und Hoffaktoren tätig. Marisfeld war Ende des 17. Jahrhunderts im Besitz der dem Kanton RhönWerra der fränkischen Reichsritterschaft inkorporierten Marschalk von Ostheim, umschlossen aber vom Themarer Amtsgebiet, das wiederum eine komplizierte Besitzgeschichte durchmachte. Im hier interessierenden Zeitraum gehörte das Amt ab 1672 zum Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg, durch die Erbteilung von 1680 zur Landesportion des Herzogs Heinrich von Sachsen-Römhild und war schließlich nach dessen Tod 1710 nach einigem Hin und Her zwischen Sachsen-Gotha-Altenburg und Sachsen-Coburg-Saalfeld ideell

3

Vgl. Steven M. Lowenstein, Alltag und Tradition: Eine fränkisch-jüdische Geographie, in: Michael Brenner/Daniela F. Eisenstein (Hg.), Die Juden in Franken (Studien zur Geschichte und Kultur in Bayern, 5), München 2012, S. 5–24.

Die jüdische Gemeinde Marisfeld/Themar

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geteilt. 1805 fiel es ganz an Sachsen-Coburg-Saalfeld, 1826 schließlich an Sachsen-Meiningen. Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wurden die reichsritterschaftlichen Territorien den umliegenden Fürstentümern eingegliedert, Marisfeld wurde ein Amtsdorf im coburgischen Amt Themar mit einem Rittergut. Die dort lebenden Juden mussten nun ihr Schutzgeld an die Themarer Amtsverwaltung entrichten, und die landesherrliche Verwaltung war gezwungen, sich mit den Rechten und Pflichten der jüdischen Bevölkerung zu befassen.4 Den daraus folgenden Auseinandersetzungen zwischen dem marschalkischen Gerichtsverwalter in Marisfeld und der Amtsverwaltung in Themar bzw. der Landesverwaltung in Coburg, ab 1826 dann der in Meiningen verdanken wir eine umfangreiche archivalische Überlieferung.5 Die rechtliche Situation der Juden in Sachsen-Meiningen wurde durch das sogenannte Toleranz-Patent vom 5. Januar 1811 geregelt, das für Marisfeld ab 1826 Gültigkeit erlangte und bereits eine gewisse Besserstellung beinhaltete. Dennoch blieben sie an ihren bisherigen Wohnort gebunden und mussten weiterhin Schutzgeld zahlen. 1849 erfolgte die Vereinigung der jüdischen Gemeinden mit den politischen Gemeinden, die jüdischen Gemeinden wurden reine Kultus-Vereinigungen. Das Gesetz vom 22. Mai 1856 betr. die Normen für die Verhältnisse der Juden brachte endlich ihre völlige Gleichstellung mit den anderen Bürgern des Landes. Damit war auch der Weg für den Zuzug in die Städte frei, was letztendlich zur Abwanderung vieler jüdischer Einwohner aus Marisfeld führte. Gleichzeitig ließen sich etliche jüdische Familien in Themar nieder. 1877 wurde schließlich Themar zum Sitz der jüdischen Gemeinde und Marisfeld zur Filiale. Während staatlicherseits bis 1918 immer noch eine gewisse Kontrolle über die Kultusangelegenheiten ausgeübt wurde, endete dies in der Weimarer Republik.

4

5

Vgl. Christian Boseckert, Migration und Akkulturation der Coburger Juden im 19. Jahrhundert, in: Gerhard Amend/Christian Boseckert/Gert Melville, Im Fokus: Juden und Coburg. Rückkehr, Ausgrenzung und Integration im 19. Jahrhundert. (Schriftenreihe der Historischen Gesellschaft Coburg e.V., 31), Coburg 2021, S. 109–129. Der Autor stellt hier zwar die Haltung der Landesregierung zur Aufnahme jüdischer Untertanen in der Stadt Coburg im Zusammenhang mit dem Schutzbriefantrag des Hildburghäuser Hoffaktors Simon Levy Simon für seine Söhne Joseph und Salomon im Jahre 1805 dar, geht aber nicht auf die Situation in Marisfeld ein. Einschlägig sind v. a. die Bestände des Landesarchivs Thüringen-Staatsarchiv Meiningen (LATh-StA Meiningen) Patrimonialgericht Marisfeld (PG M), Geheimes Archiv Meiningen mit Aktenabschriften der Themarer Amtsverwaltung, Kreis Hildburghausen (Krs Hbn) mit der Überlieferung des Amts Themar in Verwaltungsangelegenheiten bzw. des Verwaltungsamts Themar.

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3. Juden in Marisfeld unter reichsritterschaftlicher Hoheit Die Anfänge der jüdischen Gemeinde reichen zurück in das Jahr 1678. Zu diesem Zeitpunkt bestanden in Marisfeld zwei Rittergüter, die aber beide im Besitz der Familie Marschalk von Ostheim waren. Am 15. Juli 1679 wandte sich Johann Friedrich Marschalk schriftlich an Hauptmann, Räte und Ausschuss der Reichsfreien Ritterschaft in Franken, Orts Rhön und Werra mit der Bitte um Beistand in folgender Angelegenheit: Er habe in dem Decembr[is] verwichenes 1678ten Jahres den Juden [Es handelt sich hierbei um Salomon aus Friesenhausen – d. V.] alhier in den Schutz genommen, deßen Handel nur in einkauffung alter Federn bestehet undt niemanden in der Nachtbarschaft im Handel und wandel hinterlich ist, auch den Zoll richtig abstattet, wie er denn seine Feder-Handtlung meisten theilß in dem Ampt Schleusingen, Suhla, Kühndorf undt Benßhausen und also am allerwenigstens in denen Gothanischen Aembtern treibet, doch gleichwohl auff angeben eines benachtbarten Beampten die fürstl. Regierung Zum Friedenstein de dato den 30. Junii deßerwegen an Mich schreibet und mir räthet, den Juden bey Zeiten wieder von mir zu laßen, domit nicht andere Verordtnung etwa deßwegen ergehen möchte, wie innliegende Copia, ietzt gemelten Schreibens mit mehrern ausweisen wirdt […] . Marschalk bittet, da diese Sache, dem gantzen fränckischen Adel nachtheilig in dem ja der Adel privilegieret mit dem Regale, Juden in Schutz auff- undt anzunehmen, […]6 den Ritterhauptmann und die Räte, nach Gotha zu schreiben und die Regierung auf dem Friedenstein darauf hinzuweisen, daß allen und jeden adel. Mitgliedern der fränkischen Ritterschaft Juden auffzunehmen zugelaßen seye, dann obschon Marisfeldt in Territorio Hennebergicae gelegen, so ist es doch nicht de et sub territorio, derohalben sie auch mit fug undt recht den Juden schutz nicht disputiren können.

Dem lag eine Beschwerde des Themarer Amtsverwalters Johann Mendel zugrunde, der sich über die Aufnahme des Juden bei seinem Landesherrn beschwert hatte. Nachdem allerdings Marschalk gegenüber dem Herzog sein Judenschutzrecht behauptet hatte, wies jener nur darauf hin, dass Salomon die im Gothaer Herzogtum geltenden Gesetze einzuhalten habe, sollte er dort Handel treiben wollen. Der Schutzbrief für Salomon von 1697, bisher zu Friesenhausen unter dem Herrn von Zobel sich aufhaltend, hat sich in einer Abschrift im Gutsarchiv Erlebach, das ebenfalls im Staatsarchiv Meiningen verwahrt wird, erhalten. Das Schutzgeld betrug jährlich 6 Gulden, hinzu kam der Hauszins für die Unterstube in der Vogtei sambt Einräumung der darbey seyenden Cammer.7

6 7

LATh-StA Meiningen, Kanzlei des reichsritterschaftlichen Kantons Rhön-Werra Nr. 81, Bl. 1. LATh-StA Meiningen, Gutsarchiv Erlebach Nr. 471.

Die jüdische Gemeinde Marisfeld/Themar

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Die typischen Vorbehalte gegenüber den Juden kommen in den vom Themarer Bürgermeister Johann Peter Volckmar am 9.10.1731 gegenüber der Amtsverwaltung vorgebrachten Beschwerden zum Ausdruck:8 [Er] zeiget an, daß anjetzo zu Marisfeld bey die 12 Juden befunden werden, die meisten sich in der Kürze so beygeschlichen hätten und daher bedenklich wären, was dergl. ungewöhnlicher Numerus vorhaben müße, es würden ohnfehlbar Juden dabey seyn, welche an andern Orten vielleicht nicht mehr gedultet und fortgeschaft worden, gleichwohl aber werden sie zu Marisfeld aufgenommen und geheget, und wären der hiesigen Stadt und Amt durch ihren betrüglichen Handel und Wandel sehr schädlich, bevorab da es arme und verdorbene Juden wären, die sich durch Aufsetzung der Leute fort brächten, wollte dahero dergleichen bedenklichen Auffenthalt hiermit angezeigt haben.9

Sie wurden beschuldigt, die Viehseuche in Franken mit ins Land gebracht und von Herrn von Truchseß, also von ihrer früheren Dorfherrschaft weggejagt worden zu sein. Da aber das Judenschutz-Recht der verwitweten Frau von Marschalk zu Marisfeld nicht anzufechten war, beschränkte sich Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha darauf, den Untertanen in Stadt und Amt Themar bei Strafe zu verbieten, mit den Juden Handel zu treiben. Beschwerden über von Juden getriebenen Wucher hat es schon früher gegeben, wie aus einem Reskript des Herzogs Friedrich vom 16. November 1725 hervorgeht.10 Über das Leben der jüdischen Einwohner erfahren wir nur dann etwas aus den schriftlichen Quellen, wenn Konflikte zwischen Juden und ihrer christlichen Umwelt bzw. innerhalb der jüdischen Gemeinde ohne Einschaltung der Obrigkeit nicht mehr zu regeln waren. Darüber hinaus werden finanzielle Ansprüche der Gutsherrschaft schriftlich fixiert. Derartige Unterlagen finden wir v. a. im Gutsarchiv, das leider nur noch fragmentarisch erhalten ist, in den Akten des Patrimonialgerichts Marisfeld und den im Staatsarchiv Meiningen fragmentarisch überlieferten Akten des Ritterkantons Rhön-Werra der fränkischen Reichsritterschaft, die erst kürzlich aus anderen Beständen extrahiert wurden. Ein Beispiel über innerjüdische Streitigkeiten ist aus dem Jahre 1738 überliefert, die zu Ungunsten der jüdischen Einwohner zwischen der Vormundschaft über die Söhne des Johann Heinrich Marschalk von Ostheim zu Marisfeld und ihrem Onkel Franz Friedrich Marschalk zu Walldorf ausgetragen wurden. Marisfeld war damals geteilt, es gab das vormundschaftlich verwaltete eigentliche Rittergut mit dem Schloss, zum anderen den Söhn- und Töchterlehnbaren sogen. Schaurodtischen Hof, den Franz Friedrich von Marschalk zu Walldorf besaß. Auf Letzerem lebten einige Juden, denen er Schutz erteilt und ihnen erlaubt hatte Schule zu halten,11 d. h. in die Synagoge zu gehen. Auch die auf dem Ritter8

LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 1154, Abschrift der ab 1806 angelegten Akte der Themarer Amtsverwaltung. 9 Ebd., Bl. 22r. 10 Ebd., Bl. 25v, 26r. 11 LATh-StA Meiningen, Kanzlei des reichsritterschaftlichen Kantons Rhön-Werra Nr. 142,

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gut lebenden Juden besuchten diese Synagoge, und gemeinsam unterhielten sie einen „Heiligen“, also eine Kasse für ihre Kultusbedürfnisse, sowie einen Lehrer. 1737 entbrannte ein Streit zwischen zwei Juden über einen Schul- (= Sy­nagogen) Stand, indeme des einen Frau gestorben und der andere seine Frau, wider jenes Willen, an der verstorbenen Frau Stand hintreten laßen und hernach einer dem andern sothanen Stand vernagelt und wieder aufgerißen.12 Als dieser Streit so weit eskalierte, dass er beiden Herrschaften vorgetragen wurde, verbot daraufhin Franz Friedrich von Marschalk zu Walldorf den marisfeldischen Schutzjuden sogleich den Besuch der Synagoge, dann aber erlaubte er es unter der Bedingung, daß jeder jährl. 1 rthlr. dieserwegen erlegen und avanciren solle. Der marschalkische Vormund Freiherr von Bibra brachte diesen Streit nun vor die ritterschaftliche Kanzlei, aus deren Akten die folgenden Auszüge stammen. Von Bibra führte ins Feld, dass, obwohl Franz Friedrich Marschalk außerhalb seines eingeschränkten Hofes und außer dessen Schranke keinen Schutz geben könne, er seinen Juden auf Marisfelder Territorium gegen Entrichtung eines gewissen Geldes das Begräbnis gestattet habe, sie auch Waßer, Wonne und Weide im Dorffe und der Marisfeld. Hut und Trifft geniesen obwohl sie früher etliche Jahre lang auf Verbot des Marschalk nicht das mindeste ins Dorf gegeben, obgleich ich verdrießlich, daß vorhero alljährl. 5 ggr. ins gemeine aerarium gezahlet haben, mithin meines Dafürhaltens nicht zu dulten ist, daß H. v. Marschalk zu Walldorf vor solchen Genuß dießeitige Juden mit neuerlicher Beschwerung belegen will.13 Franz Friedrich von Marschalk bestritt u. a., dass der Judenfriedhof auf marisfeldischem Territorium liege, und ließ im Übrigen am 28. März 1738 seine Schutzjuden von Gerichtsverwalter Radefeld vernehmen:14 Zunächst wurden sie befragt, wie lange sie auf dem Hof zu Marisfeld Schutz genießen, und gaben zur Antwort: Michel Isaac 2 Jahre in Marisfeld, 35 Jahr im Hof das., Isaac Michel war hier geboren und aufgewachsen, 36 Jahre alt und seit 10 Jahren im Schutz, Isaac Hirsch sen. 9 Jahre und Isaac Hirsch jun. seit 3 Jahren. Sein Vater Hirsch aber habe vor 35 Jahren in Marisfeld gewohnt und sei dann nach Bauerbach gezogen. Meyer Menle gab an, sein Vater habe etwa 20 Jahre da gewohnt und sei im letzten Jahr verstorben, er selber 7 oder 8 Jahre. Auf die Frage, ob früher auf dem Hof zu Marisfeld eine Synagoge gewesen sei, antworten sie, dass sie Pfingsten vor 10 Jahren erstmalig Schule in dem Hof zu Marisfeld gehalten hätten, weil sie vorher zu wenige gewesen seien. Die Erlaubnis dazu hätten Isaac Michel und des Menle Vater nebst Hannß Fritzen von dem gnädigen Herrn in Walldorf vor 20 Jahren gegen 2 rthl. Schulgeld erhalten. Auf Befragen mussten sie zugeben, dass diese Erlaubnis nur den auf dem Hof zu Bl. 1 f., Schreiben des Kurators von Bibra vom 16. Dezember 1737 an den Ritterhauptmann. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd., Bl. 8 f.

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Marisfeld sitzenden Juden geben wurde, es habe aber sonst damals noch keine Juden in Marisfeld gegeben. Auf dem eigentlichen Rittergut in Marisfeld wohnte zum Zeitpunkt der Befragung nur Simon Josua seit 6 oder 7 Jahren. Vor diesem sey ein Doctor da gewesen, welcher aber kein Schuz jud gewesen, Isaac Löser [eine Partei des obigen Streites – d. V.] sey zwar auch ein halb Jahr da gewesen, aber auch wieder weg.15 Auf die Frage, warum sie die außerhalb des Hofes wohnenden Juden ohne Erlaubnis ihres Schutzherrn in ihre Synagoge aufgenommen hätten, antworteten sie, dass sie nach ihrem Herkommen keinem die Schule versagen könnten, deshalb wäre es ihnen auch nicht nötig erschienen, ihren Herrn um Erlaubnis zu fragen, ob sie dem außerhalb des Hofes wohnenden Juden einen Synagogenstand einräumen dürften. Schließlich wurden die sogenannten Walldorfer Juden von ihrem Schutzherrn zur Zahlung von 6 Rthl. Strafe verurteilt, weil sie den anderen den Synagogenbesuch erlaubt hatten. Die übrigen Streitpunkte fanden ihre Erledigung durch den Tod Franz Friedrich Marschalks am 20. Juli 1744, dessen minderjährige Neffen sein Erbe antraten. Ein Protokollbuch des Petersgerichts aus dem 18. Jahrhundert dokumentiert das teilweise spannungsgeladene Verhältnis zwischen christlichen und jüdischen Einwohnern.16 So wurde auch hier mehrfach von Schultheiß und Gemeinde gefordert, Letztere an den Gemeindelasten zu beteiligen, wie das früher der Fall gewesen sei, in die Gemeindekasse einen Beitrag zu leisten und sich an der Dorfwacht zu beteiligen.17 Auch wurde am 13. April 1746 das Schadenhüten (der Juden) mit ihrem Vieh im Felde 18 beklagt, außerdem beschwerte man sich, dass sie am Sonntag während des Kirchgangs oder zur Nachtzeit Wasser am Gemeindebrunnen holten und die jüdischen Kinder Mutwillen am Brunnen trieben, die Juden aber zu dessen Erhaltung nichts beitrügen. Am 28. April 1749 wurde gegen die Juden die Beschwerde geführet, daß diejenige[n], welcher außer dem herrschaftl. Judenhauß in Nachbarhäußern wohneten, die gantze Nacht im Dorffe herum liefen, und die Bitte geäußert, daß gnädige Herrschaft geruhen mögten, zu befehlen, daß sie des Nachts von der Gaße blieben, oder gar in den herrschaftl. Hof zusammen ziehen, und wie früher jeder Juden Haußhalt jährl. einen Orts Gülden zur Gemeinde abgeben müßen.19 Dass aber auch Handelsbeziehungen zwischen christlichen und jüdischen Einwohnern bestanden, zeigt das im Protokoll vom 28. März 1740 ausgesprochene Verbot, von den Juden Fleisch zu kaufen, auch sei jeglicher Handel an

15 Ebd. 16 LATh-StA Meiningen, PG M Nr. 204. 17 Ebd., Bl. 99v. 18 Ebd., Bl. 116. 19 Ebd., Bl. 124v, 125r.

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Sonntagen verboten.20 1749 wurde dem Viehhändler Meyer Betrug beim Verkauf von Stieren vorgeworfen, eine typische Anschuldigung.21 In den für die Söhne des stark verschuldeten Johann Heinrich Marschalk von Ostheim geführten Vormundschaftsrechnungen über das Rittergut Marisfeld sind Einnahmen an Judenschutzgeld enthalten. Die Rechnung für 1744/4522 nennt sieben Personen (Namen der Familienvorstände), die Schutzgeld zahlen mussten. Ihre möglicherweise erwachsenen Söhne, die noch keinen eigenen Hausstand gegründet hatten, finden hier keine Erwähnung. Erst eine Gutsrechnung von 1784/85 listet uns wieder die Namen der jüdischen Familienvorstände mit den Schutzgelderträgen auf. Demzufolge lebten in Marisfeld Löw Schmuel, Jacob Mantel, Joseph Wolff, Moses Löw, Schmus Mantel, Michael Löser, Salomon Schmuel, Isaac Abraham, Schie Salomon, Elias Säckle und Mantel Meyer. Sie zahlten entweder 3 fl. 9 kr. oder 6 fl. Schutzgeld, sicher in Abhängigkeit von ihrem Vermögen.

4. Die jüdische Gemeinde Marisfeld unter coburgischer Verwaltung Mit dem völligen Übergang des Amts Themar an Sachsen-Coburg 1805 und der Aufhebung der Reichsritterschaft 1806 ging das Judenschutzrecht auf die Landesherrschaft über, die sich nun mit den Verhältnissen der jüdischen Bevölkerung beschäftigen musste. Während das Schutzgeld fortan an die Amtsverwaltung zu entrichten war, verblieben dem Gutsherrn die Einnahmen aus der Miete v. a. im sogen. Judenhof, Abgaben für Gräber u. Ä. Eigene Häuser besaßen nur zwei Familien. Im Zusammenhang mit der Einholung von Informationen entstand auch das folgende namentliche Verzeichnis des Parnas (Gemeindevorsteher) Moses Löw über die in Marisfeld wohnenden jüdischen Familienvorstände mit der Auflis23 tung des Schutzgeldes in fl. rh. vom 13. Januar 1807: Michal Löser im herrschaftlichen Haus 5, Lob Löw 10, Elias Seckl 5, Moses Löw 6, Josef Wolf 6, Isak Abraham 6, Salmann [= Samuel] Schmuhl 10, Behr Schmuhl 6, Jacob Schmuhl 6, Abraham Löser 6, Jonß [ Jonas] Meyer 10, Jacob Meyer 10, Hersch Israel 6, Aron Helle 6, Mendl Meyer 6, Jacob Jonas 6, Natan 24 Juneß [ Jonas] 6, Hersch [Hirsch] Merneß 6. Bei den beiden mit 5 fl. veran20 21 22 23

Ebd., Bl. 83v. LATh-StA Meiningen, Gutsarchiv Erlebach/Akten Nr. 472. LATh-StA Meiningen, Kanzlei des reichsritterschaftlichen Kantons Rhön-Werra Nr. 170. LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 1154, Bl. 9. Zu dieser Zeit existierten unter den Juden in unserer Region noch keine festen Familiennamen. Die Kinder erhielten den Vornamen des Vaters als Nachnamen. 24 Ebd., Bl. 11.

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schlagten Personen handelte es sich um alte, vermögenslose Leute. Für die im herrschaftlichen Hause befindliche Synagoge seien keine Abgaben zu entrich25 ten. Die Genehmigung zur Niederlassung neuer jüdischer Familien in Marisfeld wurde mit Reskript der Landesregierung vom 17. April 1807 an den Nachweis eines Vermögens von wenigstens 300 fl. rh. gebunden, weil man befürchtete, es könnten sich im Verhältnis zur christlichen Bevölkerung zu viele Juden im Lande ansiedeln, unter denen man viele Arme vermutete, und beschränkte ihre Zahl auf 25 Familien.26 Der Schutzbrief für Moses Löb, gebürtig aus Marisfeld, sollte als 27 Muster für einen vom Amt Themar zu entwerfenden Schutzbrief dienen. In den folgenden Jahren wurde die Verwaltung erstmals mit Forderungen nach Gleichbehandlung von Juden und Christen konfrontiert, die aber nur sehr langsam zu Änderungen führten. So wurden sie gleich den übrigen Untertanen zum Militärdienst herangezogen und durften ihre Stände auf Märkten aufschlagen.28 Den wenigen Gesuchen nach Erwerb von Wohnhäusern wurde trotz örtlicher Bedenken nachgegeben. Nach wie vor verdienten die meisten jüdischen Bewohner ihren Lebensunterhalt als Vieh- oder Kurz- und Schnittwaren 29-Händler im Umherziehen entweder im Umland oder im näher oder ferner gelegenen „Ausland“ (Ämter Meiningen, Römhild, Hildburghausen oder in den angrenzenden kursächsischen, ab 1815 preußischen Gebieten), wo auch entsprechende Handelskonzessionen erworben werden mussten. Manche betätigten sich auch als „Schmuser“ (Vermittler zwischen Käufer und Verkäufer). Der überwiegende Teil der Händler konnte gerade so seinen Lebensunterhalt decken, vermögend waren nur einige wenige.30 Insgesamt lebten in Marisfeld 1820 20 jüdische Familien mit 121 Personen. Der Lehrer, der auch als Vorsänger und Schächter tätig war, gehörte nicht zu den Schutzjuden, sondern wurde von der Gemeinde angestellt. Aus der Gemeindekasse beglich man auch die Kosten für Wachs, den Lohn der Leichenfrau, Almosen und dgl. sowie die Baukosten für das Schulhaus. Zum Beschneiden musste ein Rabbiner von außerhalb beigeholt werden.31

25 Ebd., Bl. 16. 26 Ebd., Bl. 9. 27 Ebd., Bl. 42. 28 Ebd. 29 Vor allem Textilien und andere leicht zu transportierende Waren. 30 LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 2484. 31 LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 1163.

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5. Die jüdische Gemeinde Marisfeld im Herzogtum Sachsen-Meiningen Mit dem Übergang des Amtes Themar an die Herzöge von Sachsen-Meiningen 1826 änderte sich die rechtliche Situation der Juden wiederum. Das Toleranzpatent vom 5. Januar 1811 machte die rechtliche Gleichstellung der Juden von ihrer Umerziehung zu einer veränderten Erwerbsweise abhängig,32 die u. a. durch bessere Bildung erreicht werden sollte. Betrachtet man die Konzessionsanträge, die ab 1826 bei der Themarer Amtsverwaltung gestellt wurden, könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Zahl der sogenannten Handelsjuden sprunghaft zugenommen habe. Dieses scheinbare Wachstum liegt aber v. a. darin begründet, dass dort nun auch diejenigen Anträge bearbeitet wurden, die auf eine Handelstätigkeit ins frühere „Ausland“ Sachsen-Meiningen ausgerichtet waren. Eine gewisse tatsächliche Zunahme resultierte aber daraus, dass die Niederlassung für Juden in Sachsen-Meiningen leichter zu bewerkstelligen war als im benachbarten Bayern, weil dort die Zahl der Familien beschränkt war und nur dann die Niederlassung genehmigt wurde, wenn vorher jemand verstorben oder verzogen war. Das zur Ansiedlung in Marisfeld nachzuweisende Vermögen wurde in einigen Fällen sogar bei vermögenden Christen erborgt. So z. B. geschehen 1826 bei Selig Abraham, dritter Sohn des im Frühjahr verstorbenen Abraham Löser aus Marisfeld, der, 27 ½ Jahre alt, eine Konzession für den Schnittwarenhandel im Amt Themar besaß und sich nun aus Anlass seiner Heirat mit der 24-jährigen Kreile Itzig, Tochter des Schwarzaer Itzig Feibel (Feiffel), in Marisfeld niederlassen wollte. Seinem ältesten Bruder Löser Abraham war bereits die Niederlassung in Marisfeld gestattet worden. Der zweite Bruder Isaak Abraham lebte in der bayerischen Pfalz, ein dritter Bruder sei zur christlichen Religion übergetreten und in Ichtershausen im Gothaischen. Der jüngste Bruder schließlich, Moses Abraham, wohne noch bei der Mutter. Während die Braut 800 fl. rh. zur Mitgift erhalten werde, musste er ein Darlehen über 174 fl. fr. bei Johannes Weißheit in Themar 33 aufnehmen. Die zahlreichen Anträge auf Ausstellung und Verlängerung von Handelskonzessionen aus den folgenden Jahren geben uns einen kleinen Einblick in das anstrengende und in den meisten Fällen gerade die Existenz sichernde Leben der sogenannten Handelsjuden. Nicht selten wurde um Verminderung der Konzessionsgebühren gebeten, was aber nur selten gestattet wurde.

32 Abgedruckt in: Franz Levi unter Mitarbeit von Johannes Mötsch und Katharina Witter, 12 Gulden vom Judenschutzgeld … Jüdisches Leben in Berkach und Südwestthüringen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. GR, 7), München/ Jena 2001, S. 98–105. 33 LATh-StA Meiningen, PG M Nr. 8.

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In einzelnen Fällen erlernten die jungen Männer auch ein Handwerk. Überliefert ist z. B. der Fall des 17-jährigen Nathan Hirsch, Stiefsohn des Jacob Meyer, der gerne ein Handwerk lernen würde: [E]r möchte ein Schumacher werden oder auch sonst ein Handwerk erlernen; allein er (der Stiefvater) habe selbst wenig oder nichts. Da der verstorbene Vater ihm aber nichts hinterlassen habe, fehle das Geld, um ihn bei einem Meister unterzubringen. Auf den Einwand des Amtmanns, dass doch manchmal Meister Lehrjungen unentgeltlich annehmen würden, antwortete 34 Meyer, dass er sich alle Mühe gebe, aber es werde ihm nicht gelingen. Darüber hinaus werden einzelne andere jüdische Handwerker in den Akten erwähnt, nicht allen gelang es aber, mit dem erlernten Beruf ihr Auskommen zu sichern. In den folgenden Jahrzehnten ist eine intensive Einflussnahme des Staates v. a. auf die Schulbildung, aber auch die Ausübung des Kultus unter Aufsicht des Pfarrers zu beobachten. Dafür waren durch das Konsistorium, die für das Kirchen- und Schulwesen zuständige Landesbehörde, zunächst einmal Informationen einzuholen. Hinsichtlich der Schule erschienen die Zustände in Marisfeld völlig unzulänglich, indem der seit vielen Jahren als Lehrer tätige Meyer Müller lediglich eine Ausbildung als Vorsänger und Schächter besaß, weshalb einige Familien einen eigenen Lehrer angestellt hatten. Auch die räumlichen Verhältnisse im Schulgebäude waren unzulänglich, da gar nicht alle Kinder gleichzeitig dort unterrichtet werden konnten.35 Das Konsistorium ordnete daraufhin am 12. August 1830 an, dass künftig ein ordentlicher Unterricht in deutscher Sprache mit einer jährlichen Prüfung der Schüler abzuhalten sei. Die Kinder sollten die Schule erst mit vollendetem 13. Lebensjahr bzw. nach Abschluss des 8. Schuljahres verlassen. Schulversäumnisse seien wie bei christlichen Kindern zu ahnden. Wenn die jüdische Gemeinde keinen eigenen Lehrer anstellen wolle, könnten die Kinder auch die christliche Ortsschule besuchen. Der in der Zwischenzeit von der jüdischen Gemeinde ausgewählte Lehrer Jakob Wildberg aus Kleinbardorf fand nicht die Zustimmung des Konsistoriums, das auf einen im Landeslehrerseminar Hildburghausen ausgebildeten Lehrer bestand. Mit Reskript vom 10. Januar 1831 wurde der israelitische Schulkandidat Ludwig Schimmel von Hildburghausen nach Marisfeld versetzt. Da die Gemeinde sich aber von der Obrigkeit keinen Lehrer vorsetzen lassen wollte, wurde er immer wieder boykottiert. Tatsächlich erwuchsen der jüdischen Gemeinde auch Mehrkosten aus der Tatsache, dass der Lehrer nicht mehr als Schächter tätig war, außerdem passte es den meisten nicht, dass Mädchen genauso lange Unterricht erhalten sollten wie die Jungen. Bisher hatten diese höchstens bis zum 10. Lebensjahr die Schule besucht.

34 LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 2480. 35 LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 1164.

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Spätestens nach dem Ableben des früheren Lehrers und Vorsängers Meyer Müller am 20.11.1832 eskalierte der Streit mit der Gemeinde, da Schimmel ihrer Meinung nach nicht als Vorsänger geeignet sei, diese Funktion aber früher von dem Lehrer mit ausgeübt worden war. Den ohne Genehmigung des Konsistoriums von der jüdischen Gemeinde als Schächter und Vorsänger eingestellten Jacob Levi aus Lissa beschäftigten einige Familien auch als Lehrer. Dass Schimmel, der nach Meinung der Gemeinde keine geeignete Stimme habe, unter den derzeitigen Bedingungen kein Vorsänger sein könne, akzeptierten die Mitglieder des Konsistoriums, waren aber der Meinung, dies sei möglich, wenn alles Vorsingen und Vorschreien abgestellt würde und ein lautes, verständliches Vorlesen der Tora und Gesetze eingeführt würde. Außerdem solle das tägliche Schulenlaufen (d. h. Besuch der Synagoge) aufgehoben und der Gottesdienst auf den Sabbat, Montag und Donnerstag beschränkt werden, wie an anderen Orten bereits geschehen. Die zeitraubenden täglichen Schiurim (Unterrichtsstunden) in den Privathäusern müssten aufhören, der Vorsänger sollte von der Gemeinde und dem Parnas ganz unabhängig sein und endlich auch alle übrigen bisher mit dem Vorsänger-Amte verbunden gewesenen Nebengeschäfte entfallen. Diese Vorstellungen des Konsistoriums wurden von der Gemeinde nicht akzeptiert. 1833 eskalierte der Konflikt zwischen Gemeinde und Lehrer Schimmel, der sich zuvor schon mehrfach über Auseinandersetzungen mit dem Parnas Samuel Baer beschwert hatte, weil dieser sich in seine Kompetenzen einmische, sowie über zahlreiche Schulversäumnisse. Als 1833 die Gemeinde wiederum einen Schächter und Vorsänger einstellte, nämlich Jacob Levi, der auch entsprechende Zeugnisse für seine Befähigung als Vorsänger und Schächter habe, bat Schimmel schließlich darum, von Marisfeld, wo die Gemeinde bigotter als jede andere im Lande 36 ist, auch wegen des schlechten Gehaltes und des Wandeltisches37 nach Dreißig­ acker versetzt zu werden, wo die Vereinigung beider Stellen einfacher, die Gemeinde nicht so bigott und der Gottesdienst weniger häufig sei. Die Gemeinde verweigerte eine Erhöhung der Lehrerbesoldung, weil sie durch hohe Schulden für einen Synagogen- und Schulbau stark belastet war. Das Konsistorium gab aber Schimmels Gesuch nicht statt. Vom 2. August 1835 datiert eine Schultabelle Schimmels, die u. a. Auskunft über das Elternhaus, die Leistungen der Schüler und ihre Teilnahme am Unter38 richt gibt. Dabei zeigten sich v. a. bei älteren Schülern zahlreiche ungenehmigte Schulversäumnisse, die sich vermutlich aus der Tatsache ergaben, dass diese ihre Väter bei deren Handelstätigkeit unterstützen mussten. Zahlreiche Beleidigungen und Exzesse gegen Schimmel führten schließlich dazu, dass dieser 1836 um seine Entlassung aus dem Schuldienst nachsuchte und auf eine Ver36 Ebd., Bl. 15. 37 Verpflegung des Lehrers in wechselnden Haushalten. 38 LATh-StA Meiningen, Staatsministerium, Abt. Kirchen- u. Schulsachen Nr. 211.

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setzung verzichtete. Erst im Frühjahr 1837 erhielt die israelitische Gemeinde mit Salomon Berg, der von Bauerbach nach Marisfeld versetzt wurde, wieder einen Lehrer, der ebenfalls über die schlechte Behandlung und unzureichende Besoldung Klage führte. Im Jahre 1832 hatte sich die jüdische Gemeinde zum Neubau einer Schule und einer Synagoge entschlossen, weil die vorhandenen Gebäude ihrem Zweck nicht mehr genügten. Die Planungen und die Bauarbeiten selber wurden von den Behörden und dem Marisfelder Pfarrer überwacht, um sicherzustellen, dass ausreichend Platz zur Verfügung stand, außerdem der Unterricht nicht wie bisher durch ein im gleichen Gebäude befindliches Back- und Schlachthaus gestört werde. Im Jahre 1833 wurde eine Untersuchung über die gesundheitlichen Verhältnisse 39 in Bezug auf die Ritualbäder angeordnet. In diesem Zusammenhang wurde der Parnas Samuel Bär nach dem Zustand des Bades befragt. Die Konsistorialräte erkundigten sich, ob sein Gebrauch in einer der Gesundheit angemessenen Weise erfolge und ob eine bessere Einrichtung wünschenswert sei. Baer führte aus, dass das Bad sich im Judenhof, einem herrschaftlichen Gebäude, das vom Ritterguts­ pächter zugleich als Schafstall benutzt wird, befinde. Das Wasser käme aus einer ausgezeichneten Quelle, die in dem fraglichen Gebäude quillt und das Wasser im Bad beständig so hoch unterhelt, daß es einen Mann … etwa bis an den Hals geht. Es ist in die Erde eingemauert und steht etwa 5 Fuß in der Erde, es führen steinerne Stufen hinab wie in einen Keller. Der Umfang ist etwa 10 Fuß im Quadrat. Über der Erde ist es bis an die Decke des Stalles mit Brettern verschlagen, damit es vom Stall abgesondert sey. Das Wasser bleibt beständig so hoch ste40 hen, wird aber in der Regel auch nicht höher.

Es sei immer frisch, friere im Winter nicht ein, habe einen Zufluss und einen Abfluss. Der Boden sei mit Steinen geplattet, die Wände gemauert, die Stufen auch aus Stein. Das Bad werde ungefähr alle 2 Jahre renoviert, ausgeschöpft, der Schmutz heraus geschafft, mit Wasser ausgespült, dann fülle es sich wieder auf. Das Bad sei eigentlich für die Frauen bestimmt, um sich nach gehabter Monatsblutung zu reinigen. Wenn es einer Person zu kalt sei, könne sie auch warmes Wasser zugießen lassen. Auch Männer benutzten gelegentlich das Bad, vorgeschrieben sei es vor ihrer Verheiratung und am Versöhnungstage. Jeder Badende müsse einen Begleiter mit ins Bad nehmen, der den richtigen Gebrauch bezeugen könne und dem dann eine Kleinigkeit zu bezahlen sei. Die Unterhaltungskosten bestreite die Judenschaft aus der Gemeindekasse. Es sei ihm nicht bekannt, dass es irgendeiner Person nachteilig gewesen wäre, wenn das Bad zu kalt gewesen sei, und Kranke badeten nicht darin. Er wisse auch, dass andernorts Bäder besser ausgestattet seien mit Pumpen und Kesseln, dies gereiche aber eher der Bequemlichkeit als zum Nutzen, man habe mehr Kostenaufwand, und 39 LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 1209. 40 Ebd., Bl. 3.

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die Marisfelder Judenschaft habe schon Schulden wegen der neuen Synagoge. Es sei nur unangenehm, dass man durch den Stall ins Bad müsse, die Stallluft sei aber der Gesundheit nicht nachteilig. Wenn der Vermögensstand der Gemeinde 41 besser sei, könne man sich auch ein besseres Bad leisten. 1839 folgte die bereits im meiningischen Toleranzedikt von 1811 vorgesehene Annahme fester Familiennahmen in den 1826 an Sachsen-Meiningen gefallenen Orten. Eine entsprechende Veröffentlichung erfolgte im Regierungsblatt vom 42 28. Dezember 1839. 1844 erschien eine von dem 1836 angestellten Landrabbiner Hoffmann ausgearbeitete Synagogenordnung, die durchaus Anklänge an den evangelischen Gottesdienst zeigte und mit einem Spagat die Brücke zwischen der liberalen Hildburghäuser und den vielfach orthodox ausgerichteten ländlichen jüdischen Gemeinden schlagen musste. Nach einem teilweise sehr emotional geführten Diskussionsprozess wurde die Ordnung am 15. Juni 1844 im Regierungs- und Intelligenzblatt veröffentlicht und sollte innerhalb von zwei Monaten umgesetzt werden. Die zunächst sehr positiv klingende Vollzugsmeldung aus Marisfeld, die die erfolgreiche Umsetzung bis auf einige den Umständen geschuldete Kleinigkeiten bekundete, stellte sich bald als geschönte Beschwichtigung der Obrigkeit heraus. Da die Hauptlast der Umsetzung auf den Schultern des Lehrers lastete, verwundert es in Anbetracht seines schweren Standes in Marisfeld nicht, dass es über kurz oder lang zu neuen Streitereien kommen musste.43 Sie begannen mit der Einbeziehung der weiblichen Jugend in den gemeinsamen Chorgesang, was, solange die Synagoge nicht entsprechend umgebaut war, wegen der religiösen Vorschriften über die Trennung von männlichen und weiblichen Gottesdienstteilnehmern zumindest eine gewisse Kompromissbereitschaft erforderte. Weil aber das Verhältnis zum Lehrer, der sowohl für die Einstudierung und Absolvierung des Chorgesangs als auch für das Verlesen der Gebets- und Predigttexte verantwortlich war, gespannt war, kam es hier bald zu massiven Verweigerungen bzw. Störungen. Es verging kaum eine Woche, während der nicht eine Beschwerde des Lehrers v. a. über den Parnas und den Gemeindevorstand, oder des Parnas über den Lehrer beim Kirchen- und Schulenamt in Themar einging. Der Lehrer beklagte sich, dass die über 14 Jahre alten Mädchen sich weigerten, am Synagogenchor teilzunehmen, obwohl sie die Stücke mit eingeübt hatten, womit der gesamte 1. Sopran und damit die Melodiestimme ausfiel. Der Parnas wiederum nahm Anstoß daran, dass der Lehrer sein Lesepult vor der Torarolle aufschlug, weil er meinte, dass dieser Platz nur dem Rabbiner gebühre, was jener allerdings verneinte. Er belegte sogar den Synagogendiener mit Strafen, wenn 41 Ebd., Bl. 4. 42 Regierungsblatt für das Herzogthum Sachsen-Meiningen Nr. 52 vom 28. Dez. 1839, S. 316 f. 43 LATh-StA Meiningen, Staatsmin., Abt. Kirchen- u. Schulsachen Nr. 15434.

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dieser das Pult vor dem Gottesdienst an die vom Lehrer bezeichnete Stelle schob. Der Lehrer stellte schließlich bis zur Weisung des Konsistoriums die Teilnahme am Gottesdienst völlig ein. Dem Parnas andererseits war es gelungen, den Pfarrer als örtliche Aufsichtsinstanz auf seine Seite zu ziehen. Lehrer Berg reagierte schließlich mit seiner Bitte um Entlassung vom 3. Dezember 1847 allerdings mit dem Argument, dass er mit der gebotenen Besoldung und Verpflegung seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten könne. Er nahm die 2. Lehrerstelle an der Bürgerschule der jüdischen Gemeinde Fürstenberg in Mecklenburg-Strelitz an. Aus der Folgezeit sind keine Auseinandersetzungen über die Synagogenordnung mehr überliefert. Dem neuen Lehrer Simon Lang wollte die Gemeinde als Erstes die Besoldung kürzen. Das Konsistorium bestand aber auf der in der Ausschreibung benannten Höhe. Landrabbiner Dreifuß bekundete seine Zufriedenheit mit Lang, der 1858 nun auch um Besoldungserhöhung ersuchte. 1866 wurde er nach Meiningen versetzt, dafür kam Leopold Ludwig aus Dreißigacker nach Marisfeld. Mit dem Gesetz vom 22. Mai 1856 betr. die Normen für die Verhältnisse der Juden wurde in Sachsen-Meiningen die Gleichstellung von christlicher und jüdischer Bevölkerung juristisch fixiert. Alle rechtlich selbständigen Juden mit eigenem Hausstand mussten nun das Gemeinderecht durch Zahlung des Bürgeroder Nachbargeldes erwerben, was mit dem Erwerb des Staatsbürgerrechts verbunden war. Der ambulante Hausier- und Trödelhandel, der Viehhandel sowie das Schmusergeschäft usw. durften weiterhin nur mit obrigkeitlichen Patenten ausgeübt werden. Das Verbot der Eheschließung zwischen Juden und Christen wurde aufgehoben, allerdings waren Kinder aus derartigen Beziehungen im christlichen Glauben zu erziehen. Das Ausschreiben vom 26. Mai 1856 drängte auf eine schnelle Umsetzung des Gesetzes und legte als zuständige Behörden für den Erwerb des Untertanenrechtes, die Bestimmung des Gemeindevermögens und die Erteilung der erforderlichen Handelspatente die Verwal44 tungsämter fest. Die israelitische Gemeinde hatte nur noch Kultuszwecke zu verfolgen und entsprechend war ein Synagogen- und Schulvorstand mit dem Parnas an der Spitze zu wählen. Zunächst einmal war es aber nötig, alle rechtlich selbständigen Juden mit eige45 nem Hausstand zu erfassen, damit diese das Nachbarrecht erlangen konnten. Von den 39 in Marisfeld ansässigen Familien hatten nach einem Bericht des Schultheißen vom 25. Juli 1856 alle bis auf drei ihre 3 fl. Nachbargeld in die Gemeindekasse gezahlt, Isaak Reinhold, Abraham Reinhold und Meier Goldmann hatten den Betrag bis dahin nicht aufbringen können. Natürlich blieben Unmut und Streitigkeiten nicht aus, insbesondere wollte die christliche Gemeinde die Teilnahme der neuen Mitglieder an dem geringen Gemeindever44 LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 1199. 45 LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 1233.

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mögen verweigern, da viele der Neuaufgenommen ebenfalls arm waren. Diese Armut war vielfach auch der Grund dafür, dass zahlreiche jüdische Einwohner von Marisfeld genau wie viele andere Einwohner des Herzogtums keinen anderen Ausweg aus ihrer wirtschaftlichen Notlage sahen, als mit ihrer Übersiedlung nach Amerika auf bessere Lebensumstände zu hoffen. Die Eingliederung der jüdischen Einwohner in den Gemeindeverband von Marisfeld ging nicht ohne Konflikte und Misstrauen vonstatten. Beispielhaft dafür ist ein 1859 ausgebrochener Streit, als sich Schultheiß Wagner über den Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde (Parnas Bär, Abraham Löser Walther, Heinemann Reinhold, Abraham Friedmann und Lehrer Lang) beschwerte, der sich erlaubt habe, Polizeistrafen gegen einige Nachbarn auszusprechen, die in den jüdischen Kirchkasten geflossen seien (z. B. weil jemand durch den Garten und die Scheune des Gabriel Schloß in den Synagogenhof gegangen sei). Hintergrund war die Frage, ob diese Grundstücke Kultuszwecken dienten oder nicht, ob also die Strafen nicht eher in die Gemeindekasse gehört hätten. Schloß hatte einen Privatweg von seiner Scheune in den Synagogenhof angelegt. Für die Einräumung dieses Rechts hatte er seine „heiligen silbernen Geräte“ der Synagoge überlassen. 1862 fand dieser Streit seine Fortsetzung, als die Gemeinde sich beklagte, dass Schloß diesen Weg nun auch gepflastert habe. Schloß, der zu den begüterteren Mitgliedern der jüdischen 46 Gemeinde gehörte, war damals auch Parnas. Die Ressentiments der christlichen Mehrheit gegenüber der jüdischen Minderheit zeigen sich auch an den Vorgängen um die Konzessionierung von Schank- und Speisewirtschaften in Marisfeld. Ende 1858 reichte Mützenmacher Aron Bär im Namen seiner verwitweten Mutter Regina ein Konzessionsgesuch für den Handel mit Branntwein ein. Während gegen dieses Gesuch Einwände u. a. wegen fehlenden Bedarfs gemacht wurden, man auch störende Auftritte jüdischer Einwohner 47 ins Feld führte, wurde ähnlichen Gesuchen christlicher Einwohner stattgegeben.

6. Entstehung einer jüdischen Gemeinde in Themar Da die Juden mit dem Gesetz vom 22. Mai 1856 endlich gleiche staatsbürgerliche Rechte erhalten hatten, war damit für sie auch der Weg in die Städte frei. In Marisfeld bewegte ein Großbrand im Jahre 1866 viele jüdische Einwohner zum Umzug u. a. nach Themar, wo einige bereits ihre Geschäfte angesiedelt hatten. Dort waren 1869 bereits ungefähr 15 jüdische Familien ansässig, die aus verschiedenen Orten zugezogen waren. Sie hielten zwar einen eigenen Gottesdienst ab, 46 LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 6508. 47 LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 6504.

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bildeten aber zunächst keine eigene Gemeinde, sondern blieben Filiale von Marisfeld, wo weiterhin auch Lehrer Ludwig ansässig war. Für die Marisfelder Kinder erteilte er den gesamten Volksschulunterricht, während die schulpflichtigen Kinder in Themar die dortige Schule besuchten und von ihm lediglich Religionsunterricht erhielten.48 Auch die Synagoge der Kultusgemeinde befand sich offiziell in Marisfeld. Insbesondere die Lehrerbesoldung, aber auch die sonstigen Gemeindebeiträge waren ein Zankapfel zwischen den in Marisfeld verbliebenen und den in Themar ansässigen Gemeindemitgliedern. Anlässlich dieser teilweise sogar gerichtlich ausgetragenen Streitigkeiten kam es 1868 zu einer Einkommensschätzung, die nach Maßgabe des Staatsministeriums, Abteilung des Innern in Meiningen die Grundlage für die Erhebung der Beiträge für die Kultusgemeinde und für die Besoldung des Landrabbiners bilden sollten. Demnach waren diejenigen Mitglieder mit dem höchsten Einkommen der frühere Parnas Gabriel L. Schloß, Jakob Frankenberg und Abraham Walther, dann Samuel Bär, Lippmann Hofmann und Otto Sachs. Bereits 1874 stellten die ersten Gemeindemitglieder Anträge auf Austritt aus der Kultusgemeinde Marisfeld und Anschluss an andere Gemeinden, was vom Staatsministerium, Abt. für Kirchen- und Schulsachen, aber nicht genehmigt wurde. Im gleichen Jahr beantragte der Lehrer seinen Umzug nach Themar, da in Marisfeld nur noch 16 Gemeindemitglieder lebten, in Themar 20. Dort gab es mittlerweile auch einen eigenen Ausschuss. Dennoch wehrten sich die Themarer noch gegen einen Umzug Ludwigs, erst 1876 änderte sich ihre Meinung. Immerhin gab es zu diesem Zeitpunkt 22 schulpflichtige Kinder in Themar und nur 10 in Marisfeld. Aber erst nach Klärung finanzieller Probleme, insbesondere hinsichtlich der Lehrerbesoldung, wurde 1877 der Gemeindesitz nach Themar verlegt, Marisfeld wurde Filiale. Lehrer Ludwig zog nach Themar und die jüdischen Marisfelder Kinder wechselten in die Volksschule. In Themar wurde ein eigener Synagogen- und Schulvorstand gewählt. Streitigkeiten gab es immer wieder um finanzielle Probleme der Gemeinde. Über inhaltliche Fragen des Gemeindelebens dagegen erfährt man weniger als bisher. So verweigerte der Gemeinderat die von Lehrer Ludwig mit Gesuch vom 14. Februar 1879 gewünschte Aufstellung einer Orgel in der Synagoge, stattdessen wurde im August 1883 ein Harmonium angeschafft.49 Mit der Bürgerschule in Themar waren Probleme der Berücksichtigung spezieller jüdischer Kultusbedürfnisse zu klären. Einige Kinder besuchten allerdings auch auswärts gelegene Gymnasien.50 1886 begannen Überlegungen zum Umbau der in einem Wohnhaus untergebrachten Synagoge, die am schlechten Zustand des Hauses scheiterten, es wurde nun ein Synagogenbaukommittee unter Führung Mayer Müllers gewählt und eine entsprechende Kasse eingerichtet. Die hier aquirierten Mittel reichten aber 48 LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 1239. 49 LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 9925. 50 LATh-StA Meiningen, Staatsmin., Abt. Kirchen- u. Schulsachen Nr. 209.

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für einen Neubau nicht.51 Deshalb beschloss die israelitische Gemeinde 1890 nun doch, den im Hause der Witwe Steitz eingerichteten Betsaal umzubauen. 1893 wurde der untere Teil des Haues käuflich erworben, um dort auch eine Lehrerwohnung einzurichten.52 Protokolle der Gemeindeversammlungen und der Wahlen des Gemeindevorstands überliefern in erster Linie finanzielle Angelegenheiten der Kultusgemeinde, hier sind auch die Namen der umlagepflichtigen Mitglieder aus verschiedenen Jahren überliefert. 1889 musste der an Diabetes erkrankte Lehrer Ludwig pensioniert werden, nachdem er gewisse Zeit von dem Vikar Leo Kahn unterstützt worden war. Die Stelle wurde schließlich aber nicht dem Vikar, der sich dafür beworben hatte, sondern Gustav Hofmann aus Walldorf übertragen, der auch als Vorsänger tätig war. Nach dessen Versetzung nach Meiningen 1896 und nur kurzfristig in Themar tätigen Lehrern folgte 1900 Hugo Friedmann, der bis dato in Sinzig unterrichtet hatte. Wegen der schlechten Besoldung wechselte dieser 1909 nach Bernkastel und wurde von Moritz Levinstein aus Sontra abgelöst.53 Spätestens mit der Novemberrevolution 1918 endete der direkte Einfluss des Staates auf Religionsangelegenheiten. Deshalb erfahren wir über das innere Leben der jüdischen Gemeinde aus dieser Zeit aus den staatlichen Akten nichts mehr.54 Lediglich das Vereinsregister berichtet über die 1922 durch den Lehrer Levinstein erfolgte Gründung eines Jüdischen Jugendbundes, der 1936 aufgrund der nationalsozialistischen Gesetzgebung aufgelöst werden musste.55 Eine wichtige Quelle zur Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung unter dem Nationalsozialismus sind die im Bestand des Finanzamts Hildburghausen aufbewahrten Akten über die sogenannte Judenvermögensabgabe und über die Reichsfluchtsteuer für Personen, denen die Ausreise aus Deutschland gelang. Das Ende der jüdischen Gemeinde durch die Deportation und Ermordung der letzten in Themar und Marisfeld ansässigen Mitglieder ist auf der eingangs genannten Homepage ausführlich dokumentiert.

51 52 53 54

LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 9926, 9928 f. LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 9929. LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 9926 f., 9929. Hier unberücksichtigt bleiben die Akten des LATh-StA Meiningen, S.-M. Amtsgericht Themar und Thüringisches Amtsgericht Themar, in denen zahlreiche Unterlagen zur freiwilligen Gerichtsbarkeit, die einzelne Personen oder Familien betreffen, überliefert sind. 55 Statut und Namen der Vorstandsmitglieder in LATh-StA Meiningen, Krs Hbn Nr. 9930.

M arko K reutzmann

Hofjuden in den thüringischen Residenzen. Das Beispiel der Familie Elkan in Weimar im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts

1. Einführung Im Jahr 1782 schrieb Johann Wolfgang Goethe das Gedicht: „Auf Miedings Tod“, zum Gedenken an den kurz zuvor verstorbenen Weimarer Theatermeister Johann Martin Mieding. Am Ende der ersten Strophe heißt es darin: „Der Jude Elkan läuft mit manchem Rest, und diese Gärung deutet auf ein Fest.“1 Mit diesen Worten wollte Goethe zunächst einmal bloß die Tatsache zum Ausdruck bringen, dass eine erhöhte Aktivität des Weimarer Hofjuden Jacob Elkan, der das Theater mit Stoffen und Stoffresten für die Anfertigung von Kostümen belieferte, auf ein bevorstehendes festliches Ereignis hindeute.2 In den Zeilen steckte aber auch ein Moment der Abgrenzung: Dass das Jüdisch-Sein Elkans im Gegensatz zur Religionszugehörigkeit der im Gedicht genannten christlichen Personen eigens erwähnt wurde, war auch ein impliziter Hinweis darauf, dass Elkan einer Minderheit angehörte, mit der zahlreiche Zeitgenossen, auch Goethe selbst, abwertende Vorurteile, etwa über die angeblich betrügerische Geschäftstätigkeit der Juden, verbanden.3 Dieser Subtext wurde von den meisten Zeitgenossen verstanden. Es kann daher vermutet werden, dass die Zeile aus diesem Grunde in der Ausgabe von Goethes Werken von 1828 mit Rücksicht auf das inzwischen in Weimar etablierte Bankhaus Julius Elkans, des Sohnes des im Gedicht genannten Jacob Elkan, so geändert wurde, dass es nun nicht mehr hieß: „der Jude Elkan“, sondern nur noch: „der thätige Jude“.4 Damit wurden 1 2 3

4

Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. v. Friedmar Apel u. a., Abt. I, Bd. 1: Gedichte 1756–1799, hg. v. Karl Eibl, Frankfurt a. M. 1987, S. 362. Vgl. den Kommentar zu diesem Gedicht, in: ebd., S. 1063. Vgl. zu Goethes Haltung zu den Juden: W. Daniel Wilson, Goethes Haltung zur Juden­ emanzipation und jüdische Haltungen zu Goethe, in: Annette Weber (Hg.), „Außerdem waren sie ja auch Menschen.“ Goethes Begegnung mit Juden und Judentum, Berlin/Wien 2000, S. 19–45. Goethes Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 13, Stuttgart/Tübingen 1828, S. 135.

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der Hinweis auf das Jüdisch-Sein des Bankhauses Elkan und die damit in der öffentlichen Wahrnehmung verbundenen negativen Assoziationen beseitigt.5 Die Änderung der auf den ersten Blick unscheinbaren Zeile in Goethes Gedicht verweist auf ein in der historischen Forschung bislang eher wenig beachtetes Thema, nämlich die Geschichte der Hofjuden in den zahlreichen thüringischen Residenzen. Nach einer allgemeinen Definition werden unter Hofjuden solche Juden verstanden, „die in einem auf Kontinuität angelegten Dienstleistungsverhältnis zu einem höfisch strukturierten Herrschaftszentrum standen.“6 Äußere Kennzeichen waren u. a. Titel wie ‚Hofjude‘, ‚Hoffaktor‘ oder ‚Hofagent‘ und Privilegien wie das Recht auf Ansiedlung und Handel in einem Territorium und der unmittelbare Zugang zum Fürsten. In der historischen Forschung ist die große Bedeutung der Hofjuden für die allgemeine deutsch-jüdische Geschichte spätestens seit dem Erscheinen der Pionierstudie Selma Sterns7 und des materialreichen, allerdings stark positivistischen, redundanten und durch „eine tendenziell antisemitische Richtung“8 geprägten Werks von Heinrich Schnee9 insgesamt unstrittig. Der Blick richtete sich bisher jedoch vor allem auf die Hofjuden in den größeren und mittleren Territorien.10 Nur ausnahmsweise wurden auch die zahlreichen Hofjuden in den kleinen Territorien in den Blick genommen, obwohl sie hier offenbar eine ähnliche Funktion wie die Hofjuden in den größeren Territorien ausübten.11 5

Der Kommentar der Weimarer Ausgabe gibt an, dass die Änderung dieser Stelle „aus Rücksicht auf das Bankhaus Elkan in Weimar“ erfolgt sei, ohne aber dafür einen Quellenbeleg zu nennen. Vgl. Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. I, Bd. 16, Weimar 1894, S. 429. 6 Rotraud Ries, Hofjuden – Funktionsträger des absolutistischen Territorialstaates und Teil der jüdischen Gesellschaft. Eine einführende Positionsbestimmung, in: Dies./J. Friedrich Battenberg (Hg.), Hofjuden – Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, Hamburg 2002, S. 11–39, hier S. 15 f. 7 Vgl. Selma Stern, Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus. Ein Beitrag zur europäischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert. Aus dem Engl. übertragen, kommentiert und hg. von Marina Sassenberg, Tübingen 2001 (engl. Original: Philadelphia 1950). 8 Ries, Hofjuden (wie Anm. 6), S. 12. 9 Vgl. Heinrich Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus. Nach archivalischen Quellen, Bde. 1–6, Berlin 1953–1967. Vgl. dazu Stephan Laux, „Ich bin der Historiker der Hoffaktoren“: Zur antisemitischen Forschung von Heinrich Schnee (1895–1968), in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 5 (2006), S. 485–513. 10 Vgl. u. a. die neueren Studien: Berndt Strobach, Der Hofjude Berend Lehmann (1661– 1730). Eine Biografie, Berlin 2018 (unveränderte Neuausgabe Berlin 2020); Jutta Dick, Berend Lehmann. Hofjude Augusts des Starken, Berlin 2020. 11 Vgl. die Beiträge in Abschnitt V: Zwischen Stadt und Land, zwischen Hof und Gemeinde: Hofjuden in deutschen Kleinterritorien, in: Ries/Battenberg (Hg.), Hofjuden (wie Anm. 6), S. 281–348.

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Zur Bedeutung und Funktion der Hofjuden sei an dieser Stelle nur auf drei Punkte verwiesen: Erstens spielten Hofjuden in der zweiten Hälfte des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts v. a. als Heereslieferanten, als Münzunternehmer, als Lieferanten für Luxusgüter und als Kreditgeber eine wesentliche Rolle für die Ausbildung absolutistischer Fürstenmacht, barocker höfischer Prachtentfaltung und merkantilistischer Wirtschaftsentwicklung.12 Zum zweiten übernahmen die Hofjuden wichtige Schutz- und Leitungsfunktionen für die in den jeweiligen Territorien ansässigen jüdischen Gemeinschaften, wenn sie auch selbst oft im Zuge einer Akkulturation an die christliche Mehrheitsgesellschaft die innere Bindung an das Judentum verloren. In jenen Territorien, aus denen Juden am Ende des Mittelalters oder zu Beginn der Frühen Neuzeit vertrieben worden waren, bildete die Aufnahme von Hofjuden mitunter den Auftakt zur Ansiedlung neuer jüdischer Gemeinschaften.13 Drittens wird in der Forschung über die Rolle der Hofjuden im Prozess der Aufklärung sowie bei der rechtlichen Gleichstellung und der Integration der Juden in die bürgerliche Gesellschaft diskutiert.14 Nach einer älteren These sei die Verbesserung der Rechtsstellung der Juden auch als Belohnung für die Leistungen der Hofjuden für den absolutistischen Staat gewährt oder von vermögenden Hofjuden erkauft bzw. durchgesetzt worden.15 Inzwischen ist die Forschung jedoch eher zu der Auffassung gelangt, dass Hofjuden nur selten eine aktive Rolle in der Aufklärung und der rechtlichen Gleichstellung gespielt haben. Zwar wirkten sie mitunter durch die Anstellung von jüdischen Aufklärern als Hauslehrer oder durch die Förderung reformorientierter Bildungseinrichtungen indirekt für diese Prozesse. Dennoch seien sie sehr eng mit der ständischen Gesellschaftsordnung und dem absolutistischen Fürstenstaat verbunden geblieben, „an dessen Zerstörung und Überwindung“ sie daher „kein Interesse haben konnten.“16 Dagegen seien die Hofjuden und deren Nachfahren oft zu Mitgestaltern des wirtschaftlichen Strukturwandels an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert geworden.17 12 Vgl. Mordechai Breuer/Michael Graetz, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 1: Tradition und Aufklärung 1600–1780, München 1996, S. 106–125; J. Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001, S. 41–45. 13 Vgl. die Beiträge in: Ries/Battenberg (Hg.), Hofjuden (wie Anm. 6). 14 Vgl. grundlegend: Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002; Arno Herzig/Hans Otto Horch/Robert Jütte (Hg.), Judentum und Aufklärung. Jüdisches Selbstverständnis in der bürgerlichen Öffentlichkeit, Göttingen 2002; Stefan Ehrenpreis, Jüdische Hoffaktoren in Franken: Wegbereiter der Emanzipation?, in: Judentum und Aufklärung in Franken, hg. vom Bezirk Mittelfranken durch Andrea M. Kluxen/Julia Krieger/Daniel Goltz, Würzburg 2011, S. 27–41. 15 Vgl. zusammenfassend zur Forschung: Battenberg, Die Juden in Deutschland (wie Anm. 12), S. 111 f. 16 Ebd., S. 112. 17 Vgl. Ries, Hofjuden (wie Anm. 6), S. 27 f.

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Bei der in den letzten Jahrzehnten vereinzelt in Angriff genommenen Erforschung der Hofjuden in den kleinen Territorien spielten die thüringischen Residenzen bislang keine Rolle.18 Zwar gibt es für Thüringen einzelne lokalgeschichtliche Untersuchungen zu Hofjuden,19 aber es fehlen noch immer Studien, welche die Geschichte der Hofjuden in den thüringischen Residenzen systematisch in den Blick nehmen und in die skizzierten Forschungsfragen einordnen. Dabei bieten die thüringischen Territorien sehr gute Voraussetzungen für die Erforschung des kleinstaatlichen Hofjudentums: Zum einen gab es hier eine hohe Dichte an Residenzen und damit an potentiellen Wirkungsorten für Hofjuden.20 Zum anderen überlebten die thüringischen Staaten im Gegensatz zu zahlreichen anderen Kleinstaaten die großen politisch-territorialen Umbrüche um 1800 weitgehend unbeschadet. Daher bietet sich hier auch ein besonders günstiges Feld für die bislang nur unzureichend untersuchte Frage nach der Rolle von Hofjuden und ihrer Nachkommen in den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Übergangsprozessen um 1800.21 Naheliegend erscheint die Untersuchung der Hofjuden in Thüringen aus dieser Perspektive auch deshalb, weil die thüringischen Residenzen, vor allem, aber nicht nur die Residenzstadt Weimar, sowie in enger Verbindung damit die Universitätsstadt Jena, um 1800 als Zentren aufklärerisch-liberalen Denkens und Handelns alles andere als eine Nebenrolle in den angesprochenen Wandlungsprozessen spielten.22 18 Vgl. u. a.: Ries/Battenberg (Hg.), Hofjuden (wie Anm. 6); auch im Werk von Heinrich Schnee werden die thüringischen Territorien nicht behandelt. Vgl. Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat (wie Anm. 9), hier bes. Bd. 2: Die Institution des Hoffaktorentums in Hannover und Braunschweig, Sachsen und Anhalt, Mecklenburg, Hessen-Kassel und Hanau, Berlin 1954 und Bd. 3: Die Institution des Hoffaktorentums in den geistlichen Staaten Norddeutschlands, an kleinen norddeutschen Fürstenhöfen, im System des absoluten Fürstenstaates, Berlin 1955. 19 Vgl. u. a. Alfred Erck, unter Mitarbeit von Ute Simon, Der jüdische Hoffaktor Mayer Mandel Michel aus Schmalkalden und sein Wirken im Dienste von Herzog Anton Ulrich und der Meininger Landstände (1736 bis 1763), in: Schmalkaldische Geschichtsblätter 7 (2017), S. 117–142; Christa Hirschler, Von Hofjuden und einem Konvertiten am Schwarzburg-Sondershäuser Hof im 18. Jahrhundert, in: Juden in Schwarzburg, hg. v. Schlossmuseum Sondershausen, Bd. 2: Beiträge zur Geschichte der Juden Schwarzburgs, Dresden 2006, S. 98–108. 20 Vgl. Konrad Scheurmann/Jördis Frank (Hg.), Neu entdeckt: Thüringen – Land der Residenzen. 2. Thüringer Landesausstellung Schloss Sondershausen, 15. Mai–3. Oktober 2004, Teile 1 u. 2: Katalog; Teil 3: Essays, Mainz 2004. 21 Vgl. Hans-Werner Hahn, Thüringen im 19. Jahrhundert. Paradigmenwechsel in der Erforschung kleinstaatlicher Strukturen und politisch-sozialer Wandlungsprozesse, in: Matthias Werner (Hg.), Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 377–404. 22 Vgl. Olaf Breidbach/Klaus Manger/Georg Schmidt (Hg.), Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800, Paderborn 2015.

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Allerdings erklärt sich die Zurückhaltung der Forschung wohl auch dadurch, dass den Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit die Ansiedlung in den meisten Gebieten lange Zeit verboten war. 23 Wann und wo Juden an thüringischen Höfen tätig wurden, wozu ja nicht unbedingt die Ansiedlung in der jeweiligen Residenz erforderlich war, muss zum Teil erst noch durch die Forschung geklärt werden. Im frühen 18. Jahrhundert erlaubten die Herzogtümer Sachsen-Meiningen und Sachsen-Hildburghausen sowie die Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen und Schwarzburg-Rudolstadt wieder die Ansiedlung von Juden und nahmen Hofjuden in ihre Dienste.24 Später traten auch in anderen thüringischen Residenzen Hofjuden auf. Wegen der weitgehend fehlenden Vorarbeiten und der äußerst fragmentierten Quellenlage kann eine Erforschung der thüringischen Hofjuden aber nur über die Rekonstruktion einzelner Personen und Familien erfolgen, aus denen sich nach und nach ein Gesamtbild gewinnen lässt. Der folgende Beitrag versteht sich als ein Werkstattbericht und möchte erste Ergebnisse einer solchen exemplarischen Untersuchung vorstellen. Als Fallbeispiel ausgewählt wurde die in der Residenzstadt Weimar seit 1770 ansässige Familie Elkan, von der einige Mitglieder als Hofjuden, Händler und Bankiers enge Verbindungen zum Weimarer Hof, der Dynastie und den führenden Persönlichkeiten der Weimarer Gesellschaft besaßen. Trotz ihrer Bedeutung und der sehr umfangreichen historischen Forschung zum klassischen Weimar ist die Geschichte der Familie Elkan noch nicht systematisch untersucht worden. Eine Pionierstudie von Eva Schmidt, zuerst 1984 und in zweiter Auflage 1993 erschienen, machte zum ersten Mal auf die zwischenzeitlich weitgehend vergessenen jüdischen Familien in Weimar im 18. und 19. Jahrhundert aufmerksam und leistete wichtige genealogische Forschungen.25 23 Zur jüdischen Geschichte in Thüringen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vgl. neben den betreffenden Beiträgen dieses Bandes u. a.: Maike Lämmerhirt, Juden in den wettinischen Herrschaftsgebieten: Recht, Verwaltung und Wirtschaft im Spätmittelalter, Köln/Weimar/Wien 2007; Dies., Die Anfänge der jüdischen Besiedlung in Thüringen, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 69 (2015), S. 57–91; Stefan Litt, Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit (1520–1650), Köln/Weimar/Wien 2003. 24 Vgl. Franz Levi (Bearb.), unter Mitarbeit von Johannes Mötsch u. Katharina Witter, 12 Gulden vom Judenschutzgeld … Jüdisches Leben in Berkach und Südwestthüringen, München/Jena 2001, S. 14 f.; Erck, unter Mitarbeit von Simon, Der jüdische Hoffaktor Mayer Mandel Michel (wie Anm. 19); Armin Human, Geschichte der Juden im Herzogtum S[achsen]-Meiningen-Hildburghausen, Hildburghausen 1898, S. 9–12. 25 Vgl. Eva Schmidt, Jüdische Familien im Weimar der Klassik und Nachklassik: In Memoriam Else Behrend-Rosenfeld, Weimar 1993 (zuerst 1984 u. d. Titel: Jüdische Familien im Weimar der Klassik und Nachklassik und ihr Friedhof); Vgl. auch Wolfgang Huschke, Genealogische Skizzen aus dem klassischen Weimar. Genealogische Besonderheiten einer deutschen Residenzstadt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Genealogisches Jahrbuch, hg. von der Zentralstelle für Personen- und Familiengeschichte, Bd. 19,

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Die Untersuchung der Familie Elkan bietet sich auch wegen der guten Quellensituation an. Neben amtlichen Unterlagen im Weimarer Staatsarchiv und Stadtarchiv gibt es eine umfangreiche familiengeschichtliche Überlieferung, die auf mehrere Archive verteilt ist.26 Obwohl diese Überlieferung meist nur Einzelstücke beinhaltet, die bloß fragmentarische Einblicke liefern, bieten die zahlreichen persönlichen Dokumente doch recht einzigartige Zugänge zur Binnenperspektive auf die Geschichte der Familie Elkan. Im folgenden Beitrag werden in einem ersten Schritt die Herkunft, die familiären Vernetzungen und die Rolle der Familie Elkan im jüdischen Leben Weimars um 1800 skizziert. Im zweiten Schritt wird nach der wirtschaftlichen und politisch-diplomatischen Tätigkeit und im dritten Schritt nach dem Verhältnis der Familie Elkan zur nichtjüdischen Gesellschaft und ihrer Rolle im Prozess der rechtlichen Gleichstellung, der so genannten Emanzipation, gefragt.27

2. Herkunft, familiäre Netzwerke, jüdisches Leben Am 7. April 1770 brachten die „Weimarischen Wöchentlichen Anzeigen“ die knappe Meldung: „Auch haben Serenissima den Juden, Jacob Elkan, zum HofJuden gnädigst ernennet, und demselben die freye Handlung in dem Fürstenthum Weimar verstattet.“28 Diese knappe Meldung markiert eine Zäsur in der jüdischen Geschichte des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach. Nach dem bisherigen Kenntnisstand wurde hiermit durch die Herzogin Anna Amalia zum ersten Mal nach der Ausweisung der Juden aus den ernestinischen Territorien in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts29 einem Juden nicht nur der freie Handel im Fürstentum Weimar, sondern auch die Ansiedlung in der Residenzstadt Weimar erlaubt – auch wenn Letzteres in der Meldung nicht ausdrücklich erwähnt wurde. Für die mitunter aufgestellte Behauptung, dass ein Jacob Elkan bereits 1756 den Titel eines Hoffaktors erhalten habe, konnte bislang kein Quellennachweis T. 1, Neustadt a. d. Aisch 1979, S. 201–240, hier S. 226–233, der aber einem problematischen ethnisch-nationalen Ansatz folgt. 26 Vgl. v. a. GSA, Bestand 151: Elkan-Moritz-Veit; Archiv des Leo Baeck Instituts, New York, Bestand AR 2238: Julius Elkan Banking House Collection; Historisches Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Familienarchiv Veit. 27 Vgl. grundlegend: Michael Brenner/Stefi Jersch-Wenzel/Michael A. Meyer, Deutsch-­ jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 1996. 28 Weimarische Wöchentliche Anzeigen, Nr. 28, 7.4.1770. 29 Vgl. Litt, Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 23), S. 156–158; zu Anna Amalia vgl. Joachim Berger, Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach (1739–1807). Denk- und Handlungsräume einer ‚aufgeklärten‘ Herzogin, Heidelberg 2003.

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erbracht werden.30 Allerdings gab es zum Zeitpunkt der Ernennung Elkans zum Hofjuden schon andere Juden in Weimarer Diensten, die sich aber nicht in Weimar niedergelassen hatten.31 So werden im Weimarer Hof- und Adresskalender von 1770 u. a. die jüdischen Hoffaktoren Levi Israel (ohne Ort) und Elias Löw Reis aus Frankfurt am Main, sowie der Hofjude Levi Gerd (ohne Ort), der Hoflieferant Herz Israel aus Gotha und der Hofjude Wolf Salomon Rothschild aus Eisenach genannt.32 Letzterer gehörte zu jenen Juden, die seit den 1740er Jahren im Fürstentum Eisenach Handelskonzessionen erbaten und sich seit ca. 1750 mit herrschaftlicher Erlaubnis in der ehemaligen Residenz Eisenach niederließen.33 Über die regionale und soziale Herkunft von Jacob Elkan (1742–1805)34 gibt es nur wenige Informationen. Demnach war der Vater Jacob Elkans ein Schutzjude 30 Vgl. auch Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 123, Anm. 12; die Behauptung, dass ein „Agent und Kommissionär“ Jacob Elkan bereits 1756 zum weimarischen Hoffaktor ernannt worden sei, findet sich im Zeitungsartikel eines Nachfahren Jacob Elkans: Der Bankier des klassischen Weimar. Nach eigenen Aufzeichnungen von Kommerzienrat und Hofbankier Dr. jur. Roderich Menzel Moritz, in: Allgemeine Thüringische Landeszeitung Deutschland, Nr. 254, 13.9.1931, S. 9; ebenso findet sie sich bei Huschke, Genealogische Skizzen (wie Anm. 25), S. 227, der als Beleg nur pauschal die Weimarischen Wöchentlichen Anzeigen von 1756 angibt. Eine Recherche des Verfassers des vorliegenden Aufsatzes nach einer entsprechenden Meldung blieb ohne Ergebnis. 31 Jedoch könnte zu dieser Zeit mindestens ein weiterer Jude, Jacob Israel, in Weimar ansässig geworden sein. Im Oktober 1770 veröffentlichten er und Jacob Elkan Verkaufsanzeigen für Masken und Umhänge für eine bevorstehende Redoute. Vgl. Weimarische Wöchentliche Anzeigen, Nr. 83, 17.10.1770. 32 Vgl. Hochfürstl[ich] Sachsen Weimar- und Eisenachischer Hof- und Adreß-Calender, auf das Jahr 1770, Weimar [1770], S. 81–83. – Bei Levi Israel handelte es sich vermutlich ebenso wie bei dem Hoflieferanten Herz Israel um ein Mitglied der jüdischen Familie Israel, die seit 1743 die Erlaubnis zur Ansiedlung und zum Handel in der Residenzstadt Gotha erhalten hatte. Vgl. Hartmut Nitsche, Juden im Herzogtum Sachsen-Gotha im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Jochen Vötsch/Ulman Weiss (Hg.), Historische Korrespondenzen. Festschrift für Dieter Stievermann zum 65. Geburtstag von Freunden, Kollegen und Schülern, Hamburg 2013, S. 225–236, hier S. 227 f. Der Hofjude Levi Gerd wird zuletzt 1803 im weimarischen Hofkalender genannt und erst in diesem Jahr wird als Ort Weimar angegeben. 33 Vgl. Reinhold Brunner, Von der Judengasse zur Karlstraße. Jüdisches Leben in Eisenach, Weimar 2003, S. 22–24. – Das (Groß-)Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach (bis 1815 offiziell: Sachsen Weimar und Eisenach) entstand nach dem Aussterben der Eisenacher Linie der Ernestiner 1741 durch die Vereinigung der Fürstentümer Weimar und Eisenach. Diese wurden zunächst nur in Personalunion regiert. Die staatsrechtliche Vereinigung erfolgte erst 1809, die Erhebung zum Großherzogtum 1815. Die Privilegien für die Schutzjuden wurden jeweils nur für die Fürstentümer Weimar oder Eisenach vergeben. Vgl. grundlegend: Fritz Hartung, Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung Carl Augusts 1775–1828, Weimar 1923; Frank Boblenz, Sachsen-Weimar und Eisenach oder Sachsen-Weimar-Eisenach? Zur Bezeichnung von Herzogtum und Großherzogtum sowie der regierenden fürstlichen Familie ab 1741, in: Weimar-Jena: Die große Stadt 8/2 (2015), S. 111–130. 34 Genealogische Daten meist nach Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25). Ergänzende

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aus dem Ort Schwanfeld im damaligen Hochstift Würzburg.35 Jacob Elkan war zum Zeitpunkt seiner Ernennung zum Hofjuden in Weimar 28 Jahre alt und hatte sich offenbar bereits als Kaufmann etabliert. Auch war er seit dieser Zeit mit Simcha Popper (1748/49 oder 1753–1833),36 der Tochter von Jacob Meyer Popper aus dem Herzogtum Sachsen-Meiningen, verheiratet.37 Die Schwester Jacob Elkans, Sara Elkan (1747/1760–1824), heiratete im Jahr 1783 in Weimar den jüdischen Kaufmann Jacob Löser (1752/53–1818), der aus Walldorf bei Meiningen stammte und 1783 eine Handelskonzession in Weimar erworben hatte.38 Insgesamt deuten die Heiratsverbindungen der ersten Generation der Familie Elkan, die sich in Weimar niederließ, auf deren Einbindung in die mittlere soziale Schicht der regionalen, vor allem in Südthüringen und Franken ansässigen Schutzjuden und kleineren jüdischen Händler hin. Mit der Ernennung Jacob Elkans zum Hofjuden begann offenbar ein sozialer Aufstieg, der sich in der nächsten Generation in einer entsprechenden Ausweitung der Heiratskreise niederschlug. Jacob und Simcha Elkan hatten insgesamt 12 Kinder, von denen 8 das Erwachsenenalter erreichten. Darunter befanden sich 5 Töchter und 3 Söhne. Der älteste dieser Söhne, Meyer Elkan (1773–1813), heiratete Zerline Romberg, die Tochter des Meininger Hofjuden Joseph Romberg.39 Eine der Töchter Jacob Elkans, die ebenfalls Zerline hieß, heiratete gleichfalls einen Angehörigen der Meininger Hofjudenfamilie Romberg. Darüber hinaus war eine weitere Tochter Jacob Elkans, Henriette, mit einem Angehörigen der jüdischen Kaufmannsfamilie Callmann aus Rudolstadt verheiratet.40 Die Heiratsverbindungen der Familie Elkan reichten jedoch schon bald über die Regionen Thüringen und Franken hinaus. Der zweite Sohn Jacob Elkans, Israel Julius Elkan (1779/80– 1839), heiratete mit Jeannette Borchardt (ca. 1775–1851) die Angehörige einer

oder abweichende Angaben werden gesondert belegt. Allerdings sind alle Angaben mit einem gewissen Vorbehalt zu betrachten, da sich selbst in Quellen, die eine hohe Authentizität beanspruchen können, zum Teil einander widersprechende Daten finden. 35 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 15. 36 In der Judenmatrikel des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach wird als Geburtsjahr 1753 angegeben. Vgl. LATh-HStA Weimar, Polizeisachen B 5474a, Bl. 4v. 37 Der genaue Zeitpunkt und der Ort der Heirat sind unbekannt. Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 16; Ermittlung des Schwiegervaters nach Volker Wahl (Hg.), Das Geheime Consilium von Sachsen-Weimar-Eisenach in Goethes erstem Weimarer Jahrzehnt 1776–1786. Regestausgabe, 2 Halbbde., bearb. v. Uwe Jens Wandel/Volker Wahl, Wien u. a. 2014, S. 256, Regest Nr. 2160. 38 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 15, 41. – In der Judenmatrikel wird 1760 als Geburtsjahr Sara Elkans genannt. Vgl. LATh-HStA Weimar, Polizeisachen B 5474a, Bl. 4v. Zur Erteilung der Handelskonzession für Jacob Löser vgl. Wahl (Hg.), Das Geheime Consilium (wie Anm. 37), S. 902, Regest Nr. 13559; S. 908, Regest Nr. 13660. 39 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 43. 40 Vgl. ebd., S. 16.

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vermögenden Berliner Kaufmanns- und Bankiersfamilie.41 Er knüpfte damit nicht nur wichtige wirtschaftliche Verbindungen, sondern erhielt auch Zugang zu den Kreisen des aufgeklärten Judentums, als dessen Zentrum Berlin damals noch immer gelten konnte.42 Diese Verbindungen wurden ausgebaut durch die Heirat der älteren Tochter Julius Elkans, Johanna Elkan (1807–1891), mit Moritz Veit (1808–1864).43 Veit entstammte ebenfalls einer Berliner Kaufmanns- und Bankiersfamilie und wurde u. a. als Journalist, Verleger, Stadtverordneter und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 ein führender Liberaler und Verfechter der rechtlichen Gleichstellung der Juden.44 Auch die weiteren Heiratsverbindungen der Familie Elkan, die hier nicht erschöpfend dargelegt werden können, festigten die regionalen und überregionalen Netzwerke, welche die geschäftliche Tätigkeit erst ermöglichten.45 Nach einigen Quellenhinweisen reichten diese Verbindungen vielleicht sogar bis nach Süddeutschland und in die Habsburger Monarchie hinein. Demnach hatte Jacob Elkan noch einen weiteren Sohn, der zum Katholizismus konvertierte, in den bayerischen Adelsstand erhoben wurde und als Bankier und Großhändler in Wien lebte.46 Ob dieser Leopold Anton von Elkan auf Elkansberg, der auch Großgrundbesitzer in Galizien war,47 tatsächlich in enger verwandtschaftlicher Beziehung zur Familie Elkan in Weimar gestanden hat, ist noch nicht abschließend geklärt.48 41 Vgl. ebd., S. 57. 42 Vgl. u. a. Thomas Brechenmacher/Michał Szulc, Neuere deutsch-jüdische Geschichte. Konzepte – Narrative – Methoden, Stuttgart 2017, S. 85–93. 43 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 60. 44 Vgl. Christian Jansen, „Veit, Moritz“, in: Neue Deutsche Biographie 26 (2017), S. 734– 736 [Onlinefassung]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd117368369.html (letzter Zugriff: 09.03.2022). 45 Genannt sei hier lediglich noch die Heirat des dritten Sohnes Jacob Elkans, Alexander Elkan (1791–1865), mit der aus Bayreuth stammenden und zum Zeitpunkt der Heirat in Frankfurt am Main lebenden Henriette Seebach (1804–1848). Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 52. 46 Dieser Sohn wird in den Darstellungen zur Familie Elkan, v. a. in Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), nicht erwähnt. Ein Hinweis findet sich u. a. in einem Brief von Roderich Moritz an Hermann von Egloffstein vom 5.7.1918, in: GSA 13/512, Bl. 3r. Tatsächlich wurde ein „Leopold Anton von Elkan auf Elkansberg“, Bankier und Großhändler in Wien, für sich und seine rechtmäßigen ehelichen Nachkommen am 25.12.1825 in den bayerischen Adelsstand erhoben. Vgl. Regierungsblatt für das Königreich Bayern, Nr. 8, 25.2.1826. 47 Vgl. Antoni Schneider, Encyklopedya krajoznawstwa Galicyi, Bd. 1, Lwów 1868, S. 130; Słownik geograficzny Królestwa Polskiego i innych krajów słowiańskich, Teil 7, Warszawa 1886, S. 815. Für den Hinweis auf diese Belege und die Übersetzung danke ich Herrn PD Dr. Stephan Flemmig (Jena). 48 Es gibt zwar einen Geschäftsbrief von Julius Elkan an Leopold Anton von Elkan vom 11.9.1832. Dieser enthält aber keinen Hinweis auf eine verwandtschaftliche Beziehung der beiden. Vgl. GSA 6/3358, Bl. 4 f.

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Einerseits erscheint eine Konversion untypisch für die Weimarer Familie Elkan, aus der in den hier untersuchten drei Generationen keine anderen Fälle bekannt sind. Andererseits könnte gerade dies den Abbruch der familiären Beziehungen und damit auch das weitgehende Schweigen der familiengeschichtlichen Überlieferung erklären. Außerdem gibt es weitere zeitgenössische Belege für die Verwandtschaft Leopold Anton von Elkans in Wien mit der Weimarer Familie Elkan.49 In der dritten Generation nahmen die familiären Verbindungen der Weimarer Familie Elkan in die regionale und überregionale jüdische Wirtschaftselite insgesamt gesehen eher ab. Von den acht überlebenden Kindern Jacob und Simcha Elkans blieben allein die drei Söhne, Meyer, Julius und Alexander Elkan, in Weimar und gründeten hier Familien. Von den insgesamt zehn Kindern aus diesen Familien sind von sechs die Ehepartner bekannt. Drei weitere Kinder zogen früh aus Weimar weg50 und ein viertes blieb offenbar unverheiratet.51 Unter den sechs bekannten Ehepartnern handelt es sich in zwei Fällen um eine Heirat innerhalb der Familie Elkan.52 Von den vier weiteren Ehen wurde die Heirat zwischen Johanna Elkan und Moritz Veit bereits genannt. Darüber hinaus heiratete Louise Elkan (1816–1882), die zweite (überlebende) Tochter von Julius Elkan, im Jahr 1850 Hermann Moritz (1820–1885) aus Wehlau in Ostpreußen.53 Dieser übernahm nach dem Tod von Jeannette Elkan, der Witwe Julius Elkans, das Bankhaus. Der Sohn von Hermann und Louise Moritz, Roderich Moritz (1851–1931), führte die Bank bis zu deren Verkauf im Jahr 1906 fort. Die beiden übrigen Heiraten der dritten Generation der Familie Elkan in Weimar führten ebenfalls zu Verbindungen mit Angehörigen der mittleren sozialen Schicht jüdischer Händler und Angestellter.54 Die Familie Elkan nahm auch eine führende Stellung im jüdischen Leben in der Residenzstadt Weimar ein. Zwar bildete sich wegen der geringen Anzahl jüdischer Einwohner nie eine förmliche Gemeinde heraus.55 Doch lebten in 49 So schrieb der sachsen-weimarische Diplomat Carl Friedrich Christian von Fritsch am 7.1.1834 an seine Frau Karoline aus Wien, dass er hier zu „Besuch bei unserem Banquier Elkan“, einem „Verwandten unseres Elkan“ in Weimar, gewesen sei. In: Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Rittergut Seerhausen, Nr. 44 (unpaginiert). 50 Drei der fünf Kinder Meyer Elkans zogen nach dem Tod des Vaters 1813 mit ihrer Mutter zu deren Familie nach Meiningen. 51 Jacob Adolph Elkan, geb. 1828, Sohn von Alexander Elkan, lebte noch 1869 als Bankbeamter in Weimar. 52 Jacob (Jacques) Elkan (1805–1873), Sohn von Meyer Elkan, heiratete Caroline Elkan (1827–1890), Tochter von Alexander Elkan. 53 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 68. 54 Israel Julius Elkan (1803–1874), der älteste Sohn von Meyer Elkan, heiratete ca. 1840 Amalie Wernthal, die Tochter eines Viehhändlers aus Nordhausen; Laura Elkan (1832– 1868), die jüngste Tochter von Alexander Elkan, heiratete den Bankdisponenten Leopold Levyn in Weimar. 55 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 5.

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Weimar neben Jacob Elkan und seiner Familie bald weitere Juden. So war seit 1775 auch der wohl aus Stadtlengsfeld stammende Gabriel Ulmann (1743–1816) in Weimar ansässig, der 1802 zum Hofkommissar ernannt wurde und mit seinem Sohn Ephraim (1770–1830) ein erfolgreiches Bankgeschäft begründete.56 Jacob Elkan richtete in seinem Haus eine Synagoge ein, die auch von den anderen jüdischen Einwohnern Weimars genutzt wurde. Außerdem erbaute er ein jüdisches Bad und erwarb 1774 ein Grundstück, auf dem ein jüdischer Friedhof angelegt wurde. Darüber hinaus wurde ein gemeinsamer Lehrer für die Kinder der in Weimar lebenden Juden unterhalten.57 Jedoch scheinen schon bald heftige Streitigkeiten zwischen den in Weimar lebenden Juden, besonders zwischen den Familien Elkan und Ulmann, entstanden zu sein. Diese führten im Jahr 1789 zunächst dazu, dass ein Vertrag über die gemeinsame Nutzung und die Bestreitung der Kosten für die genannten Einrichtungen abgeschlossen wurde, um die entstandenen Meinungsverschiedenheiten beizulegen. Jedoch nahmen die Konflikte in der Folge offenbar nicht ab und mündeten im September 1792, während des jüdischen Versöhnungsfestes, sogar in öffentlichen tätlichen Auseinandersetzungen.58 Als daraufhin der gemeinsame Lehrer durch Elkan und dessen Schwager Jacob Löser entlassen wurde, kam es zu einer Beschwerde Ulmanns bei den herzoglichen Behörden, die von diesen zunächst zugunsten Ulmanns, vom Herzog Carl August aber letztlich im Sinne Elkans und Lösers entschieden wurde. In der Folge scheinen die Synagoge, das Bad und der Lehrer nicht mehr gemeinschaftlich genutzt worden zu sein. Außerdem erwarb Gabriel Ulmann einen eigenen Begräbnisplatz für seine Familie, wenn auch direkt neben dem durch Jacob Elkan eingerichteten Friedhof.59 Die Ursache für die Streitigkeiten zwischen den Familien Elkan und Ulmann war offenbar vor allem wirtschaftliche Konkurrenz, die zu gegenseitigen Verdrängungsversuchen führte. So verbreitete Gabriel Ulmann auf der Leipziger Messe Behauptungen, wonach Jacob Elkan seinen Zahlungsverpflichtungen gegen mehrere Handelshäuser nicht nachgekommen sei.60 Diese Anschuldigungen dienten offensichtlich der Untergrabung der geschäftlichen Reputation El­kans. Daraufhin kam es zu einer Untersuchung der Weimarer Regierungsbehörde gegen Elkan. Auf der anderen Seite taten sich die Familien Elkan und Ulmann aber auch immer

56 Vgl. zur Familie Ulmann: ebd., S. 75–91; die auf S. 77 gemachte Angabe, dass Gabriel Ulmann bereits 1783 zum Hofkommissar ernannt worden sei, ist offenbar unrichtig. Vgl. dagegen die Ernennung Ulmanns zum Hofkommissar in: Weimarisches Wochenblatt, Nr. 15, 20.2.1802. 57 Zu diesen gemeinsamen Einrichtungen vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 26–32. 58 Vgl. ebd.; sowie LATh-HStA Weimar, Rechtspflege B 2495. 59 Zur Geschichte des jüdischen Friedhofs vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 97–117, hier bes. S. 97 f. 60 Vgl. ebd., S. 30.

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wieder für größere wirtschaftliche Vorhaben zusammen.61 Darüber hinaus fungierten die Oberhäupter der Familie Elkan noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Vertreter der Weimarer Juden gegenüber den Behörden.62 Das jüdische Leben in Weimar um 1800 war somit einerseits durch Ansätze zur Bildung einer jüdischen Gemeinde, andererseits aber auch durch anhaltende, vor allem wirtschaftlich motivierte Konflikte geprägt, in deren Gefolge das gemeinsame jüdische Leben litt und Einrichtungen wie die Synagoge, der Friedhof oder der Lehrer offenbar schon bald nicht mehr gemeinschaftlich genutzt wurden.

3. Wirtschaftliche und politisch-diplomatische Tätigkeit Die wirtschaftliche Tätigkeit der Familie Elkan ist noch nicht ausführlich untersucht worden, obwohl sie als Kaufmanns- und Bankiersfamilie in Weimar in den Jahrzehnten um 1800 eine herausragende Rolle spielte. Nicht selten finden sich in der Literatur pauschale Aussagen über die Existenz eines Bankhauses Elkan in Weimar, dessen Gründung mitunter in das Jahr 1756 datiert und Jacob Elkan als erstem Vertreter der Familie in Weimar zugeschrieben wird.63 Der Blick in die Quellen zeigt jedoch, dass das Bankgeschäft erst in der zweiten Generation, nämlich durch Julius Elkan, zu einem Haupterwerb ausgebaut wurde. Die Untersuchung der wirtschaftlichen Tätigkeit der Familie Elkan in Weimar wird auch durch die mangelhafte Quellenlage erschwert. Zwar gibt es zahlreiche geschäftliche Korrespondenzen. Diese beziehen sich jedoch einerseits hauptsächlich auf die geschäftliche Tätigkeit des Bankiers Julius Elkan in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum anderen gewähren sie nur fragmentarische Einblicke in einzelne, isolierte Vorgänge.64 Zusammenfassende Quellen, insbesondere Geschäftsbücher, fehlen dagegen. Daher können die Aussagen zur geschäftlichen Tätigkeit zunächst nur sehr allgemein und lückenhaft ausfallen. Insgesamt zeigt sich bei der Familie Elkan jedoch eine für Hofjuden typische Mischung, die vom Handel und Geldgeschäften bis hin zur diplomatischen Tätigkeit im Auftrag verschiedener Höfe reichte. Jacob Elkan handelte zunächst mit verschiedenen Waren, besonders Stoffen und Kleidung für den Bedarf des Hofes, der herzoglichen Familie und der Weimarer Bürger. Er besaß einen Laden in seinem Haus und einen Verkaufsstand 61 Beispielsweise bei der Lieferung von Silber für die herzogliche Münzstätte in Eisenach. Vgl. ebd., S. 22–25. 62 Vgl. ebd., S. 55. 63 Vgl. u. a. Ulrich Hess, Vom Beginn kapitalistischer Produktionsverhältnisse bis zum Jahre 1917, in: Geschichte der Stadt Weimar, i. A. d. Rates der Stadt Weimar hg. v. Gitta Günther/Lothar Wallraff, Weimar 21976, S. 338–512, hier S. 344. 64 Vgl. v.a. die Korrespondenzen in: GSA 151 (Bestand Elkan-Moritz-Veit).

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auf dem Markt.65 Darüber hinaus betätigte er sich im Gold- und Silberhandel und lieferte zeitweise gemeinsam mit Gabriel Ulmann und seinem Schwager Jacob Löser Silber für die herzogliche Münze in Eisenach.66 Wie umfangreich und erfolgreich seine Geschäfte insgesamt waren, lässt sich aus den bisher bekannten Quellen nicht ermitteln. Aus einzelnen Akten geht der für Hofjuden ebenfalls typische Befund hervor, dass die Tätigkeit für den Hof zwar einerseits einträgliche Geschäfte mit sich brachte, andererseits aber auch eine Abhängigkeit erzeugte, die mitunter zu riskanten und nachteiligen Geschäften zwingen konnte. So erhielt Jacob Elkan zwar 1776 einen Auftrag zur Lieferung von Tuch und Tressen für die neue Uniform der fürstlichen Jägerei im Wert von 455 Talern, musste jedoch eine äußerst langwierige Ratenzahlung akzeptieren.67 Doch konnte er im Jahr 1777 ein Haus in der Kleinen Windischengasse für 1.200 Taler erwerben und hier seinen Laden einrichten.68 Im Jahr 1790 erhielt Jacob Elkan den Titel eines Weimarer Hoffaktors.69 Darüber hinaus war Jacob Elkan auch in geschäftlichen und diplomatischen Verhandlungen im Auftrag des Weimarer Hofes, aber auch anderer ernestinischer Höfe, aktiv. So wurde er vom Weimarer Hof mit weitgehenden Vollmachten als Vermittler bei Verhandlungen über die Anstellung neuer Schauspieler für das Hoftheater eingesetzt.70 Im Jahr 1804 wurde Jacob Elkan vom Coburger Minister Kretschmann angeworben, um zwischen Sachsen-Coburg-Saalfeld und Sachsen-Gotha-Altenburg eine Einigung über die Ablösung der gothaischen Hoheitsrechte im Saalfelder Landesteil zu vermitteln. Für das Zustandekommen eines Vergleichs sollte Elkan eine Belohnung von 10.000 Talern erhalten.71 In ähnlicher Weise war auch Julius Elkan in verschiedenen Missionen tätig. So war er Bevollmächtigter der Weimarer Theaterintendanz für den Verkauf des Lauchstädter Theaters an Preußen im Jahr 1818.72 Diese und weitere ähnliche Verhandlungen und Vermittlungen der Elkans im Auftrag des Weimarer Hofes und anderer Höfe sind bislang noch nicht systematisch untersucht 65 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 19 f. 66 Vgl. ebd., S. 22–25. 67 Vgl. ebd., S. 19 f. 68 Vgl. ebd., S. 17. 69 Weimarische Wöchentliche Anzeigen, Nr. 7, 23.1.1790. 70 So erhielt Jacob Elkan im Jahr 1797 den Auftrag, Verhandlungen über das Engagement der beiden bei der Franz Secondaschen Gesellschaft in Leipzig angestellten Schauspielerinnen Sophie und Marianne Koch für das Weimarer Hoftheater zu führen. Vgl. Ernst Pasqué, Goethes Theaterleitung in Weimar. In Episoden und Urkunden dargestellt, Bd. 1, Leipzig 1863, S. 145–170. 71 Vgl. Carl-Christian Dressel, Die Entwicklung von Verfassung und Verwaltung in Sachsen-Coburg 1800–1826 im Vergleich, Berlin 2007, S. 200–207. Für den Hinweis auf die Beteiligung Elkans an diesem Vorgang danke ich Dr. Gerhard Müller (Jena). 72 Vgl. die Dokumente in: GSA 151/3.

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worden. Es deutet sich jedoch bereits die politisch-diplomatische Funktion der Elkans an, die offenbar weit über ihre privatgeschäftlichen Aktivitäten als Bankiers und Kaufleute hinausreichte. Von den drei überlebenden Söhnen Jacob Elkans widmete sich der älteste, der 1773 geborene Meyer Elkan, ebenfalls dem Handel, seit 1803 mit einem eigenen Laden. Er starb jedoch schon 1813.73 Einen Hoftitel hat er nicht erhalten. Die beiden weiteren Söhne Jacob Elkans, Israel Julius und Alexander Elkan, betätigten sich ebenfalls im Handel, wobei sich Julius Elkan bald dem Geldgeschäft und dem Juwelenhandel zuwandte und im April 1816 im Wiegandschen Haus gegenüber dem Schloss sein Bankgeschäft etablierte.74 Im Goethe- und Schiller-­ Archiv in Weimar sind zahlreiche Zeugnisse über Geschäftsbeziehungen Julius Elkans mit Persönlichkeiten aus Weimar und dem näheren Umfeld überliefert, darunter mit Johann Wolfgang von Goethe, Johann Peter Eckermann, Johannes Falk, der Familie Froriep, dem Minister Gersdorff, dem Kanzler Friedrich von Müller, Caroline und Wilhelm von Wolzogen und anderen mehr.75 Es ging dabei um vielfältige Dienstleistungen wie Zahlungsanweisungen, Kredite, Geldwechsel, Wertpapierkäufe, aber auch die Beschaffung spezieller Waren, u. a. für die Sammlungen Goethes.76 Julius Elkan stand auch in engen geschäftlichen Beziehungen zum Weimarer Hof. Im Jahr 1833 erhielt er den Titel eines Weimarischen Hofbankiers.77 Auch Alexander Elkan, der dritte Sohn Jacob Elkans, widmete sich dem Handel, zunächst in Läden in verschiedenen Häusern der Stadt. Im Jahr 1824 erwarb er ein eigenes Haus auf dem Markt, wo er seine Handlung einrichtete.78 Das Spektrum der Waren, mit denen Alexander Elkan handelte, war ebenfalls breit, von Wolle, Stoffen, Kleidung bis hin zu Nahrungsmitteln und Luxusartikeln. Die Handelstätigkeit scheint zunächst sehr erfolgreich gewesen zu sein, wurde jedoch bald durch verschiedene Rückschläge beeinträchtigt. So mussten Alexander und Julius Elkan gemeinsam mit dem Gothaer Kaufmann Johann Gottfried Arnoldi jahrelang wegen einer Forderung in Höhe von rund 13.000 Talern zuzüglich von rund 4.000 Talern Zinsen für Armeelieferungen aus dem Jahr 1814 gegen die Regierungen von Sachsen-Coburg und Sachsen-Meiningen-Hildburghausen klagen. Erst im Jahr 1842 wurden ihre Forderungen durch Vermittlung des Deutschen Bundes beglichen.79 Schließlich wurden Alexander Elkans Haus und 73 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 43. 74 Vgl. die Geschäftsanzeige Julius Elkans, in: Weimarisches Wochenblatt, Nr. 33, 23.4.1816. 75 Vgl. die entsprechenden Korrespondenzen in: GSA 151 (Bestand Elkan-Moritz-Veit). 76 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 61. 77 Vgl. Weimarische Zeitung, Nr. 87, 30.10.1833. 78 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 51 f. 79 Vgl. zum Abschluss des Austrägalgerichtsverfahrens: Protokolle der Deutschen Bundesversammlung vom Jahre 1842. Loco dictaturae, Frankfurt a. M. 1842, Protokoll der 15. Sitzung vom 30.6.1842, § 173, S. 273 f. Zum Deutschen Bund vgl. Marko Kreutz-

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Geschäftslokal durch den Brand des Weimarer Rathauses im Jahr 1837 schwer beschädigt und unbrauchbar. Mit der Stadt Weimar einigte er sich auf den Verkauf des beschädigten Hauses, das im 1842 fertig gestellten Neubau des Rathauses aufging. Hier erhielt Alexander Elkan Lager- und Verkaufsräume zur Nutzung.80 Im Jahr 1854 musste Alexander Elkan bei der verwitweten Großherzogin Maria Pawlowna um ein Darlehen in Höhe von 4.000 Talern bitten, das ihm aber aufgrund seiner schwierigen Geschäftslage nicht gewährt wurde.81 Der Sekretär Maria Pawlownas, Ludwig Schrickel, sprach davon, dass Alexander Elkan durch die schweren Zeitverhältnisse sowie durch die Etablierung zahlreicher jüngerer Geschäftsleute in wirtschaftliche und finanzielle Schwierigkeiten geraten sei.82 Trotz der späteren Rückschläge gehörten die Mitglieder der Familie Elkan um 1800 zu den erfolgreichen Wirtschaftsbürgern in der Stadt Weimar. Nach der offiziellen Matrikel der Juden im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach von 1823 wurde der Bankier Julius Elkan mit einem Jahreseinkommen von 2.250 Talern zur Einkommenssteuer veranlagt, der Kaufmann Alexander Elkan mit einem Jahreseinkommen von 1.500 Talern.83 Damit zählten beide, gemessen an der Weimarer Steuerschätzung von 1820, zu den oberen 2 % der Bevölkerung, die ein Jahreseinkommen von mehr als 1.000 Talern erzielten, wenn auch mit deutlichem Abstand zu den Unternehmern Friedrich Justin Bertuch und Ludwig Friedrich Froriep, die gemeinsam ein Einkommen von 6.000 Talern erreichten, oder dem Konkurrenten Ephraim Ulmann, der ein zu versteuerndes Einkommen von 3.000 Talern aufwies.84

4. Verhältnis zur nichtjüdischen Gesellschaft und Emanzipation Wie gestaltete sich das Verhältnis der Familie Elkan zur nichtjüdischen Gesellschaft und welche Rolle spielte sie im Prozess der rechtlichen Gleichstellung? Als Juden war es den Angehörigen der Familie Elkan zunächst verwehrt, das

mann, Föderative Ordnung und nationale Integration im Deutschen Bund 1816–1848. Die Ausschüsse und Kommissionen der Deutschen Bundesversammlung als politische Gremien, Göttingen 2022. 80 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 54 f. 81 Vgl. ebd., S. 55; LATh-HStA Weimar, Großherzogliches Hausarchiv A XXV Nr. 1390. 82 Vgl. Vortrag Schrickels an Maria Pawlowna, Weimar, 4.10.1854, in: ebd., Bl. 4 f. 83 Vgl. LATh-HStA Weimar, Polizeisachen B 5474a, Bl. 3v–5r. 84 Vgl. Hans Eberhardt, Goethes Umwelt. Forschungen zur gesellschaftlichen Struktur Thüringens, Weimar 1951, S. 24; Sebastian Hunstock, Die (groß-)herzogliche Residenzstadt Weimar um 1800. Städtische Entwicklungen im Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft (1770–1830), Jena 2011, S. 128–131.

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Bürgerrecht der Stadt Weimar zu erlangen.85 Daher durften sie in der Stadt auch keinen eigenen Grundbesitz erwerben. Jedoch konnte Jacob Elkan mit Hilfe eines Lehnsträgers ein Haus in Weimar kaufen, wodurch sich der Lebensmittelpunkt der Familie zumindest räumlich inmitten der städtischen Gesellschaft befand.86 Seit der Reform der Weimarer Stadtverfassung im Jahr 1810 war es auch Juden erlaubt, das Bürgerrecht und Grundbesitz zu erwerben. Die Söhne Jacob Elkans, Meyer, Julius und Alexander Elkan, lebten in Weimar entweder zur Miete oder sie kauften sich im Falle Alexander Elkans ein eigenes Haus, das als Wohnhaus und Geschäftslokal diente.87 Das Bankgeschäft Julius Elkans im Wiegandschen Haus befand sich in unmittelbarer Nähe des Schlosses und damit des Hofes und der großherzoglichen Familie.88 Inwieweit sich durch die räumliche Nähe soziale Kontakte ergaben, die über bloße Geschäftsbeziehungen hinausgingen, und inwieweit es zu einer gegenseitigen Beeinflussung der Lebenswelten gekommen ist, lässt sich nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand noch nicht umfassend sagen. Da in Weimar im untersuchten Zeitraum nur sehr wenige Juden lebten, kann vermutet werden, dass der alltägliche Anpassungsdruck an die nichtjüdische Gesellschaft vergleichsweise groß gewesen ist. Zunächst einmal lässt sich jedoch feststellen, dass es in den hier untersuchten drei Generationen der Familie Elkan offenbar nicht zu Konversionen gekommen ist.89 Auch zu Heiraten mit christlichen Ehepartnern, die durch die weimarische Judenordnung von 1823 erlaubt wurden, ist es nicht gekommen. Wie die Elkans ihre Religion auslegten und inwieweit die Religion ihren Alltag bestimmte, kann ebenfalls bislang kaum beantwortet werden. Der Friedhof war jedenfalls bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Gebrauch. Die Begräbnisse fanden offenbar nach den jüdischen Gebräuchen statt.90

85 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 17–19; zum Weimarer Bürgerrecht vgl. auch Hunstock, Die (groß-)herzogliche Residenzstadt Weimar (wie Anm. 84), hier bes. S. 94–97. 86 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 17. Der Lehnsträger war der fürstliche Rat und Schatullverwalter Anna Amalias, Johann August Ludecus, was nochmals die Verbundenheit Jacob Elkans mit dem Weimarer Hof und der Herzogin Anna Amalia unterstreicht. Vgl. zu Ludecus Berger, Anna Amalia (wie Anm. 29), S. 169. 87 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 51 f. 88 In dem gegenüber dem Schloss gelegenen Haus des Maurermeisters Johann Georg Wiegand lebten um 1800 viele höhere Hofbeamte zur Miete. Vgl. Hunstock, Die (groß-) herzogliche Residenzstadt Weimar (wie Anm. 84), S. 137 f. 89 Gegebenenfalls mit Ausnahme des oben genannten Leopold Anton von Elkan auf El­ kansberg; vgl. zur Thematik jetzt auch: Anke Költsch, Konversion und Integration: Konversionen vom Judentum zum lutherischen Christentum im frühneuzeitlichen Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg, Berlin u. a. 2021. 90 Vgl. die Beschreibung des Begräbnisses von Ephraim Ulmann im Jahr 1830 in einer Weimarer Chronik, nach: Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 133, Anm. 102.

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Es kann auch angenommen werden, dass die Familie Elkan die jüdischen Festtage und die Sabbatruhe einhielt. Jedoch kam es naheliegenderweise offenbar auch zu einer Adaption christlicher Festtage, wenn auch, ohne deren religiösen Sinn zu übernehmen. So berichtete die Gräfin Julie von Egloffstein im Dezember 1817 von der Feier des Weihnachtsfestes im Haus Goethes, bei der eine größere Gesellschaft anwesend gewesen sei und bei der es auch eine „allgemeine Bescherung oder Schererei“ gegeben habe, also Geschenke verteilt worden seien. Im Anschluss an diese Schilderung bemerkt sie, dass „der Jude Elkan seinen Kindern ebenfalls beschert“ habe, woran man sehe, wie sehr man angesichts der Weihnachtsfreude „seinen Ursprung“ vergesse.91 Es wird aus dem zitierten Brief nicht ganz deutlich, ob Elkan im Haus Goethes am Weihnachtsfest teilnahm, oder ob er angesichts der allgemeinen Weihnachtsfreude in Weimar seinen Kindern in seinem eigenen Haus bescherte.92 Es gibt jedoch weitere Hinweise darauf, dass es zu engen persönlichen Beziehungen zwischen der Familie Elkan und den nichtjüdischen Bewohnern Weimars gekommen ist. Zwar blieben die jüdischen Familien in ihren Haushalten weitgehend unter sich. Nur für Alexander Elkan ist belegt, dass in seinem Haus auch eine Christin als Hausangestellte lebte.93 Intensivere Kontakte entstanden aber durch die Nachbarschaft. Julius Elkan lebte vor seinem Umzug ins Wiegandsche Haus in der Esplanade, wo auch die Familie des bereits 1805 verstorbenen Dichters Friedrich Schiller wohnte. Elkans Tochter Johanna war mit Schillers Tochter Emilie befreundet, wovon einige überlieferte Briefe zeugen.94 Auch zu den Personen aus dem Umfeld des Weimarer Hofes entwickelten sich persönliche Kontakte, so zur adeligen Familie von Ziegesar, die um 1800 hohe Hof- und Staatsbeamte in Weimar stellte. Es ist ein Brief von Marie von Ziegesar, der ehemaligen Hofdame der Weimarer Erbprinzessin Maria Pawlowna und Frau des in sachsen-gotha-altenburgischen Diensten stehenden Friedrich von Ziegesar, an Johanna Elkan aus dem Jahr 1817 überliefert, der einen Einblick in die Art und Tiefe dieser Beziehungen gibt. Marie von Ziegesar schrieb im Namen ihrer achtjährigen Tochter, die ebenfalls Marie hieß, an die zu dieser Zeit zehnjährige Johanna Elkan und bedankte sich für eine selbst angefertigte Puppe, die Johanna Elkan der Tochter Marie von Ziegesars geschenkt hatte. Die Mutter versicherte Johanna Elkan in ihrem Brief, dass sie und ihre Tochter „sehr oft beyde von Dir sprechen, von Deiner guten Mutter, die Dich so sanft und gut erzogen, wir also mit Freude und Liebe Deiner gedenken“.95 Möglicherweise 91 Julie von Egloffstein an Henriette von Egloffstein, Weimar, 28.12.1817, zitiert nach: Hermann Freiherr von Egloffstein (Hg.), Alt-Weimars Abend. Briefe und Aufzeichnungen aus dem Nachlasse der Gräfinnen Egloffstein, München 1923, S. 123 f. 92 Auch wird nicht gesagt, ob Julius oder Alexander Elkan gemeint war. 93 Vgl. Schmidt, Jüdische Familien (wie Anm. 25), S. 52. 94 Vgl. ebd., S. 60. 95 Marie von Ziegesar an Johanna Elkan, Hummelshain, 10.[3.]1817, in: GSA 151/408,

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handelte es sich bei der Puppe sogar um ein Weihnachtsgeschenk. In der Familie Julius Elkans scheint es üblich gewesen zu sein, an Weihnachten Geschenke auszutauschen. So schrieb Julius Elkan 1834 an Philipp Veit, den Vater seines Schwiegersohnes Moritz Veit, dass seine Familie „vor Weihnachten sehr mit Handarbeiten“, also mit der Anfertigung von Geschenken, beschäftigt gewesen sei. Julius Elkan schenkte Philipp Veit eine selbst gefertigte Tasse mit dem Bildnis von Veits Ehefrau.96 Eine ambivalente Wirkung auf das Verhältnis von jüdischer Minderheit und nichtjüdischer Mehrheit entfaltete der im Zuge der Befreiungskriege anwachsende Nationalismus. Zum einen führte dieser Nationalismus zu einer verschärften Abgrenzung der christlichen Mehrheitsgesellschaft von der jüdischen Minderheit. Zum anderen aber schien der moderne Nationalismus als integratives Erlebnis und mit dem Versprechen einer rechtsgleichen Staatsbürgernation auch Chancen für die Integration der jüdischen Minderheit zu bieten.97 Viele deutsche Juden nahmen als Freiwillige an den Befreiungskriegen gegen Napoleon teil, auch, um dadurch ihre Zugehörigkeit zur Nation zu dokumentieren. Auch über Alexander Elkan ist überliefert, dass er im Jahr 1814 bei den weimarischen Freiwilligen am Befreiungskrieg teilgenommen habe und dafür sogar mit den anderen Freiwilligen in der Stadtkirche eingesegnet worden sei.98 Allerdings ist diese Begebenheit erst durch den Weimarer Staatsrat und Ministerialdirektor Karl Kuhn aus seinen Erinnerungen und Erkundigungen in einer Publikation von 1905 wiedergegeben. Weitere, vor allem zeitgenössische Quellenbelege konnten nicht aufgefunden werden, so dass der Wahrheitsgehalt dieser Aussage unsicher erscheint.99 Das Verhältnis der Familie Elkan zur nichtjüdischen Gesellschaft blieb auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts ambivalent. Eine grundlegende Veränderung trat zunächst dadurch ein, dass Sachsen-Weimar-Eisenach im Zuge sei-

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Zitat Bl. 2r; zur Familie von Ziegesar vgl. Marko Kreutzmann, Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770 bis 1830, Köln/ Weimar/Wien 2008. Vgl. Julius Elkan an Philipp Veit, in: GSA 151/153, Bl. 5r–v, Zitat Bl. 5v. Vgl. Michael Brenner, Vom Untertanen zum Bürger, in: Ders./Jersch-Wenzel/Meyer, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2 (wie Anm. 27), S. 260–284, hier bes. S. 265 f. Vgl. Karl Kuhn, Aus dem alten Weimar. Skizzen und Erinnerungen, Wiesbaden 1905, S. 1–5. Kuhn schildert, dass der Geistliche, der die Einsegnung vorgenommen habe, Elkan, nachdem er ihn als Juden erkannt habe, nicht das Abendmahl gereicht, sondern für ihn den Segen des Gottes seiner Väter erbeten habe. Vgl. ebd., S. 4. Vgl. dazu v. a. Paul v. Bojanowski, Die freiwillige Schar des Herzogs Carl August. Weimarische Kämpfer im Lützower Freikorps. Ein Beitrag zur Weimarischen Geschichte 1813/14, Weimar 1913. In den hier abgedruckten Listen der weimarischen Freiwilligen wird Elkan nicht genannt; auch wird der Ablauf der Einsegnung anders als bei Kuhn geschildert.

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ner Gebietserweiterung auf dem Wiener Kongress einen Zuwachs seiner jüdischen Bevölkerung im Umfang von rund 1.300 Personen erhielt. Damit war die jüdische Minderheit im Land von einigen wenigen Personen in Weimar und Eisenach auf eine größere Gruppe angewachsen, die ganz überwiegend in den ehemals reichsritterschaftlichen, fuldaischen und hessischen Gebieten im Westen des Landes lebte.100 Ein Zuzug aus diesen Gebieten nach Weimar, Eisenach oder in andere Gegenden des Großherzogtums scheint im untersuchten Zeitraum nicht stattgefunden zu haben. Durch die Zunahme der jüdischen Bevölkerung entstand nun auch das Bedürfnis nach einer einheitlichen Regelung ihrer Rechtsverhältnisse. Diese wurde durch die 1823 von Regierung und Landtag beschlossene Judenordnung erreicht. Die Judenordnung enthielt neben einigen Verbesserungen der Rechtsstellung auch noch zahlreiche Einschränkungen. So wurde die Aufnahme neuer Juden in Sachsen-Weimar-Eisenach weitgehend untersagt, die Juden waren innerhalb des Großherzogtums in der Regel an ihre alten Wohnorte gebunden und nachgeborene Söhne durften nur dann heiraten, wenn sie einem anderen Beruf als dem Handel nachgingen. Eine besondere Vergünstigung erfuhren die jüdischen Kaufleute in Weimar und Eisenach, die dort größere Handels- und Wechselgeschäfte oder einen offenen Laden betrieben. Deren Geschäfte waren nicht den sonstigen Vorschriften für jüdische Kaufleute, sondern nur den allgemeinen Landesgesetzen unterworfen.101 Davon profitierten auch Julius und Alexander Elkan mit ihrem Banken- und Großhandelsgeschäft in Weimar. Diese hatten im Jahr 1819 zudem das Weimarer Bürgerrecht erworben.102 Bei Julius Elkans Tod 1839 schrieb die Weimarische Zeitung, dass „viele Hilfsbedürftige einen Wohlthäter“ und „wir insgesammt einen einsichtigen, thätigen und braven Geschäftsmann verloren“ hätten.103 Wie schwierig dennoch das Verhältnis zur nichtjüdischen Gesellschaft für die Familie Elkan blieb, zeigt die Auseinandersetzung um das Aufenthaltsrecht für die Witwe und die Kinder des 1813 verstorbenen Meyer Elkan. Dessen Frau Zerline war nach dem Tod ihres Mannes mit drei ihrer Kinder zu ihrem Vater nach Meiningen gezogen. Die beiden Söhne Jacob und Moritz blieben bei ihrem Onkel Alexander Elkan in Weimar und erlernten hier den Handelsberuf. Als Zerline Elkan im Jahr 1821 beim Großherzog um Wiederaufnahme in Weimar mit ihren Kindern bat, wurde dies auf Betreiben des Weimarer Stadtrats abgelehnt. Dabei argumentierte der Stadtrat nicht nur damit, dass Zerline Elkan durch ihre mehrjährige Abwesenheit aus Weimar das Aufenthaltsrecht für sich und ihre Kinder verloren habe. Vielmehr führte er auch an, dass, solange sich 100 Vgl. Ulrike Schramm-Häder, „Jeder erfreuet sich der Gleichheit vor dem Gesetze, nur nicht der Jude“: Die Emanzipation der Juden in Sachsen-Weimar-Eisenach (1823–1850), München 2001, S. 22 f. 101 Vgl. ebd., S. 65–74, hier bes. S. 66. 102 Vgl. den Eintrag im Bürgerbuch: StadtA Weimar, HA I–37–25, Bl. 87r. 103 Vgl. Weimarische Zeitung, Nr. 61, 31.7.1839.

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die Juden vor allem dem Handel und den Geldgeschäften widmeten, sich nicht den bürgerlichen Gewerben öffneten und sich damit in schroffen Gegensatz zu ihrer christlichen Umwelt setzten, er sich „zum wahren Besten unserer Mitbürger gegen die Aufnahme von jüdischen Religionsverwandten erklären“ müsse.104 In der Folge bemühte sich Alexander Elkan darum, das Bürgerrecht und eine Handelskonzession für seine beiden in seinem Haus lebenden Neffen zu erlangen. Dabei führte er selbstbewusst an, dass beide Neffen „nach ihres Vaters, eines Weimarischen Bürgers, Tode, wesentlich ihren Aufenthalt allhier zu Weimar gehabt haben“.105 Die Gesuche wurden auf Betreiben des Stadtrats aber wiederum abgewiesen. Erst nach weiteren Eingaben Alexander Elkans wurde das Aufenthaltsrecht für seine beiden Neffen durch den Großherzog Carl August im Jahr 1825 genehmigt.106 Der Integration von Juden in die städtische Gesellschaft Weimars standen somit weiter große Hindernisse entgegen, die auch in den zeittypischen antijüdischen Einstellungen zu suchen sind. Dies zeigte sich auch in den Debatten des Weimarer Landtages, in denen sich Befürworter und Gegner einer rechtlichen Gleichstellung schroff gegenüberstanden. So argumentierte der Weimarer Buchbindermeister Adam Henß 1847 gegen die Emanzipation nicht nur damit, dass die Juden aufgrund ihrer verschiedenen Abstammung keine Deutschen seien, sondern auch damit, dass durch eine Gleichberechtigung der Juden „aller Gewerbsbetrieb sich in Spekulation, Handel und Schacher auflösen möchte“.107 Die Mitglieder der Familie Elkan traten in den Auseinandersetzungen um die rechtliche Gleichstellung der Juden nach jetzigem Kenntnisstand nicht hervor. Dies gilt sowohl für die 1811 auf Druck der Regierung des Königreichs Westphalen erfolgte Abschaffung des entwürdigenden Leibzolls, den die Juden beim Eintritt in ein Territorium für ihre Person zu entrichten hatten,108 als auch für die Reform des Bürgerrechts in der neuen Weimarer Stadtordnung oder die Einführung der Judenordnung im Jahr 1823. Dagegen nahmen die Juden aus den 1815 zu Sachsen-Weimar-Eisenach gekommenen Gebieten aktiv an diesen Debatten teil. Obwohl Juden nach der Weimarer Verfassung von 1816 nicht zu Landtagsabgeordneten gewählt werden konnten, beteiligten sich die Juden aus den neuen 104 Bericht des Stadtrates an die Landesdirektion, Weimar, 30.5.1821 (Konzept), in: StadtA Weimar HA I–38–1, Bl. 3 f., Zitat Bl. 3v. 105 Abschrift des Gesuchs Alexander Elkans an Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, Weimar, 19.1.1824, in: ebd., Bl. 11r–13v, Zitat Bl. 13v. 106 Vgl. die Schriftstücke in: ebd., Bl. 22–38; Der Stadtrat blieb bei seiner ablehnenden Haltung, die er in einem Bericht an die Landesdirektion vom 13.5.1825 nochmals mit den alten Argumenten begründete. Vgl. ebd., Bl. 32r–35v. Das Aufenthaltsrecht wurde in der Folge auch den übrigen Kindern Meyer Elkans gewährt. Vgl. ebd., Bl. 39r–41r. 107 Vgl. Schramm-Häder, „Jeder erfreuet sich der Gleichheit vor dem Gesetze“ (wie Anm. 100), S. 134 f., Zitat S. 135. 108 Ebd., S. 20.

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Gebieten mit zahlreichen Petitionen an dieser Frage.109 Jedoch hat Alexander Elkan anlässlich der Debatte über die Reform des jüdischen Gottesdienstes im Jahr 1833 eine eigene Bittschrift an den Landtag gerichtet, die aber im Landtag nicht debattiert wurde. Immerhin bezeichnete der Referent den Bittsteller als „ganz aufgeklärten und einsichtsvollen israelitischen Glaubensgenossen“.110 Im Jahr 1823 hatte sich Alexander Elkan zudem in einer ganz anderen Sache, nämlich der Reform des Salzhandels im Großherzogtum, an den Landtag gewandt. Durch die Übernahme des Salzhandels in staatliche Regie sollten dem Staat erhebliche Mehreinnahmen verschafft werden.111 Welche Motivation Alexander Elkan dazu veranlasste, diesen Vorschlag einzubringen, ist nicht ganz ersichtlich. Ein persönliches Interesse an einer Vermehrung der Staatseinnahmen konnte er wohl nicht haben. In den Akten wird angedeutet, dass Elkan an einer Saline im Großherzogtum beteiligt war, weshalb ihm ein durch staatliche Regie gesicherter Absatz wohl von Nutzen gewesen wäre. Der Plan wurde von den um Prüfung ersuchten großherzoglichen Behörden zwar als unwirtschaftlich und als ein „gehässiges Unternehmen“, da es den Ankauf von Salz im Ausland und dessen Verkauf zu höheren Preisen im Inland einschloss, abgelehnt.112 Dennoch zeigt die Einreichung dieser Denkschrift, dass sich Elkan trotz fortbestehender rechtlicher Diskriminierungen und gesellschaftlicher Vorurteile als ein Staatsbürger des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach empfand und sich in politische Prozesse und Debatten einbrachte. Es zeigt aber auch, dass Alexander Elkan im Jahr 1823 offenbar andere Fragen mehr interessierten als die rechtliche Gleichstellung der Juden.

5. Schlussfolgerung Am Beispiel der Familie Elkan lassen sich im Hinblick auf die Bedeutung von Hofjuden in den thüringischen Kleinstaaten mehrere Ergebnisse festhalten bzw. vorläufige Thesen formulieren. Erstens traten Hofjuden in den thüringischen Residenzen vergleichsweise spät, nämlich erst im 18. Jahrhundert, vor allem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, auf. Ihr Wirken fällt damit in eine Zeit, die in der Forschung bereits nicht mehr der klassischen Phase des Hofjudentums zugerechnet wird. Zweitens verfügten diese Hofjuden offenbar 109 Ebd., z. B. S. 38–44, 79–86; vgl. grundlegend: Harald Mittelsdorf (Red.), Zwischen Mitgestaltung und Ausgrenzung. Jüdische Abgeordnete und jüdisches Leben als Thema in Thüringer Parlamenten, hg. v. Thüringer Landtag, Weimar 2007. 110 Vgl. Schramm-Häder, „Jeder erfreuet sich der Gleichheit vor dem Gesetze“, S. 112. 111 Vgl. den Plan Elkans, in: LATh-HStA Weimar, Landschaft und Landtag B 600b1, Bl. 3–8. 112 Vgl. v. a. den zusammenfassenden Bericht des Landschaftskollegiums an das Zweite Departement des Staatsministeriums, Weimar, 20.1.1826 (Konzept), in: ebd., Bl. 18–25, Zitat Bl. 24v.

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auch nicht über den exzeptionellen Status der großen und einflussreichen Hofjuden aus der klassischen Phase. Ihre Privilegien blieben vergleichsweise bescheiden, ihr Wirkungskreis begrenzt. Dennoch erfüllten sie für die fürstlichen Familien, die Höfe und die Kleinstaaten wichtige Funktionen. Diese reichten vom Handel mit Waren und Luxusgütern über die Versorgung mit Waren und Lebensmitteln in Kriegs- und Krisenzeiten, die Ausrüstung und Versorgung von Truppen, die Lieferung von Edelmetallen für die Münzherstellung und die Beschaffung von Krediten bis hin zu diplomatischen Diensten. In diesem Zusammenhang waren die Hofjuden aufgrund ihrer hohen Mobilität auch wichtige Vermittler von Informationen. Sie profitierten dabei von ihrem ausgeprägten regionalen und überregionalen familiären Netzwerk. Dabei blieben die Hofjuden, wie das Beispiel der Familie Elkan zeigt, noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein ganz auf die Gunst des Landesherrn angewiesen. Aus der bürgerlichen Gesellschaft trat ihnen oft Widerstand gegen ihre Ansiedlung und Handelstätigkeit entgegen. Am ehesten kamen engere soziale Kontakte zu den Vertretern der höheren gebildeten Schichten zustande, obwohl auch hier die Vorurteile gegen die Juden keineswegs verschwanden. Die Familie Elkan wiederum zeigte gewisse Anpassungstendenzen an die umgebende Mehrheitsgesellschaft, etwa durch die Adaption christlicher Festtage und ihrer Gebräuche. Sie blieb aber ihrer Religion treu und wurde zum Ausgangspunkt für die Entfaltung jüdischen Lebens in der Residenz Weimar. Die Familie Elkan wurde zum Zentrum einer durch die Ansiedlung weiterer Juden sich ausbildenden jüdischen Gemeinschaft, die allerdings aufgrund der geringen Anzahl ihrer Mitglieder nie zu einer förmlichen Gemeinde anwuchs. Wirtschaftlich zählte die Familie Elkan, in den bescheidenen Verhältnissen der thüringischen Kleinstaaten, zu den erfolgreichsten Einwohnern der Residenzstadt Weimar. Der aus kleinen Anfängen erfolgte Aufstieg der ersten Generation konnte in der zweiten Generation gefestigt und ausgebaut werden, zeigte aber auch schon gewisse Krisenerscheinungen. In der dritten Generation wich diese Entwicklung jedoch endgültig einer Stagnation und einem relativen Abstieg. Das Bankhaus Julius Elkans, von dessen Schwiegersohn fortgeführt, konnte sich der wirtschaftlichen Dynamik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr anpassen und wurde 1906 verkauft. Dennoch spielten Hofjuden und ihre Nachkommen, wie auch das Beispiel der Familie Strupp in Meiningen verdeutlicht,113 eine wichtige Rolle für den wirtschaftlichen Wandel und die Industrialisierung in Thüringen im 19. Jahrhundert. Am Prozess der rechtlichen Emanzipation der Juden haben die Hofjuden in den thüringischen Kleinstaaten, wie der Blick auf die Familie Elkan zumindest vorläufig zeigt, jedoch offenbar kaum einen aktiven Anteil genommen.

113 Vgl. den Beitrag von Alfred Erck in diesem Band.

Hans-Werner Hahn

Emanzipation – Integration – Antisemitismus: Deutsch-jüdische Geschichte in Thüringen im langen 19. Jahrhundert

Für die deutsch-jüdische Geschichte war das 19. Jahrhundert in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeutung. Es war erstens das Jahrhundert der Emanzipation. Mit der Aufklärung setzte eine Debatte ein, die der jüdischen Minderheit nach Jahrhunderten der Unterdrückung den Weg zu rechtlich gleichgestellten Staatsbürgern ebnen sollte. Das 19. Jahrhundert war zweitens für viele in Deutschland lebende Juden ein Jahrhundert des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs aus ärmlichen Verhältnissen in bürgerliche Existenzen. Drittens führten die rechtlichen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Entwicklungen zu großen Veränderungen im innerjüdischen Leben. Viertens sahen sich die Juden jedoch vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts neuen Angriffen aus der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Neben der fortbestehenden traditionellen, meist religiös motivierten Judenfeindschaft entwickelte sich der moderne Antisemitismus, der alte und neue Elemente der Judenfeindschaft bündelte und Prozesse in Gang setzte, die zur Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten führten. All diese Prozesse sind für Deutschland im Allgemeinen sehr gut erforscht,1 und auch zu einzelnen Staaten und Regionen liegen inzwischen zahlreiche Studien vor. Die Geschichte der jüdischen Bevölkerung Thüringens fand aber lange Zeit vergleichsweise wenig Beachtung. Zum einen war der jüdische Anteil an der Gesamtbevölkerung hier weniger groß als in anderen deutschen Regionen. Zum anderen lag es auch an den politischen Strukturen Thüringens, denn die Kleinstaaten boten sich auf den ersten Blick für Pionierstudien weit weniger an als Staaten wie das Königreich Preußen oder das Großherzogtum Baden. Zudem hat sich auch die Geschichtswissenschaft der DDR nur wenig mit der deutsch-jüdischen Geschichte des 19. Jahrhunderts befasst.2 Seit den 1990er Jahren sind nun aber auch zu Thüringen zahlreiche Arbeiten erschienen, die sich

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Einen ausführlichen Einblick in die Forschung bietet Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780–1918 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 16), München 22000. Ausführlicher zum Gang der Forschung Jutta Olbrisch, Landrabbinate in Thüringen 1811–1871. Jüdische Schul- und Kultusreform unter staatlicher Regie, Köln/Weimar/ Wien 2003, S. 1–3; vgl. ferner den Überblick von Marko Kreutzmann, Neuere Forschungen zur jüdischen Geschichte in Thüringen in der Neuzeit, in: Thüringer Museumshefte 2 (2021), S. 14–17.

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Themen der deutsch-jüdischen Geschichte widmen.3 Die zu Sachsen-Weimar, Sachsen-Meiningen und den preußischen Städten Erfurt und Nordhausen entstandenen Dissertationen haben deutlich gemacht, dass der regionalgeschichtliche Blick auf den Verlauf der Judenemanzipation, auf die Beiträge der Juden zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Modernisierung sowie auf die Entstehung und die Folgen des modernen Antisemitismus ergänzende und teilweise auch neue Einblicke in die allgemeine deutsch-jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts vermitteln kann.4 Der folgende Beitrag soll einen Überblick über den erreichten Forschungsstand geben und Perspektiven für weitergehende Untersuchungen eröffnen. Zunächst geht es um den inzwischen recht gut erforschten langwierigen Prozess der rechtlichen Gleichstellung. Bis zum Ende des Alten Reiches lebte die jüdische Bevölkerung im Gebiet des heutigen Thüringen unter den jahrhundertealten Einschränkungen und Bedrückungen, die in den einzelnen Herrschaftsgebieten recht unterschiedlich ausfielen. Während den Juden in manchen reichsritterschaftlichen Gebieten aus wirtschaftlichen und fiskalischen Gründen größere Freiräume gewährt wurden,5 war ihnen in anderen Teilen Thüringens wie Sachsen-Weimar oder Erfurt vor 1806 von vorneherein ein Aufenthaltsrecht verwehrt. Als mit der Aufklärung die Debatten über die künftige Stellung der jüdischen Minderheit in Staat und Gesellschaft intensiver wurden,6 gehörte der thüringische Raum nicht zu den Vorreitern der neuen Entwicklungen. Während in Preußen, der Markgrafschaft Baden oder auch im Kurfürstentum Mainz erste 3

Zu den ersten Veröffentlichungen nach der Wende zählten vor allem Hans Nothnagel (Hg.), Juden in Südthüringen geschützt und gejagt. Eine Sammlung jüdischer Lokalchroniken, Bd. 2: Juden in den ehemaligen Residenzstädten Römhild, Hildburghausen und in deren Umfeld, Suhl 1998; Bd. 3: Juden in der ehemaligen Residenzstadt Meiningen und in deren Umfeld, Suhl 1999; Bd. 5: Jüdische Gemeinden in der Vorderrhön, Suhl 1999; Bd. 6: Über jüdisches Leben im mittleren Werra- und Rennsteiggebiet, Meiningen 1999; Thomas Bahr (Hg.), Beiträge zur Geschichte jüdischen Lebens in Thüringen, Jena 1996. 4 Ulrike Schramm-Häder, Jeder erfreuet sich der Gleichheit vor dem Gesetze, nur nicht der Jude. Die Emanzipation der Juden in Sachsen-Weimar-Eisenach (1823–1850), München/Jena 2001; Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 2); Olaf Zucht, Die Geschichte der Juden in Erfurt von der Wiedereinführung 1810 bis zum Ende des Kaiserreichs, Erfurt 2001; Marie-Luise Zahradnik, Vom reichsstädtischen Schutzjuden zum preußischen Staatsbürger jüdischen Glaubens. Chancen und Grenzen der Integration der Nordhäuser Juden im 19. Jahrhundert, Nordhausen 2018. 5 Vgl. hierzu vor allem: 12 Gulden vom Judenschutzgeld. Jüdisches Leben in Berkach und Südwestthüringen, bearbeitet von Franz Levi unter Mitarbeit von Johannes Mötsch und Katharina Witter, München/Jena 2001. 6 Zu den Anfängen der Judenemanzipation in Deutschland vgl. Stefi Jersch-Wenzel, Rechtslage und Emanzipation, in: Michael Brenner/Stefi Jersch-Wenzel/Michael M. Meyer (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2: 1780–1871, München 1996, S. 15–26.

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Bedrückungen fielen, wurde in den thüringischen Herzogtümern die bisherige Politik beibehalten. Und auch die kurmainzischen Teile Thüringens, Erfurt und das Eichsfeld, blieben von der neuen aufgeklärten Judenpolitik der Mainzer Kurfürsten ausgenommen.7 Die Erfurter Bürgerschaft konnte bis 1803 alle Versuche ihres Landesherren blockieren, das aus dem Spätmittelalter stammende Ansiedlungsverbot von Juden zu lockern. Erst die Zeit der napoleonischen Herrschaft brachte im Gebiet des heutigen Thüringens den ersten wichtigen und folgenreichen Anstoß zur rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Minderheit. Mit dem 1807 gegründeten und von Napoleons Bruder Jérôme regierten Königreich Westphalen fand der Emanzipationsakt, den die Französische Revolution mit dem Gesetz von 1791 vollzogen hatte, Eingang in die deutsche Rechtspraxis. Mit dem Dekret vom 27. Januar 1808 erlangten die Juden in den früher kurhessischen und kurmainzischen Gebieten Thüringens sowie ihre Glaubensgenossen in den ehemaligen Reichsstädten Nordhausen und Mühlhausen nun die gleichen Rechte und Freiheiten wie alle anderen Staatsbürger. Zugleich wurden alle Auflagen und Abgaben, „welche allein die Juden zum Gegenstande hatten“, aufgehoben.8 Juden war es fortan möglich, ohne eine besondere Erlaubnis zu heiraten, sich an jedem Ort niederzulassen und ein Gewerbe zu treiben. Wie in Frankreich wurden die emanzipierten Juden jedoch verpflichtet, einen festen Familiennamen anzunehmen. Zugleich wurde nach französischem Vorbild eine Konsistorialverfassung eingeführt, die den Juden die freie Ausübung ihres Gottesdienstes gewährte, die Gemeindeverfassung und das jüdische Schulwesen aber einer staatlichen Aufsicht unterwarf. Ziel dieser Maßnahmen war es, die Unterschiede zwischen Mehrheitsgesellschaft und nun gleichberechtigter Minderheit einzuebnen und damit die Voraussetzungen für ein modernes Staatswesen zu schaffen.9 Der Hauptimpuls für die Reformgesetzgebung war zwar von Frankreich ausgegangen. Das Königreich Westphalen sollte nach dem Willen Napoleons durch die schnelle Anpassung an die französische Rechts- und Gesellschaftsordnung den anderen Rheinbundstaaten als Modell dienen und damit die Macht des Kaisers auch in Mitteleuropa festigen. Dennoch entsprachen die neuen gesetzlichen Regelungen auch Intentionen von deutschen Beamten wie Christian Wilhelm Dohm, der schon vor 1800 mit einer viel beachteten Schrift in Preußen für eine aufgeklärte Judenpolitik eingetreten war10 und nun im Dienst des neuen König7

Zucht, Geschichte (wie Anm. 4), S. 25; Bernhard Post, Judentoleranz und Judenemanzipation in Kurmainz 1774–1813, Wiesbaden 1985, S. 312–317. 8 „Dekret zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden, Cassel, 27. Januar 1808, in: Klaus Rob (Bearb.), Regierungsakten des Königreichs Westphalen 1807–1813, München 1992, S. 78–80. 9 Ausführlich Helmut Berding, Die Emanzipation der Juden im Königreich Westfalen (1807–1813), in: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983), S. 23–50. 10 Christian Wilhelm Dohm, Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin 1781, Nachdruck Hildesheim 1973.

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reichs stand. Hinzu kam, dass auch von jüdischer Seite selbst verstärkt Forderungen nach Aufhebung der jahrhundertealten Bedrückungen aufkamen. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang der aus Braunschweig stammende Hoffaktor Israel Jacobson, der zu den Exponenten eines aufgeklärten und assimilationsbereiten Reformjudentums gehörte.11 Als Präsident des jüdischen Konsistoriums und Abgeordneter des westphälischen Reichstages war Jacobson einer der einflussreichsten Männer des neuen Königreichs, dem er gleich zu Beginn seiner Existenz mit einem Kredit von 2 Millionen Franken aus größten finanziellen Schwierigkeiten herausgeholfen hatte. Jacobson nutzte seinen guten Kontakt zum König, um die Integration der jüdischen Minderheit zu fördern, und er warb auch bei Monarchen und Staatsmännern anderer deutscher Staaten wie dem preußischen Staatskanzler Hardenberg für eine rechtliche Gleichstellung der Juden. Gewiss wäre es verfehlt, die frühen Fortschritte bei der Emanzipation der jüdischen Minderheit vor allem auf den Einfluss eines finanzstarken Bankiers zurückzuführen. Allerdings trug Jacobson durchaus dazu bei, dass die westphälische Regierung 1811 thüringische Nachbarstaaten mit Erfolg dazu drängte, den noch bestehenden diskriminierenden „Juden-Leibzoll“ abzuschaffen. Insgesamt blieben die Erfolge bei den Bemühungen um eine Gleichstellung der jüdischen Minderheit im thüringischen Raum während der Zeit des Rheinbundes jedoch bescheiden. Das Königreich Westphalen bildete die Ausnahme. Es folgte auch nicht den neuen Einschränkungen, die Napoleon Teilen der französischen Juden mit dem so genannten „schändlichen Dekret“ 1808 wieder auferlegt hatte und das auch in Erfurt galt, das seit 1808 direkt dem Kaiser der Franzosen unterstand. Obwohl die Erfurter Bürgerschaft weiterhin entschieden eine Ansiedlung von Juden ablehnte, setzte die neue französische Administration neue Akzente. 1807 hob sie den Leibzoll auf, und 1810 gewährte sie mit David Salomon Unger erstmals einem Juden das städtische Bürgerrecht.12 Die Regierungen der thüringischen Kleinstaaten lehnten dagegen wie die meisten anderen Rheinbundstaaten13 eine weitgehende Anpassung an die französische Gesetzgebung aus vielerlei Gründen ab. Das 1811 im Herzogtum Sachsen-Meiningen erlassene Toleranzpatent brachte den Juden zwar gewisse Erleichterungen, behielt aber zahlreiche Beschränkungen bei und betonte, dass sich die im Lande

11 Zur Biographie vgl. Jochen Lengemann, Parlamente in Hessen 1808–1813. Biographisches Handbuch der Reichsstände des Königreichs Westphalen und der Ständeversammlung des Großherzogthums Frankfurt, Frankfurt a. M. 1991, S. 150 f. 12 Zucht, Geschichte (wie Anm. 4), S. 40–46. 13 Hierzu zusammenfassend Hans-Werner Hahn, Judenemanzipation in der Reformzeit, in: Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.), „Freier Gebrauch der Kräfte“. Eine Bestandsaufnahme der Hardenbergforschung, München 2001, S. 141–163.

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lebenden Juden „durch bessere Bildung und eine veränderte Nahrungsweise“ für eine Erteilung staatsbürgerlicher Rechte „erst gehörig qualifizieren“ müssten.14 Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft wurde der den Juden gewährte Rechtszustand sogar teilweise wieder beseitigt. Bei der Gründung des Deutschen Bundes konnten sich die deutschen Staaten 1815 auf keine einheitliche Judenpolitik einigen. In der Bundesakte wurden den Juden nur die Rechte garantiert, die ihnen von den weiter bestehenden oder wiederhergestellten Staaten gegeben worden waren. Diese Bestimmung erlaubte es etwa dem restaurierten Kurfürstentum Hessen, die in Schmalkalden eingeführte westphälische Gesetzgebung aufzuheben und die Juden durch das Gesetz von 1816 wieder neuen Restriktionen zu unterwerfen.15 Auch das Königreich Preußen, dem im Zuge der territorialen Neuordnung 1815 große Teile des heutigen Thüringen zugefallen waren, dehnte sein vergleichsweise fortschrittliches Judenedikt von 1812 nicht einfach auf die neu erworbenen Gebiete aus. Vielmehr sollte die vorhandene lokale und regionale Rechtslage bis zu einer neuen, nun den Gesamtstaat umfassenden Gesetzgebung bestehen bleiben. Zu dieser Neuregelung kam es aber erst im Jahre 1847. Das Nebeneinander unterschiedlichster Rechtslagen beeinträchtigte vor allem in der neu geschaffenen Provinz Sachsen den Alltag und die Geschäftstätigkeit der hier lebenden Juden. Hinzu kam eine restriktive Verwaltungspraxis, die dazu führen konnte, dass auch Juden der ehemals westphälischen Gebiete nicht mehr in den vollen Genuss der 1808 erreichten Gleichstellung kamen.16 Trotz dieser Rückschläge bildeten die zwischen 1803 und 1815 erfolgten territorialen und staatlichen Veränderungen gerade auch für die Emanzipation der thüringischen Juden eine wichtige Zäsur. Zum einen mussten sich Monarchen und Staatsbeamte intensiver als zuvor mit neuen gesellschaftlichen Reformideen auseinandersetzen. Zum zweiten hatten Sachsen-Weimar und Sachsen-Meiningen ehemals reichsritterschaftliche Gebiete erworben, die einen vergleichsweise hohen Anteil jüdischer Bevölkerung aufwiesen und in ein sich modernisierendes Staatswesen integriert werden mussten. Und schließlich wurden die Staatsführungen auch verstärkt mit der durchaus selbstbewusster vorgetragenen Forderung der jüdischen Minderheit konfrontiert, ihr jene Rechte zu geben, die die Französische Revolution den dortigen Juden gewährt hatte. All dies sorgte dafür, dass auch in den thüringischen Staaten nicht nur intensiver über die Stel14 12 Gulden (wie Anm. 5), S. 98. Vgl. hierzu auch Franz Levi, The Jews of Sachsen-­ Meiningen and the edict of 1811, in: Leo Baeck Year Book 38 (1993), S. 15–32. 15 Gerhard Hentsch, Gewerbeordnung und Emanzipation der Juden im Kurfürstentum Hessen, Wiesbaden 1979, S. 41–56. 16 Vgl. zu Nordhausen: Zahradnik, Schutzjuden (wie Anm. 4), S. 28–60; Hans-Werner Hahn, Vom reichsstädtischen Schutzjuden zum preußischen Staatsbürger. Wege der deutschen Judenemanzipation am Beispiel Mühlhausens, in: Jens Beger (Hg.), Hessen und Thüringen. Festschrift für Jochen Lengemann zum 75. Geburtstag, Jena 2013, S. 207–224.

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lung der Juden im Staat diskutiert wurde, sondern auch neue Gesetze erlassen wurden. Im Herzogtum Sachsen-Hildburghausen wurde 1814 ein neues Edikt über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden erlassen, das freilich noch viele Beschränkungen enthielt.17 In Sachsen-Meiningen erfolgten einige Ergänzungen zum Toleranzpatent, die vor allem die wirtschaftliche Betätigung der Juden betrafen, von den Betroffenen aber wegen der fortbestehenden Einschränkungen keineswegs als Fortschritt angesehen wurden.18 Die im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach eingeführte Judenordnung vom 20. Juni 182319 brachte für die Juden zwar mehr Verbesserungen. Auch sie folgte aber nicht dem französisch-westphälischen Modell einer sofortigen und uneingeschränkten Gleichstellung der Juden, sondern dem für die deutsche Judenemanzipation insgesamt typischen aufgeklärt-etatistischen Erziehungs- und Verbesserungsmodell. Die Fortschritte in Richtung Gleichstellung wurden dabei an die Bereitschaft der jüdischen Minderheit geknüpft, Elemente ihrer bisherigen kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Sonderexistenz aufzugeben und sich möglichst schnell an die christliche Mehrheitsgesellschaft anzupassen.20 Damit rechtfertigten die Gesetzgeber den Fortbestand wirtschaftlicher Beschränkungen, durch welche die Juden vom so genannten „Nothandel“ weg- und zu „nützlicher“ Tätigkeit in Ackerbau und Gewerbe hingeführt werden sollten. Auch im Hinblick auf Freizügigkeit und Eheschließungen gab es noch Restriktionen. Und in religiös-kultureller Hinsicht sollten unter staatlicher Aufsicht durchgeführte Reformen im Schul- und Kultusbereich die Assimilation der Juden an die christliche Gesellschaft beschleunigen. Auch die bis Mitte des 19. Jahrhunderts vorgenommenen Gesetzesnovellierungen der thüringischen Staaten folgten, wie etwa das Beispiel Sachsen-Weimar zeigt, diesem Konzept.21 Die Widerstände gegen eine völlige Gleichstellung gingen zum einen von Monarchen und Regierungen aus, die zwar die Notwendigkeit neuer Regeln sahen, aber in Bezug auf die Rolle der Juden in Staat und Gesellschaft noch vielen tradierten Vorstellungen – etwa der des christlichen Staates22 – verhaftet blieben. Zum anderen aber zeigten die Landtagsdebatten über die Judenemanzi17 12 Gulden (wie Anm. 5), S. 59–64. 18 Ebd., S. 109–113. 19 Ausführlich zu Entstehung und Folgen Schramm-Häder, Jeder erfreut sich (wie Anm. 4), S. 31–78. 20 Zu den unterschiedlichen Ansätzen der Emanzipationsgesetzgebung vgl. Reinhard Rürup, Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, in: Ders., Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975, S. 11–36. 21 Ausführlich Schramm-Häder, Jeder erfreut sich (wie Anm. 4), S. 79–116. 22 Zu Preußen hierzu Anne Purschwitz, Jude oder preußischer Bürger? Die Emanzipationsdebatte im Spannungsfeld von Regierungspolitik, Religion, Bürgerlichkeit und Öffentlichkeit (1780–1847), Göttingen 2018, S. 350–359.

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pation, die öffentliche Diskussionen und mehrere Ausschreitungen gegen die Juden, dass die Gleichstellung der jüdischen Minderheit in breiten Teilen der Gesellschaft auf eine noch größere Ablehnung stieß, als dies in der Beamtenschaft der Fall war. Schon vor den so genannten „Hep-Hep-Krawallen“ im September 1819, bei denen es in verschiedenen deutschen Regionen zu Gewalt­ ausbrüchen gegen Juden kam, hatte es im Frühjahr desselben Jahres Ausschreitungen in Meiningen gegeben, um dem jüdischen Kaufmann Simon Romberg den Erwerb zweier Häuser zu verwehren.23 Noch zu Beginn der Revolution von 1848 gab es in einigen Orten im Westen Sachsen-Weimars massive Feindseligkeiten gegen ortsansässige Juden.24 Und die Jenaer Schneiderinnung schrieb im Juni 1848 an den in Frankfurt tagenden deutschen Handwerker- und Gewerbekongress, dass „eine Emanzipation der Juden von verderblichen Folgen sein würde“.25 Und wenig später unterzeichneten Schneider aus Mühlhausen eine Petition an den Volkswirtschaftlichen Ausschuss der deutschen Nationalversammlung gegen die Gewerbefreiheit, in der man den „Handeljuden“ vorwarf, mit ihren Kleidermagazinen und „unreellem Geschäftsbetrieb“ die Schneider an den „Bettelstab“ zu bringen.26 Mit den schweren Wirtschafts- und Versorgungskrisen des Vormärz waren sowohl im Handwerk als auch in der ländlichen Bevölkerung die Ängste vor der wirtschaftlichen Konkurrenz eines von allen Beschränkungen befreiten Handels der Juden gewachsen. Die Bilder des schachernden und wuchernden Juden, die neben dem religiös begründeten Antijudaismus gerade in wirtschaftlichen Krisenjahren ein zentrales Element der Judenfeindschaft darstellten, waren in der Mehrheitsgesellschaft noch immer sehr präsent.27 Dies zeigen auch die Schriften des Weimarer Buchbindermeisters Adam Henß aus den 1830er Jahren, in denen die Juden als Schacherer und Spekulanten dargestellt werden, denen der zu schützende deutsche Handwerker auch durch größten Fleiß und Geschick nie gewachsen sein werde.28 23 Stefan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815–1848/49), Frankfurt am Main 1993, S. 118 f. 24 Schramm-Häder, Jeder erfreut sich (wie Anm. 4), S. 142 f. 25 Die Petitionen an den deutschen Handwerker- und Gewerbe-Kongreß in Frankfurt 1848, hg. von Werner Conze u. Wolfgang Zorn, bearb. von Rüdiger Moldenhauer, Boppard 1994, S. 104. 26 Die Protokolle des Volkswirtschaftlichen Ausschusses der deutschen National­ versammlung 1848/49. Mit ausgewählten Petitionen, hg. von Werner Conze u. Wolfgang Zorn, bearb. v. Rüdiger Moldenhauer, Boppard 1992, S. 441. 27 Vgl. Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991, S. 43–147. 28 Vgl. hierzu Hans-Werner Hahn (unter Mitarbeit von Frank Fritsch), „Selbst ist der Mann …“. Aufstieg und Wirken des Weimarer Bürgers, Buchbinders, Publizisten und Politikers Adam Henß, in: Ders./Werner Greiling/ Klaus Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt/Jena 2001, S. 281–301.

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Aber auch im so genannten Bildungsbürgertum folgte nur ein Teil den emanzipatorischen Postulaten, wie sie etwa Wilhelm von Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts vertreten hatte. Andere wiesen die Forderungen nach einer rechtlichen Gleichstellung der Juden entschieden zurück. Am deutlichsten wurde dies in der vom Jenaer Philosophen Fries 1816 noch in seiner Heidelberger Zeit verfassten Schrift „Ueber die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden“.29 Seine Argumente und Forderungen nach einer völligen Assimilation als Voraussetzung der Emanzipation wurden auch von den meisten Rednern der frühen thüringischen Landtagsdebatten geteilt. Der Jenaer Historiker Heinrich Luden, der 1823 im Landtag Sachsen-Weimars gefordert hatte, dass Juden aufgrund ihrer Religion nicht vom Staatsbürgerrecht ausgeschlossen werden dürften, bildete zunächst noch die Ausnahme.30 Erst in den 1840er Jahren wuchs auch im thüringischen Bildungsbürgertum die Zahl derer, die entschieden für die vollständige Gleichberechtigung der Juden eintraten. Als im Landtag von Sachsen-Weimar-Eisenach 1847 über die Judengesetzgebung diskutiert wurde, erteilte der liberale Jurist Oscar von Wydenbrugk dem Konzept einer stufenweisen Gleichstellung der jüdischen Minderheit eine klare Absage. Er setzte auf die integrierende Kraft einer modernen bürgerlichen Gesellschaft, konnte sich aber auch jetzt noch nicht gegen die religiös und wirtschaftlich motivierten Bedenken der Landtagsmehrheit durchsetzen. Erst nach der Revolution von 1848/49 kam es in Sachsen-Weimar-Eisenach zu dem neuen „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Juden“ vom 6. März 1850, das den im Großherzogtum lebenden Juden alle staatsbürgerlichen Rechte gewährte, allerdings noch immer Vorbehalte bei der Zuwanderung von Juden aus anderen deutschen Staaten beinhaltete.31 In den preußischen Gebieten Thüringens war bereits 1847 das bisherige Wirrwarr an Ordnungen durch ein neues Judengesetz beseitigt worden, das der jüdischen Minderheit nun neben den gleichen Pflichten auch die gleichen bürgerlichen Rechte mit der christlichen Bevölkerung zugestand, sie aber weiterhin von Staatsämtern mit richterlichen und exekutiven Befugnissen sowie den Landund Kreistagen ausschloss. Mit der preußischen Verfassung von 1848 wurde den Juden zwar die formale Gleichstellung gewährt, doch das in der revidierten Verfassung von 1850 festgehaltene Bekenntnis zur christlichen Natur des Staates schränkte den Zugang zu Staatsämtern weiterhin ein.32 Während in den preußischen Gebieten Thüringens und im Großherzogtum Sachsen-Weimar 29 Jakob Friedrich Fries, Ueber die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden, Heidelberg 1816. 30 Ausführlich hierzu Schramm-Häder, Jeder erfreut sich (wie Anm. 4), S. 51–64. 31 Ebd., S. 141–162. 32 Ausführlich hierzu Annegret H. Brammer, Judenpolitik und Judengesetzgebung in Preußen 1812 bis 1847 mit einem Ausblick auf das Gleichberechtigungsgesetz des Norddeutschen Bundes von 1869, Berlin 1987.

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um die Mitte des 19. Jahrhunderts die meisten Diskriminierungen der jüdischen Minderheit geschwunden waren, sah dies in anderen Teilen Thüringens noch ganz anders aus. Im Herzogtum Sachsen-Meiningen wurden 1853 die Beschränkungen in Bezug auf Eheschließung, Gewerbe und Handel und Grunderwerb ausdrücklich bestätigt, und auch das 1856 verabschiedete neue Judengesetz schränkte die Freizügigkeit noch immer ein. Juden konnten sich zwar individuell um das Staatsbürgerrecht bemühen, mussten aber einen „gesicherten Nahrungsstand“ nachweisen, weil man nach wie vor alle Juden, die so genannten Nothandel trieben, ausschließen wollte.33 Restriktive Bestimmungen über den Handel der Juden sorgten auch im kurhessischen Landesteil Schmalkalden dafür, dass den dort lebenden Juden nach wie vor eine vollständige Gleichberechtigung verwehrt blieb.34 In den meisten thüringischen Staaten führten erst die politischen Veränderungen des Jahres 1866 dazu, dass alle restriktiven Bestimmungen über Niederlassung und Handelstätigkeit der Juden verschwanden. Mit dem Gesetz vom 3. Juli 1869, das „alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte“ aufhob,35 waren in Bezug auf die Juden erstmals einheitliche Regelungen für den gesamten thüringischen Raum geschaffen. Dieser schleppende Verlauf der Judenemanzipation in Thüringen entsprach dem Muster, das sich in vielen deutschen Staaten bis zur Reichsgründung feststellen lässt. Mehrere thüringische Kleinstaaten taten sich aber besonders schwer damit, den in ihnen lebenden Juden jene Rechte zuzugestehen, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gefordert und in Teilen West- und Mitteleuropas auch bereits gewährt worden waren. Wilhelm von Humboldt hatte in der Debatte um die preußische Judengesetzgebung 1809 davor gewarnt, die rechtliche Gleichstellung der Juden nur schrittweise zu vollziehen, weil sie „die Absonderung, die sie vernichten will, in allen nicht mit aufgehobenen Punkten“ verdoppele und durch die „Aufmerksamkeit auf die noch bestehende Beschränkung“ die gesellschaftlichen Vorurteile gegen die Juden nur verstärke.36 Inwieweit der lange Prozess der Emanzipationsgesetzgebung und die in den Debatten dabei immer wieder bekräftigten alten Vorbehalte der Mehrheitsgesellschaft antijüdische Tendenzen in Thüringen bekräftigt und dem modernen Antisemitismus Vorschub geleistet haben, müsste durch weitergehende Forschungen untersucht werden. Klar bestätigt wird beim Blick auf den thüringischen Emanzipations33 12 Gulden (wie Anm. 5), S. 151; Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 2), S. 24 f. 34 Hentsch, Gewerbeordnung (wie Anm. 15), S. 108–117. 35 Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1900, Stuttgart 31986, S. 312. 36 Wilhelm von Humboldt, Ueber den Entwurf zu einer Konstitution für die Juden, 17. Juli 1809, in: Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften, Bd. 10, 2. Abt.: Politische Denkschriften, hg. von Bruno Gebhardt, Berlin 1903, S. 97.

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verlauf aber die These, dass die ersten Emanzipationsfortschritte keineswegs nur von Monarchen und Regierungen gewährt wurden, sondern dass sie vor allem seit den Jahren des Vormärz auch von großen Teilen der jüdischen Bevölkerung aktiv eingefordert worden sind. Monarchen, Regierungen und die wichtiger werdenden Landtage wurden zunehmend mit Petitionen konfrontiert, in denen die Gleichstellung mit den übrigen Staatsbürgern verlangt wurde. In einer Petition, die die jüdische Gemeinde von Lengsfeld im Auftrag aller jüdischen Gemeinden des Eisenacher Landesteils im Februar 1847 an den Landtag in Weimar richtete, begründete man die Forderung nach Gleichstellung mit den modernen Argumenten: „Wir haben dazu ein Recht, durch unsere Geburt im Großherzogtum und dadurch, dass wir gleich den übrigen Untertanen alle Lasten des Staates mitzutragen verbunden sind.“37 Obwohl die rechtliche Gleichstellung nur schrittweise vollzogen wurde, zeichneten sich auch bei den thüringischen Juden schon seit dem frühen 19. Jahrhundert Entwicklungen ab, die vielen der um 1800 noch in ärmlichen Verhältnissen lebenden Juden den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg ins mittlere und gehobene Bürgertum ermöglichten.38 Auch wenn fortbestehende Niederlassungsbeschränkungen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein thüringischen Juden sowohl Familiengründungen als auch neue wirtschaftliche Aktivitäten erschwerten, eröffneten sich doch für viele bereits vor der Reichsgründung Wege zu neuen Erwerbsmöglichkeiten. Dies galt nicht nur für die Regionen, die vor 1815 zum Königreich Westphalen gehört hatten. Auch die ersten, bei der Vergabe neuer Rechte noch sehr zurückhaltenden Gesetze führten zu oft noch bescheidenen Verbesserungen bei der Berufswahl. Mehrere Gesetze waren so angelegt, dass sie Juden ermuntern sollten, den Söhnen eine handwerkliche Ausbildung zukommen zu lassen. So sollten Beschränkungen bei der Familiengründung, die in den alten Ordnungen in der Regel nur einem Sohn eines Schutzjuden erlaubt war, dann wegfallen, wenn die weiteren Söhne keine als „schädlich“ angesehene Handelstätigkeit betrieben, sondern so genannte „produktive“ Berufe, also Handwerk oder Ackerbau, ergriffen.39 Um die bisherige wirtschaftliche und gesellschaftliche Sonderrolle der Juden aufzuheben, sollten sie im Zuge des so genannten Erziehungsprozesses zu handwerklichen Berufen zugelassen werden. Dieser Politik der Berufsumlenkung in das Handwerk war allerdings aus zwei Gründen wenig Erfolg beschieden. Zum einen lehnte viele der noch bestehenden Zünfte die Aufnahme von jüdischen Lehrlingen ab, zum anderen war es für 37 Schramm-Häder, Jeder erfreut sich (wie Anm. 4), S. 131. 38 Zu diesen Entwicklungen ausführlich Miriam Rürup, Alltag und Gesellschaft. Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte, Paderborn 2017; Jacob Toury, Der Eintritt der Juden in das deutsche Bürgertum. Eine Dokumentation, Tel Aviv 1972. 39 So im Toleranzedikt Sachsen-Meiningens von 1811: 12 Gulden (wie Anm. 5), S. 99; zu Sachsen-Weimar Schramm-Häder, Jeder erfreut sich (wie Anm. 4), S. 67.

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Juden wenig attraktiv, in einer Zeit, in der große Teile des traditionellen Handwerks schwere Krisen durchlebten, in diesen Berufsfeldern tätig zu werden.40 Wesentlich mehr Erfolg versprach dagegen der Übergang zu neuen Handelsformen und zur großgewerblichen Produktion. Auch dies wurde sowohl durch die neuen Judengesetze als auch durch das staatliche Verwaltungshandeln bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erleichtert. Nach der 1823 für Sachsen-Weimar erlassenen Judenordnung mussten Juden, bevor sie sich als Kaufleute niederließen, zwar den Nachweis erbringen, ihr Handelsbuch in deutscher Sprache zu führen. Beim Handel im Großen und bei der Eröffnung eines offenen Ladens galten für sie jedoch nahezu die gleichen Bedingungen wie für einen christlichen Kaufmann.41 Wie rasch sich Vertreter der jüdischen Minderheit die mit einer liberaleren Wirtschaftsordnung und -politik entstehenden Chancen zunutze machten und erfolgreich großgewerbliche Strukturen aufbauten, zeigt das Beispiel der Familie Siegel aus dem meiningischen Dorf Walldorf. Sie betrieb zunächst einen Schnittwarenhandel, ließ dann Söhne auch im Textilhandwerk ausbilden und beschäftigte schließlich im Verlagssystem mehrere hundert Weber in der Rhön. Moritz Siegel, der Verfasser einer Familiengeschichte,42 berichtet, dass sein Vater Faibel Siegel als Kaufmann die angefertigten Waren vertrieb, die Ausweitung dieses Handelsgeschäftes aber auf große Widerstände der zünftigen Handwerker gestoßen sei. Man fand jedoch einen Ausweg, der sehr deutlich machte, dass die bestehenden Gewerbe- und Judenordnungen auch von Teilen der christlichen Umwelt als nicht mehr zeitgemäß angesehen und umgangen wurden. Der Gothaer Kaufmann und Versicherungspionier Ernst Wilhelm Arnoldi ließ Siegel bei einem Gothaer Meister als Gesellen einschreiben und dort pro forma, also ohne eigene Anwesenheit, seine „Lehre“ abschließen. Bei dem ebenfalls pro forma erworbenen Meisterbrief half dann der Meininger Oberamtmann, Freiherr von Bibra, dem der Erhalt und die Ausweitung der mit Siegels Geschäft verbundenen Arbeitsplätze wichtiger waren als noch bestehende Zunftordnungen.43 Auch im preußischen Erfurt wiesen die Staatsbeamten in den 1820er und 1830er Jahren mehrfach Versuche des Stadtrats zurück, zuzugswilligen Juden generell die Ansiedlung zu verweigern. Zum einen lehnten die durch die preußische und westphälische Reformzeit geprägten Beamten jede Rückkehr zu den 40 Zu dieser Problematik vgl. Jacob Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770–1870, Frankfurt a. Main 1988, S. 195–210.; Tanja Rückert, Produktivierungsbemühungen im Rahmen der jüdischen Emanzipationsbewegung (1780–1871). Preußen, Frankfurt am Main und Hamburg im Vergleich, Münster 2005. 41 Schramm-Häder, Jeder erfreut sich (wie Anm. 4), S. 65. 42 Moritz Siegel, Meine Familiengeschichte, Meiningen 1900–1917, in: Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte, hg. u. eingel. von Monika Richarz, New York 1976, S. 268–274. 43 Ebd., S. 270 f.

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frühneuzeitlichen Regelungen schon aus prinzipiellen Gründen ab. Zum anderen sahen sie in der Ansiedlung von jüdischen Kaufleuten und Bankiers auch die Chance, die wirtschaftliche Entwicklung von Stadt und Regierungsbezirk voranzubringen. Diese Erwartungen sollten sich dann, wie mehrere Beispiele zeigen, auch erfüllen. Ernst Benary, der Sohn des 1824 gegen den Willen der Stadtbehörden von Hessen nach Erfurt gekommenen Bankiers Levy Benary, eröffnete 1843 eine kleine Kunstgärtnerei mit Blumenhandel, die sich rasch zu einem großen Unternehmen entwickelte und maßgeblich dazu beitrug, Erfurt zu einem Zentrum des weltweiten Samenhandels zu machen.44 In der Erfurter Bekleidungsund Schuhfabrikation spielten zugewanderte jüdische Unternehmer wie die Gebrüder Lamm, die 1847 eine schnell wachsende Damenmantelfabrik gründeten, oder auch die Schuhfabrikanten Hess seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls eine führende Rolle.45 Auch an anderen Orten Thüringens trugen Juden als Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers maßgeblich zum Aufstieg neuer großgewerblicher Strukturen bei. In Suhl begründeten die aus Schwarza stammenden Brüder Löb und Moses Simson 1856 eine Firma, die zunächst Jagd- und Militärwaffen, später auch Fahrräder und seit 1907 auch Automobile herstellte und um 1900 über 1.000 Beschäftigte zählte.46 Und der Meininger Bankier Gustav Strupp spielte bei der thüringischen Industriefinanzierung eine wichtige Rolle und trug maßgeblich zur regionalen Wirtschaftsentwicklung bei.47 Beim Blick auf die wirtschaftliche Tätigkeit der thüringischen Juden im 19. Jahrhundert ergibt sich das auch in anderen Teilen Deutschlands erkennbare Muster. Während die Juden im Handwerk vergleichsweise wenig vertreten waren, war der Anteil jüdischer Unternehmer im großgewerblichen Sektor eher überproportional. Dabei dominierten Sektoren, die wie die Bekleidungsindustrie mit einer starken Handelskomponente verbunden waren. Der wirtschaftliche und soziale Aufstieg der deutschen Juden vollzog sich aber vor allem im tertiären Sektor, also bei Handel und Dienstleistungen.48 Die neuen Marktstrukturen, die sich verändernden Konsumgewohnheiten und die wirtschaftliche Liberalisierung eröffneten den Juden im 19. Jahrhundert Betätigungsfelder, in denen sie 44 Zucht, Geschichte (wie Anm. 4), S. 125 f. 45 Ebd., S. 127–130. 46 Ulrike Schulz, Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856– 1993, Göttingen 2013. 47 Alfred Erck, Gustav Strupp als Bankier und Industrieller, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins, 4 Teile, 24 (2009), S. 163–180; ebd. 25 (2010), S. 155–180; ebd. 26 (2011), S. 249–283; ebd. 27 (2012), S. 173–192. Ferner Ders., Dr. Gustav Strupp und die Entwicklungen in der thüringisch-fränkischen Porzellanindustrie zwischen 1884 und 1918, in: Museumsverband Thüringen (Hg.), Porzellanland Thüringen. 250 Jahre Porzellan aus Thüringen, Jena 2010, S. 255–261. 48 Allgemein hierzu die Einleitung von Monika Richarz, in: Jüdisches Leben (wie Anm. 42), S. 24.

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ihre wirtschaftlichen Erfahrungen und Fähigkeiten besonders gut einbringen konnten. Die in den frühen deutschen Emanzipationsdebatten laut werdende Forderung, dass die Juden auch aus ihrer wirtschaftlichen Sonderrolle herauswachsen sollten, erfüllte sich somit auch in Thüringen nicht. Die zu Erfurt und Nordhausen vorliegenden Zahlen belegen, dass der Handel der weitaus wichtigste Bereich jüdischer Erwerbstätigkeit blieb.49 Innerhalb dieses Sektors kam es im 19. Jahrhundert jedoch zu großen Veränderungen. Um 1800 lebten die meisten Juden noch auf dem Lande und betrieben mit den ihnen erlaubten Gütern einen Trödel- und Hausierhandel, der meist nur ein karges Einkommen erbrachte. Im 19. Jahrhundert vollzog sich dann der Aufstieg zum bürgerlichen Kaufmann mit Wohnhaus und Ladengeschäft in der Stadt. Während die Zahl der jüdischen Dorfbevölkerung auch in Thüringen stark zurückging, verzeichneten bestehende und neu gegründete jüdische Gemeinden in Städten wie Erfurt und Nordhausen starke und stetige Zuwächse. Als Erfurt 1815 an Preußen fiel, lebten in der Stadt 62 Juden, 1848 waren es 145 und um 1900 821, was aber auch jetzt nur einem Anteil von 0,84 % an der Gesamtbevölkerung entsprach.50 In Nordhausen, wo die Anzahl der jüdischen Einwohner von 151 im Jahre 1822 auf 440 im Jahre 1871 anstieg, lag der jüdische Anteil an der Gesamtbevölkerung im Jahr der Reichsgründung mit 2,1 % etwas höher.51 Dem Wachstum der jüdischen Bevölkerung in wirtschaftlich expandierenden Städten, wo auch der Neubau von Synagogen und anderen Einrichtungen vom Aufschwung des jüdischen Lebens zeugte,52 stand an anderen Orten ein deutlicher Rückgang der jüdischen Bevölkerung gegenüber. Dies galt vor allem für die Dörfer. In Walldorf lebten bei einer Gesamtbevölkerung von 1580 im Jahre 1837 noch 567 Juden. Um 1900 waren es bei einer etwa gleich gebliebenen Einwohnerzahl nur noch 90. Mit der nach 1866 gewährten Freizügigkeit zogen viele Familien wie die nun in Meiningen ansässige Familie Siegel in die Städte, andere wanderten nach Amerika aus.53 In der Siegelschen Familienchronik wird zudem berichtet, dass die zunächst große Anzahl armer Juden in Walldorf schon Ende der 1860er Jahre zurückgegangen sei und nun in der jüdischen Gemeinde „fast gar keine Almosenempfänger mehr vorhanden waren“.54 Wenn sich die wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegsprozesse innerhalb der jüdischen Minderheit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts rascher und erfolgreicher vollzogen als in der Gesamtgesellschaft, so hing dies auch mit Karrieren in bildungsbürgerlichen Berufen zusammen. Der freie Zugang zu höheren Schu49 Zucht, Geschichte (wie Anm. 4), S. 108–118; Zahradnik, Schutzjuden (wie Anm. 4), S. 79–95. 50 Zucht, Geschichte (wie Anm. 4), S. 80–100. 51 Zahradnik, Schutzjuden (wie Anm. 4), S. 61–76. 52 Ebd., S. 140–179: Zu Erfurt Zucht, Geschichte (wie Anm. 4), S. 57–79. 53 Jüdisches Leben (wie Anm. 42), S. 271. 54 Ebd.

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len und Universitäten eröffnete vielen Juden ebenfalls neue Aufstiegsmöglichkeiten. Im Kaiserreich waren sie auch in Thüringen auf den höheren Bildungsanstalten und in den akademischen Berufsfeldern überproportional vertreten. An den höheren Schulen der Residenzstadt Meiningen stellten Juden im Kaiserreich etwa 10 % der Schüler.55 Angesichts anhaltender Benachteiligungen beim Zugang zum Staatsdienst wurden die freien akademischen Berufe für viele Juden zum wichtigsten Betätigungsfeld. Dies zeigt sich etwa in Erfurt, wo Ephraim Unger ein anschauliches Beispiel für Möglichkeiten und Grenzen eines sozialen Aufstiegs durch Bildung liefert. Der hochbegabte Sohn des ersten Juden, der 1810 das Erfurter Bürgerecht erhalten hatte, studierte und lehrte an der Universität Erfurt und gründete nach deren Schließung eine „mathematische Privatlehranstalt“.56 Als diese später in eine städtische Realschule umgewandelt wurde, durfte Unger freilich trotz seines hohen Ansehens die Schule nicht mehr leiten, erhielt allerdings 1848 eine feste Anstellung. Die Hindernisse, die bildungsbürgerliche Karrieren von Juden im 19. Jahrhundert immer wieder erschwerten, zeigten sich auch an der Universität Jena. Hier wurde in den 1830er Jahren Gabriel Rießer, einem der führenden jüdischen Vorkämpfer der Emanzipation, wegen seiner Religion die Privatdozentur verweigert. Noch in der 1860er Jahren wurden der Habilitation des jüdischen Historikers Jakob Caro große Hindernisse in den Weg gelegt, weil die Regierung Sachsen-Altenburgs jüdischen Gelehrten weiterhin die Privatdozentur verweigern wollte.57 Wie sehr die Leitidee eines „christlichen Staates“ um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch wirksam war, musste auch der liberale Eisenacher Jurist Jakob Katzenstein erfahren, der erst nach langem Ringen von der Regierung zum Amtsadvokaten ernannt wurde.58 Im Jahre 1849 fungierte Katzenstein als Vorsitzender des Eisenacher Demokratenvereins und beteiligte sich auch danach intensiv am öffentlichen Leben der Stadt.59 1859 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des liberalen deutschen Nationalvereins, der sich für eine deutsche Einigung unter preußischer Führung einsetzte.60 Für das politische Engagement der städtischen Juden bildete die Revolution von 1848/49 auch in Thüringen eine wichtige Zäsur. Auch wenn sie in den Landtagen der thüringischen Staaten noch sehr 55 Alfred Erck, Emanzipations-, Gleichstellungs- und Akkulturationsbestrebungen der Juden im Herzogtum Sachsen-Meiningen im Spiegel des Landtagsgeschehens (1824–1918/22), in: Thüringer Landtag (Hg.), Zwischen Mitgestaltung und Ausgrenzung. Jüdische Abgeordnete und jüdisches Leben als Thema in Thüringer Parlamenten, Weimar 2007, S. 169. 56 Zucht, Geschichte (wie Anm. 4), S. 186–189. 57 Ausführlich hierzu Schramm-Häder, Jeder erfreut sich (wie Anm. 4), S. 246–253. 58 Ausführlich hierzu ebd., S. 203–215. 59 Reinhold Brunner, Juden in der Kommunalpolitik. Das Beispiel Eisenach, in: Zwischen Mitgestaltung (wie Anm. 55), S. 72. 60 Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857–1868. Nationale Organisationen und Eliten, Düsseldorf 1994, S. 75.

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wenig vertreten waren, wuchs seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den größeren Städten Thüringens die Zahl jüdischer Stadtverordneter. Lange Zeit hatten der Widerstand der meisten Stadtbürger sowie staatliche Kommunalordnungen, in denen Juden das Bürgerrecht noch verweigert wurde, eine Beteiligung der Juden blockiert. In den 1830er Jahren trat mit dem Erfurter Ephraim Unger ein erster thüringischer Jude kommunalpolitisch hervor,61 zahlreiche andere folgten in den 1850er Jahren.62 In der Erfurter Kommunalpolitik der Reichsgründungszeit und des Kaiserreichs spielten jüdische Bürger mehrfach eine wichtige Rolle.63 In Mühlhausen wirkte der jüdische Unternehmer Armin Oppé von 1848 bis 1874 als Stadtverordneter.64 In anderen öffentlichen Institutionen wie den Handelskammern übernahmen Juden jetzt Führungsaufgaben, und auch im allgemeinen Vereinswesen von Städten wie Erfurt und Nordhausen wirkten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr jüdische Bürger mit.65 Wenn Juden nun im öffentlichen Leben eine ganz andere Rolle spielten als noch 50 Jahre zuvor, so hing dies nicht nur mit der Gesetzgebung zusammen, sondern war vor allem auch auf neue gesellschaftliche Entwicklungen zurückzuführen. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg, den viele jüdische Familien erreichten, vollzog sich vor allem im städtischen Judentum zugleich ein Verbürgerlichungsprozess, mit dem sich Juden wie keine andere soziale Gruppe dem neuen bürgerlichen Kulturmodell und seinen Kernelementen „Bildung und Sittlichkeit“ verpflichteten. Juden wurden geradezu zu Musterschülern von Bürgerlichkeit und Bildung.66 Dieser Akkulturationsprozess war aber nicht einfach eine Anpassung an vorgegebene Normen einer neuen bürgerlichen Gesellschaft, vielmehr formten Juden diese neue Gesellschaft maßgeblich mit. Für viele Nichtjuden wurden jüdische Mitbürger – wie Gustav Freytag schrieb – in den 1850er und 1860er Jahren zu „Verbündeten, Freunden, Mitarbeitern auf jedem Gebiete unseres realen und idealen Lebens“.67 Dennoch verlief der gesellschaftliche Aufstieg der Juden auch in diesen vermeintlich harmonischeren Jahrzehnten zwischen der Revolution von 1848/49 und der Reichsgründung 61 Zucht, Geschichte (wie Anm. 4), S. 152–157. 62 Zahlreiche Beispiele enthalten die Beiträge in: Zwischen Mitgestaltung und Ausgrenzung (wie Anm. 55). 63 Vgl. Horst Moritz, Vom mosaischen Religionsgenossen zum Stadtverordneten. Zur politischen Emanzipation jüdischer Erfurter Bürger, in: Zwischen Mitgestaltung (wie Anm. 55), S. 286–295. 64 Carsten Liesenberg, Zur Geschichte der Juden in Mühlhausen und Nordthüringen und die Mühlhäuser Synagoge, Mühlhausen 1998, S. 62. 65 Vgl. Zucht, Geschichte (wie Anm. 4), S. 158–166. 66 Grundlegend hierzu Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004. 67 Zitiert nach Reinhard Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert 1815–1871, Göttingen 1984, S. 108.

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von 1871 nicht konfliktlos. Alte Spannungen zwischen Mehrheitsgesellschaft und jüdischer Minderheit hielten an, neue deuteten sich an. Auch innerhalb der jüdischen Minderheit führten die gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozesse zu teilweise heftigen Konflikten zwischen Orthodoxen und Vertretern eines liberalen Judentums.68 Bis ins ausgehende 18. Jahrhundert verlief das religiöse Leben der thüringischen Juden in den traditionellen Bahnen. Mit der vor allem von Berlin ausgehenden jüdischen Aufklärung begann sich dies zu ändern. Ihre Vertreter versuchten, über Reformschulen, Zeitschriften und Vereine ein Laboratorium jüdischer Bürgerlichkeit zu etablieren und der Minderheit damit den Weg in eine neue Gesellschaft zu ebnen. Sie entwickelten dabei neue Formen der Religiosität,69 die sich mit dem Denken und den ästhetischen Normen des aufstrebenden Bürgertums scheinbar besser vereinbaren ließen. Elemente waren individuelles Glaubenserlebnis, moralische Belehrung, Gottesdienste in deutscher Sprache und Einführung der Orgel. Im Königreich Westphalen war es vor allem Israel Jacobson, der sich für diese neuen Formen stark machte. Obwohl Jacobson nach 1815 von der preußischen Regierung keine Unterstützung mehr erhielt, weil man hier nicht auf innerjüdische Reform, sondern auf die Taufe setzte, fanden seine Ideen unter den Juden in Nordhausen und Mühlhausen einigen Zuspruch, auch wenn man in Mühlhausen nicht ganz so weit ging, wie es Jacobson vorgeschlagen hatte.70 Anders sah es in den dörflich geprägten jüdischen Gemeinden in Sachsen-Weimar und Sachsen-Meiningen aus. Hier dominierte das Festhalten an den alten Sitten, zugleich aber konfrontierten die Regierungen anders als in Preußen die Gemeinden durch ihre Judengesetzgebung mit der Forderung nach grundlegenden Veränderungen. Olbrisch hat in ihrer Studie zu den Landrabbinaten gezeigt, wie die Regierungen durch neue Vorschriften über den jüdischen Schulunterricht und den jüdischen Gottesdienst in die inneren Belange der jüdischen Gemeinden eingriffen.71 Bemerkenswert war, dass gerade das oft als liberal eingestufte Weimar dabei Reformeingriffe vornahm, die im deutschen Vergleich besonders ex­trem erschienen. Die Integration der Juden war hier nur als weit reichende Assimilation denkbar, gerade auch in religiöser Hinsicht. In Sachsen-Meiningen ging man vor allem beim Gottesdienst deutlich moderater vor, versuchte aber zugleich, den staatlichen Einfluss auf das jüdische Schulwesen zu vergrößern. Das herzogliche Lehrerseminar in Hildburghausen nahm als eines der Ersten in Deutschland auch Juden auf. Einer der Absolventen war Hermann Ehrlich, der 1815 als Sohn eines Kleinhändlers in Gleicherwiesen geboren wurde und 1879 in Arnstadt starb. In seinen Lebenserinnerungen lobt Ehrlich die Ausbildung in 68 69 70 71

Vgl. zu Erfurt Zucht, Geschichte (wie Anm. 4), S. 295. Zu diesen Entwicklungen vgl. Steven Lowenstein, Religion und Identität, Münster 2012. Hahn, Vom reichsstädtischen Schutzjuden (wie Anm. 16), S. 213–216. Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 2).

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Hildburghausen sowie besonders seinen wichtigsten Lehrer Ludwig Nonne und schildert seine Tätigkeit als Lehrer und Vorsänger der jüdischen Gemeinden in Bibra und Berkach.72 Ganz konfliktfrei verlief die Beziehung zwischen dem staatlich ausgebildeten Lehrer und den noch sehr traditionsverhafteten Dorfjuden nicht, dennoch zeigten sich die Juden in Sachsen-Meiningen im Hinblick auf ihre religiöse Ausrichtung offener als die in den zu Sachsen-Weimar gehörenden jüdischen Landgemeinden. Diese setzten den staatlichen Vorgaben teilweise massiven Widerstand entgegen und hielten noch am Ende des 19. Jahrhunderts viel stärker an den traditionellen Formen religiösen Lebens fest als ihre Glaubensgenossen im Herzogtum Sachsen-Meiningen.73 Der Emanzipationsverlauf sorgte aber nicht nur für innerjüdische Konflikte, die bis zu Abspaltungen orthodoxer Gemeindemitglieder führen konnten, er war zugleich Ausgangspunkt für neues Konfliktpotential im Verhältnis von jüdischer Minderheit und Mehrheitsgesellschaft. Die frühen Debatten über die rechtliche Gleichstellung der Juden hatten auch in Thüringen gezeigt, wie sehr traditionelle Judenbilder die Integration der Juden in die Mehrheitsgesellschaft erschwerten. Dies galt sowohl für die religiös motivierte Judenfeindschaft als auch für die Stereotypen des „schachernden und wuchernden Juden“, die vor allem in wirtschaftlichen Krisenzeiten verstärkt aufkamen. Mit der deutschen Nationalbewegung, die im thüringischen Raum ein Zentrum besaß, kam ein weiteres judenfeindliches Element hinzu. Maßgebliche Vertreter der frühen nationalen und liberalen Bewegung bezeichneten die Juden als eine „eigene Nation“ und vertraten die Ansicht, dass Juden nur bei einer vollständigen Assimiliation an die Mehrheitsgesellschaft einem künftigen deutschen Nationalstaat als gleichberechtigte Glieder angehören könnten.74 In den 1840er Jahren traten solche Vorbehalte aber zurück. Im Gegenteil: Für Liberale wie den Eisenacher Oskar von Wydenbrugk waren die Juden Teil einer sich formierenden modernen deutschen Nation, und er verwies 1847 im Landtag die Gegner seiner Auffassung unter anderem auf die jüdischen Beiträge zur deutschen Kulturgeschichte: „Da sind sie Deutsche, da nehmen wir die Arbeit ihrer Geister auf, eignen sie uns an, aber wenn sie Rechte haben wollen, sind sie keine Deutschen.“75 Nach 1848 wurden die Ziele der deutschen Einheitsbewegung von immer mehr Thüringer Juden unterstützt.76 Die Reichsgründung wurde auch von der großen Mehrheit der thüringischen

72 12 Gulden (wie Anm. 5), S. 346–364. 73 Olbrisch, Landrabbinate (wie Anm. 2), S. 461. 74 Hans-Werner Hahn, Fremde oder Mitbürger. Deutscher Nationalismus und jüdische Minderheit im 19. Jahrhundert, in: Matthias Werner (Hg.), Identität und Geschichte. Sigmaringen 1997, S. 125–144. 75 Zitiert nach ebd., S. 138. 76 Beispiele für Erfurt bei Moritz, Vom mosaischen Religionsgenossen (wie Anm. 63), S. 286–292.

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Juden begrüßt und gefeiert,77 weil damit auch der lange so bedrückende gesetzgeberische Partikularismus überwunden war und sich die Voraussetzungen für ihre gesellschaftliche Integration zu verbessern schienen. Quellen aus diesen Jahren deuten in der Tat darauf hin, dass die Beziehungen zwischen der christlichen Mehrheit und der jüdischen Minderheit im Vergleich zur ersten Jahrhunderthälfte weniger konfliktreich waren. Juden wurden Mitglieder der überall entstehenden Vereine. Der Berkacher Pfarrer Röhrig schrieb um 1860: „Der Verkehr zwischen den hiesigen Juden und Christen ist übrigens ein durchaus freundlicher.“78 Und der aus Walldorf stammende jüdische Händler Löb Doctor (1805– 1875) schrieb in seinen Lebenserinnerungen, dass mit Aufklärung und Fortbildung der „Religions-Hass einigermaßen abgenommen“ habe und „mehr Menschlichkeit geworden“ sei.79 Aber schon in den 1870er Jahren sahen sich die Juden auch in Thüringen vermehrt neuen Angriffen aus der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Mit der Wirtschaftskrise des Jahres 1873 begann eine neue Phase antijüdischer Tendenzen, die man in der historischen Forschung in Abgrenzung zur traditionellen Judenfeindschaft als modernen Antisemitismus bezeichnet. Der Begriff „Antisemitismus“ wurde von judenfeindlichen Publizisten in die Welt gesetzt und war insofern ein neues Phänomen, weil dieses Schlagwort vorhandene antijüdische Einstellungen verstärkte, emotionalisierte und politisierte. Der neue Antisemitismus richtete sich im Unterschied zur älteren Judenfeindschaft gegen das emanzipierte und vielfach assimilierte deutsche Judentum. Es wurde als Hauptnutznießer der neuen liberalen Rechtsverhältnisse und eines scheinbar ungebremsten, spekulativen Wirtschaftssystems dargestellt und von den Antisemiten für alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fehlentwicklungen des deutschen Kaiserreichs verantwortlich gemacht. Die Juden wurden als Agenten und Nutznießer einer Moderne an den Pranger gestellt, die viele in dieser Form und mit diesen wirtschaftlichen Risiken ablehnten.80 In den 1870er und 1880er Jahren hielt sich das Ausmaß der neuen Angriffe gegen die Juden in Thüringen noch in Grenzen. Eduard Lasker, einer der führenden deutsch-jüdischen Liberalen, vertrat bis zu seinem Tode 1884 den Wahlkreis Sonneberg-Saalfeld im deutschen Reichstag und wurde stets mit überzeugenden Mehrheiten gewählt. Nach den Wahlen von 1881 schrieb er, dass die Wähler „den Antisemitismus in seiner gehässigen Form und mit seinem schmutzigen Inhalt zurückgewiesen“ hätten.81 Dies war jedoch auch in Bezug auf Thüringen eine zu optimistische Sicht. Vor allem unter den Handwerkern und Bau77 Zu Erfurt Zucht, Geschichte (wie Anm. 4), S. 170 f. 78 12 Gulden (wie Anm. 5), S. 345. 79 Ebd., S. 342 u. 337. 80 Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a. Main 1988, S. 86–162. 81 Zitiert nach Adolf Laufs, Eduard Lasker. Ein Leben für den Rechtsstaat, Göttingen 1984, S. 121.

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ern gewannen die Antisemiten seit Ende der 1880er Jahre an Zulauf. Zugleich entstanden antisemitische Parteien und Bünde. In Erfurt organisierten sich antisemitische Kräfte 1889 im „Deutschen Reformverein“, ein Jahr später wurden hier eine „Antisemitische Volkspartei“ und der „Thüringer Antisemitenbund“ gegründet.82 1894 schlossen sich mehrere antisemitische Organisationen in Eisenach zur „Deutschsozialen Reformpartei“ zusammen. 83 Auch wenn die untereinander oft zerstrittenen Antisemitenparteien bei den Reichstagswahlen in Thüringen bis 1912 nur zwischen 3 und 6 % der Stimmen auf sich vereinen konnten, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass antisemitische Grundhaltungen in der Gesellschaft sehr viel breiter verankert waren. Mit dem Erfurter Schneidermeister, Kaufmann und Stadtverordneten Johannes Jacobskötter zog 1893 erstmals ein thüringischer Vertreter der Antisemiten in den Reichstag ein, wo er 1895 einen Gesetzesentwurf einbrachte, der Juden ohne deutsche Staatsbürgerschaft die Zuwanderung versagen sollte. Sein Sieg im Wahlkreis Erfurt-Schleusingen-Ziegenrück, den er auch 1898 nochmals verteidigen konnte, war nur möglich geworden, weil die Deutsch-Konservative Partei sowie der Bund der Landwirte die Kandidatur Jacobskötters unterstützt hatten.84 Beide Großorganisationen bekräftigten Sichtweisen, nach denen die jüdische Minderheit in Deutschland einen zu großen und schädlichen Einfluss auf das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben ausübe. Sie riefen deshalb vor allem in den Stichwahlen ihre Anhänger und Mitglieder dazu auf, dem gegen einen sozialdemokratischen oder linksliberalen Gegner antretenden Antisemiten ihre Stimme zu geben.85 Mit Unterstützung der Deutsch-Konservativen, des Bundes der Landwirte und sogar nationalliberaler Wähler eroberten Kandidaten der Antisemitenparteien bei den Reichstagswahlen des Jahres 1907 zwei thüringische Reichstagswahlkreise.86 Im Wahlkreis Weimar sicherte sich Oberamtsrichter Walter Gräf das Mandat, weil er in der Stichwahl sogar von den Nationalliberalen unterstützt wurde, um einen Sieg des Sozialdemokraten Wilhelm Baudert zu verhindern.87 Und im Wahlkreis Eisenach-Dermbach konnte der antisemitische Kandidat Wilhelm Schack sein schon 1905 bei einer Nachwahl errungenes Mandat gegen den sozialdemokratischen Konkurrenten erfolgreich verteidigen. Obwohl die Antisemiten unter der ländlichen Bevölkerung des 82 Steffen Rassloff, Flucht in die nationale Volksgemeinschaft. Das Erfurter Bürgertum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 84. 83 Stefan Scheil, Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen 1881 und 1912. Eine wahlgeschichtliche Untersuchung, Berlin 1999. 84 Carl-Wilhelm Reibel, Handbuch der Reichstagswahlen 1890–1918. Bündnisse, Ergebnisse, Kandidaten, erster Halbband, Düsseldorf 2007, S. 538–542. 85 Zu diesen Entwicklungen ausführlich Scheil, Entwicklung (wie Anm. 83). 86 Zu den politischen Rahmenbedingungen vgl. Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866 bis 1914. Aus dem Nachlaß hg. von Volker Wahl, Weimar 1991, S. 370–412. 87 Reibel, Handbuch (wie Anm. 84), zweiter Halbbd., S. 1381–1386.

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Wahlkreises über eine feste Anhängerschaft verfügten und Schack als Vorsitzender des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes auch in der städtischen Bevölkerung einen gewissen Sympathisantenkreis besaß, war sein Wahlerfolg nur möglich, weil er von den Konservativen offen unterstützt wurde und in der Stichwahl auch Stimmen von bisherigen Wählern der Nationalliberalen und des Zentrums erhielt.88 Als Schack 1910 wegen persönlicher Verfehlungen sein Mandat niederlegen musste, gewann die Sozialdemokratie den Wahlkreis. Die letzten Reichstagswahlen des Kaiserreichs endeten 1912 zwar mit Verlusten der Antisemiten, doch sie blieben weiterhin aktiv. Mit ihren massiven Angriffen gegen die als zu nachgiebig kritisierte Reichsleitung, der Gründung einer „Deutschvölkischen Partei“ und der Radikalisierung ihrer Programmatik versuchten sie, neue Anhänger zu gewinnen.89 Die meisten ihrer Wähler kamen weiterhin aus kleinbürgerlichen und bäuerlichen Schichten. An der Spitze der antisemitischen Organisationen standen jedoch in der Regel Bildungsbürger, die mit ihrer Verbindung von Nationalismus und Rassegedanken nun einem noch radikaleren Antisemitismus den Weg bereiteten. Zu ihnen gehörte etwa der Schmalkaldener Amtsrichter Wilhelm Lattmann, der auch Vorsitzender der 1914 gegründeten „Deutschvölkischen Partei“ war. In Weimar propagierte der später von den Nationalsozialisten hofierte Schriftsteller Adolf Bartels einen rassenbiologisch begründeten Antisemitismus, der den Juden aufgrund ihrer blutsmäßigen Herkunft die Zugehörigkeit zur deutschen Nation absprach und der in Teilen der Weimarer Honoratiorenkultur auf wachsenden Zuspruch stieß.90 Und in Gotha trat der im Perthes-Verlag tätige Kartograph Paul Langhans als Herausgeber eines antisemitischen Monatsblatts und führendes Mitglied rechter Verbände als Agitator der neuen völkischen Ideen hervor.91 Dennoch waren die antisemitischen Kräfte ungeachtet aller Wahlerfolge im Kaiserreich kein dominierender Faktor der thüringischen Politik. Selbst der Bund der Landwirte verzichtete bei seinen Wahlaufrufen in manchen Regionen bewusst auf antisemitische Angriffe, weil man den Mobilisierungseffekt als zu gering ansah.92 Nationalliberale Politiker traten dem Antisemitismus am Ende des Kaiserreichs nicht mehr so entschieden entgegen wie zur Zeit der Reichsgründung, als viele Juden diese Partei noch unterstützt hatten, grenzten sich auf ihren Wahlveranstaltungen aber klar von den Bestrebungen der Antisemiten 88 Ebd., S. 1386–1393. 89 Hess, Geschichte (wie Anm. 86), S. 408 f. 90 Ausführlich hierzu Justus H. Ulbricht, „Deutsche Renaissance“. Weimar und die Hoffnung auf die kulturelle Regeneration Deutschlands zwischen 1900 und 1933, in: Jürgen John/Volker Wahl (Hg.), Zwischen Konvention und Avantgarde. Doppelstadt JenaWeimar, Weimar/Köln/Wien 1995, S. 191–208. 91 Philipp Julius Meyer, Kartographie und Weltanschauung. Visuelle Wissensproduktion im Verlag Justus Perthes 1890–1945, Göttingen 2021, S. 61 u. 196 f. 92 Scheil, Entwicklung (wie Anm. 83), S. 44 u. 210.

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ab.93 In der thüringischen Bevölkerung gab es in allen Schichten zahlreiche Kräfte, die Aussagen und Handlungen der Antisemiten scharf kritisierten. Dies galt besonders für das Herzogtum Sachsen-Meiningen, wo sich das Zusammenleben von Mehrheitsgesellschaft und jüdischer Minderheit im Kaiserreich relativ harmonisch gestaltete. Herzog Georg II. verurteilte Antisemitismus mit klaren Aussagen und pflegte mit jüdischen Wirtschaftsbürgern und Künstlern ein freundschaftliches Verhältnis.94 Im intellektuellen Kräftefeld der Universitätsstadt Jena spielten vom Linksliberalen Ernst Abbe geförderte jüdische Persönlichkeiten wie der Physiker Felix Auerbach und der Jurist Eduard Rosenthal eine wichtige Rolle, und die so genannten Freistudenten setzten sich gegen die nationalistischen und antisemitischen Tendenzen korporierter Studenten zur Wehr.95 Neben den Linksliberalen war es die zur stärksten thüringischen Partei aufsteigende Sozialdemokratie, die den antisemitischen Kräften am entschiedensten gegenübertrat. Dies zeigte sich etwa bei der Nachwahl im Reichstagswahlkreis Reuß älterer Linie, wo der jüdische Sozialdemokrat Max Cohen-Reuß mit über 53 % der Stimmen seinen antisemitischen Gegenkandidaten Lattmann weit hinter sich ließ.96 All dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die in Thüringen lebenden Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts viel heftigeren und radikaleren Angriffen ausgesetzt sahen, als dies noch in der Reichsgründungszeit der Fall gewesen war. Juden waren zwar nach wie vor in den allgemeinen Vereinen thüringischer Städte breit vertreten. Aber die wachsende Bedeutung eigener jüdischer Vereine97 und vor allem der 1893 gegründete „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, der auch in Erfurt zahlreiche Mitglieder besaß,98 verwiesen nur zu deutlich auf die Grenzen, die der Integration der Juden in der Gesellschaft des Kaiserreichs gesetzt waren. Zu den Reaktionen der jüdischen Bevölkerung auf Angriffe und gesellschaftliche Ausgrenzungen wären daher weitergehende Forschungen sehr wünschenswert, während andere Aspekte des jüdischen Lebens im langen 19. Jahrhundert für Thüringen durch die Arbeiten der letzten drei Jahrzehnte inzwischen bereits recht gut erforscht sind. 93 Andreas Schulz, Das Kaiserreich wird abgewählt. Wahlen in den schwarzburgischen Fürstentümern 1867–1918 und Deutschlands beginnende Demokratisierung, Wien/Köln 2022, S. 191 f. 94 Hess, Geschichte (wie Anm. 86), S. 170. Die von Antisemiten vorgebrachte Forderung, dass nur Deutschstämmige zu Beamtenstellen und Parlamentsmandaten zuglassen werden sollten, nannte der Herzog „einen richtigen Blödsinn“. Vgl. auch Erck, Emanzipations-, Gleichstellungs- und Akkulturationsbestrebungen (wie Anm. 55), S. 168 f. 95 Meike G. Werner, Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena, Göttingen 2003, S. 39–46, 238–258. 96 Reibel, Handbuch (wie Anm. 84), zweiter Halbband, S. 1467–1470. 97 Zu Erfurt vgl. Zucht, Geschichte (wie Anm. 4), S. 262–273. 98 Rassloff, Flucht (wie Anm. 82) S. 120–126.

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Hans-Werner Hahn

Das Leben der thüringischen Juden war im 19. Jahrhundert von großen Umbrüchen bestimmt. Diese führten zu neuen Chancen, die zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg und zur Integration in die neue bürgerliche Gesellschaft genutzt wurden. Zugleich aber zeigten sich am Ende des Jahrhunderts auch wieder neue Gefahren und Bedrückungen jüdischen Lebens. Dabei konnte sich aber um 1900 kaum jemand vorstellen, wohin dies im 20. Jahrhundert führen sollte.

A lfred Erck

Die Bedeutung der Bankiersfamilie Strupp aus Meiningen für die wirtschaftliche Entwicklung im Thüringer Raum zwischen 1850 und 1920

Laut Familienüberlieferung ist die jüdische Familie der Strupps gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges aus dem Würzburgischen nach Dreißigacker bei Meiningen übergesiedelt. Ihre Mitglieder gründeten 1715 die Firma I. M. Strupp, die später in B. M. Strupp umbenannt worden ist. Sie betrieb zunächst Handel mit Kramwaren, auch Getreide, engagierte sich im Wechsel- und im Textilgeschäft, wurde zum Merchant-Banker. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war man ausschließlich auf dem Kreditsektor tätig. 1856 wurde durch aufstrebende Bankiers, die in ihrer Heimatstadt Frankfurt/M. neben den Rothschilds keine geschäftlichen Perspektiven sahen, in Meiningen die Mitteldeutsche Kreditbank gegründet. Da das Meininger Herzogtum zu jenem Zeitpunkt sein Banknotenprivileg noch nicht vergeben hatte, drängten die jungen Bankleute in die Residenzstadt an der Werra. Vor allem war ihnen daran gelegen, den in Frankreich aufkommenden Credit Mobilier (Kreditvergabe an industrielle Unternehmen) in Deutschland durchzusetzen. Dem Meininger Staat, namentlich Herzog Bernhard II., war es seinerzeit darum zu tun, jene Geldmittel in die Hand zu bekommen, die man zur versprochenen Errichtung der Eisenbahnstrecke zwischen Eisenach und Coburg/Lichtenfels (mit entsprechenden Anschlüssen an das preußische und bayrische Bahnnetz) dringend benötigte. Alle Seiten konnten mit dem schließlich erreichten „Deal“ zufrieden sein: Die „Mitteldeutsche“ entwickelte sich binnen kurzem zu einer der größten Notenbanken Deutschlands, und die „Werrabahn“ (betrieben von der neugeschaffenen Werrabahngesellschaft) konnte schon 1858 eingeweiht werden. Bernhard Mayer Strupp, der am Zustandekommen der Gründungen einen wesentlichen Anteil gehabt hatte, rückte in den Aufsichtsrat von Bank und Bahn ein, wurde zum Hofbankier ernannt. Als 1862 in Meiningen auch noch die Deutsche Hypothekenbank mit ihren festverzinslichen Hypothekenpfandbriefen ins Leben gerufen worden war und rasch zur größten deutschen Hypothekenbank aufstieg, ist das kleine Meiningen eine Zeitlang zum bedeutendsten Bankenstandort im Thüringer Raum aufgestiegen.1 Ihr langjähriger Direktor 1

Europäische Bankengeschichte, im Auftrag des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für bankhistorische Forschung hg. von Hans Pohl, Frankfurt/M. 1993, S. 228, 273.

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Alfred Erck

Rudolph Sulzbach kann in gewisser Hinsicht als Gustav Strupps Mentor angesehen werden. Nach dem Tod von B. M. Strupp 1859 leitete dessen Sohn Mayer die „Struppbank“. Als dieser 1873 verstarb, haben seine gerade mündig gewordenen Söhne Gustav (1851–1918), Meinhold (1853–1912) und Louis (1854–1914) die Privatbank geführt und 1905 als Aktiengesellschaft zur „Bank für Thüringen“ gemacht. Diese diente bis zu einem gewissen Maße der Discontogesellschaft/ Berlin als eine Art von Statthalter im Thüringischen. Auch die „Mitteldeutsche“ und die Allgemeine Deutsche Kredit- Anstalt sind an dieser Gründung beteiligt gewesen. Als ihr nahezu unumschränkt waltender Aufsichtsratsvorsitzender fungierte Dr. Gustav Strupp. Sieht man von den Arbeiten Ulrich Hess’2 und Peter Langes3 einmal ab, so hat sich die Geschichtsschreibung Thüringens mit der Rolle, die die Banken bei der Industrialisierung in diesem Teil Deutschlands gespielt haben, eigentlich noch gar nicht beschäftigt. Infolgedessen ist auch die Bedeutung, die die jüdische Familie der Strupps und die die Bank für Thüringen im regionalen Wirtschaftsleben erlangten, nur partiell dargestellt worden.4 Mit nachfolgendem Beitrag soll ein Einblick in diesen weitverzweigten Problemkomplex gegeben werden. Im Grunde werden mit der zu behandelnden Thematik mindestens drei historische Prozesse von großer Relevanz reklamiert, die in diesem Zusammenhang allerdings nur benannt werden können: 1. Der Prozess der Industrialisierung in Deutschland ab 1850, der in Thüringen eine besondere Ausprägung erfahren hat. Denn die mittlerweile völlig unzeitgemäße Kleinstaatlichkeit der Region, die relativ kräftig entwickelte Gewerbetätigkeit, die in hohem Maße von dem Naturreichtum abhing, und deren Erzeugnisse weitgehend für den Außenhandel bestimmt waren, auch ein beachtliches Bildungsniveau weiter Teile der Bevölkerung, wären in diesem Zusammenhang zu nennen.5 2. Die politischen, gesellschaftlichen, rechtlichen sowie geistigen Vorgänge, unter denen sich die thüringische Industrie bis zum Ende der Monarchie in Deutschland hat entfalten können. In dem Zusammenhang ist auch daran zu 2 Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866–1914, Weimar 1991, S. 118–120, 317 f. 3 Peter Lange, Das Thüringer Porzellan in der Wirtschafts- und Technikgeschichte. Porzellanland Thüringen, Jena 2010, S. 15–23. 4 Alfred Erck, Gustav Strupp als Bankier und Industrieller, Jahrbücher des HennebergischFränkischen Geschichtsvereins 2009, S. 163–180; 2010, S. 155–180; 2011, S. 249–284; 2012, S. 173–192; 2013, S. 190–224; 2014, S. 235–262; 2015, S. 213–242. 5 Manfred Straube, „Mitteldeutschland“. Der Wirtschaftsraum; Jürgen John (Hg.), „Mitteldeutschland“. Begriff, Geschichte, Konstrukt, Rudolstadt/Jena 2001, S. 193–205; Reinhold Skarupke, Studien zur Entwicklung der Industrie im Herzogtum SachsenMeiningen 1871–1914. Schatzkammer zwischen Rennsteig und Rhön, Schriften des Staatsarchivs Meiningen, Zella-Mehlis/Meiningen 1993, S. 195–204.

Die Bankiersfamilie Strupp aus Meiningen

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denken, dass die rasanten Fortschritte von Wissenschaft und Technik die Fertigung völlig neuer Erzeugnisse für die Schlüsselindustrien der Zukunft, auch grundlegend veränderte technologische Abläufe in der Produktion usw. nach sich zogen.6 3. Die Rolle, die die Banken im Allgemeinen und jene von der Familie Strupp gesteuerten Kreditinstitute bei der Industrialisierung bestimmter Unternehmen, ja bei der Modernisierung ganzer Zweige der Industrie im Thüringer Raum gespielt haben, lässt sich nur vor dem Hintergrund der erstgenannten Wandlungen erfassen. Die Industrie-Bank-Beziehungen haben sich während des zweiten Kaiserreichs auch in Deutschland gewandelt, die Großbanken setzten sich im Zuge der Industrialisierung (als Aktiengesellschaften) gegenüber den Privatbanken durch. Jene Bedeutung, die die Bankiersfamilie der Strupps bei der Industrialisierung speziell in Thüringen erlangt hat, soll im Folgenden anhand einiger ausgewählter Wirkungsfelder skizziert werden. Diese werden ihrerseits in einer gewissen chronologischen Abfolge dargestellt.

1. Das Eisenbahnwesen Mit der Errichtung der Werrabahn sind die Strupps in den Eisenbahnbau eingestiegen. Für Gustav Strupp wurde das Eisenbahnwesen nicht allein zu einem seiner wichtigsten Geschäftszweige. Die Eisenbahn war für ihn auch eine Herzensangelegenheit. Er hat das Bahnwesen geliebt, sich in jeder Hinsicht für sein Gedeihen engagiert. Es hat ihm geschäftlichen Gewinn, viel Freude und auch mancherlei herbe wirtschaftliche Verluste und persönlichen Kummer bereitet. Indem die Struppsche Privatbank sich schon um die Mitte der 1850er Jahre im Eisenbahngeschäft engagierte, folgte sie frühzeitig dem Trend der Industrialisierung in Deutschland, der mit der Eisenbahn (und nicht – wie in England – mit der Textilbranche) begonnen hat. Weil die Werrabahngesellschaft nach und nach ihr Netz erweiterte – hauptsächlich mittels Stichbahnen, die man von der Hauptlinie in Richtung Thüringer Wald, in die Rhön usw. vorantrieb – wurde ihr Streckennetz ausgebaut. Damit erhielten die kleinen Gewerbebetriebe der Region südlich des Rennsteigs mit ihrer Exportorientiertheit bessere Chancen, sich mit Rohstoffen zu versorgen, ihre Produkte zu vertreiben. Sie konnten sich vorsichtig erweitern und modernisieren. Da der immer übermächtigere preußische Staat sehr bald danach drängte, das gesamte Eisenbahnwesen Deutschlands in seine Hand zu bekommen, sahen sich die Werrabahngesellschaft und deren Geldgeber einem rasch sich verstär6 Wolfgang Mühlfriedel, Die Industrialisierung in Thüringen, Erfurt 2001.

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kenden Druck ausgesetzt, der darauf hinauslief, die kleinen Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu bringen und schließlich eine Übernahme durch Preußen zwangsläufig erscheinen zu lassen. Man hat sich im südthüringischen Raum vehement gegen die preußischen Bestrebungen zur Wehr gesetzt. G. Strupp ist eine Zeitlang als eine Art von Galionsfigur im Kampf gegen diese Übermacht in Erscheinung getreten, hat sowohl mit der herzoglichen Regierung als auch auf öffentlichen Veranstaltungen gegen die „Verpreußung“ der Bahn gestritten. Wenn auch mittels derartiger Widerstände gewisse Vergünstigungen für die Betriebsangehörigen erreicht werden konnten, musste schließlich die Werrabahn 1895 kapitulieren. G. Strupp seinerseits war aus preußischer Sicht zu einer Art „unerwünschter Person“ geworden. Doch die Struppschen Brüder haben ihr Interesse am Bahngeschäft nach diesen Widrigkeiten nicht verloren. Sie beteiligten sich vielmehr im großen Stil am Ausbau des Bahnwesens in Ost- und vor allem in Süd-Ost-Europa. Staatliche Interessen und privates Kapital sind dabei ein enges Bündnis eingegangen. Welche Gewinne dabei durch das Meininger Kreditinstitut erlangt worden sind, ist unbekannt. Einer privaten Notiz kann man allerdings entnehmen, dass beim Einsturz einer Brücke über die Donau in Rumänien ein Millionenverlust entstanden ist, der das Struppsche Bankhaus in die Nähe des Bankrotts gebracht hat.7 Die Strupps haben sich nach und nach auch in jenen Unternehmungen engagiert, die als eine Art von Zulieferfirmen der Bahn fungiert haben – namentlich der Münchner Eisenfabrik Moradelli (die des Öfteren von Insolvenz bedroht war)8 und der Waggonfabrik Gotha (von der noch die Rede sein wird). G. Strupp persönlich galt mittlerweile in den Thüringer Wirtschaftskreisen als Experte für das Bahnwesen. Da durfte es dann auch nicht verwundern, dass die neuentstandenen Industrie- und Handelskammern in der mitteldeutschen Region Strupp zu ihrem Vertreter bei der preußischen Eisenbahndirektion in Magdeburg/Erfurt auserwählt haben. Er war der ausgewiesene Fachmann, auch eine Symbolfigur für die Entwicklung des Verkehrswesens in Thüringen. Strupp baute beizeiten ein gutes Verhältnis zum Eisenbahnpräsidenten Erfurts, Kindermann, auf und unterhielt auch während des Ersten Weltkriegs gewisse Kontakte zur Militäradministration in Kassel, der seinerzeit das Eisenbahnwesen im mittleren Deutschland unterstand. Mochte bei den Strupps ursprünglich das Interesse am Bau von Bahnstrecken dominiert haben, so rückten nach 1900 bei G. Strupp die Erfordernisse der Verkehrsverbindungen überhaupt in den Fokus seiner Bestrebungen. Gemeinsam mit dem Direktor der Hypothekenbank A. Braun (Bruder des Nobelpreisträgers F. Braun) kämpfte er jahrelang um die Errichtung einer Bahnstrecke zwischen 7 Paul Hofmann, Firma B. M. Strupp. Aufstieg und Untergang, Manuskript für den privaten Gebrauch bestimmt, Archiv A. Erck. 8 LATh–StA Meiningen, Depositum Dr. Gustav Strupp, 1907–1910.

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Meiningen und Fulda. Er engagierte sich im Verein für die Schiffbarmachung der Werra (Werra-Main-Kanal), stieg als betagter Mensch noch in ein Flugzeug. Industrialisierung bedeutete für G. Strupp sowohl Ausbau der Verkehrswege als auch Entwicklung der Verkehrsmittel. Mobilität ist für G. Strupp gewissermaßen ein Lebenselixier gewesen, der Ausbau der Infrastruktur eine wesentliche wirtschaftliche Intention.

2. Die Herausbildung des Struppschen Porzellanreichs 1884 hat die Struppsche Bank die traditionsreiche Porzellanfabrik in Kloster Veilsdorf zu einer Aktiengesellschaft umgewandelt. Die deutsche Wirtschaft erholte sich seinerzeit von der Gründerkrise, die drei Struppschen Brüder brachten das elterliche Bankinstitut wieder auf Expansionskurs. Der von ihrem Vater vorsichtig begonnene Kurs der Umwandlung von Privatfirmen aus der Region in von ihrem Kreditinstitut dominierte Industrieaktiengesellschaften wurde nunmehr konsequenter verfolgt. Der Einstieg der Strupps in die Porzellanbranche mit der Übernahme des Veilsdorfer Unternehmens erwies sich als ein Glücksgriff. Denn gleichsam mit einem Schlag vermochte man verschiedene in die Zukunft weisende Herausforderungen zu verstehen und auch zu meistern: Man war nämlich in Veilsdorf einerseits jenen für Thüringen typischen Trends in der Porzellanherstellung gefolgt, hatte die sogenannte „Thüringer Ware“, also billige „Luxusartikel“, aber auch hochwertige Figuren, hergestellt.9 Gleichzeitig ist man sehr frühzeitig auch als Zulieferer für die Industrie tätig geworden, hat vor allem die expandierende Elektrobranche mit keramischen Bauelementen, die der Isolierung dienten, beliefert.10 Schließlich gewannen die Strupps mit Vater und Söhnen Heubach, die weiterhin die Firma führten, Porzellanfachleute zu Helfern, ja Freunden. Eduard Albert Heubach ist es dann auch gewesen, der G. Strupp bei seinen späteren Erwerbungen auf dem Porzellansektor, etwa im Schlesischen, mit Rat und Tat zur Seite stand. Gemeinsam mit Berliner Bankiers wurde 1886/87 die Porzellanfabrik Heckmann und Rappsilber zu Königszelt in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und dabei ein glänzendes Geschäft gemacht.11 Auf die Herstellung von Tafelgeschirr spezialisiert, das vor allem für den Verkauf in Berlin bestimmt war, galt 9 Arnd Kluge, Die deutsche Porzellanindustrie bis 1914, Vierteljahresschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte – Beihefte, Band 250, Stuttgart 2020, S. 188–191. 10 H. Büchner, 200 Jahre Porzellan in Veilsdorf. 1760–1960, VEB Porzellanwerk Kloster Veilsdorf 1960. 11 Briefe G. Strupps an seine Frau Fanny von November 1885 bis Januar 1886, LATh–StA Meiningen, Dep. Strupp, Mappe 1.

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es in diesem Falle zunächst die Konsumbedürfnisse der expandierenden Reichshauptstadt zu befriedigen. Mit der 1888 vollzogenen Umwandlung der bedeutenden Porzellanfabrik von Hermann Koch im Altenburgischen Kahla in eine Aktiengesellschaft, deren Vorsitzposten bis zu seinem Tode von G. Strupp besetzt wurde, ist eine strategische Entscheidung sowohl für das Bankhaus Strupp als auch für große Teile der Porzellanindustrie im thüringischen Raum gefallen. Sozusagen von Kahla aus wurde in der Folgezeit der Aufbau des Struppschen Porzellanreichs betrieben. Das „Kahlaporzellan“ wurde in alle Welt exportiert. Von Kahla aus wurde via Hermsdorf und Freiberg/Sa. im großen Stil die Elektrokeramik durchgesetzt. Viele jener Betriebsdirektoren, die später vor allem im Oberfränkischen Raum tätig wurden, hatten zuvor in Kahla gedient. Die neuen Aktiengesellschaften wurden nicht nur vom Struppschen Bankhaus finanziert, sondern sie sind von ihm auch zu Abstimmungen der Fertigungspalette untereinander sowie der Exportstrategie angehalten worden. Es ist Peter Lange gewesen, der betont hat, dass die Porzellanfabrik Kahla aufgrund ihrer technischen Neuerungen (Errichtung einer „Gasfabrik“ zwecks Befeuerung der Brennöfen) zur „größten Porzellanfabrik Europas“ aufsteigen konnte. Darüber, welche Gründe die Eigentümer von Porzellanfabriken in den 1880er Jahren veranlasst haben, ihre Firmen in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln, gehen die Meinungen weit auseinander. In der Regel wird davon gesprochen, dass mit der Ausweitung von Produktion und Absatz sowie wegen Überwindung der relativ rückständigen Herstellungstechnik auf dem Keramiksektor ein dringender Investitionsbedarf existierte, der allein mittels Kreditvergabe durch größere Banken befriedigt werden konnte. A. Kluge ist hingegen der Auffassung, dass es eher private und zufällige Gründe gewesen seien, die die Eigentümer dieser Firmen veranlasst haben, ihr Unternehmen in eine Gesellschaft auf Aktienbasis umzuwandeln. Nachdem noch einige kleinere Porzellanhersteller dem von der Strupp-Bank ausgehenden Trend zur Aktiengesellschaftsbildung gefolgt waren, kam diese erste Welle der Gründungen durch die Meininger Bank erst einmal zu einem gewissen Abschluss – die Zahl der Brennöfen in den Firmen, die Anzahl der Beschäftigten usw. stiegen fortan merklich an, später hat man dann auch kräftig in die Modernisierung der Fabriken investiert. Nachdem die wirtschaftliche Depression in Deutschland gegen Ende der 1890er Jahre abflaute, auch der Technisierungsgrad in der Porzellanindustrie zunahm und 1905 das private Bankhaus Strupp in die Bank für Thüringen umgewandelt worden war, kam es zu einer zweiten Welle der Struppschen Expansion auf dem Porzellansektor. Sie wies verschiedene Momente auf. Am augenfälligsten war, dass G. Strupp von Kahla ausgehend und geleitet von den Erfahrungen, die er im thüringischen Raum gesammelt hatte, auch mit Hilfe einer Anzahl thüringischer Fachleute, daranging, einen beträchtlichen Teil der

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privaten Porzellanfabriken des oberfränkischen Raums in Aktiengesellschaften umzuwandeln, die fortan in der einen oder anderen Weise von ihm geführt wurden. In dem Zusammenhang sind zu nennen: Porzellanfabrik in Schönwald, Porzellanfabrik Arzberg (1889),12 C. M. Hutschenreuther in Hohenberg, Lorenz Hutschenreuther in Selb, schließlich Bauscher in Weiden. Damit wurde die Konzentrierung und die Industrialisierung der Porzellanbranche vorangebracht. Belangvoller – weil man sein Produktionsprofil auf die Bedürfnisse der rasch anwachsenden Elektroindustrie ausrichtete – erwiesen sich die Zulieferungen für Siemens und vor allem für die AEG von Emil Rathenau. Denn mit ihnen wurde nicht allein die Tür zur Elektrokeramik weit aufgestoßen, sondern es machten sich auch technische Neuentwicklungen auf dem Porzellansektor erforderlich. Sie wurden von technischen Fachleuten/Ingenieuren bewerkstelligt, die sämtlich ihre Prägungen durch die Kahlaer Fabrik erhalten hatten und deren Erzeugnisse (zum Beispiel Gasbrennöfen, Etagenrundöfen, die Delta-Glocken für die Telefonleitungen) vor allem in Hermsdorf und im sächsischen Freiberg hergestellt worden sind. Oscar Arke und nicht zuletzt Werner Hofmann, G. Strupps Neffe, schließlich Heinrich Fillmann wären in diesem Zusammenhang als treibende Kräfte zu nennen. Sie haben auch dafür gesorgt, dass an den genannten Standorten moderne Betriebe errichtet worden sind und der technische Direktor (neben dem kaufmännisch orientierten Direktor) in der Branche und in der Region ihren Einzug hielten Man kann davon ausgehen, dass in diesen Betrieben etwa 10.000 Maler, Dreher, Brenner usw. tätig waren. Aufgrund dieser Entwicklungen hat man schließlich von einem „Strupp-Konzern“ gesprochen, in dem ein Großteil der deutschen Porzellanfirmen zusammengefasst war. G. Strupp selbst hat nie von einem derartigen Konzern gesprochen. Es sind erst der Ehemann von Helene Fuld (eine Nichte der Struppschen Brüder), also Ludwig Fuld und nach G. Strupps Tode sein Nachfolger in der Bank für Thüringen) und Werner Hofmann gewesen, die sich dieser Charakterisierung der durch die Strupps dominierten Porzellanunternehmungen bedient haben.13 Gegen eine derartige Bewertung hat sich A. Kluge ausgesprochen und vorgeschlagen, statt dessen die Kennzeichnung „lockere Konglomerate“ zu wählen.14 Unseres Erachtens trifft diese Benennung die sich herausbildenden Sachverhalte aber auch nicht. G. Strupp, in der Regel der gestrenge Aufsichtsratsvorsitzende der jeweiligen Gesellschaften, hielt die Führungsfäden fest in seiner Hand. Er besuchte die Betriebe häufig, bat deren Direktoren zu sich nach Meiningen, organisierte Zusammenkünfte von Gruppen der Direktoren, auf denen das Produktionsprofil und die Absatzmöglichkeiten besprochen wurden. 12 100 Jahre Porzellanfabrik Arzberg, Schriften und Kataloge des Museums der Deutschen Porzellanindustrie, Bd. 9. 13 Die Porzellanfabriken des Struppkonzerns und die Keramag, Meiningen 1920. 14 Kluge, Die deutsche Porzellanindustrie (wie Anm. 9), S. 293 f.

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Die Abstimmungen mit anderen Banken (Diconto-Gesellschaft Berlin, deren Direktor Franz Urbig stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender sowohl bei der Bank für Thüringen als auch bei Kahla-Porzellan gewesen ist, oder mit den Gebrüdern Arnhold in Dresden, mit denen G. Strupp Jahrzehnte lange Zeit kooperierte und viel korrespondierte, liefen über den Meininger Banker. Der 1897 von Strupp gegründeten Pensionskasse gehörten die meisten der genannten Porzellanbetriebe an. Gemeinsam wurde von ihnen der Privatsekretär von G. Strupp, Albert Heusing, bezahlt.15 Kurzum: Egal, wie man die Sachverhalte auch bezeichnen mag – es gab vielfältige Gemeinsamkeiten und Vernetzungen zwischen den Porzellanfabriken der Struppschen Einflusssphäre, die viel Kommunikation und Kooperation erforderlich machten – eine Fähigkeit, die offenkundig zu Strupps Lebenselementen gehörte. Dergleichen erwies sich auch als notwendig, um zwischen den Belangen der Porzellanfabriken in Thüringen und dem Ausbau bzw. der Nutzung der Bahnstrecken zu sinnvollen Kompromissen zu gelangen. Allerdings hegte G. Strupp – im Unterschied zum Bahnwesen – kein Faible für das Porzellan und dessen Design. Offenkundig hat er nicht einmal die große und viel gerühmte Ausstellung im Hutschenreutherschen Betrieb während des Sommers 1918 in Augenschein genommen.16

3. Strupps Engagement auf wirtschaftlichen Zukunftssektoren Nachdem die Strupps jahrzehntelang primär in wirtschaftlichen Sphären wirksam geworden waren, die vor allem auf im Thüringischen tradierten und technologisch eher schwach entwickelten Sektoren engagiert waren, setzte spätestens ab der Jahrhundertwende eine gewisse Akzentverschiebung ein. Man wurde in wirtschaftlichen Bereichen aktiv, die im 20. Jahrhundert für die deutsche Wirtschaft maßgeblich werden sollten – dem Automobilbau, der Flugzeug­ industrie, dem Kalisektor, weiterhin der Elektrokeramik. Eigentlich ist es Louis Strupp gewesen, der die Interessen der Struppbank in Gotha wahrgenommen und es dort bis zum Geheimrat gebracht hat, der die Tür zu diesen wirtschaftlichen Entwicklungen aufstieß. Er hat die Gothaer Waggonfabrik von Bethmann und Glück in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Nachdem die Unternehmung zunächst vor allem Personen- und Güterwagen für die Bahn, auch Straßenbahnen, hergestellt hatte, spezialisierte man sich fortan auf die Produktion von Spezialwaggons. Allerdings hatte die Unterneh15 Alfred Erck, Gustav Strupp als Bankier und Industrieller (5.1.Teil): G. Strupp – Bankier, Industrieller und Wirtschaftspolitiker. Versuch eines Resümees., in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 29 (2014), S. 235–262. 16 Brief J. Landaus an G. Strupp vom 20. 8. 1918, LATh–StA Meiningen, Dep. Strupp, Mappe 60.

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mung noch jahrelang mit einer „Unterbilanz“ zu kämpfen. Doch mit dem Engagement des technisch versierten Albert Kandt als Werkleiter und G. Strupps vielfältigen Hilfestellungen begann man damit, in den Flugzeugbau einzusteigen, rief infolgedessen auch die auf die militärische Nutzung orientierte deutsche Flugzeuglobby auf den Plan. Gothas Herzog Carl Eduard, Fliegerverbände, die nationalistische Presse, auch die Gothaer Sparkasse unterstützten diese Vorhaben. Beizeiten boomte der Flugzeugbau in Gotha, seine wiederholte Kapazitätserweiterung wurde durch die Bank von Thüringen finanziert. Weil L. Strupp schwer erkrankte, lange Zeit ausfiel und schließlich 1914 verstarb, waren G. Strupp und in zunehmendem Maße L. Fuld damit beschäftigt, die Geschäftsbelange der Gothaer Aktiengesellschaft im Verein mit Kandt, der oft in Meiningen weilte, zu erledigen. Mit dem Ausbruch des Weltkriegs wuchsen Bedeutung und Kapazitäten der Gothaer Unternehmung rasant. Die dort gefertigte „Taube“ wurde sowohl zu Aufklärungszwecken als auch zum Bombenabwurf über London eingesetzt. Jenes Rüstungsprogramm, das P. Hindenburgs Namen trug, sah ab 1916 immense Auftragserweiterungen vor. Beispielsweise wurde ein Flugzeug in Auftrag gegeben, das 16 Stunden in der Luft bleiben und der Fernaufklärung dienen sollte. Der Gothaer Betrieb und die Meininger Bank hatten Zulieferunternehmen von Bayern bis zur Ostsee zu installieren. (Meines Wissens ist zu dieser Thematik noch nicht wirklich geforscht worden.) Noch weniger bekannt ist der Umstand, dass sich die Strupps auch beim Automobilbau in Thüringen engagiert haben. Über verschiedene Verbindungen wurden entsprechende Kontakte und Aktivitäten sowohl nach Eisenach und dessen „Dixi“- Herstellung und zum Zella-Mehliser Heinrich Ehrhardt, seinem Fahrzeugbau und zur Fertigung von Rüstungsgütern, getestet und dann zumindest partiell auch vitalisiert. Während das Eisenacher Engagement (via dortiger Filiale der Bank für Thüringen) bzw. durch L. Strupp und Kandt vorangetrieben und erst von der Disconto-Gesellschaft gestoppt worden ist, gestalteten sich zumindest die privaten Kontakte zwischen H. Ehrhardt und G. Strupp recht eng. Die Vorfahren von Strupp hatten sich lange und auf vielfältige Weise auch auf dem Salz- und Salinensektor an der unteren Werra betätigt. Was im Falle der Salzungen Salz- und Solegesellschaft, ihren Bade- und Kuranstalten, den Vereinigten Thüringer Salinen mit ihren Gruben nicht gelungen war, kam mittels der Thüringer Kali- Gesellschaft zustande – den Kalireichtum unter Erde zu einem Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung mit strategischer politischer Bedeutung zu machen. Die ab 1900 rasch entstehenden Kalibergwerke im Nord- bzw. Südwesten Thüringens führten zu heftigen Verteilungskämpfen zwischen den deutschen Großbanken. Auch wenn die Bank für Thüringen nicht als bedeutender Kreditgeber im Kalibergbau in Erscheinung getreten ist, gelangte Strupp auch auf diesem Wirtschaftszweig in eine exponierte Position. Wie verschiedene Gutachten, die bei ihm von Reichsministerien bzw. von der Reichsbank in Auftrag gegeben wor-

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den sind, demonstrieren, galt er in der Branche als ein Kenner der Materie und als ein objektiver Beobachter der sich abzeichnenden Entwicklungen – einschließlich ihrer Relevanz für die deutsche Außenpolitik (speziell gegenüber den USA). Die schon mehrfach angedeutete Affinität Strupps zur Modernität kam ihm bei seiner Einschätzung der Zukunftsindustrien zugute. Auch wenn er in den Verhandlungen des Meininger Landtags wiederholt betont hat, dass er während seiner Schulzeit an einem Humanistischen Gymnasium in keinster Weise auf die Herausforderung einer Wirtschaft, die sich zunehmend auf Naturwissenschaft und Technik gründete, vorbereitet worden war – da helfe die Kenntnis von Latein und Griechisch nichts – brachte er es – unter mancherlei Schwierigkeiten – dahin, sich innerlich dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu öffnen. Auch wenn gewisse Vorbehalte blieben – G. Strupp die Elektrokeramik nicht mochte, Ehrhardts fahrenden Panzerkanonen abhold war, die militärische Nutzung der Flugtechnik seinen Mitarbeitern überließ – hat er sich der Revolution auf dem technischen Sektor gegenüber beizeiten offen gezeigt – ein Fakt, der gerade in der Thüringer Industrie nicht allenthalben anzutreffen war.

4. Die Entwicklung der „Strupp-Banken“ als Kreditgeber der Industrie Die „Banken haben dem wirtschaftlichen Aufschwung der Industrie gedient“. Diese Sentenz hat Strupp wiederholt in seinen Briefen wie in seinen Reden im Meininger Landtag formuliert. Damit wollte er auf die generelle Funktion des Bankwesens bei der Industrialisierung der Wirtschaft hinweisen oder auch im Einzelfall seine Überzeugung verkünden, dass nur große Bankinstitute – und eben nicht die kleinen Privatbanken oder die Sparkassen – in der Lage seien, die für die allgemeine Prosperität notwendigen Investitionen vorzufinanzieren.17 Dazu gab es auch hinreichend Veranlassung. Denn nicht nur die wirtschaftlichen Verhältnisse der gerade im Thüringer Raum über lange Zeiten gewachsenen Gewerbe hatten sich verändert, es waren vor allem Wirtschaftszweige entstanden, auf denen Deutschland führend wurde – die elektrotechnische und die chemische Industrie, der Automobil- und der Flugzeugbau. Jene Entwicklung, die die Bank B. M. Strupp bis 1905 und anschließend die Bank für Thüringen genommen hat, bestätigt auf ihre Weise die von G. Strupp benutzte Redewendung. Anfänglich hatte man im Umfeld von Meiningen verschiedene Brauereien, Malzfabriken, die Wernshäuser Kammgarnspinnerei usw. in Aktengesellschaften umgewandelt, ihre Produktionspalette erweitert, im Grunde genommen deren Fortbestand an heftig umstrittenen Märkten ermöglicht. Später 17 Erika Büchner, Banken haben wirtschaftlichem Aufschwung der Industrie gedient, Meininger Heimatklänge, Beilage zum Meininger Tageblatt 2008, Ausgabe 6.

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wurden Korbwarenhersteller in Lichtenfels und Wasungen zu Struppschen Aktionären. (Gut gemeinte Experimente – etwa die Errichtung einer Zuckerfabrik, um den Bauern Südthüringens den Rübenanbau schmackhaft zu machen – misslangen.) Im Grunde genommen ist es Meinhold Strupp gewesen, dem schließlich die finanzielle Führung dieser Gesellschaften und die Erfüllung der Kreditwünsche von Bankenkunden im Umfeld der Residenzstadt Meiningen oblag. Doch in dem Maße, wie die Struppsche Privatbank gegen Ende der 1880er Jahre ihren Wirkungsbereich ins gesamte Kaiserreich ausdehnte, kam es dann auch zur Gründung von Industrieaktiengesellschaften in Bonn, Hamburg, Berlin, München usw. G. Strupp, der ein lebhaftes Interesse an der Montanindustrie hatte, stieg auch in den Braunkohleabbau, die Schiefergewinnung usw. ein. Man kann von einer Art „Struppschen Streubesitzes“ sprechen, der sich nach und nach bei diesem Bankhaus angesammelt hat. Das Bankinstitut hat 1895 sein 175-jähriges Bestehen selbstbewusst, auch ausgiebig gefeiert. Dazu gab es reichlich Veranlassung. Denn nicht nur die Gründung von Aktiengesellschaften auf ausgewählten Industriebranchen bot Anlass zur Freude. Auch die Geschäfte mit Staat und Kommunen entwickelten sich erfolgversprechend. Man konnte die Übernahmebestrebungen von Großbanken erfolgreich abwehren, und die Reputation namentlich von Gustav Strupp an der Berliner Börse, in meinungsbildenden Klubs der Reichshauptstadt stieg beträchtlich.

5. Die Gründung der „Bank für Thüringen“ 1905 Es sind zwei Hauptgründe gewesen, die die Gebrüder Strupp nach der Jahrhundertwende dann doch veranlasst haben, ihr eigentlich gut gehendes privates Kreditinstitut in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Die Erfordernisse der sich auch im mittleren Deutschland stürmisch entwickelnden Industrie machten ansehnliche Investitionen in vielen Industriezweigen nötig. Dadurch entstand ein hoher Fusionsdruck auf den Bankensektor selbst, dem sich die kleinen Kreditinstitute nur schlecht entziehen konnten. Gleichzeitig bedingte die familiäre Situation bei den Strupps, dass grundlegende Entscheidungen nicht länger hinausgezogen werden konnten. Die Brüder hatten sämtlich das 50. Lebensjahr überschritten, und G. Strupp notierte besorgt „Die Sterblichkeit meines Berufs … ergibt nur ein Durchschnittsalter von 51 Jahren“.18 Zudem begannen Gustav, Meinhold und Louis zu kränkeln, waren gehalten, ihren Lebensrhythmus zu verändern, auch an ihre Nachfolge zu denken. Da nur Louis ein Kind gezeugt hatte und dieser Sohn eine wissenschaftliche Karriere anstrebte, hat man die 18 Brief G. Strupps an A. Süssmann vom 21.12.1906, LATh–StA Meiningen, Dep. Strupp, Mappe 12.

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„Neffenoption“ gezogen und schließlich den Schwiegersohn von Schwester Mathilde, Ludwig Fuld, zum künftigen Firmenchef und zum Oberhaupt der jüdischen Familie auserkoren.19 Nachdem über einen längeren Zeitraum auch in den überregionalen Zeitungen des Reichs darüber spekuliert worden war, in welche Richtung sich die B. M. Strupp-Bank entwickeln würde, wurde am 18. Oktober 1905 die Gründung der „Bank für Thüringen“ mit Sitz in Meiningen vollzogen. Das Aktienkapital bestand aus zehn Millionen Mark. Außer den Strupps waren die Disconto-­Gesellschaft und die Allgemeine Deutsche Kreditanstalt mit jeweils 2.833.000 Mark und die Mitteldeutsche Kreditanstalt mit 1.500.000 Mark an der neuen Bank beteiligt.20 Gegen den Widerstand des preußischen Erfurts und letztendlich ohne die Beteiligung von Banken aus den Reußischen Fürstentümern gelang es dem neu installierten Kreditinstitut bis zum Kriegsausbruch 1914 in sämtlichen wichtigen Industriestandorten Thüringens eine Filiale zu errichten, als Regionalbank im Thüringischen den ersten Platz einzunehmen. G. Strupp seinerseits blickte – obgleich weiterhin der nahezu souverän waltende Chef – „mit gemischten Gefühlen“ auf die Umwandlung, trennte sich nur höchst ungern vom Familiengeschäft. „Schließlich (sei) es aber doch besser, eine so complicierte Transaction in gesunden Tagen zu machen, als wenn man erst durch Krankheit, Alter u. s. w. dazu gezwungen wird.“21 Aus der Sicht der deutschen Bankengeschichte hat man diese „zweite Welle der deutschen Bankenkonzentration“ wie folgt kommentiert: Da die Berliner Großbanken seinerzeit noch über kein ausgebautes Filialnetz verfügten, förderten sie die Entwicklung derartiger Regionalbanken, um mit ihrer Hilfe in der Fläche präsent zu sein und vor allem industrielle Kreditbedürfnisse sachgemäß abwickeln zu können.22 Als G. Strupp allerdings gelegentlich den Versuch unternahm, übers Thüringische hinaus Filialen zu gründen, erfolgte prompt das Veto der Disconto-Gesellschaft. Wie allenthalben im deutschen Kaiserreich hat der Kriegsausbruch 1914 den Investitionsbedarf der Rüstungsindustrie noch einmal gewaltig gesteigert, und auch die Bank für Thüringen hat die Errichtung von neuen Rüstungsbetrieben bzw. deren Kapazitätserweiterung in ganz Deutschland finanzieren geholfen. Demgegenüber litten die Porzellanbetriebe unsäglich unter dem Arbeitskräfte-, Roh- und Brennstoffmangel, nicht zuletzt den ausbleibenden Auslandsaufträgen. Einige von ihnen mussten sogar geschlossen werden. Es ist namentlich Fuld gewesen, der für den krebskranken G. Strupp nach dem Tod der Brüder 19 Hofmann, Firma B. M. Strupp. Aufstieg und Untergang (wie Anm. 7). 20 Meininger Tageblatt vom 18.10.1905. 21 Brief G. Strupps an J. Eisenberg vom 11.11.1905, LATh–StA Meiningen, Dep. Strupp, Mappe 6. 22 Europäische Bankengeschichte (wie Anm. 1), S. 267.

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(Meinhold 1911 und Louis 1914) diese Entwicklungen tatkräftig vorangetrieben bzw. die einschneidenden Zwangslagen zu managen hatte. Sein Onkel, der nicht allein auf dem wirtschaftlichen Sektor gut vernetzt gewesen ist, blieb ihm dabei im letzten Kriegsjahr wiederholt nur noch ein kundiger Ratgeber.

6. Struppsche Vernetzungen zwischen Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur Es gehört zu den Charakteristika von G. Strupps Persönlichkeit, dass er es auf herausragende Weise verstanden hat, Wirtschaftliches, Politisches, Gesellschaftliches und Kulturelles miteinander zu verknüpfen. Vielleicht bestand gerade in dieser Fähigkeit das eigentliche Geheimnis seines Erfolges. Um derartige Konnexionen aufzubauen und erfolgreich nutzen zu können, bedurfte es selbstverständlich einer Respekt gebietenden wirtschaftlichen Hausmacht. Letztendlich wurde sie durch die Aufsichtsratsposten manifestiert, die ein Bankier bei Industrieaktiengesellschaften eingenommen hat. Denn sie sind es in der Regel gewesen, mittels derer die Banken ihren großen Einfluss auf das wirtschaftliche Geschehen ausgeübt haben.23 1908 war Strupp schon in knapp 30 Aufsichtsräten vertreten, später sind es wohl noch zehn mehr gewesen. In der Hälfte der Fälle fungierte er als Aufsichtsratsvorsitzender. Diese Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen weniger führte ab Mitte der 1900er Jahre regelmäßig im Herbst zu einer lebhaften Auseinandersetzung in der deutschen Presse, die die Häufung derartiger Aufsichtsratsposten teilweise heftig kritisierte. Weil sie den Nerv seiner Lebenstätigkeiten betraf, hat G. Strupp auf verschiedene Weise in diese Auseinandersetzungen eingegriffen. Dabei betonte er die Sinnhaftigkeit derartiger Konzentrationen; denn sie dienten einer rationalen und raschen Bewertung der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens.24 Es ist für Strupp wie auch für seinen Bruder Louis ein Akt von hoher Symbolkraft gewesen, sich an der Berliner Börse einführen zu lassen, und man war der Berliner Bankiersfamilie der Landaus sehr dankbar, dass sie ihnen diesen Schritt schon frühzeitig ermöglicht hatten. Bald wurde Strupp Vorsitzender der Industrie- und Handelskammer im Kreis Meiningen. Sein Wirken in den Eisenbahnvorständen ist schon erwähnt worden. Als schließlich 1909 der Verband Thüringischer Industrieller ins Leben gerufen worden war, hat er auch dort eine wichtige Rolle gespielt. L. Heß urteilte, dass es Ewald Pferdekämper, Direktor der Weide-

23 Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, Berlin 1983, S. 88. 24 Briefe Gustavs Strupps an Deutschen Reichsanzeiger vom 22.10.1911 und an Montagszeitung vom 22.10.1910, LATh–StA Meiningen, Dep. Strupp, Mappe 22.

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ner Jutespinnerei, Max Fischer, der Geschäftsführer der Zeiss-Werke in Jena, und eben G. Strupp gewesen seien, die dem Verband sein Profil gegeben haben.25 Ihren Einfluss auf politische Entscheidungen haben die deutsche Wirtschaft und mit ihr auch G. Strupp nicht allein mittels der Verbände der Industriellen ausgeübt. Auch parteipolitische Verbindungen spielten dabei eine wesentliche Rolle. G. Strupp war, wie viele seiner jüdischen Kollegen und prominente Intellektuelle, frühzeitig Mitglied einer der linksliberalen Parteiungen, letztendlich der Freisinnigen Partei, geworden. Ihr kompromissloser Kampf gegen antisemitische Bestrebungen hat sogar in der herzoglichen Familie in Meiningen viel Beifall gefunden.26 Das Reichstagsmandat für den Wahlkreis Meiningen hielt über Jahrzehnte der bekannte Münchner Oberstaatsanwalt Ernst Müller, der Müller-Meiningen genannt wurde, inne. Mit ihm ist Strupp eng liiert gewesen. Er ermöglichte dessen Wahlauftritte im Herzogtum, erfuhr von diesem aber auch rechtzeitig, wenn im Berliner Reichstag eine neue Gesetzesvorlage beispielsweise die segensreiche Struppsche Pensionskasse in eine finanzielle Schieflage bringen würde. In Meiningen ist Strupp schon vor der Jahrhundertwende in den Gemeinderat eingerückt, hat den Finanzetat der Kommune nach allgemeinem Urteil sachkundig und dem Nutzen der Stadt dienend mitgesteuert. 1903 hat G. Strupp bei den Wahlen zum Landtag von Sachsen-Meiningen ein Mandat errungen und bis zu seinem Tode inne gehabt. Er wurde nicht nur zum Vorsitzenden des Finanzausschusses gewählt, sondern fungierte später auch als ein Vizepräsident des Meininger Landtags. (Sowohl Strupps Wahlkampfführung in dem gewerblich ausgerichteten Schalkauer Wahlkreis als vor allem sein Agieren während der Landtagssitzungen darf als bemerkenswert angesehen werden, kann allerdings an dieser Stelle nicht Gegenstand der Erörterungen sein.) Oft und nachdrücklich hat Strupp betont, dass er froh sei, in einem liberal ausgerichteten Herzogtum leben zu können. Den Souverän Georg II. hat er sehr verehrt, aber wegen seiner Nichtbereitschaft, auf das Domäneneinkommen auch Steuern zu zahlen, heftig und öffentlich kritisiert. (Im Meininger Herzogtum galt eine sozial stark differenzierte Steuergesetzgebung; die sehr Armen waren von der Steuer gänzlich befreit, die Vermögenden hatten eine besonders hohe „Reichensteuer“ zu entrichten.) Neben den Finanzangelegenheiten hat sich Strupp im Landtag hauptsächlich in Bildungsfragen engagiert. Die Hebung der allgemeinen Bildung und insbesondere der Fortbildungsschulen für die Entwicklung der Thüringer Industrie ist ihm wichtig gewesen. Die Kenntnisse auf naturwissenschaftlich-techni25 Ludwig Hess, Geschichte Thüringens 1866–1914. S. 320–323. 26 Thomas Nipperday, Deutsche Geschichte. 1866–1918, Bd. II. Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 307.

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schem Gebiet sollten spürbar verbessert und der Unterricht mittels technischer Apparate anschaulicher gestaltet werden. Dem Thema des jüdischen Religionsunterrichts hat er beachtliche Aufmerksamkeit verschafft, sogar Sonderregelungen (einschließlich deren Finanzierung) durchgesetzt.27 G. Strupp hat es sehr wohl geschätzt, einen gesellschaftlichen Aufstieg zu erleben. Schon 1886 wählte man ihn zum Vorsitzenden der israelischen Kultusgemeinde in Meiningen – ein Amt, dass er über zwanzig Jahre souverän ausübte. Meiningens Herzog, der Strupp sehr schätzte, machte ihn schon bald hoffähig. Strupps Frau Fanny hat sich nach dem Tode ihres Gemahls mit der Herzogswitwe Freifrau Helene angefreundet. Noch belangvoller ist es gewesen, dass Strupp sehr frühzeitig in den Berliner Nobelklub „Ressource 1794“ eingeführt wurde. Dort traf man sich jährlich mehrmals im Kreise von sehr hochrangigen Wirtschaftsleuten, Politikern und Intellektuellen. Strupp hat diese Zusammenkünfte fast immer wahrgenommen. Jene Einblicke, die er dort gewissermaßen aus erster Hand empfing, ließ er nicht zuletzt in sein Landtagswirken einfließen. Im gesellschaftlichen Leben der Meininger Residenzstadt nahmen die Strupps eine exponierte Stellung ein. An den offiziellen Veranstaltungen des Hofes (Bälle, Redouten, Konzerte usw.) haben sie nur gelegentlich teilgenommen. An der herzoglichen Tafel ist G. Strupp häufiger zugegen gewesen. Es kam immer wieder vor, dass herzogliche Minister bei den Strupps zu Gast gewesen sind und umgekehrt. Die Meininger Bankerfamilien haben sich wechselseitig zu Tisch gebeten. Gelegentlich der Herbstmanöver bat der kommandierende preußische General regelmäßig darum, bei den Strupps einquartiert zu werden. Die Schauspieler des Hoftheaters und die Musiker der Hofkapelle waren häufig im Struppschen Hause zu Gast. Auch Max Reger spielte dort wiederholt Klavier. In christliche Familien scheinen die Meininger Strupps nicht eingeheiratet zu haben. Aufgrund seiner Reputation und seines finanztechnischen Potentials ist G. Strupp in den Vorständen der bedeutendsten Stiftungen oder Denkmals- bzw. Musikfestspielkomitees des Herzogtums als das für die Geldangelegenheiten zuständige Mitglied vertreten gewesen. G. Strupp hat die gesamte deutsche Kultur und Kunst gut gekannt und sehr hoch geschätzt. Das deutsche Volksbildungswesen lag ihm sehr am Herzen. Die Schulbildung und nicht zuletzt die beruflichen Fortbildungsschulen hat er für vorbildlich gehalten und nach allen Regeln der Kunst gefördert. Insgesamt war er im Weltkrieg der Auffassung, dass Deutschland den Krieg schon deshalb gewinnen müsse, damit seine Kultur der Welt erhalten bliebe. Gustav und in noch weitaus höherem Maße Meinhold Strupp waren engagierte Kunstsammler, verfügten über bedeutende Sammlungen von Gemälden zeitgenössischer Meister. Meinhold trug sich sogar mit dem Gedanken, für seine 27 Verhandlungen des Landtags des Herzogtums Sachsen-Meiningen 1906, S. 137, 658; 1916–1918, S. 519–520.

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Gemälde ein privates Museum zu errichten – eine Idee, die Herzog Georg II. sehr begrüßte. Doch sein früher Tod verhinderte wohl die Ausführung des bemerkenswerten Vorhabens. Gustav Strupp sollte also nicht allein aufgrund seines beträchtlichen Beitrags zur wirtschaftlichen Entwicklung Thüringens, der Innovationsfähigkeit vieler Firmen, gewürdigt werden. Vielmehr hat man sich auch des Umstands eingedenk zu sein, dass herausragende Leistungen von Industriellen und Bankiers in der Regel nur zustande kommen, wenn auch ganz persönlich jenes Netzwerk repräsentiert wird, das aus den Wechselwirkungen von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur erwächst. In vielen jüdischen Familien Deutschlands ist eine derartige Symbiose im 19. Jahrhundert stark ausgeprägt gewesen. Noch ein Wort zum Schicksal der Struppschen Unternehmungen nach dem Tode von G. Strupp: Nach G. Strupps Ableben am 4. Dezember 1918 übernahm Franz Urbig sowohl die Leitung der Bank für Thüringen als auch den Vorstandsvorsitz bei der Kahlaer AG. Als alleiniger Berater der deutschen Regierung auf dem Finanzsektor bei den Friedensverhandlungen in Paris, Spa und Brüssel usw. war Urbig damals besonders stark beschäftigt, musste gewissermaßen direkt von Frankreich nach Meiningen zu den Sitzungen reisen. Auf ihnen wurde zunächst beschlossen, zu einer Kapitalerweiterung der Bank zu schreiten, um den auf dem zivilen Sektor eingetretenen Investitionsstau beheben zu können. Doch dann kam es zur Inflation. Den Vorsitz der Bank übernahm Fuld. Auf dem Porzellansektor avancierte Fillmann zur bedeutendsten Führungsperson im Thüringischen und schaffte es, Kahla wieder an die erste Stelle in Europa zu führen.28 Damit man die auf dem Porzellansektor eingetretenen Innovationsrückstände rasch überwinden konnte, hat sich der seinerzeit so bezeichnete „Strupp-Konzern“ (namentlich Fuld, Hofmann und Fillmann) zur Errichtung eines entsprechenden Forschungsinstituts in Meiningen entschlossen – die Keramak Meiningen. Fuld führte eine Zeitlang die „Bank für Thüringen“ im Sinne Strupps weiter. Doch 1926 gab er dem Fusionsdruck der Disconto-Gesellschaft nach. Nachdem die Bank für Thüringen kurze Zeit eine ihrer Filialen gewesen war, vereinigte sich die Deutsche Bank mit der Discontogesellschaft, und Meiningen blieb bis 1946 eine von Dr. Conrad geleitete Filiale des erstgenannten Kreditinstituts. 1940 haben die Nationalsozialisten die Bank für Thüringen schließlich aus dem Handelsregister gestrichen. Ein gleiches Schicksal erlitten die verschiedenen sozialen und kulturellen Stiftungen der Strupps. Eine Ära im Zusammenwirken von Wirtschaftlichem und Technischem mit dem Gesellschaftlichen und Kulturellen war zu ihrem Ende gebracht worden.

28 Lange, Thüringer Porzellan (wie Anm. 3).

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Zwischen Anerkennung und Ausgrenzung Erfurts jüdische Bürger vom 19. Jahrhundert bis zum Dritten Reich

Wolfgang Benz hat die Feindschaft gegenüber den Juden treffend als das „älteste soziale, kulturelle, religiöse, politische Vorurteil der Menschheit“ bezeichnet.1 Über zwei Jahrtausende hinweg mussten sie als gesellschaftliche Außenseiter regelmäßig Diskriminierungen bis hin zum Massenmord erdulden. Zugleich kam es aber auch zu Phasen einer gewissen Akzeptanz und Anerkennung. Die mit der Aufklärung einsetzende Emanzipation führte zu rechtlicher Absicherung und Gleichberechtigung, in Deutschland endgültig mit der Reichsgründung 1871. Eine Reihe von jüdischen Familien stieg in angesehene wirtschaftsund bildungsbürgerliche Führungspositionen auf. Dies lässt sich am Beispiel von Erfurt, der 1906 ersten und lange Zeit einzigen Industriegroßstadt Thüringens, paradigmatisch nachvollziehen.2 Dennoch blieben die Juden, auch dies wird am Beispiel Erfurts deutlich, in vielerlei Hinsicht „Bürger zweiter Klasse“. Überdies entwickelte sich seit den 1880er-Jahren der moderne Antisemitismus, dessen Rassegedanke die religiös-­ kulturellen Vorbehalte zunehmend überlagerte und mit sozialen Ressentiments anreicherte. Er machte die Juden besonders seit dem „Gründerkrach“ 1873 für viele Probleme der industriell-urbanen Moderne verantwortlich. Starken Auftrieb erhielt der Antisemitismus so in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg 1914–1918. Zu ihrem radikalsten Verfechter wurde die NSDAP Adolf Hitlers. Der Antisemitismus gipfelte schließlich im Dritten Reich 1933–1945 mit der Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden im Holocaust bzw. in der Shoa.3 1 Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus?, München 2004, S. 7. 2 Vgl. Steffen Rassloff, Flucht in die nationale Volksgemeinschaft. Das Erfurter Bürgertum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur, Köln/Weimar/Wien 2003; Olaf Zucht, Die Geschichte der Juden in Erfurt von der Wiedereinbürgerung 1810 bis zum Ende des Kaiserreiches. Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Geschichte Thüringens, Jena 1999 (Diss.); Hervorgehoben sei die Bewerbung des mittelalterlich-jüdischen Erbes in Erfurt um den Titel UNESCO-Weltkulturerbe, die eine reiche Forschung auch zur jüngeren Vergangenheit angestoßen hat: https://juedisches-leben.erfurt.de/jl/de/bildung_forschung/index. html (letzter Zugriff: 25.09.2021). 3 Wolfgang Benz, Der Holocaust, München 82014.

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1. Integration mit Grenzen Jenes auf und ab von Anerkennung und Ausgrenzung mussten die jüdischen Mitbürger auch in Erfurt durchleben, dem traditionellen Zentralort Thüringens.4 Die Stadt darf sogar, über das hier skizzierte Zeitalter weit zurück, als symptomatischer Fall gelten. Der blutige Pogrom von 1349 hatte die seit dem 11. Jahrhundert ansässige bedeutende Gemeinde rund um das heutige Museum Alte Synagoge ausgelöscht, worauf der Stadtrat seit 1458 endgültig keine Juden mehr dauerhaft in Erfurt duldete. Bei diesem strikt verteidigten Ansiedlungsverbot blieb es bis zum Herrschaftswechsel von Kurmainz an Preußen 1802 bzw. endgültig mit dem Wiener Kongress 1815. Danach gelangten jüdische Familien wie in vielen Städten und Regionen Thüringens5 allmählich in einflussreiche Stellungen, gehörten zum wirtschaftlichen und politischen Establishment.6 Genannt seien die Gartenbaudynastie Benary, Schuhfabrikanten Hess, Bankiers Moos und einige andere. 1839 war mit Ephraim Salomon Unger, Leiter einer angesehenen Privatlehranstalt, der erste Jude in die Stadtverordnetenversammlung gelangt. Dessen Vater David Salomon Unger wiederum hatte 1810 die erste Bürgerrechtsverleihung erwirkt – das Schlüsseldatum für die dauerhafte Wiederansiedlung der Juden in Erfurt.7 1861 und 1865 gelangten die Unternehmer Ernst Benary und Wilhelm Moos in die Stadtverordnetenversammlung und übernahmen dort einflussreiche Führungspositionen. Auch die wichtigen großbürgerlichen Vereine und Verbände öffneten sich den Juden. Schuhfabrikant Alfred Hess wurde Vorsteher des maßgeblichen Herrenclubs Ressource, in dem das bürgerliche Establishment der Stadt informell die Fäden zog. Gartenbauunternehmer Friedrich Benary, Millionär und drittreichster Bürger der Stadt, gelangte an die Spitze der Handelskammer, wichtigste Vertretung des Wirtschaftsbürgertums. Die relativ kleine, weitgehend assimilierte Erfurter Gemeinde ohne „ostjüdische“ Erscheinungsformen bot zudem kaum Anlass für einen emotionalen Antisemitismus. Manche Großbürger konvertierten auch entsprechend der politisch-gesellschaftlichen Erwartungshaltung der frühen „Judenemanzipation“ zum Christentum, wie bereits die zweite Generation der 1824 ansässig gewordenen Familie Benary. Schon nach kurzer Zeit erin4

Vgl. Steffen Rassloff, Geschichte der Stadt Erfurt, Erfurt 52019; Ders., Geschichte Thüringens, München 22020. 5 Vgl. den Beitrag von Hans-Werner Hahn in diesem Band. 6 Rassloff, Bürgertum (wie Anm. 2), S. 120–126. 7 Olaf Zucht, Emanzipation und Assimilation. Der Aufstieg der jüdischen Bürgerfamilie Unger in Erfurt, in: Hans-Werner Hahn/Werner Greiling/Klaus Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt/Jena 2001, S. 185–200.

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nerte kaum noch etwas daran, dass die Ansiedlungen bzw. Bürgerrechtsverleihungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Bürgerschaft und Stadtrat auf hartnäckigen Widerstand gestoßen waren, den erst der preußische Staat bzw. der König höchstselbst hatten brechen können.

Abb. 1: Tourismusbroschüre aus den 1920er-Jahren Jene besagte Gartenbaudynastie Benary mag beispielhaft für Aufstieg, Integration und Ansehen jüdischer Bürger im Erfurt der Kaiserzeit stehen. Ernst Be­nary gründete 1843 eine Samenzucht und -handelsfirma, die zu einer der führenden weltweit aufstieg. Sie trug über Generationen zum internationalen Ruf der „Blumenstadt Erfurt“ bei, die vor allem im Samenhandel eine weltweite Führungsposition besaß.8 Ein wichtiges Element des Erfolges der Blumenstadt 8 Martin Baumann/Steffen Rassloff (Hg.), Blumenstadt Erfurt. Waid – Gartenbau – iga/ egapark, Erfurt 2011.

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waren aufwändige internationale Gartenbauausstellungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts, an deren Tradition jüngst die Bundesgartenschau 2021 in Erfurt anknüpfte.9 Auch bei jenen spektakulären Gartenschauen war die Firma Benary aktiv engagiert. Sie hat so zu einem zentralen Charakteristikum im Wirtschaftsleben und kollektiven Selbstverständnis der Stadt beigetragen, das unter anderem im Alten Angerbrunnen mit der Göttin Flora seinen repräsentativen Ausdruck fand.10 Die erste wissenschaftliche Abhandlung zum Erfurter Erwerbsgartenbau hob 1908 die besondere Stellung Benarys ein gutes halbes Jahrhundert nach der Gründung hervor: Diese Firma verbreitet […] den Erfurter Kultur- und Handelsbetrieb in bezug auf Sämereien planmäßig über die ganze Erde und erhob so Erfurt zum Mittelpunkt eines Welthandels. Durch das tatkräftige Vorgehen dieser Firma wurde die Erfurter Gärtnerei auch in ihrer Gesamtheit sehr vorteilhaft beeinflußt, denn sie leistet jetzt das 50fache von dem, was ihr vor 50 Jahren möglich war.11 Kaum jemand nahm Anstoß daran, dass unter den fünf großen Gartenbauunternehmen – neben Benary noch Chrestensen, Haage, Schmidt und Heinemann – das einzige jüdische dominierte. Ernst Benary war zudem ein Musterbild moderner Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts, die von vielen wirtschaftlich erfolgreichen Juden nicht nur nachvollzogen, sondern maßgeblich mitgestaltet wurde. Er verkörpert geradezu idealtypisch den auf Wohlstand basierenden bürgerlichen Gemeinsinn, der auch als Grundlage kommunaler Selbstverwaltung galt. Hieran erinnert unter anderem der heutige Benaryplatz. 1888 hatte Benary Grundstücke im Erweiterungsgebiet der ehemaligen Stadtbefestigungen gekauft. Die 5.700 qm großen Flächen, als lukratives Bauland vorgesehen, stiftete er testamentarisch der Stadt als öffentliche Erholungsstätte. Nach seinem Tode 1893 ließ die Stadt einen kleinen Gedenkstein errichten und den begrünten Platz 1896 nach Benary benennen. Nach mehreren politisch motivierten Namenswechseln erinnert der Benaryplatz seit 1991 wieder an seinen großzügigen Stifter, der dort ein neues Denkmal erhielt.12 Trotz all dieser Leistungen und Verdienste auch anderer jüdischer Honoratioren sind hartnäckige Vorurteile jedoch nicht zu übersehen. Sie traten zeitweise sogar ins politische Rampenlicht. Selbst in großbürgerlichen Zirkeln kam es gelegentlich zu Spannungen – die zumindest latenten Ressentiments machten auch um die „gebildeten“ und „besitzenden“ Schichten des Kaiserreiches bei aller öffentlichen Zurückhaltung keinen Bogen. Das aktive Wirken einer Orts9 Steffen Rassloff, Blumenstadt Erfurt. Die Bundesgartenschau kehrt 2021 zu ihren Wurzeln zurück, in: BUGA – Mitschnitt der Jahre 2011–2015, Erfurt 2016, S. 72–79. 10 Ders., 100 Denkmale in Erfurt. Geschichte und Geschichten, Essen 2013, S. 102 f. 11 Hans Haupt, Die Erfurter Kunst- und Handelsgärtnerei in ihrer geschichtlichen Entwickelung und wirtschaftlichen Bedeutung, Jena 1908, S. 124. 12 Rassloff, 100 Denkmale (wie Anm. 10), S. 104 f.

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gruppe des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ deutet zudem auf den weiterhin nötigen Kampf um volle Gleichberechtigung hin. In Erfurt traten die in meist kurzlebigen Bünden und Vereinen organisierten Antisemiten mit einem gewissem Erfolg an die Öffentlichkeit. Ihr Wortführer war der angesehene Schneidermeister Johannes Jacobskötter. Der Antisemitismus konnte jedoch in der Folge von der bis ins frühe 20. Jahrhundert in Erfurt dominierenden Deutschkonservativen Partei integriert werden. Mit dem „Tivoli-­ Programm“ von 1892 rückte er sogar zur konservativen Programmatik auf. So saß für die von lokalen Honoratioren als eher loser Wahlverein getragenen Deutschkonservativen im Wahlkreis Erfurt-Schleusingen-Ziegenrück mit Jacobs­kötter ein ausgesprochener Antisemit von 1893 bis 1903 im Reichstag und von 1903 bis 1908 im preußischen Abgeordnetenhaus.13 Den fruchtbarsten Nährboden für diesen Antisemitismus bildete bereits in jener Zeit deutlich erkennbar der bürgerliche Mittelstand. Die Handwerker, Kleinhändler und Gastwirte wie auch die kleine Angestellten- und Beamtenschaft neigten – von der SPD in ihrem bürgerlichen Selbstverständnis negiert – zu nationalistischen, antisozialistischen und rassistischen Ideologien, zu denen auch der Antisemitismus zählte. Bei ihnen spielte der soziale Aspekt eine wichtige Rolle, waren für Männer wie Johannes Jacobskötter die Juden als Kaufhausbesitzer, Bankiers oder Großunternehmer doch leicht für eigene Probleme und Abhängigkeiten verantwortlich zu machen.

2. Anfeindungen in der Weimarer Republik Nach 1918 gelang es den konservativen und rechtsextremen Parteien und Bewegungen, die Juden mit den negativen Entwicklungen – Niederlage im Ersten Weltkrieg, Novemberrevolution 1918 und ungeliebte Weimarer Republik – erfolgreich und nachhaltig in Verbindung zu bringen. Noch im Oktober 1918 hatte der Vorsitzende des ultranationalistischen Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, dazu aufgerufen, die Lage zu Fanfaren gegen das Judentum und die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen.14 Wesentlich mit vom Alldeutschen Verband begründet wurde als massenwirksame Organisation der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund, der sich auch in Erfurt etablierte. Und antisemitische Propaganda auf parlamentarischer Bühne fand fortan nicht nur in Berlin und in den Landtagen wie im benachbarten Weimar statt,15 13 Ders., Bürgertum (wie Anm. 2), S. 84. 14 Zit. nach Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes 1919–1923, Hamburg 1970, S. 27. 15 Steffen Rassloff, Antisemitismus auf parlamentarischer Bühne. Die „jüdische Frage“ im Thüringer Landtag 1920–1933, in: Harald Mittelsdorf (Hg.), Zwischen Mitgestal-

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sondern nunmehr auch im Erfurter Rathaus. Hierbei strahlte die Vorreiterrolle des völkisch-nationalsozialistischen „Mustergaus“ Thüringen auf das preußische Thüringen und seine Kommunalparlamente zurück.16 Antisemitismus spielte nicht nur als aggressive Propaganda, sondern auch als politischer Faktor erstmals in Weimar eine wichtige Rolle, als sich 1924 eine bürgerliche Landesregierung von den Völkischen tolerieren lassen musste und 1930 die NSDAP sogar erstmals in eine Landesregierung eintrat. Die Bandbreite der Anfeindungen aus der facettenreichen und fluiden antisemitischen Bewegung war groß, sie reichte von gängigen Vorurteilen bis zu ex­t remen Hetztiraden. Neben den nationalen Symbolfiguren, wie dem 1922 ermordeten Außenminister Walther Rathenau, dienten als Zielscheiben auch lokale Persönlichkeiten, insbesondere der Erfurter Schuhfabrikant, moderne Kunstmäzen und demokratische Stadtverordnete Alfred Hess. Seinen Niederschlag fand dies etwa in den Karikaturen des Offiziers a. D. und Heimatmalers Walter Corsep, die in rechten Kreisen kursierten.17 Sie zeigen in gängigen Klischees Hess als reichen Fabrikanten, der als Kriegsgewinnler die Revolution finanziert. Unter der Flagge der Freiheit und dem roten Stern führt er das blinde deutsche Volk am Gängelband, Opfer der „Judenrepublik“ und des internationalen Bolschewismus.

tung und Ausgrenzung. Jüdische Abgeordnete und jüdisches Leben als Thema in Thüringer Parlamenten, Weimar 2007, S. 351–384. 16 Steffen Rassloff, Der „Mustergau“. Thüringen zur Zeit des Nationalsozialismus, München 2015. 17 StadtA Erfurt, 5/110-C-1-3, Sammlung Walter Corsep.

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Abb. 2 (Vorseite) u. 3: Karikaturen von Walter Corsep auf Schuhfabrikant und Mäzen Alfred Hess Corsep hatte sich Hess im Zusammenhang mit der „Erfurter Museumsfrage“ zum universalen antisemitischen Feindbild auserkoren.18 Das Angermuseum, seinerzeit noch „Städtisches Museum“, erlebte in den 1920er-Jahren unter dem liberalen Oberbürgermeister Bruno Mann einen Höhepunkt als Zentrum moderner Kunst. Insbesondere die kongeniale Zusammenarbeit zwischen Direktor Walter Kaesbach und Mäzen Hess ließ eine Expressionismus-Sammlung wachsen, die heute unschätzbaren Wert besäße. Hess gehörte zu den wenigen Bürgern, die offen für jene neue künstlerische Strömung waren, welche traditionellen Sehgewohnheiten widersprach. Er finanzierte den Ankauf vieler Bilder und Skulpturen. Neben den immer noch beachtlichen Relikten der 1937 in der Aktion „Entartete Kunst“ von den Nationalsozialisten zerschlagenen Sammlung im Angermuseum erinnert die Villa von Alfred Hess an dessen Wirken. Sie befindet sich in der nach dem großzügigen Kunstfreund benannten Alfred-Hess-Straße. Hess hatte sein Heim in der damaligen Hohenzollernstraße zur bedeutenden Galerie 18 Rassloff, Bürgertum (wie Anm. 2), S. 262–272.

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gemacht und beherbergte zahlreiche Größen des Expressionismus. Das Gästebuch der Familie Hess liest sich wie ein Who’s Who der klassischen Moderne.19 Dort finden sich neben Beckmann, Heckel, Kandinsky, Nolde, Pechstein oder Schmidt-Rottluff auch Lyonel Feininger und Christian Rohlfs, die 1923 und 1924 auf Initiative Kaesbachs länger in Erfurt weilten. Die Hess-Villa geriet geradezu zu einem Wallfahrtsort der Moderne, wurde zum Studienziel vieler Weimarer Bauhäusler und Künstler bzw. Kunstfreunde aus ganz Deutschland. Auch moderne Musiker wie Paul Hindemith und Drei­ groschenoper-Komponist Kurt Weill fanden bei Hess gastliche Aufnahme und Unterstützung. Dies wiederum bot freilich Antisemiten wie Corsep dankbare Angriffsflächen, standen doch die meisten Zeitgenossen jenem kulturellen Aufbruch verständnislos bis feindselig gegenüber. Von dessen Verfemung der neuen Entwicklungen im Städtischen Museum als „semitisch-bolschewistische Unkultur“ war der Weg zur „entarteten Kunst“ der Nationalsozialisten nicht mehr weit. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Der spektakuläre Sieg des mehrfach vorbestraften Vulgärantisemiten und Wochenblatt-Herausgebers Adolf Schmalix bei den Stadtverordnetenwahlen 1929 zeigte mit aller Drastik die wachsende Anfälligkeit für antisemitische Demagogie.20 Erfurt begeht moralischen Selbstmord – so titelten die Zeitungen reichsweit. Die einen spöttelten Erfurt, Erfurt, mir fürchten, mit diesem Manne ist auch deine Ehr furt. (Münchener Zeitung), die anderen wiesen nachdenklich darauf hin, wie widerstandslos recht große Wählerschichten vornehmlich persönlich gefärbter Hetze zum Opfer fallen (Frankfurter Zeitung).21 In seinem wöchentlich erscheinenden Schmierblatt „Echo Germania“ (Auflage bis zu 2.800 Exemplare) hetzte Schmalix vorzugsweise gegen führende Demokraten und jüdische Bürger der Stadt. Mit Blick auf den von ihm als Leser und Wähler hofierten Mittelstand spielte er besonders die Karte vom reichen Juden, der mit seinen Fabriken und Kaufhäusern die Wirtschaft beherrsche. Beispielhaft hierfür steht der Aufmacher einer Ausgabe des Echo Germania von 1927 Das verjudete Erfurt. Jüdische Industriebetriebe. – Jüdische Handelsherren, Warenhäuser und Geschäfte. Dort werden auch die Schuhfabrikanten Hess und die getauften Gartenbauunternehmer Benary als volksfremde Rassejuden diffamiert.22 Der gesellschaftliche Einfluss der jüdischen Großbürger und die Haltung der nichtjüdischen Oberschicht verhinderten jedoch lange ein breites Ausgreifen des Antisemitismus. Er spielte in der bürgerlich-liberalen Presse keine Rolle, zumal der Herausgeber der tonangebenden Thüringer Allgemeinen Zeitung (Auflage bis zu 56.000 Exemplare) mit einer geborenen Benary verheiratet war. 19 Dank in Farben. Aus dem Gästebuch von Alfred und Thekla Hess, München/Zürich 9 1992. 20 Rassloff, Bürgertum (wie Anm. 2), S. 341–359. 21 Münchener Zeitung vom 29.11.1929; Frankfurter Zeitung vom 26.11.1929. 22 Echo Germania. Überparteiliches, nationales Wochenblatt 42/1927, S. 1.

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Abb. 4: Echo Germania 42/1927 So hatten auch Corseps Karikaturen keine Chance, dort veröffentlicht zu werden und wurde Adolf Schmalix weitgehend mit Nichtbeachtung gestraft sowie in eine Reihe von Verleumdungsprozessen verwickelt. Angesehene Honoratioren wie Adolf Scholtz, Altmeister der Freimaurerloge Carl zu den drei Adlern, hatten zudem schon während des Krieges zu den immer stärker aufkommenden Anfeindungen gegen die Juden klar Stellung bezogen: Der Antisemitismus ist immer eine beschämende Schwäche der davon ergriffenen Gesellschaftskreise gewesen; jetzt nach dem Kriege, in dem die jüdischen Volksgenossen Seite an Seite mit den Christen gestanden haben und nicht hinter ihnen zurückgeblieben sind, würde ein judenfeindliches Verhalten zur schnöden Ungerechtigkeit ausarten.23 Ausschreitungen wie die Schändung des jüdischen Friedhofes in der Cyriakstraße 1926 wurden als unerhörter Vandalenakt abgelehnt und die Verurteilung der Täter zu mehrjährigen Haftstrafen begrüßt.24 Der Antisemitismus gehörte also im bürgerlichen Milieu der Weimarer Zeit nach wie vor nicht zu den kon23 Adolf Scholtz, Gedanken aus den Kriegsjahren 1914 bis 1917. Fünf Bilder von deutscher Art und Freimaurerei, Erfurt 1917, S. 83. 24 Thüringer Allgemeine Zeitung vom 14.03.1926.

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sensfähigen Denkmodellen, wie Nationalismus und Antimarxismus. Er war jedoch unterschwellig vorhanden, hatte „Tradition“ sowie einige engagierte, radikale Verfechter mit Breitenwirkung im Mittelstand.

3. Antisemitismus und Shoa im Dritten Reich Hieran konnten die Nationalsozialisten nach ihrer „Machtergreifung“ 1933 in Erfurt erfolgreich anknüpfen.25 Getragen von breiter Zustimmung bürgerlich-nationaler Kreise schienen sie wieder für „Ordnung“ zu sorgen – nicht zuletzt mit Blick auf die gefürchtete „rote“ Arbeiterbewegung in einer lebensweltlich klar in zwei große Milieus – Arbeiterschaft und Bürgertum – getrennten Industriegroßstadt. Prägende Erlebnisse wie vor allem die bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen während des Kapp-Putsches 1920 waren noch sehr präsent. Johannes Biereye, angesehener Gymnasialdirektor und Vorsitzender des Erfurter Geschichtsvereins, sprach 1935 als einstiger Bürgerwehr-Offizier von der Errichtung eines ersehnten Ordnungsstaates in heißer Liebe zu unserem Vaterlande durch einen begnadeten Führer.26 Zu den dabei zumindest hingenommenen „Schattenseiten“ gehörte von Beginn an der jetzt staatlich gelenkte und schrittweise verschärfte Antisemitismus. Rechtliche Einschränkungen und Aktionen wie der „Judenboykott“ vom 1. April 1933 setzten sofort ein und gipfelten zunächst in den Nürnberger Rassegesetzen 1935. Diese radikale Judenverfolgung der NSDAP wurde aber keineswegs allgemein begrüßt. Trotz aller tief sitzenden Vorurteile gab es durchaus weiterhin Ablehnung. Neben der in den Untergrund gedrängten Linken, die freilich keineswegs frei von antisemitischen Stereotypen war, gilt dies auch für das Bürgertum. So betonte der Erfurter Bürgerwehr-Kommandant Oberst Fritz von Selle 1937 bei den Verhandlungen um den Status nationaler Kämpfer für seine einstigen Mitstreiter ganz in traditionellem Sinne, daß auch Juden nicht ausgeschlossen sein sollten, wenn sie sich soldatisch bewährt haben und von einwandfreiem bürgerlichen Rufe sind.27

25 Rassloff, Bürgertum (wie Anm. 2), S. 399–411; Ders., Verführung und Gewalt. Erfurt im Nationalsozialismus, in: Stadt und Geschichte. Zeitschrift für Erfurt 24 (2004), S. 3–5. 26 Johannes Biereye, Freikorps Thüringen. Einwohnerwehr, Ordnungshilfe Erfurt. Entstehung, Entwicklung und Betätigung (insbesondere beim Kapp-Putsch) zum Schutze der Stadt Erfurt und Thüringens vom Januar 1919 bis April 1920, Erfurt 1935, S. 89. 27 StadtA Erfurt, 5/759-8.

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Abb. 5 u. 6: Umschlagvorderseite der Publikationen von Biereye und des 19. Deutschen Historikertags Schlaglichtartig für diese Grundhaltung sei auch das Verhalten des angesehenen Erfurter Geschichtsvereins genannt. Besagter Johannes Biereye nahm etwa in seinen anlässlich des 19. Deutschen Historikertages 193728 erschienenen Klassiker Erfurt in seinen berühmten Persönlichkeiten auch den jüdischen Gartenbauunternehmer Ernst Benary auf.29 Noch im vierten Jahr ständiger antisemitischer Propaganda überwogen für Biereye, der auf Votum der Vereinsmitglieder 1933 nicht im Sinne des geforderten „Führerprinzips“ durch ein NSDAP-Mitglied ersetzt worden war,30 die Verdienste des herausragenden Unternehmers mit bürgerlichem Gemeinsinn.

28 Steffen Rassloff, Zwischen „alter“ und „neuer“ Geschichtswissenschaft. Der 19. Deutsche Historikertag 1937 in Erfurt, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 68 (2007), S. 107–114. 29 Johannes Biereye, Erfurt in seinen berühmten Persönlichkeiten. Eine Gesamtschau, Erfurt 1937, S. 7. 30 Steffen Rassloff, „Ad maiorem Erfordiae gloriam“. 150 Jahre Verein für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 1863–1945 und 1990–2013, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 74 (2013), S. 7–46, hier S. 15.

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Ein Aufsatz von Erich Wiemann in der Festschrift von Stadt und Geschichtsverein zum Historikertag deckt in verblüffender Offenheit den wirtschaftlich-rechtlichen Hintergrund der mittelalterlichen „Judenfrage“ auf. Wiemann nennt die fadenscheinigen Vorwände, unter denen sich beim Pogrom 1349 eine fanatisierte Menge über die Erfurter Gemeinde hergemacht und ihr in einem blutigen Gemetzel den Untergang bereitet habe, um mit den Gläubigern zugleich die drückenden Schulden loszuwerden.31 Es ist schwierig zu sagen, ob man hierin sogar eine latente Kritik an der zeitgenössischen Arisierungspolitik sehen kann.32 Affirmative Anspielungen auf den Antisemitismus finden sich jedenfalls weder bei Wiemann noch in anderen Publikationen des Vereins. Bei allen Vorbehalten gegenüber dem radikalen Antisemitismus der Nationalsozialisten bleibt aber festzuhalten, dass sich die Entrechtung, Verfolgung und Deportation der Juden inmitten der Gesellschaft abspielte, ohne dass sich breiterer Widerstand gezeigt hätte. Die Familie Benary, die wohl vor allem wegen ihres hohen Ansehens relativ ungeschoren durch die NS-Diktatur kam und sogar ihre Gartenbaufirma trotz aller Einschränkungen weiterführen konnte – erst die Restriktionen der DDR-Wirtschaftspolitik trieben die Familie 1951 in die Bundesrepublik –, blieb in Erfurt die Ausnahme. Den vermeintlichen Höhepunkt der Judenverfolgung bildete die Reichspogromnacht vom 9. November 1938, der die Große Synagoge am heutigen Juri-Gagarin-Ring zum Opfer fiel.33 Dies war aber tatsächlich nur ein auf die ungeheuerliche „Endlösung der Judenfrage“ vorausweisendes Wetterleuchten. Zu den radikalen Verfechtern dieser Politik gehörte auch Oberbürgermeister Walter Kießling, der eifrig bemüht war, Erfurt so schnell wie möglich judenfrei zu bekommen, wobei er sogar mit nationalen Stellen und der Gauleitung in Weimar in Konflikt geriet.34 Von den 831 Personen jüdischen Glaubens 1933 lebten 1945 nur noch wenige Dutzend in Erfurt bzw. kehrten von den Deportationen zurück. Wie verschieden dabei die Schicksale sein konnten, zeigt die biographische Dokumentation „Ausgelöschtes Leben“ mit 453 Kurzbiographien ermordeter Erfurter Juden.35

31 Erich Wiemann, Beiträge zur Erfurter Ratsverwaltung des Mittelalters. Erster Teil: Rat und städtische Einwohnerschaft, in: Festschrift dem 19. Deutschen Historikertag in Erfurt dargeboten vom Oberbürgermeister der Stadt Erfurt und vom Erfurter Geschichtsverein, Erfurt 1937, S. 37–152, hier S. 105. 32 Vgl. Monika Gibas (Hg.), „Ich kam als wohlhabender Mensch nach Erfurt und ging als ausgeplünderter Jude davon.“ Schicksale 1933–1945, Erfurt 2008. 33 Jutta Hoschek (Hg.), Novemberpogrom 1938 in Erfurt. Aus Dokumenten und Erinnerungen, Jena 2014. 34 Eckart Schörle, Oberbürgermeister Walter Kießling. Der Erfurter „Führer“ im Dritten Reich, in: Stadt und Geschichte. Zeitschrift für Erfurt 24 (2004), S. 8 f. 35 Jutta Hoschek, Ausgelöschtes Leben. Juden in Erfurt 1933–1945. Biographische Dokumentation, Jena 2013.

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1. Integration und akademischer Antisemitismus: Der Kontext Bei ihren Antworten auf die Frage nach Entstehung, Entwicklung und politisch-gesellschaftlichen Konsequenzen des modernen, biologistisch-rassentheoretischen Antisemitismus im „langen“ 19. Jahrhundert hat die Forschung unter anderem den akademischen Milieus von Studenten, Professoren und Universitäten eine zentrale Rolle zugewiesen.1 Und das zu Recht: Von den Diskussionen 1

Für hilfreiche Hinweise und Auskünfte sei Thomas Schindler, dem Leiter des Stadtarchivs Haßfurt und Prof. Dr. Matthias Stickler, dem wissenschaftlichen Leiter des Instituts für Hochschulkunde an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg gedankt. – Zum akademischen (insbesondere studentischen) Antisemitismus vgl. u. a.: Thomas Schindler, Studentischer Antisemitismus und jüdische Studentenverbindungen 1880–1933, Nürnberg 1988; Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1988; Heike Ströle-Bühler, Studentischer Antisemitismus in der Weimarer Republik: eine Analyse der Burschenschaftlichen Blätter 1918 bis 1933, Frankfurt am Main 1991; Notker Hammerstein, Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871–1933, Frankfurt am Main u. a. 1995; Thomas Schindler, „Was Schandfleck war, ward unser Ehrenzeichen…“. Die jüdischen Studentenverbindungen und ihr Beitrag zur Entwicklung eines neuen Selbstbewußtseins deutscher Juden, in: Harm-Hinrich Brandt/Matthias Stickler (Hg.), „Der Burschen Herrlichkeit“. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens, Würzburg 1998, S. 337–365; Miriam Rürup, Jüdische Studentenverbindungen im Kaiserreich. Organisationen zur Abwehr des Antisemitismus auf ‚studentische Art‘, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10 (2001), S. 113–137; Dies., Auf Kneipe und Fechtboden. Inszenierung von Männlichkeit in jüdischen Studentenverbindungen in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 141– 156; Miriam Rürup, Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886–1937, Göttingen 2008; Harald Lönnecker, Judenfeindschaft und Antisemitismus in den Zeitschriften der deutschen akademischen Sängerschaften (ca. 1880–1918), in: Michael Nagel/Moshe Zimmermann (Hg.), Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte. Five hundred Years of Jew-Hatred and Anti-Semitism in the German Press: Manifestations and Reactions, Bd./Vol. I, Bremen 2013, S. 253–271; Regina Fritz/Grzegorz Rossoliński-Liebe/Jana Starek (Hg.), Alma mater antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten

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beispielsweise der frühburschenschaftlichen Bewegung und ihrer professoralen Mentoren um die Möglichkeiten der Zugehörigkeit der Juden zur projektierten deutschen Nation und damit auch zur organisierten Studentenschaft 2 spannt sich der Bogen zum akademischen Antisemitismus des Kaiserreichs, der sich in alltäglicher, lebensweltlicher Abgrenzung innerhalb der Studentenschaft genauso zeigte wie in aufsehenerregenden universitären und professoralen Auseinandersetzungen wie dem Berliner „Antisemitismusstreit“.3 Gipfelpunkt war, schon lange vor der Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung so vieler deutscher Juden im Nationalsozialismus, die Entscheidung zunächst österreichischer, dann reichsdeutscher Korporationen und Korporationsverbände, Juden keine Satisfaktion zu geben bzw., wo dies nicht ohnehin bereits faktisch so war, keine Juden mehr aufzunehmen und auch Mitglieder, die jüdische Frauen heirateten, zum Ausscheiden zu drängen.4 Abgrenzung und Abwehr richteten sich im Kaiserreich nach den antisemitischen Stimmungen der zweiten Hälfte der 1870er und der 1880er Jahre im universitären Milieu vor allem gegen die osteuropäischen Juden,5 die in der Mehr-

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Europas zwischen 1918 und 1939, Wien 2016; Matthias Stickler, Jüdische Studentenverbindungen. Anmerkungen zu einem zu wenig beachteten Thema der Universitäts- und Studentengeschichte, in: Einst und Jetzt 61 (2016), S. 11–56; Miriam Rürup, Eine Frage der Ehre. Anerkennungskämpfe jüdischer Studentenverbindungen in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 21 (2018), S. 135–154. Vgl. Harald Lönnecker, Frühe Burschenschaft und Judentum, in: Burschenschaftliche Blätter 114/2 (1999), S. 79–84; Peter Kaupp, Burschenschaft und Antisemitismus. Eine gesellschaftliche Betrachtung im Kontext, in: GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte 8 (2006), S. 25–37. Zur Judenfeindschaft von Jakob Friedrich Fries als einer der professoralen Mentoren der Burschenschaft in Jena vgl. Klars Ries, Wort und Tat. das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart 2007, S. 257–278. Zu Quellen und Kontext vgl. Karsten Krieger (Bearb.), Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Eine kommentierte Quellenedition im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung, München 2003. Vgl. zur Entwicklung in der Habsburgermonarchie im knappen instruktiven Überblick: Harald Lönnecker, „Demut und Stolz, … Glaube und Kampfessinn. Die konfessionell gebundenen Studentenverbindungen – protestantische, katholische, jüdische, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Universität, Religion und Kirchen, Basel 2011, S. 479–540, hier besonders S. 508–510. Zur Entwicklung in der DB nach dem Ersten Weltkrieg vgl. zum Überblick Helma Brunck, Die Deutsche Burschenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, München 1999, besonders S. 149–174. Vgl. zum knappen Überblick und zu Spezialstudien: Peter Pulzer, Die Wiederkehr des alten Hasses, in: Steven M. Lowenstein u. a. (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit. Bd. III: Umstrittene Integration 1871–1918, München 1997, S. 193–248; Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780–1918 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 16), München 22000, S. 47–66, 113–130.

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zahl aus dem Russischen Reich stammten. Besonders in der Medizin und (nachdem sie akademisch geworden war) der Zahnmedizin schürte die wahrnehmbare Anwesenheit der russländisch-jüdischen Studenten Überfüllungsund Konkurrenzängste, die sich mit einem – teilweise auch von deutschen Juden selbst mitgetragenen – Diskurs über die Zurückgebliebenheit und „Minderwertigkeit“ des Ostjudentums mischten.6 Im späten Kaiserreich wurde an den deutschen Universitäten, auch in Jena und an den mitteldeutschen Nachbarhochschulen, vielfach nach Begrenzungs- und Zurückdrängungsmaßnahmen gerufen. Der „Klinikerstreik“ in Halle 1912 gehörte zu den aufsehenerregenden, gegen russische und vor allem russisch-jüdische Studenten gerichteten Aktionen in dieser Region.7 In Jena, wo in den beiden Semestern des Jahres 1913 fast die Hälfte aller ausländischen Studenten Russländer, und wiederum fast Dreiviertel dieser Studenten aus dem Russischen Reich Juden waren,8 überlagerten sich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die in allen gesellschaftlichen Bereichen als eine von wachsender nationaler und imperialer Konkurrenz geprägte Phase wahrgenommen wurde, Tendenzen eines akademischen Protektionismus mit dem Streben nach akademisch-bürgerlicher Positionswahrung und virulenten antijüdischen, teilweise auch explizit biologistisch-antisemitischen Ressentiments: Ende 1905 forderten zwei studentische Eingaben an den Senat eine Begrenzung der Ausländerimmatrikulation. Die Antwort des Senats machte freilich einmal mehr deutlich, dass eine Vereinseitigung des Urteils vom 6

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Vgl. dazu u. a. Jack Wertheimer, Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, New York/Oxford 1987; Trude Maurer, Die Wahrnehmung der Ostjuden in Deutschland 1910–1933, in: LBI Information. Nachrichten aus den Leo Baeck Instituten in Jerusalem, London, New York und der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des LBI in Deutschland 7 (1997), S. 67–85. Für die Weimarer Republik noch immer grundlegend: Dies., Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986. Speziell zum akademischen Milieu vgl. die Beiträge in Hartmut Rüdiger Peter (Hg.), Schnorrer, Verschwörer, Bombenwerfer? Studenten aus dem Russischen Reich an deutschen Hochschulen vor dem 1. Weltkrieg, Frankfurt/Main 2001; Trude Maurer, Diskriminierte Bürger und emanzipierte „Fremdstämmige“. Juden an deutschen und russischen Universitäten, Graz 2013. Vgl. dazu Hartmut Rüdiger Peter, Der „Klinikerkampf“ – Studentenprotest und Ausländerproblem an der Universität Halle-Wittenberg vom Winter 1912/1913, in: Sachsen-Anhalt. Beträge zur Landesgeschichte 15 (1999), S. 71–101; Ders./Andreas de Boor/Mario Klotzsche, Studenten aus dem russischen Reich, der „Klinikerstreik“ und die „akademische Ausländerfrage“ an der Universität Halle vor dem 1. Weltkrieg, in: Hermann-J. Rupieper (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Martin-Luther-Universität 1502–2002, Halle 2002, S. 377–406. Vgl. Hartmut Rüdiger Peter, Rußländische Studenten in Jena vor dem Ersten Weltkrieg, in: Matthias Steinbach/Stefan Gerber (Hg.), „Klassische Universität“ und „akademische Provinz“. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, Jena/Quedlinburg 2005, S. 475–488, hier S. 476.

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gerade um 1900 wachsenden akademischen „Illiberalismus“ zu kurz greift9 und Teil jener unterkomplexen Bilder des Kaiserreichs ist, welche die ambivalente Realität dieses faszinierenden Laboratoriums der industriegesellschaftlichen und demokratischen Moderne in Deutschland nicht in seinem ganzen Facettenreichtum aufnehmen: „Mit den sachlichen Forderungen“, so der Senat 1905, „ist zu unserem Bedauern eine Reihe von Anschuldigungen gegen russische Studierende verbunden, welche durch die Art und den Zusammenhang, in dem sie vorgebracht werden, geeignet sind, die Gedachten in ihrer Gesamtheit schwer zu kränken und von denen einige, besonders schwere, sich alsbald als unrichtig erwiesen haben. […] Wie die Vertreter deutscher Wissenschaft sich den fruchtbringenden Verkehr mit ausländischen Fachgenossen zur besonderen Ehre anrechnen, so werden und sollen auch in Zukunft lernbegierige Ausländer, die unsere hohen Schulen aufsuchen, bei den deutschen Studenten einer kameradschaftlichen Aufnahme sicher sein.“ 10

Trotz der Stimmungen, die sich in solchen Petitionen und Protestbewegungen Luft machten, trotz der unübersehbaren antisemitischen Agitation im akademischen Milieu waren die deutschen Universitäten des Kaiserreichs ein Magnet gerade für Studierende aus dem Russischen Reich. Und dies nicht nur wegen der international ausstrahlenden, transnational untersetzten natur- und kulturwissenschaftlichen Attraktivität der universitären Wissenschaft im Kaiserreich, sondern auch als Fluchtraum vor dem ausgeprägten strukturellen, staatlich gestützten Antisemitismus des russischen Zarenreiches, wo für die Zulassung von Juden zum Universitätsstudium ein Numerus clausus galt.11 Die „Weltgeltung deutscher Wissenschaft“, wie der (allerdings erst im Rückblick nach dem Ersten Weltkrieg aufgekommene) Topos lautete und lautet,12 war nicht nur Ergebnis von Spitzenleistungen in Forschung und angewandten Wissenschaften, sondern speiste sich auch aus der Tatsache, dass das Kaiserreich als Kulturund Rechtsstaat wahrgenommen wurde. Aber auch für die deutschen Juden stellten die Universität und das Universitätsstudium im Kaiserreich ungeachtet des akademischen Antisemitismus einen immensen Möglichkeitsraum dar – einen Möglichkeitsraum, der die im Übergang zum Kaiserreich erreichte formale uneingeschränkte reichsweite bürgerliche Gleichstellung ein Stück weit 9

So die inzwischen vielfältig differenzierte These von Konrad H. Jarausch, Students, Society and Politics in Imperial Germany. The Rise of Academic Illiberalism, Princeton 1982. 10 So zit. in Peter, Rußländische Studenten in Jena (wie Anm. 8), S. 477 f. 11 Vgl. Guido Hartmann, Der Numerus clausus für jüdische Studenten im Zarenreich, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 41 (1993), S. 509–531. 12 Vgl. Sylvia Paletschek, Was heißt „Weltgeltung deutscher Wissenschaft?“ Modernisierungsleistungen und -defizite der Universitäten im Kaiserreich, in: Michael Grüttner u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 29–54.

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mit Leben füllen konnte. Die deutschen Juden waren, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, weit überdurchschnittlich in der höheren Bildung, beim Erwerb der Hochschulreife und im Hochschulstudium repräsentiert13 – wobei ihr Bevölkerungsanteil übrigens, anders als antijüdische Projektionen es glauben machen wollten, vor dem Ersten Weltkrieg (1910) unter 1 Prozent lag und bereits seit den 1880er Jahren stagniert hatte.14 Wenn also die neuere Forschung die Ambivalenzen der explodierenden Moderne im Kaiserreich bereits seit Längerem differenziert in den Blick nimmt, so hat doch – und damit wieder zum engeren Gegenstand dieses Beitrages – die Konzentration der Forschung auf den akademischen Antisemitismus auch dazu geführt, dem Alltagsleben jüdischer Studenten, ihren Sozialisations- und Lebensformen, ihrer „Normalität“ weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Es zeichnete sich auch hier die generelle Problematik einer älteren, nur auf die Äußerungsformen und Konsequenzen der modernen Judenfeindschaft konzentrierten Forschung ab,15 gerade durch diese – zunächst verständliche Fixierung – auf paradoxe, gleichsam „positive“ Weise den Exzeptionalismus und Exotismus fortzuschreiben, der Teil antijüdischer Wahrnehmungs- und Argumentationsmuster war und ist. Ganz besonders galt dies für das im Kaiserreich und in der Weimarer Republik erstaunlich breite Feld der jüdischen Studentenverbindungen. Die skizzierte Problematik eines gebremsten Forschungsinteresses an alltäglichen Lebensformen jüdischer Studenten jenseits des allgegenwärtigen Diskriminierungsparadigmas wurde für diesen Themenbereich zusätzlich durch die besonders in der Historiographie der 1960er und 1970er Jahre zunehmende Neigung verstärkt, studentische Korporationen nicht als äußerst vielfältige und komplexe studentische Sozialisations- und Lebensgestaltungsinstanzen, sondern ausschließlich als Treibhaus des bereits erwähnten akademischen „Illiberalismus“ wahrzunehmen und darzustellen. Jeder der unzähligen Korporierten des Kaiserreichs erschien in dieser verzerrenden, politisch-polemischen Perspektive als ein Diederich Heßling, wie ihn Heinrich Mann in seiner berühmten Polemik und Satire gegen das wilhelminische Spießbürgertum vorgestellt hatte – und natürlich war jeder

13 Vgl. die instruktive Zusammenfassung der sozialstatistischen Daten zur jüdischen Bevölkerung im Kaiserreich in: Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1994, S. 396–413, hier S. 400 f. 14 Vgl. ebd. S. 396. 15 Weite Teile der historischen und sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung – so etwa der Soziologe Werner Bergmann – plädieren zur Bezeichnung des Phänomens gegenwärtig für den offenen und „funktionalistischen“ Begriff der „Judenfeindschaft“, weil „alle Versuche, Antisemitismus zeitlich und inhaltlich von anderen Formen der Judenfeindschaft klar abzugrenzen […] umstritten geblieben“ sind. Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 32006, S. 6.

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dieser „Heßlinge“ nicht nur Korporierter, sondern auch „Antisemit“.16 Dass ein solcher Korporierter Jude sein könne, und zwar nicht nur getaufter oder zumindest säkularer, sondern auch religiöser oder zionistischer Jude, und dass viele jüdische Korporierte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik die „Zieher“, die auch Diederich Heßlings Gesicht als Ergebnis der Mensur zerfurchten, nicht minder stolz trugen als ihre nichtjüdischen Kommilitonen, musste in dieser Geschichtssicht als unvorstellbar, ja geradezu ungeheuerlich erscheinen. Aber es war so. Das Thema der paritätischen und jüdischen Studentenverbindungen soll im Folgenden am Beispiel Jenas und seiner Universität vermessen werden. Die Schmalkaldener Tagung, auf die dieser Band zurückgeht, trug den Untertitel „Bilanz und Perspektiven der Forschung“. Mit einer Bilanz sieht es bei diesem Vorhaben schwierig, oder – wenn man es anders auffassen will – sehr einfach aus: Sie hat eine Nullsumme zu ziehen. Die universitätsgeschichtliche Forschung zu Jena hat die Frage nach jüdischen Korporationen, aber auch nach nicht-korporativen jüdischen Studentenorganisationen für die Salana bisher nicht gestellt. Für den Gesamtbereich der universitäts- und studentengeschichtlichen Forschung gilt das natürlich nicht. Hier hat sich die Untersuchung des paritätischen und jüdischen Verbindungswesens inzwischen recht breit aufgestellt und differenziert.17 Hierzu haben – nur auf diese Autorin sei statt eines breiteren und ausgewogeneren, hier aber nicht möglichen Forschungsberichts namentlich verwiesen – in jüngerer Zeit vor allem die Arbeiten der in Potsdam lehrenden Historikerin Miriam Rürup beigetragen. Rürup konnte die Forschung 16 Die korporationsgeschichtliche Forschung hat auf die weitreichende Wirkung dieser Romanfigur Manns auch auf die sozial- und kulturgeschichtliche Forschung immer wieder verwiesen – eine umfassende rezeptions- und historiographiegeschichtliche Studie zu dieser Wirkung wäre aufschlussreich. Martin Biastoch – um nur zwei Beispiele anzuführen – konstatierte in seiner sozialgeschichtlichen Untersuchung zu Tübinger Studenten im Kaiserreich, die Romanfigur Heßling scheine in der Breitenwahrnehmung des Korporationswesens im Kaiserreich „stärker gewirkt zu haben als Ergebnisse historischer Forschung“. Sven Waskönig stellte 2005 fest, kaum ein Forschungsthema sei „so gespickt mit Vorurteilen und geprägt von Schwarz-Weiß-Zeichnungen, wie das deutsche Verbindungsstudententum. Die Allgemeinplätze gleichen der launigen Federzeichnung des Simplicissimus und so spukt seit Jahr und Tag ein Couleur tragender, schmissverzierter Spießbürger schweinsäugig durch das öffentliche Bewußtsein. Sein Name: Diederich Heßling, Neuteutone aus Berlin“. – Martin Biastoch, Tübinger Studenten im Kaiserreich. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung, Tübingen 1996, S. 15; Sven Waskönig, Der Alltag Berliner Verbindungsstudenten im Dritten Reich am Beispiel der Kösener Corps an der Friedrich-Wilhelms-Universität, in: Christoph Jahr (Hg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Bd. 1, Stuttgart 2005, S. 159–178, hier S. 159. 17 Neben der in Anm. 1 genannten Literatur vgl. zu weiterer Literatur und damit auch zum Forschungsgang die umfänglichen bibliographischen Angaben in: Lönnecker, „Demut und Stolz“ (wie Anm. 4), besonders Anm. 105 und 106, S. 510 f.; Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), besonders Anm. 2, S. 45 f.

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zu jüdischen Studentenverbindungen in ihrer bei Wolfgang Benz und Dan Diner entstandenen Dissertation18 und vielen Einzelbeiträgen im Umfeld dieser Studie über die noch immer wichtigen Fundamente hinausführen, die Historiker wie Thomas Schindler19 und Studentengeschichtsforscher wie Harald Sewann 20 in ihren Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre gelegt haben. Rürup verortete die historische Analyse des jüdischen Korporationswesens mit ihrer Frage nach der Rhetorik und sozialen Praxis der „Ehre“ als einer zentralen verbindungsstudentischen Kategorie auch in den jüdischen und paritätischen Korporationen stärker als zuvor im Kontext neuerer kulturgeschichtlicher Problemstellungen und Untersuchungsrichtungen.21 Trotz dieser Forschungen gehört das jüdische Korporationswesen sowohl in der Studenten- als auch in der Universitäts- und Hochschulgeschichte noch immer in die Reihe der „zu wenig beachteten Themen“ – wie es Matthias Stickler, auch er ein namhafter Forscher zum jüdischen Korporationswesen, 2016 programmatisch formuliert hat.22 Dieses Themenfeld soll im Folgenden für Jena knapp in zwei Schritten vermessen werden: Zum einen sind für die Einordnung der Jenaer Verhältnisse und Vorgänge zunächst – ohne einen Gesamtüberblick über das jüdische Verbindungswesen geben zu können, „das es in seiner Vielfalt mit dem nicht-jüdischen durchaus aufnehmen konnte“23 – kursorische Verweise darauf unerlässlich, was jüdisches Korporationswesen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik organisatorisch bedeutete. Hier kommt es diesem Beitrag nicht auf Vollständigkeit, sondern auf das Benennen der Verbände und Strukturen an, die für das Verständnis der Jenaer Beispiele von Bedeutung sind. Zum Zweiten ist dann im Hauptteil dieses Textes darzustellen, was beim aktuellen Recherchestand zum jüdischen Verbindungswesen an der Universität Jena gesagt werden kann. Dabei wird auch die nicht-korporative, teilweise mit dem jüdischen Verbindungswesen aber eng verzahnte jüdische Studentenorganisation in Jena, der ebenfalls völlig unerforschte „Jüdische Studentenverein“ in den Blick kommen. Die Grundlage dafür ist die im Universitätsarchiv Jena verwahrte 18 Vgl. Rürup, Ehrensache (wie Anm. 1). 19 Vgl. Schindler, Studentischer Antisemitismus (wie Anm. 1). 20 Vgl. Harald Sewann, Zirkel und Zionsstern. Bilder aus der versunkenen Welt des jüdisch-nationalen Korporationsstudententums. Ein Beitrag zur Geschichte des Zionismus auf akademischem Boden, 5 Bde., Graz 1990–1996. 21 Zum Überblick über das historische und ethnologische Forschungsfeld vgl. u. a. Dagmar Burkhart, Eine Geschichte der Ehre, Darmstadt 2006; Winfried Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre, Stuttgart 2010; einen knappen Überblick und Literatur besonders zu Ehre und Ehrkonzepten in der Frühen Neuzeit bietet Wolfgang J. Weber, Art. „Ehre“, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 77–83. 22 Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), (Titel). 23 Ebd., S. 12.

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Überlieferung des Rektors und des Universitätsamtes. Hinzu kommen, soweit überliefert, Studentenunterlagen, die zumindest einige Aufschlüsse über Herkunft und Lebenswege der Akteure geben können. Auch die jüdische Publizistik der Weimarer Republik, insbesondere „Der jüdische Student“, die Zeitschrift des nationaljüdisch-zionistischen „Kartells jüdischer Verbindungen“ (KJV) bildet eine wichtige Quelle – für die zionistische Studentenverbindung in Jena hat sie die einzigen bislang greifbaren Spuren ihres Wirkens überliefert.24 Mit alldem, das sei noch einmal betont, wird lediglich ein erster Pfad durch bislang unerforschtes Gelände gelegt.

2. Jüdische Korporationen und Korporationsverbände in Deutschland Das jüdische Verbindungswesen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik war beides: Zeugnis von wachsender Integration besonders der jüdischen bürgerlichen Mittelschicht in die deutsche Gesamtgesellschaft,25 wie auch Zeugnis einer weiterbestehenden, durch Abwehr- und Abgrenzungsverhalten der Mehrheitsgesellschaft perpetuierten, ja sich teilweise verfestigenden oder ausweitenden Sonderstellung. Für die Eliten des jüdischen Bürgertums – ganz gleich, ob sie sich im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik liberal-national und assimiliatorisch oder nationaljüdisch und zionistisch positionierten – stellten die verschiedenen Zweige des facettenreichen jüdischen Verbindungswesens einen zentralen Sozialisations- und Vernetzungsraum dar; die jüdischen Korporationen, so Matthias Stickler pointiert, hatten „für das deutsche Judentum tatsächlich eine ähnliche Avantgarde-Funktion wie etwa das Corpsstudententum für das kulturprotestantische Bildungs- und Besitzbürgertum“.26 Insofern lassen sich auch zwischen den jüdischen Korporationen und dem sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts entfaltenden katholischen Verbindungswesen viele Parallelen auffinden. Zwar gab es durchaus auch im katholischen Korporationswesen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik Erscheinungen der akademischen 24 „Der jüdische Student“ erschien ab 1902; in den Jahrgängen 1918–1920 unter dem Titel „Der jüdische Wille“. Danach wieder unter dem alten Namen „Der jüdische Student“ publiziert, nahm das Organ ab dem Jahrgang 1933 erneut den Titel „Der jüdische Wille“ an, ehe es 1937 sein Erscheinen einstellte. Vgl. dazu die Online-Ressourcen der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/3537599 und https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/ titleinfo/2827066 (letzter Abruf: 24.02.2022). 25 Zu „Verbürgerlichung und Konfessionalisierung des Judentums“ im Deutschland des 19. Jahrhunderts vgl. umfassend: Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004. 26 Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), S. 12.

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Judenfeindschaft, doch waren diese deutlich weniger stark ausgeprägt und beträchtlich weniger virulent als in anderen Teilen des deutschen Verbindungswesens.27 Die Kulturkampf- und Zurücksetzungserfahrungen der deutschen Katholiken, die bei ihnen dadurch entstehende milieu- und subgesellschaftsbasierte Sammlung, ja „Wagenburgmentalität“ und nicht zuletzt die heftige Abwehr, die den katholischen Verbindungen an den reichsdeutschen und deutsch­ österreichischen Hochschulen entgegenschlug, erzeugte bei katholischen und jüdischen Korporationen komplementäre Sozialisationen, Haltungen und Handlungsweisen. Die Universität Jena gehörte mit der starken, teilweise gewaltsamen Abwehr besonders von Corps und Burschenschaften gegen die 1902 begründete Katholische Studentenverbindung Sugambria, die schließlich in ein bis 1919 bestehendes universitäres Farbenverbot für diese Verbindung und einen noch in der Weimarer Republik fortdauernden korporativen Kleinkrieg mündete, zu den reichsweit wahrgenommenen Hochburgen des sogenannten „akademischen Kulturkampfes“.28 Ähnlich wie christlich-konfessionelle Verbindungen, z. B. der Wingolf, aber auch die Vielzahl der wissenschaftlichen Vereine oder die Sängerschaften durchliefen viele jüdische Verbindungen im 19. Jahrhundert den Prozess eines zunehmenden „Korporativwerdens“: Das Annehmen von Farben, Zirkel und Wappen, die Gewährung von Satisfaktion (also die Bereitschaft auf eine Infragestellung oder Verletzung der studentischen Ehre mit der Forderung der Wiedergutmachung, wenn nötig, durch ein Duell zu reagieren) sowie die Annahme der Bestimmungsmensur. Das jüdische Verbindungswesen entfaltete sich seit den 1880er Jahren; die 1886 in Breslau gegründete Viadrina gilt als die erste jüdische Studentenverbindung.29 Der Entstehungsprozess jüdischer Korporationen im Kaiserreich war von dem Streben nach gesellschaftlicher Integration geprägt: Indem man sich in die korporative Kultur einfügte, die ein prominent prägendes Element des akademi27 Vgl. dazu Christopher Dowe/Stephan Fuchs, Katholische Studenten und Antisemitismus im Wilhelminischen Deutschland, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 571– 593. Vgl. auch die Ausführungen in den Studien der beiden Autoren: Christopher Dowe, Auch Bildungsbürger. Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich, Göttingen 2006, S. 194–230; Stephan Fuchs, „Vom Segen des Krieges“. Katholische Gebildete im Ersten Weltkrieg. Eine Studie zur Kriegsdeutung im akademischen Katholizismus, Stuttgart 2004, S. 189–194. 28 Vgl. dazu Peter Stitz, Geschichte der K.D.St.V. Sugambria zu Jena und Göttingen, Ober­ ursel 21960; Ders., Der akademische Kulturkampf um die Daseinsberechtigung der katholischen Studentenkorporationen in Deutschland und in Österreich von 1903 bis 1908. Ein Beitrag zur Geschichte des CV, München 1960. 29 Vgl. Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), S. 11 f.; Lisa Swartout, Mut, Mensur und Männlichkeit. Die „Viadrina“, eine jüdische schlagende Verbindung, in: Manfred Hettling/Andreas Reinke/Norbert Conrads (Hg.), In Breslau zuhause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit, Hamburg 2003, S. 149–166.

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schen Lebens und der Sozialisation der jugendlichen Bildungsschicht war, indem man den tradierten Ehrbegriff und die hergebrachten Organisationsformen des deutschen Verbindungswesens übernahm, signalisierte man, dass man sich als zugehörig betrachtete und dazugehören wollte. Deshalb waren gerade die unbedingte oder bedingte Satisfaktion mit der Waffe und teilweise auch die Mensur für viele der jüdischen Verbindungen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zentral: Man wollte damit nicht nur die volle Annahme des waffenstudentischen Ehrbegriffs demonstrieren, sondern auch dem antijüdischen Vorurteil der Feigheit, der Weichlichkeit, des Strebens nach ehrlosem Kompromiss, Verrat und Korrumpierung des Gegenübers entgegentreten, wie sie sich nach dem Ersten Weltkrieg in der antisemitischen Grundierung der „Dolchstoßlegende“ manifestierte30 und schon während des Krieges in den Vorwürfen zu Tage getreten war, die 1916 zur „Judenzählung“ im deutschen Heer geführt hatten.31 Schematisch und unter Vernachlässigung kleiner Verbindungstypen und -verbände können drei Verbindungsgruppen unterschieden werden, denen man auch die in Jena entstandenen jüdischen Verbindungen zuordnen kann: Die paritätischen Verbindungen wollten sich nicht als explizit jüdische Korporationen verstehen, sondern Juden und Nichtjuden zusammenführen. In der Praxis stellten sie sich aber zumeist als jüdische Verbindungen dar, weil nur wenige Nichtjuden die Mitgliedschaft anstrebten. Der Anspruch der Parität war Stolz und Achillesferse dieser Verbindungen zugleich: Er signalisierte das Selbstbewusstsein, jüdische und nichtjüdische Deutsche unter der verbindungsstudentischen Idee zusammenzuführen, machte die paritätischen Verbindungen aber sowohl im deutschnationalen, später antisemitischen, konservativen und nationalliberalen Lager als auch bei nationaljüdisch-zionistischen und orthodoxen jüdischen Organisationen und Verbindungen zur Angriffsfläche: Behaupteten die einen, dass der Anspruch der Parität in anmaßender Weise Nichtjuden für das „jüdische“ Korporationswesen vereinnahme, spotteten die anderen, die Vertreter der Parität hätten offenbar ein Problem mit ihrem Judentum: Vielfach wiedergegeben wird in der Literatur der zeitgenössische innerjüdische Witz, paritätische Verbindungen zwängen mangels nichtjüdischer oder zumindest getaufter Mitglieder immer wieder Aktive, sich taufen zu lassen, um als „Renom30 Vgl. zum Überblick: Gerd Krumeich, Die Dolchstoß-Legende, in: Etienne Francois/ Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2003, S. 585–599; Gerhard P. Gross, Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Dolchstoßlegende, Ditzingen 2018. 31 Vgl. dazu Michael Grünwald, Antisemitismus im deutschen Heer und Judenzählung, in: Michael Berger/Gideon Römer-Hillebrecht (Hg.), Jüdische Soldaten – jüdischer Widerstand in Deutschland und Frankreich, Paderborn u. a. 2012, S. 129–144; Judith Ciminski, Die Gewalt der Zahlen. Preußische „Judenzählung“ und jüdische Kriegsstatistik, in: Arndt Engelhardt u. a. (Hg.), Ein Paradigma der Moderne. Jüdische Geschichte in Schlüsselbegriffen. Festschrift für Dan Diner zum 70. Geburtstag, Göttingen 2016, S. 309–329.

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miergoj“ zu fungieren.32 Es war bezeichnend für die sich entwickelnde Judenfeindschaft im Korporationswesen, dass viele Verbindungen gerade diese paritätischen, Juden und Nichtjuden aufnehmenden Verbindungen als besondere Provokation empfanden – auch in Jena sollte sich das zeigen. Die seit den 1880er Jahren gegründeten und Schritt für Schritt zu Korporationen ausgeformten paritätischen Verbindungen, bzw. ihre schon bestehenden Kartelle und Convente schlossen sich 1919 zum „Burschenbunds-Convent“ als Dachverband zusammen.33 Die BC-Verbindungen betonten das burschenschaftliche Erbe und positionierten sich national; sie waren farbentragend und pflichtschlagend. Die unbedingte Satisfaktion mit der Waffe und die Bestimmungsmensur gehörten, wie schon angedeutet, zum Kern des Integrationsbemühens, das man als Verpflichtung gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft verstand, das sich aber auch aus der eigenen Identität speiste: Die Mehrzahl der Mitglieder der paritätischen Verbindungen waren durch ein nicht-religiöses oder zumindest nicht streng religiöses Verständnis des Judentums geprägt – der bürgerliche Kulturprotestantismus des Kaiserreichs bietet sich, wie Matthias Stickler schon für die bereits erwähnte frühe Breslauer Verbindung Viadrina konstatiert hat, als Vergleichsebene für diese Haltung an.34 Den paritätischen Verbindungen traten die exklusiv jüdischen Verbindungen gegenüber, die damit auch am stärksten den konfessionell-katholischen Verbindungen ähnlich waren, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in den katholischen Korporationsverbänden, wie dem „Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen“ (CV), dem „Kartellverband der katholischen deutschen Studentenvereine“ (KV) oder dem „Verband der Wissenschaftlichen Katholischen Studentenvereine Unitas“ zusammengeschlossen hatten.35 32 Vgl. Schindler, „Was Schandfleck war“ (wie Anm. 1), S. 340; Lönnecker, „Demut und Stolz“ (wie Anm. 4). 33 Zum BC mit weiterführender Literatur vgl. Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), S. 16 f.; Lönnecker, „Demut und Stolz“ (wie Anm. 4), S. 517. 34 Vgl. Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), S. 12. 35 Auf diese strukturelle Ähnlichkeit verweist ebd., S. 21. Allerdings lehnte der KC selbst diese Parallelisierung ab, weil er erklärtermaßen keine konfessionellen Ziele und keine konfessionelle „Absonderung“ verfolgte. Außerdem seien aus dem Lager der christlichen konfessionellen Verbindungen bisweilen antisemitische Töne zu vernehmen. Vgl. Schindler, Studentischer Antisemitismus (wie Anm. 1), S. 120. – Dennoch gab es solche Tendenzen im KC, gerade als Reaktion auf die gesellschaftlich virulente Judenfeindschaft und den studentischen Antisemitismus. Als Reaktion auf die Beschlüsse des Eisenacher Burschentages von 1920, die eine Aufnahme von Juden und die Heirat jüdischer (und nicht-weißer) Frauen verboten, fasste der KC den Beschluss, dass Mitglieder, die mit einer nicht-jüdischen Frau verheiratet waren, auszutreten hatten. Vgl. Peter Kaupp, Burschenschaft und Antisemitismus, in: Bernhard Schroeter (Hg.), Für Burschenschaft und Vaterland. Festschrift für den Burschenschafter und Studentenhistoriker Prof. (FH) Dr. Peter Kaupp, Jena 2006, S. 245–260, hier S. 246.

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Analog dazu wurde schon 1896 der „Kartell-Convent der Verbindungen deutscher Studenten jüdischen Glaubens“ (KC) gegründet. Obgleich anders als in den BC-Verbindungen die Mensur freigestellt war und nach dem Ersten Weltkrieg in den KC-Verbindungen immer mehr zurücktrat, wurden mit der Gewährung unbedingter Satisfaktion auch hier das Waffenstudententum, vor allem aber eine vaterländisch-deutschnationale Haltung stark herausgestrichen; dezidiert forderten die KC-Bünde von ihren Mitgliedern ein Selbstverständnis als loyale jüdische Deutsche ein, was sowohl die Aufnahme deutschsprechender Juden aus Osteuropa als auch eine nationaljüdische oder zionistische Positionierung ausschloss – ausdrücklich distanzierte sich der KC von der zionistischen Bewegung jeglicher politischer Couleur, ohne den Zionismus aktiv bekämpfen und damit eine innerjüdische Frontstellung aufbauen zu wollen.36 Diese Haltung verband sich mit einem liberalen „Kulturjudentum“, was insgesamt die pointierte Einschätzung Mirjam Rürups plausibel macht, die Verbindungen des KC seien „gleichsam die ideologische Entsprechung des C[entral]V[ereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens] auf studentischem Boden“ gewesen.37 Der 1893 gegründete Centralverein trat als jüdischer Interessenverband dafür ein, jüdische Deutsche auf der Grundlage der seit der Reichsgründung verwirklichten staatsbürgerlichen Emanzipation und Gleichstellung voll in den deutschen Nationalstaat zu integrieren – aus deutschen Juden Deutsche „mosaischen Glaubens“ zu machen.38 Charakteristisch dafür, wie diese jüdischen Studentenverbindungen selbstbewusst ihre Identität, ihren Anspruch und ihre Bindung als deutsche Juden und jüdische Deutsche verstehen und vertreten wollten, ist diese Selbstdefinition aus der KC-Satzung: „Die Verbindungen des K.C. stehen auf dem Boden deutsch-vaterländischer Gesinnung. Sie haben zum Zweck den Kampf gegen den Antisemitismus in der Studentenschaft und die Erziehung ihrer Mitglieder zu selbstbewussten Juden, die im Bewusstsein, dass die deutschen Juden einen durch Geschichte, Kultur- und Rechtsgemeinschaft mit dem deutschen Vaterlande unauflöslich verbundenen Volksteil bilden, jederzeit bereit und im Stande sind, für die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden einzutreten.“39

36 Zum KC vgl. zum Überblick mit weiterführender Literatur: Schindler, Studentischer Antisemitismus (wie Anm. 1), S. 117–125; Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), S. 21 f. 37 Rürup, Eine Frage der Ehre (wie Anm. 1), S. 138. 38 Zum Centralverein vgl. u. a. Avraham Barkai, „Wehr dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1893–1938, München 2002. 39 So zit. in: Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), S. 21; Lönnecker, „Demut und Stolz“ (wie Anm. 4), S. 516 f. Vgl. auch Schindler, Studentischer Antisemitismus (wie Anm. 1), S. 120 f.

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Sowohl der BC als auch der KC – und das stellte in dieser Eindeutigkeit durchaus eine Besonderheit auf dem korporativen Feld dar – legten nach 1918 eine dezidierte Loyalität gegenüber der Republik an den Tag.40 Aus der Habsburgermonarchie wanderte seit den 1890er Jahren ein dritter Typus jüdischer Korporationen auch nach Deutschland ein: Die nationaljüdischen bzw. zionistischen Studentenverbindungen. Diese, oft nicht farbentragend, aber ebenfalls unbedingte Satisfaktion gebend, bekannten zwar ihre Treue zu den konkreten staatlichen Ordnungen, in denen sie lebten, sahen aber die Zukunft der Juden als Teil der zionistischen Bewegung außerhalb Europas. Charakteristisch trugen diese Verbindungen, anders als die KC- und BC-Verbindungen, die zumeist Verbindungsnahmen in der deutschen Tradition wählten, biblische oder auf die antike jüdische Geschichte und ein kämpferisches Judentum bzw. auf das Heilige Land bezogene Namen, wie „Hasmonaea“, „Maccabaea“, „Jordania“ oder mit explizit zionistischem Anklang wie „Hatikwa(h)“. Dieser Haltung entsprechend bedienten sich die zionistischen Verbindungen auch offensiv jüdischer Symbolik; so erschien nicht selten der Davidsstern in den Wappen, auf Fahnen oder auf den Schärpen zum Vollwichs zionistischer Verbindungen. Der bedeutendste Dachverband der zionistischen Verbindungen, die – wie auch das noch vorzustellende Jenaer Beispiel zeigt, auf das Engste mit den zionistischen Organisationen verzahnt waren – war das im Sommer 1914 gegründete „Kartell Jüdischer Verbindungen“ (KJV) als Zusammenschluss bereits länger bestehender nationaljüdischer bzw. zionistischer Korporationsverbände.41 Der Blick auf die jüdischen Korporationen darf – diese Bemerkung soll den ganz kursorischen Überblick über das Feld des jüdischen Verbindungswesens beschließen – nicht den Blick dafür verstellen, dass die Gesamtgruppe der jüdischen Verbindungsstudenten wahrnehmbar, aber, wie auch der jüdische Bevölkerungsanteil im Kaiserreich und in der Weimarer Republik insgesamt, dennoch eine kleine Minderheit war: 1929 machten sie ungefähr 2 Prozent der korporierten Studenten in Deutschland und ca. 2,7 Prozent an der Gesamtzahl der Korporierten aus.42 Seine gesellschaftliche, politische und historische Relevanz gewinnt das jüdische Korporationswesen nicht aus seiner Verbreitung innerhalb des deutschen Judentums oder innerhalb der Studentenschaft, sondern durch seine erwähnte Sozialisations- und Netzwerkbildungsfunktion für deutsch-jüdische (und damit nach 1948 oft auch frühe israelische) Eliten und durch seine Symbiose mit den übrigen jüdischen Organisationen und Interessenverbänden des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. 40 Vgl. Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), S. 13, 21. 41 Zum KJV vgl. überblicksartig mit weiterführender Literatur: Schindler, Studentischer Antisemitismus (wie Anm. 1), S. 126–132; Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), S. 23–27; Lönnecker, „Demut und Stolz“ (wie Anm. 4), S. 515 f. 42 Diese Zahlen gibt an Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), S. 47 (Anm. 12). Vgl. auch Rürup, Eine Frage der Ehre (wie Anm. 1), S. 139.

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3. Jüdische Verbindungen und Jüdischer Studentenverein in Jena Die thüringische Universität Jena war lange, anders als z. B. die sächsische Nachbaruniversität Leipzig,43 ohne jüdische verbindungsstudentische Aktivitäten. Das hing wohl mit demselben Lokalklima zusammen, das Jena auch zu einem Brennpunkt des bereits erwähnten „akademischen Kulturkampfes“ um die katholischen Studentenverbindungen machte: Die Rolle der Stadt als zentraler, insbesondere burschenschaftlicher, aber auch insgesamt korporativer Traditionsort im protestantischen Deutschland erzeugte ein strukturkonservatives Selbstbewusstsein, das – bei allen sonstigen, teilweise ausgeprägten Divergenzen – die ortsansässigen Burschenschaften und Corps zusammenführte, und das im Kaiserreich und in der Weimarer Republik auch die zahlreichen weiteren Ortskorporationen sowie die Vielzahl halbkorporativer wissenschaftlicher Vereine beeinflusste.44 Wenn schon ein katholischer Eindringling in dieses festgefügte korporative Traditionsfeld dort auf massive Ablehnung stieß und seine Existenz kaum behaupten konnte, schien dieses Bestreben für eine explizit jüdische Verbindung nahezu aussichtslos. Eine jüdische „Infrastruktur“ war in der Universitätsstadt, deren jüdischer Bevölkerungsanteil auch in der Industrialisierungsphase, im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 0,5 Prozent nie überstieg, schwach ausgeprägt; trotz der Existenz einer 1896 gegründeten und 1919 erneuerten „Israelitischen Religionsgemeinschaft“ gab es in der Neuzeit nie eine Synagoge.45 Die Frequenz jüdischer Studenten, insbesondere aus dem Russischen Reich, bzw. nach dem Ersten Weltkrieg aus Polen und den baltischen Staaten war beträchtlich: Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gehörte die Salana bei den russländischen Juden, nach den größten deutschen Universitäten in Berlin, Leipzig und München ähnlich wie die benachbarte Universität Halle zur Spitzengruppe.46 Vor dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik fiel Jena etwas zurück – die Attraktivität besonders Berlins war besonders für jüdische Studierende aus Ostmittel- und Osteuropa weiter gewachsen. 43 Vgl. dazu Mirjam Rürup, Mit Burschenband und Mütze – der Verein Jüdischer Studenten (VJSt) Hatikwah und die Verbindung Saxo-Bavaria an der Universität Leipzig, in: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, S. 99–129. Auch: Siegfried Hoyer, Die Verbindungen jüdischer Studenten an der Universität Leipzig vor dem Ersten Weltkrieg, in: GDS-Archiv 5 (2000), S. 52–64. 44 Vgl. dazu die Beiträge in Jürgen John/Justus H. Ulbricht (Hg.), Jena. Ein nationaler Erinnerungsort?, Köln/Weimar/Wien 2007, besonders den Beitrag: Joachim Bauer/ Holger Nowak/Thomas Pester, Das burschenschaftliche Jena. Urburschenschaft und Wartburgfest in der nationalen Erinnerung der Deutschen, S. 163–182. 45 Vgl. Grundinformationen und weiterführende Literatur in Reinhard Jonscher, Art. Juden 1890–1938, in: Rüdiger Stutz/Matias Mieth (Hg.), Jena. Lexikon zur Stadtgeschichte, Berching 2018, S. 337 f. 46 Vgl. Peter, Rußländische Studenten (wie Anm. 8), S. 476.

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Anders als in Leipzig und ähnlich wie in Halle, wo 1918 zunächst als Stammtisch, ab 1919 als Vollkorporation die KC-Verbindung „Albingia“ gegründet wurde,47 schuf in Jena erst das Ende des Kaiserreichs den Nährboden, auf dem Gründungsversuche jüdischer Verbindungen spärlich, aber doch wahrnehmbar gedeihen konnten. Die Republik bot jüdischen Deutschen – trotz des gesellschaftlich wie überall in Europa und den USA weiterhin virulenten Antisemitismus – neue Aufstiegs- und Integrationsmöglichkeiten. Die erste Spur einer jüdischen Verbindung in Jena ist eine Aktennotiz des amtierenden Rektors, des Juristen Justus Wilhelm Hedemann vom 8. Dezember 1919. Hedemann hielt fest, es seien zwei Studenten bei ihm erschienen, um ihm die Gründung einer paritätischen Verbindung anzuzeigen. „Auf Befragen“, so notierte Hedemann, „gaben sie an, daß die Parität vor allem auf religiösem Gebiet liegen solle, daß sie also eine grundsätzliche Gleichbehandlung aller Religionen erstrebten. Ich hatte den Eindruck, daß es sich im wesentlichen um eine jüdische Organisation handeln wird.“48 Rektor Hedemann machte sich so schon bei der ersten Begegnung mit dem Gründungsversuch die Sichtweise zu eigen, die oben bereits als grundsätzliches Akzeptanzproblem der paritätischen Verbindungen im akademischen Feld des Kaiserreichs und der Weimarer Republik benannt wurde: Er erkannte den Paritätsanspruch der Gründer nicht an und legte die im Entstehen begriffene Verbindung damit auf einen eingegrenzten Wirkungsbereich als jüdische Sonderorganisation fest. Diese Skepsis brachte Hedemann auch deutlich in dem Hinweis zum Ausdruck, dass auf die Jenaer „Studentische Vertreterschaft von 1911“, das von den Ortsverbindungen beherrschte studentische Gremium bei der Universität, keinerlei Druck ausgeübt werden könne, eine neue Verbindung anzuerkennen49 – die wenig verklausulierte Ankündigung, dass diese Anerkennung ausbleiben werde. Dessen ungeachtet ersuchten der Medizinstudent Wolf Zilz und der Jurastudent Fritz Rothenburg unter dem Datum desselben Tages offiziell um die Genehmigung zur Gründung der Verbindung, die Saxo-Thuringia im BC heißen sollte, und legten die Skizze eines Verbindungszirkels sowie die Liste der ersten fünf zur Mitgliedschaft bereiten Studenten bei. Zilz, der Spiritus rector dieses Versuchs, war 1897 im galizischen Tarnopol geboren worden, aber in Dresden, wohin die Familie mit dem Vater, dem Kaufmann Jakob Zilz, umgesiedelt war, aufgewachsen. Nach seinem Medizinstudium in Leipzig und Jena sollte Zilz bis zum Sommer 1933 in verschiedenen Dresdner Krankenhäusern als Arzt tätig sein.50 Er scheint die Illusionen, die es unter deutschen Juden nach 1933 über die Möglichkeit eines, wenn auch eingeschränkten, jüdischen Lebens in Deutschland gab, nicht geteilt zu haben: Schon 47 Vgl. Schindler, Studentischer Antisemitismus (wie Anm. 1), S. 215. 48 UAJ, Bestand E, Abt. II, Nr. 2175, Bl. 156r. 49 Ebd. 50 Vgl. UAJ, Bestand L, Nr. 315, Bl. 59r.

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im Juli 1933 schloss Zilz einen Arbeitsvertrag mit dem Israelitischen Krankenhaus in Kairo und versuchte, nach Ägypten auszuwandern. Das gelang jedoch wegen einer letztlich verweigerten Niederlassungserlaubnis nicht: Die ägyptische Regierung vermutete, dass die deutsche Seite Bedenken gegen die Niederlassung eines Juden in Ägypten geltend machen könnte.51 In den späteren 1930er Jahren war Zilz Arzt in China.52 Wolf Zilz war in Leipzig, wo er im Wintersemester 1918/19 das Medizinstudium aufgenommen hatte, Mitglied der dort bereits seit 1894 bestehenden BC-Verbindung Alsatia Leipzig geworden.53 Er verband mit dem Wechsel nach Jena sicherlich das Bestreben und womöglich sogar den offiziellen Auftrag des BC, eine paritätische Verbindung im Sinne des Burschen-Convents-Verbandes an der Salana zu etablieren. Das liegt auch deshalb nahe, weil Jena für das jüdische Korporationswesen noch ein unbestelltes Feld war und das Konkurrenzverhältnis zwischen BC und KC es angeraten erscheinen lassen musste, als Erster vor Ort zu sein. Die Satzung, die Zilz dem Universitätsamt vorlegte, war denn auch die Satzung der bereits bestehenden BC-Verbindungen,54 die sich auf „Ausbau des studentischen Lebens in vaterländischem und freiheitlichem Geiste“, „Erziehung zu staatsbürgerlicher Betätigung“ und „Gleichberechtigung aller deutschen Studenten ohne Rücksicht auf Geburt, Glauben und Parteizugehörigkeit“ – der Kern des Paritätsanspruches – verpflichtete und von den Mitgliedern die Gewährung unbedingter Satisfaktion sowie mindestens zwei als genügend befundene Mensuren forderte.55 Aufgenommen werden sollten nur Studenten deutscher Muttersprache, egal ob sie Reichsangehörige oder Ausländer waren.56 So wie Wolf Zilz entstammten auch die anderen Mitglieder der geplanten neuen Verbindung dem jüdischen Klein- und Mittelbürgertum: Fritz Rothenberg kam aus Danzig, wo sein Vater Louis Rothenberg Justizrat war; der 19-jährige Kurt Richter, der Medizin und Zahnmedizin studierte, war ein Sohn des Lehrers Ernst Richter aus Fürstenwalde.57 Max Nadelmann, der bereits 1896 als Sohn des Kaufmanns Carl Nadelmann in Erfurt geboren worden war, hatte sich im Sommer 1914 freiwillig zum Heer gemeldet und erst 1919 über einen Sonderlehrgang für Kriegsteilnehmer die Hochschulreife erworben. Nadelmanns 51 Vgl. Cilli Kasper-Holtkotte, Deutschland in Ägypten. Orientalistische Netzwerke, Judenverfolgung und das Leben der Frankfurter Jüdin Mimi Borchardt, Berlin/Boston 2017, S. 287. 52 Vgl. Jonathan Goldstein, The Jews of China. A Sourcebook and Research Guide, Vol. 2, Armonk/London 2000, S. 94. 53 Zu Alsatia und ihrer Rivalität mit der Leipziger KC-Verbindung Saxo-Bavaria vgl. Rürup, Mit Burschenband und Mütze (wie Anm. 43), S. 105 f. 54 Vgl. UAJ, Bestand E, Abt. II, Nr. 2175, Bl. 158r–166r; UAJ, Studentenkartei. 55 Ebd., Bl. 164v. 56 Ebd. 57 Vgl. UAJ, Studentenkartei.

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familiäre Sozialisation innerhalb des Judentums war anschlussfähig zur paritätischen und assimilatorischen Tendenz des BC: Sein Vater Carl Nadelmann hatte dem 1912/1913 gegründeten „Antizionistischen Komitee“, einer jüdisch-antizionistischen Interessenorganisation des Kaiserreichs angehört, die sich die antizionistische Schulung von Lehrern und anderen Multiplikatoren sowie die „Herausgabe von Broschüren zur Aufklärung der deutschen Juden über den Zionismus und Bekämpfung des letzteren“ zur Aufgabe machte.58 Nadelmann hatte sich nach dem Studium als Zahnarzt in Erfurt niedergelassen und war nach Beginn der NS-Zeit nach Palästina emigriert; er starb schon im Februar 1939 in Haifa. Seine getrennt lebende Ehefrau und die 1927 geborene gemeinsame Tochter Eva-Marie Nadelmann waren bereits 1938 nach Palästina emigriert. Eva-Marie Nadelmann ist im Februar 2017 in Israel gestorben.59 Über diese Informationen hinaus hat sich von den Lebenswegen dieser Männer bislang wenig rekonstruieren lassen. Die Gründung bzw. Gründungsabsicht der BC-Verbindung blieb den Jenaer Ortsverbindungen nicht lange verborgen; schnell und harsch setzten die Abwehrreflexe ein. Die Corps Saxonia und Thuringia beschwerten sich über die Verwendung des Namens Saxo-Thuringia und ließen dabei keinen Zweifel daran, wie sie die „Parität“ der geplanten Verbindung auffassten: Man erhebe, so Corps Saxonia „gegen die mißbräuchliche Entlehnung schärfsten Einspruch“ und bitte den Rektor „eine Änderung dieses Namens der jüdischen Verbindung dringendst nahezulegen und bei Verweigerung einschreiten zu wollen“.60 Die Landsmannschaft Rhenania, die die Farben blau-weiß-rot führt, protestierte „wegen der überaus großen Ähnlichkeit“ gegen die Farben „der sich demnächst auftuenden jüdischen Verbindung“, die sich die Farben hellblau-silber-rot geben wollte.61 Auch die Landsmannschaft Hercynia beschwerte sich wegen der Farben­ähnlichkeit der noch gar nicht öffentlich aufgetretenen Saxo-Thuringia, da Gäste und Doppelbandträger einer Hallenser Landsmannschaft in Jena die selben Farben trügen und „sie unter keinen Umständen mit der Verbindung ‚Saxo-Thuringia‘ in irgend welche Beziehung gebracht werden möchte“.62 Hinter solchen Einsprüchen, die durchaus den Logiken des Verbindungsstudenten58 Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege (Statistisches Jahrbuch), Berlin 1911, S. XII. Zum „Antizionistischen Komitee“ vgl. Matthias Hambrock, Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921–1935, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 214–222. 59 Zu Nadelmanns Lebenslauf vgl. UAJ, Bestand L, Nr. 361, Bl. 143r; UAJ, Studentenkartei. Vgl. außerdem die Erfassung der Familie Nadelmann in: Sebastian Funk, Genealogy of the Jewish Congregation of Eisleben, http://data.synagoge-eisleben.de/gen/fg01/ fg01_118.html (letzter Abruf: 25.02.2022). 60 UAJ, Bestand E, Abt. II, Nr. 2175, Bl. 169r, 170r. 61 Ebd., Bl. 171r. 62 Ebd., Bl. 174r.

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tums folgten, verbarg sich dennoch mehr. Es war nicht nur ein latent oder, wie in der Beschwerde der Hercynia, recht expliziter antijüdischer Unterton, sondern auch eine Drohung herauszuhören, die sowohl die Universitätsleitung als auch die Gründer der BC-Verbindung sofort verstanden: Beide reagierten permissiv. Rektor Hedemann legte Zilz nahe, eine anderen Namen und andere Farben zu wählen und vor einer Gründung unbedingt die Vertreterschaft zu informieren; Zilz versicherte, das einzusehen, und teilte dem Rektor am 19. Februar 1920 mit: „Wann es zu einer Gründung kommen wird, ist noch unbestimmt“.63 Als das Universitätsamt am 11. Mai 1920 nochmals nachfragte, ob die Gründung erfolgt sei oder bevorstehe, war noch nichts geschehen und auch später scheint es zur Verbindungsgründung nicht mehr gekommen zu sein.64 Zilz bestand im Frühjahr 1920 die ärztliche Vorprüfung und ging zurück nach Leipzig, um erst zum Wintersemester 1920/21 nach Jena zurückzukommen, wo er 1922 das Medizinstudium abschloss.65 Die Etablierung einer paritätischen BC-Verbindung scheint vom verbindungsstudentischen Establishment Jenas, das zur gleichen Zeit die Niederlage der Aufhebung des Farbenverbots für die katholische Verbindung KDStV Sugambria im CV hinnehmen musste, im Zusammenspiel mit dem Unwillen und der Skepsis der Universitätsleitung erfolgreich ausgebremst worden zu sein, denn bis 1933 erfolgte in Jena keine Registrierung einer paritätischen Verbindung mehr, wie sie bei Gründung einer neuen Verbindung zwingend vorgeschrieben war. Erfolgreicher war in Jena offenbar die Gründung einer zionistischen Verbindung des „Kartells jüdischer Verbindungen“ (KJV). Sie trug den kartelltypischen Namen „Verbindung jüdischer Studenten Hasmonäa“, nahm also, wie gleichnamige KJV-Verbindungen in Berlin, Breslau, Frankfurt am Main, Gießen und dem lettischen Riga auf das jüdische Herrschergeschlecht der Hasmonäer Bezug, das nach dem Makkabäeraufstand gegen die Seleukidenherrschaft und die Hellenisierung in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. ein neues jüdisches Königtum in Judäa begründet hatte.66 Die Hasmonäa Jena scheint 1925 gegründet worden zu sein; jedenfalls wurde auf dem 6. Kartelltag des KJV, der im Mai 1925 in Dresden stattfand, die Aufnahme der Jenaer Korporation als hospitierende Verbindung in den KJV beschlossen.67 Auch scheint zunächst eine Konsolidierung der Neugründung möglich gewesen zu sein, denn auf dem 7. KJV-Kartelltag am 27. und 28. Februar 1927 in Berlin wurde die VJSt

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Ebd., Bl. 168r. Ebd., Bl. 168v. Vgl. UAJ, Bestand L, Nr. 315 Bl. 59r. Vgl. dazu u. a. Andreas Hartmann, Könige und Hohepriester. Das Reich der Hasmonäer in Judäa, in: Kay Ehling/Gregor Weber (Hg.), Hellenistische Königreiche, Darmstadt 2014, S. 147–153. 67 Vgl. DJS, 22. Jg., H. 4/5, Juni/Juli 1925, S. 155.

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Hasmonäa Jena endgültig als Vollmitglied in den Dachverband aufgenommen.68 Tatsächlich weist der Semesterbericht der Jenaer Hasmonäa für das Sommersemester 1926 die Neuaufnahme von drei Studenten aus, die sich – wie die KJV-Statistik gesondert ausweist – alle drei zur zionistischen Bewegung bekannten und von denen einer dem jüdischen Wanderbund „Blau-weiß“ angehörte, dem zionistischen Zweig der Jugend- und Wanderbewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik.69 Der einzige überlieferte ausführliche Semesterbericht der Hasmonäa Jena für das Sommersemester 1925 präsentiert ein überaus charakteristisches Bild einer zionistischen Studentenverbindung in der Weimarer Republik: Die Aufgabe des Semesters, so schrieb Senior Hatzkel Srago, auf den gleich noch einmal zurückzukommen sein wird, geradezu missionarisch, sei neben der inneren Festigung der Jenaer Hasmonäa, die „Entfaltung größtmöglicher Energie auf dem Gebiete zionistischer Tätigkeit und Propaganda der zionistischen Idee unter Andersgesinnten“. Dazu seien auch eine straffe Einbindung der Verbindungsmitglieder und wenn nötig Opfer an „persönlicher Freiheit“ notwendig.70 So habe jede Woche ein anderer Bundesbruder eine Presseschau über die Lage von Judentum und Zionismus vorbereitet, die Grundlage für eine aktuelle Diskussion war. Auch war der wöchentliche Besuch der zionistischen Ortsgruppe Jena für alle Verbindungsmitglieder verbindlich – ohnehin, so Srago, leisteten Studenten der Hasmonäa dort „den größten Teil der Arbeit“.71 Diese bestand vor allem in zionistisch-politischer Bildungsarbeit. So sprachen verschiedene Hasmonäer in diesem Rahmen über die „Kwuza(h)“, also die Kibbuz-Idee, über „Assimilation in Deutschland“, „Assimilation im Ostjudentum“ oder die Vorbereitung der Delegiertentage der Zionistischen Bewegung. Im Juli gehörte eine Gedächtnisfeier für Theodor Herzl zum Verbindungsprogramm, die gemeinsam mit der Thüringer zionistischen Gesellschaft und den zionistischen Jugendbünden Thüringens abgehalten wurde. Besonders zu den in Thüringen tätigen Chaluzim, den Mitgliedern der zionistischen Organisation He-Chaluz („Der Pionier“), die jüdische Jugendliche mit landwirtschaftlicher und praktisch-handwerklicher Schulung auf das Leben in Palästina vorbereiten wollte, hielt die Hasmonäa Jena engen Kontakt. Dazu gehörten auch – hier mischten sich Verbindungsstudententum, Jugendund Wanderbewegung – gemeinsame Ausflüge, bei denen, so Srago, „das größte

68 Vgl. DJS, 24. Jg., Februar 1927, H. 1, S. 8 (Antrag); DJS, 24. Jg., H. 2, Juni 1927, S. 29 (Aufnahme). 69 Vgl. DJS, 24. Jg., Februar 1927, H. 1, S. 17. Zu Blau-Weiß vgl. Ivonne Meybohm, Erziehung zum Zionismus. Der Jüdische Wanderbund Blau-Weiß als Versuch einer praktischen Umsetzung des Programms der Jüdischen Renaissance, Frankfurt am Main u. a. 2009. 70 DJS, Jg. 22, H. 7, Oktober 1925, S. 226. 71 Ebd., S. 227.

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Gewicht auf die Pflege des hebräischen Liedes gelegt wurde“.72 „Hebraisierung“, die Aneignung einer hebräisch-jüdischen Kultur und auch der im Ausbau befindlichen neuhebräischen Sprache, die 1921 zu einer der Landessprachen im britischen Mandatsgebiet Palästina erklärt worden war, gehörte als „Hachschara“, als Vorbereitung auf die „Alija“ zum Kern zionistischer Bildungsarbeit auch in Deutschland.73 Auch die Mitglieder der Hasmonäa zeigten sich mit alldem deutlich als Angehörige einer jüngeren, auf den Weg nach Palästina fixierten Zionistengeneration, für die Deutschland nur noch „Zwischenstation“ war – ein deutlicher Unterschied zu den Verbindungen des KC und BC im Kaiserreich und in der Weimarer Republik.74 Jena war, auch wenn es mit Zentren jüdischen Lebens in Mitteldeutschland wie Leipzig und Erfurt nicht mithalten konnte, kein weißer Fleck auf der jüdischen und besonders der zionistischen Landkarte Deutschlands: Der für die zionistische Bewegung im Reich bedeutsame und aufsehenerregende Delegiertentag der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“, der Ende Dezember 1929 in Jena abgehalten wurde und auf dem es in Gegenwart des Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation und späteren ersten Staatspräsidenten Israels, Chaim Weizmann, zu heftigen Auseinandersetzungen um die Form des künftigen staatlichen Zusammenlebens mit den Arabern in Palästina kam, zeigte es.75 Diese intensive Einbindung der VJSt Hasmonäa Jena in das zionistische Organisationsgeflecht in der Universitätsstadt und in Thüringen, die – abgesehen von dem spezifisch studentischen Brauchtum, das im nicht-farbentragenden KJV aber nicht so intensiv gepflegt wurde wie im KC und teilweise auch im BC – die organisatorischen Grenzen teilweise verschwimmen ließ, war vielleicht auch der Grund dafür, dass die Hasmonäa offenbar nie offiziell bei der Universität regis72 Ebd. Ein anderes Mitglied der Jenaer Hasmonäa, Artur Stern, empfahl auf dem 6. Kartelltag des KJV „auf Grund seiner Jenaer Erfahrungen“ den „engen Zusammenschluß mit Ostjuden“ und an den orthodoxen jüdischen Jugendverband Brith Hanoar. DJS, Jg. 22, H. 4/5, Juni/Juli 1925, S. 136. 73 Vgl. u. a. Knut Bergbauer, „Auf eigener Scholle“. Frühe Hachschara und jüdische Jugendbewegung in Deutschland. in: Ulrike Pilarczyk/Ofer Ashkenazi/Arne Homann (Hg.), Hachschara und Jugend-Alija. Wege jüdischer Jugend nach Palästina 1918–1941, Gifhorn 2020, S. 23–54. 74 Vgl. zum Gesamtzusammenhang u. a. Stefan Vogt, Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890–1933, Göttingen 2016. 75 Vgl. dazu die Berichte in: Jüdische Rundschau, XXXV. Jg., Nr. 1, 3. Januar 1930, S. 1–3; Jüdische Rundschau XXXV. Jg., H. 2, 7. Januar 1930, S. 11–16; auszugsweise abgedruckt in: Jehuda Reinharz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882– 1933, Tübingen 1981, S. 462–470. Zur zentralen Rolle der „Jüdischen Rundschau“ und zur Entwicklung des Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg vgl. auch: Sabrina Schütz, Die Konstruktion einer hybriden „jüdischen Nation“. Deutscher Zionismus im Spiegel der Jüdischen Rundschau 1902–1914, Göttingen 2019.

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triert wurde. Jedenfalls findet sich in den für diesen Zeitraum vollständig überlieferten Akten des Universitätsamtes zu den studentischen Verbindungen nirgendwo ein Hinweis auf die Verbindung. Prägende Gestalt bei der Gründung der Hasmonäa Jena war der Student der Altphilologie Hazkel Srago, der wohl auch als Gründungssenior der Verbindung fungierte. Srago war als Sohn des Kaufmanns Benzel Srago in Riga geboren worden, weiterhin lettischer Staatsbürger und hatte zum Wintersemester 1923/24 sein Studium in Jena aufgenommen. Im Sommer 1927 absolvierte Srago, nachdem er seine lateinische Dissertationsschrift „De L. Coelio Antipatro Livii in L. XXI. Auctore“ eingereicht hatte, bei den Jenaer Professoren Karl Barwick, Friedrich Zucker und Walther Judeich mit ausgezeichneten Noten sein Doktorexamen in Latein, Griechisch und Alter Geschichte.76 Der Zeitpunkt des Abschlusses seiner Promotion und der Vertagung der Hasmonäa fielen wohl nicht zufällig zusammen, denn Srago war, wie unten noch im Blick auf den Jüdischen Studentenverein in Jena deutlich werden wird, eine Art zionistischer Multi-­Studentenfunktionär an der Universität Jena der späten 1920er Jahre. Später scheint Srago wieder in Riga gelebt zu haben,77 doch konnte über seinen weiteren Lebensweg noch nichts in Erfahrung gebracht werden. Auch die beiden anderen Chargierten der Hasmonäa im Gründungsjahr 1925 stammten aus Ostmitteleuropa: David Berkowitz war in Charkow/Charkiw geboren, aber wie Srago in Riga aufgewachsen; Chaim Myschalow war als Sohn des Angestellten Moses Myschalow in Davyd-Haradok zur Welt gekommen, das zum Zeitpunkt seiner Geburt 1903 in Russisch-Polen und ab 1921 im neuen polnischen Staat lag, 1939 von der Sowjetunion annektiert wurde und heute zu Belarus gehört. Auch über die Chargierten hinaus zeigte die Hasmonäa Jena ein ostjüdisches Gesicht. Als weitere Mitglieder lassen sich rekonstruieren: Jakob Ginsburg (geb. 1903 in Gorki); Tuwija Goldmann (geb. 1900 in Dünaburg/Daugavpils in Russisch-Lettland); Gdaly Jossimow (geb. 1900 in Bobruisk/Babrujsk, Russland, heute Belarus); Jakob Moskowsky (geb. 1903 in Riga); Efraim Purvie (geb. 1903 in Libau/ Liepāja in Russisch-Lettland); Hilel Rattner (geb. 1904 Riga); Lazar Remen (geb. 1907 in Bialystok); Selig Remigolsky (geb. 1902 in Riga); Meir Resnikowitsch (geb. 1905 in Riga). Nicht genau ermitteln lässt sich, ob David Alperowitsch (geb. 1905 in Riga) oder sein Bruder Wolf Alperowitsch (geb. 1904 in Riga) Mitglied der Hasmonäa Jena war. Als Beruf des Vaters geben fast alle „Kaufmann“ an, zwei nennen „Fabrikant“, einer „Revisor“, einer „Angestellter“, so dass die Mitglieder der Hasmonäa, ähnlich wie die Protagonisten 76 Vgl. den Promotionsvorgang mit dem in lateinischer Sprache abgefassten Lebenslauf in: UAJ, Bestand M, Nr. 591, Bl. 156r–167r. Vgl. auch: UAJ, Bestand M, Nr. 671; UAJ, Studentenkartei. 77 Vgl. Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XIX. Zionistenkongresses und der vierten Tagung des Council der Jewish Agency für Palästina, Wien 1937, S. 700.

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des Gründungsversuchs der Saxo-Thuringia 1919, dem jüdischen Klein- und Mittelbürgertum zuzuordnen sind.78 Freilich blieb das Rekrutierungsfeld, verbindungsstudentisch gesprochen das „Keilpotenzial“ der Hasmonäa, wie auch anderer zionistischer Organisationen in Jena und Thüringen recht eng begrenzt. Der Eintritt der Gründergeneration der Verbindung ins Berufsleben, der teilweise auch mit einer Rückkehr in die Herkunftsregionen z. B. nach Lettland verbunden war, aber auch gewandelte politische Positionierungen und Lebensumstände führten schnell dazu, dass das Überleben der Verbindung prekär wurde bzw. nicht mehr gewährleistet werden konnte.79 Wohl 1927, spätestens 1928 musste sich die VJSt Hasmonäa Jena vertagen.80 Schon in der Vorbereitung auf den 8. Kartelltag des KJV in Berlin am 29. und 30. April 1928 sprach der zionistische Aktivist und spätere israelische Geheimdienstoffizier Hubert Pollack81 davon, es sei im zurückliegenden Jahr eine „organisatorische Konsolidierung“ des Kartellverbandes „unter Verzicht auf so unhaltbare Positionen wie Jena und Würzburg“ erreicht worden.82 Mit dem Verweis auf Würzburg bezog Pollack sich auf die 1919 gegründete VJSt Hatikwah, die im Sommer 1927 vertagt hatte. Eine andere zionistische Verbindung in Würzburg, die Akademisch-zionistische Verbindung Ivria hatte nur von 1919 bis zum Wintersemester 1922/23 bestanden. Die Vertagung der Hatikwah 1927 bedeutete, wie Matthias Stickler festhält, „das Ende des zionistischen Verbindungswesens an der Universität Würzburg“, wo es die zionistische Bewegung „von Anfang an recht schwer gehabt“ hatte.83 Das galt auch für Jena: Mit dem faktischen Ende der Hasmonäa 1927/28 endete nicht nur das zionistische, sondern das jüdische Verbindungswesen an der Salana überhaupt.

78 Zu allen Angaben vgl. UAJ, Studentenkartei. Zu Berkowitz vgl. außerdem UAJ, Bestand L 326, Bl. 152r; zu Resnikowitsch UAJ, Bestand L, Nr. 326, Bl. 164; zu Jossimow UAJ, Bestand L, Nr. 320, Bl. 102r–103r. 79 Vgl. z. B. die Mitteilungen über das Aktivwerden von Mitgliedern der Jenaer Hasmonäa bei der VJSt Hechawer in Riga bzw. beim KJV-Landesverband Lettland in DJS, Jg. 25, H. 2, Juni 1928, S. 45; DJS, Jg. 26. H. 1/2, Februar 1929, S. 36 und die Versuche der Kontaktaufnahme mit dem Jenaer Hasmonäer Bruno Dickstein in: DJS, Jg. 26. H. 1/2, Februar 1929, S. 44; DJS, Jg. 28, H. 5/6, Mai/Juni 1931, S. 210. 80 So auch Schindler, Studentischer Antisemitismus (wie Anm. 1), S. 223. 81 Zum interessanten Lebensgang Pollacks, der in Berlin zwischen 1933 und 1939 im Zusammenspiel mit dem Jüdischen Hilfsverein und einem britischen Geheimdienstoffizier durch Kontakte zur Gestapo und Bestechung von Gestapo-Beamten vielen bedrohten Berliner Juden die Auswanderung und damit die Rettung ermöglichte und der sich ab 1939 in Palästina der zionistischen Untergrundorganisation Hagana anschloss, vgl. Michael Smith, Foley. The spy who saved 10,000 Jews, London 1999. 82 Hubert Pollack, Unsere nächsten Aufgaben, in: DJS, Jg. 25, H. 1, März 1928, S. 13–21, hier S. 13. 83 Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), S. 34.

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Zugleich – und das führt auf ein weiteres Feld jüdischer studentischer Organisation in Jena während der 1920er Jahre – vermeldete Srago in seinem Semesterbericht auch, dass „innerhalb der jüdischen Studentenschaft Jenas […] der von uns energisch durchgeführte Kampf für die zionistische Sache mit einem großen Erfolge gekrönt“ worden sei.84 Srago bezog sich darauf, dass drei Hasmonäer (er selbst, Selig Remigolsky und Chaim Myschalow) und ein weiterer, nichtkorporierter Zionist in den Vorstand des siebenköpfigen Jüdischen Studentenvereins in Jena gewählt worden waren. Aber mehr noch: Srago war selbst der Gründer und erste Vorsitzende des Vereins. Am 8. Juli 1925 hatte er gemeinsam mit dem Studenten der Wirtschaftswissenschaften Leiser-Hirsch Kalecki, der aus Suwalki, einer polnischen Stadt unweit der Grenze zu Litauen stammte, bei der Universität die Gründung des Vereins angezeigt und eine Satzung eingereicht, die auch dem Amtsgericht Jena vorgelegt wurde.85 Die überlieferten Mitgliederlisten dieser größten jüdischen Studentenorganisation der Weimarer Republik in Jena weisen einen nicht geringen, aber schnell wieder sinkenden Mitgliederstand aus: Waren im Sommersemester 1925 noch 100 Studentinnen und Studenten eingeschrieben, führte sie für das folgende Wintersemester nur noch 78, für das Sommersemester 1926 lediglich 41 Mitglieder auf.86 Auch hier handelte es sich, ungeachtet der statutenmäßigen Möglichkeit des Beitritts für alle jüdischen Studenten, um eine fast ausschließlich ostjüdische Organisation. 1926 stammten nahezu alle Mitglieder aus Polen, Litauen und Lettland, viele aus Wilna, Riga und dem damals polnischen, heute zu Belarus gehörenden Grodno. Der Jenaer Verein unterschied sich mit dieser Zusammensetzung nicht von gleichgelagerten Vereinen an anderen Universitäten, die sich 1923 im „Verband jüdischer Studentenvereine Deutschlands“ als Dachorganisation zusammengeschlossen hatten. Über das Innenleben des Vereins, der sich ab dem Sommersemester 1928 nicht mehr beim Universitätsamt zurückmeldete und deshalb als nicht mehr bestehend geführt wurde, geben die universitären Akten keinen Aufschluss.87 Die Vereinssatzung sah „Pflege der Geselligkeit, Errichtung und Unterhaltung eines Heims und Lesesaals, Abhaltung von geselligen Abenden, von Vorlesungen und dergl.“ sowie „Pflege des Sports für die körperliche Ausbildung der Mitglieder“ vor.88 Da sich ostjüdische Studenten nicht selten in prekären finanziellen Verhältnissen befanden, war Punkt c der in der Satzung festgelegten Ver84 85 86 87

DJS, Jg. 22, H. 7, Oktober 1925, S. 227. Vgl. UAJ, Bestand E, Abt. II, Nr. 2176, Bl. 156r. Vgl. ebd., Bl. 213r–215r; UAJ, Bestand E, Abt. II, Nr. 2177, Bl. 68r–69r. Dazu ist vielleicht durch die Sichtung eines Aktenbestandes des Jüdischen Studentenvereins Jena möglich, der sich laut Ausweis der Internet-Präsenz im YIVO Institute for Jewish Research in New York befindet. Vgl. https://archives.cjh.org/repositories/7/ resources/19902 (letzter Abruf: 25.02.2022). 88 UAJ, Bestand E, Abt. II, Nr. 2176, Bl. 157r.

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einszwecke der entscheidende: „Unterstützung bedürftiger Mitglieder“.89 So findet sich in der spärlichen Überlieferung des Vereins in Jena z. B. ein Schreiben des lettischen Konsulats in Leipzig an die Universität, das Erkundigungen zu einem Jurastudenten namens Markuschewitsch einholte, der angab, sich in dürftigen materiellen Verhältnissen zu befinden und vom jüdischen Studentenverein Jena unterstützt zu werden.90 Als der aus dem polnischen Wasilischki (heute Belarus) stammende Mark Lipschitz, der 1925 gemeinsam mit Srago und Kalecki zu den Gründern des Jüdischen Studentenvereins gehörte, in Jena im Herbst 1927 zum Dr. med. promoviert wurde, bat er die Fakultät aufgrund der „überaus schlechten wirtschaftlichen Lage“ der Eltern um einen Erlass der Hälfte der Promotionsgebühren; gegen eine Sofortzahlung von 50 Mark wurde ihm die Stundung der verbleibenden 100 Mark gewährt.91

4. Schluss Der Blick auf das paritätische und jüdische Verbindungswesen sowie auf andere jüdische Studentenorganisationen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik kann – das hat auch unser Blick auf Jena deutlich gemacht – weitreichende Einblicke in das spannungsreiche Wechselspiel von Integration und Ausgrenzung, jüdischer Identitätswahrung und Assimilation, bewusstem Festhalten an einer Selbstdefinition als jüdischer Deutscher und der zionistischen Zurückweisung einer solchen Möglichkeit vermitteln, in dem auch und gerade jüdische Studierende und Akademiker standen. Die Forschungsaufmerksamkeit dafür zu erhalten und auszubauen heißt, einen bisher noch immer „zu wenig beachteten“92 Teil der ansonsten in vielen Bereichen gut ausgeleuchteten deutsch-jüdischen Geschichte im Blick zu behalten. Hier muss in der Klärung von Organisationsstrukturen, in der stärkeren sozial- und politikgeschichtlichen Konturierung von Akteuren, in der Frage der universitären, nicht-jüdischen Wahrnehmung, der Konflikte und Widerstände, aber auch möglicher politischer oder kultureller Kooperationen Forschungsarbeit geleistet werden. Vielfach fehlt uns zu paritätischen und jüdischen Studentenverbindungen noch Grundlegendes wie Daten und Namen; einer Struktur- und Alltagsgeschichte dieser Korporationen näherzukommen, ist unter solchen Voraussetzungen kaum möglich. Freilich 89 Ebd., Bl. 158r. 90 Vgl. UAJ, Bestand E, Abt. II, Nr. 2176, Bl. 70r. Vgl. auch das Schreiben des Vereins an den Rektor der Universität Jena, 12. November 1925, ebd., Bl. 164r. 91 UAJ, Bestand L, Nr. 322, Bl. 65r (Antrag), 71r (Befürwortung der Fakultät). Zu Lipschitz vgl. auch UAJ, Bestand L, Nr. 422 und seine Dissertationsschrift in UAJ, Bestand S III, Abt. II, Nr. 55. Außerdem: UAJ, Studentenkartei. 92 Stickler, Jüdische Studentenverbindungen (wie Anm. 1), S. 11 (Titel).

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stellen sich darauf gerichteten Projekten oft – auch das ist am Jenaer Beispiel deutlich geworden – sowohl was Personen und Lebenswege als auch was Organisationen und ihr Wirken angeht, Quellenschwierigkeiten in den Weg. Dass dem so ist, hängt nicht selten mit dem „Bürgerverrat“93 der Jahre nach 1933, mit dem gewaltsamen „Herausschneiden“ des jüdischen Anteils an der deutschen Geschichte zusammen, der sich im Nationalsozialismus vollzog. Auch dieses Faktum hält die Untersuchung jüdischer Verbindungen und Studentenorganisationen im Bewusstsein.

93 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Verfolgung der deutschen Juden als Bürgerverrat, in: Merkur 51 (1997), S. 164–170.

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… dass wir ausser deutsch auch noch jüdisch sind – Carl Plaut aus Schmalkalden schreibt dem Jenaer Philosophen und Nobelpreisträger Rudolf Eucken

Rudolf Eucken war ein Vorreiter der akademischen Weiterbildung von Volksschullehrern.1 Um sie bei ihrer Aufgabe zu unterstützen, „die geistige Erhöhung des ganzen Menschen“ zu fördern, reiste er zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch ganz Thüringen. In seinen „Lebenserinnerungen“ berichtet er: „Ich habe wohl zwölf verschiedene Orte besucht und an mehreren Orten wie in Gotha, Arnstadt, Erfurt, Schmalkalden, Naumburg wiederholt gesprochen.“2 Eine seiner Vorlesungen in Schmalkalden hat Carl Plaut besucht. Plaut, am 28. Februar 1877 in Schmalkalden geboren, erblindete nach einem Unfall 1896, studierte danach,3 arbeitete bis 1935 in seiner Heimatstadt als Privatlehrer, schrieb heimatkundliche Aufsätze4 und war in der jüdischen Gemeinde aktiv.5 1937 zog er mit seiner Frau nach Meiningen. Zwei Jahre später emigrierte das Ehepaar nach Bolivien. Am 23. Mai 1941 verstarb Plaut in Cochabamba/Bolivien.6 1

Zu Euckens Biographie, seinem philosophischen Konzept und weltanschaulichen Anliegen sind in den letzten Jahren mehrere Arbeiten erschienen. Vgl. Uwe Dathe, Rudolf Eucken. Philosophie als strenge Wissenschaft und weltanschauliche Erbauungsliteratur, in: Krzysztof Ruchniewicz/Marek Zybura (Hg.), Deutschsprachige Nobelpreisträger für Literatur, Dresden 22019, S. 35–56; Ulrich Sieg, Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013, S. 59–102; Michael Schäfer, Sammlung der Geister. Kulturkritischer Aktivismus im Umkreis Rudolf Euckens, Berlin/Boston 2020. 2 Rudolf Eucken, Lebenserinnerungen. Ein Stück deutschen Lebens, Leipzig 1921, S. 80. 3 Plaut hat nicht in Jena studiert. Im „Amtlichen Verzeichnis der Lehrer, Behörden, Beamten und Studierenden der Großherzogl. und Herzogl. S. Gesamt-Universität Jena“ ist er nicht aufgeführt. 4 Vgl. Carl Plaut, Die jüdische Gemeinde Schmalkaldens. Ein Stück Heimatgeschichte, in: Heimat-Kalender für den Kreis Herrschaft Schmalkalden 17 (1930), S. 29–32. 5 Zur jüdischen Gemeinde Schmalkaldens vgl. Kurt Pappenheim, Die jüdische Gemeinde Schmalkalden und ihr Ende im Holocaust (Juden in Südthüringen geschützt und gejagt. Eine Sammlung jüdischer Lokalchroniken, 4), Suhl 1999; Karine Mœglin, Présence et absence juive en Allemagne: Schmalkalden 1812–2000, Paris/Louvain 2012. 6 Alle biographischen Angaben stammen aus den folgenden Beiträgen: Ute Simon (Bearb.), Briefe des jüdischen Privatlehrers Carl Plaut an Professor Alfred Schmidt-Vilmar (1925–1939), in: Nova Historia Schmalcaldica 3 (2006), S. 136–144; Art. „Plaut, Carl“,

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Mit dem hier edierten Brief vom 12. September 1924 antwortete Plaut auf eine Postkarte Euckens. Dieser hatte auf der Karte zu Vorwürfen Stellung genommen, die im Sommer 1924 in einigen jüdischen Zeitungen gegen ihn erhoben worden waren. Seiner Karte lag eine Ausgabe der Zeitschrift „Der Euckenbund“ bei. Diese Postsendung war die Reaktion auf ein erstes Schreiben Plauts, in dem er Eucken bat, auf diese Vorwürfe einzugehen.7 Bevor wir die Konstellation erläutern, auf die sich Plauts zweiter Brief bezieht, werfen wir einen kurzen Blick auf Euckens Verhältnis zu Juden, zur jüdischen Religion und Philosophie. In seinen wissenschaftlichen Werken bezog sich Eucken mehrfach auf die jüdische Religion oder auf antike und mittelalterliche jüdische Philosophen und würdigte den Beitrag jüdischer Denker zur Entwicklung des Geisteslebens der Menschheit.8 Seine Philosophie des Geisteslebens verstand er als Alternative gegen jede Form des Naturalismus in der Philosophie. Im Zuge seiner Kritik naturalistischer Konzeptionen zur Erklärung kultureller Zusammenhänge wandte er sich scharf gegen biologistische und rassistische Argumente. Gegen einseitig nationalistische, gar naturalistisch-völkische Interpretationen hob Eucken in Arbeiten zu Johann Gottlieb Fichte hervor, dass dessen nationales Streben nicht „zu einem unfruchtbaren Rassendünkel“ führe, „der den Zusammenhang der Menschheit lockert, ohne den geistigen Gehalt des Lebens zu fördern“.9 Es waren gerade seine Fichte-Interpretationen, die unter jungen jüdischen Intellektuellen großen Anklang fanden. Hans Kohn und Robert Weltsch nahmen Euckens Ideen einer geistigen Begründung nationaler Kulturen produktiv auf und empfahlen die Schriften des Jenaer Gelehrten jüdischen Kommilitonen und Kollegen.10 Aber auch ältere jüdische Autoren bezogen sich in in: Juden in Thüringen 1933–1945. Biographische Daten. Bd. 2, hg. vom Europäischen Kultur- und Informationszentrum in Thüringen, Erfurt 22002, S. 97. 7 Aus dieser Korrespondenz ist nur der hier edierte Brief überliefert. Er gehört unter der Signatur I/21, Bl. P 206 f. zum Nachlass Rudolf Eucken in der Thüringer Universitätsund Landesbibliothek Jena (ThULB). 8 Vgl. vor allem Rudolf Eucken, Ueber die Bedeutung der Aristotelischen Philosophie für die Gegenwart. Akademische Antrittsrede, Berlin 1872, S. 12–14; Ders., Die Lebensanschauungen der grossen Denker. Eine Entwickelungsgeschichte des Lebensproblems der Menschheit von Plato bis zur Gegenwart, Leipzig 1890, S. 151 f., in der 17. und 18. Aufl., Berlin/Leipzig 1922 geht Eucken auf den S. 100–103 detailliert auf die Leistungen des antiken Judentums ein; Ders., Der Wahrheitsgehalt der Religion, Berlin/Leipzig 41920, S. 12 und S. 254. 9 Rudolf Eucken, Zur Einführung, in: Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, Leipzig 1909, S. I–XVI, hier S. X; vgl. auch Ders., Die Lebensanschauungen der großen Denker, Leipzig 91911, S. 457. 10 Vgl. dazu Hans-Joachim Becker, Fichtes Idee der Nation und das Judentum (Fichte-­ Studien-Supplementa, 14), Amsterdam/Atlanta 2000, S. 330 f.; Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001, S. 50 und 215; Stefan Vogt, Subalterne Positionie-

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ihren Arbeiten zum Judentum positiv auf Eucken, so Moritz Lazarus11 und der Karlsbader Rabbiner Ignaz Ziegler12 . Solange er lebte, förderte Eucken zwei seiner jüdischen Schüler. Mit dem aus Saloniki stammenden Isaak Benrubi korrespondierte er bis zu seinem Lebensende. Benrubi war auch nach der 1904 bei Eucken erfolgten Promotion oft bei seinem Lehrer in Jena zu Gast, publizierte in der Zeitschrift „Der Euckenbund“ und unterhielt zu Euckens Sohn, dem Nationalökonomen Walter Eucken, enge Kontakte. Julius Goldstein, der es als Jude in der deutschen akademischen Welt sehr schwer hatte, eine Anstellung zu finden, vermittelte er ein Privatstipendium und unterstützte ihn bei seinen Bemühungen Lehraufträge und Professuren an Universitäten zu bekommen. Der erste Versuch, die Anhänger von Euckens Philosophie in einem Bund zu sammeln, ging 1914 von Goldstein aus. Nachdem er erfahren hatte, dass Eucken gestorben war, notierte er in sein Tagebuch: „Mein alter Lehrer, mein Freund, der auf die Gestaltung meines Lebensweges entscheidend eingewirkt hat. […] 32 Jahre war ich ihm verbunden, kein Ereignis meines Lebens, das er nicht mit freundschaftlichem, teilnahmsvollem Worte begleitet hat.“13 Eucken betonte Goldstein gegenüber mehrfach, „daß der Mensch als geistiges Wesen nicht von seiner Rasse bestimmt wird“ und dass er „die einseitige Betonung des Rassegedankens entschieden ablehne“, dieser Gedanke sei „im Grund ein krasser Naturalismus“.14 Während des Ersten Weltkrieges sah Eucken seine Pflicht darin, in der Öffentlichkeit den Sinn des Krieges zu erläutern. Vom moralischen Recht des deutschen Volkes überzeugt, den Krieg zu führen, war er einer der unermüdlichsten Kriegspublizisten und -redner unter den deutschen Gelehrten. Obwohl er die deutsche Kriegspropaganda in vorderster Linie unterstützte, lehnte er annexionistische Forderungen ab und distanzierte sich von chauvinistischen und antisemitischen Positionen vieler seiner Kollegen.15 Eucken korrespondierte währungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890–1933, Göttingen, S. 80. 11 Moritz Lazarus, Die Ethik des Judenthums, Frankfurt am Main 1898, S. 65–67, 235, 252, 321. 12 Ignaz Ziegler, Die Geistesreligion und das jüdische Religionsgesetz. Ein Beitrag zur Erneuerung des Judentums. Mit einem Geleitwort von Rudolf Eucken, Berlin 1912. 13 Uwe Zuber, Julius Goldstein. Der jüdische Philosoph in seinen Tagebüchern, Wiesbaden 2008, S. 205. Über den Personenindex sind die weiteren Einträge zu Eucken leicht zu finden. 14 Aus Briefen von Rudolf Eucken, William James, Henri Bergson an Julius Goldstein, in: Der Morgen 5 (1929/30), S. 411–415. 15 Vgl. dazu Uwe Dathe, Der Philosoph bestreitet den Krieg. Rudolf Euckens politische Publizistik während des Ersten Weltkrieges, in: Herbert Gottwald/Matthias Steinbach (Hg.), Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur Jenaer Universität im 20. Jahrhundert, Jena 2000, S. 47–64.

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rend des Krieges mit Nahum Goldmann, Martin Buber16 und Ignaz Ziegler17. Mit Beiträgen für ein internes politisches Korrespondenzblatt unterstützte er Goldmanns Initiativen für die Rechte der Ostjuden und die „freie Kolonisation und Emigration in Palästina“.18 Eine Mitarbeit an der u. a. von Hermann Cohen und Franz Oppenheimer herausgegebenen Zeitschrift „Neue Jüdische Monatshefte“ lehnte er ab, weil sie zu wenig „am Deutschtum“ mitarbeite.19 Im Herbst 1919 gründeten Schüler und Anhänger Euckens den Euckenbund. Der Bund war eine der vielen weltanschaulich ausgerichteten Vereinigungen, in denen und mit denen das deutsche Bildungsbürgertum auf die kulturelle und politische Orientierungslosigkeit der Nachkriegszeit reagierte. In der Jenaer Eucken-Villa wurde die Geschäftsstelle des Bundes eingerichtet, hier wurde von 1920 bis 1924 die Zeitschrift „Der Euckenbund“ redigiert und hier fanden die Jahreshauptversammlungen des Bundes statt. Die alltägliche Arbeit – Leseabende, Diskussionsrunden und Vorträge – erfolgte in den einzelnen Ortsgruppen.20 Bereits in der Gründungsphase spielten die „Rassenfrage“ und die Frage der Beteiligung von Juden eine Rolle. Eucken wandte sich „dagegen, dass die Rassenfrage aus dem physiologischen auf das geistige Gebiet übertragen werde. Von einer reinen Rasse könne man in den Kulturländern überhaupt nicht mehr reden“. Seine Frau – Irene Eucken – und viele seiner Anhänger sahen das anders. Sie waren überzeugt, kulturelle Phänomene rassentheoretisch deuten zu können.21 Auch in Bezug auf die Beteiligung von Juden am Aufbau des Bundes gingen die Meinungen auseinander. Auf die Liste seiner „Gesinnungsgenossen“ 16 Zu Korrespondenz Buber-Eucken vgl. die Nachweise bei Vogt, Subalterne Positionierungen (wie Anm. 10), S. 239. 17 Ziegler nennt ihn 1916 gar einen „Herold der sittlichen Erneuerung“. Ignaz Ziegler an Rudolf Eucken. Karlsbad, 5. Januar 1916. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken I/28. 18 Da bislang noch kein Exemplar des von Goldmann geleiteten politischen Korrespondenzblattes „Neue Jüdische Nachrichten“ nachgewiesen werden konnte, stützen wir uns hier auf die Korrespondenz zwischen Goldmann und Eucken, aus der Euckens Mitarbeit an diesem Korrespondenzblatt hervorgeht. Nahum Goldmann an Rudolf Eucken. Zwei Briefe 1917. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken I/19. Zu Goldmanns Aktivitäten vgl. auch Nahum Goldmann, Staatsmann ohne Staat, Köln/Berlin 1970, S. 77. 19 Vgl. die von Franz Oppenheimer unterzeichneten Briefe der „Neuen Jüdischen Monatshefte“ an Eucken vom 7. August 1916 und vom 5. Oktober 1916. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken I/19. 20 Zur Gründungsgeschichte des Euckenbundes vgl. Schäfer, Sammlung der Geister (wie Anm. 1), S. 218–258, zur „Judenfrage“ im Euckenbund vgl. ebd., S. 258–268. 21 Vgl. dazu das Protokoll des 2. Luther-Besprechungsabends vom 8. Juli 1919 in Jena, wo auch das Zitat zu finden ist. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken VI/12 (10). Vgl. dazu auch den Brief von Ida Eucken an ihre Mutter Irene Eucken vom 13. April 1920 aus Kristiana [Oslo], in dem sie schreibt, dass es „eine Wohltat [sei] mit reinrassigen Leuten zu tun zu haben, da kann der Alte [Rudolf Eucken] sagen, was er will“. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken V/13 c, Bl. 55–58.

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setzte Eucken auch „Prof. Dr. J. Goldstein“, „Frau Dr. Henriette Goldschmidt“, „Rabbiner Dr. Ziegler in Karlsbad“, „Rabbiner Dr. B[enedikt Pinchas] Wolf, Cöln“.22 Im Bund wurde keiner von ihnen aktiv. Goldstein erhielt nicht einmal eine Einladung zur Mitarbeit. Ihn hatte Irene Eucken von der Liste gestrichen. 1922 fasste die Ortsgruppe München gegen die Empfehlung Euckens den Beschluss Juden auszuschließen. Gustav Ziegler, Landgerichtsrat in Kempten und einer der aktivsten Euckenbündler, wollte auf der Grundlage des Münchener Beschlusses die Bundesleitung dazu bewegen, alle Juden aus dem Bund ausschließen. Eucken war gegen einen generellen Ausschluss von Juden und versuchte zu vermitteln: Juden könnten dem Bund beitreten, über ihre Mitgliedschaft in einer Ortsgruppe müsste diese aber von Fall zu Fall selbst entscheiden.23 Rudolf Eucken war ein „entschiedener Nicht-Demokrat“,24 wandte sich aber zumindest privatim gegen Versuche völkisch-antisemitischer Kreise, die Republik zu stürzen. Einem amerikanischen Freund, dem Unternehmer Theodore F. Koch, schrieb er kurz nach der Ermordung Walther Rathenaus: „Die politischen Verhältnisse Deutschlands brauche ich Ihnen nicht zu schildern, sie werden immer unerquicklicher; neuerdings hat der radikale Antisemitismus uns in neue weitere Nöte und Verwirrungen gebracht.“25 Im Euckenbund wurde 1924 die „Judenfrage“ noch einmal grundsätzlich diskutiert. Eucken nahm im Frühjahr an den Breslauer Euckentagen teil und sprach am 13. April vor 600 Zuhörern über „Die Lebensaufgaben des deutschen Geistes in der Gegenwart“. Weitere Vorträge hielten Eugen Kühnemann über „Schiller und die deutsche Gegenwart“ und Curt Hacker über „Rudolf Eucken und Goethes Faust“.26 Eucken fasste in seinem Vortrag zusammen, was er in den 1920er Jahren in zahlreichen Arbeiten ausführte: Der Mensch gehöre nicht nur einer natürlichen und einer gesellschaftlichen Sphäre an, sondern vor allem der Geisteswelt, als geistiges Wesen müsse er eine Tatwelt anerkennen, um sich als Persönlichkeit auszubilden und das Geistesleben mitzugestalten. Aufgrund seiner kulturellen und religiösen Traditionen sei das deutsche Volk besonders geeignet und verpflichtet, sich geistig zu betätigen.27 Nach dem Vortrag fand im kleinen Kreis eine Aussprache statt. Euckens Ausführungen wurden „von einem 22 ThULB, Nachlass Rudolf Eucken VI/12 (10.3). 23 Protokoll der 3. Hauptversammlung 1922. ThULB, Nachlass Eucken VI/24. Vgl. auch Rudolf Eucken an Josef Schwarz. Jena, 4. Juni 1924. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken I/30, Bl. 430. 24 Rudolf Eucken an die Redaktion der Allgemeinen Zeitung. Jena, 12. März 1924. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken I/29, Bl. 3. 25 Rudolf Eucken an Theodore F. Koch. Jena, 7. Juli 1922. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken I/29, Bl. 73. 26 Vgl. dazu Willi Grollmus, Breslauer Euckentage, in: Der Euckenbund. Nachrichtenblatt für die Mitglieder des Euckenbundes 5 (1924), S. 19 f. 27 Vgl. Euckens Rededisposition. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken II/29, Bl. 2167–2183.

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hochgebildeten und ernstdenkenden jüdischen Gelehrten entschieden bekämpft“.28 Dieser Gelehrte, Ludwig Cohn, ein Blindenlehrer und Hochschuldozent, ging in der „Jüdischen Zeitung für Ostdeutschland“ vom 25. April 1924 auf diese Aussprache ein.29 Er hatte sich darüber gewundert, „daß eine ethisch-philosophische Gemeinschaft von einer deutsch-christlichen Ethik spreche und nicht von einer Menschheitsethik“ und wollte „klipp und klar“ wissen, ob Juden überhaupt Mitglieder des Euckenbundes sein könnten. Eucken hätte ihn daraufhin angeblafft: „Herr, Sie sind kleinlich und empfindlich.“ Das „Ringen zur Persönlichkeit in Innerlichkeit und Schaffenskraft“ sei, so stellt Cohn Euckens Wortmeldung in der Aussprache dar, „etwas Gottgegebenes, was eben nur dem Deutschen und Christen eigen sein kann“. „Mit erhobener Stimme“ habe Eucken ausgerufen: „Ich will, es sollen im Euckenbunde Juden nicht sein!“ In seiner Gegendarstellung in der Ausgabe vom 9. Mai 1924 stritt Eucken diesen Ausruf vehement ab. Auf diese beiden Artikel reagierten mehrere Breslauer Zeitungen sowie eines der Blätter, das in liberalen jüdischen Kreisen Deutschlands verbreitet war – die „Jüdisch-liberale Zeitung“. Plaut wird einige dieser Artikel gelesen und deswegen im Sommer 1924 an Eucken geschrieben haben. Seiner Antwort auf Plauts Schreiben legte der Philosoph das „Nachwort zur Breslauer Euckenwoche“ bei.30 Hier gibt er Auskunft über seine „persönliche Stellung zur Judenfrage“ und betont, dass es sich nicht um die Stellung des Euckenbundes zu dieser Frage handle. Eucken unterscheidet „drei Arten jüdischen Denkens“. Am einfachsten liege die Sache bei den Zionisten. „Diese fühlen sich als nationale Juden, ihre Heimat ist Palästina.“ Ihnen dürfe man „weder das deutsche Staatsbürgerrecht verleihen und ihnen Ämter und Wahlrecht übertragen“. „Juden, welche ihre geistige Heimat im deutschen Leben finden und diesem Leben aus voller Seele dienen“ stehen auf der entgegengesetzten Seite. „Derartige innerlich deutsch gewordene Juden kenne ich genügend aus eigener Erfahrung“, manche von ihnen zählte Eucken zu seinen besten Freunden. Zwischen diesen Gruppen „stehen heute viele Juden, die sich halb als Juden, halb als Deutsche betrachten, und die bei solcher Mittelstellung keine rechte Heimat besitzen, weder eine deutsche noch eine jüdische. […] Das Wirken dieser Heimatlosen kann man nicht ohne Bedauern, aber auch nicht ohne Sorgen ansehen. Es entsteht daraus oft eine freischwebende, auf den bloßen Verstand gestellte, abstrakte Denkweise, die einerseits zersetzend, andererseits verflachend wirkt.“ Da es aber bei der „Hauptrichtung des Strebens“ kein „Mittelding“ geben dürfe, 28 Rudolf Eucken, Ein Nachwort zur Breslauer Euckenwoche, in: Der Euckenbund. Nachrichtenblatt für die Mitglieder des Euckenbundes 5 (1924), S. 21 f. 29 Wir zitieren die Debatte in der „Jüdischen Zeitung für Ostdeutschland“ hier nach der Zusammenfassung der Artikel von Cohn und Eucken bei Schäfer, Sammlung der Geister (wie Anm. 1), S. 258 f. 30 Eucken, Nachwort (wie Anm. 28).

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müsse der Jude „entweder Deutscher werden mit Leib und Seele und die deutschen Geschicke teilen, oder er muß Jude bleiben“. Diese Einteilung der in Deutschland lebenden Juden findet sich unter ausdrücklichem Hinweis auf Eucken auch bei den von Plaut erwähnten „Naumannianern“.31 Der Jurist Max Naumann war der Gründer und von 1921 bis 1926 sowie von 1933 bis 1935 der Vorsitzende des Verbandes nationaldeutscher Juden. Dieser Verband sah in der völligen kulturellen und politischen Assimilation den einzigen Weg für die Juden, die in Deutschland leben und wirken wollten. Juden dürften sie nur rein religiös bleiben. Der Verband wandte sich gegen die in Deutschland lebenden Zionisten und lehnte die weitere Einwanderung von Ostjuden ab. Euckens „Nachwort“ stieß bei Naumann und seinen Anhängern auf große Zustimmung.32 Scharf angegriffen wurde Euckens Dreiteilung vor allem in der liberalen jüdischen Presse. Mit Argumenten, die sich in ähnlicher Form in Plauts Brief vom 12. September finden, wies Emil Weisstock in der „Jüdisch-liberalen Zeitung“ vom 11. Juli 1924 Behauptungen zurück, dass man als Jude nicht sowohl ganz jüdisch als auch ganz deutsch fühlen und handeln könne.33 Weisstock gab in dem Beitrag Euckens Position genau wieder und bezog sich dabei auf den Beitrag im „Euckenbund“. Ob Eucken auf Plauts Brief vom 12. September einging, wissen wir nicht. Sollte er noch einmal nach Schmalkalden geschrieben haben, so wird er weder seine Thesen über die in Deutschland lebenden Juden revidiert noch ein klares Wort gegen die Antisemiten im Euckenbund geäußert haben. Im „Nachwort zur Euckenwoche“ hatte er bemerkt, dass er nicht für den Bund spreche, „der sich prinzipiell noch nicht mit jener Frage beschäftigt hat“. Auf der 5. Hauptversammlung des Euckenbundes, die vom 10. bis 12. Oktober 1924 in Jena stattfand, kam auf Antrag des Vorsitzenden der Ortsgruppe Breslau Hans-Georg Haack die „Judenfrage“ zur Erörterung.34 Neben Haack, einem protestantischen Theologen, warb Naumann dafür, „Juden, die sich bewußt deutsch fühlen“ uneingeschränkt in den Bund aufzunehmen. Dagegen opponierten meh31 Vgl. dazu Matthias Hambrock, Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921–1935, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 48 f. mit Hinweisen auf Zeitungsbeiträge der Jahre 1924 bis 1926. 32 Vgl. dazu auch Max Naumann an Rudolf Eucken. Charlottenburg, 4. September 1924. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken I/19, Bl. N 34. 33 Emil Weisstock, An Rudolf Eucken, in: Jüdisch-liberale Zeitung. Organ der Vereinigung für das liberale Judentum, Nr. 22 vom 11. Juli 1924. Ein weiterer Beitrag, in dem Eucken auch deshalb scharf angegriffen wurde, weil seine These zur Einteilung der deutschen Juden in drei Gruppen viel Zustimmung in der rechtsstehenden Presse gefunden habe, ist gut vier Wochen später erschienen. [Ludwig] Foerder, Prinzipielles zum Fall Eucken, in: ebd., Nr. 27 vom 15. August 1924. 34 Vgl. den Tagungsbericht in: Der Euckenbund. Nachrichtenblatt für die Mitglieder des Euckenbundes 5 (1924), S. 43–46.

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rere Redner, die die „grundsätzliche Freiheit der Ortsgruppen, Mitglieder in ihren Kreis aufzunehmen“ gefährdet sahen. Sie sprachen von der Freiheit, Mitglieder aufzunehmen, wollten aber verhindern, Juden aufnehmen zu müssen oder auf Juden einladend zu wirken. Rudolf Eucken sollte einen „Schiedsspruch sprechen“. Am 12. Oktober verkündete er: „Jüdische Persönlichkeiten, welche die deutsche Gesinnung teilen und im besonderen unsere Richtlinien anerkennen, können Mitglieder des Bundes werden und gemeinsam mit uns für unsere ethischen Aufgaben wirken. Aber es liegt bei den einzelnen Ortsgruppen, ob sie jene in ihren Kreis aufnehmen oder nicht.“ In einer Anmerkung fügte er hinzu, dass man als Mitglied des Bundes nicht unbedingt einer Ortsgruppe angehören müsse. Viele dieser Ortsgruppen waren nicht nur latent, sondern offen antisemitisch.35 Und da auch der Vorsitzende des Bundes, der Berliner Pädagoge Curt Hacker, ein überzeugter Antisemit war, wurde Euckens Schiedsspruch von vielen Mitgliedern des Euckenbundes so interpretiert, dass Juden dem Bund eher fernbleiben sollten. Naumann, der dies im Umfeld der von Hacker geleiteten Berliner Gruppe spürte, forderte die Bundesleitung und Mitglieder der Familie Eucken in mehreren Briefen dann auch auf, den Bund offen für antisemitisch zu erklären.36 Der Breslauer Streit und die Diskussionen im Euckenbund veranlassten jüdische Zeitschriften von Eucken, der von den Redakteuren und Herausgebern nicht als Antisemit wahrgenommen wurde, Beiträge zur Klärung zu erbitten. Das „Gemeindeblatt der jüdischen Gemeinde Berlin“ wünschte einen „Aufsatz über die Kulturbedeutung der Bibel bezw. des Judentums“. Eucken lehnte mit dem Argument ab, dass „ein solcher Artikel von Draußenstehenden leicht mißverstanden werden“ könnte und bat, „sich mit der Versicherung begnügen zu wollen, daß ich das geistige und sittliche Wirken des Judentums vollauf anerkenne“.37 Siegmund Kaznelson bat Eucken um einen Beitrag für die im Jüdischen Verlag herausgegebene Zeitschrift „Der Jude“. Eucken sollte die Gedankengänge des Breslauer Vortrages etwas näher ausführen. „Wir würden dies insbesondere aus dem Grunde begrüssen, weil seinerzeit von einzelnen jüdischen Blättern die Befürchtung geäussert wurde, Ihre Aeusserungen in Breslau seien auf eine antisemitische Einstellung zurückzuführen.“38 Auch in diesem Fall wich Eucken aus. Er wolle sich zu den „verwickelten Fragen“ nicht äußern. „Ich 35 ThULB, Nachlass Rudolf Eucken VI/26–32. Das gilt von den 32 Gruppen, deren Akten teilweise noch vorhanden sind, vor allem für die Gruppen in Berlin-Lichterfelde, Biedenkopf, Kempten, Kiel, München, Reichenbach/Vogtland und Suhl. 36 Vgl. die Nachweise bei Schäfer, Sammlung der Geister (wie Anm. 1), S. 263 f. 37 Korrespondenz zwischen dem Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde und Rudolf Eucken. Briefe vom 8. Juli 1924, 17. April 1925 und 19. April 1925. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken I/9, Bl. G 64 f. 38 Siegmund Kaznelson an Rudolf Eucken. Berlin, 19. Juni 1925. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken I/13, Bl. J 285.

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kann nur sagen, daß ich nicht Antisemit bin, von Jugend an hatte ich gute Freunde unter den Juden.“ Und „keinen Augenblick“ werde er vergessen, „was das Judentum für das Ganze der Menschheit geleistet hat“.39 Juden, mit denen Eucken verkehrte oder korrespondierte – neben Plaut waren das u. a. Isaak Benrubi, Martin Buber, Hermann Cohen, Nahum Goldmann, Julius Goldstein, Siegmund Kaznelson, Flora Levy, Georg Simmel, Michael Singer und Ignaz Ziegler – sahen in Eucken keinen Antisemiten. Weder in seinem Werk noch in Äußerungen ihnen und anderen gegenüber fanden sie antisemitische, rassistische oder völkische Einstellungen. Euckens wissenschaftliches Werk, aber auch seine eher populären Bücher, Broschüren und Artikel boten Antisemiten, Rassisten und Nationalisten bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts keine Anknüpfungspunkte. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte Eucken in einigen eher populär gehaltenen Schriften dann das Konzept einer besonderen deutschen Geistes- und Kulturaufgabe für die Menschheit. Aber auch dieses Konzept blieb frei von einer abwertenden Einstellung anderen Nationen, Kulturen oder Religionen gegenüber. Während des Krieges und vor allem nach dem Krieg hob er die deutschen Geistes- und Kulturaufgaben in zahlreichen nicht-wissenschaftlichen Arbeiten noch stärker hervor und verband dies mit einer deutlichen Ablehnung der westlichen, für ihn der französischen, britischen und amerikanischen, politischen Ordnung. In einem Fall, und zwar in dem hier bereits mehrfach zitierten und erwähnten „Nachwort zur Breslauer Euckenwoche“, stellte er eine Verbindung zwischen den von ihm abgelehnten Ideen der Demokratie und des westlichen Parlamentarismus und der jüdischen Religion und Kultur her. In dem Bemühen, es den Fremden, den heimatlosen Juden recht zu machen, verfalle man auch in Deutschland in eine „Halbheit“ im politischen Leben, was ein „großes Unglück“ sei, „das wir möglichst abwehren sollten“.40 Viele Publikationen aus dem Umfeld des Euckenbundes und seiner Ortsgruppen kreisten genau um diese Verbindung. Demokratie und Parlamentarismus seien dem deutschen Volke artfremd und verantwortlich für ihr Eindringen nach Deutschland seien jüdische Autoren und Politiker. Eucken wird die wenigsten dieser Publikationen gelesen haben. Mit den in ihnen zum Ausdruck kommenden Ideen wurde er aber mit Sicherheit auf vielen Veranstaltun39 Rudolf Eucken an Siegmund Kaznelson. Jena, o. D. ThULB, Nachlass Rudolf Eucken I/29, Bl. 65. 40 In einem Manuskript mit einigen Gedanken für das „Nachwort“ ging Eucken noch weiter: „Juden, die halb Juden, halb Deutsche sind, haben keine Ahnung von unserem tiefsten Empfinden, von unseren Leiden und von unserem Sehnen, sie wollen uns aber ihr Gepräge aufdrücken und wollen die germanische Art durch die jüdische verdrängen.“ (ThULB, Nachlass Rudolf Eucken II/25, Bl. 397 f.) Ob Eucken hier selbst zu Wort kommt oder ob es Gedanken seiner Frau sind, die diese Passage des Manuskripts geschrieben hat, lässt sich nicht sicher feststellen. In vielen Briefen von Irene Eucken finden sich immer wieder antisemitische Äußerungen.

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gen des Euckenbundes konfrontiert. Warum trat er diesen antisemitischen Ideen, die im Euckenbund virulent waren, nicht entgegen? Warum äußerte er sich nach 1918 nicht öffentlich gegen den Antisemitismus? Warum wollte er in jüdischen Zeitschriften nicht das gemeinverständlich darlegen, was er über die Kulturbedeutung des Judentums dachte und worüber er in streng wissenschaftlichen Veröffentlichungen und in Briefen geschrieben hatte? Seine Anhänger, das belegen unzählige Briefe aus der Euckenbund-Korrespondenz, kannten das wissenschaftliche Werk ihres Meisters nicht, wohl aber die populären Arbeiten der Zeit nach 1918. Wollte er keine Anhänger verlieren? Verfestigte sich in seinem Denken Mitte der 1920er Jahre, in seinen letzten Lebensjahren, der Gedanke, dass Staaten nur dann existieren können, wenn sie auf einer kulturell homogenen Basis ruhen? Wollte er deswegen nur den Juden staatsbürgerliche Rechte zuerkannt wissen, die sich ganz als Deutsche fühlen? Nie geklärt hat Eucken die Frage nach dem Kriterium, woran man erkennen kann, ob ein Jude sich ganz als deutsch fühle. Er überließ es so den vielen antisemitischen Funktionären der Ortsgruppen bzw. der Jenaer Geschäftsstelle zu entscheiden, ob ein jüdischer Eucken-Anhänger deutsch fühle und denke und dem Bund beitreten dürfe. Carl Plaut an Rudolf Eucken. Schmalkalden, 12. September 1924 Der Brief von Carl Plaut an Rudolf Eucken ist mit der Maschine geschrieben und maschinenschriftlich unterzeichnet. Da Plaut blind war, sind in der Vorlage sehr viele Tippfehler zu finden. Diese haben wir stillschweigend korrigiert. Nicht eingegriffen haben wir in einige eigenwillige Schreibungen Plauts. Kommentiert werden in den Anmerkungen nur die Stellen, auf die wir in unserem Text zu dem Brief noch nicht eingegangen sind.

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Schmalkalden, den 12. September 1924 Hochverehrter Herr Professor, Noch einmal bitte ich sehr artig, Ihnen schreiben zu dürfen. Mir liegt es zunächst am Herzen, Ihnen aufrichtig zu danken für Ihre freundlich gedenkende Postkarte und für das Blatt des Euckenbundes, worin Sie die Breslauer Angelegenheit kurz skizziert und so vielen zu besserem Verständnis gebracht haben. Ihre wohlmeinenden Worte haben mich erfreut und das Blatt hat mich lebhaft interessiert. Wenn ich Ihnen nun wieder schreibe, so drängt mich dazu das Empfinden, dass Sie mein Schweigen als Zustimmung zu Ihren Ausführungen in der mir nun bekannten Nummer des Euckenbundes auffassen möchten, und ich kann Ihnen aus inneren Notwendigkeiten nicht unbedingt beipflichten. Aber ich lege ganz besonderen Wert darauf zu betonen, dass ich vor dem Gelehrten in Ihnen jegliche verehrende Hochachtung empfinde, und dass Ihr ehrwürdiges Alter, das ich tatsächlich bedeutend unterschätzt habe, meine Ehrerbietung noch steigert. Es ist eine rührende Freude, einen hochbetagten Greis wie Sie noch so arbeitsfreudig und frisch zu sehen; die jüngere Generation sollte sich an solchem Alter ein nachahmenswürdiges Beispiel nehmen. Dies sage ich aus innerster Überzeugung, nicht aus der Schwäche, Ihnen etwas Verbindliches zu sagen; denn immer habe ich mich vor dem Wissen gebeugt, und zu allen Zeiten habe ich vor würdigem Alter verehrende Scheu empfunden und bewahrt. Und nun komme ich auf die Judenfrage zurück, die mir ja den ersten Brief an Sie diktierte, mein hochverehrter Herr Professor. Als ich Ihnen damals schrieb, hatte ich immer die leise Befürchtung, ich möchte mich auf nicht ganz zuverlässige Pressemitteilungen gestützt haben, wiewohl ich mir zugleich vorhielt, dass unsre jüdischen Herren, die in unsern jüdischen Blättern gegen einen Rudolf Eucken polemisierten, kaum wagen würden, seine Ausführungen tendenziös zu entstellen. Dass das nicht geschehen ist, beweist mir der von Ihnen selber geschriebene Aufsatz im Euckenbund. Neues habe ich meinen letzten Ausführungen kaum hinzuzufügen; ich muss immer wieder daraufhin weisen, dass die Beurteilung der Juden, – ich spreche natürlich von den deutschen Juden, – stets zu abstrakt, ich meine ohne genügende Berücksichtigung ihrer Seele geschieht, die ganz naturnotwendig ihr besonderes Empfinden mehr geschichtlichen, also von aussen her kommenden Einflüssen verdankt als der ureigensten inneren Anlage, die z. B. in der Neigung und Fähigkeit zur Wohltätigkeit eine ihrer starken Seiten hat. Ich möchte Ihnen unbedenklich beipflichten in ihrer Meinung, dass die Breslauer Diskussion besser nie in die Öffentlichkeit gelangt wäre. Jener jüdische Gelehrte, den Sie erwähnen, hätte sich, unter Umständen gemeinsam mit andern, mit Ihnen und andern massgebenden Persönlichkeiten des Euckenbundes auseinandersetzen und irrige Meinungen richtig stellen können. Auch ohne Ihre mir gemachte Versicherung, dass Sie kein Antisemit seien, hätte ich das geglaubt, ja für selbstverständlich gehalten. Ein grosser, ganz auf ideale Weltanschauung eingestellter Gelehrter kann aus pädagogischen Gründen heraus schon Antisemit niemals sein. Denn die Formen, die jene traurige Antipathie gegen die Juden angenommen hat, sind so beschämend, dass man schon aus Gründen der Klugheit zugunsten der Erziehung des Volkes in wahrem Sinne zu einem besseren Sein sich nicht nur davon abwenden, sondern mit aller Macht dagegen kämpfen sollte. Ich habe immer die

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Aufhetzung der leider doch denkträgen Menge – man darf dazu leider nicht die niedrigen Schichten allein zählen – mit aller Macht bekämpft, welche Interessen auch zur Behandlung standen. Als neulich im hiesigen Hypothekengläubiger- und Sparerschutzverein ein älterer Lehrer einen stilistisch sehr feinen, aber rein demagogisch eingestellten Vortrag hielt, bin ich allein dagegen aufgetreten und habe mir das Murren einer grossen Versammlung zugezogen; aber mich kränkte aus rein erzieherischen Gründen die Art; man sollte in erregte Massen keinen Brennstoff werfen, und je höher ein Mensch an Wissen und Herzensbildung steht, desto mehr Mässigung verlange man von ihm. Es hat Sie verletzt, hochverehrter Herr Professor, dass jener jüdische Gelehrte, dem Sie ob seines Wissens ein so hohes Lob aussprechen, so schroff gegen Sie gesprochen hat, und sie scheinen das nicht verstehen können oder nur so verstehen zu können, dass zwischen einem deutschen und einem – sagen wir: jüdischen Gelehrten klaffende Gegensätze bestehen, die sich nur aus der Rassenverschiedenheit herleiten lassen. Ich glaube, ohne jenen Gelehrten zu kennen, dass aus ihm eben das gesprochen hat, was in leider so zahlreichen Juden lebt und leben muss: die Verbitterung oder der unsagbare Schmerz über ständige Zurücksetzung und Kränkung. Das ist, was ich schon neulich gesagt habe, der Punkt, den ein nicht jüdischer Deutscher niemals voll begreifen kann, weil er vom Ausmass unsrer wahren Leiden keine Vorstellung haben kann. Vom Standpunkte des Beobachters sind solche Seelenvorgänge, diese ungeheure Resignation niemals zu erfassen noch ihre Wirkung zu messen. Aber ein Mann wie Sie mag in denkender Stunde wohl zu der Frage kommen: Wie kann sich ein von mir so hoch geschätzter Gelehrter so weit vergessen? Liegen da nicht Ursachen zu grunde, die meinem Erfahrungskreise bisher vielleicht entgangen sind? – Sehen Sie, Herr Professor, ich bin ein schlichter Mann ohne höhere Bildung, und ich denke und empfinde so. Wie muss ein Bedeutenderer fühlen und denken, der sein Bestes dem Volke gegeben hat? Der nicht antisemitisch veranlagte Deutsche ahnt niemals die Wirkungen der Feindschaft, weil er sie zu sehr aus der Theorie beurteilt und selber zu vornehm ist, ihre Niedrigkeit zu fassen. Ich habe das oft genug beobachtet und erfahren. Aber sollte es nicht gerade in den Kreisen der Hochschullehrer nicht zum Nachdenken führen und geführt haben, dass ein Mann wie Rathenau fallen musste, oder wenn man seinen Tod rein politisch erklären will, dass dann ein Albert Einstein wegen antisemitischer Treibereien Berlin und gar Deutschland verlassen musste? – Ich kenne begreiflicherweise nichts von Einstein als seinen Namen; aber dass er Gelehrter ist, kann doch nicht bestritten werden. Warum sieht man in ihm nicht den Gelehrten und sucht lieber den Juden in ihm? – Sie ahnen wahrlich nicht, Herr Professor, wie unendlich schwer dem deutschen Juden das Deutschtum gemacht wird. Sie rühmen die Richtung der Naumannianer unter den deutschen Juden an; das begreife ich sehr wohl, weil die Naumannianer, soweit ich unterrichtet bin, einen völlig nationalen Eindruck machen. Ich kenne sie nicht und habe daher kein Recht, sie zu bekämpfen. Aber das darf ich gestehen, dass es weit leichter ist, als Jude Naumannianer zu sein denn einer jener Juden, die Sie, Herr Professor, indifferent nennen. Ihr Ausdruck kränkt mich nicht, soweit ich darin den Versuch einer rein wissenschaftlichen Klassifizierung erblicke; ich führe Ihre Benennung hier also nicht etwa als Skizze an; aber das muss ich sagen, dass wir indifferenten Juden ganz anders ideal gerichtet sind, ganz anders leiden und unser Leid zu tragen verstehen und ganz gewiss auch höher dadurch geadelt werden, soweit es nicht manche hart verbittert, als jene andern, die einfach ihr Judentum zu verleugnen suchen oder die Not und

„... dass wir ausser deutsch auch noch jüdisch sind“

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Gefahren nicht sehen wollen, die sie als Juden umgibt. Wir sind nicht indifferent von Natur und sind es nicht in Wirklichkeit, so sehr der Schein gegen uns sprechen möge; wenn wir uns auf uns besinnen und uns sagen, dass wir ausser deutsch auch noch jüdisch sind, so haben uns in erster Linie unsre Gegner zu solcher inneren Spaltung getrieben. Das sollten uns die Gelehrten vor allen andern anrechnen und wirken, dass solche Zwiespältigkeit ihrer Ursache und Quelle beraubt werde. Ich will Ihnen ein ganz internes Beispiel anführen, wie man als Jude in Zweifel und Zwiespalt geraten muss. In meinem vorigen Briefe sprach ich von meinem Bruder 41 als Soldat und Krieger, und ich vertraue, Sie werden mir unbedingt glauben, dass ich einem Manne wie Sie Unlauterkeiten niemals äussern würde. Mein Bruder hat Anspruch darauf, als einer der besten Soldaten bezeichnet zu werden. Er stand ausserdem politisch mehr rechts als ich, der Demokrat ist. Man kann ihn eher zu den rein nationalen Juden rechnen, und ich habe bei meinen Begegnungen mit ihm Gespräche über Politik und Weltanschauung meist vermieden. Nun fand kürzlich ein grosses Fest seines Regiments statt, an dem er natürlich auch teilnahm. Kurz darauf wurde ihm brieflich mitgeteilt, dass es ihm verboten sei je wieder das Lokal des Regiments zu betreten, weil er Jude sei. Wie er diese, ihm als Kriegskrüppel widerfahrene Kränkung aufgenommen hat, weiss ich nicht. Er hat mir von dem ganzen Vorgang nichts geschrieben; ich weiss es durch meine Schwester 42 und kann, da mich die Verschwiegenheit bindet, ihn nicht anfragen. Aber ich frage mich, wie dieser Mann sich nun orientieren soll? – Das, Herr Professor, ist ein einziges Beispiel von der Art, wie man mit uns umgeht. Denken Sie die Wirkung solcher Rohheiten weiter aus, bitte. – Und eben weil die Judenhetze so traurige Formen angenommen hat, Formen, die der Ehre und dem Ansehen des deutschen Volkes weit mehr schaden als den Juden, eben darum bedauern wir diese Machenschaften, wir alle, die edel genug denken, […]43 mehr und des deutschen Namens als aus Eigennutz bedauern, und das ist, glaube ich, mehr als Indifferentismus gegen deutsches Wesen. Warum sollten wir Juden nicht glücklich sein, wenn das deutsche Volk, zu dem wir gehören und gehören wollen, aufsteigt? – Gäbe es eine Logik für das Gegenteil? Wenn aber Tausende jüdischer Männer und Frauen, die besten unter uns, am Aufstieg des deutschen Volkes mitarbeiten, was mit Fug nicht bestritten werden kann, dann sollte man sich hüten, solchen heiligen Eifer zu ertöten; denn ein niedergebrochenes Volk braucht jede einzelne hülfreiche und hülfsbereite Kraft, weil man hier der Kräfte nie genug haben kann. Berufen und verpflichtet zur Aufklärung der irre geleiteten Klassen, besonders der Jugend, sind alle Gebildeten, Lehrer und Geistliche vor allen andern. Und wenn ich mich an Sie wandte, hochverehrter Herr Professor, so tat ich es in geradezu kindlichem Vertrauen, dass Sie gross genug wären, unbekümmert um gelegentlich Ihnen widerfahrende Kränkung, die ganz gewiss auch nicht gewollt war, an Ihrem Teile mitzuwirken, dass dem üblen Treiben des Antisemitismus entgegengetreten werde. Zum Glück ist der Euckenbund noch nicht antisemitisch eingestellt; erst 41 Moses (Max) Plaut (1880–1942), andere Angabe: Moses (Moritz) Plaut. Vgl. dazu Juden in Thüringen (wie Anm. 6), S. 97; Descendents of Joseph Plaut, S. 65, https://doczz. net›descendents (letzter Zugriff: 18.11.2021). 42 Pauline (Paula) Weinberg, geb. Plaut (1882–1942). Vgl. Juden in Thüringen (wie Anm. 6), S. 97; Descendents of Joseph Plaut (wie Anm. 41), S. 65. 43 In der Vorlage steht hier ein nicht zu entzifferndes Wort.

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kürzlich wurde gemeldet, dass ein Nürnberger Rabbiner eingeladen sei, in der dortigen Gruppe zu sprechen.44 Der Führer dieses Bundes, Herr Professor Eucken, vermag hier unendlich viel zu leisten und segensreich zu wirken. Es ist sehr zu beklagen, dass ein grosser Teil der christlichen Geistlichkeit das edle Gebot der Nächstenliebe einseitig oder äusserlich genug auffassen, die antisemitische Hetze noch zu stärken statt zu bekämpfen, die Geistlichkeit, die zur Erziehung des Volkes berufen ist. Unter jüdischen Geistlichen ist Fanatismus eine seltene Erscheinung; frühere Zeitläufte haben mit der Gegenwart nichts zu tun; sonst könnte man auch auf allen andern Gebieten Parallele zu andern Zeiten ziehen. Wie übel aber die Judenfeindschaft in manchen Menschen wirkt und sich auswirkt, davon bietet ein Beispiel einer jener denkwürdigen Diskussionsabende, die Sie hier einst in Schmalkalden gehalten haben, Herr Professor. Sie sprachen im Anschluss an die Erörterung sozialer Probleme von einem Freunde, der eine Art Gewinnteilung mit seinen Arbeitern und Untergebenen eingerichtet habe, und liessen einfliessen, dass der Mann eine mehr links gerichtete Zeitung lese, ich weiss nicht mehr, ob eine demokratische oder eine sozialistische. Dann mischte sich der Amtsgerichtsrat Lattmann45 in die Diskussion und brachte ein ähnliches Beispiel von einem angeblichen Freunde, der aber eine antisemitsche Zeitung lese. Noch weiss ich, dass der Eindruck jenes Einwands hier sehr peinlich berührte; denn man war bei uns nicht in der Richtung eines Herrn Lattmann eingestellt. Ich erwähne das Beispiel nur, um darzutun, wie weit Vorurteil oder Hass selbst einen gebildeten Mann reissen können, der eine rein wissenschaftliche Besprechung politisch auszunützen sucht und so das Reine besudelt. Derselbe Mann hat vor einer Reihe von Jahren einen Dienst von mir angenommen, den ich umgekehrt nie von ihm angenommen haben würde, und der in Ihrem Thüringen so berüchtigte Dr. Dinder hat der Öffentlichkeit ein Buch übergeben darin die jüdische Unsittlichkeit gezeigt wird; die Sünde wider das Blut.46 Demselben Manne ist aber vor zwei Jahren am hiesigen Amtsgerichte von einem jüdischen Herrn aus Erfurt der Nachweis erbracht worden, dass sein eigenes moralisches Leben alles andere als einwandfrei sei, und der den Termin führende Herr Lattmann musste den Beweis als gelungen anerkennen. So sehen oft Theorie und Praxis verschieden aus. Leben Sie wohl Herr Professor: Ihr in vertrauender Treue ergebener Carl Plaut.

44 Der Nürnberger Rabbiner Isaak Heilbronn sprach im Rahmen einer Vortragsreihe über Immanuel Kant 1924 vor der Nürnberger Ortsgruppe des Euckenbundes. Vgl. den Ortsgruppenbericht in: Der Euckenbund. Nachrichtenblatt für die Mitglieder des Euckenbundes 5 (1924), S. 43. 45 Wilhelm Lattmann war von 1902 bis 1930 Amtsgerichtsrat in Schmalkalden. Der überzeugte Antisemit gehörte von 1908 bis 1911 dem Preußischen Abgeordnetenhaus an, war von 1911 bis 1914 Vorsitzender der Deutschsozialen Partei und von 1915 bis 1918 der Deutschvölkischen Partei. Die Deutschnationale Volkspartei vertrat er ab Oktober 1919 in der Weimarer Nationalversammlung. 46 Plaut bezieht sich hier auf den antisemitischen Roman von Artur Dinter, Die Sünde wider das Blut. Ein Zeitroman, Leipzig 1918; Leipzig 151921.

Gerhard Lingelbach

Eduard Rosenthal und die Verfassung des Landes Thüringen von 1920/1921

Die deutsche Republik hat einen ihrer schöpferisch gestaltenden Helfer verloren, das Land Thüringen den Vater seiner Verfassung, die Landesuniversität Jena einen ihrer hingebendsten Lehrer, die demokratische Partei unseres Landes ihren treusorgenden Senior und Ehrenvorsitzenden, die Stadt Jena ihren verdienten Ehrenbürger, die öffentliche Lesehalle ihren unermüdlichen Organisator und Leiter, das Bürgertum Thüringens einen seiner klügsten politischen Köpfe, die Arbeiterschaft einen warm empfindenden, sozial wirkenden Freund, die Beamten einen sich rastlos aufopfernden Berater und Bildner, das deutsche Judentum einen idealen Staatsbürger, die republikanische Jugend Deutschlands ein leuchtendes Vorbild an Selbstlosigkeit und Hingebung fürs Ganze, für Land und Volk.1

Mit diesen Worten brachte Herman Krüger2 – wie Eduard Rosenthal ebenfalls Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei – unmittelbar nach Rosenthals Tod Ende Juni 1925 Wesentliches im Schaffen und Wirken Eduard Rosenthals zum Ausdruck. Zugleich wurde zum ersten Mal in diesem Zusammenhang der Rechtsgelehrte als „Vater“ der Thüringer Verfassung von 1920 apostrophiert. Es soll an dieser Stelle angemerkt sein, dass es Ausdruck des Schicksals des Ehepaares Eduard und Clara Rosenthal ist, dass so gut wie keine privaten Aufzeichnungen, Briefbestände oder Tagebücher überliefert blieben. Auch die Jenaer Universität verfügt über keinen Gelehrtennachlass Rosenthals. Seine Frau sah 1941 im Freitod den einzigen Ausweg ihrer bedrohten Existenz. Mit diesem abrupten Verlassen eines umfänglichen Haushaltes ist wohl nach und nach auch all das, was ein Wissenschaftler und politisch Denkender wie Rosenthal an Schriftlichem im Privaten angehäuft hatte, unwiderruflich verloren gegangen. Erst die verdienstvolle Arbeit von Dietmar Ebert hat aus vielfältigen Quellen und Dokumenten ein gesamtes Lebensbild von Eduard Rosenthal und darin eingeschlossen seiner Frau Clara entstehen lassen.3

1

Nachruf auf Eduard Rosenthal auf der Titelseite im „Jenaer Volksblatt“ vom 28. Juni 1926. 2 Herman Anders Krüger (1871–1945): 1920 bis 1921 Mitglied im Thüringer Staatsrat; Abgeordneter der DDP im Landtag. 3 Dietmar Ebert, Eduard Rosenthal. Ein Charakterporträt, Dresden 2018.

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Abb. 1: Eduard Rosenthal, Aufnahme um 1910

1. Jugend und Studium Eduard Rosenthal wurde am 6. September 1853 in Würzburg als drittes von fünf Kindern des Kaufmanns Salomon Rosenthal geboren.4 Er besuchte das Gymnasium in Würzburg. Ab dem Winter 1872 nahm er das Studium der Juris­ prudenz auf – zunächst in seiner Heimatstadt Würzburg, dann in Heidelberg und Berlin. Nach dem Studium, das er mit sehr guten Examina abschloss, führte ihn sein Lebensweg wieder zurück in seine Geburtsstadt. Dort wurde der jetzt fünfundzwanzigjährige Jurist im Jahr 1878 mit einer Arbeit zur Geschichte des Eigentums und den Eigentumsverhältnissen in der Residenzstadt Würzburg zum Dr. iuris promoviert.5 Im Jahr 1881 kam Rosenthal nach Jena. Hier begann seine lange Zeit mit großen Schwierigkeiten und Widerständen gegen eine Pro4

Eintrag unter dem Vater S. Rosenthal im Einwohnermeldebogen der Stadt Würzburg, in: StadtA Würzburg (unpag.). 5 Eduard Rosenthal, Zur Geschichte des Eigenthums in der Stadt Wirzburg. Ein Beitrag zur Geschichte des Eigenthums in den deutschen Städten. Mit Urkunden, Würzburg 1878.

Eduard Rosenthal und die Verfassung des Landes Thüringen von 1920/1921

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fessur belastete akademische Laufbahn. Erst recht spät – als fast Dreiundvierzigjähriger – wurde er zum ordentlichen Professor berufen. Dabei hatte er sich bereits zwei Jahre nach seiner Promotion – im April 1880 – an der Juristischen Fakultät in Jena habilitiert und war dann dort Privatdozent.6

Abb. 2: Vater Samuel Rosenthal bürgt für seinen Sohn, 28. Februar 1881 Sein Vater, Samuel Rosenthal, verbürgte sich für seinen Sohn. Er musste, den Gebräuchen entsprechend, sich dazu verpflichten, „die zu einem standesgemäßen Leben erforderlichen Geldmittel zu erbringen, so lange derselbe als Privatdozent an der Universität Jena thätig sein wird“.7 Dies war dann über geraume Zeit der Fall.8 Seit 1880 hält Rosenthal fortan als noch junger Privatdozent regelmäßig Vorlesungen „zum deutschen Privatrecht sowie über deutsche Staatsund Rechtsgeschichte“, sie fanden „guten Anklang“, die „Achtung und Freundschaft der Mitglieder der Fakultät [ist] ihm ungeschmälert zu Theil geworden“ – wie es bereits im Antrag zur Berufung zum außerordentlichen Professor an die Universität heißt.9 In diesen ersten Jahren in Jena hat der Freitod seines Bruders als junger Gymnasiast die Familie Rosenthal erschüttert.10 Im Jahr 1885 wird Eduard Rosenthal zwar zum Professor an der Jenaer Universität berufen; aber auch dies gelang nicht ohne Widerstände, und er blieb damit weitere lange Zeit ohne Besoldung – für den nunmehr Verheirateten auch ein finanzielles Problem. Bei einer ganzen Reihe von Vakanzen an anderen Uni6

Vgl. zum Habilitationsverfahren die Akten der Juristischen Fakultät vom Jahre 1880. UAJ, Bestand K 386. 7 Vgl. Schreiben des Vaters von Rosenthal, in: UAJ, Bestand BA 413 (Personalakte Rosenthal). 8 Vgl. Personalakte, in: UAJ, Bestand D 2420 (unpag. Blätter). 9 UAJ, Bestand BA 413. 10 Vgl. Eintragung in Einwohnermeldebogen der Stadt Würzburg, a. a. O. (unpag.).

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versitäten wurde Rosenthal allein deshalb nicht berücksichtigt, da er jüdischen Glaubens und zum Konvertieren nicht bereit war.11 Mitte Oktober 1895 gab es dann eine Chance für Rosenthal; ein vakant gewordener Lehrstuhl. An der Jenaer Universität zeigte sich Widerstand gegen eine Berufung Rosenthals. Insbesondere der Universitätskurator Heinrich Eggeling hielt nunmehr energisch dagegen.12 Dabei dürfte der zu jener Zeit in Deutschland sich verstärkende Antisemitismus die Haltung der Gegner einer Berufung Rosenthals bestärkt haben. Indes behauptete sich letztlich doch die Juristische Fakultät gegenüber ihrem Kurator und den in dieser Frage zögerlichen Vertretern der vier Thüringer Herzogtümer, die die Universität finanzierten. Im Monat darauf erfolgte die Berufung Eduard Rosenthals zum Professor für Rechtswissenschaft, Staats- und Verwaltungs-, Völkerrecht und Rechtsgeschichte. Dabei befasste sich Rosenthal nicht nur mit den wichtigen Fragen der Rechtswissenschaft unter pragmatischen Gesichtspunkten, ihn zogen stets auch die grundlegenden Probleme des Rechts und der Gerechtigkeit an. Er selbst schreibt dazu: „Die moderne Staatsauffassung wurde geleitet durch zwei tiefe ethische Strömungen – religiöses Pflichtbewußtsein (praktisches Christentum – Bis­ marck) und die Idee der Gerechtigkeit, von der aus die Staatsgewalt einen Ausgleich unter den verschiedenen Gesellschaftsklassen durch Beseitigung und Milderung greller Mißstände herbeizuführen trachtet.“13

2. Der Rechtslehrer Eduard Rosenthal Seine Gestalt wurde beschrieben als schlank, sein Gang als aufrecht. Der strenge Blick vermittelte wohl auf den ersten Eindruck eine reserviert-distanzierende Vornehmheit. Die ihm näher Vertrauten spürten und suchten seine Feinfühligkeit und menschliche Wärme, bemerkten auch seine Verletzbarkeit. Seiner geistigen Ausstrahlung konnte und wollte man sich nicht entziehen; er war ein gefragter wie geselliger Mensch; die Abendrunden in seinem Haus waren gesellschaftliche Ereignisse der Stadt.14 Bei seinen Studenten war er beliebt; seine Lehre von geistiger Tiefe und rational durchdacht. Er verband geschichtliches Denken mit den Rechtsproblemen 11 Max Steinmetz (Hg.), Geschichte der Universität Jena 1548/1558–1958, 2 Bde., Jena 1958/1964, hier Bd. 1, S. 490 f. 12 Johann Ernst August Heinrich Eggeling (1838–1911), Geheimer Staatsrat, von 1884 bis 1909 Kurator der Universität; Ehrendoktor der Philosophischen, Medizinischen und Theologischen Fakultät. 13 Eduard Rosenthal, in: Hans Planitz (Hg.), Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1920, S. 243. 14 Ebert, Eduard Rosenthal, (wie Anm. 3), S. 136 f.

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jeder juristischen Ausbildung; er war als Gutachter in Rechtsfragen begehrt. Seine Vorlesungen zielten auf das Allgemeine in seiner Bedeutung für die Praxis und waren zugleich systematisch aufgebaut. Klar und lebendig vorgetragen, stets um das Verständnis seiner Hörer besorgt – so hielt es Rosenthal bis in sein 73. Lebensjahr hinein. Bewegt liest man sein Gesuch vom 29. Januar 1925, worin er um die Entbindung von seinen Vorlesungen bittet; eine Aufgabe, die er bei allen mit seinen Ämtern und wissenschaftlichen Aufgaben verbundenen Pflichten nie als Belastung empfand. Nunmehr – schon von seiner schweren Krankheit, einem Magenkarzinom, gekennzeichnet – muss er die Vorlesungen einstellen.15 Wenige Monate später – am 25. Juni 1926 – stirbt Rosenthal in Jena.16 Von seinen Kollegen, nicht nur der eigenen Fakultät, war er geachtet; er verwaltete mehrmals das Amt des Prorektors. Zwei Jahre nach seinem Tod lassen seine Professorenkollegen ein Portrait Rosenthals malen. Nur wenige Jahre nach seinem Tod wird die offizielle Erinnerung erst weniger und dann gezielt ausgeblendet. Der tragische Teil der Persönlichkeit eines Zeit seines Lebens für die Wissenschaft, für seine Universität, für seine Thüringer Wahlheimat wirkenden Menschen. Rosenthal unterhielt vielfältige Kontakte zu den Persönlichkeiten jener Zeit. Dies wird von Dietmar Ebert in seinem Charakterporträt Rosenthals ausführlich verfolgt und mit beeindruckenden Quellen belegt. Eine enge akademische wie auch persönliche Verbindung bestand zwischen Rosenthal und dem Rechtsgelehrten Heinrich Gerland.17 Dieser hielt die Rechtsvergleichung für eine grundlegende Säule eines akademischen juristischen Studiums und fand auch in dieser Frage bei Rosenthal Zustimmung und Unterstützung. Am 18. November 1914 berichtet Rosenthal Gerland über den Tod ihres in den ersten Kriegsmonaten gefallenen Sohnes. Ein Jahrzehnt danach schreibt er in seinen Lebenserinnerungen: „War der furchtbare Ausgang des Weltkrieges für jeden Deutschen ein niederschmetternder Schlag, so traf dieser meine Frau und mich mit besonderer Wucht. Hat er uns doch den einzigen Sohn geraubt, der schon am 30. Oktober 1914 westlich von Lille als Kriegsfreiwilliger gefallen war. So war auch dieses schwere Opfer umsonst gebracht.“18

15 UAJ, Bestand K 391, Bl. 787. Unter dem 28. Februar 1925 teilt das genannte zuständige Ministerium der Universität die Bestätigung seines Gesuchs mit und bittet um die – am 5. März im Senat der Universität durch den Rektor dann erfolgte – Aushändigung der entsprechenden Urkunde. Ebd., Bl. 788. 16 So ein umfänglicher Nachruf von Rudolf Hübner, Eduard Rosenthal, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germ. Abteilung 47 (1927), S. IX–XXI. 17 Heinrich Gerland (1874–1944); Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht, der sich mit Arbeiten zum englischen Recht aus rechtsvergleichender Sicht über Jena hinaus einen wissenschaftlichen Namen machte. 18 Rosenthal, Selbstdarstellungen (wie Anm. 13), S. 253.

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Abb. 3: Eduard Rosenthal, Aufnahme um 1924 Da dies für viele seinerzeit patriotisch denkende Deutsche – auch jüdische Bürger – steht, soll an dieser Stelle erinnert sein, was die Rosenthals am ersten Herbstsonntag des Jahres 1914 nach dem Verabschieden – unbewusst letztmalig – von ihrem Sohn Curd Arnold empfanden. Am Tag darauf – am 29. September – schrieb Eduard Rosenthal an Elisabeth Förster-Nietzsche: Unser Sohn, […] hat es doch zu unserer Freude durchgesetzt, daß er als Kriegsfreiwilliger in Weimar eintreten konnte. Der Junge ist glücklich, daß er mit hinaus kommt, u. es war eine Freude, die prächtige, siegessichere Stimmung der ausmarschierenden Mannschaft zu sehen.19 Auf ihrem Grundstück lässt das Ehepaar nach dessen frühem Tod einen Pavillon zum Gedenken an den Sohn errichten. Eine Gedenktafel aus Sandstein mit einem Reliefporträt des Sohnes ist – neben einem solchen seines Vaters – bis heute erhalten geblieben.20 Eduard Rosenthal stellte sich fortan noch stärker politischen Aufgaben, wurde Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Als Vertreter der Uni19 Ebert, Eduard Rosenthal (wie Anm. 3), S. 187. 20 Die Inschrift der 80 x 40 Zentimeter großen Tafel unter dem Eisernen Kreuz: „Er starb für uns in Feindesland. 30. Oktober 1914. Diene dem Ganzen – opfere Dich selbst.“

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versität saß er bereits seit 1909 im Landtag Sachsen-Weimars, nunmehr für die DDP als Abgeordneter im 1919 gewählten thüringischen Landtag. Neben den Gründen, die viele Gelehrte vor und auch nach ihm an die Stadt Jena fesselten, war es nicht zuletzt der Umstand, dass Rosenthal hier Kollegialität verspürte. Enge Verbindungen Rosenthals bestanden auch zu Heinrich Lehmann und den neu an die Universität gekommenen Kollegen Hans Fehr21 und Justus Hedemann.22 Ein weiterer Grund lag darin, dass er seinen Interessen entsprechend forschen konnte und einen engen Kontakt zu anderen Persönlichkeiten der Stadt und des Umlands aufbaute.23

3. Rosenthals Wirken im Parlament – „Vater“ der Thüringer Verfassung Der nach der Revolution im Herbst 1918 angestrebte Zusammenschluss der thüringischen Kleinstaaten zu einem gemeinsamen Staat thüringischer Stämme brachte für Eduard Rosenthal zunächst eine wichtige staatsrechtliche Aufgabe, bevor er im Jahr darauf mit der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs betraut wurde: Die Ausarbeitung eines Gemeinschaftsvertrags im Jahr 1919. Politisch war zunächst die Gemeinschaft der thüringischen Einzelstaaten das Ziel. Am 8. April 1919 war der Thüringer Landtag erstmals zusammengetreten und schuf mit dem Gesetz über die vorläufige Staatsgewalt vom 14. April und dann einen Monat später – am 16. Mai – die neue Verfassung des Freistaats Weimar-Eisenach. Beide Gesetze waren in ihren für die nachfolgende Verfassungsentwicklung maßgebenden Strukturen entscheidend durch Eduard Rosenthal ausgearbeitet.24

4. Zusammenschluss der thüringischen Staaten – Entstehung des Freistaats Thüringen Bereits im 19. und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert gab es – vor allem aus wirtschaftlichen Gründen – Bestrebungen, die thüringischen Territorien 21 Hans Adolf Fehr (1874–1961): ab 1906 Professor für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte in Jena, dann ab 1912 in Halle, Heidelberg, Bern. 22 Justus Wilhelm Hedemann (1878–1963), Professor an der Universität Jena von 1908 bis 1936. 23 Näheres dazu bei Ebert, Eduard Rosenthal, (wie Anm. 3), S. 82–92, 115–135. 24 Eduard Rosenthal, Die Entwicklung des Verfassungsrechts in den thüringischen Staaten seit November 1918 und die Bestrebungen zur Bildung eines Staates Thüringen, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts IX (1920), S. 226–244.

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Abb. 4: Brief Rosenthals an Heinrich Gerland aus Wildbad (Württemberg), 13. September 1921 (Faksimilie) unter einem staatlichen Dach zusammenzuführen; dies scheiterte am Widerstand der Monarchien. Die Regierung von Sachsen-Altenburg initiierte nunmehr den Gedanken eines engeren Zusammenschlusses der thüringischen Staaten; zuvor hatte sie mit Sachsen oder Reuß zu einer Einigung zu kommen versucht. Nunmehr – Ende März 1919 – kam es in Weimar zu einer Verwaltungskonferenz. „[D]ie Besinnung auf die gemeinsame thüringische Stammesgrundlage“25 trug das Handeln mit drei Beschlüssen: • •

Zusammenschluss der Einzelstaaten zu einem Thüringer Einheitsstaat unter Einbeziehung preußischer Gebietsteile; Beauftragung der weimarischen Regierung, mit Preußen eine Konferenz über die Möglichkeit des Anschlusses preußischer Gebietsteile zu vereinbaren;

25 Friedrich Facius, Politische Geschichte von 1828 bis 1945, in: Hans Patze/Walter Schlesinger, Geschichte Thüringens, Bd. 5, Teil 2, Köln/Wien 1984, S. 371.

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Abb. 5: Gedenktafeln für Klara und Eduard Rosenthal •

Die Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs für den thüringischen Einheitsstaat durch die weimarische Regierung innerhalb von drei Monaten.

Zwei Monate später – am 19. und 20. Mai – kamen die Regierungsvertreter der Thüringer Staaten zur ihrer zweiten „Verwaltungskonferenz“ nach Weimar, an der auch alle Landtagspräsidenten teilnahmen. Der Konferenz lagen zwei Entwürfe zu einem Gemeinschaftsvertrag vor: Zum einen der Entwurf des weimarischen Staatsminister Arnold Paulssen (SPD);26 dieser wurde in seinem Verfahrensgang als zu zeitaufwändig abgelehnt. Die Entscheidung fiel für den von dem Jenaer Abgeordneten der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), Eduard Rosenthal, gemeinsam mit dem Geraer Minister Carl Freiherr von Brandenstein ausgearbeiteten Entwurf.27 Zunächst wurde parteiübergreifend diesem vorliegenden „Gemeinschaftsvertrag über den Zusammenschluß der thüringischen Staaten“ am 20. Mai 1919 gegen die Stimmen Sachsen-Coburgs und Sachsen-Meiningens zugestimmt. – Noch zielte dieser nun mögliche Zusammenschluss auf ein Großthüringen. Sechs Thüringer Staaten stimmten rasch zu; Schwarzburg-Sondershausen stellte eine Bedingung; der Coburger Landtag wich ebenso wie Meiningen einer Stellungnahme aus. Der ins Auge gefasste Termin (1. Juli als Beginn des Gemeinschaftswerkes) war nun nicht mehr zu halten. Nachdem im Verlaufe des Sommers der preußische Widerstand gegen eine Aufgabe seiner Gebiete unverkennbar nicht zu beseitigen war, folgte die territoriale Lösung zum Freistaat Thüringen, die dann im Jahr 1920 zustande kam. In dieser Zeit der Verhandlungen schied Coburg nach einer Volksabstimmung aus. 26 Arnold Paulssen (1864–1942): 1919 bis 1921 Vorsitzender des Staatsministeriums des Freistaats Sachsen-Weimar-Eisenach. Zugleich seit 1920 Staatsminister für Volksbildung und Justiz im neu geschaffenen Land Thüringen sowie Vorsitzender der ersten Landesregierung. 27 Facius, Politische Geschichte von 1828 bis 1945 (wie Anm. 25), S. 371.

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Abb. 6: Titelseite der Gesetzsammlung für Thüringen Nr. 1: Gemeinschaftsvertrag über den Zusammenschluss Und nachdem sich der Staatsrat und der Volksrat von Thüringen allen Bedingungen beugten, trat am 1. Januar 1920 der Gemeinschaftsvertrag in Kraft. Verfassungsrechtlich notwendig war die reichsrechtliche Manifestation, die durch das Reichsgesetz vom 23. März 1920 erfolgte:28 Die verbliebenen sieben Volksstaaten – einige hielten an der Bezeichnung Freistaat fest – wurden zum 1. Mai 1920 zum Land Thüringen vereint. „Die Länder Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Reuß, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Gotha ohne das Gebiet Coburg, Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sonderhausen werden mit Wirkung vom 1. Mai 1920 zu einem Land Thüringen vereinigt.“29 Zu dieser Zeit umfasste es eine Fläche von 11.763 Quadratkilometern. Das erste Landeswap28 Reichsgesetzblatt, 1920, Teil I, S. 841. 29 Art. 1 Gemeinschaftsvertrag über den Zusammenschluß der thüringischen Staaten vom 4. Januar 1920, in: Quellen zur Geschichte Thüringens. Bd. 5: Verfassungen und Gesetze 1920–1995, bearb. von Bernhard Post, Erfurt 1995.

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pen – sieben Sterne auf rotem Grund – symbolisierte die beigetretenen Freistaaten. Zur Hauptstadt wurde Weimar. Mit der Gründung Thüringens als Freistaat 1920 wurde eine neue Verfassung für diesen Gesamtstaat notwendig. Denn Artikel 17 Absatz 1 der Reichsverfassung bestimmte, dass jedes deutsche Land sich eine freistaatliche Verfassung geben muss. Bereits Anfang des Jahres 1920 wurde dem Volksrat eine Vorlage betreffend die Vorbereitung der Verfassung des Gesamtstaates Thüringen vorgeschlagen. Dieses Schreiben, noch aus dem Dezember des Vorjahres, lautet: Weimar, 6. Dezember 1919 Der Staatsrat hält aber die sofortige Vorlage eines Verfassungsentwurfs und damit die Gründung des neuen Landes Thüringen für die dringendste Aufgabe. Er hat daher um die Ausarbeitung eines Vorentwurfs des Geheimen Justizrat Professor Dr. Rosenthal in Jena – Mitglied des Volksrates von Thüringen – bereits ersucht. Er bittet den Volksrat um Zustimmung hierzu und um Beschlussfassung […].30

Rosenthal erinnerte sich wenige Jahre später an die zeitliche Abfolge: „Ich erhielt von dem Staatsrat den Auftrag, den Entwurf einer Verfassung für das neue Land Thüringen auszuarbeiten. Diesem Auftrag erteilte der Volksrat am 23.1.1920 einmütig seine Zustimmung. Nachdem die Regierungen der thüringischen Freistaaten zu dem von mir fertiggestellten Entwurfe Stellung genommen hatten, wurde dieser im März und April unter meiner Teilnahme im Staatsrat beraten. […] Nach der Annahme der Verfassung überraschten mich die Gemeindebehörden der Stadt Jena durch Verleihung der Würde eines Ehrenbürgers.“31

Rosenthal erarbeitete in knapp einem Monat im Januar 1920 den Entwurf einer Verfassung für Thüringen. Um den Weg zu der noch fehlenden Landesverfassung – ohne Umweg über eine erneute Landesversammlung – abzukürzen, „übertrug der Volksrat von Thüringen am 28. Januar 1920 sich selbst das Recht, dem Land eine vorläufige Verfassung zu geben. Ausdrücklich behielt er dem ersten gewählten Landtag von Thüringen vor, die endgültige Verfassung zu verabschieden. Vom Reich wurde dieses Verfahren gebilligt.“32

30 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Volksrates von Thüringen, S. 9. 31 Rosenthal, Selbstdarstellungen (wie Anm. 13), S. 251 f. 32 Facius, Politische Geschichte von 1828 bis 1945 (wie Anm. 25), S. 438.

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5. Verfassung des Freistaats Thüringen von 1920/1921 – einige inhaltliche Aspekte In der Verfassungsfrage waren für Rosenthals Staatsdenken mehrere Aspekte als tragende Prinzipien prägend: „Die moderne Staatsauffassung wurde geleitet durch zwei tiefe ethische Strömungen – religiöses Pflichtbewußtsein (praktisches Christentum – Bismarck) und die Idee der Gerechtigkeit, von der aus die Staatsgewalt einen Ausgleich unter den verschiedenen Gesellschaftsklassen durch Beseitigung und Milderung greller Mißstände herbeizuführen trachtet.“

So er selbst in seinen Erinnerungen.33 Was sich in den dreiundsiebzig Artikeln der Verfassung in Normen darstellt, ist eine beachtliche konzeptionelle Leistung. Daran ändert nichts, dass im Zuge der weiteren Stufen der Verfassungsdiskussion Änderungen am Normentext vorgenommen wurden. Mit den konzipierten, grundlegenden Strukturen prägte Rosenthal durchaus die Verfassungsentwicklung in Thüringen für die nächsten Jahre. Insoweit die Verfassung Thüringens von 1946 zunächst in manchen Punkten an der Tradition der Verfassung von 1920 anzuknüpfen versuchte, wirkten auch in diesem Text verfassungsrechtliche Prinzipien aus dem Entwurf von Rosenthal nach, bevor diese Verfassung grundlegend anders gestaltet und das Land im Jahr 1952 aufgelöst wurde. Rosenthal fixierte im Grundsätzlichen die Inhalte zu Landesregierung, deren Befugnisse, die verfassungsrechtliche Stellung und Funktion des Landtags, Voraussetzungen zu den Möglichkeiten eines Volksbegehrens sowie Volksentscheids, Wesentliches zur Behördenstruktur, zu den Mitwirkungsgremien, zur Justiz, zur Landesuniversität u. a.34 Die Änderungen im Verfassungsentwurf betrafen dann durchaus wichtige, aber wenig grundlegende Ergänzungen; keine prinzipiellen Änderungen im Gesamtkonzept. So trug auch die überarbeitete Fassung des Entwurfs seine – die „Rosenthalsche“ – verfassungsrechtliche Handschrift. Der mit der abschließenden Debatte des Thüringer Landtags am 3. Mai 1920 verabschiedete Verfassungstext blieb von zwei konzeptionellen verfassungsrechtlichen Prinzipien

33 Rosenthal, Selbstdarstellungen (wie Anm. 13), S. 254. 34 Vgl. Vorläufige Verfassung des Landes Thüringen vom 12. Mai 1920, in: Gesetzsammlung für Thüringen, Jg. 1920, S. 67–74. Nach Beschlussfassung durch den Thüringer Landtag mit Gesetz über die Abänderung und Bestätigung der vorläufigen Verfassung des Landes Thüringen vom 11. März 1921 als endgültiger Verfassungstext mit einigen Veränderungen verabschiedet, in: Gesetzsammlung für Thüringen, Jg. 1921, S. 53–64.

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gekennzeichnet: Zum einen dem parlamentarisch-demokratischen Regierungssystem und zum anderen dem freiheitlichen Prinzip. Beides sind tragende Säulen der Thüringer Verfassung und waren damit Ziel und Maß des Verfassungsalltags. Auf einen Katalog staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten verzichtete Rosenthal bei dem Erarbeiten seines Entwurfs, da diese in der Weimarer Reichsverfassung verankert waren. Die dann endgültigen 73 Artikel enthielten zudem alle wesentlichen Normen für das Staatsleben; das Staatsorganisationsrecht. Mit den Strukturen prägte Rosenthal zweifelsohne die Verfassungsentwicklung und vor allem die Verfassungswirklichkeit, somit das politische Leben in Thüringen für die nächsten Jahre. An Besonderheiten musste die Übergangslage berücksichtigt sein. Aus diesem Grunde waren den beigetretenen Regierungen für 15 Jahre Befugnisse eingeräumt, die einen Ministerpräsidenten an der Spitze ausschlossen, stattdessen ein Regierungskollegium mit sieben Mitwirkenden der einstigen thüringischen Staaten notwendig machten. Am Freitag, dem 30. April 1920, vormittags 9 Uhr, begann im Fürstensaal die Sitzung des Thüringer Volksrats – des vorläufigen Landesparlaments bis zur Wahl eines Landtages. Einziger Tagesordnungspunkt: Erste Lesung des Entwurfs einer vorläufigen Verfassung des Landes Thüringen. Zur Begründung seines – in den Gremien überarbeiteten – Entwurfs erhielt der Geheime Justizrat Universitätsprofessor Dr. Eduard Rosenthal das Wort: Meine Herren! Früher, als wir noch vor kurzem zu hoffen wagen durften, ist die Geburtsstunde des neuen Thüringens herangerückt. Unsere Aufgabe ist es heute, diesem neuen Staate das Fundament zu sichern, das Fundament einer neuen volksstaatlichen Verfassung. Wenn solch ein wichtiger zukunftsreicher Schritt in der Geschichte des Landes getan wird, dann liegt es auch nahe, mit einigen kurzen Worten sich geschichtlich zu versenken in die Vergangenheit. Und da ist es gerade für die, die dem künftigen Volksstaate mit voller innerer Sympathie angehören, notwendig, daß sie sich erinnern, was die Vergangenheit dieses Landes bedeutet hat. Meine Herren! Wenn wir die Kultur des deutschen Volkes durchgehen, dann finden wir, dass in der Vergangenheit auch Thüringen, durch einsichtige Fürsten gefördert, Hervorragendes geleistet hat. Ich darf daran erinnern, meine Herren, dass kurz nach dem Dreißig jährigen Kriege Herzog Ernst der Fromme von Gotha es war, der gewissermaßen das Vorbild einer modernen Territorialverwaltung geschaffen und weit über Deutschland hinaus dadurch segensreich gewirkt hat, daß er den Gedanken der allgemeinen Schulpflicht durchgeführt und damit die Grundlage zur Bildung Deutschlands mit gelegt hat. […] Wenn man eine repräsentative Demokratie schafft, dann ergibt sich von selbst die Notwendigkeit, den Landtag in den Mittelpunkt des Staatsorganismus zu stellen, und wenn Sie die Bestimmungen, wie sie über den Landtag in unserer Verfassung enthalten sind, sich anschauen, dann werden Sie sehen, dass hier in der Tat der Landtag eine ganz andere Stellung einnimmt, als die Landtage bisher in den einzelnen Staaten, denn es ist der Träger der Souveränität jetzt in diesem Landtag gegeben, in diesem Landtag, den wir als eine Kammer aufgebaut haben. […] Eine sehr wichtige Neuerung in dem Verfassungsleben des modernen Staates ist die Einrichtung des Referendums und der Initiative. […] Der Vater des demokratischen Naturrechtes, Rousseau, sagt in sei-

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Abb. 7: Rosenthals „Die Reichsregierung“ von 1911 nem contrat social: Ein Gesetz, das nicht von allen Bürgern ratifiziert ist, ist eigentlich kein Gesetz. […] Von einiger Bedeutung ist die Bestimmung in § 59. Daß Staatsanleihen der Genehmigung des Landtages bedürfen, war allgemein immer Rechtens. Hier ist gesagt, es sollen Staatsanleihen nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken aufgenommen werden. Also, meine Herren, eine Beschränkung des Landtages selbst. Es sollen also ordentliche Ausgaben nicht durch Anleihen gedeckt werden, das ist gesunde Finanzwirtschaft, […].35

Allein die Begründung des Verfassungsentwurfs in der den Abgeordneten nunmehr zur Abstimmung vorliegenden Fassung bestätigt zum einen Rosenthals rhetorische Fähigkeiten, zum anderen aber auch dessen juristisches wie politisches Geschick, mit sachlichen Argumenten auf die in der Verfassungsdebatte aufgeworfenen Einwände einzugehen. So dürfte auch diese Rede mit zu dem 35 Protokolle über die Verhandlungen des Landtags bezw. der Gebietsvertretung von Sachsen-­Weimar-Eisenach. Bd. II. Von der 49. bis zur 103. Sitzung des Landtags (9. Oktober 1919 bis 19. Januar 1921), sowie über die 104. und 105. Sitzung der Gebietsvertretung (21. bis 23. März 1921), Weimar Hof-Buchdruckerei o. J. – 20. Sitzung des Thüringer Landtags – Weimar, Montag, den 3. Mai 1920 Nachmittagssitzung.

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Abstimmungsergebnis am Ende beigetragen haben. Sie belegt in vielen Passagen zugleich die Bildung Rosenthals, seine juristische Brillanz, wie sie sein geschichtliches Verständnis und Denken offenbart. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle: Von und mit ihm wurden Verfassungsinstitutionen in eine Verfassung eingebunden, deren Inhalt – verallgemeinert – mit diesen Momenten ausgestellt sein sollen: • •

Eine freiheitliche Ordnung – auch der Wirtschaftsverfassung – als Grundlage; eine repräsentative Demokratie mit einem wohldurchdachten, anpassungsfähigen Instrumentarium der politischen Willensbildung für das staatlich-­ politische Leben eines Landes, wie es Thüringen innerhalb des Reiches während der Weimarer Republik war;

Abb. 8: Titelseite (Auszug) des Gesetzes über die endgültige Thüringer Verfassung vom 11. März 1921 • • • •

rechtsstaatliche Strukturen; ein demokratisches Gesetzgebungsverfahren; ein geordnetes Finanzsystem mit parlamentarischer Kontrolle; ein modernes Bildungssystem mit der Landesuniversität als höchster, nunmehr vom Land getragener Bildungsstätte.

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Im so zustande gekommenen Thüringer Freistaat war der Weg frei für eine endgültige Landesverfassung. Sie lag mit Rosenthals Entwurf vor und wurde im Frühjahr 1920 vom Thüringischen Staatsrat beraten und am 12. Mai jenes Jahres als Vorläufige Verfassung des Landes Thüringen mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit angenommen und am gleichen Tag verkündet. Daraus ging dann am 11. März 1921 – nachdem Wahlen zum Thüringer Landtag erfolgt waren – die endgültige Verfassung des Landes Thüringen hervor. Ein neues Land im Deutschen Reich, wie es mit dem thüringischen Gesamtstaat angestrebt war, konnte nach der Reichsverfassung nur vom Reich selbst gebildet werden. Dies erfolgte durch den Reichstag am 23. April 1920. De jure besaß die Verfassung von 1921 bis zur Verabschiedung einer neuen Landesverfassung am 20. Dezember 1946 Gültigkeit. De facto verlor die Verfassung ihre Funktion mit der Einführung des Gesetzes zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich am 31. März 1933. Eduard Rosenthal war auch in dem neu gewählten Landtag drei Jahre als Abgeordneter außerordentlich engagiert und stritt für die Umsetzung der Verfassungsinhalte in die Verfassungswirklichkeit. Am 12. Februar 1924 verzichtete er auf sein Landtagsmandat. Den Grund nannte er ausdrücklich mit dem unerträglichen Ton der Landtagsverhandlungen, der Tiefstand des parlamentarischen Verkehrs lähmt alle Arbeitsfreude.36 Hinter seiner verfassungspraktischen wie verfassungstheoretischen Arbeit in den Nachkriegsjahren und den damit verbundenen Leistungen verblasst oftmals vieles andere, was ihn als produktiven Wissenschaftler auszeichnete. Rosenthal hatte maßgeblichen Anteil an den theoretischen und praktischen Vorarbeiten zu einer Landesverwaltungsordnung,37 die innerhalb des Reiches und darüber hinaus zu den modernsten ihrer Zeit gehörte. Thüringen wurde auch in diesem Zusammenhang in der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur immer herausgehoben. Diese moderne Verwaltungsordnung wurde im Todesjahr Rosenthals erst verabschiedet, seine Leistungen dabei wohl bisher zu sehr vergessen.

6. Juristischer Berater Ernst Abbes – Rosenthals soziale Vorstellungen Eduard Rosenthal hat zu Abbes rechtlichem Denken und seinen Entscheidungen, die juristische Fragen betrafen, durch den immer enger werdenden Kontakt mit dem Unternehmer Maßgebliches beigesteuert. Das von Julius Pierstorff38 und Siegfried Czapski39 verfasste erste Stiftungsstatut für die von Abbe errich36 Zitiert nach Herbert Koch, Geschichte der Stadt Jena, Nachdruck Jena u. a. 1996, S. 350. 37 Landesverwaltungsordnung vom 10. Juni 1926, in: Gesetzessammlung für Thüringen, Jg. 1926, S. 177–189. 38 Julius Pierstorff (1851–1926): Professor der Staatswissenschaften an der Jenaer Universität; bedeutender Nationalökonom. 39 Siegfried Czapski (1861–1907): Physiker, Berater Ernst Abbes.

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tete Carl-Zeiss-Stiftung wurde vor seiner endgültigen Festlegung und Veröffentlichung für die Belegschaft des Unternehmens im Jahr 1896 durch Rosenthal mit überarbeitet. – Neben der fachlichen Reputation, die Rosenthal zu einem der angesehenen Juristen der Stadt machte, waren es diese freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem Unternehmer Abbe und dem Universitätslehrer Rosenthal, die mit dazu führten, dass Abbe ihn zu Rechtsfragen heranzog. Die Rede Rosenthals zum 5. Todestag Abbes belegt, wie gründlich er die Auffassungen Abbes durchdrungen und mit seinem juristischen Wissen zum Durchsetzen der Stiftungsziele beigetragen hatte.40 Nach dem Tod von Ernst Abbe 1905 wurde das Statut von Rosenthal weiter überarbeitet, wobei er die Bestimmungen mit den Intentionen Abbes präzisierte. Mit Ernst Abbe eng befreundet, gehörte Rosenthal zu den Fakultäts- und Senatsmitgliedern, die mit Nachdruck eine Ehrenpromotion Ernst Abbes durch die Juristische Fakultät der Universität unterstützten. Zugleich trat Rosenthals für eine prinzipiell enge Verbindung von Wirtschaft und Recht ein. Dahinter stand auch sein Bemühen, der Jenaer Universität wieder zu einem glanzvollen Namen zu verhelfen. Er hatte die Gründung des im Jahr 1913 in Jena ins Leben gerufenen Vereins Recht und Wirtschaft befördert, der dann vor allem während des Weltkrieges wirkte.41 Dahinter stand das grundlegende Konzept einer stärkeren Verbindung von Theorie und Praxis. In der Jenenser Fakultät, die sich schon seit langen Jahren in dieser Richtung betätigt hat und in der auch die anderen Mitglieder den Fragen des Wirtschaftslebens lebhaftes Interesse entgegenbringen [sind] Kräfte vorhanden, die den Erfolg eines wirtschaftsrechtlichen Instituts gewährleisten dürften.42 In einer bis heute lesenswerten Denkschrift von Anfang der zwanziger Jahre hat Rosenthal die Grundsatzung eines solchen – damals nirgends existierenden – Instituts verfasst und dessen Ziele und Motive niedergelegt.

7. Der kulturvolle Stadtbürger Rosenthal gehörte mit anderen namhaften Vertretern der Stadt Jena zu den Gründungsmitgliedern des Jenaer Kunstvereins.43 An der Erarbeitung dieser 40 Eduard Rosenthal, Ernst Abbe und seine Auffassung von Staat und Recht. Rede bei der von der Universität Jena veranstalteten Gedächtnisfeier am 6. Februar 1910, Jena 1910. 41 Walter Bayer/Gerhard Lingelbach (Hg.), 100 Jahre Wirtschaftsrecht, Jena 2015. 42 Denkschrift Eduard Rosenthals zur Modernisierung der Rechtsausbildung und des Rechtslebens, in: Archiv der Zeiss-GmbH Jena. 43 Volker Wahl, Jena als Kunststadt. Begegnungen mit der modernen Kunst in der thüringischen Universitätsstadt zwischen 1900 und 1933. Leipzig 1988, S. 130–147: „Kunstkämpfe“ in Jena. Die Entstehung des Abbe-Denkmals von Henry van de Velde, Max Klinger und Constantin Meunier.

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Abb. 9: Rosenthals Rede zur Gedenkfeier für Ernst Abbe Satzung war er, der Jurist Rosenthal, maßgeblich beteiligt, wie er auch sonst „einer der eifrigsten Förderer dieses Projekts“ war.44 Rosenthal warb für den künftigen Kunstverein und ersuchte Bürger der Stadt Jena um deren Zeichnung als Gründungmitglied. Dabei setzte der Verein auf die allgemein positive Ausstrahlung des kunstsinnigen Universitätsprofessors. Dieser hatte fünf Jahre zuvor eine repräsentative Villa errichten lassen, die rasch zu einem Zentrum geselliger und geistig anspruchsvoller Runden geworden war. Eine Anerkennung erfuhr Rosenthal in diesem Zusammenhang, dass die Stadt und das Unternehmen Zeiss ihm die Gedenkrede bei der Einweihung des auch künstlerisch viel beachteten Denkmals für seinen verstorbenen Freund Ernst Abbe übertrugen. Architektonisch gestaltet wurde es von dem belgischen Architekten Henry van de Velde.

44 Ebd., S. 18.

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Als Henry van der Velde45 den Entwurf zu einem Denkmal für den vier Jahre zuvor verstorbenen Ernst Abbe vorgelegt hatte und das Denkmalkomitee nun um Gelder für die Umsetzung des Modells warb, gehörte zu den rund 100.000 Mark, die notwendig waren, auch eine Teilsumme aus dem Erlös des Verkaufs einer Broschüre mit der bereits erwähnten Rede von Rosenthal auf der akademischen Gedächtnisfeier für Ernst Abbe am 6. Februar 1910.46 Bei der Weihe des Denkmals am 30. Juli 1911 wiederum hielt Rosenthal – in Anwesenheit von Henry van der Velde und Max Klinger47 – die Gedenkrede auf Ernst Abbe.48 Im Jahr 1919 gründete er mit anderen den beispielgebenden Volkshochschul-­ Verein in Jena.49 Auf Rosenthal geht auch die Gründung der Thüringer Verwaltungsakademie im Jahr 1925 – eine fortan viel beachtete Anstalt – zurück. Die Jenaer Baugenossenschaft hatte in ihm ihren juristischen Berater. Und: Lange Zeit hatte er den Vorsitz im Thüringischen Verein für Geschichte und Altertumskunde. Rosenthal engagierte sich für die Gründer der Gesellschaft der Freunde der Thüringischen Landesuniversität Jena, mit deren Hilfe Universitäten und Hochschulen zusätzliche Mittel erlangen sollten und dann auch erlangten.50 Nicht zu vergessen ist darüber hinaus ebenso sein Wirken als Vorsitzender der Thüringischen Historischen Kommission seit dem Jahr 1902. Für all das beschloss die Universität im Jahr 1928 eine posthume Ehrung Rosenthals. Dies war Anlass, in der Tradition der Professorengemälde vergangener Jahrhunderte, ein Gemälde von Eduard Rosenthal in Auftrag zu geben, das heißt seine Professorenkollegen ließen ein Porträt Rosenthals malen. Man übertrug dem über den Jenaer Kunstverein bekannt gewordenen Münchener Maler Raffael Schuster-Woldan diese Aufgabe.51 Das angefertigte Bild hing bis zum Jahr 1933 im Zimmer der Rektoren; nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde es in ein Zimmer der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät verbracht, um dann – auf die Intervention des Rektors Esau hin – im Keller der Universität deponiert zu werden. Seither ist es verschollen. Postmortaler Umgang mit einem der bedeutenden Gelehrten der Universität und dem „Vater“ der Thüringer Verfassung.

45 Henry van der Velde (1863–1957): Gründete 1901 in Weimar die Kunstgewerbeschule, ab 1925 Professor an der Universität Gent. 46 Rosenthal, Ernst Abbe und seine Auffassung von Staat und Recht (wie Anm. 40). 47 Max Klinger (1857–1920): Bildhauer, Maler und Grafiker. 48 Jenaer Zeitung vom 1. August 1911, S. 1. 49 Alma mater Jenensis. Geschichte der Universität Jena, a. a. O., S. 256. 50 Vgl. Geschichte der Universität Jena, Bd. 1 (wie Anm. 11), S. 566 f. 51 Raffael Schuster-Woldan (1870–1951): Maler und Professor an der Preußischen Akademie der Künste.

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8. Die Eheleute Rosenthal und ihr Stifterwille Im August 1885 heirateten Eduard Rosenthal und die zwölf Jahre jüngere Fanny Clara Ellstaetter, Tochter eines jüdischen Karlsruher Kaufmanns. Im Jahr 1892 erwarben sie ein Grundstück in Jena und ließen darauf eine geräumige Villa errichten. Die Villa entwickelte sich bald zu einem kulturellen Mittelpunkt. Sie wurde zu einem Ort für geistigen Austausch in angenehmer Atmosphäre. Mit seiner Anerkennung als Gelehrter durch seine Arbeiten zu den modernen Rechtsdisziplinen über die thüringische Universitätsstadt hinaus war Rosenthal zufrieden; bei Rosenthals traf sich seit Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts die geistige Elite dieser Stadt. In der seinerzeit 30.000 Einwohner zählenden Universitätsstadt fühlte sich der Rechtslehrer mit seiner Frau wohl. Die Rosenthals gehörten längst mit zu den angesehenen Bürgern dieser Stadt. Er selbst war Vorsitzender des Lesevereins, den er 1896 mit einer Lesehalle im von Abbe errichteten Volkshaus ins Leben gerufen hatte. Im Dezember 1903 gehörte er zu den Gründungmitgliedern des Jenaer Kunstvereins, dessen Vorsitz für die ersten vier Jahre in seiner Verantwortung lag. Mit den vom Verein veranstalteten Ausstellungen moderner Kunst wurde nunmehr auch Jena zu einem Zentrum der Avantgarde in Deutschland. Die Verbundenheit der Rosenthals mit der Stadt zeigte sich auch im gemeinsamen Testament der Eheleute von 1924. Unter dem 3. August 1924 errichteten Eduard Rosenthal und seine Ehefrau ihr Testament. Sie verfügten darin letztwillig, dass die Villa nach dem Tod des Letztversterbenden auf die Stadt übergehen sollte. Die Stadt sollte das Haus und den Garten pflegen und öffentlich zugänglich machen, die Villa für Ausstellungen und Ähnliches nutzen. Zum Nacherben des Überlebenden setzten sie die Thüringische Landesuniversität Jena ein, mit der Pflicht zum Erfüllen von Vermächtnissen. Diese bestimmten, dass 5.000 Mark für eine Stiftung, die gleiche Summe für den Neffen Rosenthals, ferner eine Rente für eine öffentliche Lesehalle in Jena und der dann noch verbleibende Rest der benannten Stiftung zugeschlagen werden sollten.52 Nach dem Willen der beiden Rosenthals sollte der Ertrag dieser Stiftung einem hochbegabten Studierenden der Rechts- oder Wirtschaftswissenschaft zur Verfügung gestellt werden, um ihm […] eine besonders tüchtige Fachausbildung zu ermöglichen. Aber – für die Zeitverhältnisse der Jahre nach der exorbitanten Inflation nicht ungewöhnlich – das erstrebte Wirken Rosenthals wurde durch die Vermögensverluste geschmälert. Dieses Vermächtnis konnte durch die Geldentwertung in der Großen Inflation, aber auch durch die Aufwendungen, die Clara Rosenthal für den Zusammenhalt des Lebenswerkes betreiben musste, nicht verwirklicht werden. 52 Gemeinschaftliches Testament der Eheleute Eduard und Clara Rosenthal vom 3. August 1924. Abschrift in: UAJ, Bestand BA 1710.

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Abb. 10: Nachruf auf Rosenthal, Jenaer Volksblatt vom 26. Juni 1926 Am 20. Juli 1926 – so die Akteneintragung – erschien die Witwe des Geheimrats Rosenthal vor dem Jenaer Amtsgericht und gab eine ergänzende letztwillige Verfügung ab. In einem Nachtrag anlässlich der Testamentseröffnung ist zu lesen: Der Wert des Nachlasses wird später angegeben. Ich bitte darum, dem Neffen meines Mannes […] sowie dem Lesehallenverein keine Nachricht von dem Testament zukommen zu lassen, damit bei diesen Beteiligten keine Hoffnungen erweckt werden, die, wie bereits heute feststeht, sich nicht erfüllen lassen. [gez.] Clara Rosenthal geb. Ellstaetter 53

Als Eduard Rosenthal starb, ließ seine Frau zur Erinnerung an ihn ein Medaillon anfertigen, das heute noch im kleinen Tempel der Familie auf dem Grundstück der Villa Rosenthal zu finden ist. Sie wohnte nun allein in der Villa. Im August 1929 übergab sie das Grundstück vorzeitig an die Stadt. In dem Übernahmevertrag sicherte die Stadt Jena zu, die Villa mit allen anfallenden Nebenkosten zu übernehmen und räumte Clara Rosenthal ein lebenslanges Wohnrecht 53 Vgl. Akte der Clara- und Eduard-Rosenthal-Stiftung, in: UAJ, Bestand K 401.

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ein. Wenige Jahre später wurde sie vom seinerzeitigen Oberbürgermeister aus dem Haus zu drängen versucht. Einzig die nach dem Vertrag dann von der Stadt wieder an Clara Rosenthal auszuzahlenden 10.000 Reichsmark verhinderten dies. Letztlich hielt Clara Rosenthal den Druck in der nationalsozialistischen Zeit nicht aus und schied 1941 durch Freitod aus dem Leben.54 Die Universität ehrte Rosenthal im Jahr 1923 mit einem Ehrendoktorat zum Dr. h. c. rerum politicarum sowie mit einer Festschrift.55 Sowohl die Stadt Weimar als auch die Stadt Jena erinnern mit einer nach ihm benannten Straße an Eduard Rosenthal als „Vater“ der Thüringer Verfassung; Jena zudem an seinen Ehrenbürger. An der Villa Rosenthal wurde eine für Jenaer Persönlichkeiten übliche Gedenktafel angebracht; ein Stolperstein für Clara Rosenthal befindet sich auf der Straße dorthin. Im Jahr 2020 wurde ein dezentrales Denkmal für Rosenthal errichtet.56 Auf dem von seiner Frau erstellten Medaillon mit dem Porträtrelief setzte Clara Rosenthal als Inschrift eine Sentenz, die für den Menschen Eduard Rosenthal steht: Gütig dem Einzelnen helfend Schlug für Alle sein Herz

54 Zur Bestattung der beiden Rosenthals bleiben die folgenden nüchternen Daten: Eduard Rosenthal, geb. 6.9.1853 in Würzburg, verst. 25.6.1926 in Jena, Magenkrebs, Sterberegister Nr. 472, eingetragen am 26.6.1926; Verbrennung: am 28.6.1926, 16.00 Uhr in Jena – Register Nr. 7962; Urne: am 3.8.1926 durch Famulus W. Krüger abgeholt. Clara (Klara, Sarah) Rosenthal, geb. Ellstaetter, geboren 9.4.1863 in Karlsruhe; gestorben am 11.11.1941 in Jena, Suizid (Veronal); Verbrennung am 15.11.1941, 11.30 Uhr in Jena; Urne am 6.5.1942 an die Friedhofsverwaltung Karlsruhe überstellt. 55 Juristische Fakultät der Universität Jena (Hg.), Festschrift für Eduard Rosenthal zu seinem siebzigsten Geburtstag, Jena 1923. 56 Verena Krieger/Jonas Zipf (Hg.), Erkundungsbohrungen. Ein dezentrales Denkmal für Eduard Rosenthal. Botho Graef Kunstpreis Jena, Jena 2020.

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Abb. 11: Gedenktafel für Eduard Rosenthal, Pavillon Villa Rosenthal

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Uwe Rossbach/Judy Slivi

Juden und Jüdinnen in der Thüringer Arbeiterbewegung Zur Dokumentation eines Ausstellungsprojektes

1. Der Projekthintergrund Das Projekt versteht sich als ein Baustein des Gedenkens an 900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen. Sein Anliegen ist es, die Erinnerung an die Vielfalt des jüdischen Lebens um eine wichtige, vielfach verdrängte oder vergessene Tradition zu ergänzen. Nicht nur das religiöse Leben bestimmte die jüdische Existenz, sondern gerade auch eine universalistische und säkulare Tradition. Sie wurde besonders sichtbar vertreten von den Menschen jüdischer Herkunft, die sich in vielfältiger Weise in und im Umfeld der im 19. Jahrhundert entstehenden Arbeiterbewegung engagierten. Anhand von individuellen Biographien wird aufgewiesen, wie diese Vielfalt sich darstellte, welche Bezüge sie zur Gesamtgesellschaft aufwies, welche historischen Ereignisse und Rahmenbedingungen existierten, in welchen kulturellen und sozialen Kontexten sie wirksam wurde und zu welchen Kontroversen sie zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den über lange Zeit gemeinsam ausgegrenzten Menschen jüdischer Herkunft, proletarischer Emanzipation und politischer Organisierung im Umfeld der Arbeiterbewegung führte. Bei den Kontroversen spielte die Unterdrückung im Wilhelminischen Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts eine ebenso große, wie der schon seit den 1870er Jahren beginnende neue „politische Antisemitismus“ (Paul W. Massing) eine entscheidende Rolle. Dieser richtete sich gegen die damalige Sozialdemokratie und gleichzeitig gegen die Juden. Dessen schubweise Radikalisierung – im und v. a. nach dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution 1917 – war ein Baustein auf dem Weg der Nationalsozialisten zur Macht, zur Entfesselung eines zweiten Weltkriegs und der Shoah. Die organisierte demokratische Arbeiterbewegung und die Menschen jüdischer Herkunft waren die ersten Opfer der nationalsozialistischen Diktatur. An diesen Zusammenhang soll erinnert und daran gemahnt werden, dass frühzeitige Wachsamkeit gegenüber dem sich ausbreitenden Antisemitismus, an der es nicht gefehlt hatte, nicht ausreichte. Ein besonderes Augenmerk wird darauf gerichtet sein, dass auch die soziale Position und Klassenlage der Arbeitnehmer:innen in der Gesellschaft keinen hinreichenden Schutz vor Verschwörungsideologien und rassistischen Weltbildern boten, die keineswegs vor Klassenschranken Halt machen.

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Soweit ein Einblick in ein ambitioniertes Projektprogramm, das, so müssen wir derzeit selbstkritisch sagen, nicht in allen Facetten realisiert werden konnte.

2. Erinnerungsarbeit und historisch-politische Bildung Historisch-politische Bildung steht vor der Herausforderung, den Teilnehmenden historische Sachverhalte zu vermitteln, die sie bislang nicht kennen oder diese in einem übergreifenden historischen oder aktuellen Kontext nahezubringen, um sie diskussionsfähig zu machen. Begriffsklärung, Kontextualisierung, Historisierung und Aktualisierung sind geläufige Methoden, die hierfür geeignet sind. Im Projekt wird die Ausstellung genutzt, für alle Teilnehmenden einen inhaltlichen Bezugspunkt herzustellen. Daneben bildet die Ausstellung auch den größeren Rahmen und Anlass, über einzelne Fragestellungen aus den Ausstellungsinhalten in eine moderierte Diskussion zu kommen. Ein weiterer Anreiz besteht darin, sowohl den lokalen Bezug der vorgestellten Personen, Institutionen und Ereignisse herzustellen und politisch aktuelle und historisch bedeutsame Themen diskussionsfähig zu machen. Das kann dazu dienen, „verdrängte Geschichte“ dem Vergessen zu entreißen und das kollektive Gedächtnis mit neuen oder anderen als den stereotypen Geschichtsnarrativen des Alltagsverstandes anzureichern. Dies ist umso nötiger, weil sowohl „Juden, Judentum und Menschen jüdischer Herkunft“ sowie „die Arbeiterbewegung“ mit einem mythischen Schleier umgeben sind, der häufig wenig mit den handelnden Menschen und ihren Schicksalen, den Organisationen als homogenen Kollektivsubjekten, den wahrgenommenen Zwangslagen und den nicht sichtbaren Handlungsalternativen zu tun hat. Dass im Mittelpunkt der lokalen Präsentationen jeweils Personen stehen, soll nicht zur Personalisierung anregen, sondern die Möglichkeit eröffnen, exemplarisch fundierte Differenzierungen vornehmen zu können. Dem kommt zupass, dass die in der Ausstellung präsentierten Personen nun gerade nicht jene sind, die überwiegend im Fokus des öffentlichen Interesses der Geschichtswissenschaft oder der politischen Bildung standen. Also eher „einfache Leute“, mittlere Funktionäre, die aber schon so herausgehoben waren, dass sie in leicht zugänglichen Quellen auffindbar waren. Die Konzentration richtete sich auf ihr politisches Wirken in Thüringen, dies musste sichtbar sein. Das führte auch dazu, dass eine für das Thema exzellent geeignete Persönlichkeit wie Alexander Helphand (Pseudonym Parvus) nicht mit aufgenommen wurde, obwohl er vor dem ersten Weltkrieg wohl eine kurze Zeit in Gera lebte.1 1

Winfried B. Scharlau/Zbynek A. Zeman, Freibeuter der Revolution. Parvus-Helphand. Eine politische Biographie, Köln 1964, S. 58.

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Parvus bot eine ideale Projektionsfläche für Verschwörungsideologien nach der Art des „jüdisch-kapitalistischen Bolschewismus“, wie sie in der Weimarer Republik massenhaft Verbreitung fanden. Allerdings hatte er nicht wirklich in Thüringen eine politische Rolle gespielt. Ähnlich musste mit dem Komplex „Loeb-Maerker-Frieders“ verfahren werden, allerdings aus anderen Gründen. Bislang liegt eine historisch gesicherte Darstellung dieses Skandals im Thüringen der frühen zwanziger Jahre nicht vor. Gleichwohl ergibt sich schon bei oberflächlicher Sichtung sekundärer Quellen ein Forschungsbedarf, der gerade auch die historisch-politische Bildung befruchten könnte.2 Aus der Darstellung des Lebens von Alfred Maerker, den wir zunächst in den Fokus genommen hatten, ergaben sich Fragen, die mit den beschränkten Mitteln eines historisch-politischen Bildungs- und Ausstellungsprojekts nicht realisierbar gewesen wären.3

3. Zur Ausstellungspraxis Die ersten Erfahrungen mit der Ausstellung im Jahr 2021 sind hochambivalent. Während es in einem vorangegangenen Projekt „Nur hundert Jahre – Die Aktualität von Frauenwahlrecht und Frauenpolitik“4 relativ leicht gelang, die Ausstellung als Anlass für Bildungsveranstaltungen zum Themenfeld Frauenemanzipation zu nutzen, ist dies beim Themenfeld „Jüdisches Leben/Arbeiterbewegung“ deutlich schwieriger. Das Thema selbst ist trotz der hohen Aufmerksamkeit in der öffentlichen Gedenkkultur eher randständig, kann sich auf keinen lebendigen Gedenkdiskurs beziehen. Ebenso wenig auf eine lebendige Geschichts- und Erinnerungskultur jener Organisationen, die ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung und -kultur haben. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Dazu einige Hypothesen, die aus den Diskurserfahrungen im Rahmen der aktuellen Ausstellungspräsentation herrühren, aber durchaus auch langjährigeren Erfahrungen geschuldet sind. Auf der einen Seite dominiert noch immer das Stigma der Identifizierung der gesamten Arbeiterbewegung mit dem DDR-System bzw. mit dessen eigenem Narrativ, dass die DDR gewissermaßen das Resultat der Wirkung der Arbeiterbewegung auf deutschem Boden gewesen sei. Auf der anderen Seite verblasst zunehmend das gelernte Wissen selbst um dieses 2 3 4

Hinweise zu Walther Loeb im Exil in Großbritannien finden sich bei: Jörg Später, Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902–1945, Göttingen 2003. Dankenswerterweise wird sich mit dem „Thüringer Landesbankenskandal“ und seinen Verästelungen Dr. Reinhold Brunner aus Eisenach ausführlicher beschäftigten. Ihm verdanken wir auch die Darstellung des Lebens von Alfred Maerker. Die Ausstellung beschäftigte sich mit den ersten Kommunalpolitikerinnen in Thüringen in Arbeiterräten und Stadtparlamenten 1918 bis 1933.

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Narrativ oder besser gesagt: um dessen zentrale politisch-historische Fixpunkte. Alternative Fixpunkte sind kaum auszumachen. Eine jüngere Generation von Teilnehmenden, wenn sie erreicht werden kann, tritt wiederum bisweilen sehr viel unbefangener, aber auch eben vielfach distanzloser dem Themenfeld gegenüber, zum Teil mit großem Interesse, aber häufig ohne erkennbaren Bestand an historisch-politischer Bildung zur deutschen Gesellschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Exemplarisch artikulierte dies ein Teilnehmer folgendermaßen anlässlich eines biographischen Vortrags: „Das war ja ein Gang durch die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung“.

4. Welche Inhalte standen im Zentrum? Jüdisches Leben hat in Deutschland eine lange Tradition. Infolge der Besetzung heutiger deutscher Gebiete durch das römische Imperium wird erstmals eine jüdische Bevölkerung urkundlich 321 erwähnt. Das heutige Thüringen lag geographisch außerhalb des römischen Imperiums, so dass historisch nachweisbar erst sehr viel später von Jüdinnen und Juden in Thüringen die Rede sein kann. Mit dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft im Deutschland des 19. Jahrhunderts, infolge der Französischen Revolution und der auf deutschem Gebiet stattfindenden Doppelrevolution (Wehler) – industrielle und politische kulminierend 1848 – beginnt ein neuer Abschnitt des Emanzipationsprozesses von Juden und nun auch von Arbeitern und Arbeiterinnen. Hatten die Französische Revolution und die napoleonischen Eroberungszüge bereits in den besetzten deutschen Gebieten die Gleichstellung jüdischer Bürger:innen ergeben, nahm die folgende Restaurationszeit diese partiell wieder zurück. Bis zur völligen rechtlichen Gleichstellung mussten noch viele Jahrzehnte vergehen. Ähnlich verhielt es sich mit den Arbeitern und Arbeiterinnen. Erst die diesbezüglich sehr erfolgreiche Novemberrevolution und in deren Folge die Weimarer Reichsverfassung von 1919 gewährte „den Proletariern“ gleiche Bürgerrechte. Juden wie Arbeiter kämpften parallel – manchmal auch gemeinsam – für „ihre“ Emanzipation. Sozial, kulturell und politisch benachteiligt durch die herrschenden Verhältnisse und deren politische Repräsentanten war es für viele Juden naheliegend, sich mit der entstehenden Arbeiterbewegung zu solidarisieren und in ihren Reihen politisch wirksam zu werden. Das gemeinsame Emanzipationsbestreben bezog sich auf eine Gesellschaftsveränderung, die eine neue Sozialordnung ebenso umfasste wie eine gleichberechtigte Teilhabe an der politischen Entscheidungsbildung. Über lange Jahre hinweg bezog sich dieser Emanzipationskampf auf die deutsche Gesellschaft, die deutsche Nation. Auch wenn die Arbeiterbewegung sich überwiegend als programmatisch internationalistisch betrachtete, ihr Handlungsfeld war natio-

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nal. Zudem war die Arbeiterbewegung in ihrem jüdische Mitglieder anziehenden sozialistischen Teil säkular orientiert. Religion galt als Privatsache und wurde eher belächelt als demonstrativ gepflegt. „Parteibuch mit Kippa“, wie es die SPD-Zeitschrift „Vorwärts“ 2007 angesichts der Gründung einer innersozialdemokratischen jüdischen Organisation vermerkte, wäre noch im 19. Jahrhundert wohl eher als esoterisch wahrgenommen worden. Heutzutage ein „böses Wort“ galt noch vor 150 Jahren Assimilation nicht als stigmatisierend, sondern eher als ein Erfolgskonzept. Der zwanghafte Übertritt zu einer christlichen Religionsgemeinschaft – meist der evangelischen –, wie es noch Karl Marx’ Vater vollzog, war zunehmend eine vergangene Praxis, um in der bürgerlichen Gesellschaft Anerkennung zu finden. Dies war bis ins frühe 19. Jahrhundert der bürgerliche bzw. kleinbürgerliche Weg in die christliche Mehrheitsgesellschaft. Später war der Emanzipationserfolg der Juden in Deutschland aber weit weniger daran geknüpft, sich das Eintrittsbillet in die gutbürgerliche Gesellschaft durch Konversion zu verschaffen. Hier galt zunehmend der soziale und wirtschaftliche Erfolg als ausschlaggebend, ein Weg, den viele jüdische Familien beschritten. Wir verfügen seit geraumer Zeit über umfangreiches Wissen über „die Juden“, besser: Menschen jüdischer Herkunft in der deutschen Arbeiterbewegung. Das gilt nicht unbedingt für Thüringen. Zwar ist hier auch ein profundes Wissen über die wichtigsten Aktivist:innen jüdischer Herkunft in der Arbeiterbewegung vorhanden, weil Thüringen aber nicht im Zentrum der Arbeiterbewe­ gungsgeschichte stand, sind die in Thüringen handelnden Personen weniger bekannt. Vielleicht auch deshalb ist ihrer bisher in populärer Art und Weise auch kaum gedacht worden, verblieben ihre Biographien eher im Dunkeln. Sie waren allesamt keine „Matador:innen“ der berühmten „Thüringer Parteitage“ in Eisenach, Gotha und Erfurt. Ohne die verdienstvolle engagierte Arbeit einer Reihe Thüringer Regionalhistoriker:innen hätte das Projekt überhaupt nicht stattfinden können.5 Aus Perspektive der politischen Bildung hat sich daraus eine fruchtbare Kooperation entwickelt, die noch vielfältige Erweiterungen in den nächsten Jahren ermöglichen könnte. Dem kleinen Projektteam bei Arbeit und Leben Thüringen standen gar nicht die Ressourcen zur Verfügung, das gesamte Themenfeld, das der Projektantrag im Sonderprogramm „Denk Bunt: 900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen“ umriss, zu realisieren. Vor allem aber war es die Mitwirkung vieler dieser oft ehrenamtlichen Historiker:innen, die vielfach die Grundlage dafür lieferten, dass neue und andere projektspezifische Fragestellungen entwickelt werden konnten. Immer stärker gruppierte sich das Projekt um die Biographien 5

Jörg Kaps und Dr. Monika Gibas (Arnstadt), Dr. Reinhold Brunner (Eisenach), Dieter Bauke (Gera), Christoph Gann (Meiningen), York-Egbert König und Ute Simon (Schmalkalden).

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und leistete von diesen ausgehend eine Kontextualisierung. Zu Projektbeginn war dies durchaus eher umgekehrt. Da dominierten die großen Linien der historischen Fragestellung über Jüdinnen und Juden in der Arbeiterbewegung.

5. Kontextualisierungsnotwendigkeit Ohne eine Einordnung der Thüringer Juden in die deutsche (und internationale) Arbeiterbewegung ist das Thema für heutige Generationen kaum fruchtbar geschichtspolitisch und pädagogisch zu vermitteln, bliebe Lokalkolorit mit Nostalgieeffekt. Insofern muss die Auseinandersetzung mit „Juden und Jüdinnen in der Thüringer Arbeiterbewegung“ aus pädagogischer Sicht didaktisch in den größeren Kontext der Arbeiterbewegung und v. a. der jeweiligen Zeitgeschichte eingeordnet werden. Das ist keine Aufgabe, die nicht zu lösen wäre, wenn man die handelnden Personen vor einem historischen, gesamtgesellschaftlichen und organisationsspezifischen Hintergrund betrachtet. Gleichwohl stößt dies auch an Grenzen der historisch-politischen Bildung, v. a. in der jüngeren Generation. In der älteren Generation der Besucher:innen ist wiederum vielfach die Vorstellung anzutreffen, es gäbe „zwei unterschiedliche Geschichten“, präziser formuliert: zwei unterschiedliche Perspektiven, eine ostdeutsche und eine westdeutsche, auf die gemeinsame Geschichte. Dies stellt eine pädagogische Herausforderung dar, verfolgt man das Ziel, einen fruchtbringenden Diskurs im Kontext der Ausstellung in Gang zu bringen, zumal wenn beide Gruppen in den Veranstaltungen aufeinandertreffen.

6. Auf welche historischen Traditionen konnten sich die jüdischen Mitglieder der Arbeiterbewegung beziehen? Personen Menschen jüdischer Herkunft sind in der deutschen Arbeiterbewegung seit deren Gründungszeiten an herausragender Stelle politisch wirksam geworden. Man muss nicht an Karl Marx und Ferdinand Lassalle erinnern, um dies zu verdeutlichen. In der ersten Generation ist v. a. Moses Hess (1812–1875) zu nennen, der zunächst Marx inspiriert und späterhin auch den modernen Zionismus theoretisch mitbegründet hat.

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Milieus Arbeiterbewegung in unserem Kontext meint aber nicht nur die zentralen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen, sondern auch das soziokulturelle Milieu der Arbeiterbewegung, die Selbsthilfeorganisationen, Kultur- und Sportvereine, Verlage und Zeitschriften mit ihren Schriftstellern, Philosophen, Musikern usw. All dies gehört zum sich historisch wandelnden Makrokosmos der arbeitenden Menschen, hier prägten sich ihre Erfahrungen, politischen Orientierungen, ihr Geschmack, ihre Weltanschauungen und nicht nur politischen Deutungsmuster aus. In zum Teil harten Auseinandersetzungen um die geeigneten Weltdeutungen und politischen Strategien, die Ausgestaltung der Lebensverhältnisse und Zukunftserwartungen haben Menschen jüdischer Herkunft einen hervorragenden Anteil genommen. Emanzipationsgedanke Hintergrund war seit frühesten Zeiten die parallele Erfahrung der gesellschaftlichen Ausgrenzung von Juden und Arbeitern im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Der spätfeudale Obrigkeitsstaat verwehrte ihnen vielfach die gleichen Bürgerrechte, stigmatisierte und diskriminierte ihren sozialen Aufstiegswillen und verweigerte ihnen über viele Jahre hinweg die politische Teilhabe und Organisation. Nicht von ungefähr wird im 19. Jahrhundert von „der Juden­ emanzipation“ ebenso gesprochen wie von „der Arbeiteremanzipation“. Antisemitismus als politische Waffe Gegen den sich periodisch artikulierenden Antisemitismus, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als biologistischer Rassismus „neu erfand“, hatten die deutschen Juden in den großen wirkmächtigen sozialistischen Organisationen der Arbeiterbewegung einen wichtigen Bündnispartner. Auch wenn in Untergruppen dieser Bewegung und bei Arbeitern und Arbeiterinnen antisemitische Einstellungen vorhanden waren und antisemitische Programme auf fruchtbaren Boden fielen, hat das Gros der Bewegung und haben sich die führenden Persönlichkeiten dem immer entgegengestellt und den politischen und rassistisch begründeten Antisemitismus verurteilt. Der mehrmalige Versuch von rechts, auch und gerade mit Hilfe antisemitischer Programmatik im Organisationsraum der demokratischen und sozialistischen Arbeiterbewegung Boden zu gewinnen, sollte nicht unerwähnt bleiben, gerade weil aktuell ein Amalgam von Systemkritik, Verschwörungstheorien und antisemitischen Ressentiments deutlich an vorhergehende Versuche erinnert. Auf eine diesbezügliche Leerstelle in der Ausstellung werden wir unten eingehen.

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7. Der allgemeine Rahmen und die Thüringer Spezifik/Bezüge – Skizzen zum Ausstellungskonzept und der öffentlichen Präsentation und Diskussion Arbeiterbewegungen und die Juden Das liberale Milieu Die Entscheidung, in den unterschiedlichen Organisationen der Arbeiterbewegung für die gesellschaftliche Emanzipation zu streiten, war eine spezifische, die man heute nur allzu leicht vergisst. Eine ganz besondere sogar, denn, wenn man etwa wie Nachum Gidal argumentiert, die Arbeiterbewegung bekämpfte ja gerade jenen Kapitalismus, der vor allem jüdischen Bürger:innen einen sozialen Aufstieg ermöglichte: jenen, die „sich als freie Unternehmer einordnen konnten“6. In der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts stand diese Option allerdings nicht allen Jüdinnen und Juden gleichermaßen offen. Gleichwohl verzerrt es den Blick auf die Sozialbewegungen, wenn man undifferenziert von „der Arbeiterbewegung“ spricht. Denn nicht für alle „Arbeiterbewegungen“ gilt gleichermaßen eine antikapitalistische Orientierung: Max Hirsch, ein damals prominenter jüdischer Sozialund Bildungsreformer aus den Reihen der freiheitlichen Fortschrittspartei, gründete zusammen mit Franz Duncker am 28. September 1868 die später sogenannten Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, eine Arbeiterorganisation auf liberaler Grundlage, die den Klassenkampf ablehnte, aber jüdischen Mitgliedern und Frauen offenstand. Viele jüdische Aktivist:innen der sozialistischen Arbeiterbewegung entstammten diesem aufgeklärt liberalen Milieu und wandten sich erst spät den sozialistischen freien Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Partei zu, wo sie zumindest rhetorisch einen Antikapitalismus auf den Lippen führten, im Alltag der Organisation gleichwohl eher als reformsozialistische Praktiker:innen reüssierten. Hier war eine Anschlussfähigkeit an das fortschrittliche liberale Milieu durchaus gegeben. Eine rechte Arbeiterbewegung – und andere Lücken in der Ausstellung Ganz im Gegensatz zu den liberalen Gewerkvereinen und zum freigewerkschaftlichen, das heißt sozialdemokratischen ADGB (Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund) entstand der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband, der, wie man heute sagen würde, „eine Arbeiterbewegung von rechts“ darstellte. Am Beginn stand die soziale („Angestellte“) und politische Abgrenzung zur sozialistischen „Arbeiter“-Bewegung, verbunden mit der expliziten Nichtzulassung jüdischer Mitglieder und Frauen. Im evangelischen Milieu um den Propagandisten des Antisemitismus Adolf Stoecker – seines Zeichens Hofprediger der letzten Hohenzollernkaiser – entstanden, organisierte der Verband zunächst 6

Nachum T. Gidal, Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Köln 1997, S. 240.

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männliche Angestellte mit einem ebenfalls explizit antifeministischen Programm: Gegen die „antinationale Sozialdemokratie“ und das „jüdische Großkapital“. Politisch lehnte sich der DHV später in der Weimarer Republik zunächst primär an die DNVP (Deutschnationale Volkspartei), im geringeren Maße auch an die DVP (Deutsche Volkspartei), das Zentrum, die DDP (Deutsche Demokratische Partei) oder völkische Splittergruppen an. Der politische Emigrant Hans Speier hat in seiner 1933 erstellten, aber erst 1977 veröffentlichten Dissertation „Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus“ v. a. auf das ideologische Milieu der deutschnationalen Angestelltenbewegung und ihre geschickte politische Einflussnahme nicht zuletzt auch in der NSDAP hingewiesen. Hier besteht ein Thüringer Bezug, der leider nicht aufgearbeitet werden konnte: 1922 übernahm der DHV das Schloss Lobeda, das er als „Jugendburg“ ausbaute; 1933 wurde es eine Reichsführerschule der NSDAP. Parallel zu dieser Entwicklung benannte sich der Verband in Deutscher Handlungsgehilfen Verband um, seine „Weimarer Parteipräferenzen“ zur DNVP sollten kaschiert und die zustimmende freiwillige Integration in die Deutsche Arbeitsfront (DAF) erleichtert werden. Ein Ausstellungsteil hätte sich mit dem DHV befassen müssen, es fehlte uns jedoch das tragfähige lokale Material bez. die Ressourcen. Hier hätte es um die Durchschlagskraft des politischen Antisemitismus im Milieu der Arbeiter- und Angestelltenschaft gehen sollen. Es wäre dabei neben Hans Speier auch auf Erich Fromm hinzuweisen gewesen, der zu Beginn der dreißiger Jahre eine Studie verfasste, die später unter dem Titel „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs“ zu trauriger Berühmtheit gelangte. Wie Hans Speiers Arbeit wurde auch sie erst in den späten Siebzigern veröffentlicht!7 Deren noch unveröffentlichtes Material bildete den Auftakt zu jenen berühmten sozialpsychologischen Studien zu Autoritarismus und Antisemitismus der sogenannten „Frankfurter Schule“ im amerikanischen Exil. Neben dem Verweis auf Erich Fromm sollte in diesem Kontext in der Ausstellung auch darauf Bezug genommen werden, dass Pfingsten 1923 im Bahnhofshotel in Geraberg gerade jene „Frankfurter Schule“ ihre „theoretische“ Gründung erfuhr,8 in deren Kontext Erich Fromm in den späten zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts seine Studien begann. Die begrenzten Mög7 Hans Speier, Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Verständnis der deutschen Sozialstruktur 1918–1933, Göttingen 1977; Erich Fromm, Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs. Eine sozialpsychologische Untersuchung, Stuttgart 1980. 8 Dies wird nun nicht mehr in der Ausstellung und im Projekt stattfinden, sondern in einem andersgelagerten Folgeprojekt, das sich um die „erste Marxistische Arbeitswoche“ Pfingsten 1923 im Bahnhofshotel in Geraberg gruppiert. Anlass ist hier der runde Jahrestag 2023 und die parallele Veröffentlichung (1922/23) der beiden ersten Hauptwerke des „westlichen Marxismus“ (Merleau-Ponty) „Geschichte und Klassenbewusstsein“ von Georg Lukacs und „Marxismus und Philosophie“ von Karl Korsch.

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lichkeiten, die Ausstellungstafeln zur Darstellung bieten, haben uns zurückschrecken lassen, diese „Geschichte“ in die Ausstellung zu integrieren. Eine illustre Truppe, die sich Pfingsten 1923 im Bahnhofshotel in Geraberg traf, zu der neben dem Mäzen Felix Weil auch Georg Lukacs, Bela Fogarasi und Karl Korsch – zur damaligen Zeit schon bekannte marxistische Philosophen – und mit Hede Massing und Richard Sorge später berühmt gewordene Top-Spione der UdSSR gehörten. Noch nicht dabei war jener Sozialpsychologe Erich Fromm. Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Leo Löwen­ thal und Walther Benjamin u. a. jüdische Intellektuelle im Umfeld der Weimarer Arbeiterbewegung, die erst später im Exil und in der Nachkriegszeit eine breite Rezeption als „Frankfurter Schule“ – allerdings nur im Westen Deutschlands – erfuhren, ebenfalls nicht. Nur die spätere „graue Eminenz“ des Frankfurter Instituts für Sozialforschung Friedrich Pollock nahm teil. Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehörend, aber nicht dargestellt werden konnte am Beispiel Georg Lukacs Thüringens intellektuelles Milieu in der Weimarer Republik. Zeitlich parallel zu den ersten theoretischen Seminaren der „Frankfurter Schule“ sollte Georg Lukacs 1923 einen Lehrstuhl an der Universität Jena bekommen, wie er in seinen autobiographischen Interviews berichtet. Lukacs konnte an der konservativen Universität nicht reüssieren. Das bildungsbürgerliche und universitäre Jena der zwanziger Jahre war kein Ort, der einen Philosophen jüdischer Herkunft, ehemals stellvertretenden Volkskommissar für Unterrichtswesen der ungarischen Räterepublik (1918) und seit seinem Werk „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (1922) berühmten marxistischen Philosophen mit kommunistischem Parteibuch geduldet hätte. Jena, ein Ort, wo mit „Die Tat“ das einflussreichste Publikationsorgan der „Konservativen Revolution“ vom Verleger Eugen Diederichs verlegt wurde, konnte nach 1923 nicht mehr der Ort sein, wo ein universitäres Milieu Widerstand gegen die Faschisierung der Gesellschaft mobilisierte; so war eine der Thesen im Projektantrag. In der Begrenzung durch die Darstellung und bedingt durch die Schwierigkeit, einen solchen Zusammenhang einigermaßen solide darzustellen, haben wir davon Abstand genommen, auch weil die Zielgruppe des politischen Bildungsprojekts nicht das akademische Milieu sein sollte. Zu den Biographien (Auswahl) Bella Aul – Frauenrechtlerin aus Meiningen (Tafel Christoph Gann) Als Mitglied der SPD gehörte Bella Aul zu den ersten beiden im Jahr 1919 gewählten weiblichen Stadtverordneten in Meiningen. Bis 1922 war Aul Mitglied des Stadtrats, von 1922 bis 1929 gehörte sie dem Kreistag an. Ihr wohl wichtigstes Anliegen war die Frauenbewegung. Aul war sich bewusst, dass diese nur mit Unterstützung der Männer erfolgreich sein kann. Allerdings vertrat sie die Auffassung, dass die Frau sich auch von selbst aus ihrem Elend erheben und aufraffen

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müsse. Von Nachteil sei, dass sich die Frau viel schlechter als der Mann aus dem bürgerlichen Erziehungskreis erheben könne. Es sollte energisch auf die Frauen eingewirkt werden, Versammlungen zu besuchen. Aul hielt es für selbstverständlich, dass die Männer dann zur Beaufsichtigung der Kinder zu Hause bleiben. Auch meinte sie, dass die Wichtigkeit der Frau innerhalb der Arbeiterbewegung nicht verkannt werden dürfe. Im Februar 1929 trat Bella Aul aus der SPD aus; Ende des Jahres trat sie in die USPD ein. Sie kandidierte für die Reichstagswahlen vom September 1930 (Listenplatz 4, USPD). In der NS-Zeit war die jüdische Familie Aul Verfolgungen ausgesetzt. Bella Aul wurde 1943 deportiert und ermordet. Frida Winckelmann – Engagiert in Gotha und Thüringen (Tafel Judy Slivi) Frida Winckelmanns Mutter Cäcilie geb. Salomon stammte aus einer jüdischen Familie. Die Ausbildung von Frida Winckelmann erfolgte am Lehrerinnen- und Oberlehrerinnenseminar und am Berliner Pestalozzi-Fröbel-Haus. Von 1892 bis 1906 unterrichtete sie an höheren Mädchenschulen in Berlin. Anschließend leitete sie das Landerziehungsheim in Drebkau bei Cottbus. 1911 gründete sie in ihrem Haus in Birkenwerder eine reformpädagogische Erziehungsanstalt. Karl Liebknecht ließ dort drei seiner Kinder unterrichten. Frida Winckelmann war zunächst Sozialdemokratin, später Mitglied des Spartakusbundes, trat 1917 der USPD und 1920 der KPD bei. Sie war einige Zeit die Sekretärin Rosa Luxemburgs und verkehrte mit den führenden Sozialdemokraten und Kommunisten Deutschlands. Frida Winckelmann arbeitete im Fachbeirat am Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung insbesondere bei der Entwicklung von Konzepten für die Volkshochschule und Einheitsschule mit. 1919 war sie an der Freigewerkschaftlichen Betriebsräteschule in Berlin tätig. 1922 wurde ihr die Konzession für die Einrichtung in Birkenwerder entzogen. Ab 1923 war sie an der Fortbildungsschule in Gotha tätig. Sie wurde hier 1925 aufgrund ihrer politischen Tätigkeit entlassen, worauf sie in wirtschaftliche Not geriet. Sie arbeitete als Redakteurin des Thüringer Volksblattes und war für das Frauenreferat der KPD Großthüringen zuständig. Von 1927 bis 1929 war sie Abgeordnete des Thüringer Landtages. Im 1929 gewählten Landtag war sie Mitglied der KPD-Opposition. 1930 zog Frida Winckelmann zurück nach Birkenwerder. Zwei Jahre später trat sie der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) bei. 1933 lebte sie im Untergrund bei ihrer Schwester in Breslau und in Berlin und engagierte sich in einer Widerstandsgruppe, die Flugblätter verteilte sowie jüdische Bürger und politisch Verfolgte versteckte. Im selben Jahr wurde sie verhaftet und im Frauengefängnis Barnimstraße in Berlin und anschließend im KZ Moringen inhaftiert. Ihr Besitz in Birkenwerder wurde enteignet. Nach ihrer Entlassung lebte sie bei Freunden in Berlin, wo sie 1943 starb.9 9 Heike Stange, Zwischen Eigensinn und Solidarität: Frida Winckelmann (1873–1943), in: Mario Hesselbarth/Eberhart Schulz/Manfred Weissbecker (Hg.), Gelebte Ideen. Sozialisten in Thüringen. Biographische Skizzen, Jena 2006, S. 458–464.

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Alfred Braunthal (Tafel Uwe Roßbach) Alfred Braunthal wuchs in einer jüdischen proletarischen Familie im Wien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts auf. Nach Besuch der Latein-Schule studierte er in Wien und Berlin Philosophie, Geschichte und Volkswirtschaft. Er erhielt als 23-Jähriger 1920 die Doktorwürde von der Universität Wien für die Arbeit „Karl Marx als Geschichtsphilosoph“. Parallel zur Redakteurstätigkeit bei der sozialdemokratischen Leipziger Volkszeitung wurde er 1921 erst Dozent, dann Leiter der Heimvolkshochschule Tinz in Gera (1925–1928). Noch vor der finanziellen Austrocknung von Tinz durch die bürgerlich-reaktionäre Landesregierung wurde er 1929 Mitarbeiter der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik des ADGB in Berlin. Als Sozialdemokrat und Jude verfolgt, floh er nach 1933 nach Belgien, wo er Mitarbeiter von Henrik de Man wurde. 1936 ging er zunächst nach Großbritannien und dann in die USA ins Exil. Dort wurde er Forschungsdirektor der Hutmachergewerkschaft und engagierte sich politisch in der German Labour Delegation und im American Council for the Liberation of Germany from Nazism, beides sozialdemokratische Exil- und Widerstandsorganisationen. Es entsteht im Sommer 1944 das Buch „Planning and paying for full employment“, zusammen mit Abba P. Lerner, Hans Neisser, Carl Landauer, Eduard Heimann u. a., ein linkes, keynesianisch inspiriertes, programmatisches Werk der Nachkriegsherausforderungen. 1949 kehrte er nach Europa zurück und wurde beim Internationalen Bund Freier Gewerkschaften in Brüssel Leiter der Wirtschafts- und Sozialpolitikabteilung, später Assistent des Generalsekretärs Harm Buiter. Im Ruhestand zog er wieder in die USA, wo er an seinem letzten Buch „Salvation and the Perfect Society: The Eternal Quest“ bis 1979 arbeitet. Alfred Braunthal starb 1980 in Boston (Mass.), wo sein 1923 in Gera geborener Sohn Gerard lebt und an der Universität Amherst Politische Wissenschaften lehrt. Jack Greidinger – Sozialdemokrat aus Gera (Tafel Dieter Bauke) Familie Greidinger kam im Zuge der sogenannten ostjüdischen Zuwanderung nach Gera. Jakob (später Jack) besuchte das Realgymnasium, war als Arbeitersportler und in der jüdischen Jugendbewegung aktiv. Ab 1923 gehörte er der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) und ab 1925 der SPD an. Der engagierte junge Mann war in diesem Rahmen Lektor in der Arbeitslosen-Schulung, organisierte Kurse der SAJ und war Lehrkraft für Wirtschaftsfragen an der Volkshochschule Reuß. Ab Mitte der 1920er Jahre folgte ein Studium der Volkswirtschaftslehre in Leipzig und Jena. Nach 1933 ging er in den Widerstand, gehörte der illegalen Leitung der SPD in Ostthüringen an, leitete die Gruppe „Junge Marxisten“, redigierte die Zeitung der Gruppe und hielt Verbindung zur Widerstandsgruppe „Neu Beginnen“ in Berlin. 1934 wurde er verhaftet und zu vier Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung floh er nach England. Er war

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1952 Leiter der Gewerkschaftsschule Elisenhöhe der Gewerkschaft Textil-Bekleidung. 1956 wanderte er nach Australien aus, wurde Funktionär der Labour Party und der Gewerkschaften. Alfred Maerker – Vom Bankier zum Sozialdemokraten (Tafel Dr. Reinhold Brunner) Ab etwa 1920 lebte der Bankier Alfred Maerker in Eisenach. Sein unverkennbar großbürgerlicher Lebensstil und seine durch den Parteieintritt in die SPD dokumentierte politische Positionierung mochten kaum zusammenpassen. Ungewöhnlich waren sie nicht: Karl Höchberg, der „Goldonkel“ der Partei, und Paul Singer, zweiter Vorsitzender neben August Bebel, standen für wohlhabende Juden und Parteifinanziers in den Reihen der Arbeiterbewegung. Alfred Maerker war seit 1925 Stadtrat in Eisenach. Als 1924 der Präsident der Thüringischen Staatsbank Walter Loeb unter dubiosen Umständen zum Rücktritt gezwungen wurde, geriet auch Maerker in den Strudel antisemitischer Anfeindungen. Er hatte, berufen vom sozialdemokratischen Finanzminister Emil Hartmann, eine wichtige Rolle beim Aufbau der Thüringischen Staatsbank gespielt, war als Staatskommissar die ministerielle Aufsicht über diese neue Bank. Mit dem Rechtsruck der Thüringer Landesregierung nach der Wahl 1924 begann sogleich ein Kesseltreiben gegen Walter Loeb und Alfred Maerker, dem die Presse im Zusammenhang mit seinen Berliner Bankgeschäften zwanzig Jahre zuvor Betrügereien unterstellte. In der NS-Zeit war Alfred Maerker als Jude und Sozialdemokrat besonders gefährdet. 1942 wurden er und seine Schwester Martha nach Theresienstadt deportiert.10 Paul Oppenheim – Die historische Aufgabe von Schwarz-Rot-Gold (Tafel Dr. Reinhold Brunner) Am 29. September 1933 starb Dr. med. Paul Oppenheim. In den Tod getrieben von einem mörderischen Regime, das ihn als Juden und als Sozialdemokraten ausgrenzte, diskriminierte und verfolgte. Paul Oppenheim stammte aus Kassel und ließ sich als Arzt 1924 in Eisenach nieder. Schon bald nach seiner Niederlassung in Eisenach fand er den Weg zur Sozialdemokratie. Paul Oppenheim engagierte sich überdies für die Belange des überparteilichen demokratischen Bündnisses Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, für die Arbeitersportbewegung und den Arbeiter-Samariter-Bund, wo er als Ausbilder tätig war.11

10 Reinhold Brunner, 1850–1930: Eisenacher Juden als Handlungsträger in der kommunalen Politik, in: Harald Mittelsdorf (Hg.), Zwischen Mitgestaltung und Ausgrenzung. Jüdische Abgeordnete und jüdisches Leben als Thema in Thüringer Parlamenten (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, 26), Weimar 2007, S. 70–89. 11 Ebd.

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Max Alexandrowitz – sozialdemokratisch tätig in Eisenach (Tafel Dr. Reinhold Brunner) Max Alexandrowitz wurde 1913 in Eisenach geboren. Seine Familie kam 1910 in die Stadt. Die zionistische Jugendbewegung prägte Max Alexandrowitz’ Jugendjahre wahrscheinlich ebenso wie das Engagement für die Sache des Reichsbanners. Martin Seliger, ein Freund aus der zionistischen Jugendbewegung, hat Max Alexandrowitz mit seinem Romanmanuskript „Max und seine Freunde“ ein Denkmal setzen wollen. Der Roman wurde allerdings nie veröffentlicht. Nach 1933 emigrierte der junge Max Alexandrowitz nach Palästina, wo er mit nur 26 Jahren als britischer Mandatspolizist von einem arabischen Scharfschützen erschossen wurde. Seine Tochter, die bis heute in Israel hoch angesehene Schauspielerin und Schriftstellerin Gila Almagor, wurde erst nach seinem Tod geboren.12 Ludwig Pappenheim – Redakteur und SPD-Politiker in Schmalkalden (Tafel York-Egbert König/Ute Simon) Nach der Novemberrevolution wurde Ludwig Pappenheim Abgeordneter der USPD in der Stadtverordnetenversammlung in Eschwege. Im April 1919 verzichtete er auf sein Mandat. In Schmalkalden hatte eine Verlagsgenossenschaft das „Schmalkalder Tageblatt“ übernommen, das fortan als Arbeiterzeitung „Volksstimme“ mit Pappenheim als leitendem Redakteur fortgeführt wurde. Das Vorhaben war durch Spenden aus der Arbeiterschaft und mit dem elterlichen Erbe Pappenheims ermöglicht worden. Pappenheim führte in Schmalkalden die Jugendweihe ein und trat dabei in den folgenden Jahren wiederholt als Festredner auf. Neben der Bildungsarbeit war ihm der Kampf um die Rechte der Frauen wichtig. Er organisierte den Neubau von Arbeitersiedlungen und eines Schwimmbades. Zur Stabilisierung der Preise gründete er die erste Konsumgenossenschaft von Schmalkalden-Wasungen. Als Abgeordneter der SPD hatte er ab 1920 ein Mandat im Provinziallandtag der Provinz Hessen-Nassau inne, da er in den Kommunallandtag des Regierungsbezirks Kassel gewählt worden war. 1922 wurde er Kreisvorsitzender seiner Partei und gehörte dem Kreisausschuss sowie dem Schmalkalder Magistrat als unbesoldeter Beigeordneter an. Von 1925 bis 1933 war er Mitglied im Anstaltsbeirat des Arbeitshauses Breitenau bei Kassel, wo er sich für Reformen einsetzte. Die Nationalsozialisten verhafteten ihn im März 1933. Es folgten Gefängnis und Schikanen, bis er 1934 im KZ Neusustrum ermordet wurde.13

12 Ebd. 13 Literatur: York-Egbert König/Dietfrid Krause-Vilmar/Ute Simon, Ludwig Pappenheim. Redakteur – Sozialdemokrat – Menschenfreund, hg. vom Centrum Judaicum, Berlin 2014.

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Werner Wolf Gottfeld – Kaufmann und Kommunist in Arnstadt (Tafel Jörg Kaps/Dr. Monika Gibas) Werner Wolf Gottfeld wurde am 22. Juni 1905 in Friedrichroda/Südthüringen als eines von drei Kindern einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Ab 1924 arbeitete er als Kaufmann im Manufakturwarengeschäft seines Vaters Alfred Gottfeld in Arnstadt. Im gleichen Jahr wurde er Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes (KJVD) in Arnstadt, später auch KPD-Mitglied. In der NS-Zeit leistete er Widerstand in der Arnstädter Gruppe Fritz Schörnig, deren Mitglieder 1935 verhaftet wurden. Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Jena verurteilte Werner Gottfeld zu vier Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust. Nach Verbüßung der Zuchthausstrafe in Halle/Saale wurde er am 24. Oktober 1939 nach Arnstadt entlassen und wegen Ehrverlustes zur Strafarbeit in das „Jüdische Forsteinsatzlager Schönfelde bei Fürstenwalde/Spree“ verbracht. Am 30. März 1942 unterschrieb er im Lager eine Vermögenserklärung. Das ist das letzte Lebenszeichen des Arnstädters. Nach Angaben seiner Schwester Ilse Szlecki wurde Werner Wolf Gottfeld in Auschwitz ermordet. Fritz Noack – Sozialist, Mediziner und Zionist in Gotha (Tafel Judy Slivi) Fritz Noack widmete sich zeit seines Lebens dem sozialistischen Zionismus. Als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Landsberg an der Warthe (heutiges Westpolen) studierte er Medizin in Halle/Saale und Berlin. In seiner Studienzeit war er bereits Mitglied im Kartell jüdischer Verbindungen. Während des Ersten Weltkrieges diente er in Flandern und der Türkei. Er kam 1919 nach Gotha, wurde Kreisarzt und baute maßgeblich nicht nur den Ortsverein des Jung-Jüdischen-Wanderbundes auf, sondern er engagierte sich thüringen- und deutschlandweit für den Zionismus. Mit der Machtübertragung an Hitler emigrierte Familie Noack nach dem britischen Mandatsgebiet Palästina. Fritz Noack leistete Aufbauhilfe im Gesundheitswesen und wurde Vertreter Israels in der WHO.14 Eugen Prager – Journalist der Erfurter Tribüne (Tafel Uwe Roßbach/Judy Slivi) Der für seine erste Darstellung der USPD-Geschichte bekannte Eugen Prager war von 1911 bis 1914 Chefredakteur der „Tribüne“ in Erfurt und Vorsitzender des sozialdemokratischen Bildungsausschusses für Thüringen. Hauptziel seiner Tätigkeit war die Modernisierung der Arbeiterpresse und die Hebung der Qualität der Arbeiterbildung. Im Laufe der folgenden Jahre wurde er Redakteur bei der Leipziger Volkszeitung, bei der „Freiheit“ und dem „Vorwärts“ in Berlin. Nach 1933 war er den nationalsozialistischen Repressalien ausgesetzt. Er und seine Frau wurden 1942 deportiert und in einem Wald bei Riga ermordet.15 14 Judy Slivi, Fritz Noack – Sozialist, Mediziner und Zionist in Gotha (unveröffentlicht). 15 Literatur: Ilse Fischer/Rüdiger Zimmermann, „Unsere Sehnsucht in Worte kleiden“. Eugen Prager (1876–1942). Der Lebensweg eines sozialdemokratischen Journalisten, Bonn 2005.

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8. Das thematische Framing und ein erstes Resümee Parallel zu den Biographien beinhaltet die Ausstellung ein inhaltlich vielfältiges Informationsangebot zum sozialhistorischen Kontext. Breiten Raum nimmt dabei die Geschichte des Antisemitismus und seiner Akteure von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Slansky-Prozess16 zu Beginn der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein. Zur ostjüdischen Einwanderung existiert eine Informationstafel. Diese verweist auf den von Osteuropa ausgehenden linken Zionismus. Sehr ausführlich beschäftigen sich einige Aufsteller mit dem sozialistischen Zionismus und den Thüringer Palästinafreunden. Letztere wurden als „Verband der Freunde des arbeitenden Palästina“ im Mai 1927 auf Initiative der jüdischen Arbeiterpartei Poale Zion gegründet. Unterstützer fand der Verband in der Arbeiterbewegung Thüringens, so in der Person des Landtagspräsidenten und Vorsitzenden der SPD Thüringen Hermann Leber, dem Redakteur des Parteiorgans „Das Volk“ Albert Kranold (SPD) und den sozialistischen Professoren Paul Linke, Wilhelm Peters und Karl-Ludwig Schmidt.17 Die nach dem 2. Weltkrieg früh in Thüringen aufgeworfene Frage der Entschädigung jüdischer Opfer der nationalsozialistischen Diktatur, die prominent von Hermann Brill auf die Tagesordnung gesetzt und von der sowjetischen Besatzungsmacht und ihren einheimischen Helfern verhindert wurde, ist ausführlich behandelt. Das Feedback der Besucher:innen signalisiert den Ausstellungsmacher:innen, dass neben den Biographien der Personen v. a. die historischen Kontexte vielfach wenig präsent sind. Dies betrifft nicht nur die moderne Ideengeschichte, Stichwort Zionismus, sondern generell auch den sozialgeschichtlichen und politischen Kontext. In der jüngeren Generation ist dieses vornehmlich schulisch erworbene Wissen allenfalls rudimentär ausgeprägt, worauf auch der 16. Jugendbericht der Bundesregierung von 2020 hingewiesen hat. Dies ist umso mehr zu bedauern, als zunehmend eine antidemokratisch orientierte Publizistik, die die Nähe zu antisemitischen Verschwörungsideologien kaum noch scheut bzw. sich offen zu diesen bekennt, immer mehr Raum greift. Geschichtsrevisionistische Positionen finden heute bei einem historisch interessierten Publikum vielfach Resonanz, auch weil sie im Stil populärwissenschaftlicher, professionell erzeugter Medienprodukte die Neugier vieler unbedarfter Interessent:innen wecken. Die demokratische Öffentlichkeit, v. a. aber die politisch Verantwortlichen sind aufgefordert, dies als ernsthafte Herausforderung anzunehmen und eine histo16 Ein Aufsteller war ursprünglich auch zu Louis Fürnberg geplant. Hier sollten v. a. Forschungsergebnisse von Jan Gerber, Ein Prozess in Prag. Das Volk gegen Rudolf Slánský und Genossen, Göttingen 2016, verarbeitet werden. Die Ausstellungsmacher:innen hoffen peu à peu die Ausstellung zu ergänzen. 17 Mitteilung über die Gründung in: Der jüdische Arbeiter vom 24.5.1927.

Juden und Jüdinnen in der Thüringer Arbeiterbewegung

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rische Gedenk- und Erinnerungskultur zu befördern, die sich vornehmlich nicht auf eine Vergangenheitsrepräsentationskultur beschränkt, sondern kritisch die eigene Geschichte befragt.

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Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 setzte in Deutschland die systematische staatliche und gesellschaftliche Entrechtung, Beraubung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung ein, die sich bis zur Shoah, dem Völkermord an den Jüdinnen und Juden in Europa, steigerte. In der kurzen Zeitspanne von nur zwölf Jahren bis zum Ende ihrer Herrschaft 1945 zerstörten die Nationalsozialisten das jüdische Leben in Deutschland und Europa in einer Dimension, die ohne historischen Vergleich ist und bis heute nachwirkt.

1. Herausforderungen und Aufgaben für die Forschung Ein Beitrag zu Thüringen steht vor Problemen unterschiedlicher Art. Generell stellt sich in der Thüringer Landesgeschichte des 20. Jahrhunderts die Frage nach dem Gebiet, das dabei Beachtung finden soll. Wie selbstverständlich bezieht der öffentliche Diskurs die Geschichte Thüringens auf die geografischen Grenzen des jetzigen Freistaates.1 Genau in dieser Form besteht Thüringen jedoch erst seit 1990 mit der Gründung des Bundeslandes. Ein 1945 ungefähr in diesen Grenzen gebildetes Land Thüringen wurde in der DDR durch die Aufteilung in die drei Bezirke Erfurt, Gera und Suhl 1952 aufgelöst. Das historisch erste Land Thüringen, das 1920 nach dem Ende der feudalen Kleinstaaten gegründet wurde, umfasste hingegen weit weniger Fläche. Um für das heutige Thüringen die Geschichte von 1933 bis 1945 zu rekonstruieren, fasst der Beitrag deshalb drei historische Gebilde zusammen: das 1920 gegründete Land Thüringen mit Regierungssitz in Weimar, den preußischen Regierungsbezirk Erfurt und den Kreis Herrschaft Schmalkalden. Zusammengeführt wurden diese drei Gebiete erstmals von der NSDAP, die nach ihrer Wiederzulassung im März 1925 den Gau Thüringen als Parteistruktur gründe1

So etwa beim Jahresthema „Neun Jahrhunderte Jüdisches Leben in Thüringen“, https:// www.juedisches-leben-thueringen.de/home/?v=Listgallery (letzter Zugriff: 12.01.2022).

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te.2 Einige Bereiche im Nordosten des heutigen Bundeslandes Thüringen, die damals nicht zum Gau der NSDAP gehörten, werden darüber hinaus dazugezählt, um alle Teile des heutigen Thüringens abzubilden.3 Kann die Frage, was mit Thüringen gemeint ist, durch diese Definition beantwortet werden, so ist der Forschungsstand zur Geschichte der Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Thüringen diffiziler zu bewerten. Zunächst sollte geklärt werden, wie viele Menschen zwischen 1933 und 1945 in dem soeben definierten Gebiet „Thüringen“ lebten und von den antijüdischen Maßnahmen betroffen waren, weil sie sich selbst als Jüdinnen und Juden verstanden oder weil sie jüdische Wurzeln hatten. Ein 1991 an der Pädagogischen Hochschule Erfurt/Mühlhausen begonnenes Forschungsprojekt unter Leitung von Prof. Dr. Siegfried Wolf hat dazu Pionierarbeit geleistet und bietet bis heute die umfangreichste Datenbank zu diesem Personenkreis. Leider konnten die Arbeiten nach 2002 nicht weitergeführt werden. Dokumentiert sind die Ergebnisse in dem unveröffentlichten Manuskript „Juden in Thüringen 1933–1945. Biografische Daten“. Diese Datenbank enthält Angaben von rund 6.200 Personen, die sich 1933 und/oder in den Folgejahren in Thüringen aufhielten und als Jüdinnen und Juden oder aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln verfolgt wurden.4 Zur Präzisierung wird betont, dass nur Menschen erfasst wurden, die aus eigener Entscheidung in Thüringen lebten – also Menschen keine Berücksichtigung fanden, die von den Nationalsozialisten nach Thüringen verschleppt wurden, etwa in das KZ Buchenwald. Rückschlüsse, wer unter diesen 6.200 Menschen Mitglied einer jüdischen Gemeinde war und sich damit zum Judentum bekannte, kann man aus der Volkszählung des Deutschen Reichs am 16. Juni 1933 ziehen. 2 3 4

Siehe: Frank Boblenz, Zur Gaueinteilung Thüringens in der NS-Zeit, in: Ders./Bernhard Post, Die Machtübernahme in Thüringen 1932/33, Erfurt 2013, S. 55–109. Der kleine Teil, der damals Gau war und heute nicht Land Thüringen ist, bleibt in die Betrachtung eingeschlossen. Das Lexikon besteht aus Band 1 (Anfangsbuchstaben A–L) und Band 2 (Anfangsbuchstaben M–Z). Band 1 enthält in der 1. Auflage von 1995 die Namen von 2.835 Personen, Ergänzungen und Korrekturen vom Juni 2002 nennen weitere 74 Personen. Band 2 enthält in der 2. Auflage von 2002 die Namen von 3.282 Personen, nach Redaktionsschluss wurden fünf Personen ergänzt. Damit ergibt sich eine Gesamtzahl von 6.196. Im Vorwort zur dritten Auflage wird gesagt, dann nun auch Personen berücksichtigt wurden, die schon vor 1933 Thüringen verließen. Da dies nur wenige betrifft, ist die Zahl von insgesamt 6.200 Menschen, die in Thüringen aufgrund ihres jüdischen Glaubens und ihrer jüdischen Herkunft im Nationalsozialismus verfolgt wurden, zutreffend. Juden in Thüringen 1933–1945. Biographische Daten Bd. 1, hg. vom Europäischen Kultur- und Informationszentrum in Thüringen, Erfurt, Forschungsgruppe „Geschichte der Juden im nationalsozialistischen Thüringen“, Erfurt ³2000, passim; Juden in Thüringen 1933–1945. Biographische Daten, Bd. 2, hg. vom Europäischen Kultur- und Informationszentrum in Thüringen, Erfurt, Forschungsgruppe „Geschichte der Juden im nationalsozialistischen Thüringen“, Erfurt ²2002, passim.

Verfolgung, Selbstbehauptung, Vertreibung und Vernichtung

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Dabei wurde die Religionszugehörigkeit gesondert erfasst, als „Glaubensjuden“ wurden jene Menschen bezeichnet, die „rechtlich der israelitischen (mosaischen) Religionsgemeinschaft angehören“.5 Für das Land Thüringen wurden 2.882 „Glaubensjuden“ gezählt,6 dazu sind 1.815 für den Regierungsbezirk Erfurt bekannt.7 Zählt man noch die 80 Jüdinnen und Juden hinzu, die für Schmalkalden 1933 überliefert sind,8 kommt man – ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Erfassung – auf 4.777 Menschen jüdischen Glaubens in Thüringen im Juni 1933. Da man Unschärfen beim Zusammentragen der Zahlen einkalkulieren sollte, kann man nach dem derzeitigen Forschungsstand eine Zahl von rund 5.000 Menschen auf dem Gebiet des heutigen Thüringen annehmen, die von den Nationalsozialisten aufgrund ihres jüdischen Glaubens verfolgt wurden. Da die Volkszählung am 16. Juni 1933 für das Deutsche Reich insgesamt eine Zahl von 499.682 „Glaubensjuden“ ermittelte, lebten also rund ein Prozent von ihnen in Thüringen.9 Diese geringe Zahl mag verwundern, ist jedoch angesichts des ländlich strukturieren Thüringens ohne Metropolen und der Tatsache, dass allein die Hälfte der rund 500.000 Jüdinnen und Juden in den sechs Großstädten Berlin, Breslau, Frankfurt, Hamburg, Köln und Leipzig lebten,10 plausibel. Um die oben genannte Zahl von 6.200 Menschen zu erreichen, die in Thüringen Opfer antisemitischer Verfolgung und Vernichtung wurden, müssen zu den 5.000 Jüdinnen und Juden weitere rund 1.200 Personen hinzugezählt werden, die aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln verfolgt wurden. Das Verhältnis von 4:1 zwischen Menschen, die im Selbstverständnis jüdisch und Menschen, die im Selbstverständnis trotz jüdischer Vorfahren nichtjüdisch waren, entspricht ungefähr dem, was für die Reichsebene bekannt ist. Dort bestand die Gruppe der Verfolgten nach der Volkszählung aus den 500.000 Jüdinnen und Juden im eigenen Selbstverständnis und weiteren rund 140.000 Menschen, die wegen ihrer jüdischen Vorfahren im Nationalsozialismus als jüdisch kategorisiert wurden.11 5

Volkszählung. Die Bevölkerung des Deutschen Reichs nach den Ergebnissen der Volkszählung 1933, Heft 5: Die Glaubensjuden im Deutschen Reich, Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 451, 5, Berlin 1936, in: www.statistik-des-holocaust.de/stat_ger_pop33.html (letzter Zugriff: 11.01.2022), S. 5. 6 Ebd., S. 16, 40. 7 Ausgelöschtes Leben. Juden in Erfurt 1933–1945, hg. von Landeshauptstadt Erfurt, Stadtverwaltung und dem Netzwerk „Jüdisches Leben Erfurt“, Jena 2013, S. 9. 8 Ohne Beleg auf: www.alemannia-judaica.de/schmalkalden_synagoge.htm (letzter Zugriff: 12.01.2022). 9 Volkszählung (wie Anm. 5), S. 16. 10 bpb.de/themen/holocaust/gerettete-geschichten/177625/vertreibung-und-vernichtung-der-juden-aus-dem-deutschen-reich/ (letzter Zugriff: 11.02.2022). 11 Diese Zahl kann nur annähernd bestimmt werden, sie wurde von der Autorin aus der Angabe von 150.000 sogenannten „Mischlingen“ für 1933 errechnet, die sich nur zu einem kleinen Prozentsatz (10 % bei den „Mischlingen 1. Grades“ und 1 % bei den

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Hinter dem Schicksal der rund 6.200 Menschen in Thüringen verbirgt sich die Zerstörung eines reichen und vielfältig verankerten jüdischen Lebens. Israel Schwierz ist in den 1990er Jahren durch Thüringen gereist, um vor Ort in Gesprächen mit Einheimischen und Experten die Zeugnisse der jüdischen Vergangenheit in Thüringen zu dokumentieren.12 Er konnte an 48 Thüringer Orten jüdisches Leben nachweisen, weil sich dort vor dem Zweiten Weltkrieg Synagogen, Bethäuser oder Mikwen befanden, das Wissen um die Existenz einer jüdischen Gemeinde noch vorhanden war oder eine solche Existenz urkundlich belegt ist.13 Der Forschungsstand dazu ist vielfältig, aber auch heterogen. Einerseits zeigen auf Thüringen bezogene regionalgeschichtliche Untersuchungen und Quelleneditionen das staatliche und gesellschaftliche Täterhandeln in einzelnen Aspekten gut auf, so etwa zur „Arisierung“ und zu den Deportationen.14 Einzelne verdienstvolle lokalgeschichtliche Projekte stellten sich andererseits der Aufgabe, die Rekonstruktion der Tätermaßnahmen im Perspektivenwechsel zu ergänzen um die Erinnerung an die einzelnen Menschen, ihren Alltag und ihren gesellschaftlichen Platz. Die Rekonstruktion von Biografien steht dabei oft im Zentrum.15 Das Themenjahr 2020/21 „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“ hat zu weiteren Ausstellungen und Publikationen inspiriert, die

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„Mischlingen 2. Grades“) selbst als jüdisch verstanden. Einleitung, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 1: Deutsches Reich 1933–1937, bearb. von Wolf Grüner, München 2008, S. 46; Dieter Maier, Arbeitseinsatz und Deportation. Die Mitwirkung der Arbeitsverwaltung bei der nationalsozialistischen Judenverfolgung in den Jahren 1938–1945, Berlin 1994, S. 205. Vgl. auch: Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, Hamburg ²2002. Israel Schwierz, Zeugnisse jüdischer Vergangenheit in Thüringen. Eine Dokumentation, Erfurt 2007, veröffentlicht von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen als Download unter: www.lztthueringen.de/downloads/?pub=57&func=show (letzter Zugriff: 11.01.2022). Ebd., S. 10. Die Landeszentrale für politische Bildung Thüringen hat mit ihren Quelleneditionen wichtige Beiträge geleistet: Monika Gibas (Hg.), „Arisierung“ in Thüringen. Entrechtung, Enteignung und Vernichtung der jüdischen Bürger Thüringens 1933–1934 (Quellen zur Geschichte Thüringens, 27/I und 27/II), Erfurt 2008; Ramona Bräu/Thomas Wenzel (Hg.), „ausgebrannt, ausgeplündert, ausgestoßen“. Die Pogrome gegen die jüdischen Bürger Thüringens im November 1938 (Quellen zur Geschichte Thüringens, 31), Erfurt ²2013; Carsten Liesenberg/Harry Stein (Hg.), Deportation und Vernichtung der Thüringer Juden 1942 (Quellen zur Geschichte Thüringens, 39), Erfurt ³2014. Als Beispiel: Jüdische Lebenswege in Jena. Erinnerungen, Fragmente, Spuren, hg. v. Stadtarchiv Jena in Zusammenarbeit mit dem Jenaer Arbeitskreis Judentum, Köthen (Anhalt) 2015; Verein Der Freunde Und Förderer Der Herzog-Ernst-Schule (Hg.), Spuren jüdischen Lebens in Gotha, Gotha 2015; mit Schwerpunkt auf dem Gedenken an die Ermordeten: Ausgelöschtes Leben (wie Anm. 7).

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jüdische Geschichte vor Ort sichtbar machten.16 Jüdische Bürgerinnen und Bürger werden damit in ihrer Bedeutung für die lokale Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur gewürdigt. Es wird deutlich, welchen Verlust ihre Vertreibung und Vernichtung für die städtische und ländliche Gesellschaft bedeutete. Die genannten Recherche- und Publikationsprojekte stellen wichtige Bausteine für die Erforschung der Geschichte der Jüdinnen und Juden in Thüringen dar und machen gleichzeitig deutlich, dass eine systematische und zusammenführende Untersuchung fehlt. Die antisemitische Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte für Thüringen kann dennoch anhand der gut erforschten staatlichen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklung skizziert werden, weil diese auch Thüringen betraf. Deshalb sollen nun die einzelnen Phasen der Staats- und Gesellschaftsverbrechen gegen Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft im nationalsozialistischen Deutschland nachvollzogen und, wo bekannt, mit Hinweisen zu Thüringen untersetzt werden. Diese Geschichte wäre nicht vollständig, wenn sie nicht die Selbstbehauptung von Jüdinnen und Juden mit aufnähme. Hierfür ist die jüdische Sportbewegung ein hervorragendes Beispiel. Sie zeigt, wie Jüdinnen und Juden selbstbewusst und selbstorganisiert einen Bereich ihres Lebens unter den repressiven, existenz- und lebensbedrohenden Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur gestalteten. Deshalb werden am Ende des Beitrags Forschungsergebnisse zu Thüringen vorgestellt, die am Erinnerungsort Topf & Söhne im Rahmen der Ausstellung „Vom Platz vertrieben. Juden, Fußball, Nationalsozialismus in Thüringen“ 2015 erarbeitet wurden.17 Damit will der Text auch dazu beitragen, das Bild von „den Juden“ als „ewige Opfer“ nicht zu stärken, sondern aufzubrechen, eine Forderung, die gerade von jüdischer Seite zu Recht erhoben wird.

2. Ausgrenzung, Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung 962 antijüdische Gesetze und Verordnungen des nationalsozialistischen Staates führt das Jüdische Museum Berlin in seiner neuen Dauerausstellung für das Deutsche Reich auf.18 Diese bürokratisch organisierte und permanent zuneh16 So zeigte das Schlossmuseum Arnstadt vom 2. Mai bis 14. November 2021 die Sonderausstellung „Jüdische Familien aus Arnstadt und Plaue“, dazu erschien ein umfangreicher gleichnamiger Katalog. Vgl. Schlossmuseum Arnstadt (Hg.), Jüdische Familien aus Arnstadt und Plaue. Katalog zur Sonderausstellung im Schlossmuseum Arnstadt 2. Mai bis 14. November 2021, Weimar 2021. 17 Vgl. Annegret Schüle/Susanne Zielinski, Vom Platz vertrieben. Juden, Fußball und Nationalsozialismus in Thüringen, Erfurt 2016. 18 Yael Kupferberg, Rezension zu: Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland, 23.08.2020 Berlin, in: H-Soz-Kult, 07.11.2020, www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/ rezausstellungen-369 (letzter Zugriff: 5.01.2022).

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mende staatliche Entrechtung von Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft, die auch in Thüringen umgesetzt wurde, kann mit einer Auswahl aus diesen fast tausend Unrechtsakten veranschaulicht werden.19 Ihre Reichweite war sehr unterschiedlich, die Maßnahmen konnten einzelne Personengruppen betreffen oder für alle massive Einschnitte bringen. Ihre pure Aufzählung veranschaulicht, wie perfide kleinschrittig und gleichzeitig gezielt Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft immer mehr diskriminiert und ihrer Lebensgrundlagen beraubt wurden: Dem Boykott jüdischer Geschäfte, Arzt- und Rechtsanwaltspraxen (01.04.1933) folgten das Berufsverbot im Öffentlichen Dienst durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (07.04.1933), die Beschränkung des Zugangs zu Bildungseinrichtungen (25.04.1933), das Verbot des Schächtens, das Schlachten nach jüdischem Ritus, (27.04.1933) und das Verbot, Geschäfte neu zu gründen oder zu erweitern (12.05.1933). Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft durften nicht mehr als Reporter und leitende Verlagsangestellte arbeiten (04.10.1933), die Staatsprüfung zum Abschluss eines Medizinstudiums wurde ihnen untersagt (05.02.1934) und sie wurden vom Wehrdienst ausgeschlossen (21.05.1935). Die „Nürnberger Gesetze“ nahmen Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft ihre staatsbürgerlichen Rechte (15.09.1935). Jüdische Kinder durften nicht mehr mit anderen Kindern denselben Sportplatz oder dieselben Umkleidekabinen benutzen (14.11.1935), jüdische Steuerberater erhielten Berufsverbot (11.01.1936), Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft mussten auf ihr gesamtes Vermögen eine Zwangsabgabe von 25 % entrichten (07.09.1936), der Reichszuschuss für Rentnerinnen und Rentner wurde gekürzt (20.11.1936), Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft durften nicht mehr im Viehhandel arbeiten (25.01.1937), nicht mehr promovieren (15.04.1937) und nicht mehr als Sachverständige (11.06.1937) oder als Vermessungsingenieure arbeiten (20.01.1938). Alle jüdischen Vermögen über 5.000 Reichsmark waren zu melden (26.04.1938) und alle jüdischen Gewerbebetriebe wurden registriert (14.06.1938). Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft wurden vom Besuch der Börsen ausgeschlossen (20.06.1938), sie durften nicht mehr im Maklerwesen, in der Heiratsvermittlung und in der Fremdenführung arbeiten (06.07.1938) und der Aufenthalt in Kurorten wurde verboten (11.07.1938). Männer mussten den zusätzlichen Vornamen „Israel“ und Frauen den Vornamen „Sara“ tragen (17.08.1938), jüdische Rechtsanwälte verloren ihre Zulassung (27.09.1938), Krankenschwestern und Pfleger erhielten Berufsverbot (28.09.1938), Ärztinnen und Ärzte verloren ihre Approbation (30.09.1938) und Vertreter erhielten Berufsverbot (01.10.1938). Nach den Novemberpogromen wurde eine „Sühneleistung von Juden deutscher Staatsan19 Orientiert an: Annegret Schüle, Industrie und Holocaust. Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz, Göttingen ³2017, S. 389–393.

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gehörigkeit“, in Höhe von einer Milliarde Reichsmark, die Bezahlung aller Schäden an den Gebäuden durch die jüdischen Besitzer sowie die „Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ verordnet. Alle jüdischen Geschäfte und Betriebe wurden geschlossen, Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft durften nicht mehr mit anderen Deutschen zusammen arbeiten, ihnen wurde der Besuch von Theatern, Kinos, Konzerten, Ausstellungen und anderen kulturellen Veranstaltungen verboten (12.11.1938). Jüdische Kinder wurden vom allgemeinen Schulbesuch (15.11.1938) und junge Erwachsene vom Besuch der Universitäten ausgeschlossen (08.12.1938). Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft mussten ihre Wohnungen und Häuser räumen, in Ghetto­ häusern auf engstem Raum zusammenleben (21.02.1939) und ihre Rundfunkgeräte abliefern (20.09.1939). Sie erhielten keine Kleiderkarten und Textilbezugsscheine mehr (14.11.1939) und durften kein Telefon mehr besitzen (19.07.1940). Sie mussten bis auf wenige Ausnahmen ab dem 6. Lebensjahr den Judenstern tragen und durften ihren Wohnbezirk ohne polizeiliche Genehmigung nicht mehr verlassen (01.09.1941). Sie durften keine öffentlichen Telefone mehr benutzen (12.12.1941), mussten alle Woll- und Pelzsachen abliefern (10.01.1942), durften keine Zeitungen und Zeitschriften mehr beziehen (17.02.1942), keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen (24.04.1942), keine Haustiere mehr halten (15.05.1942), mussten alle elektrischen und optischen Geräte sowie Schreibmaschinen und Fahrräder abliefern (18.06.1942) und alle jüdischen Schulen wurden geschlossen (20.06.1942). Die Verweigerung der Grundnahrungsmittel durch den Entzug der Lebensmittelmarken für Fleisch, Eier, Milch und Weizenerzeugnisse (19.10.1942) war eine der letzten Maßnahmen des immer mehr Lebensbereiche betreffenden Alltagsterrors. Er wurde erst dann eingestellt, als der größte Teil der Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft entweder emigriert oder in den im Oktober 1941 beginnenden großen Deportationen in deutsche Ghettos und Lager vor allem in Polen verschleppt und dort zu einem großen Teil um ihr Leben gebracht wurden. In einem zweiten Schritt sollen nun die genannten Einzelmaßnamen in die großen Phasen der Entrechtung, Beraubung, Vertreibung und Vernichtung eingeordnet und – wenn möglich – die Auswirkungen für Thüringen konkret benannt werden. Mit den Boykottaktionen am 1. April 1933 startete die nationalsozialistische Regierung wenige Wochen nach der Machtübernahme am 30. Januar ihre Politik der Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz für Jüdinnen und Juden in Deutschland und der Berufsverbote. Aggressiver Hass und gesellschaftliche Diskriminierung gepaart mit staatlichen Repressionsmaßnahmen führte dazu, dass im ersten Jahr bereits 37.000 Jüdinnen und Juden und damit 7,4 % der jüdischen Minderheit Deutschland verließen.20 In zahlreichen 20 Fritz Backhaus/Raphael Gross, Einleitung. Das Jahr 1938, in: Miriam Bistrovic/ Frank Mecklenburg/William H. Weitzer/Magda Wrobel (Hg.), In Echtzeit. Das Jahr

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Einzelschritten organisierten die Nationalsozialisten in den nächsten Jahren eine Vernichtung der beruflichen und wirtschaftlichen Existenz der Menschen jüdischen Glaubens und Herkunft zugunsten der nichtjüdischen Konkurrenz, die nun freiwerdende Stellen besetzen, Aufträge übernehmen und von jüdischen Eigentümern aufgebaute Unternehmen weit unter Wert erwerben konnten. Die ab 1. Januar 1939 staatlich angeordnete Zwangsveräußerung jüdischer Gewerbebetriebe und Geschäfte war der Abschluss eines Prozesses der Enteignung der Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft, der als „einer der größten Besitzwechsel der neueren deutschen Geschichte“ gilt. Rund 100.000 Firmen in jüdischem Besitz existierten 1932 im Deutschen Reich, sie alle mussten bis 1939 von ihren Eigentümern verkauft oder abgegeben werden. Für Thüringen sind ca. 650 Familienbetriebe bekannt, die dieser sogenannten „Arisierung“ zum Opfer fielen.21 Darunter waren die Region prägende Unternehmen wie das Kaufhaus Römischer Kaiser, das größte und erfolgreichste Kaufhaus Thüringens,22 und die Simson-Werke, der größte Arbeitgeber Suhls.23 Mit den Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935 wurde die juristische und bürokratische Grundlage für Entrechtung, Beraubung und spätere Vernichtung geschaffen. Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft wurden nun als „Angehörige rassefremden Volkstums“ klassifiziert. Begründet wurde dies mit einem Kernpunkt der nationalsozialistischen Ideologie, einer erfundenen „deutschen Blut- und Volksgemeinschaft“, aus der Jüdinnen und Juden als „nichtarische Rasse“ ausgeschlossen wurden. Im rassischen Antisemitismus spielte es anders als in dem jahrhundertelang wirksamen christlichen Antijudaismus keine Rolle, ob die Menschen sich selbst als jüdisch verstanden oder ob sie dem jüdischen Glauben ihrer Vorfahren nicht mehr anhingen. Mit der Grenzzie1938 aus jüdischer Perspektive, Bonn 2020, S. 15–27, hier S. 15; https://www.dhm.de/ lemo/kapitel/ns-regime/etablierung-der-ns-herrschaft/emigration.html (letzter Zugriff: 11.02.2022). 21 Bistrovic/Mecklenburg/Weitzer/Wrobel, In Echtzeit (wie Anm. 20), S. 45; Monika Gibas, Einleitung, in: Monika Gibas (Hg.), „Ich kam als wohlhabender Mensch nach Erfurt und ging als ausgeplünderter Jude davon“. Schicksale 1933–1945, Erfurt ²2010, S. 5–10, hier S. 8 f. 22 Annegret Schüle/Tobias Sowade, Willy Wiemokli. Buchhalter bei J. A. Topf & Söhne – zwischen Verfolgung und Mitwisserschaft, Berlin 2015, S. 13–18; Philipp Gliesing, „Wie vertraulich festgestellt werden konnte, hat eine Reihe von Konsumenten […] ihre Monatskonten in dem jüdischen Kaufhaus zum ‚Römischen Kaiser‘ in Erfurt mit dem 1.9.1935 aufgegeben.“ Das Kaufhaus Römischer Kaiser (KRK), Erfurt – eine außergewöhnliche Einkaufsgelegenheit, in: Gibas (Hg.), Ich kam als wohlhabender Mensch (wie Anm. 21), S. 29–37. 23 Monika Gibas, Einleitung, in: Dies. (Hg.), „Arisierung“ in Thüringen (wie Anm. 14), S. 20–36, hier S. 34; Thomas Müller, „Simson“ in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 449–451; https://www.deutsche-biographie.de/pnd133976181.html#ndbcontent (letzter Zugriff: 13.02.2022).

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hung zum „Nichtjüdischen“ hatten die Ideologen zunächst selbst Probleme, denn in wessen Adern floss denn nun „jüdisches“, das hieß „minderwertiges“ Blut? Schließlich einigte man sich in dem „Reichsbürgergesetz“ und dem „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, dass „Deutschblütige“ oder „Arier“ vier Großeltern vorzuweisen hatte, die nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten. Nur dann blieben sie Reichsbürger mit allen staatsbürgerlichen Rechten. Wer drei oder vier jüdische Großeltern hatte, galt als „Volljude“. Menschen mit zwei oder einem jüdischen Vorfahren in der Großelterngeneration wurden als „Halbjuden“ bzw. „Vierteljuden“ definiert. Der Grad der Verfolgung hing von der Klassifizierung der Nationalsozialisten ab, doch ihr Antisemitismus und Rassismus richtete sich gegen alle.24 Die Konstruktion einer „jüdischen Rasse“ ist absurd, unwissenschaftlich und menschenverachtend. Sie ist auch im Rahmen der nationalsozialistischen Logik gescheitert, denn es gelang den Nationalsozialisten trotz aller Bemühungen nicht, genetische Merkmale einer „jüdischen Rasse“ zu finden, nach denen man die Menschen hätte einteilen können. Als Ankerpunkte für ihre Abgrenzung griffen auch sie letztlich auf den Glauben (der Großeltern) zurück. Da die nationalsozialistische Definition des „Jüdischen“ zum Selbstverständnis der Betroffenen im Widerspruch steht, wird in diesem Beitrag nach Möglichkeit versucht, den auch in der Forschung zum Nationalsozialismus gebräuchlichen Oberbegriff „Jüdinnen und Juden“ für alle antisemitisch Verfolgten durch die Formulierung „Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft“ zu ersetzen. 1938 setzte die massenhafte direkte Gewalt ein. Im August 1938 wurden „Sara“ und „Israel“ als zusätzliche Vornamen vorgeschrieben, sofern die Menschen nicht durch einen sogenannten typisch jüdischen Vornamen als „Juden“ zu erkennen waren. Auch ein in den Pass gestempeltes „J“ machte sie für Polizei und Behörden jederzeit sichtbar. Im Juni wurden etwa 1.500 Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft im Rahmen der sogenannten „Asozialen-Aktion“ verhaftet, weil sie eines der antijüdischen Verbote übertreten hatten. Ende Oktober wurden 15.000 bis 17.000 Menschen, die als polnische Staatsangehörige schon lange in Deutschland lebten und denen nun ihre Staatsbürgerschaft vom polnischen Parlament entzogen worden war, als „Staatenlose“ nach Polen abgeschoben. Hunderte Menschen in Thüringen waren betroffen, zum Teil ist ihr Schicksal dokumentiert.25 Mit dem von der NSDAP-Führung in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 angeordneten Terror gegen die jüdische Bevölkerung gingen Massenverhaftungen jüdischer Männer und die Vernichtung der Orte jüdischen Lebens und Wirkens einher. Im ganzen Reich plünderten und zerstörten SS- und SA-Männer unter Beteiligung von Bürgern 24 Schüle/Sowade, Willy Wiemokli (wie Anm. 22), S. 18–20. 25 Abgeschoben aus Erfurt. Dokumente zur „Polenaktion“ 1938, hg. von Landeshauptstadt Erfurt, Stadtverwaltung und dem Netzwerk „Jüdisches Leben Erfurt“ (Hg.), Jena 2018.

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Synagogen, jüdische Friedhöfe, Geschäfte und Wohnungen. 91 Menschen wurden in dieser Nacht ermordet. Salomon Korn, damals Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, ging 2016 davon aus, dass es vor der nationalsozialistischen Machtübernahme etwa 2.800 Synagogen und Betstuben in Deutschland gegeben hatte. 1.400 von ihnen wurden nach seinen Angaben in der Novembernacht zerstört,26 die Gemeinden damit ihrer religiösen und kulturellen Zentren beraubt. Soweit bekannt, fielen in Thüringen den systematischen Plünderungen und Brandstiftungen die Synagogen in Arnstadt, Barchfeld, Bleicherode, Eisenach, Erfurt, Geisa, Gera, Gleicherwiesen, Gotha, Heiligenstadt, Meiningen, Nordhausen, Schmalkalden, Suhl, Walldorf an der Werra und anderen Orten zum Opfer.27 Erhalten gebliebene jüdische Gotteshäuser mussten in den folgenden Jahren verkauft werden wie im thüringischen Berkach oder sie wurden zweckentfremdet oder abgerissen. „Damit verschwand eine deutsche Baugattung, die seit etwa 1890 eine regelrechte Blüte erlebt hatte, nahezu vollständig aus dem Bewusstsein der Deutschen“, so Korn.28 Etwa 30.000 jüdische Männer wurden in dieser Novembernacht verhaftet und misshandelt, 26.000 von ihnen in Konzentrationslager verschleppt, davon 9.828 in das KZ Buchenwald. 810 dieser Männer kamen aus Thüringen.29 Mit der Haft sollten sie zur Aufgabe ihres Besitzes und zum schnellen Verlassen des Landes gebracht werden.30 Im Februar 1939 wurden die Menschen zum Umzug in Ghettohäuser gezwungen, in denen sie auf engstem Raum leben mussten. 78.000 Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft verließen in diesem Jahr Deutschland,31 zumeist unter großen persönlichen und materiellen Verlusten. Die europäischen Nachbarländer boten allerdings nur so lange Schutz, bis die Wehrmacht sie eroberte. Die Volkszählung am 17. Mai 1939, die anders als die Volkszählung vom 16. Juni 1933 nun die rassenantisemitische Definition der Nürnberger Gesetze zugrunde legte, erbrachte eine Zahl von 26 https://archive.ph/20160220193544/http://www.zentralratdjuden.de/de/topic/385. html#selection-63.0-63.556 (letzter Zugriff: 13.02.2022). 27 Auch die Geschichte der 1938 zerstörten Thüringer Synagogen ist noch nicht systematisch erforscht. Die Angaben wurden einschlägigen Websites entnommen und müssen durch eine wissenschaftliche Recherche und die systematische Zusammenführung lokalgeschichtlicher Publikationen untersetzt werden. 28 https://archive.ph/20160220193544/http://www.zentralratdjuden.de/de/topic/385. html#selection-63.0-63.556 (letzter Zugriff: 13.02.2022). 29 Rekonstruiert nach der Liste „Herkunft der vom 10.–13. November 1938 in Buchenwald ankommenden 103 Transporte mit jüdischen Häftlingen (nach den täglichen Veränderungsmeldungen)“ in: Gedenkstätte Buchenwald (Hg.), Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, Göttingen 42005, S. 114. 30 Ebd., S. 111–115. 31 https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/etablierung-der-ns-herrschaft/emigration.html (letzter Zugriff: 11.02.2022).

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1.117 Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft für das Land Thüringen, 611 für den Regierungsbezirk Erfurt und 60 für den Landkreis Herrschaft Schmalkalden. Damit lebten also noch 1.788 von der nationalsozialistischen Verfolgung bedrohte Menschen in Thüringen,32 im Vergleich zu den rund 6.200 Menschen in dieser Gruppe 1933. Mit Kriegsbeginn am 1. September 1939 war die Auswanderung kaum noch möglich. Die öffentliche Stigmatisierung durch den gelben Stern mit der Bezeichnung „Jude“, der ab September 1941 von allen nach den Nürnberger Gesetzen als „Juden“ definierten Menschen über sechs Jahren getragen werden musste, führte zu großer Verzweiflung. Ausgenommen waren nur Menschen, die mit einer nichtjüdischen Person verheiratet waren, also in einer sogenannten „Mischehe“ lebten. Der gelbe Stern konnte die Betroffenen jederzeit zum Ziel antisemitischer Angriffe von Fremden und von Vertretern der Staatsmacht machen. Dr. Oskar Salomon aus Gera ging deshalb mit seiner Frau und seinem Sohn am 18. September 1941 in den Freitod. Zuvor schrieb er an seinen Vermieter: Es tut mir und den Meinen im tiefsten Herzen leid, Sie durch eine Tat, die wir wenn auch schweren Herzens nachher begehen wollen, in Verdruß zu bringen. […] wir wollen und können die Entehrung, die uns durch den Zwang einen handtellergroßen gelben Stern auf der linken Brustseite zu tragen auferlegt worden ist, nicht auf uns nehmen, ohne uns selbst verachten zu müssen. Wir scheiden aus dieser Welt in dem Bewusstsein, jahrelang erduldet zu haben, was fast unerträglich war, aber Alles hat seine Grenzen. […] Die Miete wird Ihnen bis einschließlich Dezember monatlich durch die Bank überwiesen werden.33

Demütigung, Ausgrenzung, Berufsverbot, Verarmung und Enteignung, Vertreibung aus der Wohnung, Trennung der Familien, vergebliche Auswanderungsversuche, Zwangsarbeit, Haft und der Tod von Angehörigen, Freundinnen und Freunden – das alles hatten die Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft erlitten, als im Oktober 1941 im Deutschen Reich die Massen­deportationen einsetzten. Sich einem Deportationsbefehl zu entziehen, wurde mit der Todesstrafe geahndet. Die erste Deportation aus Thüringen fand am 9./10. Mai 1942 statt. 513 Menschen aus 42 Thüringer Orten wurden in die Viehauktionshalle nach Weimar gebracht und von dort in das Ghetto Bełżyce verschleppt. Die einzige Überlebende war Hannelore Wolff.34 Alle anderen erlagen den unmenschlichen Bedingungen oder wurden in Majdanek, in anderen Arbeitslagern und im Vernichtungslager Sobibór ermordet. Am 19. September 1942, in der zweiten großen Deportation aus Thüringen, wurden 364 Menschen aus 38 Orten nach There­ 32 Liesenberg/Stein (Hg.), Deportation und Vernichtung (wie Anm. 14), S. 57 f. 33 Zitiert nach: Werner Simsohn, Juden in Gera, Ein geschichtlicher Überblick, Konstanz 1997, S. 257 f. 34 Ihre Erinnerungen veröffentlichte sie in: Laura Hillman, Ich pflanze einen Flieder für dich. Auf Schindlers Liste überlebt, Weimar 2020.

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Abb. 1–3: Ein von der Stadt Eisenach beauftragter Fotograf dokumentierte in insgesamt 20 Aufnahmen den Zug von 58 Menschen vom Sammelort Goethestraße 48 bis zum Eisenacher Bahnhof am 9. Mai 1942. Von dort wurden sie deportiert, keiner von ihnen kehrte zurück. Auf den Bildern sind die Passanten gut erkennbar, die das Geschehen beobachten. sienstadt verschleppt. Wie viele Menschen aus dieser Deportation überlebten, muss noch ermittelt werden. Auch in diesem angeblichen „Vorzeigeghetto“ starben die Menschen an Hunger, extremer Enge und hygienischem Notstand. Für fast zwei Drittel aller Häftlinge war Theresienstadt nur eine Zwischenstation vor der Ermordung in einem Vernichtungslager. Am 2. März 1943 wurde eine größere, nicht bekannte Zahl von Menschen aus Thüringen in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Zudem gab es kleine Transporte und viele Einzeldeportationen, darunter auch von jüdischen Ehepartnern in „Mischehen“. Die letzte Massendeportation aus Thüringen fand am 31. Januar 1945 nach Theresienstadt statt. Für die Ausstellung „Jüdische Nachbarn. Integriert, ausgegrenzt, ermordet“ des Erinnerungsortes Topf & Söhne trug die Autorin eine Zahl von 1.037 deportierten Menschen aus Thüringen zusammen.35 Die Über35 Deportation und Ermordung der Thüringer Juden 1942–1945, hg. von Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz, Erfurt, Erfurt 2013, S. 14 f. Grundlage waren die Angaben in: Liesenberg/Stein (Hg.), Deportation und Vernichtung (wie Anm. 14).

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sicht kann nicht vollständig sein, denn wenig ist etwa über die Vielzahl von Deportationen bekannt, in denen einzelne Menschen nach Auschwitz (in der Regel als Strafaktion im Anschluss an eine Gefängnishaft) oder nach Theresienstadt verschleppt wurden. Ebenfalls fehlen Angaben zu den Personen aus Thüringen, die zuerst in einem oder mehreren Konzentrationslagern im Deutschen Reich inhaftiert und von dort aus deportiert wurden. Rund zwei Drittel der Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft gelang es bis 1941, aus Deutschland zu fliehen.36 Knapp sieben Prozent tauchten vor ihrer Deportation unter, nur jeder Vierte von ihnen überlebte. Insgesamt wird geschätzt, dass sich Tausende durch die Flucht in den Selbstmord einer Deportation entzogen. Auch für Thüringen sind etliche Fälle bekannt, eine systematische Erfassung fehlt auch hier. Die Nationalsozialisten ermordeten 160.000 bis 195.000 Menschen oder sind auf andere Weise für ihren Tod verantwortlich.37 Die Zahl der Todesopfer unter den rund 6.200 Personen, die von antisemitischer Verfolgung und Vernichtung in Thüringen betroffen waren, wird derzeit ermittelt. Der Erinnerungsort Topf & Söhne verfolgt im Jahre 2022 in Kooperation mit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora ein „Erinnerungsprojekt zur Deportation der Jüdinnen und Juden in Thüringen vor 80 Jahren“. Zum Projekt zählt das Vorhaben eines digitalen Gedenkbuches auf www.juedisches-leben-thueringen.de, das auf den Personendaten aus dem „Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945“ des Bundesarchivs aufbaut und diese anhand regionaler und lokale Forschungen in Thüringen überprüft und aktualisiert.38 Es wird am 1. September 2022 freigeschaltet und zukünftig ein wichtiges Angebot für die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte vor Ort darstellen, das fortlaufend ergänzt werden kann.

36 Bistrovic/Mecklenburg/Weitzer/Wrobel, In Echtzeit (wie Anm. 20), S. 170. 37 Deportation und Ermordung der Thüringer Juden 1942–1945 (wie Anm. 35), S. 13. 38 www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/ (letzter Zugriff: 11.02.2022).

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3. Jüdische Selbstbehauptung durch Sport im nationalsozialistischen Thüringen Musste die Darstellung der Verfolgung und Vernichtung im Rahmen dieses Beitrags auf das Täterhandeln fokussieren, so soll nun im Perspektivenwechsel am Beispiel der jüdischen Sportbewegung und ihrer Akteurinnen und Akteure der Schwerpunkt auf das Handeln einzelner Menschen, auf ihre Erfahrung mit der Verfolgung und ihre Selbstbehauptung gelegt werden. 1933 begann im Sport wie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die systematische Ausgrenzung der Juden. Wo bisher sportliche Ziele und faires Miteinander galten, wurden nun Sportkameraden allein wegen ihres jüdischen Glaubens oder ihrer jüdischen Vorfahren aus den Vereinen ausgeschlossen oder hinausgedrängt. Obwohl 1933 in Thüringen wie ausgeführt rund 5.000 Menschen jüdischen Glaubens lebten, ist für die Zeit vor der nationalsozialistischen Machtübernahme kein jüdischer Sportverein überliefert. Sportbegeisterte Juden trainierten überwiegend in den bürgerlichen Clubs, aber auch in Arbeitersportvereinen. Die nationalsozialistische Führung erlaubte eine weitere sportliche Betätigung der deutschen Juden in der jüdischen Sportbewegung nur deshalb, um die bereits 1931 nach Deutschland vergebenen Olympischen Spiele 1936 trotz Boykottbestrebungen vor allem aus den USA durchführen zu können. So wurde gegenüber dem Ausland die recht durchsichtige Fassade aufrechterhalten, es gäbe keine Diskriminierung im Sport und die Olympische Charta würde respektiert. Die schon länger existierenden rein jüdischen Sportvereinigungen bekamen ab 1933 großen Zulauf und tauchten nun auch in Thüringen auf. Im Mai 1933 riefen erst der zionistische deutsche Makkabikreis und kurz darauf der Sportbund Schild des deutsch-nationalen Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (RjF) die aus den anderen Vereinen ausgeschlossenen Juden zum Eintritt auf. Zusammen verzeichneten Makkabi und Schild in diesem Jahr circa 15.000 Neuaufnahmen auf Reichsebene. Makkabi hatte Ende 1934 21.500 Mitglieder in 134 Vereinen, im Sportbund Schild trainierten 1936 etwa 21.000 Sportler in 216 Vereinen.39 Trotz der schwierigen Bedingungen waren Mitte der 1930er Jahre prozentual gesehen mindestens so viele deutsche Juden in Sportvereinen aktiv wie nichtjüdische Deutsche, wahrscheinlich sogar mehr. Im Jahr 1936 trieben 12,5 % aller Juden in Deutschland in einem Verein Sport.40 Die jüdischen Sportvereine boten nun viel mehr als nur körperliche Betätigung. Sie ermöglichten soziale Gemeinschaft, Selbstvergewisserung und Ablenkung von den Repressionen einer immer feindlicher werdenden Umgebung. Der Sportplatz wurde zu einem zentralen Treffpunkt der jüdischen Gemeinde. Vor 39 Henry Wahlig, Sport im Abseits. Die Geschichte der jüdischen Sportbewegung im nationalsozialistischen Deutschland, Göttingen 2015, S. 105, 129, 149. 40 Ebd., S. 189 f.

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allem für jüdische Kinder und Jugendliche war der gemeinsame Sport oft die einzige Möglichkeit, Momente einer unbeschwerten Zeit zu erleben, in der sie wirtschaftliche Not und die Diskriminierung durch fanatisierte Gleichaltrige in ihrem Alltag vergessen konnten. Allerdings stießen jüdische Sportvereine auf massive Behinderungen. Im Frühjahr 1933 entzogen fast alle Kommunalverwaltungen jüdischen Klubs die Nutzung städtischer Sportstätten. Allein aus taktischen Erwägungen wurde dies Ende des Jahres rückgängig gemacht, da in den USA die Diskussion um einen Boykott der Olympischen Spiele begann. Doch viele Vereine bekamen nun abgelegene und heruntergekommene Sportplätze an der Peripherie der Städte zugewiesen. Wenn auch unter extrem erschwerten Bedingungen entstand so ein jüdisches Sportleben mit eigenem Ligabetrieb, auch wenn geeignete Gegner rar waren und die Mannschaften deshalb weite Reisen auf sich nehmen mussten. Für mehrere Orte in Thüringen konnte mit aufwändigen Recherchen die Geschichte einiger ab 1933 entstandener lokaler jüdischer Sportvereine rekonstruiert werden. In Erfurt bildeten sich 1933 bemerkenswerterweise gleich zwei jüdische Vereine, die die ersten nachweisbaren jüdischen Sportvereine Thüringens in der Zeit des Nationalsozialismus sind. Ein am 31. Januar 1933 mit 35 Mitgliedern gegründeter Jüdischer Jugend- und Sportverein machte es sich entsprechend seiner zionistischen Orientierung zur Aufgabe, mit Vorträgen, Heimabenden und körperlicher Ertüchtigung junge Jüdinnen und Juden auf ein Leben in Palästina vorzubereiten.41 Soweit bekannt, überlebten die Aktiven dieses Vereins, weil sie später Deutschland auch selbst verließen. Die Erfurter Ortsgruppe des RjF gründete im Sommer 1933 eine Gruppe ihres Sportbundes Schild mit 32 Mitgliedern. Vorsitzender war Julius Schloß, Sportleiter der Schuhwarenhändler Erich Dublon.42 Ab 1935 verwehrte die Stadtverwaltung unter dem Vorwand, es sei „zu Ausschreitungen“ gekommen, allen jüdischen Sportvereinen die Nutzung ihrer Turnhallen. Eine sportliche Betätigung war nicht mehr möglich. In den folgenden Jahren wurden alle Initiatoren der Schild-Sportgruppe von den Nationalsozialisten ermordet.43 In Jena ergriff der Kaufmann Artur Friedmann, der in der jüdischen Gemeinde sehr aktiv war, im Mai 1935 die Initiative zum Aufbau einer Gruppe des Sportbundes Schild. Sie hatte schon bei ihrer Gründung 30 Mitglieder und gewann in der folgenden Zeit zahlreiche weitere junge Leute aus Jena und der Umgebung.44 41 Wochenblatt für den Synagogenbezirk Erfurt, 27. Januar 1933, 3. Februar 1933, 5. Mai 1933. 42 Ausgelöschtes Leben (wie Anm. 7), S. 92 f. Auch die Informationen über das Schicksal der Familie Dublon stammen aus diesem Band. 43 Ebd., S. 511, 397 f. 44 Die Kraft. Blatt für Berufsumschichtung, Siedlung, Arbeitsdienst, Jugendertüchtigung und Sport, Nr. 12, Beilage zu „Der Schild. Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten e.V.“, Berlin, 17. Mai 1935; vgl. Familien Friedmann, in: Stadtarchiv Jena (Hg.), Jüdische Lebenswege in Jena, S. 252–257.

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Neben Fußball und Handball wurden Tennis, Tischtennis, Leichtathletik und Turnen betrieben.45 Weil sich der Direktor des Instituts für Leibesübungen der Universität Jena über die Verpachtung eines Vereins-Tennisplatzes an die SchildGruppe beschwert hatte,46 musste man auf den kleinen privaten Tennisplatz der Familie Friedmann ausweichen. Hand- und Fußball wurde in öffentlichen Sportanlagen im Saaletal bei den Teufelslöchern gespielt. Bis 1937 organisierte Artur Friedmann regelmäßig größere Zusammenkünfte, Feiern und Wettkämpfe mit Siegerehrungen. Noch im Oktober 1937 planten die Jenaer Sportkameraden mit den Schild-Sportgruppen aus Dresden, Chemnitz, Meiningen (s. u.) und Leipzig, in der anstehenden Fußballsaison Rundenspiele durchzuführen.47 Doch aus den Plänen wurde nie Realität. Im November 1938 wurde Artur Friedmann im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert, 1941 gelang ihm noch mit der Familie die Auswanderung in die USA.48 In den ersten Monaten nach ihrer Machtübernahme zerschlugen die Nationalsozialisten systematisch die Arbeitersportbewegung. In Gera wurde im Juli 1933 der sozialdemokratische Verein Freie Turnerschaft Untermhaus aufgelöst,49 dessen Fußballmannschaft überwiegend aus jüdischen Spielern bestand.50 1935 gründeten zwei Mitglieder der jüdischen Gemeinde Geras eine Sportgruppe mit dem Namen Bar Kochba, die dem reichsweiten zionistischen Sportbund Makkabi angehörte.51 Die etwa 60 Mitglieder von Bar Kochba in Gera betrieben angeleitet von Egon Sabersky und seiner nichtjüdischen Frau Helene Gymnastik, Geräteturnen und Leichtathletik. Auch Hand- und Fußball sowie Tennis wurden gespielt. Finanzielle Unterstützung erhielt die Gruppe von zahlreichen jüdischen Geschäftsleuten der Stadt. Darunter waren auch Robert Mazur und sein Schwager Georg Halpert, die Inhaber der Firma Halpert. Ihre Teppichfabrik war eines der größten Unternehmen Geras und beschäftigte viele jüdische Angestellte, darunter auch Mitglieder Bar Kochbas. Robert Mazur stellte der Tennisriege seinen privaten Tennisplatz zum Training zur Verfügung. Seine Unterstützung ist auch deshalb bemerkenswert, weil Robert Mazur selbst Mitglied des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten war. Doch der Sportalltag war von Improvisationen, erzwungenen Platzwechseln und Repressalien der 45 Schüle/Zielinski, Vom Platz vertrieben (wie Anm. 17), S. 80. 46 Hans-Georg Kremer, Die Gründung des Instituts für Leibesübungen Jena 1934 und dessen Entwicklung bis 1945, in: Uwe Hossfeld/Jürgen John/Oliver Lemuth/Rüdiger Stutz (Hg.), Kämpferische Wissenschaft. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln 2003, S. 973. 47 Die Kraft, 22. Oktober 1937. 48 Familien Friedmann, in: Stadtarchiv Jena (Hg.), Jüdische Lebenswege (wie Anm. 44), S. 256. 49 LATh-StA Greiz, Thüringisches Amtsgericht Gera Nr. 1055, Beschluß des Registergerichts vom 28. Juni 1933. 50 StadtA Gera, Sim 2 918, Brief Werner Simsohns an Jakob Frost, Gera, 26. Juli 1988. 51 Ebd., Brief Jakob Frosts an Werner Simsohn, Côte St. Luc, 18. August 1988.

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Gestapo geprägt. 1937 kamen die Aktivitäten Bar Kochbas vollständig zum Erliegen.52 Egon Sabersky wurde 1939 von NSDAP-Ortsgruppenleiter Dr. Focke denunziert und wegen „Rassenschande“ zu Zuchthaus und anschließender KZ-Haft verurteilt. Von Dachau aus wurde er im Juli 1944 in die „Euthanasie-Anstalt“ Schloss Hartheim bei Linz gebracht und dort in der Gaskammer ermordet. Seine Frau und sein Sohn überlebten die Shoah.53 In Meiningen lebten überdurchschnittlich viele Jüdinnen und Juden, sie stellten fast 3 % der Bevölkerung. Der Kaufmann Adolf Stern, der 1933 aus dem Vorstand des VfL Meiningen 04 gedrängt wurde, gründete im Januar 1934 zusammen mit dem Vorsitzenden der Meininger Ortsgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten und der jüdischen Gemeinde eine Schild-Sportgruppe und übernahm die Position des Sportleiters. Kurze Zeit darauf gelang es, einen eigenen Sportplatz im Werratal am Fuße des Landsberges zu errichten, der schon am 24. Juni 1934 mit einem großen Sportfest eingeweiht werden konnte. Das von Adolf Stern organisierte Fest wurde zu einem großen Erfolg. 300 Zuschauer kamen aus Meiningen und „der näheren und weiteren Umgebung“, um Gymnastik, Staffelläufe und ein Fußballspiel zwischen der Mannschaft von Schild Meiningen und Eisenach-Barchfeld mitzuerleben.54 Der behördlich genehmigte Sportbetrieb der jüdischen Gemeinde war für eine Gruppe ortsbekannter Nationalsozialisten so unerträglich, dass sie die Sportanlage am Landsberg wiederholt zerstörten. Doch die Schild-Sportgruppe wich vor der Gewalt nicht zurück und reparierte den Schaden mit Hilfe der jüdischen Gemeinde immer wieder. Die Repression von außen hatte zunächst vor allem eine verstärkte Solidarisierung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zur Folge. Regelmäßig veranstaltete Schild Meiningen attraktive Spiele und Feste.55 So richtete der Sportverein im Mai 1936 ein Jugendturnier aus, an dem neben der eigenen Jugendmannschaft auch die Vereine aus Coburg, Schmalkalden, Themar und Eisenach teilnahmen.56 Um möglichst häufig bei Fußballspielen antreten zu können, unternahmen die Mannschaften des Schild Meiningen weite Reisen, etwa nach Nürnberg, Kassel, Frankfurt oder Leipzig. Die jüdische Gemeinde Meiningens unterstützte nicht nur den eigenen Sportplatz, sondern ermöglichte auch die kostenaufwändigen Reisen für den Sportverein. Im Januar 1938 fand das letzte nachweisbare Fußballspiel des Schild-Vereins statt, das die Meininger mit 3:2 gegen den Schild Eisenach gewannen.57 Adolf Stern konnte nach dem 52 Simsohn, Juden in Gera (wie Anm. 33), S. 45–47. 53 Ders., Juden in Gera. Jüdische Familiengeschichten, Konstanz 1998, S. 243 f. 54 Die Kraft, 6. Juli 1934. 55 Armin Schmid/Renate Schmid, Im Labyrinth der Paragraphen. Die Geschichte einer gescheiterten Emigration, Frankfurt a. M. 2005, S. 18. 56 Die Kraft, 22. Mai 1936. 57 Lorenz Peiffer/Henry Wahlig, Jüdische Fußballvereine im nationalsozialistischen Deutschland. Eine Spurensuche, Göttingen 2015, S. 527–530.

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Novemberpogrom 1938 noch rechtzeitig in die USA auswandern und damit sein Leben retten.58 Der Sportplatz der jüdischen Gemeinde ging in den Besitz der Stadt Meinigen, auf ihm wird heute noch trainiert. Zu Recht befürchteten viele Juden, dass die Nationalsozialisten nach den Olympischen Spielen keinen Grund mehr hatten, den jüdischen Sport weiter zu dulden. Zumeist existierten die Vereine zwar noch weiter, doch der Spielbetrieb wurde immer schwieriger. Die Sportstätten wurden immer weniger, viele kleinere Vereine verschwanden. Die Politik der „Arisierung“, das heißt der Zwangsveräußerung jüdischen Eigentums weit unter Wert, der Ausschluss von Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft aus den ihnen noch verbliebenen Berufszweigen und der Beginn des offenen Terrors zerstörten die Lebensgrundlagen und machten damit auch eine sportliche Betätigung fast unmöglich. Unter den im Novemberpogrom in die KZ deportierten jüdischen Männern waren auch viele, die das Rückgrat des noch existierenden jüdischen Sportlebens in Thüringen bildeten. Auch die wenigen noch vorhandenen jüdischen Sportplätze wurden zerstört und beschlagnahmt. Anfang 1939 wurde das Vermögen von Makkabi und Schild zwangsweise auf die Reichsvereinigung der Juden Deutschlands übertragen, die nun völlig staatlicher Aufsicht und Gestapo-Kontrolle unterstellt wurde. Jede Form eigenständiger jüdischer Interessenvertretung war damit zerstört. Damit bedeuteten die Novemberpogrome das Ende des jüdischen Sports in Deutschland.

58 Biographische Angabe zu Adolf Stern in: Juden in Thüringen 1933–1945. Biographische Daten, Bd. 2, hg. vom Europäischen Kultur- und Informationszentrum in Thüringen, Erfurt, Forschungsgruppe „Geschichte der Juden im nationalsozialistischen Thüringen“, Erfurt ²2002.

Monika Juliane Gibas

Im Kreis Arnstadt befinden sich noch folgende Firmen im Besitz von Juden. „Arisierung“ der Wirtschaft in Thüringen am Beispiel Arnstadts

„Arisierung“ – der Begriff stammt aus dem Umfeld des deutsch-völkischen Antisemitismus der 1920er Jahre. Er wurde im Kontext der Nachkriegskrise, von Inflation und Massenarmut geprägt, als die Forderung nach einer Ausgrenzung jüdischer Unternehmen aus der Wirtschaft lauter wurde.1 Im zeitgenössischen Behördenjargon der 1930er Jahre kursierten vor allem zwei Begriffe zur Beschreibung dieses Vorhabens: „Entjudung der Wirtschaft“ und „Arisierung“. Beide finden sich auch in den Akten aus Thüringer Archiven. Die Formulierung „Entjudung der Wirtschaft“ beschrieb den Gesamtprozess der Marktbereinigung durch die Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben.2 Dabei konnte es sich sowohl um vollständige Liquidierung von sogenannten „jüdischen Unternehmen“ handeln, aber auch um den Eigentumswechsel von sogenannter „jüdischer in arische Hand“, wie es in Anzeigen auch in thüringischen Zeitungen zu lesen war. Mit dem Begriff „Arisierung“ wurde meist dieser Akt des Eigentumswechsels beschrieben. Gegen den Gebrauch des Begriffs „Arisierung“, der sich spätestens um 1936/37 im allgemeinen Sprachgebrauch der Behörden durchgesetzt hatte, protestierte die Zeitung der Schutzstaffel der NSDAP „Das Schwarze Korps“, die von der Reichsführung der SS seit 1934 herausgegeben wurde. Im Artikel mit der Überschrift Arisieren, ein neuer Sport in der Ausgabe vom 5. August 1937 wird argumentiert: Was heißt das, ein Unternehmen sei nun arisiert? Ist es arisch oder nicht arisch? Nach dem Sprachgebrauch dürfte es nicht arisch sein, denn was vergoldet ist, ist nicht aus Gold, was elektrisiert wird, ist nicht elektrisch, was arisiert wird, ist im Kern jüdisch und nur mit einer arischen Tünche versehen. Das Wort ‚arisiert‘ ist eine typische jüdische Erfindung und bezeichnet die arische Tarnung.3 In Thüringen gab schon lange vor der staatlich verordneten „Entjudung der Wirtschaft“ durch das NS-Regime im Frühjahr 1938 Stimmen, die forderten, jüdische Wirtschaftsunternehmen vom Markt zu verdrängen. In einer Land1 Frank Bajohr, Arisierung, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd.3, Boston/Berlin 2010, S. 30 f. 2 Monika Gibas (Hg.), „Arisierung“ in Thüringen. Entrechtung, Enteignung und Vernichtung der jüdischen Bürger Thüringens 1933–1945. Quellen zur Geschichte Thüringens Nr. 27, 2 Bde., Erfurt 2006. 3 Das Schwarze Korps, 05.08.1937.

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tagsdebatte am 29. Februar 1924 erklärte Artur Dinter (1876–1948),4 Fraktionsvorsitzender des Völkisch-Sozialen Blocks im thüringischen Landtag und Autor antisemitischer Schriften (1917/18 Roman „Die Sünde wider das Blut“): Bedingung für die Tolerierung einer Minderheitenregierung durch seine Fraktion sei es, Juden aus allen Bereichen der Gesellschaft zu verbannen.5 Dabei ging es um Lehrpersonal in den Schulen und Universitäten aber auch um erfolgreiche Kaufhäuser, um kleine Einzelhandelsgeschäfte, Apotheken und andere Unternehmen, die von Inhabern mit jüdischen Wurzeln in Städten und Dörfern Thüringens meist seit vielen Jahrzehnten erfolgreich betrieben worden waren. Sie sollten als lästige Konkurrenz ausgeschaltet werden. Zu Beginn der 1930er Jahre waren solche Forderungen dann schon im öffentlichen Raum Thüringens präsent. Mit antisemitischen Plakaten, mit Klebezetteln an Fensterscheiben von Apotheken, Lebensmittelläden und Kaufhäusern jüdischer Inhaber wurde versucht, deren Kunden zu beeinflussen und einzuschüchtern.6 Bei der Landtagsneuwahl in Thüringen am 31. Juli 1932 verhalfen die Bürger der NSDAP mit einem Wahlergebnis von 42,5 % auf legalem Weg zur politischen Macht. Der langjährige NSDAP-Gauleiter Thüringens, Ernst Friedrich Christoph (Fritz) Sauckel (1894–1946), wurde am 26. August 1932 zum thüringischen Ministerpräsidenten und Innenminister gewählt.7 Damit war ein Antisemit und konsequenter Vertreter der Rassenideologie noch vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten in ganz Deutschland Landesoberhaupt von Thüringen. Schon in seiner Regierungserklärung am 29. August 1932 berief sich Sauckel auf „Rasse“ und „Volkstum“ als ideologische Grundpfeiler seiner künftigen Regierungspolitik.8 Das Vorhaben, die jüdischen Unternehmen als Konkurrenten auszuschalten, das schon 1924/25 im Thüringer Parlament von Artur Dinter und seiner Fraktion als wichtige Aufgabe des Staates formuliert worden war, stand auf seiner Agenda und ist in den folgenden Jahren unter der Regierung Sauckel Schritt um Schritt umgesetzt worden. Sauckel betätigte sich per4

Vgl. Hermann Weiss, „Dinter, Artur“ in: Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main ²2011, S. 90–92. 5 Steffen Rassloff, Antisemitismus und parlamentarische Bühne. Die „jüdische Frage“ im Thüringer Landtag 1920–1933, in: Zwischen Mitgestaltung und Ausgrenzung. Jüdische Abgeordnete und jüdisches Leben als Thema in Thüringer Parlamenten. (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, 26), Weimar 2007, S. 363. 6 Vgl. Monika Gibas (Hg.), „Ich kam als wohlhabender Mensch nach Erfurt und ging als ausgeplünderter Jude davon.“ Schicksale 1933 bis 1945, Erfurt 2008. (Ausgewählte Fälle zur „Arisierung“ jüdischer Unternehmen in verschiedenen Orten Thüringens, recherchiert von Studierenden der Friedrich-Schiller-Universität Jena). 7 Vgl. Steffen Rassloff, Fritz Sauckel. Hitlers „Muster-Gauleiter“ und „Sklavenhalter“, Erfurt ³2008. 8 Detlev Heiden/Gunther Mai (Hg.), Thüringen auf dem Weg ins „Dritte Reich“, Erfurt 1995, S. 237 f.

„Arisierung“ der Wirtschaft in Thüringen am Beispiel Arnstadts

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sönlich als Vorreiter der „Arisierung“ in Thüringen und betrieb schon seit 1929 mehrere Jahre hartnäckig die erste Enteignung eines jüdischen Großunternehmens – der Firma Simson & Co. in Suhl –, was 1935 auch gelang.9 Fritz Sauckel war in Arnstadt kein Unbekannter. Die Ortsgruppe Arnstadt der NSDAP hatte schon in den frühen 1920er Jahren mehrfach durch Einladungen Sauckels auf sich aufmerksam gemacht, so 1924 und 1926. Am 21. Mai 1926 sprach Gauleiter Sauckel im „Schwarzburger Hof“ in Arnstadt zum Thema „Die Versklavung der deutschen Wirtschaft durch die internationale Hochfinanz“.10 Die so geschaffenen Voraussetzungen für staatlich beförderten Antisemitismus wirkten auch als Brandbeschleuniger für eine in Arnstädter Wirtschaftskreisen schon vor 1933 längst verbreitete Meinung: Vor allem müsse der jüdische Einfluss auf Thüringens Wirtschaft zurückgedrängt werden.

1. Beginn der Ansiedlung jüdischer Unternehmen in Arnstadt (1874) 1347 wird erstmals eine jüdische Gemeinde in Arnstadt urkundlich erwähnt.11 Wie alle jüdischen Ansiedlungen in der Region Thüringen wurde sie während der Pestpogrome 1348/49 ausgelöscht. Die Juden Arnstadts seien damals erschlagen worden, so überliefert es Johann Christoph Olearius in seiner „Historia Arnstadtiensis“ aus dem Jahr 1701. Erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts können wieder jüdische Siedler in Arnstadt nachgewiesen werden.12 Aber auch danach kam es immer wieder zu Vertreibungen und neuen Ansiedlungsversuchen von Juden in Arnstadt. Aus den erhaltenen Quellen, die erstmals von Martina Guß und Andrea Kirchschlager gesichtet worden sind, geht hervor, dass sich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Juden und damit auch jüdische Unternehmen wieder für längere Zeit in Arnstadt ansiedeln konnten. Den Recherchen von Guß und Kirchschlager zufolge bestand der Arnstädter jüdische Wirtschaftssektor im Zeitraum 1874 bis 1929 aus insgesamt 19 Vieh- und Lederhandelsfirmen und aus 29 Unternehmen weiterer Branchen, darunter Textil-, Maschinen- und Baumaterialfirmen sowie Lebensmittelgeschäften. Für das 9 Ulrike Schulz, Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856– 1993, Göttingen 2013. 10 Klaus Reinhold, Chronik Arnstadt 704–2004. 1300 Jahre Arnstadt, 2. erweiterte und verbesserte Auflage, Teil 3 (Fortsetzung), o. O u. o. J., S. 1499; https://www.arnstadt. de/fileadmin/Arnstadt/Stadt_und_Verwaltung/Stadtportrait/Arnstadt_Chronik/Arnstadt-Chronik-Band-3.pdf (letzter Zugriff: 23.02.2022). 11 Martina Guss/Andrea Kirchschlager, Jüdische Ansiedlungen in Arnstadt von den Anfängen im Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, in: Schlossmuseum Arnstadt (Hg.), Jüdische Familien in Arnstadt und Plaue. Katalog zur Sonderausstellung, Weimar 2021, S. 21. 12 Ebd., S. 22.

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Jahr 1874 ist die Viehhandlung „Mendel & Rosenbaum“ der beiden Inhaber Abraham Mendel und Meier Rosenbaum als Erstansiedlung eines Wirtschaftsunternehmens nachgewiesen. Das Familienunternehmen war schon 1832 in Plaue von Jesaias Mendel gegründet worden. Sein Sohn Abraham verlegte den Standort dann 1874 nach Arnstadt. Der jüngste Zuwachs zum Wirtschaftsleben in Arnstadt, das Konfektionsgeschäft Georg Simon, datiert aus dem Jahr 1929. Nach bisheriger Aktenauswertung war es das letzte jüdische Unternehmen, das in Arnstadt begründet wurde.13 Im Jahr 1932 gab es in Arnstadt noch 22 Unternehmen die von jüdischen Inhabern betrieben wurden: Fünf Viehhandlungen, zwei Lederhandlungen, sechs Unternehmen für Manufaktur- und Schnittwaren, drei Gewerbe für Bekleidung, fünf Gewerbe für Maschinen- und Baubedarf sowie ein Zigarrengeschäft und einen Laden für Delikatessen und Fischwaren. In diesem Jahr feierte das älteste Arnstädter jüdische Unternehmen, die Viehhandlung Mendel, die seit 1912 von Abraham Mendels Sohn Adolf Mendel weitergeführt wurde, ihr 100-jähriges Jubiläum, wie die örtliche Presse berichtete.14 1932 war aber auch das Jahr der Wahl des Antisemiten Sauckel zum thüringischen Ministerpräsidenten und Innenminister. Damit begann für die Juden Arnstadts eine neue Ära: Die von der Landesregierung getragene, Schritt für Schritt vorangetriebene Vernichtung der wirtschaftlichen Existenzgrundlagen der jüdischen Familien.15 Antisemitische Anfeindungen jüdischer Unternehmer und Geschäftsinhaber durch NSDAP-Mitglieder und ihre Sympathisanten gehörten zu dieser Zeit auch in Arnstadt schon längst zum Alltag.

2. Antisemitische Kampagnen gegen jüdische Unternehmen in Arnstadt (1932/33) Im Sommer 1932 erschien in Arnstadt eine Propagandaschrift mit dem Titel „Kampf dem Konsum und Warenhäusern. Kauft hier am Platze!“, herausgegeben von E. Bühler, Arnstadt (Abb. 1). Das Hakenkreuz auf dem Deckblatt verweist auf die Initiatoren dieser Propagandaschrift: Mitglieder der NSDAP-Ortsgruppe Arnstadt. In der antisemitischen Propaganda-Broschüre von 1932 werden alle Arnstädter Unternehmen aufgelistet, in denen die Einwohner nun nur noch kaufen sollten. Einige Geschäftsinhaber legten sogar besonderen Wert darauf, in dieser Broschüre 13 Dies., Jüdische Gewerbeansiedlungen in Arnstadt von 1874 bis 1929, in: ebd., S. 65–107. 14 Ebd. 15 Monika Juliane Gibas, „Arisierung“ der Wirtschaft in Thüringen. Das Beispiel Arnstadt, in: ebd., S. 108–148.

„Arisierung“ der Wirtschaft in Thüringen am Beispiel Arnstadts

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Abb. 1: Antisemitische Propaganda in Arnstadt 1932, Broschüre des Herausgebers E. Bühler neben der Werbung für ihr Unternehmen auch die Zugehörigkeit zur NSDAP offen zu bekennen, wie der SA Mann Otto Bauss, Inhaber einer Firma für Wandund Bodenbeläge und der SS Mann Werner Hoy, der ein Baugeschäft betrieb. Bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933, die Hitler und seine Partei an die Macht spülte, konnte die NSDAP im Wahlkreis 12, zu dem das Land Thüringen sowie der Regierungsbezirk Erfurt gehörten, 47 % der Stimmen für sich verbuchen.16 Einen Monat später startete die neue Reichsregierung die erste öffentliche antisemitische Aktion des NS-Regimes, die auch den Wirtschaftssektor betraf. Für den 1. April 1933, einen Sonnabend, rief sie die Bevölkerung des Landes zum reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte auf.17 Auch Arnstadts Antisemiten stimmten die Einwohner auf das Ereignis ein. Im „Arnstädter Anzeiger“ erschien am 31. März 1933, am Vortag des angekündigten Boykotts, die folgende Aufforderung an die Einwohnerschaft: Kauft Deutsche Waren. Unterstützt Einzelhandel und Gewerbe. Meidet unserem Beispiel folgend: jüdische Geschäfte (Abb. 2). Gerade der Druck, der in Arnstadt durch solche antisemitischen Propagandaaktionen von Ortsansässigen auf die jüdischen Unternehmer ausgeübt wurde, schürte Ängste und beförderte auch Überlegungen, gutgehende Unternehmen aufzugeben. So verließ der Kaufmann Siegmund Rosenberg (1863–1942), der seit dem 4. März 1898 in Arnstadt ein Geschäft für Leder- und Schuhmacherbedarf betrieb, am 29. Dezember 1932, wenige Monate nach der Veröffentlichung der Broschüre mit der Kampfansage gegen jüdische Geschäfte Arnstadt und zog nach Erfurt. Ob das tatsächlich für den damals 69-jährigen 16 Reinhard Jonscher/Willy Schilling, Kleine Thüringische Geschichte. Vom Thüringer Reich bis 1990, Jena ³2001, S. 251. 17 Wolfgang Benz, Geschichte des Dritten Reiches, München 2000, S. 29 f.

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Abb. 2: 1933: „Kauft Deutsche Waren … Meidet unserem Beispiel folgend: jüdische Geschäfte.“ Geschäftsinhaber der Anlass war, Arnstadt den Rücken zu kehren, muss bislang offenbleiben. Auch Erfurt verließ er wieder und lebte ab 5. April 1934 in Altenburg. Das war sein letzter Wohnsitz. Von dort wurde er am 19. September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er am 14.12.1942 verstarb.18 Mitglieder der NSDAP sowie Sympathisanten der antisemitischen Politik des NS-Regimes heizten auch im Kreis Arnstadt die Stimmung gegen die jüdischen Bürger immer weiter an. Sie forderten nun nicht mehr nur die Ausschaltung der Konkurrenz, sondern die Vertreibung aller Juden aus ihren Städten und Gemeinden. Ein Blick in die Akten des Thüringischen Kreisamtes Arnstadt verdeutlicht den unmittelbaren Zusammenhang solcher Aktionen mit den Nürnberger Rassegesetzen vom 15. September 1935. Am 27. September 1935, wenige Tage nach ihrer Verkündung, musste sich das Kreisamt Arnstadt mit dem Problem beschäftigen, dass in vielen Gemeinden auf den Ortseingangs- und -ausgangsschildern Klebezettel mit antisemitischen Botschaften aufgebracht oder gleich ganze Tafeln mit der Inschrift Juden unerwünscht oder Juden sind in unserer Ortschaft nicht erwünscht aufgestellt worden sind.19 Ein Hauptwachtmeister meldete dem Thüringischen Kreisamt am 29. September 1935, auch in der Siedlung Ichtershausen bei Arnstadt seien zwei Schilder mit Aufschrift Juden nicht erwünscht von der Gemeinde selbst hergestellt und auf Gemeindeareal von den Siedlern angebracht worden.20 18 Ausgelöschtes Leben. Juden in Erfurt 1933–1945. Biografische Dokumentation, hg. von Landeshauptstadt Erfurt, Stadtverwaltung und das Netzwerk „Jüdisches Leben in Erfurt“, Erfurt 2013, S. 363 f. 19 Schlossmuseum Arnstadt, Archivgut, Sig. G-VI 261, Aktentitel „Jüdische Gewerbebetriebe“, Bd. 1, Bl. 119. 20 Ebd., Bl. 108 b.

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Abb. 3: Kaufhaus „Louis Pommer“, um 1930

3. … in arischen Besitz übergegangen: Das Kaufhaus Louis Pommer (1935) Die erste nachweisbare öffentliche Bezeichnung eines jüdischen Arnstädter Unternehmens als „arisiert“ erschien im „Arnstädter Anzeiger“ im Oktober 1935. In der Anzeige wurde der Verkauf des Unternehmens von Louis Pommer gemeldet.21 Seit März 1901 lebte die Familie in Arnstadt und Louis Pommer (1864– 1937) eröffnete in der Marktstraße 1 ein Warenhaus für Kurz- und Weißwaren, Damenputz und Küchengeräte. Er war ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. 1902 gründete er in Waltershausen eine Zweigniederlassung seines Warenhauses, die er bis 1921 betrieb.22 Nachdem er 1904 als Arnstädter Bürger aufgenommen worden war, kaufte Louis Pommer im Mai 1905 ein Haus in der Erfurter Straße 15. Er investierte in einen Umbau und konnte schon am 3. Februar 1906 sein Warenhaus neu eröffnen. Warenhäuser, die verschiedene Warengruppen unter einem Dach präsentierten und Kundschaft durch große Schaufenster anzogen, lagen im Trend der Zeit. Der Arnstädter Kaufmann Louis Pommer folgte dem 21 „Arnstädter Anzeiger“ vom 25.10.1935, in: Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt, Stadt Arnstadt. 22 LATh-StA Rudolstadt, Thüringisches Amtsgericht Arnstadt, Handelsregister Nr. 347.

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Abb. 4: „In arischen Besitz übergegangen“. Arnstädter Anzeiger vom 25.10.1935 Modernisierungstrend und ließ 1909 die Schaufenster des Kaufhauses vergrößern. Damit gestaltete auch er sein Warenhaus für die Kundschaft noch attraktiver und präsentierte es nun als „Kaufhaus Louis Pommer“ (Abb. 3). Am 24. Oktober 1935 unterzeichnete Louis Pommer den Vertrag zum Verkauf seines Unternehmens in der Erfurter Straße Nr. 15.23 Schon am nächsten Tag, am 25. Oktober 1935, gab der Käufer im „Arnstädter Anzeiger“ die Geschäftsübernahme und die Weiterführung des erfolgreichen Unternehmens als „Kaufhaus Schwager“ bekannt. In der Anzeige stellt der Erwerber klar: Meine Firma wird in deutschem, kaufmännischem Sinne geleitet. Ich bitte die Einwohnerschaft des Stadt- und Landkreises Arnstadt, mir ihr Vertrauen entgegen zu bringen. Eine kurze Meldung findet sich auch im Textteil der Zeitung. Hier wird der Leserschaft der Besitzerwechsel des Kaufhauses als ein Akt der „Arisierung“ vorgestellt. Als Aufmacher ist fettgedruckt zu lesen: In arischen Besitz übergegangen. Im Text heißt es: Wie aus dem Anzeigenteil in der heutigen Nummer hervorgeht, ist das jüdische Kaufhaus Louis Pommer in arischen Besitz übergegangen. Die Firma wurde erworben von Kaufmann Werner Schwager, der als Mitinhaber der Firma Rudolf Schwager in Stadtilm bereits seit Jahren einem gleichen Unternehmen vorsteht (Abb. 4).24 23 Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt, Bestand Stadt Arnstadt, Sig. 157–02–04, Bl. 11. 24 „Arnstädter Anzeiger“ (wie Anm. 21), Foto Thomas Wolf (Gotha).

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Den Inhabern des „Arnstädter Anzeigers“ war der Hinweis auf den Kontext „Arisierung“ offenbar wichtig, denn der Käufer verwies in seiner Anzeige nur indirekt auf den Erwerb eines jüdischen Unternehmens. Die Firma „Kaufhaus Louis Pommer“ in der Erfurter Straße 15 wurde am 14. Januar 1936 aus dem Handelsregister gelöscht.25 Offenbar sah Louis Pommer aufgrund des antisemitischen Klimas in seiner Stadt keine Zukunft für die Fortführung seines Unternehmens. Dabei hätte es für den 72-jährigen Inhaber des Kaufhauses unter anderen politischen Verhältnissen wahrscheinlich Alternativen gegeben, den erfolgreichen Familienbetrieb zu erhalten. Sein Sohn Hermann Pommer war schon in den 1920er Jahren als Gesellschafter im väterlichen Unternehmen tätig. Der andere Sohn, Arthur Pommer, war 1935 in Halle an der Saale, Königsstraße 20, als Kaufmann tätig. Ihm übereignete Louis Pommer am 28. Mai 1935, noch vor dem Verkauf des Unternehmens, der ja erst im Oktober 1935 erfolgte, Anteile am Wohnhaus in der Erfurter Straße 15.26 Louis Pommer verstarb am 6. Oktober 1937, ein Jahr nach der Löschung seines Kaufhauses aus dem Handelsregister. Da war er 73 Jahre alt.27 Den beiden Söhnen gelang die Flucht ins Exil. Seine Ehefrau, Erna Pommer, geborene Seliger, geschiedene Lichtenstein, war eine der insgesamt 21 Arnstädter Jüdinnen und Juden, die am 10. Mai 1942 mit dem Zug von Weimar aus über Leipzig in das Ghetto Bełżyce deportiert wurden.28 Damals war sie erst 52 Jahre alt. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt, sie wurde für tot erklärt.29 Als das Kaufhaus Pommer Ende Oktober 1935 in der Arnstädter Presse als „arisiertes“ jüdisches Unternehmen angezeigt wurde, hatte der NS-Staat noch keine flächendeckenden Liquidierungen oder Zwangsverkäufe jüdischer Unternehmen an „deutschstämmige“ Konkurrenten geplant. Eine Destabilisierung der Wirtschaft lag nicht in seinem Interesse. Die NS-Staatsbürokratie reagierte mit einem Erlass des Reichsministers des Innern, Wilhelm Frick (1877–1946), um solche unkontrollierten Eingriffe in den jüdischen Wirtschaftssektor zu stoppen.30 Am 17. Januar 1934 erging dazu ein Schreiben an alle Reichstatthalter, an die Landesregierungen und für Preußen an den Ministerpräsidenten und an alle Minister. Darin hieß es:

25 LATh-StA Rudolstadt, Thüringisches Amtsgericht Arnstadt Nr. 347. 26 Stadtbauamt Arnstadt, Bauaktenarchiv, Erfurter Straße 15. Übereignungsanzeige, Grund­ erwerbsliste Nr. P. 5/1935. 27 Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt, Standesamt Arnstadt, Sterberegister 124/1937, Jakob Levin Louis Pommer. 28 Carsten Liesenberg/Harry Stein, Deportation und Vernichtung der Thüringer Juden 1942, Erfurt 2012, S. 200. 29 Vgl. https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de945423 (letzter Zugriff: 23.02.2022). 30 Zur Biografie vgl. Gerhard Schulz, „Frick, Wilhelm“ in: Neue Deutsche Biografie 5 (1961), S. 432 f.

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Monika Juliane Gibas Die deutsche Ariergesetz gebung ist aus völkischen und staatspolitischen Gründen notwendig. Andererseits hat sich die Reichsregierung selbst gewisse Grenzen gesteckt, deren Einhaltung gleichfalls erforderlich ist. Die deutsche Arbeitsgesetz gebung würde im Inland und Ausland richtiger beurteilt werden, wenn diese Grenzen überall beachtet würden. Insbesondere ist es nicht angebracht, ja sogar bedenklich, wenn die Grundsätze § 3 BBG., des sogenannten ‚Arierparagraphen‘ (der das Vorbild für zahlreiche andere Gesetze und Verordnungen geworden ist), auf Gebiete ausgedehnt werden, für die sie nicht bestimmt sind. Es gilt insbesondere, wie die nationalsozialistische Regierung immer wieder erklärt hat, von der freien Wirtschaft. Ich bitte daher wiederholt, derartige Übergriffe mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten und auch die unterstellten Behörden nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass sie ihren Maßnahmen und Entscheidungen nur die geltenden Gesetze zu Grunde zu legen haben.31

Auch die Nürnberger Rassegesetze von September 1935 enthielten noch keine vom Staat verfügten Regelungen zur Unterbindung jüdischer Wirtschaftsunternehmen. Aber solche Bestrebungen waren unter Fritz Sauckels Regierung in Thüringen zu diesem Zeitpunkt schon längst an der Tagesordnung, auch in Arnstadt. Jüdische Geschäftsleute waren weiter permanenten Anfeindungen und Repressalien ausgesetzt. Am 9. April 1936 schickte die Staatspolizeistelle Weimar/Geheime Staatpolizei Weimar ein Rundschreiben an die Oberbürgermeister von Arnstadt, Apolda, Eisenach und Greiz sowie an alle Thüringischen Kreisämter und staatlichen Polizeiverwaltungen. Darin werden die Behörden der Region aufgefordert, über Versuche der Tarnung jüdischer Unternehmen zu berichten und diese Erkenntnisse bis zum 10. Dezember 1936 zu melden. Darin heißt es: In letzter Zeit sind die Versuche jüdischer Geschäftsinhaber, den wirklichen Charakter ihrer Unternehmen durch Machenschaften der verschiedensten Art zu tarnen, im Zunehmen begriffen. Wiederholt wurde festgestellt, dass Juden ihre Waren nicht unter eigenen, sondern mit Zustimmung arischer Angestellter unter deren Namen versenden. Vertreter jüdischer Firmen bieten ihre Waren als von arischen Firmen stammend an. Ferner werden von Spediteuren Waren jüdischer Unternehmen unter eigenem Namen an die Kunden gesandt, damit Lieferfirmen nach außen hin nicht in Erscheinung treten. Diese und ähnliche Tarnungsversuche sind gegebenenfalls im Einvernehmen mit der Gewerbepolizei und den zuständigen Stellen zu unterbinden.32

Das Schreiben sei vertraulich zu behandeln. Warum, das wird im Text auch erläutert: Vor größeren Aktionen (Eingriffe in die Wirtschaft) ist jedoch abzusehen.33 Dieser nachgeschobene Hinweis an die regionalen Behörden war wohl eine Reaktion auf den Erlass des Reichsinnenministers Frick vom Januar 1934, den „arischen“ Wirtschaftssektor nicht durch unnötigen Aktionismus gegen jüdische 31 Reichsministerium des Innern, I 6071/30.12, in: Ministerialblatt für die Preußische innere Verwaltung, hg. im Preussischen Ministerium des Innern, Berlin 1933–1935, S. 159 f. 32 LATh-StA Rudolstadt, Thüringisches Kreisamt Arnstadt Nr. 5716, Bl. 39. 33 Ebd.

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Unternehmen zu irritieren oder gar zu schädigen. Die Aufforderung, angebliche „Tarnversuche“ jüdischer Geschäftsleute zu melden, konterkarierte allerdings diesen Nachsatz. Solche Anweisungen regionaler Behörden beförderten das Vorgehen gegen jüdische Unternehmen.

4. Aus dem Handelsregister gelöscht: Die Manufakturwarengeschäfte von Arnold Arendt und Alfred Gottfeld (1936) Der Druck auf jüdische Firmeninhaber kam auch in Arnstadt von den NSDAP-­ Strukturen und Wirtschaftskonkurrenten vor Ort. Hier mussten 1936 weitere jüdische Geschäftsinhaber ihre Firmen abwickeln, darunter auch Arnold Arendt (24.02.1870–19.04.1945).34 Die Handelskammer Arnstadt forderte ihn im Sommer 1936 auf, sein Manufakturwarengeschäft, das er seit April 1904 Unterm Markt 8 betrieb, abzumelden. Als Grund wurde ihm mitgeteilt, sein Geschäftsbetrieb hätte seit zwei Jahren nur noch den Umfang eines Kleingewerbes. Ob das zutraf oder nur als Vorwand herhalten musste, um Arnold Arendt zur Geschäftsaufgabe zu zwingen, war bislang nicht zu ermitteln, ist aber anzunehmen. Im „Arnstädter Anzeiger“ erschien am 11. Januar 1937 eine Anzeige über die Löschung von fünf Firmen der Region. Darunter befanden sich auch das Manufakturwarengeschäft Arnold Arendt, Unterm Markt 8, und das Manufaktur-, Wäsche- und Weißwarengeschäft Alfred Gottfeld, Erfurter Straße 39 (Abb. 5). Für das Gottfeldsche Unternehmen konnte die Begründung abgewickelt wegen „Kleingewerbe“ nicht angeführt werden, denn Alfred Jakob Gottfeld (17.08.1873–19.11.1938) gehörte zu den erfolgreichen Geschäftsinhabern Arnstadts. Er betrieb seit 1919 zunächst in der Wörthstraße 1 ein Versandgeschäft für Damenwäsche und Stoffe. Offenbar lief das Geschäft gut, denn am 8. August 1925 konnte er in Arnstadt in der Erfurter Straße 39 eine weitere Filiale eröffnen, ein „Manufaktur-, Wäsche- und Weißwarengeschäft“, wie er mit einer Anzeige in der örtlichen Presse verkündete (Abb. 6).35 Seine Tochter Rita, das jüngste von drei Kindern, trat in die Fußstapfen ihres Vaters und betrieb eine eigene Textilverkaufsstelle im nahen Ichtershausen.36 Auch sein Sohn Werner hatte den Beruf des Kaufmanns gewählt und arbeitete seit 1924 im Geschäft seines Vaters. 34 Vgl. biographische Skizze in: Guss/Kirchschlager, Jüdische Gewerbeansiedlungen (wie Anm. 13), S. 87 f. 35 Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt, Arnstädter Anzeiger vom 08.08.1925, Foto: Thomas Wolf (Gotha). 36 Schlossmuseum Arnstadt, Archivgut, Sig. G–VI 261, Bl. 54a.

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Abb. 5: Anzeige des Amtsgerichts Arnstadt über Firmenlöschung aus dem Handelsregister, „Arnstädter Anzeiger“ vom 11.01.1937

Abb. 6: Anzeige zur Geschäftseröffnung Gottfeld im August 1925

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Nach 1933 begann für die Arnstädter Familie Gottfeld eine sehr schwierige Zeit. Sie litt nicht nur unter dem Antisemitismus der Sauckel-Regierung und ihrer Anhänger in Arnstadt. Auch der Hass auf politische Widersacher des Regimes tangierte das Leben der jüdischen Familie. Denn der Sohn Werner Gottfeld (22.07.1905–30.03.1942) war schon seit 1924 Mitglied und Schriftführer des Kommunistischen Jugendverbandes (KJVD) in Arnstadt. Auch in die KPD ist er eingetreten und gehörte nach 1933 zur Widerstandsgruppe um den Arnstädter Fritz Schörnig.37 Anfang August 1935 wurde Schörnig verraten und verhaftet. Am 14. August 1935 erhielt auch Werner Gottfeld einen Haftbefehl, ausgestellt vom Amtsgericht Arnstadt.38 Seit dem 15. August 1935 bis zum Prozessbeginn im April 1936 saß er in Untersuchungshaft im Straflager Ichtershausen (Abb. 7).39 Der „Arnstädter Anzeiger“ berichtete am 29. April 1936 über den Strafprozess gegen 15 Thüringer Bürgerinnen und Bürger, darunter fünf Arnstädter Männer und eine Frau. Darunter war auch der damals 30-jährige Werner Gottfeld. Vor dem Strafsenat des Oberlandesgerichts in Jena fand im April 1936 eine Verhandlung wegen Vorbereitung zum Hochverrat gegen eine Anzahl Einwohner aus Arnstadt und Umgebung statt. Die Verhandlung war dadurch bemerkenswert, daß zum ersten Male in Thüringen unter den Angeklagten auch rückfällige Hochverräter, die schon einmal im Dritten Reich wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt worden waren, sich zu verantworten hatten. Im Mittelpunkt der Verhandlung stand der 25-jährige Schuhmacher Fritz Schörnig aus Arnstadt, vom Reichsgericht wegen Hochverrats im November 1933 mit anderthalb Jahren Gefängnis vorbestraft. Er hatte sich alsbald nach Verbüßung seiner Strafe daran gemacht, in Arnstadt und Umgebung die ehemaligen Genossen zu sammeln und die KPD und den kommunistischen Jugendverband wiederaufzubauen. […] Der Senat erkannte auf die höchste zeitliche Zuchthausstrafe von 15 Jahren, 10 Jahren Ehrverlust und Zulässigkeit der Polizeiaufsicht. Lebenslängliche Zuchthausstrafe sprach das Gericht nur deshalb nicht aus, weil der Angeklagte 1933 und 1934 im Gefängnis gewesen war und die Hochstimmung des politischen Umbruchs nicht auf ihn hatte wirken können. Im Übrigen wurden verurteilt: Rudi Gaude aus Arnstadt und Max Weiß aus Langewiesen zu je 3 Jahren Gefängnis, Werner Gottfeld aus Arnstadt zu 4 Jahren Zuchthaus, Hans Greßler aus Eisenach, Werner Löhn aus Langewiesen, Walter Schneider aus Geraberg, Heinz Schubert aus Langewiesen, Willy Ziegler aus Arnstadt und Karl Zink aus Sömmerda zu je 2 Jahren Gefängnis. Emil König und Alfred Pfesdorf aus Arnstadt wurden freigesprochen. Dagegen bekamen Erich Schneider aus Geraberg 3 Jahre Zuchthaus, Emmi Schörnig aus Arnstadt 1 Jahr Gefängnis. Walter Weiß aus Langewiesen wegen Begünstigung 6 Monate Gefängnis und Karl Zeitsch aus Marzahna 5 Jahre Zuchthaus.

37 LATh-HStA Weimar, Thüringischer Generalstaatsanwalt Jena Nr. 537, Bl. 181r. 38 Ebd., Nr. 537, Bl. 92r. 39 Ebd., Bl. 142r.

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Abb. 7: Haftbefehl gegen Werner Gottfeld vom 14.08.1935

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Bemerkenswert war vor allem der letzte Satz der Meldung: Die Strafe gegen Werner Gottfeld wurde deshalb schärfer gefaßt, weil der Angeklagte in der Verhandlung seine ‚jüdisch-kommunistische Gesinnung ohne Hemmung kundgab‘.40 Die Vernehmungsdokumente und auch die Akten der Gerichtsverhandlung belegen allerdings, dass Werner Gottfeld ausgesagt hatte, eine gewaltsame Machtergreifung durch die KPD abzulehnen, weil diese nicht seiner inneren Einstellung entsprochen habe. Auch hätte er schon 1933 seine Mitgliedschaft in der KPD beendet.41 Das Urteil des Jenaer Generalstaatsanwaltes war dennoch härter als für einige andere Angeklagte der Gruppe, von denen zwei sogar Freispruch erhielten. Werner Gottfeld wurde nicht nur zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, sondern zusätzlich noch zu fünf Jahren Ehrverlust.42 Die Zuchthausjahre verbrachte er in der Strafanstalt Halle (Saale) und wurde am 24. Oktober 1939 nach Arnstadt entlassen.43 Anschließend ist er in das „Jüdische Forsteinsatzlager Schönfelde bei Fürstenwalde/Spree“ zur Zwangsarbeit verbracht worden. Zu diesem letzten nachweisbaren Aufenthaltsort fand sich bislang nur eine einzige Akte. Sie enthält lediglich die „Vermögenserklärung“, die Werner Gottfeld am 30. Mai 1942 unmittelbar vor seiner Deportation unterschrieb.44 Nach Angaben seiner Schwester Ilse Szlecki, die als einzige der Familie die Shoa im Exil überlebt hat, ist Werner Gottfeld in Auschwitz ermordet worden.45 Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und andere Gegner des NS-Regimes zählten zu den politischen Staatsfeinden des NS-Regimes, die schon ab 1933 systematisch verfolgt und in Gefängnisse und erste Konzentrationslager verbracht worden sind. In Südthüringen gab es schon 1933 mehrere politische Prozesse vor dem Oberlandesgericht in Jena. Im Jahr 1935 befanden sich nach Angaben des Thüringer Generalstaatsanwalts etwa 785 politische Häftlinge in Thüringer Gefängnissen.46 Die besondere Schwere der „Tat“ Werner Gottfelds bestand offenbar darin, Jude und auch noch Kommunist zu sein. Das wurde auch seinem Vater, dem Kaufmann Alfred Gottfeld, zum Verhängnis. Denn er hat den Kontakt zu seinem Sohn nach dessen Verhaftung im August 1935 nie abgebrochen. 40 Arnstädter Anzeiger vom 29.04.1936 in: Geschichte des antifaschistischen Widerstandes in Südthüringen 1933–45. Teil II, in: https://www.autistici.org/agst/alerta/06geschichte-­des-widerstandes-iii.html (letzter Zugriff: 23.02.2022). 41 LATh-HStA Weimar, Thüringischer Generalstaatsanwalt Jena Nr. 537, Bl. 181r. 42 Ebd., Nr. 137, Bl. 180r. 43 Ebd., Nr. 540, Bl. 207r. 44 Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 36 A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg Nr. 4445. 45 Yad Vashem, Related Collection Hall of Names photos, Archival Signatur 15000/ 14232121. 46 Geschichte des antifaschistischen Widerstandes in Südthüringen 1933–45. Teil II (wie Anm. 40).

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Abb. 8: Zensur eines Briefes Alfred Gottfelds an seinen inhaftierten Sohn Werner Mit den Briefen, die er an seinen Sohn in der Untersuchungshaft in Ichtershausen schrieb, beschäftigte sich im Februar 1936 sogar der Generalstaatsanwalt in Jena in einem Schreiben (Abb. 8).47 Die Tatsache, dass Alfred Gottfeld schon 1936 seinen erfolgreichen Familienbetrieb einstellen musste war offensichtlich darauf zurückzuführen, dass er sich nicht von seinem 1936 wegen Teilnahme am kommunistischen Widerstand gegen das NS-Regime verurteilten Sohn losgesagt hat. Der Arnstädter Kaufmann Alfred Gottfeld war nach der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 auch der einzige der Arnstädter Männer, der die Einlieferung in das Konzentrationslager Buchenwald nicht überlebte. In den Unterlagen der Gedenkstätte Buchenwald sind 12 Arnstädter als Häftlinge vermerkt, die zwischen dem 10. und dem 17. November 1938 in das KZ Buchenwald eingeliefert wurden. Alfred Gottfeld war unter den 9 Arnstädter Juden, die schon am 10. November 1938 eintrafen. Er erhielt die Häftlingsnummer 23427.48 Am 19. November 1938, 47 LATh-HStA Weimar, Thüringischer Generalstaatsanwalt Jena Nr. 539, Bl. 151r. 48 Information zu Anzahl, Einlieferungs- und Entlassungsdaten, Todesdaten und Häftlingsnummern der Arnstädter KZ-Insassen in Buchenwald nach dem Novemberpogrom an Monika Gibas am 27.01. und 12.02.2021 von Dr. Harry Stein, Kustos Ge-

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Abb. 9: Alfred Gottfeld

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gerade einmal neun Tage nach seiner Einlieferung, kam Alfred Gottfeld im Konzentrationslager Buchenwald unter bislang ungeklärten Umständen ums Leben. Die KZ-Bürokratie meldete nach Weimar, er sei an „Lungenentzündung verstorben“.49 Da war Alfred Gottfeld 65 Jahre alt (Abb. 9). Seine Frau Regina Gottfeld, geborene Nathanson, ist am 10. Mai 1942 von Weimar über Leipzig in das Ghetto Bełżyce deportiert und ermordet worden.50 Auch die jüngste Tochter Rita Fichtmann, geborene Gottfeld überlebte nicht. Sie kam 1943 ins KZ Auschwitz und wurde dort ermordet.51

5. Auftakt zur Zerstörung der Existenz von Viehhandelsfirmen jüdischer Inhaber in Arnstadt (1937) Der Viehhandel war in Deutschland lange die Domäne jüdischer Inhaber.52 Auch dieser Wirtschaftszweig war seit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten schon früh antisemitischen Anfeindungen und Ausgrenzungsversuchen ausgesetzt. In überregionalen tierärztlichen Fachzeitschriften finden sich dazu einschlägige Artikel. So veröffentlichte die „Tierärztliche Rundschau“ im Jahr 1935 einen Text mit dem Titel Der Landesbauernführer gegen den jüdischen Viehhandel.53 Im gleichen Jahr, am 28. September 1935, erschien im Reichsgesetzblatt eine Ergänzungsverordnung zum Reichsernährungsgesetz, die sich mit der „Rassezugehörigkeit“ der Bauernführer beschäftigte. Gleich in Paragraph 1 wird verfügt: Nur wer deutschen oder stammesähnlichen Blutes ist, kann zum Bauernführer im Sinne des Reichsgesetzes berufen werden.54 Es ging also um Bauernführer, die sich der Blut- und schichte Konzentrationslager Buchenwald Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. 49 Ebd. 50 Liesenberg/Stein, Deportation und Vernichtung (wie Anm. 28), S. 199. 51 Yad Vashem, Related Collection Hall of Names photos, Archival Signatur 15000/14232122. 52 Vgl. Monika Grübel, Landjuden – ein Leben zwischen Land und Stadt, in: Claudia Maria Arndt (Hg.), „Unwiederbringlich vorbei“. Geschichte und Kultur der Juden an Sieg und Rhein. Zehn Jahre Gedenkstätte Landjuden in Sieg, Siegburg 2005, S. 52–71. 53 Tierärztliche Rundschau, 1935, Nr. 37, S. 607. Zit. nach Georg Möllers, Jüdische Tierärzte im Deutschen Reich in der Zeit von 1918 bis 1945, Berlin 2002, S. 314. 54 Reichsgesetzblatt I, S. 1219, zit. nach Joseph Walk (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, Heidelberg 2013, S. 133.

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Boden-Ideologie des Reichsnährstandes verpflichtet fühlten und sie in ihrem Einflussbereich durchsetzen sollten. Das war eine Weichenstellung, die sich auch auf den Viehhandel auswirkte. Denn die Kreisbauernführer verfügten in den Landkreisen über einen eigenen Verwaltungs- und Kontrollapparat, den sie im Sinne der „Entjudung“ ihrer Branche einsetzen und die Ortsbauernführer dazu anweisen konnten.55 Im April 1936 trat im Kreis Arnstadt das NSDAP-Mitglied Alfred Beythan aus Geilsdorf das Amt des Kreisbauernführers an.56 Am 25. Januar 1937 verfügte das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft eine Verordnung über den Handel mit Vieh, veröffentlicht im Reichsgesetzblatt. Darin heißt es: 1. Betriebe, die mit Vieh Handel treiben und künftig treiben wollen, bedürfen der Zulassung. 2. Die Zulassung ist von verschiedenen sachlichen Voraussetzungen und persönlicher Zuverlässigkeit abhängig. 3. Betriebsinhaber müssen, wenn sie staatenlos sind, deutschstämmig sein.57 Diese neue Verfügung des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass Viehhandelsfirmen in jüdischer Hand nicht mehr erwünscht waren. Damit war den Landes- und Kreisbauernführern ein Instrument an die Hand gegeben, mit dessen Hilfe sie jüdische Viehhändler kontrollieren und auch unter Druck setzen konnten. Der Landesbauernführer Thüringens, Rudi Peukert, bekannte sich zur agrarpolitischen Erziehung unter besonderer Ausrichtung auf den Blutsgedanken.58 Da liegt es nahe, dass er auch seine Kreisbauernführer darauf orientierte. Im Jahr 1937 gab es in Arnstadt noch vier jüdische Viehhändler: Die Firmen von Adolf Mendel (Ried 7), von Max Friedmann und David Ambach (Ried 11), von Salli Rosenberg (Bahnhofstraße 8) und von Siegmund Katz (Karl-Marien-Straße 11).59 Das Arnstädter Viehgeschäft der Familie Mendel am Ried 7 geriet als Erstes ins Visier der Kreisbauernschaft und der NS-Behörden. Es wurde im Jahr 1874 von Abraham Mendel und Meier Rosenbaum gegründet. Einer der Mendelschen Nachfahren, Adolf Mendel, geboren am 19. März 1875 in Arnstadt, führte das Familienunternehmen „Mendel & Katzenstein“ seit 1912 als alleiniger Inhaber. Seit April 1928 wurde es unter dem Namen „Viehhandel Adolf Mendel“ geführt (Abb. 10).60 Am 7. März 1938 ging eine Anordnung des Gauleiters und Reichsstatthalters von Thüringen, Fritz Sauckel, an den Gauwirtschaftsberater von Thüringen Otto Eberhardt (1890–1939).61 Er sollte die Überführung nichtarischer Betriebe in 55 Andreas Dornheim, Rasse, Raum und Autarkie. Sachverständigengutachten zur Rolle des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft in der NS-Zeit. Überarbeitete Fassung, Otto-Friedrich-Universität Bamberg 2011, S. 78. 56 Reinhold, Chronik-Arnstadt (wie Anm. 10), S. 1536. 57 Reichsgesetzblatt I, S. 28 f. Zit. nach Walk (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NSStaat (wie Anm. 54), S. 181. 58 Dornheim, Rasse, Raum und Autarkie (wie Anm. 55), S. 126. 59 Guss/Kirchschlager, Jüdische Gewerbeansiedlungen (wie Anm. 13), S. 66. 60 Ebd., S. 67 f. 61 Vgl. zur Biografie Otto Eberhardts: „Arisierung“ in Thüringen. Ausgegrenzt. Ausgeplün-

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Abb. 10: Viehgeschäft Mendel & Katzenstein, Ried 7, um 1900 arische Hände organisieren und überwachen. In zehn Paragraphen wird bis ins Detail beschrieben, welche Maßnahmen zu ergreifen seien und was beachtet werden müsse. In Paragraph 2 der Verordnung wird festgelegt, dass über den Verkauf jüdischer Unternehmen in Thüringen ab sofort der Gauwirtschaftsberater (GWB) und ein Beirat zu entscheiden habe: Alle im Gaugebiet vorgesehenen neuen Umwandlungen jüdischer Geschäfte und Betriebe in nichtjüdische, die Durchführung dieser Übertragung und die notwendige politische Anerkennung, erfolgt nur mit Zustimmung der GWB und gilt nach Prüfung jedes Einzelfalles und Bestätigung des Übernahmevertrages sowie der darin enthaltenen, angehängten einzelnen Übernahmebedingungen.62 Als Beiratsmitglieder werden in Paragraph 5 aufgeführt: der Präsident der Wirtschaftskammer, sofern er Parteigenosse und Gauberater sei, der zuständige Kreisleiter und Kreiswirtschaftsberater und der zuständige Handelskammerpräsident. Es handelte sich hier um einen bis ins Kleinste ausgearbeiteten Plan zur Auslöschung des jüdischen Wirtschaftssektors in Thüringen. Der Beirat, der darüber zu entscheiden hatte, nannte sich „Arisierungskommission“. Am 1. Mai 1938 schrieb die Mitteldeutsche Industrie- und Handelskammer in Weimar an das Arnstädter Amtsgericht, Adolf Mendel habe seinen Gewerbebetrieb dert. Ausgelöscht, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Leipzig 2008, S. 18. (Ein Projekt von Studierenden der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Projektleitung Monika Gibas). 62 „Arisierung“ in Thüringen (wie Anm. 2), Bd. 2, Dok. 89, S. 303–307.

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eingestellt und am 1.5.1938 gewerbepolizeilich abgemeldet.63 Damit gehörte die Viehhandlung Adolf Mendels zu den etwa 100 jüdischen Unternehmen, die in Thüringen nach den Angaben der „Arisierungskommission“ schon bis Anfang Oktober 1938 „arisiert“ oder liquidiert worden waren. Es ist zu bezweifeln, dass Adolf Mendel das über Jahrzehnte erfolgreiche Familienunternehmen freiwillig aufgegeben hat. Der Druck auf den Unternehmer kam nicht nur von den zentralen Behörden der Thüringer NS-Regierung aus Weimar. Vielmehr unterstützte die Kreisbauernschaft Arnstadts die Pläne der „Arisierungskommission“ und übte ihrerseits Druck auf die jüdischen Viehhändler aus. Darauf verweist im Fall Mendel eine Passage aus einem Schreiben der Erfurter Firma „Thüringer Zentral-Viehverwertung GmbH“, die Nutznießerin des Zwangsverkaufs war. In einem Schreiben an die Preisbildungsstelle für Mieten und Pachten im Städtischen Wohnungsamt Arnstadt erklärt die Firma, man habe das Grundstück Ried 7 auf besonderen Wunsch der Kreisbauernschaft Arnstadt vom damaligen Viehhändler Israel Adolf Mendel erworben.64

6. Häftlings-Nr. 30226: Adolf Mendel verhaftet und erpresst im KZ-Buchenwald (1938) Adolf Mendel gehörte zu den Arnstädter Juden, die nach der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 von der Arnstädter Polizei verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt worden sind. Der damals 64-jährige Viehhändler Mendel war dort als Häftling Nr. 30226 registriert. Nach den in der Gedenkstätte KZ-Buchenwald noch erhaltenen Aufzeichnungen waren zwischen dem 10. und dem 17. November 1938 insgesamt 12 Arnstädter jüdische Männer eingeliefert worden. Neben Adolf Mendel befanden sich darunter auch die Arnstädter Viehhändler David Ambach, Dagobert Katz, der Sohn des Viehhändlers Siegmund Katz, sowie Siegfried Rosenbaum. David Ambach und Adolf Mendel wurden schon am 23. November 1938 wieder entlassen, Siegfried Rosenbaum am 27. November und Dagobert Katz erst am 10. Dezember 1938.65 Warum „Schutzhäftlinge“ wie Adolf Mendel nach wenigen Tagen aus dem Konzentrationslager Buchenwald entlassen worden sind, erklärt ein Rundschreiben der Geheimen Staatspolizeistelle Weimar vom 17. November 1938 mit

63 LATh-StA Rudolstadt, Thüringisches Amtsgericht Arnstadt, Handelsregisterakte Fa. Mendel & Katzenstein in Arnstadt, Nr. 330. 64 Stadtbauamt Arnstadt, Bauaktenarchiv Ried 7, Schreiben vom 7.06.1939. 65 Information zu Entlassungsdaten und zu Häftlingsnummern: Dr. Harry Stein, Kustos Geschichte Konzentrationslager Buchenwald Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, am 27.01.2021.

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dem Titel Protestaktion gegen Juden (Entlassung von jüdischen Schutzhäftlingen) und dem Vermerk Vertraulich! Eilt sehr!. Darin wird verfügt: Arisierungsverhandlungen dürfen durch die Inschutzhaftnahme der Besitzer oder Teilhaber nicht gestört werden. Jüdische Schutzhäftlinge, welche zur Einleitung oder Fortführung solcher Verhandlungen benötigt werden, sind umgehend unter Angabe der Gründe hierher zur Entlassung vorzuschlagen. Jüdische Schutzhäftlinge, die sich bereits im Besitz von Auswanderungsunterlagen befinden oder deren Ausreisetermine bevorstehen, sind ebenfalls nach Prüfung der Ausreisepapiere hierher zur Entlassung zu melden.66 (Abb. 11)

Im Fall Adolf Mendel ging es um „Arisierungsverhandlungen“, wie die noch vorhandenen Akten im Stadtarchiv Arnstadt zeigen. Da er sein Unternehmen schon am 1. Mai 1938 bei der Gewerbepolizei abgemeldet hatte, standen nun seine Grundstücke und die dazugehörigen Gebäude der Viehhandlung, darunter auch sein Wohnhaus, auf der Agenda. Dafür gab es Interessenten, die gut informiert waren über die bevorstehende „Arisierung“ des Eigentums ihres jüdischen Nachbarn. Beim Stadtbauamt Arnstadt ging am 25. November 1938, zwei Tage nach der Entlassung Adolf Mendels aus dem KZ-Buchenwald, ein Antrag des Arnstädter Kaufmanns Paul Schnell, Firma Nicolaus Schnell, ein. Er interessiere sich für Grundbesitz und Gebäude in „jüdischem Besitz“, die zum Verkauf stünden, wie er schreibt: Die 3 Häuser auf dem Ried welche in jüdischem Besitz sind, werden voraussichtlich in arischen Besitz übergeleitet werden. Diesbezügliche Verhandlungen schweben. Ich reflektiere auf das Haus des Herrn Friedmann Ried 11, sowie auf den hinteren Berggarten des Herrn Mendel. Der Kaufinteressent Paul Schnell bat noch um Auskunft, welchen Quadratmeterpreis er für den Mendelschen Berggarten zu zahlen habe.67 Dem Gesuch des Arnstädter Kaufmanns, den Garten von Adolf Mendel zu „arisieren“, wie er es nannte, ist stattgegeben worden, wie dem noch erhaltenen Kaufvertrag vom 28.11.1938 zu entnehmen ist.68 Der andere Interessent, die Erfurter Firma „Thüringer Zentral-Viehverwertung GmbH“, die von der Arnstädter Kreisbauernschaft als Käufer vorgeschlagen wurde, erhielt neben dem Firmengrundstück auch das Wohnhaus der Mendels.69 Für die beiden Käufer war das ein lukratives Geschäft. Denn der Verkauf von Grundstücken und Gebäuden der ehemaligen Viehhandlung Adolf Mendel, Ried 7, war frei von grundbuchlichen Lasten. Dieser Passus im Kaufvertrag lässt darauf schließen, dass Adolf Mendel sein Unternehmen offenbar schuldenfrei geführt hatte. Schon ab 1. Dezember 1938 konnte die „Thüringer Zentral-Viehverwertung GmbH“ aus Erfurt das Grundstück und die Gebäude der Mendels nutzen. Adolf Mendel unterschrieb das Dokument am 28.11.1938, genau fünf Tage nach seiner 66 LATh-StA Gotha, Kreisamt Eisenach Nr. 298, Bl. 20r. Rundschreiben der Geheimen Staatspolizeistelle Weimar vom 17. November 1938. 67 Stadtbauamt Arnstadt, Bauaktenarchiv Ried 11. 68 Ebd., Ried 7, Abschrift Nr. 414 der Urkundenrolle für 1938. 69 Ebd.

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Abb. 11: Rundschreiben der Geheimen Staatspolizeistelle Weimar vom 17. November 1938

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Entlassung aus dem Konzentrationslager Buchenwald. Am 2. Dezember 1938 verkaufte Adolf Mendel dann auch sein Ackerland auf der Alteburg. Käufer war die Stadt Arnstadt.70 Im Kaufvertrag hieß es: Der Veräußerer ist Jude. Der Kreiswirtschaftsberater und die Kreisbauernschaft haben ihre Zustimmung zu dem Grundstückskauf gegeben.71 Die Mendels hatten Anfang Juni 1939 noch immer nicht alle notwendigen Papiere zur Auswanderung erhalten. Sie mussten also länger in ihrer Wohnung verblieben. Die „Thüringer Zentral-Viehverwertung GmbH“ forderte daher eine Mieterhöhung, da ihr doch offenbar nicht zugemutet werden kann, den Juden Mendel wer weiß wie lange für einen für uns untragbaren Satz von 12.– RM in einer solchen Wohnung zu belassen. […] Ein solcher Verlauf der Dinge kann uns […] nicht zugemutet werden.72 Für das Ehepaar Mendel war es ein aussichtloses Unterfangen, eine neue Bleibe zu finden. Denn alle jüdischen Familien, die sich noch in Arnstadt befanden, standen selbst unter massivem Druck der NS-Behörden, das Land schnellstmöglich zu verlassen. „Arischen“ Vermietern war es verboten, Juden aufzunehmen. Eine ausweglose Situation. Erst Ende 1939 gelang Adolf Mendel und seiner Frau Bertha, geborene Rosenthal, die Flucht ins Exil nach Chile. Ihr Umzugsgut, welches in Hamburg auf dem Schiffsweg transportiert werden sollte, ist nach Auskünften der Speditionsfirma beschlagnahmt worden.73 Beschlagnahmtes Frachtgut von Juden, das in Hamburg oder Bremen verschifft werden sollte, ist in den meisten Fällen versteigert und an die Bevölkerung verkauft worden.74 Der Arnstädter Viehhändler Adolf Mendel verstarb am 5. April 1950 in Santiago de Chile.75 Schon Ende 1938 erschien im „Deutschen Tierärzte Blatt“ ein Aufsatz mit dem Titel Viehhandel judenfrei! 76

7. Fazit Das Jahr 1938 wurde zum Schlüsseljahr der staatlich über Gesetze und Verordnungen gelenkten Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft. Die NS-Staatsbü70 Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt, Bestand Stadt Arnstadt, Sig. 701–22, Grundstücksankäufe durch die Stadtverwaltung 1925–1950. 71 Ebd., Brief an das Thüringische Ministerium des Innern vom 19.12.1938. 72 Stadtbauamt Arnstadt, Bauaktenarchiv Ried 7, Schreiben der Thüringer Zentral-Viehverwertung GmbH Erfurt vom 07.06.1939. 73 Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt, Bestand Arnstadt, Grundstücksankäufe durch die Stadtverwaltung 1925–1950, Sig. 701–22, Abschrift, Brief von Adolf Mendel, 23.12.1945 aus Santiago/Chile. 74 Vgl. Wolfgang Dreessen, Betriff: „Aktion 3“. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung ausgewählt, Berlin 1998. 75 Todesdatum und Sterbeort (Santiago de Chile) nach Datensammlung Jörg Kaps, Stand der Recherche vom 17.11.2020. 76 Vgl. Möllers, Jüdische Tierärzte im Deutschen Reich (wie Anm. 53), S. 313 f.

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rokratie hatte sich mit Hilfe der „Verordnung gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe“ vom 22. April 1938 einen detaillierten Überblick über die Zahl der noch existierenden Unternehmen von Juden verschafft.77 Die „Dritte Verordnung zum Reichsbürgergesetz“, die am 14. Juni 1938 in Kraft trat, bestimmte, dass Listen mit jüdischen Wirtschaftsunternehmen anzulegen seien.78 Ausgestattet mit solchen Verzeichnissen konnte gezielt gegen jüdische Unternehmen vorgegangen werden. Sie wurden entweder geschlossen und aus den Handelsregistern gelöscht oder von der Konkurrenz „arisiert“, wie am Beispiel Arnstadts gezeigt werden konnte. Es folgte die totale fiskalische Ausplünderung der letzten verbleibenden Mittel zur Lebensführung. An der Erfassung des Besitzes und der Enteignung der jüdischen Bürger beteiligten sich eine Reihe von Behörden, Institutionen und Privatpersonen: Banken und Sparkassen meldeten die Kontoguthaben ihrer „nicht-arischen Kunden“, die Industrie- und Handelskammern, die kommunalen Gewerbeämter, aber auch die Verbände der Bauernschaften stellten ihre Kenntnisse über Firmen jüdischer Inhaber zur Verfügung. Von den Landesregierungen eingesetzte Wirtschaftsprüfer, zu denen auch die Landesbauernschaft Thüringens gehörte, wie der geschilderte Vorgang bei der „Arisierung“ im Fall der Viehhandlung von Adolf Mendel zeigte, aber auch Kunstsachverständige und öffentlich bestellte Versteigerer betätigten sich als Gutachter bei der Schätzung von Grundstücken, Häusern und Wohnungseinrichtungen der enteigneten und zumeist ins Exil getriebenen jüdischen Familien Thüringens.79 Arisierungskommission arbeitet erfolgreich. Mit dieser Schlagzeile veröffentlichte die überregionale NS-Presse Anfang Oktober 1938 eine ersten Bilanz der Verdrängung jüdischer Unternehmen: Als die Arisierungskommission ihre Arbeit aufnahm, zählte man im Gau Thüringen immer noch 650 jüdische Firmen! In knapp einem halben Jahr sind nun rund 100 nichtarische Unternehmen arisch geworden; bei weiteren etwa 100 jüdischen Firmen sind gegenwärtig die Verhandlungen noch im Gange. 200 jüdische Vertreter-, Makler- und ähnliche Firmen verschwinden mit der zunehmenden Arisierung, da ja für diese Unternehmungen durch die arischen Firmen keine Verwendung mehr besteht. Es verbleiben demnach noch gegen 250 Fabriken und Geschäfte, die zu arisieren sind. Man hört mit großer Befriedigung, daß gute Aussicht besteht, schon im Frühjahr oder Mitte 1939 das letzte jüdische Unternehmen arisiert zu haben.80

77 Reichsgesetzblatt 1938, Teil I, S. 404. 78 Ebd., S. 627 f. 79 Monika Gibas, „… können zur Verwertung und Verwaltung des Vermögens herangezogen werden und werden als Versteigerer für Hausrat eingesetzt.“ Zur Rolle der beeidigten und öffentlich bestellten Versteigerer bei der Enteignung der Juden, in: Provenienzforschung in deutschen Sammlungen. Einblicke in zehn Jahre Projektförderung, hg. vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste Magdeburg, Berlin/Boston 2019, S. 131–138. 80 Thüringer Gauzeitung vom 02.10.1938, StadtA Erfurt, Sig. 5/942–4.

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Mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 leitete das NS-Regime schließlich die letzte Phase der „Arisierung“ ein. In Paragraph 2, Absatz 1 wurde festgeschrieben: Ein Jude kann vom 1. Januar 1939 nicht mehr Betriebsführer im Sinne des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934 (Reichsgesetzblatt 1, S. 45) sein (Abb. 12).81 Die Jenaische Zeitung erklärte ihren Lesern am 8. Dezember 1938 in einer ausführlichen Stellungnahme die neuen Verordnungen zur Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft unter der Überschrift Der Weg der Arisierung: Der Staat duldet keinen jüdischen Einfluß in der Wirtschaft – Er sorgt für ordnungsgemäße Ueberführungen in arische Hand. Der nationalsozialistische Staat hat niemals Zweifel darüber gelassen, daß er die Entfernung der Juden aus allen wirtschaftlichen Positionen fordert, wo ihre Mitwirkung als politisch oder volkswirtschaftlich störend empfunden wird. Die „Arisierung“ der Betriebe ist im Laufe der Zeit ein bestimmter Begriff geworden, doch hat sich dieser Vorgang nicht überall mit der gewünschten Schnelligkeit vollzogen. Die bisherigen Bestimmungen kannten nur eine freiwillige Arisierung, die allerdings seit dem Frühjahr 1938 immer häufiger wurde. Es gibt aber eine große Zahl jüdischer Betriebe oder Besitzungen, bei denen die Veräußerung an arische Inhaber auf Schwierigkeiten stößt, sei es, daß jüdische Eigentümer ins Ausland abgezogen sind oder sonst keine Lust zeigen, die Erfordernisse der Zeit zu begreifen […]. Die neue Verordnung der Reichsregierung betrifft in der Hauptsache den übrigen gewerblichen Besitz in jüdischer Hand, aber auch landwirtschaftlichen und sonstigen Grundbesitz, sowie das Eigentum an Wertpapieren, Gold und Kunstschätzen. Der leitende Gedanke geht dahin, daß die Juden auf jeden direkten und indirekten Einfluß zu verzichten haben, der sich aus wirtschaftlichen Kräften ergibt, sei es durch den Betrieb von Unternehmen, durch größeren Aktienbesitz, Hausbesitz, landwirtschaftlichen Grundbesitz usw. […] Das neue Gesetz schafft die erforderlichen Möglichkeiten, um der Arisierung das erwünschte schnelle Tempo zu verleihen. Wo der Weg des freiwilligen Verkaufs beschritten wird, erübrigt sich die Einsetzung eines Treuhänders. Daß die Juden keine neuen Besitze oder Beteiligungen und auch keine weiteren Gegenstände aus Gold usw. erwerben dürfen, versteht sich von selbst.82

Am 25. Januar 1945, nur wenige Monate vor dem Sieg der Alliierten über das NS-Regime im Mai 1945, erschien ein weiterer aufschlussreicher Text zum Thema „Arisierung“. In der schon eingangs erwähnten Zeitung der Schutzstaffel der NSDAP „Das Schwarze Korps“, die im August 1937 den Begriff „Arisierung“ noch als Trick der Juden zur Tarnung ihrer Unternehmen ablehnte, wurden die „deutschen Volksgenossen“ nun an ihren Anteil an der „Arisierung“ jüdischer Geschäfte erinnert: Es ist uns keiner begegnet, der ein Ehestandsdarlehen aus politischen Gründen zurückgewiesen, eine Kinderhilfe, eine Familienentlohnung, eine Steuerbegünstigung, einen bezahlten Urlaub abgelehnt hätte, weil sie vom Nationalsozialismus kamen. Die Unschuldslämmer haben sich im Wirt81 Reichsgesetzblatt 1938, Teil I, S. 1580. 82 Gibas „Arisierung“ in Thüringen (wie Anm. 2), Bd. 1, Erfurt 2006, Dokument 12, S. 52.

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Abb. 12: Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft

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schaftsaufschwung, den der Nationalsozialismus hervorrief, sehr wohl, man darf schon sagen sauwohl gefühlt, sie trugen keine Bedenken, Judengeschäfte zu arisieren und am allgemeinen Wirtschaftsaufstieg nach besten Kräften teilzunehmen. Sie fuhren mit einigem Genuß in ihren neuen Wagen über die Autobahnen, sie reisten mit KdF. – man kann das alles gar nicht aufzählen. Jedenfalls: es war keiner da, der lieber demokratisch verrecken als nationalsozialistisch leben wollte.83

Erste grobe Schätzungen allein für das Gebiet der ostdeutschen Bundesländer gehen von einer Gesamtzahl an „Arisierungsfällen“ von mindestens 45.000 Immobilien und ca. 10.000 Betrieben aus.84 Für Thüringen gibt es bislang noch keine belastbaren Zahlen.

83 Das Schwarze Korps, 25.01.1945. 84 Vgl. Jan Philipp Spannuth, Rückerstattung Ost. Der Umgang der DDR mit dem „arisierten“ Eigentum der Juden und die Rückerstattung im Wiedervereinigten Deutschland, Essen 2007, S. 204.

Michael Löffelsender

Das Konzentrationslager Buchenwald und die Verfolgung der Juden

Der Schneiderlehrling Robert Rothschild (1924–2001) war 14 Jahre alt, als er am Morgen des 10. November 1938 im Haus seines Onkels in Zella-Mehlis von zwei Polizisten verhaftet wurde. Stunden später befand sich der aus einer jüdischen Familie stammende Jugendliche in einem Polizeifahrzeug, das ihn zusammen mit anderen in das Konzentrationslager Buchenwald brachte. Jahrzehnte später berichtete er über diesen Moment: „Einer der uns eskortierenden Polizisten erklärte uns, dass wir soeben in den Wald gefahren waren, in dem Buchenwald liege. Ich möchte nie wieder dieses Entsetzen erfahren, das diese Worte in mir hervorrief. Es war nicht so, dass irgendjemand in unserer Gruppe irgendwelche tatsächlichen Informationen über Buchenwald oder ein anderes Konzentrationslager hatte. Es war die Furcht vor dem Unbekannten, ausgelöst von den schrecklichen Gerüchten darüber, was den Insassen dieser Lager passierte, die im Land umgegangen war.“1 16 Monate nach der Gründung des Konzentrationslagers vor den Toren Weimars war sein so unscheinbar wirkender Name in der Region bereits zu einem Symbol geworden – einem Symbol, das für Terror und Gewalt stand und Angst und Panik auslöste. Robert Rothschild war einer von über einer Viertelmillion Menschen, die zwischen 1937 und 1945 das Konzentrationslager Buchenwald oder eines seiner Außenlager durchliefen. Rund 75.000 von ihnen wurden wie der Junge aus Zella-­Mehlis einzig aus dem Grund in das Lager verschleppt, weil sie den NS-Rassengesetzen nach als jüdisch galten. Ob sie sich selber als Juden oder Jüdinnen sahen, spielte bei dieser rassistischen Zuschreibung keine Rolle.2 Mit Blick auf die Gesamtgeschichte des Konzentrationslagers Buchenwald bildeten jüdische Häftlinge die größte Häftlingsgruppe.

1 Robert Rothschild, Meine zehn Tage in Buchenwald, undatiert (vmtl. 1988), https:// judaica-mellrichstadt.de/juedische-persoenlichkeiten/meine-zehn-tage-buchenwald/ (letzter Zugriff: 20.11.2021). 2 Wenn im Folgenden von „Juden“ oder „jüdischen Häftlingen“ die Rede ist, so ist dem Verfasser bewusst, dass es sich hierbei um eine Zuschreibung aus der Perspektive der Täter handelt. Eine notwendige Differenzierung ist auf Grundlage der vorhandenen Quellen leider nicht möglich.

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Michael Löffelsender

Wer von neun Jahrhunderten jüdischen Lebens in Thüringen spricht, kommt nicht umhin, den Blick auch auf die Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald zu richten. Das Lager war einer der zentralen Tatorte der Judenverfolgung im Deutschen Reich. Darüber hinaus wurde Buchenwald im Krieg zum Leidens­ ort für Zehntausende Menschen aus ganz Europa, die als Juden nach Thüringen verschleppt wurden, um sie zu terrorisieren, auszubeuten oder zu ermorden. Die Geschichte der jüdischen Häftlinge in Buchenwald ist komplex, faktenund themenreich. Im Folgenden kann sie lediglich in ihren größeren Entwicklungslinien vorgestellt werden.3 Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei – zumindest punktuell – den über 800 Männern und Jungen, die wie Robert Rothschild aus Städten und Dörfern aus dem Gebiet des heutigen Thüringen in das Konzentrationslager Buchenwald eingewiesen wurden.

1. Die ersten jüdischen Häftlinge Das Konzentrationslager Buchenwald wurde im Juli 1937 eingerichtet. Es zählte zu den Konzentrationslagern „modernen“ Typs, die am Reißbrett entworfen worden, auf Dauer angelegt und jederzeit ausbaufähig waren. Es war kein Lager, das speziell auf die Verfolgung der Juden ausgerichtet war. Seine Einrichtung fiel in eine Zeit, in der das NS-Regime die Verfolgungen insgesamt auf alle vermeintlichen „Gemeinschaftsfremden“ und „Volksfeinde“ ausweitete, die aus unterschiedlichen Gründen keinen Platz in der propagierten „Volksgemeinschaft“ haben sollten: politische Gegner, Vorbestrafte, soziale Außenseiter, Homosexuelle, Juden, Sinti, Roma, Zeugen Jehovas und andere.4 Die ersten Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald waren politische Gegner und als „Berufsverbrecher“ bezeichnete Vorbestrafte. Jüdische Häftlinge wurden zunächst nicht in Buchenwald inhaftiert, da seinerzeit das Konzentrationslager Dachau bei München als Sammellager für alle jüdischen KZ-Häftlinge fungierte.5 KZ-Einweisungen waren seit 1933 Teil der antijüdischen Politik des NS-Regimes. Die Verhaftungen erfolgten jedoch zumeist unkoordiniert und betrafen vor allem Männer mit jüdischer Herkunft, die sich als politische Gegner der Nationalsozialisten exponiert hatten. In den frühen Konzentrationslagern – 3 4 5

Die maßgebliche Studie zu diesem Thema, an der sich die folgenden Ausführungen in weiten Teilen orientieren, stammt von Harry Stein, Juden in Buchenwald 1937–1942, Weimar 1992. Vgl. allgemein zur Geschichte des KZ Buchenwald Harry Stein, Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, Göttingen 1999 sowie Michael Löffelsender, Das KZ Buchenwald 1937 bis 1945, Erfurt 2020. Der bekannte Rechtsanwalt Hans Litten bildete eine der wenigen, kurzzeitigen Ausnahmen. Vgl. Stein, Juden (wie Anm. 3), S. 7–13.

Das Konzentrationslager Buchenwald und die Verfolgung der Juden

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etwa auch im thüringischen Bad Sulza – waren sie besonderen Schikanen ausgesetzt.6 Koordinierte Massenverhaftungen von jüdischen Männern fanden erstmals 1938 statt – das Jahr, das heute vielfach als das „Schicksalsjahr“ der deutschen Juden gilt.7 Als Experimentierfeld diente das im März annektierte Österreich, wo es bereits kurz nach dem „Anschluss“ pogromartige Übergriffe und Razzien gegeben hatte.8 In Deutschland setzte das NS-Regime in der Folge ebenfalls stärker als zuvor auf offenen Terror und brutale Gewalt, um die Ausplünderung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung zu forcieren. Konzentrationslager wie Buchenwald wurden nun zu Terrorinstrumenten, um diese beiden Hauptziele der antisemitischen Politik des NS-Staates in der Vorkriegszeit zu erreichen. Die ersten über 1.200 als jüdisch kategorisierten Männer kamen im Frühsommer 1938 im Zuge der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ (kurz: „ASR“) in das Konzentrationslager Buchenwald.9 Die reichsweite Verhaftungsaktion von Gestapo und Kriminalpolizei richtete sich ursprünglich nicht gegen die jüdische Bevölkerung, sondern gegen soziale Außenseiter. In zwei Wellen wurden im April und Juni Tausende Obdachlose, Bettler, Fürsorgeempfänger und Gelegenheitsarbeiter in die Konzentrationslager verschleppt. In den Lagern, wo sie als „ASR-Häftlinge“ oder „Asoziale“ registriert wurden, sollten sie durch Arbeitszwang „diszipliniert“ und gleichzeitig als Arbeitskräfte für den Lageraufbau ausgebeutet werden.10 Während im April eher beiläufig nur wenige jüdische Männer verhaftet worden waren, verlief die zweite Welle im Juni – die „Juni-Aktion“ – unter anderen Vorzeichen. Unter dem Deckmantel der „ASR-Aktion“ wurden nun erstmals auch über 2.200 Juden in die verschiedenen Konzentrationslager gebracht. Anders als bei den übrigen „ASR-Häftlingen“ ging es bei ihnen nicht darum, sie als Arbeitskräfte in den Lagern auszubeuten. Vielmehr sollte der gezielte und exemplarische Terror im Lager die Bereitschaft der jüdischen Bevölkerung insgesamt erhöhen, Deutschland zu verlassen und ausländische Staaten dazu bringen, mehr jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Um die Verhaftungen in der Öffentlichkeit als rechtmäßig zu inszenieren und den Topos des „verbrecherischen Juden“ zu untermauern, wurden lediglich vorbestrafte jüdische Männer verhaftet.11 6

Vgl. ausführlich Kim Wünschmann, Before Auschwitz. Jewish Prisoners in the Prewar Concentration Camps, Cambridge (Mass.) 2015. 7 Begriff nach Avraham Barkai, „Schicksalsjahr 1938“. Kontinuität und Verschärfung der wirtschaftlichen Ausplünderung der deutschen Juden, in: Walter H. Pehle (Hg.), Der Judenpogrom 1938, Frankfurt am Main 1988, S. 94–117. 8 Vgl. Wünschmann, Before Auschwitz (wie Anm. 6), S. 168–184. 9 Anfang Mai 1938 wurden „Juden“ erstmals in der Lagerstatistik des KZ Buchenwald als eigene Untergruppe geführt. Vgl. Stein, Juden (wie Anm. 3), S. 15. 10 Vgl. ausführlicher zur „ASR-Aktion“ Wolfgang Ayass, „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995, S. 140–165. 11 Vgl. zu den Hintergründen Wünschmann, Before Auschwitz (wie Anm. 6), S. 184–196

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In der Lagerstatistik firmierten die im Juni 1938 nach Buchenwald Verschleppten als „ASR-Juden“. Es waren Arbeiter, Handwerker, Geschäftsleute, Rechtsanwälte und Ärzte, deren Vorstrafen nicht selten aus Verstößen gegen die zahlreichen antisemitischen Verbote und Gesetze herrührten, die viele von ihnen in prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen gestürzt hatten. Der Schwerpunkt der Verhaftungen lag auf großstädtischen Ballungsräumen, wo sie nicht selten von gewalttätigen Ausschreitungen und Boykottaktionen begleitet wurden. Die meisten der Buchenwalder „ASR-Juden“ kamen aus der Gegend um Berlin, Frankfurt am Main und den schlesischen Städten Breslau, Gleiwitz und Liegnitz. Lediglich 17 stammten nach bisherigem Kenntnisstand aus thüringischen Städten wie Nordhausen, Erfurt, Eisenach, Meiningen oder Themar.12 Wer von den „ASR-Juden“ ein Auslandsvisum vorweisen konnte, sollte umgehend aus dem Lager entlassen werden. Zunächst ging es für sie jedoch um das nackte Überleben. Um den Druck auf die jüdischen Häftlinge aufrechtzuerhalten, steigerte die Buchenwalder SS die ohnehin prekären Bedingungen im Lager in immer neue Extreme. Die Sommermonate des Jahres 1938 standen im Zeichen einer so noch nicht dagewesenen Gewalteskalation. Aufgepeitscht durch den Tod eines SS-Wachmanns, den zwei Häftlinge bei ihrer Flucht erschlagen hatten, ließ die SS ihrem Vergeltungsdrang freien Lauf. Zwar litten alle Häftlinge des Lagers unter der Rache der SS-Männer. Zum besonderen Objekt ihres Hasses machten die überzeugten Antisemiten jedoch die „ASR-Juden“. Hunderte von ihnen pferchte die SS in einen Schafstall, der für Wochen ihr Elendsquartier blieb. Die schwersten und gefährlichsten Arbeitskommandos im Lager wurden zeitweise zu reinen „Judenkommandos“, in denen SS-Männer die jüdischen Häftlinge auf jede erdenkliche Art und Weise quälten oder „auf der Flucht erschossen“. Mindestens 92 „ASR-Juden“ fielen dem Furor der SS alleine zwischen Juni und August 1938 zum Opfer.13 Bis Ende September 1938 verringerte sich die Zahl der „ASR-Juden“ durch Entlassungen und Tod auf 720.14 Durch die Überstellung von mehr als 2.000, vorwiegend österreichischen Juden aus dem Konzentrationslager Dachau – unter ihnen viele Prominente aus Politik, Wissenschaft und Kultur – nahm die Zahl der jüdischen Häftlinge in Buchenwald insgesamt jedoch zu.15 Mit rund 10.000 Insassen, darunter 3.000 jüdische Häftlinge, war das Lager Ende Oktober 1938 bereits mehr als überfüllt. Die Verhältnisse endgültig zum Kippen brachte kurz darauf die Masseneinweisung von Männern jüdischer Herkunft nach den Novemberpogromen.

12 13 14 15

sowie Christian Faludi (Hg.), Die „Juni-Aktion“ 1938. Eine Dokumentation zur Radikalisierung der Judenverfolgung, Frankfurt am Main 2013, S. 34. Die Angaben basieren auf einer ersten einzelfallbezogenen Auswertung der im KZ Buchenwald inhaftierten „ASR-Häftlinge“. Vgl. detailliert und mit vielen Beispielen Stein, Juden (wie Anm. 3), S. 19–29. Ebd., S. 26. Vgl. ausführlich zu den aus dem KZ Dachau überstellten Juden ebd., S. 31–38.

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2. Das Pogromsonderlager In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstörten Trupps aus SA und NSDAP fast alle Synagogen in Deutschland. Vor aller Augen plünderten sie Geschäfte, stürmten Wohnungen und misshandelten oder ermordeten Juden. In den Tagen nach den Pogromen verschleppte die Gestapo über 26.000 jüdische Männer in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald.16 Mit Gefangenentransporten aus Städten in Thüringen, Hessen, Sachsen, Schlesien, Franken, dem Rheinland und anderen Regionen des damaligen Deutschen Reichs wurden in den Tagen nach den Pogromen insgesamt 9.845 Männer in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Mehr als die Hälfte von ihnen stammte aus Frankfurt am Main und Breslau. Es waren Männer jeden Alters und aus allen sozialen Milieus, die relativ willkürlich festgesetzt worden waren. Vorgeschobene Begründungen wie Vorstrafen spielten nun keine Rolle mehr. Verhaftet wurden die Männer einzig, weil sie als Juden galten. Im Gegensatz zur „ASR-Aktion“ kam es nun auch in Thüringen zu umfangreichen Verhaftungen. Aus über 40 Städten und Orten wurden insgesamt mindestens 810 Männer im Alter von 14 bis 78 Jahren nach Buchenwald gebracht; mehr als ein Viertel der damals noch in Thüringen lebenden jüdischen Bevölkerung. Die größten Gruppen stammten aus Erfurt (197), Eisenach/Gotha (112), Meiningen (91) und Nordhausen (89).17 Bereits am Bahnhof in Weimar fiel die SS vielfach über die Ankommenden her. Die zügellose Gewalt setzte sich bei der Ankunft im Lager fort, wo die SS die Männer mit blutigen Spießrutenläufen in Empfang nahm. Der Massenzustrom traf die Lagerleitung unvorbereitet; Chaos brach aus. Hastig ließ sie neben dem Appellplatz fünf scheunenartige Behelfsbaracken errichten. Mit Stacheldraht vom übrigen Häftlingslager getrennt, entstand so das sogenannte jüdische Sonderlager oder Pogromsonderlager – ein Lager im Lager, in dem schon bald unbeschreibliche Zustände herrschten. In die Baracken, die weder Böden, Fenster, Öfen oder sanitäre Anlagen besaßen, zwängte die SS jeweils 2.000 Männer.18 Den ständigen Gewaltorgien der SS schutzlos ausgeliefert, litten die ins Sonderlager Gesperrten unter der spärlichen Versorgung mit Lebensmitteln, dem ohnehin chronischen und in der Sonderzone ins Extrem gesteigerten Wassermangel und den katastrophalen hygienischen Verhältnissen. Krankheiten gras16 Vgl. allgemein zu den Novemberpogromen Wolfgang Benz, Gewalt im November 1938, Die „Reichskristallnacht“. Initial zum Holocaust, Berlin 2018. 17 Vgl. Harry Stein, Das Sonderlager im Konzentrationslager Buchenwals nach den Pogromen 1938, in: Monica Kingreen (Hg.), „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938–1945, Frankfurt am Main/New York 1999, S. 19–54, hier S. 27–29. 18 Vgl. – auch zum Folgenden – ausführlich und mit zahlreichen Beispielen Stein, Juden (wie Anm. 3), S. 38–52 sowie Ders., Sonderlager (wie Anm. 17).

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sierten und der einbrechende Winter führte zu Erfrierungen. Dennoch untersagte die Lagerleitung für lange Zeit jede medizinische Versorgung. Manche der Eingesperrten sahen im Selbstmord den einzigen Ausweg. Die „Judenaktion“ – wie die Pogrome und die Verhaftungen in der Sprache der Täter hießen – folgte derselben zynischen Logik wie die Inhaftierung der „ASR-Juden“. Durch Einschüchterung und Terror sollten die Männer gezwungen werden, ihren Besitz aufzugeben und Deutschland mit ihren Familien schnellstmöglich zu verlassen. Zunächst jedoch nutzten die SS-Männer um den berüchtigten Lagerkommandanten Karl Otto Koch die Gelegenheit, sich auf eigene Rechnung die Taschen zu füllen, indem sie die Inhaftierten ausplünderten oder sie dazu nötigten, Vermögenswerte auf ihre Peiniger zu überschreiben. Nach zehn Tagen begannen die ersten, stets an Auflagen gebundenen Entlassungen. Zu den ersten, die das Pogromsonderlager verlassen durften, zählte auch der eingangs erwähnte Robert Rothschild. Seiner Mutter gelang es, ihn Anfang 1939 bei einem Großonkel in London unterzubringen.19 Wie alle anderen hatte auch er sich verpflichtet, über das erlebte Grauen zu schweigen. Zur Jahreswende 1938/39 brach Typhus in Buchenwald aus, dessen Ausgangspunkt vermutlich das Sonderlager war. Die SS kümmerte sich zunächst nicht darum, die Epidemie einzudämmen. Erst als sie auf angrenzende Ortschaften übergriff, dort erste Opfer forderte und infolgedessen ein Eklat drohte, handelte die Lagerleitung. Im Februar 1939 ließ sie das Sonderlager abreißen. Die allermeisten „Aktionsjuden“ hatten Buchenwald zu diesem Zeitpunkt bereits wieder verlassen. Mindestens 250 Männer, unter ihnen 21 aus Thüringen, hatten die Hölle des Pogromsonderlagers jedoch nicht überlebt.20 Nach Monaten des Schreckens und der exzessiven Gewalt folgte bis Kriegsbeginn eine etwas ruhigere Phase. Es gab keine Masseneinweisungen mehr, und die Zahl der Häftling verringerte sich deutlich. Der alltägliche Terror jedoch blieb. Unter dem „Angstregiment“ der SS litten nicht nur, aber vor allem die jüdischen Häftlinge.21 Unter den über Tausend Toten von Buchenwald in der Vorkriegszeit befanden sich 490 jüdische Häftlinge.22 Am Vorabend des deutschen Überfalls auf Polen befanden sich Ende August 1939 insgesamt noch 5.400 Häftlinge im Lager, unter ihnen 750 Juden.23 Für sie

19 Vgl. Rothschild, Meine zehn Tage (wie Anm. 1). 20 Eine nicht ganz vollständige Auflistung der Toten findet sich in Stein, Juden (wie Anm. 3), S. 59–64. 21 Begriff nach ebd., S. 70. Dort auch zahlreiche Beispiele über den „Lageralltag“ jüdischer Häftlinge. 22 Vgl. http://totenbuch.buchenwald.de/ (letzter Zugriff: 30.11.2021). 23 Vgl. Schutzhaftlager-Rapport des KZ Buchenwald vom 30.8.1939: LATh-HStA Weimar, NS 4 Bu, Nr. 142, o. P.

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wurde das Lager nun zu „einer tödlichen Falle“.24 Denn ein Entkommen gab es für jüdische Häftlinge nach Kriegsbeginn nur noch in wenigen Fällen.

3. Der erste Massenmord Am 9. November 1939 wurde Buchenwald Schauplatz eines beispiellosen Massakers. Am Morgen griffen SS-Männer aus der Gruppe der jüdischen Häftlinge 21 jüngere Deutsche und Österreicher heraus. Vom Lagertor mussten sie in den nahegelegenen Steinbruch marschieren, wo SS-Wachen sie ohne Vorankündigung hinterrücks erschossen. Nie zuvor hatte die SS in einem Konzentrationslager am helllichten Tag so viele Häftlinge ermordet – und dies aus eigenem Ermessen, ohne Autorisierung von oben. Den übrigen jüdischen Häftlingen wurde für Tage das Essen entzogen. Der Mord war die Rache der Buchenwalder SS für das gescheiterte Hitler-Attentat am Tag zuvor in München. Ihr Hass traf einmal mehr die jüdischen Häftlinge des Lagers. Gleichzeitig war das Massaker der vorläufige Höhepunkt einer Entgrenzung des Terrors, die mit Kriegsbeginn eingesetzt hatte. Unermüdlich trieb Lagerkommandant Koch seine Männer zu rücksichtsloser Härte und Brutalität gegenüber den Häftlingen an.25 Auch vor Massenmord schreckte die SS nun nicht mehr zurück. Unter den über 8.000 Häftlingen, die in den Wochen nach Kriegsbeginn in das Konzentrationslager Buchenwald eingewiesen wurden, befanden sich über 1.000 Männer aus Wien. Die polnischstämmigen und nun als staatenlos geltenden Juden hatte die Gestapo Wien nach dem Überfall auf Polen verhaftet. Im Praterstadion hatte man sie vorläufig festgesetzt, wo sie „Rassenforscher“ des Naturhistorischen Museums zum Objekt ihrer rassistischen Studien machten.26 Anfang Oktober 1939 trafen die Wiener Juden mit Viehwaggons in Weimar ein. Da das Lager bereits überfüllt war, griff die SS, wie schon nach den Novemberpogromen, auf das Instrument einer Sonderzone zurück. Zum zweiten Mal binnen eines Jahres ließ sie auf dem Appellplatz einen Bereich mit Stacheldraht absperren, in dem vier Zelte und eine Baracke errichtet wurden. Hier hinein trieb sie die Männer aus Wien, unter ihnen Jugendliche und über 80-Jährige aus jüdischen Altersheimen. Die Verhältnisse waren ähnlich katastrophal wie im Pogromsonderlager; hinzu kam kräftezehrende Schwerstarbeit im Steinbruch. 24 Stein, Konzentrationslager Buchenwald (wie Anm. 4), S. 78. 25 Vgl. Stein, Juden (wie Anm. 3), S. 93–95. Zur Entgrenzung der Gewalt vgl. auch Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2015, S. 259–262. 26 Vgl. ausführlich zum Hintergrund der Verhaftungen und zum Schicksal der Gruppe der Wiener Juden die Beiträge in: Volkhard Knigge/Jürgen Seifert (Hg.), Vom Antlitz zur Maske. Wien – Weimar – Buchenwald 1939, Weimar 1999.

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Die Lage verschärfte sich noch, als die SS zusätzlich rund 2.000 Polen, unter ihnen über zweihundert Juden, in das Sonderlager trieb. Nach dem deutschen Einmarsch waren sie als potentielle Widerstandskämpfer verhaftet worden.27 Mitte Oktober 1939 brach eine Ruhrepidemie in den Zelten des Sonderlagers aus. Nachdem sie den Großteil der nicht-jüdischen Polen im Hauptlager untergebracht hatte, riegelte die SS das Sonderlager komplett ab, um ein Übergreifen der Epidemie zu verhindern. Für die rund 1.500 zurückbleibenden ruhrkranken Männer reduzierte sie die Verpflegungsrationen und überließ sie weitgehend sich selbst. Ärzte des Hygiene-Instituts der SS nutzten die Gelegenheit einzig dazu, den Verlauf der Epidemie und das Sterben für ihre wissenschaftlichen Zwecke zu studieren. Bis zu seinem Abriss im Februar 1940 wurde das Sonderlager zum Tatort des ersten gezielten Massenmordes an jüdischen und polnischen Häftlingen, herbeigeführt durch Terror, schwerste Zwangsarbeit und gezielte Vernachlässigung. Er forderte insgesamt über tausend Tote, die meisten von ihnen waren Juden aus Wien.

4. Terror, Mord, Deportation Anfang Juli 1940 befanden sich noch 1.355 jüdische Häftlinge in Buchenwald. Mit Blick auf die Gesamtbelegung entsprach dies einem Anteil von 19 Prozent. Die meisten von ihnen stammten aus Deutschland und Österreich. Hinzu kamen kleinere Gruppen polnischer und tschechischer Juden. An diesem Verhältnis änderte sich in den ersten Kriegsjahren recht wenig. Zwar gab es wiederholt neue Einweisungen jüdischer Häftlinge, vergleichbare Masseneinweisungen wie bei der „ASR-Aktion“, nach den Novemberpogromen und den Überstellungen aus Wien gab es jedoch nicht mehr.28 Die Separierung in bestimmten Baracken, exzessive Gewaltausbrüche, kollektive Strafmaßnahmen, Erpressungen und Arbeit in den schwersten Arbeitskommandos kennzeichneten weiterhin den Umgang der SS mit den jüdischen Häftlingen. Folglich blieb ihr Anteil unter den Toten vergleichsweise hoch.29 Ablesbar war all dies auch am Umgang mit einer Gruppe von fast vierhundert niederländischen Juden, die Ende Februar 1941 nach Buchenwald gebracht wurde. Die Männer im Alter von 20 bis 35 waren bei einer Vergeltungsaktion gegen jüdische Widerstandsgruppen in Amsterdam verhaftet worden. Die SS 27 Vgl. – auch für das Folgende – ausführlich Stein, Juden (wie Anm. 3), S. 83–93. 28 Vgl. zu den Zahlen ebd., S. 92. 29 1940 waren 692 der insgesamt 1.772 Toten des KZ Buchenwald jüdische Häftlinge; 1941 waren es 542 von 1.619 und 1942 schließlich 609 von 2.900. Vgl. ebd., S. 82.

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teilte sie in die schwersten Träger- und Baukommandos ein. Die Zwangsarbeit, die Kälte und mangelhafte Ernährung führten sehr schnell zum körperlichen Verfall. Die SS verweigerte jedoch gezielt jede medizinische Versorgung. Nach drei Monaten waren bereits über 40 der Niederländer elendig zugrunde gegangen. Die Überlebenden brachte die SS in das Konzentrationslager Mauthausen in Österreich, wo noch schlechtere Bedingungen herrschten. Ein Großteil von ihnen wurde später in der Euthanasie-Tötungsanstalt in Hartheim ermordet.30 Mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 erreichte die antijüdische Politik des NS-Regimes eine neue Eskalationsstufe. In den besetzten Gebieten der Sowjetunion ermordeten Einheiten von SS und Polizei ab dem Sommer Hunderttausende jüdische Männer, Frauen und Kinder.31 Auch in den Konzentrationslagern ging man nun „vom Massentod zur Massenvernichtung“ über.32 Den Anfang machte die „Aktion 14f13“, eine Mordaktion, die sich schon bald nahezu ausschließlich gegen jüdische Häftlinge richtete. Bereits Anfang 1941 hatte SS-Chef Himmler entschieden, alle „Arbeitsunfähigen“ in den Konzentrationslagern umzubringen.33 Die Umsetzung des geheimen Mordprogramms unter dem Aktenzeichen „14f13“ erfolgte in enger Zusammenarbeit der SS mit den Ärzten und Tötungsanstalten des „Euthana­sie-Programms“. Diese hatten schon den Mord an Kranken und Behinderten außerhalb der Lager organisiert, dem seit Kriegsbeginn Zehntausende zum Opfer gefallen waren. Ärztliche Gutachterkommissionen zogen von Konzentrationslager zu Konzentrationslager und entschieden bei Selektionen vor Ort über das Schicksal der Häftlinge. In Buchenwald wurden sie im Juni und im November 1941 tätig. Bei den ersten Selektionen im Juni überwogen noch medizinische Kriterien, sprich: der körperliche Zustand der Häftlinge. Jüdische Häftlinge waren dennoch sehr gefährdet, da viele von ihnen aufgrund der geschilderten Lebens- und Arbeitsbedingungen krank, verletzt oder am Ende ihrer Kräfte waren. Im Resultat war rund die Hälfte der 187 Männer, die im Juli 1941 in der Gaskammer der Tötungsanstalt im sächsischen Pirna-Sonnenstein ermordet wurden, jüdische Häftlinge.34 Die zweite Selektion im November 1941 hatte hingegen nichts mehr zu tun „mit medizinischen Gründen, sondern ausschließlich mit Rassenpolitik.“35 384 Männer, ausschließlich jüdische Häftlinge, standen schließlich auf der Todes30 Vgl. Wally de Lang, De razzia’s van 22 en 23 februari 1941 in Amsterdam: het lot van de 389 Joodse mannen, Amsterdam 2021. 31 Vgl. Birthe Kundrus, Krieg und Holocaust in Europa, München 2018, S. 198–221. 32 Wachsmann, KL (wie Anm. 25), S. 285. 33 Vgl. zu den Details ebd., S. 285–300. 34 Vgl. zu den Sonnenstein-Transporten Harry Stein, Die Vernichtungstransporte aus Buchenwald in die „T4“-Anstalt Sonnenstein 1941, in: Sonnenstein. Beiträge zur Geschichte des Sonnensteins und der Sächsischen Schweiz 3 (2001), S. 29–50. 35 Wachsmann, KL (wie Anm. 25), S. 299.

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liste. In vier Transporten wurden sie im März 1942 in die Tötungsanstalt nach Bernburg an der Saale gebracht, wo sie im Gas erstickt wurden.36 Nach dem Abschluss der „Aktion 14f13“ verlagerte sich der Krankenmord in das Lager selbst. Parallel zu den Selektionen hatte der zeitweilige Buchenwalder SS-Lagerarzt Hans Eisele die Tötung von Tuberkulosekranken mittels Injektionen zu einer geläufigen Praxis gemacht. Eisele galt als einer der „berüchtigten Judenmörder des Lagers“, 37 und allem Anschein nach fielen auch dieser Mordaktion insbesondere jüdische Häftlinge zum Opfer. Zeitgleich zum Krankenmord startete die SS im Herbst 1941 mit der Erschießung sowjetischer Kriegsgefangener ein noch größeres Vernichtungsprogramm. Es ist davon auszugehen, dass sich unter den rund 8.000 in Buchenwald ermordeten Rotarmisten auch eine unbekannte Zahl jüdischer Kriegsgefangener befand.38 Einer der in der Tötungsanstalt Bernburg ermordeten Buchenwaldhäftlinge war der 47-jährige Martin Wolff aus Weimar. Der seit dem Ersten Weltkrieg gehbehinderte, fünffache Familienvater war Anfang 1942 auf offener Straße festgenommen worden, der Grund: „unwahre Angaben über den meldepflichtigen Besitz eines Fahrrades“, mit dem Wolff täglich zu der ihm zugeteilten Arbeitsstelle bei einem Kartoffelhändler fuhr. Als Jude war ihm die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel verboten.39 Seine Verhaftung und Ermordung war kein Einzelfall, da die Gestapo Weimar das Konzentrationslager Buchenwald ab Mitte 1941 dazu nutzte, um in Eigenregie den Terror gegenüber der jüdischen Bevölkerung in Thüringen punktuell zu verschärfen. Im April 1941 war in Buchenwald ein Arbeitserziehungslager eingerichtet worden. Es war ein Lager im Lager, in das die Gestapo Weimar nach eigenem Ermessen Männer für einen Zeitraum von maximal 56 Tagen einweisen konnte. Ursprünglich war es eine Maßnahme, die sich gegen ausländische und deutsche Arbeitsverweigerer und „Arbeitsbummelanten“ richtete, die durch den kurzzeitigen Lageraufenthalt „diszipliniert“ werden sollten.40 Für die Gestapo Weimar war das Arbeitserziehungslager zuallererst jedoch eine Möglichkeit, um „Geg36 Vgl. Stein, Juden (wie Anm. 3), S. 117. 37 Ebd., S. 111. 38 Nur vereinzelte Opfer sind namentlich bekannt. Vgl. zur Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener in den Konzentrationslagern allgemein Reinhard Otto/Rolf Keller; Sowjetische Kriegsgefangene im System der Konzentrationslager, Hamburg 2019, S. 117–144. 39 Vgl. Volkhard Knigge (Hg.), Buchenwald. Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945. Begleitband zur Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald, Göttingen 22020, S. 72. 40 Vgl. zu den Arbeitserziehungslagern allgemein Gabriele Lotfi, KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Stuttgart/München 2000. Zum Arbeitserziehungslager Buchenwald, dessen Geschichte noch nicht geschrieben ist, vgl. die Hinweise in Marlis Gräfe/Bernhard Post/Andreas Schneider (Hg.), Die Geheime Staatspolizei im NSGau Thüringen 1933–1945, 1. Halbbd., Erfurt 52009, S. 201–222.

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ner“ aller Art aus eigenem Ermessen zu terrorisieren. Im Fokus stand hierbei auch die jüdische Bevölkerung. Spätestens mit der Einführung des gelben Sterns im Herbst 1941, der Denunziationen Tür und Tor öffnete, und vor dem Hintergrund der beginnenden Deportation der deutschen Juden ließen die lokalen Gestapobeamten alle Skrupel fallen.41 Mehr als ein Dutzend Fälle sind heute bekannt, in denen Juden aus Thüringen zwischen Mitte 1941 und Anfang 1942 wegen fadenscheiniger Anlässe als Arbeitserziehungshäftlinge nach Buchenwald verschleppt wurden. Die Haftgründe, wie „hat eine Gans gekauft“, „Annahme von Lebensmitteln durch Arierin“, „illegale Beschaffung von Eiern“ oder „Auseinandersetzung mit dem Verwalter des Hofes“, zeugen vom Ausmaß der Willkür.42 Einige der Männer waren bereits nach den Novemberpogromen zeitweise in Buchenwald eingesperrt gewesen. Ihre Bemühungen auszuwandern waren gescheitert, so dass sie nun zum zweiten Mal in die Fänge der Buchenwalder SS gerieten.43 Während die meisten nicht-jüdischen Arbeitserziehungshäftlinge Buchenwald nach Wochen des Terrors und der Schikanen im Steinbruch wieder verlassen konnten, kam die Einweisung bei jüdischen Männern einem Todesurteil gleich. Die meisten von ihnen wurden nach kurzer Zeit im Lager ermordet oder wie Martin Wolff in Tötungsanstalten gebracht.44 Mit den Transporten nach Sonnenstein und Bernburg verkleinerte sich die Zahl der jüdischen Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald drastisch. Mit dem Fortschreiten der Ermordung der europäischen Juden in den Vernichtungszentren im besetzten Polen erging Anfang Oktober 1942 der Befehl, alle Konzentrationslager im Reichsgebiet „judenfrei“ zu machen. Noch im gleichen Monat verließ ein Transport mit 405 Männern Buchenwald in Richtung Auschwitz. Der Großteil von ihnen starb beim Aufbau einer Fabrik in Auschwitz-Monowitz oder in den Gaskammern von Birkenau. „Judenfrei“ war das Konzentrationslager Buchenwald hiermit jedoch nicht. Zurück blieb eine Gruppe von 234 jüdischen Häftlingen. Ihre Deportation wurde aufgeschoben, da sie als Facharbeiter beim Bau einer Gewehrfabrik unweit des Lagers benötigt wurden.45 Für längere Zeit waren sie die einzigen jüdischen Häftlinge in Buchenwald.

41 Vgl. Carsten Liesenberg/Harry Stein (Hg.), Deportation und Vernichtung der Thürin­ ger Juden 1942, Erfurt 2012, S. 24 f. 42 Ebd., S. 96 f. Die dortige Übersicht ist nicht ganz vollständig. 43 Vgl. etwa Werner Simsohn, Juden in Gera II. Jüdische Familiengeschichten, Konstanz 1998, S. 94–97 zum Fall von Max Hirsch aus Gera. 44 Vgl. ebd. Im Dezember erließ SS-Chef Himmler detailliertere Einweisungsbestimmungen für die Arbeitserziehungslager. Danach gingen in Buchenwald die willkürlichen Einweisungen von jüdischen Männern zurück. Vgl. Gräfe/Post/Schneider, Geheime Staatspolizei (wie Anm. 40), S. 211–215. 45 Vgl. Stein, Juden (wie Anm. 3), S. 122–126.

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5. „Jüdische Mischlinge“ Nach dem Auschwitz-Transport wurden über ein Jahr lang keine neuen jüdischen Häftlinge in das Konzentrationslager Buchenwald eingewiesen. Dies änderte sich erst mit der Inhaftierung von im deutschen Herrschaftsbereich lebenden ausländischen Juden aus neutralen oder verbündeten Ländern. Im Herbst 1943 wurden insgesamt 118 Männer aus Deutschland und Belgien nach Buchenwald gebracht. Von der Deportation in die Vernichtungslager waren sie zunächst ausgenommen.46 Mit ihnen wuchs die Zahl der jüdischen Häftlinge in Buchenwald auf fast 400 an, was einem Prozent der Gesamtbelegung des Lagers entsprach.47 Etwa zur gleichen Zeit verschärfte das NS-Regime die Repressionen gegenüber Frauen und Männern, die seit den Nürnberger Rassengesetzen als „jüdische Mischlinge“ galten. Betroffen waren Menschen, die nur einen jüdischen Elternteil besaßen und nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten.48 Von den Deportationen waren sie ausgenommen, jedoch unterlagen auch sie zahlreichen antijüdischen Diskriminierungen bis hin zur Zwangsarbeitspflicht.49 Zudem standen sie unter verschärfter Beobachtung durch die Gestapo. Schon kleinste Vergehen konnten zu einer KZ-Einweisung führen, wie bei Günter Pappenheim (1925–2021) aus Schmalkalden. Sein Vater stammte aus einer jüdischen Familie und war bereits 1934 als Sozialdemokrat ermordet worden. Die Familie war in den Jahren danach zahlreichen Schikanen ausgesetzt. Im Oktober 1943 wies die Gestapo Weimar Günter Pappenheim in das Konzentrationslager Buchenwald ein. Für französische Zwangsarbeiter, mit denen der 18-jährige Schlosser in einer Fabrik Seite an Seite arbeitete, hatte er am französischen Nationalfeiertag auf seinem Akkordeon die Marseillaise gespielt. Er wurde denunziert und wegen „staatsfeindlicher Einstellung“ inhaftiert. In Buchenwald blieb er bis zur Befreiung.50 46 Vgl. Lisa Hauff (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 11, Deutsches Reich und Protektorat, April 1943–1945, Berlin/Boston 2020, S. 48 u. 270 f. 47 Vgl. Stein, Konzentrationslager Buchenwald (wie Anm. 4), S. 164. 48 Falls sie der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten, galten sie als „Geltungsjuden“ und waren der Verfolgung in vollem Umfang ausgesetzt. Vgl. Michaela Raggam-Blesch, „Mischlinge“ und „Geltungsjuden“. Alltag und Verfolgungserfahrungen von Frauen und Männern halbjüdischer Herkunft in Wien 1938–1945, in: Andrea Löw/Doris L. Bergen/ Anna Hájková (Hg.), Alltag im Holocaust. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941–1945, München 2013, S. 81–97, hier S. 81. 49 Zu den Details vgl. Hauff, Verfolgung (wie Anm. 46), S. 35–41 sowie Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, Hamburg/ München 22002. 50 Vgl. Peter Hochmuth/Gerhard Hoffmann (Hg.), Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen. Lebensbilder, Berlin 2007, S. 201–213 sowie Wünschmann, Before Auschwitz (wie Anm. 6), S. 34 f.

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Zwischen Mitte 1943 und der Befreiung wurden aus Gestapo-Haftstätten im gesamten Reichgebiet und aus anderen Konzentrationslagern insgesamt über 600 „Mischlinge ersten Grades“ mit verschiedenen Nationalitäten nach Buchenwald gebracht. Mindestens 16 von ihnen stammten wie Günter Pappenheim aus Thüringen.51 Buchenwald scheint in dieser Phase des Krieges als zentrales Sammellager für inhaftierte „jüdische Mischlinge“ fungiert zu haben, wobei die Hintergründe bislang nicht ersichtlich sind. Im Lager wurden die „Mischlinge“ nicht als jüdische Häftlinge registriert. Sie trugen den roten Winkel der politischen Häftlinge. Lediglich in der Lagerverwaltung erhielten sie den Zusatz „Mischling ersten Grades“ sowie den Hinweis, dass sie nicht in andere Konzentrationslager überstellt werden durften. Über ihr Schicksal ist bisher noch nicht viel bekannt.

6. Zwangsarbeit und Vernichtung Spätestens seit 1943 stand der Betrieb des Konzentrationslagers Buchenwald im Zeichen der Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie. Hiermit wuchs das Verlangen der SS nach immer mehr Häftlingen, die für den deutschen „Endsieg“ ausgebeutet werden sollten, wozu nun zunehmend KZ-Außenlager eingerichtet wurden.52 Durch Masseneinweisungen aus dem besetzten Europa und anderen Konzentrationslagern wuchs das Lager seit 1943 schubweise an. Zwischen Februar 1943 und April 1944 vervierfachte sich die Zahl der Häftlinge auf über 43.000.53 Um die Verfügungsmasse an Arbeitskräften angesichts der geplanten Untertageverlagerung der deutschen Flugzeugindustrie nochmals zu vergrößern, vollzog die SS im Frühjahr 1944 zudem einen partiellen Kurswechsel im Umgang mit jüdischen Häftlingen. Im Mai 1944 hatte in Auschwitz-Birkenau die Ermordung der ungarischen Jüdinnen und Juden begonnen, eine der größten Vernichtungsaktionen überhaupt. Binnen zwei Monaten brachte die SS 300.000 Männer, Frauen und Kinder in den Gaskammern um. Als arbeitsfähig Eingestufte ermordete die SS hingegen nicht mehr sofort. Vor ihrer Vernichtung sollten sie Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern leisten. Massentransporte aus Auschwitz-Birkenau steu51 Zahlen nach einer ersten Datenerhebung auf Grundlage der Buchenwalder Häftlingsnummernkartei. Für die entsprechenden Hinweise danke ich Harry Stein. 52 Vgl. zum 1942 einsetzenden Funktionswandel des KZ Buchenwald Harry Stein, Funktionswandel des Konzentrationslagers Buchenwald im Spiegel der Lagerstatistiken, in: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Bd. 1, Göttingen 1998, S. 167–192. 53 Vgl. ebd., S. 179.

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erten nun die Konzentrationslager im Reich an, die anderthalb Jahre zuvor noch „judenfrei“ gemacht worden waren.54 Die ersten 1.000 ungarischen Juden trafen Ende Mai 1944 in Buchenwald ein. Tausende weitere folgten in den Wochen danach. Vielfach handelte es sich um Väter mit ihren Söhnen oder um kaum dem Kindesalter entwachsene Jugendliche, deren Eltern die SS in Auschwitz ermordet hatte. Durch Transporte aus Lagern in Polen erhöhte sich die Zahl der jüdischen Häftlinge bis Ende 1944 auf über 15.000 Männer und Jungen. Die meisten von ihnen blieben nur kurze Zeit im Hauptlager auf dem Ettersberg, bevor sie zur Zwangsarbeit in eines der Buchenwalder Außenlager gebracht wurden, zumeist in jene, in denen die härtesten Bedingungen herrschten und die Aussicht auf ein Überleben gering war, wie auf den Baustellen von Dora bei Nordhausen oder den Außenlagern in Magdeburg und Rehmsdorf. Tausende jüdische Häftlinge litten und starben später auch auf Baustellen in Ohrdruf und Berga/Elster – um nur einige zu nennen.55 Im Herbst 1944 übernahm Buchenwald zudem einige Außenlager des Frauen-­ Konzentrationslagers Ravensbrück, wodurch erstmals weibliche Häftlinge in der Buchenwalder Lagerstatistik erschienen. Insgesamt unterstanden dem Konzentrationslager Buchenwald bis Kriegsende 27 Frauenaußenlager mit über 28.000 Frauen. Die größte Gruppe unter ihnen bildeten über 10.000 Jüdinnen aus Ungarn und Polen, die unter anderem in Rüstungsfabriken Granaten mit giftigen Sprengstoffen befüllen mussten.56 Für die Unternehmen und Baustäbe waren stets nur einsatzfähige Häftlinge von Interesse. Regelmäßig schickten die Außenlager deshalb entkräftete oder kranke Häftlinge zurück in das Hauptlager. Jüdische Häftlinge, die als dauerhaft nicht mehr arbeitsfähig galten, wurden zurück nach Auschwitz-Birkenau gebracht. Dies bedeutete ihren Tod. Der größte Vernichtungstransport verließ Buchenwald Anfang Oktober 1944 mit annähernd 1.200 ungarischen Juden. In den Außenlagern in Magdeburg und Rehmsdorf waren sie in kürzester Zeit bis zum Zusammenbruch ausgebeutet worden. In Birkenau ermordete die SS sie unmittelbar nach der Ankunft in den Gaskammern. Ebenso verfuhr die SS mit

54 Vgl. zur Ermordung der ungarischen Jüdinnen und Juden Regina Fritz (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 15, Ungarn, 1944–1945, Berlin/Bonn 2021. 55 Vgl. Stein, Konzentrationslager Buchenwald (wie Anm. 4), S. 164–167. Zu den einzelnen Außenlagern vgl. die Beiträge in Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 3, Sachsenhausen und Buchenwald, München 2006, passim. 56 Zu den Frauenaußenlagern vgl. Stein, Konzentrationslager Buchenwald (wie Anm. 4), S. 186–190 sowie Benz/Distel, Der Ort des Terrors (wie Anm. 55), passim.

Das Konzentrationslager Buchenwald und die Verfolgung der Juden

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schwangeren oder kranken Jüdinnen aus den Frauenaußenlagern. Auch sie wurden zur Ermordung zurück nach Auschwitz geschickt.57

7. Massensterben und Rettung Mit Transporten aus aufgelösten Zwangsarbeitslagern für Juden und den beiden geräumten Konzentrationslagern Auschwitz und Groß-Rosen in Polen brachte die SS zwischen Januar und März 1945 über 20.000 Männer in das Buchenwalder Hauptlager auf dem Ettersberg. Die meisten von ihnen waren Juden unterschiedlicher Nationalität. Nach der Ankunft der Transporte war Buchenwald mit seinen Außenlagern und über 110.000 registrierten Häftlingen das größte noch existierende Konzentrationslager im Deutschen Reich. Mit rund einem Drittel bildeten jüdische Häftlinge in der nun anbrechenden Endphase des Lagers die größte Häftlingsgruppe.58 Bei der Ankunft der Transporte aus Auschwitz und Groß-Rosen spielten sich Szenen ab, die selbst langjährige Buchenwald-Häftlinge in Schrecken versetzten. In den teils offenen Güterwaggons lagen zahllose Tote, die während der tagelangen Fahrten durch Schnee und Eis verhungert oder erfroren waren. Die Überlebenden waren vielfach dem Tode nahe und vollkommen entkräftet.59 Tausende von ihnen pferchte die Buchenwalder SS in das sogenannte Kleine Lager, ein isolierter Bereich unterhalb des Hauptlagers, der ursprünglich als Quarantänezone eingerichtet worden war. Bereits seit Mitte 1944 war es das heillos überfüllte Elendsviertel des Lagers mit primitivsten Unterbringungsmöglichkeiten, herabgesetzten Verpflegungssätzen und katastrophalen hygienischen Bedingungen.60 Bis April 1945 stieg die Zahl der Häftlinge im Kleinen Lager nochmals deutlich auf rund 18.000. Nur wer noch arbeiten konnte, hatte die Aussicht, es schnell wieder zu verlassen. Der Großteil der Häftlinge aus den Räumungstransporten war hierzu selbst nach Maßstäben der SS nicht mehr in der Lage. 57 Vgl. Stein, Konzentrationslager Buchenwald (wie Anm. 4), S. 218–221 sowie mit einem Beispiel aus dem thüringischen Frauenaußenlager Mühlhausen Löffelsender, KZ Buchenwald (wie Anm. 4), S. 90. 58 Zu den Zahlen vgl. Stein, Funktionswandel (wie Anm. 52), S. 187. Einer der Häftlinge, der Buchenwald mit einem der Räumungstransporte aus Groß-Rosen erreichte, war der Erfurter Willi Kormes, der 1944 mit seiner Tochter nach Auschwitz deportiert worden war. Vgl. Deportation und Ermordung der Thüringer Juden 1942–1945, Erfurt 2013, S. 46–52. 59 Vgl. Stein, Konzentrationslager Buchenwald (wie Anm. 4), S. 224. 60 Vgl. Katrin Greiser, „Sie starben allein und ruhig, ohne zu schreien oder jemand zu rufen.“ Das „Kleine Lager“ im Konzentrationslager Buchenwald, in: Dachauer Hefte 14 (1998), S. 102–124.

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Das Kleine Lager wurde zum isolierten Kranken- und Sterbelager für überwiegend jüdische Häftlinge – eine ganz eigene Welt, die in immer größer werdendem Kontrast zum benachbarten Großen Lager stand. Der Kampf um das nackte Überleben steigerte sich in dieser Todeszone ins äußerte Extrem. Im Dreck und Gestank des Kleinen Lagers starben allein zwischen Januar und April 1945 rund 6.000 Häftlinge: sie verhungerten, starben an Infektionen und Seuchen oder wurden mit Giftinjektionen gezielt ermordet.61 Gleichzeitig wurde das Kleine Lager zum Ort der Rettung für Hunderte jüdische Kinder und Jugendliche aus Ungarn und Polen, die mit den Räumungstransporten eingetroffen waren. Um ihnen eine Überlebenschance zu geben, beschlossen politische Funktionshäftlinge gemeinsam mit jüdischen Häftlingen aus Polen, für sie einen geschützten Raum zu schaffen. Ein erster „Kinderblock“ war bereits 1943 für polnische, ukrainische und russische Jugendliche eingerichtet worden. Mitte Januar 1945 wurde Block 66 im Kleinen Lager zu einem weiteren „Kinderblock“ umgewidmet, wo sich ältere Häftlinge um die Jungen kümmerten. Bei der Befreiung des Lagers befanden sich insgesamt noch 904 Kinder und Jugendliche in Buchenwald. Die meisten waren jüdische Häftlinge, der Jüngste von ihnen war gerade einmal vier Jahre alt.62 Angesichts des Vorrückens der amerikanischen Truppen begann die SS am 7. April 1945, das mit rund 48.000 Häftlingen überfüllte Hauptlager auf dem Ettersberg zu räumen. Als Erste verließen mehr als 3.000 jüdische Häftlinge aus dem Kleinen Lager Buchenwald zu Fuß in Richtung Flossenbürg. Die übrigen sechs Räumungstransporte erfolgten per Bahn. Ihre Ziele waren Leitmeritz, Dachau, Flossenbürg und Theresienstadt. Mit ihnen verließen weitere Tausende jüdische, aber auch polnische, sowjetische, tschechische, französische, belgische und deutsche Häftlinge das Lager. Insgesamt trieb die SS in wenigen Tagen rund 28.000 Häftlinge aus dem Lager, hinzu kamen rund 10.000 Männer und Frauen aus geräumten Außenlagern. Es ist davon auszugehen, dass etwa jede/r Dritte von ihnen die Strapazen der Todesmärsche – dem letzten nationalsozialistischen Massenverbrechen inmitten der deutschen Gesellschaft – nicht über-

61 Vgl. ebd., S. 121. Insgesamt starben von Januar bis zur Befreiung im April 1945 rund 15.000 Menschen im KZ Buchenwald und seinen Außenlagern; rund 7.000 von ihnen waren jüdische Häftlinge. 62 Vgl. ausführlich Sabine Stein, „Es gibt hier keine Kinder“ – Jugendliche und Kinder im KZ Buchenwald, in: Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora e.V. (Hg.), 72. Jahrestag Selbstbefreiung der Häftlinge KZ Buchenwald 2017, Berlin 2017, S. 29–43 sowie mit Fokus auf jüdische Kinder und Jugendliche Ronald Hirte, Buchenwaldkinder. Aus Buchenwald in die Schweiz und Israel, in: Ders./Fritz von Klinggräff, Israel, Fragen nach / Europa. Gespräche über einen fernen, nahen Kontinent, Weimar 2020, S. 11–156.

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lebte.63 Unter den mehr als 21.000 Männern, die am 11. April 1945 in Buchenwald die Befreiung erlebten, waren lediglich 3.000 jüdische Häftlinge.64

8. Schlussbetrachtung Vom Frühjahr 1938 bis zur Befreiung im April 1945 waren durchgängig jüdische Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert. Ihre Geschichte ist in erster Linie eine Geschichte von brutaler Gewalt, von Folter und Ausbeutung, von Sterbenlassen und massenhaftem Mord. Insgesamt waren es rund 75.000 Männer, Jungen, Frauen und Kinder, die in das Lager vor den Toren Weimars oder in eines der über 130 Außenlager verschleppt wurden – einzig aus einem Grund: weil sie jüdischer Herkunft waren. Schätzungsweise 12.000 von ihnen überlebten nicht. In diesen sieben Jahren übernahm das Konzentrationslager Buchenwald verschiedene Funktionen im Kontext der Judenverfolgung. In den Vorkriegsjahren fungierte es als Terrorinstrument, um die Ausplünderung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich zu beschleunigen. Nach Kriegsbeginn wurde das Lager zur Mordstätte und ab 1941 zum Tatort gezielter Massenmordaktionen, denen nicht nur, aber vor allem jüdische Häftlinge zum Opfer fielen. Bei der 1942 einsetzenden, systematischen Ermordung der europäischen Juden in den Vernichtungsstätten im besetzten „Osten“ nahm das Konzentrationslager Buchenwald zunächst nur eine randständige Rolle ein. Erst ab Mitte 1944 wurde es mit dem Zwangsarbeitseinsatz jüdischer Männer und Frauen und später als Auffanglager für Transporte aus geräumten Lagern in Polen zum Schauplatz im letzten Kapitel der Shoah. Für die meisten KZ-Überlebenden brachte die Befreiung nicht das Ende ihres Leidens. Viele starben in den Tagen, Wochen und Monaten nach der Befreiung noch an den Folgen der Haft. Jüdische Überlebende standen vor besonderen Herausforderungen. Durch den Völkermord hatten sie zumeist alles verloren: ihre Familien, ihr soziales Umfeld, ihren Besitz und ihre Heimat. Viele von ihnen waren gezwungen, Monate, wenn nicht Jahre in sogenannten Displaced Persons Camps zu verbringen, die unmittelbar nach der Befreiung – auch in Thüringen – eingerichtet worden waren. Die Geschichte von neun Jahrhunderten jüdischen Lebens in Thüringen ist auch die Geschichte der 75.000 jüdischen Häftlinge, die auf dem Ettersberg und 63 Vgl. zu den Todesmärschen des KZ Buchenwald umfassend Katrin Greiser, Die Todesmärsche von Buchenwald. Räumung, Befreiung und Spuren der Erinnerung, Göttingen 2008. 64 Vgl. Stein, Juden (wie Anm. 3), S. 135.

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in thüringischen Städten litten und starben. Auf der Karte der Erinnerungsorte jüdischen Lebens in Thüringen sollten auch in Zukunft neben Buchenwald und Mittelbau-Dora Namen wie Altenburg, Berga/Elster, Meuselwitz, Mühlhausen, Niederorschel, Ohrdruf, Sömmerda, Sonneberg und andere erscheinen – als Leidensorte jüdischer Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald.

Stefan Hellmuth

Restitution, Entschädigung, Aneignung Das Thüringische Wiedergutmachungsgesetz vom 14. September 1945 und seine Umsetzung

Die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden ging mit deren Beraubung einher. Sowohl der Fiskus als auch die nichtjüdische Bevölkerung profitierten von deren Vertreibung, Deportation und Ermordung. Der materielle Umfang des nationalsozialistischen Raubes allein an den deutschen Jüdinnen und Juden kann allenfalls geschätzt werden. Durch die Rückkehr von jüdischen Überlebenden oder deren Forderungen auf Restitution aus dem Ausland wurden die deutschen Nachkriegsgesellschaften und Regierungen mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit konfrontiert. Nicht nur die Rückgabeforderungen, sondern auch die Rückkehrer*innen selbst stießen auf Ablehnung und Verweigerung, hatten sich allzu viele doch in den Häusern und Höfen der jüdischen Nachbar*innen und den Firmen und Fabriken jüdischer Geschäftspartner*innen dauerhaft eingerichtet.1 Der Umgang mit dem „arisierten“ Vermögen jüdischer Eigentümer*innen und deren Forderungen auf Herausgabe oder Entschädigung gibt Aufschluss darüber, inwieweit Staat und Gesellschaft ihre historische Verantwortung übernahmen. In besonderer Weise zeigt das die Geschichte der „Wiedergutmachung“ in Thüringen. Mit dem zweifachen Systemwechsel, von der US-amerikanischen Besatzung Thüringens bis Juli 1945 und der darauffolgenden Übergabe an die Sowjetische Militäradministration Thüringens (SMATh) begann die Umstrukturierung eines demokratischen Aufbruchs in eine Diktatur. In den wenigen Wochen der demokratischen Regierung unter Hermann Brill (SPD) wurde der historischen Verantwortung durchaus Rechnung getragen, indem konkrete Überlegungen für die „Wiedergutmachung“ von NS-Unrecht formuliert wurden. Unter dem darauffolgenden Ministerpräsidenten Rudolf Paul (DDP, ab April 1946 SED) trat am 14. September 1945 das Thüringische Wiedergutmachungsgesetz (WGG) in Kraft, als Erstes seiner Art in Deutschland.2 1 2

Auf die „Arisierung“ in Thüringen geht Monika Gibas mit ihrem Beitrag in diesem Band ein. Als einer der ersten hat Thomas Schüler das Wiedergutmachungsgesetz 1992 genauer untersucht. Thomas Schüler, Das Wiedergutmachungsgesetz vom 14. September 1945 in Thüringen, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993), S. 118–138, hier S. 118– 124 und vgl. Jens Schley (Hg.), Thüringen 1945, Januar bis Juni, Kriegende und amerikanische Besatzung (Quellen zur Geschichte Thüringens, 41) Erfurt 2016.

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Zunächst stellte das WGG einen Versuch demokratischer Kräfte dar, den Überlebenden der Shoah, aber auch den politisch Verfolgten eine gerechte Entschädigung oder Restitutionen zu ermöglichen. Die Vielzahl der Anmeldungen von Wiedergutmachungsansprüchen und über 200 abgeschlossene Schiedsgerichtsverfahren zeugen von der Reichweite und Bedeutung des Gesetzes. In der Hochzeit, als sich die Wirkung des WGG entfaltete, hatte es sogar überregionale Vorbildwirkung.3 Die Rückgabe von Privat- oder Wirtschaftseigentum sowie die monetäre Entschädigung im Ausland befindlicher Wiedergutmachungsberechtigter kollidierten jedoch früh mit den ideologischen und wirtschaftlichen Zielen der SBZ/DDR. Bevor das WGG 1952 außer Kraft gesetzt wurde, hatten es SED und staatliche Institutionen verstanden, die gesetzlichen Bestimmungen für die Vereinnahmung und Verstaatlichung von ehemals jüdischem und politischem Eigentum zu nutzen. Die zentrale Frage, die im Folgenden behandelt wird, ist die nach dem Verbleib „arisierten“ Eigentums jüdischer Bürger*innen nach 1945. Zwar liegt zur Restitution in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) eine umfassendere Arbeit von Jan Philipp Spannuth vor.4 Bislang wurde der Sonderfall Thüringen jedoch nicht genauer untersucht. Der Beitrag stellt zunächst die Wirkung der „Wiedergutmachung“ nach dem WGG dar: Inwieweit konnte das WGG gegenüber der ostzonalen Wiedergutmachungspolitik seine Wirkung entfalten und in welchem Umfang? Welche Ergebnisse können in Bezug auf die Restitution bzw. Entschädigung von ehemals jüdischem Privatvermögen verzeichnet werden? Und inwieweit war nach dem WGG eine Restitution von ehemals jüdischem Wirtschaftsvermögen möglich? Da das WGG selbst auch die Möglichkeit bot, dass sich politische und staatliche Institutionen an ehemals jüdischem oder politischem Eigentum bereicherten, wird auch nach dem Umfang von Aneignungen und Verstaatlichungen gefragt. Diese Wirkungen und Chancen des WGG werden dabei im Kontext der Transformationszeit nach 1945 dargestellt. Auf die Frage, wie nachhaltig Restitutionen und Entschädigungen für die jüdischen Alteigentümer*innen nach dem Ende des WGG in Thüringen waren, kann hier nur kursorisch eingegangen werden. Dabei wird insbesondere der Zugriff, der sich den DDR-Institutionen auf jüdisches Eigentum nach der Herausgabe oder einer Entschädigung bot, kurz angerissen.5 3 4 5

Hier bspw. in einem Artikel des Tagesspiegels vom 10.03.1946. BArch, DN1 (Ministerium der Finanzen – Volkseigentum und Treuhandvermögen) /114922, Bl. 43 u. 238. Jan Philipp Spannuth, Rückerstattung Ost. Der Umgang der DDR mit dem „arisierten“ Eigentum der Juden und die Rückerstattung im wiedervereinigten Deutschland, Essen 2007. Dieser Beitrag stellt erste Forschungsergebnisse meines Dissertationsprojektes „Die unterbliebene Restitution. Der Verbleib ‚arisierten‘ Eigentums in der SBZ/DDR am Beispiel Thüringens 1945–1990“ vor. Dementsprechend bleiben einige Fragen offen, deren Beantwortung im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich war.

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1. Wiedergutmachung in der SBZ und Thüringen Der millionenfache Raub und Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden kann und konnte zu keiner Zeit „wiedergutgemacht“ werden. In den folgenden Ausführungen wird „Wiedergutmachung“ als Terminus technicus verwendet. Wiedergutmachung umfasst hier alle staatlichen, politischen und gesellschaftlichen Anstrengungen von Rückerstattungen, Entschädigung und Fürsorge gegenüber Opfern des nationalsozialistischen Systems nach 1945. Zudem war Wiedergutmachung der historische Begriff, mit dem die genannten Bestrebungen bezeichnet wurden.6 Nach dem Verständnis der UdSSR blieb Wiedergutmachung besatzungspolitisch auf Reparationen beschränkt, die sie als Siegermacht aus den besetzten deutschen Gebieten erwarteten. In der SBZ wurde Wiedergutmachung fast ausschließlich als eine Form der Sozialfürsorge gegenüber den „Opfern des Faschismus“ (OdF) verstanden. Mit dem politischen Selbstverständnis der DDR, ein antifaschistischer Staat zu sein, ging einher, dass sowohl die Nachfolge des Deutschen Reiches als auch die historische Verantwortung weitgehend von sich gewiesen wurden. Einzig antifaschistische Widerstandsakteur*innen, als OdF bzw. „Verfolgte des Naziregimes“ (VdN) anerkannt, konnten mit einer sozialen Betreuung oder Fürsorge rechnen. An einer materiellen und individuellen Wiedergutmachung waren Besatzungsmacht und Nachkriegsregierungen nicht interessiert. Sie blieb mit dem antikapitalistischen Kurs der sowjetischen Besatzungsmacht und der deutschen Kommunisten*innen unvereinbar.7 Das Land Thüringen war allerdings bis in die 1950er Jahre hinein ein Sonderfall: Nachdem im April 1945 US-amerikanische Kampfverbände Thüringen besetzt hatten, konnte sich eine erste demokratische Landesregierung unter Hermann Brill bilden. Ihr war jedoch kein langes Dasein beschieden, da sie von der sowjetischen Besatzungsmacht im Juli 1945 aufgelöst wurde. Dennoch konnte Brill erste Impulse zur Sicherung und Rückführung ehemals jüdischen Eigentums geben und einen Gesetzesentwurf einbringen. Unter dem von der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzten Regierungspräsidenten Rudolf Paul verabschiedete die Thüringische Landesregierung am 14. September 1945 das Wiedergutmachungsgesetz. Paul hatte sich als Verfechter der Wiedergutma6

Vgl. David Forster, „Wiedergutmachung“ in Österreich und der BRD im Vergleich, Innsbruck u. a. 2001, S. 24–29 und Hans Günter Hockerts, Wiedergutmachung. Ein umstrittener Begriff und ein weites Feld, in: Ders./Christiane Kuller (Hg.), Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland? (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, 3), Göttingen 2003, S. 7–33. 7 Ralf Kessler/Hartmut Rüdiger Peter, Wiedergutmachung im Osten Deutschlands 1945–1953. Grundsätzliche Diskussionen und die Praxis in Sachsen-Anhalt, Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 149–152.

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chung erwiesen und die Arbeiten am Gesetz weiterführen lassen.8 Im Auftrag der Thüringer Präsidialkanzlei war bereits seit Juli 1945 mit den Recherchen zu ehemals „arisiertem“ Eigentum begonnen worden.9 Das Gesetz trat auf „Anordnung des obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration Thüringens“ in Kraft und sollte eine Entschädigung jüdischer und politischer Verfolgter bzw. die Restitution deren Eigentumsverhältnissen von vor 1933 ermöglichen. Nach dem WGG war zunächst eine Sicherung der ehemals jüdischen Vermögenswerte und der „Vermögen von ehemaligen Parteien, Gewerkschaften sowie ehemaligen politischen, religiösen oder Vereinigungen ähnlicher Art“, die durch behördliche Eingriffe usw. in „verwerflicherweise weggenommen“ worden waren, vorgesehen.10 Zu diesem Zweck wurde das Vermögen (Grundeigentum usw.) vom Präsidialamt Thüringen beschlagnahmt, um eine Wahrung der Ansprüche der Alteigentümer*innen zu gewährleisten. Die Formulierung „in verwerflicherweise“ hatte anfangs jedoch zu Fehlurteilen geführt und wurde 1947 durch „aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen“ ersetzt. Nach §3 WGG wurden diese betreffenden Vermögen und Immobilien beschlagnahmt. Für die Beschlagnahmung mussten die Vermögen zunächst bei der Präsidialkanzlei des Landes angezeigt werden. Das konnte durch die betroffenen aktuellen Besitzer*innen selbst passieren oder durch Landräte und Oberbürgermeister, durch die jüdischen Alteigentümer*innen, Hinterbliebenen oder Bevollmächtigten (§2 WGG). Die erste Anmeldefrist vom 30. September 1946 wurde später zweimal bis zum 30. Dezember 1948 verlängert. Eine Zuwiderhandlung gegen die Bestimmungen des WGG wurde unter Androhung von Gefängnis unter Strafe gestellt (§17). Wurde das Vermögen nicht fristgerecht angemeldet oder waren Anspruchsberechtigte nicht ausfindig zu machen, konnte das beschlagnahmte Eigentum an das Land Thüringen fallen (§5 WGG). Das galt auch für den Fall, dass verstorbene Anspruchsberechtigte keine Erben erster oder zweiter Ordnung oder Ehepartner*innen hinterlassen hatten, was bei jüdischen Alteigentümer*innen aufgrund der Shoah oft der Fall war (§14 WGG). Die mögliche Übertragung von Eigentumsrechten auf das Land war nicht unproblematisch. Eine Übertragung an internationale jüdische Vertreterorganisationen, wie es beispielsweise mit der Jewish Trust Corporation seit 1950 in der britischen Besatzungszone gehandhabt wurde, war in Thüringen gar nicht erst erwogen worden.11 8 9

Schüler, Wiedergutmachungsgesetz (wie Anm. 2), S. 119–123. LATh-HStA Weimar, Land Thüringen – Büro des Ministerpräsidenten Nr. 1193/1, Bl. 248–266, 273, 275–301. 10 Wiedergutmachungsgesetz vom 14. September 1945: Regierungsblatt für das Land Thüringen, Jg. 1945, Nr. 7, S. 24–26. 11 Vgl. Spannuth, Rückerstattung (wie Anm. 4), S. 122.

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Für die Zeit der Beschlagnahmung wurde von der Präsidialkanzlei ein Treuhänder bestellt, der die jüdischen Vermögen verwaltete (§4 WGG). Die Vertretung der jüdischen Alteigentümer*innen wurde im Falle des unbekannten Aufenthalts von Abwesenheitspflegern geführt. Hielten sich die Anspruchsberechtigten im Ausland auf, bestimmten diese selbst Bevollmächtigte. Zuständig für die Koordination zwischen Wiedergutmachungsberechtigten, Nacherwerber*innen und den juristischen und staatlichen Institutionen war das Referat für Wiedergutmachung, angesiedelt in der Präsidialkanzlei und dem Büro des Ministerpräsidenten direkt unterstellt. Das Referat wurde bis 1947 von Georg Chaim geleitet, der zumeist der erste Ansprechpartner für Wiedergutmachungsberechtigte war, Hilfestellung bei dem Procedere gab und sogar selbst Überlebende im Ausland anschrieb.12 Nach der Flucht Chaims in die Bundesrepublik übernahm Rudolf Aufrichtig die Leitung des Referates bis zu dessen Auflösung 1949.13 Die Nacherwerber*innen hatten das bis zum Einmarsch der alliierten Truppen erstandene Eigentum zurückzugewähren. Die den (jüdischen) Verkäufer*innen „zugefallenen Leistungen“ waren zurückzuerstatten. Ebenso sollten etwaige Wertverschiebungen in Form einer Ausgleichszahlung entschädigt werden. Instandsetzungs- oder Reparaturarbeiten, wie die Beseitigung von Bombenschäden, wurden dabei nicht berücksichtigt. Wenn das Eigentum bei den Nacherwerber*innen verblieb, stand den Alteigentümer*innen zumeist ebenfalls ein Ausgleich zu. Dieser Betrag wurde dann als Hypothek im Grundbuch vermerkt. In den Verfahren vor dem Oberlandesgericht (OLG) Erfurt nahm die Aushandlung dieser Entschädigungsbeträge teilweise erheblichen Raum ein und führte nicht selten zur Verzögerung der Schiedsgerichtsverfahren. Sein Unverständnis über die den Erben jüdischer Alteigentümer abverlangten Nachweise von „zugefallenen Leistungen“, drückte der Rechtsanwalt Lothar Frede im Zuge eines Wiedergutmachungsverfahrens 1948 aus: Sie haben damals eben ihr gesamtes Vermögen verloren, dazu dann schließlich auch noch ihr Leben. Sie haben also auch aus dem vorliegenden Notverkauf keinerlei Nutzen gehabt! Es kann deswegen auch hier nicht die Ausgleichsfrage nur kühl mit dem Rechenstift vorgenommen werden […].14 In den Wiedergutmachungsverfahren wurden die Kaufverträge aus den 1930er Jahren herangezogen und die jüdischen Antragsteller*innen mussten nachweisen, dass ihnen der Kaufpreis nicht zugefallen war, weil er beispielsweise auf ein Sperrkonto gezahlt wurde. Die Gegenbehauptung auf Seiten der Antragsgegner*innen war dabei die Regel; das Fehlen von Dokumenten oder Auskünften von Kreditinstituten spielte ihnen dabei in die Hände. Lothar Frede hatte in über 12 Schüler, Wiedergutmachungsgesetz (wie Anm. 2), S. 124. 13 Sowohl Georg Chaim als auch Rudolf Aufrichtig waren beide jüdischer Abstammung, seit 1946 in der SED und hatten die Haft in nationalsozialistischen Arbeits- und Konzentrationslagern überlebt. LATh-HStA Weimar, Büro des Ministerpräsidenten Nr. 71/9 (Film), Bl. 1 f. und Ministerium für Wirtschaft und Arbeit Nr. 4031, Bl. 1 u. 6. 14 LATh-HStA Weimar, Oberlandesgericht Erfurt Nr. 1010, Bl. 36v.

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60 Wiedergutmachungsverfahren als Rechtsanwalt jüdische Alteigentümer*innen oder deren Erben vor dem OLG Erfurt vertreten und erwies sich als ausgesprochener Fürsprecher des WGG. Er setzte sich nicht nur für die Beschleunigung der Verfahren im Kontext administrativer Unwegsamkeit ein, sondern wurde auch nicht müde, daran zu erinnern, warum eine Wiedergutmachung notwendig war und welche Schicksale hinter den Arisierungsverkäufen standen.15 Zunächst wurde davon ausgegangen, dass zwischen den Parteien eine außergerichtliche Einigung unter den Bedingungen des §7 WGG angestrebt werde. Sollte diese nicht zustande gekommen sein, hatten die Alteigentümer*innen die Möglichkeit, Schiedsklage zu erheben. Unterschieden wurde die gerichtliche Zuständigkeit nach Vermögenswerten: Fälle über 6.000 RM wurden vor dem Schiedsgericht beim OLG Gera/Erfurt und später dem Bezirksgericht (BG) Erfurt verhandelt. Verfahren mit einem Streitwert über 1.500 RM lagen in der Verantwortung des Landgerichts Weimar/Erfurt und Fälle bis 1.500 RM gingen vor Amts- bzw. später Kreisgerichte (§8 WGG). Von einer Klage vor dem OLG oder LG konnte nach 1945 nur ein vergleichsweise kleiner Teil der jüdischen Bevölkerung Gebrauch machen, nämlich diejenigen, die entsprechend vermögend waren. Um die Vermögensverteilung abschätzen zu können, bleibt man auf Quellen der NS-Bürokratie verwiesen. Zum einen kann nach der Anmeldung jüdischer Vermögenswerte beim Oberfinanzpräsidenten Thüringen von 1938 davon ausgegangen werden, dass nur zwischen 700 und 900 jüdische Menschen ein Vermögen von über 5.000 RM besaßen. Und von schätzungsweise 2.800 bis 3.600 jüdischen Bürger*innen in Thüringen besaßen lediglich 82 ein Privat- oder Betriebsvermögen von über 100.000 RM.16 Zum anderen stellten als Wiedergutmachungsberechtigte die ehemaligen Besitzer*innen selbst oder deren Erben Wiedergutmachungsanträge. Die jüdischen Alteigentümer*innen, die die Shoah in der Emigration überlebt hatten, hatten vor 1945 zumeist das entsprechende Kapital besessen, sich eine Emigration leisten zu können oder durch Notverkäufe an nichtjüdische Eigentümer*innen die Flucht ins Ausland zu bezahlen. Die meisten jüdischen Bürger*innen ohne Grund- oder Immobilienbesitz blieben, insofern sie die Shoah überlebt hatten, auf die Fürsorge der jüdischen Gemeinde und Gemeinschaft angewiesen. Der Mehrheit der Thüringer Jüdinnen und Juden 15 LATh-HStA Weimar, Oberlandesgericht Erfurt und vgl. Schüler, Wiedergutmachungsgesetz (wie Anm. 2), S. 122. 16 „Jüdisch“ muss hier als die rassistische Kategorie der nationalsozialistischen Ausgrenzung verstanden werden. Die Bezeichnung kann im Kontext der historischen Überlieferung weder als Religionszugehörigkeit noch als Selbstzuschreibung angenommen werden. LATh-HStA Weimar, Oberfinanzpräsident Thüringen/Rudolstadt, Nr. 556, unpag.; Zur Quantifizierung der jüdischen Bevölkerung 1938 gehen die Zahlen auseinander, beziehen sich aber auf eine Volkszählung aus dem Jahr 1933. Vgl. Schüler, Wiedergutmachungsgesetz (wie Anm. 2), S. 124 f. und Spannuth, Rückerstattung (wie Anm. 4), S. 203.

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war vor und nach ihrer Deportation jeglicher Besitz genommen und dem Fiskus oder der deutschen Bevölkerung zugeführt worden. Auf Grundlage der Akten des Oberfinanzpräsidenten Thüringens schätzt Thomas Schüler das 1938 angemeldete Reinvermögen der jüdischen Bevölkerung Thüringens auf 46 Millionen RM, wovon etwa 30 Millionen zur möglichen „Verhandlungsmasse“ des Wiedergutmachungsgesetzes gehörten.17 Das WGG bezog sich jedoch nur auf Immobilien, Grundstücke und Betriebsvermögen, verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut oder Mobilia wie bspw. Einrichtungsgegenstände blieben unberücksichtigt (§1 WGG). Dennoch sind vereinzelte Versuche überliefert, die Rückerstattung von Mobilia einzuklagen. Jüdisches Gemeindeeigentum wurde nach §1(b) WGG als „Vermögen ehemaliger religiöser Vereinigungen“ berücksichtigt, jedoch waren keine Schiedsverfahren für eine Rückübereignung angestrengt worden und die direkte Auseinandersetzung zwischen Landesgemeinde und zuständigen Behörden blieb zunächst erfolglos. Eine Ausnahme bildete der Beschluss des Rates der Stadt Erfurt vom 18. April 1947, nachdem die Stadtverordnetenversammlung die entschädigungslose Rückgabe des Synagogengrundstückes am Karthäuser Ring 14 (heute Max-Cars-Platz) an die jüdische Gemeinde bewilligt hatte.18 Erst mit dem SMAD-Befehl Nr. 82 vom April 1948 wurde ehemals jüdisches Gemeindeeigentum an die jüdische Landesgemeinde als K.d.ö.R. und damit Rechtsnachfolgerin aller Thüringischen Gemeinden zurückübertragen. Das war 1950/51 bei 25 Grundstücken aus Thüringen der Fall, wobei es sich überwiegend um jüdische Friedhöfe und Synagogen handelte.19

2. Restitution von Immobilien, Grundstücken und Wirtschaftsbetrieben Wie viele Rückerstattungsforderungen sich auf dem Weg einer gütlichen Einigung, also durch außergerichtliche Vergleiche erledigten, lässt sich nicht mehr rekonstruieren.20 Vergleiche, die im Kontext gerichtlicher Verfahren vor dem OLG Erfurt zustande kamen, also ein Schiedsgerichtsurteil ersetzten, waren zumeist positiv für die jüdischen Antragsteller*innen ausgegangen. Gut überlie17 Schüler, Wiedergutmachungsgesetz (wie Anm. 2), S. 125. Vgl. zum Umfang von Entschädigung und Restitution an jüdische Alteigentümer*innen siehe Kap. 4. 18 StadtA Erfurt, 1-5 / 1000 Beschlüsse des Rates der Stadt Erfurt 1946–1947, Bd. 1, unpag. 19 Schüler, Wiedergutmachungsgesetz (wie Anm. 2), S. 24; Spannuth, Rückerstattung (wie Anm. 4), S. 85 f. und Christian Hermann, Ausdruck jüdischer Selbstbehauptung im Spannungsfeld von Religion und Stalinismus? Der Synagogenneubau zu Erfurt 1952 (unveröffentlichtes Manuskript), Erfurt 2020, S. 55–57. 20 Nachweisbar wären diese Vergleiche über die Akten der ausführenden Rechtsanwälte und Notare, hier fehlt jedoch eine Überlieferung.

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fert sind jedoch die Härtefälle, in denen die Wiedergutmachungsberechtigten nach §8 WGG Klage beim 2. Zivilsenat des OLG Erfurt – dem Schiedsgericht – eingereicht hatten und es zu einer gerichtlichen Entscheidung kam. Im Thüringer Hauptstaatsarchiv in Weimar ist der offenbar vollständige Bestand von 261 Verfahrensakten des OLG und LG Erfurt erhalten. Die Vorgänge umspannen die Laufzeit von 1946 bis 1955, betrafen jeweils einen Vermögenswert und enthalten zumindest die Klageerhebung. In 229 Fällen kam es zu einem rechtskräftigen Urteil. Verfahrensakten von Amts- bzw. Kreisgerichten, die Fälle mit einem Streitwert von weniger als 1.500 RM bearbeiten sollten, liegen nur vereinzelt vor, sodass darüber bislang keine statistischen Aussagen gemacht werden können. In die statistische Auswertung des OLG-Bestandes wurden auch 32 Verfahrensakten eingerechnet, die eine Aneignung durch das Land Thüringen nach §5 WGG zur Folge hatten und beim Bezirkstag und Rat des Bezirkes Erfurt überliefert sind. Auf diese Aneignungen wird im folgenden Kapitel genauer eingegangen. Mit dem Inkrafttreten des WGG im September 1945 begann für die jüdischen Vermögensverwalter und die Mitarbeiter des Referates für Wiedergutmachung eine oft aufwändige und langwierige Recherchearbeit. Zum einen mussten die ehemals jüdischen Grundstücke identifiziert und der Eigentumsübergang rekonstruiert werden. Dann begann die Suche nach den überlebenden Vorbesitzer*innen oder deren Erben. Eine Herausforderung war vor allem die Kontaktaufnahme mit im Ausland lebenden Alteigentümer*innen und das Beschaffen von entsprechenden Nachweisen, die die Veräußerung vor 1945 dokumentierten. Zudem musste nach §8 WGG zunächst eine Einigung zwischen den Nacherwerber*innen und den jüdischen Anspruchsberechtigten versucht werden. Allein von der Beschlagnahme des Grundstücks bis zur Klageerhebung vor einem Schiedsgericht konnten von sechs Monaten bis zu drei Jahre vergehen, ganz zu schweigen von der Dauer der Prozesse selbst. Das erklärt, warum das OLG nach WGG in den Jahren 1946/47 nicht einmal 20 Urteile sprach (Abb. 1). Da die betroffenen Immobilien und Grundstücke nach §3 WGG beschlagnahmt wurden, entfielen für die nichtjüdischen Nacherwerber*innen die gewerblichen Einnahmen oder Mieten. Nicht wenige Nacherwerber*innen hatten also ebenfalls Interesse an einer schnellen Aufklärung der Eigentumsverhältnisse, da der Grund- oder Immobilienbesitz auch für sie existenziell war. So sind im Bestand des OLG Erfurt auch 28 negative Feststellungsklagen überliefert, die das Nicht-Bestehen eines Herausgabe- oder Entschädigungsanspruches feststellen sollten, um den Besitz aus der Beschlagnahme lösen zu können. Schaut man auf die Verfahrensergebnisse, nahm das WGG ab 1948 Fahrt auf, sodass sich vor allem im Zeitraum 1948 bis 1951 positive Verfahrensausgänge für jüdische Antragsteller*innen, also eine Rückgabe oder Entschädigung verzeichnen lassen. Der Grund dafür war einerseits, dass mit der Novellierung des

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WGG 1947 als Anlass für eine Veräußerung nach 1935 generell der „Druck der politischen Ereignisse“ angenommen wurde, also ein Verkauf unter dem Eindruck der zunehmenden antisemitischen und rassistischen NS-Gesetze stattgefunden habe.21 Andererseits hatte es seit dem Inkrafttreten des WGG einige Zeit gebraucht, bis jüdische Wiedergutmachungsberechtigte im Ausland Kenntnis von der Möglichkeit auf Restitution erlangt hatten und über Bevollmächtigte in der DDR das Procedere anstoßen konnten. Bereits ab 1949 machte sich dann die zunehmende Behinderung der schiedsgerichtlichen Rechtsprechung durch staatliche Institutionen bemerkbar: Nun wurde nicht nur wirtschaftliches Eigentum in die staatliche Verwaltung, also in Volkseigentum überführt und enteignet. Im Jahr 1951 fielen 32 Verfahrensentscheidungen, in denen eine Aneignung des Landes Thüringen nach §5 WGG ausgesprochen wurde, die aber nicht über das OLG Erfurt liefen, sondern von der Landesregierung entschieden worden waren (siehe Kap. 3). Mit der Aufhebung des WGG im Jahr 1952 brachen die Zahlen von Rückgaben und Entschädigungen ein. Nun konnte das Gericht nur noch die laufenden Wiedergutmachungsverfahren bearbeiten, ab 1954 wickelte dann das Bezirksgericht in Erfurt die letzten ab (Abb. 1). Die Ergebnisse der 24 Schiedsgerichtsverfahren um ehemalige jüdische Wirtschaftsbetriebe weisen darauf hin, dass auch hier bis 1951 Rückübertragungen durchgeführt werden konnten, insofern das Eigentum nach dem WGG beschlagnahmt worden war. Die sowjetische Besatzungsmacht war seit Ende 1945 bestrebt, auch in Thüringen die Kontrolle über den Wirtschaftssektor zu erlangen und führte mit den Befehlen 124 und 126 schon früh Beschlagnahmungen und Enteignungen auch von ehemals jüdischen Wirtschaftsbetrieben durch. Zentrales Ziel war es, möglichst umfangreiche Reparationen aus dem Besatzungsgebiet zu bekommen. Dabei stellte es sich als unmöglich heraus, im Zuge der Schiedsgerichtsverfahren einmal von der SMATh beschlagnahmtes wirtschaftliches Eigentum wieder frei zu bekommen. Die hier untersuchten Wiedergutmachungsfälle stellten demnach nur einen kleinen Teil des tatsächlichen restitutionswürdigen Eigentums dar: Mit Stand vom 30. März 1948 führte die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) für das Land Thüringen 2.609 Wirtschaftsbetriebe und Produktionsstätten auf, die enteignet und in Volkseigentum überführt worden waren. Wie viele ehemals jüdische Betriebe sich darunter befanden, konnte bislang nicht nachgewiesen werden.22 Für den Erfolg einer Wiedergutmachungsklage, also die Entschädigung oder Restitution zu Gunsten jüdischer Antragsteller*innen spielte der Wert des strittigen Eigentums keine Rolle. Es wurden Werte zwischen 4.000 und 300.000 21 Bspw. LATh-HStA Weimar, Oberlandesgericht Erfurt Nr. 1028, Bl. 35 f. u. Nr. 1042, Bl. 71 f. 22 BArch DN1 (Ministerium der Finanzen – Volkseigentum und Treuhandvermögen) /112740, Bl. 0/2.

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Abb. 1: Die Verfahrensentscheidungen in 243 jüdischen Wiedergutmachungsfällen nach WGG von 1946 bis 1955 RM restituiert oder entschädigt. Auch war es bis 1952 unerheblich, wo sich die Wiedergutmachungsberechtigten während des Verfahrens aufhielten (Abb. 2). Nur rund 12 % von ihnen befanden sich zur Zeit der Antragstellung in der DDR. Mehr als die Hälfte der jüdischen Antragsteller*innen, denen in den 1930er und 40er Jahren die Emigration gelungen war, lebten in den USA (rund 40 %) oder Israel (rund 18 %). Nach einer Liste des US-amerikanischen Joint Distribution Committee (JOINT) vom 6. Dezember 1946 waren bis dahin thüringenweit nur 233 Menschen als „Jewish community“ erfasst worden, allein 137 von ihnen in Erfurt.23 Als Rückkehrer*innen mussten die Jüdinnen und Juden die deutsche Staatsbürgerschaft erneut beantragen, die ihnen nach dem Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 und den folgenden Verordnungen aberkannt worden war. Die sich ab 1952 häufenden Abweisungen von Wiedergutmachungsklagen (Abb. 1) wurden von den Richter*innen des Bezirksgerichtes Erfurt mit der „Verordnung über die Verwaltung und den Schutz ausländischen Eigentums in der DDR“ vom 6. September 1951 begründet. Eigentum von sogenannten „Ausländern“, also im Ausland oder der Bundesrepublik befindlicher Wiedergutmachungsberechtigter, konnte unter staatliche Verwaltung gestellt und

23 Zwei Listen des JOINT vom 06.12.1946 mit Namen und Wohnort der zurückgekehrten Jüdinnen und Juden. www.archives.jdc.org (letzter Zugriff: 16.03.2022).

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musste nicht an diese zurückübereignet werden.24 Eine Rückübertragung oder Entschädigung wurde damit nahezu unmöglich. Die Verordnung betraf vor allem die bis 1945 emigrierten Jüdinnen und Juden und war 1954 in 27 Fällen die Begründung für die Abweisungen der Klagen. So auch in dem Wiedergutmachungsverfahren Adolf Mendels, welches 1953 nach sechs Jahren Prozessführung mit der Abweisung der Klage und der Begründung endete, dass Mendel Ausländer sei. Dieser hielt sich zu der Zeit noch in Santiago de Chile auf.25 Die örtliche Verteilung der Wiedergutmachungsverfahren zeigt (Abb. 3), dass auch abseits urbaner Zentren jüdischer Grund- und Immobilienbesitz zu verorten ist und die „Peripherie“ sogar ein Drittel der Verfahren ausmachte. Damit lässt sich auch das Ausmaß des nationalsozialistischen Raubes erahnen, der bis in die entlegensten Gemeinden Thüringens hineingriff. Zugleich konnte eine weitläufige räumliche Verteilung von jüdischem Grund- und Immobilienbesitz nachgewiesen werden, was zeigt, wie verbreitet jüdisches Leben vor 1933 auch abseits von Ballungszentren war. Nur wenige Menschen aus den einst sehr vitalen Gemeinden in Erfurt, Meiningen, Eisenach oder Nordhausen waren nach 1945 zurückgekehrt, die kleineren Gemeinden wie Bleicherode, Vacha oder Heiligenstadt waren gänzlich ausgelöscht worden oder es kehrte niemand dorthin zurück.26 Nach Gesprächen zwischen dem Thüringer Ministerpräsidenten Eggerath (SED) und dem Ministerium der Finanzen (MdF) Anfang März 1949 waren die Akten des Referates für Wiedergutmachung nach dessen Auflösung an das MdF abgegeben worden. Dabei wurde festgestellt, dass von den schätzungsweise 1.260 registrierten „Vorgängen“ beim Referat für Wiedergutmachung bis dato nur etwa ein Drittel abgewickelt waren. Die übrigen rund 800 Vorgänge waren an das Ministerium abgegeben worden, das die weitere Bearbeitung der Wiedergutmachungsanträge übernehmen sollten.27 Zu diesem Zeitpunkt hatten allein deutsche Gerichte bereits über 80 jüdische und politische Wiedergutmachungs-

24 Gesetzblatt der DDR, Jg. 1951, Nr. 111, S. 839 f., in: Schriftenreihe des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen, Jg. 1995, Nr. 8, S. 7 f. 25 Siehe der Beitrag von Monika Gibas in diesem Band. Zur Enteignungsgeschichte Mendels vgl. Monika Gibas, „Arisierung“ der Wirtschaft in Thüringen: Das Beispiel Arnstadt, in: Schlossmuseum Arnstadt (Hg.), Jüdische Familien aus Arnstadt und Plaue. Katalog zur Sonderausstellung im Schlossmuseum Arnstadt, Weimar 2021, S. 108–148; LATh-­ HStA Weimar, Oberlandesgericht Erfurt Nr. 1010, Bl. 135. 26 Vor 1945 hatten in 33 Thüringer Gemeinden noch jüdische Friedhöfe existiert, was für größere Gemeinden spricht. Nach Kriegsende hatten noch in 13 Orten Synagogen oder deren Überreste gestanden, in 18 weiteren waren die Gotteshäuser gänzlich vernichtet worden. Monika Kahl, Denkmale jüdischer Kultur in Thüringen (Kulturgeschichtliche Reihe Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege, 2), Bad Homburg 1997, S. 161 f. 27 LATh-HStA Weimar, Land Thüringen – Ministerium für Finanzen Nr. 3146, Bl. 1 f.

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Abb. 2: Aufenthaltsorte jüdischer WG-Berechtigter im Verhältnis zu einem positiven Verfahrensausgang in 211 Fällen

Abb. 3: Die örtliche Verteilung von ehemals jüdischem Grund- und Immobilienbesitz, der Gegenstand von Wiedergutmachungsverfahren war

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klagen bearbeitet, bis 1955 folgten weitere 178 Verfahrensabschlüsse (siehe Kap. 3). Die Abteilung Finanzen bei der Thüringer Landesregierung bilanzierte im November 1950, dass nach den Akten des MdF bis dato 185 Grundstücke mit einem Gesamtwert von 4.450.000 DM an ausländische Wiedergutmachungsberechtigte zurückgegeben worden seien. Als Ausgleichszahlung, also Entschädigungen, waren zu Gunsten ausländischer Berechtigter in 76 Fällen insgesamt rund 1.780.000 DM hypothekarisch im Grundbuch eingetragen worden.28 Der Gesamtwert des nach dem WGG im Zuge von gerichtlichen Wiedergutmachungsverfahren entschädigten oder zurückgegebenen Eigentums kann trotz guter Überlieferung nur geschätzt werden. Die in den Verfahrensakten überlieferten Verkaufspreise von vor 1945 lagen fast immer unter dem realen Wert und meistens auch unter dem Einheitswert. Die 120 Wiedergutmachungsverfahren, in denen jüdische Berechtigte eine Entschädigung oder gar die Rückgabe ihres Eigentums hatten erwirken können, beliefen sich auf einen Vorkriegswert von mindestens 4,7 Millionen RM.29 Das Wiedergutmachungsgesetz bot aber nicht nur jüdischen und politisch Verfolgten die Chance auf Entschädigung oder Herausgabe ihres Eigentums. Der §1 WGG berücksichtigte auch die Herausgabe des Eigentums ehemaliger demokratischer Parteien, das vom Deutschen Reich beschlagnahmt worden war. Zudem war nach §5 WGG die Möglichkeit gegeben, dass sich das Land Thüringen Eigentum aneignen konnte, das nicht rechtzeitig angemeldet worden war. Das betraf wiederum überwiegend jüdisches Eigentum.

3. Aneignungen durch die SED und das Land Thüringen Am Tag nach dem 1. Mai 1933 verwüsteten und besetzten Verbände von SA und SS die Gewerkschaftsgebäude in Thüringen. Hatte die Verfolgung politischer Gegner*innen aus den Reihen von KPD und SPD bereits Monate zuvor eingesetzt, so wurden nun auch die Vermögen der demokratischen Parteien beschlagnahmt. Die Grundstücke und Immobilien wurden später teilweise zu Gunsten des Reichsfiskus an Dritte weiterveräußert. Nach Kriegsende bauten SPD und KPD ihre Parteiapparate zunächst wieder auf. Dem sowjetisch unterstützten Vormachtanspruch der KPD hatte die SPD jedoch bald nichts mehr entgegenzu28 Nachdem im August 1952 die Länder in der DDR aufgelöst wurden, verteilte sich die mittlere Regierungsebene in Thüringen auf die drei Bezirke Erfurt, Gera und Suhl. Im Bestand „Bezirkstag und Rat des Bezirkes Erfurt“ ist auch die Überlieferung der Thüringer Landesregierung zu finden. LATh-HStA Weimar, Bezirkstag u. Rat des Bezirkes Erfurt, Altreg. Finanzen, Staatliches Eigentum Nr. 46094, Bl. 73. 29 Dabei blieb die hypothekarische Belastung von Grundstücken usw. unberücksichtigt.

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setzen. Mit der Zwangsvereinigung beider Parteien zur SED im April 1946 sah sich die SED als deren legitime Nachfolgerin und erhob Anspruch auf die ehemaligen SPD- und KPD-Vermögen von vor 1933.30 Zu diesem Zweck wurde von der SED-Landesleitung, auf Beschluss der Thüringer Landesregierung, die „Aktiva Vermögensverwaltung GmbH“ ins Leben gerufen, um die auf Grund des Wiedergutmachungsgesetzes anfallenden Vermögensobjekte aufzufangen.31 Bei den anfallenden Vermögensobjekten handelte es sich um die Immobilien von früheren Gewerkschaften, Turnvereinen, SPD-Zeitungen usw., die sich nun zumeist im Besitz Dritter befanden. Die „Aktiva“ fungierte als Vermögensträgerin, konnte für die SED Wiedergutmachungsansprüche geltend machen und in Verhandlung mit den aktuellen Eigentümer*innen treten. Der §1 b WGG ermöglichte die Rückgabe von Vermögen ehemaliger Parteien und Organisationen, die durch NS-Behörden beschlagnahmt worden waren. Leiter der „Aktiva“ war Cäsar Thierfelder, der 1947/48 vor dem OLG Erfurt in 12 Wiedergutmachungsverfahren als Antragsteller auftrat. Gegenüber den Antragsgegner*innen stieß die Legitimation der „Aktiva“ und damit der SED nicht selten auf Unverständnis. Die meisten Verfahren endeten jedoch erst mit der Aneignung durch die „Aktiva“ auf Grund des Befehls Nr. 82.32 Dem Ausnutzen des WGG durch die SED lagen wirtschaftliche Interessen zugrunde, die in einer Sekretariatssitzung der SED-Landesleitung im Juli 1947 formuliert wurden: Man kam zu der Ansicht, dass SED-Vermögen vermehrt in Immobilien und Unternehmen angelegt werden müssten, um die geplante Währungsreform wirtschaftlich zu überstehen. Die „Aktiva“ wurde damit beauftragt, Parteivermögen in gewinnbringenden Unternehmungen anzulegen, soweit solche Unternehmungen in organischem Zusammenhang mit politischen Zwecken stehen.33 Bereits vor dem Auslaufen der letzten Anmeldefrist zum WGG Ende Dezember 1948 begann die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Ministerialund SED-Organen über den weiteren Weg der Wiedergutmachung in Thüringen. Im Zuge dessen stellte der Ministerpräsident Werner Eggerath gegenüber dem Minister des Inneren Willy Gebhardt klar, dass eine Verlängerung des 30 Vgl. Andreas Malycha, Die Etablierung der SED-Diktatur in der SBZ. Zur Transformation des Parteiensystems in der DDR 1946 bis 1950, in: Jörg Ganzenmüller/Franz-Josef Schlichting (Hg.), Kommunistische Machtübernahme in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (Aufarbeitung kompakt, 10), Weimar 2017, S. 39–59 und Hermann Wentker, Ulbricht und die Integration der DDR in den Machtbereich der Sowjetunion, in: Jörg Ganzenmüller/Franz-Josef Schlichting (Hg.), Verspielte Einheit? Der Kalte Krieg und die doppelte Staatsgründung 1949 (Aufarbeitung kompakt, 13), Weimar 2020, S. 101–117. 31 LATh-HStA Weimar, Oberlandesgericht Erfurt Nr. 956, Bl. 4. 32 LATh-HStA Weimar, Bezirksparteiarchiv der SED Erfurt, Landesleitung Thüringen Nr. A IV/2/13-183, Bl. 62 f.; LATh-HStA Weimar, Oberlandesgericht Erfurt Nr. 952– 963. 33 LATh-HStA Weimar, Bezirksparteiarchiv der SED Erfurt, Landesleitung Thüringen Nr. IV/L/2/3-031/30, Bl. 1 f.

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WGG nicht notwendig sei, da es in keiner Weise mehr dem Stand der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der DDR entspreche.34 Und der Leiter des Büros des Ministerpräsidenten Karl Hossinger hielt im November 1948 mit Blick auf den Ablauf der Anmeldefrist fest: Die abgelaufene Zeit von 3 1/2 Jahren war ausreichend genug, um die Klärung der Wiedergutmachungsansprüche im einzelnen Falle durchzuführen, und die weitere Aufrechterhaltung des Gesetzes steht im Widerspruch zu der Entwicklung, die durch den Befehl 64, der das sequestrierte Vermögen in Volkseigentum umgewandelt hat, gekennzeichnet ist.35 Demnach stand das WGG schlicht der Verstaatlichung von Privat- und Wirtschaftseigentum im Weg. Bis Ende 1948 waren nicht einmal ein Drittel aller beim Referat für Wiedergutmachung registrierten „Vorgänge“ bearbeitet worden, sodass die politische Führung fürchten musste, dass weiteres Eigentum in private Hände fiel. Die Schlussstrichmentalität der Landesregierung in Bezug auf die individuelle Wiedergutmachung wurde auch in Berlin geteilt, so konstatierte ein Gutachten der DDR-Regierungskanzlei vom 07. August 1950 bezüglich der Abschaffung des WGG: Außer dieser Form der Wiedergutmachung [der VdN-Verordnung] ist eine individuelle Restitution verlorener Sachwerte oder Rückübertragung von Grundstücken nicht vorgesehen. Die Frage der individuellen Restitution könnte nur im Zusammenhang mit einem allgemeinen Lastenausgleich geschehen, für welchen angesichts der Spaltung Deutschlands […] die Grundlagen (zumindest augenblicklich) nicht gegeben sind. […] [Das WGG] muß deshalb mit der Anordnung der DWK vom 5. Oktober 1949 als außer Kraft gesetzt angesehen werden.36

Zum einen sollte mit der Anordnung der DWK zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes vom 05. Oktober 1949 (VdN-Verordnung) DDR-weites Recht auch für Thüringen gelten und die Landesgesetze in dem Punkt außer Kraft gesetzt werden. Nach der Verordnung sollte eine individuelle Restitution zu Gunsten von sozialen und medizinischen Fürsorgeleistungen unterbleiben. Dabei stützte man sich auf den §112 der Verfassung DDR. Zudem gewähre die VdN-Verordnung, so das Gutachten weiter, eine Besserstellung der politischen Anspruchsberechtigten, der anerkannten „Verfolgten des Nazire­ gimes“. Zum anderen habe die Teilung Deutschlands, durch die beidseitige Staatengründung manifestiert, einer gesamtdeutschen Lösung der Wiedergutma34 LATh-HStA Weimar, Bezirkstag u. Rat des Bezirkes Erfurt, Altreg. Finanzen, Staatliches Eigentum Nr. 46094, Bl. 101+Rs.; vgl. Spannuth, Rückerstattung (wie Anm. 4), S. 132 f. 35 Werner Eggerath war nach 1945 1. Sekretär der KPD-Bezirksleitung in Thüringen und von 1947 bis 1952 Thüringer Ministerpräsident. Karl Hossinger war seit Dezember 1945 Leiter des Büros des Ministerpräsidenten und wurde 1950 zum stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Erfurt gewählt. Zitat: LATh-HStA Weimar, Land Thüringen – Büro des Ministerpräsidenten Nr. 1193 (Film 109), Bl. 219–228, Zit. Bl. 233. 36 LATh-HStA Weimar, Bezirkstag u. Rat des Bezirkes Erfurt, Altreg. Finanzen, Staatliches Eigentum Nr. 46094, Bl. 130 Rs.

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chungsfrage die Grundlage entzogen. Dahinter stand die Vorstellung, dass Deutschland als Ganzes die wirtschaftliche Last einer Wiedergutmachung zu tragen hätte. Die DDR wollte als per se antifaschistischer Staat verstanden werden und sah sich nicht als (Rechts-)Nachfolger des Deutschen Reiches, lehnte also die historische Verantwortung kategorisch ab. Vielmehr noch argumentierten die Hardliner der kommunistischen Führung antisemitisch gegen eine Wiedergutmachung, wie beispielsweise Walter Ulbricht, wie Leo Bauer 1963 kolportierte: Wir bauen hier unseren Staat, und da die Opfer des Faschismus [die politisch Verfolgten] die entscheidenden Träger dieses Staates sind, wäre es doch lächerlich, wenn sie sich selbst eine Wiedergutmachung zahlen wollten. Und die Juden? Nun, wir waren immer gegen die jüdischen Kapitalisten genauso wie gegen die nichtjüdischen. Und wenn Hitler sie nicht enteignet hätte, so hätten wir es nach der Machtergreifung getan.37

Damit wurde unmissverständlich jegliche Wiederherstellung privater Besitzverhältnisse abgelehnt. Mit dem Fokus auf die politischen, heißt die kommunistischen und sozialdemokratischen Verfolgten des NS-Regimes, spielten die jüdischen Überlebenden der Shoah in den Opferkategorien der DDR-Führung keine Rolle mehr.38 Vornehmlich ging es den Verantwortlichen bei der Abschaffung des WGG darum, die zu der Zeit noch beschlagnahmten Wirtschaftsbetriebe in die staatliche Obhut, das hieß in Volkseigentum zu überführen. Aber auch das Grundund Immobilieneigentum geriet in den Fokus. Das WGG und die privatwirtschaftlichen Rückerstattungen standen der Verstaatlichung von Eigentum zunächst im Weg. Karl Hossinger, ein persönlicher Mitarbeiter des Ministerpräsidenten, fand jedoch einen Weg, wie eine staatliche Aneignung beschlagnahmter Objekte im Rahmen des WGG möglich sei. Seinen Vorschlag unterbreitete er im Januar 1949 Vertretern des Ministeriums für Finanzen, des Inneren und der SED-Landesvertretung: Der §5 WGG könne nicht nur dort angewendet werden, wo keine rechtzeitige Anmeldung der Ansprüche stattgefunden habe. Hossinger sah auch Anwendungsmöglichkeiten in Fällen, wo bislang keine Einigung zwischen den Alteigentümer*innen und den Nacherwerber*innen zustande gekommen war oder bei Fällen, wo sich die Anspruchsberechtigten im Ausland aufhielten. Somit könne eine größere Anzahl an Betrieben bzw. Grundstücken in Volkseigentum überführt werden. Dass diese Verfahrensweise juristisch nicht einwandfrei war, räumte Hossinger gegenüber den Vertretern von Partei und Ministerien sogar selbst ein.39 37 Zitiert bei Karin Hartewig, Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR, Köln u.a. 2000, S. 275 und vgl. Spannuth, Rückerstattung (wie Anm. 4), S. 63. 38 Vgl. Spannuth, Rückerstattung (wie Anm. 4), S. 65 f. u. 134 f. 39 LATh-HStA Weimar, Land Thüringen – Büro des Ministerpräsidenten Nr. 1193 (Film 109), Bl. 228 u. 230.

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Im Januar 1951 informierte der Ministerpräsident Eggerath den Minister des Inneren Gebhardt, dass die Aufhebung des WGG noch nicht möglich sei, da über eine größere Anzahl beschlagnahmter Objekte, die durch das Ministerium der Finanzen und das Ministerium für Industrie und Arbeit verwaltet würden, noch keine Entscheidungen zum Verbleib gefällt worden seien. Die Überführung dieser Objekte in das Eigentum des Landes Thüringen werde nun im Einzelfall geprüft. Zu diesem Zweck hatten die zuständigen Ministerien Listen mit den entsprechenden Objekten erstellt, auf deren Grundlage eine unter Leitung des Amtes zum Schutz des Volkseigentums (Ministerium des Inneren) stehende Kommission Vorschläge für Aneignungen ausarbeiten sollte. Die Kommission sollte aus Vertretern des Amtes zum Schutz des Volkseigentums und ministeriellen Vertretern aus den Bereichen Finanzen, Justiz und Arbeit bestehen. Machte das Land Thüringen von seinem Aneignungsrecht nach §5 WGG keinen Gebrauch, verbleibe das Eigentum beim derzeitigen Besitzer und die Beschlagnahme würde aufgehoben. Ministerpräsident Eggerath sei Gebhardt dankbar, wenn die Kommission ihre Arbeit möglichst bald aufnehmen könnte, damit der Fragenkomplex abgeschlossen und die Voraussetzungen für die Aufhebung des Gesetzes durch den Thüringischen Landtag damit geschaffen würden. Von dem Schreiben und der bevorstehenden Aufhebung des WGG wurden über das Ministerium der Justiz auch das OLG und LG Erfurt informiert.40 Sowohl die weiterhin zustande kommenden außergerichtlichen Vergleiche als auch die fortlaufende Arbeit des Schiedsgerichtes beim OLG Erfurt an den Wiedergutmachungsfällen wurden für die Abteilung Staatliches Eigentum (Bezirksleitung) zunehmend zum Problem. Da die Kommission zur Prüfung auf §5 WGG im Januar 1951 die Arbeit noch nicht aufgenommen hatte, bemerkte der Oberreferent Ziegler, dass der möglichst baldige Termin ihrer Tätigkeit erforderlich ist, um weitere Vergleiche zwischen den Abwesenheitspflegern der Wiedergutmachungsberechtigten und den Wiedergutmachungsverpflichteten zu verhindern und die Aufhebung des Gesetzes beantragen zu können.41 Erst im Mai 1951 begann die Kommission ihre Arbeit, die sich jedoch bis in den Oktober hinziehen sollte. Um die Kommission zu unterstützen und weitere Verluste von möglichen Objekten zu verhindern, bat die Abteilung Staatliches Eigentum den Staatsanwalt Geyer beim Ministerium der Justiz in Berlin, nochmals zu prüfen, ob wegen der Einstellung oder Einschränkung der schiedsgerichtlichen Tätigkeit des Oberlandesgerichts noch etwas veranlaßt werden könne.42 Den Beteiligten saß bei der Umsetzung der Verstaatlichung die Zeit im Nacken. 40 LATh-HStA Weimar, Bezirkstag u. Rat des Bezirkes Erfurt, Altreg. Finanzen, Staatliches Eigentum Nr. 46094, Bl. 101 f., Zit. 101+Rs.; vgl. Schüler, Wiedergutmachungsgesetz (wie Anm. 2), S. 134 f. und vgl. Spannuth, Rückerstattung (wie Anm. 4), S. 134 f. 41 LATh-HStA Weimar, Bezirkstag u. Rat des Bezirkes Erfurt, Altreg. Finanzen, Staatliches Eigentum Nr. 46094, Bl. 110. 42 Ebd., Bl. 117.

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Nach einem Entwurf des Ministeriums der Finanzen wurde vom OLG-Präsidenten am 2. August 1951 ein Vordruck herausgegeben, nachdem die laufenden Wiedergutmachungsverfahren wegen der Feststellungen zur Erfassung und Sicherstellung von Ausländervermögen für mindestens zwei Wochen ruhten. Die Mitteilung findet sich in nahezu allen Verfahrensakten dieser Zeit.43 Durch die vorübergehende Abgabe der Fallakten an das Ministerium der Finanzen wurde die Arbeit des Gerichtes massiv behindert, da keine Beschlüsse gefasst werden konnten. Vielfach löste die Mitteilung bei den beteiligten Rechtsvertretern Unverständnis aus und sie setzten sich vehement für eine Weiterführung der Prozesse ein. Beim Blick auf die Klageerhebungen und -abschlüsse von Verfahren beim OLG Erfurt werden diese Interventionen sichtbar (Abb. 4). Mit der Aufhebung des WGG 1952 endeten die Klageerhebungen abrupt. Aber auch Verfahrensabschlüsse sind ab dieser Zeit kaum mehr zu verzeichnen, was auf die Wirkung des o. g. Aussetzungsbeschlusses zurückzuführen ist. Erst mit der Abwicklung der Wiedergutmachungsverfahren nach der „Ausländerverordnung“ sind wieder vermehrt Verfahrensabschlüsse zu verzeichnen, nun allerdings durch das Bezirksgericht Erfurt und ohne Aussicht auf Erfolg für die Wiedergutmachungsberechtigten. Ein früherer Versuch, die Arbeit des Gerichtes zu bremsen, war die Aussetzung der Verfahren per Beschluss vom 24. Januar 1949, der mit der Erwartung einer „zonenweiten“ Wiedergutmachungsregelung begründet und seitens des OLG selbst verfügt wurde. Dieser Aussetzungsbeschluss sorgte jedoch nur für eine halbjährige Verfahrenspause, da Rechtsanwälte wie Hermann Zinn bei den übergeordneten Stellen Veto eingelegt hatten.44 Eine zonenweite Regelung trat erst knapp zehn Monate später mit der VdN-Verordnung in Kraft, als die Wiedergutmachungsverfahren bereits wieder liefen. Eine individuelle Wiedergutmachung sah diese jedoch nicht vor. Seit Januar 1951 wurden durch die Abteilung Staatliches Eigentum verschiedene Listen zur Erfassung von beschlagnahmtem Eigentum angelegt, bei denen auf die Zuarbeit der jüdischen Vermögensverwalter zurückgegriffen werden konnte. Die Listen umfassten insgesamt 411 Objekte, die potenziell für eine Aneignung nach §5 WGG in Frage kamen. Davon waren in 102 Fällen gar keine Wiedergutmachungsansprüche angemeldet worden und in 74 Fällen pro forma durch den Abwesenheitspfleger, das hieß, hier war noch unklar, ob Wiedergutmachungsberechtigte ausfindig gemacht werden konnten.45 Im Mai 1951 nahm die Kommission zur Aneignung nach §5 ihre Arbeit auf und prüfte bis Oktober 1951 insgesamt 308 Objekte, von denen 141 dem Ministerpräsidenten zur Aneig43 Ebd., Bl. 163; bspw. in LATh-HStA Weimar, Oberlandesgericht Erfurt Nr. 1105, Bl. 12. 44 Zum Beispiel in LATh-HStA Weimar, Oberlandesgericht Erfurt Nr. 1073, Bl. 17. 45 LATh-HStA Weimar, Bezirkstag u. Rat des Bezirkes Erfurt, Altreg. Finanzen, Staatliches Eigentum Nr. 46094, Bl. 74–98.

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Abb. 4: Die Klageerhebungen und Verfahrensabschlüsse zeigen im Vergleich die Trends bei 259 Schiedsgerichtsverfahren von 1946 bis nach 1955 auf nung vorgeschlagen wurden, dieser hatte letztlich die Entscheidung zu treffen. Das im Oktober 1951 zur Aneignung vorgeschlagene ehemals jüdische Eigentum hatte einen nominalen Gesamtwert von etwa 2,7 Millionen RM.46 Die Kommission hatte das Aneignungsrecht für das Land Thüringen dann vorgeschlagen, wenn eine wirtschaftliche Notwendigkeit vorgelegen habe oder angenommen werden musste, dass die von den jüdischen Vorbesitzer*innen erzwungenen Verkäufe an Personen geschehen waren, die aufgrund ihrer politischen Stellung im NS-Staat begünstigt worden waren. So die Erläuterung seitens des Ministeriums der Finanzen gegenüber der Präsidialkanzlei im Juni 1952. Nach weiteren Änderungen an den Vorschlägen verblieben für eine Entscheidung noch 56 Wiedergutmachungsfälle für die Aneignung.47 Von 32 dieser Fälle sind Verfahrensakten erhalten, die das Procedere insofern nachvollziehbar machen, als dass auf die Aneignungsbeschlüsse binnen eines Jahres der Rechtsträgernachweis folgte, der das betreffende Objekt in Volkseigentum überführte. Begründet wurden die Aneignungen zumeist damit, dass keine rechtzeitige oder „ordnungsgemäße“ Anmeldung stattgefunden habe oder Vergleiche nicht rechtskräftig geschlossen worden wären. Dabei bot sich bei der nicht ordnungsgemäßen Anmeldung ein Spielraum, den die zuständige Abwicklungsstelle beim 46 Ebd., Bl. 137, 142, 145 f., 148 f., 154, 156, 164, 166, 168, 170 und 173. 47 LATh-HStA Weimar, Land Thüringen – Büro des Ministerpräsidenten Nr. 1193 (Film 109), Bl. 172 f.; vgl. Spannuth, Rückerstattung (wie Anm. 4), S. 134 f.

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Ministerium der Finanzen wohl zu nutzen wusste.48 Zur Erinnerung: Eine Aneignung durch das Land Thüringen bedeutete die entschädigungslose Enteignung jüdischer Alteigentümer*innen und war damit für sie die zweite innerhalb weniger Jahre. Die Aneignungen fanden auch für die nichtjüdischen Nacherwerber*innen ohne Entschädigung statt. Diese hatten im Rahmen der Arisierungsverkäufe einen Kaufpreis gezahlt, der den jüdischen Verkäufer*innen nur in den wenigsten Fällen tatsächlich zugegangen war und stattdessen dem Fiskus zugeführt wurde. Mit der Aneignung von beschlagnahmten Grundstücken und Immobilien durch das Land Thüringen wurden auch die Nutznießer*innen der „Arisierung“ geprellt. Mit dem Ende des Wiedergutmachungsgesetzes im Sommer 1952 kann eine erste Bilanz über den Verbleib jüdischen Eigentums in Thüringen gezogen werden.

4. Der Verbleib jüdischen Eigentums nach 1952 Nach der Aufhebung des WGG durch den Thüringer Landtag per Gesetz vom 25. Juli 1952 endete für jüdische Wiedergutmachungsberechtigte zunächst jegliche Möglichkeit auf Restitution oder Entschädigung. Die bis dahin noch schwebenden Wiedergutmachungsverfahren nach dem WGG wurden von der Nachfolgeinstitution des OLG, dem Bezirksgericht Erfurt, bis 1955 abgewickelt. Das hieß, dass über 90 % der Klagen abgewiesen wurden und das ehemals jüdische Eigentum bei den Nacherwerber*innen verblieb oder in Volkseigentum überführt wurde. Ab Juli 1952 wurden die grundbuchlichen Beschlagnahmevermerke nach §3 WGG generell aufgehoben, sodass die aktuellen Besitzer*innen wieder voll über die Grundstücke und Immobilien verfügen konnten. Ein Zugriff blieb damit unterbunden, ganz gleich ob Wiedergutmachungsansprüche angemeldet worden waren.49 Mit Blick auf alle Verfahrensentscheidungen, die zwischen 1946 und 1955 vor dem OLG und BG Erfurt getroffen worden waren, lässt sich der Verbleib der betreffenden Grundstücke, Immobilien und Betriebe wie folgt bilanzieren: Über 70 % des verhandelten Immobilien- und Wirtschaftsbesitzes jüdischer Alteigentümer*innen war in Besitz der Nacherwerber*innen verblieben oder enteignet worden. Dabei waren die Chancen wesentlich geringer, einen wirtschaftlichen Betrieb zurückübereignet zu bekommen als ein privates Grundstück oder eine Immobilie. Dennoch wurden zunächst 40 % der ehemals jüdischen Wirtschaftsbetriebe zurückgegeben. Bei dem Verbleib der Betriebe ist zu berücksichtigen, dass es bei 8 von 21 Fällen zu einer Einigung gekommen und eine Entschädigung 48 Bspw. LATh-HStA Weimar, Bezirkstag u. Rat des Bezirkes Erfurt, Altreg. Finanzen Nr. 44168. 49 Spannuth, Rückerstattung (wie Anm. 4), S. 135.

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Abb. 5: Verbleib jüdischen Eigentums bis 1955 nach Verfahrensentscheidungen des OLG und LG Erfurt gezahlt worden war. Ein nennenswerter Unterschied bei der Entscheidungspraxis zwischen den Wiedergutmachungsverfahren mit einem Verhandlungswert über 6.000 RM (OLG Erfurt) gegenüber denen unter 6.000 RM (LG Erfurt) konnte dabei nicht festgestellt werden. Die politischen Verfahrensergebnisse sind hier zum Vergleich angegeben und zeigen, dass gegenüber den jüdischen die politischen Wiedergutmachungsberechtigten weitaus weniger Chance auf eine Rückerstattung oder Entschädigung hatten. Bei den 41 Fällen, in denen Grundstücke oder Immobilien bei den Nacherwerber*innen verblieben, wurden nur in zwei Fällen Entschädigungen gezahlt (Abb. 5). Das ehemals jüdische Eigentum, das bis zur Aufhebung des WGG weder Gegenstand eines Wiedergutmachungsverfahrens war noch durch das Land Thüringen enteignet wurde, kann auf einen nominalen Wert von 1,5 Millionen RM geschätzt werden. Grundlage für die Schätzung sind die Listen der Abteilung Staatliches Eigentum, nach denen in 107 Fällen von einer Aneignung abgesehen wurde. Als Begründungen wurden zumeist eine zu hohe hypothekarische Belastung oder die wirtschaftliche „Geringfügigkeit“ oder gar „Bedeutungslosigkeit“ der Grundstücke oder Immobilien angeführt. Das Eigentum war in diesen Fällen bei den nichtjüdischen Nacherwerber*innen verblieben.50 50 LATh-HStA Weimar, Land Thüringen – Büro des Ministerpräsidenten Nr. 1193 (Film 109), Bl. 175–180.

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In der Überlieferung des OLG und LG Erfurt finden sich nur sechs Wiedergutmachungsverfahren, in denen Mobilia der hauptsächliche Verhandlungsgegenstand waren. Die meisten Fälle, in denen es ausschließlich um die Rückerstattung oder Entschädigung von Einrichtungsgegenständen o. Ä. ging, wurden nach der gängigen Rechtsprechung der Schiedsgerichte als nicht nach dem WGG verhandelbar abgewiesen. Bei den Verfahren, die mit der Rückerstattung der Einrichtungsgegenstände endeten, waren diese als Inventar an eine Immobilie gebunden.51 Auch bei den Amts- und späteren Kreisgerichten, die nach dem WGG für Streitwerte von unter 1.500 RM zuständig waren, wurden Wiedergutmachungsklagen wegen fehlender Rechtsgrundlage zurückgewiesen.52 Hinzu kam das Problem der Auffindbarkeit der spezifischen Gegenstände und dass sowohl der Eigentumsentzug als auch der Verbleib nicht mehr rekonstruiert werden konnten. Beispielsweise hatten die Erben von Jenny Fleischer-Alt aus Weimar 1948 vergeblich versucht, den Flügel, der aus ihrer Wohnung in der Belvedere-Allee 6 beschlagnahmt worden war, zurückzubekommen. Zwar wurde ihnen 1951 die Rückübertragung per Schiedsspruch zuerkannt, aufgefunden wurde das Instrument jedoch nicht.53 Der planmäßige Ablauf der „Verwertung“ von geraubten jüdischen Einrichtungs- und Haushaltsgegenständen kann über die Akten des Oberfinanzpräsidenten Thüringens in groben Zügen rekonstruiert werden. Hier lässt sich erahnen, wie akribisch nach der Deportation oder Emigration der jüdischen Eigentümer*innen alles Verwertbare an verschiedene staatliche Einrichtungen verteilt oder als „wertlos“ eingeschätzt und vernichtet wurde. Bei der Umverteilung von bestimmten Gegenständen wurde nach dem Bedarf von staatlichen Einrichtungen wie Gestapo-Dienststellen oder der NSV unterschieden.54 Diese Verteilung nach 1945 im Einzelfall nachzuvollziehen und Gegenstände identifizieren zu können, war aussichtslos. Ohne einen entsprechenden Nachweis über den Wert und Verbleib der Gegenstände blieb auch eine Entschädigung aus. Versuche, verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut nach dem WGG zurückzuerlangen, finden sich nicht in dem untersuchten Quellenbestand. Eine Rückübereignung oder geleistete Entschädigungszahlung an die jüdischen Erben oder Alteigentümer*innen bedeutete nicht zwangsläufig, dass sie auch Zugriff darauf behielten. 85 % von ihnen befanden sich nach 1955 noch oder wieder im Ausland. Durch die „Ausländerverordnung“ vom 6. September 1951 und Folgende wurde den jüdischen Entschädigten das Eigentum erneut 51 Zum Beispiel LATh-HStA Weimar, Oberlandesgericht Erfurt Nr. 1206. 52 Zum Beispiel LATh-HStA Weimar, Kreisrat des Landkreises Jena Nr. 301, Bl. 172–178. 53 LATh-HStA Weimar, Oberlandesgericht Erfurt Nr. 1204. Vgl. Henriette Rosenkranz, Unrecht über den Tod hinaus – das Schicksal der Sängerin Jenny Fleischer-Alt, Weimar, in: Monika Gibas (Hg.), „Ich kam als wohlhabender Mensch nach Erfurt und ging als ausgeplünderter Jude davon.“ Schicksale 1933–1945, Erfurt ²2010, S. 67–74. 54 LATh-HStA Weimar, Oberfinanzpräsident Thüringen/ Rudolstadt Nr. 229, Bl. 11–47.

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entzogen und unter staatliche Kontrolle gestellt. Auch die Entschädigungskonten wurden gesperrt und blieben nur in der DDR befindlichen Personen zugänglich. Beschlossen wurde diese Verfahrensweise bereits drei Monate vor der Aufhebung des WGG im April 1952 bei einer Besprechung im Ministerium für Justiz in Berlin mit Vertretern der Ministerien des Inneren und der Finanzen. Zwar sollten ergangene Urteile nach dem WGG nicht kassiert werden. Bei Urteilen, die noch nicht rechtskräftig, also noch nicht durchgeführt und aus der Beschlagnahme gelöst worden waren, sei eine juristische Klarstellung der Versagung hinsichtlich der Urteilsdurchführung schwierig. Jedoch sah Rudolf Lorenz vom Ministerium für Finanzen Raum […] für eine Genehmigung dieses Vorgangs durch das Ministerium f. Finanzen. Grundlage sollte die Kontrollratsproklamation Nr. 2 Ziff. 14 sein. Seitens des Ministeriums der Justiz war klar, dass die Genehmigungen zu versagen seien, wogegen die Anwesenden keine Bedenken hatten. Was die noch laufenden Wiedergutmachungsprozesse nach WGG ab 1952 betraf, sollte nach der „Ausländerverordnung“ der Rechtsweg für eine Wiedergutmachungsklage von ausländischen Berechtigten ausgeschlossen werden. Damit würde es nicht notwendig sein, in der Sache selbst eine Entscheidung zu treffen. Es würde aber auf der anderen Seite verhindert werden, dass durch Urteile der Bestand des ausländischen Vermögens vergrössert wird.55 Allen Beteiligten war klar, dass diese pragmatische Lösung einen Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung bedeutete. Eine Ausarbeitung der Maßgaben wurde über das Ministerium der Justiz an die Ministerien in Thüringen vermittelt. Die massiven Klageabweisungen aufgrund der „Ausländerverordnung“ vor dem Bezirksgericht Erfurt seit 1952 sind das Ergebnis dieser Überlegungen (Abb. 1). Im letzten Punkt der Besprechung beim Berliner Ministerium der Justiz wurde zudem Einigkeit darüber bekundet, dass auch abgeschlossene Wiedergutmachungsfälle, bei denen also bereits eine Umschreibung im Grundbuch erfolgt war, weiterhin als „ausländisches Eigentum“ zu behandeln seien.56 Damit war der Grundstein gelegt, für die zweite Enteignung von ehemals jüdischem Eigentum, wenn eine Rückübertragung nicht zuvor verhindert worden war. Seitens des Amtes für den Rechtsschutz des Vermögens der DDR (AfR), der ab 1966 zuständigen Behörde in Berlin, wurden die Konten „ausländischer“ oder westdeutscher Inhaber, auf denen die Entschädigungsbeträge lagen, unumwunden als „Sperrkonten“ bezeichnet.57 Noch im Februar 1978 hatte das AfR 55 Die Kontrollratsproklamation regelte an dieser Stelle, dass jegliche Eigentumsdisposition einer Genehmigung alliierter Vertreter bedurfte. Zitate: BADV Berlin, AfR-Archiv, 530-2, unpag.; Rudolf Lorenz (SED) war seit Anfang der 1950er Jahre Abteilungsleiter im Ministerium der Finanzen. Mario Niemann/Andreas Herbst (Hg.), SED-Kader: Die mittlere Ebene. Biographisches Lexikon der Sekretäre der Landes- und Bezirksleitungen, der Ministerpräsidenten und der Vorsitzenden der Räte der Bezirke 1946 bis 1989, Paderborn 2010, S. 491. 56 BADV Berlin, AfR-Archiv, 530-2, unpag. 57 BADV Berlin, AfR-Archiv, 526, unpag.

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Berlin rund 4.500 Grundstücke beziehungsweise Immobilien DDR-weit registriert, die nach der Verordnung vom 6. September 1951 Eigentum von vermeintlichen Ausländern waren. Der Einheitswert dieser Grundstücke unter staatlicher Verwaltung wurde mit rund 150 Millionen Mark beziffert.58 Dies soll hier zunächst als Richtwert gelten, eine umfängliche Analyse zum Verbleib ehemals jüdischen Eigentums seit 1955 steht noch aus.

5. Schlussbemerkungen Vom Scheitern der Wiedergutmachung in Thüringen nach dem WGG zu sprechen, würde denen Unrecht tun, die bis zum Ende des Gesetzes und darüber hinaus für eine demokratische Lösung gestritten haben. Es ist der Beharrlichkeit und dem Engagement der Rechtsanwälte, Vermögensverwalter und Richter beim OLG Erfurt zu verdanken, dass durch die Wirkung des WGG zunächst beachtliche Erfolge erzielt werden konnten. Trotz vielfacher staatlicher und politischer Intervention erwirkten die juristischen Akteure Vergleiche und Entscheidungen, die einen verantwortungsvollen Umgang mit dem historischen Erbe des Nationalsozialismus erahnen lässt. Dabei muss vor allem die ideelle Bedeutung des WGG für die jüdischen Überlebenden hervorgehoben werden. Das Gesetz gab jüdischen Menschen nach einer Zeit der Entrechtung den Status als Rechtsperson zurück und die Möglichkeit, ihr Eigentum und ihr Recht einzufordern. Das damit verbundene rehabilitierende Moment zeigt sich an zahlreichen Selbstzeugnissen in den Verfahrensakten. Die lebensgeschichtlichen Zeugnisse aus den Wiedergutmachungsverfahren und noch mehr die fehlenden Lebenszeichen und hunderte offenen Wiedergutmachungsfälle zeigen die Dimensionen des nationalsozialistischen Raubens und Mordens. Denn mindesten 870 Jüdinnen und Juden aus ganz Thüringen hatten die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager nicht überlebt.59 Das jüdische Leben entwickelte sich in Thüringen nach 1945 nur zögerlich. Die wenigen Rückkehrer*innen bauten Gemeindestrukturen wieder auf, halfen bei der Suche nach Überlebenden und organisierten das Nötigste für einen Neuanfang.60 Die antisemitischen Verfolgungen in Osteuropa erreichten Anfang der 1950er Jahre auch die DDR. Erneut emigrierten Thüringer Jüdinnen und Juden in die Bundesrepublik oder das westliche Ausland. 1952 wurde dann die Grenze zur Bundesrepublik geschlossen, eine Ausreise war nur noch über Berlin mög58 BADV Berlin, AfR-Archiv, 622, unpag. 59 Carsten Liesenberg/Harry Stein, Deportation und Vernichtung der Thüringer Juden 1942 (Quellen zur Geschichte Thüringens, 39), Erfurt ³2014, S. 199–225. 60 Ein nachhaltiges Zeichen für den Neubeginn jüdischen Lebens in Thüringen war der Neubau der Erfurter Synagoge 1952.

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lich. Einige der jüdischen, aber auch nichtjüdischen Akteure der Wiedergutmachung verließen bereits vor der endgültigen Aufhebung des WGG die DDR. Andere aus den Bereichen der Justiz wurden im Zuge der Umstrukturierung 1952/53 pensioniert, aus ihren Ämtern gedrängt oder verstarben. Damit ging mit dem WGG selbst auch ein Großteil der Verfechter einer demokratischen Wiedergutmachung in Thüringen verloren.61 Im Zuge von Pogromen und antisemitischen Kampagnen wie dem RudolfSlánský-Prozess in der Tschechoslowakei 1952 setzte eine Migration osteuropäischer Jüdinnen und Juden auch in die DDR ein. Dabei schlugen sich derartige Kampagnen, später unter dem Etikett des Antizionismus geführt, auch auf den Umgang mit ehemals jüdischem Eigentum nieder. Im November 1953 äußerte sich der Vorsitzende des Rates des Bezirks Suhl und früherer stellvertretender Finanzminister in Thüringen Fritz Sattler gegenüber der Abteilung Staatliches Eigentum in Berlin über das WGG. Dabei stützte er sich auf einen Zentralratsbeschluss der SED über die „Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky“ und kritisierte die Umsetzung des WGG: Ohne Rücksicht darauf, ob es sich bei den Wiedergutmachungsberechtigten um werktätige Juden oder aber um jüd. Monopolkapitalisten handelt, wurden die gestellten Ansprüche anerkannt und entsprechend den Bestimmungen des Thür. Wiedergutmachungsgesetzes durch Bürger der DDR realisiert.62 Die antikapitalistische Doktrin der SED-Führung, die im Parteiprogramm manifestiert blieb, prägte seit dem Ende der 1940er Jahre den Umgang mit jüdischen Wiedergutmachungsforderungen.63 So fußten die politischen Interventionen in die Wiedergutmachungsverhandlungen und nicht zuletzt die Aufhebung des WGG auf dem personellen Engagement bestimmter Akteure der Regierungsebene. Ihre obersten Ziele waren die Herrschaftssicherung und die Kon­ trolle des Wirtschaftssektors. Insgesamt lässt sich jedoch festhalten, dass das WGG im Sinne der jüdischen Alteigentümer*innen und ihrer Hinterbliebenen eine positive Wirkung entfal61 Zum Beispiel flohen Rudolf Paul, Georg Chaim, der Rechtsanwalt Johannes Pracht und der Vermögensverwalter Siegfried Nußbaum; der OLG-Richter Karl Olafske wurde in den Ruhestand versetzt. Vgl. Helga A. Welsh, Revolutionärer Wandel auf Befehl? Entnazifizierungs- und Personalpolitik in Thüringen und Sachsen (1945–1948) (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 58), München 1989, S. 144–146. 62 BArch, DN1 (Ministerium der Finanzen – Volkseigentum und Treuhandvermögen) /112671, unpag.; vgl. Zentralkomitee der SED (Hg.), Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. 4, Berlin 1954, S. 199–219 und vgl. Kateřina Čapková, Jüdinnen und Juden in der Tschechoslowakei und der Slánský-Prozess, in: Jörg Ganzenmüller (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland und Europa nach der Shoah. Neubeginn, Konsolidierung, Ausgrenzung (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 26), Köln 2020, S. 127–136. 63 Karl Wilhelm Fricke, Programm und Statut der SED vom 22. Mai 1976, Köln ²1982, S. 50 f. und vgl. Spannuth, Rückerstattung (wie Anm. 4), S. 156–159.

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ten konnte. Ausschlaggebend für einen positiven Ausgang blieb die Anerkennung des Wiedergutmachungsanspruchs seitens des Gerichtes. Dabei hatten Antragsteller*innen, die mit politischem Entzugshintergrund klagten, weit weniger Chancen als jüdische. Der Aufenthaltsort der Antragsteller*innen spielte bis Ende der 1940er Jahre keine Rolle und der Wert des strittigen Eigentums hatte ebenfalls keinen Einfluss auf die gerichtlichen Entscheidungen. Für die Überlebenden blieb das WGG auf lange Zeit die einzige Hoffnung auf eine Entschädigung oder die Wiedererlangung der verfolgungsbedingt entzogenen Vermögenswerte. Der vergangenheitspolitische Charakter der Wiedergutmachung in der SBZ/ DDR entlarvte sich spätestens mit dem Aneignungsrecht des Landes Thüringen nach §5 WGG und war eine vergebene Chance auf ein Zeichen an die jüdische Gemeinschaft. Die politische Führung verstand es, die gesetzliche Regelung in ihrem Sinne zu nutzen, bevor das WGG ganz abgeschafft werden konnte. Dabei blieben den verantwortlichen Akteuren in den Ministerien für Finanzen, Wirtschaft und Justiz die noch laufenden Verfahren und die damit verbundenen Entschädigungen und Rückgaben ein Dorn im Auge. Bei der Umsetzung von Verstaatlichung und Zentralisierung trat mit der antikapitalistischen zugleich die antisemitische Haltung der politischen Führung zu Tage, auch auf den unteren Ebenen. Damit waren die Auseinandersetzungen um die Wiedergutmachungsfrage in Thüringen in den 1940er und -50er Jahren kennzeichnend für eine Phase von ökonomischer und gesellschaftspolitischer Transformation und parteipolitischer Konsolidierung.

Sören Gross/Ron Hellfritzsch

Verantwortung – Aufarbeitung – Erinnerung Provenienzforschung am Deutschen Optischen Museum Jena

1. Verantwortung – Provenienzforschung zu NS-Raubgut in Thüringen Was vor 20 Jahren noch unvorstellbar schien, ist inzwischen kulturpolitischer Alltag. Galerien, Bibliotheken und Museen melden in immer kürzer werdenden Abständen die Rückgabe von Kunst- und Kulturgütern an deren rechtmäßige Eigentümer. Dies zeigt das Ausmaß, in dem politische Neuordnungen und die Diktaturerfahrungen im 20. Jahrhundert in Beständen, Sammlungen und Depots bis heute ihre Spuren hinterlassen haben. Speziell im Umgang mit jüdischen Verfolgten, deren Eigentum abgepresst, entzogen oder geraubt wurde, setzten die „Washingtoner Prinzipien“ im Jahr 1998 einen Meilenstein in der Aufarbeitung von Unrechtskontexten.1 „The art world would never be the same“ meinte Philippe de Montebello,2 damaliger Direktor des Metropolitan Museum of Art in New York, während seiner Unterzeichnung. Damals wurde zum einen deutlich, dass Deutschland im Bereich der Aufarbeitung von NS-Raubgut gravierende Forschungsdesiderate aufwies. Zum anderen zeigte sich, dass sich Täterschaften und Profitstreben nicht nur auf deutschen Boden beschränken lassen, da viele Personen, Unternehmen, Einrichtungen und Regierungen auch außerhalb Deutschlands von der nationalsozialistischen Judenverfolgung profitierten.3 Folglich konnte sich die Provenienzforschung als Forschungsfeld zur systematischen Ermittlung unbekannter Objektkontexte und Erwerbungshintergründe international etablieren. Obwohl die „Washingtoner Prinzipien“ bereits im Folgejahr 1999 durch die „Gemeinsame Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen 1

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Vgl. Johannes Gramlich/Carola Thielecke, Provenienzforschung als Selbstverpflichtung, in: Leitfaden Provenienzforschung zur Identifizierung von Kulturgut, das während der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgungsbedingt entzogen wurde, hg. von Deutsches Zentrum Kulturgutverluste et al., Berlin 2019, S. 15–24, hier S. 20–23. Zit. nach: Rüdiger Mahlo, Geleitwort der Conference on jewish material claims against Germany, in: Leitfaden Provenienzforschung (wie Anm. 1), S. 8 f., hier S. 8. Vgl. Marie-Paule Jungblut, Ausgeraubt! Aktuelle Fragen zum nationalsozialistischen Kunstraub in Europa (Publications scientifiques du Musée d’Histoire de la Ville de Lu­ xembourg, XIII), Luxemburg 2007, S. 58–69.

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Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ für den Alltag deutscher Institutionen gewissermaßen übersetzt wurden, dauerte es etwa anderthalb Jahrzehnte an, bis eine systematische Provenienzforschung in Deutschland initiiert werden konnte.4 Erst als Folge der Diskussion um den „Kunstfund Gurlitt“ im Jahr 2013 und durch die Errichtung der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste 2015 konnten die notwendigen finanziellen und administrativen Voraussetzungen hierfür geschaffen werden. Inzwischen zählt die Provenienzforschung zu den Kernaufgaben von Kulturinstitutionen, um sich so den in Politik und Gesellschaft aufgeworfenen Fragen nach historischer Gerechtigkeit und Verantwortung im Umgang mit NS-Raubgut stellen und letztlich beantworten zu können. Als Teilbereich der historischen Forschung dient die Provenienzforschung somit zur Grundlagenermittlung und Überprüfung öffentlicher und privater Sammlungen auf eventuelle Unrechtskontexte.5 Diese Grundlage ermöglicht es, moralische Rechtsnormen einer eventuellen „Wiedergutmachung“ geltend zu machen und erfahrenes Unrecht auszugleichen. Die Alltagspraxis zeigt jedoch, dass die Umsetzung jener Ansprüche aufgrund der häufig unbekannten Dimensionen möglicher Unrechtskontexte, der vielfach sehr lückenhaften Quellenüberlieferung, des immensen Zeitaufwandes der Recherchen und letztlich des Personalmangels oftmals nur schwer in einem ausreichenden Maß umsetzbar ist. Eine erste Zustands- und Bedarfsanalyse zum diesbezüglichen Stand in Thüringen führte die „Koodinierungsstelle Provenienzforschung“ 2021 durch. Dem Vorbild anderer Bundesländer folgend wurde die Koordinierungsstelle im Juni 2021 vom „Museumsverband Thüringen e. V.“ mit Unterstützung des Freistaates Thüringen geschaffen und mit 1,5 Personalstellen besetzt. Neben der Analyse des Bedarfs an Provenienzforschung in der thüringischen Museumslandschaft ist ein zentrales Ziel der Koordinierungsstelle, kleinere und mittelgroße kulturelle Einrichtungen vor Ort bei konkreten Verdachtsfällen zu beraten, bei Förderanträgen zu unterstützen und die Entwicklung auf jenem Gebiet zu fördern. Zudem baut sie ein Netzwerk der Provenienzforschung in Thüringen auf. Die kooperative Erforschung der Provenienzen von thüringischem Sammlungsgut und die Herausbildung eines Netzwerkes ist demnach ein erster Schritt, um über Institutionsgrenzen hinweg, einen offenen und transparenten Austausch zu wichtigen Forschungsdesideraten zu etablieren:

4 Vgl. Gramlich/Thielecke, Provenienzforschung als Selbstverpflichtung (wie Anm. 1), S. 23 f. 5 Vgl. Hellmut Seemann, Vorwort, in: Franziska Bomski/Hellmuth Seemann/Torsten Valk (Hg.), Spuren suchen. Provenienzforschung in Weimar (Klassik Stiftung Weimar, Jahrbuch 2018), S. 7–13, hier S. 7.

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• Wie war der Entzug und Raub- von Kulturgut organisiert? • Was geschah mit den Objekten, die eingezogen und „verwertet“ wurden? • Welche regionalen Akteure sind bekannt und wie bewertet man diese? Dieser angestrebte Transfer soll nicht nur gemeinsame Wissensstände zusammenfügen, sondern die kooperative Aufarbeitung von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kunst- und Kulturgut, kolonialen Unrechtskontexten oder Kulturgutentziehungen in der Sowjetischen Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik ermöglichen und zukünftig erleichtern. Der von der „Koordinierungsstelle Provenienzforschung“ ermittelte „Status Quo“ zur Provenienzforschung in Thüringen erfasste im Bereich der Erforschung von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kunst- und Kulturgut im Zeitraum der Jahre 2008 bis 2021 bisher neun vom „Deutschen Zentrum Kulturverluste“ geförderten Forschungsprojekte.6 Darüber hinaus belegt die Vielzahl von weiteren Projekten zur Provenienzforschung, dass thüringische Museen das Thema NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut bearbeiten. Vorreiterin ist hierbei die Klassik Stiftung Weimar, die seit 2010 ihre Bestände chronologisch und bestandsübergreifend auf sogenanntes „NS-Raubgut“ überprüft. Die dort geschaffene direktionenübergreifende Arbeitsgruppe „NS-Raubgut“ als Bindeglied zwischen der praktischen Provenienzforschung und der Leitungsebene der Stiftung erstattet einmal jährlich Bericht, berät über strittige Fälle, bereitet Restitutionsempfehlungen vor und bringt Vorschläge zum öffentlichen Umgang mit den Ergebnissen ein.7 So wurden beispielsweise die Bücher aus den Beständen der „Herzogin Amalia Bibliothek“, für die ein Verdacht auf einen verfol6

Darunter Provenienzforschungsprojekte der Klassik Stiftung Weimar (2009: Erwerbungen aus der Sammlung Nathansohn durch die Vorgängerinstitution der Klassik Stiftung Weimar; 2009–2010: Bibliotheken politischer und kultureller Vereinigungen als NS-Raubgut; 2010–2013: NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter in den Sammlungsbeständen der Klassik Stiftung Weimar; 2013–2016 Provenienzen, Erwerbungskontexte, Erbenermittlung – Recherchen zu Verdachtsfällen NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter in den Beständen der Klassik Stiftung Weimar), der Kunstsammlungen Jena (2014–2018: Provenienzrecherchen), der Friedrich-Schiller-Universität Jena (2015–2016: Provenienz in der Sammlung für Antike Kleinkunst Jena – Zur Problematik von Zugängen während des Nationalsozialismus), des Deutschen Optischen Museums in Jena (2020–2022: INSIGHT D.O.M – Provenienzrecherchen zu Käufen, Schenkungen und Übernahmen am Deutschen Optischen Museum zwischen 1933 und 1945) sowie dem Lindenau-Museum Altenburg (2018–2023: Provenienzrecherche zu ausgewählten Gemälden und Plastiken aus dem Lindenau-Museum Altenburg); vgl. die von der „Koordinierungsstelle Provenienzforschung“ erstellte Erhebung zur Provenienzforschung in Thüringer Museen“. 7 Vgl. Seemann, Vorwort (wie Anm. 5), S. 11.

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gungsbedingten Entzug besteht, in dem bibliothekseigenen Online-Katalog gekennzeichnet.8 Eine institutionsübergreifende und kooperative thüringische Provenienzforschung scheint demnach von großer Bedeutung – nicht nur, um die gewonnenen Forschungserkenntnisse zu verfolgten Opfern, regionalen Kunst- und Antiquitätenhändlern, profitierenden Tätern sowie vermissten Sammlungs- und Kulturgut auch anderen kulturellen Einrichtungen zugänglich zu machen, sondern um ebenfalls darüber in einen gemeinsamen Diskurs treten zu können. Diesbezüglich organisierte die thüringische Koordinierungsstelle der Provenienzforschung am 6. Oktober 2021 das erste Online-Treffen des neuentstehenden Netzwerkes „Provenienzforschung in Thüringen“. Um diesen Prozess weiterhin zu fördern, hat die „Koordinierungsstelle Provenienzforschung“ am 4. April 2022 die erste umfassende Tagung zu Provenienzfragen aus den Bereichen NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kunst- und Kulturgut, Sammlungsgütern aus kolonialen Kontexten sowie Kulturgutentziehung während der SBZund DDR-Zeit in Rudolstadt ausgerichtet. Vor allem die Zielgruppe der Museen wurde auf dieser Tagung über die verschiedenen Bereiche der Provenienzforschung informiert und für die Teilnahme an Forschungsprojekten motiviert.9 Um diesen Diskurs weiter zu fördern, soll im Folgenden am Beispiel des Forschungsprojektes „INSIGHT D.O.M.“, das am Deutschen Optischen Museum (D.O.M.) in Jena angesiedelt ist, die Bedeutung der Provenienzforschung zur NS-Zeit sowie eine Möglichkeit des verantwortungsvollen und öffentlichen Umgangs mit NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kunst- und Kulturgut im Spannungsfeld von Recht, Moral und Wissenschaft aufgezeigt werden. Gleichzeitig soll eine Möglichkeit der praktischen Umsetzung des richtungsweisenden Anspruchs der von der Thüringer Staatskanzlei veröffentlichten „Museumsperspektive 2025“10 zur Bildung einer bewahrenden, forschenden, öffentlich vermittelnden und partizipativen thüringischen Museumslandschaft aufgezeigt werden und kann anderen Institutionen als Anreiz dienen.

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Vgl. Online-Katalog NS-Raubgut in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Onlineressource: https://lhwei.gbv.de/DB=2.3/ (letzter Zugriff: 03.02.2022). 9 An dieser Stelle möchten wir Elisabeth Geldmacher und Friederike Brinker von der „Koordinierungsstelle Provenienzforschung“ des Museumsverbandes Thüringen e. V. für die Zuarbeit und Informationsweitergabe danken. 10 Thüringer Staatskanzlei (Hg.), Museumsperspektive 2025. Diskussionspapier, Erfurt 05.10.2017.

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2. Aufarbeitung – das Provenienzforschungsprojekt „INSIGHT D.O.M.“ 2.1 Struktur und Ziele Im Jahr 2018 übernahm die Stiftung Deutsches Optisches Museum den Betrieb des Optischen Museums in Jena, um die Sammlung dauerhaft zu bewahren und für Forschungszwecke zu nutzen. Neben einer hochgradig interaktiven Dauerausstellung und auf einer über 15-fach größeren Fläche sollen die Themen der Optik im Jahr 2025 neueröffnenden Deutschen Optischen Museum einer breiten Öffentlichkeit“ vermittelt werden. Eine grundlegende Voraussetzung für diese Neuausrichtung ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Institutionsgeschichte und der Genese der vorhandenen Sammlungsbestände. Ein großer Teil der Sammlungsbestände an etwa 50.000 musealen Objekten, Büchern und Archivdokumenten reicht bis in die Zeit der Gründung des Museums zurück.11 Im Jahre 1922 als Lehrsammlung der Jenaer Optikerschule formal gegründet und 1924 im neu errichteten Gebäude am Carl-Zeiss-Platz 12 zugänglich gemacht, entwickelte sich das Optische Museum in Jena rasch zur international angesehenen Forschungs- und Dokumentationsstätte der Geschichte der Optik. Die Sammlungsbestände des Optischen Museums wuchsen beständig an und wurden, im Vergleich zu den Beständen anderer Museen, durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges glücklicherweise kaum in Mitleidenschaft gezogen.12 Auftrag des seit 2020 laufenden Provenienzforschungsprojektes „INSIGHT D.O.M.“ ist die systematische Erschließung und Überprüfung der fast 1.500 rekonstruierbaren Sammlungseingänge, die das Optische Museum in Jena zwischen 1933 bis 1945 zu verzeichnen hatte. Ziel des Projektes ist es, im Sinne der „Washingtoner Prinzipien“, historisches Unrecht aufzuarbeiten und faire und gerechte Lösungen für die Opfer bzw. die Angehörigen von Opfern des Nationalsozialismus zu finden. Dies schließt selbstredend die Option ein, durch Unrechtskontexte eindeutig belastete Objekte gegebenenfalls zu restituieren. Die Provenienzforschung ist somit die „conditio sine qua non“, um historische Gerechtigkeit herzustellen und einen Akt der Versöhnung einzuleiten. Den wichtigsten Quellenbestand der Provenienzforschung am Deutschen Optischen Museum bilden die nahezu lückenlos überlieferten Ankaufskorrespondenzen des Optischen Museums aus der Zeit vor 1945. Hinzu kommen Eingangslisten und Nachweisbücher, in denen die Objekteingänge seinerzeit erfasst 11 Die Bestandszahlen basieren auf einer aktuellen Berechnung des Sammlungsleiters am Deutschen Optischen Museum im Februar 2022. 12 Vgl. Ron Hellfritzsch/Timo Mappes, Jena. Die optische Sammlung, in: Michael Grisko (Hg.), Moderne und Provinz. Weimarer Republik in Thüringen 1918–1933, Halle 2022, S. 147–151.

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wurden. Die Sichtung und Auswertung der Ankaufskorrespondenzen am Beginn des Forschungsprojekts lieferte erste grundlegende Hinweise zu den durch das Optische Museum erworbenen Objekten und deren Einlieferern. Der Großteil der Erwerbungen wurde bis zum Frühjahr 1940 vom damaligen Leiter des Museums, Moritz von Rohr (1868–1940), verantwortet. Allmählich wurde eine Vernetzung des Optischen Museums mit insgesamt 67 Verkäufern und Schenkern deutlich, unter denen sich 18 Personen befinden, deren Agieren bzw. Verfolgungshintergründe genau zu untersuchen sind, da der rechtmäßige Erwerb der betreffenden Objekte im heutigen Verständnis infrage gestellt werden kann. Hierbei handelt es sich einerseits um Kunsthändler und Privatpersonen, bei denen teils bereits bekannt war, teils erst durch die Forschungen des Projekts deutlich wurde, dass sie mutmaßlich zu den Profiteuren des NS-Regimes gehörten. Zugleich wurden jedoch auch die Schicksale von Kunsthändlern und Sammlern deutlich, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft vom NS-Regime verfolgt wurden. Einzelnen von ihnen gelang die Emigration, nicht wenige zählen jedoch zu den Millionen Opfern der Shoa. Die Vielzahl und Diversität der Einlieferer spiegelt zugleich das internationale Netzwerk der Firma Carl Zeiss wider, von deren Geschäftsbeziehungen das Museum als von der Carl-Zeiss-Stiftung getragene Institution profitierte.13 Die systematische Erschließung des im Deutschen Optischen Museum vorhandenen Archivmaterials und die Rekonstruktion der Sammlungsgenese des Optischen Museums während der Zeit des Nationalsozialismus bildeten die Grundlage für umfangreiche Recherchen in in- und ausländischen Archiven und Datenbanken. Die Geschichte des Optischen Museums in der Zeit des Nationalsozialismus weist eine wichtige Besonderheit auf. Als nichtstaatliches und damals nicht für die breitere Öffentlichkeit zugängliches Museum entging das Optische Museum in Jena der unmittelbaren „Gleichschaltung“ seiner Personalstrukturen durch die NS-Behörden und besaß dadurch gewisse „Freiräume“ bezüglich seiner Erwerbungen und der Kontakte zu den jeweiligen Einbringern. Ein kritisches Hinterfragen, wie das Optische Museum vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Kulturpolitik und Diktatur als Institution geführt wurde, wie man mit jüdischen oder verfolgten Einbringern umging und welche Ankaufspreise Moritz von Rohr und seine Nachfolger als Sammlungsbetreuer aushandelten, scheint hierbei zentral. In Absprache mit dem Deutschen Zentrum Kulturverluste wurde folgendes methodisches Vorgehen geplant und wurde bzw. wird derzeit umgesetzt:

13 Ebd.; Rolf Walter, Zeiss 1905–1945, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 154–161.

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1. Archivalische Erschließung der relevanten Aktenmaterialen und deren Bereitstellung für die Öffentlichkeit unter Wahrung von Schutz- und Sperrfristen; 2. Meldung von Objekten mit fehlenden Provenienznachweisen und begründeten Verdachtsmomenten oder belegten Unrechtskontexten der Lost-Art-Datenbank; 3. Erben- und Eigentümerermittlungen für Objekte mit Verdacht auf Unrechtskontexte und Herbeiführen fairer und gerechter Lösungen für die Opfer bzw. die Angehörigen der Opfer des Nationalsozialismus. Je nach Ergebnis der ermittelten Erwerbungshintergründe werden die Provenienzen nach einem vierfarbigen sogenannten „Ampelsystem“14 eingestuft:

Abb. 1: Kategorisierung der Provenienz Zur Beurteilung jedes Sammlungseingangs müssen die Person und das persönliche Umfeld des Einbringers untersucht werden. Auch gilt es, den jeweiligen zeitlichen Hintergrund (z. B. neu erlassene Gesetze, gezielte Repressionsmaßnahmen usw.) zu beachten. Anhand folgender paradigmatischer Fallbeispiele wird nun die Schwierigkeit und Komplexität der Kategorisierung aufgezeigt und diskutiert.

14 Jasmin Hartmann/Tessa Friederike Rosebrock, Von der Identifizierung von Verdachtsmomenten zur systematischen Provenienzforschung, in: Leitfaden Provenienzforschung (wie Anm. 1), S. 26–41, hier S. 34.

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2.2 Problematik der Einstufung von Provenienzen Das Grundproblem, dem sich die Provenienzforschung immer wieder stellen muss, ist die meist sehr fragmentarische Quellenüberlieferung sowohl im Hinblick auf die Biographien der beteiligten Einlieferer als auch zur jeweiligen Objektgeschichte, d. h. zur Provenienz der betreffenden Objekte im Vorfeld des Erwerbs durch die jeweilige Institution. Gerade von jenen Einlieferern, die Opfer der Shoa wurden, ist oft kaum mehr bekannt als der Name, die Anschrift und die ungefähren Lebensdaten. Die Einstufung gemäß des vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste vorgegebenen „Ampelsystems“ erweist sich daher in vielen Fällen als Gratwanderung, wie nachfolgende Beispiele deutlich machen. In der Sammlung des Deutschen Optischen Museums befindet sich ein im März 1935 bei der Berliner Kunsthandlung Hollstein & Puppel15 erworbener Kupferstich (siehe Abb. 2), der auf seiner Rückseite einen Stempel mit dem Namen „Alfred Misch“ trägt (siehe Abb. 3). Alfred Salo Misch (1878–?), ein jüdischer Geschäftsmann aus Berlin,16 verfügte über eine ausgesprochen große Graphiksammlung. Von den Nationalsozialisten ab 1933 um seine berufliche Existenz und sein Vermögen gebracht, wurde Misch am 13. Januar 1942 gemeinsam mit seiner Frau Elsa Misch in das Ghetto von Riga deportiert. Das weitere Schicksal der Eheleute Misch ist unbekannt.17 Ihr in Berlin verbliebener Besitz, darunter mehrere Mappen mit Graphiken, wurde behördlich beschlagnahmt und anschließend zerstreut bzw. vernichtet. 1961 gelang es Angehörigen Alfred Mischs, beim Land Berlin eine Entschädigung für die verlorene 15 In der Forschungsliteratur findet sich gelegentlich die Angabe, F.W.H. Hollstein, einer der Besitzer der Fa. Hollstein & Puppel, sei jüdischer Herkunft gewesen und daher verfolgt worden, vgl.: Werner J. Schweiger, Hollstein & Puppel. Eintrag für geplante Publikation „Lexikon des Kunsthandels der Moderne im deutschsprachigen Raum 1905–1937“, in: https://sammlung-online.berlinischegalerie.de:443/eMP/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=231158&viewType=detailView (letzter Zugriff: 03.02.2022). Hierbei handelt es sich um einen Irrtum. F.W.H. Hollstein war mit einer jüdischen Frau verheiratet und siedelte 1937 in die Niederlande über. Siehe die Entschädigungsunterlagen F.W.H. Hollsteins in: Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO) Berlin 61690. Für die an dieser Stelle behandelte Frage nach der Einstufung des 1935 durch das Optische Museum erworbenen Kupferstichs sind jene Ereignisse weniger relevant. 16 Er war als Prokurist für Metallhandelsfirmen tätig: Berliner Börsen-Zeitung, Jg. 66, Nr. 254 (03.06.1921), Abend-Ausgabe mit Kurszettel, S. 8; Berliner Börsen-Zeitung, Jg. 71, Nr. 478 (12.10.1925), Abend-Ausgabe mit Kurszettel, S. 4; Berliner Börsen-Zeitung, Jg. 72, Nr. 470 (08.10.1926), Abend-Ausgabe mit Kurszettel, S. 4. 17 Vgl. Henry Tauber, Der Deutsche Exlibris-Verein 1891–1943 (DEG-Jahrbuch 1995) Frankfurt am Main, S. 339, 357; Wolfgang Scheffler/Diana Schulle, Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, Bd. 1, München 2003, S. 241 f.

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Abb. 2: Kupferstich mit dem Bildnis Joseph Utzschneiders, erworben am 15.03.1935

Abb. 3: Sammlerstempel von Alfred Misch auf der Rückseite des Kupferstichs

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Wohnungseinrichtung zu erwirken. Versuche, auch für die Graphiksammlung eine finanzielle Abfindung zu erhalten, schlugen jedoch fehl.18 Wie ist nun aus heutiger Sicht mit einem Sammlungsobjekt umzugehen, das direkt oder indirekt mit einem solchen Schicksal verbunden ist? Anhand einiger Briefe, die sich in den Akten des Deutschen Optischen Museums befinden, konnte in Erfahrung gebracht werden, dass Misch bereits 1932 Graphiken aus seiner Sammlung zum Verkauf anbot, wobei er Letztere als „in Liquid.[ation] befindlich“19 bezeichnete. Wahrscheinlich zwangen ihn finanzielle Schwierigkeiten infolge der Weltwirtschaftskrise zu diesem Schritt. Der Verkauf der Sammlung Misch war 1933 jedoch noch keineswegs abgeschlossen. Alfred Misch veräußerte auch in den folgenden Jahren Graphiken aus seinem Besitz.20 Augenscheinlich verfügte er zuletzt über keine anderen Einkommensquellen mehr als den Verkauf von Teilen seiner Sammlung. In seiner Vermögenserklärung vom Februar 1942 enthält das Feld „Letzte Beschäftigung“ keinerlei Angaben.21 Es gibt demnach mehrere mögliche Szenarien, die zum Verkauf des Kupferstichs geführt haben können. Wenn sich nachweisen lässt, dass die Firma Hollstein & Puppel den Stich bereits vor 1933 bei Misch erwarb, so würde dessen Status gemäß des „Ampelsystems“ „grün“, d. h. „unbelastet“, lauten. Dies ist durchaus wahrscheinlich. Wenn sich jedoch klar rekonstruieren ließe, dass der Verkauf des Kupferstichs durch Misch eindeutig mit den antisemitischen Maßnahmen des NS-Regimes in Zusammenhang steht, dann müsste diese Graphik als „eindeutig belastet“ („rot“) oder zumindest „bedenklich“ („orange“) eingestuft werden. Eine lückenlose Nachverfolgung der Provenienz des Kupferstichs ist jedoch nicht möglich. Es bleibt vorerst nur die Einstufung „nicht zweifelsfrei unbedenklich“ („gelb“), die darauf hinweist, dass weitere Forschungen zur Herkunft dieses Sammlungsobjektes nötig sind.

18 Öffentliche Sitzung der Zivilkammer 146 des Landgerichts Berlin (Wiedergutmachungskammer) in der Rückerstattungssache der Frau Johanna Misch, geb. Silberstein, 01.08.1961, in: LA Berlin, B Rep. 025–07, Nr. 1782/57, Bl. 39. 19 Angebotsbrief Alfred Mischs vom 25.09.1932, in: DOM, Inv.Nr. 8736100013824 (OM 4), Bl. 187. 20 Korrespondenz Alfred Mischs mit der Direktion der Kunsthalle Karlsruhe, 07.12.1934– 10.12.1934, in: Landesarchiv Baden-Württemberg (LABW), Abt. GLA Karlsruhe, 441–3 Nr. 664 (ohne Paginierung). Siehe auch: Versteigerung einer Graphik von Reinier Zeemann mit Vermerk „Sammlung Misch“, in: Alte und moderne Graphik. I. Teil. Versteigerung in Bern/Schweiz durch Aug. Klippstein, vorm. Gutekunst und Klippstein, am 16. und 17. Mai 1935, Bern 1935, Lot. 300; 13 Blätter „Christus und die Apostel“ aus der Sammlung Misch, in: Eine kostbare Kupferstich-Sammlung aus fürstlichem Besitz; Kupferstiche und Holzschnitte alter Meister des XV. bis XVII. Jahrhunderts 1938, H. Gilhofer & H. Ranschburg, Luzern 1938, Lot. 321. Inwieweit Misch an diesen Versteigerungen noch selbst beteiligt war, lässt sich nicht sagen. 21 Vermögenserklärung Alfred Misch, in: LA Berlin, A Rep. 092, Nr. 27087, Bl. 2.

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Abb. 4: Otto Bettmann, 1947 Lassen sich die Umstände des Erwerbs von Objekten genau ermitteln, so ist es durchaus möglich, dass diese gegebenenfalls als „unbedenklich“ („grün“) eingestuft werden können, selbst wenn Opfer des Nationalsozialismus aktiv beteiligt sind. Ein sehr anschauliches Beispiel hierfür liefert der Fall Otto Bettmann. Am 13. März 1934 erhielt Moritz von Rohr einen Brief, worin ihm „Historisches Bildmaterial zur Geschichte der Brillenherstellung und Anwendung“22 zum Kauf angeboten wurde. Verfasser des Briefes war der Bibliothekar Otto Bettmann (1903–1998). Bettmann (siehe Abb. 4), der einer jüdischen Familie aus Leipzig entstammte, war seit 1932 Kustos an der Berliner Kunstbibliothek gewesen. Infolge des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ hatte er am 13. Mai 1933 Berufsverbot erhalten und war somit gezwungen, sich eine neue Existenzgrundlage zu suchen. Schon während seines Studiums in Leipzig hatte Otto Bettmann mit dem Sammeln von Buchillustrationen begonnen. Nun entwickelte er daraus die Idee, Fotografien und Bildlizenzen zu Publikationszwecken zu verkaufen. Wie die im Forschungsprojekt „INSIGHT 22 Otto Bettmann an Moritz von Rohr, 13.03.1934, in: DOM, Inv.Nr. 8736100013819 (OM 5), Bl. 64.

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D.O.M.“ von 2020 bis 2021 tätige Kunsthistorikerin Sandra Mühlenberend herausfand, war Bettmanns Angebot an das Optische Museum in Jena einer der ersten Versuche, dieses Vorhaben umzusetzen.23 Vermittelt hatte den Kontakt zwischen Otto Bettmann und Moritz von Rohr der jüdische Rechtsanwalt Kurt May (1896–1991). May war in der Zeit der Weimarer Republik in Jena wohnhaft gewesen und hatte sehr erfolgreich als Anwalt und Notar gearbeitet, bis ihm auf Basis des am 7. April 1933 erlassenen „Gesetzes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ Berufsverbot erteilt worden war.24 Anschließend war er nach Berlin übergesiedelt, wo er auf Bettmann traf und diesem empfahl, sich wegen seiner Bilder an das Optische Museum in Jena zu wenden.25 Moritz von Rohr und Kurt May kannten einander und schätzten sich offenbar sehr. Mehrere Briefe Moritz von Rohrs an Otto Bettmann endeten mit der Bitte, auch Kurt May die besten Wünsche und Grüße auszurichten, was May postwendend über Bettmann in gleicher Weise beantworten ließ.26 Sandra Mühlenberend zufolge spielte Bettmanns Verbindung zu Moritz von Rohr bei der Erprobung und Ausdifferenzierung der Idee, mit Illustrationen zu handeln, eine grundlegende Rolle. Bettmanns Angebot vom 13. März 1934 bildete den Anfang eines längeren Briefwechsels mit von Rohr. Stellte sich Bettmann in seinem ersten Schreiben noch als Sammler von Bildern vor, so offerierte er im Oktober 1934 seine Angebote bereits mit einem Geschäftsbriefkopf als Händler für „Historisches Bildmaterial“. Das Optische Museum erwarb bei Bettmann insgesamt sechs Fotoabzüge von Darstellungen aus der Geschichte der Optik.27 1935 emigrierte Otto Bettmann in die USA.28

23 Ausführlich zu den Beziehungen Otto Bettmanns zum Optischen Museum in Jena: Sandra Mühlenberend, Otto_Bettmann._Erwerbungen_und_Hintergruende.pdf (deutsches-optisches-museum.de, letzter Zugriff: 03.02.2022). 24 Vgl. Constanze Mann, Kurt May (1896–1992), in: Stadtarchiv Jena (Hg.), Jüdische Lebenswege in Jena. Erinnerungen, Fragmente, Spuren (Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte, 18), Jena 2015, S. 364–366; Sebastian Dewaldt/Heiko Ziemer, Diskriminierung und Ausgrenzung per Gesetz. Schicksale jüdischer Notare und Konsulenten im OLG-Bezirk Jena zur Zeit des Nationalsozialismus, Jena 2014, S. 54 f. 25 Dies lässt sich dem ersten Brief Bettmanns an von Rohr entnehmen, vgl. Mühlen­ berend, Otto Bettmann (wie Anm. 23), S. 3. 26 Ebd., S. 6. 27 Ebd., S. 1–3. 28 Im Gepäck hatte er 15.000 Fotonegative, die den Grundstock für das von ihm 1936 in New York gegründete „Bettmann Archive“ bildeten, das bald auf mehrere Millionen Bilder anwuchs. Später gehörte Bettmanns Bildarchiv zeitweise der international bekannten Bildagentur „Getty Images“. Seit 2016 ist es Teil eines großen chinesischen Medienunternehmens, vgl. Michael B. Palmer, International news agencies. A history, Cham 2020, S. 145, Anm. 11; Hilde Marx, Frauen, Humor, Politik, in: Aufbau. Reconstruction. An American weekly published in New York, Vol. XIV. No. 30 (23.07.1948), S. 27 f.

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Auch was den Fall Otto Bettmann angeht, muss genau abgewogen und diskutiert werden, welche Aspekte wie gewichtet werden. Sieht man den Umstand als ausschlaggebend, dass Bettmann seinem eigentlichen Beruf nicht mehr nachgehen konnte und daher auf den Handel mit Bildern auswich, so steht die Erwerbung der sechs Fotoabzüge mit einem NS-Verfolgungshintergrund zumindest in indirektem Zusammenhang. Otto Bettmann konnte infolge der nationalsozialistischen Gesetzgebung seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben und sah sich darum genötigt, nach einer neuen Einkommensquelle zu suchen, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Diese Einkommensquelle stellte für ihn der Handel mit Fotoabzügen dar. Von einem unmittelbaren Entzug von Eigentum kann in diesem Zusammenhang jedoch keine Rede sein. Die Provenienz der von Otto Bettmann an das Optische Museum in Jena verkauften Fotoabzüge ist lückenlos nachvollziehbar. Wie die Forschungen Sandra Mühlenberends ergaben, fertigte Bettmann die Fotoabzüge nach Vorlagen aus der Büchersammlung seines Vaters sowie aus öffentlichen Bibliotheken an.29 Dass dieses Verfahren urheberrechtlich kaum abgesichert war, steht auf einem anderen Blatt.30 Ausschlaggebend für die Bewertung des Falls Bettmann ist allerdings, dass keine Objekte, die bislang das Eigentum Bettmanns gewesen waren, in die Sammlung des Optischen Museums gelangten. Er verkaufte Abzüge von Fotos, die er behielt. Die Möglichkeit eines durch den Verfolgungsdruck des NS-Regimes bedingten Notverkaufs von Objekten, die unter anderen Umständen nicht veräußert worden wären, ist damit ausgeschlossen. Aus der Korrespondenz Otto Bettmanns mit Moritz von Rohr wird zudem deutlich, dass der Austausch zwischen beiden Geschäftspartnern stets auf Augenhöhe geführt wurde und von gegenseitiger Wertschätzung geprägt war.31 Dies passt zu der Haltung, die von Rohr auch gegenüber anderen Einlieferern an den Tag legte. Prinzipiell machte Moritz von Rohr keinen Unterschied, ob er mit jüdischen oder nichtjüdischen Einlieferern kommunizierte, und behandelte seine Geschäftspartner stets gleichwertig.32 Es gibt keine Indizien, dass von Rohr die 29 Vgl. Mühlenberend, Otto Bettmann (wie Anm. 23), S. 4 f. 30 Die öffentlichen Bibliotheken, aus deren Beständen Bettmann sich bediente, hätten dagegen klagen können. Allerdings kamen sie offenbar gar nicht auf die Idee, dass Abzüge von Bildern aus ihrem Besitz zu anderen als wissenschaftlichen Zwecken genutzt werden könnten. Zudem sah das damalige deutsche Urheberrecht für Fotografien einen Urheberrechtsschutz von nur zehn Jahren vor, und als das Recht 1940 geändert wurde, waren viele der von Bettmann und auch von anderen Anbietern vermarkteten Aufnahmen bereits gemeinfrei geworden, vgl. Mühlenberend, Otto Bettmann (wie Anm. 23), S. 5, Anm. 16. 31 Briefwechsel zwischen Otto Bettmann und Moritz von Rohr in: DOM, Inv. Nr. 8736100013819 (OM 5), Bl. 54–64. 32 Besonders zu nennen ist dabei das enge Verhältnis Moritz von Rohrs zu dem jüdischen Kunsthändler Julius Carlebach (1909–1964). Sandra Mühlenberend hat hierzu intensiv geforscht. Von Rohr und Carlebach pflegten zwischen 1934 und 1939 eine sehr rege Ge-

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Notlage Otto Bettmanns in irgendeiner Weise ausgenutzt haben könnte. Dem von Bettmann verlangten Preis von 7,50 Reichsmark stimmte er zu, ohne weiter darüber zu verhandeln. Otto Bettmann bedankte sich in jedem Schreiben sehr freundlich für das Interesse und bot sogleich weitere Fotoabzüge an.33 Im hier skizzierten Fall spricht folglich eine große Zahl an Indizien dafür, die betreffenden Objekte als „unbedenklich“ („grün“) zu klassifizieren.

Abb. 5: Sonnenuhr mit Kompass und Mondkalender von 1576, unbekannter Hersteller, erworben bei Walter Carl am 22.10.1935 (Foto: Timo Mappes) Abschließend soll auf einen Fall eingegangen werden, bei dem es sich ebenso schwierig erweist, eine genaue Bewertung vorzunehmen, der jedoch zugleich zeigt, welche weiteren Fragen und Diskussionen sich dabei jeweils anschließen können. In den Jahren 1934 bis 1940 erwarb das Optische Museum in Jena zahlreiche Objekte bei dem Frankfurter Kunst- und Antiquitätenhändler Walter Carl schäftskorrespondenz und trafen sich auch persönlich. Als Carlebach 1936 Berufsverbot auferlegt bekam, hielt Moritz von Rohr diese Verbindung aufrecht und intensivierte sie sogar. Carlebachs Emigration nach New York im Jahre 1937 wurde durch seine Verkäufe an das Optische Museum in Jena maßgeblich gefördert. Eine eigenständige Publikation zu diesem Fall befindet sich in Vorbereitung. 33 Briefwechsel zwischen Otto Bettmann und Moritz von Rohr in: DOM, Inv. Nr. 8736100013819 (OM 5), Bl. 54–64.

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(1884–1956). Über ihn schrieb Moritz von Rohr im September 1935 an seine Vorgesetzten bei der Carl-Zeiss-Stiftung: „Der Mann ist für unsere Sammlung recht wichtig; wir haben sehr schöne und gelegentlich besonders preiswerte Stücke von ihm erworben.“34 In der Tat bilden die bei Walter Carl erworbenen Objekte einen nicht unbedeutenden Teil der Sammlung des heutigen Deutschen Optischen Museums. Vorwiegend handelt es sich dabei um Ende des 18. Jahrhunderts gefertigte Sonnenuhren und Kompasse, darunter einige sehr seltene Stücke. Der Forschung ist Walter Carl vor allem als Freund und früher Förderer des Malers Max Beckmann (1884–1950) bekannt.35 Carl, so konnten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Forschungsprojekts „INSIGHT D.O.M.“ ermitteln,36 war seit den 1920er Jahren einer der zentralen Akteure des deutschen Kunst- und Antiquitätenhandels. Der Sohn eines Frankfurter Textilkaufmanns betrieb seit Herbst 1919 in der Bockenheimer Landstraße 9 in Frankfurt am Main ein Antiquitätengeschäft37 und verfügte über ein ausgesprochen breites Warenangebot, mit dem er große Preisspannen bediente. Das Hauptgeschäft bildeten dabei antike Möbel sowie gotische und barocke Holzfiguren. Außerdem hatte er Gemälde, Graphiken und nicht zuletzt kunstgewerbliche Gegenstände verschiedenster Art im Sortiment, u. a. Waffen, Musikinstrumente, Chinoiserien sowie technische Instrumente.38 Carls besonderes Kapital als Kunst- und Antiquitätenhändler bildeten seine ausgesprochen großen und vielfältigen Lagerbestände, mit denen er Ende der 34 Moritz von Rohr an Hans Harting, 11.09.1935, in: Betriebsarchiv Carl Zeiss Jena (BACZ), 20130 (ohne Paginierung). 35 Vgl. Andreas Hansert, Georg Hartmann (1870–1954). Biographie eines Frankfurter Schriftgießers, Bibliophilen und Kunstmäzens, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 62 f.; Esther Walldorf, Von Weimar in die Schweizer Straße 3 – Max Beckmann und die „lieben Ugis“, in: Die Künstlerfamilie Battenberg, Frankfurt am Main 2007, hg. von 1822-Stiftung der Frankfurter Sparkasse, S. 75–84, hier S. 83. 36 Im ersten Forschungsjahr des Projektes „INSIGHT D.O.M.“ beschäftigte sich die Kunsthistorikerin Serena Zanaboni mit Walter Carl, ab Januar 2021 übernahm der Historiker Ron Hellfritzsch die weiteren Forschungen zu diesem Fall. 37 Vgl. N. N., Kunstmarkt, in: Kunstchronik und Kunstmarkt. Wochenschrift für Kenner und Sammler, Jg. 55, NF XXXI, Nr. 7 (14.11.1919), S. 148; Ludwig Heilbrunn, Erinnerungen an das Frankfurt Max Beckmanns, S. 29 f., in: ISG Frankfurt, S 5/389 [ohne Paginierung]. 38 Die ganze Bandbreite von Carls Warensortiment und der von ihm bedienten Preispannen wird insbesondere in den Korrespondenzen deutlich, die er in den Jahren 1922 bis 1937 mit dem Deutschen Museum in München führte: Deutsches Museum München, Verwaltungsarchiv, Sign. 0069/1; Sign. 1201/4; Sign. 1202/2; Sign. 127/1; Sign. 1230/1; Sign. 1286/1; Sign. 1287/1; Sign. 1288/1; Sign. 1290/1; Sign. 1528/2; Sign. 1638/1; Sign. 1767/1; Sign. 1869/4; Sign. 1965/1 (ohne Paginierung). Siehe auch die Anzeigen Walter Carls in der „Weltkunst“ vom 01.01.1937, vom 23.05.1937 und vom 14.03.1940; Georg Kinsky an Ulrich Rück, 01.07.1933, in: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (GNM), NL Rück, I, C–0444d (ohne Paginierung); Heilbrunn Erinnerungen (wie Anm. 37), S. 30.

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1930er Jahre in Inseraten warb. Allein in Carls Geschäftshaus in der Braubachstraße 34 im Zentrum von Frankfurt konnten potenzielle Kundinnen und Kunden „3 Stockwerke Antiquitäten“39 besichtigen. Zusätzlich besaß Walter Carl in der Frankfurter Innenstadt noch unter zwei weiteren Adressen Geschäftsräume, die er zum Teil als Warenlager nutzte.40 Woher Carl seine Objekte bezog, lässt sich nur schwer bestimmen. Augenscheinlich stammten sie aus sehr unterschiedlichen Quellen. Neben Auktionen,41 Museen – die bei Carl erworbene Objekte mit „Tauschware“42 bezahlten – und Privatleuten kommen wohl nicht zuletzt Geschäftskollegen Carls in Frage.43 Die Geschäftsanzeigen Walter Carls aus den 1930er Jahren enthalten häufig den Vermerk „Händlerbesuch erwünscht“44 bzw. „Händlerbesuch erbeten“,45 was darauf schließen lässt, dass er mit seinen Lagerbeständen vor allem als eine Art Großhändler fungierte, bei dem andere Kunst- und Antiquitätengeschäfte Objekte zum Weiterverkauf erwarben. Nachweisbar ist, dass beispielsweise die Münchener Kunsthandlung Julius Böhler bei Carl antike Möbel erwarb.46 Zugleich gehörten zum Kundenkreis der Kunst- und Antiquitätenhandlung Walter Carl bedeutende Museen, insbesondere Kunstgewerbemu39 Anzeige Walter Carls in der Kunsthandelsfachzeitschrift „Weltkunst“ vom 24.10.1937; Anzeige Walter Carls in der „Weltkunst“ vom 13.04.1941. 40 Es handelte sich um ein Geschäft am Paulsplatz 6, genau gegenüber der Frankfurter Paulskirche, das er 1934 bezogen hatte. Daneben besaß Carl ein Haus in der Bocken­ heimer Landstraße 9. Die Räume in der Braubachstraße 34 hatte er ca. 1936 bezogen, vgl. Amtliches Frankfurter Adreßbuch 1933, S. 95; Amtliches Frankfurter Adreßbuch 1934, S. 92; Amtliches Frankfurter Adreßbuch 1935, S. 94 sowie die Anzeigen Walter Carls in der Zeitschrift „Weltkunst“ vom 01.01.1937 und vom 23.05.1937. 41 Annotiertes Handexemplar des Katalogs: Adolf Feulner/Hugo Helbing (Hg.), Aus den Beständen zweier deutscher Museen – Frankfurter und Darmstädter Privatbesitz: […], Frankfurt am Main, 5./6. Mai 1931, S. 42, online: https://doi.org/10.11588/diglit.54580#0046 (letzter Zugriff: 03.02.2022). Daneben war Carl bei Auktionen auch als Einlieferer vertreten. Siehe u. a. das Versteigerungsbuch des Frank­furter Versteigerungshauses Otto Schwepphäuser, S. 159v, in: ISG Frankfurt, W3–280. 42 Carl an die Städt. Kunstsammlung Augsburg, 02.09.1937, in: KUSA Augsburg, IV/343 Schriftwechsel mit Einzelpersonen bis 31.12.1946, IV/3430 A–E, 1932 bis 31. Dezember 1940 (ohne Paginierung). Dem hier zitierten Brief lässt sich entnehmen, dass Carl diese Option zumindest anbot. Ein Geschäftsabschluss kam in dem betreffenden Fall allerdings nicht zustande. 43 Vgl. die Angaben Carls zur Herkunft von ihm angebotener Objekte: Carl an Städt. Kunstsammlung Augsburg, 16.05.1938, in: ebd. (ohne Paginierung) und Carl an das Optische Museum in Jena, 20.12.1935, in: DOM, Inv.Nr. 8736100013819 (OM 5), Bl. 72. 44 Anzeige Walter Carls in „Weltkunst“ vom 23.05.1937. 45 Anzeige Walter Carls in „Weltkunst“ vom 15.02.1942. 46 Siehe hierzu folgende Karteikarten der Kunsthandlung Böhler, die im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München aufbewahrt werden: M_38–0221; M_41–0195; M_41– 0196; M_41–0197; M_41–0198; M_27–0147; M_36–0276; online unter: http://boehler. zikg.eu/wisski/navigate/202921/view (letzter Zugriff: 03.02.2022).

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seen, in ganz Deutschland. Belegt sind Verbindungen Carls u. a. zum Deutschen Museum47 und zu den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München,48 zum Hessischen Landesmuseum in Kassel,49 zu den Städtischen Kunstsammlungen Augsburg,50 zum Museum für angewandte Kunst in Frankfurt am Main51 und zum Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. Im Fall des letzteren Museums erstreckten sich die Geschäftsbeziehungen mit der Kunst- und Antiquitätenhandlung Walter Carl über einen besonders langen Zeitraum, von 1924 bis ins Jahr 1957 hinein.52 Auch in den Sammlungen des einen oder anderen thüringischen Museums dürften Objekte vorhanden sein, die aus der Kunst- und Antiquitätenhandlung Walter Carl stammen. Nicht zuletzt bediente Carl die Interessen von Museen mit besonderem Sammlungsfokus. So baute er etwa mit dem Deutschen Ledermuseum in Offenbach am Main seit 1922 eine sehr rege Geschäftsbeziehung auf, die sich ebenfalls über mehrere Jahrzehnte erstreckte.53 Als 1927 als besonderer Ausstellungsbereich des Hessischen Landesmuseums in Kassel ein Jüdisches Museum eingerichtet wurde,54 trat Walter Carl sogleich mit den dafür verantwortlichen Personen in Verbindung und bot Judaica-­Objekte an.55 Auch das 1922 gegründete Optische Museum in Jena gehört zur Kategorie Spezialmuseum56 und so ist es kaum verwunderlich, dass Carl hier ebenfalls Objekte anbot. Was das Verhalten Walter Carls in der Zeit des Nationalsozialismus betrifft, bleibt die Datenlage widersprüchlich. Auffällig ist, dass sein Unternehmen nach 1933 deutlich expandieren konnte. Seine Frankfurter Geschäftsräume erweiterte er 47 Siehe Anm. 39. 48 Korrespondenz Carls mit den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in der Zeit vom 08.11.1938 bis zum 30.12.1938, in: BayHStA München, Nr. R0003 (ohne Paginierung). 49 Korrespondenz Carls mit dem Hessischen Landesmuseum in Kassel, in: MHK-Archiv, Kauf und Tausch, Bd. 15 bis Bd. 39. 50 Korrespondenz Carls mit der Städtischen Kunstsammlung Augsburg, April 1934 bis April 1941, in: KUSA Augsburg, IV/343 Schriftwechsel mit Einzelpersonen bis 31.12.1916, IV/3430 A–E, 1932 bis 31. Dezember 1940 (ohne Paginierung). 51 Siehe die Angaben zu dem von August 2016 bis August 2019 am Museum für angewandte Kunst in Frankfurt am Main laufenden Provenienzforschungsprojekt: https://www. proveana.de/de/link/pro10000088 (letzter Zugriff: 03.02.2022). 52 Auskunft Silke Reuther, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, an die Autoren (19.05.2021). 53 Auskunft Inez Florschütz, Deutsches Ledermuseum Offenbach, an die Autoren (18.05.2021). 54 Vgl. Ekkehard Schmidberger, Rudolf Hallo und das jüdische Museum in Kassel, in: Magistrat der Stadt Kassel (Hg.), Juden in Kassel. 1808–1933, Kassel 1986, S. 59–68. 55 Prof. Luthmer an Walter Carl, 24.08.1927, in: MHK-Archiv, Kauf und Tausch, E1 Bd. 15, S. 1; Walter Carl an Prof. Luthmer, 18.12.1927, in: MHK-Archiv, Auskünfte u. Aufnahmen, D 6 Bd. 7, S. 177; Prof. Luthmer an Walter Carl, 16.05.1928, in: MHK-Archiv, Kauf und Tausch, E 1 Bd. 16, S. 115. 56 Vgl. Hellfritzsch/Mappes, Jena. Die optische Sammlung (wie Anm. 12).

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Mitte der 1930er Jahre beträchtlich.57 Laut einer Mitteilung des Finanzamtes Frankfurt Mitte aus dem Jahre 1946 gelang es Walter Carl, sein persönliches Einkommen im Zeitraum von 1934 bis 1943 annähernd zu vervierfachen. Bei Kriegsende verfügte er über ein Privatvermögen von über 100.000 RM.58

Abb. 6: Inserat der Kunst- und Antiquitätenhandlung Walter Carl, Zeitschrift „Die Weltkunst“ 09.05.1937 Seit September 1939 lebte Carl vorwiegend in Utting am Ammersee und führte sein Frankfurter Geschäft von hier aus weiter.59 Im August 1947 musste er sich vor der Spruchkammer Landsberg am Lech einem Entnazifizierungsverfahren stellen. In dem Verfahren konnte Walter Carl mehrere schriftliche Zeugenaussagen vorlegen, die ihm eine ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus attestierten. Manche dieser Schreiben gehen weit über die sprichwörtlichen „Persilscheine“ hinaus.60 Berl-David Magid (1913–1995), ehemaliger Häftling des Lagers Kaufering, eines Nebenlagers des KZ Dachau, gab an, Carl habe ihn und andere jüdische Häftlinge heimlich mit Kleidung sowie Lebensmitteln versorgt. Inwieweit diese Aussage stimmt, konnte bislang nicht verifiziert werden.61 Ein früherer Angestellter Walter Carls namens Konrad Beutel (1906–?) berichtete, er 57 Siehe Anm. 38. 58 Finanzamt Landsberg/Lech an den öffentlichen Kläger bei der Spruchkammer Landsberg/Lech, 29.11.1948, in: BayStA München K 3093, SpK 9093 (ohne Paginierung). 59 Antrag von Walter und Käthe Carl auf Feststellung von Kriegssachschäden, 195? (Privatbesitz Familie Carl); Landratsamt Landsberg-Oberbayern an Regierung von Oberbayern, München, 05.05.1947, in: BayStA München, RA 78035, ohne Paginierung. 60 Zeugenaussagen in: BayStA München K 3093, SpK 9093, Bl. 16–24. 61 Allerdings sagten auch zwei Einwohnerinnen von Utting aus, Carl habe für jüdische Zwangsarbeiter Kleidung und Lebensmittel gesammelt: Aussage von Rosa Keller, 16.12.1945, in: BayStA München K 3093, SpK 9093, Bl. 21; Aussage Margot Bastian, 15.12.1945, in: ebd., Bl. 20. Berl-David Magid lebte später in Israel, wo er seine Erinnerungen publizierte. Er berichtet darin auch über seine Haftzeit in Dachau und Kaufering. Ein Hinweis auf Walter Carl und das oben genannte Spruchkammerverfahren ist darin allerdings nicht enthalten, vgl. Berl-David Magid, Vos ikh hob tsu dertseyln: bletlekh fun a leben, Tel-Aviv 1992. Unser Dank gebührt an dieser Stelle Frau Stephanie Ligan (Berlin), die die betreffenden Passagen aus Magids Buch übersetzt hat.

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sei als KPD-Mitglied von Verhaftung bedroht gewesen, jedoch habe Carl ihn über mehrere Jahre bei sich „schwarz“ angestellt und so vor dem Zugriff der Behörden geschützt.62 Zugleich gab Beutel allerdings an, Carl habe „auch nach 1933 geschäftlichen Verkehr mit Juden unterhalten […] und von diesen sowohl gekauft als auch an sie verkauft“.63 Bislang gibt es nur wenige Hinweise, wer jene jüdischen Geschäftspartner Carls gewesen sein könnten. Aus dem Jahr 1931 ist eine Verbindung Walter Carls zu dem Kasseler Uhrmacher Seligmann Nußbaum (1893–19?) belegt. Wie lang diese Geschäftsbeziehung andauerte, konnte jedoch nicht ermittelt werden.64 Vom Januar 1939 liegt ein Brief Walter Carls vor, worin er dem Hessischen Landesmuseum in Kassel „einen interessanten frühen Schrank“65 anbot, den er, wie er schrieb, in der Gegend von Kassel „von Juden, die auswandern“66 erworben hatte. Über die Vorbesitzer dieses Möbelstücks ist nichts bekannt.67 Durch die Rekonstruktion der Provenienz von drei Sonnenuhren, die das Optische Museum in Jena bei Walter Carl erworben hatte, wurde deutlich, dass Carl wahrscheinlich einen Teil der von ihm damals angebotenen Objekte von dem Kunsthändler Otto Müller (1875–19?) bezog. Müller, wie Carl in Frankfurt ansässig, war hier als amtlich bestellter Taxator von Kunst und Antiquitäten für die örtlichen Justizbehörden tätig und wirkte u. a. bei der Vorbereitung von Versteigerungen von beschlagnahmtem jüdischem Besitz mit.68 Nach Kriegsende führten 62 Aussage Konrad Beutel, 18.04.1946, in: BayStA München K 3093, SpK 9093, Bl. 24. 63 Ebd. 64 Seligmann Nußbaum war nach der erzwungenen Schließung des Jüdischen Museums in Kassel im Jahre 1933 mit der Auflösung von dessen Sammlungen betraut: Schmidberger, Rudolf Hallo (wie Anm. 54), S. 67 f. Im August 1934 floh er für einige Wochen nach Amsterdam, kehrte dann aber zurück. Noch bis Ende 1937 betrieb Seligmann Nußbaum in der Kasseler Innenstadt ein Geschäft für Uhren-, Gold und Silberwaren. Im Januar 1938 emigrierte er in die USA: Eidesstattliche Versicherung Seligmann Nussbaums vom 04.02.1956, in: HessHStA Wiesbaden, 518, 66473, Bl. 12 f.; Vermerk über die An- und Abreise Nussbaums in: Vremdelingenkaart Dalberg, in: Stadsarchief Amsterdam, Archief van de Gemeentepolitie (ohne Paginierung). 65 Carl an die Direktion des Landesmuseums Kassel, 28.01.1939, in: MHK-Archiv, Kauf und Tausch, Bd. 36, S. 15. 66 Ebd. 67 Das Hessische Landesmuseum in Kassel erwarb den Schrank nicht. Sein Verbleib ist unbekannt. Für den Hinweis auf diesen Brief und weitere Auskünfte dazu danken wir Herrn Günther Kuss von der Museumslandschaft Hessen-Kassel. 68 Selbstverfasster Lebenslauf Otto Müllers, 25.11.1945, in: NARA Washington D.C., M1947, Record: 260, Roll: 0075, p. 39, www.fold3.com/image/231991484 (letzer Zugriff: 03.02.2022); Eidesstattliche Aussage Otto Müllers, 27.12.1945, NARA Washington D.C., M1947, Record: 260, Roll: 0075, p. 47, www.fold3.com/image/231991546 (letzter Zugriff: 03.02.2022). Vgl. Jutta Zwilling, Die Akteure – Ihre Geschichte und Überlieferung, in: Susanne Meinl/Jutta Zwilling (Hg.), Legalisierter Raub. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung in Hessen (Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, 10), Frankfurt am Main 2004, S. 225–570, hier S. 489.

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Ermittlungen der amerikanischen Besatzungsbehörden für Hessen zu dem Ergebnis, dass Otto Müller in der Zeit des Nationalsozialismus Gegenstände aus jüdischem Besitz erwarb und aktiv damit handelte.69 Um an den Besitz von Frankfurter Juden zu gelangen, griff Müller offenbar auch auf Drohungen und Einschüchterungen zurück.70 Bei Gegenständen, die Walter Carl von Otto Müller erworben oder in Kommission genommen haben könnte, besteht daher per se eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass diese aus jüdischem Besitz stammen. Bei drei der vom Optischen Museum erworbenen Sonnenuhren konnte Müller als Vorbesitzer identifiziert werden.71 Zwei dieser Objekte hatte er 1931 bei einer Auktion ersteigert und sie später über Walter Carl dem Optischen Museum in Jena anbieten lassen.72 Die Provenienz jener beiden Sonnenuhren ist damit nachvollziehbar und „unbedenklich“ („grün“). Im Falle der dritten Sonnenuhr konnte nur ermittelt werden, dass Carl sie für Müller dem Optischen Museum anbot. Wann und von wem Otto Müller dieses Objekt erwarb, ist unbekannt. Angesichts der zu Müller vorliegenden biographischen Informationen ist für die dritte Sonnenuhr der vorläufige Status „bedenklich“ („orange“) empfohlen. Ob Müller Vorbesitzer noch weiterer Objekte war, die über Walter Carl in die Sammlung des Optischen Museums gelangten, müssen künftige Forschungen klären. Ebenso bedarf es noch weiterer Recherchen, um eine präzisere Aussage darüber treffen zu können, in welchem Ausmaß Walter Carl von der Judenverfolgung in Deutschland profitierte. Dass er mit Objekten aus jüdischem Besitz handelte, muss jedoch als gesichert gelten. Es ist ein schmaler Grat, anhand der oben dargelegten Informationen zu entscheiden, ob die Objekte, die das Optische Museum in Jena bei Walter Carl erwarb, pauschal als „nicht zweifelsfrei unbedenklich“73 („gelb“) eingestuft wer69 Walter Weber, MFA&A Section, an Rechtsanwalt Max L. Cahn, 25.02.1948 in: NARA Wa­shington D.C., M1947, Record: 260, Roll: 0075, p. 120, www.fold3.com/image/ 231992078 (letzter Zugriff: 03.02.2022); Schreiben des amtlich beauftragten Treuhänders Reinhard Magnus an Walter Weber, Military Government, Dep. Monuments and fine Arts, 17.03.1947, in: NARA Washington D.C., M1947, Record: 260, Roll: 0075, p. 114, www.fold3.com/image/231992036 (letzter Zugriff: 03.02.2022). 70 Mitteilung Wilhelm Ettle btr. Pg. Otto Müller, 15.04.1942, in: NARA Washington D.C., M1947, Record: 260, Roll: 0075, p. 5, www.fold3.com/image/231991223 (letzter Zugriff: 03.02.2022). 71 Korrespondenz zwischen Walter Carl und Moritz von Rohr, Oktober/Dezember 1935, in: DOM, Inv.Nr. 8736100013819 (OM 5), Bl. 71–75r, Bl. 91–93. 72 Annotiertes Handexemplar des Katalogs: Feulner/Helbing, Aus den Beständen zweier deutscher Museen (wie Anm. 41), S. 42 Lot. 584 f. und Lot. 587 f. 73 Kategorisierung der Provenienzen nach der „Farbskala“: Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, Merkblatt für die Erstellung von Zwischen- und Abschlussberichten, S. 4: https://www.kulturgutverluste.de/Content/08_Downloads/DE/Projektfoerderung/ Zwischen-­ Abschlussbericht-Merkblatt.pdf ?__blob=publicationFile&v=8 (letzter Zugriff: 03.02.2022).

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den sollten, oder ob die zu Walter Carl und seinem geschäftlichen Netzwerk vorliegenden Angaben bereits als „Hinweise auf einen Zusammenhang“74 mit „NS-verfolgungsbedingte[m] Entzug“75 ausreichen und zwangsläufig zur Einstufung „orange“ führen müssen. In letzterem Fall wäre dann gesondert zu diskutieren, ob sämtliche Verkäufe, die Walter Carl zwischen 1933 und 1945 tätigte, grundsätzlich als „bedenklich“ („orange“) einzustufen sind und alle mit dem Namen Walter Carl verbundenen Objekte, die in dieser Zeit erworben wurden, konsequent der vom „Zentrum“ betreuten Forschungsdatenbank Proveana gemeldet werden müssen. Dies würde immerhin eine bedeutende Zahl musealer Sammlungen in ganz Deutschland betreffen. Im Zusammenhang mit der Bewertung des Falls Walter Carl muss zudem berücksichtigt werden, dass Walter Carl nach dem Zweiten Weltkrieg auf sein bereits bestehendes Warenlager zurückgreifen und sein Geschäft auf dieser Grundlage weiterführen konnte.76 Die für die NS-Provenienzforschung geltenden Maßstäbe sollten daher auch bei Objekten angewandt werden, die erst nach 1945 bei Walter Carl erworben wurden.77 Nicht zuletzt wäre zu überlegen, ob dann prinzipiell auch Objekte als „belastet“ eingestuft werden müssen, die Walter Carl an andere Händler verkaufte, welche sie ihrerseits an noch heute bestehende Museen und Sammlungen weiterveräußerten. Wie die hier dargestellten Fallbeispiele deutlich machen, ist eine klare Einstufung zwischen 1933 und 1945 erworbener Objekte in „unbedenklich“ oder „eindeutig belastet“ nur selten möglich. Zumeist fehlen grundlegende Informationen zur Provenienz der betreffenden Objekte. Auch Nachforschungen zu den Biographien der betreffenden Einlieferer liefern nicht selten eher uneindeutige Antworten, verweisen auf Grauzonen und ambivalente Verhaltensweisen, lassen Widersprüche zutage treten und werfen neue Fragen auf. Das vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste vorgegebene „Ampelsystem“ ist daher mehr als Richtlinie und Orientierung zu verstehen, nach denen sich die Provenienzforschung richtet. Die häufigsten Einstufungen lauten daher „nicht eindeutig geklärt“ („gelb“) bzw. „bedenklich“ („orange“), was deutlich macht, dass die Provenienzforschung nur selten abschließende Antworten geben kann und die 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Beispielsweise vermerkte ein Bericht der amerikanischen Militärkommandantur in Frankfurt am Main am 22. April 1947, dass in Carls Geschäftsräumen in der Braubachstraße 34 in Frankfurt nach wie vor „most of his wares“ gelagert waren: Military Government Liaison and Security Office Stadtkreis Frankfurt a/Main, APO 633, US Army to Military Government for Greater Hesse, Economic Division, MFA&A Section, 22.04.1947, in: NARA Washington D.C., M 1946, Catalog ID: 3725274, https://www.fold3.com/ image/270014496 (letzter Zugriff: 03.02.2022). 77 Nach Carls Tod am 25. Mai 1956 übernahm seine Witwe das Geschäft und betrieb es noch bis 1963: Karteikarten zur Fa. Walter Carl, in: ISG Frankfurt, Kassen- und Steueramt: Gewerberegister (ohne Paginierung).

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Aufarbeitung des unrechtmäßigen Entzugs von Kunst- und Kulturgut in der NS-Zeit Gegenstand fortgesetzter Forschungen und Diskussionen bleibt.

3. Erinnerung – öffentlicher Umgang mit Unrechts- und Verfolgungskontexten Verschiedene Provenienzforschungsprojekte in Thüringen haben in den letzten Jahren gezeigt, dass nicht nur große und angesehene Kulturinstitutionen wie die Klassik Stiftung Weimar Anlass dazu haben, Verdachtsmomenten im Hinblick auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Sammlungsgut nachzugehen.78 Universitäre Sammlungen und staatliche Museen wie die „Sammlung für Antike Kleinkunst“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena oder das Lindenau-Museum Altenburg sind dieser Verantwortung bereits gefolgt. Durch NS-Unrechtskontexte belastete Objekte können sich in allen musealen Sammlungen befinden und auch neu hinzukommen. Die sehr positiven Erfahrungen im Zusammenhang mit durchgeführten Restitutionsverfahren sollten dazu ermutigen, sich der Thematik künftig intensiver anzunähern. Wenn Schritte unternommen werden, erlittenes Unrecht auszugleichen, ist den Nachfahren eine Geste der Anerkennung begangenen Unrechts als moralische „Wiedergutmachung“ oftmals viel wichtiger als ein materieller Ausgleich. Die Erinnerung an die Schicksale der Opfer und Verfolgten spielt im öffentlichen Umgang mit Unrechts- und Verfolgungskontexten dabei eine besonders wichtige Rolle. Die Meldung an das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste, dass ein NS-verfolgungsbedingter Entzug angenommen wird, ist hierbei oftmals der erste Schritt. Das „Zentrum“ dokumentiert und veröffentlicht die Informationen anschließend in den zu diesem Zweck eingerichteten allgemeinzugänglichen Datenbanken „Lost Art“ und „Proveana“.79 Beide Forschungsdatenbanken sind weltweit kostenfrei zugänglich und bieten öffentlichen und privaten Institutionen sowie Privatpersonen die Möglichkeit, Such- und Fundmeldungen aus den Kontexten NS-Raub- und -Beutegut zu veröffentlichen.80 Im Anschluss wird mittels der Erbenrecherche versucht, die rechtmäßigen Eigentümer ausfindig zu machen, einen Akt der Versöhnung einzuleiten und gegebenenfalls geeignete Restitutionsmaßnahmen zu initiieren. Die heute noch oftmals mit langen Gerichtsprozessen verbundenen Begriffe „Restitution“ und „Wiedergutmachung“ sind hierbei nicht, wie in der Vergangenheit, das Resultat 78 Vgl. Bomski/Seemann/Valk (Hg.), Spuren suchen (wie Anm. 5). 79 Siehe hierzu www.lostart.de und www.proveana.de (letzter Zugriff: 03.02.2022). 80 Andrea Baresel-Brand/Michaela Scheibe/Petra Winter, Ergebnisse der Provenienzforschung, in: Leitfaden Provenienzforschung (wie Anm. 1), S. 83–100, hier S. 90 f.

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juristischer Forderungen der Erben gegenüber Kulturinstitutionen. Durch die von der Washingtoner Konferenz eingeleitete und staatlich geförderte Wende wird das Angebot des Ausgleichs von institutioneller Seite eingeleitet. Die bisherigen Erfahrungen des Provenienzforschungsprojekts „INSIGHT D.O.M.“ bestätigen, dass den Nachfahren – mehr als 75 Jahre nach dem Ende des NS-­ Regimes – kaum oder nur noch sehr wenige familiäre Überlieferungen aus dieser Zeit bekannt sind. Zudem bringen sie der Aufklärung über die unbekannten oder vergessenen Familienschicksale oft großes Interesse und Dankbarkeit entgegen. Die Geste der Anerkennung und des Respekts vor den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung ist hierbei meist ausschlaggebend, sodass beidseitig faire und gerechte Lösungen oft schnell gefunden werden können. Um den Opfern des Nationalsozialismus wenigstens nachträglich Gerechtigkeit zukommen zu lassen, ist es die Aufgabe der Provenienzforschung, nicht nur geschehenes Unrecht verantwortungsvoll aufzubereiten, sondern auch die Erinnerung daran in unserer heutigen Gesellschaft wachzuhalten. Vor diesem Hintergrund sollen die gewonnenen Erkenntnisse zu Opfern, Verfolgten und Profiteuren des NS-Regimes sowie zum herausragenden Verhalten des Sammlungsbetreuers Moritz von Rohr weiterhin öffentlich und transparent präsentiert werden. Über Vorträge auf Tagungen, regionale Aktionstagen – wie der „Langen Nacht der Museen“ – oder überregional zum „Tag der Provenienzforschung“ wurden hierzu Onlineveröffentlichungen und Beiträge in Sammelbänden und Social Media publiziert. Im Rahmen der geplanten Neueröffnung des Museums ist zudem ein öffentlicher und kostenfrei zugänglicher Ausstellungsbereich zur Hausgeschichte und zu den Erkenntnissen der Provenienzforschung als Teil der Dauerausstellung vorgesehen. Diese soll von einer breitenwirksamen Publikation begleitet werden.

M arie-Luis Zahradnik

Das kulturelle Erbe digital erhalten – Dokumentation und Präsentation der jüdischen Friedhöfe im Landkreis Nordhausen

1. Über das Projekt Die jüdischen Friedhöfe in Bleicherode, Ellrich und Nordhausen sind die letzten erhalten gebliebenen und unter Denkmalschutz stehenden Zeugnisse jüdischer Geschichte im Landkreis Nordhausen. Die insgesamt 780 Grabstellen, davon heute noch 622 mit Grabmal, sind vom witterungsbedingten Verfall bedroht. Ein Teil der Inschriften ist kaum noch lesbar. Da die Restaurierung von Grabmalen gegen die jüdische Grabkultur sprechen würde, zudem nicht unbegrenzt möglich ist und außerdem auch sehr kostenintensiv wäre, erfolgt im Rahmen des Projekts „Digitalisierung der jüdischen Friedhöfe im Landkreis Nordhausen zur Konservierung von Denkmälern und Geschichte als Form kommunaler Erinnerungsarbeit“ der Hochschule Nordhausen eine digitale Erfassung der Friedhöfe und ihrer Grabmale. Das Projekt zielt darauf ab, die Grabmale als Sachzeugnisse der jüdischen Regionalgeschichte im Landkreis Nordhausen und damit als kulturelles Erbe in digitaler Form zu erhalten. Die öffentliche Präsentation der Digitalisate sowie Transkriptionen und Übersetzungen der Inschriften und ergänzenden Daten aus Archiven, Museen und Bibliotheken soll Identifikation stiften und das Bewusstsein für Geschichte schärfen. Durch das digitale und damit zeit- und ortsunabhängige Infor­mationsangebot erfolgt zugleich die Förderung kultureller Bildung und Teilhabe, die auch im Rahmen von Citizen Science ergänzt und erweitert werden kann. Das Projekt fügt sich in das Themenjahr „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“ ein. Es wird nach der Richtline zur Förderung von Kultur und Kunst durch die Thüringer Staatskanzlei gefördert. Die Übersetzungen der hebräischen Grabsteininschriften übernimmt das Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, die 3D-Virtualisierung und die Präsentation der Digitalisate über das Digitale Kultur- und Wissensportal Thüringen (www.kulthura.de) die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB) der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Weitere Projektpartner sind die Jüdische Landesgemeinde Thüringen, die Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung, der Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. – Regionale Arbeitsgruppe Thüringen, der Nordhäuser Geschichts- und Altertumsverein e. V., das Stadtarchiv der Stadt Nordhausen, das Museum

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„Flohburg|Das Nordhausen Museum“ und das „Netzwerk Lokalgeschichte“ in Bleicherode. Sie unterstützen das Projekt finanziell, materiell oder fachlich beratend. Die Friedhofsverwaltungen in Bleicherode, Ellrich und Nordhausen unterstützen das Projekt mit aktiver Grünpflege und Beratung. Ihnen allen gilt ein herzlicher Dank.

2. Die Friedhöfe als Träger von Geschichte, Religion und Kultur Im Judentum hat der Friedhof viele Namen. Zu den bekanntesten gehören wohl „Haus der Ewigkeit“, „Haus des Lebens“ oder auch „Hof des Todes“.1 Sie signalisieren: Das Grab ist auf unbegrenzte Zeit vorgesehen. Der Friedhof muss die ewige Ruhe der darauf bestatteten Personen gewährleisten.2 Umbettung und Räumung sind nur ausnahmsweise zulässig.3 Daher wurden die steinernen Zeugnisse meist nicht verändert und bieten eine gute Quelle für die Forschung. Im traditionell einheitlichen Grundschema verbleibend beginnt die Inschrift auf den meisten Grabmalen mit einer Einleitungs- bzw. Begräbnisformel wie etwa „Hier ist begraben“ oder „Hier ist geborgen“, oftmals nur in zwei Zeichen abgekürzt: ‫ פ´´ט‬oder ‫פ´´נ‬.4 Dann folgt eine Eulogie, ein Lobspruch, der der Ehrerbietung gegenüber der verstorbenen Person dient. Namen der verstorbenen Person, gefolgt mit Nennung des Vaters oder des Ehepartners bzw. der Ehepartnerin sowie Wohnort, Geburts- und Sterbe- oder auch das Begräbnisdatum wie sonstige Bezeichnungen bilden den Mittelteil der Inschrift.5 Darunter folgt eine Schlussformel. Auf 1 Sam. 25, 29 zurückgehend lautet sie meist „Seine/Ihre Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens!“, abgekürzt: „‫“ת נ צ ב´´ה‬.6 Alle Grabmale, auf denen Namen noch lesbar sind, stammen aus einer Zeit, zu der die Juden bereits verbindliche Familiennamen hatten. In Bleicherode,

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Vgl. Thomas Blisniewski, Wandlungen der jüdischen Sepulkralkultur im 19. Jahrhundert, in: Claudia Denk/John Ziesemer (Hg.), Der Bürgerliche Tod. Städtische Bestattungskultur von der Aufklärung bis zum frühen 20. Jahrhundert, Regensburg 2007, S. 17–23, hier S. 17. Vgl. Gustav Cohn, Grab und Grabstätten, in: Jakob Klatzkin/Ismar Elbogen (Hg.), Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1928–1931, Bd. 7, Sp. 609–614, hier Sp. 613. Vgl. Samuel Bialobocki, Grab und Friedhof in der Halacha, in: Klatzkin/Elbogen (Hg.), Encyclopaedia Judaica (wie Anm. 2), Sp. 614–621, hier Sp. 614, 619. Vgl. Nathalia Hüttenmeister, Der jüdische Friedhof von Sondershausen, Bd. 2: Juden in Schwarzburg, Dresden 2006, S. 22; Alfred Etzrod/Joachim Fait/Peter Kirchner/Heinz Knobloch, Die jüdischen Friedhöfe in Berlin, Berlin 41991, S. 13, 15. Vgl. Michael Tilly, Das Judentum, Wiesbaden 2018, S. 172. Hüttenmeister, Der jüdische Friedhof (Anm. 4), S. 28.

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Ellrich und Nordhausen mussten sie solche 1808 annehmen,7 als Bleicherode, Ellrich und Nordhausen infolge der Niederlage Preußens gegen Napoleon zum Königreich Westphalen (1807 bis 1813/14) gehörten. Zuvor waren Familiennamen bei den Juden nicht verbreitet, sondern dem Namen, den ein Kind bekam, wurde zur Unterscheidung der Name des Vaters oder des Wohnortes hinzugefügt.8 Viele Grabmale auf den Friedhöfen zeugen von Namen, die auf mehrere Generationen von Familien zurückgehen. Die Eulogien sind besonders auf den Grabmalen aus der Anfangszeit der Friedhöfe mehrheitlich in hebräischer Quadratschrift vorhanden und kunstvoll poetisch und religiös formuliert. Die Interpretation der religiösen Anspielungen von Worten und Wortgruppen aus der Heiligen Schrift des Judentums setzt ein tiefgründiges Wissen der jüdischen Theologie voraus. Die Inschriften berichten nicht nur über die verstorbene Person, ihr Leben und Wirken in ihren gesellschaftlichen und sozialen Rollen. Sie zeigen auch, wie mit Tod, Trauer und Gedenken umgegangen wurde. Im zeitlichen Verlauf wurden die Eulogien auf den Grabmalen kürzer und zumeist in deutscher Sprache auf subjektive Attribute wie „meine liebe Frau“ und „unser guter Vater“, „meine lieben Eltern“ u. Ä. reduziert. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Eulogien zur Ausnahme. Dazu gehören zwei Grabmale auf dem jüdischen Friedhof in Nordhausen. Zum einen betrifft dies die Grabinschrift für die Verstorbene Johanna Sander, geb. Seemann (14.10.1836–14.05.1904): „Die treuste Gattin, die liebevollste sorgsamste Mutter. Durch ihre Reihe Tugenden geehrt von ihren Mitmenschen, innig geliebt von den Ihrigen, wird sie ihren tieftrauernden Gatten und Kindern unvergessen sein.“ Zum anderen ist auf der Rückseite des Sockels vom Doppelgrab für die Verstorbenen Eduard Lichtenstein (04.05.1849–09.09.1903) und Ida Lichtenstein geb. Blumenthal (24.09.1861–04.06.1930) der Verlust für die Angehörigen in Reimform eingraviert: „Im Schosse dieser Gruft, in kühler Erde ruht Der höchste Reichtum, den wir einst besessen haben! – O Gott, ein kalter Stein deckt unser höchstes Gut, Denn unser Glück, − hier liegt’s für alle Zeit begraben!“ Eine weitere Ausnahme ist auf dem jüdischen Friedhof in Ellrich zu sehen. Hier enthält ein jüngeres Grabmal, das um 1915 gesetzt wurde, sowohl auf der Vorderseite in hebräischer Sprache als auch auf der Rückseite in deutscher Sprache jeweils eine traditionelle Eulogie. So huldigten die Angehörigen den verstorbenen Josef ben Israel Baumgarten (Rudolf Baumgarten, 05.03.1883– 08.01.1915) auf einem opulenten Granitgrabstein. Vorderseite (vom Hebräischen ins Deutsche übersetzt): 7 8

Art. 14 des Königlichen Dekrets vom 31. März 1808 (Gesetz=Bülletin des Königreichs Westphalen 1808/I, S. 521). Vgl. Max Gottschald, Deutsche Namenskunde. Unsere Familiennamen nach ihrer Entstehung und Bedeutung, Berlin 1954, S. 124.

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Hier ist begraben der sehr teure Mann, wunderbar an guten und verehrungswürdigen Tugenden, der toragelehrte Herr Josef, Sohn des toragelehrten Herrn Israel Baumgarten, ›Friede über ihn‹, ›er erwarb sich einen guten Namen‹ durch seinen freigebigen Geist, denn er war eine Stütze den Darbenden, ›Bedrückte brachte er ins Haus‹ und leitete sie mit seinem guten Rat. Verschieden im Alter von zweiunddreißig Jahren am 22. Tag des Tewet 675 der kleinen Zählung. Seine Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens! (Übersetzung: Nathanja Hüttenmeister – Steinheim-Institut, Essen, 2021) Rückseite (deutsche Inschrift): Hier ruht in Gott Mein innigst geliebter Mann, seines Kindes treusorgender Vater, unser herzensguter Sohn und Bruder Rudolf Baumgarten geb. den 5.März 1883, gest. den 8. Januar 1915 In der Blüte seines hoffnungsreichen Lebens. Allen Armen und Bedrückten Ein wahrer Helfer und edler Freund! Auch Sprache und Platzierung der Grabinschriften unterlagen einem zeitlichen Wandel. Zu einer Inschrift in hebräischer Sprache auf der Vorderseite ergänzende Inschriften in deutscher Sprache befinden sich auf dem Sockel oder auf der Rückseite. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts zeigen die Grabmale, dass es immer mehr gebräuchlich wurde, auf der Vorderseite die deutsche Sprache zu verwenden und mitunter die vereinheitlichten Formeln wie die Einleitungsfloskel und Segenswünsche in Hebräisch zu belassen. Vermehrt wurden die Phrasen „Hier ruht in Gott“ und „Hier ruht in Frieden“ als Einleitung und als Schluss wie „Selig sei deine Asche“ bzw. „Friede ihrer/seiner Asche“ für einen jüdischen

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Segen verwendet. Bei der Bestattung sowie Grabgestaltung war es häufig üblich, dass die Textinhalte und die Sprache der Grabinschriften unter dem Einfluss der örtlichen Beerdigungsbruderschaften standen,9 worauf auch § 3 des Statuts des Beerdigungsvereins der jüdischen Gemeinde in Nordhausen aus dem Jahr 1855 hindeutet: Außerdem hat der Vorstand die Aufsicht über den Gottesacker, den Leichenwagen und sonstigen Utensilien, er besorgt die Anweisung der Grabstelle, führt ein Verzeichniß über die Gräber und sorgt dafür, daß beim Setzen der Grabsteine der dazu bestimmte Raum nicht überschritten werde, die Inschrift auch nichts enthält, was gegen den jüdischen Ritus streitet.10 Die zunehmende Verwendung der deutschen Sprache auf den Grabmalen belegt, dass diese in der Gemeinde gepflegt wurde und auch im sprachlichen Alltag der Juden verwurzelt war. Dies ging einher mit der bürgerlichen Gleichstellung, den Erneuerungen der jüdischen Gemeindestrukturen und dem ermöglichten Zugang zur Bildung unter der westphälischen und später preußischen Herrschaftszeit. Mit der Aufgabe der traditionellen Grabmalgestaltung sind Identität, Tradition und Kultur weniger dokumentiert und für Forschungszwecke auswertbar. Der unterschiedliche zeitliche Verlauf dieses Wandels legt jedoch Schlussfolgerungen in Bezug auf die Entwicklung der religiösen Kultur und der Assimilation in der jeweiligen Gemeinde nahe.

3. Das Friedhofsareal in Bleicherode Der jüdische Friedhof in Bleicherode ist der älteste noch erhaltene im Landkreis Nordhausen, gefolgt von dem in Ellrich und dem in Nordhausen. Neben der „Alten Kanzlei“ in der Hauptstraße 131, in der sich bis zum Synagogenbau 1880/82 das Betlokal befand, und vereinzelten Villen ehemaliger Fabrikanten aus der jüdischen Gemeinde gehört der Friedhof zu den wichtigsten Zeugnissen der jüdischen Vergangenheit in Bleicherode.11 Er liegt am Nordhang des Vogelsbergs in der Flur 10 auf dem Flurstück 1055, das ca. 64 a groß ist und bis zur

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Vgl. Bernhard Brilling, Streit um die deutsche Beschriftung jüdischer Grabsteine. Tradition und Erneuerung, in: Zeitschrift der Vereinigung für religiös-liberales Judentum in der Schweiz 1970, S. 524–527, hier S. 524. 10 LATh-StA Gotha, Regierung Erfurt, Nr. 7595, Bl. 83. 11 Vgl. Hans-Joachim Diedrich, Zur historischen Entwicklung der Stadt Bleicherode – eine chronologische Übersicht –, 8. Teil, Die Geschichte der jüdischen Gemeinde (1465– 1945), 1967, später veröffentlicht in mehreren Teilen unter dem Titel „Zur 500jährigen Geschichte der jüdischen Gemeinde in Bleicherode und Umgebung“ im Nachrichtenblatt der jüdischen Gemeinde von Groß-Berlin und des Verbandes der jüdischen Gemeinden in der DDR, mehrere Ausgaben in den Jahren 1973 bis 1975.

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Schustergasse hinabreicht.12 Der Friedhof wurde im Süden beginnend hangabwärts angelegt und füllt die oberen ca. 33 a des Flurstücks aus. Aus einer chronologischen Darstellung der historischen Entwicklung der Stadt Bleicherode von Diedrich geht hervor, dass die jüdische Gemeinde das Friedhofsgelände im Jahr 1728 erwarb. Während im 17. Jahrhundert in Bleicherode keine Juden geduldet waren, ließen sich Anfang des 18. Jahrhunderts viele Juden in Bleicherode nieder. Im Jahr 1728 lebten dort inzwischen 155 Juden. Ihre Anzahl wuchs in der Folgezeit weiter.13 Aktuell existieren auf dem Friedhof noch etwa 227 Grabstellen auf 12 terrassenförmigen Ebenen. Die 194 erhaltenen Grabsteine und vier Metalltafeln zeigen mit ihrer Vorderseite in Richtung Norden. Damit unterscheidet sich der Friedhof von anderen jüdischen Friedhöfen. Zwar nicht verbindlich, aber doch üblich geworden ist nämlich eine Ausrichtung der Gräber nach Osten. Auf manchen alten Friedhöfen sind sie jedoch zum Ausgang hin ausgerichtet.14 So ist das auch in Bleicherode. Im Norden des Friedhofs liegt dessen Ausgang zur Schustergasse. Aufgrund der Hanglage wäre eine andere Ausrichtung der Gräber auch kaum möglich gewesen. Der Friedhof in Bleicherode hat im großen Maß ein zauberhaft romantisches Ambiente. Von der Schustergasse aus führt eine Allee in Serpentinen den Berg hinauf in den Bereich, in dem sich die Gräber befinden. Dieser Bereich ist durch einen Zaun abgegrenzt. Unterhalb befinden sich Terrassen, die nicht mehr mit Gräbern belegt wurden. Die Belegung des Friedhofs begann am oberen Bereich unterhalb der Felssteinmauer, wo der Friedhof durch einen weiteren Zugang von der Straße „Vogelsberg“ herkommend betreten werden kann, hangabwärts in Richtung Schustergasse. Auf dem Friedhof wachsen Laub- und Nadelbäume sowie Sträucher. Während die Baumallee und eine Hecke aus Sträuchern auf einem Wall nach der elften Grabreihe beabsichtigt angelegt wirken, dürften Bäume, Efeu und manche Sträucher, die z. B. auf Gräbern wachsen, sich natürlich verbreitet haben. Direkt am noch existierenden Eingang in der Schustergasse befand sich ein um 1866 errichteter Schuppen für den Leichenwagen, dessen Bodenplatte und Reste der Felssteinwand noch zu sehen sind. Ebenso befindet sich dort ein mit Backsteinen eingefasster Brunnen. Vom südlichen Eingang aus sind die Terrassen über einen Treppenweg an der westlichen Grundstücksgrenze erreichbar. Einen zweiten Treppenweg gibt es in der Mitte der Terrassen. Manche Abstände zwischen den Grabmalen und dem Ende der jeweiligen Terrasse sind so eng, dass man nicht mehr zum Grab 12 GeoProxy Thüringen, https://www.geoportal-th.de/de-de/Geoproxy (letzter Zugriff: 18.02.2022). 13 Vgl. Diedrich, Zur historischen Entwicklung der Stadt Bleicherode (wie Anm. 11), S. 33 f. 14 Vgl. Cohn, Grab und Grabstätten (wie Anm. 2), Sp. 614.

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gelangt, ohne Gefahr zu laufen, abzustürzen. Hier halten Bäume und kleine Hecken die Erde fest und schützen vor ihrem weiteren Abrutschen. Laut Heberolle aus dem Jahr 1928/29 plante die Gemeinde für 1.500 Mk. ein Friedhofsdenkmal für Kriegsgefallene.15 Ein solches ist auf dem Friedhof heute jedoch nicht zu sehen. Soweit die derzeit noch andauernde Identifizierung der Verstorbenen auf den Grabmalinschriften erste Feststellungen zulässt, wurden männliche und weibliche Verstorbene in gemischten Reihen zusammen beigesetzt. Bei den älteren Gräbern in den ersten elf Reihen im Süden, wurden die Gräber in Form von Einzelgräbern chronologisch angelegt. Bei verstorbenen Ehepaaren wurde oft eine identische Grabsteingestaltung als Zeichen der familiären Zugehörigkeit gewählt. Ab der zwölften Reihe, angelegt ab den 1890er Jahren, kommen vermehrt Doppelgräber von Familien vor. Von dem Brauch, die Verstorbenen nicht mit ihren Familienangehörigen zu bestatten, sondern den Friedhof in der Reihenfolge des Todes mit Einzelgräbern zu belegen,16 hat sich die Gemeinde ab dann offenbar entfernt. Interessant ist, dass trotz allgemein hoher Kindersterblichkeit bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts bis zum jetzigen Stand der Dokumentation lediglich ein Kindergrab eindeutig identifiziert werden konnte,17 das sich innerhalb einer Grabreihe von ansonsten erwachsenen Verstorbenen befindet: das Grab des am 26. Januar 1907 verstorbenen zehnjährigen Kindes Käthchen Wallach in der 14. Reihe. Drei kleine umrandete Gräber, davon zwei mit Kissensteinen,18 deren Inschriften nicht mehr lesbar sind, in der 12. Reihe könnten ebenso Kindergräber sein. Ein Akteneintrag aus dem Jahr 1856 verweist auf die Vorbereitungen einer Beerdigung der vier Monate alten Johanne Salomon, die in Bleicherode verstarb, nachdem sie mit ihren Eltern, Emanuel Salomon aus Amsterdam und seiner Frau, am Vortag angereist war.19 Jedoch ließ sich ein Grabmal dazu auf dem Friedhofsareal bisher nicht entdecken. Dass in den Rei15 Vgl. Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, 1 A Bl 1, Nr. 13, #825, Bl. 21. 16 Vgl. Cohn, Grab und Grabstätten (wie Anm. 2), Sp. 614. 17 Die Sterblichkeit im Alter bis 15 Jahre lag bei den Juden in Preußen 1890 bei 32 %, 1900 bei 23 % und 1910 bei 13 %; vgl. Shulamit Volkov, Erfolgreiche Assimilation oder Erfolg und Assimilation: Die deutsch jüdische Familie im Kaiserreich, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs zu Berlin 1982/1983, S. 373–387, hier S. 380. Zudem sind Einträge im Sterberegister von Bleicherode im Kreisarchiv Nordhausen ab 1875 beginnend enthalten, die allein in den Jahren von 1875 bis 1882 sieben Kinder im Alter von einem Monat und zwei Jahren und einen elfjährigen Jungen nennen. 18 Kleine Pult- und Kissensteine wurden oft für die Gestaltung von Gräbern von Kindern und Alleinstehenden eingesetzt; vgl. Michael Brocke/Christiane E. Müller, Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Deutschland, Leipzig 2001, S. 26. 19 Vgl. KA Nordhausen, Bleicherode A/664, Schreiben vom 30.05.1856.

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hen kaum Kindergräber zu finden sind, legt nahe, dass die meisten Kinder separat ihre letzte Ruhestätte fanden, wie es auch in Ellrich und Nordhausen der Fall war.20 Möglicherweise wurden sie im südlichen baumbestandenen Bereich zur Steinmauer hin mit Holztafeln bestattet. Durch die schnelle Verwitterung von Holz können solche Grabstellen heute nicht mehr gefunden werden.21 Eine Urnenbeisetzung von 1908 weicht von der jüdischen Bestattungskultur ab. Jacob Heinemann Michaelis, geb. 21. Oktober 1838 in Niedenstein, wurde laut Inschrift am 1. Juni 1908 eingeäschert. Seine Frau Clara, geb. Schönfeld, starb am 19. Oktober 1935 und wurde traditionell bei ihrem Mann beerdigt. Die Urnenbeisetzung bleibt auf dem Friedhof die Ausnahme. Die älteren Grabsteine sind vergleichbar groß und schlicht gehalten. Sie bestehen vorrangig aus Sandstein, selten mit Texttafeln aus Glas, Granit oder Gusseisen. Erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Grabmale aus hochwertigeren Steinen wie Granit oder Marmor verwendet, die mitunter auf Sockel gestellt wurden. Es verbreiteten sich individuellere Formen und Größen, und die Gräber erhielten zunehmend Grabumrandungen aus Stein. Wenige Steinmetze haben ihren Namen auf den Grabsteinen hinterlassen. So sind Carl Lüttig und A. Wilhelm aus Nordhausen vertreten. Auch aus Berlin wurde ein Steinmetz beauftragt: Ephrahim Wappenstecher, 1819. Soweit die Schriften auf den Grabmalen noch lesbar sind, können zur Verwendung der deutschen und der hebräischen Sprache nach einer ersten Analyse folgende Aussagen getroffen werden:

20 So auch im nahen Sondershausen; vgl. Hüttenmeister, Der jüdische Friedhof von Sondershausen (wie Anm. 4), S. 12. 21 Holztafeln waren neben Grabsteinen zur Kenntlichmachung eines Grabes im Judentum gebräuchlich, vgl. Blisniewski, Wandlungen der jüdischen Sepulkralkultur (wie Anm. 1), S. 18. Die Steinsetzung war früher für Unverheiratete unüblich; vgl. Brocke/Müller, Haus des Lebens (wie Anm. 18), S. 26.

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Tab. 1: Verwendete Sprache auf den jüdischen Grabsteinen in Bleicherode Vorderseite nur hebräische Schrift

110

– davon auf der Rückseite hebräische Schrift



– davon auf der Rückseite deutsche Schrift

60

Vorderseite zweisprachig mit deutschem Mittelteil

28

– davon Einleitungsformel und Schlussformel hebräisch

26

– davon nur Einleitungsformel hebräisch

2

– davon nur Schlussformel hebräisch



– davon auf der Rückseite hebräische Schrift



– davon auf der Rückseite deutsche Schrift



Vorderseite nur deutsche Schrift

39

– davon auf der Rückseite hebräische Schrift

13

– davon auf der Rückseite deutsche Schrift



Die zweisprachigen Grabmale sind vor allem ab den 1890er Jahren festzustellen. Ab den 1920er Jahren sind keine hebräischen Segenswünsche mehr zu finden. Dafür wird durch das Symbol des Davidsterns (Magen David) die religiöse Zugehörigkeit und Identität der verstorbenen Person dargestellt. Soweit die Inschriften auf den Grabsteinen eine Analyse zulassen, zeigt diese ein ausgewogenes Verhältnis weiblicher und männlicher Bestatteter. Das durchschnittliche Sterbealter liegt bei den erwachsenen Männern bei 58 Jahren, bei den erwachsenen Frauen bei 65 Jahren. Viele Grabsteine tragen Verzierungen und Symbole. Vier Grabsteine sind mit einem Auge in einem Dreieck und von Strahlen umgeben verziert, das nicht jüdischer Herkunft ist. Es symbolisiert die Allgegenwart Gottes, darf jedoch nicht mit dem gleich gestalteten christlichen Symbol der Dreifaltigkeit gleichgesetzt werden.22 Neun Grabmale tragen einen Davidstern. Durch die Dokumentation ist ersichtlich, dass dieses Symbol ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vermehrt nach 1927 vorkommt. Ein weiteres, selten zu findendes 22 Vgl. Nathanja Hüttenmeister, Nicht jüdische Symbolik und Ornamentik http://spurensuche.steinheim-institut.org/njsymb.html (letzter Abruf: 15.01.2022); Etzrod/Fait/ Kirchner/Knobloch, Jüdische Friedhöfe (wie Anm. 4), S. 11.

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Symbol auf dem Friedhofsareal ist das Herz. Das Motiv wurde dem 1816 verstorbenen Baruch Bendix Rosenblatt gewidmet. Eigentlich gehört es zu den jüdischen Namenssymbolen und geht zurück auf Gen 49,21, wo der biblische Stamm Naftali mit einem Hirsch verglichen wird. Bekannte Vor- und Zunamen wie „Hirsch“, „Hirz“ und „Herz“ leiten sich davon ab.23 Nach genauerer Untersuchung dient das Herz auf dem Grabsteingiebel aber nur als Schmuckelement, das vermutlich Liebe und Verbundenheit symbolisieren soll. Da es nicht auf den Namen (Familiennamen) verweist, ist es hier kein jüdisches Symbol. Trotz seiner auf den ersten Blick sehr traditionellen Gestaltung handelt es sich hier um ein für seine Zeit sehr modernes Grabmal, das eine hebräische mit einer deutschen Inschrift in hebräischen Buchstaben kombiniert. Ein weiteres bisher einmaliges älteres Schmuckelement ist die Troddel bzw. Volute auf dem Grabstein des verstorbenen Sussmann ben Aharon Frühberg (06.02.1809–14.07.1829). Das einzige auf dem Friedhof befindliche Grabmal mit einer abgebrochenen Säule als Grabstein wird geziert durch Rosen und Bänder. Die Rose wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als Symbol der Vergänglichkeit aus der christlichen Trauerkultur entlehnt und steht symbolisch für die Erneuerung des Lebens.24 Die Säule als jüdisches Stilmittel symbolisiert nicht nur die drei Säulen des Glaubens, nämlich Gott, Thora und Gesetze, die den Gläubigen im Alltag begleiten, sondern steht auch für den frühen Tod eines Menschen.25 Häufig wurden für die künstlerische Gestaltung Palmenwedel und eine florale Verzierung wie Blumenkränze mit Bändern verwendet. Das Lorbeerblatt und der Palmwedel stammen aus der Antike. Ersteres steht für Festfreude und musische Künste. Letzteres steht für den Sieg des Glaubens über den Tod sowie für die Auferstehungsverheißung also für die Unsterblichkeit. Die Mohnblume und die Mohnkapsel sind auch beliebte Motive. Der Mohn symbolisiert Schlaf und Tod und ist ein aus der Antike kommendes Todessymbol.26 Auch der Schmetterling ist aus der Antike entlehnt und auf einem Grabstein als Verzierung verwendet worden. Er steht symbolisch zum einen für die Flüchtigkeit des Lebens, zum anderen für die Auferstehung.27 Generell werden Texte und Schmuckelemente in den Inschriften ab den 1910er Jahren weniger und durch Steinformen ersetzt. Auffällig sind die rund zehn großen, aber schlichten schwarzen Marmor- bzw. Granit-Obelisken vorrangig auf Doppelgräbern, die in einer Gruppe auf dem Friedhof stehen.

23 Vgl. Nathanja Hüttenmeister, Jüdische Symbolik, http://spurensuche.steinheim-institut.org/jsymb.html (letzter Abruf: 15.01.2022). 24 Vgl. Hüttenmeister, Nicht jüdische Symbolik und Ornamentik (wie Anm. 22). 25 Vgl. Etzrod/Fait/Kirchner/Knobloch, Jüdische Friedhöfe (wie Anm. 4), S. 11, 75. 26 Vgl. Hüttenmeister, Nicht jüdische Symbolik und Ornamentik (wie Anm. 22). 27 Vgl. ebd.

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4. Das Friedhofsareal in Ellrich Die wachsende jüdische Gemeinde in Ellrich brauchte nicht nur einen religiösen Ort wie eine Synagoge für die Lebenden, sondern auch einen Ort für ihre Verstorbenen. Der erste bekannte jüdische Friedhof lag vor dem Wernaer Tor, zwischen dem Hoffmann’schen und dem Nebelung’schen Grundstück sowie zur Straßenseite hin.28 Er geht auf die Zeit der ersten Ansiedlung von Juden im 14. und 16. Jahrhundert zurück.29 1782 erwarb die jüdische Gemeinde an der Töpferstraße nahe der Jüdenstraße ein Grundstück, um einen neuen Friedhof darauf zu errichten. Für 1787 wird berichtet, dass in Ellrich 114 Juden lebten.30 Aus den Haushaltsplänen und dem Gemeinderegister der jüdischen Gemeinde wird ersichtlich, dass die Blütezeit mit 120 bis 150 Mitgliedern zwischen 1810 und 1840 war und es ab den 1870er Jahren einen beständigen Rückgang der Mitgliederzahl gab. Infolgedessen lebten um 1920 noch neun und 1925/26 bereits nur noch vier Juden in Ellrich, die zumeist verwitwet oder ledig im höheren Alter waren.31 Unter den 76 noch vorhandenen Grabstellen befinden sich 64 mit einem Grabstein. Aus dem Austausch mit Anwohnenden ergab sich die von mehreren Seiten bestätigte Information, dass der Friedhof sich nicht mehr in seinem

28 Vgl. KA Nordhausen, Ellrich, A/245, Jüdische Synagogengemeinde mit Satzung der Synagogengemeinde zu Ellrich 22. Juli 1907, Schreiben der Polizeiverwaltung, Polizei-Oberwachtmeister Hoffmann, sowie Erwähnung im Statut der jüdischen Gemeinde, dort in § 56 („Von dem Begräbnisplatze der Gemeinde“), Bl. 154. 29 Nach der Satzung der Synagogengemeinde von 1907 und ausweislich deren Etatlisten erhielt die Gemeinde zwischen 1909 und 1914 eine Pacht für den alten Friedhof am Wernaer Tor; vgl. KA Nordhausen, Ellrich, A/245, siehe Heberollen von 1909 bis 1913, Bl. 167–184. Um 1929/30 wurde die jüdische Gemeinde angehalten, den stark verfallenen Gartenzaun zwischen dem Hoffmann’schen und dem Nebelung’schen Grundstück zur Straßenseite mit Bürgersteig zur öffentlichen Sicherheit instandzusetzen. Pächter des Gartens war zu diesem Zeitpunkt der Aufseher Louis Lehmann, wohnhaft am Wernaer Tor. Aus dem Schreiben geht hervor, dass die Stadt Ellrich Eigentümerin des Grundstücks war und die jüdische Gemeinde ein Nießbrauchsrecht hatte; vgl. ebd., Schreiben der Polizeiverwaltung, Polizei-Oberwachtmeister Hoffmann sowie die Schreiben vom 13.01. und 03.02.1930, o. S. 30 Vgl. Helmut Drechsler, Die Geschichte der Ellricher Juden von der Jahrhundertwende bis 1945, in: Meyenburg-Museum (Hg.), Beiträge zur Heimatkunde aus Stadt und Kreis Nordhausen, Nordhausen 1983, S. 43–51, hier S. 44, mit Verweis auf das Rote Buch der Evangelischen Kirchengemeinde Ellrich. 31 Vgl. KA Nordhausen, Ellrich A/917, Anmeldung jüdischer Gewerbebetriebe, hier Verzeichnis der jüdischen Gewerbebetriebe in Ellrich u. KA Nordhausen, Ellrich A/245, hier Haushaltsplan der Synagogengemeinde zu Ellrich für das Steuerjahr vom 1. April 1925 bis 31. März 1926.

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ursprünglichen Zustand befinde, da um die 1940er und 1950er Jahre teilweise Räumungen vorgenommen worden seien. Vom heutigen Eingang führt eine Baumallee in S-Form verlaufend zum anderen Ende des ca. 24 a großen Areals.32 Hier wurden der Leichenwagen und die Trauergesellschaft durchgeführt. Die älteren Gräber nördlich des Eingangs sind in nach Geschlecht getrennten Reihen angelegt, wie es auf vielen alten jüdischen Friedhöfen zu finden ist.33 So sind die Frauen in den ersten neun noch sichtbaren Reihen bestattet worden, dann folgten die Reihen der männlichen Verstorbenen. Rund 42 % der Grabsteine, auf denen die Namen noch lesbar sind, gehören Frauen. Ab den 1870er Jahren und besonders nach 1900 beschränkt sich die hebräische Sprache zunehmend auf die Einleitungs- und Schlussformeln. Familiengräber sind auf dem Friedhof nicht zu finden. Zwar gibt es oft in Gestaltung und Steinmaterial identische Grabsteine, was nahelegen könnte, dass die Verstorbenen derselben Familie angehören, doch wurde unter diesen bisher nur ein Ehepaar festgestellt: Julius und Julie Richter. Auf dem Friedhof sind in einer Reihe zwei identisch gestaltete Einzelgräber zu sehen, die jeweils eiserne Gitter und eine Steinpultplatte, jeweils ohne Inschrift und somit ohne Identifizierbarkeit der Verstorbenen,34 aufweisen. Es liegt die Vermutung nah, dass über diese Gestaltung auch eine familiäre Zugehörigkeit signalisiert wurde. Nach 1877 wurde die traditionelle Belegung weniger berücksichtigt und es kam zu Reihen mit Verstorbenen beiderlei Geschlechts. Südlich des Eingangs existieren noch zwei erhaltene kleine eng beieinander befindliche umrandete Gräber ohne Grabstein. Vermutlich liegen sie in dem Bereich, der für die Bestattung von Kindern vorgesehen war. Jedoch befindet sich auf dem Areal der erwachsenen Verstorbenen nachweislich auch ein bestattetes Kleinkind: Zerle bat Jecheskel (Else Meyer), die im frühen Alter von knapp vier Monaten am 20. April 1877 starb. Der jüdische Friedhof in Ellrich weist eine lange Anwendung der traditionellen Inschrift mit vorwiegend hebräischem Text mit Eulogien auf der Vorderseite des Grabsteins auf, die sogar auf den wenigen Grabmalen nach der Jahrhundertwende zu finden sind, lediglich dann verstärkt in deutscher Sprache. Eine Ausnahme bildet ein Grab aus dem Jahr 1889, das ohne hebräische Inschrift und ohne Segenswünsche der modernen Grabsteingestaltung folgt. Diesem Schema folgten erst wieder Grabsteine aus dem Jahr 1912 und 1922. 32 GeoProxy Thüringen, https://www.geoportal-th.de/de-de/Geoproxy. 33 Vgl. Brocke/Müller, Haus des Lebens (wie Anm. 18). S. 22; Tilly, Das Judentum (wie Anm. 5), S. 172. 34 Das Gitter als Schmuckelement signalisiert eine Erneuerung der Bestattungskultur. Bis in die frühe Neuzeit hinein war es nicht üblich, Grabstellen mit Hecken oder Gittern zu kennzeichnen; vgl. Blisniewski, Wandlungen der jüdischen Sepulkralkultur (wie Anm. 1), S. 18.

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Soweit die Schriften auf den Grabmalen noch lesbar sind, können zur Verwendung der deutschen und der hebräischen Sprache nach einer ersten Analyse folgende Aussagen getroffen werden: Tab. 2: Verwendete Sprache auf den jüdischen Grabsteinen in Ellrich Vorderseite nur hebräische Schrift

51

– davon auf der Rückseite hebräische Schrift

3

– davon auf der Rückseite deutsche Schrift

20

Vorderseite zweisprachig mit deutschem Mittelteil

4

– davon Einleitungsformel und Schlussformel hebräisch

3

– davon nur Einleitungsformel hebräisch



– davon nur Schlussformel hebräisch

1

– davon auf der Rückseite hebräische Schrift



– davon auf der Rückseite deutsche Schrift



Vorderseite nur deutsche Schrift

7

– davon auf der Rückseite hebräische Schrift



– davon auf der Rückseite deutsche Schrift

1

Aus den Inschriften lässt sich die Vermutung ableiten, dass sich die Gemeinde später assimilierte als die Gemeinden in Bleicherode und Nordhausen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die konservativen Mitglieder in Ellrich blieben und wirkten, während es wohl eher junge, liberal und modern eingestellte Juden waren, die wegzogen, etwa nach Nordhausen, wo die Gemeinde reformorientiert war.35

35 Vgl. Marie-Luis Zahradnik, Vom reichsstädtischen Schutzjuden zum preußischen Staatsbürger jüdischen Glaubens. Chancen und Grenzen der Integration der Nordhäuser Juden im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung, 37), Nordhausen 2018.

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5. Das Friedhofsareal in Nordhausen Der jüdische Friedhof in Nordhausen ist mit einer Fläche von ca. 50 a und mit 477 Grabstellen, darunter 354 mit Grabstein und fünf mit Metalltafel sowie einer mit Glastafel, und einem Grabdenkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten aus der Gemeinde der größte der noch erhalten gebliebenen jüdischen Friedhöfe im Landkreis Nordhausen. Nicht nur die ornamentale Kunst allein macht ihn zum besonderen Denkmal, sondern ebenso die Verdeutlichung von religiöser Sitte bis hin zum Bruch mit der traditionellen Friedhofskultur im 19. Jahrhundert. Die jüdische Synagogengemeinde wurde um 1808 neu gegründet, seit sich unter westphälischer Herrschaft Juden wieder in Nordhausen niederlassen durften.36 Durch die wachsende Zahl ihrer Mitglieder sowie durch deren Wirtschaftskraft war es möglich, Boden auf dem „Töpferfelde“ zu erwerben und als Friedhof zu nutzen.37 Dass der Friedhof heute mitten in der Stadt liegt, ist auf das Wachstum Nordhausens zurückzuführen. Früher lag der Friedhof außerhalb der Stadt, so schon gefordert in der Mischna,38 der bis 200 n. Chr. entstandenen ersten Verschriftlichung der mündlichen Tora. 1826 wurden für die Errichtung einer 1,20 m bis 2,00 m hohen Friedhofsmauer Geldspenden gesammelt und Anleihen aufgenommen.39 Die Einweihung des neuen Friedhofs erfolgte am 1. September 1828.40 Die Anlage wurde in den Jahren 1854 und 1865 durch den weiteren Kauf von Land vergrößert.41 Das ältere Areal war durch einen Eingang im Osten zu erreichen. Heute befindet sich dort der Urnenhain. Der erste Eingang wich dem neuen eisernen Toreingang mit Magenstern im Westen, der bis heute existiert und im Spätsommer 2019 saniert wurde. Zwei Jahre nach dem letzten Grundstückskauf wurde 1867 ein Leichenhaus, in dem auch die Friedhofswächter wohnten, und ein Stall auf dem Gelände erbaut. Mit dem Bau wurden der Maurermeister Friedrich Hartmann und der

36 Zur Geschichte der Juden in Nordhausen im 19. Jahrhundert vgl. ausführlich ebd. 37 § 68 Gemeindestatut vom 11. Oktober 1855; Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Archiv: CJA, 1, 75 A No. 2, Nr. 8#5425, Bl. 79–94. 38 Im Traktat Baba batra, Kapitel 2, Lehrsatz 9 heißt es: „Man entferne Kadaver, Gräber und eine Gerberei von der Stadt fünfzig Ellen.“ Zitiert aus D. Walter Windfuhr, Baba batra („Letzte Pforte“ des Civilrechts), Gießen 1925, S. 25, 27. 39 Vgl. Heinrich Stern, Geschichte der Juden in Nordhausen, Nordhausen 1927, S. 57. 40 Vgl. Hermann Heineck, Geschichte der Stadt Nordhausen 1802–1914, in: Magistrat der Stadt Nordhausen (Hg.), Das tausendjährige Nordhausen. Zur Jahrtausendfeier, Bd. 2: Geschichte der Stadt Nordhausen, Nordhausen 1927, S. 1–302, hier S. 133. 41 Vgl. Michael Brocke/Eckehart Ruthenberg/Kai Uwe Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), Berlin 1994, S. 528.

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Zimmermeister August Beatus, beide aus Nordhausen, beauftragt.42 In einem Stein im Sockel rechts des Hauses ist „Hier ist geborgen“ mit zwei hebräischen Buchstaben ‫ פ נ‬eingearbeitet, die heute noch zu sehen sind. Wie aus dem Bauaktenarchiv der Stadt Nordhausen hervorgeht, bat die Synagogengemeinde am 30. August 1900 die Polizeiverwaltung um die Erlaubnis zum Bau einer beheizbaren „Wartehalle“, ebenso als „Leichenhalle“ benannt, an das bestehende Leichenhaus, das dann nur noch den Friedhofswächtern zum Wohnen dienen sollte, mit Durchgang zwischen beiden Gebäuden.43 Die geplanten Baukosten sollten den Wert von 4.000 Mark nicht überschreiten. Im Oktober war der Rohbau als Fachwerk beendet und zur Abnahme freigegeben. Im Januar 1901 war der Bau fertiggestellt und attestiert.44 Der Grundstückskauf und die anschließenden Baumaßnahmen lassen darauf schließen, dass sich die jüdische Gemeinde wohl in einer guten finanziellen Situation befand. Die Halle wurde durch die Bombeneinwirkungen 1945 stark beschädigt, das Dach war morsch und durch eindringenden Regen wurde das beschädigte Gebäude weiter zerstört. Deshalb wurde es im Mai 1960 abgerissen.45 Die Treppenstufen, die in die Wartehalle hinaufführten, sind jedoch heute noch vorhanden. Um den im Ersten Weltkrieg gefallenen jüdischen Soldaten ein würdiges Gedenken zu geben, spendete und errichtete die jüdische Gemeinde ein Grabdenkmal auf dem jüdischen Friedhof.46 Den Auftrag für das Denkmal erhielt die heimische Firma Riemer und Schulze.47 Die finanzielle Ermöglichung des Denkmals muss zu dieser Zeit auf öffentliche Aufmerksamkeit gestoßen sein, da die breite Bevölkerung unter den Nachkriegsauswirkungen, welche die Inflation und eine Notlage mit sich brachte, litt. Neben der Gedächtnisfunktion weist die Inschrift „Wer den Tod im heiligen Kampfe fand, ruht auch in fremder Erde im Vaterland“ auf den schlichten Schrifttafeln auf eine weitere Funktion des Grabdenkmals hin: Die Inschrift verdeutlicht, dass die Leichname der an der Front gefallenen Soldaten nicht in der Heimat bestattet werden konnten und ihnen symbolisch eine letzte Ruhestätte gegeben wurde. Ebenso erhielten die Hinterbliebenen einen Ort der Trauer und des Gedenkens. Daher handelt es sich um 42 Vgl. Schreiben zur Erteilung eines Bauattestes vom 17.10.1867, in: Bauaktenarchiv der Stadt Nordhausen, Bauakte 3, Ammerberg 19. 43 Vgl. Bauaktenarchiv der Stadt Nordhausen, Bauakte 3, Ammerberg 19, Bl. 1 (RS), 16. 44 Vgl. ebd., Bl. 16–26. 45 Vgl. ebd., Schreiben vom 27.05.1960. 46 Zum Grabdenkmal vgl. ausführlich Marie-Luis Zahradnik, Der Erste Weltkrieg und das Schicksal der jüdischen Soldaten aus Nordhausen – im Spiegel des Grabdenkmals 1921, in: Nordhäuser Nachrichten. Südharzer Heimatblätter 23 (2014), S. 8–11; Dies., Auslandsrecherche zu gefallenen Nordhäuser jüdischen Soldaten am „Anneau de Mémoire“ in Frankreich. Eine Ergänzung, in: Nordhäuser Nachrichten. Südharzer Heimatblätter 25 (2016), S. 25 f. 47 Vgl. StadtA Nordhausen, NAZ 26.09.1921, Filmnr. 28/01 (Nr. 225).

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kein Kriegerdenkmal, sondern – wie bereits erwähnt – um ein Grabdenkmal. Auch die Zeitungsannonce vom 26. September 1921 spricht von einer Grabdenkmalweihe.48 Die moderne, liberale und reformoffene Haltung in der jüdischen Gemeinde äußerte sich nicht nur im jüdisch-modernen Willen zur Grabsteingestaltung, sondern auch in der Erweiterung des Friedhofs um einen Urnenhain südlich des heutigen Wohnhauses. Dieser Urnenhain wurde im August 1928 für die Anhänger der Feuerbestattung nach dem Plan des Stadtgartendirektors Rotscheid in ovaler Form angelegt.49 In ihm existieren sieben Grabmale. Zwar ist durch die abgelegene Lage des Urnenhains eine Separation entstanden, doch durfte der Hain als Bestandteil vom Friedhof nicht total abgegrenzt werden. Es liegt die Vermutung nahe, dass sich die Urnengräber im Abseits befinden, weil die Feuerbestattung im jüdischen Glauben nicht von allen Juden mitgetragen wurde. Nach der Halacha – dieser Begriff bezeichnet die Gesamtheit der jüdischen Rechtsvorschriften – ist eine Feuerbestattung in der jüdischen Tradition nicht vorgesehen.50 Nach der jüdischen Tradition wird an der Kremation kritisiert, dass diese eine Provokation gegenüber der Pietät und der traditionellen Bestattungskultur darstelle.51 Dagegen setzten moderne Strömungen die Ewigkeit des Lebens in Form der Seele in den Vordergrund und akzeptierten die körperliche Auferstehung nicht. Sie standen der Kremation offen gegenüber.52 Es wird ersichtlich, dass die Akzeptanz der Kremation von der Art der Bestattung und den Jenseitsvorstellungen abhängig war.53 Vor dem Hintergrund von Aufklärung und Revolution brachten Befürworter der Kremation die neuen Gedanken zur Begräbniskultur in die Gesellschaft und hoben hervor, dass die Erdbestattung nicht allein die einzig richtige Beisetzungsform sei.54 Dabei bildeten die Asche und die Urne eine neue Form der Ästhetik und waren im weiteren Sinne ein neuer Ausdruck von Moderne, Bildungsstand und Bürgertum.55

48 Vgl. ebd. 49 Vgl. StadtA Erfurt, WBSEF 17.08.1928, Nr. 201. 50 Im Alten Testament wird die Verbrennung von Toten als Sünde getadelt und bestraft: So spricht der HERR: Um drei, ja um vier Frevel willen derer von Moab will ich sie nicht schonen, weil sie die Gebeine des Königs von Edom verbrannt haben zu Asche […] (Altes Testament, Am 2, 1). 51 Vgl. Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 94. 52 Vgl. Henry G. Brandt, Bestattung und Friedhof aus jüdischer Sicht, in: Bernd Jaspert (Hg.), Die letzte Ruhe. Christliche Bestattungsriten und Friedhofskultur in der multikulturellen Gesellschaft, Hofgeismar 1991, S. 64–86, hier S. 67. 53 Vgl. Norbert Fischer, Zwischen Trauer und Technik: Feuerbestattung, Krematorium, Flamarium. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2002, S. 12. Allein die Krematorien bildeten einen überkonfessionellen Ort des Todes und veränderten den traditionellen Ablauf der Trauerfeier; vgl. ebd., S. 47. 54 Vgl. ebd., S. 95. 55 Vgl. ebd., S. 97, 104.

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Die älteren Grabstellen auf dem jüdischen Friedhof in Nordhausen sind traditionell als Einzelstellen in Reihen chronologisch nach Todesfall angelegt. Doch bereits ab den 1870er Jahren wurden zunehmend Doppelgräber oder für Ehepaare nebeneinander angelegte Einzelgräber üblich. Wie in Bleicherode finden sich auch in Nordhausen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend Grabsteine mit individuelleren Formen und Größen, außerdem aus Steinmaterial, das nicht mehr ausschließlich aus der Region bezogen wurde. Soweit die Schriften auf den Grabmalen noch lesbar sind, können zur Verwendung der deutschen und der hebräischen Sprache nach einer ersten Analyse folgende Aussagen getroffen werden: Tab. 3: Verwendete Sprache auf den jüdischen Grabsteinen in Nordhausen Vorderseite nur hebräische Schrift

96

– davon auf der Rückseite hebräische Schrift



– davon auf der Rückseite deutsche Schrift

62

Vorderseite zweisprachig mit deutschem Mittelteil – davon Einleitungsformel und Schlussformel hebräisch

135 123

– davon nur Einleitungsformel hebräisch

5

– davon nur Schlussformel hebräisch

7

– davon auf der Rückseite hebräische Schrift



– davon auf der Rückseite deutsche Schrift

2

Vorderseite nur deutsche Schrift

37

– davon auf der Rückseite hebräische Schrift

18

– davon auf der Rückseite deutsche Schrift



Soweit Geburtsdatum und Sterbedatum lesbar sind, handelt es sich bei 241 Bestatteten um Erwachsene. Weibliche und männliche Verstorbene halten sich die Waage. Dabei wurde als Altersgrenze zum jungen Erwachsenen das 13. Lebensjahr herangezogen, wenn die Kinder durch die Feier der „Konfirmation“ als Erwachsene in die Gemeinde aufgenommen wurden.56 Von 22 beige56 Die jüdische Gemeinde nannte die feierliche Eingliederung eines Kindes als jungen Erwachsenen in die Gemeinde nicht „Bar Mitzwa“, sondern „Konfirmation“ und „Einseg-

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setzten Kindern waren 16 männlich. Ebenso lässt sich durch die Geburts- und Sterbedaten das durchschnittliche Sterbealter ermitteln: bei den erwachsenen Männern 60 Jahre, bei den erwachsenen Frauen 63 Jahre. Der jüdische Friedhof in Nordhausen weist nicht nur die meisten noch erhaltenen Bauten und Grabmale auf, sondern auch mehr Symbole und Ornamente im Vergleich zu den Friedhöfen in Bleicherode und Ellrich. Mehrfach sind auf den älteren und jüngeren Grabsteinen das Abstammungssymbol der segnenden Hände57 und die Levitenkanne58 zu finden. Ein Amtssymbol ist zu sehen in Form eines aufgeschlagenen Buches, das dem Rabbiner der hiesigen Gemeinde Dr. Philipp Schönberger gewidmet wurde. Es symbolisiert Gelehrsamkeit und religiöse Bildung.59 Zudem sind Ornamente wie u. a. abgebrochene Säule und Baumstamm, Glockenblume, Mohnblumenkapsel und Schmetterling auf den Grabsteinen eingearbeitet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die Grabsteingestaltung schlichter, dafür das Steinmaterial qualitativ langlebiger und an die Umwelt angepasster.

nung“. Sie behielt die Erneuerungen aus der westphälischen Herrschaftszeit weiterhin bei und ermöglichte damit auch den Mädchen an der Feierlichkeit teilzunehmen. Dazu mehr in: Zahradnik, Integration der Nordhäuser Juden (wie Anm. 35), S. 154–158. 57 Das Motiv der segnenden Priesterhände weist auf die Abstammung des Verstorbenen von einem aharonidischen Priestergeschlecht hin. Aaron und seine Söhne werden laut 2. Buch Mose (Exodus), Kapitel 28 und 29, zu Priestern geweiht. Im 4. Buch Mose (Numeri), Kapitel 6, Vers 24–27 steht, wie diese Hände das Volk Israel segnen sollen: „Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“ 58 Zwölf Stämme Israels: Ruben, Simeon, Levi, Juda, Dan, Naftali, Gad, Ascher, Issachar, Sebulon, Josef, Benjamin. Dort ist Levi der dritte Sohn Leas und Jakobs (Gen 29, 34, Einheitsübersetzung). Seine Nachkommen wurden nach Dtn 18,1–8 (Einheitsübersetzung) allein zum Tempeldienst für alle Israeliten erwählt. Als einziger der Stämme Israels erhielten sie keinen Landbesitz, stattdessen standen ihnen die Tempelabgaben zu. In Num 1, 49–50 (Einheitsübersetzung) heißt es: „Nur den Stamm Levi sollst du nicht mustern und ihre Summe nicht aufnehmen unter den Söhnen Israels, sondern setze du die Leviten ein über die Wohnung des Zeugnisses und über all ihr Gerät und über alles, was zu ihr gehört! Sie sollen die Wohnung und all ihr Gerät tragen und sie sollen sie bedienen und sich rings um die Wohnung herum lagern.“ Im zitierten Hauptbuch der jüdischen Gemeinde Nordhausen für 1817 bis 1832 werden auch Aaron Lehmann Holländer (1817) und Abraham Lehmann Holländer (1818) als Leviten aufgelistet; vgl. Stern, Geschichte der Juden in Nordhausen (wie Anm. 39), S. 56. 59 Vgl. Hüttenmeister, Jüdische Symbolik (wie Anm. 23).

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6. Aus der Projektwerkstatt Im Rahmen des 22 Monate dauernden Projekts sollen die jüdischen Friedhöfe in Bleicherode, Ellrich und Nordhausen und ihre einzelnen Grabmale digital dokumentiert und kontextualisiert werden. Neben Fotografien aller Grabstellen werden Transkriptionen und Übersetzungen der Grabmalinschriften gespeichert und öffentlich zugänglich gemacht, dazu weitere Informationen, wie Biogramme, Fotos, Zeitungsbeiträge und Angaben aus historischen Adressbüchern, die aus Bibliotheken, Archiven und Museen zusammengetragen werden. Sowohl von den Friedhofsarealen als auch von ausgewählten Grabmalen sollen zudem dreidimensionale Aufnahmen erfolgen. Alle noch vorhandenen Grabmale werden mit einer hochauflösenden Kamera fotografiert. Zusätzlich sollen Grabmale mit besonderem Symbol oder seltener Grabmalkunst dreidimensional abgebildet werden. Vor jeder Aufnahme wurden die Grabsteine gereinigt, besonders die Inschriften von Schmutz, Steinflechte, Moos oder auch von Unkraut befreit. Bei manchen kaum noch leserlichen Inschriften wurde zusätzlich mit einem feuchten Schwamm gleichmäßig das Textfeld befeuchtet, um die verblassten Buchstaben wieder lesbar zu machen. Auch die Belichtung der Inschriften mit Lichtquellen bei Dämmerung oder Dunkelheit riefen Schatten in den eingravierten Inschriften hervor, die die Lesbarkeit förderten. Eine weitere Möglichkeit der Rekonstruktion von verblassten Inschriften bietet die Fotogrammetrie. Ebenso wurde das Friedhofsareal in kürzeren Abständen durch Grünpflegearbeiten wie Mäharbeiten, Unkrautentfernung, Freilegung von mit Efeu und Unkraut überwucherten Grabmalen oder auch durch Baumschnitt instandgehalten. Durch die Grünpflegearbeiten auf den jüdischen Friedhöfen in Nordhausen und Bleicherode Ende Oktober/Anfang November wurden einige Sockel, in der Erde liegende Grabsteine und Fragmente sowie Umrandungen etc. wieder sichtbar. Die gewonnenen Daten werden sowohl in einer Excel-Tabelle für statistische Auswertungen erfasst als auch in digiCult der ThULB, woraus die Daten dann abgerufen werden können. Ein weiteres Vorhaben im Projekt sind 3 D-Aufnahmen im Außenbereich, um die Gelände virtuell darzustellen. Die Technik, die das möglich macht, ist die Matterport-Plattform, die über die ThULB genutzt wird. Parallel zu der Erhebung der Daten auf den Grabmalen werden u. a. auch Archivquellen wie aus dem Stadtarchiv und dem Kreisarchiv, dem Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum sowie aus den Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem (CAHJP) herangezogen, um Kontextinformationen zu den Friedhöfen und den Bestatteten zu gewinnen.

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Die Recherchearbeiten in Archiven waren problematisch, da durch die Corona-Pandemie bedingte Schließungen, Wartezeiten und Terminverschiebungen die Arbeiten verzögerten. Als Alternative zum Archivbesuch konnten Reproduktionsanträge gestellt werden. Deren Bearbeitung dauerte bis in den August 2021 an. Jedoch wurde das Warten belohnt, denn in den Aktenscans befanden sich in den 1950er Jahren festgehaltene, gegenwärtig teilweise nicht mehr lesbare Inschriften von Grabsteinen auf dem jüdischen Friedhof in Ellrich und auch ein Akteneintrag über eine Bestattung eines Kleinkindes im Jahr 1856 in Bleicherode, der ein wichtiger Beleg für die Bestattung von Kindern auf dem jüdischen Friedhof ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass die geschichtliche Entwicklung der Friedhofsareale und viel mehr noch die Grabmalgestaltung von innergemeindlichen Faktoren abhängig war. Daher ist es von Interesse, mögliche Zusammenhänge zwischen der Grabmalbeschaffenheit, der Entwicklung des Friedhofs und der Entwicklung der Gemeinde herauszustellen. Darüber hinaus können alle im Projekt berücksichtigten noch existierenden Friedhöfe miteinander verglichen werden, um beispielsweise aus der Grabmalkultur auf unterschiedliche zeitliche Verläufe der Assimilation zu schließen. Mit der Übersetzung der hebräischen Inschriften auf den Grabmalen durch das Salomon Ludwig Steinheim-Institut können nach der Identifikation der dort beigesetzten Personen, so es die noch lesbaren Inschriften zulassen, Biografien und Lebensmittelpunkte der jüdischen Mitmenschen in der Stadt skizziert werden.

7. Präsentation des Projekts und seiner Ergebnisse Um die eingangs dargestellten Ziele des Projekts zu erreichen, sind die Präsentation des Projekts und dessen Ergebnisse von Bedeutung. Die bisherigen Arbeiten haben gezeigt, dass Bewohner und Bewohnerinnen vor Ort an der Lokalgeschichte interessiert sind und wissen möchten, welche Arbeiten auf dem Friedhofsareal, in dessen Nähe sie wohnen, erfolgen. Zum anderen ist die digitale Arbeit an jüdischen Grabmalen für den digitalen Wissenstransfer und die lokalgeschichtliche Forschung von Bedeutung. Der aktive Austausch findet derzeit in Form von Netzwerktreffen, Vorträgen und über lokale Medien statt. Darüber hinaus wurden das Projekt, der Stand der Digitalisierungsarbeiten und Geschichtliches über die jüdischen Friedhöfe im Landkreis sowie über jüdisches Leben, Wirken und Glauben in Nordhausen im 19. Jahrhundert in einer zweiteiligen Sonderausstellung mit Rahmenprogramm im städtischen Museum „Flohburg|Das Nordhausen Museum“ gezeigt.

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Im Rahmen des Projektes wurde im Digitalisierungszentrum der ThULB ein grau-blauer, 15 cm hoher Tonkrug, der im Jahr 2019 bei Instandsetzungsarbeiten am Eingangstor des jüdischen Friedhofs in Nordhausen gefunden wurde und Objekt der Ausstellung ist, in 3D gescannt, um dann mit einem 3D-Drucker eine Replik herzustellen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Krug dem aharonidischen Priester Georg Cohn (auf seinem Grabstein sind segnende Hände abgebildet) aus der hiesigen Gemeinde gehörte. An der rechten Torsäule außen befindet sich eine rechteckige Aussparung mit Holzresten von einer verschließbaren Vorrichtung, in der der Krug sich befunden haben dürfte. Der Krug bot eine Anwendungsmöglichkeit für das recht junge Polyet-Verfahren.60 Im Anschluss an die Sonderausstellung sollen die Digitalisate über eine Bildschirminstallation in die Dauerausstellung des Museums integriert werden, um das Thema zeitlich unbegrenzt den Besuchern und Besucherinnen zur Verfügung zu stellen. Zudem haben Stadtverwaltungen sowie weitere Behörden Interesse signalisiert, die Banner zu dem jeweiligen für die Stadt betreffenden Friedhof als Wanderausstellung vor Ort auszustellen. Die Geschichte der Friedhöfe würde so in die öffentliche Wahrnehmung rücken. In Abstimmung mit der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen und zuständigen Behörden vor Ort werden im Laufe des Projektes Informationstafeln mit freundlicher Unterstützung der Regionalen Arbeitsgruppe Thüringen des Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. an allen existierenden und nicht mehr existierenden jüdischen Friedhöfen im Landkreis Nordhausen angebracht. Weiterhin wird das noch Vorhandene dieser geschichtsträchtigen Anlagen nachhaltig gesichert und eine Recherche im digitalen Raum zeit- und ortsunabhängig ermöglicht, sowohl über das Digitale Kultur- und Wissensportal Thüringen (www.kulthura.de) als auch über die epigraphische Datenbank (Epidat) des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts. Außerdem ist die Herausgabe eines Buches geplant, das eine Darstellung des Projekts, einen Überblick über die Projektergebnisse sowie tiefgehende Darstellungen zu ausgewählten Grabmalen enthalten soll.

8. Ausblick und Potential für ein neues Projektvorhaben Die Geschichtswissenschaft hat sich umfangreich mit der Entwicklung religiöser Einstellungen und der gesellschaftlichen Assimilation61 der Juden in Deutsch60 Mehr zum 3D-Drucken siehe https://www.uni-jena.de/3D_Druck. 61 Der Begriff ist in der Forschung zur Geschichte der deutschen Juden nicht unumstritten, denn Assimilation hat viele Gesichter und bedeutet letztendlich die Aufgabe von Kultur und Lebensweise einer Minderheit, um in der Gesellschaft der Mehrheit angenommen zu werden und zurechtzukommen. Mehr zu der Debatte um den Begriff u. a. bei Till van

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land insbesondere in der Neuzeit (1789 bis 1945) befasst.62 Die bisherigen Untersuchungen beruhten im Wesentlichen auf Literatur aus dieser Zeit und auf Archiv­dokumenten. Soweit Untersuchungen zu einzelnen jüdischen Gemeinden angestellt wurden, davon gibt es inzwischen zahlreiche, konnten deren Ergebnisse in Gesamtdarstellungen zur Entwicklung religiöser Einstellungen und der gesellschaftlichen Assimilation der Juden in Deutschland einfließen. Oft wurden regionale Fallbeispiele erforscht. Jedoch wurde ein Vergleich mehrerer Regionen oder einzelner jüdischen Gemeinden im deutschen Raum im Hinblick auf gesellschaftliche Assimilation und religiöse Einstellungen respektive Grad der Religiosität nicht vorgenommen. Die Analyse von Schriftstücken aus dieser Zeit liefert hierfür auch kaum Belege. Zwar finden sich in den wenigen noch vorhandenen Schriftstücken vereinzelt Hinweise darauf (wie z. B., dass ein Rabbiner in deutscher Sprache predigte), jedoch sind diese so unterschiedlicher Art und lückenhaft, dass sie einen Vergleich zwischen Gemeinden kaum zulassen. Einem Vergleich auf Basis von Schriftstücken unterschiedlicher Verfasser steht auch im Wege, dass die Darstellungen davon abhängig sind, was der jeweilige Verfasser für erwähnenswert hielt und wie er dies subjektiv einschätzte. Ein anderer Ansatz ist die Analyse der Architektur von Synagogen. Aus ihr lassen sich u. a. die religiöse Einstellung, die jüdische Identität, das jüdische Selbstbewusstsein und der Stand der gesellschaftlichen Assimilation ablesen. In zahlreichen Publikationen ist das bauliche Sachzeugnis ein Beleg für eine moderne und akkulturierte jüdische Gemeinde.63 Auch Grabmale sind als Sachzeugnisse anzusehen, die durch ihre Bauart einen Zeitgeist widerspiegeln und besonders sowohl in individueller (als Grab einer verstorbenen Person) als auch in kollektiver Hinsicht über jüdische Gemeinden informieren. Dadurch, dass die Grabmale in ihrer Anzahl viel mehr vorhanden sind als Synagogen, können Rahden, Verrat, Schicksal oder Chance: Lesarten des Assimilationsbegriffs in der Historiographie zur Geschichte der deutschen Juden, in: Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft. Alltag 13 (2005), S. 245–264. In einer älteren Publikation befasste sich Jacob Katz mit der Entstehung der Assimilation von Juden, deren Bedeutung und auch Folgen für Juden in Deutschland und stellte dies ebenfalls zur Diskussion; vgl. Jacob Katz, Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften, Darmstadt 1982. 62 Zu den bekanntesten Schriften gehören Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, und Dies, Ursachen eines prekären Erfolges. Die Verbürgerlichung der Juden in Deutschland im Zeitalter der Emanzipation, Dresden 2003. Zu Shulamit Volkovs oft zitierten Werken zählt u. a. Jüdische Assimilation und jüdische Eigenart im Deutschen Kaiserreich. Ein Versuch, in: Geschichte und Gesellschaft: Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 9 (1983), S. 331–348, und Ders., Die Juden in Deutschland 1780–1918, München 22000. 63 Beispielsweise verbindet Holger Brülls Selbstverständnis und Präsentation sowie die wandelnde gesellschaftliche Position von Juden mit Architektur in seinem Aufsatz „Kulturelle und nationale Identität deutschen Juden und der Stil gründerzeitlicher Synagogenarchitektur“, in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 7 (2000), S. 137–153.

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sie einen besseren Beitrag für den Vergleich von religiösen Einstellungen und gesellschaftlicher Assimilation im deutschen Raum und ihre Entwicklung über eine längere Zeitspanne leisten. Es liegen gegenwärtig zahlreiche schriftliche Arbeiten über jüdische Friedhöfe und Grabmale im deutschen Raum vor, die auf der Tradition der Einzelfallbetrachtung, Quellenarbeit und Methodenanwendung der Geschichtswissenschaften beruhen.64 Jedoch sind Friedhöfe noch kaum hinsichtlich wichtiger Hinweise zur Reformorientierung der Gemeinden im 19. Jahrhundert erforscht. Insbesondere eine für das Erkenntnisinteresse relevante vergleichende Forschung anhand von digital zur Verfügung stehenden Daten von Grabmalen auf jüdischen Friedhöfen ist bisher nicht erfolgt. Es besteht die Überlegung, in einem weiteren Projekt eine solche Untersuchung durchzuführen. Dafür soll ein neuartiger Forschungsansatz verfolgt werden, um anhand von Eigenschaften der erhalten gebliebenen Grabmale auf den jüdischen Friedhöfen Unterschiede in der Entwicklung religiöser Einstellungen (eher traditionell oder eher progressiv) und der gesellschaftlichen Assimilation in verschiedenen jüdischen Gemeinden über eine längere Zeitspanne zu untersuchen. Solche Eigenschaften sind deren Architektur, die Sprache von Inschriften (deutsch, hebräisch, gemischt), die Inhalte des Geschriebenen, vorhandene Ornamente, jüdische und nichtjüdische Symbole sowie Symbole für Funktionen in der Gemeinde. Zur Analyse der Unterschiede soll eine Methode entwickelt werden, mit der die in einer Datenbank erfassten Eigenschaften der Grabmale verschiedener jüdischer Friedhöfe insbesondere hinsichtlich ihrer Häufigkeit und deren Entwicklung im Zeitablauf computergestützt verglichen werden können. Dies ist ein Vorhaben, das noch weiter vertieft werden muss und für seine Umsetzung Partner auf verschiedenen Gebieten braucht.

64 So z. B. die Werke von Michael Brocke, der zu den bekanntesten Forschern auf diesem Gebiet gehört. Er hat u. a. die Bücher „Der jüdische Friedhof in Soest“, „Der alte jüdische Friedhof Bonn-Schwarzrheindorf“ und „Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Deutschland“ mitverfasst. Auch Nathalia Hüttenmeister verfasste neben vielen Aufsätzen über jüdische Geschichte und Kultur auch Bücher über jüdische Friedhöfe wie die von Ansbach, Ahaus, Laupheim, Berlin, Sondershausen und Stockelsdorf. Auch Israel Schwierz publizierte über Grabmale und Friedhöfe wie in Bayern und Thüringen, um sie dokumentarisch darzustellen. Aktuelle Bucherscheinungen sind die Publikation „Geschichte des jüdischen Friedhofs in Bremen“ 2017 von Jeanette Jakubowski und „Beth ha Chajim: Haus des ewigen Lebens. Ein Besuch auf dem Jüdischen Friedhof Elmshorn“ 2019 von Harald Kirschninck.

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Vor fast einem halben Jahrhundert, in den Jahren 1972 und 73, hat der Autor dieses Beitrags selbst an der Friedrich-Schiller-Universität Jena studiert, und als mir bewusst wurde, wie lange meine Studentenzeit in Jena zurückliegt, musste ich über die Schärfe meiner Erinnerung staunen, die mir diese aus der Sicht jüngerer Menschen lange zurückliegenden Tage noch immer, wie man so sagt, „gegenwärtig“ macht. Erinnerung bewirkt Wunder. Sie hebt die Zeit auf, macht sie wirkungslos, erzeugt, indem sie Vergangenes rekonstruiert und vor unserem inneren Auge auferstehen lässt, eine Ahnung von Unsterblichkeit. Menschen, an die wir uns erinnern, sind nicht wirklich gestorben, Ereignisse nicht wirklich vergangen und sogar ihre Kulissen, selbst wenn sie mit der Zeit aufgelöst oder durch Kriege und Katastrophen zerstört wurden, nicht wirklich verschwunden. Als Schriftsteller denke ich viel nach über dieses Phänomen, das dem Vorgang des Aufschreibens zugrunde liegt, aller Literatur und Dichtkunst. „Dem Dichter wird während des Dichtens zumute, als habe er […] in den verschiedenen Gestalten ein Vorleben geführt“, schrieb Heinrich Heine, „seine Intuition ist wie Erinnerung.“1 Ich fühle mich daher ganz zu Hause im Kreis der in diesem Band Versammelten, die als Historiker auf ähnliche Weise täglich mit dem Vorgang der Retrospektion, des Vergegenwärtigens und Aufzeichnens beschäftigt sind. Auch auf unserer Konferenz in Schmalkalden haben sich die Beteiligten nicht zuletzt dem Erinnern gewidmet. Sie führten uns jüdisches Leben aus Jahrhunderten vor Augen, aus mehr als einem Jahrtausend, beginnend mit dem Vortrag von Professor Heil Jüdische Anfänge im nördlichen Europa 950 bis 1300. Aus jüdischer Sicht sind das keine frühen Tage. Auch nicht für Juden in Deutschland, die in den südlichen Gegenden der römischen Provinz Germania schon weitaus länger anwesend waren. Die früheste Urkunde, die deutschen Juden gilt, ist das bekannte Edikt Kaiser Konstantins aus dem Jahr 321, es betrifft die jüdische Gemeinde der römischen Militärsiedlung Colonia, der heutigen Stadt Köln. Der römische Kaiser drückt darin seine Erwartung aus, die Juden der Stadt sollten sich endlich in städtische Ämter, genannt curia, wählen lassen, Positionen, für die nur sehr vermögende, lange eingesessene Bürger in Frage kamen. Man kann folglich, wenn Juden 321 in solche Ämter berufen wurden, davon ausgehen, dass die Kölner Gemeinde mindestens ein- bis zweihun1 Heinrich Heine, Gedanken und Einfälle, in: Ders., Werke, Vierter Band, Berlin 1926, S. 426.

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dert Jahre älter gewesen sein muss. Also Juden in der Provinz Germania seit dem zweiten christlichen Jahrhundert: jüdische Römer, die mit den römischen Truppen gekommen waren und – vermutlich als Handelsleute – in den frühen Militärkolonien der Provinz ansässig wurden. Daher finden sich die ältesten deutschen Gemeinden südlich des Limes, auf dem Gebiet des heutigen Bayern, Baden-Württembergs und entlang des Rheins. Der erste namentlich bekannte deutsche Jude ist der Großkaufmann Isaak aus Aachen, der im Jahre 797 in der Gesandtschaft von Kaiser Karl dem Großen an den Hof des Kalifen Harun al-Raschid reiste und von dort einen Elefanten mitbrachte. Das Leben der deutschen Juden in diesen zwei Millennien war wechselhaft bis zum Extrem. In der Regel standen die Juden als sogenannte „Schutzjuden“ unter der Protektion eines Herrschers, was zugleich Kontrolle und finanzielle Kontributionen bedeutete. Meist auch Einschließung in ein Ghetto und andere Restriktionen. Nicht selten lebten sie, vor allem die sogenannten „Landjuden“, für längere Zeiträume in gutem Einvernehmen mit der christlichen Bevölkerung. Solche Perioden des Miteinander wurden jedoch immer wieder durch Verfolgung und Austreibung beendet. Die Geschichte der Judengemeinden in den meisten deutschen Städten und Landschaften ist durch Interruptionen und Brüche gezeichnet, oft durch Jahrhunderte ohne Juden, bis sich dann eines Tages wieder eine Gemeinde ansiedelte. Erst im neunzehnten Jahrhundert änderte sich die Lage der deutschen Juden grundsätzlich: durch die allmählich aus dem bürgerlichen Frankreich übergreifende Émancipation des Juifs, die nun erstmals rechtlich mit ihren christlichen Mitbürgern gleichgestellt wurden. Mit der Gleichstellung erlangten sie Zugang zu Gymnasien, Universitäten, in den Justizapparat, in die Parlamente und Zeitungsredaktionen, und exzellierten bald in allen akademischen Berufen. Der Bildungsgrad der Juden war traditionell höher als der ihrer christlichen Mitbürger; es gab unter Juden fast keine Analphabeten. Schon antike römische Autoren mokieren sich über die Mühe, mit der sogar arme Juden ihre Kinder lesen und schreiben lehrten und im Studium ihres komplizierten, zugleich den Scharfsinn trainierenden hebräischen Schrifttums unterwiesen. Ihre Isolation und ihre oft ambulanten Geschäfte brachten mit sich, dass Juden meist mehrerer Sprachen kundig waren. Hebräisch und Aramäisch lernten sie in ihrer erzwungenen Seklusion, eine weitere, wenn nicht mehrere andere Sprachen, um ihren Geschäften nachgehen zu können. Meist noch Jiddisch oder Ladino, die jüdischen Umgangssprachen in Sfarad oder Ashkenas – Kenntnis von vier Sprachen war keine Seltenheit. Und an dieser Multilingualität hat sich bis heute wenig geändert. Traditionell wird geistige Bildung in der jüdischen Tradition höher geschätzt als Reichtum oder weltliche Macht. Schon im deutschen Kaiserreich nach 1871, erst recht in der Weimarer Republik stiegen Juden in hohe Positionen auf und erlangten spürbaren Einfluss. Dieser von vielen Deutschen mit Eifersucht beobachtete Aufstieg wurde

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durch den Reichtum jüdischer Bankiers und Industriemagnaten begünstigt, die erhebliche Mittel für Bildung und Kultur in Deutschland spendeten. Vom Bau der großen Museen in München oder Berlin, vom deutschen Verlagswesen über Bibliotheken, Bildungseinrichtungen, Studentenwerke bis zu den Wagner-Festspielen in Bayreuth – überall finden Sie jüdische Sponsoren als großzügige Finanziers. Selbst der deutsche Autorennsport, die Unterhaltungsmusik, das Feuilleton oder die entstehende, dann nach Hollywood emigrierende deutsche Filmindustrie – überall waren deutsche Juden führend am Werk. Ganz zu schweigen von den modernen Wissenschaften, von Literatur und Kunst. Unter den bisher 923 Nobelpreisträgern aller Disziplinen sind 213 jüdisch, also annähernd 25 %, bei einem Anteil der Juden an der Weltbevölkerung von nur 0,2 % – somit ist der Anteil der Juden an den Nobelpreisträgern aller Völker rund 125-mal höher als ihr Anteil an der Weltbevölkerung. In diesem kurzen Rechenexempel zeigt sich in kondensierter Form das Phänomen des jüdischen Beitrags zur Kultur der Moderne. Und wenn man die Liste der 349 US-amerikanischen Nobelpreisträger betrachtet und die ungewöhnlich große Zahl deutsch-jüdischer Namen unter ihnen, hat man in kurzer Form die Tragödie des deutschen Judentums vor Augen und den ungeheuren, nicht wiedergutzumachenden Verlust, den Deutschland erlitten hat. Jude sein heute lautet der Titel meines Beitrags. Er besteht aus drei Worten: „Jude“. „Sein“. Und „Heute“. Diese drei Begriffe haben sehr verschiedene Dimensionen. Der erste ist der am meisten konkrete, er bezeichnet eine Religions- und Volkszugehörigkeit, die wir zuvor definieren müssen. Ist das gelungen, haben wir es mit einer klar umrissenen, auch historisch beständigen Größe zu tun. „Sein“ ist dagegen eine schier uferlose philosophische Kategorie. Auch der Zustand „Jude Sein“ lässt sich kaum fassen. Er führt uns zu der komplizierten Frage: Wer ist Jude? Was bedeutet es, Jude zu sein? Es gibt natürlich eine klare Definition des Judeseins im Rahmen der Halacha, des jüdischen Religionsgesetzes. Genauer gesagt, eine Doppel-Definition. Danach wird einerseits jedes Kind einer jüdischen Mutter ungeachtet des Vaters automatisch als Jüdin oder Jude angesehen, auch wenn der oder die Betreffende sich nicht zur jüdischen Religion bekennt, ja sogar, wenn er oder sie dem Judentum feindlich gegenübersteht, andererseits aber auch jeder Mensch, der nach dem jüdischen Religionsgesetz lebt, also, falls er nicht von Geburt Jude ist, zum Judentum konvertiert. Man beachte die Mutterlinie oder, Matrilinearität – ein seltenes Phänomen unter den alten Völkern, die ihre Abstammung meist von der Vaterseite her definierten. Die matrilineare Regelung ist bereits relativ früh eingeführt worden, zur Zeit der Niederschrift der Mishnah, also innerhalb der ersten zwei Jahrhunderte nach dem Fall des Zweiten Tempels. Seither existieren also eine ethnische und eine religiöse Definition von Judesein gleichberechtigt nebeneinander, was auf Außenstehende oft verwirrend wirkt.

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Wie ist überhaupt die Außenwahrnehmung der Juden? Auffallend ist ihre kleine Zahl, nach streng halachischen Maßstäben nur etwa 16 Millionen Menschen weltweit, und die, gemessen an dieser Zahl, unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit, die sie erregen. (Juden, die geschäftlich in China zu tun haben, berichten von einem dort kursierenden Scherz: Bei den Juden handle es sich um eine winzige Menschengruppe, nicht größer als die Einwohnerschaft einer einzigen Großstadt, die es dennoch schaffen, jeden Tag auf der ganzen Welt in den Medien zu sein.) In seiner 1710 veröffentlichten Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge postulierte der britische Philosoph George Berkeley als das entscheidende Kriterium unseres Daseins: Esse est percipi, in der englischen Übersetzung der Encyclopaedia Britannica: To be is to be perceived. Zu existieren oder da zu sein, bedeutet wahrgenommen zu werden.2 Nun, die Juden werden seit mehreren tausend Jahren wahrgenommen, schriftlich erwähnt und beschrieben, man kann also, Berkeley folgend, von einem sehr spürbaren und intensiven Dasein sprechen. Und sie werden heute, nach allem was ihnen geschehen ist, was sie an Verfolgung überlebt, was sie trotz alledem erreicht haben, mit einer – man kann sagen – extremen Aufmerksamkeit wahrgenommen, oft mit mehr Aufmerksamkeit, als ihnen selbst lieb ist. Denn die Wahrnehmung der Anderen ist nicht in jedem Fall wohlwollend. Gerade Erfolg – das weiß jeder aus persönlicher Erfahrung – löst keineswegs immer freundliche Regungen aus. Der Hass, der den Juden von mancher Seite entgegenschlägt, Judenhass, Judäophobie, im allgemeinen Sprachgebrauch meist mit dem eher unkorrekten Begriff Antisemitismus bezeichnet, hat viel mit Neid und Missgunst zu tun. Auch mit einem historisch tief verwurzelten Misstrauen gegenüber einigen Besonderheiten, die dieses Volk seit antiken Zeiten erkennen lässt und die früh in antiken Quellen benannt wurden. Denn die noch heute verbreiteten Muster des Antisemitismus finden sich bereits in antiken Texten, bei Apion von Alexandria, bei Theophrast, in der von Josephus zitierten, im Original verloren gegangenen Aegyptiaca des Manetho von Heliopolis, bei Diodor, bei Seneca, bei den Dichtern Martial und Plutarch und natürlich im biblischen Buch Esther, das ganz um dieses Thema kreist. Das Wort Volk ist gefallen, jüdisches Volk – es löst in der Regel das erste Missverständnis aus. Denn viele Außenstehende sehen die Juden nur als Religionsgemeinschaft. Und Jude Sein als religiöse Konfession. Die Juden selbst verstehen sich jedoch als Volk oder Nation, hebräisch am (ajn-mem), in der Bibel meist am israel genannt oder bnej israel, wörtlich „Volk Israel“ oder „die Kinder Israels“. Allerdings handelt es sich – und das ist das Einmalige – um ein Volk, das sich zunächst durch ein religiöses Bekenntnis definiert hat. Das Ereignis seiner Gründung ist die Annahme der Weisung vom Berg Sinai, hebräisch Torah, ein Ereignis, das, wie der Exodus selbst, von einigen Historikern bestritten, von 2

https://www.britannica.com/topic/esse-est-percipi-doctrine (letzter Abruf: 15.02.2022).

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anderen nach neueren Schriftfunden, vor allem seit Entdeckung des sogenannten proto-sinaitischen Alphabets und der Wadi el-Hol-Schrift, auf die Zeit um 1800 vor Christus datiert wird, demnach fast vier Jahrtausende zurückliegt und an einem Berg namens Chorev (in christlichen Bibeln meist Horeb geschrieben), einem Bergmassiv auf der Halbinsel Sinai, stattgefunden haben soll. Das Außergewöhnliche an dieser Volksgründung war, dass jeder dazugehörte, gleich welcher Herkunft, Hautfarbe oder vormaligen Religion, der sich zum Ausbruch aus der ägyptischen Sklaverei entschloss und die Offenbarung vom Sinai annahm. Mit den Hebräern aus Ägypten geflohene Fremde wurden durch Annahme des neuen Gesetzes zu Angehörigen des am israel wie diese. Eine solche Volksgründung war bis dahin in der Geschichte beispiellos. Völker waren ethnisch „gewachsen“, aus langen Abstammungslinien in der gleichen Gegend lebender, durch gleiche soziale Systeme, Sprache und Religion verbundener Menschen, und nicht gegründet durch eine Proklamation rebellierender Sklaven unter Berufung auf ein neuartiges, göttliches Gesetz. „Ein versklavtes Volk, das ist hier die Not, die beten lehrt“, schrieb der marxistische Philosoph Ernst Bloch über den hebräischen Exodus in seinem berühmten Buch Das Prinzip Hoffnung. „So stehen hier Leid und Empörung am Anfang“, fährt Bloch fort, „sie machen von vornherein dem Glauben einen Weg ins Freie“. Bloch sah in der Religion des Judentums die früheste „revolutionäre Theorie“ der Menschheit: „Mit Moses geschah ein Sprung im religiösen Bewusstsein, und er ward durch ein Ereignis vorbereitet, das den bisherigen Religionen […] das entgegengesetzteste ist: durch Rebellion.“3 Das Befreiungs-Motiv als Grundlage hebräisch-israelischen Selbstgefühls durch die Jahrtausende hatte bereits der Leipziger Religionshistoriker Alfred Jeremias in seiner 1905 erschienenen Studie Babylonisches im Alten Testament betont, er führte es auf alt-sumerische Motive zurück, was gut damit korrespondiert, dass die Bibel selbst als Stammvater der Israeliten einen gewissen Abraham aus der chaldäischen Stadt Ur angibt, einen Babylonier also, der vermutlich angesichts einer sich dort ereignenden Zivilisationskatastrophe aus seiner früheren Heimat floh und sich in einem Stück Wüstensand nahe der Meeresküste im Land Kanaan niederließ. Somit hatte, wie alles im Judentum, auch der ägyptische Exodus seinen Vorläufer. Wie die Hebräer wahrscheinlich jene in alt-babylonischen Quellen habiru, in alt-ägyptischen Texten apiru genannten „trouble maker“ und Rebellen sind, die, wie eine in Memphis gefundene Stele des Pharao Amenophis des Zweiten erwähnt, im alten Ägypten der achtzehnten Dynastie zu Fronarbeitern degradiert wurden und sich offenbar aus dieser Knechtschaft befreiten. Der bei Diodor zitierte griechische Historiograph Hekateios von Abdera berichtete von einer Xenelasie (griechisch für „Austreibung“). Eine weitere Beschreibung des Vorgangs gibt der schon erwähnte judenfeindliche Autor 3 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1959, S. 1451 f.

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Manetho, ein im dritten vorchristlichen Jahrhundert lebender ägyptischer Priester des Tempels von Heliopolis, in seiner Aegyptiaca. Schriftliche Zeugnisse der Judenverachtung finden sich auch in frühchristlichen Quellen, sogar in den Evangelien, wo es jedoch gleichermaßen die Juden preisende und bewundernde Passagen gibt. Nicht so im Koran, der keine die Juden würdigenden Textstellen enthält. Obwohl er fast sein gesamtes narratives Material der Bibel entnimmt, wie der Begründer des deutschen Reformjudentums, Abraham Geiger, ein geschulter Arabist, in seiner 1833 veröffentlichten Dissertation zum Thema Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? ausführlich nachweist.4 Die frühe Festlegung des Islam auf ein verächtliches und aggressives Verhältnis zu den Juden wird heute, in einer Zeit des zunehmenden islamischen Fundamentalismus, zu einem ernsthaften gesellschaftlichen Problem. Nicht nur im Nahen Osten, im „Heiligen Krieg“ fundamentalistisch-islamischer Bewegungen wie der Hamas oder Hisbollah gegen Israel, sondern zunehmend auch in Europa, nicht zuletzt hier in Deutschland, wo der weitgehend überwundene europäische Antisemitismus plötzlich durch im islamischen Judenhass aufgewachsene Flüchtlinge aus Nahost und Nordafrika eine unerwartet gefährliche Wiederbelebung erfährt. Jude Sein wird auf diese Weise, neben seinem inneren Zusammenhalt, stark durch eine übermäßig intensive Außenwahrnehmung und von außen vorgenommene Infragestellung, nicht selten durch starken äußeren Druck belebt. Der diesem Druck widerstehende innere Zusammenhalt des jüdischen Volkes ist Außenstehenden schwer zu erklären. Er basiert auf einem ausgeprägten Bewusstsein für die eigene Geschichte, die mehrere Jahrtausende umfasst, in der Erfahrung einer ungewöhnlichen Flexibilität und Überlebensfähigkeit und im tief verinnerlichten Wissen um die elementaren jüdischen Kulturleistungen in der Entwicklung der Menschheit. Ein jüdischer Seder-Abend beispielsweise, das mit dem gemeinsamen Lesen der teils hebräisch, teils aramäisch verfassten Hagadah shel pesach, einer Jahrtausende umfassenden Text-Sammlung, verbundene Familienessen am Vorabend des Pesach-Festes – wird in Israel von etwa achtzig Prozent aller Juden begangen, aber auch, nach einer Umfrage des Pew Research Center, von etwa siebzig Prozent der amerikanischen. Die Hagadah shel Pesach ist ein schwieriger Text, der historisches Wissen erfordert, es ist dennoch nicht selten, dass sie zu großen Teilen von den anwesenden Kindern vorgelesen wird. Was war nun das Besondere an der Offenbarung vom Sinai, die aus den Außenseitern und Rebellen ein Volk, eine Nation werden ließ, am israel, das dann wiederum 1.800 Jahre später einen Mann hervorbrachte, dessen Botschaft von einer anlässlich seines Kreuzestodes sich gründenden, zunächst jüdischen, dann multinationalen Sekte – von den römischen Geschichtsschreibern chrestiani 4 Abraham Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?, Bonn 1833.

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genannt – über den Erdball verbreitet wurde? Worin bestand das weltverändernde Potential dieses neuen Gesetzes? Um den Bezug zu Thüringen herzustellen, soll Friedrich Schiller zu Wort kommen, der am 26. Mai 1789 mit seiner spektakulären Antrittsvorlesung Was ist und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte an der Alma Mater Jenensis eine historisch fundierte Vorlesungsreihe begonnen hatte. Schon wenige Wochen später hielt er seine zweite Vorlesung unter dem Titel Die Sendung Moses. Wie in der Antrittsvorlesung angekündigt, galten auch Schillers folgende Lektionen der Darstellung bedeutsamer historischer Augenblicke in der „Universalgeschichte“. In diesem Sinn wird Moses’ „Sendung“ von Schiller als eine nicht nur sein eigenes Volk, sondern die gesamte Menschheit betreffende Angelegenheit verstanden: „Die Gründung des jüdischen Staates durch Moses ist eine der denkwürdigsten Begebenheiten, welche die Geschichte aufbewahrt hat, wichtig durch die Stärke des Verstandes […], wichtiger noch durch ihre Folgen auf die Welt, die noch bis auf diesen Augenblick fortdauern.“5 Schiller sieht in den Mosaischen Büchern eine überraschende Wirkung, seine eigene Zeit betreffend, die Tage der bürgerlichen Revolution: „Ja in einem gewissen Sinne ist es unwiderleglich wahr, dass wir der mosaischen Religion einen großen Teil der Aufklärung danken, deren wir uns heutigentags erfreuen. Denn durch sie wurde eine kostbare Wahrheit, welche die sich selbst überlassene Vernunft erst nach einer langsamen Entwicklung würde gefunden haben, die Lehre von dem einigen Gott, vorläufig unter dem Volke verbreitet […]. Dadurch wurden einem großen Teil des Menschengeschlechtes alle die traurigen Irrwege erspart, worauf der Glaube an Vielgötterei zuletzt führen muss […].“6

Der Gedanke, dass die Schiller und Gleichgesinnten so teure Aufklärung ihre entscheidende Inspiration dem Mosaischen Gesetzeswerk zu danken hat, dass sie nicht, wie weithin angenommen, zu diesem im Widerspruch stand, sondern eine kontinuierliche Entwicklung im Sinne des biblischen Weltbildes darstellte, war damals wahrhaft revolutionär. Und sollte es bleiben. Gegenüber der einige Jahrzehnte später, durch Nietzsche und andere ausgelösten Bibel-Aversion vieler deutscher Intellektueller ist Schillers sorgfältig ausgearbeiteter Essay ein Meisterstück kritischer Vernunft. Er verwirft die vergleichsweise Nichtigkeit der polytheistischen Religionen als „Irrweg“ in Barbarei und Zerfall und sieht in der Mosaischen Lehre die stärkende, Struktur schaffende „Idee von einem allgemeinen Zusammenhang der Dinge“. Kenner der Geschichte des Judentums wissen um weitere revolutionäre Beiträge der Hebräer zur Entwicklung der menschlichen Zivilisation: das für göttlichen Willen erklärte Verbot des bis dahin üblichen Menschenopfers in der 5 Friedrich Schiller, Die Sendung Moses, in: Schillers Werke (Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe), Band V, Schillers Historische Schriften, Leipzig 1914, S. 753. 6 Ebd.

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berühmten Akedah-Erzählung, 1. Buch Moses 22, 1–24, die Verwandlung der blutigen Tempel-Rituale mit Tierschlachtungen und Räucherwerk in einen reinen Buch-Gottesdienst, vollzogen in der Transformation vom Tempel zur Synagoge, oder das Konzept „Freiheit“, symbolisiert durch eine in antiken Zeiten sonst unbekannte Einrichtung, einen arbeitsfreien Tag pro Woche, der sogar Fronarbeiter und Nutztiere einbezog, den Shabat. Der Kirchenvater Augustinus überliefert das Befremden des römischen Philosophen Seneca über die Geschäftsuntüchtigkeit der Juden, die auf ein Siebentel ihres möglichen Gewinns verzichteten, um sich selbst und ihren Fronarbeitern einen von sieben Tagen frei zu geben. Erst das Christentum, Jahrhunderte später, hat diese Idee weltweit durchgesetzt und den arbeitsfreien Sonntag, gedacht zur Besinnung und Erholung, weltweit im offiziellen Wochenrhythmus installiert. Das Wissen um die eigene, für die Entwicklung der zivilisierten Menschheit entscheidende Vorgeschichte ist eine immer spürbare Komponente im jüdischen Selbstgefühl. Und es ist seltsam verwoben mit den zahlreichen Tragödien, die dieses Volk überstanden hat und an die wir uns gleichfalls ständig erinnern. Diese Erinnerungsarbeit umfasst Ereignisse wie die Belagerung Jerusalems im Jahr 597 vor Christus und die Deportation eines großen Teils seiner Bevölkerung nach Babylonien. Oder die Eroberung Jerusalems durch die römischen Legionen unter Titus und die Zerstörung des Tempels im Jahre 70. Solche Ereignisse wurden über die Jahrhunderte durch Fastentage wie asara be tevet (am zehnten des Monats tevet, etwa im Dezember) oder tejsha be av (am neunten Av, im Juli) lebendig gehalten, die in den Synagogen als Tage der Einkehr und Reue begangen werden, denn durch die Überlieferungen des gnadenlos gewissenhaften jüdischen Schrifttums, der Prophetenbücher oder des Talmud, erinnern wir uns der Mitschuld unserer Vorfahren an diesen Katastrophen und projizieren diese Schuld – wenigstens für einige Stunden – auf uns selbst. Die eigenen historischen Katastrophen haben sich so tief ins jüdische Bewusstsein gesenkt, dass sie uns Heutigen jederzeit gegenwärtig sind und in der öffentlichen Debatte – etwa in politischen Diskussionen in den Medien oder im Parlament – wie selbstverständlich eine Rolle spielen. Da genügen Stichworte, um an Jahrhunderte oder Jahrtausende zurück liegende jüdische Irrtümer und Fehlhaltungen zu erinnern, die ins Desaster geführt haben, und sie dem jeweiligen tagespolitischen Gegner vorzuwerfen. Und sie werden bei der heutigen Beliebigkeit des gesprochenen Wortes eher inflationär als behutsam in die Debatte geschleudert. Bei so viel Befrachtung mit Vergangenem kann der Eindruck entstehen, jüdisches Bewusstsein sei rückwärtsgewandt und konservativ. Jude Sein Heute – ich habe das Wort „Sein“ als Metapher für das Ewige, die Vorgeschichte, die Traditionen genommen, die das Judentum tiefgreifend prägen. Sozusagen als Metapher für die konservative Seite jüdischen Denkens. Und ich setzte nun das Wort „Heute“ als dessen Kontrapunkt, die Wahrnehmung des Immer-Neuen, der Bewegung und des Aufbruchs. Die Juden sind eins der konservativsten, histo-

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risch bewusstesten Völker der Erde und zugleich eins der revolutionärsten. Wo immer etwas revolutioniert wird, sind sie dabei, ob es der Marxismus ist, die Psychoanalyse, die Kernphysik, die moderne Literatur und der Film, die neueste Medizintechnologie, die Computertechnik oder das Internet – immer sind Juden unter der Avantgarde, unter den Ersten, die sich damit beschäftigen. Dieses Nebeneinander von ständiger historischer Rückbesinnung und einem ungestümen Vorwärtsdrängen in Gedanken und Experimenten macht die Spannung und Vitalität jüdischen Lebens aus, die uns hoffentlich noch lange in Bewegung hält. Das Heute jüdischen Lebens, eine turbulente, noch immer verstörte, zugleich immens kreative Gegenwart, ist bestimmt vom Nebeneinander zweier kürzlich zurückliegender historischer Ereignisse, die beide auf ihre Art beispiellos sind. Ich denke, in der Wahrnehmung sehr vieler Menschen weltweit, nicht nur der Juden. Ihre Beispiellosigkeit erschwert die Einschätzung unserer derzeitigen Lage. Sie verführt gerade die Jugend zu einem Gefühl der Erstmaligkeit unserer jetzigen Situation – was die Traditionalisten durch ständiges Erinnern und Anmahnen vergangener Schicksalsumschwünge zu relativieren suchen. Es ist dennoch nicht zu leugnen, dass sowohl der versuchte Genozid an den europäischen Juden mit den Möglichkeiten der modernen Industriegesellschaft als auch die kurz darauf, nur drei Jahre später, erfolgende Neu-Gründung eines jüdischen Staates, des ersten seit dem Jahre 70, auf ihre Art beispiellose Ereignisse waren. Während der letzten zweitausend Jahre lebte das jüdische Volk über den Erdball verstreut, überall als mehr oder weniger verachtete Minderheit, verfolgt von den Vorurteilen und Ressentiments derer, in deren Staaten sie vorübergehend Unterschlupf suchen mussten, nirgendwo wirklich sicher, oft am Rande der Austreibung, und gerade dort, wo es ihnen gut zu gehen schien, im mittelalterlichen Spanien oder im deutschen Reich, traf sie unversehens von neuem das Verhängnis. Daraus ist ein extrem ausgeprägtes Gefahrbewusstsein entstanden, ein seismographisches Erspüren möglicher Bedrohungen, das auf Außenstehende manchmal fast paranoid wirkt, nach unserer Erfahrung aber sicherer ist als das Gegenteil, das wir heute in vielen Staaten des Westens beobachten: eine übertriebene Sorglosigkeit. So sind Shoa und Staatsgründung die Ereignisse, die das Jude Sein Heute maßgeblich prägen. Zwei Ereignisse, die entgegengesetzter nicht sein könnten. Katastrophe und Triumph. Massenvernichtung und Neubeginn. Das eine ist Symbol äußerster Schwäche und Wehrlosigkeit, das andere – wie sich nach über siebzig Jahren Existenz dieses Staates abzeichnet – ein Symbol großer Stärke und Wehrhaftigkeit. Die israelische Luftwaffe kontrolliert gegenwärtig, wie kürzlich ein israelischer General im Fernsehen mitteilte, den Luftraum des gesamten Mittleren Ostens, es gibt nirgendwo in der Region eine wirksame Luftabwehr gegen sie, israelische Flugzeuge können Einsätze in Syrien, im Libanon fliegen und den Iran aus der Luft überwachen – die in Israel aufgerüsteten, auf der amerikanischen F-35 basierenden Stealth fighter vom Typ Adir werden von den Luftab-

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wehrsystemen der anderen Länder nicht einmal wahrgenommen. Die militärische Stärke korrespondiert mit der wirtschaftlichen – die israelische Hightech-Industrie gehört zu den führenden in der Welt. Die beiden Ereignisse, so unvereinbar sie scheinen, werden jedoch von fast allen Juden gedanklich im Zusammenhang gesehen: Ein starker moderner Staat Israel als die Garantie dafür, dass sich eine Katastrophe wie Auschwitz – Symbol einer düsteren Vergangenheit der Verfolgung und Schwäche – nicht wiederholen kann. Ich habe zurzeit zwei Enkel bei der israelischen Armee, einer neunzehn, einer einundzwanzig Jahre alt, beide dienen in Elite-Einheiten, eine freiwillige Entscheidung, die mit strikten Auswahlverfahren, großen Anstrengungen und in diesem Alter unüblicher Verantwortung verbunden ist. Sie lernen mit hochentwickelten Waffensystemen umzugehen und nehmen teil an lebensgefährlichen, komplizierten militärischen Operationen. Und ich habe miterlebt, wie sie ein Besuch in Auschwitz, den viele israelische Schulklassen im letzten Jahr, kurz vor dem Abitur absolvieren, mental vorbereitet und motiviert hat, um sich in ihrem jugendlichen Alter solche Mühen zuzumuten. So bildet ein Nebeneinander von Wissen um die extrem leidvolle Vorgeschichte und ihr alltägliches Lebensgefühl von Sicherheit im eigenen Land das Fundament ihres Denkens. Sie sind aufgewachsen wie Teenager überall in westlichen Ländern, in Wohlstand und Freiheit, mit Partys, Spaß, Sport, Reisen und allen Möglichkeiten heutiger Freizügigkeit, doch sie wissen, wie gefährdet dieses fast traumhafte Dasein ist, wie immerfort infrage gestellt und wie schnell es, in einem einzigen verlorenen Krieg, zunichtegemacht werden kann. Seit der Staatsgründung Israels 1948 lebt – anders als in den vergangenen zwei Jahrtausenden – nur noch ein Teil der Juden in der Diaspora, in der weltweiten Zerstreuung. Das heutige Judentum ist, wie einst in der Antike, gespalten in die im Lande lebenden (hebräisch ba aretz) und die Diaspora-Gemeinden (hebräisch galut). Zwischen diesen beiden Zweigen heutigen Judentums herrscht keineswegs immer Harmonie. Die Interessen sind oft verschieden, sogar unvereinbar. So müssen und wollen sich viele jüdische Gemeinden im Ausland auch dann der Politik ihrer jeweiligen Regierung unterordnen, wenn diese antiisraelisch, gelegentlich sogar, wenn sie antisemitisch ist. Der deutsche Zentralrat der Juden beispielsweise, ein von der Bundesregierung mit 13 Millionen Euro jährlich unterhaltenes Gremium, fühlt sich aus Sorge um die stark schwindenden, überalterten deutschen Judengemeinden zu einer – aus israelischer Sicht – oft würdelosen Unterwerfung unter deutsche Regierungsinteressen verpflichtet. Wegen seines geringen Engagements für Israel wird das staatsoffizielle deutsche Judentum im Staat der Juden kaum wahrgenommen, allenfalls, wegen seiner Schwäche und Bedrohungslage, als ständiger Grund zur Besorgnis. Kein Vergleich mit den amerikanischen, kanadischen, britischen oder australischen Juden, die den Staat Israel tatkräftig unterstützen. In ihrem Selbstgefühl, ihrer Kraft, ihrer Fähigkeit, ihre Interessen wahrzunehmen, zeigen die jüdischen Gemeinschaften der Dias-

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pora erhebliche Unterschiede. Auch innerhalb eines Landes kann es jüdische Strömungen mit unvereinbaren Absichten geben, pro-zionistische und Israel-kritische, liberale und konservative. Insgesamt setzt das Judentum auf Diversität, auf Debatte und offene Auseinandersetzung. Man fürchtet auch Zerwürfnisse nicht. In der langen und wild bewegten jüdischen Geschichte hat sich gezeigt, dass Meinungsverschiedenheiten, sogar Feindschaft zu kreativen Erschütterungen und Bewegungen führen können, die uns letztlich zugutekommen. Von den nach strengen halachischen Maßstäben weltweit existierenden 16 Millionen Juden lebt heute rund die Hälfte, fast sieben Millionen, in Israel, wo sie achtzig Prozent einer stark wachsenden Bevölkerung von insgesamt etwas über neun Millionen Israelis darstellen, zu denen auch 1,8 Millionen in Israel lebende Araber und weitere Minderheiten gehören. Die israelische Demographie ist, verglichen mit anderen westlichen Staaten, sensationell. Die israelische Bevölkerung hat sich in den 26 Jahren, die ich inzwischen in Israel lebe, annähernd verdoppelt. Fast ein Drittel der Israelis ist unter achtzehn Jahre alt, obwohl die israelische Bevölkerung trotz aller Kriege, trotz Terror und Stress, zu den langlebigsten der Welt gehört. Eine solche Demographie reflektiert ohne Frage ein optimistisches Lebensgefühl. Das inländische Bevölkerungswachstum hat Israel weniger abhängig gemacht von Einwanderung und Unterstützung durch ausländische Juden. Masseneinwanderung wie noch in den achtziger Jahren – damals überwiegend durch Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, von denen mehr als eine Million nach Israel kamen – wird nicht mehr angestrebt. Dabei hat die israelische Gesellschaft außerordentliches Geschick bewiesen, große Mengen von Einwanderern in kürzester Zeit zu integrieren. Derzeit emigrieren viele Juden aus West-Europa nach Israel, vor allem aus Frankreich (rund 51.000 während der letzten Dekade), auch aus Deutschland, überwiegend jüngere und gut ausgebildete, die angesichts der zunehmenden Bedrohung durch den wachsenden Judenhass vor allem muslimischer Provenienz in Europa keine Zukunft mehr sehen. Während die Zahl der israelischen Juden stark wächst, ist die der nächstgrößeren jüdischen Bevölkerung, in den USA, leicht im Sinken begriffen. In den Vereinigten Staaten leben heute etwa 5,7 Millionen Juden. Wobei alle hier präsentierten Zahlen nur die nach dem rabbinischen Religionsgesetz, der Halacha, akzeptierten Juden zählen, also zum Beispiel nicht Menschen, die bis zu drei jüdische Großeltern haben, unter denen aber nicht die in der Matrilinearität entscheidende Großmutter ist, die Mutter der Mutter. Viele dieser Menschen betrachten sich selbst – nach meinem Gefühl zu Recht – als Juden, als „patrilineare Juden“, wie einige von ihnen sich nennen. Hier kollidieren zwei Konzepte: einmal das von Rabbinern regulierte Gemeindejudentum, eine durch talmudische Festlegungen dominierte Kollektiv-Struktur der Diaspora, und die ausgeprägte Identität moderner Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts, die ein jüdisches Selbstgefühl auch dann entwickeln, wenn die mütterliche Großmutter

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Nichtjüdin ist. Auf Grund der liberalen Heiratsgewohnheiten der Juden in den USA und anderen westlichen Ländern gibt es ihrer inzwischen so viele, dass wir zu den weltweit rund 16 Millionen Juden noch mal 5 Millionen oder mehr addieren können. Auch unter der runden Million Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion war fast ein Drittel nicht im halachischen Sinn jüdisch. Denn das staatliche israelische Einwanderungsgesetz akzeptiert Einwanderer nach den Kriterien ihrer Gefährdung, das heißt ihrer Wahrnehmung durch Nicht-Juden, und da konnte, wie in der NS-Zeit, auch jemand mit nur einem oder zwei jüdischen Großelternteilen, gleichgültig, ob die Mutter der Mutter darunter war, betroffen sein. Das heißt, zur Einwanderung nach Israel genügt ein jüdischer Großelternteil, innerhalb Israels wird dann aber unterschieden, etwa bei Heirat oder Tod, ob man im halachischen Sinn jüdisch ist oder nicht. Daher müssen israelische Staatsbürger, die nach Befinden der Rabbiner nicht halachisch jüdisch sind, im Ausland heiraten – bevorzugte Heiratsorte sind Zypern oder Bulgarien – und werden, wenn es so weit ist, nicht auf einem jüdischen Friedhof beerdigt. Diese Absurdität, entstanden aus zweierlei Verständnis, wer als Jude zu betrachten sei, zeigt die Schwierigkeiten, die immer noch, auch aus dem Judentum heraus, mit dem Jude Sein Heute verbunden sind. Und stellt nebenher die Zahlen in Frage, die ich nach den verfügbaren Statistiken präsentiere: fast 7 Millionen Juden in Israel, stark steigend, 5,7 Millionen in den USA, leicht sinkend, 450.000 in Frankreich, deutlich fallend, rund 400.000 in Kanada, steigend, 300.000 in Großbritannien, leicht fallend, 180.000 in Argentinien, fallend, 165.000 in Russland, spürbar schrumpfend, nur noch knapp 94.000 in Deutschland, nachdem zwischen 1995 und 2004 etwa 219.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert waren, also stark gesunken, man kann sagen: abgestürzt, auf weniger als die Hälfte. Mit jährlichem Negativtrend. So wenig präzise diese Zahlen sein mögen, sie zeigen dennoch eine eindeutige Tendenz. Die Statistik führt uns zu einem der traurigsten Phänomene jüdischen Lebens in unseren Tagen: dem Niedergang des europäischen Judentums. Es ist in der letzten Zeit verstärkt Gegenstand von Untersuchungen. Die Demographen Sergio Della Pergola und Daniel Staetsky haben kürzlich in ihrer Studie für das Londoner Institute of Jewish Policy Research einen Rückgang der jüdischen Bevölkerung Europas von 60 % innerhalb der vergangenen fünf Jahrzehnte festgestellt. In den letzten Jahren sind es vor allem Juden aus westeuropäischen Ländern, Frankreich, Deutschland, Belgien oder Großbritannien, die im Wortsinn das Weite suchen. Bevorzugte Exilländer sind Israel, Kanada und die USA. Der Präsident des European Jewish Congress, Moshe Kantor, nannte 2020 in Jerusalem anlässlich einer Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Beisein von fünfzig ausländischen Staatsoberhäuptern und Regierungschefs die Situation der Jüdischen Gemeinden in europäischen Ländern „extremely precarious“, extrem gefährdet. Nach von jüdischen

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Einrichtungen vorgenommenen Umfragen fühlten sich mehr als 80 % der Juden in Europa „unsafe“, mehr als 40 % zögen in Erwägung, Europa zu verlassen. Diese Entwicklung hat auch Auswirkungen auf Israel: Seit einigen Jahren steigen die Immobilienpreise durch die massenhaften Haus- und Wohnungskäufe ausländischer, derzeit vor allem französischer Juden, die oft nicht einmal dort wohnen, sondern vorerst in ihrem europäischen Heimatland weiter Arbeit und Geschäften nachgehen, doch mit der Sicherheit einer Bleibe im jüdischen Staat. Dadurch verändert sich die Sozialstruktur Israels, wo das Kaufen oder Bauen von Häusern und Wohnungen, früher achtzig Prozent der Bevölkerung möglich, zum Luxus zu werden droht. Angesichts der alarmierenden Statistiken zur Auswanderung von Juden aus Europa sieht Moshe Kantor eine erschreckende Perspektive: „Wenn die gegenwärtige Tendenz anhält oder sich verschlimmert, wird es im Jahr 2050 in Europa keine Juden mehr geben.“7 Als entscheidende Ursache für die sinkenden Zahlen der Juden wird übereinstimmend die starke Zunahme des Antisemitismus in Europa angegeben. In Deutschland beispielsweise hat sich, nach offiziellen Polizeistatistiken, die Zahl der gemeldeten judenfeindlichen Übergriffe seit 2010 verdoppelt. Besonders bedrückend wird die Lage dadurch, dass die judenfeindlichen Stimmungen aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig kommen, sowohl aus rechtsextremen wie linksradikalen Gruppen, überwiegend jedoch – darin stimmen alle jüdischen Quellen überein – aus radikal-islamischem Milieu. Zwischen judenfeindlichen Übergriffen und Auswanderung besteht ein direkter Zusammenhang. Wie kürzlich der Direktor des Conseil Représentatif des Instintutions Juives de France, Robert Ejnes, in der in Israel erscheinenden Zeitschrift HaMisrachi erklärte, hätte sich die Zahl der französisch-jüdischen Auswanderer unmittelbar nach dem von einem muslimischen Attentäter verübten Anschlag auf die jüdische Schule in Toulouse im Jahre 2012 sprunghaft von 2.000 pro Jahr auf 8.000 erhöht. Auch von den jüdischen Gemeinden in Deutschland wird die Bedrohung durch radikale Muslime als die derzeit größte Gefahr für ihr Hiersein betrachtet. Diesen Zusammenhang versucht die Bundesregierung in ihren offiziellen Statistiken zu beschönigen – etwa, indem das Bundeskriminalamt die von militanten Muslimen auf Demos intonierten Sprechchöre mit Aufrufen zur Vergasung von Juden als „rechtsradikal“ deklariert. Das Narrativ der gegenwärtigen Regierung sieht die größte Gefahr für deutsche Juden in rechtsextremen Tätergruppen. Nach Angaben des Bundeskriminalamts hätten neunzig Prozent aller antisemitischen Straftaten einen rechtsradikalen Hintergrund. Ein angenehm einfaches, doch offenbar falsches Bild. Die Erhebungen jüdischer Institutionen stehen dem diametral entgegen. Etwa des in Berlin tätigen American Jewish Com7

Educate, legislate, enforce: Full text of Moshe Kantor’s Holocaust Forum speech, At the current rate, ‚in only 30 years there could be no Jews in Europe‘, president of the World Holocaust Forum Foundation says at Yad Vashem, Times of Israel, 23. Januar 2020.

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mittee (AJC), nach dessen Recherchen im vergangenen Jahr 31 % aller judenfeindlichen Attacken „islamistisch“ motiviert waren, 21 % „linksextrem“ und nur 14 % „rechtsextrem“. Nach der Studie der Universität Bielefeld von 2017, gestützt auf Befragungen unter mehreren Tausend Juden in Deutschland, gehen sogar 81 % aller Übergriffe von muslimischer Seite aus. Auch eine israelische Erhebung des Institute for Zionist Strategies im Auftrag der Tel Aviver Histadrut HaZionit HaOlamit unter dem hebräischen Titel Aliyat HaJamin HaKizoni ve HaAntishemijut (Der Aufstieg der extremen Rechten und der Antisemitismus) kommt, wie die Jerusalem Post am 3. Februar 2020 berichtete, zu dem Ergebnis: „The Rise of the far Right is not the main source of Antisemitism in Europe.“8 Von welchen Gruppen der neue deutsche Judenhass auch immer ausgeht, die Auswirkungen auf das Leben der Juden sind in jedem Fall die gleichen: ein Klima der Einschüchterung, ein Dasein in Angst und Defensivstrategien, hinter verschlossenen Türen, unter permanentem Polizeischutz, der schon die jüdischen Kindergartenkinder betrifft. Wie soll unter solchen Umständen selbstbewusstes Judentum entstehen, dessen Stimme hörbar ist, das in den intellektuellen Diskursen des Landes eine seinem intellektuellen Potential angemessene Rolle spielt? Auch die vom Staat überwachten, zentralistischen, von einem regierungsabhängigen „Zentralrat“ dirigierten Institutionen des offiziellen jüdischen Lebens sind einer kreativen Entwicklung des deutschen Judentums eher hinderlich. Ein Leser der in Berlin erscheinenden Jüdischen Rundschau schrieb mir, nachdem ich dort in einem Artikel meiner Sorge über die Entwicklung der jüdischen Gemeinden Deutschlands Ausdruck gegeben hatte: „Die Situation in den jüdischen Gemeinden ist viel schlimmer als hier dargestellt. Es herrscht eine allgemeine Agonie und ein Mitgliederschwund. 90 % der noch verbliebenen Mitglieder haben ihren kulturellen Hintergrund in der ehemaligen Sowjetunion. Deren Nachkommen, soweit sie sich noch in Deutschland aufhalten, sind nicht am […] Gemeindeleben in den Synagogen interessiert […]. Eine Renaissance des jüdischen Lebens wie vor 1933 in Deutschland wird es niemals geben. Es fehlt das Salz in der Suppe, d. h. die intellektuellen Juden gibt es heute nicht mehr. Von ganz ganz wenigen Ausnahmen abgesehen.“

In der Tat ist das Schweigen der deutschen Juden auffällig. Ihre annähernde Nicht-Präsenz in der deutschen Öffentlichkeit, in der Politik und Publizistik, in den intellektuellen Diskursen. Auffallend ist die wachsende Scheu jüngerer Juden vor einem aktiven, sichtbaren jüdischen Leben. Gerade junge und gut ausgebildete Juden verlassen in großer Zahl die Gemeinden und verbergen ihre jüdische Identität. Auf diese Weise wird neben der schon erwähnten Abwanderung ein weiteres Problem für die deutschen jüdischen Gemeinden akut: das der 8 https://www.jpost.com/diaspora/antisemitism/study-rise-of-far-right-not-the-mainsource-of-antisemitism-in-europe-616363 (letzter Abruf: 15.02.2022).

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Überalterung. Die erwähnte Studie des Londoner Institute for Jewish Policy Research und deutsch-jüdische Quellen weisen darauf hin, dass fast jeder zweite Jude in Deutschland über 60 Jahre alt ist. Wogegen nur zehn Prozent der zurzeit auf deutschem Staatsgebiet lebenden Juden jünger als 15 sei. Das wären dann noch 9.300 jüdische Kinder in Deutschland – eine wahrlich beunruhigende, wenig Hoffnung lassende Zahl. Dennoch scheue ich eine negative Prognose. Historiker, noch dazu solche, die sich mit jüdischer Geschichte beschäftigen, können kaum Pessimisten sein: Sie wissen um unsere Überlebensfähigkeit, unser Beharrungsvermögen, um das immerwährende Neubeginnen nach Niedergängen und Katastrophen. Die heute in Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern lebenden Juden sind gegenüber ihren Vorfahren vor hundert Jahren in der wunderbaren Lage, dass sie einen sicheren Zufluchtsort haben. Bei Gefahr kann jeder Jude der Welt nach Israel auswandern. Diese Gewissheit verleiht Rückhalt und Selbstbewusstsein, um notfalls auch in feindlicher Umgebung auszuharren. Israelische Medien, auch deutsche, beobachten und reflektieren mit fast übertriebener Aufmerksamkeit jeden Fall von Antisemitismus in Europa, europäische Juden müssen sich zwar erneut bedroht fühlen, doch nicht allein gelassen. Sie wissen sich auch, wenigstens formaljuristisch, von der Regierung und Polizei ihrer jeweiligen Länder unterstützt. Sie wissen Sympathien in der nicht-jüdischen Bevölkerung hinter sich. Deshalb glaube ich nicht, wie Moshe Kantor vom European Jewish Congress, dass in absehbarer Zukunft keine Juden mehr in Europa leben werden. Deutschland ist für Juden noch immer ein interessanter Ort. Schon wegen der großen Traditionen deutsch-jüdischen Lebens, die dieses Land symbolisiert. In keinem fremden Land außer den Vereinigten Staaten waren Juden jemals so akkulturiert und einflussreich. Deshalb werden sich immer einige finden, die hier leben wollen, selbst unter sich verschlechternden Bedingungen. Je mehr man über den großen, bis heute spürbaren Anteil der deutschen Juden an der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung Deutschlands weiß, umso weniger ist man geneigt, eine so bedeutende Tradition einfach abzubrechen. Fast zweitausend Jahre gemeinsame Geschichte, fast zwei Millennien deutsch-jüdisches Miteinander, eine der längsten Perioden jüdischer Diaspora, wenn auch mit tragischem, katastrophalem Ende. Der versuchte Neustart nach der Katastrophe der Shoa schien glaubwürdig. Um das Jahr 2000 herum sogar vielversprechend. Selbst wenn unkluge deutsche Politik die hochgespannten Hoffnungen vorerst zunichtegemacht hat, und das deutsche Judentum erneut in eine prekäre Lage manövriert wurde, bleibt die realistische Möglichkeit des Überlebens. Dieser Beitrag versteht sich auch als Ermutigung, den jüdischen Standort Deutschland zu halten. Mir scheint die Zustimmung des Lesers gewiss zu sein, nachdem er etwa durch den hier vorliegenden Tagungsband tieferen Einblick genommen hat in die Beziehungen zwischen in Deutschland lebenden Juden

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und ihrer deutschen Umgebung im Verlauf der Jahrhunderte, in die überaus vielfältigen Verbindungen, die immer wieder versuchten guten Ansätze ebenso wie die Einbrüche und Katastrophen, dass es hier Potential für die Zukunft gibt, unausgeschöpfte Möglichkeiten, einen offenen, fast möchte ich sagen: lichten Prospekt. Auch zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler scheinen irgendwo in der Tiefe ihres Herzens daran zu glauben, sonst würden sie sich nicht so intensiv mit der Geschichte der Juden in Deutschland beschäftigen. Historische Forschung lebt immer mit einem Seitenblick auf die Zukunft. Menschen studieren Geschichte in der Hoffnung, daraus zu lernen und vergangene Fehler nicht zu wiederholen. Deshalb möchte ich, nach einem ungeschönten Bild der Lage, wie ich sie sehe, zugleich meiner Zuversicht Ausdruck geben, dass dieser Tagungsband ein Zeichen ist. Ein Zeichen der Teilnahme, der Sympathie und, wenn es darauf ankommt, der tatkräftigen Unterstützung. Denn ob es in einigen Jahrzehnten noch Juden in Deutschland geben wird, ist nicht nur Sache der Juden, die heute die Möglichkeit haben wegzugehen, sondern ebenso der Deutschen, in deren Händen es liegt, sie zu halten.

Abkürzungsverzeichnis Abb. Abbildung AfR Amt für den Rechtsschutz des Vermögens der DDR ASR „Aktion Arbeitsscheu Reich“ BADV Bundesamt für zentrale Dienste und Vermögensfragen BArch Bundesarchiv BG Bezirksgericht BC Burschenbunds-Convent Bd./Bde. Band/Bände Bl. Blatt CV Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen DB Deutsche Burschenschaft DHV Deutschnationaler Handlungsgehilfen-Verband DJS Der jüdische Student DOM Deutsches Optisches Museum DWK Deutsche Wirtschaftskommission EGA Ernestinisches Gesamtarchiv f. folgende fol. Folio GHA Gemeinschaftliches Hennebergisches Archiv GR Große Reihe GSA Goethe- und Schiller-Archiv Weimar HBN Landkreis Hildburghausen HessStA Hessisches Staatsarchiv Hg. Herausgeber HStA Hauptstaatsarchiv ISG Institut für Stadtgeschichte Jg. Jahrgang JOINT Joint Distribution Committee KA Kreisarchiv KC Kartell-Convent der Verbindungen deutscher Studenten jüdischen Glaubens KJV Kartell Jüdischer Verbindungen K.d.ö.R. Körperschaft des öffentlichen Rechts KR Kleine Reihe Krs Hbn Themarer Amtsverwaltung, Kreis Hildburghausen KUSA Kunstsammlungen KV Kartellverband der katholischen deutschen Studentenvereine

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Abkürzungsverzeichnis

LA Berlin Landesarchiv Berlin LASA Landesarchiv Sachsen-Anhalt LATh Landesarchiv Thüringen LG Landgericht MdF Ministerium der Finanzen MHK-Archiv Museumslandschaft Hessen Kassel-Archiv MVGAE Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt NARA National Archives and Records Administration NDB Neue deutsche Biographie NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt OdF Opfer des Faschismus OLG Oberlandesgericht PG M Patrimonialgericht Marisfeld r recte RjF Reichsbund jüdischer Frontsoldaten SächsStA-D Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden SM Landkreis Schmalkalden-Meiningen SMAD Sowjetische Militäradministration in Deutschland SMATh Sowjetische Militäradministration Thüringens Sp. Spalte StA Staatsarchiv StadtA Stadtarchiv StKA Stadt- und Kreisarchiv ThULB Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek TLDA Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie UAJ Universitätsarchiv Jena unpag. unpaginiert v verso VdN Verfolgte des Naziregimes VJSt Verein Jüdischer Studenten Wartburgkreis WAK WGG Thüringische Wiedergutmachungsgesetz

Abbildungsnachweis Beitrag Gibas: Abb. 1: Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt, Sammlungen, Foto: Thomas Wolf (Gotha); Abb. 2: Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt, Foto: Thomas Wolf (Gotha); Abb. 3: Schlossmuseum Arnstadt, Foto Thomas Wolf (Gotha); Abb. 4: Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt, Bestand Stadt Arnstadt, Foto Thomas Wolf (Gotha); Abb. 5: „Arnstädter Anzeiger“ vom 11.01.1937; Abb. 6: Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt, Foto: Thomas Wolf (Gotha); Abb. 7: LATh-HStA Weimar, Thüringischer Generalstaatsanwalt Jena Nr. 537, Bl. 92r; Abb. 8: LATh-­ HStA Weimar, Thüringischer Generalstaatsanwalt Jena Nr. 539, Bl. 151r; Abb. 9: Foto Yad Vashem, Related Collection Hall of Names photos, Archival Signatur 15000/14228556; Abb. 10: Schlossmuseum Arnstadt, Foto: Thomas Wolf (Gotha); Abb. 11: LATh-StA Gotha, Kreisamt Eisenach Nr. 298, Bl. 20r; Abb. 12: Reichsgesetzblatt 1938, Teil I, S. 1580. Beitrag Groß/Hellfritzsch: Abb. 1: Merkblatt für die Erstellung des Zwischenund Abschlussberichts, www.kulturgutverluste.de; Abb. 2: Kupferstich mit dem Bildnis Joseph Utzschneiders (DOM, Inv.Nr. 8736100025522). Scan: Deutsches Optisches Museum; Abb. 3: Sammlerstempel von Alfred Misch auf der Rückseite des Kupferdrucks (DOM, Inv.Nr. 8736100025522). Scan: Deutsches Optisches Museum; Abb. 4: Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C., slide-number: LC-USZC2-5867; Abb. 5: Sonnenuhr mit Kompass und Mondkalender von 1576 (DOM, Inv.Nr. 8736100009379), unbekannter Hersteller. Foto: Stiftung Deutsches Optisches Museum, Timo Mappes; Abb. 6: Zeitschrift „Die Weltkunst“, 23.05.1937. Beitrag Hellmuth: Abb. 1–5: Entwurf Stefan Hellmuth. Beitrag Lämmerhirt: Abb. 1 u. 2: LATh-HStA Weimar, EGA, Geleite und Straßen, Reg. CC 1, 125, fol. 1r–v. Beitrag Lehmann: Abb. 1: Stadt- und Kreisarchiv Schmalkalden, B II/1–139; Abb. 2–4: Bildarchiv, Museum Schloss Wilhelmsburg, Schmalkalden; Abb. 5–7: Sammlung Sascha Bühner. Beitrag Lehnertz: Abb. 1: StadtA Mühlhausen, UK 609v; Abb. 2: LASA, Rep. U14 XLVII, Nr. 50v; Abb. 3: StadtA Mühlhausen, UK 581v; Abb. 4: LATh-­ HStA Weimar, Urkunde 1428 September 28v. Beitrag Lingelbach: Abb: 1 u. 3: Sammlung Villa Rosenthal; Abb. 2, 4, 6–10: Sammlung Lingelbach; Abb. 5 u. 11: Foto Lingelbach.

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Abbildungsnachweis

Beitrag Mötsch: Abb. 1: Mitteldeutscher Heimatatlas, hg. von der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle für die Provinz Sachsen und für Anhalt (Historische Kommission) durch Otto Schlüter, Magdeburg 1935–1942, Karte 18/II. Beitrag Raßloff: Abb. 1, 5, 6: Sammlung Raßloff; Abb. 2–4: StadtA Erfurt. Beitrag Schüle: Abb. 1–3: StadtA Eisenach, 41.3-J-489, 41.3-J-500 u. 41.3-J-498. Beitrag Sczech: Abb. 1: StadtA Erfurt, 7-240/10; Abb. 2: Katharina Bielefeld, TLDA, nach Vorlage Sczech; Abb. 3: Martin Sowa TLDA; Abb. 4 u. 5: Ronny Krause TLDA.

Ortsregister Das Register enthält alle im Text- und Fußnotenteil aufgeführten Orte. Geogra­ phische Landschaftsbezeichnungen sowie territoriale Bestandteile in Herrschaftstiteln wurden nicht aufgenommen. Ortsnennungen, die lediglich bibliographischen Angaben zugehören, wurden ebenfalls nicht erfasst. Ahaus 449 Altdorf (Kloster) 107 Altenburg 15, 43, 45–47, 336, 376, 405, 424 Amherst 304 Amsterdam 362, 421, 433 Ansbach 449 Apolda 340 Arnstadt 24, 32, 35, 37–40, 42 f., 68, 70, 74 f., 83, 93, 98, 194, 255, 307, 315, 320, 331–354 Arzberg 207 Aschenhausen 89, 140 Augsburg 418 f. Auschwitz 307, 323 f., 345, 347, 369–373, 460, 462 Auschwitz-Monowitz 369 Bad Salzungen 35, 209 Bad Sulza 361 Barchfeld 87, 89, 119, 320, 328 Basel 50 Bauerbach 90, 140, 144, 151 Bayreuth 165, 453 Bebra 110 Benßhausen 142 Berga/Elster 372, 376 Berkach 81, 89 f., 94 f., 97 f., 140, 195f., 320 Berlin 19, 25, 92, 98, 165, 194, 202, 205, 208, 211–215, 221, 230, 242, 246, 250, 262, 266, 270, 303– 305, 307, 313, 315, 362, 391, 393, 399–401, 410, 413 f., 431, 434,

445, 449, 453, 463 f. Bernburg/Saale 368 f. Bialystok 249 Bibra 90, 140, 144, 195 Bildhausen 113 Birkenau 369, 372 Birkenwerder 303 Bleicherode 88, 320, 387, 427–429, 431–433, 435, 439, 443–446 Bobruisk/Babrujsk 249 Bonn 211, 307, 318, 372, 449, 456 Borek 18 Borsch 86, 88 Boston 304 Braunschweig 160, 182 Breitenau 306 Breslau 18, 237, 239, 246, 259–262, 265, 303, 313, 362 f. Brotterode 119 Brüssel 216, 304 Buchenwald 16, 29, 312, 320, 324, 327, 346 f., 350 f., 353, 359–376 Burgpreppach 89 Charkow/Charkiw 249 Chemnitz 327 Coburg 44, 82, 141, 146, 169, 201, 277 f., 328 Cochabamba 255 Cöln → Köln Colonia → Köln Cottbus 303 Daberstedt 82, 86

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Dachau 328, 360, 362 f., 374, 420 Darmstadt 128 f., 135–137, 418 Davyd-Haradok 249 Dora 372 Dornburg 35, 37–39 Drebkau 303 Dreißigacker 92, 140, 150, 153, 201 Dresden 44, 68, 208, 243, 246, 327 Duisburg 427 Dünaburg/Daugavpils 249 Eisenach 15, 38 f., 94, 98, 106, 110, 140, 163, 168 f., 175, 188, 192, 195, 197, 201, 209, 239, 295, 297, 305 f., 320, 323, 328, 340, 343, 362 f., 383 Eisfeld 117 Ellrich 88, 227, 428 f., 431, 434, 437–439, 444–446 Elmshorn 449 Erfurt 9 f., 13–15, 17 f., 22–25, 27 f., 30–43, 48–52, 54 f., 60, 63, 68–75, 78, 82, 86, 98, 101, 108, 131 f., 180–182, 189–193, 197-199, 204, 212, 217–224, 226–228, 244 f., 248, 255, 268, 297, 307, 311–313, 320 f., 326, 335–339, 350 f., 362 f., 375, 381–391, 393 f., 396–400 Essen 220, 357, 378, 427, 430 Flossenbürg 374 Frankenhausen 35, 83, 108 Frankfurt/Main 17, 99, 106, 108, 115, 122, 133, 163, 165, 185, 201, 224, 229, 246, 301, 313, 328, 362, 416–422 Frauenbreitungen 118 Freiberg 206 f. Friedrichroda 307 Friesenhausen 142 Fulda 86, 88, 119, 175, 205

Ortsregister

Fürstenberg 153 Fürstenwalde/Spree 244, 307, 345 Gehaus 90 Geilsdorf 348 Geisa 86, 88, 320 Gera 15, 34, 83, 277, 294, 304, 311, 320 f., 327, 382, 389 Geraberg 301 f., 343 Gerbershausen 86 Gernrode 111 Gießen 246 Gleicherwiesen 90, 93, 140, 194, 320 Gleiwitz 362 Gochsheim 108 Göttingen 40, 48 Gorki 249 Gotha 20, 39–41, 48, 70, 103, 126, 142, 148, 163, 169 f., 189, 198, 204, 208 f., 255, 281, 297, 303, 307, 320, 363 Greiz 340 Grodno 251 Groß-Rosen 373 Gundelsheim 105 Haifa 245 Haina 113 Halberstadt 19 Halle/Saale 34, 40, 321, 242 f., 245, 307, 339, 345 Hamburg 211, 313, 353, 419 Hanau 115 Hannover 106, 160 Hartheim 328, 367 Hausbreitenbach 110 Heidelberg 186, 270 Heidingsfeld 85 Heiligenstadt 86, 320, 387 Heinrichs 93 Heldburg 111, 113, 117

Ortsregister

Hermsdorf 206, 207 Hildburghausen 18, 82, 90, 98, 108, 117, 140 f., 147, 149, 156, 194 f. Hochheim 82 Höchst 115 Hohenberg 207 Hohengandern 86 Ichtershausen 148, 336, 341, 343, 346 Immenrode 93 Jena 10, 17, 24, 28, 46, 68, 70, 94, 160, 165, 169, 185 f., 192, 199, 214, 230 f., 234–239, 241–258, 261, 264, 269–273, 275, 277, 285–290, 302, 304, 307, 326 f., 332, 343, 345 f., 355, 405–408, 414–416, 418 f., 421 f., 424, 427, 447, 451 Jerusalem 57, 65, 121, 445, 458, 462, 464 Kahla 20, 118, 206–208, 216 Kairo 244 Kaltennordheim 124 Karlsbad 257, 259 Karlsruhe 288, 290, 412 Kassel 119, 204, 305 f., 328, 419, 421 Kaufering 420 Kempten 259, 262 Kleinbardorf 89, 97, 149 Kloster Veilsdorf 205 Koblenz 69 Köln 9, 259, 313, 451 Königszelt 205 Kühndorf 142 Landsberg am Lech 420 Landsberg an der Warthe 307

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Langewiesen 343 Laupheim 449 Leipzig 14, 17, 43, 45, 67, 167, 169, 242–244, 246, 248, 252, 304, 307–313, 327 f., 339, 347, 413, 455 Leitmeritz 374 Lengsfeld 90 f., 188 Libau/Liepaja 249 Lichtenfels 201, 211 Liegnitz 362 Lille 273 Lingenfeld 61 Lissa 150 London 209, 231, 364, 462, 465 Magdeburg 34, 46, 73, 204, 372 Mainberg 110, 112 Mainz 13, 37, 41 f., 51, 69, 82, 86, 99, 102, 109, 115, 180 f., 280 Majdanek 321 Marisfeld 91, 139–156 Marzahna 343 Maßbach 87 Mauthausen 367 Meiningen 10, 85, 88, 91 f., 95, 98, 106, 111 f., 118, 140–143, 147, 153, 155 f., 164, 166, 175, 178, 180, 185, 191 f., 201, 205, 207, 209–216, 255, 277, 297, 302, 320, 327 f., 362 f., 387 Memphis (Ägypten) 455 Meuselwitz 376 Miltenberg 99 Mittelbau-Dora 29, 324, 347, 350, 376 Moringen 303 Mühlhausen 13 f., 27, 32, 46, 68, 83, 94, 101, 119, 181, 183, 185, 193 f., 312, 373, 376 München 211, 224, 242, 259, 287, 360, 365, 418 f., 448, 453

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Naumburg 255 Neckarsulm 105 Neusustrum (KZ) 306 New York 251, 403, 414, 416 Niedenstein 334 Niederorschel 376 Nordhausen 13 f., 18, 27, 33, 36, 40, 46, 85, 94, 108, 111, 166, 180 f., 183, 191, 193 f., 320, 362 f., 372, 387, 427–429, 431, 433 f., 437, 439–441, 443–447 Nordheim (Grabfeld) 94 f. Nürnberg 226, 229, 268, 316, 318, 320 f., 328, 336, 340, 370, 417 Obermaßfeld 118 Oelsnitz 44 Offenbach 419 Ohrdruf 372, 376 Paris 216 Pirna-Sonnenstein 367 Plaue 24, 32, 35, 334 Plauen 34, 35, 44 Prag 50, 87, 119, 123, 307 f. Quedlinburg 111 Ranis 35 Ravensbrück 372 Rehmsdorf 372 Riga 246, 249–251, 307, 410 Römhild 83, 95, 112, 147, 180 Rudolstadt 35, 83, 164, 406 Saalfeld 35, 45, 70, 111, 169 Sachsenhausen 363 Saloniki 257 Santiago de Chile 353, 387 Schalkau 214 Schleiz 83 Schleusingen 93, 108, 118, 140, 142

Ortsregister

Schmalkalden 9, 86 f., 109, 116 f., 119, 121–137, 140, 160, 183, 187, 198, 232, 255, 261, 264 f., 268, 297, 306, 311, 313, 320 f., 328, 370, 451 Schnaittach 108 Schönfelde 307, 345 Schönwald 207 Schwanfeld 164 Schwarza 83, 88, 140, 148, 190 Schweinfurt 108 Selb 207 Simmershausen 90, 92 Sobibor 321 Sömmerda 343, 376 Sondershausen 24, 93, 434, 449 Sonneberg 376 Sontra 156 Spa 216 St. Kilian 93 Stadtilm 33, 45, 338 Stadtlengsfeld 91, 167 Stockelsdorf 449 Straßburg 19 Streufdorf 92 Suhl 22 f., 93, 118, 124, 142, 190, 311, 318, 320, 333, 389, 401 Sulzdorf an der Lederhecke 110 Sulzfeld 89, 108, 110 Sundhausen 40 Suwalki 251 Tarnopol 243 Themar 98, 124, 139–143, 146– 148, 152, 154–156, 328, 362 Theresienstadt 16, 305, 323 f., 336, 374 Toulouse 463 Ur 455 Utting am Ammersee 420

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Ortsregister

Vacha 86 f., 91, 387 Völkershausen 91, 95 Wahlhausen 111 Walldorf 19, 87, 91 f., 96, 98, 140, 143–145, 156, 164, 169, 191, 196, 320 Waltershausen 95, 337 Wasilischki 252 Wasungen 109 f., 118, 211 Wehlau 166 Weida 34, 44 Weiden 207 Weimar 15 f., 29, 57 f., 94, 108, 110, 157 f., 160–178, 185, 188, 194, 197 f., 221 f., 224 f., 228, 268, 274, 276 f., 279, 281, 290, 296, 301–302, 311, 321, 339 f., 347, 349 f., 352, 359, 363, 365, 368, 370, 375, 382, 384, 398, 405, 424

Weißenfels 44, 61 Weißensee 25 Weitersroda 92 Wernshausen 210 Wien 165 f., 175, 218, 304, 365 f. Wildbad 276 Wilna 251 Würzburg 73, 85, 87, 94 f., 106, 110, 140, 164, 201, 229, 250, 270 f., 290 York/Jewbury 49 Zella-Mehlis 209, 359 Zimmerau 110, 113

Personenregister Das Register verzeichnet alle im Text- und Fußnotenteil erwähnten Personen. Jedoch ist darauf verzichtet worden, jene Personennamen aufzunehmen, auf die nur im Kontext der Forschungsdiskussion rekurriert wird und die lediglich in biblio­g raphischen Angaben erscheinen. Vornamen, die nicht ermittelt werden konnten, werden mit einem [N. N.] gekennzeichnet. Abbe, Ernst 199, 284–288 Abraham (Berka) 110 Abraham (Schmalkalden) 119 Abraham (Ur) 455 Abraham, Isaac (Isak) 146 Abraham, Moses 148 Abraham, Selig 148 Abraham von Leipzig 43, 45, 67 Adelkind von Dornburg (Erfurt) 37 Adorno, Theodor W. 302 Alexandrowitz, Max 306 Almagor, Gila 306 Alperowitsch, David 249 Alperowitsch, Wolf 249 Amalie Elisabeth, Landgräfin von Hessen-Kassel 129 Ambach, David 348, 350 Amenophis II., Pharao 455 Anna Amalia, Herzogin von SachsenWeimar und Eisenach 162, 172 Apion von Alexandria 454 Arendt, Arnold 341 Arke, Oscar 207 Arnhold, N. N. 208 Arnoldi, Ernst Wilhelm 189 Arnoldi, Johann Gottfried 170 Auerbach, Felix 199 Aufrichtig, Rudolf 381 Augustinus, Kirchenvater 458 Aul, Bella 302 f. Bächerer, Conrad 25

Bär, Aron 154 Bär, Regina 154 Baer (Bär), Samuel 150 f., 155 Bartels, Adolf 198 Barwick, Karl 249 Bastian, Margot 420 Baudert, Wilhelm 197 Bauer, Leo 392 Baumbach, N. N. (Amtmann) 129 Baumgarten, Josef ben Israel (Rudolf) 429 f. Bauscher N. N. 207 Bauss, Otto 335 Beatus, August 441 Bebel, August 305 Beckmann, Max 224, 417 Benary, Ernst 190, 218 f., 227 Benary, Friedrich 218 Benary, Levy 190 Benjamin, Walther 302 Benrubi, Isaak 257, 263 Berg, Salomon 151 Berkeley, George 454 Berkowitz, David 249 f. Bernhard II., Herzog von SachsenMeiningen 201 Berthold, Graf von Henneberg 113 Bertuch, Friedrich Justin 171 Bessenroth, Otto 20 Bethmann, N. N. 208 Bettmann, Otto 413–416 Beutel, Konrad 420 f. Beythan, Alfred 348

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Bicreye, Johannes 226 f. Binis (Römhild) 113 Bischof, Salomo (Gotha) 40 Bismarck, Otto von 18, 272, 280 Bloch, Ernst 455 Böhler, Julius 418 Brandenstein, Carl Freiherr von 277 Brandenstein zu Oppurg, Albrecht von 74 Braun, A. 204 Braun, F. 204 Braunthal, Alfred 304 Braunthal, Gerard 304 Brill, Hermann 308, 377, 379 Buber, Martin 65, 258, 263 Buchelo, Hans 71 Buchelo, Margareta 71 Buchmann, Erich 20 f. Buchmann, Gerhard 20 Bühler, E. 334 f. Buiter, Harm 304 Bülau, Friedrich 17 Callmann, Henriette 164 Capistrano, Johannes 83 Carl August, Großherzog von Sachsen-Weimar und Eisenach 167, 176 Carl Eduard, Herzog von SachsenCoburg und Gotha 209 Carl, Käthe 420 Carl, Walter 416–423 Carlebach, Julius 415 f. Caro, Jakob 192 Casimir, Markgraf von Brandenburg (-Ansbach)-Kulmbach 108 Chaim, Georg 381, 401 Chajim (Gotha) 68, 70 Claß, Heinrich 221 Cohen, Hermann 258, 263 Cohen-Reuß, Max 199 Cohn, Georg 447

Personenregister

Cohn, Ludwig 260 Conrad, N. N. 216 Conrad (Weißensee) → Bächerer, Conrad Corsep, Walter 222–225 Czapski, Siegfried 284 David von Arnstadt (Erfurt) 35, 38, 42 De Man, Henrik 304 Dedekind, N. N. 52 Della Pergola, Sergio 462 Diederichs, Eugen 302 Dietrich Schenk von Erbach, Erzbischof von Mainz 41 f. Dinter, Artur 268, 332 Diodor 454 f. Dobereiner, Hans 109 Doctor, Löb 96, 196 Dohm, Christian Wilhelm 181 Dorothea Zollnerin, Äbtissin des Klosters St. Johanniszelle unter Wildberg 110 Dreifuß, N. N. (Landrabbiner) 153 Dublon, Erich 326 Duncker, Franz 300 Eberhardt, Otto 348 Eckermann, Johann Peter 170 Eggeling, Heinrich 272 Eggerath, Werner 387, 390 f., 393 Ehrhardt, Heinrich 209 f. Ehrlich, Hermann 98, 194 Einstein, Albert 266 Eisele, Hans 368 Eisenberg, J. 212 Elkan, Alexander 166, 170–177 Elkan, Caroline 166 Elkan, Henriette 164 Elkan, Israel Julius 164, 166, 170 Elkan, Jacob (Jakob) 94, 157, 162 f., 165–170, 172

Personenregister

Elkan, Jacob Adolph 166 Elkan, Jeanette 166 Elkan, Johanna 165 f., 173 f. Elkan, Julius 157, 165 f., 168–175, 178 Elkan, Laura 166 Elkan, Luise 166 Elkan, Meyer 164, 166, 170, 172, 175 f. Elkan, Sara 164 Elkan, Simcha 164, 166 Elkan, Zerline 175 Elkan auf Elkansberg, Leopold Anton 165 f., 172 Ellstaetter, Fanny Clara → Rosen­ thal, Clara Engels, Friedrich 100 Ernst (genannt der Fromme), Herzog von Sachsen-Gotha(-Altenburg) 281 Esau, Abraham 287 Eschwege, Helmut 22 Ettle, Wilhelm 422 Eucken, Ida 258 Eucken, Irene 258 f., 263 Eucken, Rudolf 255–265, 268 Eucken, Walter 257 Falk, Johannes 170 Fehmann, Falk 137 Fehr, Hans-Adolf 275 Feininger, Lyonel 224 Ferdinand III., Erzherzog und Großherzog von Österreich-Toskana, Großherzog von Würzburg 95 Fettmilch, Vinzenz 115 f. Fichte, Johann Gottlieb 256 Fichtmann, Rita 347 Fillmann, Heinrich 207, 216 Fischer, Max 214 Fleischer-Alt, Jenny 398 Focke, N. N. 328 Förstemann, Ernst Günther 18

479

Förster-Nietzsche, Elisabeth 274 Fogarasi, Bela 302 Frankenberg, Jakob 155 Frede, Lothar 381 Freytag (Wahlhausen) 111 Freytag, Gustav 193 Frick, Wilhelm 339 f. Fridel, Abraham (Erfurt) 42 Friedmann, Abraham 154 Friedmann, Artur 326 f. Friedmann, Hugo 156 Friedmann, Max 348, 351 Friedrich II. (genannt der Sanftmütige), Kurfürst von Sachsen 143 Friedrich II. (genannt der Ernsthafte), Landgraf von Thüringen und Markgraf von Meißen 35, 40, 82 Friedrich II., Herzog von SachsenGotha 143 Friedrich III. (genannt der Weise), Kurfürst von Sachsen 103 Friedrich V., Pfalz graf und Kurfürst 123 Friedrich Anton, Fürst von Schwarzburg-Rudolstadt 93 Friedrich von Wirsberg, Fürstbischof von Würzburg 85 Fries, Jakob Friedrich 230 Fritsch, Carl Friedrich Christian von 166 Fritz der Lange (Schmalkalden) 136 Fritz, Hannß 144 Froide, Ehefrau des Israel Gans (Erfurt) 41 Fromm, Erich 301 f. Fromut von Arnstadt (Erfurt) 68 Froriep, Ludwig Friedrich 171 Frühberg, Aharon 436 Fuld, Helene 207 Fuld, Ludwig 207, 209, 212, 216 Fuld, Mathilde 212

480

Fürnberg, Louis 308 Gans, Bruna (Erfurt) 41 Gans, Chajim (Erfurt) 68, 71–74 Gans, Hözlin (Huzlin) (Gotha, Erfurt) 40 f., 43, 74 Gans, Israel (Erfurt) 40 Gans, Luza (Erfurt) 68 Gans, Mose (Erfurt, Gotha) 40 f. Gans, Reine (Erfurt) 68 Gaude, Rudi 343 Gebhardt, Willy 390, 393 Geiger, Abraham 18, 456 Georg (genannt der Fromme), Markgraf von Brandenburg-Ansbach 108 Georg I., Herzog von Sachsen-Meiningen 92 Georg II., Herzog von Sachsen-Meiningen 199, 214, 216 Georg II., Landgraf von HessenDarmstadt 116, 121, 126, 128, 133–135 Georg Ernst, Graf von Henneberg-Schleusingen 117 f. Georg von Thüna, Abt der Benediktinerabtei Saalfeld 111 Gerd, Levi 163 Gerhard von Schwarzburg, Bischof von Würzburg 73, 87 Gerland, Heinrich 273, 276 Gersdorff, N. N. (Minister) 170 Geyer, N. N. 393 Ginsburg, Jakob 249 Glück, N. N. 208 Goethe, Johann Wolfgang von 157 f., 170, 173, 259 Golda (Coburg) 44 Goldmann, Meier 153 Goldmann, Nahum 258, 263 Goldmann, Tuwija 249 Goldschmidt, Henriette 259

Personenregister

Goldstein, Julius 257, 259, 263 Gottfeld, Alfred 307, 341, 345–347 Gottfeld, Regina 347 Gottfeld, Werner 307, 343–346 Gottschalk von Kassel (Mühlhausen) 76 f. Gräf, Walter 197 Greidinger, Jack 304 Greßler, Hans 343 Gunther, Graf von Schwarzburg 35, 38 Günter XXXIX., Graf von Schwarzburg 108 Haack, Hans-Georg 261 Hacker, Curt 259, 262 Halpert, Georg 327 Hanna von Arnstadt (Erfurt) 38 Karl August, Fürst von Hardenberg 182 Hartmann, Emil 305 Hartmann, Friedrich 440 Harun al-Raschid, Kalif 452 Heckel, Erich 224 Hedemann, Justus Wilhelm 243, 246, 275 Heilbronn, Isaak 268 Heimann, Eduard 384 Heine, Heinrich 451 Heinrich, Herzog von Sachsen-Römhild 140 Heinrich, Graf von Hohnstein 111 Heinrich, Graf von Schwarzburg 35–39 Heinrich II. von Isny, Erzbischof von Mainz 51 Heinrich Julius, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel 83, 88 Hekateios von Abdera 455 Helene, Freifrau von Heldburg 215 Helle, Aron 146 Helphand, Alexander 294

Personenregister

Henß, Adam 176, 185 Hermann, Graf von Henneberg 113 Herzl, Theodor 247 Hess, Alfred 218, 222 f. Hess, Moses 298 Heubach, Eduard Albert 205 Heusing, Albert 208 Himmler, Heinrich 367, 369 Hindemith, Paul 224 Hindenburg, Paul von 209 Hirsch (Schmalkalden) 136 Hirsch, Isaac Junior 144 Hirsch, Isaac Senior 144 Hirsch, Max 300 Hirsch, Nathan 149 Hitler, Adolf 217, 307, 335, 365, 392 Hitzig (Mainberg) 111 Höchberg, Karl 305 Hoffmann, N. N. (Landrabbiner) 152 Hoffmann, N. N. (Polizeioberst) 437 Hoflieb (Arnstadt) 35 Hofmann, Gustav 156 Hofmann, Josef 98 Hofmann, Lippmann 155 Hofmann, Werner 207, 216 Holländer, Abraham Lehmann 44 Hollstein, F. W. H. 410, 412 Horkheimer, Max 302 Hossinger, Karl 391 f. Hoy, Werner 334 f. Human, Armin 18, 20 Humboldt, Wilhelm von 186 f. Hutschenreuther, C. M. 207 Hutschenreuther, Lorenz 207 Isaac (Schmalkalden) 131 Isaac, Michel 144 Isaak (Aachen) 452 Isaak Samuel von Felsberg (Schmal-

481

kalden) 119, 121, 126, 135 Isaak von Arnstadt I (Erfurt, Eisenach, Gotha) 38 f., 41–43 Isaak von Arnstadt II (Erfurt) 68, 70, 74 f. Isaak von Jena, genannt Kischke 43–46, 77 f. Isaak von Kahla 43, 45, 48 Israel, Herz 163 Israel, Jacob 163 Israel, Levi 163 Itzig, Feibel (Feiffel) 148 Itzig, Kreile 148 Jacob (Schmalkalden) 119 Jacobskötter, Johannes 197, 221 Jacobson, Israel 182, 194 Jakob (Wasungen) 109–111 Jakob von Arnstadt (Erfurt, Eisenach) 38 f. Jakob von Halle 46 Jaraczewsky, Adolph 18 Jeremias, Alfred 455 Jérôme Bonaparte, König des Kgr. Westphalen 181 Johann (genannt der Beständige), Kurfürst von Sachsen 113 Johann Friedrich I. (genannt der Großmütige), Kurfürst von Sachsen 82, 110, 112, 118, 140 Jonas, Jacob 146 Josef (Jena) 70 Josel von Rosheim 107, 112 Josephus 454 Jossimow, Gdaly 249 Jost, Isaak Markus 17 Josua, Simon 145 Judeich, Walther 249 Julie, Gräfin von Egloffstein 173 Julius Echter von Mespelbrunn, Fürstbischof von Würzburg 85

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Kaesbach, Walter 223 f. Kahn, Leo 156 Kaim, Isidor 17 Kalecki, Leiser-Hirsch 251 f. Kalman (Hessen) 42 Kalman von Ranis 35 Kalman von Wiehe (Erfurt) 36 Kandinsky, Wassily 224 Kandt, Albert 209 Kant, Immanuel 268 Kantor, Moshe 462 f., 465 Karl (genannt der Große), röm. Kaiser 452 Karl V., röm.-dt. König und Kaiser 108 Kassel von Arnstadt (Erfurt) 35, 38, 42 Katharina, Gräfin von HennebergRömhild 88 Katz, Dagobert 350 Katz, Siegmund 348, 350 Katzenstein, Jakob 192, 348 f. Kaznelson, Siegmund 262 f. Keller, Rosa 420 Kießling, Walter 228 Klinger, Max 287 Knorre, Hans 74 Koch, Hermann 206 Koch, Karl Otto 364 f. Koch, Margarete 111 Koch, Marianne 169 Koch, Sophie 169 Koch, Theodore F. 259 Kochbar, Bar 327 f. König, Emil 343 Kohn, Hans 256 Konstantin, röm. Kaiser 451 Kormes, Willi 373 Korn, Salomon 320 Korsch, Karl 301 f. Kranold, Albert 308 Kretschmann, Theodor von 169 Krüger, Herman 269

Personenregister

Krüger, W. 290 Krumpholz, Kaspar 70 Küchler, N. N. (Rentmeister) 129 Kuhn, Karl 175 Kühnemann, Eugen 259 Kuss, Günther 421 Kutzleben, Hans 74 Lakus (Jena) 70 Lakus (Nordhausen) 46 Lamm, N. N. 190 Landau, J. 208, 213 Landauer, Carl 304 Lang, Simon 153 f. Lange, Hugo 70, 78 Lange, Zina 70, 78 Langhans, Paul 198 Lasalle, Ferdinand 298 Lasker, Eduard 196 Lattmann, Wilhelm 198 f., 268 Lazarus, Moritz 257 Leber, Hermann 308 Lehelin, N. N. 43 Lehmann, Heinrich 275 Lehmann, Louis 437 Lerner, Abba P. 304 Levi, Franz 95 Levi, Jacob 150 Levi, Simon 92 Levinstein, Moritz 156 Levy, Flora 263 Lewi, Sohn der Huzlin Gans (Erfurt) 40 Lewi Junior (Göttingen) 40 Lewi Senior (Göttingen) 40 Lewi von Gotha 40, 48 Libong, N. N. (Arnstadt) 35 Lichtenstein, Eduard 429 Lichtenstein, Ida 429 Liebknecht, Karl 303 Liebmann (Göttingen) 40, 48 Linke, Paul 308

Personenregister

Lipman 70 Lippmann (Sulzfeld) 108 Lipschitz, Mark 252 Litten, Hans 360 Löb, Moses 147 Loeb, Walther 295, 305 Löhn, Werner 343 Löser, Abraham 146, 148, 154 Löser, Isaac 145 Löser, Jacob 164, 167, 169 Löser, Michael 146 Löser, Sara 164 Löw, Lob 146 Löw, Moses 146 Löwenthal, Leo 302 Lorenz, Rudolf 399 Loszer von Dornburg (Erfurt) 37 Ludecus, Johann August 172 Luden, Heinrich 186 Ludwig, Leopold 153 Ludwig, N. N. (Lehrer) 155 f. Lukacs, Georg 301 f. Luther, Martin 28, 99, 104, 106 Luthmer, N. N. 419 Lüttig, Carl 434 Luxemburg, Rosa 303 Machala, Ehefrau Isaaks von Jena 46, 48 Männlein (Berkach) 95 Maerker, Alfred 295, 305 Maerker, Martha 305 Magid, Berl-David 420 Manetho von Heliopolis 454, 45 Mann, Bruno 223 Mann, Heinrich 233 f. Mannstedt, Kurt 70 Mantel, Jacob 146 Mantel, Schmus 146 Marcuse, Herbert 302 Maria Pawlowna, Großherzogin von Sachsen-Weimar und Eisenach 171,

483

173 Markuschewitsch, N. N. 252 Marschalk von Ostheim, Johann Friedrich 142 Marschalk von Ostheim zu Marisfeld, Johann Heinrich 143, 146 Marschalk zu Walldorf, Franz Friedrich 143–145 Martial 454 Marx, Karl 297 f. Massing, Hede 302 Massing, Paul W. 293 May, Kurt 414 Mazur, Robert 327 Meir (Arnstadt) 35 Meir (Weißenfels) 45 Mendel, Abraham 334 Mendel, Adolf Israel 334, 349–351, 354, 387 Mendel, Bertha 353 Mendel, Jesaias 335 Mendel, Johann 142 Menle (Mendl), Meyer 144, 146 Merneß, Hersch (Hirsch) 146 Meyer, N. N. (Viehhändler) 146 Meyer, der alte (Schmalkalden) 136 Meyer, Else (Zerle bat Jecheskel) 438 Meyer, genannt der Ältere (Schmalkalden) 134 Meyer, Jacob 146, 149 Meyer, Jonß (Jonas) 146 Meyer, Mantel 146 Meyer, Schmüel (Schmalkalden) 136 Michael von Prag (Schmalkalden) 136 Michaelis, Clara 434 Michaelis, Jacob Heinemann 434 Michel zu Coburg 44 Michelsen, Andreas Ludwig Jacob 17

484

Mieding, Johann Martin 157 Milz, Hans von 110, 114 Misch, Alfred 410–412 Misch, Elsa 410 Misch, Johanna 412 Molschleben, Heinrich von 74 Montebello, Philippe de 403 Moos, Wilhelm 218 Moritz, Herzog von Sachsen-Zeitz 93 Moritz, Landgraf von Hessen-Kassel 119, 126 Moritz, Hermann 166 Moritz, Louise 166 Moritz, Roderich 163, 165 f. Moses (Wasungen) 108 Mose von Arnstadt (Erfurt) 68, 70 f., 75 Mose von Eilenburg (Magdeburg) 46 Moskowsky, Jakob 249 Müller, Friedrich von 170 Müller, Mayer 155 Müller, Meyer 149 f. Müller, Otto 421 f. Müller-Meiningen, Ernst 214 Müntzer, Thomas 100 f. Muth, Konrad 203 Myschalow, Chaim 249, 251 Myschalow, Moses 249 Nadelmann, Carl 244 f. Nadelmann, Eva-Maria 245 Nadelmann, Max 244 Napoleon I. Bonaparte, Kaiser der Franzosen 13, 174, 181 f., 429 Nathanson, Regina 347 Naumann, Max 261 f. Neisser, Hans 304 Neufeld, Siegbert 19 Noack, Fritz 307 Nolde, Emil 224 Nonne, Ludwig 195

Personenregister

Nußbaum, Seligmann 421 Nußbaum, Siegfried 401 Olafske, Karl 401 Olearius, Johann Christoph 333 Oppe, Armin 193 Oppenheim, Paul 305 Oppenheimer, Franz 258 Pappenheim, Günter 270 f. Pappenheim, Ludwig 306 Patze, Hans 21 Paul, Rudolf 401 Paulssen, Arnold 277 Pechstein, Max 224 Peters, Wilhelm 308 Petry, Ludwig 102 Peukert, Rudi 348 Pferdekämper, Ewald 213 Pfesdorf, Alfred 343 Philipp I. (genannt der Großmütige), Landgraf von Hessen 110 Pierstorff, Julius 284 Plaut, Carl 255, 256, 260–264, 268 Plaut, Moses Max 267 Plutarch 454 Polde, Hans 111 Pollack, Hubert 250 Pollock, Friedrich 302 Pommer, Arthur 339 Pommer, Erna 339 Pommer, Hermann 339 Pommer, Louis 337–339 Popper, Jacob Meyer 164 Pracht, Johannes 401 Prager, Eugen 307 Purvie, Efraim 249 Pythave, Sieward 73 Rachel von Magdeburg (Erfurt) 73 Rathenau, Emil 207 Rathenau, Walther 222, 259, 266

Personenregister

Rattner, Hilel 249 Reger, Max 215 Reich, David 61 Reine von Altenburg 46 Reinhold, Abraham 153 Reinhold, Heinemann 154 Reinhold, Isaak 153 Reis, Elias Löw 163 Remen, Lazar 249 Remigolsky, Selig 249, 251 Resnikowitsch, Meir 249 Richter, Ernst 244 Richter, Julie 438 Richter, Julius 438 Richter, Kurt 244 Rießer, Gabriel 192 Rifka (Erfurt) 43 Rohlfs, Christian 224 Rohr, Moritz von 408, 413–416, 418, 425 Röhrig, N. N. (Pfarrer) 196 Romberg, Joseph 164 Romberg, Simon 185 Romberg, Zerline 165 Rommershausen, Heinrich 69 Rosenbaum, Meier 334, 348 Rosenbaum, Siegfried 350 Rosenberg, Salli 348 Rosenberg, Siegmund 335 Rosenblatt, Baruch Bendix 436 Rosenthal, Bertha 353 Rosenthal, Clara 269, 288–290 Rosenthal, Curd Arnold 274 Rosenthal, Eduard 28, 199, 269–277, 279–291 Rosenthal, Salomon 270 Rosenthal, Samuel 271 Rothenberg, Louis 244 Rothenburg, Fritz 243 Rothschild, Robert 359 f., 364 Rothschild, Wolf Salomon 163 Rotscheid, N. N. 442

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Rousseau, Jean-Jacques 281 Rufus, Mutianus → Muth, Konrad Sabersky, Egon 327 f. Sabersky, Helene 327 Sachs, Otto 155 Säckle (Seckel), Elias 146 Salman von Arnstadt, Sohn Isaaks von Arnstadt I 43 Salman von Luxemburg (Coburg) 44 Salomon (Friesenhausen) 142 Salomon (Schmalkalden) 129 Salomon (Zimmerau) 110, 113 Salomon, Emanuel 433 Salomon, Johanne 433 Salomon, Michael 136 Salomon, Oskar 321 Salomon, Schie 146 Samuel von Barchfeld (Schmalkalden) 119 Samuel von Dornburg (Erfurt) 37 Sander, Johanna 429 Sattler, Fritz 401 Sauckel, Ernst Friedrich Christoph (Fritz) 20, 332–334, 340, 343, 348 Schack, Wilhelm 197 f. Schalam von Altenburg 43–47 Schiller, Friedrich 173, 457 Schimmel, Ludwig 149 f. Schlesinger, Walter 21 Schloß, Gabriel L. 154 f. Schloß, Julius 326 Schmalix, Adolf 224 f. Schmidt, Karl-Ludwig 308 Schmidt-Rottluff, Karl 224 Schmidt-Vilmar, Alfred 225 Schmuel, Löw 146 Schmuel, Salomon (Schmuhl, Salmann) 146 Schmuhl, Behr 146

486

Schmuhl, Jacob 146 Schnee, Heinrich 158 Schneider, Erich 343 Schneider, Walter 343 Schnell, Nicolaus 351 Schnell, Paul 351 Scholle, Hans 71 f. Scholtz, Adolf 225 Schönberger, Philipp 444 Schörnig, Emmi 343 Schörnig, Fritz 307, 343 Schrickel, Ludwig 171 Schubert, Heinz 343 Schuster-Woldan, Raffael 287 Schwager, Rudolf 338 Schwager, Werner 338 Schwarzenberg, Friedrich von 110 Schwierz, Israel 23, 103, 314, 449 Seliger, Martin 306 Selle, Fritz von 226 Seneca 454, 458 Siegel, Faibel 189 Siegel, Moritz 189 Simmel, Georg 263 Simon von Dornburg (Erfurt) 37 Simon, Georg 334 Simon, Joseph 141 Simon, Levy 141 Simon, Salomon 141 Simson, Löb 190 Simson, Moses 190 Singer, Michael 263 Singer, Paul 305 Slansky, Rudolf 308 Sloman (Altenburg) 46 Smoel, Sohn Isaaks von Jena 46, 48 Smohel von Dresden 68, 70, 78 Sorer, Kurt 71–73 Sorge, Richard 302 Speier, Hans 301 Srago, Benzel 249

Personenregister

Srago, Hazkel 247, 249, 251 f., Staetsky, Daniel 462 Staffelsteiner, Moses 108 Steitz, N. N. 156 Stern, Adolf 328 f. Stern, Alfred 104 Stern, Arthur 248 Stoecker, Adolf 300 Strauß, Jakob 106 f. Strupp, Bernhard Mayer 201, 204, 210–212 Strupp, Fanny 205, 215 Strupp, Gustav 190, 202–204, 206–216 Strupp, Louis 208 f. Strupp, Mayer 202 Strupp, Meinhold 211, 215 Sulzbach, Rudolph 202 Süssmann, A. 211 Szlecki, Ilse 307, 345 Theophrast 454 Tilly, Johann T’Serclaes von 124, 127 Titus 458 Ulbricht, Walter 392 Ulmann, Ephraim 167, 171 f. Ulmann, Gabriel 167, 169 Unger, David Salomon 182, 218 Unger, Ephraim Salomon 192 f., 218 Urbig, Franz 208, 216 Utzschneider, Joseph 411 Van de Velde, Henry 285 f. Veit, Johanna → Elkan, Johanna Veit, Moritz 165 f., 170, 174 Veit, Philipp 74 Vives von Halle (Erfurt, Göttingen) 40 Volckmar, Johann Peter 143

Personenregister

Wagner, N. N. (Schultheiß) 154 Wahl, N. N. (Obrist) 128 Waldenrode, Henne 75 Wallach, Käthchen 433 Wallich, Philipp Abraham 93 Walther, Abraham Löser 154 f. Wappenstecher, Ephrahim 434 Wechmar, N. N. (Amtmann) 129 Weil, Felix 302 Weill, Kurt 224 Weinberg, Pauline (Paula) 267 Weiß, Max 343 Weiß, Walter 343 Weißheit, Johannes 148 Weisstock, Emil 261 Weizmann, Chaim 248 Weltsch, Robert 256 Wiegand, Johann Georg 172 Wiemann, Erich 228 Wiestum, Heinrich Christoph von 128 Wildberg, Jakob 149 Wilhelm III., Herzog von Sachsen 45 f. Wilhelm IV., Graf von Henneberg-Schleusingen 108, 110 f., 117 f. Wilhelm IV., Landgraf von Hessen-Kassel 86

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Wilhelm, A. 434 Winckelmann, Cäcilie 303 Winckelmann, Frida 303 Winter, Apel (Abel) 71 Wolf, Benedikt Pinchas 259 Wolf, Siegfried 312 Wolff, Hannelore 321 Wolff (Wolf), Joseph (Josef) 146 Wolff, Martin 368 f. Wolzogen, Caroline von 170 Wolzogen, Wilhelm von 170 Wydenbrugk, Oskar (Oscar) von 186, 195 Zachäus (Saalfeld) 45, 70 Zdenko, Graf von Hoditz 131 f. Zeitsch, Karl 343 Zener (Erfurt) 43 Ziegesar, Friedrich von 173 Ziegesar, Marie von (Mutter) 173 Ziegesar, Marie von (Tochter) 173 Ziegler, Gustav 259, 393 Ziegler, Ignaz 257–259, 263 Ziegler, Willy 343 Zilz, Jakob 243 Zilz, Wolf 243 f., 246 Zimmermann, Wilhelm 104 Zink, Karl 343 Zinn, Hermann 394 Zucker, Friedrich 249

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Uwe Dathe Wiss. Mitarbeiter an der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek. Prof. Dr. Alfred Erck Emeritierter Professor für Ästhetik und Kulturtheorie an der Technischen Hochschule Ilmenau PD Dr. Stefan Gerber Leiter des Archivs der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Monika Juliane Gibas Projektleiterin Provenienzforschung beim Landesverband Sachsen-Anhalt im Deutschen Bibliotheksverbandes e.V. Dr. Sören Gross Wiss. Mitarbeiter, Deutsches Optisches Museum, Provenienzforschung Prof. Dr. Hans-Werner H ahn Emeritierter Professor für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Ulrich H ausmann, M. A. Wiss. Mitarbeiter am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien Ron Hellfritzsch, M. A. Wiss. Mitarbeiter, Deutsches Optisches Museum, Provenienzforschung Stefan Hellmuth, M. A. Museumspädagoge und Historiker, Doktorand an der Friedrich-Schiller-Universität Jena PD Dr. Marko K reutzmann Leiter der Forschungsstelle für Neuere Regionalgeschichte Thüringens an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Maike L ämmerhirt Projektmitarbeiterin (DFG) an der Professur für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Erfurt Dr. Kai Lehmann Leiter des Museums Schloss Wilhelmsburg in Schmalkalden Dr. Andreas Lehnertz Postdoc der Martin Buber Society of Fellows in the Humanities and Social Sciences an der Hebräischen Universität von Jerusalem Prof. Dr. Gerhard Lingelbach Emeritierter Professor für Bürgerliches Recht und Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Michael Löffelsender Gedenkstätte Buchenwald, Kustos Geschichte des KZ Buchenwald Dr. Johannes Mötsch Direktor des Thüringischen Staatsarchivs Meiningen a. D. Chaim Noll Freiberuflicher Journalist und Schriftsteller Dr. Steffen R assloff Freiberuflicher Historiker und Publizist Uwe Rossbach Soziologe, Geschäftsführer „Arbeit und Leben Thüringen“ PD Dr. Annegret Schüle Oberkuratorin für Neuere und Zeitgeschichte der Geschichtsmuseen der Landeshauptstadt Erfurt und Leiterin des Erinnerungsortes Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz Dr. Karin Sczech Beauftragte für das UNESCO-Welterbe Jüdisch-mittelalterliches Erbe in Erfurt Judy Slivi, M. A. Soziologin, Mitarbeiterin von „Arbeit und Leben Thüringen“ Katharina Witter Oberarchivrätin i. R.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Dr. Marie-Luis Zahradnik Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Nordhausen, Leiterin des Projekts „Digitalisierung der jüdischen Friedhöfe im Landkreis Nordhausen zur Konservierung von Denkmälern und Geschichte als Form kommunaler Erinnerungsarbeit“