Stadt, Krankheit und Tod: Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der Epidemiologischen Transition (vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert) [1 ed.] 9783428487974, 9783428087976

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Stadt, Krankheit und Tod: Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der Epidemiologischen Transition (vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert) [1 ed.]
 9783428487974, 9783428087976

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JÖRG VÖGELE / WOLFGANG WOELK (Hrsg.) Stadt, Krankheit und Tod

Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte

In Verbindung mit Rainer Fremdling, Carl-Ludwig Holtfrerich, Hartmut Kaelble und Herbert Matis herausgegeben von Wolfram Fischer Band 62

Stadt, Krankheit und Tod Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der Epidemiologischen Transition (vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert)

Herausgegeben von Jörg Vögele und Wolfgang Woelk

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Stadt, Krankheit und Tod : Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der Epidemiologischen Transition (vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert) / Hrsg.: Jörg Vögele ; Wolfgang Woelk. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte ; Bd. 62) ISBN 3-428-08797-6

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0588 ISBN 3-428-08797-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Eine internationale wissenschaftliche Tagung und die daraus hervorgehende Publikation sind nicht nur von den als Herausgeber gekennzeichneten Personen zu organisieren. Hierzu bedarf es zahlreicher hilfreicher Gönner und hilfreicher Hände, denen wir an dieser Stelle danken möchten. Bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft bedanken wir uns für die Finanzierung der Arbeitstagung. Ohne die Hilfe der DFG hätte die internationale Schar von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus zahlreichen europäischen Ländern nicht zusammengeführt werden können. Die „Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 4 stellte den nötigen Druckkostenzuschuß bereit, ohne den der Band nicht hätte gedruckt werden können. Der Verlag Duncker & Humblot hat sich bereit erklärt, dieses aus unserer Sicht wichtige Thema in einer entsprechenden Reihe aufzunehmen. Hierfür sprechen wir unseren Dank aus. Robert Lee und Alfons Labisch wollen wir dafür danken, daß sie es trotz des knapp bemessenen Zeitbudgets geschafft haben, die Tagung durch ihre kritischen Kommentare zu den Sektionen, insbesondere aber durch ihre beiden Abschlußkommentare, wesentlich zu unterstützen. Nun zu den hilfreichen Händen: Stephan Krämer und Kerstin Jansen haben mit den Herausgebern die umfangreiche Organisation der Tagung übernommen. Die Übersetzungen der englischen Beiträge ins Deutsche sind ein Gemeinschaftswerk von Marita Bruijns-Pötschke, Silke Fehlemann, Janine Illian, Kerstin Jansen, Jörg Vögele und Wolfgang Woelk. Die Verantwortung für verbliebene Fehler - nicht nur bei den Übersetzungen - liegt selbstverständlich allein bei den Herausgebern. Zuletzt wollen wir uns bei allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Instituts für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bedanken, die einen Beitrag dazu geleistet haben, die Tagung so reibungslos durchzuführen und in einer überaus angenehmen Arbeitsatmosphäre zu diskutieren. Zu nennen sind über den bereits gedankten Personenkreis hinaus: Nicole Bauer, Fritz Dross, Barbara Friedrich, Carmen Götz, Uwe Heyll, Christoph auf der Horst, Brigitte Kaletha, Christa Reißmann, Bärbel Schürmann, Thomas Schwabach und Daniela Thulke. Düsseldorf, im Frühjahr 2000

Jörg Vögele und Wolfgang

Woelk

Inhalt Stadt, Krankheit und Tod. Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der Epidemiologischen Transition. Eine Einführung Von Jörg Vögele und Wolf gang Woelk

11

I. Die Entwicklung der städtischen Gesundheitsverhältnisse vom Ancien Regime zur Hochindustrialisierung Krankheit und Tod in Liverpool während des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts Von Fiona Lewis

35

„Sharing the urban graveyard" - Sterblichkeitsdynamik im städtischen Hinterland, England 1680-1820 Von Steven King

61

Säuglingssterblichkeit in englischen Städten 1750-1850 Von Chris Galley

81

Die Entwicklung der Gesundheitsverhältnisse in deutschen Städten während der Industrialisierung Von Jörg Vögele

99

Krankheit und Tod in der sich industrialisierenden Residenz - Stuttgart im 19. Jahrhundert Von Sylvia Schraut

115

Krankheit und Geschlecht - Die Übersterblichkeit der männlichen Arbeiter in der Hansestadt Bremen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Von Robert Lee und Peter Marschalck

141

Wien im epidemiologischen Übergang: ein mitteleuropäischer Weg in die Moderne Von Andreas Weigl

159 I L Sanitäre Reformen

Cholera und sozialer Wandel. Die Schweiz als Beispiel Von Flurin Condrau

189

8

Inhalt

Die französische Gesundheitspolitik Ende des 19. Jahrhunderts: das Beispiel Bordeaux Von Peter Compton

209

Öffentliche Bäder und Waschhäuser in Liverpool, Belfast und Glasgow während des 19. Jahrhunderts: Ein vernachlässigtes Kapitel sanitärer Reformen Von Sally Sheard

219

Wer bezahlt die hygienisch saubere Stadt? Finanzielle Aspekte der sanitären Reformen in England, USA und Deutschland um 1910 Von John C. Brown

237

Räumliche Organisation preußischer Städte im 19. Jahrhundert zwecks Funktionalität und Gesundheit Von Ulrich Koppitz

259

Gewerblich-industrielle Luftverschmutzung und Stadthygiene im 19. Jahrhundert Von Michael Stolberg

275

Reform unerwünscht. Lufthygiene, Luftverschmutzung und Umweltpolitik vor dem Ersten Weltkrieg am Beispiel Westfalens Von Ulrike Gilhaus

291

Die Gelsenkirchener Typhusepidemie und ihr gerichtliches Nachspiel Von Martin Weyer-von Schoultz

317

HI. Soziale und medizinische Versorgung Von der Säuglingsfürsorge zur Wohlfahrtspflege: Gesundheitsfürsorge im rheinischwestfälischen Industriegebiet am Beispiel des Vereins für Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf Von Wolfgang

Woelk

339

Die Städtische Wohnungsfürsorge in der Schweiz. Gesetzliche Grundlagen und alltägliches Verwaltungshandeln im Vergleich Von Barbara Koller

361

Statt Gesundheit. Gewerbehygiene als »Verpackungskunst* Von Dietrich Milles Auswanderergeschäft und Gesundheitspolitik - Auswandererkontrollen in der Allgemeinen Krankenanstalt Bremen um 1900 Von Barbara Leidinger

367

383

Inhalt Die Bekämpfung der Pocken in Stockholm: Maßnahmen und Ergebnisse Von Peter Sköld

399

Mutterschaftsversicherung und städtische Mutterschaftskassen. Konzeptionen und ihre Umsetzung im Kaiserreich Von Marlene Ellerkamp

423

Städtische Altersversorgung in Deutschland und Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Von Karen Schniedewind

441

Ärzte und gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland und England vor dem Ersten Weltkrieg Von Ingo Tamm

457

Medizinische Versorgung und Gesundheitsfürsorge in Großbritannien 1860-1939 Von Steven Cherry

475

Die Finanzierung der öffentlichen Gesundheitspflege zwischen den beiden Weltkriegen am Beispiel der Niederlande: Die Konzeption der »kombinierten Gesundheitssysteme4 Von Henk van der Velden Zu den Autorinnen und Autoren

499 517

Stadt, Krankheit und Tod. Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der Epidemiologischen Transition. Eine Einführung

Von Jörg Vögele und Wolfgang Woelk Die Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt hat sich in Westeuropa während der letzten 200 Jahren annähernd verdoppelt und beläuft sich inzwischen auf nahezu 80 Jahre. Das entsprechende Absinken der Sterbeziffern und der Wandel des Todesursachenpanoramas werden mit dem Modell der Epidemiologischen Transition beschrieben:1 Nach einer Phase niedriger Lebenserwartung, gekennzeichnet durch eine hohe und stark schwankende Sterbeziffer infolge von Seuchen und Hungersnöten, verstetigten sich zunächst die Sterberaten in dem Maße, wie die großen „klassischen" Seuchen ausblieben. Schließlich begannen die Sterberaten kontinuierlich zu sinken, die bis heute andauernde Periode der degenerativen und gesellschaftlich verursachten Krankheiten mit niedriger Sterberate und hoher Lebenserwartung bei der Geburt setzte ein. Die Ursachen dieses substantiellen Wandels während dieser Epidemiologischen Transition von den traditionellen zu den modernen Sterblichkeitsverhältnissen liegen nach wie vor im dunkeln. Der Wirtschaftshistoriker und Nobelpreisträger von 1993, Robert W. Fogel, hat dieses Phänomen als eines der größten Ereignisse der Menschheitsgeschichte bezeichnet.2 Bis in die 1950er Jahre wurden Verbesserungen im Bereich der kurativen Medizin als Hauptursache für die zurückgehende Sterblichkeit angesehen. Demgegenüber setzte Thomas McKeown in den letzten Jahrzehnten neue Impulse: Er konnte zeigen, daß zahlreiche Todesursachen bereits entscheidend zurückgingen, bevor spezifische medizinische Therapien zur Verfügung standen.3 McKeown sieht für die

1 Vgl. A. R. Omran, The Epidemiologie Transition. A Theory of the Epidemiology of Population Change, in: Milbank Memorial Fund Quarterly 49,1 (1971), S. 509-538, hier: S. 516f. 2 R. W. Fogel , Nutrition and the Decline in Mortality since 1700: Some additional Preliminary Findings, in: National Bureau of Economic Research, Inc. Working Paper No. 1802, Cambridge 1986, S. 1 undS. 105. 3 Vgl. T. McKeown , The Modern Rise of Population, London 1976.

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Jörg Vögele und Wolfgang Woelk

zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine sowohl quantitativ als auch qualitativ verbesserte Ernährungssituation als primären Faktor für den säkularen Sterblichkeitsrückgang an. Neuere historische Forschungen, vor allem i m angelsächsischen Raum, kritisieren diesen Ansatz vehement. Sie werfen M c K e o w n insbesondere vor, daß er die immensen Unterschiede zwischen Stadt und Land außer acht lasse. Dabei komme gerade den Städten eine besondere Bedeutung zu. Traditionell galten die Städte i m historischen Europa als besonders ungesunde Orte m i t extrem hohen Sterberaten. Bereits i m 17. Jahrhundert wurde dieses B i l d von John Graunt geprägt und i m 18. Jahrhundert von Johann Peter Süssm i l c h in seiner berühmten Schrift über die ,göttliche Ordnung' aufgenommen. 4 I m 19. Jahrhundert machten vor allem englische Autoren auf Gesundheitsgefährdungen durch die Industrialisierung aufmerksam und verwiesen auf die extrem hohen städtischen Sterberaten. 5 M i t dem Einsetzen der Industrialisierung in Deutschland übernahmen Statistiker hierzulande diesen Topos. Heutzutage beschäftigt sich die internationale historische Forschung intensiv m i t dieser Problematik. 6 Für die angelsächsischen Länder, fur Frankreich sowie fur Schweden liegen mittlerweile einige grundlegende Untersuchungen vor, 7 die 4 J. Graunt, Natural and political observations mentioned in a following index, and made upon the bills of mortality, London 1662; J. P. Süssmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen, Berlin 1741. 5 W. Farr , Vital statistics or the statistics of health, sickness, disease and death, in: J. R. McCulloch (Hg.), A statistical account of the British Empire, London 1837; E. Chadwick , Report on the Sanitary Condition of the Labouring Population of Great Britain, edited with an introduction by M. W. Flinn, Edinburgh 1965 (Repr. der Ausgabe von 1842); Ε. H. Greenhow , Papers Relating to the Sanitary State of the People of England, General Board of Health, HMSO, London 1858. 6 Vgl. etwa die Ergebnisse einer Sektion auf dem XVIIIth International Congress on Historical Sciences in Montreal 27.8.-3.9.1995, die in Kürze publiziert werden: A. Brändström / L.G. Tedebrand (Hgg.), Urban Demography During Industrialization. Papers presented at tjie table ronde ,Urban demography during industrialization' at the XVIIIth International Congress on Historical Sciences in Montreal from August 27 to September 3, 1995, Stockholm (im Druck). Vgl. flir den deutschen Forschungsstand zum Thema Stadt und Gesundheit unter stärker sozialgeschichtlichen Aspekten: A. Labisch / J. Vögele, Stadt und Gesundheit - Anmerkungen zur neueren sozial und medizinhistorischen Diskussion in Deutschland, in: ASG 37 (1997), S. 181-209. 7 S. H. Preston / E. van de Walle , Urban French Mortality in the Nineteenth Century, in: Population Studies 32 (1978), S. 275-297; G. A. Condran / E. Crimmins , Mortality differentials between rural and urban areas of states in the northeastern United States 1890-1900, in: Journal of Historical Geography 6,2 (1980), S. 179-202; R. Woods I J. Woodward , Urban Disease and Mortality in Nineteenth Century England, London 1984; G. Kearns , The Urban Penalty and the Population Histoiy of England, in: A. Brändström / L.-G. Tedebrand (Hgg.), Society, Health and Population during the Demographic Transition, Stockholm 1988, S. 213-236; G. Kearns / W. R. Lee I J. Rogers , The Interactions of Political and Economic Factors in the Management of Urban Public Health, in: M. C. Nelson / J. Rogers (Hgg.), Urbanisation and the Epidemiologic Transition, Uppsala 1989, S. 9-81; G. Kearns , Le handicap urbain et le déclin de la mortalité en Angleterre et au Pays de Galles 18511900, in: Annales de Démographie Historique (1993), S. 75-105.

Einfuhrung

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die sozialen und wirtschaftlichen Faktoren des Industrialisierungsprozesses ebenso thematisieren wie die Lebensverhältnisse in den Städten. Rapides Bevölkerungswachstum führte zu beengten Wohnverhältnissen und unzureichender gesundheitsbezogener Infrastruktur. Damit wurden die Städte zum idealen Nährboden für Epidemien und Seuchen, die zudem auf eine unzureichend ernährte und durch harte Arbeitsbedingungen geschwächte Bevölkerung trafen. 8 Um die hohen Sterberaten in den schnell wachsenden englischen Industrie- und Handelsstädten des neunzehnten Jahrhunderts, die die Durchschnittswerte für ländliche Gebiete oder den gesamten Staat bei weitem übertrafen, zu kennzeichnen, wurden die Begriffe ,Urban Penalty' oder ,Le Handicap Urbain' eingeführt. 9 Einschlägige Arbeiten konzentrieren sich auf geographische Variationen und die säkulare Entwicklung der städtischen Sterblichkeit. Auch in Deutschland wurde diese Thematik aufgenommen, zunächst jedoch eher am Rande, im Rahmen der allgemeinen demographischen und epidemiologischen Entwicklung. 10 Zahlreiche neuere Arbeiten und derzeit laufende Forschungsprojekte beschäftigen sich inzwischen explizit mit städtischen Sterblichkeitsprofilen und deren Wandel im Verlauf der Industrialisierung. 11 Da es sich dabei um ein internationales Phänomen handelte, kann diese Thematik nur in einem solchen Kontext adäquat abgehandelt werden. Zahlreiche neuere Arbeiten wählen deshalb einen komparativen Ansatz, um einerseits die gemeinsamen Merkmale des Sterblichkeitswandels zu unterstreichen und andererseits auch die spezifischen nationalen Besonderheiten herauszuarbeiten. 12

8

Zum Forschungsstand siehe R. Otto / R. Spree / J. Vögele, Seuchen und Seuchenbekämpfung in deutschen Städten während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Stand und Desiderate der Forschung, in: Medizinhistorisches Journal 25 (1990), S. 286-304. 9

Kearns, Urban Penalty; Kearns, handicap urbain, S. 75-105. Grundlegend für Deutschland sind immer noch Α. E. Imhof, Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit dreihundert Jahren oder der Notwendigkeit einer neuen Einstellung zu Leben und Sterben. Ein historischer Essay, München 1981; W. R. Lee, The Mechanism of Mortality Change in Germany, 1750-1850, in: Medizinhistorisches Journal 15 (1980), S. 244288; P. Marschalck , Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1984; R. Spree, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Zur Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1981 (empfehlenswert auch die überarbeitete englische Übersetzung: Health and Social Class in Imperial Germany. A Social Study of Mortality, Morbidity and Inequality, Oxford 1988). 11 H.-D. Laux, Mortalitätsunterschiede in preussischen Städten 1905: Ansätze zu einer Erklärung, in: F.-J. Kemper / H.-D. Lawc / G. Thieme (Hgg.), Geographie als Sozialwissenschaft. Beiträge zu ausgewählten Problemen kulturgeographischer Forschung. W. Kuls zum 65. Geburtstag, Bonn 1985, S. 50-82; J. Vögele, Stadt, Gesundheit und Tod. Zur Geschichte des Sterblichkeitswandels in deutschen Großstädten, 1870-1913, Habilitationsschrift, Düsseldorf 1998. 12 W. R. Lee, Stadt und Gesundheit: Die Hafenstädte Nordwesteuropas, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (1992), S. 15-17; J. Vögele, Sanitäre Reformen in deutschen und englischen Städten - Ansätze eines Vergleiches. In: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (1992), S. 11-14; J. Vögele, Urban Mortality Change in England and Germany, 1870-1910, Liverpool 1998. 10

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Jörg Vögele und Wolfgang Woelk

Gemeinsames Merkmal der säkularen Sterblichkeitsentwicklung ist es, daß sich die Sterberaten in verschiedenen Städten Europas und Nordamerikas gegen Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sowohl absolut als auch relativ gesehen substantiell verbesserten, die Unterschiede zwischen den Sterberaten von Stadt und Land sich verringerten und die städtische Übersterblichkeit sich abschwächte oder sogar gänzlich verschwand. Vorreiter dieser Entwicklung waren im wesentlichen die Großstädte. 13 Offenbar besaßen diese das Potential, auf die hohen Sterbeziffern zur Jahrhundertmitte schnell und effizient zu reagieren. Neuere Forschungen haben deshalb insbesondere die Wechselbeziehungen zwischen Urbanisierung und Bevölkerungsentwicklung betont und legen nahe, daß die Städte in dieser Zeit Strategien zur Kontrolle der Gesundheitsverhältnisse entwickelten und zunehmend in die Praxis umsetzten. Hier sind insbesondere die Auswirkungen der öffentlichen Gesundheitspflege auf den säkularen städtischen Mortalitätsrückgang zu nennen.14 Damit ist die Verbindung zur Stadtgeschichte hergestellt. Auch in der Stadtgeschichtsforschung hat das Thema in den letzten Jahren stärkere Beachtung gefunden. Es wurde zum einen fallbezogen oder typologisch und zum anderen unter systematischen urbanisierungshistorischen Aspekten diskutiert. 15 In Deutschland hat Jürgen Reulecke das Thema „Stadt und Gesundheit" schon früh und immer wieder aufgegriffen. Dabei spricht Reulecke sowohl Spezifität wie Spannbreite des Themas in einem „Fragerahmen" an: 16 „Welche Personen

n J. Vögele, Die Entwicklung der (groß)städtischen Gesundheitsverhältnisse in der Epoche des Demographischen und Epidemiologischen Übergangs, in: J. Reulecke / A. Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hgg.), Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von „Volksgesundheit" und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 21-36. 14 Kearns / Lee / Rogers , Interactions; Preston / van de Walle , Urban French Mortality; S. Szreter , The importance of social intervention in Britain's mortality decline 1850-1914, a reinterpretation of the role of public health, in: Social History of Medicine 1 (1988), S. 1-37; J. Vögele , The Urban Mortality Decline in Germany, 1870-1913: Some Preliminary Results, in: G. Kearns / W. R. Lee / M. C. Nelson / J. Rogers (Hgg.), Improving the Public Health: Essays in Medical History, Liverpool (im Druck). 15 Zuletzt D. Machule / Ο. Mischer / A. Sywottek (Hgg.), Macht Stadt krank? Vom Umgang mit Gesundheit und Krankheit, Hamburg 1996. Ein Verdienst dieser Aufsatzsammlung ist es zweifelsohne, das Thema Stadt und Gesundheit mit überwiegend gelungenen Einzelbeiträgen in einer Langzeitperspektive bis in die Gegenwart zu erfassen und interdisziplinär aufzuarbeiten. Leider versäumen es die Herausgeber in ihrer Einleitung, das Thema systematisch zu entwickeln und so den Einzel beitragen ihren Stellenwert zuzuweisen. Eine begründete Antwort auf die titelgebende Frage bleibt der Band letztlich schuldig. 16 Vgl. zum Folgenden J. Reulecke, Die Politik der Hygienisierung. Wandlungen im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge als Elemente fortschreitender Urbanisierung, in: I. Behnken (Hg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. Konfigurationen städtischer Lebensweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Opladen 1990, S. 13-25; vgl. ferner A. Gräfin zu Castell Rüdenhausen / J. Reulecke, Kommunale Daseinsvorsorge und ,Volksgesundheit'. Zur Entstehung und Wirkung der städtischen Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, in: J. Reulecke (Hg.),

Einfhrung

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oder gesellschaftlichen Gruppen hatten aus welchen Gründen ein Interesse an einer solchen Politik [...] Welches waren die Organisationen oder Institutionen, derer sie sich bei der Verfolgung ihrer Ziele bedienten? Welche Mittel setzten sie ein [...]?" 17 Diese eher politik-, institutions- und organisationshistorisch ausgerichtete Fragestellung fügt Reulecke in die übergeordnete Perspektive der Urbanisierungsgeschichte ein: der Wandel der Interessengruppen und der die Kommunalpolitik dominierenden Kreise, die gewandelten Machtstrukturen mit neuen Handlungsspielräumen und Durchsetzungsmöglichkeiten. Daraus folgt unmittelbar, daß das Thema nur interdisziplinär zu bearbeiten ist, um dem Spektrum der Analysemöglichkeiten und wissenschaftlichen Zugriffe gerecht zu werden. Reulecke benennt Themen und einschlägige neuere Literatur, so unter anderem Stadthygiene und Städtebau, sozial- und technikgeschichtliche Untersuchungen zur Kanalisation, Analysen von Krankheit und Ärzteschaft im gesellschaftsgeschichtlichen Kontext, demographisch-statistische Untersuchungen zur sozialen Ungleichheit vor Krankheit und Tod, zum generativen Wandel schließlich bis hin zur Affektkontrolle im Zuge fortschreitender Zivilisation und verinnerlichter Sauberkeitsstandards. Angesichts der Nähe urbanisierungshistorischer Forschung zur Geschichte einer öffentlichen Gesundheit der Stadt sind entsprechende Themen auch unter der Frage aufgegriffen worden, wie die moderne städtische Leistungsverwaltung entstanden ist. 18 Wolfgang R. Krabbe und Hans-Heinrich Blotevogel haben maßgebliche Untersuchungen über die kommunale Leistungsverwaltung vorgelegt. 19 Unter dem Aspekt einer eher deskriptiv-phänomenologisch als theoretisch aufgefaßten Modernisierung beschreibt Krabbe den Wandel in der Sozial- und Gesundheitsverwaltung der deutschen Städte unter dem Einfluß der Industrialisierung im ausgehenden

Stadtgeschichte als Zivilisationsgeschichte. Beiträge zum Wandel städtischer Wirtschafts-, Lebensund Wahrnehmungsweisen, Essen 1990, S. 61-75. 17 Reulecke, Politik, S. 13. Reulecke selbst und vor allem auch seine Mitstreiterin A. Gräfin zu Castell-Rüdenhausen haben dies in zahlreichen Übersichtsaufsätzen sowie Einzel- und Sammelarbeiten ausgeführt. Vgl. dazu auch insbesondere den Sammelband J. Reulecke / A. Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hgg.), Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von „Volksgesundheit" und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991. 18 A. Sutcliffe , Towards the Planned City: Germany, Britain, the United States and France, 1780-1914, Oxford 1981. 19 Zur Entwicklung der kommunalen Leistungsverwaltung vgl. W. R. Krabbe, Kommunalpolitik und Industrialisierung. Die Entfaltung der städtischen Leistungsverwaltung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Fallstudien zu Dortmund und Münster, Stuttgart u.a. 1985; als prägnante Stadt- bzw. urbanisierungshistorische Übersicht s. ders., Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Einführung, Göttingen 1989. Unter dem typologischen Aspekt zentralörtlicher Funktionen, zentraler Orte und Raumbeziehungen vgl. H. H. Blotevogel, Zentralörtliche Gliederung und Städtesystementwicklung in Nordrhein-Westfalen, Dortmund 1990; ders. (Hg.), Kommunale Leistungsverwaltung und Stadtentwicklung vom Vormärz bis zur Weimarer Republik, Köln / Wien 1990.

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Jörg Vögele und Wolfgang Woelk

19. Jahrhundert. 20 Speziell geht es um die Frage, welche Veränderungen die den Städten seit der frühen Neuzeit als Pflichtaufgabe übertragene Armenverwaltung durchlief, um angemessen auf das Wachstum der Städte, die neuen Produktionsweisen, die veränderten Lebensbedingungen und den technologischen Fortschritt reagieren zu können. Die Modernisierung des Armenwesens unter besonderer Berücksichtigung der kommunalen Sparkasse, des kommunalen Krankenhauses und der Arbeiter-Schutzanstalten, der Vorläufer der heutigen Arbeitsämter, bilden den thematischen Fokus. Mittlerweile liegen zahlreiche Lokalstudien zur Entwicklung des städtischen Gesundheitswesens vor. 21 Als gelungenste Arbeit hat hier noch immer die umfassende Untersuchung von Richard Evans über die Cholera in Hamburg zu gelten.22 Evans gelingt es, in einer Lokalstudie Sozial-, Politik-, Technik-, Wissenschafts- und Mentalitätsgeschichte miteinander zu verbinden. Dabei ordnet er die Hamburger Verhältnisse in entsprechende Entwicklungen in Deutschland, Frankreich oder England ein, um so jeweils übergreifende Strukturen vom speziellen Geschehen unterscheiden zu können. Die differenzierte Analyse der Ursachen und des Verlaufs der Choleraepidemie von 1892/93 dient Evans vor allem dazu, den sozialen Wandel herauszuarbeiten, der durch die Seuche offensichtlich wurde. Über die seuchenhistorischen Erkenntnisse hinaus gelingt es Evans, das überaus komplexe Bedingungsgefüge einer Epidemie in ihren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bezügen darzustellen und darüber hinaus auch statistisch zu untermauern. Evans kann zeigen, wie durch eine Seuche der Wandel einer traditio-

20 Der Aufsatz W. R. Krabbe, Die Modernisierung der kommunalen Sozial- und Gesundheitsvorsorge im Zeitalter der Industrialisierung, in: Zs. f. Sozialreform 30 (1984), S. 424-432, ist eine prägnante theoriegerichtete Zusammenfassung von ders., Von der Armenpflege zur lokalen Sozialund Gesundheitsverwaltung. Wandlungen im kommunalen Pflichtaufgabenbereich unter dem Druck der Modernisierung am Beispiel westfälischer Städte (1800-1914), in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 76/77 (1984/85), S. 155-215. 21 Vgl. hierzu, in zeitlicher Reihenfolge des Erscheinungsjahres, J. Sydow (Hg.), Städtische Versorgung und Entsorgung im Wandel der Geschichte, Sigmaringen 1981 ; B. Kirchgässner / J. Sydow (Hgg.), Stadt und Gesundheitspflege, Sigmaringen 1982; J. von Simson, Kanalisation und Städtehygiene im 19. Jahrhundert, Düsseldorf 1983; M. Pagel, Gesundheit und Hygiene: Zur Sozialgeschichte Lüneburgs im 19. Jahrhundert, Hannover 1992; I. Tamm, Die Entwicklung des öffentlichen Gesundheitswesens an Beispielen aus Hannover und Linden (1850-1914). Ein Beitrag zur Urbanisierungsforschung, Tecklenburg 1992; R. Stremmel, „Gesundheit - unser einziger Reichtum"? Kommunale Gesundheits- und Umweltpolitik 1800-1945 am Beispiel Solingen, Solingen 1993; M. Weyer-von Schoultz, Stadt und Gesundheit im Ruhrgebiet 1850-1929, Verstädterung und kommunale Gesundheitspolitik am Beispiel der jungen Industriestadt Gelsenkirchen, Essen 1994; R. Münch, Gesundheitswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Das Berliner Beispiel, Berlin 1995; H. Brüchert-Schunk, Städtische Sozialpolitik vom wilhelminischen Reich bis zur Weltwirtschaftskrise. Eine sozial- und kommunalhistorische Untersuchung am Beispiel der Stadt Mainz 1890-1930, Stuttgart 1994; R. Münch, Gesundheitswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Das Berliner Beispiel, Berlin 1995. 22

1987.

R. Evans, Death in Hamburg. Society and Politics in the Cholera Years 1830-1910, Oxford

Einfhrung

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nellen Kaufmannsstadt zu einer modernen Handels- und Industriemetropole beschleunigt wurde. Allerdings behandelt Evans in seiner Studie diese letzte Choleraepidemie in Hamburg, und nicht, wie im Untertitel angedeutet, die Geschichte der Cholera im 19. Jahrhundert allgemein. Die Geschichte der Cholera bleibt also nach wie vor ein Brennpunkt der Sozial- und Medizingeschichte. Akute epidemische Seuchen - wie Pest oder Cholera - riefen heftige öffentliche Reaktionen hervor. 23 An ihrem Beispiel läßt sich das Verhältnis von Geschichte, Medizin und Stadt (auch Staat) gut studieren. Für Deutschland hat Alfons Labisch diese Interaktionsmuster historisch-typisierend herausgearbeitet. 24 Darüber hinaus hat er das Verhältnis von Medizin und Gesellschaft über Deutungen und Wirkung zeittypischer Gesundheitsbegriffe idealtypisch dargestellt. 25 Dabei fällt dem Thema „Stadt und Gesundheit" jeweils eine inneraktive Rolle für immer neue Gesundheitsmaßnahmen bzw. eine permanente Aufgabe als leistungserbringende personenbezogene Gesundheitsmaßnahmen zu. Nicht nur in historischer Perspektive rückt die Stadt seit einigen Jahren in den Vordergrund. 26 Auch in der aktuellen gesundheitswissenschaftlichen Debatte ist der städtischen Gesundheitssicherung unter dem Stichwort „Public Health" eine besondere Bedeutung zugesprochen worden. 27 Gerade die Hinwendung zu ortsnahen Gesundheitssicherungskonzepten verweist, ohne daß dies in der Public Health-Forschung ausführlich thematisiert wird, auf historische Entwicklungslinien, die unmittelbar mit der sich wandelnden Bedeutung von „Gesundheit" zusammenhingen.28 Gesundheit wurde in der Hochindustrialisierung zu einem Begriff, „der die Gesellschaft durchdrang und gestaltende Kraft entfaltete. Gesundheit wurde zur allgemein verbindlichen Lebens- und Verhaltensrichtlinie. Gesundheit wurde zur

23 A. Hardy , The Epidemie Streets. Infectious Disease and the Rise of Preventive Medicine, 1856-1900, Oxford 1993. 24 A. Labisch, Gemeinde und Gesundheit. Zur historischen Soziologie des kommunalen Gesundheitswesens, in: B. Blanke / A. Evers / H. Wollmann (Hgg.), Die Zweite Stadt. Neue Formen der Arbeits- und Sozialpolitik, Opladen 1986, S. 275-305; A. Labisch, Kommunale Gesundheitssicherung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet (1869-1934) - ein Beispiel zur Soziogenese öffentlicher Gesundheitsleistungen, in: H. Schadewaldt / K.-H. Leven (Hgg.), XXX. Internationaler Kongreß für Geschichte der Medizin, Düsseldorf 31.8.-5.9.1986, Actes/Proceedings, Düsseldorf 1988, S. 1077-1094; A. Labisch, Stadt und Gesundheit - Eine Analyse der neueren (sozial-) historischen Literatur, in: Zbl. Hyg. 197 (1995), S. 111-133. 25 A. Labisch, Homo Hygienicus, Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt a. M. / New York 1992. 26 Zur aktuellen Diskussion vgl. z.B. in Übersicht B. Stumm / A. Trojan (Hgg.), Gesundheit in der Stadt. Modelle, Erfahrungen, Perspektiven, Frankfurt a. M. 1994. 27 J. Ashton (Hg.), Healthy Cities, Milton Keynes 1992. 28 Α. Labisch / W. Woelk, Geschichte der Gesundheitswissenschaften, in: K. Hurrelmann / U. Laaser (Hgg.), Handbuch der Gesundheitswissenschaflen, Neuausgabe, Weinheim /München 1998, S. 49-89.

2 Vögele/Woelk

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alleinigen Existenzgrundlage lohnabhängiger Schichten. Gesundheit wurde zur scheinbar entpolitisierten, weil naturwissenschaftlich begründeten Stützkonzeption staatlicher, kommunaler und industrieller Sozialpolitik. Die wissenschaftliche Deutung von Gesundheit war wert- und klassenneutral. Gesundheit erlaubte, die elementaren Lebensrisiken Krankheit, Invalidität, Alter und deren soziale Bedingungen und Folgen politisch zu kanalisieren. Gesundheit erlaubte, das Verhalten der Arbeiter, der Unterschichten insgesamt, zu regulieren." 29

Aus diesem Wandel des Verständnisses von „Gesundheit" leitete sich in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein Bedeutungszuwachs kommunaler Gesundheitspolitik ab. Reulecke stellte hierzu einzelne Entwicklungsstufen gesundheitspolitischer und gesundheitsfürsorgerischer Aktivitäten auf: Nach dem Engagement der bürgerlichen Sozialreformer übernahm die Kommunalbürokratie ab den 1860er Jahren die Initiative. 30 Dies führte dazu, daß die Kommunen schrittweise gesundheitspflegerische und gesundheitsfürsorgerische Aufgaben übernahmen und - oft in Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Vereinskultur - ausbauten.31 Die Ausdifferenzierung des Systems der sozialen Sicherung und eine parallel hierzu erfolgende systematische Erweiterung des kommunalen Engagements im Sozial- und Gesundheitsbereich sieht Reulecke dabei als weitere Entwicklungsstufe an. Seit der Jahrhundertwende wurde die Thematik in bevölkerungspolitischer Richtung ausgeweitet.32 Gleichzeitig setzte eine Kommerzialisierung von ,Hygiene und Sauberkeit' ein. Eine letzte Stufe der Ausdifferenzierung kommunaler Gesundheitspolitik kann für den Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg festgestellt werden, in der ein von den Kommunen forcierter Ausbau des Sozialstaates erfolgte. 33 Ihren Zenit erreichte diese Entwicklung in der Weimarer Republik, in der die Städte, insbesondere in den Industrieregionen Preußens, deutlich ihren Anspruch auf „Gesundheit" als ein „ureigenes Gut kommunaler Daseinsvorsorge" artikulierten. 34

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Labisch, Homo Hygienicus, S. 315f. Zur bürgerlichen Sozialreform vgl. R. vom Bruch (Hg.), „Weder Kommunismus noch Kapitalismus": Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985. 30

31 O. Dann (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984; C. Eisenberg, Arbeiter, Bürger und der „bürgerliche Verein" 1820-1870. Deutschland und England im Vergleich, in: J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 2, München 1988, S. 187-219. 32 D. Dwork, War is Good for Babies and Other Young Children. A History of the Infant and Child Welfare Movement in England 1898-1918, London/New York 1987. 33 J. Reulecke, Von der Fürsorge über die Vorsorge zur totalen Erfassung. Etappen städtischer Gesundheitspolitik zwischen 1850 und 1939, in: ders. (Hg.), Die Stadt als Dienstleistungszentrum. Beiträge zur Geschichte der „Sozialstadt" in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1995, S. 395-416. 34 A. Labisch / F. Tennstedt, Der Weg zum „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens" vom 3. Juli 1934. Entwicklungslinien und -momente des staatlichen und kommunalen Gesundheitswesens in Deutschland, 2 Bde., Düsseldorf 1985.

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Es entstand ein kommunales Gesundheitssystem, in dem spezifische kommunale Fürsorgeärzte mit einem adäquat ausgebildeten Fachpersonal, den Gesundheitsfürsorgerinnen, eine zumindest partiell umfassende Gesundheitsfürsorge etablierten. Bezugsdisziplin dieser Konzepte war die Sozialhygiene. Der Ausbau des Weimarer Sozialstaates auf Reichs- und Länderebene und der Sozialstadt auf kommunaler Ebene zeigte aber schon bald die Grenzen staatlich finanzierbarer Fürsorgepolitik, die Grenzen des „sozialtechnischen Machbarkeitswahns" auf, wie dies Detlev Peukert zutreffend charakterisiert hat. 35 Mit der Weltwirtschaftskrise geriet dieses System dann immer stärker unter den Druck, Fürsorgeleistungen entweder zu deligieren oder abzubauen. Der Staat versuchte, die Städte noch stärker in die Fürsorge einzuspannen, die Städte ihrerseits besaßen aber Ende der 1920er Jahre nicht mehr das Potential, diese zusätzlichen Leistungen zu gewährleisten. Es erfolgte ein schrittweiser Abbau des Sozialstaates. Damit setzte ein Vertrauensverlust gerade gegenüber einer der wichtigsten Säulen dieses Staates ein. Gerade der Janusköpfigkeit des Sozialstaates wie auch der Sozialstadt in der Posturbanisierungsphase sollte ein besonderes Augenmerk zugewandt werden. Die Zäsur des Ersten Weltkriegs und dessen Folgen sind als zentrale Erfahrung in den meisten europäischen Staaten nicht hoch genug einzuschätzen. Staatliche und städtische Sozial- und Gesundheitspolitik mußten darauf reagieren, indem sie qualitativ und quantitativ neue Wege beschritten. Die Weltwirtschaftskrise sorgte ihrerseits für einen drastischen Einschnitt in die sozial- und gesundheitspolitische Infrastruktur. Sie ebnete radikaleren Fürsorgemodellen den Weg, die dann in Deutschland rasch mit den rassenideologischen Vorstellungen der Nationalsozialisten fusionierten. Damit endete aber zumindest in Deutschland vorerst die seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts festzustellende innovative Kraft der Städte beim Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens. Die einschlägigen Vorarbeiten deuten an, daß eine historische Analyse städtischer Gesundheitsverhältnisse sowohl interdisziplinär als auch im internationalen Kontext betrieben werden muß. Leider herrscht daran gerade in Deutschland ein krasser Mangel, während besonders im angelsächsischen Bereich und in Skandinavien Sozial- und Wirtschaftshistoriker, Medizinhistoriker und Geographen intensiv an spezifischen Forschungsprojekten arbeiten. 36 In Deutschland hat sich die Forschung nahezu ausschließlich auf die ideengeschichtliche Entwicklung jener Konzepte von „Gesundheit" und „Krankheit" konzentriert, die zur Grundlage der nationalsozialistischen Rassenpolitik wur35 D. J. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 137. 36 Für einen aktuellen Überblick siehe R. Schoßeid / D. Reher / A. Bideau (Hgg.), The Decline of Mortality in Europe, Oxford 1991. Verschiedene Beiträge diskutieren, in unterschiedlicher Qualität, die Rollen einzelner Determinanten. Bezeichnenderweise findet sich in dem Band kein Beitrag über die deutschen Verhältnisse.

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den. 37 Eine konkrete Umsetzung dieser Überlegungen auf die Handlungsträger erfolgte dagegen nur selten.38 Insbesondere fehlt es auch, trotz der seit einigen Jahren einsetzenden Forschungen und ersten Publikationen, an dezidierten Fallstudien, die die städtische Gesundheitspolitik bzw. einzelne Aspekte der städtischen Gesundheitspolitik über einen längeren Zeitraum untersuchen. 39 Einen systematischeren und themenbezogeneren Zugang zu finden, war daher ein Beweggrund, sich diesem Themengebiet interdisziplinär zu nähern und sich dem Problemkreis unter verschiedenen Blickwinkeln zu widmen. Grundvoraussetzung für die Evaluierung der verschiedenen Determinanten von Krankheit und Gesundheit ist die Rekonstruktion städtischer Gesundheitsverhältnisse und deren Wandel im Verlauf der letzten Jahrhunderte (Teil I: Die Entwicklung der Städtischen Gesundheitsverhältnisse - vom Ancien Régime zur Hochindustrialisierung). Demographische und epidemiologische Untersuchungen rekonstruieren diese Entwicklung im Spiegel der Mortalität. Im Mittelpunkt steht dabei die säkulare Entwicklung der Sterblichkeit in der Bevölkerung ausgewählter Städte allgemein sowie innerhalb bestimmter städtischer Risikogruppen. Integraler Bestandteil ist dabei eine epidemiologische Analyse des Todesursachenpanoramas. Gleichzeitig zeigen die einzelnen Beiträge, die im wesentlichen chronologisch geordnet sind, unterschiedliche methodische Vorgehensweisen auf. Für die vorindustrielle Zeit bietet die Familienrekonstitutionsmethode auf der Basis von Kirchenbüchern den methodisch anspruchsvollsten Ansatz. Wegen des hohen Arbeitsaufwands und des erforderlichen EDV-Einsatzes ist dies bislang in der Regel lediglich für kleinere Dörfer geleistet worden. Fiona Lewis

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Vgl. hierzu die umfassende Studie von P. Weingart / J. Kroll / K. Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992. 38 Vgl. hierzu immer noch grundlegend: Labisch / Tennstedt, Weg zum Gesetz. Der Titel gibt dabei die Arbeit der Autoren nur unzureichend wieder, die erstmals ein konzises Bild der gesundheitspolitischen Entwicklungen in Deutschland nachzeichnen und dabei die unterschiedlichen Handlungsebenen und Handlungsträger analysieren. Vgl. auch P. Weindling, Health, race and German politics between national unification and Nazism, 1870-1945, Cambridge 1989. Beide Studien, wie auch Weingart / Kroll / Bayertz, deuten dabei auch die internationalen Gemeinsamkeiten einzelner Aspekte an, die nunmehr von Stefan Kühl für den Themenbereich Eugenik und Rassenhygiene detailliert herausgearbeitet wurden; vgl. St. Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 1997. 39 Ein erster Versuch einer übergreifenden Gesamtdarstellung städtischer Gesundheitspolitik von Beate Witzler kann dagegen den Ansprüchen kaum genügen. B. Witzler, Großstadt und Hygiene. Kommunale Gesundheitspolitik in der Epoche der Urbanisierung, Stuttgart 1995. Mittlerweile liegt auch eine erste systematische und kommentierende Erfassung der relevanten Quellen zum Thema Stadt und Gesundheit für ein Lokalbeispiel vor. Vgl. hierzu: W. Woelk (Bearb.), Gesundheit in der Industriestadt. Medizin und Ärzte in Düsseldorf 1802-1933. Ein Findbuch zu den Quellen (unter Mitarbeit von U. Koppitz und A. Labisch), Düsseldorf 1996.

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ist eine der wenigen, die dieses Verfahren auf eine Stadt angewandt haben.40 Ihr vorliegender Beitrag beschäftigt sich mit der langfristigen Entwicklung der Sterblichkeit in der nordenglischen Hafenstadt Liverpool im späten 17. und im 18. Jahrhundert. Durch eine Rückprojektion von Ergebnissen aus den Liverpool Bills of Mortality, die ab 1772 geführt wurden, auf die Daten aus den Pfarregistern 1660-1750 gelingt es ihr, nicht nur den Verlauf der Sterblichkeit der Bevölkerung Liverpools zu rekonstruieren, sondern auch Aussagen über die Ursachen der Sterblichkeitswandels zu treffen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Krisenmortalität, der saisonalen Sterblichkeit sowie ausgewählten wichtigen Todesursachen gewidmet. Während die Pest gegen Ende des 17. Jahrhunderts aus der Stadt verschwunden war, stieg die relative Bedeutung der Kinderkrankheiten und insbesondere der Pocken. Dies hatte substantielle Auswirkungen auf die Saisonalität der Sterbefälle. Das Fehlen eines für gastrointestinale Erkrankungen so typischen ausgeprägten Sommergipfels läßt auf eine eher geringe Inzidenz dieses Krankheitskomplexes schließen. Bei den Sterbefällen unter erwachsenen Personen dominierte die Tuberkulose, die, zusammen mit anderen Sterbefällen an Erkrankungen der Atmungsorgane, für ein Winterhoch bei den Sterbefallen in den höheren Altersgruppen sorgte. Steven King weitet diesen Ansatz auf das städtische Hinterland aus und analysiert den Einfluß der Städte auf ihre unmittelbare Umgebung während der Proto-Industrialisierung. Im Mittelpunkt steht dabei die Auswertung der Kirchenbücher der Pfarrei Calverley im englischen Textildistrikt von West Riding mittels der Familienrekonstitutionsmethode. Mit einem aufwendigen RecordLinkage-Verfahren werden diese Ergebnisse mit Informationen aus verschiedenen anderen Quellen gekoppelt. Inhaltlich untersucht King die Einflüsse von Bevölkerungswachstum, Public Health, Berufsstruktur und Migrationsbewegungen auf die lokalen Gesundheitsverhältnisse. Er unterscheidet bei den Wanderungsbewegungen die langsame und stetige Zuwanderung aus anderen ländlichen Gebieten sowie die rasche Einwanderung aus den umliegenden Städten. Letztere identifiziert er als eine Haupteinflußvariable. Deutlich wird in diesem Aufsatz das komplexe Wirkungsgeflecht der die Mortalität bestimmenden Faktoren. Chris Galley beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit einer der städtischen Hauptrisikogruppen, den Säuglingen.41 Am englischen Beispiel untersucht er 40 F. Lewis, The Demographie and Occupational Structure of Liverpool: A Study of the Parish Registers, 1660-1750, unveröffentlichte Diss, phil., Liverpool 1993. 41 N. Williams / C. Galley , Urban-rural Differentials in Infant Mortality in Victorian England, in: Population Studies 49 (1995), S. 401-420; R. Woods / N. Williams / C. Galley , Infant Mortality in England, 1550-1950. Problems in the Identification of Long-Term Trends and Geographical and Social Variations, in: C. A. Corsini / P. P. Viazzo (Hgg.), The Decline of Infant Mortality in Europe, 1800-1950. Four National Case Studies, Florence 1993, S. 35-50; C. Galley , The demography of early modern towns: York in the sixteenth and seventeenth centuries, Diss., Liverpool 1998.

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insbesondere Langzeittrends und Variationen der Säuglingssterblichkeit zwischen 1750 und 1850. Methodisch geht es ihm vor allem um Schätzungen der Säuglingssterblichkeit vor dem Einsetzen der Zivilregistration. Galley weist dabei insbesondere auf die hohen frühneuzeitlichen Sterberaten hin, die nahezu kontinuierlich zurückgingen. Für das viktorianische England lassen sich geographische Variationen klar herausarbeiten, allerdings bleibt es schwierig, die Gründe dafür herauszuarbeiten. Es ist festzuhalten, daß nicht alle der rasch wachsenden englischen Industriestädte hohe Säuglingssterblichkeitsraten aufwiesen. Ein Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte und Niveau der Sterberaten scheint zwar erkennbar, ist allerdings keineswegs so eindeutig ausgeprägt wie üblicherweise in der Literatur postuliert wird. Im Verlauf des weiteren Industrialisierungsprozesses änderten sich die traditionellen städtischen Lebens- und Gesundheitsbedingungen schließlich radikal. Die städtischen Sterberaten erreichten in Deutschland ihren Höhepunkt in den 1860er und frühen 1870er Jahren. Im Anschluß verbesserten sich die städtischen Gesundheitsverhältnisse in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts substantiell, wie Jörg Vögele für deutsche Großstädte herausgearbeitet hat. 42 Die städtischen Sterberaten sanken schneller und stärker als die ländlichen, die städtische Übersterblichkeit schwächte sich zusehends ab. Insbesondere gastrointestinale Erkrankungen und Tuberkulose waren an diesem Prozeß maßgeblich beteiligt. Eine führende Rolle nahmen die stark industrialisierten Städte im westlichen Teil des deutschen Reiches ein. Offensichtlich wirkten sich Urbanisierung und Industrialisierung langfristig positiv auf die Gesundheitsverhältnisse aus. Der Wandel der Gesundheitsverhältnisse betraf die Menschen unterschiedlich. Insbesondere die Gesundheitsverhältnisse der Arbeiterschaft rücken in diesem Zusammenhang in den Mittelpunkt. Unerläßlich ist in diesem Zusammenhang eine alters- und geschlechtsspezifische Differenzierung. Sylvia Schraut erörtert den Zusammenhang von Geschlecht, sozialer Lage und Gesundheit am Beispiel des Großraumes Stuttgart im 19. Jahrhundert. Während der Industrialisierung verschärfte sich die soziale Differenzierung vor Krankheit und Tod. 43 Die Opfer waren insbesondere Kinder und Männer der Unterschicht, während sich die gesundheitlichen Risiken der Frauen im gebärfähigen Alter sozial nivellierend auswirkten. 44 42 J. Vögele , Différences entre ville et campagne et évolution de la mortalité en Allemagne pendant l'industrialisation, in: Annales de démographie historique 1996, S. 249-268; ders ., Urban Infant Mortality in Imperial Germany, in: Social History of Medicine 7 (1994), S. 401-425. 43 Spree, Soziale Ungleichheit; R. Spree, On Infant Mortality Change in Germany since the Early 19th Century, München 1995. 44 A. E. Imhof, Women, Family and Death: Excess Mortality of Women in Child-Bearing Age in Four Communities in Nineteenth-Century Germany, in: R. J. Evans / W. R. Lee (Hgg.), The German Family. Essays on the Social History of the Family in Nineteenth- and Twentieth Century

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Robert Lee und Peter Marschalck beschäftigen sich mit dem Zusammenhang von Krankheit und Geschlecht unter besonderer Berücksichtigung von Migrationsbewegungen. In einer differenzierten Untersuchung am Beispiel der Hansestadt Bremen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht es ihnen insbesondere um die Übersterblichkeit männlicher Arbeiter. Während die Sterblichkeit zuwandernder Männer in den 1870er Jahren die der Einheimischen übertraf, lag diese 1905 deutlich unter derjenigen der einheimischen Bevölkerung. Diese Veränderungen liegen zu einem großen Teil in der ungleichen Verteilung von Einheimischen und Fremden auf die Wirtschaftssektoren der Stadt und deren Wandel begründet. Andreas Weigl analysiert die Rolle der Städte im Epidemiologischen Übergang am Beispiel Wiens vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre. Als entscheidende Phase des Sterblichkeitsrückgangs datiert er das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert und führt sie auf eine effiziente kommunale Gesundheitspolitik zurück. 45 Neuere Forschungsarbeiten stellen im Zusammenhang mit dem städtischen Sterblichkeitswandel vor allem die Rolle der sanitären Reformen heraus. Damit beschäftigt sich Sektion I I der Tagung (Sanitäre Reformen) 46 Bislang vorliegende Studien zur Rolle der sanitären Reformen konzentrierten sich dabei im wesentlichen auf den Ausbau von zentraler Wasserversorgung und Kanalisation, 47 der in den deutschen Städten ab den 1870er Jahren zunehmend systematisch betrieben wurde. 48 Im allgemeinen werden dabei die positiven Auswirkungen betont, eine adäquate Ausgestaltung solcher Infrastrukturmaßnahmen bot einen Schutz gegen Epidemien und trug offensichtlich zum Rückgang bestimmter umweltsensitiver Krankheiten, wie beispielsweise Abdominaltyphus

Germany, London 1981, S. 148-174; S. Ryan Johansson, Welfare, mortality, and gender. Continuity and change in explanations for male/female mortality differences over three centuries, in: Continuity and Change, 6,2 (1991), S. 135-177. 43 Der Beitrag wurde aus inhaltlichen Gründen nachträglich aufgenommen. 46 Otto / Spree / Vögele, Seuchen. 47 J.-P. Goubert , Eaux publiques et démographie historique dans la France urbaine du XIXe. siècle, Le cas de Rennes, Annales de Démographie Historique (1975), S. 115-121; G. A. Condran / E. Crimmins-Gardner, Public health measures and mortality in U.S. cities in the late nineteenth century, in: Human Ecology, 6,1 (1978), S. 27-54; B. Luckin, Evaluating the sanitary revolution: thyphus and thyphoid in London, 1851-1900, in R. Woods und J. Woodward (Hgg.), Urban Disease and Mortality in Nineteenth-Century England, London 1984, S. 102-119; B. Luckin, Pollution and Control. A Social History of the Thames in the Nineteenth Century, Bristol 1986. 48 J. C. Brown , Reforming the Urban Environment: Sanitation, Housing, and Government Intervention in Germany, 1870-1910, unveröffentlichte Diss, phil., Ann Arbor 1987; J. Vögele, Sanitäre Reformen und der Wandel der Sterblichkeitsverhältnisse in deutschen Städten, 1870-1913, in: VSWG 80 (1993) H. 3, S. 345-365; J. C. Brown, Public Health Reform and the Decline in Urban Mortality. The Case of Germany, 1876-1912, in: G. Kearns / W. R. Lee / M. C. Nelson / J. Rogers (Hgg.), Improving the Public Health: Essays in Medical History, Liverpool (im Druck).

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oder Cholera, bei. Bei unzureichender Ausführung allerdings konnten die Infrastrukturmaßnahmen sogar die Verbreitung von Seuchen begünstigen. In Hamburg etwa wurde das Trinkwasser nicht gefiltert, so daß sich Krankheitserreger durch die zentrale Wasserversorgung über das gesamte Stadtgebiet ausbreiten konnten. Die Stadt wurde so in den 1890er Jahren als einzige westeuropäische Großstadt von der letzten großen Choleraepidemie heimgesucht.49 Mittlerweile wird das Thema allerdings wesentlich weiter gefaßt. Die vorliegenden Beiträge verdeutlichen die Bandbreite des Untersuchungsgebiets. Es kommen weitere Punkte der sanitären Reformen zur Sprache, wie etwa Wasch- und Badehäuser, aber auch Aspekte der Stadtplanung sowie die Rolle der Luftverschmutzung. Diese werden unter verwaltungs-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Blickwinkeln auf lokaler und nationaler Ebene untersucht. Als Auslöser und Schrittmacher des Ausbaus der gesundheitsbezogenen Infrastruktur gilt die Cholera. 50 Flurin Condrau geht am Beispiel der Schweiz und insbesondere des Kantons Zürich der Frage nach, welchen Stellenwert die Cholera in den gesundheitspolitischen Konzeptionen von Staat und Kommunen einnahm und welchen Einfluß sie auf die Ausgestaltung der sanitären Reformen ausübte. Es geht ihm um den Zusammenhang zwischen Cholera und sozialem Wandel. Auch wenn dieser Wandel zwar nicht auf die Seuche allein zurückgeführt werden konnte, vermochte die Seuche aber durchaus, latente politische oder wirtschaftliche Krisen zu verschärfen. Peter Compton erörtert in seinem Beitrag Aspekte der französischen Gesundheitspolitik gegen Ende des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Stadt Bordeaux. Konkret geht es dabei um die Interpretation und die Anwendung des Gesetzes „ L o i relative à l'assainissement des logements insalubres" von 1850 und um die Bemühungen der „Commission des Logements Insalubres" der Stadt Bordeaux, dieses Gesetz vor Ort umzusetzen. Obwohl die Kommission nie den Status eines wichtigen Gremiums im örtlichen Verwaltungsapparat erlangen konnte, bewertet Compton ihre Arbeit insgesamt positiv. Eine große Anzahl von Problemfällen wurde bearbeitet und trotz limitierten Budgets erfolgreich abgeschlossen. Entscheidend hierfür war, daß die Kommission die übergeordnete Stellung des Stadtrates anerkannte und versuchte, mit ihm zusammenzuarbeiten. Damit thematisiert Compton die grundsätzliche Bedeutung von kommunalen Aktivitäten auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik und der Gesundheitsfürsorge und untersucht am Fallbeispiel, wie schwierig es sich ausnehmen konnte, innerhalb der Kommune einen Konsens über eine einheitliche Gesundheitspolitik herbeizuführen. Zu viele unterschiedliche Interessen kolli-

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Evans, Death in Hamburg. Vgl. zuletzt M. Haverkamp, „... herrscht hier seit heute die Cholera". Lebensverhältnisse, Krankheit und Tod. Sozialhygienische Probleme der städtischen Daseinsvorsorge im 19. Jahrhundert am Beispiel der Stadt Osnabrück, Osnabrück 1996. 50

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dierten auf diesem Feld, so daß zumeist erst externe Faktoren (Seuchen, Epidemien) oder finanzielle Überlegungen dazu beitrugen, einen Grundkonsens herzustellen. Dennoch setzte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts der Versuch durch, über Ausschüsse oder Kommissionen dem Thema „Gesundheit" innerhalb der Kommunen eine besondere Bedeutung zuzusprechen. Der unterschiedlichen kommunalen Vorgehensweise auf dem Gebiet der sanitären Reformen geht der Beitrag von Sally Sheard nach. Sie beschäftigt sich mit einem bislang vernachlässigten Element sanitärer Reformen, den öffentlichen Bädern und Waschhäusern, anhand der Städte Liverpool, Belfast und Glasgow während des neunzehnten Jahrhunderts. 51 Dabei untersucht sie insbesondere das Zusammenspiel von Politik, Informationsbildungsprozeß und Finanzierung auf der einen Seite, der nationalen ökonomischen Entwicklung und den lokalen politischen Interessen auf der anderen Seite. John C. Brown rückt die finanziellen Aspekte der sanitären Reformen in Deutschland in den Mittelpunkt seines Beitrags. 52 Er skizziert die städtische Finanzpolitik in Deutschland und vergleicht sie mit Beispielen aus England und den Vereinigten Staaten, um anschließend Höhe und Verteilung der Kosten für die sanitären Reformen in diesen Staaten zu diskutieren. Er hebt dabei vor allem die de facto große Entscheidungsfreiheit der deutschen Städte hervor. Am Beispiel der Stadt München zeigt Brown abschließend, daß Mieter durchaus bereit waren, wesentlich höhere Mieten zu zahlen, sofern die Wohnungen mit sanitären Einrichtungen ausgestattet waren. So profitierten auch die Hausbesitzer von der Durchführung sanitärer Reformen. Ulrich Koppitz stellt diese Entwicklung am Beispiel preußischer Städte unter funktionalen und gesundheitlichen Aspekten in den weiteren Zusammenhang der Stadtplanung. Insgesamt wurden Luft- und Wasserverschmutzung und deren gesundheitliche Auswirkungen auf die Stadtbevölkerung zu einem zentralen Thema innerhalb des Industrialisierungsprozesses. Er skizziert die Entwicklung von der Auslagerung von Friedhöfen über die Entfestigungen der Städte bis hin zu raumplanerisch eingreifenden Bauordnungen. Unter dem Stichwort „Gesundheit" wurden auch hier ideologische und materielle Absichten verfolgt. Dabei betont der Autor, daß Assanierungsmaßnahmen häufig lediglich eine technische Optimierung räumlicher Verlagerungsstrategien darstellten.

51 S. Sheard, Nineteenth Century Public Health. A Study of Liverpool, Belfast and Glasgow, unveröffentlichte Diss, phil., Liverpool 1993. 52 Vgl. auch Brown, Public Health Reform, Vögele, Sanitäre Reformen, S. 345-365.

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Michael Stolberg konzentriert sich in seinem Beitrag auf den Aspekt der Luftverschmutzung. 53 Er beschäftigt sich mit der Art und dem Ausmaß der Luftverschmutzung im 19. Jahrhundert anhand ausgewählter Fallbeispiele, ersten gesetzgeberischen Maßnahmen in den wichtigsten europäischen Ländern sowie deren Umsetzung auf der städtischen Ebene. Obwohl die zeitgenössische Diskussion vor Ort stattfand und meist relativ kurzlebig war, legte der Umgang mit dem Problem die Grundlage für das bis heute gültige Modell einer Kanalisierung und Neutralisierung gesundheitsrelevanter Widerstände der Bevölkerung durch die Verlagerung auf die Ebene der wissenschaftlichen Diskussion. Ulrike Gilhaus führt diese Thematik am Beispiel des westfälischen Industriegebietes weiter aus. 54 Dieser Raum war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein besonderen Umweltbelastungen ausgesetzt. Sie mußten jedoch, so auch die bis zu Beginn dieses Jahrhunderts festzustellende Entwicklung, von der Bevölkerung zugunsten der industriellen Entwicklung hingenommen werden und wurden sogar gerichtlich legitimiert. 55 Durch eine Analyse der räumlichen Verteilung von Großemittenten und Dampfmaschinen versucht Gilhaus das tatsächliche Ausmaß der Luftverschmutzung zu rekonstruieren. Dabei geht sie auf das preußische Immissionsrecht ein. Im Gegensatz zu England, wo in den 1860er Jahren verbindliche nationale Grenzwerte festgelegt wurden, beschritt man in Preußen den Weg der Individualkonzession. Reformversuche scheiterten, so ein Fazit der Autorin, weil im Grundkonflikt von Wirtschafts- und Umweltpolitik das immissionsrechtliche Instrumentarium einseitig zum Ausbau des politisch erwünschten Industriestaates genutzt wurde. Den Abschluß dieser Sektion bildet der Beitrag von Martin Weyer-von Schoultz über die Gelsenkirchener Typhusepidemie und ihr gerichtliches Nachspiel. 56 Ausgehend vom Verlauf der Epidemie und den unternommenen Bekämpfungsmaßnahmen wird vor allem die Auseinandersetzung von Kontagonisten versus Lokalisten im nachfolgenden „Wasserwerksprozeß" geschildert. Obwohl hierbei Trinkwasser erstmals im juristischen Sinne als Nahrungsmittel bezeichnet wurde, setzte sich die Debatte über den Zusammenhang von Was-

53 Aufbauend auf seiner Dissertation M. Stolberg, Ein Recht auf saubere Luft? Umweltkonflikte am Beginn des Industriezeitalters, Erlangen 1994. Vgl. auch F. J. Brüggemeier, Luftverschmutzung und Luftreinhaltung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: J. Reulecke / A. Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hgg.), Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von „Volksgesundheit" und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 49-61. 54 U. Gilhaus, Schmerzenskinder der Industrie: Umweltverschmutzung, Umweltpolitik und sozialer Protest im Industriezeitalter in Westfalen 1845-1914, Paderborn 1995. 55 Vgl. hierzu die Studie von F.-J. Brüggemeier / Th. Rommelsbacher, Blauer Himmel über der Ruhr. Geschichte der Umwelt im Ruhrgebiet 1840-1990, Essen 1992. 56 Vgl. M. Weyer-von Schoultz, Stadt und Gesundheit im Ruhrgebiet 1850-1929. Verstädterung und kommunale Gesundheitspolitik am Beispiel der jungen Industriestadt Gelsenkirchen, Essen 1994.

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serversorgung und Epidemien fort. So sollte es bis zum Ausbau einer adäquaten sanitären Infrastruktur in Gelsenkirchen noch Jahre dauern. Ein Desiderat der Forschung bildet insbesondere die nähere Untersuchung der Rolle der sozialen und medizinischen Versorgung im Rahmen des städtischen Sterblichkeitswandels, der im III. Teil des Bandes erörtert wird (Soziale und medizinische Versorgung). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzten in den westeuropäischen Staaten verstärkte Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge ein. Diese Entwicklung führte zu einer verstärkten Politisierung der Sozial- und Gesundheitssicherung. Fürsorgemaßnahmen wurden nunmehr vor allem unter bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten interpretiert. In Deutschland etwa wurde die wirtschaftliche und militärische Zukunft des Landes in ein enges Wechselverhältnis zur Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere einiger Risikogruppen gestellt. Erste Konzepte sozialer Ausgrenzung kamen in dieser Phase ebenso auf wie Bemühungen, die angebliche Gefahr des „Aussterbens des deutschen Volkes" zu verhindern. Hierbei wurde der Säuglingssterblichkeit ein besonderes Augenmerk zugewandt. Sinkende Geburtenraten und eine im internationalen Vergleich hohe Säuglingssterblichkeit ließen im Kaiserreich erstmalig umfassende Konzepte der Säuglingsfürsorge entstehen.57 Wolfgang Woelk versucht, diese Diskussion am regionalen Beispiel aufzuzeigen. Dabei betont er die Rolle des Vereins in der Fürsorgepolitik, der als funktionales Substitut die Städte von eigentlichen Fürsorgeaufgaben entlasten sollte. Am Beispiel des Stadt, Regierung und private Wohltätigkeit einschließenden „Vereins für Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf 4 hat Woelk herausgearbeitet, welchen Einfluß bürgerliche Vereinskultur und deren Ausgestaltung für die Säuglingsfürsorge haben konnten. Während des Ersten Weltkrieges, so ein Ergebnis der Untersuchung, entstand ein auffallender Zwiespalt zwischen dem Anspruch der Säuglingsfursorge und der tatsächlich erreichten Klientel. Die ausgewählte Bezugsgruppe, die arbeitenden, alleinerziehenden Frauen aus den Düsseldorfer Arbeitergebieten, hatte weder Geld, Zeit noch oft die praktischen Möglichkeiten, die Fürsorgestellen zu erreichen. Die sich entwickelnde „zugehende Säuglingsfürsorge" konnte hier nur zum Teil Abhilfe schaffen, da die konkreten Lebensbedingungen der Frauen derartigen zeitintensiven Fürsorgekonzepten zum Teil diametral gegenüberstanden. Dennoch hat der Verein für Säuglingsfursorge dazu beigetragen, das Bewußtsein für die Notwendigkeit der speziellen Hinwendung zu den Säuglingen und Kleinkindern auch unter der städtischen Bevölkerung zu schaffen.

57 Vgl. J. Vögele, Urbanization, Infant Mortality and Public Health in Imperial Germany, in: C. A. Corsini / P. P. Viazzo (Hgg.), The Decline of Infant and Child Mortality in Europe, UNICEF, Florenz 1997, S. 109-127; W. Woelk, Der Düsseldorfer Milchkrieg 1921, in: Düsseldorfer Jahrbuch 69 (1998), S. 211-235.

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Einen ebenso einflußreichen wie heftig diskutierten Fürsorgebereich untersucht Barbara Koller. 5* Im Zeitraum von 1880 bis 1940 hat sie am Beispiel der Deutschschweiz die Durchsetzung der Idee eines „gesunden Wohnens" analysiert. Ausgehend von einem tiefgreifenden sozialen Wandel, den die Schweiz im Betrachtungszeitraum durchlaufen hat und in dem die Integration der unterbürgerlichen Schichten in den bürgerlichen Staat als dominierendes Ergebnis angeführt werden kann, versucht Koller, den hinter diesem Integrationsprozeß stehenden Verhaltens- bzw. den daraus resultierenden Wertewandel zu rekonstruieren. Das Bevölkerungswachstum und ein hoher Grad an Zuwanderung in die Städte hatten auch in der Deutschschweiz die Probleme der Industrialisierung und Urbanisierung sowie deren soziale Folgen (Verelendung, Wohnungsnot, Gesundheitsgefahren) sichtbar werden lassen. Um sich einen Überblick über die tatsächliche Situation in den Städten zu verschaffen, wurden unter anderem Wohnungskommissionen eingesetzt, die ein wichtiges Instrument der empirischen Sozialforschung wurden. Sie sollten nicht nur die tatsächlichen Wohnverhältnisse der unterbürgerlichen Schichten erforschen, sondern auch Lösungskonzepte präsentieren, um zur Verbesserung der Lebensverhältnisse dieser Schichten beizutragen. „Mehr Licht, mehr Luft" wurde damit auch ein Schlagwort der Wohnungsenqueten und der sich in die wissenschaftliche Erörterung einschaltenden Wissenschaften, insbesondere der Hygiene. 59 Hierbei entstanden zum Teil nur aus dem spezifischen Kontext zu verstehende wissenschaftliche Konzepte, die aber zur konkreten Problemlösung nur marginal beitrugen. Ein solches Konzept war der Versuch, den „Luftkubus", das zahlenmäßig festgelegte menschliche Bedürfnis nach Luft, fur die Wohnungen festzulegen. Was allerdings langfristig Wirkung zeigte, war der mit dieser öffentlichkeitswirksam durchgeführten Analyse der Wohnverhältnisse eintretende Einstellungs- und Wertewandel. Bürgerliche Vorgaben des „gesunden" Wohnens und Lebens wurden von den unterbürgerlichen Schichten nicht nur schrittweise akzeptiert, sondern auch verinnerlicht.

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B. Koller, „Gesundes Wohnen" - Ein Konstrukt zur Vermittlung bürgerlicher Werte und Verhaltensnormen und seine praktische Umsetzung in der Deutschschweiz 1880-1940, Zürich 1995. Obwohl die zahlreichen Arbeiten über die städtischen Wohnverhältnisse während der Industrialisierung permanent auf deren gesundheitliche Mißstände hinweisen, wird die direkte Verbindung von Wohnen und Gesundheit selten hergestellt. Sehr deskriptiv bleibt J. Burnett, Housing and Health, in: R. Schoßeid / D. Reher / A. Bideau (Hgg.), The Decline of Mortality in Europe, Oxford 1991, S. 158-176. 59 Vgl. zum Thema die wenig befriedigende Studie von M. Rodenstein, „Mehr Licht, mehr Luft". Gesundheitskonzepte im Städtebau seit 1750, Frankfurt a. M. 1988. Siehe dagegen H. Berndt, Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts als vergessenes Thema von Stadt- und Architektursoziologie, in: Die Alte Stadt 14 (1987), S. 140-163. Für eine überzeugende Fallstudie vgl. St. Fisch, Stadtplanung im 19. Jahrhundert. Das Beispiel München bis zur Aera Theodor Fischer, München 1988.

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Der Gewerbehygiene widmet sich Dietrich Milles in seinem Beitrag. 60 Am Beispiel der Entwicklung dieser Profession hin zur Arbeitsmedizin hat der Autor die Herausbildung und Effektivität dieser „Verpackungskunst" erörtert. Damit sei die Fertigkeit gemeint, „komplexe Problemlagen in kleine Teile zu verpacken, und als Kunst, qualitative Gesundheitsrisiken dem Gehalt nach verschwinden zu lassen". Im Aufsatz konzentriert sich Milles mit Blick auf die Ausdifferenzierung von Gesundheit als wissenschaftliches Handlungsfeld der Gewerbehygiene. Diese Entwicklung macht er primär am Wirken Max Rubners fest, der gegen das eher politisch engagierte Programm der sozialen Hygiene und der sozialen Medizin ein defensiveres Programm entwarf: die Analyse der sachlichen Gegebenheiten und deren wissenschaftliche Bewertung zum Schutz vor der von ihm kritisierten „Politisierung". Dieses Konzept griffen sowohl die beamteten Ärzte (Kreis- und Stadtärzte, später auch die Landesgewerbeärzte) als auch die in den Werken und Fabriken angestellten Ärzte auf. Sie entwikkelten daraus Handlungsdimensionen, die auf einem biologisch-technologischen Grundverständnis basierten. Hierbei war das Programm der Gewerbehygiene zuerst eingebunden in die Bestrebungen der öffentlichen Gesundheitspflege und der Sozialreform, die sie auf „produktionsbezogene rechtliche Rahmungen" und „personenbezogene Maßnahmen" beschränkten. Daraufhin erörtert Milles die nunmehr entstehende Ausdifferenzierung des Risikoverständnisses von „Arbeit", das eng mit dem Namen Ludwig Hirt verbunden ist. „Was wird verarbeitet? In welcher Körperstellung befindet sich der Arbeiter während der Arbeit? In welchem Raum wird gearbeitet?" Diese grundlegenden Fragen wurden in den folgenden Jahren zunehmend hierarchisiert, wobei sich, wie schon aus diesen Fragen abzuleiten, die personenbezogenen Maßnahmen als wichtigster Teil der praktischen ärztlichen Tätigkeit herausstellten. Sie ebneten dann auch den Weg von der Gewerbehygiene zur Arbeitsmedizin. Nach den Aufsätzen über spezifische Aspekte von Hygiene bzw. Fürsorge wird jene Institution näher betrachtet, die sich zunehmend als die zentrale Instanz in der Wiederherstellung von Arbeitsfähigkeit etabliert hatte, das Krankenhaus.61 Anhand des Allgemeinen Krankenhauses an der St. Jürgen-Straße in Bremen untersucht Barbara Leidinger die für die Hansestadt relevante Frage

60 D. Milles (Hg.), Gesundheitsrisiken, Industriegesellschaft und soziale Sicherung in der Geschichte, Bremerhaven 1993; der s., Akuter Fall und gesichertes Wissen. Konstruktion der Berufskrankheiten in der Deutschen Geschichte, Habilitationsschrift, Bremen 1993. 61 A. Labisch, Stadt und Krankenhaus. Das Allgemeine Krankenhaus in der kommunalen Sozial und Gesundheitspolitik des 19. Jahrhunderts, in: A. Labisch / R. Spree (Hgg.), „Einem jeden Kranken in einem Hospitale sein eigenes Bett". Zur Sozialgeschichte des Allgemeinen Krankenhauses in Deutschland im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1996, S. 253-296; A. Labisch / R. Spree, Die Kommunalisierung des Krankenhauswesens in Deutschland während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, N.F. 240 (1995), S. 7-47

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der Auswandererkontrollen um 1900. Insbesondere russische Transitwanderer auf ihrem Weg nach Übersee bildeten ein wichtiges Klientel des Krankenhauses. Das Krankenhaus fungierte für sie allerdings weniger als medizinische Versorgungsanstalt als vielmehr als gesundheitspolizeiliche Kontrollinstanz. Seit der Pockenepidemie 1871/72 hatte der Bremer Senat die seuchenhygienische Überprüfung von Emigranten zum Schutz der einheimischen Bevölkerung angeordnet. Über diese medizinische Kontrolle der Transitreisenden hinaus wuchs jedoch die allgemeine „Angst" vor Ansteckungen durch „Fremde", so daß die Reisenden im ausgehenden 19. Jahrhundert mit zunehmender Zahl immer stärker in den Blickwinkel wachsender Fremdenängste in der Hansestadt gerieten. Die über die Untersuchung der Reisenden erfolgte Einbindung der Krankenanstalt in den Transitverkehr trug auch dazu bei, privatwirtschaftliche Interessen des Krankenhauses zu befriedigen. Denn über lukrative Verträge mit dem Norddeutschen Lloyd konnten nicht nur die vorhandenen Kapazitäten der Institution ausgelastet, sondern darüber hinaus auch Mehreinnahmen erwirtschaftet werden. Diese Einbindung der Krankenanstalt in die städtischen Kontrollfunktionen hat darüber hinaus auch in entscheidendem Maß zur Kommunalisierung des Krankenhauses beigetragen. Den Kampf gegen die Pocken in Stockholm in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist Thema des Aufsatzes von Peter Sköld. Das Fallbeispiel Stockholms als größte schwedische Stadt des ausgehenden 18. Jahrhunderts dient dem Autor als Folie, die Entwicklung und die Bekämpfung der Pockenepidemien vorwiegend unter demographischen und epidemiologischen Gesichtspunkten zu untersuchen, die in Stockholm im Vergleich zum Landesdurchschnitt dramatischer verliefen und überprozentual viele Opfer, gerade unter Säuglingen und Kleinkindern, forderten. Diese unterschiedliche Sterblichkeit in den verschiedenen Altersgruppen wird detailliert für Stockholm und für das übrige Schweden analysiert und in das gesamte Todesursachenpanorama eingeordnet. Dies ermöglicht Sköld, die Auswirkungen von Inokulation und Pockenschutzimpfung auf die Sterberaten abzuschätzen und damit die unterschiedlichen Interventionsstrategien zu bewerten. 62 Mit der bislang in der Forschung kaum thematisierten Frage des Mutterschutzes beschäftigt sich Marlene Eilerkamp für das ausgehende 19. und frühe 20. Jahrhundert. 63 Soweit Mutterschaft im Kaiserreich ein Thema war, so handelte es sich ausschließlich um den Schutz der Arbeiterinnen in Industrie und

62 Vgl. als weiteres Fallbeispiel E. Wolff, Pockenschutzimpfung und traditionelle Medikalkultur. Das Beispiel Württemberg 1801-1818, Tübingen, Univ. Diss., 1995. Vgl. P. Sköld, The two faces of smallpox: a disease and ist prevention in eighteenth and nineteenth century Sweden, Umea 1996. 63 Die Fragestellung Ellerkamps ist eine Weiterentwicklung ihrer Dissertation: M. Eilerkamp, Industriearbeit, Krankheit und Geschlecht. Zu den sozialen Kosten der Industrialisierung: Bremer Textilarbeiterinnen 1870-1914, Göttingen 1991.

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Handwerk. Für andere Branchen bestand eine derartige Einrichtung nicht. Eilerkamp thematisiert anhand der zeitgenössischen Literatur und Rechtsprechung die Defizite des Mutterschutzrechts im Kaiserreich. Dies macht sie am Beispiel des Arbeitsschutzes und des Krankenversicherungsrechts deutlich. Anschließend erörtert sie die sehr heterogenen Konzepte für eine Mutterschaftsversicherung, die immer stärker auch von den bürgerlichen Sozialreformern aufgegriffen wurden. Antreibender Motor der Diskussionen über die Mutterschaftsversicherung war anfänglich die Frauenbewegung. Sie erreichte schrittweise über die öffentliche Diskussion des Problems, daß lokale Mutterschaftskassen eingerichtet wurden. Diese Kassen waren jedoch, so die Autorin, kein Ergebnis der Frauenbewegung. Das Ende der Mutterschaftskassen schließlich wurde von parlamentarischer Seite eingeläutet. Die Einrichtung der „Reichswochenhilfe" im Dezember 1914 erfüllte die meisten Forderungen der Mutterschaftsversicherungsbewegung. In ihrem Beitrag zur „Städtischen Armenversorgung in Deutschland und Frankreich" geht Karen Schniedewind der Frage nach, inwieweit das in Deutschland weitgehend praktizierte Konzept der Armenpflege, das Elberfelder System von 1853, auch in der später erfolgten französischen sozialpolitischen Diskussion Anerkennung fand oder ob sich in Frankreich ein eigenständiges und auf die spezifischen französischen Verhältnisse abgestimmtes System der Armenpflege etablierte. 64 Nach einer detaillierten Analyse beider Systeme und ihrer Auswirkung auf die Armenbevölkerung kommt sie zum Fazit, daß sich Frankreich nicht am deutschen Vorläufermodell orientierte. Dies begründet sie mit traditionell unterschiedlichen kulturellen Denkmustern, die eine entscheidende Prägekraft auf die sozialpolitischen Institutionen beider Länder ausübten. Hierbei arbeitet sie insbesondere die Unterschiede in der „Forderung nach Belohnung für ein arbeitsreiches Leben" heraus. Aspekte der Krankenversicherung im internationalen Vergleich bildeten das Thema der letzten Untersektion. Ingo Tamm untersucht hierzu den Aspekt „Ärzte und gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland und England vor dem Ersten Weltkrieg". In einem ausführlichen Vergleich erörtert Tamm hierbei in einem ersten Schritt die Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung in England und in Deutschland im Kontext der zeitgenössischen Diskussionen. Hierbei kommt er zum Fazit: „Während in England auf allen Ebenen dem freien Spiel der Kräfte Priorität eingeräumt wurde, konnte und wollte sich Deutschland nicht von der Vorstellung abwenden, daß die Wohlfahrt des Staates an ein auf Rechten und Pflichten zwischen Obrigkeit und Untertan gekoppeltes System gebunden" sei.

64 K. Schniedewind, Soziale Sicherung im Alter. Nationale Stereotypen und Lösungen in Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Francia 21/3 (1995), S. 122.

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Steven Cherry analysiert hierzu die Situation in Großbritannien noch näher. Cherry arbeitete die einzelnen Entwicklungsschritte zu einer umfassenden medizinischen Versorgung in Großbritannien heraus. Zwischen den wichtigen Gesetzmaßnahmen 1834 („Poor Law Amendment Act") und 1888 („Local Government Act") seien nur die Fundamente für eine medizinische Versorgung und die staatliche Beteiligung an gesundheitssichernden Maßnahmen gelegt worden. Erst in den Jahren vor und nach der Jahrhundertwende sei es zu einer Ausgestaltung der medizinischen und fürsorgerischen Maßnahmen gekommen. Dies lasse sich insbesondere an der sich ausweitenden Fürsorgepolitik gegenüber spezifischen Gruppen der Bevölkerung (Säuglinge, Schwangere u.a.) aufzeichnen. Mit dem „National Insurance Act" von 1911 seien dann in wenigen Jahren immerhin 12,7 Millionen Menschen in den Genuß von Kranken Versicherungsmaßnahmen gekommen. Dies habe jedoch bis zum Ende des Betrachtungszeitraums nicht zu einer umfangreichen Absicherung geführt, waren doch 1936 nur die Hälfte aller Erwachsenen vom „National Insurance Act" eingeschlossen. Einen Ausbau der medizinischen Vor- und Fürsorge macht Cherry für den Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg bis Ende der 1920er Jahre fest. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen hatten die meisten Westeuropäer Zugang zu einer grundlegenden medizinischen Versorgung. Diese wurde durch verschiedene Finanzierungs- und Versorgungssysteme sichergestellt, die zwar unterschiedlich waren, sich jedoch vom Aufbau her ähnelten. Henk van der Velden untersucht diese Grundmuster der Versorgung und den Aufbau der „kombinierten Gesundheitssysteme" („Compound Systems"), die um die Jahrhundertwende in ganz Europa entstanden. In diesem Zeitraum wurde der Zugang zur medizinischen Versorgung zu einem länderübergreifenden Problem, und es dauerte noch bis Mitte dieses Jahrhunderts, ehe die Regierungen bereit oder in der Lage waren, diese „kombinierten Gesundheitssysteme" durch mehr oder weniger umfassende Systeme zu ersetzen. Van der Velden liefert einen Überblick über diese „kombinierten Systeme" des frühen 20. Jahrhunderts und erklärt ihren finanziellen und organisatorischen Aufbau sowie ihre politische Dimension. Abschließend analysiert er die Geschichte der „kombinierten Systeme" am Fallbeispiel der Niederlande.

Ι . Die Entwicklung der städtischen Gesundheitsverhältnisse vom Ancien Régime zur Hochindustrialisierung

Krankheit und Tod in Liverpool während des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts

Von Fiona Lewis

Einleitung Dieser Beitrag stellt verschiedene Möglichkeiten vor, sowohl langfristige als auch saisonale Trends der Sterblichkeitsentwicklung unter den Einwohnern der Stadt Liverpool während des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zu untersuchen. Als Hauptquellen dienen die anglikanischen Pfarr-Register zwischen 1660 und 1750. In diesen wurden Taufen, Heiraten und Begräbnisse in den drei anglikanischen Kirchen innerhalb der Pfarrgemeinde protokolliert. 1 Das eigentliche Todesdatum wurde in den Registern nicht festgehalten, aber es ist anzunehmen, daß Begräbnisse in der Regel unmittelbar nach dem Tod stattfanden. Deshalb wurde das Todesdatum mit dem Begräbnisdatum gleichgesetzt. Die Todesursache wurde in dieser Zeit ebenfalls nicht in das Pfarr-Register eingetragen. Erst kurz nach 1770 wurden die ersten ,Liverpool Bills of Mortality' und damit die Dokumentation von Todesursachen eingeführt. 2 Um zeitliche Muster in der Todeshäufigkeit besser erkennen und, unter Berücksichtigung von Krankheiten, erklären zu können, wurde für jeden Monat in der Zeit von 1660 bis 1750 die Anzahl der Begräbnisse in Liverpool nach Altersgruppen differenziert analysiert. Dies ermöglicht es, Perioden mit Sterblichkeitskrisen zu identifizieren. Die Saisonalität der Sterbefälle wurde für den Zeitraum von 1661 bis 1750 für ,Erwachsene' und ,Kinder' im Abstand von 1

Die Kirche St. Nicolas in Liverpool begann 1660 mit der Registrierung, St. Peter im Jahre 1705 und St. George im Jahre 1738. Zusätzlich wurden die Heiratsdaten der früheren Mutterkirche in Walton on the Hill einbezogen, um das Problem der Registrierung über frühere Gemeindegrenzen hinweg in den Griff zu bekommen. Insgesamt enthält das Pfarr-Register Einträge von ca. 20.000 Begräbnissen, 23.000 Taufen und 7.000 Heiraten. 2 Ein Auszug aus der ,Bill of Mortality' von 1772 ist dargestellt in: W. Enfield , An Essay towards the History of Liverpool, Warrington 1773, S. 30-34.

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zehn Jahren in Indexform dargestellt und anschließend in Intervalle von 30 Jahren zusammengefaßt. Benutzt wurden außerdem aggregierte Daten zu Begräbnissen, die in ausgewählte Altersgruppen zusammengefaßt wurden. Diese Daten wurden einer Familienrekonstitutionsstudie entnommen, die sich auf Liverpool in diesem Zeitabschnitt bezieht.3 Die Verwendung von Daten der ,Bill of Mortality' erlaubte es, ursachenspezifische Todeshäufigkeitsmuster mit den Rekonstitutionsdaten und den saisonalen Mustern, die aus den Pfarr-Registern ermittelt worden sind, zu vergleichen. Durch Verwendung dieser verschiedenen Datensätze ist es möglich, die Ursachen der langfristig und saisonal auftretenden Sterblichkeitsmuster für unterschiedliche Altersgruppen genauer zu analysieren.

Zur Entwicklung Liverpools Um die Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich Liverpool, gemessen an der Menge der verschifften Tonnen, nach London zur zweitgrößten Hafenstadt in Großbritannien entwickelt. Der Transatlantikhandel mit Zucker und Tabak war schon um 1680 gut etabliert, und im frühen 18. Jahrhundert waren Schiffe aus Liverpool am Sklavenhandel beteiligt. Nach 1740 sollte dieses lukrative Geschäft seinen Höhepunkt erreichen. Daneben blühte ein weitreichender Handel entlang der Küste; die Handelsverbindungen mit Irland hingegen waren unterschiedlich intensiv. Die Einwohnerzahl Liverpools stieg von etwas über 1.500 im Jahre 1660 über ungefähr 6.000 um die Jahrhundertwende bis auf fast 22.000 um 1750. Liverpool entwickelte sich damit zur sechstgrößten Stadt Englands. Eine Schlüsselrolle hinsichtlich der Bevölkerungszunahme spielte die Migration; in der Mitte des 18. Jahrhunderts basierte bis zu 80 Prozent des Gesamtwachstums auf der Einwanderung. 4

3 Die Technik der Familienrekonstitution ordnet die Daten der Pfarr-Register über Taufen, Begräbnisse und Heiraten den Familienverbänden zu. Bei der hier erwähnten Studie wurde eine Kombination aus computerunterstützter und manueller Zuordnung angewandt. Siehe F. Lewis, The demographic and occupational structure of Liverpool: a study of the parish registers, 1660-1750, unveröffentlichte Diss, phil., University of Liverpool, 1993. 4 J. Langton / P. Laxton , Parish registers and urban structure: the example of late-eighteenth century Liverpool, in: Urban History Yearbook 1978, S. 74-84.

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Langfristige Trends der Sterblichkeitsentwicklung Krisenmortalität Mehrere Autoren haben gezeigt, daß das Auftreten von Sterblichkeitskrisen geographisch und zeitlich determiniert war. 5 Wrigley und Schofield sprechen von einem Krisenjahr, wenn die nationale Todesrate mindestens zehn Prozent über einem funfundzwanzigjährigen gleitenden Durchschnitt lag. Nach dieser Definition konnten sie zwischen 1541 und 1871 elf Krisenjahre identifizieren. 6 Die erste dieser Krisen (1665/66) innerhalb des hier untersuchten Zeitraums war hauptsächlich auf London beschränkt, das erheblich unter dem Einfluß der Pest litt. Es wird deshalb angenommen, daß der Nordwesten Englands und speziell die südwestliche Region Lancashire wenig davon betroffen war. 7 Dennoch läßt sich den Amtsbüchern der Stadt entnehmen, daß der Rat und die Stadtbevölkerung von Ansteckungen in den umliegenden Gegenden wußten und versuchten, die Verbreitung der Seuche innerhalb der Stadt zu verhindern. Von besonderem Interesse war der Ratsbeschluß vom 2. November 1665, der eine einfache Abwehrstrategie gegen die Ansteckung durchsetzen sollte. Dazu gehörte die Absage des Marktes am ,St Martyns day next, the Eve & other usuali daies after' 8 In diesem Zusammenhang wurde die Pest in Liverpool das letzte Mal erwähnt. Ob die Maßnahmen erfolgreich waren, oder ob die Stadt nochmals bedroht wurde, ist unbekannt. Dennoch zeigte sich eine positive Entwicklung hinsichtlich der Anfälligkeit für Krankheiten, zumindest für solche mit epidemischem Charakter. Aus den Amtsbüchern ergibt sich, daß Liverpool zu dieser Zeit von Londonern als sicherer Hafen angesehen wurde und daß

5 Beispielsweise P. Slack , Mortality crises and epidemic disease in England, 1485-1610, in: C. Webster (Hg.), Health, medicine and mortality in the sixteenth century, Cambridge 1979, S. 9-59. Weiterhin E. A. Wrigley IR. S. Schofield, The population history of England 1541-1871. A reconstruction, Cambridge 1981, S. 332-335 und S. 645-693. 6 Wrigley ! Schofield, The population history of England, Tabelle Al 0.2, S. 660f.; dort auch Angaben über die Intensität und Härte der einzelnen Krisen. Zwischen 1661 und 1760 überstieg die jährliche Todesrate das Mittel elf Mal um dreißig Prozent. Die Krisenzeiten, nach Intensität geordnet, betrafen die Jahre 1680/81, 1727/28, 1728/29 und 1729/30, 1665/66 und 1741/42. 7 Wrigley / Schofield , The population history of England, S. 654 und 684. Trotzdem gibt es Anhaltspunkte für ein früheres Auftreten der Pest in Liverpool. Im Jahre 1651 hat die Pest „swept off 200 of the inhabitants, approximately one tenth of the population, who were buried in the street now called Addison street, but then bearing the name of Sick Man's lane". Zitiert nach: E. Baines , History, Directory, and Gazetteer of the County Palatine of Lancaster; with a variety of commercial and statistical information, Bd. 1, Liverpool 1824, S. 158. 8 Zitiert nach J. Touzeau , The Rise and Progress of Liverpool 1551-1835, Liverpool 1910, S. 267.

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viele Familien in den späten 1660er Jahren ihren Wohnsitz und ihre Geschäftsinteressen in diese Gegend verlagerten. 9 Die Analyse der Sterblichkeitskrisen Liverpools ist im nationalen und regionalen Kontext möglich. Ersteres wurde von Wrigley und Schofield unternommen, letzteres von Rawling in einer aggregierten Analyse eines Teilgebiets der südwestlichen Region Lancashire, insbesondere des Kohlereviers und der landwirtschaftlichen Verwaltungsbezirke im Umfeld Liverpools. Wrigley und Schofield stellen die Jahre 1678/79 bis 1684/85, mit Ausnahme von 1683/84, als Jahre nationaler Sterblichkeitskrisen in England heraus. In die 1670er und 1680er Jahre fallen die drei schwersten Sterblichkeitskrisen im gesamten Zeitraum von 1541 bis 1871.10 Diese anhaltende Periode hoher Sterblichkeit ist jedoch eher auf einen Anstieg des allgemeinen Sterblichkeitsniveaus zurückzuführen, als auf eine Anhäufung lokaler Krisen. Genau wie der Großteil des westlichen Landes, erlebte der Südwesten Lancashires den Anstieg der Sterblichkeit zwischen 1678/79 und 1680/81 nicht so stark. Erst 1686 erreichte die Anzahl der Todesfalle ihren Höhepunkt, also ein Jahr, nachdem die sechs Jahre dauernde nationale Krise zu Ende ging. 11 Rawling zeigt allerdings, daß die an den Liverpooler Verwaltungsbezirk angrenzenden landwirtschaftlichen und kohlefordernden Regionen in den späten 1670er und 1680er Jahren sehr wohl unter hoher Sterblichkeit litten. 12 Die landwirtschaftlichen Gebiete waren am schwersten betroffen, die Kohlereviere erlebten die Sterblichkeitsspitzen des 17. Jahrhunderts weniger ausgeprägt; in Liverpool selbst war davon noch weniger zu spüren. Die Krisenjahre von 1727/28 bis 1729/30 waren noch schwerer; Wrigley und Schofield stellen sie als drei von neun Jahren heraus, die in dem Untersuchungszeitraum von 330 Jahren die höchsten Sterblichkeitskrisen hervorbrachten. Lancashire, besonders der Süden des Landes, gehörte zu den Gebieten, welche die Hauptlast der Krise zu tragen hatten. Trotz des großen Übergewichts von Geburten gegenüber Todesfällen in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts stieg die Anzahl von Todesfällen in den späten 1720er Jahren

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T. Baines , History of the commerce and town of Liverpool, London 1852, S. 323. Wrigley / Schofield, The population history of England, Tab. AlO.a, S. 659-664. Die ausgeprägtesten Sterblichkeitskrisen konzentrierten sich auf die Jahre 1557/58 und 1559/60. 11 Wrigley / Schofield , The population history of England, Tab. A10.4, S. 662 und S. 681; A. J. Rawling , The Rise of Liverpool and demographic change in part of South West Lancashire, 16601760, unveröffentlichte Diss, phil., University of Liverpool 1986, Abb. 4.1, S. 78. 12 Die von Rawling untersuchten Kohlegebiete befanden sich östlich und nordöstlich von Liverpool und schlossen die Gemeinde Huyton und den nördlichen Teil der Gemeinde Prescot ein. Die landwirtschaftlichen Regionen beinhalteten die übrigen Gemeinden im Norden bis Ormskirk, mit North Meols als nördlichsten Teil. Vgl. Rawling, The Rise of Liverpool and demographic change, Abb. 5.2, S. 94. 10

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so sehr an, daß um 1730 das gesamte natürliche Bevölkerungswachstum seit 1715 nivelliert war. 13 Die Sterblichkeit im südwestlichen Lancashire war erneut beachtlich, besonders in den landwirtschaftlichen Gebieten.14 Liverpool weist zwar merkliche Spitzen in den Begräbniszahlen auf, doch können diese weitgehend auf das seit dem frühen 18. Jahrhundert allgemein steigende Sterblichkeitsniveau zurückgeführt werden: Verglichen mit den benachbarten Stadtbezirken waren die sich in den Begräbniszahlen der Pfarr-Register widerspiegelnden Sterblichkeitsspitzen erstaunlich gering. Möglicherweise konnte Liverpool aufgrund seiner ziemlich isolierten geographischen Lage der letzten nationalen Krise (1741/42), die hauptsächlich im Süden Englands auftrat, entgehen.15 Da Liverpool eine Stadt mit starkem Bevölkerungswachstum und einer relativ hohen Bevölkerungsdichte war, die als Hafenstadt mit globalen Handelsverbindungen ihre Einwohner einem breiten und reichhaltigen Krankheitspanorama aussetzte, wären eigentlich dramatischere Sterblichkeitsspitzen zu erwarten gewesen. Die aggregierten Daten geben jédoch keinen klaren Hinweis auf periodische Krisen. Die Situation in Liverpool war nicht so gravierend wie die mehrerer anderer Städte in der Region. Es gibt drei Faktoren, die diese Situation teilweise erklären: Erstens grenzten die landwirtschaftlichen Bezirke an ausgedehnte Marschlandschaften, oder sie befanden sich teilweise sogar darin, besonders in den Küstengebieten. Es war bekannt, daß diese Gegenden ungesund waren, und die Bewohner dort insbesondere unter ,bösartigem und wechselndem Fieber' litten, wie es ein zeitgenössischer Schriftsteller erwähnt, der die Sumpflandschaften und Marschregionen von Lancashire im Jahr 1700 beschreibt. 16 Zweitens basierte die Landwirtschaft in dieser Gegend hauptsächlich auf Viehzucht, was die Region für Krankheiten anfällig machte.17 Nach der Abwendung vom Ackerbau, speziell vom Getreideanbau, mußten diese Gegenden in Zeiten schlechter Ernte und Nahrungsmittelknappheit oft leiden, wohingegen Liverpool den Vorteil hatte, importiertes Getreide nutzen zu können, wie beispielsweise in den Jahren 1728 und 1729.18 Drittens erfuhr Liverpool, wie bereits angedeutet, zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein rasches Bevölkerungswachstum, das zu einer hohen Bevölkerungsdichte führte. Die expandierende

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Wrigley / Schofield, The population history of England, Tab. A10.2, S. 681-683; Rawling, The Rise of Liverpool and demographic change, Abb. 4.3, S. 83. 14 Rawling , The Rise of Liverpool and demographic change, S. 108. 15 Wrigley / Schofield, The population history of England, S. 654 und S. 684. 16 Baines / Fairbairn , Lancashire Past and Present, Bd. 2, London 1867, S. 58. 17 J. Thirsk (Hg.), The Agrarian History of England and Wales. Vol. I. 1640-1750: Regional Farming Systems, Cambridge 1984, S. 63f. 18 Wrigley ! Schofield, The population history of England, S. 681; G. Chandler , Liverpool under James I., Liverpool 1960, S. 84.

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Wirtschaft sorgte für eine Belebung des Kontakts mit einer Vielzahl von Handelsstandorten nicht nur innerhalb der britischen Inseln, sondern auf der ganzen Welt. Bezüglich der Bevölkerungsentwicklung Liverpools könnte diese Situation das Eindringen und die Verbreitung von Krankheitserregern eher in endemischer als in epidemischer Form gefordert haben, so daß das allgemeine Sterblichkeitsniveau einen Wert erreichte, der viel höher lag als der des umliegenden Gebietes. Aus diesem Grunde blieben die Spitzen der Sterblichkeitskrisen, die andernorts so eindeutig und stark zu spüren waren, in Liverpool etwas verdeckt. Aus den aggregierten Zahlen aller Pfarr-Register können durch eine Differenzierung von ,Kinder-' und ,Erwachsenen-' Begräbnissen mit anschließender Auswertung der monatlichen Frequenzen über einen längeren Zeitraum wichtige Erkenntnisse hinsichtlich der langfristigen Entwicklung gewonnen werden. Der Ausdruck ,Kind' wird hier mit einer gewissen Vorsicht behandelt, da zwar die Kinderbegräbniseinträge in den Pfarr-Registern leicht durch ihre Form ,Sohn von ...' und ,Tochter von ...' identifizierbar sind, es aber denkbar ist, daß auch junge Erwachsene, solange sie noch im elterlichen Haus wohnten, so bezeichnet wurden. In Einzelfallen kann sich dies auf ein Höchstalter von etwa fünfzehn Jahren beziehen.19 A u f dieser Voraussetzung basierend, ist in Abbildung 1 die Entwicklung der Kindersterblichkeit dargestellt. Es sind mehrere unterschiedliche Phasen zu erkennen: In der ersten Phase erreicht die Anzahl der Kinderbegräbnisse für die Jahre 1670-72, 1681-82, 1688 und, etwas schwächer, 1684 Höchstwerte. Zwischen 1690 und 1705 folgt eine Reihe weniger ausgeprägter Höchstwerte, woran sich eine Folge von Sterblichkeitsspitzen mit ansatzweise gleichmäßigen Intervallen für die Jahre 1717, 1721, 1729 und 1735 anschließt. Der Zeitabschnitt von 1735 bis 1740 schließlich ist von häufigen und starken Schwankungen zwischen 20 und 60 Todesfallen geprägt. Bei der Anzahl der Erwachsenenbegräbnisse gibt es im allgemeinen weniger starke Fluktuationen. Das erste Maximum liegt in den Jahren 1689-90 und geht einer Periode mit starken Schwankungen bis 1716 voraus. Für diese Periode und für den Zeitraum ab 1720 ist eine gewisse Übereinstimmung im Auftreten und Ausmaß von Maxima zwischen Kinder- und Erwachsenenbegräbnissen festzustellen, wenn der Verlauf auch generell durch auffällige Schwankungen charakterisiert ist. Korrespondierende Spitzenwerte zwischen Erwachsenenund Kinderbegräbnissen sind auch für die Jahre 1729/30, 1732/33, 1738/40 und 1745/46 festzustellen. Abgesehen davon scheinen die Sterblichkeitsmuster für Erwachsene und Kinder jedoch sehr unterschiedlich gewesen zu sein. Während bei epidemischen Ausbrüchen ohne Zweifel die gesamte Stadtbevölkerung betroffen gewesen wäre, können diese eindeutig unterschiedlichen Muster auf verschiedene Einflüsse, die auf Erwachsene und Kinder unter-

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R. Wall , Age at leaving home, in: Journal of Family History 3 (1978), S. 181-202.

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schiedlich wirkten, zurückzuführen sein. Knappheit und schlechte Qualität der Nahrung, besonders in Kriegs- oder ökonomischen Krisenzeiten, und allgemeine Faktoren wie Temperatur und Wetter könnten die Todeszahlen erhöht haben, speziell für ältere oder anfällige Menschen. Ein Hinweis auf klimatische Einflüsse findet sich im Pfarr-Register des benachbarten Wallasey: Der Frost war demnach 1683 so stark, daß der Mersey teilweise zugefroren war und nicht mehr alle Stadtmärkte zugänglich waren. 20 Diese spezielle Kaltwetter-Phase hatte zwar keine großen Auswirkungen, aber immerhin kann ist in Abbildung 1 ein schwacher Hochpunkt für Todesfälle bei Erwachsenen zu erkennen. Eine zweite Gruppe von Einflüssen bezieht sich auf den Bereich der Umwelt, und hier insbesondere auf die Wohnverhältnisse und die Wasserversorgung. Abgesehen von den Kaufleuten und den direkten Flußanwohnern waren starke räumliche Variationen der Lebensbedingungen in Liverpool nicht so offensichtlich wie in anderen vorindustriellen Städten. Umweltfaktoren beeinflußten das allgemeine Sterblichkeitsniveau eher gleichmäßig, statt lokale Ausschläge zu erzeugen, es sei denn, Krankheiten traten räumlich abgegrenzt auf, oder ein besonderer Umstand, wie etwa eine unzulängliche Wasserversorgung, war der Auslöser einer Krankheit in einem bestimmten Teil der Stadt. Darüber hinaus waren drittens bestimmte Faktoren ungleich unter den Gruppen innerhalb der Gemeinschaft verteilt, besonders bei Krankheiten, die bestimmte Altersgruppen oder - seltener - spezielle Berufsgruppen unverhältnismäßig stark betrafen. Das wohl offensichtlichste Beispiel im 18. Jahrhundert waren die Pocken, die im allgemeinen Kinder eher befielen als Erwachsene. Der Schritt von solchen allgemeinen Beobachtungen hin zur Identifizierung der Todesursachen in Liverpool ist wegen der fragmentarischen Quellenlage und insbesondere wegen der bis zu den 1770er Jahren fehlenden ,Mortality Bills' leider nicht direkt möglich. Es ist aber durchaus möglich, einige grundsätzliche Aussagen über die Krankheitsmuster in Liverpool im 18. Jahrhundert und den möglichen Effekt von Krankheit, Umwelt und anderen spezifischen Faktoren auf bestimmte Elemente innerhalb der Gemeinschaft zu wagen, wenn ein komparativer Versuch mit den wenigen erhaltenen Quellen unternommen wird. In einer Studie von Landers und Mouzas über die ,Bills of Mortality' im London des späten 17. bis frühen 19. Jahrhunderts wurde ein eindrucksvoller Versuch unternommen, von saisonalen Begräbnishäufigkeiten auf die Natur verschiedener aufgeführter Todesursachen zu schließen, und insbesondere zwischen den grob definierten Zuständen von Magen- und Atemwegskrankheiten zu unterscheiden. 21 Da die ,Bills of Mortality' in Liverpool erst 1772 beginnen,

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Vgl. die Bemerkung auf dem Deckblatt des Pfarr-Registers von Wallasey. J. Landers / A. Mouzas, Burial Seasonality and Cause of Death in London 1670-1819, in: Population Studies 42 (1988), S. 59-83. 21

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kann eine solche Studie hier nicht durchgeführt werden. Es erscheint aber sinnvoll, die jahreszeitlichen Muster von Begräbnissen für mehrere Altersgruppen zu berücksichtigen und sie mit denen anderer Orte zu vergleichen. Wenn wir annehmen, daß viele von den in der ,ΒΠΓ von 1772 erwähnten Krankheiten auch schon im frühen 18. Jahrhundert in Liverpool auftraten, ist es sinnvoll, die langfristigen und saisonalen Begräbnismuster aus den PfarrRegistern für den Zeitraum von 1660 bis 1750 mit den bekannten ursachenund altersspezifischen Strukturen, die sich aus einer Analyse der ,BilP ergaben, zu vergleichen. Ein solcher Ansatz verläßt sich stark auf die Genauigkeit der ,Bills of Mortality', die nicht genau überprüft werden kann. Trotz der nur begrenzt und fragmentarisch zur Verfügung stehenden Informationen bietet dieser Versuch, so vorbehaltlich er auch sein mag, eine der wenigen Methoden, die möglichen Todesursachen festzustellen, anstatt nur Verlauf und Ausmaß der Sterblichkeit in Liverpool einzuschätzen.

Die Saisonalität von Begräbnissen Die aus dem Kirchenbuch ermittelten jahreszeitlichen Schwankungen der Begräbnisse sind für Erwachsene und Kinder in Indexform für dreißigjährige Zeiträume von 1661 bis 1771 aufgeführt worden (Abbildung 2). Bestimmte Tendenzen bilden sich heraus, wobei das mit der Zeit immer stärker ausgeprägte jahreszeitliche Muster am auffälligsten ist. Die Begräbniszahlen der Jahre 1661 bis 1690 für Erwachsene haben jeweils im Frühling eine ausgeprägte Spitze. Dieses Muster ist über den gesamten neunzigjährigen Zeitraum immer wieder zu erkennen. Eine weitere Spitze gibt es außerdem in den Herbst- und Wintermonaten ab 1700. Zum Vergleich ist eine Studie des späten Tudor und frühen Stuart Englands von Schofield und Wrigley zu nennen, die herausfanden, daß die Begräbniszahlen für Erwachsene im späten Frühling ihr Maximum und in den Sommermonaten ihr Minimum erreichten. Daraus folgt die Annahme, daß Infektionen des Atemsystems die Haupttodesursache in dieser Altersgruppe gewesen sein könnten. 22 Diese jahreszeitlichen Tendenzen sind ähnlich auch in Liverpool wiederzufmden. So können im frühen und mittleren 18. Jahrhundert in den Monaten Februar, März und April relativ hohe Indexwerte verzeichnet werden (Abbildung 2).

22 R. S. Schofield / Ε. A. Wrigley , Infant and child mortality in England in the late Tudor and early Stuart period, in: C. Webster (Hg.), Health, medicine and mortality in the sixteenth century, Cambridge 1979, S. 61-95, hier: S. 91.

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Wenn man das jahreszeitliche Auftreten von Todesfällen bei Erwachsenen untersucht, muß bedacht werden, daß die erzeugten Muster lediglich eine zusammengehörende, monatliche Widerspiegelung der langfristigen Entwicklungen sind. Diese monatliche Darstellung war in einer Stadt wie Liverpool geprägt durch für eine Hafenstadt typische Merkmale wie beispielsweise die Beschäftigungsstruktur, in der die Seefahrer die größte Untergruppe bildeten. Innerhalb der arbeitenden Bevölkerung des vorindustriellen England mußten bestimmte Berufsgruppen für ihren Lebensunterhalt einen höheren Preis zahlen als andere - nur wenige wahrscheinlich so viel wie Seeleute oder Hafenarbeiter dieser Zeit. Der Vergleich der aggregierten Zahlen von Sterbefallen unter Erwachsenen, differenziert nach Geschlecht, veranschaulicht das treffend. Ein Schiffsunglück oder eine große Zahl von Ertrunkenen nach einer Sturmflut zog einen beachtlichen Anstieg der Begräbniszahlen für männliche Erwachsene nach sich, vorausgesetzt, die Leichen konnten im Hafen geborgen und registriert werden. 23 Frauen waren hingegen von solchen Gefahren selten bedroht. Für sie waren die Risiken der Entbindung und Mutterschaft schwerwiegender, was sich aber in den jahreszeitlichen Mustern nicht widerspiegelt. Da die Kinderbegräbniszahlen in Liverpool im 17. Jahrhundert relativ niedrig waren, ist eine klare Definition von jahreszeitlichen Mustern vor 1700 schwierig. Vom späten 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert ist jedoch, unter Berücksichtigung gewisser Schwankungen, ein ähnliches jahreszeitliches Muster wie bei den ,Erwachsenenbegräbnissen' erkennbar (Abbildung 2). ,Kinderbegräbnisse' haben von den Frühlings- bis zu den frühen Sommermonaten ein Maximum und fallen dann, vor einem zweiten Maximum im Herbst, auf ein Minimum im späten Sommer. Unterteilt man das jahreszeitliche Auftreten von Kinderbegräbnissen von 1721 bis 1756 in Zeiträume von zehn Jahren, so zeigt sich ein ähnliches Muster mit zwei Spitzen. Als Ganzes betrachtet und verglichen mit den Erwachsenenbegräbnissen, ist dieses Muster allerdings nur sehr schwach ausgeprägt. Festzustellen ist aber die Tendenz zu einem Minimum in den Sommermonaten. Solche zusammenfassenden, jahreszeitlichen Tendenzen bei Begräbnissen können jedoch irreführend sein, da alle verstorbenen jungen Menschen, egal welchen Alters, im Pfarr-Register in der weiten Kategorie ,Kind' registriert wurden. Aus den Rekonstitutionsdaten, bei denen das Todesalter errechnet und bestimmte Altersgruppen eindeutig identifiziert werden können, lassen sich jahreszeitliche Muster für Säuglinge und Kinder mit ziemlicher Genauigkeit dar-

23 Wenn man Todeszahlen nach Geschlecht trennt, sieht man etwa in den frühen 1740er Jahren eine Reihe von Spitzen für männliche Erwachsene. In dieser Zeit registrierten die Gemeindebücher eine hohe Zahl von ertrunkenen Seeleuten, oft ergänzt mit einem Schiffsnamen oder der Bezeichnung ,Man-of-War\ Es paßt zum Charakter der Stadt, daß »ertrunken' als einzige in den PfarrRegistern von 1660 bis 1750 explizit erwähnte Todesursache auftaucht.

44

Fiona Lewis

stellen.24 So enthüllt der Vergleich der jahreszeitlichen Verteilung der Todesfälle zwischen 1701 und 1750 für die Altersgruppen 0-1 und 1-4 Jahre (Abbildung 3) die Ähnlichkeit der Muster. Beide zeigen Maxima im Frühling und im Herbst, obwohl diese für die Altersgruppe 0-1 weniger ausgeprägt sind. Im Gegensatz dazu zeigt die Altersgruppe 5-9 das ganze Jahr hindurch ein gleichmäßigeres Sterblichkeitsmuster, mit Ausnahme einer kurzen Hochphase in den Monaten Mai und Juni. In einer Studie zur Sterblichkeit in Ludlow während des Zeitraums von 1577 bis 1619 erklären Schofield und Wrigley, daß die jahreszeitliche Verteilung der Sterbefalle von Säuglingen - also, per definitionem, von Kindern unter einem Jahr - eng verbunden ist mit der auch jahreszeitlich schwankenden Anzahl von Taufen beziehungsweise Geburten. 25 Ein hoher Anteil der Todesfalle von Säuglingen trat schon im ersten Lebensmonat ein und war eher durch endogene als exogene Faktoren bedingt. 26 Im Falle von Liverpool wurde das Geburtsdatum zusätzlich zum Datum der Taufe von 1697 an kontinuierlich aufgenommen. In Indexform dargestellt (Abbildung 4), zeigt sich nur eine geringe Ähnlichkeit mit dem jahreszeitlichen Muster der Todesfälle von Säuglingen für den Zeitraum von 1701 bis 1750. Eine Ausnahme bildet ein allgemeines, ausgeprägtes Tief im Februar. Das hieße, daß es keine eindeutige Beziehung zwischen der saisonalen Verteilung von Todesfällen unter den Säuglingen und von Geburten gäbe, wie sie von Schofield und Wrigley postuliert wurde. Die jahreszeitliche Verteilung der Todesfälle von Kindern in Ludlow wies im Gegensatz zu derjenigen der Säuglinge eine hohe Spitze im Sommer auf, ein Zeichen für den Einfluß von Krankheiten wie Dysenterie und Diarrhöe, die oft mit heißem Sommerwetter verbunden waren. Diesen Gegensatz erklären Schofield und Wrigley mit der wahrscheinlich späten Entwöhnung derjenigen Kinder, die den ersten Lebensmonat überlebt hatten, und die folglich, besonders in den Monaten erhöhten Risikos, nicht mit kontaminierten Speisen und Getränken in Berührung kamen. Als sie dann mit höherem Alter abgestillt wurden, waren sie eher anfallig für Krankheiten. 27 Betrachtet man nun die Verhältnisse in Liverpool, so ist festzustellen, daß die Überlebenschancen von Säuglingen, je älter sie wurden, immer größer wurden, insbesondere nach dem ersten Lebensmonat und dann wiederum nach dem ersten Lebensjahr. Die Zahl der Todesfälle nach Altersgruppen, die durch die Familienrekonstitution ermittelt wurden, scheint mit zunehmendem Alter systematisch abzunehmen. Die leichte 24 Um mit dem Problem sehr kleiner Datenmengen fertig zu werden, wird die sich aus den Rekonstitutionsdaten ergebende Saisonalität von Begräbnissen in bestimmten Altersgruppen für den gesamten Zeitraum von 1701 bis 1750 dargestellt. 25 Schofield! Wrigley, Infant and child mortality in England, S. 82-92. 26 Ebd., S. 90. 27 Ebd., S. 90f.

Krankheit und Tod in Liverpool

45

Spitze im Sommer für 5-9jährige hätte auf diese Weise leicht verdeckt werden können, wenn die Kategorien 1-4 und 5-9 zusammengefaßt worden wären. Es könnte also sein, daß ein derartiges Sommerhoch, welches im groben jahreszeitlichen Muster für ,alle Kinder', wie es sich aus der gesamten Pfarrregisterserie ergab (Abbildung 2), zu erkennen ist, schnell von dem dominanten Tief absorbiert wird, das für die jüngeren Altersgruppen charakteristisch ist. Als Zwischenbilanz kann festgehalten werden: Mit einigem Wissen über langfristige und saisonale Muster für Kinder- und Erwachsenenbegräbnisse zwischen 1660 bis 1750 und deren Einflußfaktoren ist es möglich, Aussagen über mögliche Todesursachen zu machen, wenn die in der ,Bill of Mortality' (1772) aufgedeckten Strukturen und Entwicklungen rückprojeziert werden. Im folgenden soll die Anwendbarkeit eines solchen Verfahrens auf die Liverpooler Verhältnisse diskutiert werden. Die Liverpooler, Bill of Mortality ' von 1772 Die Erforschung früherer krankheitsspezifischer Trends auf der Basis der ,Bill of Mortality' von 1772 ist mit einigen methodischen und interpretatorischen Problemen behaftet, die vor der eigentlichen Analyse angesprochen werden müssen. In der Geschichte Liverpools war Bostock der erste, der für 1772 eine krankheitsspezifische Liste der Todesfalle erstellte. Sie ist daher von besonderer Bedeutung, um Aufschluß über das Auftreten von Krankheiten in dieser Zeit zu geben. Da hier jedoch nur Angaben für ein einziges Jahr vorliegen, muß geklärt werden, ob Todesfalle, die 1772 einer bestimmten Krankheitsbezeichnung zugeordnet wurden, auch repräsentativ für den ganzen Zeitraum waren. Diese Aufgabe ist leider fast unlösbar, da frühere ,Bills' nur begrenzt verfugbar sind. 28 Doch obwohl die Analyse von Krankheitsmustern, aufbauend auf Daten von nur einem Jahr, nicht ideal ist, so wäre es genauso unbefriedigend, die ,Bill' von 1772 als wahrscheinlich früheste Quelle, in der die Krankheiten spezifiziert worden sind, nicht zu berücksichtigen. Weiterhin muß überlegt werden, inwiefern das für 1772 gewonnene Bild der Todesursachen mit den Daten der Pfarr-Register, die über hundert Jahre früher beginnen (1661), verglichen werden kann. Selbstverständlich lassen diese fragmentarischen Informationen keinen direkten Vergleich zu, aber immerhin

28

Von 1775 bis 1839 wurden die jährlichen ,Bills of Mortality' gewissenhaft geführt. Der Zugang zu den frühen ,Bills', nämlich aus den 1770er, 1780er und 1790er Jahren ist aber fast unmöglich. Viele existieren nur in privaten Sammlungen, und für vier Jahre gibt es gar keine Aufzeichnungen. Vgl. P. Laxton, Observations on reconstructing the Population Dynamics of English Cities circa 1750-1850: Liverpool as a case study; eine der,International Union for the Scientific Study of Population' vorgelegte Studie, Tokyo, Japan, Januar 1986, Abbildung 1.

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46

ist eine Eingrenzung der Todesursachen möglich. Außerdem scheinen die aus dem Bericht von 1772 gewonnenen Eindrücke insgesamt besser zur Entwicklung und Situation der Stadt im frühen bis mittleren 18. Jahrhundert zu passen als im 17. Jahrhundert. Ein weiteres Problem der Quellen, die Krankheiten in der vorindustriellen Zeit dokumentierten, ist die unpräzise Terminologie. Wie die ,London Bills of Mortality' aus dieser Zeit, sind auch die aus Liverpool bezüglich der Krankheitsdefinition ungenau.29 Es ist unklar, auf welcher Basis Krankheiten identifiziert und klassifiziert wurden, und es wird nichts über primäre und sekundäre Todesursachen gesagt. Mit Ausnahme der Pocken mit ihren charakteristischen narbigen Hautverunstaltungen wurden alle Kategorien wie ,Fieber', ,Krämpfe' und seltener auch , Schwindsucht' (consumption), von externen Symptomen abhängig gemacht und waren dadurch sehr anfällig für Fehldiagnosen und Interpretationen. Sogar beim Begriff der Pocken, einer der am deutlichsten erkennbaren Zustände, könnten die an ,fulminating Smallpox', der schlimmsten Form, Erkrankten schon gestorben sein, bevor der charakteristische Ausschlag aufgetreten war. Solche Todesfalle wurden dann möglicherweise in die Kategorie ,Krämpfe' eingeordnet. 30 Die aus der ,Bill' gewonnenen Informationen deuten an, daß im Liverpool des ausgehenden 18. Jahrhunderts ein breites Krankheitsspektrum vorhanden war (Tabelle 1). Die vier häufigsten monatlich aufgeschlüsselten Todesursachen waren Schwindsucht (358 Fälle), Pocken (219 Fälle), Krämpfe (120 Fälle) und Fieber (83 Fälle): Von insgesamt 1.085 registrierten Todesfallen in diesem Jahr waren lediglich 42 nicht klassifiziert. Durch eine knappe Analyse dieser vier Haupttodesursachen kann ein Einblick in die jahreszeitliche und in bestimmten Fällen auch in die altersspezifische Struktur des Auftretens jeder Krankheit gewonnen werden. Angesichts möglicher Ungenauigkeiten bei der Definition von Todesursachen und der auf ein Jahr begrenzten Datenmenge sollen die Vergleiche mit den Londoner Daten eher allgemein gehalten werden.

29 30

Landers / Mouzas, Burial Seasonality and Cause of Death, S. 60f.

P. E. Razzell , The Conquest of Smallpox: the impact of inoculation on smallpox mortality in eighteenth century Britain, Firle 1977, S. 104f.; Landers / Mouzas, Burial Seasonality and Cause of Death, S. 61.

47

Krankheit und Tod in Liverpool Tabelle 1

Wiedergabe der Liverpool Bill of Mortality 1772, Table 1 Diseases Fever

Jan

Feb

Mar

Apr

May

June

July

Aug

Sep

Oct

Nov

Dec

Total

5

6

6

3

4

10

9

9

10

5

8

8

83

Pleurisy

1

1

Mortification

4

2

2

1

Inflammation of the Bowels

1

1

Sore Throat 1

Rheumatic Fever Teething

4

1

1

6 1

1

2

Worm Fever Small Pox

13

13

9

4

18

2

Measles

1

25

27

29

32

4

5

3

1

1

1

30

27

27

29

1

3

26

28

33

34

35

29

Apoplexy

2

2

4

1

3

3

1

Palsy

2

1

4

2

3

3

Convulsions

13

9

16

19

15

4

7

Asthma

2

9

4

4

1 7

14

4

14

1

1

2

4

7

1

Colic

17 35

1

Decay of Age

5

8

3

2

1

1

1

4

3

Dropsy

2

4

1

2

1

2

1

2

1

1

2

19

8

4

120

22

7

2

28 17

1

1

Cancer

2

1

Want

1

Casualities

1 79

45

1

Jaundice

Drunkeness

358 20

1

Purging and Vomitting

3

219

19 1

Lying-in

6 2

19

25

Chincough

1

1

16

Consumption

Total

2

1

1

1 3

1 1

1

1

1

1

1

1

11 2

1 1 2 80

84

74

83

3

1

1

2

3

1

2

3

2

17

83

81

87

92

81

110

73

1007

Infirmity 11 Still-born 25 Unknown Diseases 42 Total 1085

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48

Schwindsucht (Consumption) Landers und Mouzas fanden für das London des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts heraus, daß Schwindsucht hauptsächlich ein Winterphänomen mit hohen Werten in den Monaten Dezember bis April und niedrigen Werten von Juni bis Oktober war. 31 Bei der Liverpooler ,Bill of Mortality' von 1772 zeigt das Auftreten von Schwindsucht ebenfalls ein eindeutiges saisonales Muster, mit Spitzenwerten von April bis Juni und dann wieder im Dezember (Abbildung 5). Untersucht man das altersspezifische Auftreten, so ist diese Krankheit oft mit dem Tod im späten Kindheits- und im Erwachsenenalter in Beziehung zu setzen. Diese Charakteristik wird von einer altersspezifischen Ausdifferenzierung der Schwindsucht-Todesfälle, die der Liverpooler ,Mortality Bill' beigefügt ist, bestätigt. Der Vergleich der monatlichen Anzahl von Erwachsenenbegräbnissen aus den Pfarr-Registern von Liverpool mit der Anzahl von Todesfallen an Schwindsucht aus der ,Mortality Bill' läßt eine jahreszeitliche Ähnlichkeit mit einem Winter/Frühling-Hoch und einem Sommer/Herbst-Tief erkennen. Da aber die Begräbnismuster für Erwachsene und Kinder sehr weit definierte Frühlings- und Herbst/Winterhochpunkte aufzeigen, wäre es unklug, anzunehmen, daß diese oft genannte Todesursache auch den größten Einfluß auf das jahreszeitliche Muster der Erwachsenenbegräbnisse in Liverpool ausgeübt hätte. Es ist wahrscheinlicher, daß um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein hintergründiges, weitverbreitetes System hoher Wintersterblichkeit entstanden war, das mit einer Reihe von Atemwegserkrankungen, darunter Schwindsucht, verknüpft war. Dieses allgemeine Phänomen ergibt sich auch aus den Londoner ,Bills' für die gleich Zeitspanne.32 Pocken Obwohl bekannt ist, daß die Pocken im späten 17. und im 18. Jahrhundert sowohl in Städten als auch auf dem Lande auftraten, 33 waren sie eher in kleinen Gebieten über das ganze Land verteilt zu finden als in epidemischer Form. Sie 31

Landers / Mouzas, Burial Seasonality and Cause of Death, S. 67. Nach 1775 entwickelte sich dies hin zum bekannten bimodalen Muster mit Maxima im Januar, Februar und November. 32 Vgl. Landers / Mouzas, Burial Seasonality and Cause of Death, S. 64. Die Autoren erkennen eine langfristige Verschiebung der jahreszeitlichen Sterblichkeitsverteilung über das 18. Jahrhundert von einem Sommer- zu einem Winterplateau, vor deren Hintergrund ein ausgeprägtes jahreszeitliches Muster der Todesfälle rekonstruiert werden kann und die bekannten Todesursachen zugeordnet werden konnten. 33 C. Creighton, A History of Epidemics in Britain, Bd. 2, London 1965 (Neudruck), S. 434556.

Krankheit und Tod in Liverpool

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stellten durch Ansteckungen anfälliger kleiner Kinder, die noch keinen Kontakt mit den Krankheitsauslösern und entsprechend keine Immunität ausgebildet hatten, eine wiederkehrende Bedrohung für Gemeinden dar, in denen sie endemisch auftraten. 34 Ein solches Muster würde gut zu den schwankenden aber akzentuierten Kinderbegräbniszahlen des frühen bis mittleren 18. Jahrhunderts in Liverpool passen (Abbildung 1). In der Tat waren die Pocken im letzten Viertel des Jahrhunderts dafür bekannt, in Liverpool besonders bösartig gewesen zu sein. 35 So war die Todesrate in Liverpool beispielsweise höher als im benachbarten Manchester. 36 Um die 1770er Jahre waren die Pocken in Liverpool wahrscheinlich endemisch. Trotzdem gibt es vereinzelte, aber verläßliche Beweise für ihr Auftreten vor dieser Zeit. Eine der wenigen lokalen Bezugnahmen auf die Krankheit findet sich in Form eines Tagebucheintrags im Sommer des Jahres 1710 von Nicholas Blundell aus dem nahegelegenen Little Crosby. Seine älteste Tochter litt an der Krankheit. Es wurde kein Arzt geholt, sondern eine Krankenschwester aus einem benachbarten Dorf. Das Kind könnte für die zweiwöchige Phase ihrer Gebrechlichkeit auch isoliert gewesen sein, denn die jüngere Tochter erkrankte nicht. In den späten Wintermonaten des folgenden Jahres erkrankten beide Kinder an Masern. Da man dies anscheinend für ernster hielt, wurde ein Arzt gerufen. Die Beschwerden waren schnell vorüber, aber nach ein paar Monaten erkrankten beide Kinder erneut. 37 Das Tagebuch enthält sehr persönliche Einträge und ist deshalb gut dazu geeignet, zeitgenössische Wahrnehmungen von und Einstellungen zu Krankheiten zu beurteilen. Blundell zeigt väterliche Sorge, scheint sich aber mit dem Zustand seiner Tochter abzufinden, da er Pokken als eine fast unausweichliche Kindheitserfahrung akzeptiert. Eine solche Einstellung wurde wahrscheinlich von vielen geteilt, und das immer wiederkehrende Auftauchen der Krankheit im 18. Jahrhundert könnte teilweise erklären, warum die Pocken keine besondere Erwähnung in den Protokollen des Liver-

34 35

Wrigley I Schofield, The population history of England, S. 669. Pockentote in Liverpool: Jahr

an Pocken Gestorbene 1772 1160 1085 219 1773 1192 1129 200 1774 1207 1420 243 Aus: J. Haygarth , Sketch of a plan to exterminate the Natural Smallpox, London 1793, zitiert in: Creighton , A History of Epidemics in Britain, S. 537. 36 Creighton , A History of Epidemics in Britain, S. 536f. 37 J. J. Bagley / F. Tyrer / N. Blundell , The great diurnal of Nicholas Blundell of Little Crosby, Lancashire, in: Record Society of Lancashire and Cheshire, Manchester 1968-1972, Bd. 1: 17021711, S. 266-312. 4 Vögele/Woelk

Taufen

Begräbnisse

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pooler Stadtrats fanden. Sie hatten, einfach ausgedrückt, nicht die Qualen ausgelöst, wie sie die Menschen bei der Pest in den 1660er Jahren erlebt hatten. Die in den Londoner ,Bills of Mortality' protokollierte saisonale Verteilung der Todesfälle zeigt, daß die Pocken in allen fünfundzwanzigjährigen Zeitabschnitten zwischen 1670 und 1824 verstärkt in der zweiten Jahreshälfte auftraten. In den Jahren 1670-99 gab es die Tendenz, daß die Todeszahlen im dritten Quartal des jeweiligen Jahres Spitzen erreichten und sich dann in den restlichen Jahren bis 1775 langsam wieder in das vierte Quartal verlagerten. 38 Dieses Muster für London paßt gut zu den wenigen Pockentodesfällen in Liverpool 1772 (Abbildung 5). Betrachtet man zusätzlich die Liverpooler Pfarr-Register für Beerdigungen bei,Kindern', speziell für die 1720er und 1730er Jahre, so ist eine langfristige Tendenz zu steigenden Werten in den späten Monaten des Jahres zu erkennen (Abbildung 1); eine Charakteristik, welche die jahreszeitliche Repräsentation der Begräbnisse von ,Kindern' für die entsprechenden Zeiträume in Indexform herausgestellt hat (Abbildung 2). Es wäre also logisch, zu folgern, daß die Pocken einen beachtlichen Einfluß auf die Anzahl und den Zeitpunkt von Todesfällen bei Kindern im vorindustriellen Liverpool hatten. In Verbindung mit anderen, vielleicht weniger bösartigen oder sporadischer auftretenden Krankheiten, waren die Pocken für den Tod vieler junger Menschen verantwortlich. Krämpfe (Convulsionen) Wie bereits erwähnt, wurden manche Todesfalle in die Kategorie ,Krämpfe' aufgenommen, obwohl sie eigentlich anderen, nicht diagnostizierten Krankheiten hätten zugeordnet werden müssen. Dies geschah besonders in Fällen, bei denen noch keine Symptome der primären Todesursache aufgetreten waren. Auch Landers und Mouzas behaupten aufgrund der ,London Bills of Mortality', daß auf der Basis von sehr ähnlichen jahreszeitlichen Mustern einige in diese Kategorie aufgenommene Todesfälle korrekterweise anderen Ursachen zuzuordnen seien, speziell das ,Zahnen' und ,infant and chrisomes'. 39 Auch im Falle Liverpools bestehen einige Unklarheiten über die Definition von Krankheiten, besonders wenn man berücksichtigt, daß im April 1772 die Anzahl der Todesfälle, die den Pocken zugeordnet wurden, stark zurückging, andererseits aber die Anzahl der Todesfälle durch Krämpfe einen Spitzenwert erreichte (Abbildung 5). Die von Landers und Mouzas in der Londoner ,Bill' identifizierte Kategorie ,infant and chrisomes' wurde zwar in Liverpool nicht

38 39

Landers / Mouzas, Burial Seasonality and Cause of Death, Tabelle 5, S. 66. Ebd., Tabelle 5, S. 64-66.

Krankheit und Tod in Liverpool

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verwendet, aber hier wird eine ähnliche Tendenz zu Defiziten bei der korrekten Klassifizierung deutlich, da nur sechs bei ,Zahnen' eingeordnete Todesfälle in der Liverpooler ,Bill' von 1772 registriert worden sind. Landers und Mouzas zeigen weiterhin, daß es keinen Unterschied macht, ob die Kategorie ,Krämpfe' die Todesfälle durch ,Zahnen' und ,infants and chrisomes' einschließen, da alle drei in den meisten Fällen Todesursachen waren, die mit zwei bestimmten Lebensabschnitten verbunden waren, nämlich dem ersten Monat nach der Geburt und der frühen Kindheit. Diese altersspezifische Abhängigkeit wird durch die in Tabelle 1 gezeigten Daten von Liverpool bestätigt. Bei der Untersuchung der saisonalen Verteilung der Krämpfe in London fällt auf, daß Spitzen meist in den Frühlingsmonaten und vom Spätsommer bis zum frühen Herbst auftraten. 40 Dieses Muster spiegelt sich auch bei den in die Liverpooler ,Mortality Bill' von 1772 aufgenommenen Fällen wider (Abbildung 6). Verglichen mit den Pfarrregistereinträgen für Todesfälle bei Kindern, finden sich Übereinstimmungen bei jahreszeitlichen Mustern, besonders für die Frühlingsmonate (Abbildung 2). Obwohl das langfristige Auftreten und die jahreszeitlichen Muster der durch Krämpfe bedingten Todesfalle nicht so ausgeprägt wie bei den Pocken waren, ist darauf zu schließen, daß, angesichts der Übereinstimmung der jahreszeitlichen Muster, bis 1750 eine bedeutende Anzahl von Todesfällen im Kleinkindund Kindesalter der Kategorie ,Krämpfe' zugeordnet werden können, sei es durch strikte Definition oder durch Einbeziehung einiger anderer Todesursachen, die noch nicht voll erkannt oder definiert waren, sich aber unter diesem Oberbegriff sammelten. Fieber Die Interpretationen des oft zu allgemeinen Beschreibungen benutzten Begriffes ,Fieber' sind sehr unterschiedlich. 41 Viele Autoren gehen davon aus, daß Typhus, 42 durch Läuse übertragen, im 17. und 18. Jahrhundert oft mit Überbevölkerung und Armut in Verbindung gebracht wurde.

40 Ebd., Tabelle 4, S. 65. Monatlicher Begräbnisindex für die Londoner ,Bill\ 1670-79: Jan., I l l ; Feb., 119; Mär., 112; Apr., 104; Mai, 92; Jun., 97; Jul., 110; Aug., 110; Sep., 86; Okt., 75; Nov., 88; Dez., 97. 41 Zeitgenössische Ansichten über die Krankheitsform „Fieber" finden sich bei Creighton , A History of Epidemics in Britain, S. 1-4. 42 Unter dem Titel ,Typhus and other continued fevers', führte beispielsweise Creighton mehrere Typen von Fieberzuständen auf. Vgl. Creighton, A History of Epidemics in Britain, S. 1-216. Wenn Fieber als Typhus akzeptiert wird, ist die Definition, von einer modernen Klassifizierung be-

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In Liverpool ist das Auftreten der Krankheit seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts bekannt. Von 1780 bis 1796 konnte fast ein Viertel der 213.305 Krankheitsfalle Typhus zugeordnet werden; im Durchschnitt sollen etwa 150 Personen pro Jahr an Typhus gestorben sein.43 Obwohl die Krankheit unter Bedingungen wie Vernachlässigung und Armut aufblühte (Umstände, die im Liverpool des mittleren 18. Jahrhunderts nicht unbekannt waren), ist es unwahrscheinlich, daß der Grad der Verstädterung stark genug war, um das Typhus-Fieber auf diese Werte, wie sie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in der Stadt auftraten, zu steigern und auf diesem Niveau zu halten. Wahrscheinlicher ist es, daß eine Reihe von Krankheiten mit ähnlichen Symptomen auch unter diesem breiten Sammelbegriff eingeordnet wurden. Ein interessantes Beispiel beschäftigt sich mit dem Ausbruch von starkem Fieber, wahrscheinlich Typhus, welches im frühen 18. Jahrhundert in Chester beschrieben wurde. Nach dem Sieg über die Jacobiter am 13. November 1715 in Preston, wurden am ersten Dezember diesen Jahres 450 Gefangene zum Chester Castle gebracht. In den folgenden Monaten erwähnt Lady Otway ,die strenge Jahreszeit' und ,ein sehr bösartiges Fieber' unter den Gefangenen. Am 16. Februar fühlte sie sich zu folgender Erklärung bewegt: ,So much sickness now in our Castle that they dye in droves like rotten sheep, and be 4 or 5 in a night throne into the Castle ditch ffor ther graves. The feavour and sickness increaseth dayly, is begun to spread much into the citty, and many of the guard solidyers is sick, it is thought by inflection. The Lord preserve us ffrom plague and pestilence!'44

Viele dieser Menschen wurden später zusammen mit anderen, die als Sträflinge oder politische Gefangene auf dem Weg in die Kolonien waren, in Liverpool verschifft. Von vielen ist bekannt, daß sie nicht überlebt haben. Sie wurden mit denen, die sie wahrscheinlich während der Reise angesteckt hatten, in der Stadt begraben. Dies sorgte wahrscheinlich für den Spitzenwert in der Anzahl von Erwachsenenbegräbnissen in den Jahren 1715-16 (Abbildung l). 4 5 Aus den saisonalen Strukturen kann abgeleitet werden, daß Todesfalle durch ,Fieber' verstärkt in den Sommermonaten auftraten (Abbildung 5). Trotzdem ist der Vergleich mit den in der Londoner ,Bill' aufgezeichneten jahreszeitlichen Mustern kompliziert, da die Fiebersterblichkeit vom späten 17. bis zum

trachtet, noch problematischer, da bis 1869 Typhus nicht von Abdominaltyphus unterschieden wurde. Vgl. T. McKeown, The Modern Rise of Population, London 1976, S. 59. 41 J. Currie, Medical Reports on the Effects of Water, Cold and Warm, as a Remedy in Fever and other Diseases, 2. Aufl. 1798, zitiert in: Creighton , A History of Epidemics in Britain, S. 141. 44 Elizabeth, Lady Otway, zu Benj. Browne, 1. und 15. Dezember 1715; 16. Februar 1716; zitiert in: Creighton , A History of Epidemics in Britain, S. 60. 45 Im entsprechenden Begräbnisregister der Kirche St. Peter's findet man bei den Einträgen zu vielen verstorbenen männlichen Erwachsenen den Zusatz »Gefangener'.

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späten 18. Jahrhundert starken Veränderungen unterlag. 46 Obwohl der Wandel dieses Musters mit dem sich ändernden Krankheitsumfeld dieser Zeit zu tun hatte, könnte es teilweise auch aus der detaillierteren und verbesserten Krankheitsklassifizierung resultieren. Dabei wäre besonders die Aufspaltung der Kategorie ,Fieber' in genauer definierte Zustände zu erwähnen. Da nur begrenzt Informationen zur Verfügung stehen, ist es wohl abwegig, zu behaupten, daß ,Fieber' in Liverpool von einem erkennbaren jahreszeitlichen Muster geprägt wurde oder daß es sich auf bestimmte Altersgruppen konzentrierte. Dieser Begriff war wahrscheinlich nicht die exakte Beschreibung einer Krankheit, sondern vielmehr ein Sammelbegriff für eine Mischung verschiedener Symptome und Zustände, darunter wahrscheinlich auch Typhus.

Andere Todesursachen Die übrigen in der ,Bill' erwähnten Krankheiten und Beschwerden forderten verschieden hohe Todeszahlen, wobei ,Chincough' mit fünfundvierzig Todesfällen nach den bereits besprochenen Todesursachen an fünfter Stelle steht. Die restlichen Todesursachen tauchen zu selten auf, um langfristige oder saisonale Trends erkennen zu können. Manche Zustände wie ,Trunkenheit' oder ,Casualties' waren in ihrem Auftreten völlig zufällig. Zusammenfassung und Schluß Abschließend sollen einige allgemeine Schlußfolgerungen über Faktoren, welche die langfristigen und jahreszeitlichen Begräbnismuster in Liverpool beeinflußten, gezogen werden. Diese ergeben sich insbesondere aus dem Vergleich der Angaben aus den Pfarr-Registern für die Zeit von 1660 bis 1750 mit Material aus der Liverpooler ,Mortality Bill' von 1772, wobei letztere zusätzlich mit den Befunden aus den ,London Bills of Mortality' verglichen wurden. Zunächst einmal können innerhalb der langfristigen Gesamtentwicklung von Begräbniszahlen eine Reihe unterschiedlicher Phasen identifiziert werden. Vor den frühen Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts traten die späten 1680er Jahre als eine Periode mit erhöhten Begräbniszahlen für Erwachsene und Kinder auf. Danach folgte bis 1710 eine relativ stabile Periode mit kleineren Mortalitäts-

46 Landers / Mouzas, Burial Seasonality and Cause of Death, S. 67. Im späten 17. Jahrhundert gab es eine Tendenz zu hohen Gestorbenenzahlen in den Monaten August und September und relativ niedrigen Werten von Dezember bis Juni. In den darauffolgenden 50 Jahren verschob sich dieses Muster zu einem späteren Herbstmaximum, obwohl der hohe Septemberindex relativ unverändert blieb.

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spitzen für beide Altersgruppen. Ab dieser Zeit steigen die Begräbniszahlen beträchtlich an, wobei besonders die Begräbniszahlen für Kinder starke periodische Schwankungen, vor allem in den späten 1730er und 1740er Jahren, zeigen. Im Langzeitüberblick zeigt die monatliche Sterberate ein sich immer stärker stabilisierendes jahreszeitliches Muster, das schließlich um die Mitte des 18. Jahrhunderts für Kinder und Erwachsene deutlich hervortritt. Im nationalen Kontext betrachtet, könnte sich dieses Muster innerhalb einer allgemeinen Veränderung des Krankheitsspektrums entwickelt haben, wie Landers und Mouzas es für London beschreiben. 47 Von unserem Standpunkt mit begrenztem Wissen über das Auftreten von Krankheiten in Liverpool betrachtet, scheint die Pest um die Wende des 17. Jahrhunderts verschwunden zu sein. Im frühen 18. Jahrhundert verlagerte sich das Gewicht der Pocken mit ihren charakteristischen periodischen Ausbrüchen auf die jungen Menschen, wodurch die jahreszeitliche Verteilung von Kinderbegräbnissen erheblich beeinflußt wurde. Daß sich diese Perioden höherer Begräbniszahlen bzw. höherer Säuglings- und Kindersterblichkeit intensivierten, kann auf den Einfluß von mehreren anderen Krankheiten zurückzuführen sein, von denen bekannt ist, daß sie Kinder härter trafen als Erwachsene. In dieser Hinsicht sind besonders Krämpfe, ,Chincough' und, in geringerem Ausmaß, Masern zu nennen. Da es im saisonalen Verlauf der Sterbefälle unter Säuglingen und Kleinkindern keinen ausgeprägten Sommergipfel gab, scheinen Zustände wie Diarrhöe und Dysenterie, die normalerweise mit heißem Sommerwetter assoziiert werden, nur begrenzt aufgetreten zu sein. Es gibt einige Hinweise darauf, daß das Fieber in den frühen 1770er Jahren Einfluß auf das Ansteigen von Todesfällen in den Sommermonaten gehabt haben könnte. Wird es als Typhus interpretiert, so könnte es durch die immer schlechter werdenden Lebensbedingungen und die steigende Bevölkerungsdichte noch verschlimmert worden sein. Wie dem auch sei, bei unklarer Festlegung des Begriffs ,Fieber' und ohne einen nach Alter gestaffelten Datenfundus ist es wenig hilfreich, weiter über das Vorhandensein und den Einfluß der Krankheit auf folgende Jahrzehnte zu spekulieren. Bei Todesfällen unter Erwachsenen scheint Schwindsucht in den frühen 1770er Jahren die einflußreichste der genannten Todesursachen zu sein. Auch im früheren 18. Jahrhundert hatte die Krankheit, zusammen mit anderen Erkrankungen der Atemwege, wohl großen Einfluß auf das Entstehen des vorherrschenden Winterhochs in der jahreszeitlichen Verteilung der Todesfälle unter Erwachsenen.

47

Landers / Mouzas, Burial Seasonality and Cause of Death, S. 69f.

Krankheit und Tod in Liverpool

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Reflektiert man die Tragfähigkeit einer Rekonstruktion des Todesursachenpanoramas anhand eines Vergleichs von Liverpool und London, ist zu bedenken, daß Phasen im Wandel von Krankheitsmustern in der Hauptstadt schon auf eine gefestigte städtische Struktur trafen. Im Falle von Liverpool muß das Krankheitsspektrum im Kontext einer sich durch schnelles Bevölkerungswachstum und steigende Bevölkerungsdichte, ökonomische Diversifikation und vielfältigere globale Kontakte durch den Seehandel dauernd verändernden Stadt gesehen werden. Innerhalb von 90 Jahren entwickelte sich Liverpool von einer bescheidenen Siedlung zu einer großen Stadt. Dies brachte einen entsprechenden Wandel der Gesundheitsverhältnisse mit sich. Die Entwicklung war ein laufender Prozeß und wahrscheinlich zu keiner Zeit rasanter als im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Die Schnelligkeit dieser Veränderungen stellt den Versuch in Frage, die sich aus der ,Bill of Mortality' ergebenden Charakteristika mit denen zu vergleichen, die aus den Pfarr-Registern für die vorhergehenden 90 Jahre abgeleitet wurden. Landers und Mouzas erklären: ,the seasonal incidence of disease may vary over time in a single environment, either because of changes in the nature of the pathogen concerned, or, more probably, because of those in the seasonality or prevalence of other diseases with which it is associated.'48

Der hier vorgestellte breite, komparative Ansatz bietet dennoch eine der wenigen Möglichkeiten, kleine, aber wertvolle Fragmente von Informationen über mögliche Todesursachen und aggregierte Sterbefälle zusammenzuführen. Er gibt so Aufschluß über Krankheit und Tod in einem Zeitabschnitt, für den nahezu keine verläßlichen Berichte oder statistischen Erhebungen vorliegen.

"Ebd., S. 69.

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Abbildung 1 : Begräbniszahlen von Kindern und Erwachsenen in den Pfarr-Registern, 1661-1750.

Krankheit und Tod in Liverpool

1661-90 Kinder

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1661-90 Erwachsene

Abbildung 2a

A

M

J

J

_ 1691-1720 Kinder Abbildung 2b

A

S

O

N

1691-1720 Erwachsene

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58 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 M

A

M

J

J

1721-1750 Kinder -

A

S

Ο

Ν

1721-1750 Erwachsene

Abbildung 2c: Vergleich der jahreszeitlichen Muster der Begräbnisse von Erwachsenen und Kindern aus den Pfarr-Registern, ausgedrückt in Indexform, 1661-1690, 1691-1720, 1721-1750

0-30 Tage

30-365 Tage Abbildung 3 a

0-365 Tage

Krankheit und Tod in Liverpool

0-1 Jahre

1-4 Jahre — -

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- 5 - 9 Jahre

Abbildung 3b: Jahreszeitliche Verteilung der Kinderbegräbnisse, aus Familienrekonstitutionsdaten, ausgedrückt in Indexform, geordnet nach Altersgruppen, 1701-1750

Begräbnisse

Geburten

Abbildung 4: Jahreszeitliche Verteilung der Anzahl von Geburten und Säuglingsbegräbnissen nach den Pfarr-Registern, ausgedrückt in Indexform, 1701-1750

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Schwindsucht _

_

_ Pocken

Krämpfe

Fieber

Abbildung 5: Monatliche Verteilung der Begräbniszahlen für die vier Haupttodesursachen, die in der Liverpooler ,Bill of Mortality' von 1772 dokumentiert sind

Sharing the urban graveyard" - Sterblichkeitsdynamik im städtischen Hinterland, England 1680-1820

Von Steven King

Einleitung Seit der Publikation der bahnbrechenden Arbeit von Wrigley und Schofield zur Bevölkerungsgeschichte Englands im Jahre 1981 haben zahlreiche Forschungsarbeiten, insbesondere zur Säuglings- und Kindersterblichkeit, dazu beigetragen, daß ein allgemeines Bild der nationalen und regionalen Sterblichkeitstrends in England entstand.1 Trotz der mangelnden Registrierung englischer Sterblichkeitsdaten kann eindeutig davon ausgegangen werden, daß die Säuglingssterblichkeit ab der Mitte des 17. Jahrhunderts ansteigt (hierin spiegeln sich Krieg, Mißernten und Epidemien wider). Die Sterberaten erreichen ihren Höhepunkt mit 180 pro Tausend in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und fallen dann nach 1750 ab (was - wie Szreter es nannte - einen „Epidemisierungsprozeß" darstellt). Anschließend wird die nationale Entwicklung der Säuglingssterblichkeitsraten durch die Einflüsse der schnell wachsenden Großstädte komplexer. 2 Die Sterblichkeit der jungen Kinder scheint nach einem ähnlichen Muster zu verlaufen, die Sterbeziffern bei den Jugendlichen und Erwachsenen haben allerdings eine dürftigere empirische Basis.3

1 E. A. Wrigley / R. S. Schofield , The population history of England 1541-1871: A reconstruction, Cambridge 1981. Vgl. hierzu: R. I. Woods / N. Williams / C. Galley , Infant mortality in England 1550-1950: Problems in the identification of long term trends and geographical and social variations, in: A. Corsini / P. Viazzo (Hgg.), The decline of infant mortality in Europe 1800-1950: Four case studies, Florenz 1993, S. 35-50. 2

P. Razzell , Essays in English population history, Chichester 1994; S. Szreter , The Importance of Social Intervention in Britain's Mortality Decline c. 1850-1914: a Reinterpretation of the Role of Public Health, in: Social History of Medicine 1 (1988), S. 1-38. 3

Siehe S. Ruggles , Migration, marriage and mortality: Correcting sources of bias in English family reconstitutions, in: Population Studies (1992), S. 81-97.

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Selbstverständlich werden durch breite nationale Trends die erheblichen innerstädtischen Unterschiede in der Sterblichkeit verdeckt. Während die Säuglingssterblichkeit in den ländlichen Industriegebieten nach 1750 durchweg eine abnehmende Tendenz zeigt, variieren beispielsweise die Säuglingssterblichkeitsraten von unter 100 in der ländlichen Gemeinde Hartland bis über 250 in der Marktstadt Gainsborough. 4 Durch die nationalen Trends werden auch die erheblichen sozialen Unterschiede zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen verdeckt, so wiesen z.B. die Quäker durchweg hohe Säuglingssterblichkeitsraten auf. 5 Vor allem wird durch die „nationalen" Säuglingssterblichkeitsraten die spezifische Situation in den Städten nicht ausreichend wiedergegeben. Es ist deshalb kein Zufall, daß die empirische und theoretische Wiedergabe der städtischen Gesundheits- und Sterblichkeitsbedingungen ab dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts in den vergangenen Jahren ein Themengebiet von zunehmendem Interesse gewesen ist. Die Sterblichkeitsdynamik Londons wurde in einer wahren Flut von Analysen unter die Lupe genommen, während ebenso zahlreiche Studien sich mit dem sich verändernden Krankheitspanorama der englischen Städte und mit den Ursachen für die Abnahme der Sterblichkeit im späten 19. Jahrhundert befaßten, wodurch ein sehr umfassendes Bild zahlreicher Städte und größerer Gemeinden entstand.6 Durch gleichzeitig verlaufende Entwicklungen auf dem Gebiet der Medizingeschichte wurde das Bild der Gesundheitsverhältnisse in den Städten des 19. Jahrhunderts weiter erhellt. Im Gegensatz zu den umfangreichen empirischen und theoretischen Arbeiten über die Periode nach 1825, liegen zur Situation in den städtischen Regionen vor 1820 wesentlich weniger Arbeiten vor. Dies liegt teilweise in dem enormen Aufwand für eine Familienrekonstitution in den städtischen Regionen sowie in den spärlichen Ergebnissen der Versuche, die Städte im 18. Jahrhundert mit dieser Technik zu untersuchen, begründet. Wie die Arbeiten von Galley zur Stadt Yorkshire dagegen zeigen, kann man bereits mittels aggregierter Daten die Gesundheits- und Sterblichkeitsverhältnisse in den Städten der Frühen Neuzeit betrachten. 7 Daß hierbei nicht auf den Arbeiten von Finley zur Situation 4 Wrigley I Schofield, The population, S. 177-179. Siehe auch: S. King, Calverley und Sowerby. Die protoindustrielle Entwicklung in zwei Gemeinden Yorkshires (1680-1830), in: D. Ebeling / W. Mager (Hgg.), Protoindustrie in der Region. Europäische Gewerbelandschaften vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Bielefeld 1997, S. 221-254. 5 R. Vann / D. E. C. Eversley, Friends in life and death, Cambridge 1993. 6 Es soll hier nur eine kleine Auswahl dieser Literatur geboten werden: R. I. Woods! J. Woodward (Hgg.), Urban disease and mortality in nineteenth century England, London 1990; N. Williams, Death in its season: Class, environment and the mortality of infants in nineteenth century Sheffield, in: Social History of Medicine 5 (1992), S. 71-92; A. Hardy, The epidemic streets: Infectious diseases and the rise of preventive medicine 1856-1900, Oxford 1993; J. Landers, Death and the metropolis, Cambridge 1993. 7 C. Galley, A never ending succession of epidemics? Mortality in early modern York, in: Social History of Medicine 7 (1994), S. 29-58.

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Londons im 17. Jahrhundert aufgebaut wurde, ist nicht so sehr dem Mangel an Quellen und Zeit zuzuschreiben, sondern eher einem allgemein fehlenden Interesse.8 Versuche, sowohl die theoretischen Grundlagen des englischen demographischen Systems neu zu beschreiben als auch die örtlichen Migrationsmuster darzustellen, zeigen dagegen, daß die demographische und gesellschaftliche Dynamik der frühen Städte erheblichen Einfluß auf die Lebensumstände und -Verläufe in den englischen Regionen ausüben konnte.9 Ist die Forschung zur städtischen Demographie des 18. Jahrhunderts bereits vorangeschritten, so hat die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Stadt und Umland (sei es im 18. oder im 19. Jahrhundert), insbesondere im Hinblick auf die Gesundheits- und Sterblichkeitsverhältnisse, kaum begonnen.10 Diese Nichtbeachtung ist verwunderlich. Zwischen 1840 und 1842 besuchte William Cooke-Taylor die Gewerbegebiete von Lancashire und untersuchte dabei u.a. die Wohnbedingungen, die Auswirkungen von wirtschaftlichen Krisen auf die Arbeitnehmer, die Art der Unterstützungsmechanismen, den Gesundheitszustand sowie die Ernährungslage der dort lebenden Menschen. Aufgrund seiner Herkunft aus einer irischen ländlichen Gegend spiegelt sich in all seinen Beobachtungen das Staunen über die Bevölkerungsdichte im Hinterland der großen Städte in Lancashire wider. 11 Die Städte Manchester und Salford waren sehr schnell gewachsen (von insgesamt 29.151 Einwohnern im Jahr 1773 auf 305.394 innerhalb der Stadtgrenze im Jahr 1841, mit besonders hohen Wachstumsraten zwischen 1811 und 1831). In Manchester und Liverpool wohnten 1831 allein schon 35% der Bevölkerung von Lancashire, des am dichtesten bevölkerten britischen County außerhalb Londons. Gemessen an den Zuwachsraten stellte die Entwicklung der Gemeinden im Hinterland diejenige Manchesters jedoch völlig in den Schatten. Dort wuchs die Bevölkerung doppelt so schnell wie in Manchester. 12 Ähnliches läßt sich über Leeds im 18. und frühen 19. Jahrhundert sagen. Im späten 18. Jahrhundert nahmen die Gemeinden und Kirchspiele im Hinterland von Leeds fast dreimal schneller an Größe zu als die Stadt selbst. Die dortige Bevölkerungsdichte wurde von der Stadt Leeds erst nach 1800 erreicht. Es ist deshalb nicht überraschend, daß die an den sozialen

8

R. Α. P. Finlay, Population and metropolis, London 1981; N. Goose, Urban demography in pre-industrial England: What is to be done?, in: Urban History 21 (1994), S. 273-284. 9 Siehe M. J. Dobson, The last hiccup of an old demographic regime: Population stagnation and decline in late seventeenth and early eighteenth century south-east England, in: Continuity and Change 4 (1989), S. 32-49. 10 Als Ausnahme, die die Regel bestätigt, siehe: P. Clarke / P. Corfield (Hgg.V Industry and urbanisation in eighteenth century England, Leicester 1994. 11 W. Cooke-Taylor , Notes on a tour of the manufacturing district of Lancashire, Manchester 1842. 12 F. G. Vigier, Change and apathy: Liverpool and Manchester during the Industrial Revolution, Palo Alto 1970.

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Verhältnissen von West Riding interessierten Beobachter in diesen Gebieten mehr Zeit verbrachten als in Leeds.13 Die Ergebnisse der Untersuchungen in Lancashire und West Yorkshire liefern einige aufschlußreiche Informationen. Ein zentraler Punkt ist, daß immer dort, wo sich ländliche Industrie in den Dörfern ansiedelte (gewöhnlich mit der Stadt verbunden durch Handel und Märkte), die Bevölkerungsdichte auf dem Lande schlagartig enorm anstieg, bevor das Bevölkerungswachstum in der Stadt selbst einsetzte. In Lancashire und West Yorkshire war diese Entwicklung bis 1760 in vollem Gange. Bis 1800, als die bestehenden Stadtgebiete sehr schnell zu wachsen begonnen hatten, bildete die Verbindung von Liverpool nach New York die Basis fur die städtische Ausbreitung, die nach 1820 beginnen sollte. Wie stellte sich aber das Verhältnis zwischen der Stadt und ihrem wachsenden Hinterland aus demographischer Sicht dar? Woher kamen die Einwohner, die zu einer Bevölkerungszunahme in den bestehenden Stadtgebieten oder in den ländlichen Gebieten beitrugen? Verschlechterte sich die Gesundheits- und Sterblichkeitssituation in den ländlichen Gegenden unter dem Einfluß der wachsenden Bevölkerungsdichte, und wenn ja, welchen Einfluß hatte dies auf die demographische Situation derer, die die Region verließen und in die Städte zogen? Stimmt es, daß alle, die in die Stadt zogen, auch empfanglich für Krankheiten waren, die mit ihrer neuen städtischen Umgebung zusammenhingen? Wie sah der Kontakt zwischen der Stadt und dem Hinterland aus, und welche Konsequenzen hatte dieser für die Gesundheit und Sterblichkeit in einem solchen Hinterland? Die Arbeit von Dobson deutet z.B. an, daß die Wanderungen von Bediensteten und Auszubildenden zwischen Großstädten, Städten und ihrem Hinterland die Übertragung von ,Stadtkrankheiten' in die außerhalb liegenden Gebiete verursacht haben könnten. 14 Inwiefern trifft dies in den Gebieten außerhalb Südost-Englands oder in späteren Perioden zu? Können hier ähnliche Strukturen von Sterblichkeits- und Krankheitsmaxima in Stadt und Hinterland beobachtet werden? Welche Auswirkungen hatte die Verbesserung der Verkehrsbedingungen auf den Kontakt zwischen Städten und Hinterland? In welchem Maße wurde durch die ,Fangarme' des städtischen Markt- und Verteilungssystems die Sterblichkeit im städtischen Hinterland erhöht oder gesenkt? In welchem Maße beeinflußte die Siedlungspolitik der Städte die Vororte und die dortige Gesundheitssituation bzw. die dortigen Sterberaten? Eine endgültige Antwort auf diese Fragen würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen. Bei dem Versuch jedoch, die demographischen Struktu-

13 Siehe M. Yasumoto , Industrialisation, urbanisation and demographic change in England, Nagoya 1994. 14 Dobson, The last hiccup.

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ren der Städte und des Hinterlandes miteinander zu verknüpfen und die Fragen wenigstens ansatzweise zu behandeln, konzentriert sich diese Studie auf vier Gemeinden der Grafschaft Yorkshire, für die eine Familienrekonstitution durchgeführt wurde. Ein erstes Ergebnis der Analyse beinhaltet, daß im Norden Englands die Säuglingssterblichkeit im Stadthinterland teilweise das gleiche Ausmaß erreichte wie die in den großen Städten und Gemeinden selbst, diese Gebiete sogar den Friedhof der Stadt in gleichem Maße ,mitbenutzten'. Andere Gemeinden im Stadthinterland wiesen wiederum weitaus günstigere Sterblichkeitszahlen auf. Die Studie beschreibt, wie die Kinder- und Säuglingssterblichkeit in zunehmendem Maße davon abhing, wie die Region die wechselnde Kontaktintensität mit der Stadt verkraftete.

Räumliche Dimensionen der Sterblichkeit Der vorliegende Beitrag befaßt sich mit der großen Pfarrgemeinde Calverley in West Yorkshire (siehe Abb. 1), die ungefähr in gleicher Entfernung von Leeds und Bradford liegt, zwei Städten, die sich im 18. Jahrhundert schnell vergrößerten. Die Pfarrgemeinde bestand aus vier Hauptsiedlungen (Calverley cum Farsley, Pudsey, Idle und Stanningley). Für diese wurde sowohl eine Familienrekonstitution als auch eine umfassende Verknüpfung („record linkage") von Daten aus unterschiedlichen Quellen vorgenommen. 15 Im 18. Jahrhundert war die Tuchherstellung aus Wolle die Haupteinnahmequelle der Pfarrgemeinde, wobei die Produktion in den verschiedenen Gemeinden in unterschiedlichem Maße von Handwerkskräften in Doppelbeschäftigung geleistet wurde. Nach einer Erhebung der Wollindustrie im Jahre 1806 waren die Befragten aus der Gemeinde überwiegend kleinere Tuchhändler, die nur wenige Arbeitskräfte vor Ort beschäftigten, wogegen um 1822 nach damaligen Schätzungen in der Gemeinde Calverley ein Drittel mehr Personen direkt in der Tuchherstellung beschäftigt waren als in der größeren Nachbarpfarrei Bristall. Somit wiesen alle Gemeinden ähnlich breite Beschäftigungsstrukturen auf. 16 Dies sollte jedoch nicht überbewertet werden, insbesondere zum Ende der hier beschriebenen Zeitspanne. Pudsey und insbesondere Stanningley wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu Zentren der industriellen Beschäftigung in Werkstätten und Fabriken, während um 1800 in Idle und Pudsey die Kammgarnproduktion, die Herstellung von Baumwoll- und Reißwollprodukten dominierte. In Calverley cum 15

Ausführlich dazu: S. A. King, The nature and causes of demographic change in an industrialising township, unveröffentlichte Diss, phil., Liverpool 1993. Vgl. auch ders., Power, representation and the historical individual, in: Local Historian (1997), S. 78-90. 16 E. Parsons, A history of Leeds and adjoining towns, Leeds 1848. 5 Vögele/Woelk

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Farsley sowie in Idle war ein gut funktionierendes Steinmetz- und Steinbruchgewerbe angesiedelt, wogegen Pudsey bereits sehr früh die regionale Schuhherstellung bestimmte. Die größten Unterschiede fanden sich jedoch im Grundbesitz und in der Stadtverwaltung. In der Gemeinde Calverley cum Farsley existierte nur sehr wenig freier Grundbesitz, wobei der Markt für Pachtgrundstükke bis 1830 zum größten Teil vom Lord of the Manor verwaltet wurde. Die Manor hatte 1754 zwischen Sir Walter Calverley und Thomas Thornbill den Besitz gewechselt, aber beide Grundbesitzer förderten die ländliche Industrie, indem sie im Rahmen ihrer gewinnorientierten Wirtschaftspolitik Grundstücke von 10 bis 20 Morgen an ländliche Gewerbetreibende verpachteten, die eine Lücke im System der Doppelbeschäftigung suchten. Idle, das vom Rest der Gemeinde durch seine Hochlage praktisch abgeschnitten war, zeigte eine ähnliche Konzentration von Grundstücken auf nur wenige Besitzer. Die beiden Stadtgemeinden besaßen jedoch eine starke Lokalverwaltung und unterhielten ein aktives, wenn auch strenges Armenbeihilfesystem. Die Stadtgemeinden von Pudsey und Idle dagegen besaßen ein sehr viel größeres Angebot im freien Grundbesitz. Hier wurden ab 1750 in den Anzeigern von Leeds regelmäßig Höfe zum Verkauf angeboten. In diesen Stadtgemeinden zeigten die lokalen Eliten, wo es sie gab, viel weniger Interesse an der städtischen Verwaltung, so daß der Zustand der Armenbeihilfe und andere Wohlfahrtsfragen bis weit nach 1800 kaum Beachtung fanden. Auffällig sind vor allem, teilweise als Folge dieser unterschiedlichen Charakteristika, die Unterschiede in der Bevölkerungszunahme dieser Stadtgemeinden. In Calverley cum Farsley fand ein relativ gemächlicher Zuwachs statt, hier wurde 1811 die Gesamteinwohnerzahl von 2.600 erreicht. Idle nahm in ähnlicher Weise an Größe zu (1811 betrug die Anzahl der Einwohner 3700). Die Bevölkerung von Pudsey und Stanningley wuchs jedoch sehr schnell. So lag die Einwohnerzahl von Pudsey 1821 bereits über 6000, wobei das gesamte Pfarrgemeindegebiet (einschl. weiterer kleinerer Dörfer) bis dahin schon über 10.000 Einwohner zählte. 17 Der rasche Bevölkerungszuwachs ging mit einer Säuglingssterblichkeitsrate für die gesamte Gemeinde einher, die eine klare und stetig steigende Tendenz aufwies, insbesondere während des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts (siehe Abbildung 2). Mit 198 pro Tausend lag die Säuglingssterblichkeit insgesamt im oberen Bereich der von Wrigley und Schofield untersuchten Orte, war jedoch anscheinend durchaus typisch für die Städte des West Riding Textilgebietes.18 Der Trend der allgemeinen Sterblichkeitsraten war im späteren 18. Jahrhundert von einem Übergang zu höherer Instabilität der aggregierten Ster17 Diese kurze Zusammenfassung kann den Charakter der Gemeinde nur grob wiedergeben. Zahlreiche Angaben finden sich bei King, The nature and causes. 18 Yasumoto , Industrialisation.

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bezahlen begleitet. Spitzenwerte in den Jahren 1796 und 1801 lagen mit 54% über dem neunjährigen Trend und zeigten sehr unterschiedliche Altersstrukturen. So betrafen 69% (225) aller Todesfälle ,Kinder' oder junge Erwachsene unter 20, das mittlere Sterbealter der männlichen Erwachsenen betrug 63,2 und der weiblichen 49,7 Jahre. Im Jahre 1801 waren nur 35% der Verstorbenen unter 20 Jahren. Dagegen belief sich im Kirchspiel Sowerby der Gemeinde Halifax der Anteil der Todesfälle unter Säuglingen und Kindern unter 20 Jahren alljährlich durchweg auf über 60%. Zwischen den Sterblichkeitshöchst- und tiefstwerten der gesamten Gemeinde sowie denjenigen in der Stadt Leeds, die von Yasumoto zusammengetragen wurden, bestanden scheinbar keine Zusammenhänge, obwohl die Art der Instabilität und ihr Einsetzen mit den meisten anderen Gemeinden des West Riding Tuchmachergebietes, aus denen Informationen gewonnen werden konnten, übereinstimmten. 19 Auf die Bedeutung dieser Altersverteilung wird später noch einmal eingegangen. Abbildung 2 zeigt ebenso die sehr deutlichen Unterschiede in der Säuglingssterblichkeit in den verschiedenen Teilen der Pfarrgemeinde. 20 Die Sterblichkeit in Calverley cum Farsley erscheint niedrig, sowohl absolut als auch im Vergleich zu den Untersuchungen der Cambridge-Gruppe aus dreizehn Familienrekonstitutionen. Die Gesamtrate von 148 pro 1000 verbirgt eine interessante Abnahme der Sterblichkeit vom 17. zum 18. Jahrhundert und ein relativ stabiles Niveau im 18. Jahrhundert. Ein Anstieg der Sterblichkeit nach 1800 ist auch signifikant, obwohl nicht dramatisch, und kann nicht wie in Shepshed durch industrielle Einflüsse erklärt werden. 21 Nach Berufsgruppen differenziert, können die günstigsten Säuglingssterblichkeitsraten bei Bauernfamilien beobachtet werden (siehe Abbildung 3). Hier spielen möglicherweise die Wohnverhältnisse dieser Bevölkerungsgruppe eine Rolle, die besser waren als die aller sonstigen Berufsgruppen. Bei den Beschäftigten im Textilgewerbe war die Säuglingssterblichkeit am höchsten, sogar bedeutende und wohlhabende Tuchmacher teilten dieses erhöhte Sterblichkeitsprofil. Die hohe Säuglingssterblichkeit unter den Beschäftigten der Textilindustrie bot in sämtlichen hier genannten Stadtgemeinden ein ähnliches Bild. Für die gesamte Zeitspanne konnte die Säuglingssterblichkeit nach sozialen Kriterien, die bei dem ,Record linkage-Verfahren' definiert wurden, errechnet werden. Bei aller Problematik, die eine derartige soziale Differenzierung beinhaltet, läßt sich doch in Abbildung 4 eine allgemeine Tendenz zur maximalen

19

Ebd. Bei den Angaben handelt es sich um unkorrigierte Daten. Zur Diskussion bezügl. der Auswirkung von Korrekturen, wie sie Razell befürwortet, siehe: King, The nature and causes. 21 D. Levine , Family formation in an age of nascent capitalism, New York 1977. 20

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Säuglingssterblichkeit in den niedrigsten sozialen Schichten aller o.g. Gemeinden erkennen. Darauf wird später noch ausfuhrlich eingegangen.22 Es sind die Ergebnisse der anderen Stadtgebiete, die die Säuglingssterblichkeitszahlen für die Gesamtgemeinde am besten erhellen. Wie in Abbildung 2 zu sehen ist, war die Säuglingssterblichkeit in Pudsey hoch, sowohl innerhalb der Gemeinde als auch im Vergleich zu anderen Gemeinden, die von der Cambridge-Gruppe untersucht wurden. Diese Beobachtungen täuschen in gewisser Hinsicht. Anfang der 1740er Jahre zogen die Herrnhuter in die Gemeinde nahe Pudsey. Bis diese Gruppe den Bevölkerungsschwellenwert erreicht hatte, was die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Pudsey und den anderen Gemeindesiedlungen ermöglichte, lag ihre Sterblichkeit durchweg höher als bei der einheimischen Bevölkerung. Dies zeigt besonders die hohe Säuglingssterblichkeit der Schuhmacherfamilien, denn die Gruppe hatte sich schon bald auf Lederarbeiten spezialisiert. Nachdem sich die Herrnhuter etwa um 1780 etabliert hatten, lag die Säuglingssterblichkeit der Gruppe wesentlich unter der der einheimischen Bevölkerung von Pudsey. So wurde der starke Anstieg der Säuglingssterblichkeit im späten 18. Jahrhundert hier nicht offenbar. Nichtsdestoweniger zeigte sich die Tendenz der Säuglingssterblichkeit noch Anfang des 18. Jahrhunderts stark ansteigend, was vermuten läßt, wie sehr sich die Lebensumstände der Bewohner noch verschlechterten. Obwohl für Leeds und Bradford nur wenig Datenmaterial zur Sterblichkeit vorliegt, darf doch davon ausgegangen werden, daß eine so hohe Säuglingssterblichkeit wie in Pudsey im späten 18. Jahrhundert in keiner der beiden Städte erreicht wurde. 23 In Stanningley war ein ähnlich starker Anstieg der Säuglingssterblichkeit zu verzeichnen, wenn auch nicht das gleiche Ausmaß wie in Pudsey erreicht wurde. Die Ergebnisse für Stanningley müssen jedoch kritisch betrachtet werden. Die Zahlen aus den früheren Zeiträumen können keinesfalls mit Sicherheit errechnet werden, zumal, Stanningley' und ,Farsley' vor 1740 als Ortsangabe oft synonym benutzt wurden. In den beiden folgenden Zeiträumen war ein Anstieg der Säuglingssterblichkeit zu beobachten, der jedoch zeitlich nicht mit dem ebenfalls zu verzeichnenden raschen Bevölkerungswachstum zusammenfiel. Die Zahlen weisen zum Teil auf die Tatsache hin, daß die Entwicklung von Stanningley eher auf gewerblichem Neubau als auf Wohnungsbau basierte. Ende des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwikkelte sich Stanningley von wenig mehr als der Größe einer Straße im Außenbe-

22 Weitere Angaben zur Bildung von Kategorien nach gesellschaftlichem Status finden sich bei King, The nature and causes. 23

Siehe z.B. F. Beckwith, The population of Leeds during the Industrial Revolution, in: Publications of the Thoresby Society 41 (1948), S. 23-108. C. Creighton , A History of Epidemics in Britain, Bd. 2, London 1965 (Neudruck), liefert einige Daten zur Häufigkeit und Lebensbedrohlichkeit von Säuglings- und Kinderkrankheiten in Leeds.

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zirk Farsleys zu einem bedeutenden gewerblichen Zentrum, in dem die traditionelle Verbindung von Grundbesitz und Industrie, wie sie in der übrigen Gemeinde bestand, von Anfang an vollkommen abriß. Der größte Betrieb der Gemeinde, der einfache Arbeiter beschäftigte, lag innerhalb der Siedlung, wo sich niemand um die wirtschaftliche Entwicklung bzw. um die Bevölkerungsentwicklung kümmerte. Da die Arbeiter der Betriebe in Stanningley nicht alle dort wohnten und Stanningley sich mit drei verschiedenen Siedlungen überschnitt, muß man die absoluten Zahlen kritisch und mit einer gewissen Zurückhaltung betrachten, wenn auch nicht die sich hierin spiegelnden Trends. Die Säuglingssterblichkeit, die in Idle vor 1799 zu verzeichnen war, stimmte eher mit den Ergebnissen der ,Cambridge Gruppe' überein. Nach diesem Zeitpunkt ging ein Anstieg der Säuglingssterblichkeit mit der zunehmenden Besorgnis des Gemeindevorstands bezüglich der brachliegenden Gebiete und der Wohngelegenheit einher, als sich die Gemeinde im späten 18. Jahrhundert rasch vergrößerte. 24 Trotzdem war die Säuglingssterblichkeit noch vergleichsweise moderat, und dies mag seine Ursachen zumindest teilweise in der gesellschaftlichen Struktur der Gemeinde haben, wo prozentual mehr „gentlemen" als in den anderen Siedlungen der Region wohnten. Interessanterweise genießt Idle im späten 18. Jahrhundert die Dienste eines Dr. Ovington, Arzt im Dienste des Landadels, der jedoch auch eine beachtliche Anzahl armer Patienten behandelte. Die medizinische Versorgung half den Einwohnern ohne Grundbesitz oder ohne Zugang zu Gemeindeland nur wenig, jedoch erreichte Ovington die Errichtung einer Krankenstation am , Workhouse' von Windhill, einer zur Stadt gehörenden Siedlung. Somit zeigten sich in Windhill, einem windigen Landstrich westlich der Stadt, beachtliche Säuglingssterblichkeitsraten, da man die Kranken dorthin verlegte, anstatt sie in der Stadt zu behalten; die Protokolle des Gemeindevorstands verzeichnen demzufolge nur wenig Ausgaben fur die Behandlung der Kranken. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde diese Praxis zu einem ständigen Zankapfel zwischen Gemeinde und Siedlung.25

Determinanten des Sterblichkeitsprofils Wie können nun die unterschiedlichen Sterblichkeitsverhältnisse dieser Gemeinden erklärt werden? Besaßen sie ein eigenes demographisches System, oder bestand ein Zusammenhang mit den Sterblichkeitsprofilen in Leeds und Bradford? Einige der eher schwächeren Einflußvariablen wurden bereits oben genannt. Die plausibelste Erklärung könnten dagegen die unterschiedlichen Wachstumsraten der Gemeinden sein, mit all ihren Folgen für die Exponiertheit 24 25

West Yorkshire Archive Service (im folgenden WYAS) Leeds, Gemeinderegister Idle. WYAS, Leeds. Gemeinderegister Idle.

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und Resistenz der Bevölkerung (z.B. aufgrund entsprechender Ernährung). Für die gesamte Stadtgemeinde gesehen, spricht vieles für diese Erklärung. So berichtet Parsons 1822 allgemein über West Yorkshire: „... to the west (of a line drawn between Otley, Leeds and Wakefield) with very few exceptions the villages are unsightly, dirty, crowded, irregular and occupied by inhabitants whose complexion and apparel denote the nature of the occupations in which they are engaged."

In diesem Zusammenhang werden Stanningley und Pudsey besonders beurteilt. Parsons beschreibt Pudsey u.a. mit den Worten: „notwithstanding its elevated situation, ... one of the dirtiest and most unpleasant (villages) in the district." 27

Die intensive Produktion von Wolltuch in Pudsey wurde schon von damaligen Beobachtern mit dem sehr schlechten Zustand der öffentlichen Gesundheit in Zusammenhang gebracht, wie aus dem folgenden Kommentar von Cudworth hervorgeht: „dying was also carried out in a similar rude fashion, and the „lead broth" or dye water was suffered to run along the roads, often converting them into filthy sewers."28

Das negative Bild, das zeitgenössische Beobachter von Stanningley und Pudsey schildern, übertraf das der anderen Gemeinden tatsächlich. Der Wohnungsbau war ungeregelt, die Wohnverhältnisse beengt. Lawson berichtet, daß viele Häuser schlecht gebaut waren, keine Fußböden und nur wenige Fenster besaßen. Razzell stellt im England des 18. Jahrhunderts aufgrund der Verbesserung der Wohnsituation eher eine rückläufige Sterblichkeit fest. Daher könnte der Anstieg der Säuglingssterblichkeit in Stanningley und Pudsey auf den Verfall des vorhandenen Wohnraumes zurückzuführen sein. 29 Im Gegensatz zu Calverley cum Farsley zeigten die lokalen Eliten ein wesentlich geringeres Interesse an der Gemeindeentwicklung oder der öffentlichen Gesundheit. Ein lebhafter Handel im freien Grundbesitz sorgte dafür, daß in Calverley und Stanningley viel weniger Familien mit dem Ertrag eines Grundstücks ihr Einkommen ergänzen konnten. Obwohl Lawson feststellte, daß Molkereiprodukte in der Umgebung preiswert angeboten wurden, wird doch überzeugend belegt, daß Armut und Verschuldung hier höher waren als in anderen Gebieten.30

26 27 28 29 30

Parsons , History, S. 3 Ebd., S. 36. W. Cudworth, Round about Bradford, Leeds 1876, S. 446. Razzell, Essays. J. Lawson, Letters on the young on progress in Pudsey, Stanningley 1886.

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Wenn eine solche Erklärung auch auf der Hand läge, wäre sie dennoch nicht korrekt. Das etwas gemäßigtere und kontrolliertere Wachstum von Calverley cum Farsley hätte sicherlich eine geringere Sterblichkeit zur Folge gehabt, jedoch wurden hier die Trinkwasserversorgung und die Landschaft durch die intensive Wolltuchproduktion genauso beeinträchtigt wie in Pudsey. Viele der im Archiv verzeichneten Streitfälle um Grundbesitz basieren auf genau diesen Umweltfragen. 31 Die Säuglingssterblichkeitsrate in Idle war sogar gleich hoch wie in Calverley cum Farsley, während zeitgenössische Beobachter über den Ort berichten: „an irregular, rambing, dirty place, on the declivity of a hill with nothing to recommend itsappearence."32

Der Gemeindevorstand von Idle äußerte Ende des 18. Jahrhunderts seine Besorgnis über die gesundheitsbedrohende Situation und das Ausmaß der Armut, insbesondere unter den neuankommenden Siedlern, als er die Notwendigkeit eines neuen Armenhauses in der Gemeinde diskutierte. 33 Wie aus Abbildung 5 hervorgeht, birgt die saisonale Entwicklung der Säuglingssterblichkeit in den verschiedenen Gemeinden keinen Hinweis auf lokal bedingte Unterschiede im Krankheitspanorama, die als Folge einer Verschlechterung der öffentlichen Gesundheit gedeutet werden könnten. Die einzige Abweichung von der ausgeprägten Winter/Frühling-Spitze, die man mit dem Auftreten von Pocken oder Lungenerkrankungen in Verbindung bringen könnte, ist die zweite Spitze im Sommer, die in Pudsey im Laufe des 18. Jahrhunderts auftrat. Sogar dies braucht keine Verschlechterung der öffentlichen Gesundheit im direkten Sinne zu bedeuten. Denkbar ist, daß diese Spitze auf Veränderungen in der Struktur des weiblichen Arbeitsmarktes zurückzuführen ist, die wiederum die Qualität der Kinderpflege beeinflußten. Das Doppelbeschäftigungssystem, in dem die Arbeitnehmer der ländlichen Industrie ihr Einkommen mit dem privaten Landbesitz und dessen Bewirtschaftung ergänzten, verschlechterte sich in Pudsey am schnellsten und am stärksten, so daß der Wohlstand der Familien um ca. 1770 schon von den Verdienstmöglichkeiten der Frauen abhing. In diesem Sinne wären die Kinder dann am schlechtesten versorgt, wenn die Frauen die besten Zuverdienstmöglichkeiten hatten, also im Sommer. Trotzdem kann der Unterschied in der Säuglingssterblichkeit zwischen Pudsey und den anderen Gemeinden nur teilweise mit dem zweiten Spitzenwert im Sommer begründet werden. Auch zwischen der Höhe der Säuglingssterblichkeit und der Bevölkerungsdichte besteht keine einfache Relation. Während Calverley cum Farsley durch31 32 33

WYAS, Leeds. Gemeinderegister Calverley. Parsons , History, S. 48. WYAS, Leeds, Gemeinderegister Idle.

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weg die günstigste Bevölkerungsdichte und die niedrigste Säuglingssterblichkeitsrate besaß, fand sich die weitaus ungünstigste Bevölkerungsdichte in Idle. Hier schränkten die Grundbesitzverhältnisse die Freigabe von Grundstücken für den Wohnungsbau ein, und die Bevölkerungsdichte stieg somit bis Anfang des 19. Jahrhunderts an, als die Erschließung der öffentlichen Grundstücke den Engpaß etwas lockerten. Trotzdem war die Säuglingssterblichkeit in Idle vergleichsweise günstig. Es wäre also zu einfach, die Säuglingssterblichkeit, die Geschwindigkeit des Bevölkerungszuwachses, die Bevölkerungsdichte und die Intensität der industriellen Produktion in den ländlichen Gebieten miteinander zu verbinden, auch wenn diese Faktoren alle eine gewisse Rolle spielen. Der Schlüssel zur Interpretation des Sterblichkeitsprofils dieser Gemeinden und der Schlüssel zum Verhältnis zwischen der Gemeinde Calverley und den wachsenden Stadtteilen von Leeds und Bradford ist nicht die Frage, wieviele starben, sondern welche Personen starben. So verbirgt sich hinter der mäßig hohen Säuglingssterblichkeit in Calverley cum Farsley eine ziemlich hohe Säuglingssterblichkeit für einige wenige Familien und eine relativ geringe für die restlichen Familien. Zwei Familien verloren sechs Kinder im ersten Lebensjahr, zehn Familien verloren vier Kinder im ersten Lebensjahr, und 24 Familien verloren drei Kinder im ersten Lebensjahr. Insgesamt starben in 330 Familien 541 Kleinkinder, es stammten jedoch 294 dieser Kinder aus 102 Familien. 34 In der Gemeinde Idle gab es eine ähnliche Konzentration der Todesfälle. Hier wurden 900 Todesfälle bei 480 Familien verzeichnet, aber allein 587 Todesfälle traten bei nur 184 dieser Familien auf. Dieses Phänomen überrascht nicht. Brändström z.B. berichtet über ähnliche Beobachtungen, die er dadurch erklärt, daß in einigen Familien die Neugeborenen weniger lebensfähig oder die Säuglingspflege unzureichend gewesen seien. 35 Diese Erklärung stimmt mit dem Bild der Verteilung der Säuglingssterblichkeit nach Beschäftigungsverhältnissen sowie sozialem Status der Gemeindebevölkerung überein. Die Beschäftigung in der Textilbranche erforderte den Arbeitseinsatz ganzer Familien und führte somit zur Vernachlässigung von Kleinkindern, während sich in diesen Kreisen durch die Art des Gewerbes auch rein wirtschaftlich gesehen die meisten Personen und Familien am Rande des Existenzminimums bewegten. Trotzdem kann die Situation hiermit nur wieder teilweise befriedigend erklärt werden - die beiden Gemeinden Stanningley und 34

Die betroffenen Frauen zeigten keine überproportionale Tendenz zur Geburt von Zwillingen oder Drillingen. 35 A. Brändström / J. Sundin, Infant mortality in a changing society, in: A. Brändström / J. Sundin (Hgg.), Tradition and transition: Studies in microdemography and social change, Umea 1989, S. 114-131.

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Pudsey, die den städtischen Friedhof „teilten", zeigten eine viel gleichmäßigere Verteilung der Säuglingssterblichkeit unter den Familien. Führt man nun die Analyse sowohl für Idle als auch für Calverley cum Farsley noch eine Stufe weiter, kann nicht nur eine Konzentration der Sterblichkeit auf bestimmte Familien nachgewiesen werden, sondern auch eine deutlich räumliche Konzentration. Grob gesagt, trat die höchste Säuglingssterblichkeit in den Familien auf, die auf Gemeindeland oder in dessen Nähe lebten, bzw. in Idle dort, wo sich Familien in dem Außenbezirk Windhill ansiedelten. Gleichzeitig waren unter diesen Familien in beiden Gemeinden unverhältnismäßig viele, die Armenbeihilfe erhielten. Eine wichtige Beobachtung ist, daß die Einwohner dieser Bezirke überwiegend erst kurze Zeit vorher aufgrund von Heirat, Arbeitsuche oder Grunderwerb zugezogen waren. So zeigte sich, als Walter Calverley nicht-autorisierten Grundbesitz in Calverley Carr 1751 auflistete, daß 50% (11 von 22) der Haushaltsvorstände in den Listen der Familienrekonstitution gar nicht vorhanden waren oder vorher als „DummyEhen" registriert wurden. 36 Dies unterscheidet sich von der Gesamtzahl der zugezogenen Einwohner von ca. 20% für ganz Calverley cum Farsley. Ähnlich trifft die „Umsiedlerbevölkerung" auf dem Gemeindeland in den Augen des Gemeindegendarms die kollektive Schuld in einem Fall vor Gericht 1780, bei dem es um Diebstahl von drei Kühen geht. 37 Zeugnisse wie diese deuten darauf hin, daß die Konzentration der Siedler ein Merkmal für die räumliche Verteilung der höchsten Säuglingssterblichkeit gewesen sein könnte. In diesen beiden Gemeinden betrug die Säuglingssterblichkeit bei den Neusiedlern 172, eine Rate, die viel höher lag als die allgemeine Norm für den ganzen Zeitraum und die ganze Gemeinde. Die Säuglingssterblichkeit bei der einheimischen oder seit langem angesiedelten Bevölkerung, die in festgefügten Verwandtschaftsstrukturen, in etablierten Grundbesitzverhältnissen und mit komplexem aber sicherem Familieneinkommen lebte, lag viel niedriger, als es der Gemeindedurchschnitt vermuten läßt. In den schnell wachsenden Siedlungen von Stanningley und Pudsey gab es eine solche räumliche Konzentration von Säuglingssterblichkeit nicht. Weniger festgefügte Verwaltungsstrukturen, schwächere Verwandtschaftsverhältnisse 38 und weniger Möglichkeiten, das Wohlergehen der Kinder durch eine möglichst effektive Nutzung der Ländereien zu sichern, führten dazu, daß sich Migranten,

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Yorkshire Archaeological Society (im folgenden YAS) DD12/1/2/56. WYAS, Wakefield QSP/12/345. 38 WYAS, Leeds, Gemeinderegister Calverley (in einem Archiv aus den 1780er Jahren, worin der Pfründeninhaber von Pudsey Informationen über Großeltern verzeichnet hatte, zeigte sich, daß bei 20% der Familien in Pudsey, die ihre Kinder taufen ließen, die Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits andernorts wohnten, was man dahingehend interpretieren kann, daß die Verwandtschaftsstrukturen schwächer waren als in der Gemeinde Calverley cum Farsley). 37

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Landarbeiter und Durchreisende unter die einheimische Bevölkerung mischten. Erstere waren am häufigsten Krankheitsüberträger oder anfälliger für Krankheiten, weil sie nicht wie andere von der Beihilfe oder anderer Unterstützung Gebrauch machen konnten. Die Tatsache, daß ,Enclosures' in Pudsey erst 1811 stattfanden, spiegelt die im Vergleich zu Idle oder Calverley cum Farsley wesentlich intensivere Nutzung von Gemeindeland als Siedlungsgebiet für alle Einwohner, nicht nur für Einwanderer, wider. In gewisser Hinsicht sind weder die Bevölkerungsdichte, noch die öffentliche Gesundheit die Kernfrage, sondern die unterschiedlichen Vorgehensweisen der verschiedenen Gemeinden im Umgang mit Migranten und die durch Migration verursachte soziale, wirtschaftliche und demographische Belastung. Es gab zweierlei Zuwanderung in die Gemeinden: einerseits ein allmählicher, aber stetiger Zuzug, vorwiegend aus ländlichen Gemeinden der Umgebung. Wie Yasumoto zeigt, weisen diese Gemeinden die gleichen demographischen Merkmale auf, vor allem hinsichtlich der Sterblichkeitsentwicklung, so daß sich hierdurch das demographische Regime nicht wesentlich änderte. 39 In jeder Gemeinde entwickelte sich bei diesem Zuzug die Fähigkeit zur Integration von Einzelpersonen oder Familien. Die andere Art der Migration wurde von jeder Gemeinde ganz unterschiedlich verkraftet: Die Situation in der Stadt Leeds und in ihren Randbezirken sowie die zeitweise Öffnung des Grundstücksmarktes in der Gemeinde Calverley lösten erhebliche Umsiedlungswellen aus den beiden Stadtregionen selbst und ihrem direkten Hinterland zur Gemeinde Calverley aus. Die sc^zioökonomischen und demographischen Profile dieser Gruppen, die alle am Doppelbeschäftigungssystem teilhaben wollten, das in Leeds zurückgedrängt wurde, wichen deutlicher von denjenigen ab, die von einem Dorf mit ländlichem Gewerbe zum anderen oder von ländlichen Gebieten nach Leeds und Bradford umzogen. Sie waren ärmer, hatten oft keine Ausbildung und weniger familiäre Anbindung. Dabei zeigten sie eine hohe Wanderungsbereitschaft und trugen ein Krankheitsprofil, das dem in Leeds ähnelte. Während Idle und Calverley cum Farsley diese Siedlerströme lenken und sie vom Rest der Bevölkerung abschotten konnten, gelang dies in Stanningley und Pudsey nicht, und man kann die relative Auswirkung der Umsiedlung deutlich in der Höhe und Entwicklung der Säuglingssterblichkeit ablesen. Die Auswirkungen der Migrationsbewegungen wurden im späten 18. Jahrhundert durch die Zunahme verschiedener Kontakte mit großen, wachsenden Stadtgebieten verstärkt. Der Bau des Leeds-Liverpool-Kanals brachte Erdarbeiter und Handwerker in den Norden der Pfarrgemeinde Calverley, insbesondere mit Einfluß auf Calverley cum Farsley. Die Verbesserung der Mautstraße zwischen Leeds und Bradford, welche direkt zu dem angrenzenden Pudsey führte, setzte die Gemeinden in ähnlicher Weise dem Verkehr von und nach Yasumoto , Industrialisation.

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Leeds aus. Die stetige Entwicklung der Wolltuchproduktion, insbesondere die Ansiedlung der Kammgarnproduktion nach Idle und Pudsey, löste eine ganze Reihe von bislang noch mäßigen Kontakten zwischen Leeds und Bradford einerseits und den Siedlungen der Gemeinde andererseits aus. Die Exponiertheit gegenüber „Stadtkrankheiten" nahm somit zu, während der Bevölkerungszuwachs in der Gemeinde die Nebenerwerbslandwirtschaft geringer werden ließ und sich die Situation und die Ernährungslage von einer wachsenden Zahl von Textilarbeitern, deren Versorgung mit Nahrungsmitteln zunehmend vom Markt abhing, ständig verschlechterte. Manche Siedlungen konnten sich gegen die ,Fänge' der Stadt besser wehren als andere. Calverley cum Farsley beispielsweise versorgte sich weiterhin fast selbst mit Nahrungsmitteln, und obwohl die Gesetzesverordnungen streng waren, waren die Siedler bis zu einem gewissen Grad vor den Härten des Marktes geschützt. Nichtsdestoweniger nahm die Säuglingssterblichkeit in Calverley cum Farsley trotz des Rückgangs von Neusiedlerströmen in diese Siedlung im späten 18. Jahrhundert nicht ab: Dies weist schon auf die neue Empfindlichkeit gegenüber Stadtkrankheiten hin (was deutlich aus den Aufzeichnungen der Armenbeihilfe der Siedlung über eine Zunahme der Krankenbeihilfe für Kinder hervorgeht, wie z.B. bei Pocken), und untermauerte die Siedlungsgesamtzahlen. Die Raten in Stanningley und Pudsey stiegen stark an. Dies spiegelt sowohl die Verschlechterung der öffentlichen Gesundheit und einen gestiegenen Kontakt zu Stadtkrankheiten als auch das hohe Siedleraufkommen wider, die eine demographische Belastung für die ganze Bevölkerung darstellten. Insbesondere zeigte Pudsey ziemlich genau das Krankheitsprofil, welches von Creighton für Leeds erstellt wurde. Es war überdies auch für die altersspezifische Verteilung der Sterbefälle in der Gemeinde verantwortlich. Für die Gesamtgemeinde näherten sich die Sterblichkeitsprofile von Stadt und städtischem Hinterland im späten 18. Jahrhundert deutlich einander an. Es wäre jedoch falsch zu glauben, daß der Einfluß nur in eine Richtung bestand. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stammten die meisten Ehekandidaten für den Heiratsmarkt von Leeds selbst aus der Gemeinde Calverley, wobei hier Pudsey eine wichtige Rolle spielte. Hieraus geht hervor, daß diejenigen, die Calverley verließen, sich meist in Leeds niederließen. An diesem Punkt enden die meisten Studien zur Migration. Im vorliegenden Fall war es möglich, die demographischen Schicksale von 50 Umsiedlern aus Pudsey und 50 aus Calverley cum Farsley über den Zeitraum von 1750 bis 1800 anhand der Archive in Leeds nachzuvollziehen. Die Unterschiede zwischen den beiden Samples sind tatsächlich sehr ausgeprägt. Von den 50 Personen, die von Calverley cum Farsley nach Leeds umsiedelten, starben 15 Personen zwei Jahre nach dem Umzug, die Mehrzahl starb innerhalb von sechs Jahren, und 60% waren innerhalb von zehn Jahren verstorben. In der Gruppe aus Pudsey starben weniger als 20% innerhalb von zehn Jahren. Es dürften zwar keine konkreten Schlüsse aus dieser eher spekulativen Betrachtung gezo-

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gen werden, es wird aber deutlich, daß die These, Umsiedler aus dem Stadthinterland wären stärker anfällig für die Krankheitseinflüsse der Stadt, in Frage gestellt werden muß. Die Umsiedler aus Pudsey waren es sicher nicht. Zusammenfassung und Schluß Der kurze Überblick, der hier über ein breites und komplexes Thema gegeben wurde, wirft vielleicht mehr Fragen auf als er beantwortet. In dieser Region des ländlich-industriellen West-Yorkshire konnten noch fast bis zum Ende des 18. Jahrhunderts höchst unterschiedliche demographische und insbesondere Sterblichkeitsstrukturen beobachtet werden. Die Säuglingssterblichkeit der jeweiligen Gemeinde zeigte, wie gut oder schlecht diese Gemeinde die wachsende Bevölkerungsdichte, die steigende Marginalisierung in Grundbesitzverhältnissen, die sich verschlechternden Umweltbedingungen und vor allem die Migrationsströme verkraftete. Die Migrantenfamilien, die oft nach eigenem Grundbesitz strebten, wiesen die höchste Säuglingssterblichkeit auf, befanden sich am häufigsten auf einem niedrigen sozialen Niveau und in den unvorteilhaften Berufsgruppen. Auch in den Gemeinden, die eine mäßige Säuglingssterblichkeit aufwiesen, fanden sie sich oft in den Vierteln, in denen sich die Säuglingssterblichkeit konzentrierte. Konnten die Migrantenströme nicht gelenkt werden, so war die Säuglingssterblichkeit von Anfang an hoch, und das Zusammenrücken der Sterblichkeitsmuster von Stadt und Stadthinterland zum Ende des 18. Jahrhunderts führte noch zu einer Erhöhung der ohnehin hohen Zahlen. Diese Ergebnisse werfen ein neues Licht auf das Verhältnis zwischen demographischen Strukturen und ländlicher Industrie. Während Levine eine Verbindung des Bevölkerungswachstums, der schlechten öffentlichen Gesundheitssituation und der hohen Säuglingssterblichkeit mit der Entwicklung des Gewerbes auf dem Lande feststellte, deutet die Situation in der Gemeinde Calverley an, daß das Bild sehr viel komplizierter aussieht und weitaus gründlichere Analysen als die bislang durchgeführten vonnöten sind. 40

40

Levine , Family.

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Abbildung 1: Textil-Distrikt West-Riding

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Parish

Calverley

Idle

Stanningley

Pudsey

Stadtteile • 1650-99 • 1700-49 • 1750-99 • 1800-30 I

Abbildung 2: Die Säuglingssterblichkeit in der Gemeinde Calverly

300 250

φ

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Idle

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Pudsey

Abbildung 3: Säuglingssterblichkeit in verschiedenen Berufsgruppen 1650-1830

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Sozialer Status Calverley —Q—Idle

Stanningley —0— Pudsey

Abbildung 4: Säuglingssterblichkeit nach sozialem Status 1650-1830

Monate Calverley —Q— Idle —φ—Stanningley —0— Pudsey

Abbildung 5: Saisonale Verteilung der Säuglingssterblichkeit 1650-1830

Säuglingssterblichkeit in englischen Städten 1750-1850*

Von Chris Galley Die Höhe der Säuglingssterblichkeit wird häufig als einer der wichtigsten Indikatoren des materiellen Wohlstandes einer Gesellschaft angesehen. Dies gilt selbstverständlich auch für die historische Betrachtung. Grundvoraussetzung dafür ist allerdings eine präzise Erfassung der Säuglingssterblichkeit. In diesem kurzen, eher spekulativen Artikel sollen daher methodische Probleme hinsichtlich der Bestimmung der Säuglingssterblichkeit in den entstehenden Industriestädten in England und Wales im Jahrhundert vor der Einführung der zivilen Registration im Jahre 1837 angesprochen und ein Überblick über die Höhe und Entwicklung der Säuglingssterblichkeit in englischen Städten im Zeitraum von 1750 bis 1850 gegeben werden.

Die Registrierung der Säuglingssterblichkeit in den städtischen Kirchenbüchern 1750-1850 Seit 1837 kann die Säuglingssterblichkeit direkt aus veröffentlichtem Datenmaterial, das z.B. in den Annual Reports of the Registrar General enthalten ist, errechnet werden. In den Jahren zuvor aber müssen sich die Schätzungen auf die Genauigkeit der Kirchenbücher verlassen. Leider war die Registrierung in den einzelnen Registern der Kirchengemeinden von unterschiedlicher Qualität. Die Anzahl der Taufen und Beerdigungen, die von einigen Registern erfaßt wurden, spiegelten die Anzahl der Geburten und Sterbefälle in der Gemeinde vom frühen 16. Jahrhundert bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts exakt wider; in vielen Gemeinden, v.a. in solchen, bei denen sich eine starke Verstädterung bemerkbar machte, wurden diese jedoch erheblich unterschätzt.

* Ich danke Bob Woods für die Daten zu den „Decennial Supplements" und für die Abbildungen 3, 4 und 5. Die Daten zu den Abbildungen 1 und 6 wurden gemeinsam mit Naomi Williams zusammengetragen. 6 Vögele/Woelk

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Die Gründe dafür sind am besten von John Rickman zusammengefaßt worden, der folgendes bemerkte, als er die Ergebnisse der ersten nationalen Volkszählung 1801 kommentierte: „Concerning The Registiy of Burials The Registry of Burials may be supposed to be deficient on the following considerations. 1. Many Congregations of Dissenters, inhabiting Towns, have their own peculiar Burying Grounds; as have the Jews, and the Roman Catholics, who reside in London. 2. That some persons, from motives of Poverty or Convenience, inter their Dead without any religious Ceremony; this is known to happen in the Metropolis, in Bristol, and Newcastle-upon-Tyne, and may happen in a few large Towns. 3. Children who die before Baptism are interred without any religious Ceremony, and consequently are not registered. Concerning the registry of Baptisms The Registry of Baptisms is deficient from the same causes as that of Burials, and from the first of those causes by a greater Degree. 1. Many Dissenters of every Denomination who usually bury in the Cemeteries of the established Church, do not baptise in it. This cause alone is sufficient to prevent the Number of Registered Baptisms from approximating to the Number of Births. 2. Some irreligious Persons do not cause their Children to be baptised at all. This is supposed to happen chiefly in the large towns. 3. Some Children, whose Parents are of the established Church, die immediately after Birth, unbaptised; and a much greater number who are privately baptised, are not afterwards brought to the Church for Public Baptism, and therefore are not always registered. The practice of the clergy is not uniform in this Point, as the Canon concerning Registers applies to Christenings: which word is supposed to mean Public Baptism only. In parts of the County of Northumberland it is supposed that One Third of the whole Number of Baptisms is omitted from this cause; and doubtless in many other Counties, Omissions from the same cause also take place."1 Rickman macht deutlich, daß zwar nicht in jeder Kirchengemeinde die A n zahl der Registrationen zu gering war; gerade in städtischen Kirchengemeinden und solchen m i t starkem Bevölkerungszuwachs geschah dies jedoch m i t hoher Wahrscheinlichkeit. Somit bereitet die Berechnung der genauen Säuglingssterblichkeitsrate gerade in den aufstrebenden Industriestädten, die durch besondere Wachstumsmuster geprägt waren und in denen die Säuglingssterblichkeit signifikant v o m nationalen Trend abgewichen sein könnte, die größten Schwierigkeiten. Probleme treten dann auf, wenn versucht wird, die Säuglingssterblichkeit für diese Zeit zu berechnen, ohne eine mögliche Fehlregistration in Betracht zu

1 J. Rickman , Observations on the results of the Population Act, 41 Geo. III, Nachdruck in: D. V. Glass (Hg.), The Development of Population Statistics, Farnborough 1973, n.p.

Säuglingssterblichkeit in englischen Städten 1750-1850

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ziehen. Paul Huck etwa berechnete die Säuglingssterblichkeit für neun industrielle Kirchengemeinden in den Jahren 1813-18362 und stellte folgendes fest: „infant mortality in the sample industrial parishes rose between 1813 and 1846".3 Dieses Ergebnis ist sicherlich nicht überraschend, zumal jede Kirchengemeinde einen beträchtlichen Bevölkerungszuwachs erfuhr; dennoch sind seine Ergebnisse relevant für die Debatte über den Lebensstandard während der Industriellen Revolution, die den weiteren Rahmen für Hucks Untersuchungen bildet. Hucks Schlußfolgerungen fußen ausschließlich auf der Verläßlichkeit seiner Berechnungen der Säuglingssterblichkeit, und leider müssen die von ihm verwendeten Verfahren mit Vorbehalt betrachtet werden. Um die Säuglingssterblichkeit zu berechnen, dividiert Huck die Anzahl der Säuglingsbegräbnisse durch die Anzahl der Taufen. Er vergewissert sich nicht, ob die Anzahl der in seinen Registern aufgenommenen Taufen und Beerdigungen eine genaue Schätzung der Anzahl der Geburten und Sterbefälle ermöglicht, und nimmt statt dessen an, daß die Anzahl der Sterbefälle mit der der Beerdigungen im wesentlichen übereinstimmt. Er zieht zwar in Betracht, daß einige Säuglinge starben, bevor sie getauft werden konnten, sieht aber solche Verluste, beschränkt auf Säuglinge, die jünger als einen Monat waren, als gering an. In kleinen ländlichen Kirchengemeinden wie Colyton mögen solche Annahmen Gültigkeit haben,4 in größeren industriellen müssen sie jedoch in Frage gestellt werden. Man kann die Diskrepanz zwischen Geburten und Taufen annähernd schätzen, indem man Hucks Taufraten für 1813-1836 mit den Geburtenraten in den Jahren 1839-1841 für den ,Registration District', in dem die Kirchengemeinde liegt, vergleicht (siehe Tabelle 1). Diese Methode ist sehr grob, aber die Ergebnisse sind überzeugend.5 Nur in Ashton und Great Harwood liegen die Werte dicht beieinander. In den meisten Kirchengemeinden wurde weniger als die Hälfte der erwarteten Anzahl von Kindern in der Anglikanischen Kirche getauft, wohingegen in Denton sehr viel mehr Taufen durchgeführt wurden. Der wahrscheinlichste Grund für diese Diskrepanzen liegt vermutlich darin, daß große

2

P. Huck , Infant mortality and living standards of English workers during the Industrial Revolution, in: Journal of Economic History 55 (1995), S. 528-550. Ein Großteil dieser Materialien erschien auch in: P. Huck , Infant mortality in nine industrial parishes in northern England, 18181836, in: Population Studies 48 (1994), S. 513-526. 3 Huck, Living Standards, S. 530. 4 E. A. Wrigley , Births and Baptisms: The use of Anglican registers as a source of information about the numbers of births in England before the beginning of civil registration, in: Population Studies 31 (1977), S. 311 5 Da Huck keine jährlichen Angaben über die Taufen liefert, muß die Taufrate unter der Annahme geschätzt werden, daß das Wachstum in den einzelnen Kirchengemeinden zwischen den Volkszählungen konstant geblieben ist. Sicherlich sind Unterschiede bezüglich der Geburtenraten zwischen den Kirchengemeinden und den viel größeren Registration Districts' (RD) aufgetreten; beide Raten sollten jedoch in ähnlichen Fehlerbereichen liegen. Die in Tabelle 1 dargestellten Ergebnisse sind ausreichend gesichert, um solchen Einwänden entgegenzuwirken.

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Teile der Bevölkerung Nonkonformisten waren und andere Kirchen besuchten, oder daß viele Eltern es einfach für unnötig hielten, ihre Kinder taufen zu lassen. Die hohe Rate in Denton weist daraufhin, daß Personen, die außerhalb des Stadtgebietes wohnten, die Kirche besuchten; dies bedeutet jedoch nicht, daß keinerlei Auslassungen bei der Registrierung auftraten. 6 Hucks Berechnungen sind dann als korrekt anzusehen, wenn sichergestellt ist, daß der Anteil der Bevölkerung, aus dem die Täuflinge stammen, derselbe ist, dem die registrierten Verstorbenen angehörten; mit anderen Worten muß die Risikobevölkerung sowohl für den Zähler als auch für den Nenner in den Berechnungen der Säuglingssterblichkeit gleich sein. Wenn einige Eltern sich weigerten, ihre Kinder zu taufen, aber gezwungen waren, sie auf dem Kirchenfriedhof zu beerdigen, da keine alternativen Beerdigungsmöglichkeiten zur Verfügung standen, liegt die berechnete Säuglingssterblichkeit, die durch die Dividierung der Anzahl der Säuglingsbeerdigungen durch die absolute Zahl der Taufen berechnet wurde, über der tatsächlichen Rate. In ähnlicher Weise kann die Existenz eines zivilen Friedhofs in einer der Kirchengemeinden zu einer Unterschätzung der Säuglingssterblichkeit führen. Folglich ist es nötig, Kenntnisse über die Vollständigkeit der Beerdigungsregister zu haben, aber dazu macht Huck leider keine weiteren Angaben. Tabelle 1

Mögliches Ausmaß der Unterregistrierung in neun industriellen Kirchengemeinden, 1813-1836 BevöllGerung Kirchengemeinde Walsall

Taufen

Taufrate

gesamt

1813

1836

11.330

17.724

7.718

Geburtenrate 1839-41

22,7

30,6

Handsworth

3.178

5.509

2.483

24,7

41,9

West Bromwich

7.851

20.009

6.650

22,1

41,9

14.535

22.599

9.288

21,4

48,3

3.169

5.411

3.152

31,7

38,9

Sedgeley Armley Wigan

32.743

48.091

19.762

20,8

37,1

Great Harwood

1.754

2.353

2.660

54,6

38,7

Denton

1.670

3.099

3.781

69,3

38,6

Ashton

20.269

39.442

27.746

40,9

38,6

Quellen: Huck , Living Standards, S. 534; Census of Great Britain 1851, London 1852-53; Eight Annual Report of the Registrar General, London 1846.

6

Das Problem, daß einzelne Sprengel innerhalb der Kirchengemeinde von Leeds, wie z.B. Armley, aufgesucht wurden, führt zu Unsicherheiten aufgrund der Frage, ob dort ein anderes Registrierungssystem als in der Mutterkirche oder den anderen Sprengein angewandt wurde.

Säuglingssterblichkeit in englischen Städten 1750-1850

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Auch bezüglich der Kirchengemeinde Ashton treten bei der Untersuchung Probleme auf, wenn keine Versuche unternommen werden, die Genauigkeit der Aufzeichnungen von Taufen und Beerdigungen in der Kirchengemeinde zu bestimmen. 1821 begann man aufgrund der wachsenden Bevölkerung mit dem Bau einer neuen Kirche, St. Peter's. Die Weihe des Gebäudes fand 1824 statt, und damit begannen die Aufzeichnungen. Das Register scheint akkurat geführt zu sein und verzeichnet verstorbene Säuglinge nach ihrem Alter in Monaten. Bei Anwendung von Hucks Methode zur Berechnung der Säuglingssterblichkeit findet man jedoch die erstaunliche Zahl von 841 Säuglingssterbefällen pro 1000 Taufen zwischen 1824 und 1836.7 Des weiteren waren nur sechs Prozent der verstorbenen Säuglinge jünger als einen Monat, was auf eine beträchtliche Unterregistrierung der neonatalen Todesfälle hinweist. Die berechneten Raten haben sehr wenig mit den tatsächlichen Sterblichkeitsverhältnissen in Ashton zu tun, da mehr Personen die Kirche für Beerdigungen als für Taufen aufsuchten. Zwischen 1831 und 1837 verteilt sich die jährliche Anzahl der Taufen folgendermaßen: 24, 24, 29, 25, 35, 51 und 37. Dahingegen wurden während des gleichen Zeitabschnitts 66, 76, 84, 115, 132, 148 und 176 Beerdigungen verzeichnet. Dank des vermutlich ausreichend vorhandenen Platzes auf dem neuen Friedhof war es leicht, eine Grabstätte zu erstehen. Personen aus ganz Ashton, einschließlich des Stadtteils Denton, benutzten diese Begräbnisstätte. Schließt man St. Peter's von Hucks Berechnungen der Säuglingssterblichkeit in Ashton aus, müssen die Ergebnisse dennoch mit Vorsicht betrachtet werden. Genauere Untersuchungen der speziellen Tauf- und Beerdigungspraktiken einzelner Kirchengemeinden können weitere Ungenauigkeiten ans Licht bringen. Die Beerdigungen von Säuglingen durch die Anzahl der Taufen zu teilen, anstatt das Verhältnis von Taufen und Beerdigungen von Säuglingen zu berücksichtigen, ist lediglich ein recht grobes Verfahren zur Bestimmung der Säuglingssterblichkeit, vor allem im Falle von Kirchengemeinden mit starkem Bevölkerungszuwachs. Ein derartiges Verfahren ist nur dann sinnvoll, wenn von vollständiger Registrierung und gleichbleibender Risikobevölkerung ausgegangen werden kann.8 Somit wird deutlich, daß es vielfach schwierig oder sogar unmöglich sein wird, korrekte Säuglingssterblichkeitsraten für viele der entstehenden Industriestädte der Jahre 1750 bis 1850 zu bestimmen. Wenn man eine Reihe von Faktoren beachtet, kann eine Rekonstruktion das Problem der Risikobevölkerung überwinden, aber in Ortschaften, in denen die Beerdigungen nicht immer im 7 Siehe: Registers of St. Peter's, Ashton-under-Lyne, St Peter's Blackley and St Lawrence's Chorley, in: Lancashire Parish Register Society 129 (1990), S. 1-36. H Zurückhaltung sollte auch gegenüber Hucks Versuchen geübt werden, die Unterregistrierungen ausgleichend zu korrigieren, siehe auch C. Galley / Ν. Williams / R. Woods, Detection without correction: Problems in assessing the quality of ecclesiastical and civil registration, in: Annales de Démographie Historique (1995), S.159-182.

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Kirchhof stattfanden oder in denen Begräbnisse ungetaufiter Kinder nicht hinreichend registriert wurden, bleiben Probleme bestehen. Genauere Untersuchungen der Register städtischer Kirchengemeinden vor der Einführung der zivilen Registration könnten zeigen, daß einige von ihnen ungewöhnlich genau sind, aber nach dem gegenwärtigen Forschungsstand erscheint dies eher unwahrscheinlich.

Ein alternativer Ansatz: Untersuchungen von Langzeittrends und geographischen Variationen 9 Veränderungen der Höhe der städtischen Säuglingssterblichkeit können geschätzt werden, indem man landesweit Langzeittrends vom Beginn der Kirchenregister im Jahre 1538 bis in das frühe zwanzigste Jahrhundert untersucht. Im Viktorianischen England variierte die Säuglingssterblichkeit geographisch erheblich. In Abbildung 1 werden die Säuglingssterblichkeitsraten für ausgewählte Gemeinden aufgezeigt. 10 Während der nationale Trend bis zu einer säkularen Abnahme nach 1900 relativ stabil bleibt, treten deutliche regionale Unterschiede hervor. Dies gilt ebenso im Stadt-Land-Vergleich. Während die Säuglingssterblichkeit in London den nationalen Trend erstaunlich genau widerspiegelt, wichen andere Städte trotz gleicher Größe und ökonomischer Struktur deutlich voneinander ab. 11 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde mit rasch fortschreitender Verstädterung die nationale Säuglingssterblichkeit in zunehmendem Maße von der Entwicklung einiger weniger großer Städte beeinflußt, in denen die Säuglingssterblichkeit weiterhin hoch war, vor allem während der heißen Sommermonate. In kleineren Städten wie Bath und Banbury stieg die Säuglingssterblichkeit seit 1840 stetig an. 12 In ländlichen Gegenden wie in den RDs, die die in Devon gelegenen Kirchengemeinden Colyton und Hartland einschlossen, findet sich eine größere Stabilität, obwohl signifikante

9 Siehe die Diskussion in: R. Woods / N. Williams / C. Galley , Infant mortality in England, 1550-1950: Problems in the identification of long-term trends, geographical and social variations, in: C. A. Corsini / P. P. Viazzo (Hgg.), The Decline of Infant Mortality in Europe 1800-1950. Four National Case Studies, Florenz 1993, S. 35-50. 10 R. I. Woods / P. A. Watterson / J. H. Woodward , The causes of rapid infant mortality decline in England and Wales, 1861-1921. Parts I and II, in: Population Studies 42 (1988), S. 343-366 und 43(1989), S. 113-132. 11 P. Laxton / Ν. Williams , Urbanization and infant mortality in England: a long-term perspective and review, in: M. C. Nelson / J. Rogers (Hgg.), Urbanization and the Epidemiological Transition, Uppsala 1989, S. 109-135; N. J. Williams / G. Mooney, Infant mortality in an ,Age of Great Cities': London and the provincial cities compared, c. 1840-1910, in: Continuity and Change 9 (1994), S. 185-212. 12 N. Williams / C. Galley , Urban-rural differentials in infant mortality in Victorian England, in: Population Studies 49 (1995), S. 401-420.

Säuglingssterblichkeit in englischen Städten 1750-1850

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Unterschiede hinsichtlich der Höhe der Säuglingssterblichkeitsrate auftraten. Somit zeigt sich, daß verschiedenste Muster der Säuglingssterblichkeit im Viktorianischen England zu finden sind und sich die nationale Rate der Säuglingssterblichkeit aus einer Reihe unterschiedlicher Trends zusammensetzt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts reagierte man besorgt auf das Ausmaß der Stadt-Land-Unterschiede hinsichtlich der Säuglingssterblichkeit: Abbildung 2 vergleicht die Säuglingssterblichkeit nach Todesursachen zwischen 1889 und 1891 für drei Industriestädte, in denen eine besonders hohe Säuglingssterblichkeitsrate festzustellen ist (Preston, Leicester und Blackburn, Säuglingssterblichkeit = 218), mit drei ländlichen Grafschaften mit sehr geringer Säuglingssterblichkeit (Herfordshire, Wiltshire und Dorsetshire, Säuglingssterblichkeit = 97) 13 . Während in jedem Fall die städtische Rate höher lag als die entsprechende ländliche, waren die jeweiligen Unterschiede keineswegs gleichmäßig. Nach Todesursachen differenziert ergaben sich die größten Stadt-Land-Unterschiede hinsichtlich der Durchfallerkrankungen, die zusammen mit Enteritis und Krämpfen die schlechte sanitäre Versorgung in diesen Städten widerspiegeln. 14 Stärkere Unterschiede fanden sich auch bei den Infektionskrankheiten, wobei Erkrankungen der Atemwege und die sogenannten „human crowd diseases" wie Masern und Keuchhusten vorherrschend waren. Abbildung 2 macht weiterhin deutlich, daß dieses einfache Bild dadurch komplexer wird, daß andere Krankheiten wie Tuberkulose in den Städten weiter verbreitet waren und sogar endogene Todesursachen, deren Häufigkeit erwartungsgemäß eigentlich nicht so stark variieren sollte, wie z.B. angeborene Mißbildungen und Atelektase (unvollständige Ausdehnung der Lunge bei der Geburt), in den Städten zu höheren Raten führten. Des weiteren deuten die weniger präzisen Kategorien der Atrophie und der Frühgeburt, die manchmal noch bei Säuglingen, die elf Monate alt waren, diagnostiziert wurden, zusammen mit der verbleibenden Restkategorie „andere Ursachen" daraufhin, daß die Analyse von Daten zu den Todesursachen für Säuglinge nur in begrenztem Maße nützlich ist. Ogles Klassifikation war die einzige ihrer Art in England zu dieser Zeit, und andere Veröffentlichungen über die Ursachen der Säuglingssterblichkeit enthalten weniger Details, so daß häufig ein Viertel aller Säuglingssterbefälle unter „andere Ursachen" klassifiziert wurde. Obwohl Abbildung 2 darauf hinweist, daß die in den Städten stark erhöhte Säuglingssterblichkeit im wesentlichen eine direkte Folge der hohen Bevölkerungsdichte war, die schwerwiegende Umweltprobleme verursachte und die Verbreitung ansteckender Krankheiten förderte, ist die Analyse des Todesursachenpanoramas von Säuglingen insgesamt nur von begrenztem Wert. Dies gilt insbesondere für die Zeit vor Ende des 19. Jahrhunderts.

13 Vgl. W. Ogle's Bemerkungen in: Annual Report of the Registrar General, 1891, London 1893, S. x-xvii. 14 Woods / Watterson / Woodward, Infant mortality decline.

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Chris Galley

Da die Höhe der Säuglingssterblichkeit zwischen den Städten im Viktorianischen England stark variierte, erfaßt Abbildung 3 die Beziehung zwischen Säuglingssterblichkeit und Bevölkerungsdichte. Zwar besteht eine positive Beziehung zwischen Bevölkerungsdichte und Säuglingssterblichkeit, allerdings ist diese schwächer ausgeprägt als erwartet. Die höchste Bevölkerungsdichte findet man in Distrikten Londons. In diesen war die Säuglingssterblichkeit jedoch der nationalen Rate sehr ähnlich. Während es innerhalb der Stadt durchaus Variationen gab, war die Bevölkerungsdichte nur einer von vielen Gründen für die prononcierten innerstädtischen Unterschiede hinsichtlich der Höhe der Säuglingssterblichkeit. 15 Dies gilt auch für andere Regionen. Zwischen einzelnen RDs ähnlicher Bevölkerungsdichte traten bedeutsame Unterschiede auf, und auch wenn einige dieser Unterschiede dadurch erklärt werden können, daß ein Teil der RDs Städte mit ausgeprägtem ländlichem Umland enthielt, kann die Bevölkerungsdichte nur als schwache Erklärung für die Diskrepanzen hinsichtlich der Säuglingssterblichkeit dienen.16 Abbildung 4 untersucht diese Beziehung weiter, indem die Bevölkerungsdichte zum Prozentsatz der Säuglingssterbefälle aufgrund von „Diarrhöe und Dysenterie" in Beziehung gesetzt wird. Wiederum zeigt sich die erwartete Beziehung nur teilweise, besonders in RDs, in denen die Bevölkerung 100.000 übersteigt. Dennoch gab es auch hier Ausnahmen; ein Großteil der Abweichungen ist wohl auf die Verläßlichkeit der Klassifikation der Daten zur Säuglingssterblichkeit zurückzuführen. Abbildung 5 schließlich behandelt die Beziehung zwischen der Bevölkerungsdichte und der Mortalität der Kinder, die jünger als fünf Jahre waren. In diesem Falle kann gezeigt werden, daß ein auffälliges Charakteristikum der Sterblichkeit von Kleinkindern in der Mitte des Viktorianischen Zeitalters in England die Tatsache war, daß in den Städten die Sterblichkeit in dieser Altersgruppe höher war als die Säuglingssterblichkeit. Zwar variierte die Sterblichkeit im Kindesalter stark zwischen den einzelnen Städten, doch meist lag die Sterblichkeit im Kleinkindalter höher als diejenige der Säuglinge; im Gegensatz dazu war die Sterblichkeit in den ländlichen RDs niedriger, wobei die Anzahl der verstorbenen Kleinkinder jeweils geringer war als die der Säuglinge. Somit hatte der „urban effect" einen viel größeren Einfluß auf die Sterblichkeit im Kleinkindalter als auf die Säuglingssterblichkeit. Bis zum Jahre 1890 hat sich die Mortalitätsrate für Kleinkinder im ganzen Lande verringert, die Säuglingssterblichkeit hingegen hat sich weniger stark verringert. Da der Anteil der Bevölkerung, die in Städten lebte, zunahm, stieg auch der Beitrag der Städte an der Säuglingssterblichkeit, so daß die nationale Säuglingssterblichkeit mehr und mehr

15 G. Mooney , Did London pass the ,sanitary test'? Seasonal infant mortality in London, 18701914, in: Journal of Historical Geography 20 (1994), S. 158-174. 16 Auch die ländlichen RDs wiesen bedeutsame Unterschiede auf.

Säuglingssterblichkeit in englischen Städten 1750-1850

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durch das Verhalten der relativ geringen Anzahl großer Städte bestimmt wurde, die eine überdurchschnittliche Säuglingssterblichkeit aufwiesen. Abbildung 5 zeigt außerdem die 25 RDs, die die 26 Kirchenbuchrekonstitutionen enthalten, die als Grundlage für Wrigleys Studie über englische Bevölkerungsgeschichte dienten. 17 Es handelte sich dabei um 26 hauptsächlich ländliche Kirchengemeinden, und auch ihre Verteilung läßt es fraglich erscheinen, ob damit nationale Mortalitätstrends für die Jahre 1550 bis 1840 errechnet werden können. 18 Abbildung 6 zeigt die Entwicklung der Säuglingssterblichkeit in diesen RDs während des 19. Jahrhunderts. Der Vergleich der Säuglingssterblichkeit in einzelnen Kirchengemeinden mit derjenigen im viel größeren RD, der mehr als 20 einzelne Kirchengemeinden enthalten konnte, muß offensichtlich mit Vorsicht betrachtet werden; dennoch sind die Ergebnisse auffällig: Die ausgewählten RDs spiegeln die nationale Rate bis 1880 erstaunlich gut wider, und sogar danach ist die Ähnlichkeit auffällig, obwohl die Rate in den 25 RDs niedriger als die nationale Rate ist. Der Grund dafür, daß eine solche ländliche Auswahl nationale Trends wiedergeben kann, ist die Tatsache, daß einige der Kirchengemeinden nahe an bedeutenden Industriezentren lagen und diese folglich während des 19. Jahrhunderts einer grundlegenden Bevölkerungszunahme unterlagen. Daß diese Kirchengemeinden die Trends bis ins 19. Jahrhundert wiedergeben, eine Behauptung, die von Wrigley nicht gemacht wurde, liefert weitere Hinweise darauf, daß sie auch für den früheren Zeitraum die nationalen Raten weitestgehend vertreten. Während des 18. Jahrhunderts fiel die Säuglingssterblichkeit beträchtlich, wobei der größte Anteil dieser Abnahme durch eine verringerte Mortalität während des ersten Lebensmonats erklärt werden kann. Um das nationale Bild zu vervollständigen, soll die Stärke des Unterschiedes in verschiedenen Orten untersucht werden. Abbildung 7 zeigt einige Langzeittrends der Säuglingssterblichkeit. 19 Derartige Langzeitbetrachtungen können zum gegenwärtigem Zeitpunkt nur für wenige Städte berechnet werden. Besonders auffallig ist der Fall Londons, wo zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Säuglingssterblichkeit bei 350 pro 1000 Lebendgeburten lag. Von 1750 an fiel die Säuglingssterblichkeit dramatisch ab, obwohl Londons Bevölkerung von 575.000 im Jahr 1700 über 675.000 im Jahr 1750 auf 865.000 im Jahr 1801

17

E. A. Wrigley, English Population History from Reconstitution, 1580-1837, Cambridge 1997. Zur genauen Lage der 26 Kirchengemeinden siehe: News from the Cambridge Group for the History of Population and Social Structure, in: Local Population Studies 51 (1993), S. 10-21. Die Kirchengemeinden wurden gewichtet, um sie repräsentativ für die Nation zu machen. 18

19 London 1650-1849: J. Landers , Age patterns of mortality in London during the Jong eighteenth century': a test of the ,high potential' model of Metropolitan mortality, in: Social History of Medicine 3 (1990), S. 39. York: C. Galley , The Demography of Early Modern Towns. York and its Region 1561-1700 (im Druck). Colyton and Hartland: E. A. Wrigley / R. S. Schofield , English population history from family reconstitution: summary results 1600-1799, in: Population Studies 37 (1983), S. 177-179. Die Angaben nach 1850 sind den Annual Reports entnommen.

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Chris Galley

anstieg.20 In York ist ähnliches zu beobachten, obwohl die Entwicklung hier weniger dramatisch verlief. Die absolute Veränderung ist schwierig zu bestimmen, denn wie Abbildung 7 zeigt, fällt die errechnete Rate deutlich ab, aber all dies kann auch auf die nachlassende Qualität in der Führung der Kirchenbücher in der Stadt zurückgeführt werden, so daß das Ausmaß der Abnahme viel geringer war, vielleicht von ca. 260 im Jahr 1700 über ca. 230 im Jahr 1750 auf ca. 210 im Jahr 1840. Eine ähnliche Abnahme findet man auch in Marktstädten wie Gainsborough und Banbury. 21 Im Vergleich dazu sind die Veränderungen in den ländlichen Kirchengemeinden Colyton und Hartland schwieriger zu bestimmen, da die veröffentlichen Säuglingssterblichkeitsangaben, die auf den Kirchenbüchern beruhen, im allgemeinen für Kohorten von 50 Jahren angegeben werden. Dennoch gibt es in Hartland wenig Hinweise darauf, daß zwischen 1550 und 1900 die Säuglingssterblichkeit bedeutend abgenommen hat.

Schluß Während die geographischen Unterschiede in der Säuglingssterblichkeit im Viktorianischen England relativ einfach zu bestimmen sind, ist eine Erklärung für ihr Auftreten schwieriger. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein blieb die Säuglingssterblichkeit in einigen Industriestädten sehr hoch, wohingegen sie in anderen städtischen Gebieten auf einem niedrigeren Niveau angesiedelt war. In der Zeit vor 1840 ist es schwierig, die genauen Säuglingssterblichkeitsraten in den aufstrebenden Industriestädte zu bestimmen. Dennoch konnten grundlegende Umrisse der langzeitigen Veränderungen aufgestellt werden, und es ist unwahrscheinlich, daß Industriestädte stark von diesen Mustern abgewichen sein könnten, obwohl die Säuglingssterblichkeit in den Städten stark variierte. Vor 1840 sanken die Säuglingssterblichkeitsraten grundsätzlich, obwohl in denjenigen kleineren ländlichen Kirchengemeinden, die stärkere Bevölkerungszunahmen erfuhren und somit Urbanen Charakter bekamen, der Trend eher umgekehrt war. Wie hoch die Säuglingssterblichkeit in den Industriestädten des frühen 19. Jahrhunderts auch gewesen sein mag, sie war immer noch gering im Vergleich zu den Raten in der Frühen Neuzeit. Folglich kann Studien, die Veränderungen in der Säuglingssterblichkeit mit Veränderungen hinsichtlich des Wohlstands während dieser Zeit gleichzusetzen versuchen, wenig Glaubwürdigkeit zugesprochen werden, da es viele andere und stärkere Einflüsse auf die Säuglingssterblichkeit gegeben hat.

2M 21

J. de Vries, European Urbanization, London 1984, S. 270. Wrigley / Schofield, English population history, S. 177-179.

Säuglingssterblichkeit in englischen Städten 1750-1850

Abbildung 1 : Säuglingssterblichkeit an ausgewählten Orten, 1850-1910, über 7 Jahre gemittelt

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Chris Galley Frühgeburt AlaleMaia Angeborene Krankhetien SyphUI· Geburtavwe l tzungen Keuehhueten

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Abbildung 2: Säuglingssterblichkeit nach Todesursachen in drei Industriestädten und drei ländlichen Bezirken

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Abbildung 3: Säuglingssterblichkeit 1861-1870 im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte, ,Registration Districts 4 in England und Wales

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Stadt (m)

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Großstädte (w)

Stadt (w)

Abbildung 1: Die relative Lebenserwartung in Stadt und Land in Preußen, 1900/01

Krankheit und Tod in der sich industrialisierenden Residenz Stuttgart im 19. Jahrhundert

Von Sylvia Schraut „Die Abendsonne beleuchtete die große Muschel, die Stuttgarts reizende Lage bildet. [...] Noch duftete die Stadt nach Wein und Äpfelmost. Die Stiftskirche, das Schloß, die kleinen Häuser, manche von diesen noch mit Kolben türkischen Korns umzogen, es gab ein Bild provinzieller Abgeschlossenheit und Einfachheit ...", so idyllisch erschien dem Schriftsteller Karl Gutzkow in der Rückschau das Stuttgart der 1830er Jahre.1 Die schnelle industrielle Entwicklung, die die Stadt zwanzig Jahre später zu verändern begann, erwartete damals wohl niemand. Die Stuttgarter erlebten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zunächst den Wandel ihrer Stadt zur königlichen Residenz und zum Standort zahlreicher auszubauender Verwaltungssitze, zur Hauptstadt des jungen Königreichs von Napoleons Gnaden. Zwar wuchs die Stadt an Bevölkerung und mehr noch an Bausubstanz in zuvor unbekanntem Maße, doch nicht die Zuwanderung arbeitsuchender Armutsbevölkerung vom Land prägte das Stadtbild, sondern herrschaftliche Machtrepräsentanz und pietistisch geprägter Bürgersinn. Erst der Anschluß an die Eisenbahn in den 1840er Jahren katapultierte Stuttgart ins Industriezeitalter. 1861 beherbergte die Stadt immerhin schon 173 Fabriken mit über 4.000 Arbeiterinnen und Arbeitern, und auf der Handelstabelle waren 857 Unternehmer mit über 2.000 Gehilfinnen und Gehilfen verzeichnet. Rund zwanzig Jahre später, 1882, ernährte sich nahezu jeder zweite der rund 44.000 Erwerbstätigen durch Tätigkeit als Gehilfe oder Arbeiter in der Landwirtschaft, in den Gewerbebetrieben oder Fabriken. 21.000 Einwohner zählte man im Jahr 1800, rund das Dreifache 1862. Die höchsten kontinuierlichen Zuwachsraten waren in den folgenden Jahren zu verzeichnen. Bis 1871 vermehrte sich die Einwohnerschaft auf über 91.000. Mit seinem anschließenden, auch auf Eingemeindungen beruhenden Bevölkerungswachstum von 200% zwischen 1870 und 1910 blieb Stuttgart zwar hinter expandierenden Industriestädten wie Ludwigshafen (675%) oder Charlottenburg (845%) weit

1

Zitat nach: O. Borst, Stuttgart. Die Geschichte der Stadt, Stuttgart 1986, S. 213.

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zurück, doch die wachsende Arbeiterbevölkerung begann das Stadtbild mehr und mehr zu prägen. Daß gleichwohl auch 1882 immerhin noch jeder 15. im öffentlichen Dienst oder freiberuflich tätig war, verweist auf die erhalten gebliebene Funktion Stuttgarts als Residenz und Sitz zahlreicher zentraler Verwaltungsinstanzen.2 Hier fand sich im frisch entstandenen Königreich zu Beginn des Jahrhunderts und noch über die Jahrhundertmitte hinaus die bürgerliche Honoratiorenschaft, die städtischen Bürgerstolz mit württembergischer Untertanenloyalität verband, im Umkreis des Hofes im Staatsdienst ihr Brot verdiente und sich zusammen mit dem wohltätigen Adel für die Lösung städtischer Problemfelder in sozialfürsorgerischen und medizinischen Belangen einsetzte. Erst im Kaiserreich übernahmen auch in Stuttgart zunehmend das Wirtschaftsbürgertum und schließlich die Sozialdemokratie das Sagen in kommunalen Belangen. Schenkt man den Beobachtungen der Zeitgenossen Glauben, dann war der Wandel Stuttgarts zur Industriestadt mit all den zugehörigen sozialen Urbanisierungsfolgeproblemen in der Wohnraumversorgung, in infrastruktureller und medizinischer Hinsicht erst nach der großen Wachstumswelle zu Beginn der 1870er Jahre deutlich spürbar. Stuttgart sei, so Wilhelm Raabe 1870, „in einem unangenehmen Übergangsstadium aus der kleinen Stadt in die Großstadt begriffen, und der Gesundheitszustand ist gar so günstig nicht mehr." 3 Der knappe Abriß der lokalen Entwicklung soll an dieser Stelle als Hintergrund für eine Darstellung von Krankheit und Tod in der sich industrialisierenden Residenz genügen. Stuttgart war in gesundheitlicher Hinsicht von den gleichen Problemlagen betroffen, die insgesamt die sozialmedizinische Lage expandierender Städte des 19. Jahrhunderts kennzeichneten.4 Manches spricht dafür, daß das gesellschaftliche Milieu der Residenz wie das verhältnismäßig langsame industrielle Wachstum die sozialen Folgekosten abzumildern halfen. Doch die großen Seuchenzüge, die gesundheitliche Lage der Arbeiter wie die Säuglingssterblichkeit, kurz: die soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod und die sanitären Erfordernisse der Stadtentwicklung beschäftigten Ärzteschaft und Stadtreformer ähnlich wie in München oder Berlin. Die gute Quellenlage erlaubt jedoch über die Schilderung der allgemeinen Entwicklung hinausge-

2

Anteil des öffentlichen Dienstes (Erwerbstätige, Dienende und Angehörige) an der Gesamtbevölkerung 1882: Stuttgart 13,7%, Berlin 9,7%, Frankfurt 9,4%, München 12,7%, nach: Das Königreich Württemberg, hrsg. von dem Königlichen statistischen Landesamt, Bd. 2, Stuttgart 1886, S. 56. 1 Zitiert nach: O. Borst, Stuttgart, S. 243. 4 Zum Thema vgl. J. Reulecke / A. v. Castell Rüdenhausen (Hgg.), Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von „Volksgesundheit" und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991.

Krankheit und Tod in Stuttgart

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hend eine sozial differenzierte Analyse der Auswirkungen des städtischen Industrialisierungsprozesses auf die Lebenserwartung der Stuttgarter Einwohnerschaft. 5 Inwieweit begegneten die in Stuttgart zeittypisch ergriffenen kommunalen Maßnahmen den beobachteten Mißständen? Und welche Auswirkungen auf das erreichbare Lebensalter unter Schicht- und geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten sind im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu beobachten?

„Wer Brüste hat, soll säugen..." Als Thema für sozialmedizinische oder sozialhygienische Bestrebungen bot sich der Stuttgarter Ärzteschaft die in Württemberg bekanntermaßen überdurchschnittlich hohe Säuglingssterblichkeit an.6 Sie erreichte im Landesdurchschnitt in den 1850er/60er Jahren ihren Höhepunkt, als nahezu vier von zehn Kindern ihren ersten Geburtstag nicht erlebten, und begann sich in den folgenden Jahrzehnten sichtbar abzusenken (1915/18: 15%). Doch bis zum Beginn der 1880er Jahre kam Württemberg im Kaiserreich die unrühmliche Rolle eines Spitzenreiters in der Säuglingssterblichkeitsrate zu.7 Schon den einschlägigen zeitgenössischen Beobachtern fiel auf, daß sich insbesondere im Süden und Südwesten des Reiches, in den Regionen mit reichsweit überdurchschnittlicher Säuglingssterblichkeit, das sonst übliche Stadt-Land-Gefälle umkehrte. Hier waren die Überlebenschancen der Kleinkinder im städtischen Umfeld größer als im ländlichen Hinterland. Dies trifft auch auf Stuttgart zu. Bereits in den 1830er Jahren starb in der württembergischen Hauptstadt nur jeder vierte Säugling im ersten Lebensjahr. Bis in die 1850er Jahre verringerte sich die Säuglingssterblichkeit kontinuierlich weiter, und Stuttgart schnitt auch im Vergleich mit den meisten Städten im Reich ganz passabel ab. Dies änderte sich in der ersten großen Wachstumsphase der Stadt, in den 1860er Jahren, mit einem

5 Der Beitrag liefert Teilergebnisse eines quantifizierend arbeitenden Projektes zum sozialen Wandel im Großraum Stuttgart, das unter der Leitung von Prof. W. v. Hippel an der Universität Mannheim angesiedelt ist. Es wurde für Stuttgart ein Datensatz erhoben und bearbeitet, der auf der Aufnahme einer Stichprobe von über 5.000 Familienregistern beruht und über 5.000 Stuttgarter Familien mit über 30.000 Personen rekonstituiert. Im gleichen Projekt sind bisher u.a. entstanden: S. Schraut, Sozialer Wandel im Industrialisierungsprozeß, Esslingen 1800-1870, Esslingen 1989; W. v. Hippel, Industrieller Wandel im ländlichen Raum, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. XIX (1979), S. 43-122. Derzeit entsteht eine Studie zu Feuerbach (Rita Müller); eine Studie zu Stuttgart (v. Hippel, Müller, Schraut) ist geplant. Für die finanzielle Unterstützung der DFG und der Robert-Bosch-Stiftung sei auch an dieser Stelle gedankt. 6

Zur Säuglingssterblichkeit in den Städten des Deutschen Reichs vgl. J. P. Vögele, Urban Infant Mortality in Imperial Germany, in: Social History of Medicine (1994), S. 401-425 und die dort genannte Literatur. 7 Vgl. die statistischen Angaben bei J. P. Vögele, Urban Infant Mortality, S. 405.

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starken Anstieg der Säuglingssterblichkeit um ca. 20% auf die Ausgangswerte der 1830er Jahre und ließ die Stuttgarter Ärzteschaft auf den Plan treten. Der Stuttgarter Arzt Georg Cless, Sproß einer alteingesessenen Beamtenund Ärztefamilie, die sich in Stuttgart durch umfangreiches sozialmedizinisches Engagement hervortat, verfaßte 1868 eine Schrift über die Kindersterblichkeit in Württemberg, die er selbst ausdrücklich als „Mahnruf an das Volk" verstanden wissen wollte. 8 Die Säuglingssterblichkeit in Württemberg sei die größte in ganz Europa. Diese Tatsache laste „als ein schwerer Vorwurf auf dem ganzen Volke." 9 Interessant sind die Erklärungsmuster und Abhilferezepte, die Cless anbot. Die hohe Sterblichkeit sei nicht auf natürliche Ursachen zurückzuführen, sondern die Schuld daran liege in „den Handlungen und Unterlassungen der Menschen, d.h. in der verkehrten Behandlung der Kinder, in thörichten Gewohnheiten, Vorurtheilen und Aberglauben, in Mangel an Einsicht und Opferwilligkeit, kurz in dem Mangel einer verständigen, sorgfaltigen und gewissenhaften Pflege." 10

Cless machte, wie in der zeitgenössischen medizinischen Diskussion üblich, hauptsächlich die seiner Meinung nach in Württemberg verbreitete „Unsitte", die Kinder nur wenig oder gar nicht zu stillen, für die hohen Darmerkrankungsraten, besonders in der Sommerzeit, verantwortlich. Er führte die beobachteten Mängel ausdrücklich nicht auf die soziale Lage der Mütter zurück, 11 sondern verstand sie als Merkmal geschlechtsspezifischer Arbeitsorganisation, einer Arbeitsorganisation, die die Entlastung stillender Frauen durch Gesinde anscheinend nicht gestattete. „Die Bauersfrauen verwerfen das Säugen als Unbequemlichkeit, als eine Störung der Arbeit und des Erwerbes, [...] aber wer Hände hat, soll arbeiten und wer Brüste hat, soll säugen, denn dazu sind sie ihm von der Natur gegeben."12 Und er appellierte an die Mütter: „So lange das Säugen nicht wieder zur Sitte des Landes wird, lastet auf dessen mütterlicher Bevölkerung der Vorwurf der selbstverschuldeten Beschädigung ihrer Kinder, des Mangels an Mutterliebe, die in ihrer ganzen Fülle und Innigkeit erst an der nährenden Mutter sich offenbart." 13

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(Cless), Die Kindersterblichkeit in Württemberg. Ein Mahnruf an das Volk, Stuttgart 1868. Ebd., S.3. 10 Ebd., S. 4. 11 Ein Erklärungsmuster, das zeitgenössisch durchaus benutzt wurde. In Berlin beispielsweise galt um die Jahrhundertmitte die Säuglingssterblichkeit als sozial bedingt, aber unveränderbar; vgl. Helfft, Über die Sterblichkeit der lebend geborenen Kinder in Berlin innerhalb des ersten Lebensjahres, in: Monatsblatt für medicinische Statistik und öffentliche Gesundheitspflege, Nr.2, Beilage zur Deutschen Klinik, Bd. X (1858). 12 (Cless), Kindersterblichkeit, S. 6. n £ M , S . 7. i}

Krankheit und Tod in Stuttgart

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Im Konflikt zwischen Mutterliebe und Arbeit müsse sich die Mutter für erstere entscheiden. „Freilich muß die Mutter unter allen Umständen dem Kind zu lieb, falls es nicht gewissenlos vernachlässigt werden soll, auf einen Theil ihrer gewohnten Arbeit verzichten und ist, wenn sie das Kind stillt, noch mehr an dasselbe gebunden."14 Es mag auf die städtisch-bürgerliche Herkunft des Arztes zurückzuführen sein, daß ihm die Umorganisation weiblicher Arbeiten im allgemeinen in den Handlungsspielraum der betroffenen Familien gestellt schien, doch Cless sah durchaus auch die Zwangslage ärmerer Frauen. Den Fabrikbesitzern legte er ans Herz, den Arbeiterinnen sechswöchige bezahlte Mutterschaftsurlaube nach der Geburt zu gewähren und Stillpausen einzuführen, eine Forderung, der zwar schon einzelne Fabrikanten nachkamen, die aber erst etliche Jahrzehnte später gesetzlich verankert werden sollte. Im übrigen empfahl er eine gemeinsame Stillkampagne von Medizinern, Hebammen, Seelsorgern und Frauenvereinen als Dienst am Vaterland. Clessens Aufruf scheint nicht nur beim interessierten Publikum, sondern auch unter Medizinern über Stuttgart und Württemberg hinaus Beachtung gefunden und weitere Studien zur Säuglingssterblichkeit angeregt zu haben.15 Die Ansicht jedoch, daß es genüge, die weibliche Bevölkerung durch entsprechende Aufklärung zum längeren Stillen der Kinder zu bewegen, und daß es selbstverständlich im Ermessen des betroffenen Kreises liege, die Kinderpflege den hygienischen Erfordernissen anzupassen, wurde in der zeitgenössischen Stilldebatte in den 1870er Jahren schnell überholt. Folgt man beispielsweise dem Handbuch der Kinderkrankheiten, erschienen 1877, dann war inzwischen eindeutig bewiesen, daß die soziale Lage der Eltern großen Einfluß auf die Überlebenschancen der Kinder hatte. „Das Leben des Kindes", so der Verfasser des einschlägigen Artikels, Ludwig Pfeiffer, hänge „zunächst ab von dem sittlichen und materiellen Zustand der Mutter. Die Mutterpflichten werden bei leiblicher Noth oder bei niederem Culturgrad nicht in vollem Maße erfüllt." 16 Er forderte daher: „Alle staatlichen Massregeln und Einrichtungen sind zu unterstützen, welche geeignet sind, den Pauperismus innerhalb einer gewissen Bevölkerung zu vermindern und Bildung und Sittlichkeit unter derselben zu befördern." 17 Pfeiffer nahm, wohl in Anlehnung an Pettenkofer, explizit auch die Kommunen in die Pflicht. Kinderkrippen seien zu errichten und den Gemeinden die Reinigung und Reinerhaltung der oberen Bodenschichten gesetzlich aufzuerlegen.

"Ebd., S.7. 15 Vgl. beispielsweise: G. Mayr, Die Sterblichkeit der Kinder während des ersten Lebensjahres in Süddeutschland, insbesondere in Bayern, in: Zeitschrift des Königlich Bayerischen Statistischen Bureau (1870), S. 204-247. 16 L. Pfeiffer, Handbuch der Kinderkrankheiten, Artikel: Säuglingssterblichkeit, 1877, S. 592. 11 Ebd., S. 594.

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Entwässerungsanlagen, Wohnungsbelegung etc. seien zu überwachen, die Baupolizeiordnungen den hygienischen Erfordernissen anzupassen.18 In die gleiche Richtung zielte ein Artikel explizit über die Stuttgarter Säuglingssterblichkeit des in der Sache äußerst engagierten Stuttgarter Stadtdirektions- und Stadtarztes Gussmann rund zehn Jahre nach dem „Mahnruf von Cless.19 Stuttgart, so bemängelte er, übertreffe mit seinem Anteil von 41,2% der verstorbenen Säuglinge an der Gesamtzahl der Verstorbenen 1878 die meisten deutschen Städte mit mehr als 15.000 Einwohnern. 20 In seiner Argumentationslinie folgte er der früheren Studie von Cless. Hohe Säuglingssterblichkeit finde sich in reichen wie in armen Kreisen der Bevölkerung. „Mangel an Einsicht, Bildung und Gesittung gehen mit Armuth und Noth Hand in Hand; beim Armen aber wie beim Wohlhabenden ist die NichtSchätzung des jungen hilflosen Lebens das hauptsächliche Mittel, das Übel zu fördern." Daß nur vier von zehn zwischen 1872 und 1878 gestorbenen Säuglingen ärztlich behandelt worden seien, interpretiert der Autor als Beleg für seine These. Gussmann schätzt, daß höchstens jeder zweite Säugling über längere Zeit gestillt wurde. Am Stillverhalten setzt er dann auch wie seine Vorgänger mit Vorschlägen zur Verbesserung der Säuglingsernährung an. Die Stuttgarter Ärzteschaft bemühe sich seit Jahren, die Hebammen dafür zu gewinnen, die Mütter zum Stillen anzuhalten. Auf Gussmanns Initiative hin erhalte seit 1879 jede junge Mutter vom Stuttgarter Standesamt eine gedruckte „präzise kurzgefaßte Anleitung zur Ernährung und Pflege ihres Kindes". Doch anders noch als Cless zehn Jahre zuvor beließ es Gussmann nicht bei Appellen und Aufklärungsarbeit. Er war sich durchaus bewußt, daß gerade ärmere, auf außerhäusliche Arbeit angewiesene Mütter den zeitgenössisch üblichen Still-Appellen nur bedingt zugänglich sein konnten. Stuttgart sei daher bei der Versorgung der nichtgestillten Kinder mit der Einrichtung einer Milchkur-Anstalt „den meisten deutschen Städten mit gutem Beispiel vorangegangen." Die städtische Anstalt versorge vor Ort mit frischer hochwertiger Kuhmilch eine ganze Reihe von Säuglingen. Freilich gestatte der hohe Preis dieser Milch „gerade der ärmeren Bevölkerung, die es am meisten bedürftig wäre, nur in Ausnahmefällen davon nachhaltigen Gebrauch für ihre Kinder zu machen." Diesem Widerspruch stand jedoch auch Gussmann hilflos gegenüber. Offensichtlich war die sozial engagierte private Kinderfür-

18 Vgl. Μ. v. Pettenkofer, Über den Werth der Gesundheit für eine Stadt. Zwei populäre Vorlesungen, in: Populäre Vorträge, Braunschweig 1876. 19 Gussmann, Kindersterblichkeit, in: Die sanitären Verhältnisse und Anstalten der Haupt- und Residenzstadt Stuttgart. Festschrift zur siebten Versammlung des deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege, Stuttgart 1879, S. 63ff. Hieraus auch die folgenden Zitate. 20 Als Vergleichszahl für den deutschen Städtedurchschnitt (Städte mit mehr als 15.000 Einwohnern) gibt Gussmann 37,8% an; Gussmann, Kindersterblichkeit, S. 63ff.

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sorge, die beispielsweise der Kinderrettungsverein und der Verein für Kinderfreunde leisteten, dem Problem keinesfalls gewachsen. Höchstens 60 Krippenplätze standen für entwöhnte Kinder auf außerhäusliche Beschäftigung angewiesener Mütter Ende der 1870er Jahre zur Verfügung. Die Versuche des bürgerlichen privaten wohltätigen Kreises in Stuttgart und die zaghaft beginnende öffentliche Fürsorge für Mütter und Kinder aus sozial minderbemittelten Kreisen reichten auch in den nächsten Jahrzehnten keineswegs aus, die Säuglingssterblichkeit insbesondere in den Unterschichten in den Griff zu bekommen. Dies zeigt die schichtspezifische Entwicklung der Stuttgarter Säuglingssterblichkeit zwischen 1830 und 1920 (Abbildung 2), wie sie sich anhand des Stuttgarter Datensatzes rekonstituierter Familien ermitteln läßt. Schon vor der Industrialisierung hatten Kinder aus Oberschichtfamilien deutlich höhere Chancen als Kinder der Mittel- und Unterschicht, das kritische erste Jahr zu überleben. Doch während in Mittel- und Oberschicht die Säuglingssterblichkeit nach den besonders „gefährlichen" 1860er Jahren sich, abgesehen von einem Einbruch nach der Jahrhundertwende, kontinuierlich weiter verringerte, stieg sie in Stuttgarts, nach Meinung mancher zeitgenössischen Beobachter gar nicht existierenden, Proletariat gegen Ende des Jahrhunderts erst noch einmal kräftig an. Für die Residenz mit ihrem gemäßigten industriellen Wachstum und ihrem sozial relativ gut abgefederten medizinischen Auffangnetz läßt sich somit die gleiche Entwicklung feststellen, die Spree als typisch für die sozial differenzierte Säuglingssterblichkeit im Kaiserreich charakterisiert: Anstieg der Säuglingssterblichkeit in der Unterschicht bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung der sozialen Unterschiede. 21 Starben in den 1830 Jahren etwa doppelt so viele Säuglinge in der Unterschicht wie in der Oberschicht, so vervierfachte sich der Unterschied in den Lebenschancen bis in die 1890er Jahre, und auch der Abstand zwischen Mittel- und Unterschicht vergrößerte sich. Daß für das Ausmaß der Säuglingssterblichkeit nicht nur die Einkommenslage der Familienhaushalte verantwortlich zu machen war, sondern durchaus auch die innerfamiliäre Arbeitsorganisation, zeigt der Vergleich der Sterblichkeitsrate mit der jeweiligen Stellung im Beruf des Vaters (Abbildung 3). In Stuttgart bestätigt sich das inzwischen hinlänglich bekannte Phänomen der guten Überlebenschancen von Kindern aus Angestellten- und Beamtenfamilien. Schon in den 1830er Jahren erreichte hier die Säuglingssterblichkeit, Einkommens· und Ausbildungsunterschiede nivellierend, ein derart geringes Ausmaß, wie es insgesamt erst die Weimarer Republik kennzeichnete. In den betroffenen Familien war traditionell jenseits der Einkommensdifferenzierung die Tätigkeit

21 Vgl. R. Spree, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod, Göttingen 1981, insbesondere zur Säuglingssterblichkeit, S. 49-93.

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der Frauen in der Regel auf innerhäusliche familiennahe Aufgaben beschränkt, und das neue bürgerliche Frauenideal, das der Mutterschaft einen kaum noch weiter zu überhöhenden Stellenwert fur die Definition des weiblichen Geschlechtscharakters zuwies, fand in der Angestellten- und Beamtenschaft schon früh nachhaltige Aufnahme. Dagegen war im vorindustriellen Stuttgart die Säuglingssterblichkeit bei den Selbständigen besonders hoch. Hier war im überwiegend kleinen Weingärtneroder Gewerbebetrieb die Mitarbeit der Frauen, auch der Mütter mit kleinen Kindern, durchaus erforderlich. In den Zuständigkeitsbereich der Frauen fiel u.a. der Verkauf landwirtschaftlicher und gewerblicher Produkte auf dem Markt. Daß bei dadurch bedingter längerer Abwesenheit von Zuhause die Kinder unterversorgt blieben oder frühzeitig abgestillt wurden, liegt auf der Hand und wurde von den Zeitgenossen durchaus beobachtet.22 Auch die in Stuttgart intensiv betriebenen Stillkampagnen vermochten an den wirtschaftlichen Erfordernissen der Selbständigen-Haushalte wenig zu ändern. Erst nach der Jahrhundertwende begann sich in diesem Kreis die Säuglingssterblichkeit zu verringern. Daß im vorindustriellen Stuttgart die Säuglingssterblichkeit nicht nur von der Einkommenslage der Familien abhing, sondern deutlich von der außerhäuslichen Arbeit der Mütter bestimmt war, läßt sich auch anhand der Arbeiterhaushalte veranschaulichen. Zwar ist der immer noch weitverbreiteten Ansicht, Arbeiterehefrauen wären keiner Erwerbsarbeit nachgegangen, zu widersprechen. Selbstverständlich trug ein Großteil der Arbeiterehefrauen zum Familieneinkommen bei, doch Zeitungaustragen, Putzen, Wäschedienste und ähnliche Wartdienste waren mit dem kostengünstigen Stillen zeitlich vermutlich leichter vereinbar als die zumindest an Markttagen halb- bis ganztägige Abwesenheit der Ehefrauen der Gewerbetreibenden oder Bauern. Entsprechend lag bis um die Jahrhundertmitte die Sterblichkeitsrate der Arbeiterkinder unter der der Selbständigen. Erst im Zuge der Industrialisierung der Stadt und der sich verstärkenden sozialen Probleme, erst als der wachsende Bevölkerungsdruck zur Überfüllung sanitär schlecht ausgestatteter Arbeiterquartiere führte, stieg die Säuglingssterblichkeit in Arbeiterfamilien erheblich an und übertraf schließlich sogar die Werte in Selbständigenhaushalten.

22 „In der Lebensweise der Weiber finden wir einen Hauptgrund für die große Sterblichkeit der Säuglinge. Die Weiber tragen Tag für Tag in der Frühe des Morgens eine Last Milch auf dem Kopf nach Stuttgart herab". R. Köhler, Über den Einfluß der Lebensverhältnisse auf die Sterblichkeit der Kinder, in: Medicinisches Correspondenzblatt (1851), S. 209ff., hier: S. 219.

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Der Vergleich der Sterblichkeitsraten von Arbeiter- und Selbständigenhaushalten über das 19. Jahrhundert hinweg ist somit bestens geeignet, zwei gegenläufige Tendenzen zu veranschaulichen, die sich offenbar in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts überschnitten: Die zunehmende Freistellung junger Mütter für Kinderpflege in Angestellten-, Beamten- und Selbständigenfamilien, in Mittel- und Oberschicht verbesserte die Überlebenschancen ihrer Kinder, während gleichzeitig die sich ausweitende Unwirtlichkeit in den sanitären und häuslichen Lebensbedingungen im Rahmen einer sich industrialisierenden Stadt die Lebenschancen von Arbeiterkindern nachhaltig verschlechterte. Erst die durchdringende Verbesserung der hygienischen und sanitären Wohnverhältnisse im städtischen Raum konnte hier Abhilfe schaffen. Wie sehr selbst noch um die Jahrhundertwende die sich insgesamt drastisch verringernde Säuglingssterblichkeit aus einer Gemengelage von Einkommen, Familiennahrungsquelle und, damit zusammenhängend, familialem Lebensstil zu erklären ist, läßt sich anhand des Zusammenhangs von versteuertem Einkommen (1913), Stellung des Vaters im Beruf und Säuglingssterblichkeit veranschaulichen (Abbildung 4). Die guten Chancen der Säuglinge in Angestellten· und Beamtenhaushalten waren durch eine etwaige besonders günstige Einkommenslage der Familie kaum noch zu verbessern. Während bei Selbständigen erst bei sichtlich guten Einkommenslagen und vermutlich entsprechend besserer Versorgung der Kleinkinder bzw. Freistellung der Mütter für die Kinderpflege die Säuglingssterblichkeit verringert werden konnte, wurden die Überlebenschancen von Arbeiterkindern direkt von der Einkommenslage und den zugehörigen Lebensverhältnissen geprägt. Anläßlich der öffentlichkeitswirksamen überregional ausgerichteten Ausstellung für Gesundheitspflege in Stuttgart 1914 präsentierte sich die Stadt stolz als Metropole mit nur noch mittlerer Säuglingssterblichkeit im deutschen Städtevergleich. „Von den zahlreichen Momenten, welche des weiteren die Säuglingssterblichkeit beeinflussen, haben die drei wichtigsten Erwähnung gefunden, nämlich der Einfluß der Ernährung, insbesondere nach dem Gesichtspunkt der natürlichen oder unnatürlichen, d. h. künstlichen Aufnährung, sodann die Bedeutung der sozialen Verhältnisse, die besonders in der Legitimität der Kinder und der sozialen Stellung der Eltern zum Ausdruck kommt, und endlich die Einwirkung klimatischer Einflüsse, besonders der sommerlichen Hitze, wie sie z.B. im Sommer 1911 deutlich wurde. Die hieraus entspringenden Nachteile nach Möglichkeit zu bekämpfen, hat sich die Säuglingsfürsorge zur Aufgabe gemacht, und sie hat als sog. ,offene' durch Belehrung, Beaufsichtigung der Ziehkinder, Förderung des Stillens, Abgabe zweckmäßiger Säuglingsnahrung usw., und als geschlossene', durch Aufnahme von Kindern in Krippen und

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Kinderhorten und Unterbringung kranker Kinder in Säuglingsheimen, mit Erfolg den Kampf aufgenommen." 23 „...der Gesundheitszustand ist gar so günstig nicht mehr..." Bekanntlich stieg mit sinkender Säuglingssterblichkeit im Verlauf des 19. Jahrhunderts die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern und Frauen im Deutschen Reich. Doch was blieb übrig von den erweiterten Lebenschancen, waren die kritischen Kinderjahre erst einmal überstanden? Wie krank machte die Stadt im Industrialisierungsprozeß ihre erwachsenen Einwohner? Zunächst einige Bemerkungen zur Quelle: Die obigen Überlegungen zur Säuglingssterblichkeit beruhen auf den Kindern der ca. 5.000 rekonstituierten Familien des Stuttgarter Datensatzes, die folgenden nehmen Bezug auf die erfaßten Erwachsenen. Es handelt sich quellenbedingt um eine besondere Erwachsenengruppe, um Männer und Frauen nämlich, die in Stuttgart heirateten und eine eigene Familie gründeten oder verheiratet bzw. verwitwet mit Familie nach Stuttgart zogen. Es ist daher davon auszugehen, daß der Datensatz die Erwachsenensterblichkeit sozial leicht verzerrt abbildet, denn der „Flugsand" der Industrialisierung, diejenigen Ledigen, die nur für kurze Zeit in der Stadt blieben, die nicht Fuß fassen konnten und keine Familie in der Stadt gründeten, rutschten durch das Erhebungsnetz. Die überwiegende Mehrheit der zumindest phasenweise seßhaften Einwohnerschaft Stuttgarts jedoch ist in den folgenden Analysen repräsentativ erfaßt. Betrachtet man die allgemeine Entwicklung der Sterblichkeit in Stuttgart im Vergleich zu Württemberg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Abbildung 5), so bestätigt sich das von den Zeitgenossen vielfach entworfene Bild günstiger gesundheitlicher Lebensbedingungen und bester medizinischer Versorgung in der Hauptstadt des Landes. Denn gemessen an den Verstorbenen pro 1.000 Einwohnern, wies Stuttgart merklich niedrigere Werte als Württemberg insgesamt auf. „Stuttgart genießt das Glück, seit den ältesten Zeiten ausgezeichnete Ärzte zu besitzen. Die Universität Tübingen, welche schon im Jahre 1477 gestiftet wurde, und die Akademie, welche vom Jahre 1775 bis 1793 hier ihren Sitz hatte, gaben immer das Vorzüglichere, was aus ihnen hervorging, der Hauptstadt,"24 so nicht ohne Selbstbewußtsein das Zeugnis in eigener Sache von G. Cless und G. Schübler, den Verfassern der ersten Stuttgarter me23 Ausstellung für Gesundheitspflege Stuttgart 1914. Amtlicher Führer und Katalog. Veranstaltung der Stadt Stuttgart, Stuttgart 1914, S. 151. 24 G. Cless / G. Schübler, Versuch einer medizinischen Topographie der Königlichen Hauptund Residenzstadt, Stuttgart 1815, S. 143.

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dizinischen Topographie aus dem Jahr 1815. In Stuttgart bot sich überdies den Angehörigen des Hofes und dem gehobenen Bürgertum ein reiches Betätigungsfeld in der sozialfürsorgerischen medizinischen Nächstenliebe, eine Möglichkeit, die offenbar gerne genutzt wurde. Ein weiteres Mitglied der Mediziner-Familie Cless errechnete um 1850, daß die medizinischen Stiftungen, die dem Katharinenhospital angeschlossene Krankenversicherung für Lehrlinge und Dienstboten und ähnliche Einrichtungen der Stadt im Bedarfsfall für die kostenlose oder kostengünstige medizinische Versorgung von rund einem Viertel der Einwohnerschaft zuständig waren. Entsprechend euphorische Zensuren verteilte er. Zwar sei auch in Stuttgart, „die moderne Proletariats- und Armenfrage, trotz aller Abarbeitung daran, noch ein ungelöstes Problem geblieben, [...] aber über denjenigen Theil der Armenpflege, der uns hier zunächst angeht, über die Krankenfursorge, muß dennoch das rühmliche Zeugnis abgelegt werden, daß dieselbe in neuerer Zeit durch öffentliche und Privatthätigkeit einen hohen und seltenen Grad von Ausbildung und Vollständigkeit, wie wohl in wenigen Städten, erreicht hat, in Folge dessen nahezu Alles geleistet ist, was im Erkrankungsfalle fremde Vorsorge bieten kann." 25

Mit steigender Bevölkerung konnte die private Mildtätigkeit die medizinische Versorgung der unteren Bevölkerungsschichten wohl nicht mehr im vorindustriellen Ausmaß gewährleisten. Wie die allgemeine Sterblichkeitsentwicklung zeigt, verringerte sich in den 1870er Jahren der Vorsprung der Residenz drastisch. Es sind die Wendejahre zur eigentlichen Industriestadt, in denen offenbar auch in der Erwachsenensterblichkeit die vormals gute Gesundheitslage in der Stadt ins Wanken geriet. Daß sich über das gesamte Jahrhundert hinweg die Lebenschancen der erwachsenen Einwohner Stuttgarts grundsätzlich nicht vergrößerten, läßt sich auch anhand des Stuttgarter Datensatzes belegen (Abbildung 6). Für viele Geburtskohorten ab 1820 war das zu erwartende durchschnittliche Todesalter geringer als im Jahrzehnt zuvor. Männer waren von der städtischen Gesundheitskrise ab den 1870er Jahren (Abbildung 5) offenbar stärker als Frauen betroffen. Der Stuttgarter Datensatz enthält keine Informationen über die Todesursachen. Doch ein Blick in Stuttgarts Geschichte kann die beobachtete Tendenz erhellen helfen: Trotz guter medizinischer Versorgung war auch Stuttgarts Bevölkerung nicht gegen die Seuchenzüge immun, die den Urbanisierungsprozeß im Deutschen Reich begleiteten. Dies zeigte sich bereits nach dem ersten industriellen Wachstumsschub in den 1860er Jahren. Gefahr drohte plötzlich von einer Seite, von der man es in Stuttgart am wenigsten erwartet hatte, von den Pocken. Württemberg gehörte zu den deutschen Territorien, in denen schon zu 25 Cless, Das medicinische Stuttgart, in Briefen an einen Kollegen auf dem Lande, in: Medicinisches Correspondenzblatt (1851), S. 207.

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Beginn des 19. Jahrhunderts die Pockenschutzimpfung verpflichtend für Kleinkinder eingeführt worden war. Kam es lokal zu Pockenausbrüchen, so wurden zusätzlich auch Revaccinationsmaßnahmen durchgeführt. Seit 1803 pflegte man die Kinder in Stuttgart zu impfen, und die Bevölkerung leistete offenbar nicht, wie andernorts durchaus üblich, nennenswerten Widerstand gegen die öffentliche Zwangsmaßnahme. Als sich 1838/39 die Pockenfälle im Oberamtsbezirk Stuttgart häuften, blieb die Stadt von einer Epidemie verschont. Der Stuttgarter Oberamtsarzt Riecke untersuchte die Seuche im Umfeld der Stadt gründlich und wies eindringlich auf die gesundheitsgefährdenden Folgen des sich allmählich erhöhenden Wanderungsvolumens hin. 26 An den Pocken hatten sich in erster Linie solche Einwohner angesteckt, die aufgrund des „unsteten" Lebenswandels der Eltern als Kinder nicht geimpft worden waren. Die gesetzlich vorgeschriebenen Revaccinationen in betroffenen Gemeinden griffen offenbar keineswegs im erforderlichen Maße. Einer angeordneten Wiederimpfung im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Pocken im Stuttgarter Oberamt wurde seinen Erhebungen nach nur in solchen Orten flächendeckend Folge geleistet, in denen die Gemeinde die Kosten übernahm. Mußte die Revaccination privat bezahlt werden, dann ließen sich offenbar nur 25% der Einwohner erneut impfen. Riecke plädierte daher eindringlich für ein Impfgesetz, das die Revaccination im Erwachsenenalter durchgängig zwangsweise vorschrieb. In die gleiche Richtung argumentierte der Stuttgarter Arzt Joseph Reuss beim nächsten Pockenzug in Württemberg, der in den Jahren 1848/50 erfolgte. 27 Doch für eine solche Maßnahme fehlte es an staatlicher Unterstützung und an Zustimmung in weiten Teilen der Bevölkerung. Überdies hätte eine in gewissen Abständen durchgeführte Pockenschutzerneuerung bei den erwachsenen württembergischen Einwohnern das Problem vermutlich nur zeitweilig gelöst, denn binnen kurzem wäre der so erreichte Schutz durch ungeimpfte Zuwanderer aus anderen Teilen des Deutschen Reiches erneut durchlöchert worden. War bei den württembergischen Pockenausbrüchen bis um die Jahrhundertmitte Stuttgart noch glimpflich davongekommen, so änderte sich dies jedoch bald. Zu einer erneuten württembergischen Pockenepidemie kam es 1863, sie führte 1863/64 in Stuttgart, „in einer Ausdehnung, wie sie in unserer Stadt seit Einführung der Kuhpockenimpfung nicht mehr vorgekommen war," zu weit über tausend Erkrankungen, wenn auch nur 47 Pockenkranke starben. 28 Die

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Riecke, Pocken, Varioloiden und Revaccination im Amtsbezirk Stuttgart im Sommer 1838 und im Winter 1838/39, in: Medicinisches Correspondenzblatt (1840), S. 66f. 27 Vgl. J. Reuss, Die Pockenepidemie Württembergs in den Jahren 1848-1850, in: Medicinisches Correspondenzblatt (1853), S. 229ff. 2H Cless, Die Sterblichkeit in Stuttgart im Jahr 1864, in: Medicinisches Correspondenzblatt (1865), S. 24.

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Seuche wütete 1865 noch weiter im Neckarkreis, und da sie in den folgenden Jahren im entfernteren Württemberg nicht zum Erliegen kam, sollte sie schließlich auch wieder nach Stuttgart zurückkehren. Nach 1865 schienen in Stuttgart die Pocken nur auf einzelne Fälle und meist auf Zureisende beschränkt. Im Dezember 1868 schließlich brachen die Pocken erneut mit voller Macht aus. Bis Juni 1870 mußten über 1.300 Pockenkranke in das Katharinenhospital, das Stuttgarter zuständige Krankenhaus, eingeliefert werden. Auch wenn nur 41 Erkrankte bis zum Sommer 1870 starben, so schockierte die zweite Epidemie innerhalb weniger Jahre die Stuttgarter Einwohner doch sehr. „Die stetige Zunahme des menschlichen Verkehrs vermehrt mit jedem Jahrzehnt die Möglichkeit der Verbreitung der Krankheit, für Württemberg und Stuttgart aber kommen noch besondere fördernde Momente dieser Ausbreitung wirksam zur Hilfe, nämlich für das ganze Land die einfache Abschwächung der früheren gesetzlichen Schutzmaßregeln in der Umgebung der Pockenkranken, für Stuttgart und einige andere Mittelpunkte der Intelligenz eine seit Jahren polternd betriebene, zumal von Angehörigen der gebildeten' Classen vielfach willkommen geheißene Agitation nicht nur gegen staatlichen Impfzwang, sondern gegen Impfung und Wiederimpfung überhaupt, j a zuletzt gegen jede, die Verbreitung der Pocken hemmende Maßregel,"

so der grollende medizinische Beobachter des Geschehens.29 „Durch diese von zwei Seiten kommenden, in ihrer Wirkung sich vereinigenden Einflüsse ist Stuttgart zu einem recht wohlvorbereiteten Boden für Pockenepidemien geworden und wird, wenn die Dinge so fortdauern, sich gewiss bald auch auswärts den dauernden Ruf dieser besonderen Eigenschaft erwerben." 30

Tatsächlich kam die Seuche vorerst nicht zum Erliegen. Stuttgart war zu Beginn des deutsch-französischen Krieges keineswegs frei von Pocken.31 Der heute immer noch beliebte Topos, den französischen Kriegsgefangenen die deutschen Pockenzüge zu Beginn der 1870er Jahre anzulasten, bemühte man zwar späterhin auch gerne für Stuttgart, doch die Pocken blieben der Stadt während des Krieges nur einfach treu. Insgesamt sollten 1870/71 jährlich über 600 Einwohner als Pockenkranke in das zuständige Krankenhaus eingeliefert werden. 1870 starben 134 Einwohner an den Pocken, 1871 waren es schließlich 187.32 Erst danach ebbte die Krankheit ab.

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Neuschier, Mittheilung über die Pocken im Katharinenhospital zu Stuttgart im Jahr 1869/70, in: Medizinisches Correspondenzblatt (1870), S. 249. ™ Ebd., S. 249. 31 So O. Köstlin in: Übersicht der Krankheiten, welche während der Jahre 1870 und 1871 zu Stuttgart geherrscht haben: „Die Pockenepidemie wurde gewiß auf dieser bedeutenden Höhe namentlich durch die ausgedehnte Einschleppung schwerer Pockenformen erhalten, welche man überall in Deutschland dem französischen Kriegsgefangenen verdankte", in: Medicinisches Correspondenzblatt (1873), S. 155. 12 Ebd., S. 155.

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Unter den Gesichtspunkten von Wanderung und Impfgesetzgebung führte die Seuche innerhalb der engagierten Stuttgarter Ärzteschaft zu intensiver Diskussion, doch man begriff sie nicht als spezifisch städtisches Problem. Die Krankheit schien auch keine sozialen Unterschiede zu kennen. Zwar zeigt die nähere Analyse der Totenlisten, daß ortsfremde junge Lehrlinge, Gesellen oder Dienstboten besonders häufig unter den Pockentoten anzutreffen waren, was wohl eher als Indiz für mangelnde Pflege bzw. fehlenden Impfschutz zu interpretieren ist. Doch die Pocken machten keineswegs vor den Türen der gut situierten Einwohner halt und bevorzugten augenscheinlich auch nicht spezielle Stadtviertel. Dies war bei der zweiten Seuche, der Typhusepidemie, die Stuttgart im gleichen Zeitraum heimsuchte, anders. Typhusausbrüche waren in der württembergischen Residenzstadt während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder verzeichnet worden. Nach einer Ruhrepidemie 1811 kam es 1819 mit rund 2.000 Erkrankten, von denen immerhin 5% starben, zur ersten großen Typhusepidemie. Sie galt als „eine der bedeutendsten und verheerendsten" Stuttgarts und war „überdies ausgezeichnet durch ihre räumliche Beschränkung." 33 Weitere Ausbrüche folgten 1823 (46 Tote), 1825 (32 Tote), 1835/36 (153 Tote), 1839/40 (elf Tote im Katharinenhospital) und 1845 (94 Tote). Danach vergrößerten sich die zeitlichen Abstände, und die Zahl der Erkrankten verringerte sich. Auf eine schwache Epidemie 1855 folgte erst 1868/69 ein erneuter Typhusausbruch (40 Tote) und ein weiterer bereits wenige Jahre später, 1872/73 (85 Tote). Er traf angesichts der gerade herrschenden Pockenepidemie auf eine sensibilisierte Öffentlichkeit. Anders als bei früheren Ausbrüchen ließ sich diesmal die Ursache plausibel erklären und an den sanitären Verhältnissen der Stadt festmachen. „Zu der hier noch immer bestehenden Pockenepidemie hat sich in der letzten Zeit noch eine Typhusepidemie hinzugesellt, welche energisch sanitätspolizeiliche Maßregeln erfordert, wenn die Epidemie nicht größere Dimensionen annehmen soll", so der Stuttgarter Mediziner Burkart in einer eingehenden Analyse im Medicinischen Correspondenzblatt. 34 „Die Ursache der Entstehung des Typhus ist hier in lokalen Verhältnissen zu suchen, sei es nun mangelhafte Reinigung und Entleerung der Kloaken, mangelnde Ventilation der Wohn- und Schlafgemächer, Zusammenleben von vielen Menschen in engen und schlecht ventilierten Räumen." Die Seuche erweiterte sich in der westlichen Unterstadt von einer Hausinfektion zu einer Straßenepidemie. Sie griff allmählich auf die umliegende Wohngegend über und führte in diesem " Vgl. hierzu G. Cless, Der Typhus in Stuttgart, in: Medicinisches Correspondenzblatt (1878), S. 217ff. 14 A. Burkart, Über die Entstehung der Typhusepidemie in Stuttgart, in: Medicinisches Correspondenzblatt (1872), S. 9ff.

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Stadtteil durchschnittlich in jedem zweiten Haus zu einer Erkrankung. 35 Das Trinkwasser galt hier als sehr schlecht, „und seit einiger Zeit beklag(t)en sich die Bewohner darüber, daß das Wasser hie und da vollständig ungeniessbar sei, weil es zum Theil nach Harn, zum Theil nach thierischen Excrementen rieche." Burkart leitete die Typhusepidemie von einer nachweisbaren Jaucheinfektion des Trinkwassers her. Offenbar gab es von Seiten der Gemeindebehörden Versuche, den Zusammenhang zu leugnen, denn Burkart kommentierte empört: „und wenn es noch duzendmal von officiöser Seite versucht wird, den Eindruck, welcher die Epidemie auf die Stimmung der Bevölkerung gemacht hat, zu verwischen, es wird nimmermehr gelingen; die Bevölkerung im westlichen Stadttheil hat zur Genüge Gelegenheit gehabt, diese Thatsachen mitanzusehen, mit dem Geschmacks- und Geruchssinn zu percipieren; diese sinnlich wahrnehmbaren Thatsachen läßt sich niemand wegdisputieren".

Dem engagierten Artikel folgten weitere. „Es ist unbegreiflich, mit welcher Gleichgültigkeit von vielen Leuten, in Stadt und Land schlechtes, übelschmekkendes Trinkwasser getrunken und zu der Bereitung von Speisen verwendet wird", so der Stuttgarter Mediziner O. Köstlin. 36 In der anschließend geführten medizinischen Debatte einigten sich die Mediziner darauf, trotz der gegenteiligen Thesen des berühmten Pettenkofers in München, für Stuttgart den Zusammenhang der Seuche mit der Trinkwasserqualität als gegeben anzunehmen. „Und dann bildet gewiss die möglichste Herabsetzung der Mortalitätsziffer eine dankbare Aufgabe, nicht nur in hygienischer, sondern auch in nationalökonomischer Beziehung; soll man sich für Stuttgart dabei beruhigen, daß jährlich nur 21,9 von 1.000 Einwohnern sterben? Sollte nicht vielmehr der Versuch gerechtfertigt sein, durch Beseitigung offenbarer Mängel diese Ziffer noch weiter herabzudrücken?",

hatte Reuss bereits vor dem erneuten Ausbruch des Typhus 1872 gefragt. 37 „Organische Fäulnisstoffe, Trinkwasser und Grundwasser stehen jetzt überall im Vordergrunde bei der Erklärung vieler und namentlich der typhösen Erkrankungen. Möchte es dem Zusammenwirken der Behörden und der Ärzte gelingen, auch für Stuttgart die Ursachen jener Krankheiten immer mehr in umfassender und tiefgehender Weise zu erheben," mahnte 1873 Köstlin. 38 Es ist „in unsere Hand gelegt", so Burkart im gleichen Jahr, „den Typhusstand auf noch niederere Zahlen zu reducieren. Es wird also Aufgabe der mit der Gesundheitspflege der Stadt betrauten Behörden sein: 1) Vorsorge zu treffen, daß

35 O. Köstlin, Die Typhusepidemie des Februars 1872 und die Trinkwasserversorgung Stuttgarts, in: Medicinisches Correspondenzblatt (1873), S. 17ff. 36

Ebd., S. 19. Reuss, Über die versuchsweise Einführung des Liernurschen Systems zur Entfernung der Fäkalstoffe, in: Medicinisches Correspondenzblatt (1872), S. 13. 38 Ebd., S. 24. 17

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in Zukunft Infectionen des Trinkwassers vermieden werden können." 39 Es dürfte mit auf die neue Konfrontation mit dem Seuchengeschehen in der Stadt zurückzuführen sein, daß sich 1872 der Stuttgarter ärztliche Verein gründete, der sich als Hauptaufgabe „die Anregung und Förderung von Fragen aus dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege" setzte.40 Die Mitglieder debattierten über die 1872 herrschende Typhusepidemie und die Trinkwasserfrage, besprachen medizinische Präventivmaßnahmen bei ausbrechenden Seuchen im Stuttgarter Hinterland, diskutierten über das Latrinenwesen und die Kanalisation oder die Organisation des Leichenhauses. „Die diesfalligen Wünsche und Anschauungen des Vereins wurden zum öfteren den städtischen Behörden mitgeteilt." 41 Tatsächlich investierten Staat und Stadt in den 1870er Jahren in großem Umfang in die Wasserversorgung und Abfallstoffbeseitigung; beides war der öffentlichen Hand in den 1860er Jahren vielfach noch als zu teuer erschienen. Zwar flammte die öffentliche Debatte um diese Bereiche städtischer Aufgaben auch in den nächsten Jahrzehnten immer wieder auf, doch zu neuen Seuchenausbrüchen kam es in Stuttgart nicht mehr. Jenseits der Überlegungen zur städtischen Quartierbildung stellten die medizinischen Beobachter der Gesundheitsentwicklung in den 1870er Jahren wenig Überlegungen zur sozialen Verteilung von Krankheit und Tod an. Der Stuttgarter Datensatz kann hier durchaus weiterhelfen. Wie Abbildungen 7 und 8 belegen, nivellierte der Tod keineswegs die sozialen Unterschiede im Leben. Je besser sich die soziale Lage von Männern und Frauen gestaltete, desto wahrscheinlicher konnte man ein hohes Lebensalter erreichen. Das galt für die Geburtsjahrgänge zu Beginn und am Ende des Jahrhunderts gleichermaßen und traf auf Männer mehr als auf Frauen zu, bei denen vermutlich die Risiken von Geburt und Schwangerschaft sozial nivellierend wirkten (s.u.). Insbesondere für die zwischen 1840 und 1870 geborenen Männer der Unterschicht verstärkten sich die Lebensrisiken im industrialisierten Stuttgart, vergleicht man ihre durchschnittliche Lebenserwartung mit den Werten der vorangegangenen Generationen. Es muß beim derzeitigen Forschungsstand dahingestellt bleiben, inwieweit die beschriebenen Seuchenausbrüche, zurückgebliebene Gesundheitsschwächen nach durchstandenen Pocken oder Typhus bzw. andere Krankheiten für den Rückgang der Lebenserwartung verantwortlich waren; daß die Lebenserwartung der Männer im beschriebenen Zeitraum zurückging, bleibt jedoch auffällig.

39 A. Burkart, Über das Auftreten der Infectionskrankheiten in Stuttgart, in: Medicinisches Correspondenzblatt (1873), S. 211. 40 Franck , Der Stuttgarter ärztliche Verein in den Jahren 1872 bis 1882, Stuttgart 1882, S. 7. 41 Ebd., S. 7.

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Es sind abschließend noch einige kurze Anmerkungen zum geschlechtsspezifisch erreichbaren Lebensalter unter Berücksichtigung sozialer Schichtung zu machen. Daß über das ganze Jahrhundert hinweg Frauen durchschnittlich älter als Männer wurden, hat sich im Rahmen der allgemeinen Entwicklung der erreichten Todesalter bereits abgezeichnet. Bis zu den Geburtsjahrgängen der 1850er Jahre vergrößerte sich der Abstand in der Lebenserwartung von Frauen und Männern, um sich kurzfristig zu verringern und dann erneut zum alten Trend zurückzukehren. Unter Beachtung der sozialen Schichtung variiert das Bild von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, ohne daß sich klare Entwicklungslinien erkennen lassen. Deutlich wird einzig die durchgängige Übersterblichkeit der männlichen Angehörigen der Unterschicht. Die Analyse der Schicht- und geschlechtsspezifischen Todesalterverteilung hilft das Bild zu klären (vgl. die folgenden Abbildungen). Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg weisen Frauen der Oberschicht im gebärfähigen Alter eine höhere Sterblichkeit als die Männer der gleichen sozialen Gruppierung auf. Erst ab einem erreichten Alter zwischen 50 und 60 erhöht sich die weibliche Lebenserwartung im Vergleich zur männlichen stark. Ähnliches gilt für die Mittelschicht in abgeschwächter Form. Der Kurvenverlauf verweist auf die zeitgenössische medizinische Debatte um die „richtige" (geschlechtsspezifische) Gesundheits- und Geburtsversorgung durch (männliche) Ärzte oder (weibliche) Hebammen. Im gebärfähigen Alter erweist sich offensichtlich die als besser geltende ärztliche Versorgung von Frauen einkommensstärkerer Gruppen als gesundheitsgefährdend. Die geschlechtsspezifischen gesundheitlichen Vorteile der männlichen Ober- und Mittelschichtangehörigen in jüngerem Lebensalter besitzen die Männer der Unterschicht ganz offensichtlich nicht. Zur größeren gesundheitlichen Stabilität ihrer Frauen in der Gebärphase gesellt sich eine deutlich sichtbare männliche Übersterblichkeit ab einem Alter von ca. 40 Lebensjahren insbesondere bei den Geburtsjahrgängen der 1830/50er Jahre, also der Generation von Arbeitern, die ihre mittleren Jahre in der Hochphase der Stuttgarter Industrialisierung verlebten. Man mag für ihr geringes durchschnittliches Lebensalter die Gesundheitsgefährdungen in der jungen Industrie verantwortlich machen. Dafür, daß auch noch dreißig Jahre später die soziale und geschlechtsspezifische Ungleichheit vor dem Tod die Männer der Unterschicht besonders betrifft, kann auch noch ein weiteres zeitgeschichtliches Phänomen herangezogen werden: wie die Stuttgarter Datei belegt, wütete der Erste Weltkrieg keineswegs sozial blind unter den sozialen Schichten. Die männlichen Angehörigen der Unterschicht bezahlten die deutsche Kriegsbeteiligung weitaus häufiger mit dem Tod als die Repräsentanten gehobener Schichten. Welches Resümee zu Krankheit und Tod in der sich industrialisierenden württembergischen Residenz läßt sich unter sozialen und geschlechtsspezifischen Aspekten für das 19. Jahrhundert ziehen? Ausgehend von den guten ge-

132

Sylvia Schraut

sundheitlichen Bedingungen im vorindustriellen Stuttgart zeigte sich mehrerlei: Insgesamt war die Stadt von den gleichen medizinischen Phänomenen betroffen, die sich auch in anderen Städten des 19. Jahrhunderts beobachten lassen. An den Folgen des Urbanisierungsprozesses kam auch Stuttgart nicht vorbei. Die traditionell gut eingeführte familiär gewährleistete Zusammenarbeit von Medizinern und staatlicher/städtischer Beamtenschaft führte vor dem Hintergrund von bürgerlicher Wohlhabenheit und handfestem Eigeninteresse möglicherweise schneller und durchgreifender zum Beginn städtischer Sanierungsbemühungen als in manch anderen Industriestädten. Der sich verschärfenden sozialen Differenzierung in Krankheit und Tod während der Industrialisierung wußte man allerdings auch in der Residenz wenig entgegenzusetzen. Wirkten sich die gesundheitlichen Gefahren im gebärfähigen Alter bei den Frauen in gewissem Umfang noch sozial nivellierend aus, so traf die ungleiche Verteilung der gesundheitlichen Chancen Kinder und Männer der Unterschicht mit besonderer Härte. „Der Tod" hielt auch in Stuttgart „in den Wohnquartieren der minderbemittelten Bevölkerung reiche Ernte." 42

42

F. Westmeyer,

Wohnungselend in Stuttgart, Stuttgart 1911, S. 12.

Krankheit und Tod in Stuttgart

.2, c ο c(/) c ω Ιφ .Q Ο) -C — .J.Qο τ- φ c E -ο s 1 1 Φ ο CT CT Ό 3 C _ :(TJ 1= ^ CO S\s

• Stichprobe Stuttgart • Stuttgart •Württemberg

-Ω Ο o a C M ÇN C M — τ 00

C O m in C O

σ>

h» co

σ> ο

τ-

Geburtsjahrzehnt

Abbildung 3: Säuglingssterblichkeit in Stuttgart nach Stellung des Vaters im Beruf

-

40

-

- Selbständige Arbeiter -

2 ο in

Angestellte u. Beamte

«

Versteuertes Einkommen 1913

Abbildung 4: Säuglingssterblichkeit und Stellung des Vaters im Beruf in Abhängigkeit vom versteuerten Einkommen 1913, Geburten 1890-1919

Krankheit und Tod in Stuttgart

Abbildung 5: Sterblichkeit in Württemberg und Stuttgart 1837-1899, Gestorbene auf 1.000 der Bevölkerung

68

C O O O O O O O O Ô O O O O O O O O T - T - i - T - r - r ' ^ T · ^

Geburtsjahrzehnt

Abbildung 6: Durchschnittliches Todesalter von Frauen und Männern

135

Sylvia Schraut

136

• Unterschicht • Mittelschicht • Oberschicht

σ> ο ο ο 00 τ-

Ο) τΟ 00 τ-

Ο) CNJ ο CM 00 τ-

ο co ο co 00 y—

σ> δ S τ00 —

σ> LO δ ιη τ00 -

ο co δ co 00 τ-

Geburtsjahrzehnt

ο» δ h00 τ-

Ο) 00 δ 00 τ00 -

Abbildung 7: Durchschnittliches Todesalter der Männer nach sozialer Schicht

• Unterschicht • Mittelschicht • Oberschicht

σ> co δ co τ00 —

Ο) δ τ00 -

Ο) ΙΟ δ ΙΟ 00 Τ" Geburtsjahrzehnt

σ> co δ (Ο τ00 —

Abbildung 8: Durchschnittliches Todesalter der Frauen nach sozialer Schicht

Krankheit und Tod in Stuttgart

Todesalter

Abbildung 9: Alterskurven von Frauen und Männern, Unterschicht, Geburtszeitraum 1800/29

Todesalter

Abbildung 10: Alterskurven von Frauen und Männern, Unterschicht, Geburtszeitraum 1830/59

137

138

Sylvia Schraut

Abbildung 11 : Alterskurven von Frauen und Männern, Unterschicht, Geburtszeitraum 1860/89

Abbildung 12: Alterskurven von Frauen und Männern, Mittelschicht, Geburtszeitraum 1800/29

Krankheit und Tod in Stuttgart

Todesalter

Abbildung 13: Alterskurven von Frauen und Männern, Mittelschicht, Geburtszeitraum 1860/89

Todesalter

Abbildung 14: Alterskurven von Frauen und Männern, Oberschicht, Geburtszeitraum 1800/29

139

140

Sylvia Schraut

Abbildung 15: Alterskurve von Frauen und Männern, Oberschicht, Geburtszeitraum 1860/89

Krankheit und Geschlecht Die Übersterblichkeit der männlichen Arbeiter in der Hansestadt Bremen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts*

Von Robert Lee und Peter Marschalck

Einleitung Das Bild der Stadt, vor allem der Großstadt, am Ende des 19. Jahrhunderts ist geprägt durch hohe Sterblichkeit einerseits und durch hohe Zuwanderungen andererseits, die für den Ausgleich dieser Übersterblichkeit zu sorgen schienen. Dieses Bild des gefährlichen, todbringenden Molochs ,Stadt' war nicht neu: schon im 17. Jahrhundert war es von John Graunt entworfen und im 18. Jahrhundert von Johann Peter Süßmilch wortreich bestätigt worden. Die vorindustrielle Verknüpfung von sittlichen und sozialen Aspekten des medizinischen Zustands der Städte wurde im 19. Jahrhundert zugunsten der These von der mit der Industrialisierung einhergehenden Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse aufgegeben. Die neuere Forschung bekräftigt die Annahme, daß die Gesundheitsverhältnisse in den Städten im Laufe dieser Entwicklung durch hohe Zuwanderungen, durch häufige Epidemien sowie durch beengte Wohnverhältnisse und härtere Arbeitsbedingungen auf eine dramatische Weise beeinträchtigt wurden. Konsequenz dieser Entwicklung war die städtische Übersterblichkeit in Europa und insbesondere in Deutschland,1 die etwa in preußischen Städten die demographischen Vorteile jüngerer Zuwanderung bis in die 1890er Jahre hinein übertraf. 2 Dabei scheint in den europäischen Städten

* Die vorliegenden Ergebnisse wurden im Rahmen von Forschungsprojekten gewonnen, die von der Stiftung Volkswagenwerk, Hannover, und dem Wellcome Trust, London, unterstützt wurden. 1 Vgl. J. Vögele, Sanitäre Reformen und der Sterblichkeitsrückgang in den deutschen Städten 1877-1913, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 80 (1993), S. 345-365. Vgl. dazu auch den Beitrag von J. Vögele in diesem Band.

142

Robert Lee und Peter Marschalck

weniger die einheimische Stadtbevölkerung von der Übersterblichkeit betroffen gewesen zu sein als der zugewanderte, außerhalb der jeweiligen Stadt geborene Bevölkerungsteil. 3 Allerdings gibt es bisher nur wenige Erkenntnisse über die Sterblichkeitsunterschiede etwa zwischen Einheimischen und Zugewanderten im allgemeinen sowie über alters-, geschlechts- und berufsspezifische Mortalitätsmerkmale dieser beiden Gruppen. 4 Am Beispiel der Stadt Bremen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts soll eine solche detailliertere Untersuchung der langfristigen Sterblichkeitsentwicklung versucht werden. Das geschieht vor allem durch die Analyse der Sterbefälle für die Jahre 1861-63, 1870-72, 1884-86, 1894-96 und 1904-06 sowie der bremischen Volkszählungen von 1862, 1871, 1885, 1895 und 1905.

Beschäftigung und Zuwanderung Die Stadt Bremen war Teil des bremischen Staates gewesen, zu dem außerdem noch die kleinen Städte Vegesack und Bremerhaven sowie die Dörfer des bremischen Landgebietes gehörten. 1862 hatte der Staat Bremen fast 100.000 Einwohner, von denen etwa zwei Drittel in der Stadt Bremen wohnten; bis 1905 war die Bevölkerung des Staates auf gut 260.000 angewachsen, die der Stadt hatte sich auf mehr als 210.000 verdreifacht. Über 50% des städtischen Wachstums war auf Wanderungsgewinne und auf Eingemeindungen zurückzuführen. Aufgrund des starken regelmäßigen Zuwanderungsüberschusses verzeichnete die Stadt Bremen wachsende Geburtenüberschüsse, jedenfalls keine deutliche Übersterblichkeit. Bis in die 1880er Jahre hinein herrschte eine vorindustrielle Zuwanderungsstruktur vor: ein großer Teil der Einwanderer waren vorwiegend weibliche Dienstboten aus dem näheren hannoverschen bzw. oldenburgischen Umland einerseits und arbeitsuchende Handwerker aus kleineren Städten Nord- und Mitteldeutschlands andererseits. So kamen etwa in den frühen 1830er Jahren rund zwei Drittel der weiblichen Dienstboten und mehr als 50% der Handwerker, die

2

Vgl. H. D. Laux, The Components of Population Growth in Prussian Cities, 1875-1905 and their Influence on Urban Population Structure, in: R. Lawton / R. Lee (Hgg.), Urban Population Development in Western Europe from the Late-Eighteenth to the Early-Twentieth Century, Liverpool 1989, S. 120-148. 3 Vgl. A. Sharlirt, Natural decrease in early modern cities: a reconstruction, in: Past and Present 79 (1978), S. 126-138. 4 Vgl. M. R. Haines, Conditions of Work and the Decline of Mortality, in: R. Schofteld / D. Reher / A. Bideau (Hgg.), The Decline of Mortality in Europe, Oxford 1993, S. 177-195.

Übersterblichkeit männlicher Arbeiter in Bremen

143

zwischen 1840 und 1861 in Bremen das Bürgerrecht erwerben wollten, aus Hannover bzw. Oldenburg. 5 Das Ende des Zunftzwangs in Bremen im Jahre 1862 und die damit verbundene vermehrte Freizügigkeit lockerte die bis dahin geltenden Zuwanderungsbeschränkungen und Zuwanderungskontrollen, die dann mit den Regelungen des Norddeutschen Bundes bzw. des Deutschen Reiches ganz entfielen. Die Zahl der ,Fremden', d.h. solcher Einwohner, die kein bremisches Bürgerrecht hatten, nahm in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts deutlich zu, und immer mehr Zuwanderer kamen auch aus weiter entfernten Regionen. Die traditionellen Zuwanderergruppen der Handwerker und Dienstboten nahmen merklich ab und wurden schließlich bis zur Jahrhundertwende von den gezielt zu industriellen Arbeitsplätzen wandernden Neuankömmlingen abgelöst. Diese hier nur grob umschriebenen Veränderungen der Zuwanderungsstruktur sind für die langfristige Entwicklung der alters-, geschlechts- und berufsspezifischen Mortalität sehr wichtig gewesen. Verschiedene Aspekte sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung: Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, daß Zuwandererbevölkerungen ein jüngeres Durchschnittsalter haben als die entsprechenden einheimischen Bevölkerungsteile. In bezug auf die weiblichen Dienstboten läßt sich darüber hinaus vermuten, daß sie im allgemeinen nach mehreren Jahren des häuslichen Dienstes wieder abgewandert waren, so daß die Sterblichkeit, gemessen an den rohen Ziffern, in der Stadt Bremen eher vermindert wurde. Andererseits stellten zuwandernde Arbeitskräfte gewöhnlich eine bestimmte Auswahl dar, die sich insbesondere auch in gesundheitlicher Hinsicht von der einheimischen Bevölkerung unterschied. Diese günstigere Disposition konnte im allgemeinen jedoch nicht die Sterblichkeitsentwicklung der Stadt Bremen positiv beeinflussen, weil den Zuwanderern meist die jeweils schlechteren und gefährlicheren Arbeitsplätze überlassen worden waren.

Sterblichkeitsentwicklung in Bremen Das Niveau der Sterblichkeit in der Stadt Bremen war während des ganzen 19. Jahrhunderts relativ niedrig, besonders im Vergleich zu den meisten deutschen Großstädten. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts lagen die Sterbeziffern unter 30%o, und sie sanken - nur kurzfristig unterbrochen von einem geringfügigen Anstieg in den 1860er und 1870er Jahren - deutlich im Verlaufe des Jahrhunderts. Nicht sichtbar werden dabei allerdings die unterschiedlichen

5

Vgl. P. Marschalck, Städtische Bevölkerungsstrukturen vor der Industrialisierung, in: H.-G. Haupt / P. Marschalck (Hgg.), Städtische Bevölkerungsentwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert. St. Katharinen 1994, S. 143-172.

Robert Lee und Peter Marschalck

144

Mortalitätsmuster von Einheimischen und Fremden und deren Veränderung im Laufe der Zeit. Schon für die frühen 1870er Jahre läßt sich feststellen, daß Zuwanderer, die in bestimmten ökonomischen Sektoren beschäftigt wurden, eine gegenüber der entsprechenden einheimischen Bevölkerung erhöhte Sterblichkeit aufwiesen. So lagen etwa im Jahre 1871 die altersspezifischen Sterberaten der 21- bis 32jährigen Männer bei den Zuwanderern um rund 60% über denen der Einheimischen (Tabelle 1). Tabelle 1 Altersspezifische Sterbeziffern einheimischer und fremder Männer in Bremen 1871 Einheimische Altersgruppe

Bev. 1871 Gestorbene

Fremde StZ in %o Bev. 1871 Gestorbene

1870-72 21-23

1.261

55

24-27

1.468

28-32

2.257

21-32

4.986

StZ in %o

1870-72 14,5

1.725

43

9,8

1.874

89

15,8

69

10,2

1.563

125

26,7

167

11,2

5.132

280

18,1

66

12,8

Quelle: Jahrbuch für die amtliche Statistik des bremischen Staats 6,1873. Einheimische = in Bremen Geborene; Fremde = außerhalb Bremens Geborene.

Im Jahre 1905 dagegen war die Sterblichkeit der meisten Zuwanderer schon deutlich niedriger als die der einheimischen Bevölkerung (Tabelle 2). Das galt sowohl insbesondere für die wirtschaftlich aktiven männlichen Zuwanderer in den Altersgruppen zwischen 15 und 50 Jahren, deren Werte etwa ein Drittel niedriger lagen als die der einheimischen Männer, als auch, allerdings in einem geringeren Maße, für die zugewanderten Frauen. Dieser Rückgang der Sterblichkeit in der Zuwandererbevölkerung, besonders bei den Altersklassen 15-50 Jahre, war das Ergebnis vor allem veränderter Zuwanderungsstrukturen. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und noch darüber hinaus temporäre Wanderungen von Dienstboten und Handwerkern vorherrschend gewesen waren, verstärkte sich - allerdings gegenüber anderen deutschen Städten arg verzögert - in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts der Anteil permanenter Zuwanderer, deren Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen in den neuen Industrien eine Ansiedlung auf Dauer erleichterten.

Übersterblichkeit männlicher Arbeiter in Bremen

145

Tabelle 2 Altersspezifische Sterbeziffern Einheimischer und Fremder in Bremen 1905 Einheimische männlich Altersgruppen

Fremde

weiblich

männlich

Bev.

StZ

Bev.

StZ

Bev.

weiblich

StZ

Bev.

StZ

15-20

5.635

3,8%o

6.061

3,8%o

4.684

3,l%o

4.480

2,5%o

20-25

3.900

6,6%o

5.368

5,7%o

6.608

4,0%o

5.870

3,8%o

25-30

4.373

6,9%o

4.918

4,7%o

7.099

4,7%o

5.998

4,7%o 5,4%o

30-35

3.486

8,0%o

3.906

5,2%o

6.028

5,5%o

5.118

35-40

2.336

7,l%o

2.727

6,l%o

5.132

7,l%o

4.427

5,9%o

40-45

1.561

1 l,7%o

1.904

6,5%o

4.053

10,6%o

3.658

6,5%o

45-50

1.200

17,2%o

1.639

10,8%o

3.153

13,2%o

3.343

7,5%o

Quelle: Volkszählung vom 1. Dezember 1905, hg. v. Bremischen Statistischen Amt. Bremen 1909, S. 32f.; Sterberegister der Stadt Bremen 1904-1906.

Geschlecht und Mortalität Auf der Grundlage der erhobenen Daten aus den Sterberegistern der Stadt Bremen und der bremischen Volkszählungen wurden für 1862, 1871, 1885, 1895 und 1905 abgekürzte Sterbetafeln berechnet, wobei für 1905 auch zwischen Einheimischen und Fremden unterschieden werden konnte. Bestätigt wird die allgemeine, vermutlich biologisch bedingte Übersterblichkeit des männlichen Geschlechts; nur für einige jüngere Jahrgänge wiesen die Frauen höhere Mortalitätsraten auf (Tabelle 3), die vermutlich nicht auf überhöhte Kindbettsterblichkeit, sondern auf familiäre und häusliche Wohn- und Lebensbedingungen zurückzuführen sein dürften. 6 Arbeitsbedingungen haben sich offensichtlich nicht in den Mortalitätsraten des weiblichen Geschlechts nachhaltig niedergeschlagen, weil ihr Anteil an den Beschäftigten in Industrie und Gewerbe im Jahre 1905 weniger als 20% betragen hatte, obwohl gerade auch Frauen etwa in der Juteindustrie 7 oder in der Tabakverarbeitung 8 stärkeren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt gewesen waren.

6

Vgl. G. Heller / A. E. lmhof, Körperliche Überlastung von Frauen im 19. Jahrhundert, in: A. E. Imhof (Hg.), Der Mensch und sein Körper, München 1983, S. 137-156. 7 Vgl. M. Eilerkamp, Industriearbeit, Krankheit und Geschlecht. Zu den sozialen Kosten der Industrialisierung: Bremer Textilarbeiterinnen 1870-1914, Göttingen 1991. 8 Vgl. D. Burgdorf, Blauer Dunst und rote Fahnen. Ökonomische, soziale, politische und ideologische Entwicklung der Bremer Zigarrenarbeiterschaft im 19. Jahrhundert, Bremen 1984.

10 Vögele/Woelk

Robert Lee und Peter Marschalck

146

Tabelle 3 Übersterblichkeit jüngerer Frauen in Bremen 1862-1905 1862

Altersgruppen

1871

1885

1895

3,3%

3,6%

1-5

14,6%

5-10 21,6%

10-15

1905

30,0%

18,3% 13,3%

18,6%

15-20 3,2%

20-25 Quelle, wie Tabelle 2.

Für beide Geschlechter hatte sich die Lebenserwartung für die voll im Arbeitsprozeß stehenden Altersgruppen der 15- bis 50jährigen erhöht (Tabelle 4). Dabei hatten die jüngeren Altersgruppen jeweils die größten Zuwächse zu verzeichnen. Im ganzen haben die Frauen jedoch am meisten von dieser Entwicklung profitiert, was sich insbesondere auf ihre Lebenserwartung in den späteren Altersjahren auswirkte. Tabelle 4 Lebenserwartung der bremischen Bevölkerung 1862-1905 (in Jahren) Alter

1862

1871

1885

1895

1905

Veränderung 1862-1905

männlich 15

37,5

34,7

40,0

44,0

46,9

9,4

20

34,3

31,7

36,1

39,8

42,7

8,3

30

27,8

25,9

29,0

32,1

34,6

6,8

40

22,0

20,7

22,8

25,0

26,7

4,7

50

16,8

15,8

17,2

18,5

19,6

2,7

weiblich 15

41,8

40,6

46,2

48,4

51,4

9,5

20

38,2

36,9

42,2

44,3

47,2

8,9

30

31,2

30,3

34,6

36,4

39,2

7,0

40

25,0

25,1

27,9

29,0

31.2

6,2

50

18,6

19,2

20,7

21,6

23.3

4,6

Quelle: wie Tabelle 2.

Die Unterschiede in der Lebenserwartung bei der Geburt zwischen den Geschlechtern haben sich insgesamt kaum verändert, der Abstand von vier bis fünf Jahren ist über die Zeit erhalten geblieben. Allerdings vergrößerten sich die Abstände in der Lebenserwartung zugunsten der Frauen zwischen 30 und 50 Jahren beträchtlich: Übertraf die Lebenserwartung der 40jährigen Frauen 1862 die der gleichaltrigen Männer noch um 3 Jahre, so hatte sich dieser Ab-

Übersterblichkeit männlicher Arbeiter in Bremen

147

stand bis 1905 um 50% auf 4,5 Jahre erhöht. Vermutlich war diese Entwicklung bei der Zuwandererbevölkerung sogar noch stärker ausgeprägt: Während im Jahre 1905 dieser Abstand bei den einheimischen 40jährigen 3,8 Jahre betragen hatte, lag er bei den Zugezogenen desselben Alters bei 4,6 Jahre.

Krankheit und Mortalität Leider bieten nur die bremischen Sterberegister der 1860er und 1870er Jahre die Möglichkeit, eine todesursachenspezifische Analyse vorzunehmen. In bezug auf die jüngeren Altersgruppen der 15- bis 25jährigen lassen sich jedoch einige zusätzliche Hinweise auf das Verhältnis von Krankheit und Geschlecht gewinnen (Tabelle 5). Haupttodesursache für beide Geschlechter waren die Erkrankungen der Atmungsorgane, zu denen natürlich auch die Tuberkulose gehörte. Hiervon waren die Frauen in diesen Altersgruppen sehr viel stärker betroffen als die Männer. Umgekehrt war dieses Verhältnis in bezug auf gewaltsame Todesfalle, die häufig Ergebnis schlechter und gefährlicher Arbeitsbedingungen gewesen waren. Tabelle 5 Todesursachen nach Alter und Geschlecht 1861-63 und 1870-72 Todesursachen

15-20 Jahre männl.

20-25 Jahre

weibl.

männl.

Verschiedene (incl. Unfälle)

34,8%

9,5%

25,8%

Infektionskrankheiten

16,2%

14,3%

14,1%

0,3%

3,6%

Entwicklungsstörungen Erkrankungen des Verdauungstraktes Erkrankungen der Atemwege

-

weibl. 5,2% 10,1% 11,0%

1,4%

1,2%

1,5%

1,8%

31,0%

53,0%

45,1%

57,5% 2,2%

Kreislauferkrankungen

1,7%

3,0%

3,1%

Nervenerkrankungen

6,2%

7,7%

5,5%

5,7%

Erkrankungen des Knochengerüsts

3,8%

1,2%

1,5%

0,9%

Unterleibserkrankungen

4,1%

6,5%

2,8%

3,9%

Tumoren, Krebs, etc.

0,3%

-

0,6%

0,9%

326

228

Gesamtzahl der Todesfälle

290

168

Quelle: Sterberegister der Stadt Bremen 1861-1863 und 1870-1872.

Einige derjenigen Todesursachen, die in engem Zusammenhang mit den allgemeinen Lebensbedingungen wie mit den konkreten Arbeitsverhältnissen standen, verdeutlichen unterschiedliche Erkrankungsrisiken von Einheimischen und Zugezogenen. Sowohl 1862 als auch 1871 waren die Mortalitätsraten für zugewanderte Männer aufgrund von gewaltsamen Todesfällen und Unfällen nahezu dreimal so hoch wie die der einheimischen Männer. Im Gegensatz dazu

148

Robert Lee und Peter Marschalck

waren die Sterblichkeitswerte aufgrund von Infektionskrankheiten in der einheimischen Bevölkerung beträchtlich höher als bei den Zugezogenen, während Alkoholismus und Lebererkrankungen für beide Geschlechter niedrig waren und nahezu gleich geblieben sind.

Beschäftigung und Mortalität Es waren vor allem die Arbeitsbedingungen, die die Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung bestimmten. Vorindustrielle Produktionsweisen waren noch 1862 in der Industrie und im städtischen Gewerbe vorherrschend, in denen überwiegend einheimische Arbeiter beschäftigt waren. Arbeitsplätze für ungelernte, d.h. aber auch fremde Arbeiter waren dagegen eher im Bereich der Handels- und Verkehrsunternehmungen zu finden gewesen. Von den in diesen beiden Wirtschaftssektoren Beschäftigten waren 1862 immerhin gut drei Viertel der einheimischen Arbeitnehmer im Bereich Industrie und Gewerbe tätig, ein Viertel im Bereich Handel und Verkehr. Bei den Zugezogenen war dieses Verhältnis durchaus anders: Über 40% waren im Bereich Handel und Verkehr beschäftigt und weniger als 60% in Industrie und Gewerbe. Diese ungleiche Verteilung von Einheimischen und Fremden auf die beiden wichtigsten Wirtschaftssektoren deutet auch auf eine unterschiedliche Altersstruktur dieser beiden Beschäftigtengruppen in den beiden Wirtschaftszweigen hin. So dürften etwa die einheimischen Arbeitnehmer in Industrie und Gewerbe im Durchschnitt älter gewesen sein als die Zugezogenen in Handel und Verkehr. Das erklärt einerseits die höhere Sterblichkeit der einheimischen Industriebeschäftigten (Tabelle 6), andererseits waren die häufig schlechteren und gefährlicheren Arbeitsplätze im Bereich von Handel und Verkehr eine wesentliche Ursache für die Übersterblichkeit der zugewanderten Arbeitnehmer in diesem Sektor. Die späte und nicht allzu tiefgreifende Industrialisierung in Bremen hatte diese Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessert und Risikounterschiede zwischen den wichtigen Wirtschaftszweigen weitgehend ausgeglichen. Entsprechend hatten sich die früheren Unterschiede in der Verteilung der einheimischen und fremden Arbeitnehmer in den beiden Sektoren Industrie und Gewerbe sowie Handel und Verkehr bis zum Jahre 1905 sehr stark verringert, und auch die branchenspezifischen Mortalitätsraten von Einheimischen und Fremden waren nicht nur erheblich gesunken, sondern hatten sich auch deutlich aneinander angeglichen. Die schichtspezifischen Unterschiede in der Übersterblichkeit des männlichen Geschlechts, insbesondere der männlichen Arbeiter, waren im Verlauf der Industrialisierungsphase zurückgegangen, und das trifft in gleicher Weise auf einheimische wie auf zugewanderte Arbeitnehmer zu. Dagegen waren die geschlechtsspezifischen Differenzen weiterhin bestehen geblieben: In allen Wirtschaftssektoren war auch im Jahre 1905 die branchenspezifische Sterblichkeit der weiblichen Arbeitnehmer erheblich niedriger als die der männlichen.

Übersterblichkeit männlicher Arbeiter in Bremen

149

Tabelle 6 Gestorbene nach Wirtschaftssektoren 1862 und 1905 (im Alter über 14 Jahren in der Stadt Bremen Gestorbene in %o des stadtbremischen Arbeitskräftepotentials) 1862

Einheimische

Fremde

Gesamtbev.

Agrarsektor

13,5

14,8

14,1

Industrie und Gewerbe

20,8

11,5

16,3

Handel und Verkehr

14,0

16,7

15,4

Staatsdienst

15,0

12,6

13,6

Häusliche Dienste 1905

7,9 männl.

Agrarsektor

3,9

4,8

Fremde

Einheimische weibl.

männl.

Gesamtbev.

Weibl.

männl.

weibl.

11,3

-

26,5

Industrie und Gewerbe

8,7

9,8

7,2

1,6

7,7

3,0

Handel und Verkehr

9,7

0,9

9,7

9,7

0,9

Staatsdienst

6,3

6,3

8,1

1,1 3,2

7,5

4,4

Häusliche Dienste

-

6,0

-

-

2,8

19,0

-

-

3,6

Quelle: Zur Statistik des bremischen Staats, Bremen 1862, S. 6ff.; Volkszählung vom 1. Dezember 1905 im bremischen Staate, Bremen 1909, S. 105ff.; Sterberegister der Stadt Bremen 1861-63 und 1904-06.

Schlußbemerkung So deutlich sich auch die Bedeutungsveränderungen der Komponenten Geschlecht und Beschäftigung für die Entwicklung der Mortalitätsmuster im demographischen Übergang wie im industriellen Ausbau der Urbanen Bevölkerungen abzeichnen, so wenig eindeutig läßt sich über die Funktion von Krankheit in diesem Zusammenhang argumentieren. Das hat verschiedene Gründe: Auf der einen Seite sind Krankheiten, die zu Todesursachen werden, häufig das Ergebnis von mehr oder weniger lebenslangen Einflüssen gesundheitlicher, sozialer und wirtschaftlicher Art und darüber hinaus auch noch einer bestimmten genetischen Disposition, die selbst in der Erforschung neuerer Sterblichkeitsstrukturen fast immer weitgehend unbekannt bleiben. Andererseits läßt sich auch nicht immer klären, ob etwa Veränderungen von Todesursachen nur auf veränderte Krankheitsmuster oder auch auf einen Wandel der Definitionen und der medizinischen Registrierungen zurückzufuhren sind. Es wurde versucht, das Verhältnis von Krankheit, Geschlecht und Beschäftigung in ihrer jeweiligen Beziehung zur Mortalität am Beispiel der Stadt Bremen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beleuchten und das Gewicht der einzelnen Komponenten in der langfristigen Entwicklung der Sterblichkeit

Robert Lee und Peter Marschalck

150

abzuschätzen. Mit der Analyse der Sterblichkeitsunterschiede zwischen Einheimischen und Fremden, mit der alters- und geschlechtsspezifischen Untersuchung dieser Zusammenhänge war es möglich, auch Rückschlüsse auf die sich ändernde Übersterblichkeit gerade auch der männlichen Arbeiter zu ziehen. Nur auf der Basis eines solchen differenzierten Ansatzes dürfte es möglich sein, sich einer aussagekräftigen Kausalanalyse der städtischen Mortalitätsentwicklung im demographischen und epidemiologischen Übergang zu nähern.

Anhang: Abgekürzte Sterbetafeln für die Stadt Bremen, 1862-1905

Stadt Bremen, 1862: Gesamtbevölkerung, männlich, COR = 27.07 Alter

nNx

A

irte

ηΡχ



A

e

x

.0

805

224

.24427

.75573

100000

24427

31.13

1.0

2812

125

.16329

.83671

75573

12340

40.03

5.0

3211

44

.06625

.93375

63232

4189

43.45

10.0

3200

19

.02925

.97075

59043

1727

41.35

15.0

4038

41

.04951

.95049

57316

2838

37.52

20.0

3921

44

.05458

.94542

54478

2973

34.35

25.0

3499

39

.05422

.94578

51505

2793

31.19

30.0

2247

32

.06876

.93124

48713

3349

27.83

35.0

2187

44

.09578

.90422

45363

4345

24.70

40.0

1738

37

.10107

.89893

41018

4146

22.05

45.0

1405

41

.13599

.86401

36873

5014

19.25

50.0

1059

31

.13638

.86362

31859

4345

16.89

55.0

897

39

.19608

.80392

27514

5395

14.16

60.0

675

35

.22951

.77049

22119

5076

12.00

65.0

388

25

.27747

.72253

17042

4729

9.84

70.0

251

22

.35948

.64052

12314

4426

7.65

75.0

147

20

.50761

.49239

7887

4004

5.55

80.0

70

19

1.00000

.00000

3884

3884

3.68

Übersterblichkeit männlicher Arbeiter in Bremen

151

Stadt Bremen, 1862: Gesanitbevölkerung, weiblich, CDR = 24.86 Alter .0

nNx

nDx

794

188

A

n^x

ηΡχ



.21171

.78829

100000

21171

e

x

35.12

1.0

2841

123

.15938

.84062

78829

12564

43.42

5.0

3214

42

.06327

.93673

66265

4193

47.28

10.0

3037

22

.03558

.96442

62073

2208

45.30

15.0

3480

24

.03390

.96610

59864

2029

41.88

20.0

4275

31

.03561

.96439

57835

2060

38.26

25.0

3471

35

.04918

.95082

55775

2743

34.58

30.0

2423

29

.05810

.94190

53032

3081

31.24

35.0

2145

33

.07407

.92593

49951

3700

28.01

40.0

1969

32

.07809

.92191

46251

3612

25.06

45.0

1488

25

.08062

.91938

42639

3438

21.97

50.0

1395

29

.09881

.90119

39202

3873

18.67

55.0

1172

38

.14996

.85004

35328

5298

15.45

60.0

1075

45

.18947

.81053

30030

5690

12.73

65.0

676

42

.26889

.73111

24341

6545

10.12

70.0

491

45

.37283

.62717

17796

6635

7.92

75.0

264

37

.51893

.48107

11161

5792

6.15

80.0

178

35

1.00000

.00000

5369

5369

5.09

A

e

Stadt Bremen, 1871: Gesamtbevölkerung, männlich, CDR = 32.64 Alter

nNx

nDx

.0

1092

1.0

4102

«χ

x

Λ

ηΡχ

362

.28437

.71563

100000

28437

27.31

202

.17932

.82068

71563

12832

36.97

5.0

4026

60

.07184

.92816

58731

4219

40.61

10.0

3438

23

.03290

.96710

54512

1793

38.55

15.0

4688

55

.05699

.94301

52718

3004

34.78

20.0

4704

65

.06678

.93322

49714

3320

31.73

25.0

4052

63

.07483

.92517

46394

3472

28.82

30.0

3336

61

.08743

.91257

42922

3753

25.95

35.0

2703

62

.10847

.89153

39169

4249

23.20

40.0

3626

102

.24662

.75338

34921

8612

20.72

50.0

2392

94

.32844

.67156

26309

8641

15.86

60.0

722

46

.27479

.72521

17668

4855

11.18

65.0

513

39

.31941

.68059

12813

4093

9.47

70.0

486

53

.70573

.29427

8720

6154

7.74

80.0

73

17

1.00000

.00000

2566

2566

4.29

152

Robert Lee und Peter Marschalck

Stadt Bremen, 1871: Gesamtbevölkerung, weiblich, CDR = 27.43 Alter

nNx

n^x

ηΡχ



.0

1132

300

.23401

.76599

100000

23401

32.92

A

A

e

x

1.0

3927

201

.18572

.81428

76599

14226

41.82

5.0

3826

45

.05713

.94287

62373

3563

46.90

10.0

3363

16

.02351

.97649

58810

1383

44.60

15.0

4573

32

.03439

.96561

57427

1975

40.61

20.0

5333

45

.04132

.95868

55452

2291

36.97

25.0

4424

53

.05816

.94184

53161

3092

33.45

30.0

3444

56

.07813

.92188

50069

3912

30.36

35.0

2854

52

.08713

.91287

46158

4022

27.72

40.0

4025

74

.16837

.83163

42136

7095

25.13

50.0

3049

69

.20330

.79670

35041

7124

19.21

60.0

1102

42

.17399

.82601

27917

4857

12.83

65.0

880

56

.27451

.72549

23060

6330

10.01

70.0

895

95

.69343

.30657

16730

11601

7.85

80.0

189

44

1.00000

.00000

5129

5129

4.30

Stadt Bremen, 1885: Gesamtbevölkerung, männlich, CDR = 23.27 Alter .0

Λ

A

Λ

ηΡχ

1503

354

.21071

.78929



Α

100000

21071

e

x

36.99

1.0

5547

180

.12189

.87811

78929

9621

45.73

5.0

7235

50

.03397

.96603

69308

2354

47.80

10.0

6394

20

.01552

.98448

66954

1039

44.40

15.0

5683

32

.02776

.97224

65915

1830

40.06

20.0

4656

37

.03896

.96104

64085

2497

36.13

25.0

4139

41

.04833

.95167

61588

2977

32.49

30.0

4363

60

.06647

.93353

58611

3896

29.02

35.0

3993

65

.07821

.92179

54715

4279

25.90

40.0

6127

132

.19449

.80551

50436

9809

22.89

50.0

3330

113

.29012

.70988

40627

11786

17.21

60.0

1141

51

.20102

.79898

28840

5798

12.20

65.0

722

56

.32483

.67517

23043

7485

9.64

70.0

685

75

.70755

.29245

15558

11008

8.07

80.0

165

30

1.00000

.00000

4550

4550

5.50

Übersterblichkeit männlicher Arbeiter in Bremen

153

Stadt Bremen, 1885: Gesamtbevölkerung, weiblich, C D R = 18.78 Alter

nNx

A

n^x

ηΡχ



A

e

x

100000

18493

42.46

1379

281

.18493

.81507

1.0

5588

166

.11216

.88784

81507

9142

50.98

5.0

7302

58

.03894

.96106

72365

2818

53.17

69547

1403

50.22

.0

10.0

6378

26

.02018

.97982

15.0

6132

29

.02337

.97663

68144

1593

46.21

20.0

5843

31

.02618

.97382

66551

1742

42.25

.03592

.96408

64809

2328

38.32

25.0

5331

39

30.0

4885

54

.05378

.94622

62481

3361

34.66

35.0

4345

44

.04938

.95062

59120

2920

31.48

40.0

6613

75

.10733

.89267

56201

6032

27.99

50.0

4240

78

.16847

.83153

50169

8452

20.75

60.0

1564

55

.16162

.83838

41717

6742

13.95

65.0

1234

64

.22956

.77044

34975

8029

11.15

70.0

1237

112

.62326

.37674

26946

16794

8.73

80.0

289

59

1.00000

.00000

10152

10152

4.90

Stadt Bremen, 1895: Gesamtbevölkerung, männlich, CDR = 18.42 Alter

nNx

.0

1733

1.0

e

n^x

ηΡχ

•χ

361

.18866

.81134

100000

18866

42.59

6100

133

.08357

.91643

81134

6780

51.38

A

A

x

5.0

6716

41

.03007

.96993

74354

2235

51.89

10.0

6665

17

.01267

.98733

72118

914

48.42

15.0

7953

33

.02053

.97947

71204

1462

44.01

20.0

7354

44

.02947

.97053

69742

2056

39.88

25.0

6566

42

.03148

.96852

67687

2131

36.01

30.0

5252

46

.04285

.95715

65556

2809

32.10

35.0

4148

50

.05851

.94149

62747

3671

28.43

40.0

7424

121

.15070

.84930

59075

8903

25.04

50.0

4853

134

.24262

.75738

50173

12173

18.59

60.0

1436

56

.17766

.82234

38000

6751

12.95 10.20

65.0

834

51

.26521

.73479

31248

8287

70.0

877

94

.69785

.30215

22961

16023

7.98

80.0

151

31

1.00000

.00000

6938

6938

4.87

154

Robert Lee und Peter Marschalck

Stadt Bremen, 1895: Gesamtbevölkerung, weiblich, CDR = 15.87 Alter

nNx

nDx

Λ

ηΡχ

»x

.0

1730

293

.15614

.84386

100000

15614

47.75

1.0

6224

136

.08374

.91626

84386

7067

55.50

A

e

x

5.0

6647

33

.02452

.97548

77319

1896

56.39

10.0

6574

19

.01435

.98565

75423

1082

52.74

15.0

8431

33

.01938

.98062

74341

1441

48.47

20.0

8029

40

.02460

.97540

72900

1794

44.38

25.0

6486

35

.02662

.97338

71107

1893

40.44

30.0

5113

35

.03365

.96635

69214

2329

36.48

35.0

4654

41

.04310

.95690

66885

2883

32.66

40.0

8349

87

.09904

.90096

64002

6339

29.02

50.0

5703

96

.15526

.84474

57663

8953

21.66

60.0

1930

60

.14423

.85577

48710

7025

14.72

65.0

1368

64

.20942

.79058

41685

8730

11.78

70.0

1507

133

.61234

.38766

32955

20179

9.24

80.0

326

55

1.00000

.00000

12775

12775

5.93

Stadt Bremen, 1905: Gesamtbevölkerung, männlich, C D R = 15.99 Alter .0

Λ

nDx

ηΡχ

2698

531

.17918

«χ

A

e

x

.82082

100000

17918

46.38 55.39

1.0

9874

168

.06582

.93418

82082

5402

5.0

10594

45

.02102

.97898

76680

1611

55.16

10.0

9339

25

.01330

.98670

75068

998

51.29

15.0

10319

36

.01729

.98271

74070

1281

46.94

20.0

10508

48

.02258

.97742

72789

1644

42.73

25.0

11472

64

.02751

.97249

71145

1957

38.65

30.0

9517

61

.03154

.96846

69188

2182

34.68

35.0

7468

53

.03487

.96513

67006

2336

30.73

40.0

5614

61

.05289

.94711

64670

3420

26.75

45.0

4353

63

.06984

.93016

61249

4277

23.10

50.0

6915

163

.21087

.78913

56972

12013

19.65

60.0

3832

174

.37006

.62994

44958

16637

13.56

70.0

1294

117

.62267

.37733

28321

17635

8.59

80.0

248

55

1.00000

.00000

10686

10686

4.51

Übersterblichkeit männlicher Arbeiter in Bremen

155

Stadt Bremen, 1905: Gesamtbevölkerung, weiblich, CDR =13.66 Alter

nNx

nDx

.0

2596

385

1.0

9715

5.0

10528

10.0 15.0 20.0

11238

25.0 30.0 35.0

«χ

A

e

x

n^x

ηΡχ

.13807

.86193

100000

13807

171

.06801

.93199

86193

5862

59.00

53

.02486

.97514

80331

1997

59.16

9428

30

.01578

.98422

78334

1236

55.60

10531

34

.01601

.98399

77098

1235

51.45

53

.02331

.97669

75863

1768

47.25

10916

51

.02309

.97691

74095

1711

43.32

9024

48

.02625

.97375

72384

1900

39.28

7154

43

.02961

.97039

70484

2087

35.27

51.78

40.0

5562

36

.03185

.96815

68397

2178

31.27

45.0

4982

43

.04224

.95776

66219

2797

27.22

50.0

8375

109

.12220

.87780

63422

7750

23.31

60.0

5174

167

.27792

.72208

55672

15472

15.86

70.0

2142

169

.56579

.43421

40200

22744

10.04

80.0

542

82

1.00000

.00000

17455

17455

6.61

Stadt Bremen, 1905: Einheimische, männlich, CDR= 19.07 Alter

nNx

nDx

Λ

ηΡχ



.0

2609

508

.17744

.82256

100000

17744

45.87 54.66

A

e

x

1.0

8818

146

.06411

.93589

82256

5273

5.0

8815

38

.02132

.97868

76983

1642

54.26

10.0

7377

17

.01146

.98854

75342

863

50.39

15.0

5635

22

.01933

.98067

74479

1440

45.95

20.0

3900

22

.02781

.97219

73039

2031

41.80

25.0

4373

30

.03372

.96628

71007

2395

37.93

30.0

3486

28

.03937

.96063

68613

2701

34.16

35.0

2336

17

.03574

.96426

65911

2355

30.46

40.0

1561

18

.05604

.94396

63556

3562

26.50

45.0

1200

21

.08383

.91617

59994

5029

22.92

50.0

2020

44

.19643

.80357

54965

10797

19.79

60.0

1160

53

.37193

.62807

44168

16427

13.41

70.0

432

39

.62201

.37799

27741

17255

8.39

80.0

91

23

1.00000

.00000

10486

10486

3.96

156

Robert Lee und Peter Marschalck

Stadt Bremen, 1905: Einheimische, weiblich, CDR = 15.71 Alter

nNx

nDx

ηΡχ

«χ

.0

2502

366.

.13631

.86369

100000

13631

51.07

1.0

8789

152.

.06686

.93314

86369

5775

58.05

5.0

8690

44.

.02500

.97500

80594

2015

58.07

10.0

7548

24.

.01577

.98423

78579

1239

54.49

6061

23.

.01880

.98120

77339

1454

50.32

15.0

Λ

A

e

x

20.0

5368

30.

.02756

.97244

75886

2091

46.24

25.0

4918

23.

.02311

.97689

73795

1706

42.48

30.0

3906

20.

.02528

.97472

72089

1822

38.43

35.0

2727

17.

.03069

.96931

70267

2157

34.36

40.0

1904

12.

.03102

.96898

68110

2113

30.37

45.0

1639

18.

.05344

.94656

65997

3527

26.26

50.0

2924

43.

.13699

.86301

62470

8558

22.60

60.0

1840

62.

.28837

.71163

53912

15547

15.39

70.0

830

70.

.59322

.40678

38366

22759

9.61

80.0

234

37.

1.00000

.00000

15606

15606

6.32

Stadt Bremen, 1905: Fremde, männlich, CDR = 12.72 Alter

nDx

Λ

iflc

ηΡχ



A

e

x

.0

89

23

.22886

.77114

100000

22886

43.27 54.96

1.0

1056

22

.08000

.92000

77114

6169

5.0

1779

7

.01948

.98052

70945

1382

55.57

10.0

1962

7

.01768

.98232

69563

1230

51.62

15.0

4684

15

.01588

.98412

68333

1085

47.51

20.0

6608

26

.01948

.98052

67248

1310

43.23

25.0

7099

33

.02298

.97702

65938

1515

39.04

30.0

6028

33

.02700

.97300

64423

1740

34.90

35.0

5132

37

.03541

.96459

62683

2220

30.80

40.0

4053

43

.05168

.94832

60463

3125

26.84

45.0

3153

42

.06446

.93554

57339

3696

23.17

50.0

4895

119

.21676

.78324

53643

11628

19.59

60.0

2672

121

.36924

.63076

42015

15514

13.63

70.0

862

78

.62300

.37700

26502

16511

8.68

80.0

157

33

1.00000

.00000

9991

9991

4.76

Übersterblichkeit männlicher Arbeiter in Bremen

157

Stadt Bremen, 1905: Fremde, weiblich, CDR = 11.27 Alter

nNx

nDx

94

1.0

996

5.0

1838

.0

e

ηΡχ

20

.19231

.80769

100000

19231

48.74

19

.07350

.92650

80769

5937

59.23

74833

1810

59.77

9

.02419

.97581

»x

ndx

nix

x

10.0

1880

6

.01583

.98417

73023

1156

56.19

15.0

4470

11

.01223

.98777

71867

879

52.05

20.0

5870

22

.01857

.98143

70988

1318

47.67

25.0

5998

28

.02307

.97693

69670

1607

43.52

30.0

5118

28

.02699

.97301

68062

1837

39.49

35.0

4427

26

.02894

.97106

66226

1917

35.52

40.0

3658

24

.03228

.96772

64309

2076

31.50

45.0

3343

25

.03671

.96329

62234

2284

27.47

50.0

5451

76

.13034

.86966

59949

7814

23.42

60.0

3334

105

.27209

.72791

52136

14186

16.18

70.0

1294

99

.55338

.44662

37950

21001

10.36

80.0

308

44

1.00000

.00000

16949

16949

7.00

Quellen: Sterberegister der Stadt Bremen, 1861-63,1870-72, 1884-86,1894-96, und 1904-06; insgesamt 38.669 Fälle; Volkszählungsergebnisse der Stadt Bremen, 1862, 1871, 1885, 1895, und 1905. Die Sterbetafeln wurden mit dem Programm SURVIVAL 3.0 vom 25.8.1991 (David P. Smith, University of Texas) berechnet: lineare q(x)-Schätzung. Alter

Intervall zwischen dem jeweiligen Alter und dem nächstfolgenden [ .0 = 0-1, 1.0 = 1-5, etc]

Ν

Bevölkerung nach dem Alter, Volkszählungsergebnisse

D

Todesfälle nach dem Alter, Sterberegister (3-Jahresschnitte)

q,p

Sterbe-/Überlebenswahrscheinlichkeit bis zum nächsten Alter

l,d

Sterbetafelbevölkerung / Zahl der Todesfälle bis zum nächsten Alter

e

Lebenserwartung

CDR

Sterbeziffer (Sterbetafelberechnung)

Wien im epidemiologischen Übergang: ein mitteleuropäischer Weg in die Moderne

Von Andreas Weigl

1. Ambivalente Wirkungen von Modernisierungsprozessen Im Modernisierungsdiskurs des ausgehenden 20. Jahrhunderts scheint sich eine differenzierte Betrachtung jener komplexen Wandlungsprozesse durchzusetzen, die die gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Lebensbedingungen in den entwickelten Industriestaaten der Gegenwart prägen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Selbstverständlichkeit. Obwohl die ambivalente Wirkung von Modernisierungsprozessen den „klassischen" Modernisierungstheoretikern sehr wohl bewußt war, geriet der Modernisierungsdiskurs nach 1945 in das Fahrwasser ökonomistischer Simplifizierungen. Diese fanden bei dem hier interessierenden Thema vor allem in der an homöostatistischen Gleichgewichtsvorstellungen orientierten „Theorie des demographischen Übergangs" und ihrer Ableger ihren Ausdruck. Letztlich führte der Versuch, demographischen Wandel anhand des Konstrukts des „homo oeconomicus" zu erklären, in eine wissenschaftliche Sackgasse und kann als gescheitert betrachtet werden. 1 Seit etwa zwei Jahrzehnten haben aber auch manche kulturalistische Deutungen des Projekts Moderne, mit deutlich kulturpessimistischen und teilweise ahistorischen Entwürfen, nicht unbedingt erhellend gewirkt. 2 Eine historisch-demographische Analyse des epidemiologischen Übergangs scheint mir

1 T. SokolL Historische Demographie und historische Sozialwissenschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 32 (1992), S. 407ff.; S. Szreter, The idea of demographic transition and the study of fertility change: a critical intellectual history, in: Population and Development Review 19 (1993), S. 659-701. 2 Kritisch dazu zuletzt etwa H.-U. Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, S. 142-153; T. Sokoll, Kulturanthropologie und Historische Sozialwissenschaft, in: T. Mergel / T. Welskopp (Hgg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 264ff.; R. J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/M. / New York 1998.

160

Andreas Weigl

in diesem Sinn einen Beitrag zu einem Modernisierungsdiskurs liefern zu können, der einerseits Modernisierungsparadoxa eindrucksvoll dokumentiert, gleichzeitig jedoch die durch die Moderne induzierten Ermöglichungen nicht vergessen läßt. Bisherige historisch-demographische Befunde auf Makroebene bestätigen ein erstaunlich ähnliches Muster des langfristigen Rückgangs der Mortalität in den Industriestaaten, wenn auch der zeitliche Ablauf erheblich divergierte. 3 Dieser Rückgang verlief jedoch im Sinne der ambivalenten Wirkung von Modernisierungsprozessen keineswegs linear, sondern diskontinuierlich, wobei vor allem im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zumindest eine Unterbrechung des Mortalitätsrückganges selbst in den entwickelten westeuropäischen Ländern festzustellen ist. Wirft man den Blick auf großstädtische Mortalitätsverläufe, wie im folgenden auf das Beispiel Wien, so könnte man aus einer Fortschrittslogik heraus argumentieren, die niedrigen Mortalitätsniveaus der Gegenwart wären mit einem temporären Anstieg der Mortalität in einer ersten Phase der Transition erkauft, den ich in Anlehnung an die Begriffe „urban penalty" 4 und „early industrial growth puzzle" 5 als „early industrial urban penalty" bezeichnen möchte. Daß dieser Mortalitätsanstieg seine Wurzeln in dem sogenannten „high potential model" 6 von Großstädten vor der Hochindustrialisierung hatte, verwundert nicht weiter, galten doch vormoderne (Groß-)städte nicht ganz zu Unrecht als „große Friedhöfe". 7 Offensichtlich waren sie das jedoch nicht allein, weder in der Vor- noch in der Moderne. 8 Die ambivalente und selektive Wirkung von Modernisierungsoffensiven spiegelt sich bekanntlich nicht nur in dem bis in das späte 19. Jahrhundert wirksamen „urban penalty", sondern auch in der auf globaler Ebene feststellbaren Umkehrung der

3

R. Spree, Der Rückzug des Todes. Der epidemiologische Übergang in Deutschland während des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Historical Social Research 23 (1998) No. 1/2, S. 7-10; J .C. Chesnai , The Demographic Transition. Stages, Patterns, and Economic Implications. A Longitudinal Study of Sixty-Seven Countries Covering the Period 1720-1984, Oxford et al. 1992. 4 G. Kearns, Biology, class and the urban penalty, in: G. Kearns / C. W. J. Withers (Hgg.), Urbanising Britain. Essays on class and community in the nineteenth century, Cambridge et al. 1991, S. 12-30. 5 J. Komlos , Modernes ökonomisches Wachstum und der biologische Lebensstandard, in: E. Schremmer (Hg.), Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode. 17. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Jena 1997, Stuttgart 1998, S. 169AF. 6 J. Landers , Death and the metropolis. Studies in the demographic history of London 16701830, Cambridge 1993, S. 90. 7

C. Cipolla , Before the Industrial Revolution. European Society and Economy 1000-1700, London 21988, S. 165. * C. Galley , The Demography of Early Modern Towns: York in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Liverpool 1998, S. 174.

Wien im epidemiologischen Übergang

161

Stadt-Land-Mortalitätsdifferentiale nach der Jahrhundertwende. 9 Man liegt sicherlich nicht falsch, dies mit einer besonderen Beziehung der Großstädte zur „Moderne", insbesondere auch mit einer besonderen Sensibilisierung in Bezug auf Seuchenabwehr und öffentliche Gesundheitspolitik in Verbindung zu bringen. 10 Der Verlauf des epidemiologischen Übergangs in Großstädten, insbesondere in den Metropolen, scheint daher ganz besonders geeignet, um die komplexe Wirkung von Modernisierungsoffensiven 11 auf die Mortalitätsentwicklung zu beleuchten und gleichzeitig einen Beitrag zum jeweiligen spezifischen Weg in die Moderne - von deutschen und anderen „Sonderwegen" kann wohl mit Blick auf den hier interessierenden Aufstieg des Sozialstaates in den Industrieländern nicht eigentlich gesprochen werden 12 - aus historischdemographischer Sicht zu liefern. Dies hat auch den Vorteil, eine im Modernisierungsdiskurs wenig beachtete Dimension menschlicher Existenz, nämlich die biologische, mitzuberücksichtigen. Im folgenden soll daher versucht werden, die Periodisierung des epidemiologischen Übergangs, selektive Wirkungen dieses Übergangs und den Wandel des Todesursachen-Spektrums am Beispiel einer mitteleuropäischen Metropole, nämlich Wiens, zu beschreiben, um in weiterer Folge Rückschlüsse auf wesentliche Einflußfaktoren des säkularen Wandels zu ziehen. Schließlich soll noch die Frage erörtert werden, inwieweit der epidemiologische Übergang in Wien Hinweise auf den spezifischen Weg mitteleuropäischer Großstädte in die Moderne liefern könnte.

2. Periodisierung Eine Periodisierung des epidemiologischen Übergangs in Wien leidet an der mangelnden theoretischen Fundierung bisheriger Entwürfe. In Abwandlung der von Reinhard Spree zum Zweck der Operationalisierung des von Omran entwickelten deskriptiven Konzepts eines epidemiologischen Übergangs vorge9 Nach einer Studie, die die Mortalitätsentwicklung in Großstädten in den Jahren 1888-1912 zum Gegenstand hat, war eine großstädtische Übersterblichkeit weltweit nicht mehr zu verifizieren. Vgl. dazu A. Cliff / P. Haggett / M. Smallman-Raynor, Deciphering global epidemics. Analytical approaches to the disease records of world cities, 1888-1912, Cambridge 1998, S. 195-200. 10 A. Labisch / J. Vögele, Stadt und Gesundheit. Anmerkungen zur neueren sozial- und medizinhistorischen Diskussion in Deutschland, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), S. 396; G. Kearns / W. R. Lee / J. Rogers, The Interactions of Political and Economic Factors in the Management of Urban Public Health, in: M. C. Nelson / J. Rogers (Hrsg.), Urbanisation and the Epidemiologic Transition. Uppsala 1989, S. 9-81 11 P. Wagner , Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin, Frankfurt/M. / New York 1995, S. 54f. 12 J. Kocka, Deutsche Geschichte vor Hitler. Zur Diskussion über den „deutschen Sonderweg", in: ders., Geschichte und Aufklärung. Aufsätze, Göttingen 1989, S. 109.

11 Vögele/Woelk

162

Andreas Weigl

schlagenen Kriterien für die Datierung der Transition sollen im folgenden drei Kriterien betrachtet werden: 1. Niveau der durchschnittlichen Lebenserwartung bei der Geburt 2. Trendrichtung der durchschnittlichen Mortalitätsrate 3. Variationskoeffizient der Mortalitätsrate. 13 Das von Spree vorgeschlagene Kriterium „Zahl und Häufigkeit von Jahren mit Sterbeüberschüssen" habe ich durch das Niveau der Lebenserwartung ersetzt, da das Vorzeichen der Geburtenbilanz als Kriterium für den epidemiologischen Übergang einen direkten Zusammenhang zwischen Fertilitäts- und Mortalitätstransition unterstellt, ein Konzept, an dem die „Theorie der demographischen Transition" letztlich scheiterte. Für die Periodisierung des epidemiologischen Übergangs in Wien stellt zweifelsohne die mittlere durchschnittliche Lebenserwartung den zeitlich und räumlich vergleichbarsten Indikator dar. Eine Berechnung der Lebenserwartung vor Mitte des 19. Jahrhunderts bringt allerdings aufgrund des nur in groben Kategorien vorliegenden Altersaufbaus bei vorangegangenen Volkszählungen keine brauchbaren Ergebnisse. Auch danach liegt für einige Zählungen nur ein fünfjähriger Altersaufbau vor, doch läßt sich dieses Problem durch Verteilungsannahmen innerhalb der Altersklassen lösen.14 Ein noch größeres interprétatives Problem stellt der Export von Säuglingssterblichkeit durch die Vergabe von Findelkindern an außerhalb des Stadtgebiets lebende Pflegeeltern dar, der erst in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs seine verzerrende Bedeutung verlor. 15 Seine Wirkung wird bei der Betrachtung der altersspezifischen Mortalitätsraten noch näher zu erläutern sein. Trotz dieser Einschränkungen bleibt festzuhalten, daß ein transformativer Wert der mittleren Lebenserwartung bei der Geburt bei beiden Geschlechtern eindeutig erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreicht wurde. Auf ein posttransitorisches Niveau, eine Lebenserwartung von etwa 55 und mehr Jahren, stieg die Lebenserwartung Mitte der dreißiger Jahre. 16 Das Tempo des Anstiegs der Lebenserwartung

13

Spree, Rückzug des Todes, S. 13. Vgl. dazu Tabelle 1. 15 V. Pawlowsky/ R. Zechner, Das Wiener Gebär- und Findelhaus (1784-1910). Unter Mitarbeit von I. A/50

V e r e i n . Staaten

Großbritannien

Deutschland

162,4

>300

50-100

100-300

217

327

219,3

181

(185)

(264)

(185)

(158)

294

421

317

256

(277)

(402)

(283)

(252)

260

327

254

242

100,3

81,3

Anmerkung: Pro-Kopf-Angaben gelten für alle Gemeinden im Jahr 1875 und für die Städte mit Einwohnerzahlen in den definierten Größenklassen im Jahr 1910 in Reichsmark. Die deutschen Daten für 1875 gelten für preussische Städte mit über 50.000 Einwohnern; die Zahlen in Klammem stellen die Netto-Pro-KopfVerschuldung mit Berücksichtigung der Amortisationsfonds dar und stimmen mit den Daten der deutschen Städte größtenteils überein. Die Schätzungen für 1875 sind an die Preisänderungen angepaßt durch den impliziten Deflationswert für Kapitalbildung wie bei B. Mitchell, Eur. Histor. Statistics: 1750-1970, (New York 1975), Tabelle Kl. Quellen: Deutschland: O. Most, Schulden im Jahre 1910/11, in: Statistisches Jahrbuch deutscher Städte 23 (1913), Tabelle 1 für 1910, und L. Herfurth, Beiträge zur Finanzstatistik der Gemeinden Preussens (I), in: Zeitschrift des Königlichen Statistischen Bureaus, 6. Ergänzungsheft (1878), Tabelle 13 für 1876. USA und Großbritannien: E. Monkonnen, America Becomes Urban, CA 1988, S. 141 und 144 für 1870. Für 1909: United States Bureau of the Census, Financial Statistics of Cities, Washington, D.C. 1913, Tabellen 1, 18 und 21, und Municipal Yearbook (1906), S. 608-613. Tabelle

2

Städtische V e r s c h u l d u n g f ü r den A u s b a u sanitärer I n f r a s t r u k t u r u m 1910 ( D M pro K o p f ) Land

B e v ö l k e r u n g i n 1.000

alle>50 >300

100-300

50-100

USA 57,5

Wasser

62,1

61,5

67,1

Kanal

24,2

31,7

30,9

17,3

A n t e i l sanitär. E i n r i c h t .

0,37

0,27

0,52

0,31

Deutschland Wasser

25

23,1

24,6

29,5

Kanal

29

28

30

27

A n t e i l sanitär. E i n r i c h t .

0,21

0,20

0,20

0,22

Großbritannien Wasser

99

108

68

116

A n t e i l sanitär. E i n r i c h t .

0,32

0,34

0,21

0,39

Anmerkung: Für die USA ist die Verschuldung in Bruttoangaben ausgedrückt, diese wurde nicht um das Vermögen aus Amortisationsfonds korrigiert. Der Durchschnittslohn eines Tagelöhners betrug in Deutschland etwa 3 bis 3,5 Mark, und der Durchschnittslohn eines Arbeiters im Fernstraßenbau in den USA betrug etwa 6 bis 8 Mark täglich, abhängig von der jeweiligen Region. Quellen: Deutschland: O. Most, Schulden im Jahre 1910/11, in: Statistisches Jahrbuch Deutscher Städte 23 (1913), Tabellen 1 und 7. Für die USA: United States Bureau of the Census, Financial Statistics of Cities, Washington, D.C. 1913, Tabellen 1 und 22. Für Großbritannien: Municipal Yearbook (1906), S. 608-613, S. 365375.

Wer bezahlte die hygienisch saubere Stadt? Tabelle

255

3a

Steuern und Netto-Einnahmen aus der Wasserversorgung um 1910 in Städten mit über 50.000 Einwohnern Steuern pro K o p f

Land

Zinsen und T i l g u n g

NettoEinnahmen pro K o p ^

Vereinigte Staaten

8,98

6-8%

Deutschland

4,15

8%

Großbritannien

6,25

4,5%

-0,4 bis 0,8 1,02 -0,3

a

Gewinnberechnung geschätzt für die USA

Anmerkung: Alle Angaben in Mark/Jahr. Die Netto-Einnahmen sind die Differenz zwischen den Pro-KopfEinnahmen und den Ausgaben für den Betrieb, die Zinsen und die Tilgung. Die Netto-Einnahmen für die USA wurden unter zwei Voraussetzungen über die Summe der Zinsen und die Tilgungskosten geschätzt. In: W. Munro, Principles and Methods of Municipal Administration, New York 1915, S. 467f., wird angemerkt, daß 30 Jahre eine gängige Tilgungszeit sind, was eine Tilgungsrate von 2 Prozent bei einer durchschnittlichen Zinsrate von etwa 4 Prozent fur kommunale Verschuldung bedeuten würde, gemäß dem United States Bureau of the Census, Financial Statistics of Cities, Washington, D.C. 1913, Tabelle 24. Das führt zu einer jährlichen NettoEinnahme von 0,8 Mark pro Kopf. Höhere Tilgungsraten, wie z.B. bei den deutschen Wasserwerken, hätten die Einnahmen um -0,4 Mark pro Kopf reduziert. Quellen: fur Deutschland: Statistisches Jahrbuch deutscher Städte 22 (1912). Für Großbritannien : Municipal Yearbook (1916), S. 365-375. Für die USA: United States Bureau of the Census, General Statistics of Cities, Washington, D.C. 1913, Tabellen 7, 9 und 24. Tabelle 3b Steuern und Netto-Verlust für Kanalanlagen um 1910 in Städten mit über 50.000 Einwohnern Bevölkerung in 1000 >300 1 100-300 1 50-100 USA Pro-Kopf-Kosten Pro-Kopf-Beitrag v o n Grundstücksbesitzern Pro-Kopf-Kosten für die städt. Steuerzahler A n t e i l i g e Kosten für die Grundbesitzer K m pro 1.000 Deutschland Pro-Kopf-Kosten Pro-Kopf-Beitrag v o n Grundstückbesitzern Pro-Kopf-Kosten für die städt. Steuerzahler A n t e i l i g e Kosten für die Grundbesitzer K m pro 1.000

5,21 3,20 2,01 66% 2,14

6,91 3,91 3,0 58% 2,55

5,55 3,15 2,4 61% 3,01

4,27 3,07 1,20 66% 0,76

3,56 2,08 1,48 62% 0,80

3,92 2,68 1,24 73% 1,19

Anmerkung: Alle Angaben in Mark/Jahr. Die Gesamtkosten sind die Kosten für Zinsen, Tilgung und Betriebskosten. Die geschätzten Kosten für die Haus- und Grundbesitzer in den USA basieren auf der Differenz zwischen den erfaßten Kosten und der Verschuldung für Kanalausbau, multipliziert mit der durchschnittlichen Zinsrate und Tilgungsrate der Langzeitverschuldung jeder einzelnen Städtegruppe. Die für die Stadt anfallenden Kosten sind die erfaßten Kosten multipliziert mit der durchschittlichen Zinsrate für die Verschuldung und einer Tilgungsrate von 2% plus Kosten. Die Kosten für die deutschen Städte basieren auf den Ergebnissen aus den 30 Kanalausbauprojekten, wobei die Beiträge der Haus- und Grundbesitzer aus jährlichen Einmalgebühren finanziert wurden. Quellen: Für die USA: United States Bureau of the Census, Financial Statistics of Cities, Washington, D.C. 1913, Tabellen 8, 22, 24, 25 und United States Bureau of the Census, General Statistics of Cities, Washington, D.C. 1913, Tabelle 1. Für Deutschland 1910: Statistisches Jahrbuch deutscher Städte 22 (1912).

John C. Brown

256

Tabelle 4 Ergebnisse der Komfortbeurteilung („Hedonic Estimation") Merkmal

Durchschnitt

Koeffizient

Anzahl der Räume Entfernung vom Stadtzentrum (in km) Entfernung vom Stadtzentrum (km2)

4,20 1,87

0,686 -0,197

5,36

Zimmer mit Badewanne

0,20

Kein Kanalanschluß: Abwasserentsorgung in Grube Kein Kanalanschluß: Abwassereinleitung in nahegelegenen Strom Brunnen im Hof

0,13

0,022 (7,92) 0,269 (8,62) -0,85 (4,11) -0,179

0,006 0,03

Anzahl der Haushalte, die sich eine Toilette teilen Gemeinsame Wasserversorgung

0,093

Keine Wasserversorgung

0,007

Keine Toilette

0,005

Gasanschluß

0,29

Elektrizitätsanschluß

0,09

Index unbeheizt

0,184

Balkon

0,30

Esszimmer

0,05

Zusätzliches Zimmer

0,17

Garderobenzimmer

0,093

Pferdestall

0,06

Mansardenzimmer

0,058

Gebäude im hinteren Bereich des Grundstücks Gebäude zwischen hinterem / vorderem Bereich des Grundstücks Dauer des Mietverhältnisses (in Jahren) Vermieter im Gebäude wohnend

0,11

0,47

Konstante 2,24 (21,6)

λ = -0,095 (2,04)

1,43

0,02 4,42

-0,7 (2,86) -0,077 (10,6) -0,024 (2,47) -0,226 (2,43) -0,74 (0,82) 0,052 (3,13) 0,102 (3,36) -0,242 (11,5) 0,033 (1,53) 0,088 (1,37) 0,131 (6,75) 0,050 (1,83) 0,143 (3,36) -0,102 (4,81) -0,081 (4,26) -0,084 (1,78) -0,0022 (2,20) 0,073 (6,17) μ = 0,153 (6,86)

Preis auf dem Wohnungsmarkt (Mark/Monat) 6,4 -6,5

11,9 -3,8 -7,9 3,2 -3,4 -1,1 -10,0 -3,3 2,3 4,5 -10,8 1,5 3,9 5,8 2,3 6,3 -4,5 -3,6 -3,8 -0,1 3,2 Ν = 1515

Anmerkung: Asymptotische /-Werte sind in Klammern angegeben. Die abhängige Variable, die Monatsmiete in Mark (geteilt durch 100) wird durch λ und die Anzahl der Zimmer sowie die Anzahl der Haushalte, die sich einen

257

Wer bezahlte die hygienisch saubere Stadt?

Abort teilen, werden durch μ dargestellt. Die durchschnittliche Miete der Stichprobe betrug 42 Mark pro Monat. Der Einfluß der Merkmale auf die Höhe der Miete wird an der Stichprobe für die ständigen Variablen deutlich und an der Stichprobe für Dummy-Variablen. Zusätzliche Dummy-Variablen variierten je nach Stockwerk und nach der Zeitraum, in dem die Wohnung kontrolliert wurde. Quellen: Ergebnisse der ,Box-Cox'-Schätzung.

Tabelle 5 Beurteilung der Reingewinne aus dem Ausbau der sanitären Infrastruktur (in Mark/Jahr) Art der Kosten Kosten für die Tilgung einer 40 Jahre alten Hypothek zu 6% für Erstanschluß kostete ca. 40 Mark/m Straßenfront (20 m) Jährliche Gebühren von 775.000 Mark geteilt durch 140.000 Wohnungen Steuerzahlungen für den städtischen Anteil an den Kosten Kosten für den Vermieter Marktwertsteigerung, wenn keine Mistgrube für Abwasser benutzt Marktwertsteigerung, wenn Abschwemmungsmöglichkeiten vorhanden Netto Einfluß des Kanalanschlusses auf den Mietspiegel

Betrag 6,6

5,5 7,6 19,7 45,2 95,2 25,5 bis 75,5

Quelle: Ergebnisse aus Tabelle 4 für die Marktwertschätzung. Statistisches Jahrbuch deutscher Städte 22 (1912) für die Kanalanschlußgebühren, die jährlichen Gebühren und Statistisches Jahrbuch deutscher Städte 24 (1914) für die Anzahl der Wohnungen pro Gebäude.

17 Vögele/Woelk

Räumliche Organisation preußischer Städte im 19. Jahrhundert zwecks Funktionalität und Gesundheit

Von Ulrich Koppitz

Einleitung Im Übergang der Darstellung von den gesundheitsförderlichen zu den eher gesundheitsschädlichen Einrichtungen in Städten sei es erlaubt, auf einige weniger eindeutig zuzuordnende, doch sicherlich nicht unwirksame Faktoren hinzuweisen. Auch sind Zweifel anzumelden, wie Funktionssteigerungen - die ja nicht nur durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt, sondern auch organisatorisch erzielt oder begleitet werden können - in ihrer gesundheitlichen Absicht und Wirkung von Fall zu Fall zu bewerten sind. Dabei werden hier die technischen (sog. Assanierungs-) Maßnahmen weitgehend ausgeklammert und dafür die vorbereitenden oder flankierenden räumlichen und administrativen Aktivitäten betrachtet, mit der Fragestellung, inwieweit sie als „Sanitäre Reformen" aufzufassen sind. Denn auch diese nicht technischen Verfahren sind von sozio-ökonomischer Bedeutung, und umwelthygienische Mißstände sowie Assanierungsmaßnahmen müssen traditionell nicht zuletzt als räumliche Probleme verarbeitet werden. Gesundheitliche Auswirkungen dieser seit dem 18. Jahrhundert ergriffenen Maßnahmen und Folgewirkungen müssen vor dem Hintergrund der bereits erheblichen Mortalitätsschwankungen vor der Mitte des 19. Jahrhunderts gesehen werden. Zunächst sollen zwei auffällige Umbrüche der Stadtentwicklung um die Wende zum 19. Jahrhundert behandelt werden, welche in der hygienischen Literatur stets als sanitäre Verbesserungen gefordert oder begrüßt worden sind: erstens die Verlegung der Kirchhöfe als Friedhöfe vor die Städte, und zweitens, wenn auch mit größerer zeitlicher Varianz, die Schleifung der z.T. umfangreichen Befestigungswerke mit oft nachfolgender Anlegung von Parks oder Boulevards. Dazu kann man sich das räumliche Muster einer idealtypischen mittelalterlichen Stadt in Mitteleuropa vergegenwärtigen mit ihren umhüllenden Stadtmauern und -gräben, dem Zentrum mit Markt, Kirche und Kirchhof, mit peripheren Stadtvierteln, häufig sogar vor den Stadtmauern gelegen, die durch unreine Gewerbe oder Hospitäler usw. geprägt sein können. Solche Raumord-

260

Ulrich Koppitz

nungsmuster sind gerade in Nordostdeutschland häufig auf geplante Städtegründungen zurückzufuhren, aber auch in unplanmäßig gewachsenen Städten bildeten sich ähnliche Strukturen heraus.1 Als ein Grundprinzip von Städten ist also von vornherein die räumliche Arbeitsteilung und funktionale Strukturierung festzuhalten, so daß auch vor und während des Aufschwungs des Städtebaus mit den modernen Verkehrs- und Leitungssystemen die Funktionalität des Systems Stadt und damit die Existenz der Stadtbevölkerung durch raumordnende Maßnahmen gesichert wurde. Diese Organisierung soll wegen ihrer konstanten Wichtigkeit ausführlicher dargestellt werden, doch zuvor wird die zur funktionalen Differenzierung führende Rolle der Bauordnungen beleuchtet, welche immerhin mit der konkreten Existenzund damit Gesundheitssicherung befaßt sind. Bislang stehen diese Gegenstände etwas im Schatten der Assanierungsmaßnahmen, obwohl sie nicht nur als Vorläufer, sondern auch zur Umsetzung von Städtebaumaßnahmen im großen Stil von Bedeutung sind. Umbettungen Einen ersten, paradigmatischen Schritt moderner städtischer Raumplanung stellt die Auslagerung von Friedhöfen aus dem inneren Stadtbezirk hinaus dar. Dieser Wechsel vom Kirchhof- zum Friedhofkonzept wurde insbesondere von den Aufklärern mit rein hygienischen Argumenten vehement gefordert, allerdings nicht ohne damit scharfe Kritik am Katholizismus zu transportieren, 2 denn die Erdbestattung in der Nähe der Heiligen, womöglich sogar im Kirchenraum selbst, hing direkt mit dem christlichen Reliquienkult zusammen.3 Dabei gab es schon das ganze Mittelalter hindurch auch sog. „Gottesäcker" fernab von Siedlungen und Kirchen, meist anläßlich von Seuchen und Kriegen 1 Vgl. z.B. Th. Hall, Mittelalterliche Stadtgrundrisse. Versuch einer Übersicht der Entwicklung in Deutschland und Frankreich, Stockholm 1978. 2 Vgl. z.B. Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, Bd. 13, Frankfurt a.M. 1788, S. 32f.: „Gottesäcker (politisch) oder Kirchhöfe in den Städten zu dulden, ist zwar ein alter, doch verwerflicher Mißbrauch. Die fromme Einfalt glaubte ehedem mehr Anspruch auf den Himmel zu haben, wenn sie in oder bey den Kirchen die stinkende Hülle entseelter Menschen verwesen lassen konnten. Die Herren Geistlichen [...] verstunden die Kunst, aus dieser Meinung Einkünfte zu ziehen [...] diesem allem ohngeachtet ist es allemal der Gesundheit nachtheilig, die giftigen Ausdünstungen vermodernder Körper zu verschlucken". 1

J. Schweizer, Kirchhof und Friedhof. Eine Darstellung der beiden Haupttypen europäischer Begräbnisstätten, Linz 1956, S. 27-36; Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste ..., Bd. 3, Leipzig / Halle a. S. 1733 (ND Graz 1961), S. 934; übrigens findet sich dort, Sp. 35, schon hinsichtlich der „Erbauung eines Gottesackers" der bodenrechtliche Grundsatz: „Er muß auch an einem bequemen Orte gebauet werden, also, daß die Bürger ihre Aecker dazu zu verkauffen schuldig seyn."

Räumliche Organisation zwecks Funktionalität und Gesundheit

261

angelegt oder von Minderheiten, so daß sie ein deutlich geringeres Prestige besaßen. Da die Reformation dazu neigte, mit der Reliquienverehrung auch die Bestattung in bzw. bei den Kirchen abzulehnen, und weil die protestantischen Friedhöfe auch keiner Weihe i.e.S. bedurften, waren sie lediglich noch eine Gemeindeangelegenheit.4 Verbote von Begräbnissen in Kirchen aus hygienischen Gründen sind bereits von Justinian, Theodosius und Karl dem Großen überliefert, doch bekanntlich waren es seit Konstantin gerade die Großen, die neben den Geistlichen ihre letzte Ruhestätte häufig in besonders heiligen geschlossenen Räumen wählten. Im aufgeklärten Absolutismus gingen mehrere Dekrete z.B. Josephs II. gegen Begräbnisse in und bei Kirchen 1772 bis 1788 ebenso vor wie das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794.5 In Regionen der Rheinprovinz, deren Kleinstaaten schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Verlegung der Begräbnisplätze anordneten,6 galt zudem seit 1804 einheitlich das französische Dekret über Begräbnisse mit ähnlichen Bestimmungen.7 Die hygienischen Begründungen wandelten sich mit den wissenschaftlichen Konzepten, indem zunächst „Miasmen" und, in Verbindung mit der Phlogistontheorie, eine „mephitische" Luft, später etwa in das Grundwasser eindringendes „Leichengift" und schließlich Kleinlebewesen, Insekten und „Bazillen" bedrohlich erscheinen mußten, während die jeweils überholt erscheinenden Ansichten verharmlosend dargestellt werden konnten. In der zweiten Jahrhunderthälfte verlagerte sich die hygienische Debatte auf den Vergleich der nunmehr gewährleisteten ordentlichen, natürlichen Verwesung mit der technisch perfektionierten, platzsparenden Feuerbestattung, die in preußischen Städten mit den nötigen Einrichtungen ab 1911 alternativ gewählt werden konnte.8 4 Zu landschaftlichen Traditionen von „Feldbegräbnissen" in Süddeutschland vgl. H. Ungericht, Zur Friedhofsentwicklung von Ulm / Donau, in: H.-K. Boehlke (Hg.), Wie die Alten den Tod gebildet. Wandlungen der Sepulkralkultur 1750-1850, Mainz 1979, S. 151; im Falle von Reutlingen wird etwa eine Siedlungsverlegung unter Beibehaltung des frühmittelalterlichen Begräbnisplatzes über Jahrhunderte angenommen; vgl. die grundlegende Studie von Barbara Happe, Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870, Tübingen 1991, hier S. 64. 5 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten 2. Teil Tit. 11,4 §§ 184-186, hg. v. H. Hattenhauer, Frankfurt a.M. / Berlin 1970, S. 549; vgl. Schweizer, Kirchhof, S. 119-123 und Boehlke, Alten, S. 232-233. 6 Vgl. F. Frechen,, Rund um den Golzheimer Friedhof, Düsseldorf 1953, S. 50-59; bemerkenswerterweise war das Erzbistum Köln sogar Vorreiter in dem Bemühen, schon seit 1725 für die Residenzstadt Bonn den sog. Soldatenfriedhof vor den Toren flir die Allgemeinheit obligatorisch zu machen. 7 Vgl. „décret sur les sépultures" v. 12.6.1804, Auszüge u. Übersetzung bei W. Brunner, Das Friedhofs- und Bestattungswesen. Ein Handbuch, Berlin 1927, S. 180-186; zu den Entwicklungen in Frankreich bzw. Paris, welche als Vorbilder für die Entwicklung in Deutschland anzusehen sein dürften, ausführlich P. Ariès, , Geschichte des Todes, München 1982, S. 609-700. 8 Zu Phlogiston vgl. C. Steckner, Über die Luftangst: Chemische Anmerkungen zum Tode, in: Boehlke, Alten, S. 147-150; allgemein: Schweizer, Kirchhof, S. 135-137. Die Betonung der Luftreinheit vor einer solchen des Grundwassers führte Anfang des 19. Jahrhunderts dazu, in einer ein-

Ulrich Koppitz

262

B e i der nachträglichen Abschätzung der v o n Begräbnisplätzen ausgehenden Gesundheitsgefährdung ist zu berücksichtigen, daß die Kirchhöfe v i e l frequentierte öffentliche Plätze waren, a u f denen ständig Begräbnisse u n d ebenso häufig Umbettungen vonstatten gehen mußten, denn m i t dem Wachstum der Städte konnten die eingeengten Begräbnisplätze nicht mithalten. Daher schrumpften Grabtiefe u n d V e r w e i l d a u e r häufig a u f nur ein Fuß unter der Oberfläche bzw. weniger als f ü n f Jahre zusammen, bevor die Leichen enterdigt u n d ins Beinhaus überfuhrt wurden, u n d z u w e i l e n verstärkten eine zu beobachtende „ V e r w e s u n g s m ü d i g k e i t " häufig benutzter Graberde oder das Einsparen v o n Särgen, sowie das gelegentlich häufige Öffnen v o n Familiengräbern die negativen Effekte. 9 Diese Überfullungsprobleme weisen j e d o c h a u f einen weiteren w i c h t i g e n A s p e k t h i n , n ä m l i c h die Ä s t h e t i k , genauer genommen die beabsichtigte Erhabenheit oder zumindest Anständigkeit u n d Ordnung, deren offensichtlicher M a n g e l die A b n e i g u n g gegen Reformen herabmindern mußte. H i n z u k a m w o h l auch

die

zunehmende

Naturbegeisterung,

welche

sich

im

Sittlichkeits-

empfinden gegen den verblassenden Reliquienglauben leichter als gegen den m i t der Restauration einsetzenden Konservatismus durchsetzen konnte. Hatte m a n schon i m Pietismus die „ T o t e n ä c k e r " i m Grünen erbaulich gefunden, so w u r d e n die neuangelegten Friedhöfe als klassizistische Grünanlagen gestaltet,

schlägigen Verordnung der Provinzialregierung in Trier vom 26.7.1839 auf Friedhofsanlagen nicht nur östlich, sondern auch oberhalb der Ortschaften zu drängen, mit dem selbstsicheren Hinweis, „namentlich sind in der Regel medizinische Kenntnisse zu deren Beurteilung nicht erforderlich, zumal es feststeht, worauf es ankommt [...]", so daß eine „Begutachtung durch den Kreisphysikus [...] in der Regel als unnötig unterbleiben soll [...]", s. Brunner, Bestattungswesen, S. 196; über die Problemverlagerung von der Luft zum Grundwasser sowie die nüchterne Gefahrenabschätzung der Verwesung durch Pettenkofer und Pappenheim vgl. B. Happe, Gottesäcker gegen Mitnacht und freyer Durchzug der Winde. Hygiene auf dem Friedhof des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Medizin, Geschichte und Gesellschaft 7 (1990), S. 205-231, hier S. 210-214. Zur Feuerbestattung bereits: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, 10. Aufl. Leipzig 1851 Bd. 2, S. 609, mit der abschließenden Behauptung: „Die bisherige Handhabung hat hier noch immer nicht den [sie.] religiösen, ästhetischen und gesundheitlichen Gesichtspunkten gleichmäßig ins Auge zu fassen gewußt. Vielen größern Städten ist aus den Grüften ihrer Todten bis zur gegenwärtigen Stunde Seuche und Tod gekommen." Zum Feuerbestattungsgesetz vom 14.11.1911: J. Kratter, Leichenwesen einschließlich der Feuerbestattung, in: T. Weyl (Hg.), Handbuch der Hygiene, 2. Aufl. Bd. 2,1, Städtereinigung, Leipzig 1912, S. 188-225, der Gesetzestext mit Ausftlhrungsanweisungen bei Brunner, S. 26-43; zusammenfassend K. Heil, Die Feuerbestattungsliteratur, Berlin 1913, und U. Staiger, Die Auseinandersetzung um die Feuerbestattung in Deutschland im 19. Jahrhundert, Diss. med. Mainz 1981. Die gleichsam natürliche Erdbestattung verteidigt das umfassende Werk von A. Wernher, Die Bestattung der Todten in bezug auf Hygieine, geschichtliche Entwicklung und gesetzliche Bestimmungen, Gießen 1880. 9 Über Nutzungen dieser geheiligten Stätten vgl. Schweizer, Kirchhof, S. 42-45; zu Überfüllung und Mißständen vgl. R. Stremmel (Hg.), Alltag im Kreis Solingen 1823. Dr. J. W. Spiritus und seine medizinische Topographie, Solingen 1991, S. 98f.; zu Düsseldorf Frechen, Golzheimer; zu Neuss, Koblenz oder Tübingen Happe, Gottesäcker, S. 209f.

Räumliche Organisation zwecks Funktionalität und Gesundheit

263

und wenn auch der anfängliche Bewuchs eher spärlich war und die aufwendige Gestaltung im Stile englischer Gärten erst später einsetzte, so kamen die Friedhöfe dem romantischen Sinne zunehmend entgegen.10 Praktische Kompromisse mußten getroffen werden, wenn z.B. hygienische Bedenken eine Bepflanzung vorschrieben, die den Luftaustausch nicht behinderte, während ordnungspolizeilich eine Einfriedung durch Hecken und Bäume gefordert war. Bei der Grundstückswahl waren nicht nur Eigentumsverhältnisse und Erweiterungsmöglichkeiten entscheidend, sondern auch die Bodenbeschaffenheit und eine trockene, kühle Lage, nicht in Hauptwindrichtung zur Stadt, sondern nördlich, damit die trockenen Nordostwinde die Ausdünstungen quasi desinfizierten. 11 Eine äußerst sparsame Handhabung kennzeichnet im Pauperismus die Gestaltung der Friedhofsanlagen, welche die meiste Zeit verschlossen gehalten wurden, doch konnte sich diese restriktive Haltung ebenso wie die strenge Gleichheit und Ordnung der neuen Anlagen auf Dauer nicht behaupten.12 Diese Reihengräber stellten eine räumliche Neuorganisation dar, die hygienische, wirtschaftliche, ordnungspolizeiliche, ästhetische, sittliche und staatsbürgerlich egalitäre Ziele vernünftig vereinen sollte. 13 Das Kräftespiel der Faktoren Hygiene, Ästhetik, Religion und Tradition dazu der simple Problemdruck des relativen Platzbedarfs - war dafür verantwortlich, daß trotz der jahrhundertealten, um die Wende zum 19. Jahrhundert codiflzierten Forderung nach Abschaffung der Kirchhöfe deren endgültige Verlegung in manchen Städten noch bis die 1830er Jahre hinein dauern konnte, 14 in ländlichen Gemeinden sogar bis ins 20. Jh., während vor allem die größeren Städte umgehend für außerhalb gelegene Begräbnisplätze gesorgt haben,

10 Die üblichen Bezüge zur Romantik z.B. bei F. J. Bauer, Von Tod und Bestattung in alter und neuer Zeit, in: Historische Zeitschrift 254 (1992), S. 3-31. Allerdings hatte die Romantik auch den Zauber der alten Kirchhöfe wiederentdeckt. Den eher aufgeklärten als romantischen Charakter der jungen Friedhofsanlagen arbeitet die fundierte Untersuchung von B. Happe, Entwicklungen, heraus, welche in bemerkenswerter empirischer Arbeit die überkommenen Meinungen der Fachliteratur mit den Entwicklungen nach Aktenlage vergleicht und wichtige Korrekturen anbringt. Sogar eine Überbetonung der ästhetischen Aspekte gegenüber den hygienischen muß B. Happe, Gottesäcker, S. 205f., in der Forschung feststellen, was wohl vor allem die volkskundliche und gartenarchitektonische Friedhofsliteratur betrifft. 11 Vgl. u.a. G. A. Grotefend, Das Leichen- und Begräbnißwesen im Preußischen Staate, besonders für Polizei- und Medicinalbeamte, Pfarrer und Kirchenvorstände, Arnsberg 1869, S. 64-67; Happe, Gottesäcker, S. 215-217. 12

Vgl. Happe, Entwicklungen, S. 27-72.

13

Diese Vielfalt der Zielsetzungen des „funktionalen Ordnungsprinzips" stellt Happe, Gottesäcker, S. 224f. heraus. 14 Der katholische Kirchhof im Zentrum von Solingen z.B. war noch bis 1834 in Gebrauch, Stremmel (Hg.), Alltag, S. 187; zur langwierigen Umgestaltung in Zürich vgl. M. ////, Wohin die Toten gingen: Begräbnis und Kirchhof in der vorindustriellen Stadt, Zürich 1992, S. 147-156.

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264

sofern sie solche nicht schon i m A n c i e n régime vorweisen k o n n t e n . 1 5 D o c h i n den meisten Fällen holte das Städtewachstum die verlegten A n l a g e n i m m e r wieder ein, u n d o b w o h l bei der Neuanlage ein Abstand der Friedhöfe v o n etwa 200 m zu W o h n u n g e n eingehalten werden sollte, wurde eine nachfolgende Bebauung der U m g e b u n g nicht konsequent verhindert, zumal in der H o c h i n d u strialisierung zahlreiche K i r c h - u n d Friedhöfe der Umlandgemeinden v o n den wachsenden Großstädten vereinnahmt w o r d e n s i n d . 1 6 Schließlich

mäßigten

1819, 1823 u n d n o c h 1835 preußische Ministerial-Reskripte die A b w i c k l u n g der

gesetzlich

bestimmten

Kirchhofsverlagerungen,

so daß

im

gesamten

19. Jahrhundert häufig Begräbnisplätze innerhalb geschlossener Siedlungen anzutreffen w a r e n . 1 7 M i t den Verlegungsmaßnahmen zu B e g i n n des 19. Jahrhunderts g i n g die Säkularisierung nicht nur der Parzellen, sondern auch des gesamten Bestattungswesens einher u n d dessen V e r w a l t u n g als vorwiegend gesundheitspolizeiliche Angelegenheit b z w . städtische Grünfläche. W i e die Grüften u n d K i r c h h ö fe in der hygienischen Literatur getadelt w o r d e n waren, so konnten seitdem die Friedhöfe geradezu als Stätten der E r h o l u n g gelobt w e r d e n . 1 8

15 Vgl. G. Wagner, Memento mori - Gedenke des Todes! Friedhofs- und Bestattungskultur in Köln gestern und heute, Köln 1995, S. 26-33; E. Gassner, Der Alte Friedhof in Bonn, in: Boehlke, Alten, S. 159-166. In Düsseldorf zogen sich Streitigkeiten um die Auflassung des Kirchhofs St. Lamberti von 1756 bis zur Verlegung 1769 hin, vgl. Frechen, Golzheimer, S. 41-45. Mit der Entfestigung wurde er bereits 1804 wieder verlegt, das Gelände zur Bebauung nach 20 Jahren versteigert; die größeren der später aufgelassenen Friedhöfe wurden als Grünanlagen belassen. 16

Der Kommentator Georg August Grotefend, Begräbnißwesen, S. 63, meinte 1869 entsprechend: „Wäre der Umstand, daß ein Kirchhof von menschlichen Wohnungen begränzt wird, hinreichend um seine Verlegung zu begründen, so hätte die Gesetzgebung auch jeden Bau in der Nähe eines schon bestandenen Kirchhofes verbieten müssen, weil sonst in die Willkühr der Baulustigen gestellt wäre, ob eine Kirchengemeinde ihren Begräbnisplatz verlegen muß." Diese Interpretation der Ministerialrescripte vom 19.2.1823 und 12.11.1835 stand z.B. der Verordnung für den Regierungsbezirk Koblenz vom 1.3.1828 §1, zit. b. Brunner, S. 192, entgegen; zu Friedhofsverlegungen und Vororten vgl. I. Zacher, Düsseldorfer Friedhöfe und Grabmäler. Begräbniswesen und Brauchtum im 19. Jahrhundert, Düsseldorf 1982, S. 191-198. 17

Reskripte v. 18.6.1819, 19.2.1823, 12.11.1835; vgl. Grotefend, Begräbnißwesen, S. 62f., Schweizer, Kirchhof, S. 121-123. In der Folgezeit wurden Friedhöfe ständig vergrößert oder neugegründet, seltener jedoch verlegt, und stellten damit für Jahrzehnte stabile Einheiten städtischer Flächennutzung dar. Vgl. z.B. Stremmel, Alltag, S. 96, S. 186. Medizinalstatistische Untersuchungen der experimentellen Hygiene haben in der Nähe ordentlich geführter Friedhöfe keinerlei erhöhte Morbidität festzustellen vermocht, vgl. Happe, Gottesäcker, S. 212.

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Entfestigungen Auch die Schleifung von Befestigungsanlagen führte häufig zur Einrichtung bzw. Erhaltung von Grünflächen, die hygienisch positiv bewertet wurden, wohingegen die stagnierenden Wassergräben von Festungswerken mit ihren miasmatischen Ausdünstungen für verschiedene Krankheiten, insbesondere Wechselfieber, verantwortlich gemacht wurden. Auch die umfangreichen Umbauten solcher Wasserläufe nach Wegfall ihrer fortifikatorischen Funktionen folgten nicht nur hygienischen, sondern auch ästhetischen und im weitesten Sinne wirtschaftlichen Grundsätzen. Immerhin hatte Johann Peter Frank als Autorität für „medizinische Polizey" gewagt, selbst gegenüber Stadtbefestigungen einige Reform Vorschläge anzubringen, 19 und die Schleifung von Mauern oder Zuschüttung von Gräben wurde von den Hygienikern vor Ort nachträglich begrüßt. 20 Das Thema Entfestigung war als landesherrliches Regal jedoch tabu und bürgerlicher Kritik entzogen, so daß nur strategische Gründe und der allgemeine Kostenfaktor für diese radikalen Maßnahmen in Frage kamen.21 Dabei hatten fast alle deutschen Städte i.e.S. noch bis ins 19. Jahrhundert hinein zumindest Teile ihrer mittelalterlichen Stadtmauern, die zudem steuerrechtliche Bedeutung besaßen, und einige waren sogar zu aufwendigen neuzeitlichen Festungen ausgebaut worden. Durch die ausgiebige und unnachgiebige militärische Flächennutzung von absolutem Vorrang sind Industrialisierung, Urbanisierung und Assanierung der Festungsstädte, in Preußen v.a. Köln und Deutz sowie Wesel im Westen, Posen, Königsberg und Memel im Osten, meist erheblich behindert worden, worauf die mit großer zeitlicher Varianz durchgeführten Entfestigungen neue Entwicklungsmöglichkeiten boten.22 Doch

19 J.P. Frank, System einer vollständigen medizinischen Polizey, Bd. 3, Mannheim 1783, S. 887-889, zu Mauern und Wällen, die er wegen der Luftzirkulation erniedrigen lassen und mit Scharten versehen wollte, sowie Frank, System, S. 925-927, zu Stadtgräben. 20 Vgl. z.B. zu Solingen: Stremmel, Alltag, S. 96, oder Dr. Heineken 1837 zu Bremen, zit. nach Happe, Gottesäcker, S. 210 Anm. 35. Zu Köln meinte Hugo Lindemann, Die Deutsche Städteverwaltung. Ihre Aufgaben auf den Gebieten der Volkshygiene, des Städtebaus und des Wohnungswesens, 2. verm. Aufl., Stuttgart 1906, S. 300f. enthusiastisch: „Endlich sprengte die eingepreßte Stadt in den 1880er Jahren den Festungsgürtel, und der schnelle Verjüngungsprozeß der alten Hansastadt begann, der ihren Bewohnern nicht nur Platz für ihre Häuser und Raum in den Straßen für ihren Handel und Wandel, sondern auch mit Plätzen und Parks Luft und Licht, Bewegungsfreiheit und Naturgenießen brachte." 21 Die Haltung von Städten ihren Garnisonen gegenüber war ohnehin ambivalent. Eine Maßnahme, welche nur beiläufig hygienisch motiviert gewesen sein dürfte, doch einen erheblichen gesundheitspolizeilichen Fortschritt darstellte, war übrigens die zunehmend vollständigere Kasernierung der Truppen anstelle der unsteten Einquartierungen in Privathaushalten auch der Städte seit dem 18. Jahrhundert. 22 Vgl. H. Matzerath, Urbanisierung in Preußen 1815-1914, Stuttgart u.a. 1985, S. 62; eine unvollständige Zeitleiste der aufwendigen Schleifungsarbeiten sowie von Bauordnungen bei G. Fehl /

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interessanterweise befriedigten Staat und Städte im 19. Jahrhundert bei der Umwidmung der umfangreichen Flächen den privaten Immobilien- wie auch den städtischen Kapitalbedarf oft ziemlich unvollkommen zugunsten von wiederum mehr oder weniger gemeinnützigen Anlagen, also großzügigen „Boulevards" oder Bürgerparks. 23 Bauordnungen Festungs- und Residenzstädte, auch wenn sie nicht nach geometrisch strengem Muster angelegt waren, unterstanden besonders intensiver Reglementierung durch den Staat, nicht zuletzt hinsichtlich der Baupolizei, die als ein Teil der „guten Polizey" im kameralistischen Sinne die Ordnung im Staat und damit Reinlichkeit und Gesundheit der Untertanen sicherstellen sollte. 24 In Preußen und den kleineren Territorien, die bis 1815 bzw. 1866 annektiert worden sind, waren traditionell kaum freie Reichsstädte vorhanden, und die „Landstädte" wurden im Zuge der preußischen Reformen mit der StädteOrdnung von 1808 erst mit gewissen Selbstverwaltungrechten ausgestattet, wobei sie von den Bezirksregierungen oder zusätzlich den Landräten überwacht wurden. Grundsätzlich war nach Allgemeinem Landrecht in Preußen die Verfügung über das Grundeigentum frei, aber zugleich wurde die pflichtgemäße Einholung der baupolizeilichen Genehmigungen vorgeschrieben, und in der Praxis bestanden für einzelne Provinzen oder Städte sehr verschiedene Bauvorschriften, die in den 1850er Jahren weiter ausgestaltet wurden. 25 Neben den Bauordnungen auf Provinzebene wurden solche v.a. für größere Städte, die im Westen ohnehin häufig eine eigene Polizeiverwaltung hatten, als Ortsstatute erlassen. 26 Auch in der Epoche des „Hochliberalismus" herrschten in Preußen

J. Rodriguez-Lores (Hg.), Stadterweiterungen 1800-1875. Von den Anfängen des modernen Städtebaues in Deutschland, Hamburg 1983, S. 360f.; eine grobe Liste der Festungsanlagen bei H. Werner, Das bastionare Befestigungssystem und seine Einwirkung auf den Grundriß deutscher Städte, Würzburg 1935. 23

Vgl. Werner, Befestigungssystem, S. 15-17.

24

Im „System einer vollständigen medizinischen Polizey" hat J. P. Frank entsprechend den ganzen 2. Teil des 3. Bandes der „Anlage der Wohnplätze" gewidmet. 25 Freiheit des Grundeigentums in ALR T. I Tit. 8 Art. 65, Genehmigungspflicht ebenda Art. 67 ( bis Art. 82); vgl. S. Fisch, Stadtplanung im 19. Jahrhundert. Das Beispiel München bis zur Ära Theodor Fischer, München 1988, S. 103, S. 107; und zu früher Differenzierung Matzerath, Urbanisierung, S. 142f. Kritik bei Silberschlag, Die Baugesetze des preussischen Staates in sanitätspolizeilicher Hinsicht betrachtet und verglichen mit den entsprechenden englischen Gesetzen; Bedürfnis der Reform dieser preussischen Gesetze, in: Deutsche Vierteljahrsschrift ftir öffentliche Gesundheitspflege 6 (1874), S. 385-392. 26

In Düsseldorf wurde die Baupolizei schon 1835 durch Ortsstatut Angelegenheit der Ortspolizei bzw. des Bürgermeisters, vgl. O. Most, Geschichte der Stadt Düsseldorf (1815-1856), Düssel-

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tendenziell obrigkeitsstaatliche Verhältnisse, u n d das baupolizeiliche Genehmigungsverfahren sowie etwaiges späteres Einschreiten sind beispielhafte M a ß nahmen gegenüber allzu liberalen Hausbesitzern oder sogar Fabrikanten. 2 7 D i e Standardisierung der Baumaßnahmen zur Verhütung v o n Unfällen, insbesondere den noch h ä u f i g katastrophalen Bränden - also zur Erhaltung der Gesundheit v o n Bauenden u n d Wohnenden - arbeitete zunächst m i t Vorschriften gegen Einsturzgefahren u n d über Baumaterialien, w o b e i organische Baustoffe zunehmend zugunsten der anorganischen verdrängt wurden.

Darüberhinaus

w u r d e n auch Bebauungshöhe u n d -dichte u n d damit die Versorgung der W o h nungen m i t Sonnenlicht u n d Frischluft geregelt. 2 8 I m gesamten 19. Jahrhundert ist der T r e n d zu hygienischer Perfektionierung deutlich erkennbar, z.B. durch detaillierte B e s t i m m u n g e n z u m Schornstein-, Brunnen- oder Latrinenbau. D i e städtischen V e r - u n d Entsorgungsnetze schließlich w u r d e n nicht nur ortsstatutarisch begründet, sondern bedurften der Umsetzung i n den entsprechend häufig novellierten Bauordnungen, u n d u m die Jahrhundertwende waren die Bauordnungen besonders beliebt als V e h i k e l stadthygienischer Forderungen. 2 9 dorf 1921, S. 205; selbstverständlich war außerhalb des Geltungsbereichs solcher Bauordnungen für die jeweiligen Stadtbezirke kein baurechtliches Vakuum gegeben, dort galten weiterhin die Bauordnungen der Provinz oder des Landkreises, auch wenn sie z.T. noch aus dem Ancien régime stammen konnten. 27 Vgl. R. Breuer, Expansion der Städte, Stadtplanung und Veränderung des Baurechts im Kaiserreich, in: E. Mai (Hg.), Kunstpolitik und Kunstförderung im Kaiserreich. Kunst im Wandel der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1982, S. 229-231; das vielzitierte „Kreuzberg-Urteil" des Oberverwaltungsgerichts vom 14.6.1882, welches betonen mußte, daß die Baupolizei nicht das Recht hätte, über die Gefahrenabwehr hinaus Nutzungen festzulegen, ist nicht nur später differenziert worden, sondern zeigt auch deutlich die herrschende Verwaltungspraxis, vgl. Breuer, Expansion, S. 233f. und W. T. Kantzow, Sozialgeschichte der deutschen Städte und ihres Boden- und Baurechts bis 1918, Frankfurt a. M. / New York 1980, S. 149. 28 Zur Mannigfaltigkeit der Formeln für Bauhöhe und -dichte vgl. die Tabelle bei J. Stubben, Der Städtebau, Darmstadt 1890, ND Braunschweig 1980, S. 314a; die Wahl des Baumaterials dürfte nicht zuletzt ftlr die Kleinlebewelt und damit auch für die Infektionsmöglichkeiten von einschneidender Bedeutung gewesen sein. 29 Vgl. z.B. E. Mangold, Die Entwicklung des Baupolizeirechts in Düsseldorf, in: Th. Weyl (Hg.), Die Assanierung von Düsseldorf, Leipzig 1908, S. 15-21, oder zu Köln: K. Menne-Thomé , City-Bildung in der mittelalterlichen Altstadt. Zum langsamen Umbau von Köln, in: G. Fehl / J. Rodriguez-Lores (Hgg), Stadt-Umbau. Die planmäßige Erneuerung europäischer Großstädte zwischen Wiener Kongreß und Weimarer Republik, Basel / Berlin / Boston 1995, S. 149-167, hier S. 165-167, zu Frankfurt a.M.: W.-E. Schulz-Kleeßen, Die Frankfurter Zonenbauordnung von 1891 als Steuerungsinstrument. Soziale und politische Hintergründe, in: J. Rodriguez-Lores / G. Fehl (Hgg.), Städtebaureform 1865-1900, Bd. 2, Hamburg 1985, S. 315-342, hier S. 319-325. Zu den Forderungen H. Lindemann, Städteverwaltung, S. 507-537. Allerdings muß festgehalten werden, daß überkommene Verordnungen des Ancien régime bis zurück ins Hochmittelalter schon recht ähnliche Bestimmungen gekannt haben, vgl. z.B. Kantzow, Sozialgeschichte, S. 34-36 und Dirlmeier, Die kommunalpolitischen Zuständigkeiten und Leistungen süddeutscher Städte im Spätmittelalter, in: J. Sydow, Städtische Versorgung und Entsorgung im Wandel der Geschichte, Sigmaringen 1981, S. 113-150. Die Differenzierung von Maßregeln ist nicht nur dem hygienischen Bewußtsein zuzuschreiben, sondern auch der zunehmenden Verschriftlichung und Bürokratisierung.

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Dabei wurde das Innere der Häuser und Wohnungen zunehmend gesünder gestaltet durch die Festschreibung einer funktionalen Differenzierung der Räume mit Küche, Abort, Trockenspeicher, unbewohnbaren Keller- und Abstellräumen usw. Mit der polizeilichen Durchsetzung bautechnischer Standards konnten die Bodennutzung im Stadtgebiet qualitativ intensiviert und die dortigen Grundrenten erheblich gesteigert werden, wobei weniger zahlungskräftige Mieter und Eigentümer hinausgedrängt wurden. Dieser Wertzuwachs durch qualitativen Fortschritt ging einher mit einer Beschränkung der Bebauungsdichte, die nur vordergründig als „Bodenwertbegrenzung" erscheinen kann, da die Grenzen und Schattenseiten eines bloß quantitativen Wachstums allzu deutlich waren. Erheblich gebremst wurden diese Entwicklungen allerdings durch das Fortbestehen älterer Bausubstanz.30 Im Auftrag des Verbandes Deutscher Architekten- u. Ingenieur-Vereine hatte Reinhard Baumeister 1880 sogar eine „Normale Bauordnung" vorgelegt, doch konnten sich solche Zentralisierungsversuche nicht durchsetzen: Materialien und Techniken sind zwar zunehmend normiert worden, aber andererseits wurden die Bauordnungen an die speziellen Planungen der Städte angepaßt und immer stärker differenziert bis hin zu den zonierten Bauordnungen einiger Großstädte. 31 Organisieren und Professionalisierung Die Bedeutung der älteren Bauordnungen wird in der städtebaulichen Fachliteratur, welche mit der Hochindustrialisierung nach der Reichsgründung einsetzt, gleichsam geleugnet, doch wie die Beispiele des Städteumbaus mit Friedhofsanlagen und Entfestigungen, ferner Straßen- und Gleisanlagen sowie Wasserläufen beweisen, scheinen die Professionalisierungsinteressen der StädtebauIngenieure diesen Umbruch vom angeblichen Dilettantismus zur jungen Wissenschaft etwas zu scharf gezeichnet zu haben.32 Die Rationalisierung, bzw. Akademisierung und Bürokratisierung der Stadtplanung entspricht dabei dem allgemeinen Rückzug der sog. Honoratioren aus den Kommunalverwaltungen. Dabei ist das Organisieren einer Stadt im Brennpunkt vitaler Interessen, und

30

Zur angeblichen Bodenwertbegrenzung durch gesundheitliche Rücksichten vgl. M. Rodenstein, „Mehr Licht, mehr Lufl". Gesundheitskonzepte im Städtebau seit 1750, Frankfurt / New York 1988, S. 135-145, dagegen den Beitrag von J. Brown in diesem Band. 31 Vgl. R. Baumeister, Normale Bauordnung nebst Erläuterungen, Wiesbaden 1880; zum dennoch vorherrschenden Partikularismus, vgl. Fisch, Stadtplanung, S. 106. 32

Vgl. J. Rodriguez-Lores, Gerade oder krumme Straßen. Von den irrationalen Ursprüngen des modernen Städtebaues, in: G. Fehl / J. Rodriguez-Lores, Stadterweiterungen, S. 101-134, hier: S. 103.

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weil rationale Argumentationen solcher Maßnahmen zu ihrer Verwirklichung in der Regel nicht ausreichen, müssen die Instrumente der Planung und Durchführung aufgezeigt werden, ebenso wie die taktischen Zwecke und strategischen Ziele des gleichsam allgemeinen Willens. Die Mittel des Organisierens: Ordnung Das ebenso primitive wie wirkungsvolle Ordnungsinstrument der „Fluchtlinien", in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch „Alignements" genannt, begleitete zunächst die großen Staatsstraßen durçh die Ortschaften und sicherte die Ausdehnung der staatlichen Verkehrsflächen. 33 Die Ausdehnung und Verknüpfung der Fluchtlinien zu einem umfassenden Nivellements- und Stadtbauplan, Grundlage aller späteren Infrastrukturplanung, wurde in Preußen für alle Ortschaften mit mehr als 2.000 Einwohnern gefordert. Doch diese von der staatlichen Baupolizei auf Kosten der Kommunen aufzustellenden Pläne hatten den Nachteil, daß für ihre Ausarbeitung bis hin zur „Allerhöchsten Genehmigung" oft ein Jahrzehnt vergehen konnte. Wenn es dabei auch nicht immer ganz rechtwinklig oder gleichmäßig zuging, so waren nicht nur Kompromisse über bestehende Nutzungs- und Eigentumsverhältnisse im Spiel, sondern durchaus auch mitteleuropäische Stilempfindungen beteiligt. Mit der Vereinigung der zentralen Bauverwaltung im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, wo zudem ein liberaler Wind wehen sollte, wurden diese Planungsvorgänge seit 1848 vereinfacht und schließlich schon 1855 in einem Ministerialerlaß, welcher zur vorausschauenden Gestaltung der Bebauungspläne ermahnte, als überwiegend kommunale Angelegenheit charakterisiert. 34 Häufig wird allerdings aus späterer Perspektive eine kurzsichtige Planung bemängelt, doch einerseits wird solche Kritik den stürmischen Entwicklungen

33 Besonders stringente Zonierungen galten stets im Festungsbereich, wie z.B. festgelegt durch das Regulativ vom 10.9.1828, vgl. J. Raschdorff, Das Bau-Recht in der Preussischen Rheinprovinz, 4. Aufl. Köln 1869, S. 62-72. Obwohl Fluchtlinien stets paarweise auftreten und oft von Baufluchtlinien etc. flankiert werden, kann W. T. Kantzow, Sozialgeschichte, S. 151-155, hinsichtlich der Fluchtlinien von einer „Eindimensionalität der Stadtplanung" schreiben. Um in diesem Bilde zu bleiben, können dann die Stadtbaupläne die zweite, die zonierten Bauordnungen die dritte Dimension der räumlichen Planung hinzufügen, während darüberhinaus ein sicherer Zugriff auf die vierte Dimension erst durch den Eigentumserwerb erfolgt. 34 Vgl. H. Croon, Staat und Städte in den westlichen Provinzen Preußens 1817-1875. Ein Beitrag zum Entstehen des Preußischen Bau- und Fluchtliniengesetzes von 1875, in: G. Fehl / J. Rodriguez-Lores, Stadterweiterungen, S. 55-80, hier S. 59-72. Zum Erlaß von 1855 vgl. Matzerath, Urbanisierung, S. 144; den Text in G. Fehl / J. Rodriguez-Lores, Stadterweiterungen, S. 375379.

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kaum gerecht, und andererseits kann nicht genug betont werden, daß gerade die Nicht-Planung mit der Überlassung an unternehmerische Initiative sehr wohl eine - wenn auch indirekte - Planungsmaßnahme ist, denn es kann wohl kein Zufall sein, daß sich solche Areale nicht nur häufig zu Industrierevieren entwickelt haben, sondern daß sie auch als recht geeignet dazu gelten müssen. Den aus der Sicht späterer, um Professionalisierung bemühter Städteplaner planlosen Aktivitäten' früherer Stadtverwaltungen lagen selbstverständlich wahrnehmungsräumliche, individuelle wie kollektive Konzepte von aktuellen und wünschenswerten Zuständen zugrunde, auch wenn solche nicht im Zusammenhang offiziell diskutiert wurden, denn die zahlreichen Einzelmaßnahmen öffentlicher Bauten folgten durchaus erkennbaren Konzepten.35 Im Fluchtliniengesetz vom 2. Juli 1875 wurde den Kommunen das lange umstrittene Recht endgültig zugestanden, in Eigenregie, d.h. unter Zurückdrängung der Aufsichtsbehörden, ihre Straßen- oder Baufluchtlinien festzulegen bzw. abzuändern. 36 Damit wurde ein Enteignungsinstrument für die öffentlichen Verkehrsflächen geschaffen, das allerdings mit zunächst hohen Kosten und erheblichen Querelen für die Stadtverwaltungen verbunden war. Diese versuchten daher eher, mit diversen privatrechtlichen Aktionen eine Regulierung innerstädtischer Viertel zu erreichen, so daß die städtebaulichen Leitbilder der westeuropäischen Metropolen auf weniger radikale Weise durchgesetzt werden sollten. Umfassende Enteignungsmöglichkeiten, welche nicht unbedingt mit städtebaulichen Interessen i.e.S. konform gingen, bestanden allerdings schon lange vor dem Enteignungsgesetz vom 11. Juni 1874 für Eisenbahn, Militär, Wasser- und Bergbau. Die „Lex Adickes" zur Zonenenteignung, d.h. lediglich zu einer Flurbereinigung von Neubaugebieten, war 1892 im Abgeordnetenhaus gescheitert und konnte schließlich 1901/02 nur für Frankfurt a. M. umgesetzt werden. 37 15 Nicht nur privat befaßten sich die Stadtverordneten mit Grundstücksspekulationen und Baumaßnahmen. Immobilia machten z.B. einen wesentlichen Anteil an den Ratssitzungen aus, eine Auszählung für Düsseldorf 1850-1914 ergab einen Anteil der Tagesordnungspunkte zwischen 15% und 30%, hinzu kommen noch Planerische bzw. Baupolizeiliche Maßnahmen (5-10%), Tiefbau (510%) und Hochbau (5-15%). 36 Häufig findet sich eine Überbetonung in der kommunal ausgerichteten Städtebauliteratur, so z.B. als „Magna Charta" bei Eberstadt 1909, s. Fisch, Stadtplanung, S. 107. 37

Schon im Allgemeinen Landrecht T. I Tit. 8 §§ 29-33 waren Enteignungen grundsätzlich verankert, und „der praktischen Übung folgte die theoretische Begründung und Rechtfertigung des Enteignungsrechts nach", s. P. Spahn, Enteignung, in: Staatslexikon, hg. v. J. Bachem, Bd. 2, 4. Aufl., Freiburg 1911, S. 14-28, S. 15. Systematisierend R. Breuer, Das Bau- und Bodenrecht als Instrument des Stadt-Umbaus. Vergleiche zwischen deutschen Ländern und europäischen Staaten, in: G. Fehl / J. Rodriguez-Lores (Hgg.), Stadt-Umbau. Basel / Berlin / Boston 1995, S. 289-317. Zu den privatrechtlichen Konstruktionen in Straßburg vgl. S. Fisch, Die zweifache Intervention der Städte. Stadtplanerische Zukunftsgestaltung und Kontrolle der Wohnverhältnisse um 1900, in: J. Reulecke / A. Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hgg.), Stadt und Gesundheit, Stuttgart 1991, 5. 91-104, S. 102f. Erst 1905 wurde mit dem Wasserstraßengesetz eine Zonenenteignung ermög-

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Immerhin waren die Städte selbst oft bedeutende Grundbesitzer, und nachdem die Verwaltungen sich in der Phase des Hochliberalismus vom Immobilienmarkt zurückhalten wollten, gingen sie mit ihrem vermehrten Eigenbedarf zur Bildung von zunächst eher inoffiziellen Grundstücksfonds über, bis sie von den Aufsichtsbehörden sogar zur Anlegung solcher gewinnbringenden Reserven ermutigt wurden. Dabei bilden kommunale oder auch staatliche Flächennutzungen mit ihrer Persistenz wichtige Gefügefliesen der Stadtlandschaft und prägen nachhaltig ihre Umgebung. Außerdem sind als schon frühes Planungsinstrument neben den Bauordnungen die Gewerbeordnungen ab 1845 zu nennen, durch welche eine Segregation v.a. der Betriebe mit Dampfmaschinen bewirkt wurde. 38 Schließlich legten gerade private Terraingesellschaften größten Wert auf räumlich-funktionale Trennungen, denn voll erschlossene, reine Wohn- bzw. Industriegebiete versprachen besonders hohe Renditen, so daß sich gerade die buchstäblich monopolkapitalistische Bodenpolitik an funktionaler Raumordnung orientiert. 39 Entsprechende Mängel in der sogenannten kapitalistischen Stadtentwicklung des 19. Jahrhunderts waren also vorwiegend durch die Konkurrenz von Interessen bedingt. Allerdings tendierte die rein industrielle Raumerschließung zur monostrukturellen Überbetonung von Produktion und Verkehr unter Vernachlässigung der Reproduktion.

Die Zwecke des Organisierens: Leistung Grundsätzlich ist für den Obrigkeitsstaat festzuhalten, daß Ordnung nicht nur ein Mittel, sondern immer auch Ziel und Selbstzweck sein muß. Die Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung sowie die Abwendung von Gefahren (für Leben und Gesundheit) war Aufgabe aller Polizeibehörden. 40 Dementsprechend mußten Eingaben und Beschwerden den gesundheitlichen Aspekt licht, vgl. Fisch, Stadtplanung, S. 108f.; Matzerath, Urbanisierung, S. 291. Zu zonierten Bauordnungen s.o. 38 Vgl. H. Böhm, Stadtplanung und städtische Bodenpolitik, in: H. H. Blotevogel (Hg.), Kommunale Leistungsverwaltung vom Vormärz bis zur Weimarer Republik, Köln / Wien 1990, S. 141157 bzw. I. Mieck, „Aerem corrumpere non licet." Luftverunreinigung und Immissionsschutz in Preußen bis zur Gewerbeordnung 1869, in: Technikgeschichte 34 (1967), S. 36-78. 39 Vgl. H. Rademacher, Die Beeinflussung einer Stadtplanung durch die industrielle und gewerbliche Entwicklung: eine historisch-geographische Untersuchung der Planungen der Stadt Düsseldorf, Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 131-137; vgl. auch M. R. G. Conzen, Zur Morphologie der englischen Stadt im Industriezeitalter, in: H. Jäger (Hg.), Probleme des Städtewesens im industriellen Zeitalter, Köln / Wien 1978, S. 1-48, hier: S. 19-22. 40

Gewerbe-, Bau- oder Sanitätspolizei unterlagen gleichermaßen ALR II §10 17, vgl. allgemein: M. Matthias, Die städtische Selbstverwaltung in Preußen. Ein Handbuch zur Einführung in die Praxis, Berlin 1911, S. 319 und passim.

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betonen, wenn sie ein ordnungspolizeiliches Eingreifen hervorrufen sollten. Um die Behörden vom Vorwurf der Willkür zu reinigen, war jedoch die Legitimation durch Leistung, deren Steigerung durch gemeinsame Großprojekte sowie durch Abminderung von Reibungsverlusten erzielt werden sollte, wichtiger. Ein Grundproblem der Bewertung damaliger Planungen ist, daß sie der liberalen Wirtschaftshaltung gemäß das sogenannte ,freie Spiel der Kräfte' nicht hemmen, sondern nur in eine optimierte Richtung lenken wollten, so daß die Planungsziele meist nur günstig bewerteten Entwicklungen z.B. andernorts entsprachen. Eine Steuerung der sozialökologischen Prozesse von Invasion und Segregation, zur Vermeidung konflikt- und verlustreicher Sukzessionen und unter Benutzung vorhandener Strukturen, beinhaltet lediglich eine Optimierung der normalen Abläufe. 41 Dies geschah mit der Herausbildung typischer Grundmuster von West- und Eastend, Ober- und Unterlauf von Fließgewässern im eigenen Bezirk, sowie charakteristischen Symbiosen bzw. Nachbarschaften funktionaler Stadtviertel. So wurden schon die aufwendigen epidemiologischen Kartierungen des 19. Jahrhunderts sowohl physisch als auch sozialgeographisch interpretiert. 42 Dem juristischen Primat des Transportwesens entsprechend wurden Enteignungen zwar überwiegend für Verkehrsflächen vorgenommen, welche nicht zuletzt den Großteil der Ver- und Entsorgungsleitungen aufnehmen sollten, doch auch bei Aufbau oder Erweiterung von Krankenhäusern, Friedhöfen, Wasserwerksanlagen mit umliegenden Erweiterungs- oder Schutzzonen usw. wurden häufig Enteignungsprozesse geführt, weil sich das öffentliche Interesse mit der Gesundheitsfürsorge besonders wirkungsvoll legitimieren ließ. Die Gesundheit städtischer Bevölkerungen ist sowohl als Bedingung als auch Ausdruck von Funktionalität und Leistung aufzufassen: Ob und wo in einer Stadt gesunde oder ungesunde Verhältnisse der Wohn- bzw. Arbeitsbevölkerung herrschen, ist eine Funktion der verorteten Funktionen, die produktiver oder reproduktiver Natur sind. Verantwortlich für diese Zustände sind neben den Privaten, d.h. der Bevölkerung selbst und ihren Lieferanten, Arbeitgebern, Vermietern oder Ärzten, die staatliche und städtische Verwaltung, deren nicht

41 Vgl. R. Baumeister, Stadt-Erweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirthschafilicher Beziehung, Berlin 1876, S. 83 bzw. D. Schubert, Stadtplanung als Ideologie, Berlin 1981, S. 74f; H. J. Schwippe, Prozesse sozialer Segregation und funktionaler Spezialisierung in Berlin und Hamburg in der Periode der Industrialisierung und Urbanisierung, in: H. H. Blotevogel (Hg.), Kommunale Leistungsverwaltung und Stadtentwicklung vom Vormärz bis zur Weimarer Republik, Köln/Wien 1990, S. 195-221. 42 Zu der unveröffentlichten Kartierung der gesunden und ungesunden Straßenzüge durch Pettenkoferu.a. vgl. Fisch, Stadtplanung, S. 169f.

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zuletzt räumliche Steuerungsinstrumente und hierarchische Zielvorstellungen hier nur grob umrissen werden können. Die Ziele des Organisierens: Urbanisierung Eigenartigerweise ist mit dem Aufstieg der Netzwerk-Stadt - trotz ubiquitärer Ver- und Entsorgungsmöglichkeiten - eine zunehmende Zonierung der Städte festzustellen. Die Transportsysteme führten zu einer stärkeren Entmischung von Dienstleistungszentren, gehobenen oder minder gehobenen Wohngebieten, Grünflächen oder Gewerbezonen, die sich oft an traditionelle Kristallisationskerne anlehnten. Der Qualitätssprung durch urbane Funktionalität wird z.B. anhand der Wohnfunktion deutlich. Gerade in dieser Hinsicht ist Städtebau als Schaffung von Lebensform verstanden worden, zuerst vorwiegend technisch, später soziokulturell. 43 Deutlicher noch wird der Qualitätssprung in der Befriedigung höherer Bedürfnisse der Reproduktion und v.a. der Produktion im tertiären und quartären Sektor, also bei der Beschaffung von Dienstleistungen, Kulturleistungen, Informationen, von Kapital oder Rechtstiteln. Die heftig konkurrierenden Städte bemühten sich also vor allem um die Herausbildung einer attraktiven „City". 4 4 Im Rahmen der differenzierten modernen Lebensformen entwickelten sich auch neue Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, und um letztere zu verhindern, mußten zumindest die Daseinsgrundfunktionen in der Stadt gesichert sein, darüberhinaus waren hier zentrale Einrichtungen auch der medizinischen Versorgung angesiedelt. Zusammenfassung Das vielbeschworene Ideal einer ,organischen, gesunden Stadtentwicklung' beinhaltete also die Gesundheit ihrer Bevölkerung ebenso wie das Florieren von Handel, Verkehr und Industrie. Mit der Moderne wurde selbst „Schönheit" zunehmend mit Funktionalität und Gesundheit verquickt gesehen.45 Dabei sind

43 Vgl. G. Albers, Geistesgeschichtliche Entwicklung des Städtebaues. Der Wandel der Wertmaßstäbe im 19. und 20. Jahrhundert, in: P. Vogler (Hg.), Medizin und Städtebau. Ein Handbuch für gesundheitlichen Städtebau, Bd. 1, München / Berlin / Wien 1957, S. 180-202, hier S. 181; zum Urbanisierungsbegriff vgl. H. J. Teuteberg, Historische Aspekte der Urbanisierung: Forschungsstand und Probleme, in: ders. (Hg.), Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert: historische und geographische Aspekte, Köln / Wien 1983, S. 2-34. 44 Vgl. H. Heineberg, Geographische Aspekte der Urbanisierung: Forschungsstand und Probleme, in: H. J. Teuteberg, Urbanisierung, S. 35-54.

18 Vögele/Woelk

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Ulrich Koppitz

verschachtelte Komplexe von Absichten und Wirkungen festzustellen: einerseits werden unter dem Stichwort „Gesundheit" ideologische oder materielle Absichten verfolgt, so bei der Propaganda gegen Kirchhöfe oder fur gesunde Wohnungen, andererseits haben ganz verschieden motivierte Maßnahmen durchaus gesundheitliche Auswirkungen, nämlich Entfestigungen, Verkehrsanlagen oder Zonierungen. Mit der gebotenen quellenkritischen Vorsicht gegenüber hygienischer und städtebaulicher Literatur sollten dabei die Kontinuitäten und die früheren Errungenschaften der gesundheitsrelevanten Raumplanung nicht unterschätzt, die Leistungen der Assanierungsmaßnahmen nicht überschätzt werden, zumal sie häufig nur eine technische Optimierung räumlicher Verlagerungsstrategien darstellen. Diese durch Transportsysteme geförderten Zonierungen entwickelten allerdings eine erhebliche Eigendynamik und Persistenz, welche die Organisatoren leicht zu organizistischen Ansätzen verleiten. Die Assanierung als Fortführung des arbeitsteiligen, funktionalen, organischen Konzeptes von Ballungsräumen führte schon bei T. Weyl zum Begriff des „Stoffwechsels" einer Stadt, und ein vermehrter oder verstetigter, besser organisierter Stoffumsatz in Produktion und Distribution ist bekanntlich nach McKeown entscheidend für den demographischen, vielleicht auch den epidemiologischen Übergang. Schließlich wirkt räumliche Organisation nicht nur positiv auf die Verbreitung von Gesundheit, sondern auch negativ auf die der Krankheit, denn Distanz, die nicht nur räumlich zu verstehen ist, war schon immer ein Grundprinzip der Hygiene.

45 Vgl. Albers, S. 9; so forderte z.B. A. Orth im Jahre 1875 für die aufstrebende Reichshauptstadt Berlin: „Besonders nothwendig ist [...] ein Projectiren derjenigen Straßenzüge, welche in der inneren Stadt durchzuführen sind, um Licht und Luft und eine neue gesunde Entwicklung hinein zu bringen, so wie freie Bewegung für den Verkehr zu schaffen", zit. nach H. Bodenschatz, Der Beitrag August Orths (1828-1901) zur Reorganisation der inneren Stadt Berlins, in: J. RodriguezLores / G. Fehl, Städtebaureform Bd. 2, S. 481-510, hier S. 492.

Gewerblich-industrielle Luftverschmutzung und Stadthygiene im 19. Jahrhundert

Von Michael Stolberg „Die mächtige Entwickelung der Industrie durchbrach aber mit unüberwindlicher Gewalt die gesetzgeberischen Schranken ,.." 1

Einleitung Unverzichtbares Lebenselixier und stetige Bedrohung zugleich, gilt die Luft seit der griechischen Antike als jenes Element, das mit seinen Qualitäten und Beimengungen am beständigsten und unmittelbarsten auf die Gesundheit des Menschen einwirkt. Über Jahrhunderte galt die erste Sorge von Ärzten und Gesundheitsbehörden hierbei freilich allenfalls am Rande chemisch definierten Reiz- und Schadstoffen im modernen Sinne. Sie widmeten ihre Aufmerksamkeit vielmehr vor allem der je nach Ort und Jahreszeit unterschiedlichen Trübung und „Elastizität" der natürlichen Luft und, im Rahmen des miasmatischen Paradigmas, den vielfältigen organischen Zerfallsprozessen, vor deren Ausdünstungen schon Galen gewarnt hatte. Leichengruften und stehende Gewässer, menschliche und tierische Exkremente, Müll und die fäulnisanfalligen pflanzlichen und tierischen Rohstoffe und Abfälle in der gewerblichen Produktion galten ihnen so als die herausragenden Quellen der Luftverschmutzung. Besonders in Epidemiezeiten wurden sie als lebensbedrohlich erlebt und begründeten vielfaltige stadthygienische Maßnahmen. Das 19. Jahrhundert stand über weite Strecken noch in dieser Tradition. 2 Die geordnete Entsorgung von Abwässern, Fäkalien und Müll galt neben der Trinkwasserversorgung als die wichtigste Aufgabe städtischer Gesundheits-

1 Aus einer Rede von Hermann Rietschel, Deutsche Vierteljahresschrift für Gesundheitspflege 18(1896), S. 93. 2 Ausführlich am französischen Beispiel beschrieben in: A. Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Frankfurt 1988.

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pflege und zielte in der vorbakteriologischen Ära vor allem auf die Reinhaltung der Luft von miasmatischen Ausdünstungen. Doch zugleich markiert das 19. Jahrhundert eine Zeit des Umschwungs hin zu heute noch vorherrschenden Formen der Luftverschmutzung und modernen Mustern der Wahrnehmung und des Umgangs mit dem Problem. Im folgenden soll zunächst der Wandel in Ausmaß und Art der Luftverschmutzung skizziert werden, den die starke Zunahme gewerblicher Emissionen im Zeitalter der Industrialisierung mit sich brachte, und beschrieben werden, wie sich dieser Wandel in den Reaktionen der Bevölkerung, aber auch in der medizinalpolizeilichen Literatur niederschlug. Sodann werden für die wichtigsten europäischen Staaten erste gesetzgeberische Ansätze zur Luftreinhaltung durch Einführung von Genehmigungsverfahren oder Emissionsbegrenzungen vorgestellt. Der abschließende Teil schildert die praktische Umsetzung dieser Gesetze in der städtischen Gesundheitspflege des 19. Jahrhunderts und ihre Bedeutung für die Bekämpfung der Luftverschmutzung, aber auch für die Neutralisierung von Protesten und Widerständen der Bevölkerung.

Wachsender Problemdruck Unter vielen anderen Quellen der Luftverschmutzung hatten Rauch und Ausdünstungen aus gewerblichen Aktivitäten schon in den dicht besiedelten Städten des Mittelalters Aufmerksamkeit gefunden und hie und da erste Eingriffe gegen die betreffenden Betriebe begründet. So verbannte man in Venedig 1294 Bleischmelzer und ähnliche Gewerbeleute, die einen „fumum male Sanum" verbreiteten, unter Androhung empfindlicher Geldstrafen an den äußersten Rand der Stadt. Aus dem spätmittelalterlichen Köln ist der jahrelange Konflikt um den Kupfer- und Bleischmelzer Thomas von Venrath überliefert. Bernardo Ramazzini schildert einen ähnlichen Fall aus Italien.3 Im Zuge der Industrialisierung nahm die gewerbliche Luftverschmutzung jedoch ganz neue Formen und Ausmaße an. Als John Evelyn 1661 im Blick auf Brauer, Kalkbrenner, Salz- und Seifensieder und ähnliche Gewerbe über den Steinkohlenrauch im nebelgeplagten London klagte, der alles mit einer schwarzen Kruste überziehe, Gemäuer und Metall zerfresse und massenhaft Atemwegs- und Lungenerkrankungen zur Folge habe, beschrieb er noch eine Aus1

Archivio di Stato di Venezia, Provveditori alla Sanità, Capitolare 1, Erlaß des Großen Rats vom 31.10.1294; Ο. Vogel, Rauchbelästigung in alter Zeit, in: Rauch und Staub 2 (1912), S. 118120; B. Ramazzini'. Untersuchung Von denen Kranckheiten der Künstler und Handwercker, Leipzig 1718, S. 40-42 (photomech. Nachdr. Leipzig 1977); P. Brimblecombe, The big smoke. A history of air pollution in London since medieval times, London 1987; M. Stoiber {g, Wolken über der Serenissa: Eine kleine Geschichte der Luftverschmutzung in Venedig, Sigmaringen 1996.

Gewerblich-industrielle Luftverschmutzung

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nahmesituation.4 Zweihundert Jahre später aber prägten in ganz Europa zahllose Kamine und Schlote mit ihren dichten Rauchfahnen vielerorts das Stadtoder Landschaftsbild, unübersehbare Symbole des wirtschaftlichen Fortschritts, aber, zumindest fur die Anwohner, auch für dessen Schattenseiten. Rauch und Ruß waren allgegenwärtig. Soda- und Schwefelsäurefabriken, die alles pflanzliche Leben in ihrem Umkreis massiv und unübersehbar schädigten, ließen für die menschliche Gesundheit das Schlimmste befürchten. Große Fabriken zur Herstellung von künstlichem Dünger, Teer, Asphalt oder Leuchtgas setzten die Nachbarschaft einem Gestank von schwer erträglicher Intensität aus und verseuchten nicht selten obendrein Boden und Grundwasser. Gleichzeitig - ein oft vernachlässigter Aspekt des Industrialisierungsprozesses - kam es zu einer starken Expansion und fabrikmäßigen Organisation traditioneller, handwerklicher Gewerbezweige, die jene faulnisanfälligen tierischen und pflanzlichen Rohstoffe verarbeiteten, die auch im 19. Jahrhundert noch als eine wesentliche Quelle miasmatischer Luftverschmutzung galten. Großgerbereien entstanden, die industrielle Tierkörperverwertung blühte auf - Tierknochen etwa dienten als Rohstoff für die industrielle Herstellung einer ganzen Reihe von Produkten, aber auch Tierhaare, -därme und -fett wurden weiterverarbeitet. Die Kerzen- und Seifenfabrikation war vielerorts bei weitem der wichtigste Zweig dessen, was man damals als „chemische Industrie" bezeichnete. Diese Entwicklung verlief nicht reibungslos. Viele Bürger war nicht bereit, die gewerbliche Luftverschmutzung als notwendige Begleiterscheinung des wirtschaftlichen Fortschritts bedingungslos hinzunehmen. Proteste wurden laut, Konflikte entflammten. Regierungen und Stadtverwaltungen wurden mit Gesuchen und Anzeigen überschüttet. Gebildete machten sich zum Sprachrohr ihrer weniger gebildeten Mitbürger. Man sammelte Unterschriften oder organisierte sich gar in der Art heutiger Bürgerinitiativen bis hin zur Bestellung eines gemeinsamen Anwalts und zur Konstituierung von Prozeßkostenfonds. Man bemühte sich um wissenschaftliche Expertisen, die die Berechtigung der eigenen Klagen bestätigen und das beschwichtigende Votum gegnerischer Experten widerlegen sollten. Gleichzeitig suchte man die öffentliche Meinung durch Pamphlete, Pressebeiträge und im persönlichen Gespräch auf die eigene Seite zu ziehen, um auch auf diese Weise den politischen Druck auf Regierungen und Behörden zu verstärken und jene Kräfte zu neutralisieren, die statt dessen auf das wirtschaftliche Allgemeinwohl und die Schaffung von Arbeitsplätzen verwiesen. Vereinzelt griff man gar zur Gewalt, und sei es auch nur, daß man

4 J. Evelyn , Fumifugium, or The inconveniencie of the aer and smoak of London dissipated. To his sacred majesties and to the Parliament now assembled, London 1661.

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nachts in ohnmächtiger Wut das Fabrikgebäude mit einfachen Gewehren beschoßt Meist blieb der Konflikt auf die unmittelbare Nachbarschaft eines luftverschmutzenden Betriebs begrenzt, und die Anlieger wehrten sich mit Petitionen und Schadensersatzklagen. Manchmal aber erfaßte die Auseinandersetzung auch fast die ganze Bevölkerung einer Stadt und wurde zugleich zur Debatte über die Wirtschaftsentwicklung und die Grenzen industrieller Profitinteressen im allgemeinen. Wenn gleichzeitig Felder und Pflanzungen geschädigt wurden, konnte der Widerstand im Einzelfall sogar weite Landstriche erfassen. In Belgien waren beispielsweise in den 1840er Jahren angesichts des weitgehenden Ausfalls der Kartoffelernte viele Menschen davon überzeugt, daß die säurehaltigen Emissionen der neuen Chemiefabriken über die ganze nördliche Halbkugel in feinsten Tropfen niederregneten und nicht nur ihre Wäsche, sondern auch die Kartoffelpflanzen vernichteten. Mit dem Hinweis auf die Erfahrungen der Homöopathie, wonach gerade stark verdünnte Stoffe besonders kräftig wirkten, gab man diesem Verdacht von gebildeter Seite noch zusätzliche Nahrung. Das wachsende Gewicht von Industrie und Gewerbe als Quellen der städtischen Luftverschmutzung und die Suche nach ethisch-politischen Leitlinien im Umgang mit ihr spiegeln sich in der aufblühenden medizinalpolizeilichen Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Nannte J. H. G. von Justi 1759 noch ganz allgemein die „Reinhaltung der Städte von Morast, Unrath und Gestank" und die „Vermeidung schädlicher Dämpfe" als wichtige Aufgaben öffentlicher Gesundheitspflege, so ging J. F. Gmelin 25 Jahre später bereits ausfuhrlicher auf Salpeter-, Salmiak- und Chemiefabriken ein. Er wollte sie aus den Städten verbannt wissen, wenn er sie auch für weniger gefahrlich hielt als Gerbereien oder Anlagen zur Tierkörperverwertung, weil die Dämpfe der chemischen Betriebe wenigstens durch die Hitze in die Höhe getrieben würden. 6 In J. P. Franks „System einer vollständigen medicinischen Polizei", das die stadthygienische Literatur der Folgezeit nachhaltig prägte, findet sich bereits ein eigenes Kapitel „Von Fabriken und Manufakturen in Städten". Frank forderte hier, Betriebe, die einen „scharfen und verdächtigen Rauch" verbreiteten, aus den Städten zu entfernen, und warnte besonders vor dem „dicken, erstickenden 5 Vgl. die Fallstudien in: M. Stolberg, Ein Recht auf saubere Luft? Umweltkonflikte am Beginn des Industriezeitalters, Erlangen 1994. 6 J. H. G. von Justi, Grundsätze der Polizey-Wissenschaft in einem vernünftigen, auf den Endzweck der Polizey gegründeten Zusammenhange, 2. Aufl. Göttingen 1759; J. F. Gmelin, Ueber neuere Entdeckungen in der Lehre von der Luft und deren Anwendung auf Arzneikunst, in Briefen an einen Arzt, Berlin 1784, S. 157; s.a. Z. G. Hußty, Edler von Raßynya, Diskurs über die medizinische Polizei, Bd. 2, Preßburg / Leipzig 1786, S. 489; F. E. Foderé , Les lois éclairées par les sciences physiques; ou traité de médecine légale et d'hygiène publique, Bd. 2, Paris An VII, S. 121132.

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Rauch" der Steinkohlen.7 Unter den gewerblichen Emissionen insgesamt gewannen die chemischen und mineralischen Emissionen im Zuge der Industrialisierung ein immer größeres Eigengewicht als Gegenstand der wissenschaftlichen Literatur. 8 Der anhaltenden Geltungskraft des miasmatischen Paradigmas entsprechend standen sie jedoch in der wissenschaftlichen Darstellung wie in der gesundheitspolitischen Praxis weiterhin neben Gewerben wie Seifensiederei, Saiten- oder Kerzenfabrikation und der Gerberei. Über die konkreten inhaltlichen Aspekte hinaus verlieh die Darstellung der Luftverschmutzung in der medizinalpolizeilichen Literatur zugleich auch den gewandelten ethisch-politischen Auffassungen von Gesundheitsfürsorge und Gesundheitsrecht Ausdruck, an deren Durchsetzung diese Schriften ihrerseits einen wichtigen Anteil hatten. Die Reinhaltung der Luft war den Herrschern zusammen mit der Sorge für gesunde Lebensverhältnisse insgesamt schon in den mittelalterlichen Fürstenspiegeln angetragen worden. Sie wurde von Staatstheoretikern und Kameralisten der folgenden Jahrhunderte immer wieder hervorgehoben, teilweise unter ausdrücklichem Hinweis auf das wohlverstandene Eigeninteresse von Fürst und Staat, deren Macht in einer möglichst großen Zahl gesunder und arbeitsfähiger Bürger begründet sei.9 Diese allgemein formulierte Pflicht erfuhr jedoch an der Wende zum 19. Jahrhundert unter dem Einfluß aufklärerischen Gedankenguts und des bürgerlichen Individualismus eine gewisse Zuspitzung mit der Formulierung eines eigenständigen Rechtsanspruchs des einzelnen Untertanen auf gesunde Lebensverhältnisse im allgemeinen und eine saubere Luft im besonderen. „Das erste aller Güter, das zu fordern alle Menschen ohne Unterschied das Recht haben, besteht es nicht im Genuß einer sauberen Luft?", fragte der bekannte französische Hygieniker und Gerichtsmediziner François Emmanuel Foderé an der Wende zum 19. Jahrhundert. „Und ist es nicht ein offensichtlicher Anschlag auf die Gerechtigkeit, ihrer auch nur einen einzigen Bürger [...] zugunsten eines anderen zu berauben?" 10 Ganz

7

J. P. Frank, S. 383-386.

System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 9, Frankenthal 1793,

8 N. Dalberg, Ueber die Beschaffenheit der Luft in großen volkreichen Städten, in: Repertorium für die öffentliche und gerichtliche Arzeneywissenschaft. Hrsg. v. J. T. Pyl, Bd. 1 (1789), S. 3-26, hier: S. 12-16; A. H. Nicolai, Grundriss der Sanitäts-Polizei mit besonderer Beziehung auf den Preussischen Staat, Berlin 1835, S. 373-461; J. B. Montfalcon / A. P. I. de Polinière , Traité de la salubrité dans les grandes villes, Paris 1846, S. 165-187. 9

Justi , Grundsätze, S. 81-88; E. G. Bose, Panegyrin medica de causis sanitatem publicam impedientibus, (Leipzig) 1783, S. IV f.; F. A. May , Entwurf einer Gesetzgebung, über die wichtigsten Gegenstände der medizinischen Polizei, als Beitrag zu einem neuen Landrecht in der Pfalz, Mannheim 1802, S. 12f.; vgl. G. Rosen, Cameralism and the concept of medical police, in: Bulletin of the history of medicine 27 (1953), S. 21-42; U. Dirlmeier , Wohin damit? Umweltprobleme im Mittelalter, in: Damals 25 (1993), Nr. 8, S. 16-21. 10

Foderé , Les lois, Bd. 3, S. 125.

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ähnlich erkannte der Bamberger Arzt Anton Dorn angesichts des drohenden Baus einer Glashütte am Rande Bambergs auf eine „unverkenntliche Pflicht des Staates, die Gesundheit seiner Staatsbürger gegen eine solche Gefahr in Schutz zu nehmen, denn unverantwortlich müßte es seyn, wenn auch nur ein Einziger davon erkranken sollte, die Gesundheit dieses Einzigen aufs Spiel zu setzen, wo auf der anderen Seite nur Geld durch eine merkantilistische Spekulation für den Unternehmer und Teilnehmer derselben auf Gewinn steht." 11

Luftreinhaltungsgesetzgebung Regierungen und Gesundheitsbehörden waren somit zum Handeln aufgefordert. Jahrhundertelang beschränkten sich die Maßnahmen gegen die gewerbliche Luftverschmutzung freilich im wesentlichen auf lokale Verordnungen. Erst im 18. Jahrhundert, im Zuge der wachsenden Institutionalisierung der öffentlichen Gesundheitspflege und der Konsolidierung der Zentralgewalten, wurden solche örtlichen Regelungen immer mehr durch Verfügungen für das gesamte Staatsgebiet ergänzt oder ersetzt. Auch diese Verordnungen zielten jedoch zunächst jeweils nur auf einzelne, spezifische gewerbliche Aktivitäten wie Hanfund Leinenmazeration oder Schinderei und auf die besonderen Problemlagen, von denen sie begleitet waren. 12 Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es zu Versuchen, die gewerblich-industrielle Luftverschmutzung in ihrer Gesamtheit zum Gegenstand einer umfassenden, organischen Gesetzgebung zu machen. Ein Prozeß setzte ein, der in den meisten europäischen Staaten in den 1860er Jahren zu einem vorläufigen Abschluß gelangte, und der hier angesichts der zahlreichen juristischen Details nur in groben Zügen geschildert werden kann. 13 Vorreiter auf diesem Gebiet war das napoleonische Frankreich. Unter dem Eindruck der wachsenden Luftverschmutzung und der heftigen Konflikte um einzelne luftverschmutzende, insbesondere säureemittierende Fabriken wurde hier 1810 erstmals eine generelle Genehmigungspflicht für die Errichtung potentiell luftverschmutzender Betriebe verfügt. Die betroffenen Gewerbezweige wurden zu diesem Zweck in drei Gefährdungsklassen eingeteilt. Betriebe der höchsten Gefährdungsklasse, darunter Soda-, Salzsäure- und Mennigefabriken, aber auch Leim- und Griebensieder und Darmsaitenfabriken, durften innerhalb

11

A. Dorn, Das Schädliche der projektirten Glashütte in der Weiden zu Bamberg, besonders in Hinsicht auf ihre Feuerung mit Bambergischen Steinkohlen [...], Bamberg 1802, S. 28. 12 Vgl. etwa die Aufzählung der einschlägigen preußischen Verordnungen bei I. Mieck, „Aerem corrumpere non licet". Luftverunreinigung und Immissionsschutz in Preußen bis zur Gewerbeordnung 1869, in: Technikgeschichte 34 (1967), S. 36-78. 13

Ausführlicher hierzu: Stolberg, Ein Recht, S. 112-150.

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der Wohnorte überhaupt nicht mehr errichtet werden, und die der zweiten Klasse - darunter unter anderem Färbereien, Metallgießereien und Kerzenfabriken nur mit Einschränkungen und gegebenenfalls bestimmten Auflagen; Betriebe der dritten Klasse, wie Seifensiedereien und Bierbrauereien, erfuhren keine Niederlassungsbeschränkung, wurden aber einer besonderen polizeilichen Aufsicht unterstellt. Den betroffenen Anwohnern wurde bei Betrieben der höheren Gefährdungsklassen ausdrücklich Gelegenheit gegeben, ihre Einwände schriftlich oder mündlich vorzubringen. Unabhängig davon waren die Ortsbehörden angewiesen, die Eignung des Standorts und die zu erwartenden Auswirkungen zu prüfen. 14 Schließlich wurde das Vorhaben den übergeordneten Stellen zur Genehmigung vorgelegt, die anhand der Planungsunterlagen und regelmäßig auch nach Einholung von Fachgutachten über die Genehmigung entschieden, und gegebenenfalls bestimmte Auflagen angeordnet. Ein Recht auf Berufung wurde beiden Seiten ausdrücklich eingeräumt. 15 Die eben skizzierte Regelung bliebt in ihren Grundbestimmungen in Frankreich bis ins 20. Jahrhundert gültig. Sie fand aber auch in einer Reihe von damals französisch besetzten Gebieten Anwendung: in Teilen Preußens, in der Rheinpfalz, in den Niederlanden - einschließlich der 1830 unabhängigen belgischen Gebiete - und in Norditalien, vor allem in der Lombardei und Venetien. Sie wurde in diesen Gebieten im wesentlichen auch nach dem Abzug der Franzosen beibehalten.16 Darüber hinaus wurde das französische Modell - Genehmigungspflicht und Ansiedlungsbeschränkungen für neu zu errichtende luftverschmutzende Betriebe - mit gewissen Modifikationen in den folgenden Jahrzehnten auch von vielen anderen europäischen Staaten übernommen. Das geschah meist im Rahmen der Gewerbegesetzgebung, im Einzelfall aber auch in

14

Dies galt zunächst nur für die zweite Gefährdungsklasse, ab 1816 auch für die erste. Wortlaut, Vorherig Durchführungsverordnungen und ergänzende Bestimmungen finden sich bei G. Dufour, Traité de droit administratif appliqué, 2. Aufl., Bd. 2, Paris 1854, S. 499-697. 16 J. Sauveur , Législation des établissements industriels dangereux, insalubres ou incommodes, Brüssel 1857, S. 34-40; Mieck, Luftverunreinigung; die in meiner Arbeit von 1994 noch übersehene, anhaltende Geltungskraft der französischen Bestimmungen in Lombardo-Veneti en und in der bayerischen Pfalz konnte ich erst kürzlich bei Archivrecherchen bestätigen (Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MInn 62656, Gewerbs-Fabrik-Errichtungen in der Pfalz: Vollzug des Kaiserl. Dekretes vom 15. October 1810, 1849-1862; Archivio del Municipio di Venezia, 1865-1869, II 5, Lästige, schädliche oder gefährliche Gewerbe); in diesem Zusammenhang möchte ich dem Kuratorium des Deutschen Zentrums für venezianische Studien herzlich für die Unterstützung vertiefender Forschungsarbeiten zu diesem Gegenstand danken. 15

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der Gesundheitsgesetzgebung, wie im vereinten Italien 1865 und 1888, oder in der Fabrikgesetzgebung, wie in der Schweiz 1877.17 In deutschen Landen schuf Bayern mit dem Gewerbegesetz von 1825 die erste eigenständige und umfassende allgemeine und landesweite Regelung nach französischem Vorbild. Sie verband eine Genehmigungspflicht mit dem generellen Verbot einer innerstädtischen Ansiedlung von Fabriken und gewerblicher Anlagen, „deren Betrieb lärmend, übelriechend, die Luft verderbend oder das Wasser verunreinigend oder in hohem Maße feuergefährlich ist". 18 Für die spätere Reichsgesetzgebung wurde jedoch vor allem das 1861 nochmals revidierte preußische Gewerbegesetz von 1845 maßgeblich.19 Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich vom 1. Juli 1883 verfügte darauf aufbauend für zahlreiche, namentlich aufgeführte Gewerbezweige eine Antrags- und Genehmigungspflicht bei Neuerrichtung oder erheblichen Veränderungen der Anlage mit entsprechender Prüfung der Baupläne durch die Behörden. Das Widerspruchsrecht der Anwohner war im Vergleich zu den französischen Bestimmungen eng gefaßt. Die Einwendungsfrist der Anwohner betrug nur 14 Tage, und bei „unbegründeten Einwendungen" mußten der Widersprechende die anfallenden Gutachterkosten selbst tragen, so daß ein förmlicher Protest zumindest für weniger wohlhabende Anwohner ein erhebliches finanzielles Risiko barg. Wie schon die revidierte niederländische Gesetzgebung von 1824, eröffnete die deutsche Gewerbeordnung zudem die Möglichkeit, über Landesgesetze und Ortsstatuten besondere Gewerbegebiete für luftverschmutzende Betriebe auszuweisen.20 Das wichtigste Gegenmodell zum französischen Immissionsschutz durch präventive Überprüfung und Genehmigungspflicht wurde in Großbritannien

17 Für Tenor und Stoßrichtung der Bestimmungen erweisen sich diese Unterschiede jedoch im wesentlichen als irrelevant; vgl. M. Pietravalle, Legislazione sanitaria, Mailand 1909, S. 187-204; G. Koenigs, Die Durchführung des Schweizerischen Fabrikgesetzes, Berlin 1891, S. 106-112. 18 Neues Gewerbs-Gesetz nebst Instruction für das Königreich Bayern, Ansbach 1825; 1828 folgte Württemberg mit entsprechenden Bestimmungen in seinem neuen Gewerbegesetz. 19

Mieck,, Luftverunreinigung; 1859/61 erließen auch Österreich und Sachsen ähnliche Genehmigungsbestimmungen (Gewerbegesetz für das Königreich Sachsen und die damit in Verbindung stehenden Gesetze, Verordnungen und Ausführungsverordnungen vom 15.10.1861, Dresden [1861]; F. Lakner, Practisches Handbuch der neuen österreichischen Gewerbe- Ordnung, Wien 1860, S. 7-9 und S. 23-29). 20 Deutsches Reichs-Gesetzbuch für Industrie, Handel und Gewerbe, Bd. 1, Berlin 1899, S. 721794, Gewerbeordnung für das Deutsche Reich vom 1. Juli 1883, hier: S. 724-727, Artikel 16-28; zur weiteren Entwicklung vgl. F. Karl, Deutsches Immissionsschutzrecht seit 1870 bis zum Bundesimmissionsschutzgesetz von 1974. Ein rechtsgeschichtlicher Überblick, in: Technikgeschichte, Bd. 47(1980), S. 20-39.

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entwickelt. 21 Hier machte sich in Teilen des Bürgertums frühzeitig wachsender Unmut vor allem über die massive städtische Rauchplage breit. Mehrfach gelang es, mit entsprechenden Anstößen und Gesetzesvorlagen bis ins Parlament vorzudringen. Doch mit direkten Eingriffen in das Wirtschaftsleben war man in Großbritannien generell sehr zurückhaltend, und die Industrielobbies wehrten sich heftig. Auf eine vorbeugende Genehmigungspflicht nach französischem Muster wurde so verzichtet. Statt dessen begann man, die Betriebsbesitzer zur Anwendung der „best practical means" zur Verringerung des Rauchausstoßes zu verpflichten. Anfangs trafen nur einzelne Städte wie Derby und Leeds entsprechende Regelungen. Nach Verabschiedung des „Town improvement clauses act" im Jahr 1847, dessen Bestimmungen überall dort gültig wurden, wo die Stadtvertretung dies beschloß, wurde dieses Modell von zahlreichen britischen Städten übernommen. Eine spezielle Gesetzgebung führte Anfang der 1850er Jahre auch für die Londoner Metropolis Auflagen ein. Jedoch brachte eine gesamtstaatliche Regelung nach dem Scheitern mehrerer Gesetzesvorlagen um die Jahrhundertmitte erst der „Sanitary act" von 1866, dessen Bestimmungen, durch den „Public health act" von 1875 modifiziert, bis 1926 galten. Strafbar war danach bereits die Freisetzung von schwarzem Rauch als solche, selbst dann wenn der Unternehmer Maßnahmen zur Rauchverhütung getroffen hatte. Zur Überwachung wurden Rauchinspektoren eingesetzt.22

Praxis In ihrer Konzentration auf den sichtbaren Rauch beschränkten sich die britischen Bestimmungen auf einen abgegrenzten, wenn auch für das Wohlbefinden der Anwohner sehr wichtigen Teilbereich der städtischen Luftverschmutzung. Der städtischen Gesundheitspflege insgesamt gaben sie keine erkennbaren, nachhaltig wirksamen Impulse.

21

Auf die innovative britische Alkaligesetzgebung, die von 1861 an mit der Festsetzung und staatlichen Überprüfung von Grenzwerten eine starke - wenn auch letztlich nur vorübergehende Reduktion der Salzsäureemissionen aus den Sodafabriken bewirkte, kann hier nicht näher eingegangen werden; die betreffenden Anlagen waren weitestgehend in ländlicher Umgebung angesiedelt und riefen vor allem wegen der Zerstörung der Felder und Wälder heftige Proteste hervor; vgl. E. Ashby / M. Anderson, The politics of clean air, Oxford 1981; A. E. Dingle , „The monster nuisance of all". Landowners, alkali manufacturers, and air pollution, 1828- 64, in: The economic history review 35 (1982), S. 529-548, mit weiteren Literaturhinweisen. 22 Parliament Papers. House of Commons. Sessional papers, London 1846, Bd. 43, Bericht von L. Playfair und H. Th. de la Beche vom 30.3.1846, mit Anhang einschlägiger lokaler Bestimmungen; Ashby / Anderson , Politics, S. 1-7; C. Flick , The movement for smoke abatement in 19thcentury Britain, in: Technology and culture 21 (1980), S. 29-51; Brimblecombe , The big smoke.

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Das französische Modell, wie es auch die deutsche Reichsgesetzgebung übernahm, implizierte dagegen eine routinemäßige Überprüfung sämtlicher neuer, potentiell luftverschmutzender Betriebe. Die Sorge um die Reinhaltung der Luft vor gewerblichen Emissionen wurde damit zu einem wichtigen Arbeitsfeld der städtischen Gesundheitspflege und der jungen Hygienewissenschaft. In der Arbeit der hochkarätig besetzten Pariser Gesundheitskommission stand die Begutachtung von alljährlich mehreren hundert Niederlassungsanträgen bald in weitem Abstand an der Spitze der behandelten Gegenstände, und einzelne Hygieniker spezialisierten sich hier fast ausschließlich auf diesen Bereich. 23 Aber auch in vielen anderen Städten und Staaten wurden im Zuge des Genehmigungsverfahrens routinemäßig Experten herangezogen, Ärzte vor allem und, soweit verfugbar, auch Chemiker und Techniker. Oft sahen die gesetzlichen Bestimmungen die Einschaltung von Experten im Zuge des Genehmigungsverfahrens zwingend oder zumindest fakultativ vor. Im beständigen, alltäglichen Umgang mit den unterschiedlichen Formen der gewerblichen Luftverschmutzung und den Möglichkeiten ihrer Verhütung bildete sich infolge dieser Entwicklung besonders in den Zentren der Industrialisierung eine zunehmend differenzierte Sachkompetenz aus. Eine experimentelle Erforschung der Schadstoffvvirkungen nach dem Vorbild der Rauchschadensforschung an Bäumen und Feldpflanzen, mit der Analyse von Schädigungsmustern und der Suche nach Schwellenwerten, 24 war in der städtischen Lufthygiene nur begrenzt möglich. Unzweideutige Kausalbeziehungen zwischen Schadstoff-Freisetzung und Krankheitsentstehung waren hier in der Regel allenfalls unter den Arbeitern der betreffenden Betriebe nachweisbar; zu groß war die Vielzahl anderer potentiell pathogener Einflüsse, die aus der städtischen Umwelt auf den menschlichen Körper einwirkten und als alternative Ursachen in Frage kamen. Wohl aber sammelte man umfangreiche Erfahrungen mit den Ausbreitungsbedingungen der Abgase, den Vor- und Nachteilen unterschiedlicher Brennkammern, Verfahrenstechniken und Filtrations- und Kondensationsanlagen und konnte den Fabrikanten zuweilen sogar mit fachlichem Rat zur Seite stehen, der im Idealfall durch technische Anlagen nicht nur die Emissionen reduzieren, sondern zugleich etwa durch Brennstoffeinsparungen den Ertrag steigern half. Bald wurden freilich auch die Grenzen der technischen

23 J. G. V. de Moléon , Rapports généraux sur la salubrité publique rédigés par les conseils ou les administrations établies en France et dans les autres parties de l'Europe. 2. Teil: Rapports généraux sur les travaux du Conseil de salubrité de la Ville de Paris et du Département de la Seine. Bd. 1 : 1802-1826, Bd. 2: 1827-1849, Paris 1828 / 1841; vgl. A. F. La Berge , The Paris health council, 1802-1848, in: Bulletin of the history of medicine 49 (1975), S. 339-352. 24 Vgl. J. von Schroeder / C. Reuss, Die Beschädigung der Vegetation durch Rauch und die Oberharzer Hüttenrauchschäden, Berlin 1883, mit ausführlichem Rückblick auf die älteren Forschungen von Turner / Christison, Stöckhardt, Reich und anderen.

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Machbarkeit deutlich. Der Bau von Öfen mit einer gänzlich rauchfreien Verbrennung blieb Utopie, Kondensations- und Filterungsanlagen verschlechterten Rauchabzug und Verbrennung, und die am weitesten verbreitete technische Maßnahme zur „Luftreinhaltung", der Bau höherer Schornsteine, führte, wie schon Zeitgenossen kritisierten, vielfach vor allem dazu, daß die Nachbarschaft nun in einem weit größeren Radius in Mitleidenschaft gezogen wurde. 25 Der frühe Zeitpunkt und die Intensität, mit der man sich in ganz Europa des Problems der gewerblich-industriellen Luftverschmutzung in der städtischen Gesundheitspflege des 19. Jahrhunderts annahm, mag vor dem Hintergrund heutiger Umweltsensibilität dennoch positiv überraschen. Erst der Blick auf die praktische Umsetzung der getroffenen Maßnahmen ermöglicht freilich eine genauere Beurteilung der tatsächlichen Wirksamkeit - und hier gibt es Anlaß zur Skepsis. Gewiß, das französische Modell ermöglichte es, die Niederlassung sehr stark luftverschmutzender Betriebe in dicht besiedelten Wohngebieten weitgehend zu verhindern, und das englische Modell war zumindest grundsätzlich geeignet, die besonders lästige Verschmutzung durch Rauch und Ruß einzudämmen. Schon der Blick auf zeitgenössische Beschreibungen und Abbildungen der Luftverschmutzung in vielen europäischen Städten des ausgehenden 19. Jahrhunderts macht aber deutlich, in welchem Ausmaß die städtische Luft vielerorts dennoch in immer weiter zunehmendem Maße von Rauch, Ruß und sonstigen Fabrikemissionen getrübt wurde, als hätte es eine Gesetzgebung nie gegeben, die die Gesundheitsgefährdung oder sogar die bloße Belästigung der Anwohner verhindern sollte. In England, wo sich die Bestimmungen gegen bereits bestehende Betriebe richteten, waren in aller Regel ohnehin nur gewisse technische Auflagen möglich - eine völlige Betriebsschließung konnte nur äußerst gravierenden Ausnahmefällen vorbehalten bleiben. Im Rahmen der Genehmigungsverfahren nach dem französischen Modell waren die Eingriffsmöglichkeiten größer, weil noch keine vollendeten Fakten geschaffen waren und man den Unternehmern lediglich die Wahl eines anderen Standorts zumuten mußte. Doch die Entscheidungsspielräume der zuständigen Behörden blieben groß. Zentrale Fragen wurden in den einschlägigen Bestimmungen regelmäßig offengelassen, etwa die Festsetzung einer Mindestentfernung besonders stark verschmutzender Betriebe von Siedlungsgebieten - 200 Meter wurden teilweise für völlig ausreichend erachtet -, die Grenzen der Zumutbarkeit lästiger oder potentiell schädlicher Aus-

25 Vgl. etwa Parliament papers 1843, Bd. 7, Bericht der Rauchverhütungskommission mit Protokoll der Expertenbefragung; Ch. de Freycinet, Ueber die in England angewendeten Mittel zur Beseitigung oder Minderung der für die Gesundheit nachtheiligen Einflüsse einzelner Fabriken und Gewerbe (= Übers, aus Annales des mines 65), in: Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen 43 (1864), S. 153-179, S. 197-213 und S. 242-268.

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dünstungen, der Grad der Gewißheit, mit der ein vermuteter Zusammenhang zwischen Gesundheitsrisiken oder -Störungen und den Emissionen eines bestimmten Betriebs belegt sein mußte und ähnliches mehr. Entscheidend für den Erfolg im Kampf gegen die städtische Luftverschmutzung war somit, wie diese Spielräume durch die Behörden und ihre Gutachter genutzt wurden. Ein umfassendes Urteil über die praktische Umsetzung der Luftreinhaltungsgesetze des 19. Jahrhunderts ist beim derzeitigen Forschungsstand noch nicht möglich. Eigene Untersuchungen zur französischen, belgischen und italienischen Praxis ebenso wie neuere Arbeiten zu anderen europäischen Regionen lassen aber vermuten, daß die Unternehmerinteressen häufig Vorrang erhielten und der Wille zur energischen Durchsetzung der einschlägigen Bestimmungen oft nur mäßig ausgeprägt war. In England blieb die Zahl der Strafverfolgungen wegen verbotener Rauchfreisetzung trotz vieler Anzeigen klein, die Strafen waren vor allem für größere Unternehmen viel zu niedrig, als daß sie eine abschreckende Wirkung hätten entfalten können, und der Begriff der „best practical means" zur Rauchverhütung, die die Unternehmer verwenden sollten, war zu verwaschen, um energische Eingriffe begründen zu können. 26 In Paris mußte sich die zuständige Gesundheitskommission wiederholt gegen den Vorwurf ihrer allzu großen Unternehmerfreundlichkeit zur Wehr setzen. Tatsächlich lehnte sie 1837 von 315 Genehmigungsanträgen nur 15 ab, 1838 24 von 347 und 1839 gar nur 10 von 319. 27 Dies entsprach im übrigen ganz den Absichten der Regierung. Der französische Innenminister hatte gegenüber den Präfekten von Anfang an ausdrücklich die Erwartung geäußert, daß sie sich „in der Untersuchung der Anträge über die kleinlichen Leidenschaften setzen werden, und, allein von Motiven der öffentlichen Nützlichkeit angetrieben, Urteile abgeben werden, die von Erwägungen einer höheren Ordnung diktiert sind, wie der Notwendigkeit, die Arbeiterklasse zu beschäftigen und dem Ort zu einem Unternehmen zu verhelfen, dessen Betrieb seinen Wohlstand vermehren muß." 28 Eine ähnlich wirtschaftsfreundliche Haltung deutet sich auch für die Arbeit der technischen Deputationen in Preußen und Sachsen an, wenn beispielsweise die Abgase aus Zinkhütten für gesundheitlich unbedenklich erklärt wurden. 29 J. B. Montfalcon und A. P. I. Polinière, zwei führende französische 26 27

Vgl. Flick, Smoke abatement, S. 35-37 und S. 48-50. Moléon , Rapports, 1841, S. 328, S. 402 und S. 455.

28 Rundschreiben vom 22.11.1811, in: L. A. Macarel (Hg.), Législation et jurisprudence des ateliers dangereux, insalubres et incommodes ou manuel des manufacturiers, propriétaires, chefs d'ateliers, Paris 1828, S. 255. 29

Andersen , Industriepolitik und Umwelt. Die Norddeutsche Affinerie in Hamburg, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 3 (1988), S. 8-43, hier: S. 13; F.J. Brüggemeier, The Ruhr basin 1850-1980. A case of large-scale environmental pollution, in: The silent countdown. Essays in European environmental history. Hrsg. v. P. Brimblecombe und C. Pfister , Berlin u.a. 1990, S. 210-227; C. Bruch, Industrieansiedlung und früher Bürgerprotest, in: Hi-

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Stadthygieniker der Jahrhundertmitte, hielten dies im übrigen für eine fast zwangsläufige Entwicklung: „Man kann sie [die Gesundheitsräte] für diese Duldsamkeit nicht tadeln: müßten sie allen mehr oder weniger berechtigten Klagen stattgeben, die zu ihnen gelangen, wären sehr wenige Handwerke und Gewerbe möglich. Überall wo sich Betriebe ansiedeln, die eine gewisse Belästigung mit sich bringen, finden sich Nachbarn, die umgehend ihre oft zahlreichen und heftigen Einwendungen geltend machen; aber irgendwo muß man die Hutmacherwerkstätten, die Lederhersteller, die Gerber, die Kalköfen dulden." 3 0

Legitimationsexperten Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß die Genehmigungspflicht nach dem französischen Modell neben der Luftreinhaltung eine zweite wichtige Funktion erfüllte: Sie war ein vorzügliches Instrument zur weitgehend reibungslosen und für die Industrie verhältnismäßig schmerzlosen Bewältigung der wachsenden Konflikte um die gewerbliche Luftverschmutzung. Im Rahmen des überkommenen Modells von Einzelbestimmungen für einzelne Gewerbezweige und ad-hoc-Entscheidungen örtlicher Polizeibehörden hatten die Behörden vor Ort häufig keinen anderen Ausweg gesehen, als dem Druck der Öffentlichkeit nachzugeben. Manchmal machten sie sich die Befürchtungen der Anwohner gar gänzlich zu eigen und gingen von sich aus gegen luftverschmutzende Betriebe vor. In jedem Falle sahen sich die Unternehmer in einem anhaltenden Zustand der Rechtsunsicherheit. Selbst Betriebe, die ursprünglich außerhalb einer Stadt errichtet wurden, hatten keine Gewähr gegen behördliche Maßnahmen, wenn sie im Zuge der städtischen Vorortbildung allmählich von Wohnhäusern umgeben und dann, etwa bei Betriebserweiterungen, zum Gegenstand heftiger Klagen wurden. Diesem Zustand, in dem „eine einfache Polizeibehörde den Erfolg oder den Ruin des Unternehmens in ihren Händen hat", durch klare Normen Abhilfe zu schaffen, war bereits ein zentrales Anliegen der Wissenschaftler des „Institut national", deren Vorarbeiten dem französischen Gesetz von 1810 zugrunde lagen. Mit Nachdruck warnten sie vor den Folgen

storische Umweltforschung. Wissenschaftliche Neuorientierung - Aktuelle Fragestellungen. Dokumentation einer Studienkonferenz in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Rheinland/Referat Heimatpflege, Bergisch Gladbach 1992, S. 79-104; U. Klein, „... auf dem Kamm des Gebirges ...". Umweltprobleme und Lösungsstrategien in der gesellschaftlichen Kontroverse des 19. Jahrhunderts am Beispiel Westfalens, ebd., S. 105-128; das Buch von U. Gilhaus, „Schmerzenskinder der Industrie". Umweltverschmutzung, Umweltpolitik und sozialer Protest im Industriezeitalter in Westfalen, 1845-1914, Paderborn 1995, war mir bei Abschluß dieses Beitrags leider noch nicht zugänglich. 30

Montfalcon / Polinière , grandes villes, S. 174.

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von „Vorurteilen, Unwissenheit und Neid" und vor einer Überbewertung der „schlecht begründeten Beschwerden", die sich „nur allzu häufig gegen die Betriebe richten, tagtäglich den Erfolg und die Ehre des Unternehmers bedrohen, den industriellen Fortschritt verzögern." 31 Montfalcon und Polinière sprachen einige Jahrzehnte später kurz und bündig von einer „Sicherheitsgarantie, welche die Gesetzgebung der Industrie gewährt; sie sichert dem Unternehmer [...] die ungestörte und umfassende Ausübung seines Gewerbes zu [...], verteidigt die Betriebe gegen leidenschaftliche und ungerechte Angriffe und bringt die Mißgunst zum Schweigen" 32 Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die herausragende Rolle neue Konturen, die die Hygieniker und andere Experten in den Genehmigungsverfahren frühzeitig erobern konnten. Sie trugen entscheidend dazu bei, die Konflikte um die gewerbliche Luftverschmutzung von der allgemeinen politischen Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessengruppen auf die scheinbar objektive Ebene einer wissenschaftlichen Debatte zu verlagern, mit der Folge einer weitgehenden Entmündigung des gewöhnlichen Laienverstands. Die Experten selbst trieben diesen Prozeß aus ihren Professionalisierungs- und Spezialisierungsinteressen heraus aktiv voran. Der fuhrende französische Hygieniker A.-J.-B. Parent-Duchatelet und seine Mitstreiter wollten in Fragen der Luftverschmutzung nicht einmal mehr das Wort gewöhnlicher Ärzte anerkennen, sondern nurmehr das des einschlägig erfahrenen Spezialisten, denn man könne „gründlich die gesamte medizinische Literatur kennen, [...] ein ausgezeichneter Praktiker am Krankenbett sein, ein gelehrter Arzt, ein fähiger und beredter Professor - doch all dieses Wissen ist für sich genommen in einer Sanitätskommission wie der von Paris fast nutzlos." 33 Vor allem im Umgang mit jenen pflanzen- und tierverarbeitenden Gewerben, die von breiten Bevölkerungskreisen allein aufgrund ihres Gestanks als Quelle gefährlicher Miasmen gefürchtet wurden, machte sich der neue Autoritätsanspruch geltend. ParentDuchatelet und seine Mitstreiter wollten hier nurmehr den empirischen, statistischen Nachweis einer Erhöhung der Morbidität und Mortalität im Umkreis um die betreffenden Einrichtungen gelten lassen. Das bloße Vorkommen ungewöhnlicher Krankheitsfälle etwa im Umkreis von tierkörperverarbeitenden Betrieben besaß für sie keinerlei Beweiskraft. 34

11 Von der naturwissenschaftlich-mathematischen Klasse des „Institut national" gebilligter Kommissionsentwurf vom 17.12.1804, in: Macarel, Législation, S. 8-19, zit. S. 9 und S. 16. 32 Montfalcon / Polinière , Grandes villes, S. 169. 33 A.-J.-B. Parent-Duchatelet , Quelques considérations sur le conseil de salubrité de Paris, in: Annales d'hygiène publique et de médecine légale 9 (1833), S. 243-252. 34 A.-J.-B. Parent-Duchatelet , Des obstacles que les préjugés médicaux apportent dans quelques circonstances a l'assainissement des villes et a l'établissement de certaines manufactures, in: ders.,

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Gewiß wird man den zeitgenössischen Experten rückblickend zubilligen müssen, daß nicht jede Klage von Anwohnern in gleichem Maße einer außergewöhnlichen Gefährdung oder Belästigung galt und zuweilen nachweislich ganz andere Motive wie Konkurrenzdenken und persönliche Fehden wirksam waren. Als Außenstehende ohne unmittelbare persönliche Interessen konnten die Experten und die Behörden, die sich auf ihr Votum stützten, im Konflikt zwischen Nachbarn und Unternehmern eine wichtige Schlichtungsfunktion wahrnehmen. Es darf aber auch nicht übersehen werden, daß die Experten ihr Votum zwar mit dem Gewicht wissenschaftlicher Erfahrung und Autorität vortrugen und damit das Mitspracherecht des gewöhnlichen Laien erheblich beschnitten, sich aber in der entscheidenden Frage, ob bestimmte Risiken, Belastungen oder Schäden zumutbar waren oder nicht, gleichfalls auch nur auf ihr subjektives Urteil, ihre persönlichen Wertmaßstäbe stützen konnten. Kein objektives wissenschaftliches Kriterium konnte darüber Auskunft geben, ob ein bestimmter Grad von Gestank oder Belästigung durch Rauch und Ruß nach Abwägung der Vorzüge, die der gewählte, städtische Betriebsstandort für den Unternehmer bot, in Kauf genommen werden mußte oder nicht. Und wenn die Anwohner um ihre Gesundheit fürchteten, konnte die Wissenschaft das Fehlen von Beweisen für eine emissionsbedingte Krankheitshäufung ins Feld führen, aber sie konnte andererseits eine gewisse Erhöhung des Krankheitsrisikos zumindest für empfindliche Personen auch nicht gänzlich ausschließen.

Schluß Bekanntlich sind die Zusammenhänge zwischen städtischer Luftverschmutzung und der Häufung von Krankheiten nach wie vor Gegenstand heftiger wissenschaftlicher und politischer Debatten. Im Gegensatz etwa zur Trinkwasserkontamination gibt es nach heutigen Maßstäben keine schlüssigen Beweise dafür, daß die gewerblich-industrielle Luftverschmutzung des 19. Jahrhunderts den Gesundheitszustand der Bevölkerung in größerem Umfang beeinträchtigte, wenn auch zumindest eine Förderung von Atemwegserkrankungen als wahrscheinlich gelten kann. 35 Die Frage nach dem Ausmaß, in dem eine rigorosere Luftreinhaltungspolitik konkret die städtischen Gesundheitsverhältnisse im 19. Jahrhundert nennenswert hätte beeinflussen können, läßt sich dementsprechend nicht abschließend beantworten. Selbst das Argument, die sich andeutende ein-

Hygiène publique ou mémoires sur les questions les plus importantes de l'hygiène, Bd. 1, Paris 1836, S. 12-58. 35 Zeitgenössische Beobachter warnten zudem auch vor indirekten Folgen auf das Hygieneverhalten der Unterschichten, die angesichts des allgegenwärtigen Rußes in der Beachtung persönlicher Reinlichkeit keinen Sinn mehr erkennen könnten. 19 Vögele/Woelk

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seitige Bevorzugung von Unternehmerinteressen in der Luftreinhaltungspolitik habe zumindest mittelfristig über das Wirtschaftswachstum und die Verbesserung des durchschnittlichen Lebensstandards sogar überwiegend günstige Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung insgesamt gehabt, ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Außer Zweifel steht jedoch, daß die gewerblichen Emissionen das Wohlbefinden der Anwohner damals oft ganz erheblich beeinträchtigten, und daß diese sich konkret und unmittelbar in ihrer Gesundheit bedroht fühlten, wenn auch womöglich noch mehr durch miasmatische Ausdünstungen aus Betrieben, die fäulnisanfällige tierische oder pflanzliche Stoffe verarbeiteten, als durch Schadstoffemissionen im heutigen Sinne. So legte der institutionalisierte Umgang mit der gewerblichen Luftverschmutzung im 19. Jahrhundert die Grundlagen für das bis heute wirkmächtige Modell einer Kanalisierung und Neutralisierung gesundheitsrelevanter Widerstände der Bevölkerung durch die Verlagerung des Konflikts auf die Ebene der wissenschaftlichen Diskussion. Die Experten, die kraft ihrer wissenschaftlichen Autorität subjektiven Werturteilen über die Zumutbarkeit von Risiken oder konkreten Schadstoffbelastungen den Mantel konfliktneutraler Objektivität verliehen, wurden, um einen Begriff Antonio Gramscis aufzugreifen, zu „organischen Intellektuellen". 36 Indem sie in ihrer Mehrheit die gewerblich-industrielle Luftverschmutzung als weitgehend unumgängliche Begleiterscheinung des wirtschaftlichen Fortschritts rechtfertigten, halfen sie, die wirtschaftlichen und politischen Interessen jener Gruppierungen zu legitimieren, die den Industrialisierungsprozeß vorantrieben und von ihm in besonderem Maße profitierten. Die Chancen eines wirksamen Widerstands hingen und hängen seither - Erfolge und Mißerfolge der jüngeren Umweltschutzbewegung zeigen das sehr anschaulich - entscheidend von der Fähigkeit der Gegner ab, nicht nur die breitere Bevölkerung zu mobilisieren, sondern auch ihrerseits einflußreiche Experten zu gewinnen und deren wissenschaftliche Autorität in der öffentlichen Debatte zur Geltung zu bringen.

36 A. Gramsci , Quaderni del carcere. Hrsg. v. V. Gerratana , 4 Bde., Turin 1975; s.a. J. Karabel, Revolutionary contradictions: Antonio Gramsci and the problem of intellectuals, in: Politics and society 6 (1976), S. 123-172.

Reform unerwünscht. Lufthygiene, Luftverschmutzung und Umweltpolitik vor dem Ersten Weltkrieg am Beispiel Westfalens

Von Ulrike Gilhaus Überall in Europa rief das große Sterben im Gefolge der Cholerazüge Hygieniker und Sozialreformer auf den Plan. Lange vor der endgültigen Klärung des Übertragungsweges kam es zu einer Jahrzehnte dauernden Kontroverse über die Assanierung der Städte und die Reform der Wohnverhältnisse. Cholera wie später auch die Tuberkulose beschleunigten die generelle Sensibilisierung gegenüber Schmutz, Gestank, unzuträglichen Wohnverhältnissen, Arbeitsbedingungen und mangelhafter Ernährung. Nicht ohne Grund sprach Robert Koch von der Cholera als „unserem alten Verbündeten" 1. Bei den seit dem späten 19. Jahrhundert wachsenden industriell induzierten Gesundheitsgefährdungen blieben vergleichbar durchgreifende Reformen aus,2 obwohl Umweltbelastungen die Lebenswirklichkeit der Städter im Industriezeitalter immer entscheidender bestimmten. Die Veränderung von Morbidität und Mortalität unter dem Einfluß wachsender industrieller Umweltbelastungen ist auch von der modernen Umweltgeschichte erst ansatzweise erforscht, 3 die zeitgenössische Diskussion noch unzureichend nachgezeichnet. Welcher Wissensstand über die hygienischen Implikationen der wachsenden Luftbelastung als einer wichtigen neuen Determinanten städtischer Gesundheitsverhältnisse existierte an der Wende zum 20. Jahrhundert - der Spätphase des Epidemiologi-

1 Zit. nach: M. Skopec, Die Cholera in Wien, in: H. Wilderotter (Hg.), Das große Sterben. Seuchen machen Geschichte, Dresden 1995, S. 252-255, hier: S. 245f. 2 Arbeitsmedizinische Aspekte werden im folgenden ausgeklammert; vgl. hierzu die Diskussion bei E. Schramm, Historische Umweltforschung und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Archiv flir Soziaigeschichte 37 (1987), S. 439-455, hier: S. 441f. 3 Vgl. die Tagungsbeiträge in: J. Reulecke / A. Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hgg.), Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von „Volksgesundheit" und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991; ferner: A. Andersen, Die Rauchplage im deutschen Kaiserreich als Beispiel einer versuchten Umweltbewältigung, in: G. Jaritz / V. Winiwarter (Hgg.), Umweltbewältigung. Die historische Perspektive, Bielefeld 1994, S. 99-129.

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sehen Übergangs 4 -, und welche Impulse steuerte die Fachdiskussion zur Reform des Immissionsschutzes bei? Wie stand es tatsächlich um die Luftbelastung in den Industriegebieten? Und schließlich: Welche Gewichtung von Umwelthygiene und Wirtschaftspolitik erfolgte in den Schaltstellen der Zentraladministration Preußens - dem Staat mit den wichtigsten Industrierevieren des Kaiserreiches -, wie angemessen oder unangemessen waren letztlich staatliche Reaktionsmuster, und welche Katalysatoren und Widerstände umwelthygienischer Reformbemühungen lassen sich ermitteln?

Medizinischer Wissensstand Seit der Jahrhundertwende lassen sich erste Ansätze einer Umwelthygiene erkennen, wobei die Einwirkungen des Schwefeldioxids im Vordergrund standen. Das Problem der ,diffusen' Rauchplage, wie die ständige Luftverschmutzung in den Ballungs- und Industriezentren im Unterschied zur ,lokalen' Rauchbelästigung im Umkreis einzelner größerer Rauchquellen genannt wurde, trat mit beträchtlichen zeitlichen Verschiebungen in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf. Die ,Rauch und Rußplage', wie die offizielle Sprachregelung die vielschichtige Problemlage bald fatalistisch-resignativ beschrieb, umfaßte eine vermehrte Nebelbildung, eine deutlich verminderte Sonneneinstrahlung, erhöhte Schwefeldioxid-Konzentrationen in Verbindung mit ständig herabrieselndem Ruß.5 Eine um 1900 durchgeführte Umfrage des ,Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege' unter Städten mit mehr als 15.000 Einwohnern ergab, daß etwa ein Viertel der befragten Städte schon unter diesen Zuständen zu leiden hatte. Exakte Daten fehlen, da die Luftanalyse meßtechnisch noch in ihren Anfangen steckte. Ursache der Luftverschmutzung - darin bestand Einigkeit - war vor allem der gestiegene Steinkohlenverbrauch. In Großbritannien kannte man diesen Zustand schon länger. Im Januar und Februar 1880 wurde London von einer längeren austauscharmen Wetterlage, einer Nebelperiode bei gleichzeitiger großer Kälte, heimgesucht. Dies war die erste akute Luftverunreinigungskatastrophe, über die einige statistische Daten existieren. In London starben in der Zeit vom 24. Januar, dem Beginn der Wetterlage, bis zu ihrem Ende am 14. Februar an einzelnen Tagen etwa doppelt so viele Menschen wie vor der Katastrophe. In 19 Provinzstädten lag die Sterblichkeitsrate in diesem Zeitraum bei 26,3 pro 1.000 der geschätzten Bevölkerung, in London dagegen bei 48,1. Zeitgenössische Mediziner folgerten richtig,

4

Vgl. J. Vögele, Die Entwicklung der (groß-)städtischen Gesundheitsverhältnisse in der Epoche

des Demographischen und Epidemiologischen Übergangs, in: Reulecke / Gräfin zu Castell Rüden-

hausen, Stadt und Gesundheit, S. 21-36, hier: S. 23f. 5 Vgl. A. Reich, Leitfaden für die Ruß- und Rauchfrage, München 1917, S. 101 und 103.

Reform unerwünscht

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daß die vermehrte Sterblichkeit nicht der allgemein herrschenden Kälte, sondern dem Nebel, insbesondere aber dem „Rauch" zuzuschreiben sei. Häufigste Todesursache waren Atemwegserkrankungen durch eine chemische Reizung exponierter Schleimhäute. Bei späteren Luftkatastrophen hatten sich Schwefeloxide in Verbindung mit Stäuben als Ursache der Erkrankungen herausgestellt; mit einiger Wahrscheinlichkeit galt dies auch für die Londoner Katastrophe von 1880. Nach allgemeiner Beobachtung trug die Luft- und Klimaverschlechterung zur Verschärfung bestehender Katarrhe der Atemwege bei,6 auch asthmatische Erkrankungen nahmen an Zahl und Heftigkeit zu. 7 Die Forschung über mögliche Kausalzusammenhänge zwischen Luftverschmutzung und Morbidität stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch am Anfang. Eine erste wichtige, gleichwohl umstrittene Arbeit, ,Der Einfluß des Rauches auf die Atmungsorgane', legte 1905 Ludwig (Louis) Ascher vor. Mit Hilfe medizinalstatistischer Berechnungen wies er in Preußen seit dem Ende der 1870er Jahre einen Anstieg der nichttuberkulösen, also akuten Atemwegserkrankungen, besonders der Lungenkrankheiten nach, der am ausgeprägtesten bei den extremen Altersgruppen vorgefunden wurde. 8 Seine Ergebnisse zeigten, daß diese Zunahme in den industriellen Gegenden am stärksten war, wobei die sogenannten ,Rauchkreise', d.h. vorwiegend schwerindustrielle Gebiete (z.B. Essen), im Vergleich zu den ,Textilgegenden' eine signifikant höhere Erkrankungsrate der Respirationsorgane aufwiesen. 9 In den Industriegegenden betrug die Zunahme bei Säuglingen seit 1875 bis zu 600 v.H. 1 0 Ursache war nach Aschers Ansicht „der Rauch der Kohlenfeuerung". 11 Damit widersprach er der bisherigen These, „daß der 6 Vgl. Reich, Leitfaden, S. 193 und 197. Auch im westfälischen Letmathe beobachteten Ärzte eine Zunahme von Atemwegserkrankungen, die möglicherweise auf das Konto der örtlichen Zinkhütte ging; vgl. Staatsarchiv Münster [künftig StaM], Reg. Arnsberg IGA 19,1, diverse Gutachten. 7 Vgl. A. Fruböse, Die Bedeutung der verunreinigten Luft für die menschliche Gesundheit mit besonderer Berücksichtigung der Großstädte und Industriebezirke, Berlin 1927, S. 26. 8

Auf diese Tatsache hatte um 1882 bereits Finkelnburg hingewiesen, doch blieb seine These damals weitgehend unbeachtet. Vgl. L. Ascher, Der Einfluß des Rauches auf die Atmungsorgane. Eine sozialhygienische Untersuchung für Mediziner, Nationalökonomen, Gewerbe- und Verwaltungsbeamte, sowie für Feuerungstechniker, Stuttgart 1905, S. 13. 9

Vgl. Ascher, Einfluß des Rauches, S. 13ff. Aschers Ergebnisse werden in gewisser Weise abgestützt durch eine Statistik von Müller-Voigt aus dem Jahr 1912. Während damals auf 10.000 Einwohner in Deutschland 13,1 Todesfälle durch Lungenentzündungen entfielen, lag die Sterblichkeit hieran in allen Ruhrgebietsstädten erheblich höher, in Bottrop und Recklinghausen bei 27,0, in Gelsenkirchen sogar bei 28,0. Müller-Voigt führt diese Abweichung vom Mittelwert auf »soziale Momente' zurück, er gibt jedoch keine hinreichende Erklärung der statistischen Befunde. Vgl. F .Müller-Voigt, Zur Frage der Gesundheitsschädigungen durch die Industrieluft, in: Kleine Mitteilungen der Landesanstalt für Wasser-, Boden- und Lufthygiene, Beih. 5, Berlin 1927, S. 373388, hier: S. 38Iff. 10 n

Vgl. Ascher, Einfluß des Rauches, S. 35.

Ebd.,

S. 10.

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Rauch zwar eine Plage, aber keine Schädlichkeit sei", eine Ansicht, die auch das Kaiserliche Gesundheitsamt damals teilte. 12 Ascher vermutete eine indirekte Wirkung des Rauches bzw. seiner Schadstoffe auf das Immunsystem mit der Folge einer gesteigerten Disposition für Infektionskrankheiten. 13 Gleichzeitig führe die Luftverschmutzung indirekt zu einer Senkung der durchschnittlichen Lebenserwartung: Das Immunsystem werde generell geschwächt, so daß nicht nur eine höhere Rate akuter Lungenkrankheiten zu beobachten war, sondern auch der Verlauf tuberkulöser Erkrankungen beschleunigt wurde. 14 Aschers Thesen stießen in Fachkreisen auf vehemente Kritik. 1 5 Besonders der beschleunigte Verlauf der Tuberkulose in Gebieten mit starker Luftbelastung wurde von den Kollegen zurückgewiesen. Zwar teilten viele die Ansicht, daß ein schädigender Einfluß der Industrieluft auf den Gesundheitszustand wahrscheinlich sei, doch lieferte ihrer Ansicht nach Aschers Arbeit keine hinreichenden Belege dafür. Insbesondere könne ein eindeutiger Kausalzusammenhang zwischen Gesundheitsschädigungen bei niedrigen Schadgaskonzentrationen und Langzeitexpositionen nicht nachgewiesen werden. Nach dem Erkenntnisstand um 1905 wollten die Kollegen lediglich bei widerstandsschwachen Individuen eine schädigende Wirkung langfristig nicht ausschließen. Die Diskussion um die pathogenen Bestandteile der Industrieluft und die Rezeption von Aschers Thesen blieb auf Expertenkreise beschränkt. Weder griff das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten die Forderung von Ärzten nach Führung einer offiziellen Medizinalstatistik über Morbidität und Mortalität in ausgewählten Industriegebieten auf, 16 noch wurden experimentelle Untersuchungen zu diesem Themenkomplex staatlicherseits, etwa von der 1901 gegründeten ,Landesanstalt für Wasser-, Boden- und Lufthygiene', gefördert. Auch in der kommunalen Diskussion um Bebauungspläne und die Ausweisung erster Industriezonen spielte das Argument der Gesundheitsschädigung in schwerindustriellen Städten keine Rolle. 17 12

Ebd., S. 10. Diese Annahme beruhte darauf, daß eine mechanische Reizung der Atemwege oder gar Entzündungen durch Kohlenstaubpartikel im Tierversuch nicht nachgewiesen werden konnten; vgl. ebd., S. 11. 13 Ebd., S. 12. 14 Ebd., S. 19. Zu diesem Ergebnis war schon ein Jahr zuvor Kißkalt gelangt. Seinen Untersuchungen zufolge begünstigten erhöhte Schwefeldioxid-Gehalte der Luft Verlauf und Ausmaß der Tuberkulose. Er forderte jedoch weitere Untersuchungen, um diese Annahmen absichern zu können. Vgl. Fruböse, Bedeutung, S. 38. 15 Vgl. die Diskussion der wichtigsten Aspekte bei Reich, Leitfaden, S. 226ff.; Fruböse, Bedeutung, S. 34ff. 16 Vgl. z.B. die Forderung des Letmather Arztes Dr. Droste in: StaM, Reg. Arnsberg I GA 19,1, Schreiben an die Arnsberger Regierung v. 3.2.1888, Bl. 311. 17 Vgl. hierzu W. R. Krabbe, Stadt Montan: Dortmund / Hörde, in: O. Dascher / C. Kleinschmidt (Hgg.), Die Eisen- und Stahlindustrie im Dortmunder Raum. Wirtschaftliche Ent-

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Im Gegenteil: Unterschriftenaktionen und Bürgerinitiativen, die unter maßgeblicher Beteiligung niedergelassener Ärzte anliefen, wurden durch Intervention von Industriellen bald unterbunden, 18 Kassen- und Werksärzte entsprachen dem Druck ihrer Arbeitgeber nach Gefalligkeitsgutachten, 19 in denen immer wieder die ,desinficirende' Wirkung des Schwefeldioxids hervorgehoben wurde. Ähnlich kamen meßtechnische Fortschritte zur Ermittlung der realen Luftbelastung erstaunlich oft nicht zum Einsatz; 20 sie wurden auch nicht mit der angemessenen staatlichen Förderung bedacht. Auch der für Umweltfragen maßgebliche und überaus einflußreiche ,Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege' bezog eine moderate umweltpolitische Position, die sich insgesamt mit der noch darzustellenden Linie der Zentralbehörden deckte.21 Die industriell bedingte Luftverschmutzung in Westfalen Die Dimension der Luftbelastung liegt bisher weitgehend im dunkeln. 22 Die hier vorgestellten Quantifizierungsversuche der industriellen Luftbelastung in Westfalen ermöglichen einen ersten Einstieg in die Diskussion über Belastungsgebiete und Dimension der Verschmutzung und wollen damit Ansatzpunkte einer Zusammenarbeit von Umwelt- und Medizingeschichte aufzeigen.

wicklung, soziale Strukturen und technologischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 47-63, bes. S. 48ff. 18 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin [künftig GStaB], Rep. 120, BB II a 2 Nr. 28 adh. 1, Vol. 1, „Bericht des Gewerberathes zu Düsseldorf über die Smoke Abatement Exhibition in London" ν. 6.9.1882, Bl. 62-92. Ihm war bekannt, daß eine Unterschriftenaktion in Gladbach, durch die die Behörden zum Einschreiten gegen übermäßige Industriegase aufgefordert werden sollten, die ortsansässige Ärzte für die Atemwegserkrankungen verantwortlich machten, durch Intervention Industrieller beendet worden war. 19 Vgl. W. Reineke, Grundbesitz und Bergbau. Eine Denkschrift über die Lage der landwirtschaftlichen Grundbesitzer im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, im Auftrage der Landwirtschaftskammer für die Provinz Westfalen und des Westfälischen Bauernvereins, Münster 1914, S. 6; ferner StaM, Reg. Arnsberg I GA 295, anonymes Schreiben von Gosenbacher Arbeitern v. 24.2.1895. 20 Vgl. U. Gilhaus, ,Schmerzenskinder der Industrie'. Umweltverschmutzung, Umweltpolitik und sozialer Protest im Industriezeitalter in Westfalen 1845-1914, Paderborn 1995, S. 136. So setzte der Rauchschadensforscher Arwed Wieler seinen Aspirator bei Untersuchungen im Ruhrgebiet 1922 nicht ein. 21 Vgl. etwa die Position des Hygienikers Hahn bei Andersen, Rauchplage, S. 107. 22 Selbst neue umwelthistorische Arbeiten stützen sich für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und sogar danach lediglich auf zeitgenössische narrative Aussagen; vgl. etwa F. J. Brüggemeier / T. Rommelspacher, Blauer Himmel über der Ruhr. Geschichte der Umwelt im Ruhrgebiet, 18401990, Essen 1992; R. Henneking, Chemische Industrie und Umwelt, Konflikte um Umweltbelastungen durch die chemische Industrie am Beispiel der schwerchemischen, Farben- und Düngemittelindustrie der Rheinprovinz (ca. 1800-1914), Stuttgart 1994.

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Auf diesem Ansatz aufbauend müssen erst in Mikrostudien Morbidität und Mortalität in ausgewählten westfälischen Städten in Beziehung zu dem nachweisbaren und z.T. extremen Anstieg industrieller Emissionen gesetzt werden. Zu ersten mikroräumlichen ,Umweltbelastungsinseln ' kam es in den stärker industrialisierten Zonen Westfalens schon um die Jahrhundertmitte. In der Ruhr- und südlichen Hellwegzone der Kreise Hagen, Bochum und Dortmund hatten sich zu dieser Zeit erste Großemittenten angesiedelt. Mit den ersten großen Kokereien, die damals die von Anwohnern gefürchteten halboffenen Schaumburger Öfen nutzten, sowie den ersten mit Koks produzierenden modernen Hochöfen und Glashütten war im Bochumer Süden und an der Grenze zur Rheinprovinz eine erste Verdichtung starker Säureemittenten erfolgt. Zur Abschätzung der Luftbelastung können Dampfmaschinen als Indikator der generellen Luftverschmutzung herangezogen werden. 23 Dampfmaschinen sind in der Wirtschaftsgeschichte ein allgemein akzeptierter Indikator für den Entwicklungsstand verschiedener Sektoren oder Regionen, weshalb man sie auch als »Gradmesser des Industrialisierungsprozesses' bezeichnet hat. 24 Analog zu den bisherigen historisch-statistischen Zugriffen, die Mechanisierung und Maschinisierung als wichtigste Charakteristika der Industrialisierung mit Hilfe von Dampfmaschinen zu erfassen, wird in meiner Dissertation erstmals der Versuch unternommen, eine Quantifizierung der Luftbelastung anhand des Leitwertes Schwefeldioxid durch Dampfmaschinen paradigmatisch für Westfalen zu leisten. Mit dieser Methode läßt sich einmal eine Abschätzung der bisher im dunkeln liegenden Luftbelastung durch die massenhafte Steinkohleverbrennung in den Dampfkesseln, die seit der Jahrhundertmitte stark in die Höhe schnellte, geben. Darüber hinaus dienen die Ergebnisse über die Schwefeldioxidemissionen der Dampfmaschinen als Indikator für die Ermittlung der regionalen Luftverschmutzung überhaupt, da die Industrieproduktion mit der Dampfmaschine als Energietransformator bis zum Ersten Weltkrieg wesentlich verkoppelt war. Mit Hilfe dieses methodischen Ansatzes läßt sich quantifizieren, welche Entwicklung die industriell bedingte Luftverschmutzung der Kreise - als kleinste regionale Bezugsgröße - nahm. Die preußische Statistik hat Dampfmaschinenzahlen nur für wenige Jahre auf der Kreisebene publiziert, so daß auf diese Statistiken für die Jahre 1849, 1875 und 1904 zurückgegriffen und für diese Stichjahre der Schwefeldioxid-Ausstoß berechnet werden kann. Diese Quellenbasis ermöglicht jedoch keine Abschätzung der Belastungen einzelner Städte. Für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert konnten diese flä-

23

Zur methodischen Diskussion des Verfahrens vgl. Gilhaus, Umweltverschmutzung, S. 164f., Anm. 601; S. 192f., Anm. 712. 24 Vgl. hierzu T. Pierenkemper, Regionale Differenzierung im östlichen Ruhrgebiet, in: R. Fremdling / R. Tilly (Hgg.), Industrialisierung und Raum. Studien zur regionalen Differenzierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1979, S. 165-191, S. 168f.

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chendeckenden Daten über die generelle Luftverschmutzung mit den Daten über die Emissionen einer einzelnen Großemittentengruppe verglichen werden, die für das westfälische Ruhrgebiet eine ganz besondere Bedeutung hatte: die Kokereien. 25 Auf der Basis der Produktionsstatistik jeder einzelnen Kokerei lassen sich deren jährliche Emissionen hochrechnen. Erst dieses Verfahren ermöglicht eine Beantwortung der Frage, inwieweit die perspektivische Verengung der Immissionspolitik auf die qualmenden Schlote der Kesselhäuser propagandistischer Feldzug der preußischen Zentralbehörden oder berechtigtes Anliegen war. Letztlich ist erst hierdurch zu klären, wie ernsthaft Umweltpolitik und Lufthygiene auf politisch-administrativer Ebene betrieben wurden. Die erste Dampfmaschinenkarte zeigt für 184926 eine stärkere Belastung einzig in den südöstlichen Kreisen des sich herausbildenden Ruhrgebietes (Kreise Hagen, Bochum, Dortmund) mit einem Spitzenwert für Dortmund. Im letztgenannten Kreis wurden rd. 258 t Schwefeldioxid durch Dampfmaschinen emittiert, was einer rechnerischen Belastung von 0,571 / qkm entspricht. Hagen und Bochum lagen noch unter diesem Wert. Diese Schwefeldioxid-Dichte muß noch als sehr gering bezeichnet werden. Da jedoch innerhalb dieser Kreise nur erste Teilräume industrialisiert waren, so muß man davon ausgehen, daß in einzelnen Mikroräumen die Belastungen schon durchaus stark waren. Hier existierten um die Jahrhundertmitte nicht mehr nur einzelne lokale Schäden in der unmittelbaren Umgebung der Anlagen, sondern Gemeinden wie etwa Altendorf, Königssteele, Haßlinghausen, Hattingen müssen bereits als Mikroräume mit erheblicher Luftverschmutzung angesprochen werden. Im Dortmunder Raum waren die Immissionsschäden am Ende der 1850er Jahre schon so stark, daß bereits mit kilometerlangen Laubhölzermänteln zum Schutz der Kulturflächen experimentiert wurde. 27

25

Zur Methodendiskussion vgl. Gilhaus, Umweltverschmutzung, S. 174f., Anm. 643. Zur Diskussion der Luftbelastung in Westfalen um die Jahrhundertmitte s. ebd., S. 162ff. 27 Vgl. StaM, Oberpräsidium 1570,3, Bericht des Arnsberger Regierungspräsidenten v. 24.9.1899 an den Oberpräsidenten. 26

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Karte 1: Schwefeldioxid-Emissionen durch Dampfmaschinen 1849

In den späten 1880er Jahren 28 hatte die Luftverschmutzung in Westfalen qualitativ und quantitativ eine neue Dimension erreicht. Die Rauchfahnen der Industrieschlote und Privathaushalte erzeugten einen regelrechten städtischen Smog, unter dem nicht nur die Ruhrgebietsstädte litten, sondern sogar die kleineren Städte des alten märkischen Gewerbereviers, besonders Iserlohn und Altena, aber auch Plettenberg und Hohenlimburg. Auch Bielefeld und Siegen dürften zu den Städten mit starker Luftverschmutzung gehört haben. Eine starke Verdichtung industrieller Großemittenten mit erheblichem Säureausstoß hatte im Ruhrgebiet und im Siegerland stattgefunden. Quantitativ stellten die Kokereien das Gros der Großemittenten im Revier. Die stärkste kleinräumliche 28

Zur Luftbelastung in dieser Periode vgl. Gilhaus, Umweltverschmutzung, S. 172ff.

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Belastungszone des Siegerlandes scheint nach allen verfügbaren Informationen das Gosenbachtal bei Niederschelden gewesen zu sein. Die dortige Grube ,Storch & Schöneberg' hatte unter den Zechen der Region die mit Abstand höchste Förderquote. Dies führte wegen der Abröstung der Erze an den Förderpunkten zu einer außerordentlich starken Schwefeldioxid-Belastung dieses Tales, in dem sogar in den späten 1880er Jahren schon die Wahrnehmungsschwelle, die bei 2,7 mg Schwefeldioxid / cbm Luft liegt, überschritten war. Das gesamte Tal war inzwischen in Mitleidenschaft gezogen, die Hauberge weitgehend geschädigt, aber noch nicht völlig abgestorben. Die Dampfmaschinenkarte für 1875 weist eine stärkere Luftverschmutzung nicht nur für die Kernräume des Ruhrgebiets aus, sondern auch für die Kreise Tecklenburg, Bielefeld, Recklinghausen, Hamm, Iserlohn, Altena, Olpe und ganz besonders für Hagen. Hier zeigt sich, daß weder der Blick auf die Großemittenten allein, noch auf die von den Dampfmaschinen mitbedingte Rauchplage zu einem verläßlichen Bild führt. Erst die Kombination beider methodischer Zugriffe verschafft Klarheit über belastete Teilräume. Um 1875 war die von den Dampfmaschinen verursachte Schwefeldioxiddichte im Kreis Bochum am höchsten: Bei Schwefeldioxid-Emissionen von rd. 8.375 t gingen hier rein rechnerisch rd. 21t / qkm nieder, in Dortmund betrug die Säuredichte ca. 13 t / qkm bei einem Ausstoß von 5.615 t. Deutlich niedriger war bereits die Emissionsdichte in den Kreisen Hagen und Siegen. Auch hier gilt, was bereits für die Belastungszonen des ersten Zeitabschnitts gesagt worden ist: Da jeweils nur Teilräume der Kreise industrialisiert waren, muß auch hier mit mikroräumlichen Belastungszonen gerechnet werden, wie etwa in Brackwede (Kreis Bielefeld), das schon um 1882 als „Fabrikort" im „Vollbild" galt. 29

29 Vgl. Staatsarchiv Detmold [künftig StaD], Reg. Minden IG 387, Schreiben der Glashütte ,Teutoburg' an den Handelsminister v. 8.3.1882.

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Karte 2: Schwefeldioxid-Emissionen durch Dampfmaschinen um 1875

Der Schwefeldioxideintrag muß in den Kernräumen des Ruhrgebietes schon als sehr stark bezeichnet werden. Relativ niedrige Schornsteine ließen einen nennenswerten Ferntransport noch nicht zu. Innerhalb von rund 25 Jahren - dies verdeutlicht der Vergleich der beiden Dampfmaschinenkarten - hatte der Kohleverbrauch dieser beiden Emittenten und ihr Schwefeldioxid-Ausstoß ganz erheblich zugenommen. Die Mechanisierung der Produktion hatte vor allem die Kreise des alten märkischen Gewerbereviers seit den 1860er Jahren erfaßt. Im Kreis Altena lag der Schwefeldioxid-Ausstoß schon um 1875 mit 365 t höher als um 1849 im Kreis Dortmund. Im Ruhrgebiet führte die gestiegene Produktion der Kokereien inzwischen zu erheblicher Luftbelastung. Am stärksten betroffen war nach der Hochrechnung der Emissionen für 1893 der Kreis Bochum (Grenzen von 1897), hier vor allem die Gemeinden Langendreer, Laer und Herne, aber auch das Stadtgebiet selbst, in dem sich neben den Kokereien auch zahlreiche andere Groß-

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emittenten ballten. Durch die Schornsteine der Bochumer Kokereien gingen um 1893 allein 12.000 t Schwefeldioxid in die Luft. Dies war weit mehr, als um 1875 die gesamten Dampfmaschinen der damals noch im Kreis Bochum zusammengefaßten späteren Kreise Bochum, Hattingen und Gelsenkirchen gemeinsam emittiert hatten. Hier zeigt sich, daß der Blick der Zeitgenossen auf die Dampfmaschinen, wie er etwa durch die im preußischen Innenministerium herausgegebenen ,Amtlichen Mitteilungen aus den Jahresberichten der mit Beaufsichtigung der Fabriken betrauten Beamten' gefordert wurde, zu einer starken und durchaus bewußten perspektivischen Verzerrung führte, die die stärksten Lufitverpester kontinuierlich aus dem öffentlichen Bewußtsein zu verdrängen suchte. Deutlich niedriger waren die Belastungen noch in den Kreisen Dortmund (ca. 4.000 t Schwefeldioxid) und Gelsenkirchen (ca. 4.000 t). Stark belastet waren hier die Gemeinden Wattenscheid und das Dortmunder Stadtgebiet. Die Verdichtung der Kokereien im östlichen und mittleren Ruhrgebiet ist als eine der wesentlichsten Ursachen der wachsenden Luftverschmutzung in diesem Gebiet anzusehen.

Karte 3: Schwefeldioxid-Emissionen durch Dampfmaschinen um 1904

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts läßt sich die voll abgeschlossene Ballung industrieller Großemittenten in zwei Hauptindustrieregionen erkennen: 30 dem westfälischen Ruhrgebiet und dem Siegerland, sowie einer kleinräumlichen Konzentration in Ostwestfalen um Bielefeld und um Hausberge und Lerbeck (Kreis Minden). Auch bei diesem dritten Zeitschnitt zeigt die Dampfmaschinenkarte von 1904, daß sogar in Regionen ohne Großemittenten, etwa im nordwestlichen Münsterland, die generelle industriebedingte Luftverschmutzung bedeutend gestiegen war. In den beiden Hauptindustrieregionen Westfalens trugen die Agglomeration zahlreicher starker Säureemittenten auf relativ engem Raum und die Emissionen aus der industriellen Steinkohleverfeuerung zu einer neuartigen Erscheinung bei, für die Bergerhoff rückblickend die Bezeichnung ,Rauchschadensmosaik' prägte, 31 was auf eine starke Verdichtung deutlich wahrnehmbarer Umweltzerstörung verweist. Die Belastung durch die Schwefeldioxid-Emissionen der Dampfmaschinen hatte um 1904 in allen Kreisen Westfalens zugenommen. Inzwischen dürften zumindest im Ruhrgebiet die gegenüber dem Zeitschnitt von 1875 deutlich höheren Schornsteine den Ferntransport der sauren Gase begünstigt haben, so daß eine Umrechnung des Schadgasausstoßes auf die Kreisfläche nicht mehr sinnvoll erscheint. 32 In den Kreisen (Stadt- und Landkreise) Recklinghausen, Gelsenkirchen, Bochum, Hattingen, Hagen, Schwelm, Dortmund, Hörde und Hamm wurden auf einer Gesamtfläche von 2.436 qkm ca. 99.313 t Schwefeldioxid in die Luft geblasen, was auf diesen Raum hochgerechnet einer Schwefeldioxiddichte allein durch die Verteuerung von Steinkohlen in Dampfkesseln von 40,76 t / qkm entsprechen würde, wenn man von einer Deposition der Gase innerhalb dieser großen Region ausgeht. Dieser Eintrag muß im Vergleich zu den heutigen Werten (1980er Jahre) als sehr stark bezeichnet werden. 33 Zusätzlich muß mit einem Export saurer Gase aus dem rheinischen Ruhrgebiet gerechnet werden. Eine extreme Luftbelastung dürfte im Kernraum des Ruhrgebiets, d.h. in den Kreisen Gelsenkirchen, im südwestlichen Recklinghausen, in 30 Die Luftbelastung in Westfalen nach der Jahrhundertwende wird ausführlich diskutiert bei Gilhaus, Umweltverschmutzung, S. 187ff. 31 Vgl. H. Bergerhoff, Untersuchungen über die Berg- und Rauchschädenfrage mit besonderer Berücksichtigung des Ruhrbezirks, Bonn-Poppelsdorf 1928, S. 52. 32 Die Einzeldaten des emittierten Schwefeldioxids werden hier nur zum Vergleich zu den früheren Zeitschnitten mitgeteilt: Kreis Recklinghausen (jeweils Stadt und Land) 12.526 t, Gelsenkirchen 13.883 t, Bochum 17.673 t, Hattingen 5.726 t, Hagen 6.907 t, Schwelm 2.797 t, Dortmund 22.954 t, Hörde 10.971 t, Hamm 5.8761. 33 Zum Vergleich seien hier die Werte von Wenzel, mitgeteilt bei C. Bosch, Die sterbenden Wälder. Fakten, Ursachen, Gegenmaßnahmen, München 1983, S. 72, genannt. Hier wurde in den frühen 1980er Jahren eine Schwefeldioxiddeposition von umgerechnet 5,7 t / qkm gemessen. Auch der Arbeitskreis Chemische Industrie, Katalysegruppe Köln' (Hg.), Das Waldsterben. Ursache Folgen - Gegenmaßnahmen, Köln 1983, S. 135, nennt eine durchschnittliche Schwefeldioxiddeposition von 6-601 / qkm im Jahr in Deutschland.

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Bochum, Dortmund und Hörde geherrscht haben. Im Kreis Bielefeld, wo man noch von niedrigeren Schornsteinen und einem entsprechend geringeren Ferntransport ausgehen darf, wurden 1904 umgerechnet 2.081 t emittiert, d.h. die Schwefeldioxiddichte lag im Kreis bei 7,6 t / qkm. Rein rechnerisch wurden davon im Stadtkreis allein 1.2361 emittiert, was also einer Emissionsdichte von 103 t / qkm entspricht, woraus eine extreme Belastung von Luft und Boden mit Schwefeldioxid resultierte, die der Stadt nach der Jahrhundertwende zu dem Beinamen ,Rauch- und Staubstadt' verhalf. Im Kreis Siegen lag die rechnerische Schwefeldioxiddichte um 1904 ähnlich hoch wie im Kreis Bielefeld, nämlich bei 7,8 t / qkm, der absolute Ausstoß lag indes mit 5.064 t erheblich höher. Die Nachrichten aus manchen Gebieten dieser Region lassen erkennen, daß einige stark industrialisierte Täler, z.B. das Gosenbachtal, sich zu ausgesprochenen Dauersmoggebieten entwickelt hatten, bei denen man von z.T. gesundheitsschädlichen Schwefeldioxid-Konzentrationen ausgehen muß. Die Hochrechnung des Schwefeldioxid-Ausstoßes der Dampfmaschinen zeigt einerseits, daß diese als erheblicher Einzelfaktor der Luftbelastung in Westfalen eingestuft werden müssen. Der Blick auf die Großemittenten allein hätte zu einer Unterschätzung der Luftverschmutzung in zahlreichen Teilräumen, besonders im nordwestlichen Münsterland und um Bielefeld gefuhrt. Dabei erwies sich der Indikator auch insofern als valide, als er die Luftbelastung durch die Großemittenten reflektiert. In den schwerindustriellen Kreisen waren trotz der Abgasnutzung und der Regenerativfeuerungen immer noch erhebliche Mengen Steinkohle zur Kraft- und Wärmeerzeugung nötig. Andererseits stellte der Säureausstoß einer einzigen Branche der westfälischen Großemittenten, der Kokereien, eine teilweise erheblich stärkere Belastung für die Biosphäre dar als die der gesamten Dampfmaschinen. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte in den Kreisen Dortmund und Recklinghausen eine geradezu explosionsartige Produktionssteigerung auf den Kokereien stattgefunden. Besonders im südwestlichen Kreis Recklinghausen bei Bottrop, Gladbeck, Buer und Westerholt avancierten Kokereien zu Luftverpestern ersten Ranges. Der Säureausstoß lag hier mit ca. 28.000 t Schwefeldioxid höher als in jedem anderen Kreis Westfalens. Ähnliches gilt für den Dortmunder Nordkreis. Wenn man auch hier einen Ferntransport der sauren Gase innerhalb dieser Region zugrunde legen will, gingen um 1903 allein aus den Kokereien in den oben genannten Kreisen des Ruhrgebietes ca. 56.800 t Schwefeldioxid auf dem 2.436 qkm großen Gebiet nieder, was rein rechnerisch einer zusätzlichen Schwefeldioxiddichte von 23,31 t / qkm entspricht. Dampfmaschinen (Wert 1904) und Kokereien (Wert 1903) emittierten damit gemeinsam nach einer immerhin vorsichtigen Hochrechnung 156.113 t Schwefeldioxid, was insgesamt einer rechnerischen Dichte von 641 / qkm entspricht.

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Ulrike Gilhaus Das preußische Immissionsrecht

Diese für Teilregionen Westfalens nachgewiesene faktisch starke Lufitbelastung trug trotz hoher sozialer Kosten der Industrieproduktion nicht zu durchgreifenden umweltpolitischen Reformbestrebungen im Zeitalter des Epidemiologischen Übergangs bei. Spezielle Maßnahmenkataloge und Eingriffsmöglichkeiten der städtischen Verwaltungen existierten im Untersuchungszeitraum nur im Rahmen des Gewerberechts und der städtischen Bauordnungen (Schornsteinhöhe, Gewerbegebiete). Letztere waren vor 1914 noch kaum entwickelte und genutzte Instrumente zur Steuerung der innerstädtischen Lebensqualität.34 Bis zum Ersten Weltkrieg stellt daher das Gewerberecht mit seinem Genehmigungsverfahren für umweltbelastende Branchen und der dabei entwickelten Indi vidualkonzession das wichtigste umweltrelevante Rahmengesetz dar. Am 17. Januar 1845 war mit der ,Allgemeinen Gewerbeordnung für die Preußischen Staaten' das erste landesrechtlich gültige gewerbehygienische Schutzgesetz Preußens in Kraft getreten; sie kann gleichzeitig als das früheste umfassende Immissionsschutzgesetz dieses Staates interpretiert werden. 35 Im Gegensatz zu Großbritannien, das sich in den 1860er Jahren für die Entwicklung verbindlicher nationaler Grenzwerte entschied, beschritt Preußen den im Prinzip schon zu Zeiten des Generaldirektoriums gewählten Weg der Individualkonzession, durch die jedem Betreiber einer potentiell schädigenden Anlage individuelle Auflagen hinsichtlich einzuhaltender Baumaßnahmen (z.B. Schornsteine), seiner Produktionspalette, seiner Entsorgung und sonstiger technischer Sicherheitsvorkehrungen nach dem Stand der Technik gemacht wurden. 36 Im Falle eines ablehnenden Bescheides der Erstinstanz bzw. unliebsamer Auflagen stand dem Antragsteller die Möglichkeit eines Rekurses offen, über den letztinstanzlich das Handelsministerium entschied. Dabei wurde den Bezirksregierungen bzw. Ortsbehörden - seit 1883 den Bezirks-, Kreis- und Stadtausschüssen - ein Großteil der Verantwortung für die Entwicklung der regionalen Wirtschaft und ihrer Umweltfolgen aufgebürdet. Sie entwickelten sich in den Jahren nach 1845 34

Vgl. Gilhaus, Umweltverschmutzung, S. 323f.

15

Vgl. Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten (1845), S. 41-78. Vgl. hierzu auch I. Mieck, Umweltschutz in Alt-Berlin. Luftverunreinigung und Lärmbelästigung zur Zeit der frühen Industrialisierung, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins 22 (1973), S 7-25; ders., ,Aerem corrumpere non licet'. Luftverunreinigung und Immissionsschutz in Preußen bis zur Gewerbeordnung 1869, in: Technikgeschichte 34 (1967), S. 36-78; G. Igl, Die rechtliche Behandlung der industriellen Luftverunreinigung in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1976; F. Karl, Deutsches Immissionsschutzrecht seit 1870 bis zum Immissionsschutzgesetz von 1974. Ein rechtsgeschichtlicher Überblick, in: Technikgeschichte 47 (1980), S. 20-39. 36 Das Procedere des Konzessionierungsverfahrens ist in der Literatur inzwischen so häufig dargestellt worden, daß es als bekannt vorausgesetzt werden kann. Vgl. zuletzt Gilhaus, Umweltverschmutzung, S. 214f., und Henneking, Chemische Industrie, S. 75ff.

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wegen des beachtlichen Ermessensspielraums zu den wichtigsten Schaltstellen in der Umweltpolitik des preußischen Staates. Begünstigend für den tendenziellen Primat der Ökonomie vor der Ökologie wirkte sich insbesondere die unglückliche Verquickung von Wirtschaftsforderung und Umweltschutzmaßnahmen unter dem Dach des 1848 gegründeten Handelsministeriums aus, da sich hier die Zielkonflikte zwangsläufig am stärksten konstellieren mußten. Die Unvollständigkeit des Verzeichnisses genehmigungspflichtiger Anlagen war von Anfang an ein großes Manko der Gewerbeordnung: Während jede kleine Seifensiederei um eine behördliche Genehmigung antragen mußte, fielen etwa Kokereien als Schadgasgroßemittenten aus der Genehmigungspflicht heraus. Auch privatrechtliche Möglichkeiten einer Entschädigungs- oder Verbietungsklage waren im Falle bergbaulicher Anlagen praktisch ausgeschlossen.37 Dies spielte für die extrem anwachsenden Umweltbelastungen in den Ruhrgebietsstädten eine ganz erhebliche Rolle und begünstigte eine enorme Eigendynamik der Belastungen dieses Ballungsraumes. Die preußische Umweltpolitik entwickelte sich maßgeblich im Spannungsfeld von Gewerbeförderung, Sozialhygiene, arbeitsmarktpolitischen Interessen und nicht zuletzt agrarpolitischen bzw. wasserwirtschaftlichen Zielen. 38 Diesen widersprüchlichen Zielsetzungen konnte im Vollzug am besten über eine nach heutigen umweltpolitischen Maßstäben anachronistisch erscheinende Praxis der Individualgenehmigung ohne einheitliche nationale Normen zu ihrem Recht verholfen werden. Dieses Verfahren garantierte den Genehmigungsbehörden die nötige Flexibilität. Die Individualkonzession mit ihren beliebig an die jeweiligen Verhältnisse adaptierbaren Auflagen erscheint in Anbetracht der genannten staatlichen Zielkonflikte als geradezu maßgeschneidertes Instrument, als via regia. Die Gewerbeordnung garantierte zumindest in der Frühindustrialisierung die Koexistenz von Industrieanlagen und den Privatinteressen Dritter. Sie trug dadurch zu einer gewissen Kontinuität der in vorindustrieller Zeit durch das paternalistische Modell gewährleisteten Sozialverträglichkeit umweltbelastender Anlagen bei; 39 gesundheitlichen Folgeschäden konnte mit diesem Instrument jedoch nicht wirksam gegengesteuert werden - von einer vorbeugenden Gesundheitsfürsorge konnte folglich keine Rede sein. Der seit der Hochindustrialisierung immer stärker zugunsten der Wirtschaftsförderung entschiedene Zielkonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie führte dazu, daß die Individualkonzession als Instrument einer umweltverträglichen Produktion zu37

Vgl. Gilhaus, Umweltverschmutzung, S. 285ff.

38

Vgl. U. Klein [Gilhaus/, „... auf den Kamm des Gebirges ..." Umweltprobleme und Lösungsstrategien in der gesellschaftlichen Kontroverse des 19. Jahrhunderts am Beispiel Westfalens, in: Historische Umweltforschung. Wissenschaftliche Neuorientierung - Aktuelle Fragestellungen, Dokumentation einer Studienkonferenz in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Rheinland, Referat Heimatpflege, Bensberg 1992, S. 105-128, hier: S. 112. 39

Vgl. hierzu Gilhaus, Umweltverschmutzung, S. 46ff.

20 Vögele/Woelk

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nehmend ausgehöhlt und die in ihrem Rahmengesetz theoretisch innewohnenden Möglichkeiten nicht genutzt wurden. Auch die Beschlüsse der Stadtausschüsse zeigen, daß das Interesse an industriellen Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen im Zweifelsfall das entscheidende Argument war. Gesundheitspolitische Erwägungen spielten im Genehmigungsverfahren auf keiner Ebene der staatlichen Entscheidungsinstanzen eine bedeutsame Rolle. Unter umweltpolitischen Aspekten muß aus heutiger Perspektive die Vergabe von Individualkonzessionen an umweltbelastende Betriebe ohne eine Anbindung an einheitliche nationale Normen und Grenzwerte als anachronistisch bezeichnet werden. Die Genehmigung als primäres Steuerungsinstrument der industriellen Umweltfolgen hatte sich mit der starken Verdichtung der Emittenten seit der Hochindustrialisierung und der Befreiung wichtiger Großemittenten von dem öffentlichen Genehmigungsverfahren als unzureichend erwiesen. Mit ihrer Hilfe allein konnte dem Anstieg der Belastungen nicht mehr wirksam gegengesteuert werden, geschweige denn Folgen für die öffentliche Gesundheit abgewendet werden. Die Herauslösung der immissionsrechtlichen Bestimmungen aus der Gewerbeordnung und ihre Institutionalisierung als ein eigener Rechtsbereich, die schon die zeitgenössische Kritik forderte, ist erst vom Bundesimmissionsschutzgesetz von 1974 verwirklicht worden. Reformversuch und Niederlage Die strukturellen Defizite der Gewerbeordnung und der z.T. mangelhafte Vollzug des Rahmengesetzes waren auch den Zentralbehörden bekannt. Der seit 1845 eingeschlagene Kurs, mit Hilfe des Ordnungs- und Gewerberechts der Umweltverschmutzung Einhalt zu gebieten, hatte zu einem beständigen Konflikt zwischen Unternehmen und Behörden geführt. Umweltverträgliche Produktion und Entsorgung stellten aus unternehmerischer Sicht lediglich eine zusätzliche finanzielle Bürde dar, der man sich gern entzog. Die Wirtschaftskrise hatte den Widerstand gegen die kostenintensiven Umwelttechnologien noch verstärkt. Auch im Hinblick auf die insgesamt geringen Erfolge der britischen Umweltpolitik suchten die Zentralbehörden nach einem neuen Konzept zur Bekämpfung der Luftverschmutzung, das ohne eine erhebliche ökonomische Belastung von Industrie und Staat und ohne den alten erfolglosen Konfrontationskurs bei gleichzeitiger Einbindung aller Beteiligten auskam. Den Stein der Weisen glaubten sie vor allem in bewußtseinsbildenden und qualifizierenden Maßnahmen gefunden zu haben. Bis in die frühen 1880er Jahre standen die Prozeßgase im Mittelpunkt der Kritik; erst danach fand eine immer stärkere Problemreduzierung auf die Dampfkesselemissionen statt. Die hieraus resultierenden Belastungen dürfen nicht gering veranschlagt werden, wie die Situation in Westfalen gezeigt hat.

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Doch lassen die Berichte der Gewerbeaufsicht wie auch die heutigen Berechnungen des Schadstoffausstoßes einzelner Branchen erkennen, daß diese Problemsicht sich nicht an den realen Umweltbelastungen orientierte, sondern vielmehr eine bewußt herbeigeführte perspektivische Verzerrung war: In seinem Bericht über die Resultate der Londoner ,Smoke Abatement Exhibition' um 1881 wies der Düsseldorfer Gewerberat Dr. Wolff, einer der qualifiziertesten Männer der preußischen Gewerbeaufsicht seiner Zeit, 40 darauf hin, daß nicht allein die industriellen Großfeuerungsanlagen, sondern in ganz besonderem Maße die freigesetzten Prozeßgase für die Luftverschmutzung verantwortlich zu machen seien.41 Wolff ließ auch keinen Zweifel daran, daß durch die Luftbelastungen in den stark industrialisierten Städten wie Ruhrort, Oberhausen, Essen, Duisburg-Hochfeld, Meiderich u.a. „die Menschen von Hals- & Brustleiden heimgesucht [und] der Freude des Daseins beraubt werden" 42 Es existierten seinem Bericht zufolge inzwischen zahlreiche technisch ausgereifte Rauchentschwefelungsverfahren, die die Anlagebetreiber im Verhältnis zu dem angestrebten Umweltziel nicht übergebührlich belasteten, die aber dennoch nur unter dem ,Druck' einer entsprechenden Vorschrift durchführbar wären. Aus der Sicht der Handelsminister - mit der einzigen Ausnahme von Berlepsch war gerade dieses Konzept aber gescheitert oder vielmehr politisch unerwünscht, 43 hätte es doch erneut mit dem üblichen ordnungs- und gewerberechtlichen Instrumentarium gegen den Willen der Anlagebetreiber durchgesetzt werden müssen. Ansatzpunkt für eine erfolgreiche Bekämpfung der Rauchplage, d.h. vorrangig der Emissionen aus Dampfkesseln und Hausfeuerungen, schien dem Handelsministerium nur ein ,Neuer Kurs' zu bieten, der drei Prämissen erfüllte: geringstmögliche Kosten, Einbindung aller Beteiligten und Ausschaltung des Ordnungsrechts. Die angestrebte Reform versuchte in erster Linie, eine höhere Akzeptanz emissionsmindernder Technologien zu erreichen. Nur implizit wurde hierdurch die gestiegene Luftbelastung in den Industriestädten als dauerhaft unakzeptable Determinante städtischer Gesundheit bewertet, da die Verwendung emissionsmindernder Technologien auch aus der Sicht des Ministeriums keinen Selbstzweck darstellte. Explizit spielte die Kausalität von Luftverschmutzung und Industrieproduktion allerdings zunächst noch keine Rolle. 40 Für Details zur Laufbahn von Wolff vgl. M. Karl, Fabrikinspektoren in Preußen. Das Personal der Gewerbeaufsicht 1854-1945. Professionalisierung, Btlrokratisierung, GruppenprofiI, Konstanz 1988, S. 102. 41 Vgl. GStaB, Rep. 120, BB II a 2 Nr. 28 adh. 1 Vol. 1, Bl. 62-92, ,Bericht des Gewerberathes Dr. Wolff zu Düsseldorf über die Smoke Abatement Exhibition in London' ν. 6.9.1882, hier bes. S. 54f. 42

43

Ebd.

Trotz mancher Nachteile des ordnungsrechtlichen Instrumentariums gilt es heute als „tendenziell effektiver als wirtschaftliche Anreizinstrumente und Absprachen". Vgl. G. Hartkopf / E. Bohne, Umweltpolitik. Grundlagen, Analysen und Perspektiven, Bd. 1, Opladen 1983, S. 253.

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Unmittelbar nach seiner Amtsübernahme ordnete Berlepsch die Erstellung eines Gutachtens über Möglichkeiten zur Bekämpfung der Luftverschmutzung an. Anders als sein Vorgänger Bismarck, der die ganze Angelegenheit sich selbst überlassen hatte, war Berlepsch nicht prinzipiell gegen die Anwendung des ordnungsrechtlichen Instrumentariums eingestellt.44 Mit einem Erlaß vom 27. April 1890 beauftragte er eine Kommission des ,Central-Verbandes der Preußischen Dampfkessel-Ueberwachungs-Vereine' mit der Sondierung der zahlreichen ,rauchverzehrenden' und ,rauchmindernden' Kesselanlagen und Feuerungssysteme und der Überprüfung ihrer Effektivität im Hinblick auf eine Reduzierung der Luftverschmutzung. 45 Das Ergebnis dieser Untersuchungen machte zunächst scheinbar alle Hoffnungen auf einen erfolgreichen Kampf gegen die Rauchplage zunichte: 46 „Die Kommission kommt somit zu dem Schlüsse, daß bis jetzt keine Einrichtung besteht, welche geeignet wäre, als Grundlage für einen allgemeinen Zwang auf Rauchlosigkeit der gewerblichen Feuerungsanlagen zu dienen." Auch mit Wettbewerbsnachteilen und fehlenden Kontrollmöglichkeiten wurde argumentiert. Vollkommene Rauchlosigkeit einer Feuerung müsse als ein technisch unerreichbares Ziel angesehen werden. Dennoch dürfe der Staat die weitere Entwicklung nicht einfach passiv abwarten. Die Kommission empfahl daher den Behörden, auf eine „direkt fordernde Weise" den Industriellen gegenüberzutreten. Es sei immer wieder zu signalisieren, „daß Werth auf die Rauchlosigkeit gelegt wird" und „die Frage der Rauchverhütung nicht zum Stillstand" komme. Diese Empfehlung zielte im wesentlichen auf eine reine Aufklärungs- und Informationskampagne ab, bei der letztlich aus wirtschaftspolitischen Gründen bewußtseinsbildende Maßnahmen das bisherige ordnungsrechtliche Instrumentarium verdrängen sollten. Mit diesem negativen Untersuchungsergebnis gab Berlepsch sich nicht zufrieden. Mit Blick auf das westliche Ausland, in dem die Bemühungen um eine Verminderung der Umweltschäden deutlich weiter gediehen waren, ordnete er am 3. Juli 1891 die Einsetzung einer ständigen Kommission an, der Kommission zur Prüfung und Untersuchung von Rauch-Verbrennungs-Vorrichtungen zu Berlin', 4 7 die praktische Versuchsreihen zur Lösung der Rauchplage durch-

44

Eine in Teilaspekten andere Interpretation dieses Quellenmaterials legte Arne Andersen vor. Die stärkere Einbeziehung der politischen Grundsatzpositionen der beteiligten Minister lassen jedoch m.E. eine plausiblere Deutung der Beratungen bis zum Erlaß von 1901 zu. Vgl. Andersen, Rauchplage, S. 1 lOff. 45 Vgl. GStaB, Rep. 120, BB II a 2 Nr. 28 adh. 1 Vol. 1, Bl. 232-261, ,Gutachten der vom Central-Verband der Preußischen Dampfkessel-Ueberwachungs-Vereine auf Grund des MinisterialErlasses vom 27. April 1890 gewählten Kommission zur Berichterstattung über den gegenwärtigen Stand der Rauchfrage' v. 13.2.1891. 46

47

Ebd.

Vgl. StaM, Oberpräsidium 6621, Abschlußbericht der Kommission v. 24.11.1898.

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führen sollte und seit April 1892 tagte. 48 Durch die Einbindung von Industrievertretern war der ,Neue Kurs' einer konzertierten Aktion aller Beteiligten, der die preußische Umweltpolitik seit dem späten 19. Jahrhundert charakterisiert, eingeleitet. Berlepsch hatte damit den ersten Schritt zur Etablierung eines ,Neuen Kurses', eines neuen Politikfeldes gemacht, das zwar prinzipiell noch als Polizeiaufgabe definiert wurde, aber doch mit den Elementen einer breitangelegten Aufklärungsarbeit, eines neuartigen Kooperationsprinzips und marktwirtschaftlicher Impulse über die bisherigen Maßnahmen hinausging. Denn abgesehen von den immissionsrechtlichen Bestimmungen des Gewerberechtes existierten für das Gebiet der Luftreinhaltung außer den gesetzlichen Bestimmungen über die Polizeikompetenzen keine speziellen Umweltgesetze, keine institutionalisierte Beratung, keine über das Punktuelle und Individuelle hinausgehenden Maßnahmenkataloge. Dabei zeichnete sich Berlepschs Ansatz allerdings ebenfalls durch die Problemverengung auf die Dampfkesselemissionen aus. Eine dezidiert umwelthygienische Motivation fehlt auch hier. Das Votum der von Berlepsch einberufenen Kommission unterschied sich von dem Gutachten des Zentralverbandes vom Februar 1891 erheblich. Fünf Jahre später sprach sie sich für den Erlaß einer Polizeiverordnung zunächst für Berlin als Experimentierfeld aus. Die Kommission beschloß damit ihre Arbeiten zum Ende der Amtszeit Berlepschs und beantragte ihre Auflösung. Ihr Votum schien dem damals frisch ins Amt gekommenen Brefeld alles andere als genehm gewesen zu sein, denn er, der als Interessenvertreter des ,Zentralverbandes Deutscher Industrieller' galt und den Auftrag erhalten haben soll, die in Industriekreisen verhaßte Sozialpolitik Berlepschs zu beenden,49 verspürte daraufhin „den lebhaftesten Wunsch" nach einer Fortsetzung der Untersuchungen. Dies entsprach einer klassischen Verzögerungstaktik, die Brefeld in seiner Amtszeit wiederholt zur Abwendung eines harten Kurses gegen die Industrie einsetzte. Auch nach zwei weiteren Jahren des Experimentierens und Prüfens eingehender Patente hatte sich das Urteil der Kommission bis zum 24. November 1898 nicht geändert. 50 Immer noch sprach sie sich für einen Erlaß aus, mit dem vom 1. Januar 1900 an die Entwicklung von schwarzem, dickem, langandauerndem Rauch aus Industrie- und Gewerbeanlagen untersagt werden 48 Vgl. GStaB, Rep. 120, BB II a 2 Nr. 28 adh. 1 Vol. 2, BI. 2, Schreiben Berlepschs an den Vorsitzenden des Zentralverbandes v. 9.1.1892. 49 Vgl. F. Syrup, 100 Jahre staatliche Sozialpolitik, 1839-1939, bearb. von O. Neuloh, Stuttgart 1957, S. 102. 50

Vgl. GStaB, Rep. 120, BB II a 2 Nr. 28 adh. 1 Vol. 5, Bl. 180-182, ,Votum des Ministers für Handel und Gewerbe betreffend Maßregeln zur Verhütung übermäßiger Rauchentwicklung in staatlichen Feuerungsanlagen' v. 31.5.1899.

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sollte. 51 Ausdrücklich erklärte sie die getesteten Anlagen für so weit ausgereift, daß sie erfolgversprechend seien, ohne die Betreiber ökonomisch übergebührlich zu belasten. In vier Punkten, die diesen Antrag begründeten, stellte die Kommission zunächst fest, daß die Umwelttechnik inzwischen so weit fortgeschritten war, „daß es eine große Anzahl rauchverhütender Apparate giebt, welche geeignet sind, die Entwicklung übermäßigen Rauches bei großen Feuerstätten zu verhindern." 52 Eine bedeutende ökonomische Schädigung der Anlagebetreiber sei durch eine derartige Verordnung nicht zu erwarten. 53 Auch erhalte der Markt für Umwelttechnologien dadurch die dringend erforderlichen Impulse, ein Aspekt, der dem Vorsitzenden Delbrück persönlich sehr wichtig war. 54 Bei ihren Vorschlägen stützte sich die Kommission auch auf die Empfehlungen und Erfahrungen der Pariser Technischen Kommission. Diese sah die größte Hürde im Desinteresse der Unternehmer an den Umwelttechnologien: „Dieselben haben also persönlich kein Interesse daran, sich dieser Einrichtungen zu bedienen. Das Interesse liegt ganz und gar auf der Seite der Nachbarschaft und des Publikums. Das ist der Knoten der Frage. Wenn man die Unterdrückung des Rauches durchsetzen will, so muß man kämpfen gegen das persönliche Interesse desjenigen, welcher ihn hervorbringt, und im Verfolg davon auf ihn einen Druck ausüben."55 Demgegenüber hielt die Berliner Kommission trotz einer gewissen „Trägheit der Besitzer" die finanzielle Belastung durch rauchverhütende Technologien nicht für sehr groß und wies sogar auf Berichte von Einsparungen hin, die aus den praktischen Versuchsreihen hervorgegangen waren. Allerdings, so die Berliner Kommission, müsse „ein gewisser Druck ausgeübt werden". „Geschieht das nicht", faßte der Vorsitzende Delbrück die Ergebnisse zusammen, „so werden wir auf derselben Stelle stehen bleiben, auf der wir schon vor sieben Jahren standen."56 Nach der Empfehlung der Kommission sollte also mit Hilfe des Ordnungsrechts ein künstlicher Bedarf nach Umwelttechnologien erzeugt und dadurch Impulse für die sich entwickelnde Branche der Umwelttechnologie gesetzt werden. Ansatzweise war das Marktversagen der Umweltpolitik erkannt. 51 Ebd., Bl. 183, ,Entwurf einer Anweisung, betreffend Verhütung übermäßiger Rauchentwicklung in fiskalischen Feuerungsanlagen in Berlin und den Vororten', ohne Datum [24.11.1898]. 52 StaM, Oberpräsidium 6621, Bericht der Kommission v. 24.11.1898, S. 67. 53 Vgl. ebd., Punkt 2, S. 70. 54 Vgl. ebd., Punkt 3. In seiner persönlichen Stellungnahme führte Delbrück aus: „Es ist gamicht zu leugnen, daß es sehr entmuthigend ist für alle Erfinder von Rauchverhütungseinrichtungen, wenn sie bei Inhabern von Feuerungsanlagen, die starken Rauch erzeugen, auf Schwierigkeiten stoßen, ihre Apparate anzubringen, selbst wenn sie eine Rauchverminderung nachweisen. Das hemmt diese Industrie, daran ist gar nicht zu zweifeln" (S. 58). 55 Vgl. ebd., S. 59. 56

Ebd.

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Trotz dieser Warnung entschied Brefeld sich jedoch gegen die Empfehlung der Sachkommission.57 Zum ersten Mal tauchen nun in der Gesamtdiskussion gesundheitspolitische Aspekte auf. In seiner Begründung zog er sich auf einen formaljuristischen Standpunkt zurück: Die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts halte eine Gesundheitsgefahrdung durch die Rauchentwicklung für nicht erwiesen. Vor einem derartigen Erlaß müsse erst der eindeutige Nachweis einer wirklichen Gesundheitsgefahrdung erbracht sein. Zur Abklärung dieser Frage beabsichtige er in Verbindung mit dem Kultusminister die Einberufung einer Kommission und fand so eine neue Möglichkeit, die ordnungsrechtliche Maßnahme abzuwenden. Da bis zum Abschlußbericht dieser Kommission noch Jahre vergehen könnten, werde er sich mit einflußreichen Industrievertretern und den Ältesten der Kaufmannschaft in Verbindung setzen, da diese sich gegen die Einführung polizeirechtlicher Maßnahmen strikt wehrten und sachliche Einwände gegen die unausgereiften Umwelttechnologien geltend machten.58 Ihm selbst schwebte eine Lösung vor, bei der die Industrie „im Wege der Vereinstätigkeit" freiwillig an einer Reduzierung der Rauchplage arbeite. Um nicht nach außen den Anschein von Inaktivität und Handlungsunfähigkeit zu erwecken, die man ihm ohnehin nachsagte,59 entwickelte Brefeld einen Erlaß, der durch die Vorbildfunktion der fiskalischen Anlagen in Berlin ein freiwilliges Einlenken der industriellen und gewerblichen Anlagen erreichen wollte. Oberstes Ziel war es, jede ökonomische Belastung von der Industrie fernzuhalten. Auf den fiskalischen Feuerungsanlagen sollte durch eine verbesserte Heiztechnik bewiesen werden, daß dunkle Rauchwolken im wesentlichen nur auf unqualifizierte Heizer und eine Überanstrengung der Kessel zurückzuführen seien. Diese Vorschläge stellte Brefeld zunächst intern zur Diskussion. In ihren Stellungnahmen folgten die Ministerkollegen weitgehend der Sichtweise Brefelds. Nur der Minister für öffentliche Arbeiten regte zunächst

57 GStaB, Rep. 120, BB II a 2 Nr. 28 adh. 1 Vol. 5, Bl. 180-182, Votum Brefelds v. 31.5.1899. Auch die weiteren Ausführungen beziehen sich auf diese Quelle. 58

Vgl. hierzu auch GStaB, Rep. 120, BB II a 2 Nr. 28 adh. 1 Vol. 2, Bl. 237-255, Bericht der Kommission zur Prüfung der Rauchverhütungseinrichtungen' o.J. [1893]. Hier wird ausdrücklich das Mißtrauen und die Abneigung zahlreicher Industrieller gegen die Umwelttechnologien erwähnt. Vgl. auch GStaB, Rep. 120, BB II a 2 Nr. 28 adh. 1 Vol. 6, Bl. 1-4, Petition des Verbandes berliner Metall industrieller' an Handelsminister Brefeld v. 24.10.1899. Sie beantragten, dem Beschluß der Kommission auf Erlaß eines Rauchverbotes nicht zu folgen, da hierdurch eine erhebliche wirtschaftliche Schädigung der Industrie erfolge, zumal für die Berliner Industriellen ungerechte Wettbewerbsnachteile entstünden. Alle Polizeimaßnahmen, die mit einer vermehrten Kontrolle der Betriebe verbunden seien, müßten als ungeeignet bezeichnet werden. Sinnvoll sei hingegen die Schulung der Heizer. 59

Vgl. Syrup, Sozialpolitik, S. 102.

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eine Ausdehnung auf sämtliche fiskalische Anlagen Preußens an und trug wegen der potentiellen Gesundheitsgefahren durch Industriegase auch keine Bedenken gegen den Erlaß der diskutierten Polizeiverordnung. 60 „Gleichzeitig halte ich es aber fur geboten, daß Polizeiverordnungen im Sinne des in der Sitzung vom 24. November v.Js. gefaßten Beschlusses der Kommission zur Prüfung und Untersuchung von Rauchverbrennungsvorrichtungen erlassen werden. Ich halte den Erlaß solcher Verordnungen für große Industrieorte, wie z.B. Berlin auch rechtlich für zulässig. Zweck derselben wäre nicht die Beseitigung einer Belästigung des Publikums, sondern einer wirklichen Gefahr. Daß eine solche in der starken Rauchentwickelung bei der stetigen Zunahme der Industrie für die Gesundheit, wenn nicht aller, so doch derjenigen Einwohner besteht, die nicht in der Lage sind, die schädlichen Einwirkungen der durch Rauch verschlechterten Luft durch zeitweiligen Aufenthalt in besserer Luft abzugleichen, wird nicht bezweifelt werden können." Letztere Worte waren von Brefeld unterstrichen und mit der Anmerkung: „Das ist aber die große, noch unbeantwortete Frage!" versehen - und weiter: „Es kommt nur darauf an, klar erkennen zu lassen, daß der Zweck der Verordnung ein sanitätspolizeilicher ist." Die Anmerkung Brefelds dazu lautet: „Allerdings, nur steht die Gesundheitsgefahr nicht fest!" Maßgebliche wirtschaftliche Belastungen vermochte der Minister für öffentliche Arbeiten nicht zu erkennen, was Brefeld mit einem dicken Fragezeichen am Rand kommentierte. Brefeld übernahm die Anregung, den Erlaß auf alle fiskalischen Anlagen Preußens auszudehnen, lehnte aber eine Polizeiverordnung weiterhin ab. 61 Während sich die meisten seiner Kollegen mit dem neuerarbeiteten Entwurf zufrieden erklärten, meldete der Finanzminister im Hinblick auf die für den Fiskus anfallenden Belastungen Bedenken an. 62 Weder für den Kauf schwefelarmer Kohle in den fiskalischen Feuerungsanlagen noch für deren Umrüstung stünden Mittel zur Verfügung. Um den Finanzminister für sein Vorhaben nicht zu verprellen, schlug Brefeld vor, die Verfügung zunächst versuchsweise an ausgewählten Pilotanlagen des Fiskus umzusetzen.63 In diesem Sinne einigten sich die Minister. 64 Am 5. Februar 1901 unterzeichnete Brefeld die ,Verfügung vom 5. Februar 1901 und Grundsätze bezüglich des Verfahrens zur Verhütung übermäßiger Rauchentwicklung'. 65

60 Vgl. GStaB, Rep. 120, BB II a 2 Nr. 28 adh. 1 Vol. 6, Bl. 5-6, Votum des Ministers für öffentliche Arbeitenv. 17.11.1899. 61 Vgl. ebd., Bl. 16-18, Votum Brefelds v. 24.1.1900. 62 Vgl. ebd., Bl. 44, Votum des Finanzministers v. 27.2.1900. 63 Vgl. ebd., Bl. 51-53, Votum Brefelds v. 8.5.1900. 64 Vgl. das Votum des Finanzministers v. 17.5.1900, ebd., Bl. 63. 65 Vgl. Ministerialblatt fur die gesamte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten [künftig MB1.] 62 (1901), S. 88-90.

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Grundgedanke der Verfügung ist das vorbildliche, d.h. möglichst,rauchlose' Arbeiten der fiskalischen Feuerungsanlagen. Von dem umstrittenen Rauchverbot' nahm der Minister trotz der Empfehlung der Kommission in der Hoffnung Abstand, „daß die Industrie ihrerseits sich veranlaßt sehen wird, der Frage der Rauchverhütung erhöhtes Interesse entgegenzubringen". 66 Eine wirkliche Vorbildfunktion wird von den wenigen ausgewählten Anlagen kaum ausgegangen sein. Ziel der Verfügung vom 5. Februar 1901 war es, durch positive praktische Erfahrungen der bisherigen Argumentation der Industrie entgegenzutreten, die umweltschonenderen Anlagen arbeiteten unökonomisch und zeigten darüber hinaus oft nicht einmal den angestrebten Effekt. In den beigefügten Grundsätzen der Verordnung wurde entsprechend den Kommissionsempfehlungen die Verhütung von „schwarzem, dickem und langandauerndem Rauch" durch geeignetes Brennmaterial, qualifiziertes Heizerpersonal und dessen Beaufsichtigung in allen staatlichen Betrieben angeordnet. Um diese Vorbildfunktion des Staates in Umweltfragen zu gewährleisten, wurden die Unterbehörden in erster Linie angehalten, die Qualifizierung ihrer Heizer zu unterstützen und diese für Lehrgänge freizustellen bzw. nur qualifiziertes Personal einzustellen. Bei der Auswahl des Brennmaterials hingegen wurde, wie mit dem Finanzministerium vereinbart, schon gespart. Erst in dritter Linie sollte die Umrüstung einzelner Anlagen stattfinden. 67 Diese Einrichtungen sollten zunächst nur Versuchscharakter haben.68 A u f der Basis solcher Gegenbeispiele hätte (theoretisch) in einem zweiten Schritt (Zwei-Stufenplan) der von der Kommission befürwortete Druck auf Industrielle ausgeübt werden können. 69 Mit der Verfügung vom 5. Februar 1901 vermied das Ministerium aber jeden staatlichen Druck, auch wenn die Kommission diesen als ,conditio sine qua non' hingestellt hatte, und setzte statt dessen allein auf Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit. Zwar ordnete Brefeld gleichzeitig an, daß Polizeibehörden und Gewerbeaufsichtsbeamte mit erhöhter Aufmerksamkeit auch gewerbliche Feuerungsanlagen beobachten sollten. Doch nur gegen Rauchbelästigungen, „die nachweisbar mit gesundheitlichen Schäden verbunden" seien - was als praktisch unmöglich bezeichnet werden muß -, solle mit Nachdruck eingeschritten werden. Mit seinem verwässerten Erlaß entband Brefeld die heftig protestierende Industrie von ihrem notwendigen Beitrag zum Umweltschutz. Auch die Sparsam-

66 Diese Grundsätze waren nach einem Circularerlaß des Ministers für öffentliche Arbeiten v. 13.11.1901 auch im Bereich der allgemeinen Bauverwaltung anzuwenden. Vgl. StaD, Reg. Minden IG 521. 67 Vgl. MB1. 62 (1901), S. 90. 68 Ebd., S. 88. 69 Vgl. ebd., S. 89.

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keit des preußischen Staates am falschen Platz gab der Industrie ein fatales Signal: Konnte man von der Wirtschaft verlangen, was der Staat selbst nicht zu leisten bereit war? Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Erlasses gingen Danksagungen aus Industriekreisen im Handelsministerium ein. 70 Die hoffnungsvollen Ansätze der Ära Berlepsch auf die Verankerung eines neuen Politikfeldes in den traditionellen Fachressorts, das neben das herkömmliche Gewerbe· und Ordnungsrecht die neuen Instrumente von Aufklärungsarbeit, Qualifizierungsmaßnahmen und marktwirtschaftlichen Impulsen stellte, aber von der realistischen Einsicht geleitet war, daß es ohne das Ordnungsrecht nicht gehen werde, waren zunichte gemacht. Brefeld hatte nicht das neue Gebiet der Umweltpolitik vorangetrieben, sondern erfolgreich interessenorientierte Wirtschaftspolitik betrieben; die so wichtige Kooperation mit den Verursachern war in Kollaboration umgeschlagen.71 Sein Ansatz stellte es in das Belieben der Betreiber, ob und welche verbesserten Feuerungsanlagen oder ex-postTechnologien sie anwandten. Diese Form der ,Umweltpolitik zum Nulltarif, bei der die Aufklärungsarbeit nur mehr Alibicharakter hatte, mußte sich als Fehlschlag erweisen. Formales Hauptargument bei der entscheidenden Weichenstellung dieser sogenannten ,Reform' war die nicht definitiv nachgewiesene Gesundheitsgefahr durch Industriegase. Jede Abklärung des Sachverhalts unterblieb; ein Bericht der von Brefeld angekündigten Kommission zur Untersuchung gesundheitlicher Risiken durch Industriegase ist nicht bekannt. Während die Choleraepidemien noch zu einer Verschränkung von medizinischem Diskurs und politischadministrativen Reformbestrebungen geführt hatten, zeichnete sich bei den schleichend auftretenden und regional sehr differenzierten Veränderungen der Morbidität eine Separierung von umwelthygienischer und politischer Diskussion ab, die jede Kooperation erschwerte. Weder steuerte die innermedizinische Diskussion mit dem entscheidenden Nachdruck Impulse zur Reform der Umweltpolitik dieser Phase bei, noch entwickelte die Zentraladministration erkennbare Bemühungen zur Abklärung veränderter Morbidität und Mortalität. Im Gegenteil, das Gefahrdungspotential durch die Großindustrie für die öffentliche Gesundheit wurde geleugnet, der Handlungsbedarf auf Maßnahmen zur Eindämmung der Dampfkesselrauchwolken reduziert. Folglich müssen die staatlichen Reaktionsmuster auf die wachsende Luftverschmutzung als problemunangemessen bezeichnet werden; sie trugen dem Leitbild einer vorbeugenden staatlichen Gesundheitsfürsorge in keiner Weise Rechnung. Nicht der medizinische Wissensstand, sondern (wirtschafts-) politische Erfordernisse bestimmten die angestrebte Reform der Immissionspolitik nach der Jahrhundert-

70 Vgl. GStaB, Rep. 120, BB II a 2 Nr. 28 adh. 1 Vol. 6, Bl. 155, Schreiben des ,Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller' v. 19.2.1901. 71

Vgl. hierzu Hartkopf ! Bohne, Umweltpolitik, S. 114.

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wende. Das Problem verengte sich in der politisch-administrativen Wahrnehmung auf ein ästhetisches, wurde zu einer bedauerlichen, aber zu tolerierenden Begleiterscheinung des Industriezeitalters und damit zu einem systemimmanenten Schaden erklärt. Im Grundkonflikt von Wirtschafts- und Umweltpolitik wurde das unter gänzlich anderen Voraussetzungen entwickelte immissionsrechtliche Instrumentarium in der Hochindustrialisierung einseitig zum Aufbau des politisch erwünschten Industriestaates genutzt.

Die Gelsenkirchener Typhusepidemie und ihr gerichtliches Nachspiel

Von Martin Weyer-von Schoultz „Die Ansprüche stiegen, das Grundwasser sank."*

Am 4. Juli 1904 wurde vor dem Essener Landgericht ein Prozeß eröffnet, der nicht nur in der umliegenden Region, sondern im gesamten Deutschen Kaiserreich mit größter Aufmerksamkeit verfolgt wurde. 1 Denn in den insgesamt 22 Verhandlungstagen bemühte sich das Gericht unter Vorsitz des Landgerichtsrats Fromm darum, die Frage, wodurch die Gelsenkirchener Typhusepidemie des Spätsommers 1901 verursacht worden war, juristisch zu klären. Dieses Verfahren nutzten die wortfiihrenden Vertreter der beiden konkurrierenden hygienischen Schulen des Kaiserreichs, der experimentellen Hygiene Max von Pettenkofers auf der einen und der Bakteriologie Robert Kochs auf der anderen Seite, dazu, ein Plädoyer für die Richtigkeit ihrer jeweiligen Positionen zu halten. Daß der experimentellen Hygiene nochmals eine solche Aufmerksamkeit gewidmet wurde, überrascht um so mehr, als der hygienische Diskurs der vorangegangenen beiden Dekaden den Eindruck erweckt hatte, daß die bakteriologischen Deutungsmuster von Ursache und Verbreitung ansteckender Krankheiten, der sog. „Volkskrankheiten", die bisherigen, traditionellen Vorstellung der Krankheitsübertragung verhafteten Annahmen wenn auch nicht vollständig revidiert, so doch in weiten Teilen grundlegend modifiziert hatten. So schreibt der Leiter des Bonner Hygiene-Instituts, Walter Kruse, in seiner retrospektiven Einschätzung des Prozeßverlaufs, daß die von Pettenkofer entwickelte „lokalistische Lehre" nur noch „einen historischen Wert" habe.2 Daher

* W. von Drigalski, Im Wirkungsfelde Robert Kochs, Hamburg 1948, S. 157. Mein herzlicher Dank gilt Alfons Labisch, Jörg Vögele und Fritz Dross fìlr die kritischen Anmerkungen sowie Daniela Thulke für die unermüdliche Hilfe bei der Beschaffung des zeitgenössischen Quellenmaterials. 1 S. dazu Chronik der Stadt Essen über das Jahr 1904, hrsg. v. d. Stadtverwaltung, Essen-Ruhr 1906, S. 33f. 2

W. Kruse, Für oder wider Pettenkofer, in: Centralblatt fìlr allgemeine Gesundheitspflege 25 (1906), S. 279-309, hier: S. 279, von dort auch das folgende Zitat.

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hegte Kruse die Befürchtung, daß die „vergeblichen Wiederbelebungsversuche", die die Pettenkofer-Schüler Rudolf Emmerich und Friedrich Wolter vor dem Plenum des Gerichtssaals unternahmen, in „manchen, vor allem nicht medizinischen Kreisen, die aber mit der öffentlichen Gesundheitspflege die engste Berührung haben, bedenkliche Täuschungen hervorrufen könnten". Zudem beklagte der Bonner Hygiene-Professor die Polemik, mittels derer Rudolf Emmerich während der Gerichtsverhandlungen die - seiner Meinung nach - „im Interesse der Trinkwasserhygieniker mit Füssen getretenen und fast ganz erdrosselten Wahrheit" 3 gegen die neuen ätiologischen Erklärungen der Bakteriologie zu verteidigen versuchte. Wie aus diesen Zitaten ersichtlich wird, herrschte im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Lehren- und Gelehrtenstreit, der in dieser Form in keinem anderen westeuropäischen Land und keiner anderen wissenschaftlichen Disziplin ausgetragen wurde. Worin lagen die Ursachen des Disputs zwischen Koch'scher und Pettenkofer'scher Lehre, die während der Gelsenkirchener Typhusepidemie wieder zutage traten?

Contagonisten versus Lokalisten Hauptstreitpunkt zwischen experimenteller Hygiene und Bakteriologie stellte nicht nur die Frage der Übertragung von epidemischen Infektionskrankheiten, sondern auch die dagegen zu treffenden prophylaktischen Maßnahmen dar: Denn die experimentelle Hygiene rückte primär die lokale Disposition des Seuchengebiets in den Mittelpunkt der Ursachenklärung und forderte die Reinigung des betreffenden Gebiets von sämtlichen organischen Abfällen, d.h. den potentiellen Trägern von Infektionskeimen. 4 Die postulierte Verbesserung der hygienischen Bedingungen führte u.a. dazu, daß gerade in den deutschen Großstädten des späten 19. Jahrhunderts Wasserversorgung, Abwasserbeseitigung und Müllabfuhr systematisch vorangetrieben und ausgebaut wurden. 5 Aber

3 Ebd., S. 280; s.a.: F. Wolter, München 1906, S. 19ff., S. lOOff.

Die Enstehungsursachen der Gelsenkirchener Typhusepidemie,

4

E. Jahn, Die Cholera in Medizin und Pharmazie im Zeitalter des Hygienikers Max von Pettenkofer, Stuttgart 1994, S. 52ff.; vgl. auch den systematischen Überblick über die unterschiedlichen hygienischen Disziplinen des 19. Jahrhunderts bei A. Labisch, Experimentelle Hygiene, Bakteriologie, Soziale Hygiene: Konzeptionen, Interventionen, soziale Träger - eine idealtypische Übersicht, in: J. Reulecke / A. Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hgg.), Stadt und Gesundheit, Stuttgart 1991, S. 37-47, hier: S. 39. 5

R. Blasius, Einleitung zur Städtereinigung (= Handbuch der Hygiene, hrsg. v. Th. Weyl, Bd. 2, 1. Abt.), Jena 1894, S. lOff.; s.a. J. Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a.M. 1985, S. 56ff.; J. Vögele, Sanitäre Reformen und der Sterblichkeitsrückgang in deutschen Städten, 1877-1913, in: VSWG 80 (1993), S. 345-365.

Die Gelsenkirchener Typhusepidemie

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auch der Verbesserung von „Licht und Luft" 6 in den Wohnungen sowie der Hebung von „Sittlichkeit und Moral" der ärmeren Klassen, die „zu jeder Epidemie, sei es Wechselfieber, Typhus oder Cholera", stets „ein grösseres Contingent" lieferten, galt die besondere Aufmerksamkeit der Konditionalhygiene Pettenkofer'scher Couleur. 7 Die lokalistische Theorie vermochte jedoch nicht eine vom Infektionsstoff ausgehende Indizienkette von der unbelebten Umwelt des Menschen bis zum Ausbruch von epidemischen Erkrankungen herzustellen. Daher bediente sie sich einer Hilfskonstruktion, die auf traditionelle Ansichten der Übertragung von ansteckenden Krankheiten zurückgriff: Nur bei einer ganz bestimmten Trockenheit und Porosität des Bodens, am Ende einer längeren Trockenperiode und vor allen Dingen bei steigendem Grundwasser könnten dem Boden sog. „Miasmen" entweichen, die beim Menschen durch das Einatmen die Krankheiten auslösten.8 Der Gleichung X (Keim) + Y (lokale oder zeitliche Disposition) = Ζ (krankmachender Infektionsstoff) fehlte folglich die Kenntnis des eigentlichen infektionsauslösenden Stoffes, 9 den in den 1880er Jahren die westeuropäischen Hygieniker im Laborversuch entdeckten.10 Mit dem Wissen der ,Stoffe', die für den Ausbruch der Krankheiten verantwortlich zu machen waren, deduzierte die bakteriologische Schule auf der Grundlage ihrer neuen, naturwissenschaftlich-rationalen Erkenntnisse einen Infektionsweg, der im Kern davon ausging, daß Infektionskrankheiten durch Kontamination von Mensch zu Mensch übertragen werden. 11 Doch der Bakteriologie gelang es ebenfalls nicht, anhand der schweren Cholera- und Typhusepidemien in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine geschlossene Indizienkette vom Bazillus bis zur Epidemie herzustellen. Dadurch fühlten sich die Vertreter der experimentellen Hygiene darin bestärkt, die Richtigkeit der bakteriologischen Ätiologie der Infektionskrankheiten in Frage zu stellen: Der sogenannten Trinkwasser- bzw. 6 M. Rodenstein, „Mehr Licht, mehr Luft". Gesundheitskonzepte im Städtebau seit 1750, Frankfurt/New York 1988, v.a. S. 84-170. 7 M. von Pettenkofer, Populäre Vorträge, Zweites Heft: Ueber den Werth der Gesundheit für eine Stadt, Braunschweig 1876, S. 38. 8 M. von Pettenkofer, Boden und Grundwasser in ihren Beziehungen zu Cholera und Typhus, München 1869; O. Neustätter, Max Pettenkofer, Wien 1925, S. 45ff, W. Rimpau, Die Entstehung von Pettenkofers Bodentheorie und die Münchener Choleraepidemie von Jahre 1854, Berlin 1935, S. 3Off.; H. Breyer, Max von Pettenkofer. Arzt im Vorfeld der Krankheit, Leipzig 1981, S. 74ff. 9 Dies erkannte sogar Pettenkofer selbst an, s. Pettenkofer, Boden und Grundwasser, S. 125; Jahn, Die Cholera in Medizin, S. 45. 10 Ε. H. Ackerknecht, Geschichte der Medizin, 7. überarb. u. erg. Aufl. von Α. H. Murken, Stuttgart 1992, S. 128. 11 C. Günther, Einführung in das Studium der Bakteriologie mit besonderer Berücksichtigung der mikroskopischen Technik, 3. Aufl., Leipzig 1893, S. 163ff.; R.Koch, Über bakteriologische Forschung, in: Verhandlungen des X. Internationalen Medizinischen Kongresses, Berlin 1891, S. 35-47, ND in: P. Steinbrück / A. Thom, Robert Koch (1843-1910). Bakteriologe, Tuberkuloseforscher, Hygieniker, Leipzig 1982, S. 99-109; s.a.: A. Labisch, Homo hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt a.M. / New York 1992, S. 132f.

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Kontaminationslehre hielt die Pettenkofer'sche Schule noch weit bis in das 20. Jahrhundert hinein entgegen, daß der Nachweis der Bazillen im Wasser nicht gelungen sei, daß die - die Epidemien - auslösenden Keime folglich nicht von Mensch zu Mensch oder durch ein verunreinigtes Trinkwasser übertragen werden könnten. 12 Der Grund für die schwere Bestimmbarkeit beispielsweise des Typhusbazillus im Wasser war dessen Ähnlichkeit mit anderen Kolibakterien sowie sein langsames Wachstum, wodurch komplexe Nachweisverfahren angestrengt werden mußten.13 Erst der 1901 von Heinrich Conradi und Wilhelm von Drigalski erbrachte Nachweis von Typhusbazillen im Wasser durch einen Lackmus-Milchzuckeragar bildete den Grundstein für eine systematische Typhusbekämpfung, ein Verfahren, das in den folgenden Jahren in den zahlreichen neuerrichteten bakteriologischen Untersuchungsämtern verbessert wurde. 14 Dennoch gelang der Nachweis nicht immer: Noch 1905 beklagte das unmittelbar nach der Gelsenkirchener Typhusepidemie in Gelsenkirchen errichtete Institut für Hygiene und Bakteriologie, daß trotz der zahlreichen auf Typhus untersuchten Proben Typhusbazillen nicht immer einwandfrei festgestellt werden konnten. 15 Dadurch, daß keiner der hygienischen Schulen im 19. Jahrhundert ein unwiderlegbarer Beweis zwischen den - dank den Erkenntnissen der Bakteriologie bekannten - krankheitsauslösenden Keimen und der tatsächlichen Infektion an den akuten Infektionskrankheiten, allen voran an Cholera und Typhus, gelang, entbrannte um die Frage der Seuchenprophylaxe ein vehementer Streit zwischen den beiden hygienischen Schulen. Einen besonders intensiv diskutierten und mit seinen ganzen Implikationen äußerst verworrenen Streitpunkt zwischen Konditional- und Auslösungshygiene16 bildete die Frage der Flußverunreini12

R. Emmerich, Beurteilung von Trink- und Abwasser, II. Teil: Über die Beurteilung des Wassers vom bakteriologischen Standpunkte, in: Journal für Gasbeleuchtung und Wasserversorgung, Nr. 44, 5. Nov. 1904, S. 1110-1113, hier: S. 1111. 13 M. Holz, Experimentelle Untersuchungen über den Nachweis der Typhusbacillen, in: Zeitschrift für Hygiene 9 (1890), S. 143-178; R. Koch, Die Bekämpfung des Typhus, ND in: Steinbrück / Thom, Robert Koch, S. 171-180, hier: S. 176f.; F. Loeffler, Das Wasser und die Mikroorganismen, in: Th. Weyl(Hg.), Handbuch der Hygiene, Bd. 1, 1. Aufl., Jena 1896, S. 638; s.a. A. Gärtner, Leitfaden der Hygiene, Berlin 1905, S. 48, F. Fischer, Das Wasser, seine Verwendung, Reinigung und Beurteilung mit besonderer Berücksichtigung der gewerblichen Abwässer und der Flußverunreinigung, 3. Aufl., Berlin 1902, S. 21f. 14

W. von Drigalski / H. Conrads Ueber ein Verfahren zum Nachweis des Typhusbacillen, in: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten 29 (1902), S. 283-300, s.a.: L. Heim, Lehrbuch der Bakteriologie mit besonderer Berücksichtigung der Untersuchungsmethoden, Diagnostik, Immunitätslehre, 6. u 7. erw. Aufl., Stuttgart 1922, S. 559f., M. Kirchner, Robert Koch, Wien / Berlin 1924, S. 57ff. 15 Bericht über die Tätigkeit des Instituts für Hygiene und Bakteriologie zu Gelsenkirchen in der Zeit vom 1. März 1904 bis zum 28. Februar 1905, Gelsenkirchen 1905, S. 9. 16 Nach A. Labisch, Experimentelle Hygiene, sind die Begriffe der Konditional- und Auslösungshygiene als Synonyme für die experimentelle Hygiene bzw. Bakteriologie anzusehen.

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gung: Während die Pettenkofer'sehe Lehre die Einleitung einer gewissen Menge ungeklärter Abwässer in die Flüsse bei einer bestimmten Fließgeschwindigkeit für unbedenklich hielt, da sich das Wasser durch eine Art von Regenerationsprozeß von selber reinige, 17 forderte die Koch'sche Schule vehement die Einführung von Kläranlagen, um die Flüsse als mögliche Trinkwasserspender reinzuhalten. 18 Die dosierte Einleitung von Abwässern kam der bisherigen Praxis der Abwasserentsorgung entgegen, denn die zahlreichen Gewerbebetriebe entlang der deutschen Flußläufe ließen ihre Abwässer ungeklärt in das Flußwasser abfließen, was häufig zur völligen Verschmutzung der Flüsse führte. Die Einführung von zentraler Trinkwasserversorgung und Schwemmkanalisation verschärfte zudem die Problematik, da die Mengen verunreinigten Wassers in den Flußläufen drastisch zunahmen. Aber die Reinigung von gewerblichen und Hausabwässern war nicht nur technisch problematisch, sondern auch mit einem großen Finanzaufwand verbunden, den vor allem die rapide wachsenden Städte des Deutschen Kaiserreichs nicht aufzubringen vermochten oder nicht aufbringen wollten. 19 Durch die ausführliche Rezeption der hygienischen Diskussionen im „Journal für Gasbeleuchtung und Wasserversorgung", der Fachzeitschrift des Interessenverbandes der Gas- und Wasserfachleute, schien sich der Streit um die Regelung der Abwasserentsorgung im ausgehenden 19. Jahrhundert in eine andere Richtung zu wenden: Bestanden die Verfahren zur Feststellung der Wasserqualität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch aus einer „grobsinnlichen Prüfung" von Geschmack, Geruch, Farbe und Temperatur des Wassers, sahen sich die Wasserfachleute durch den hygienischen Diskurs über die Ätiologie der Infektionskrankheiten mit der Forderung konfrontiert, Trinkwasser auf möglicherweise darin enthaltene Krankheitskeime zu untersuchen. 20 Jedoch mangelte es - wie oben skizziert - an exakten Unterscheidungskriterien zwischen pathogenen und nicht pathogenen Keimen sowie deren spezifischen Lösungsprozessen im Wasser. Daher beschränkten sich die Analyseverfahren bis in das 20. Jahrhundert hinein auf eine quantitative Feststellung der Keime in den untersuchten Wasserproben, wobei eine Zahl von maximal 100 Keimen pro

17

M. von Pettenkofer, Zur Selbstreinigung der Flüsse, in: Archiv für Hygiene 12 (1891), S. 269274, ders., Vortrag auf der XVII. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege zu Leipzig, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 24 (1892), S. 116-122, s.a.: P. Münch, Stadthygiene im 19. und 20. Jahrhundert. Die Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallbeseitigung unter besonderer Berücksichtigung Münchens, Göttingen 1993, S. 27ff. 18

Gärtner, Leitfaden, S. 327ff.

19

W. R. Krabbe, Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1989, S. 116. Gärtner, Leitfaden, S. 45 und S. 302.

20

21 Vögele/Woelk

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ccm Wasser als zulässige Obergrenze angesehen wurde. 21 Dieses Verfahren ließ jedoch lediglich den Rückschluß auf eine Verunreinigung des Wassers, nicht aber auf dessen Pathogenität zu. Während dieser Diskussion um allgemeinverbindliche Wasserstandards und die tatsächlichen Ursachen der spektakulären Cholera- und Typhusepidemien wurde die Nachricht verbreitet, daß die Essener Staatsanwaltschaft Anklage gegen die Direktoren des Gelsenkirchener Wasserwerks erheben wolle, da es durch die Voruntersuchungen als bewiesen gelte, daß diese Epidemie durch die Verseuchung des Trinkwassers ausgelöst worden sei. In zwei Verhandlungsphasen, 22 die erste vom 4. bis zum 14. Juli, die zweite vom 14. bis zum 31. November 1904, bemühte sich das Essener Landgericht in minutiöser Kleinarbeit darum, Licht in das Dunkel der Förderpraktiken des Gelsenkirchener Wasserwerks zur Zeit des Epidemieausbruchs zu bringen. 23 Die ungewöhnlich lange Unterbrechung des Verfahrens wurde durch die Anforderung eines erneuten Gutachtens bedingt, das Aufschluß über die in der ersten Phase der Gerichtsverhandlungen zutage getretenen Fragen bringen sollte. Denn die Klärung der Epidemieursache erforderte es, sämtliche Faktoren in Betracht zu ziehen, die seit September 1901 nicht nur in Gelsenkirchen und seiner Umgebung, sondern im gesamten Deutschen Kaiserreich und hier vor allem zwischen den beiden hygienischen Schulen strittig diskutiert wurden.

Zeitlicher Verlauf und Ausmaß der Epidemie Der am 24. September 1901 von der Arnsberger Regierung in das Seuchengebiet entsandte Medizinalrat August Springfeld sah sich bereits mit dem Problem konfrontiert, daß weder über die genaue Zahl der Typhuskranken noch über den Zeitpunkt des Ausbrechens der Typhusepidemie verläßliche Angaben zu erhalten waren. Angesichts der diagnostischen Unsicherheit, zwischen Typhus und Krankheiten des Verdauungsapparates mit ähnlichen Symptomen zu unterscheiden - auch diese Krankheiten waren in Gelsenkirchen wie im gesamten rheinisch-westfälischen Industriegebiet endemisch24 - sowie der vor allem in der Arbeiterschaft herrschenden Angst vor den zu erwartenden Isolie-

21

E. Grahn, Zur Geschichte der hygienischen Beurteilung des Wassers bis Ende 1902, in: Journal für Gasbeleuchtung und Wasserversorgung 47 (1904), S. 973-982 und S. 993-1006, hier: S. 975; A. Springfeld, Die Typhusepidemien im Regierungsbezirk Arnsberg und ihre Beziehungen zu Stromversuchungen und Wasserversorgungsanlagen, Jena 1903, S. 106. 22

Auch wenn die Prozeßakten der Gerichtsverhandlungen nicht mehr vorliegen, sind Verlauf und in der Regel auch der Wortlaut der Verhandlungen in der Gelsenkirchener Zeitung (im folgenden „GZ" abgekürzt, in Klammern die Nr. des Blattes) überliefert. 23 Das erkannten selbst die Gegner des sog. „Wasserwerksprozeß" an, s. Wolter, sachen, S. 1 Iff. 24

Springfeld,

Typhusepidemien, S. 35.

Entstehungsur-

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rungsmaßnahmen 25, brachten die Nachforschungen des Medizinalrats nur ein lückenhaftes Bild über Beginn und Ausmaß der Epidemie hervor. Danach hatte die massenweise Infektion an Typhus voraussichtlich im mittleren bis letzten Drittel des Monats August 1901 stattgefunden; als wahrscheinlicher Termin wurde der 18. August angenommen, da 14 Tage später die ersten, ab dem 8. September 1901 dann eine sprunghaft zunehmende Zahl von gemeldeten Erkrankungen registriert wurden. Ab dem 13. September schnellte diese auf über 90 pro Tag, blieb ca. eine Woche auf dieser Höhe - mit einem Spitzenwert von 127 festgestellten Erkrankungen am 20. September - und sank dann langsam, aber kontinuierlich bis zum 20. Oktober 1901 ab 26 (vgl. Abbildung 1). Von den insgesamt 3.305 erkrankten Personen starben ca. 500. Eine genaue Zahl läßt sich nur für den Stadt- und Landkreis Gelsenkirchen ermitteln, wo von 2.493 Erkrankten 213 starben. 27

Erste Maßnahmen gegen die Typhusepidemie „Wenn in einem vorher fast typhusfreien Bezirk [...] plötzlich, innerhalb eines Monats, 1-2 Proz. der Bevölkerung erkranken, ohne Unterschied des Alters, Geschlechts, Standes und der Wohnungsverhältnisse, wenn Beginn, Verlauf und Ende der Seuche in allen Teilen des Bezirkes fast identisch sind, so ist man gezwungen, nach einer allen Erkrankungen gemeinsamen Ursache zu suchen, die vorher nicht bestand und plötzlich eintrat",

resümierte der Medizinalrat Springfeld seine ersten Eindrücke der Gelsenkirchener Typhusepidemie. Da trotz vergleichbarer Bodenverhältnisse und hygienischer Bedingungen benachbarte Orte aber nicht von der Epidemie betroffen waren, richtete sich die Aufmerksamkeit des Medizinalbeamten auf die Wasserversorgung. Denn Wasserversorgungs- und Seuchengebiet stimmten in auffalliger Weise überein: Betroffen waren nur die Wohngebiete, die ihr Trinkwasser vom Wasserwerk für das nördlich-westfälische Kohlenrevier

25 R. Spree, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Zur Sozi algeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1981, S. l l l f . 26

E. Grahn, Die Gerichtsverhandlungen über die Gelsenkirchener Typhusepidemie im Jahre 1901, mit dem Anhang: Die Bedeutung des Jahres 1901 für die Wasserwerke, München / Berlin 1905, S. 8; s.a. GZ vom 7.7.1904 (I), S. 2, und vom 28.11.1904 (I), S. 2. 27 Springfeld, Typhusepidemien, S. 58, s.a.: T. RommeIspacher, Das natürliche Recht auf Wasserverschmutzung. Geschichte des Wassers im 19. und 20. Jahrhundert, in: F.-J. Brüggemeier / T. Rommelspacher (Hg.), Besiegte Natur, München 1987, S. 42-63, hier: S. 55, T. Kluge / E. Schramm, Wassernöte. Umwelt- und Sozialgeschichte des Wassers, Aachen 1986, S. 123.

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(WwNWKr) bezogen, während unmittelbar angrenzende Siedlungen, die von einem anderen Wasserwerk versorgt wurden, infektionsfrei blieben. 28 Das WwNWKr, 1885 als Aktiengesellschaft auf Betreiben des Schalker Industriellen Friedrich Grillo gegründet, hatte im Jahr 1887 die bei Steele errichteten Wassergewinnungsanlagen der Gelsenkirchen-Schalker Gas- und Wasserwerke aufgekauft und belieferte die Gemeinden des Landkreises Gelsenkirchen sowie des nördlichen Teils des Essener Landkreises. Das WwNWKr traf so Wasserwerksdirektor Pfudel - auf „keine große Sympathie". „Als sich ein Wasserwerk als nötig herausstellte", argumentierte Pfudel vor dem Landgericht, „wollten die Gemeinden das Risiko der Errichtung eines solchen nicht übernehmen." 29 Die Wasserförderung des WwNWKr diente - wie auch bei vielen anderen Wasserwerken des Industriebezirks - in erster Linie dazu, industrielle Bedürfnisse abzudecken; die Trinkwasserabgabe hatte demgegenüber nur eine untergeordnete Bedeutung. Infolge der zahlreichen Typhusepidemien, die im nördlichen Industriebezirk vor allem in den Sommermonaten regenarmer Jahre der 1880er und 1890er Jahre auftraten, setzte sich bei den vom Kaiserlichen Gesundheitsamt entsandten Medizinalbeamten zunehmend die Überzeugung durch, daß sich diese „fast alle [...] bei näherer Betrachtung als Trinkwasserepidemien entpuppt [haben], bei denen die Stromverseuchung die Hauptrolle spielte". Deren Ursache war aber ungeklärt geblieben, weil - so Medizinalrat Springfeld - der Medizinalbeamte vor Ort „sie nicht genauer studieren konnte oder in Pettenkofer'sehen Anschauungen befangen, sich um die Wasserleitungen nicht kümmerte" 30 Doch gerade die Förderpraktiken der Wasserwerke stellten im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert ein gesundheitliches Risiko für die Wasserkonsumenten dar. Denn es war gang und gäbe, bei Wasserknappheit ungefiltertes Wasser, das z.T. direkt der Ruhr entnommen worden war, in das Rohrleitungssystem zu pumpen. Die Verwendung dieser sogenannten Stichrohre macht auf ein - die späteren Gerichtsverhandlungen beeinträchtigendes - Problem aufmerksam: Da der Einfluß der Pettenkofer'sehen Lehre gesetzliche Maßnahmen gegen die FlußVerunreinigung verhindert hatte,31 folglich der Fachverband der Gas- und Wasserwerksfachleute zu Recht auf die Grundsätze der Petten-

28 So die gutachterlichen Aussagen der Medizinalräte Racine (Essen) und Tenholt (Bochum) und der Kommunalbeamten Meyer (Stoppenberg) und De la Chevallerie (Buer) während der Gerichtsverhandlungen [GZ vom 9.7.1904 (I), vom 13.7.1904 (I) und vom 19.11.1904 (III), jew. S. 1]. 29 GZ vom 6.7.1904 (I), S. 1. 3H Springfeld, Typhusepidemien, S. 17. 11 N. Howard-Jones, Gelsenkirchen Typhoid Epidemie of 1901. Robert Koch and the Dead Hand of Max von Pettenkofer, in: British Medical Journal, Vol. I, 13. Jan. 1973, S. 103-105, hier: S. 103.

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kofer'sehen Selbstreinigungstheorie verwies, 32 fehlte den Wasserwerksbetreibern jegliche Sensibilität gegenüber den steigenden Ansprüchen an ein einwandfreies Trinkwasser: Wenn überhaupt, dann hatten sie ausschließlich die Pettenkofer'sehe These der Selbstreinigungkraft fließender Gewässer zur Kenntnis genommen, die - so der Direktor des Bonner Instituts für Hygiene, Professor Dr. Walter Kruse, in der Gerichtsverhandlung - „wahrlich gefährlich ist, weil sie die Möglichkeit der Erkrankung des Wassers leugnet". 33 Als sich im ausgehenden 19. Jahrhundert der wissenschaftliche Diskurs über die Ätiologie der Infektionskrankheiten mehr und mehr differenzierte und sich die Konfrontation von lokalistischer und kontagionistischer Theorie, von experimenteller Hygiene und Bakteriologie immer deutlicher abzeichnete, versuchte der Fachverband eine neutrale Position zwischen beiden medizinisch-wissenschaftlichen Schulen einzunehmen.34 Der Rückgriff auf traditionelle Verfahren zur Bestimmung der Wasserqualität wie etwa die Keimzählung oder eine grobsinnliche Prüfung stellten jedoch ein Ausweichen vor den an die Wasserwerke gestellten hygienischen Anforderungen dar. Die bloße Erfüllung von unstreitbaren Mindestansprüchen an Trinkwasser geriet schließlich infolge der 1901 erlassenen Dienstanweisung für die Kreisärzte zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik. Den Medizinalbeamten oblag nun die hygienische Beaufsichtigung der sich auf ihren Sachverstand berufenden - Wasserfachleute, was diese als eine Bevormundung und Mißachtung ihrer Qualifikation ansahen.35 Demzufolge hielten die Direktoren des WwNWKr ihr Wissen über die Einleitung ungefilterten Ruhrwassers bei den unmittelbar nach Eintreffen des Medizinalrats Springfeld in Gelsenkirchen abgehaltenen Sitzungen der Gesundheitskommission zurück, so auch am Abend des 24. September 1901: Hierbei wurde dem Medizinalbeamten von den in den Sommermonaten des Jahres 1901 vermehrt aufgetretenen Klagen der Konsumenten über den „aashaften" Geruch des Wassers und über die zahlreichen, mit dem Wasser mitgelieferten Lebewesen, von Würmern bis zu toten Tieren, berichtet. 36 Die Beschwerden bezogen sich jedoch auf das gesamte vom WwNWKr belieferte Gebiet. Die Typhusepidemie war hingegen nur in dem vom Hochbehälter in Leythe gespeisten Versorgungsgebiet aufgetreten, während die übrigen Gebiete zunächst seuchenfrei blieben. Die Verseuchung dieses klar abgrenzbaren Areals war für Springfeld nur durch die Verunreinigung des Rohrleitungsnetzes zu erklären. Da die bei 32

Das „Journal für Gasbeleuchtung und Wasserversorgung" referierte beispielsweise ausschließlich die Pettenkofersche Theorie der Selbstreinigung der Flüsse, nahm hingegen auch noch nach der Jahrhundertwende weder auf Bedenken noch auf Forderungen der Bakteriologie bezüglich der Trinkwasserqualität Bezug. " G Z vom 15.7.1904 (I), S. 2. 34 Grahn, Zur Geschichte der hygienischen Beurteilung des Wassers, S. 980. 35 Kluge / Schramm, Wassernöte, S. 124. 36 GZ vom 8.7.1904 (I), vom 19.11.1904 (III), jew. S. 2, und vom 28.11.1904 (I), S. 1.

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der Sitzung der Gesundheitskommission anwesenden Wasserwerksdirektoren Hegeler und Pfudel gegenüber den anwesenden Personen jedoch die Existenz eines Stichrohrs an den Förderanlagen verschwiegen, konzentrierte sich die Suche nach der Epidemieursache zunächst auf mögliche Stellen, an denen Keime ins Rohrnetz gelangt sein konnten. Von der Entdeckung des Rohrbruchs zum Eintreffen Robert Kochs in Gelsenkirchen Für den Medizinalrat Springfeld lag auf der Hand, daß die Infektion des Leyther Hochbehälters die Verseuchung ausschließlich des einen Wasserversorgungsgebiets verursacht hatte. Bei der Untersuchung des Behälters fand er heraus, daß nicht das moderne eiserne Hochbassin, sondern ein daneben befindliches, deutlich älteres Erdbassin in der fraglichen Zeit vor allem an den Sonntagen in Betrieb gewesen war. Da das Wasser vom Eisenbassin mit Druck ins Rohrnetz geleitet wurde, waren bei dem geringeren Wasserkonsum an Sonntagen, an denen die Industriebetriebe nicht dieselben Wassermengen abnahmen wie während der Woche, Rohrbrüche zu befürchten. 37 Der Leyther Erdbehälter war seit seiner Errichtung im Jahre 1886 lediglich einmal gereinigt worden. Springfeld Schloß daraus, daß Typhusbazillen in dem Erdbehälter lebensfähig waren, und suchte demzufolge nach einer Rohrbruchstelle zwischen der Förderanlage an der Ruhr und dem Erdbassin. In Königssteele wurde der Medizinalrat fündig: Hier waren zwischen dem 14. und 16. August 1901 an der alten Glashütte mehrfach Rohre gebrochen, deren Wasser sowohl die Straße, die „in sanitärer Beziehung die größten Mißstände" aufwies, als auch die Aborte der Arbeiter in der Glashütte und den umliegenden Wohnungen überflutet hatte. 38 Springfeld ging nun davon aus, daß das mit Fäkalien verschmutzte Wasser durch den Rohrbruch in den Leyther Erdbehälter gelangen konnte, von dem es aus am Sonntag, den 18. August 1901, in das Seuchengebiet abgegeben wurde. Mangels exakter Informationen über die Verteilung des geforderten Wassers im Abnahmegebiet des WwNWKr begab sich der Medizinalrat Ende September 1901 daran, das gesamte Rohrnetz des Wasserwerks durch Zugabe von Schwefelsäure zu desinfizieren und zudem mechanisch zu reinigen. Auch wenn ihm dieses technisch höchst schwierige Unterfangen gelang und er davon überzeugt war, „dass in der Leitung noch vorhandene Typhusbazillen radikal mechanisch entfernt oder chemisch [...] abgetötet" worden waren, 39 war diese Reinigung weniger wirksam für die Eindämmung der Ty-

37

Springfeld,

38

Ebd., S. 77f.

"Ebd., S. 90.

Typhusepidemie, S. 75ff.

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phusepidemie als die strenge Befolgung der im Reichsseuchengesetz vorgeschriebenen Isolierungsmaßnahmen bei Infektionskrankheiten. Die Unterbringung der Kranken in den Gelsenkirchener Krankenhäusern und Notlazaretten sowie die sorgfältige Desinfektion der betroffenen Wohnungen und Aborte verminderte die Zahl der durch Kontakt bedingten Infektionen an Typhus auf ein verhältnismäßig geringes Maß. Zwei Tage nach Desinfektion des Rohrnetzes äußerte der Essener „Generalanzeiger" Zweifel an der Stichhaltigkeit der Rohrbruchthese Springfelds: „Es mag j a sein, daß auch dieser Rohrbruch eine Anzahl von Typhuskeimen in die Leitung gebracht und eine Anzahl Erkrankungsfälle verschuldet hat, ihn aber als alleinige und einzige Ursache der Epidemie anzusehen, geht wohl zu weit und könnte geradezu verhängnisvoll werden, wenn man sich nur hiermit begnügen und damit die Entdeckung der wahren Infektionsquelle unmöglich machen würde. [...] Wenn aber die Beziehungen der Ruhr zu den Brunnen des Wasserwerks so intim sind, so wäre es [...] von der allergrößten Wichtigkeit, die Abwässerverhältnisse in den oberhalb Steele gelegenen Ortschaften einer eingehenden Revision zu unterziehen." 40

In den bezeichneten Ortschaften Königssteele, Horst und Freisenbruch wurden nämlich Fäkalien und Abwässer meist wahllos in kleine Seitenbäche der Ruhr geschüttet, die oberhalb der Förderanlagen des WwNWKr in die Ruhr mündeten.41 Einer dieser Bäche, der Eibergbach, der mehr oder minder die Schwemmkanalfunktion für die Gemeinde Horst übernahm und nur wenige hundert Meter oberhalb des Steeler Pumpwerks lag, war sowohl den Direktoren wie auch dem Betriebspersonal unbekannt. Der Eibergbach stellte folglich eine potentielle Quelle für Gesundheitsgefährdungen der Wasserkonsumenten dar. Dies wurde auch durch eine im Jahr 1904 vorgenommene bakteriologische Analyse bestätigt.42 Hatten die Direktoren des Wasserwerks bis Mitte Oktober die „intimen Beziehungen" zwischen Ruhr und Förderanlage abgestritten, 43 änderte sich deren Einstellung abrupt, als der „grand seigneur" der Bakteriologie, Robert Koch, in Gelsenkirchen eintraf. Als dieser das Wasserwerk am 17. Oktober 1901 besichtigte, gestanden sie die Existenz eines Stichrohres, das sie in den Sommer-

40

Essener Generalanzeiger von Dienstag, dem 1. Okt. 1901, XXVI. Jg., Nr. 264, Rubrik „Lokal· und Provinzialnachrichten". 41

Grahn, Gerichtsverhandlungen, S. 7; s.a. GZ vom 5.7.1904 (I) und vom 28.11.1904 (I), jew.

S. 1. 42 43

GZ vom 19.11.1904 (III), S. 1, und vom 24.11.1904 (I), S. 2.

Direktor Hegeler hatte am 18.9.1901 gegenüber dem Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen, Theodor Machens, Unregelmäßigkeiten in der Wasserversorgung bestritten; Direktor Pfudel während der Sitzung der Gesundheitskommission am 24.9.1901 behauptet, daß das WwNWKr ein Stichrohr „nicht nötig" habe, zit. nach Grahn, Gerichtsverhandlungen, S. 31.

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monaten regelmäßig benutzt hatten.44 Während der Gerichtsverhandlungen begründete der Wasserwerksdirektor Hegeler sein Verhalten damit, daß „man einer solchen Autorität wie Professor Koch gegenüber eine solche Sache nicht verschweigen dürfe", 45 führte dann aber weiter zu seiner Rechtfertigung aus, daß zwecks der „Erfüllung der Verträge" die Lieferung mittels Stichrohr geförderten Ruhrwassers als ein probates Mittel anzusehen sei, falls „kein anderes Wasser" vorhanden sei. Zum anderen zogen sich die beiden Direktoren auf die - ihrer Ansicht nach unbestrittene - Unbedenklichkeit der Förderpraktiken zurück. Hegeler argumentierte während der Gerichtsverhandlungen: „Wenn wir das Stichrohr für so bedenklich gehalten hätten, die Konsumenten warnen zu müssen" - wie dies beispielsweise in benachbarten Städten erfolgt war -, „dann würden wir die Einrichtung überhaupt nicht benutzt haben." 46 Die Sitzung der Gesundheitskommission in Gelsenkirchen am 24. September 1901 schien die Wasserwerksdirektoren jedoch dazu bewegt zu haben, die Benutzung des Stichrohrs sofort einzustellen. Am Tag des Eintreffens Robert Kochs in Gelsenkirchen wurde diese illegale Fördereinrichtung schließlich endgültig demontiert.

Die Phase der Voruntersuchungen Durch die Veränderung der Förderanlagen wurden die Untersuchungen über den tatsächlichen Infektionsweg in solcher Weise beeinträchtigt, daß der Untersuchungsrichter des Essener Landgerichts ein Obergutachten zur Klärung der Infektionswege in Auftrag gab, das von der „Königlichen Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen im Ministerium für geistliche etc. Angelegenheiten" unter der Federführung des Bakteriologen Max Rubner im Lauf des Jahres 1902 erstellt wurde und zu folgenden Resultaten kam: „ I : Das Wasser der Pumpstation Steele war geeignet, die Gesundheit zu schädigen." 47

Dafür führten die Gutachter drei Gründe an: Erstens war das beigemischte Wasser „unzweifelhaft nicht als gesund zu bezeichnen", da die Ruhr die „natürliche Drainage eines dicht bevölkerten Landes" bildet. Auf Höhe der Förderanlagen in Steele mußte wegen der Zuleitungen der Seitenbäche der Ruhr mit einer wahrnehmbaren Belastung der Wasserqualität gerechnet werden. Als Quelle der Verunreinigung der Ruhr sei zweitens der Eibergbach anzusehen, in

44

Von Drigalski, Im Wirkungsfelde, S. 172.

45

GZ vom 9.7.1904 (I), S. 2, daraus auch die folgenden Zitate. GZ vom 17.11.1904 (I), S. 2.

46 47

Grahn, Gerichtsverhandlungen, S. 5ff., s.a. GZ vom 28.11.1904 (I), S. lf., daraus auch die folgenden Zitate.

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dem zur fraglichen Zeit m i t an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit T y phusbazillen vorhanden waren. Drittens war die „Herstellungsweise des Wassers [...] geeignet, die Gesundheit zu schädigen". „II. Die Typhusepidemie ist durch den Gebrauch dieses Wassers verursacht, und es ist, wenn auch nicht sicher, so doch immerhin wahrscheinlich, daß der Infektionsstoff, nämlich die Typhusbazillen, durch die Beimengung von rohem Ruhrwasser vermittelst des Stichrohrs in das Wasser eingeführt worden ist, und zwar a) weil das Wasser die Typhusepidemie verursacht hat [... und] b) weil das Ruhrwasser als Quelle der Infektion anzusehen ist. [...] III. Das Wasser war minderwertig, verdorben und verfälscht." Die Gutachter folgten damit der bakteriologischen Argumentation, die nicht nur durch die Kongruenz von Wasserversorgungs- und Seuchengebiet gestützt, sondern auch durch den Vergleich m i t anderen Trinkwasserepidemien, d.h. der Charakteristika von Ausbruch, Verbreitung und Verlauf weiterer Typhusepidemien i m rheinisch-westfälischen Industriegebiet, erhärtet wurde. Wenn auch keine Typhusbazillen i m Trinkwasser nachgewiesen werden konnten, folglich kein unwiderlegbarer Beweis für den Kausalzusammenhang zwischen Stichrohr und Typhusepidemie vorzuweisen war, hielten die Gutachter die Indizien für so stichhaltig, u m gegen die Wasserwerksdirektoren Anklage zu erheben, weil sie „durch ein und dieselbe Handlung 1. vorsätzlich einen Gegenstand, welcher bestimmt ist, andern als Nahrungs- oder Genußmittel zu dienen, nämlich Trinkwasser, derart hergestellt zu haben, daß der Genuß desselben die menschliche Gesundheit zu beschädigen geeignet ist, [...] als Nahrungs- und Genußmittel verkauft oder sonst in Verkehr gebracht zu haben, und zwar mit der Folge, daß durch die Handlung schwere Körperverletzungen und der Tod vieler Menschen verursacht worden ist; 2. in Absicht, sich oder dritten einen rechtswidrigen Vermögens vorteil zu verschaffen, das Vermögen anderer, nämlich derjenigen Gemeinden und Gemeindeinsassen, welche auf Grund von Verträgen von dem WwNWKr Wasser käuflich erhalten, dadurch geschädigt zu haben, daß sie durch Vorspielung falscher und Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregten, indem sie filtriertes gutes Wasser zu liefern versprachen, während sie mit unmittelbar der Ruhr entnommenem Wasser vermischtes, der Gesundheit schädliches oder minderwertiges Wasser unter Verschweigung dieser Umstände geliefert haben. (Verbrechen bzw. Vergehen bestrafbar nach dem § 12, Ν. 1 und Abs. 3 des Nahrungsmittelgesetzes (NMG) vom 14. Mai 1879 und den §§ 263, 73, 47 des R.Str.G.Bs.)" %

48

S. 1.

Grahn,, Gerichtsverhandlungen, S. 7., s.a. GZ vom 5.7.1904 (1) und vom 28.11.1904 (I),jew.

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Auf dieses Obergutachten stützte sich dann auch im wesentlichen die Anklageschrift der Essener Staatsanwaltschaft, die jedoch noch deutlicher das Verhalten der Wasserwerksleitung anprangerte: „Den Angeklagten Hegeler und Pfudel wird vorgeworfen, ,vorsätzlich' (conf. § 12 des N M G ) die menschliche Gesundheit beschädigt zu haben, weil sie die Zubringerleitung und das Stichrohr als ungenügend und ungehörig bezeichnet und doch benutzt hätten, weil diese Anlagen nicht konzessioniert gewesen wären, weil sie nicht in die Werkskarten eingetragen wären und weil sie ihnen überhaupt und selbst dem Wasseruntersucher Tenholt gegenüber verheimlicht wären." 49

Ebenso klagte die Essener Staatsanwaltschaft den ehemaligen, bis 1899 tätigen Direktor des WwNWKr, Schmitt, wegen Verstoßes gegen das NMG an, da unter seiner Leitung das Stichrohr in den 1890er Jahren angelegt und in Gebrauch genommen worden war. Die Anschuldigungen gegen sich und seine Person nahm Schmitt zum Anlaß, einen schriftlichen Einspruch gegen die Vorwürfe einzureichen, da er „sich für verpflichtet" hielt, „weitergehende Behauptungen über die Ursachen der Epidemie aufzustellen und sich zu erbieten, den Beweis ihrer Richtigkeit zu erbringen, durch welche eventuell die ganzen Annahmen des Obergutachtens und die Behauptungen der Anklageschrift hinfallig gemacht werden könnten". 50 Schmitts Ausführungen, daß durch Bauarbeiten an Wassererschließungsanlagen die Typhusbazillen in die Förderanlagen, daß durch den Gebrauch des Stichrohrs - d.h. die Zumengung ungereinigten Ruhrwassers - deren Pathogenität sogar vermindert worden seien, stifteten zwar mehr Verwirrung, als daß sie neue Auskünfte hinsichtlich der Infektionswege der Epidemie brachten. Sie bewirkten aber auch, daß die Angeklagten von ihren in den ersten Vernehmungen gemachten Aussagen abrückten: Entgegen früheren Bekundungen wurde nun in Abrede gestellt, daß derjenige Schieber offen gestanden hatte, der eine getrennte Wasserversorgung verschiedener Gebiete zugelassen hätte. Damit stellten sie die von den Obergutachtern rekonstruierten Förderwege in Frage und vereitelten dadurch letztlich die Klärung der Epidemieursache durch das Essener Landgericht. Der „Wasserwerksprozess" vor dem Essener Landgericht Dem Gerichtsverfahren im Juli und November 1904 wurde von einer breiten Öffentlichkeit größte Aufmerksamkeit geschenkt. Denn es ging hier nicht nur um die Kl&üng der Schuldfrage im Sinne der Anklageschrift, sondern darüber hinaus umAufdeckung „aller vorhandenen oder vorhanden gewesenen Schäden in der Wasserversorgung", wie beispielsweise in der Gelsenkirchener Zeitung 49

Grahn, Gerichtsverhandlungen, S. 11.

™Ebd, S. 13.

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gefordert wurde. 51 Die auffalligste Besonderheit des Prozesses stellte die große Zahl der Zeugen und namhaften Sachverständigen dar: U.a. erschienen Rudolf Emmerich und Robert Koch als „Kronzeugen" von Verteidigung und Anklage, sowie als weitere Gutachter zahlreiche Medizinalräte, Ärzte, Architekten und Wasserfachleute vor dem Essener Gericht. Die Auseinandersetzung zwischen der Koch'sehen und der Pettenkofer'sehen Schule diktierte in weiten Teilen des Prozeßverlauf. Vor allem Rudolf Emmerich, nach Pettenkofers Selbstmord führender Protagonist der lokalistischen Theorie, nahm die Gerichtsverhandlungen zum Anlaß, diese ein weiteres Mal zu referieren. 52 Mit seinen Ansichten war Emmerich jedoch isoliert, da sich der überwiegende Teil der anderen Gutachter der Annahme anschloß, daß es sich bei der Gelsenkirchener Typhusepidemie um eine Trinkwasserepidemie handele. Lediglich der Gelsenkirchener Architekt Stolze bezeichnete die mangelhafte Fäkalienbeseitigung und die hohe Wohndichte im Industriebezirk und speziell in Gelsenkirchen als ausschlaggebende Faktoren für den Ausbruch der Epidemie, mußte sich dafür aber den Vorwurf des Vorsitzenden Richters gefallen lassen, besonders düstere und nicht dem Normalfall entsprechende Verhältnisse „im Interesse der Pettenkofer'sehen Theorie" geschildert zu haben.53 Der Gutachterstreit wurde z.T. mit heftiger Polemik betrieben: Der Bonner Hygiene-Professor Kruse betonte, daß in „keinem Fall [...] die Deckung des Wasserversorgungs- und Seuchenverbreitungsgebiets in vollständigerem Maße gelungen [ist] wie in diesem Fall". Dieser Befund sei als ein Beleg dafür anzusehen, daß die Trinkwassertheorie als „Theorie des gesunden Menschenverstandes", die Pettenkofer'sehe Theorie hingegen als „das Erzeugnis einer schöpferischen Theorie" sei. Letztere habe „den Vorgang der Verseuchung [...] mehr in ein mystisches Dunkel gehüllt" als aufzuklären geholfen. 54 In der ersten Prozeßphase beschäftigte sich das Gericht vornehmlich mit der Klärung der Fragen über die Qualität des im Sommer 1901 vom WwNWKr gelieferten Wassers und über die tatsächliche Beschaffenheit der Förderanlagen. Während letzteres, vor allem die Stellung der Schieber im Wasserwerk, nicht eindeutig geklärt werden konnte, waren sich die Gutachter hinsichtlich der minderen Qualität und wahrscheinlichen Pathogenität des Wassers einig. Die Gutachter hoben übereinstimmend hervor, daß Ruhrwasser nicht als geeignetes

51 GZ vom 8.7.1904 (I), S. 3; zitiert wird hier die „Kölner Zeitung", in der gefordert worden war, „daß die Regierung alles tut, daß gelegentlich dieses Prozesses Klarheit über die Wasserversorgungsfrage" geschaffen wird. 52 Emmerich hatte sich den Angeklagten selbst als sachverständiger Berater angeboten, vgl. Howard-Jones, Gelsenkirchener Typhoid Epidemie, S. 104, Wolter, Entstehungsursachen, S. 6. 53 54

GZ vom 13.7.1904(1), S. 2.

GZ vom 13.7.1904 (I), vom 14.7.1904 (I) und vom 26.11.1904 (IV), jew. S. 2, s.a. Kruse, Für oder wider Pettenkofer, S. 279-310.

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Trinkwasser bezeichnet werden könne, sondern eher im Gegenteil auch bei Verdünnung mit filtriertem Wasser als Gefährdung für die menschliche Gesundheit angesehen werden mußte. Der Siegener Kreisarzt Hensgen äußerte diese Bedenken mit den deutlichsten Worten: Er würde es „vom ärztlichen Standpunkt sogar verbieten, Ruhrwasser zu trinken. Das Wasser ist trübe und schmutzig, und ein solches Wasser muß eine Menge Krankheitsstoffe enthalten." 55 Zur endgültigen Klärung der Frage, inwiefern die Förderanlagen derart manipuliert waren, daß pathogenes Wasser in das verseuchte Versorgungsgebiet gelangen konnte, beantragte die Staatsanwaltschaft am Ende der ersten Prozeßphase ein neues Gutachten. Dieses in den Sommermonaten des Jahres 1904 von dem Aachener Professor Holz und dem Mannheimer Ingenieur Smrecker erstellte zweite Gutachten brachte wider Erwarten einige neue Erkenntnisse: Zum einen war das Stichrohr seit 1900 andauernd in Betrieb gewesen, stellte also keinen Notbehelf, sondern eine ständige und daher unzulässige Betriebseinrichtung dar, mittels derer der gestiegene Wasserbedarf gedeckt wurde. Die Menge des Stichrohrwassers umfaßte seither bis zu ein Drittel des gelieferten Wassers. Zum anderen sprachen alle Anhaltspunkte dafür, daß das Stichrohrwasser nur mittels einer der Fördermaschinen in den Leyther Hochbehälter gepumpt worden war, einwandfrei klären ließe sich dies aber nur mittels verläßlicher Zeugenaussagen.56 Damit erfüllte das Gutachten nicht die an dieses geknüpften Erwartungen, sondern wies seinen eigentlichen Auftrag, die exakte Rekonstruktion der Förderwege, an das Essener Landgericht zurück. Dadurch löste das sachverständige Gutachten einen Umschwung im Wasserwerksprozeß aus: Die - wenn auch wenigen - Stimmen, die die lokalistische Theorie favorisierten, wurden in der zweiten Prozeßperiode immer lauter. Der Bochumer Medizinalrat Tenholt meinte z.B., „daß er zwischen der Koch'schen und der Pettenkofer'sehen Schule die Mitte halten müsse; Gelsenkirchen und Schalke seien alte Seuchennester. Viele Epidemien lassen sich nicht anders erklären, als daß sie eingeschleppt sind und daß die lokale Prädispostion wie ein Zündstoff wirke." 5 7 Nachdem weder die Gutachten noch die Vernehmung des Personals des Wasserwerks eindeutigen Aufschluß über den Zustand der Förderanlagen im Sommer 1901 gebracht hatte, zelebrierte Rudolf Emmerich seinen Auftritt vor dem Essener Landgericht in fast theatralischer Weise. Er sei überrascht gewesen, daß „ein Preussischer Staatsanwalt es wage, eine wissenschaftliche Streitfrage vor das Forum des Gerichts zu bringen", wolle dieses aber nutzen, um seine „heilige und feste Überzeugung" kundzutun, „daß das Wasser keine ur-

55 56 57

GZ vom 18.11.1904(1), S. 3. Grahn, Gerichtsverhandlungen, 24ff., s.a. GZ vom 26.11.1904 (IV), S. 1. GZ vom 19.11.1904 (III), S. 2.

Die Gelsenkirchener Typhusepidemie

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sächliche Rolle bei der Typhusepidemie gespielt hat, sondern daß die Ursache in den Bodenverhältnissen zu suchen ist". 58 Emmerichs Ausführungen illustrierten in besonders plakativer Weise die äußerst beklagenswerten hygienischen Mißstände in der jungen Industriestadt Gelsenkirchen, deren zeitlich komprimiertes Wachstum stadtassanierenden Maßnahmen enge Grenzen gesetzt hatte. Emmerich setzte sich zunächst mit den Boden- und Abwasserverhältnissen der Stadt auseinander: „So grauenhafte und barbarische Verhältnisse in bezug auf Hausabwässer-, Fäkalienund Müllbeseitigung wie in Gelsenkirchen und einen so enormen Grad der Bodenverunreinigung, wie in dieser Stadt, habe ich nirgends gefunden. [...] Man sollte in einem Lande, in dem so reiche Schätze gewonnen werden, auch etwas Geld darauf verwenden, daß die Mortalitätsverhältnisse günstiger werden, damit die Menschenmassen, die des schnöden Mammons wegen hier aus aller Welt zusammenströmen, nicht [...] durch die Typhusbazillen dezimiert werden."

Durch die Verunreinigung des - im Emschertal zumal porösen alluvialen Bodens seien „an Hunderten von Bodenstellen Typhusbazillen deponiert worden", die sich „bei der Sommerhitze binnen weniger Stunden zu Massenkulturen vermehrten und das explosionsartige' Lauffeuer der Epidemie erzeug.

" 59

ten . Auch wenn es Emmerich nicht verstand, eine schlüssige Erklärung für den Ausbruch der Seuche in dem begrenzten Gebiet zu liefern - die unmittelbaren Nachbarbezirke kennzeichneten ähnlich schlechte hygienische Verhältnisse -, bildeten seine Ausführungen zum einen die Grundlage für die Argumentation der Verteidigung, stellten zum anderen auch eine deutlich offensivere Rechtfertigung wissenschaftlicher Ansichten als die anschließenden gutachterlichen Aussagen Robert Kochs dar. Dieser bekräftigte im wesentlichen die Indizien, die für eine Trinkwasserepidemie sprachen, fügte jedoch hinzu, daß auch eine vollständige Rekonstruktion der Infektionswege kaum weitere Aufschlüsse der Epidemieursache erbracht hätte: „Wäre auf dem Wasserwerk heute noch alles wie damals, so wäre es ein leichtes, das Experiment mit gefärbtem Wasser zu machen. Aber dieser Versuch ist nicht nötig, einmal hat das Wasser bereits diesen Weg gemacht: aber es war kein gefärbtes Wasser zu dem Experiment benutzt worden, sondern in dem Wasser, das nach Leythe ging, waren Typhusbazillen." 60

58

GZ vom 25.11.1904 (I), S. 1; daraus auch die folgenden Zitate. R. Emmerich, Die Entstehungsursachen der Gelsenkirchener Typhusepidemie, München 1906, S. 206. 60 GZ vom 26.11.1904 (IV), S. 3. 59

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Martin Weyer-von Schoultz Strafmaß und Urteilsgehalt des Wasserwerksprozesses

Auf der Grundlage der umfangreichen Gutachten und der Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung fällte das Essener Landgericht ein Urteil, das allen Aspekten Rechnung zollte: Im Sinne der Anklage wurde Wasser nicht als ein Naturstoff, sondern als ein Nahrungsmittel bezeichnet, dessen Verkauf demnach unter die Bestimmungen des Nahrungsmittelgesetzes fallen. Das Gericht hielt den Tatbestand der fahrlässigen, jedoch nicht der vorsätzlichen Verfälschung von Trinkwasser zum Zweck der Täuschung erfüllt. Da den Angeklagten aber nicht unwiderlegbar ein Verschulden an den Gefährdungen fur Leben und Gesundheit der Wasserkonsumenten nachgewiesen werden konnte, wurden gegen die Wasserwerksdirektoren Pfudel und Schmitt lediglich eine Geldstrafe von je 1.500 Mark und gegen Hegeler 1.200 Mark verhängt. Damit erfüllte das Gericht zwar nicht die an das Urteil gestellten Erwartungen, sprach aber die Angeklagten von dem Vorwurf, die Typhusepidemie verursacht zu haben, auch nicht frei. Besonderen Wert erhält das Urteil dadurch, daß es Trinkwasser erstmals im juristischen Sinne als Nahrungsmittel bezeichnete. Dennoch vermochte der Urteilsspruch die Debatte über die Stichhaltigkeit des Zusammenhangs zwischen Trinkwasserversorgung und Typhusepidemien nicht verstummen zu lassen,61 eher im Gegenteil: Vor allem die Wasserfachleute wiederholten ihre Einwände gegen die Festlegung von hygienischen Bewertungsmaßstäben für die Trinkwasserqualität durch Außenstehende. Mit dem Kenntnisstand vom Sommer 1901 seien zudem die Direktoren des Wasserwerks nicht zu verurteilen, da ihnen von Medizinalbeamten die geringe Zahl der Keime bestätigt worden war, nach Keimzählung und grobsinnlicher Prüfung folglich eine Pathogenität des Wassers nicht anzunehmen sei. 62 Ganz anders als die Wasserfachleute sah der Kommentator der Gelsenkirchener Zeitung den Sachverhalt: „Es war eine Schweinerei, monatelang das Ruhrwasser in großer Menge in die Leitung laufen zu lassen und dem Publikum ein solches Wasser als ein einwandfreies Trinkwasser zu verkaufen! [...] Es ist ein Trost für die Öffentlichkeit und auch eine Genugtuung für unseren Bezirk, daß der Prozess fruchtbare Wirkung auf dem Gebiete der Hygiene gezeitigt hat. Es ist gerade, als wenn die Gesundheitsbehörden durch die Gelsenkirchener Typhusepidemie und die anschließenden Erörterungen aus einem tiefen Schlafe geweckt worden wären und nun emsig nachholten, was sie Jahrzehnte durch versäumt haben. Ebenso werden sich die Wasserwerke in Zukunft nicht lediglich als industrielle Betriebe ansehen, sondern die Verpflichtung fühlen, auch 61

Hierfür sprechen die zahlreichen Publikationen, die auf die Gelsenkirchener Typhusepidemie Bezug nehmen, so z.B. von Springfeld, Typhusepidemien (1903), Grahn, Gerichtsverhandlungen (1905), Kruse, Für oder wider Pettenkofer (1906) und Emmerich, Die Entstehungsursachen (1906). 62 Grahn, Gerichtsverhandlungen, S. 27, s.a. ders. : Zur Geschichte der hygienischen Beurteilung des Wassers, S. 982.

Die Gelsenkirchener Typhusepidemie

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der hygienischen Seite der Wassergewinnung die erforderliche Aufmerksamkeit in ausreichendem Maße zu schenken." 3

Bezüglich der Verbesserung und des systematischen Ausbaus von Wasserver- und Abwasserentsorgung im Industriegebiet sollte der Kommentator recht behalten. Was die Besserung der hygienischen Wohn- und Lebensbedingungen angeht, so sollte es noch zwei Jahrzehnte dauern, bis der Gesundheit der Bewohner des Industriebezirks der Stellenwert eingeräumt wurde, den diese in anderen Gebieten des Deutschen Reichs schon vor der Jahrhundertwende eingenommen hatte. 64

63

GZ vom 1. Dez. 1904 (II), S. 1. S. dazu ausführlich: M. Weyer-von Schoultz, Stadt und Gesundheit im Ruhrgebiet. Verstädterung und kommunale Gesundheitspolitik am Beispiel der jungen Industriestadt Gelsenkirchen, Essen 1994, hier v.a. Kap. 3 und Kap. 5. 64

I I I . Soziale und medizinische Versorgung

Von der Säuglingsfürsorge zur Wohlfahrtspflege: Gesundheitsfürsorge im rheinisch-westfälischen Industriegebiet am Beispiel des Vereins für Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf

Von Wolfgang Woelk Sinkende Geburtenraten und eine im internationalen Vergleich hohe Säuglingssterblichkeit ließen im Kaiserreich erstmalig umfassende Konzepte der Säuglingsfürsorge entstehen. Die hierdurch hervorgerufene Sorge um die ökonomische und militärische Zukunft Deutschlands wurde insbesondere in den Jahren um 1900 zu einem zentralen Thema der sozialpolitischen Diskussion. Ansatzpunkte für eine Säuglingsfürsorge waren zur Genüge vorhanden: Neben der hohen Säuglingssterblichkeit 1 waren dies die sehr geringe Stillquote, die weitgehend ungenügende Versorgung mit hygienisch sauberer Milch oder Milchersatzprodukten und die insbesondere in den Großstädten häufig katastrophalen Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse.2 Diese Mißstände durch Fürsorgemaßnahmen abzubauen, bedurfte es nicht nur sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen, sondern auch einer neuen Denkweise, die sich erst schrittweise in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts durchsetzte. Dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet kam bei dieser Ausgestaltung der Fürsorgetätigkeit exemplarische Bedeutung zu, da sich die Auswirkungen der Hochindustrialisierung in kaum vergleichbarem Maße in der Region zeigten. Daher stellt sich die Frage, wie von Seiten des Staates, der Kommunen und der Vereine auf das sozial- und gesundheitspolitisch relevante Problem der hohen Säuglingssterblichkeit „vor Ort" reagiert wurde. Dies soll am Beispiel der Säuglingsfürsorge festgemacht werden, die sich im Betrachtungszeitraum schrittweise als eigenständiger Fürsorgezweig etablieren konnte. Erste Ansätze einer praktischen und umfassenden Fürsorge waren in einzelnen Regionen des rheinisch-westfälischen Industriegebiets zwar bereits im ersten Jahrzehnt dieses 1 Vgl. hierzu J. Vögele, Urban Infant Mortality in Imperial Germany, in: Social History of Medicine 7 (1994), S. 401-425. 2 Vgl. hierzu J. Vögele, Sanitäre Reformen und der Sterblichkeitsrückgang in deutschen Städten, 1877-1913, in: VSWG, Bd. 80, H. 3 (1993), S. 345-365.

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Wolfgang Woelk

Jahrhunderts weitgehend ausgeprägt.3 Jenseits der Armenfiirsorge konzentrierte sich die Fürsorgetätigkeit für einzelne Gruppen der Gesellschaft aber primär auf die zumeist aus der sogenannten „freien Liebestätigkeit" und bürgerlichen Sozialreform entstandenen Fürsorgevereine. 4 Dagegen entwickelten die Kommunen im rheinisch-westfälischen Industriegebiet nur langsam eigene fürsorgerische Aktivitäten und überließen derartige Aufgaben verstärkt funktionalen Substituten.5 Die Untersuchung wird sich im folgenden nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung der Säuglingsfürsorge im rheinisch-westfälischen Industriegebiet im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert (I.) der Zusammenarbeit von Staat, Kommunen und Fürsorgevereinen zuwenden. Als Beispiel dieser engen Zusammenarbeit soll als eine repräsentative intermediäre Instanz der „Verein für Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf' 6 (im folgenden „Verein für Säuglingsfürsorge" abgekürzt) untersucht werden, der in dem auch unter bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten expandierenden rheinischwestfälischen Industriegebiet mit den gesundheits- bzw. krankheitsrelevanten Folgen der Hochindustrialisierung konfrontiert wurde. Um diese enge Zusammenarbeit zu verdeutlichen, wird insbesondere die Gründungsgeschichte des Vereins thematisiert (II). Anschließend gilt es, die Probleme einer umfassenden Säuglingsfürsorge und den festzustellenden Wandel der Fürsorgetätigkeit von 3

Vgl. hierzu: A. Labisch, Kommunale Gesundheitssicherung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet (1869-1934) - Ein Beitrag zur Soziogenese öffentlicher Gesundheitsleistungen, in: H. Schadewaldt / K.-H. Leven (Hgg.), XXX. Internationaler Kongreß für Geschichte der Medizin, Düsseldorf, 31. August - 5. September 1986. Actes Proceedings, Düsseldorf 1986, S. 1077-1093, bes. S. 1082f.; vgl. dazu auch: A. Gräfin zu Castell Rüdenhausen, Die Erhaltung und Mehrung der Volkskraft. Die Anfänge der sozialhygienischen Gesundheitsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf, in: I. Behnken (Hg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. Konfigurationen städtischer Lebensweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Opladen 1990, S. 26-42; dies. / J. Reulecke, Kommunale Daseinsvorsorge und „Volksgesundheit". Zur Entstehung und Wirkung der städtischen Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, in: J. Reulecke (Hg.), Stadtgeschichte als Zivilisationsgeschichte. Beiträge zum Wandel städtischer Wirtschafts-, Lebens- und Wahrnehmungsweisen, Essen 1990, S. 61-65. 4 Vgl. hierzu allgemein: R. vom Bruch (Hg.), „Weder Kommunismus noch Kapitalismus". Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985; vgl. auch: J. Reulecke, Sozialer Frieden durch soziale Reform: Der Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen in der Frühindustrialisierung, Wuppertal 1983. 5 Die Übertragung kommunaler Fürsorgetätigkeit an funktionale Substitute hat etwa M. Weyervon Schoultz anschaulich am Beispiel Gelsenkirchens erörtert. Vgl. hierzu dessen Studie: Stadt und Gesundheit im Ruhrgebiet 1850-1929. Verstädterung und kommunale Gesundheitspolitik am Beispiel der jungen Industriestadt Gelsenkirchen, Essen 1994, S. 153ff. 6 Der Verein ist Thema des Dissertationsprojektes von Silke Fehlemann, Düsseldorf. Vgl. hierzu auch: W. Woelk, „Hat denn all das, was man in den letzten Jahren für die Säuglinge getan hat, versagt?" Aspekte der Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf, in: H. Grossing / S. Horn (Hgg.), Sozialgeschichte der Medizin. Stadtgeschichte und Medizingeschichte - Wiener Gespräche, Wien 1998, S. 148-157.

Verein für Säuglingsfrsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf

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der spezifischen Säuglingsfürsorge zu einer zugehenden Familienfürsorge und Wohlfahrtspflege seit Beginn des Ersten Weltkriegs zu erörtern (III). Ein besonderes Augenmerk soll hierbei auf der Frage nach der erzielten Effektivität der Maßnahmen liegen, auch wenn die Quellen hierzu sehr spärlich sind. Dieser Aspekt ist aber um so bedeutsamer, als gerade die Selbstdarstellungen der Fürsorgevereine ein Bild entwarfen, das einen kontinuierlichen Fortschritt suggeriert. Hierbei sollen auch am „Verein für Säuglingsfürsorge" festzumachende politische Hintergründe in Anlehnung an Paul Weindling analysiert werden, der zur Säuglingsfürsorge nach der Jahrhundertwende feststellt: „The infant welfare campaign rapidly left its basis of support in voluntary association of individual philanthropists to become a national and imperialist movement in the decade before 1914."7

Als Quellen dienen neben Archivalien insbesondere die Jahresberichte des „Vereins für Säuglingsfürsorge" und die vom Verein mitherausgegebene Zeitschrift „Mutter und Kind". Die schrittweise Umsetzung erweiterter Fürsorgemaßnahmen in legislative Ansätze bleibt im Rahmen dieser Untersuchung ebenso unberücksichtigt wie das durch die Säuglingsfürsorge forcierte neue Berufsfeld für Frauen, die Fürsorgerin, 8 da sich die erkenntnisleitende Fragestellung auf die Gründungsgeschichte des Vereins und dessen sukzessive Etablierung im Kontext von Staat, Kommune und Vereinsleben bezieht.

Aspekte der Gesundheitsfürsorge im rheinisch-westfälischen Industriegebiet Im Kontext der öffentlichen Gesundheitsfürsorge nahm die spezifische Säuglingsfürsorge bis zum Ende des 19. Jahrhunderts einen marginalen Stellenwert ein. Im Blickfeld der städtischen Aktivitäten stand der systematische Ausbau der sanitären und hygienischen Infrastruktur, insbesondere die Assanierung der Städte und der Krankenhausbau bzw. -ausbau. Hohe Säuglingssterblichkeitsraten führten besonders um die Jahrhundertwende zu Diskussionen über die ökonomische und militärische Zukunft Deutschlands, die zahlreiche 7 Vgl. hierzu P. Weindling, Health, race and German politics between national unification and Nazism, 1870-1945, Cambridge University Press 1989, S. 200-209, hier: S. 203; vgl. auch S. Stökkel, Die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Spannungsfeld von Sozialer Hygiene und Eugenik am Beispiel Berlins im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Diss, phil., Berlin 1992; E. Schabet, Soziale Hygiene zwischen sozialer Reform und sozialer Biologie: Fritz Rott (18781959) und die Säuglingsfiirsorge in Berlin, Husum 1995 (zugleich: Univ. Diss., Berlin 1994). 8 Vgl. hierzu: S. Stockei, Säuglingsfürsorgerinnen - Pioniere sozialer Frauenberufe?, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Hannover 1992; vgl. auch S. Fehlemann, Soziale Arbeit und bürgerliche Frauenbewegung im Kaiserreich (1890-1914), unveröffentl. Magisterarbeit, Düsseldorf 1995.

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Zeitgenossen im imperialen Zeitalter als besonders bedrohlich empfanden. Nicht zuletzt derartige und zunehmend politisch instrumentalisierte Zukunftsbilder vom „Volk ohne Jugend" ließen gerade im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts zahlreiche Fürsorgebestrebungen und -einrichtungen fur Säuglinge entstehen.9 Hierbei sind zu Anfang die vielfaltigen (und von einigen Zeitgenossen als ausschließlich verstandenen) Aktivitäten 10 für eine adäquate Milchversorgung der Säuglinge mit Kuhmilch oder Milchersatzprodukten zu erwähnen. Dies war ein um so schwierigeres Unterfangen, als erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eigene polizeiliche Milchverordnungen erlassen wurden, die Kuhmilch in die oft nur unzureichende Lebensmittelkontrolle einbezogen.11 Die Milchqualität und die Milchversorgung zu verbessern, war auch Anliegen zahlreicher gemeinnütziger Vereine, die sich nach dem Vorbild der französischen Guotte de Lait-Bewegung seit der Jahrhundertwende im Kaiserreich in Form öffentlicher Milchküchen oder Milchausschankstellen einzurichten versuchten. Insbesondere das Rheinland wurde zum Zentrum dieser Bewegung,12 die aber hinsichtlich ihrer Wirksamkeit von den Zeitgenossen weit überschätzt wurde. 13 Dennoch forcierten diese gemeinnützigen Bewegungen die Einsicht in den Wert der Kuhmilch für die Säuglingsernährung. Grundvoraussetzung hierfür bildete die keimfreie Produktion der Milch. Während sich Mediziner, Biologen und Lebensmittelchemiker weniger mit den aufwendigen, aber bereits praktizierten Verfahren der Sterilisierung und Pasteurisierung der Milch als vielmehr mit der Analyse der einzelnen Nährstoffe der Milch beschäftigten, gingen die Kommunen ab der Jahrhundertwende verstärkt dazu über, eigene städtische Milchhöfe unter steter hygienischer und wissenschaftlicher Kontrolle

9

Vgl. hierzu P. Weindling,, Health, S. 200-209. Vgl. hierzu F. Nesemann, Die Entwicklung der Säuglingsfiirsorge und deren Stand Ende 1907, in: DVÖG 40 (1908), S. 450-482, hier: S. 459: „Da es leider nicht in menschlicher Macht steht, die traurigen sozialen Verhältnisse vieler Tausende in den Großstädten zu beseitigen, so wird sich die Säuglingsfiirsorge zunächst darauf beschränken müssen, [...] daß den Kindern die Mutterbrust erschlossen wird, oder, wo dieses aus irgendwelchen Ursachen nicht angängig ist, daß ihnen für die künstliche Ernährung eine einwandfreie Milch gesichert wird." 10

11

Vgl. hierzu J. Vögele, Urban Infant Mortality, S. 417.

12

Kamp, Der gemeinnützige öffentliche Milchausschank in Rheinland und Westfalen, Leipzig 1914. Siehe dazu auch Stadtarchiv Düsseldorf (zukünftig „StAD" abgekürzt) III - 4912a, Milchausschankstellen 1904-1929. 13

Die 1913 im Kaiserreich umgesetzten 4,93 Millionen Liter Milch aus gemeinnützigen Milchausschankstellen entsprachen z.B. der Menge, die alleine die Stadt Düsseldorf im gleichen Jahr in etwas mehr als einem einzigen Monat (37 Tage) benötigte. Vgl. hierzu: Die deutsche Milchwirtschaft in Wort und Bild. Redigiert von K. Friedel und A. Keller, Halle 1914, S. XIX.

Verein für Säuglingsfrsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf

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einzurichten. Damit begannen sie, aktiv in den Milchverteilungsprozeß einzugreifen, was zu latenten Konflikten mit den Milchproduzenten führte. 14 Frühzeitig hatte auch der Düsseldorfer Professor für Kinderheilkunde, Arthur Schlossmann,15 den Wert der Kuhmilch als Säuglingsnahrung erkannt. So baute er schon in seiner Dresdener Zeit wie auch nach erfolgtem Ruf an die 1907 gegründete Akademie für praktische Medizin in Düsseldorf einen speziellen Muster- und Lehrstall auf. 16 Der Lehrstall sollte die Einsicht in den Wert hygienisch einwandfreier Milch plastisch vor Augen führen und die Patienten und Patientinnen in den städtischen Krankenanstalten, insbesondere die Säuglinge und Kleinkinder, mit hygienisch unbedenklicher Milch versorgen. In einer Denkschrift, die die Einrichtung eines spezifischen Muster- und Lehrstalls des Vereins für Säuglingsfürsorge legitimieren sollte, kam Schlossmann zum Fazit: „Die Gewinnung einer einwandsfreien Milch muß nämlich das primäre sein. Die best eingerichtete Milchküche nützt nichts, wenn die Milch, die darin verarbeitet wird, eine minderwertige, eine unzweckmäßig produzierte ist." 1 7

Der Muster- und Lehrstall sollte nach Planungen Schlossmanns eng mit den Düsseldorfer Krankenanstalten und dem „Verein für Säuglingsfürsorge" kooperieren. Die Initiativen vereinzelter Personen und Vereine reichten jedoch keineswegs aus, um den vorhandenen Problemen adäquat zu entgegnen. Je mehr sich die Einsicht in die Notwendigkeit einer umfassenden Säuglingsfürsorge über die Kreise der Kinderärzte hinaus auch auf sozialpolitischem Terrain durchsetzen konnte, desto mehr rückten Wohlfahrtsorganisationen und Kommunen in das Blickfeld. Zwar hatten schon in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts insbesondere die Niederlassungen des Vaterländischen Frauenvereins Fürsorgearbeit übernommen. Dennoch blieb es bis zum Beginn dieses Jahrhunderts zumeist bei der Einrichtung solcher Fürsorgevereine, die aufgrund ihrer spezifischen Arbeitsweise und personellen Zusammensetzung nur zu oft Transmissionsriemen bürgerlicher Werte-, Hygiene- und Gesundheitsvorstellungen in die

14 Vgl. zur Milchversorgung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet und den daraus resultierenden Konflikten am Beispiel Düsseldorfs: W. Woelk, Der Düsseldorfer Milchkrieg 1921, in: Düsseldorfer Jahrbuch 69 (1998), S. 211-235. 15

Vgl. hierzu P. Weindling,

Health, S. 200ff.

16

Vgl. zur Geschichte des Hochschulstandortes in Düsseldorf in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts einführend: W. Woelk IIA. Esch / F. Sparingly Griese, Einleitung, in: dies. (Hgg.), Die Medizinische Akademie Düsseldorf im Nationalsozialismus, Essen 1997, S. 9-27. 17

A. Schlossmann , Über die Organisation des Vereins für Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirke Düsseldorf, in: Concordia. Zeitschrift der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, 15. Jg., Nr. 12, Juni 1908, S. 239-249, hier: S. 248.

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Unterschichten waren, 18 so daß die Effizienz vor Ort oft unbefriedigend blieb. Die alltäglichen Probleme dieser Unterschichten ließen keinen Freiraum für die z.T. realitätsfernen Konzepte weiter Teile der bürgerlichen Vereinskultur. So wurde nicht nur vom „Verein für Säuglingsfürsorge" die Arbeit der Frauenvereine kritisch gesehen. Der Geschäftsbericht des Vereins für das Geschäftsjahr 1912 / 1913 verweist z.B. darauf, daß in der ehrenamtlichen Hilfsarbeit der Frauenvereine ein großes Kapital arbeitsfrohen Willens vorhanden sei, das „aber nicht immer die richtigen Wege zur Umsetzung in zweckmäßige soziale Tätigkeit gefunden hat." 19 Dies dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß die Mitglieder der Vaterländischen Frauenvereine in Westfalen, „deren Funktion kaum jemals über das Zahlen der Beiträge und ab und zu die Beteiligung an einem Wohltätigkeitsbasar u.ä. hinausging", zwar ein Fürsorgebewußtsein entwickelt hatten, dieses aber nicht immer auch in praktische Arbeit umgesetzt wurde. 20 Die Vaterländischen Frauenvereine im rheinisch-westfälischen Industriegebiet bildeten allerdings auch eine Vereinsorganisation, die zur Jahrhundertwende bereits über ein flächendeckendes Netz von Ortsvereinen verfügte. Diese Organisationsstruktur war für den „Verein für Säuglingsfürsorge" ein wichtiger Anknüpfungspunkt der Fürsorgebestrebungen. Denn insbesondere in den vom Verein in der Region abgehaltenen Wanderlehrkursen wurden besonders Mitglieder der Frauenvereine angesprochen, die wiederum - so auch die Intention des „Vereins für Säuglingsfürsorge" - diese Anregungen in die lokale Fürsorgearbeit mit übernehmen sollten. Als letzter Punkt ist auf die um die Jahrhundertwende einsetzende sozialhygienisch geprägte Gesundheitsfürsorge der Städte und Gemeinden einzugehen, die sich vor allem an Schwangere und Mütter, Säuglinge, Klein- und Schulkinder wendete. Hierzu stellten die Kommunen eigene Fürsorgeärzte ein, die durch Reihenuntersuchungen und periodische Sprechstunden dazu beitrugen, das Fürsorgenetz schrittweise zu erweitern. 21 Daher wurden gerade diese Fürsorgeärzte 18 Vgl. U. Frevert, „Fürsorgliche Belagerung": Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 420-446. 19 Bericht über das sechste Geschäftsjahr des Vereins für Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf 1912 / 1913, Düsseldorf o.J. (1913), S. 10. 20 U. Daniel, Die Vaterländischen Frauenvereine in Westfalen, in: Westfälische Forschungen 39 (1989), S. 158-179, hier: S. 170. Vgl. hierzu auch allgemein J.-C. Kaiser, Freie Wohlfahrtsverbände im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Ein Überblick, in: Westfälische Forschungen 43 (1993), S. 26-57. 21 Vgl. hierzu A. Labisch / F. Tennstedt, Der Weg zum „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens" vom 3. Juli 1934. Entwicklungslinien und -momente des staatlichen und kommunalen Gesundheitswesens in Deutschland, 2 Bde., Düsseldorf 1985; dies., Prävention und Prophylaxe als Handlungsfelder der Gesundheitspolitik im Deutschen Reich (1871-1945), in: T. Eibeles u.a. (Hgg.), Prävention und Prophylaxe. Theorie und Praxis eines gesundheitspolitischen Grundmotivs in zwei deutschen Staaten 1949-1990, Berlin 1991, S. 13-28, hier: S. 18ff.

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Ansprechpartner für den „Verein für Säuglingsfürsorge", dessen Entstehungsgeschichte nun erörtert werden soll. Die Gründungsphase des „Vereins für Säuglingsfürsorge" Die Gründung des „Vereins für Säuglingsfürsorge" geht auf die Initiative Arthur Schlossmanns zurück, wenn auch die ersten Anregungen zu einer Vereinsgründung in Berlin gelegt wurden. Am 15. November 1904 hatte Kaiserin Auguste Victoria an den Vorstand der Vaterländischen Frauenvereine einen Erlaß übermittelt, in dem sie ein vereintes Vorgehen der Fürsorgestellen und vereine gegen die hohe Säuglingssterblichkeit einforderte. 22 In Berlin wurde der Aufforderung der Kaiserin 1907 durch die Gründung des Kaiserin-AugusteVictoria-Hauses Folge geleistet, das 1909 seiner Bestimmung übergeben wurde. 23 Wichtiger als die Einrichtung dieser spezifischen Säuglingsfürsorgestelle war aber das durch die Botschaft der Kaiserin nunmehr auch von höchster Stelle artikulierte politische Interesse an einer verbesserten und umfassenderen Säuglingsfürsorge. Der Erlaß hatte somit auch Katalysatorfunktion für die Gründung des „Vereins für Säuglingsfürsorge". Zwar wäre auch ohne diesen Erlaß in Düsseldorf ein Säuglingsfürsorgeverein gegründet worden, doch fanden die Initiatoren des Vereins für Säuglingsfürsorge hierdurch den Ansatzpunkt, ein Staat, Kommunen und freie Wohltätigkeit einschließendes Konzept zu entwerfen. Hieraus entstand, früher als in Berlin, eine zentrale Fürsorgestelle des „Vereins für Säuglingsfürsorge". In einer ersten Besprechung zwischen dem Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Clemens Freiherr von Schorlemer-Lieser, dem Düsseldorfer Regierungspräsidenten Arthur Schreiber und Arthur Schlossmann wurde, so der Bericht Schlossmanns, insbesondere die Frage erörtert, wie die Säuglingsfürsorge für bestimmte Gebiete zentralisiert werden könne. 24 Zur Debatte standen drei geographisch divergierende Bezugsmodelle: der Regierungsbezirk Düsseldorf, die gesamte Rheinprovinz oder eine Verbindung zwischen der Provinz Westfalen

22 „Die Säuglingsfürsorge der Staatsbehörden und aller in dem Vaterländischen Frauenverein verbundenen Kreise vereint zu sehen in der Linderung dieses Notstandes ist mein lebhaftester Wunsch". Zitiert nach: A. Schlossmann, Organisation, S. 240. 23 Heubner, Fortschritte in Theorie und Praxis, in: K. von Behr-Pinnow / Dietrich l Kayserling (Hgg.), Soziale Kultur und Volkswohlfahrt während der ersten 25 Regierungsjahre Kaiser Wilhelm II, Berlin 1913, S. 452; vgl. zu den Säuglingsfürsorgeanstrengungen nach der Jahrhundertwende auch StAD, III - 1247, „Zweck und Aufgaben der preussischen Landeszentrale für Säuglingsschutz", Bl. 38ff.; vgl. auch Zeitschrift für Ärztliche Mitteilungen, Sonderdruck, Eine Musteranstalt für die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit, 1906, in: StAD, III - 1247, Bl. 158ff. 24 Vgl. hierzu auch das Protokoll der Verwaltungsratssitzung des Vereins für Säuglingsfürsorge vom 20.10.1916, in: StAD, III - 1238, Bl. 329.

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und der Rheinprovinz. Aufgrund der Heterogenität des Regierungsbezirks Düsseldorf und der schon auf dieser Verwaltungsebene zu erwartenden Probleme für eine umfassende Säuglingsfürsorge, erfolgte bereits in dieser Unterredung eine Konzentration auf den Regierungsbezirk Düsseldorf. 25 Die beiden anderen Bezugsmodelle wurden dagegen in der Folgezeit kaum noch thematisiert und der Regierungsbezirk als Bezugsfeld festgeschrieben. 26 Hierzu stellte der Oberpräsident der Rheinprovinz „Grundlegende Gesichtspunkte für eine über grosse Landesteile sich erstreckende Organisation zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit in der Rheinprovinz oder im Regierungsbezirk Düsseldorf 4 auf. 27 Die Aufgaben des Vereins legten die Gesprächspartner dahingehend fest, „die Säuglingssterblichkeit in der Rheinprovinz zu bekämpfen, für die physische Kraft des heranwachsenden Geschlechts von Anbeginn zu sorgen und zu wirken in dem Sinne des Schreibens Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin vom 15.11.1904."28

Um diese Aufgaben umzusetzen, sollte a) eine Zentralstelle gegründet werden, die Materialien und Literatur zur Säuglingssterblichkeit sammelt und auswertet und somit auch als Auskunftsstelle dient; b) eine Ausbildungsstelle für Ärzte, Hebammen, Pflegerinnen und Wärterinnen geschaffen werden; c)die wissenschaftliche Forschung zur Säuglingssterblichkeit und zur Säuglingsernährung unterstützt und durch Vorträge, Flugblätter und Publikationen propagiert werden. Das wichtigste Ziel des Vereins war somit eine umfassende Zentralstelle für Säuglingsfürsorge zu errichten, die in ihrer weitreichenden Verflechtung ein Novum in der bisherigen Fürsorgetätigkeit darstellen sollte. 29 Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß derartige Vereine auch in anderen Teilen des Kaiserreichs eingerichtet wurden. 30 Jedoch konnte der „Verein für Säuglingsfürsorge" in Düsseldorf aufgrund der vorhandenen hygienischen Mißstände, der weitgehend fehlenden aktiven Fürsorge für spezielle Bevölkerungsgruppen und nicht zuletzt aufgrund der im rheinisch-westfälischen Industriegebiet hohen Säuglingssterblichkeit besondere Aufmerksamkeit beanspruchen. Ein oft vernachlässigter, aber zweifelsohne ebenso wichtiger Bezugspunkt für die Vereinsgründung 1907 war die Errichtung einer spezifischen Kinderkli-

25

Vgl. A. Schlossmann, Organisation, S. 240. So bereits im ersten Punkt der im folgenden erörterten „grundlegenden Gesichtspunkte". Nachweis bei: Schlossmann, Organisation, S. 240. Siehe hierzu auch ausführlich: StAD, III - 1238, Der Verein für Säuglingsfürsorge 1906-1918, Bl. lOff. 27 StAD, III - 1238, Bl. lOff. 28 Schreiben des Regierungspräsidenten Düsseldorf an den Düsseldorfer Oberbürgermeister, Januar 1907, in: StAD, III - 1238, Bl. lOff. 29 Vgl. hierzu A. Schlossmann, Organisation, S. 240. 30 Vgl. hierzu die Berichte in der vom Verein für Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf ab 1908 mitherausgegebenen Zeitschrift „Mutter und Kind". 26

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nik der neu gegründeten Düsseldorfer Städtischen Krankenanstalten, verbunden mit einer Akademie für praktische Medizin. Als Klinikleiter hatte Schlossmann auch die institutionellen Möglichkeiten, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Kinderheilkunde praxisnah im „Verein für Säuglingsfürsorge" einfließen zu lassen. Nach dem Aufruf des Regierungspräsidenten 1905, die Säuglingsfürsorgebewegung zu unterstützen und einem 1906 erfolgten Appell speziell an die Stadt- und Landkreise des Regierungsbezirks Düsseldorf, die Initiative zu fördern, fand am 19. Dezember 1906 eine Unterredung statt, an der neben Schlossmann und Regierungspräsident Schreiber auch Vertreter der Stadt Düsseldorf teilnahmen. Bei dieser Zusammenkunft stand insbesondere die Finanzierung des Vereins auf der Tagesordnung. Es wurde erstmalig darüber gesprochen, die Stadt- und Landkreise des Regierungsbezirks Düsseldorf sowie die Industrie und diverse vermögende Privatiers in die Finanzierung einzubeziehen. Hierzu wurde für den 6. Februar 1907 eine Versammlung nach Düsseldorf einberufen, auf der Arthur Schlossmann und der Oberpräsident von Schorlemer noch einmal die grundlegenden Gedanken des „Vereins für Säuglingsfürsorge" erörterten. Es wurde die drohende Gefahr artikuliert, „den Gipfelpunkt unseres völkischen Wachstums überschritten" zu haben, so daß „das Gespenst des Stillstandes und der Abnahme" drohe. Schlossmann und Schorlemer entwarfen hierbei ein Fürsorgebild, das nicht mit modernen Überlegungen der Säuglingsfürsorge zu verwechseln ist. Die Gedanken bewegten sich im zeittypischen Konnex der um die Jahrhundertwende aufkommenden neueren Gesundheitswissenschaften, insbesondere der Sozialhygiene und der Rassenhygiene. Während die Sozialhygiene die Gesundheitswissenschaft der modernen, wachsenden Industriegesellschaft war, konstatierte die Rassenhygiene in ihren Ausformungen einen qualitativer Unterschied zwischen einzelnen Menschen und entwarf somit ein egalitäres und ausgrenzendes Menschenbild. 31 Inklusion versus Exklusion, auf diesen Nenner läßt sich daher - kontrastierend gegenübergestellt - das Verhältnis von Sozialhygiene und Rassenhygiene beschreiben. Der von der Rassenhygiene apostrophierte qualitative Unterschied wurde von vielen publizierenden Zeitgenossen insofern herangezogen, als sie feststellten, daß die Säuglingssterblichkeit ein Phänomen aller sozialen Schichten war und der individuelle Umgang mit dem Säugling von entscheidenderer Bedeutung sein konnte als der soziale Status. Während in Berlin die Eugenik / Rassenhygiene stärkeren Einfluß gewinnen konnte, 32 waren die Überlegungen Schlossmanns spezifisch sozialhygienisch.

31

Vgl. hierzu A. Labisch / F. Tennstedt, Der Weg zum „Gesetz", hier: Bd. 1, S. 144ff. Vgl. zu den spezifischen Entwicklungen in Berlin: S. Stockei, Säuglingssterblichkeit und E. Schabel, Soziale Hygiene. 32

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Jedoch betrachtete auch er die Fortpflanzungshygiene, also den Blick auf den „zukünftigen Menschen", als genuinen Bestandteil dieser Sozialhygiene. Ein Blick, der auch die Einschätzung der Fürsorgearbeit prägte: „Die ersten Tage, die ersten Wochen, die ersten Monate des Lebens, in ihnen fällt die Entscheidung, nicht nur, ob das Kind stirbt, sondern auch darüber, ob es ein kräftiger, widerstandsfähiger Vollmensch, oder ein sieches und elendes Individuum wird, das sich und der Allgemeinheit zur Last lebt." [...] „die Gefahren, die dem Säugling drohen, raffen auswahllos den kräftigen ebenso wie den von vornherein schwachen dahin. Dieselben Momente, die dazu fuhren, daß jährlich 400000 Kinder sterben, haben noch schlimmeres im Gefolge, nämlich, daß aus einer ebenso großen oder noch größeren Zahl von Säuglingen statt kräftiger nur anfallige und unwiderstandsfahige Menschen werden, die zu einem namhaften Teil in ihrem späteren Leben Opfer der Tuberkulose und anderer konsumierender Krankheiten bilden und der öffentlichen Fürsorge dauernd zur Last fallen." 33

Auf der Veranstaltung warben Schorlemer und Schlossmann für den geplanten Verein, dessen weiterhin ungeklärte Finanzierung 34 auch Thema einer Versammlung am 24. Juni 1907 in Düsseldorf war, zu der die Vertreter der Stadt- und Landkreise des Regierungsbezirks eingeladen worden waren. Insbesondere mußte während dieser Zusammenkunft Widerständen der Kommunen entgegnet werden, wonach die Stadt Düsseldorf als Standort der Vereinszentrale am meisten von der Einrichtung profitiere und demnach auch die Kosten tragen solle. Schließlich einigte man sich dahingehend, „20.000 M. jährlich dergestalt aufzubringen, daß die Verteilung auf die einzelnen Kreise und Städte zur Hälfte gemäß der Kopfzahl der Bevölkerung, zur Hälfte gemäß dem Steuersoll repartiert werden sollte." 35 Mit der Einbindung von Betrieben und Einzelpersonen war das Ziel verknüpft, dem Verein von Beginn an ein festes Fundament innerhalb der einflußreichen und der vermögenden gesellschaftlichen Kreise des Regierungsbezirks Düsseldorf zu geben. Dies war ein politisches Moment, das sich auch in der konkreten Zusammensetzung des Vorstands und des Verwaltungsrates zeigte: Vorsitzender wurde Arthur Schlossmann, Beisitzer Geheimer Regierungsrat von Wätjen und Rittergutsbesitzer Gustav Klingelhöfer. In den Verwaltungsrat wurden u.a. der Oberpräsident der Rheinprovinz von Schorlemer, der Düsseldorfer Regierungspräsident Schreiber sowie zahlreiche Vertreter der Regie33 Zitat nach: A. Schlossmann, Organisation, S. 242. Aufgrund des Textkontextes ist es allerdings nicht zu klären, ob Schlossmann oder Schorlemer diese Zeilen verfaßt hat. 34 Für die Mitglieder wurden folgende Tarife festgeschrieben: Ein einmaliger Mitgliedsbeitrag konnte in der Höhe von 500 M. aufwärts erstattet werden, ein jährlicher Mindestbeitrag lag bei 10 M. Als Stifter konnten Personen und Betriebe aufgenommen werden, die mindestens 10.000 M. einbezahlten, Patrone konnten Einzahler werden, die einen einmaligen Beitrag von mindestens 1000 M. entrichteten; Zahlen entnommen aus: A. Schlossmann, Organisation, S. 245. 35 A. Schlossmann, Organisation, S. 246.

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rungs- und Stadtverwaltung Düsseldorf, der Stadt- und Landkreise sowie führender Industriebetriebe des Regierungsbezirks berufen. 36 Die Einrichtung eines solchen Vereins sollte den Weg einer umfassenden Fürsorge in Zusammenarbeit von Staat, Kommune und freier Wohltätigkeit aufzeichnen. Die Aufgaben des Vereins konzentrierten sich in der Frühphase neben einer Beratungs- und wissenschaftlichen Anlaufstelle auf die weitgehende Fürsorge für Säuglinge.37 Die Fürsorgearbeit des Vereins sollte in erster Linie „bei der arbeitenden Bevölkerungsklasse" einsetzen. Daher wurde ein besonderes Gewicht auf die möglichst flächendeckende Verbreitung der Vereinsgedanken gelegt. Gerade Arthur Schlossmann und die erste und langjährige Geschäftsführerin Dr. Marie Baum machten in Wandervorlesungen auf aktuelle Probleme der Säuglingsfürsorge und Säuglingsernährung aufmerksam. Des weiteren war intendiert, ein Netz von Fürsorgerinnen und Wanderlehrkursen zu installieren. Der Vereinsführung war dabei bewußt, daß nur mit Maßnahmen, die in das bisherige Fürsorgesystem eingriffen, Veränderungen erzielt werden konnten. „Junge Mütter sollten die Heilkraft der natürlichen Ernährung kennen und die Hauptschäden der künstlichen Ernährung zu vermeiden wissen. Wer hat sie das je gelehrt? Jederzeit und überall sollten die Mütter in Fällen der Erkrankung des Kindes [...] guten Rat zur Hand haben. Sind alle Aerzte und Hebammen und Pflegerinnen [...] dafür vorbereitet? Hat jede Frau Geld, den Arzt für ihr Kind zu bezahlen, oder Gelegenheit, ihn kostenlos herbeizuziehen? Und wie steht es mit den Müttern, die ihr Kind verlassen müssen, um dem Erwerbe nachzugehen? Und mit den Unehelichen, die meist wenige Tage nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt werden?" 38

Ein Manko der eingerichteten Fürsorgestellen - nicht nur in Düsseldorf war, daß dort keine Behandlung kranker Kinder durchgeführt wurde. Die Fürsorgeärzte sollten nur Rat erteilen, kranke Kinder jedoch an den zuständigen Kinderarzt überweisen. Daher dürfte so manche Mutter den Arztbesuch dem aufwendigen Weg in die Fürsorgeeinrichtung vorgezogen haben. Ein weiteres Defizit war der Standort der ersten Fürsorgestelle des Vereins auf dem Gelände der Städtischen Krankenanstalten im relativ dünn besiedelten Düsseldorfer Süden. Die meisten Besucherinnen der Fürsorgestelle kamen jedoch aus der Stadt

36

So u.a. ein Vertreter der Hanielschen Bergwerke, der Aktiengesellschaft Friedrich Krupp, der Rheinischen Stahlwerke. Vgl. zu den Angaben Bericht über das erste Geschäftsjahr, Düsseldorf 1908, S. 3f. Die Zahl der Mitglieder betrug im Gründungsjahr 350. Darunter befanden sich 28 Stadt- und Landkreise des Regierungsbezirks, 49 Firmen und Vereine (hierunter wiederum neun Frauenvereine) und 273 Einzelmitglieder (253 männliche und 20 weibliche). Angaben ebd., S. 9. 17 So nutzte Schlossmann auch die neuen Möglichkeiten des Films und ließ einen Beitrag produzieren, in dem die hygienische Milchversorgung thematisiert wurde. Mündliche Auskunft Dr. Erna Eckstein-Schlossmann, 28.11.1995. Der bislang nicht mehr aufgefundene Film trug den programmatischen Titel „In Todesangst um ihr Kind". 38 Bericht über das erste Geschäftsjahr 1907 /1908, Düsseldorf o.J. (1908), S. 11.

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bzw. den weiter nördlich gelegenen „Arbeitervierteln", so daß der Weg zur Fürsorgestelle zeit- und (mit öffentlichen Verkehrsmitteln) kostenintensiv war. Möglichkeiten und Grenzen der Säuglingsfürsorge Aus dem weitgehenden Fürsorgeverständnis heraus wurden die vorhandenen Miß- und Notstände der Säuglingsfürsorge und -pflege erarbeitet. Wie erfolgreich diese konstatierten Defizite allerdings behoben werden konnten, muß differenzierter betrachtet werden: Die Voraussetzungen für eine einheitliche Fürsorge waren im sehr heterogenen Regierungsbezirk Düsseldorf nicht günstig: Die Unterschiede in der Säuglingssterblichkeit lagen zum Zeitpunkt der Vereinsgründung zwischen 9,8% im Bergischen Land und 19,9% am Niederrhein. 39 Auch sei das Bewußtsein für Fürsorgemaßnahmen, so Marie Baum, sehr unterschiedlich. Während sie die „Reinlichkeit der Bergischen Hausfrau" rühmte, setzte sie ihr als krasses Pendant die Landbevölkerung des Niederrheins entgegen, die sie als „dumpf, wenig lebendig und geistig regsam" charakterisierte und die Gründe für die gerade am Niederrhein vorhandene hohe Säuglingssterblichkeit „wohl im Volksschlage selber" suchte.40 Dieser Ansatz dürfte nicht dazu beitragen, die Ursache der unterschiedlich hohen Säuglingssterblichkeit zu erklären. Hierzu erscheint es zweckmäßiger, die unterschiedliche konfessionelle Aufgliederung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets heranzuziehen. Hierbei zeigt sich bezüglich der Säuglingssterblichkeit - in Verbindung zur Geburtenhäufigkeit - eine Konstante, die nicht nur auf den Regierungsbezirk Düsseldorf übertragen werden kann. Im protestantisch geprägten Bergischen Land lag die Säuglingssterblichkeit weit unter den Prozentwerten des katholischen Niederrheins. Im ersten Geschäftsjahr stellte der „Verein für Säuglingsfürsorge" daraufhin eine Differenzierung des Regierungsbezirks bezüglich der Säuglingssterblichkeit an, die über die nächsten Jahre hinweg in abnehmender Form Bestand haben sollte: 1. Eine Zone niedriger Sterblichkeit mit den Kreisen Lennep, Barmen, Remscheid, Solingen Stadt und Land, Mettmann und Elberfeld. Diese Zone umfaßte das gesamte Bergische Land. Innerhalb dieser Kreise wiesen Mettmann und Elberfeld die höchsten Säuglingssterblichkeitsraten auf. 2. Eine Zone „nächstgünstiger" Sterblichkeit. Diese Zone umfaßte die rein ländlich geprägten nördlichen Kreise des Regierungsbezirks Düsseldorf, die Kreise Kleve, Rees, Geldern und Moers.

39 40

Bericht über das erste Geschäftsjahr 1907 /1908, Düsseldorf o.J. (1908), S. 7. M. Baum, Rückblick auf mein Leben, Heidelberg 1950, S. 137.

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3. Eine Zone mittelhoher Säuglingssterblichkeit. Diese Zone schloß die Kreise Mühlheim-Ruhr (Stadt und Land), Ruhrort, Duisburg, Oberhausen, Essen Stadt und Land ein. 4. Eine Zone hoher Sterblichkeit mit den Kreisen Düsseldorf Stadt und Land, Mönchengladbach Stadt und Land, Kempen, Grevenbroich, Krefeld Stadt und Land und Neuss.41 Somit mußten also nicht nur die großen Industriestädte Ansatzpunkt einer Säuglingsfürsorge sein, sondern ebenso die ländlichen Gebiete des Regierungsbezirks, wo traditionelle Vorstellungen über Säuglingspflege und Säuglingsfürsorge auch zu Beginn des Jahrhunderts noch vorherrschten und damit die Ursachen der Säuglingssterblichkeit „der Beeinflussung unterworfen" 42 waren. Den Ursachen für die Säuglingssterblichkeit war durch die Fürsorgebestrebungen des Vereins alleine nicht beizukommen. Daher mußte es ein Fernziel sein, die Kommunen noch stärker in die Fürsorgearbeit einzuspannen. Dies konnte insbesondere über die Anstellung städtischer / kommunaler Fürsorgerinnen erfolgen, die ihre Ausbildung durch den „Verein für Säuglingsfürsorge" erhalten und im engen Kontakt mit der Zentralstelle in Düsseldorf ihre Tätigkeit durchführen sollten. Demgegenüber schienen die Kommunen die jährliche Unterstützung des Vereins als Gelegenheit anzusehen, die Kursangebote, insbesondere die Wanderlehrkurse, in Anspruch zu nehmen, aber selbst keine zusätzlichen Fürsorgekräfte einzustellen,43 zumal die Finanzierung der städtischen Fürsorgestellen und Fürsorgeärzte nahezu in allen Kommunen des rheinisch-westfälischen Industriegebiets in den Haushaltsdebatten immer wieder zur Diskussion stand. So konnte erst im vierten Geschäftsjahr 1910 / 1911 gemeldet werden, daß im Landkreis Düsseldorf (als erstem Kreis im Regierungsbezirk) zwei Fürsorgerinnen angestellt worden seien.44 Die Auskunftsstelle des Vereins für Säuglingsfürsorge wurde dagegen immer häufiger frequentiert, so daß auch die Anfragen aus den Stadt- und Landkreisen nach der Durchführung von Veranstaltungen vor Ort stetig zunahmen. Die Akzeptanz der Wanderlehrkurse darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Verein auch durch derartige Veranstaltungen vor Ort primär

41 Bericht über das zweite Geschäftsjahr 1908 / 1909, Düsseldorf o.J. (1909), S. 9. Zur Vereinfachung wurde die heutige Schreibweise der Städte angeführt. 42 Bericht über das erste Geschäftsjahr 1907 /1908, Düsseldorf o.J. (1908), S. 7. 43 Andererseits entstanden zwischen einzelnen Stadt- und Landkreisen des Regierungsbezirks Düsseldorf auch immer wieder Diskussionen darüber, inwieweit man als Kommune nicht aus der Vereinsfinanzierung austreten solle und im Verständnis der kommunalen Selbständigkeit eigene Institutionen zu errichten. 44 Bericht über das vierte Geschäftsjahr 1910 /1911, Düsseldorf o.J. (1911), S. 16.

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ein Publikum ansprach, das Zeit und Muße hatte, die Veranstaltungen zu besuchen. Berufstätige und alleinerziehende Mütter hatten selten die Zeit, noch weniger Muße (und das Geld), zu den Veranstaltungsorten zu kommen. Insbesondere während des Ersten Weltkriegs schien sich diese Tendenz bei den Frauen noch verstärkt zu haben, die neben den Aufgaben der Haushaltsführung und Kindererziehung auch noch in den Industriebetrieben des rheinischwestfälischen Raumes tätig waren. So mußte auch die Verwaltung der Düsseldorfer Mannesmann-Röhrenwerke dem städtischen Waisen- und Fürsorgeamt mitteilen, „... dass die am gleichen Tage in allen Aufenthaltsräumen unserer Arbeiterinnen angeschlagene Bekanntmachung, worin wir den Frauen und Mädchen in warmen Worten die Teilnahme an den Ihrerseits beabsichtigten Säuglingspflegekursen empfahlen, ohne jegliches Ergebnis geblieben ist. Auch die persönliche Einwirkung der auf unserem Werk angestellten Vertrauensdame blieb ganz erfolglos. Die Arbeiterinnen haben erklärt, wenn sie sich tagsüber müde gearbeitet und dann abends auch noch Hausarbeit zu erledigen hätten, so fehlt es ihnen an Zeit und Lust zur Teilnahme an dem Kursus. Wie vorauszusehen war, wurde von einigen Stellen auch darauf hingewiesen, dass j a jetzt das Notwendigste zum Gedeihen der Kinder mangelte und dass in erster Linie mal dieser Uebelstand beseitigt werden müsste. [...] Leider ist dies nicht der erste Fall, wo wir auf eine sehr bedauerliche Indolenz der Arbeiterinnen gegenüber Wohlfahrtseinrichtungen, die nur in ihrem eigenen Interesse getroffen werden sollten, gestossen sind." 45

Über die Teilnehmerinnen der Wanderlehrkurse des „Vereins für Säuglingsfürsorge" lassen sich nur wenige Rückschlüsse ziehen. So war die Akzeptanz der Wanderlehrkurse im Laufe der Jahre zwar allgemein gestiegen, dennoch kann hieraus nicht abgeleitet werden, daß damit auch ein - aus gesellschaftlicher Perspektive betrachtet - breiteres Publikum angesprochen wurde. Die stete Erweiterung des Kursprogramms bedeutete in erster Linie, daß das angestrebte flächendeckende Netz immer dichter wurde. Daher gab es mit der Erschließung neuer Veranstaltungsorte zwangsläufig neue Adressatinnen. Dies impliziert jedoch nicht, daß dieser Besucherkreis auch das vom „Verein für Säuglingsfürsorge" anvisierte Publikum war. So ist aus den Quellen zu entnehmen, daß es vor Ort insbesondere Mitglieder dieser lokalen Wohlfahrtsvereine (und deren Töchter) waren, die die Veranstaltungen des Vereins für Säuglingsfürsorge besuchten. Alleinerziehende und berufstätige Mütter scheinen dagegen unterrepräsentiert gewesen zu sein. Eine Stichprobe aus dem Kriegsjahr 1916 macht dann auch deutlich, daß entgegen der Anmeldezahl viele Frauen in dieser Krisenzeit entweder gar nicht oder nur sporadisch derartige Kurse, die zumeist in zehn Doppelstunden abgehalten wurden, besuchten. So finden sich auf den

45 Schreiben Mannesmann-Röhrenwerke Düsseldorf an das Düsseldorfer Waisen- und Fürsorgeamt vom 23.3.1916, in: StAD, III - 4276, Kurse über Mütter- und Säuglingsfiirsorge 1913-1919, Bl. 70.

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Meldebögen Vermerke der Kursleiterinnen, die deutlich machen, daß die meisten Kurse v o n weniger als der Hälfte der angemeldeten Mädchen und Frauen regelmäßig besucht worden waren. 4 6 D a leider sozialstatistische Aussagen über die Zusammensetzung der Kursteilnehmerinnen fehlen, läßt sich nur spekulieren, wieviele Besucherinnen zugleich auch M i t g l i e d in einem der lokalen Fürsorge- oder Wohlfahrtsvereine waren. U n d w i e Ute Daniel gezeigt hat, gehörten gerade diese Mitglieder der Vereine zumeist bürgerlichen Kreisen an, für die die Betätigung in der Säuglingsfürsorge eine Gelegenheit bot, neben dem Interesse an der Pflege und Erziehung des eigenen Nachwuchses auch ihr Fürsorgebewußtsein zu unterstreichen. 4 7 Dies läßt sich auch dahingehend konkretisieren, daß der Vorsitz in derartigen Vereinen nur zu oft v o n Frauen übernommen wurde, deren Männer in verantwortlicher Position innerhalb des Gemeinwesens standen. 48 Es waren insbesondere die Ehefrauen der Bürgermeister, Beigeordneten oder der lokalen Industriellen, die sich verstärkt i m Fürsorgebereich engagierten. So bewegten sich die Fürsorgekurse, auch nach einer Einschätzung des Vereins für Säuglingsfürsorge i m Jahresbericht für 1912 / 1913, „ a u f einem N i veau, das von vornherein die Teilnehmerzahl nach A r t und Vorbildung beschränkt." 4 9

46

Vgl. hierzu die Teilnehmerlisten in: StAD, III - 4276, Bl. 74ff. In diesem Kontext soll die Diskussion über den sozialdisziplinierenden Charakter der Fürsorgearbeit, der bereits im Gründungsaufruf der Kaiserin Auguste-Victoria implizit artikuliert wurde, nicht eingegangen werden. Zweifelsohne bedeutete die auch vom Verein für Säuglingsfürsorge vorgenommene Konzentration auf die ,arbeitende Bevölkerungsklasse' auch den Versuch, mit bürgerlichen Vorstellungen von Hygiene und Säuglingsfürsorge in die unterschiedlichen Lebenswelten der Unterschichten vorzudringen. Vgl. zur intensiv geführten Diskussion über den Aspekt der Sozialdisziplinierung stellvertretend C. Sachsse (Hg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung: Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a.M. 1986; vgl. zur Disziplinierung Jugendlicher D. Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Essen 1984. 47

48 Zwar fehlen derzeit noch detaillierte Aussagen über die einzelnen Städte des rheinischwestfälischen Industriegebiets, doch zeigen bereits die ersten Untersuchungen zu Gelsenkirchen, Solingen oder Düsseldorf, daß weitreichende eheliche Verbindungen zwischen den Repräsentanten der jeweiligen Kommune und den Vorstandsmitgliedern der Fürsorge- und Wohlfahrtsvereine bestanden. Vgl. hierzu die Arbeiten von M. Weyer-von Schoultz zu Gelsenkirchen und R. Stremmel, „Gesundheit - unser einziger Reichtum?" Kommunale Gesundheits- und Umweltpolitik 1800-1945 am Beispiel Solingen, Solingen 1993. Ähnliche Zustände zeigen sich auch in den ersten Zwischenergebnissen des Forschungsprojektes „Gesundheit in der Industriestadt - Medizin und Ärzte in Düsseldorf 4, das am Institut für Geschichte der Medizin in Düsseldorf durchgeführt wird. Vgl. hierzu als ersten Hinweis die Ausführungen bei W. Woelk (Bearb.), Gesundheit in der Industriestadt. Medizin und Ärzte in Düsseldorf. Ein Findbuch zu den Quellen (unter Mitarbeit von U. Koppitz und A. Labisch), Düsseldorf 1996. 49 Bericht über das sechste Geschäftsjahr 1912 /1913, Düsseldorf o.J. (1913), S. 11.

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Diese Einschätzung führte dazu, daß in den Kursangeboten seit Beginn des Ersten Weltkriegs stärker konkrete Fragen der Mädchen und Frauen vor Ort beantwortet werden sollten als ein einheitliches Kursprogramm durchzuführen. Fragen, die über die eigentliche Säuglingsfürsorge hinausgingen und innerhalb des Vereins die Erkenntnis durchsetzten, daß eine isolierte Säuglingsfürsorge die vorhandenen Mißstände ebenso wenig bekämpfen könne wie ein alleiniges Vorgehen. Wenn auch allseits betont wurde, daß die Erfolge dieser Fürsorgearbeit sich in gesteigerter Stillhäufigkeit und stärkerer Hinwendung zum Säugling gezeigt hätten - und vereinzelt vorliegendes, von Zeitgenossen angelegtes Zahlenmaterial dies auch zumindest für einzelne Kreise des Regierungsbezirks Düsseldorf zu bestätigen scheint 50 - so kamen jedoch mit der extrem hohen Säuglingssterblichkeit im Sommer 1911 ernsthafte Zweifel am Erfolg der Fürsorgearbeit auf. Diesen Zweifeln versuchte auch Schlossmann zu entgegnen, der auf die Frage: „Hat denn all das, was man in den letzten Zeiten für die Säuglinge getan hat, versagt? Müssen wir mutlos die Hände in den Schoß sinken lassen und uns sagen: alle Arbeit war umsonst, und alle Arbeit wird auch wohl umsonst sein?" feststellte: „Es war eben falsch zu meinen, daß in so kurzer Zeit unsere Kampfesstellung gegen die Säuglingssterblichkeit gefestigt genug sein würde, um siegreich zu bestehen auch in den heißen Zeiten." 51

Als Manko der bisherigen Fürsorgearbeit des Vereins sah Schlossmann die fehlende Überwachung der ehelichen Säuglinge an. Während für uneheliche Kinder eine städtische Überwachung gewährleistet gewesen sei, stehe ehelichen Kindern ein derartiger Fürsorgeapparat (nicht nur) in Düsseldorf nicht zur Verfügung. Deshalb setzte sich Schlossmann 1911 dafür ein, die Beratung ehelicher Säuglinge bei der Stadtverwaltung durchzusetzen und entsprechende Beratungsstellen einzurichten. Dies erfolgte allerdings erst 1913.52 Diese Erkenntnis dürfte auch ein Beweggrund für die während des Ersten Weltkriegs vollzogene Hinwendung zu einer umfassenden Wohlfahrtspflege gewesen sein. Um die Frauen für die Arbeit des Fürsorgevereins zu gewinnen, setzte sich Schlossmann dafür ein, Stillprämien zu gewähren. Diese wurde in Düsseldorf ab 1913 gezahlt. Jedoch bedurfte es hierzu einer intensiven Korrespondenz mit

50 So etwa der Bericht des Krefelder Kreisarztes Berger, der für den Stadt- und Landkreis Krefeld bereits für den Zeitraum 1907 bis 1908 eine deutlich positivere Stillentwicklung konstatiert, die in einzelnen Gemeinden zwischen 10-20% betrug. Mutter und Kind, September 1909, Nr. 4, S. 3ff. 51 A. Schlossmann, Was lehrt uns der heiße Sommer 1911?, in: Mutter und Kind, November 1911, Nr. 2, S. 2. 52 Vgl. Schreiben Arthur Schlossmanns an den Düsseldorfer Oberbürgermeister, 23.4.1913, in: StAD, III-4271, Bl. 55.

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der Stadtverwaltung, die ein sehr aufwendiges bürokratisches Verfahren zur Geldgewährung entworfen hatte. D e m entgegnete Schlossmann: „Die Gewährung von Stillgeld soll einmal den Zweck haben, eine gewisse Anziehungskraft für den Besuch auszuüben, also eine Lockprämie darstellen, andererseits Müttern, welche sich sonst von ihren Kindern trennen müssten, das Zusammenbleiben mit dem Kinde ermöglichen. Die Lockprämie wird man gering, das Stillgeld, das ein Zusammenbleiben von Mutter und Kind ermöglicht, im einzelnen Fall relativ hoch bemessen. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass die Einrichtung der Mutter& Säuglingsfiirsorge bei der Bevölkerung populär wird, wenn man den Frauen zumuten würde, des Geldes wegen den weiten Weg nach dem Rathaus zurückzulegen, um dort in geordnetem Verfahren die Beträge einzukassieren." 53 Weltkrieg und Inflation ließen die Arbeit des Vereins für Säuglingsfürsorge, wie oben bereits angedeutet, seit 1914 noch schwieriger werden. Die Klagen über finanzielle Engpässe der ausgeweiteten Fürsorgearbeit wurden zu einem latenten Problem, das auch in jedem Jahresbericht thematisiert wurde. Dennoch sahen die Verantwortlichen des Vereins i m Krieg auch eine Chance, der konstatierten Disziplinlosigkeit, insbesondere der der jungen Mädchen, zu entgegnen. Die „Verstörtheit und H a l t l o s i g k e i t " 5 4 der Frauen sei, so der Bericht, auch der Grund für den allgemeinen Anstieg der Säuglingssterblichkeit i m Regierungsbezirk. Daher wurde der Wunsch artikuliert: „Möge der Krieg auch hier der große Anreger sein, der Schulung und Disziplinierung der heranwachsenden Mädchen als eine der wichtigsten Erziehungsaufgaben der nächsten Jahre eindringlich fördert". 55 A u c h hier fehlten nicht die eindeutigen politischen Bekenntnisse zum „aufgezwungenen" K r i e g und zur Bereitschaft, die von staatlicher Seite auferlegten Zielvorstellungen zu vertreten und die Aufgaben für die Familien zu erfüllen. Erst m i t der Novemberrevolution 1918 erfolgte in den Jahresberichten des Vereins ein Einstellungswandel. 5 6

53 Schreiben Schlossmanns an den Düsseldorfer Oberbürgermeister, 23.4.1913, in: StAD, III 4271, Bl. 54. 54

Bericht über das achte Geschäftsjahr 1914/1915, Düsseldorf o.J. (1915), S. 1. Ebd., S. 8. 56 Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen zu „Die äußere Gestaltung des Vereines" in den Jahresberichten 1914-1919. So wird im Jahresbericht 1915 /1916 der Krieg als der Wegbereiter für das Fürsorgebestreben des Vereins charakterisiert: „Der Krieg, nicht nur Zerstörer menschlichen Lebens, menschlicher Werke, sondern in hohem Maße aufbauend, Werte schaffend, ist wie ein Sturmwind auch in die Fragen und Probleme hineingefahren, die uns bald ein Jahrzehnt beschäftigt haben. [...] Wir, die wir im Dienste des Friedens stehen, lassen unsere Segel durch den Krieg schwellen. [...] Dies nicht zuletzt aufgrund der Erkenntnis, daß der Krieg den ,Müttern' einen Schutz geschaffen [habe - W. W.], den wir uns auch aus dem Friedenszustand nicht mehr fortdenken können." 55

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In der Zeitschrift „Mutter und Kind" versuchten kurz nach dem Kriegsausbruch einige Autoren, dem für die ersten Kriegsmonate konstatierten Rückgang der Stillhäufigkeit und dem Anstieg der Säuglingssterblichkeit bei sinkender Geburtenzahl wissenschaftlich nachzugehen.57 Der „Verein für Säuglingsfürsorge" erwartete durch die Ernährungsengpässe eine stärkere Hinwendung der Mütter zu ihren Säuglingen, insbesondere ein verstärktes Stillen. Dies schien allerdings - zumindest in den ersten Kriegsmonaten - nicht eingetreten zu sein. 58 Erst der seit 1916 im rheinisch-westfälischen Industriegebiet eingetretene Zusammenbruch der Milchversorgung trug dazu bei, die allgemeine Stillquote substantiell zu erhöhen, wenn hierzu auch keine konkreten Daten vorliegen. Die vorübergehende Umwandlung von Fürsorgeeinrichtungen in Lazarette 5 9 und der verstärkte Einsatz von Frauen in der Industriearbeit relativierten diese Hoffnungen aber bereits frühzeitig: „Haus und Kinder sind schlechter versorgt, als Fabrik und Werkstatt." 60 Der Erste Weltkrieg forcierte zudem die Entscheidung, die Aufgabenbereiche in der Fürsorge schrittweise zu erweitern. Säuglingsfürsorge, so das Fazit der bisherigen Arbeit, konnte nicht isoliert betrachtet werden, sondern mußte im Kontext einer umfassenden Fürsorge verstanden werden, die vom Säugling bis zum Jugendlichen reichte und die auch insbesondere die Lebensverhältnisse (Wohnungswesen) in Betracht zog. 1917 setzte sich diese Erweiterung des Arbeitsspektrums auch in der äußeren Gestaltung des Vereins durch. „ I n der richtigen Erkenntnis dieser Sachlage hat der Verein für Säuglingsfürsorge nicht nur die Schulkinderpflege, sondern auch die Kleinkinderpflege, und diese drei Gebiete im Zusammenhang mit der Gesundheitsfürsorge, der Wohnungsfursorge und der Familien- und Volkserziehung in systematischer Bearbeitung auszugestalten unternommen." 61

Dieser erweiterten Aufgabendefinition entsprechend benannte sich der Verein am 19. Mai 1917 in „Verein für Säuglingsfürsorge und Wohlfahrtspflege im

57

Die besondere Zuwendung, die Säuglinge und Kleinkinder während des Krieges erhielten, ist bis heute in der Forschung umstritten. Vgl. hierzu die unterschiedlichen Interpretationen bei D. Dwork , War is Good for Babies and Other Young Children. A history of the Infant and Child Welfare Movement in England 1898-1918, London / New York 1987; P. J. Atkins , White Poison? The Social Consequences of Milk Consumption, 1850-1930, in: Social History of Medicine, 1992, S. 207-227; J. Winter / J. Lawrence / J. Ariouat, The Impact of The Great War On Infant Mortality in London, in: Annales de Démographie Historique 1993, S. 329-353. 58

Vgl. hierzu E. Rassau, Krieg und Stilltätigkeit, in: Mutter und Kind, Nr. 5, Februar 1915, S. 2; J. Bauer, Die Säuglingssterblichkeit und der Krieg, in: Mutter und Kind, Nr. 8, Mai 1915, S. 2ff. Bauer weist auf eine im Vergleich der Jahre 1913 und 1914 ansteigende Säuglingssterblichkeit und eine Abnahme der Lebendgeburten hin. 59

Bericht über das achte Geschäftsjahr 1914 / 1915, Düsseldorf o.J. (1915), S. 8ff.

60

Bericht über das neunte Geschäftsjahr 1915 /1916, Düsseldorf o.J. (1916).

61

Bericht über das zehnte Geschäftsjahr 1916 /1917, Düsseldorf o.J. (1919), S. 12.

Verein f r Säuglingsfirsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf

357

Regierungsbezirk Düsseldorf' um. Die nunmehr auch namentlich gekennzeichnete Erweiterung der Fürsorgetätigkeiten zwang den Verein dazu, seine Aufgabenfelder neu festzulegen. Hierbei wurden die einheitliche Überwachung des Zieh- und Haltekinderwesens (Kinder, die bei einer Pflegemutter untergebracht waren) und, in enger Kooperation mit der Wohnungsfürsorge, die Tuberkuloseverhütung im Kindesalter als neue Arbeitsgebiete aufgegriffen. Zusammenfassend kann die Vereinsarbeit in mehrere Phasen unterteilt werden: Neben den bereits 1907 definierten Aufgabenfeldern der Bestandsaufnahme und der wissenschaftlichen Forschung zur Säuglingsfiirsorge, der Einrichtung von Fürsorgeeinrichtungen und der Aus- und Fortbildung von Pflegerinnen, Hebammen und Ärzten, erfolgten - nicht zuletzt durch den Ersten Weltkrieg bedingt - neue Fürsorgemaßnahmen. Diese konzentrierten sich weniger auf die Umsetzung festgelegter Konzepte als darauf, die alltäglichen Nöte der Mütter und Säuglinge zu lindern. So erfolgten die Fürsorgeleistungen insbesondere von 1914 bis Mitte der 1920er Jahre verstärkt durch materielle Unterstützungen mit Lebensmitteln (Milch), Kleidung und Hygieneartikeln. 62 Diese Aufgabenerweiterung während des Krieges ging allerdings einher mit einer latenten wirtschaftlichen Notlage des Vereins. Dies äußerte sich auch in der sinkenden Mitgliederzahl, 63 insbesondere in den Jahren der Hochinflation. Hinzu stießen als neue Aufgaben in der Weimarer Republik die „immer stärkere Bevorzugung der offenen Fürsorge" und die Bestrebungen für eine Zentralisierung „sachlicher und örtlicher Art zur Schaffung organisch arbeitender Fürsorgeund Wohlfahrtsstellen in einheitlichem Zusammenwirken der Behörden und ihrer Organe, der Vereine und der sonstigen freiwilligen Liebestätigkeit". 64 Eine weitere, wenn auch vom Verein seit seiner Gründung intendierte Entwicklung machte den „Verein für Säuglingsfürsorge" seit Mitte der 1920er Jahre schrittweise überflüssig: Die Sozialpolitik Weimarer Prägung ließ ein weitreichendes Netz von staatlichen und kommunalen Fürsorgestellen entstehen, die sukzessive die einzelnen Tätigkeitsfelder des Vereins übernahmen. 65 Gerade auf kommunaler Ebene führte diese Entwicklung zu einer eigenen Kultur städtischen Gesundheitswesens, die sich insbesondere in den Industrieregionen Preußens etablierte. Es entstanden kommunale Fürsorge- und vor allem Ge-

62

Jahresbericht 1920/ 1921 und 1921 / 1922 des Vereins, Düsseldorf 1922, hier: Jahresbericht für 1920 / 1921, S. 16: „Von außerordentlich großer Wirkung auf den Besuch der Beratungsstelle ist die Ausstattung der Stelle mit Milchgutscheinen, Lebens- und Stärkungsmitteln, Wäsche und Kleidungsstücken zur Weitergabe an besonders bedürftige, vor allem kinderreiche Mütter." 63

Vgl. etwa Jahresberichte 1922 / 1927 des Vereins, Düsseldorf 1927, hier: Jahresbericht 1926 / 1927, S. 17. 64 Jahresberichte des Vereins, 1916 /1919, Bd. 2, S. 258. 65 Vgl. zur Widersprüchlichkeit der Weimarer Sozialpolitik D. J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987, S. 132ff.

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Wolfgang Woelk

sundheitsämter, in denen ein neuer Arzttyp, der Fürsorgearzt, mit Hilfe der gesundheitswissenschaftlichen Bezugsdisziplin, der Sozialhygiene, und mit Hilfe eines besonders motivierten Fachpersonals, den Gesundheitsfürsorgerinnen, eine zumindest tendenziell umfassende Gesundheitsfürsorge praktizierte. Hierdurch hatten die Kommunen deutlich ihren Anspruch auf „Gesundheit" als ein „ureigenes Gut kommunaler Daseinsvorsorge" artikuliert. 66 Der „Verein für Säuglingsfürsorge" ging immer stärker in der kommunalen Gesundheitspolitik Weimarer Prägung auf. Eine besondere Erwähnung findet der Verein noch einmal auf der 1926 in Düsseldorf ausgerichteten Ausstellung für Gesundheit, Soziales und Leibesübungen, die vom Düsseldorfer Oberbürgermeister Robert Lehr, dem Industriellen Ernst Poensgen und Arthur Schlossmann organisiert wurde und bei der die Sektion „Soziales" im „Schöße des Vereins entstanden" sei. 67 Die Ausstellung, die von etwa siebeneinhalb Millionen Besuchern frequentiert wurde, sollte nicht nur Düsseldorf als Messestandort wiederbeleben (und damit neue Arbeitsplätze schaffen), sondern hatte auch eindeutige politische Ambitionen. 68 Sie konnte jedoch der zunehmenden Bedeutungslosigkeit des Vereins nicht entgegentreten. Der Verein hatte seine 1907 gesetzten Ziele - wenn auch mit Mitteln und unter politischen Gegebenheiten, die zum Zeitpunkt der Vereinsgründung nicht intendiert gewesen waren - erreicht. Wichtige Bereiche seiner Arbeit waren in der kommunalen Fürsorgearbeit des Weimarer Wohlfahrtsstaates implementiert worden. Die Selbstauflösung des Vereins nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war daher weniger eine politische Einsicht, sich nicht unter die nationalsozialistische Vereinspolitik unterordnen zu wollen, als eine rationale Erkenntnis aufgrund drastisch zurückgegangener Aufgaben. Eine wichtigere Zäsur erlebte der Verein daher auch durch den Tod Arthur Schlossmanns im Juli 1932, der als Integrationsfigur des Vereins nicht zu ersetzen war.

66 Vgl. A. Labisch / F. Tennstedt, Der Weg zum „Gesetz", Bd. 2, S. 361. Vgl. auch W. Woelk / S. Fehlemann / A. Labisch, Funktionen kommunaler Gesundheitspolitik von der Weimarer Republik bis in die Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Chr. von Ferber / P. Wolters (Hgg.), Kommunale Gesundheitspolitik als Gegenstand der Public Health Forschung, Bielefeld 1996, S. 25-38. 67 Jahresbericht 1922 / 1927 des Vereins, Düsseldorf 1927, hier: Jahresbericht für 1925 / 1926, S. 143. 68 „Die Gesolei war politisch zwar nicht gegen die Weimarer Republik gerichtet, sie fügte sich aber auch nicht in sie ein. Vielmehr lag sie in manchem gleichsam quer zur Idee der Republik, war bei aller Modernität nach rückwärts gewandt. Sie spiegelte die deutschnationalen und nationalliberalen Vorstellungen ihrer Initiatoren Lehr, Schloßmann und Poensgen wider." So die Einschätzung durch P. Hüttenberger, Die Industrie- und Verwaltungsstadt (20. Jahrhundert), in: H. Weidenhaupt (Hg.), Düsseldorf. Geschichte von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, 3 Bde., Düsseldorf 198889, Bd. 3, S. 373ff., hier: S. 379f.

Verein für Säuglingsfrsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf

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Zusammenfassung Der „Verein für Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf vereinigte Staat, Kommunen, Industrie und Wissenschaft zur gemeinsamen Aktivität gegen die hohe Säuglingssterblichkeit. Seine Entstehungsgeschichte ist nur im überregionalen Kontext zu interpretieren, in dem wirtschaftliche und soziale, aber insbesondere auch politische Gesichtspunkte bei der Gründung einen nicht zu negierenden Stellenwert einnahmen. Die Erkenntnis in die nötigen umfassenden Fürsorgemaßnahmen für Säuglinge erfolgte erst um die Jahrhundertwende, als die ökonomische und militärische Zukunft des Kaiserreichs durch die demographische Entwicklung, so die Einschätzung zahlreicher einflußreicher Zeitgenossen, gefährdet schien. Frühzeitig setzte sich bei den Verantwortlichen des Vereins für Säuglingsfürsorge die Erkenntnis durch, daß nur eine weitreichende Organisationsstruktur Abhilfe schaffen könne. Somit war der Verein in diesem Kontext ein Novum im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, da er versuchte, heterogene Interessengruppen zu vereinigen und deren spezifisches „Know-how" zu bündeln. Hierbei war die Gründung der Städtischen Krankenanstalten Düsseldorf mit einer angegliederten Kinderklinik von ebensolcher Bedeutung wie das Wirken Arthur Schlossmanns, der als die bedeutende und nicht zu ersetzende Integrationsfigur des Vereins hervorgehoben werden muß. Schlossmanns regionale und überregionale Kontakte zu Wirtschaft und Politik trugen dazu bei, den Verein in den Jahren bis 1914 auf eine solide Basis zu stellen, die erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs besonderen Gefahren ausgesetzt wurde. Die gestellten Aufgaben wurden durch den Verein in den ersten zehn Jahren seiner Existenz teilweise gelöst bzw. mit dem Beginn der Weimarer Republik von staatlichen oder kommunalen Einrichtungen aufgegriffen und weiter verfolgt. Der Rückgang der Säuglingssterblichkeit in den 1920er Jahren, insbesondere das Verschwinden des gefürchteten Sommergipfels im Regierungsbezirk Düsseldorf Mitte der 1920er Jahre, kann aber nicht als ein primäres Ergebnis der konkreten Vereinsarbeit interpretiert werden. Hierzu bedurfte es der Veränderung zahlreicher Indikatoren. Jedoch trug der „Verein für Säuglingsfürsorge" seinen Teil dazu bei, diese Veränderungen mit einzuleiten. Der Verein öffnete zudem mit staatlicher und kommunaler Rückendeckung und nicht zuletzt durch den Einfluß und durch die Aktivitäten von Arthur Schlossmann und Marie Baum, das Blickfeld für die Notlage der Säuglinge und ihrer Mütter. Die im Ersten Weltkrieg erfolgte Aufgabenerweiterung war die notwendige Einsicht, daß Säuglingsfürsorge nur im Kontext einer umfassenden Fürsorge integriert werden konnte, die insbesondere die sozialen Aspekte stärker betonte. Die Weimarer Sozialpolitik ließ dann in den 1920er Jahren kommunale und staatliche Fürsorgeeinrichtungen entstehen, die sukzessive Teilgebiete der Vereinsarbeit übernahmen. Somit wurde der Verein zunehmend unbedeutender, was aber seinen historischen Stellenwert in der Geschichte der Sozial- und Fürsorgepolitik in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert nicht schmälert.

Die Städtische Wohnungsfürsorge in der Schweiz. Gesetzliche Grundlagen und alltägliches Verwaltungshandeln im Vergleich

Von Barbara Koller Die städtische Wohnungsfürsorge wurde in der Schweiz zwischen ca. 1890 und 1920 institutionalisiert, und zwar im Gefolge von Wohnungsenquêten. Die Wohnungsfiirsorge war keine schweizerische Erfindung. Vorbilder bestanden bereits in verschiedenen anderen Staaten und wurden von der Schweiz auch rezipiert. Die Rezeption ausländischer Modelle der Wohnungsfiirsorge in der Schweiz zeigt sich z.B. in den Basler Protokollen der Kommission zum Wohnungsgesetz,1 denen zu entnehmen ist, daß ein Referent erläuterte, „wie man in verschiedenen deutschen Städten resp. Bezirken, wie Berlin, Hildesheim, Oppeln, Leipzig mit Vororten dazu gelangt sei, die Frage betr. Nachtherbergen (Pennen), Unterkunft für obdachlose Familien, Schlafstellenwesen, Unterkunftsräume (Massenquartiere) für vorübergehend beschäftigte Arbeiter und das Kost- und Schlafgängerwesen mittels Verordnungen, in Hamburg die Wohnungsaufsicht mittels einer freiwilligen Organisation und in Hessen das ganze Wohnungswesen durch ein eigentliches Wohnungsgesetz zu regeln." Der zitierte Referent zeigte ferner, „wie in Wien mit einer Verordnung betr. Wohnungsinspektoren ein Versuch gemacht worden und wie in Frankreich in den 50er und 60er Jahren an und für sich gute Wohnungsgesetze erlassen, aber leider nicht ausgeführt wurden." Zum Schlüsse schilderte der Referent „die, von ihm als beste der vorhandenen bezeichnete, Wohnungsgesetzgebung Englands und Schottlands [...]." Aber auch der St. Galler Wohnungsinspektor Kern verwies in seinen Besprechungen zur Wohnungsaufsicht stets auf vergleichbare

1

Staatsarchiv Basel-Stadt: Bauakten A8,2. Protokolle der Kommission zum Wohnungsgesetz 1895-1906, Sitzung vom 14.10.1896. Zur Wohnungsaufsicht im internationalen Vergleich siehe R. Eberstadt, Handbuch des Wohnungswesens und der Wohnungsfrage, Jena 1909, S. 359-365; A. Rath, Die Wohnungsaufsicht, in: Th. Weyl (Hg.), Handbuch der Hygiene, Bd. 4, 1. Abteilung: Bau- und Wohnungshygiene, Leipzig 21912, S. 53-88; E. v. Fürth, Wohnungsämter und Wohnungsinspektoren, Wien 1905.

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Barbara Koller

ausländische Einrichtungen, 2 hauptsächlich auf die „mit gutem Beispiel vorangegangenen deutschen Städte und Provinzen". 3 Da die schweizerische Wohnungsfürsorge in allen Städten unter dem Banner medizinischer Präventivmaßnahmen institutionalisiert wurde, wurde sie von Sanitätsbeamten wahrgenommen, die der städtischen Verwaltungsabteilung des Gesundheitswesens unterstellt waren. Aufgabe der Wohnungsfürsorge oder Wohnungsaufsicht, wie sie in der zeitgenössischen Literatur auch hieß, war es, „darüber zu wachen, daß die guten Wohnungen gesundheitsgemäß benutzt, die ungesunden in gesunde verwandelt oder von der Benutzung zum Wohnen ausgeschlossen werden". 4 Ziel des Beitrags wird es im folgenden sein, erstens zu zeigen, unter welchen institutionellen und gesetzlichen Voraussetzungen in Schweizer Städten die Wohnungsfürsorge ausgeübt wurde, zweitens darzustellen, in welcher Art und Weise die Wohnungsaufsichtsfunktion im alltäglichen Verwaltungshandeln der zuständigen Beamten wahrgenommen wurde. Drittens gilt es, die Wohnungsfürsorge in Schweizer Städten hinsichtlich ihrer eigentlichen Stoßrichtung sowie hinsichtlich ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz zu interpretieren. 1. Institutioneller und gesetzlicher Rahmen In den Schweizer Städten war die Wohnungsfürsorge institutionell unterschiedlich verankert. Entweder wurde sie, wie z.B. in Zürich oder St. Gallen, von einer speziellen Behörde, dem Wohnungsinspektorat, ausgeübt. Oder die Wohnungsfürsorgefunktion wurde, wie z.B. in Basel, wo keine eigene Behörde existierte, im Kontext dreier verschiedener Bereiche wahrgenommen. Es waren dies das Kost- und Schlafgängerwesen, das Kost- und Pflegekinderwesen sowie die generelle sanitarische Aufsicht. Alle drei Bereiche fielen in die Zuständigkeit des Sanitätsdepartements.5

2 Vgl. Κ. Kern, Wohnungsverhältnisse und Wohnungsfürsorge. Anregungen zur Förderung des Einfamilienhauses und des Eigenheimes, sowie vermehrter Wohnungsfürsorge in Schweizer Städten, St. Fiden-St. Gallen 1914, insbesondere S. 37-62. 3

K. Kern, Wohnungsinspektorate in der Schweiz, mit spezieller Berücksichtigung von Erfahrungen im Wohnungsinspektorat der Gemeinde Tablat (St. G.), Zürich 1912, S. 4; vgl. auch Kern, Wohnungsverhältnisse, S. 21-38. 4 Stellvertretend zitiert aus der Wegleitung der Zürcher Wohnungskontrolle, in: Geschäftsbericht des Stadtrates von Zürich 1899, S. 121Γ, hier: S. 121; sowie in: A. Bertschinger, Ueber die Ausübung der Bau-, Wohnungs- und Gewerbehygiene in der Stadt Zürich, in: Th. Weyl (Hg.), Die Assanierung von Zürich, Leipzig 1903, S. 92-94, hier: S. 92f. 5 Vgl. Kern, Wohnungsinspektorate; vgl. auch Wohnungsgesetz vom 18. April 1907, in: Gesamtausgabe der Basier Gesetzessammlung, Ausg. 1939, S. 531-535; sowie die Verordnung über das Halten von Schlaf- und Kostgängern, Zimmermietern und Pflegekindern vom 25. August 1906. Staatsarchiv Basel-Stadt: Niederlassungsakten H4,l und H5,l.

Städtische Wohnungsfiirsorge in der Schweiz

363

Den Beamten waren gesetzliche Kriterien vorgegeben, an denen die Wohnungen und die Wohnverhältnisse zu messen waren. Diese Kriterien bezogen sich sowohl auf den Objektbereich der Wohnung als auch auf den Subjektbereich der Wohnformen, des Wohnverhaltens und der Lebensweise. So sollte zum Beispiel in Basel jede Familienwohnung in der Regel eine Küche und einen eigenen Abtritt haben.6 Alle Wohn-, Schlaf-, Arbeitsräume und Küchen sollten eine ihrem Gebrauchszweck entsprechende Temperatur aufweisen, hinreichend mit Luft versorgt sein sowie ein Fenster haben, um mit Licht direkt aus dem Freien versorgt werden zu können. Sämtliche Fußböden, Wände und Decken einer Wohnung sollten in gutem Zustand und trocken sein. Allen Personen mußte zum Schlafen eine Luftmenge von mindestens 10m3 zur Verfügung stehen. Sämtliche Wohn-, Schlaf, Arbeitsräume und Küchen sowie deren Zugänge und Umgebung sollten reinlich gehalten und nach Möglichkeit gelüftet werden. Ungeziefer, Ansammlungen von Abfallen, Unrat und dergleichen waren nicht zu dulden. Allen Schlafgängern und Schlafgängerinnen sowie Zimmermietern und Zimmermieterinnen sollte pro Kopf ein Bett zustehen; eine Zimmertrennung nach Geschlecht war bei dieser Art der Zimmervermietung obligatorisch. Das Halten von mehr als zwei Schlaf- oder Kostgängern und gängerinnen, von mehr als zwei Zimmermietern und -mieterinnen oder von einem Pflegekind war bewilligungspflichtig, wobei die Bewilligung nur erteilt wurde, nachdem eine Besichtigung der Räumlichkeiten stattgefunden hatte und wenn der Gesuchsteller und seine Haushaltsangehörigen einen guten Leumund genossen; und die Bewilligung konnte verweigert und jederzeit vorübergehend oder dauernd entzogen werden, wenn sittliche oder gesundheitliche Mißstände zu befürchten oder eingetreten waren. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die mit der Wohnungsfürsorge betrauten Beamten laut den gesetzlichen Grundlagen darüber wachen mußten, daß eine Wohnung in Stand gestellt, trocken, grundsätzlich heizbar, hell, lüftbar aber auch gelüftet, sauber und abgeschlossen war, daß jede Person eine genau fixierte minimale Schlafraumgröße hatte und daß in der Wohnung idealerweise eine Kernfamilie lebte. Falls keine Kernfamilie, sondern eine erweiterte Familie in der Wohnung lebte, so mußten deren Mitglieder als zusätzliche Anforderung alle einen guten Leumund haben und die nicht zur Kernfamilie Gehörenden nach Geschlecht getrennt schlafen.

6

Vgl. Wohnungsgesetz und Verordnung.

364

Barbara Koller

2. Alltägliches Verwaltungshandeln Eine Analyse des Verwaltungshandelns der Basler Wohnungsfürsorgeorgane zeigt,7 daß in der administrativen Praxis die baulichen Anforderungen an eine Wohnung nicht oder kaum mehr berücksichtigt wurden. So galt das Fehlen einer Küche, eines Abtrittes oder von Fenstern in einer Wohnung nicht als sanitarischer Mißstand, obschon es nachweislich zahlreiche Wohnungen ohne eigene Küche oder eigenen Abtritt und mit indirekt beleuchteten Räumen gab. Diese Praxis dürfte dadurch zu erklären sein, daß diesbezügliche Anordnungen einerseits einen Eingriff in das Privateigentum bedeutet hätten, anderseits konnte der Verzicht auf derartige Anordnungen eine vorbeugende Maßnahme sein, die Staatskasse allzu sehr zu belasten, denn das Wohnungsgesetz schrieb unverzinsliche staatliche Vorschüsse vor, wenn „ein Hauseigentümer nachweist, daß die Kosten der [...] vorgeschriebenen Instandstellung der Wohnräume seine finanziellen Kräfte übersteigen". 8 Im baulichen Bereich war die Wohnungsfürsorge immerhin bereit, unzureichend unterhaltene Aborte zu beanstanden und auf die Tatbestände der „Feuchtigkeit" und der „Verlotterung" einzugehen. Konkret hieß dies, daß sie darauf bestand, daß feuchte Tapeten ersetzt und defekte Abtritte, ein beschädigtes Dach oder beschädigtes Mauerwerk repariert wurden. Damit legte sie ihrer Praxis die Haltung zugrunde, daß im baulichen Bereich unter den gegebenen Umständen nur das „sanitarisch Machbare" durchzusetzen sei. Demgegenüber interessierte sich die Wohnungsfürsorge sehr für den Subjektbereich des Wohnens, das Wohnverhalten. Dafür gibt es verschiedene klare Hinweise. So maß die Wohnungsfürsorge dem reinlichen Verhalten große Bedeutung zu und legte ihrer administrativen Praxis auch differenzierte Reinlichkeitskategorien zugrunde, nämlich die Kategorie der „unreinlichen Wohnung", der „mit Ungeziefer behafteten Wohnung", der „Belästigung durch Staub und Rauch" und die Kategorie von „unreinlich gehaltenen Hühnern und Kaninchen". Zudem wandten die Behörden beim Tatbestand der „Überfüllung" (dieser Tatbestand trat dann auf, wenn auf eine Person weniger als 10m3 Schlafraum entfielen) dort einen besonders rigorosen Maßstab an, wo Verwandte, v.a. Verwandte aus mehreren Generationen, zusammenlebten. In solchen Fällen konnte es vorkommen, daß die Behörden die Aufhebung der Überfüllung beantragten, obschon die Wohnung an sich genügend groß gewesen wäre, wenn sich die darin aufhaltenden Personen zum Schlafen anders auf die Zimmer ver-

7

Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um Resultate einer umfassenden Untersuchung. Vgl. B. Koller, „Gesundes Wohnen". Ein Konstrukt zur Vermittlung bürgerlicher Werte und Verhaltensnormen und seine praktische Umsetzung in der Deutschschweiz 1880-1940, Diss, phil., Zürich 1995, S. 187-240. 8

Wohnungsgesetz, §15.

Städtische Wohnungsfiirsorge in der Schweiz

365

teilt hätten. Dadurch sollten die jungen Leute angehalten werden, mit der Eheschließung und dem Kinderkriegen so lange zu warten, bis sie selber die dazu nötige Nahrungssicherheit für eine Familie erreicht hatten. Darüber hinaus stützten sich die Sanitätsbeamten bei ihren Entscheiden, ob jemand belangt werden sollte oder nicht, sehr oft auf den sogenannten Leumund der betroffenen Personen. Schließlich wurden die gesetzlichen Bestimmungen zuweilen in einer Art und Weise ausgelegt, die es der Wohnungsfürsorge ermöglichte, ihren Zugriff auf den Subjektbereich auszudehnen. Während nämlich das Reglement zur Ausführung der Verordnung betr. das Halten von Pflegekindern in einem Paragraphen festhielt, daß „bei Privatpersonen, welche in wohltätiger Absicht und nicht zu Erwerbszwecken Pflegekinder halten, [...] Ausnahmen von vorstehenden Bestimmungen vom Sanitätsdepartement [d.h. von der gesetzlichen Bewilligungspflicht, Β. K.] gemacht werden [konnten]", 9 interpretierte die Verwaltung diesen Paragraphen so um, daß sie für das Halten von Pflegekindern zu Erwerbszwecken gar keine Bewilligungen erteilte und statt dessen auch diejenigen Pflegefamilien der Aufsicht unterstellte, die Pflegekinder unentgeltlich bei sich aufnahmen. Besonders erwähnenswert ist dabei, daß sich selbst Großeltern, die ihre Enkelkinder, selbst Tanten oder Onkel, die ihre Nichten und Neffen, selbst Brüder oder Schwestern, die ihre kleinen Geschwister und selbst Väter, die ihre unehelich geborenen Kinder bei sich aufnahmen, dem Bewilligungs- und Aufsichtsverfahren der Verwaltung unterstellen mußten. Allerdings ist einzuräumen, daß die Organe der Wohnungsaufsicht immer wieder bereit waren, über gewisse Mißstände im Verhalten hinwegzusehen, wenn einzelne Haushaltungsangehörige armengenössig waren oder ihnen aus Altersgründen die Armengenössigkeit drohte. Dies dürfte damit zu erklären sein, daß allfallige Sanktionen (Bußen oder Haft) die Unterstützungsbedürftigkeit der Betroffenen und damit die Belastung des Staatshaushalts erhöht hätten. 3. Schlußbetrachtung: Stoßrichtung und gesellschaftliche Relevanz der Wohnungsfürsorge Die gesetzlichen Grundlagen wohnungsfürsorgerischer Eingriffe bezogen sich gleichermaßen auf den baulichen Objektbereich der Wohnung und auf Verhaltensaspekte des Subjektbereiches des Wohnens. Aus der Analyse der Verwaltungspraxis der zuständigen Amtsstellen und Beamten - die hier am Beispiel der Stadt Basel vorgenommen wurde - geht jedoch eindeutig hervor, daß der Schwerpunkt der praktischen Wohnungsfürsorge bzw. Wohnungsaufsicht bei den subjektiven Variablen des Wohnverhaltens (Reinlichkeit, Art der 9

Reglement zur Ausführung der Verordnung betr. das Halten von Schlaf- und Kostgängern, Zimmermietern und Pflegekindern vom 25. August 1906, vom Regierungsrat genehmigt den 13. Oktober 1906. In: Staatsarchiv Basel-Stadt: Niederlassungsakten H4,l, §11.

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Barbara Koller

Wohnungsnutzung), der Lebensweise (Familienformen) sowie den Eigenschaften der betroffenen Personen (Leumund) lag. Als Maßstab dienten dabei bürgerliche Vorstellungen über korrektes und konformes Verhalten. In letzter Konsequenz wachten somit die mit der Wohnungsfürsorge betrauten Beamten darüber, daß solchen Verhaltens- und Wertvorstellungen nachgelebt werde - bei Verstößen standen Sanktionsmöglichkeiten wie Bußen oder Haft zur Verfügung. Es kam aber auch vor, daß die Betroffenen gezwungen wurden, ihre Wohnung zu verlassen. Diese Wohnungsfürsorge wurde in den stark anwachsenden Städten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ausgeübt und befaßte sich v.a. mit den Wohnverhältnissen in den Mietwohnungen der Unterschichtsquartiere. Angesichts dieser Tatsache kam der Art und Weise ihrer praktischen Durchführung im Rahmen der Integration der Unterschichten in den bürgerlichen Staat eine hohe gesellschaftliche Relevanz zu: Legitimiert als sanitarische Wohnungsfürsorge wurde in letzter Konsequenz eine Aufsichtsfunktion wahrgenommen, die sich mitnichten allein auf die Wohnung und das Wohnen, sondern darüber hinaus auf das Verhalten, die Lebensweise und die Persönlichkeit der beaufsichtigten Personen bezog und auf diese einwirkte.

Statt Gesundheit. Gewerbehygiene als ,Verpackungskunst'

Von Dietrich Milles

Einleitung Zum Ende des 19. Jahrhunderts verschwinden in den Schilderungen der Zeitgenossen die dunklen Wolken über den Fabrikstädten und sauberes Wasser kündet von dem gelungen praktischen Beispiel städtischer Problembearbeitung. Erinnerungen an den Beginn des Jahrhunderts, als „die Häßlichkeit der neuen Industriestädte ihres Gleichen nicht fände [...], nichts als rauchgeschwärzte Fabriken und verwahrloste Arbeiterquartiere; keine Kirchen, keine Schulen, keine öffentlichen Plätze, keine Anlagen und Brunnen, nicht einmal die allerdringlichsten Vorkehrungen hygienischer Art, weder gesundes Trinkwasser noch entsprechende Einrichtungen zur Beseitigung der Fäkalstoffe" 1, wurden noch bemüht, um die Sozialreform zu loben und weiter zu begründen. Was war geschehen in den Städten, deren Silhouette früher, „wenn der über ihnen lastende Qualm überhaupt eine Silhouette erkennen ließ [...] durch einen Wald von Fabrikschloten, durch Gasometer, Bahnhofshallen und Gefängnisse bezeichnet" wurde und die „Flußläufe, durch die Abwässer der industriellen Anlagen verpestet", träge dahin schlichen? Verändert hatten sich weniger die Problemlagen und die städtische Pathogenität, so die Hypothese, sondern vielmehr die Problemwahrnehmung und das Problemmanagement. Beides allerdings hatte viel zu tun mit der Urbanisierung, die nicht einfach mit wachsender Zusammenballung der Menschen auch die gesundheitlichen Probleme verdichtete, die ebensowenig einfach mit wirtschaftlichen Ressourcen und ausgebauter Infrastruktur die gesundheitlichen Bedingungen verbesserte. Die „Risikogesellschaft" lernte vielmehr in der Stadt den technologischen Umgang mit gesellschaftspolitischen Problemlagen.

1

H. Herkner, Die Arbeiterfrage. Eine Einführung, 5. Aufl., Berlin 1908, S. 41.

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Dietrich Milles

Am Beispiel der Gewerbehygiene 2 kann die Herausbildung und Effektivität einer „Verpackungskunst" vorgestellt werden: in dem doppelten Sinne als Fertigkeit, komplexe Problemlagen in kleine Teile zu verpacken, und als Kunst, qualitative Gesundheitsrisiken dem Gehalt nach verschwinden zu lassen. Diese Vorstellung soll im folgenden in der Geschichte der Profession nachgezeichnet werden, die zunächst als Teil der öffentlichen Gesundheitspflege konzipiert worden war und schließlich in die Arbeitsmedizin überging. Die Gewerbehygiene setzte zum Ende des 19. Jahrhunderts an die Stelle politisch gewollter und ausgehandelter Gesundheitsprogramme vor allem solche Rahmungskonzepte, die kulturell in bürgerlichen Mäßigkeitsverpflichtungen und rechtlich in der Gewerbeordnung verankert waren. Arbeitsteilige Technikund Organisationsentwicklung sowie bürgerliche Individualisierung erschienen als zivilisatorischer Fortschritt, der lediglich gegen Auswüchse zu schützen wäre - und der in der Stadt seinen ureigensten Platz zu haben schien. Solche Rahmungskonzepte gingen von einem biologisch funktionalen Körper und technologisch beliebig zu erschließenden oder zu schaffenden Ressourcen aus. Sie legitimierten industrielles Wachstum an sich und gesundheitsschützende Maßnahmen lediglich dann, wenn über Krankheitssymptome qualitative Abweichungen von ,normalen' Belastungen und Leistungsanforderungen auszumachen waren. Solche Rahmungskonzepte sind in der Öffentlichen Gesundheitspflege im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden und verbanden einige der Fortschrittsillusionen in Industrialisierung und Urbanisierung. Die Stadt ist in jüngster Zeit wieder ein interessanter Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung geworden. Soziale Beziehungen und politischer Handlungsraum der Stadt werden interessant, nicht - wie dies in der frühen Neuzeit in der Korrelation von Bevölkerungsdichte und Zivilisationsstufe oder in der logischen Verbindung von marktförmiger Versorgung und liberaler Öffnung gesehen werden kann3 - also nicht als Beispiele für einen historisch notwendigen und unumkehrbaren Weg, sondern für Gestaltungschancen und politische Verantwortlichkeit. Dann aber muß industrielle Pathogenität wieder ,ausgepackt' und im Rahmen öffentlicher Gesundheitsforderung politisch verhandelt werden.

2 Vgl. A. Labisch, Zur Sozialgeschichte der Arbeitsmedizin in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Übersicht, in: R. Müller / D. Milles (Hgg.), Beiträge zur Geschichte der Arbeiterkrankheiten und der Arbeitsmedizin in Deutschland, Bremerhaven 1984; S. 27-45; P. Weindling (Hg.), The Social History of Occupational Health, London 1985; D. Milles (Hg.): Gesundheitsrisiken, Industriegesellschaft und soziale Sicherungen in der Geschichte. Bremerhaven 1993; D. Milles (Hg.), Betriebsärzte und produktionsbezogene Gesundheitspolitik in der Geschichte, Bremerhaven 1992. 1 Vgl. F. Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Alltag, München 1985, S. 524.

Gewerbehygiene

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Träume und ihr Scheitern im Sog der Stadt Die Stadt war immer schon der Ort, an dem sich die großen Vorstellungen und die kleinen Schwierigkeiten trafen. Die großen gesundheitlichen Utopien zu Beginn der Neuzeit nahmen das Bild der „himmlischen Stadt" Jerusalem und das praktische Vorbild Rom, 4 um den „Traum von der wahren und gerechten Lebensordnung" zu beschreiben.5 In den politisch-moralischen Utopien des Spätmittelalters (Thomas Morus 1516) wurde in der Stadt das vollkommene, diesseitige Wohlbefinden beschrieben und in dem Sonnenstaat Campanellas (1568-1693) sollten dann die entsprechenden Regelungen greifen: Alle Beziehungen der Menschen, der Marktmechanismus, das Freie und nicht Planbare in der Moderne sollten durch geometrische Formen wieder gebändigt werden. 6 Die Umsetzung der Utopien, sozusagen der Übergang von dem „besten Staat" des Morus zu der Sozialdisziplinierung des Campanella, scheiterte. Das sprunghafte Wachstum der Städte, das den Wunsch nach Regulierung beförderte, verhinderte zugleich in all seiner Komplexität eine einfache zentralisierte Ordnung. Diese Widersprüchlichkeit ist ein wichtiges Merkmal der Stadtentwicklung geblieben. Geblieben ist auch der unterschwellige Eindruck, daß einfache Wachstumsprozesse, vor allem die Bevölkerungsbewegungen, den wichtigen und zukunftsweisenden Problemdruck darstellen würden. Vor allem zu Beginn der Industrialisierung kreiste der Aufschwung sozialer Ideen und der öffentlichen Gesundheitspflege wiederum um die Stadtentwicklung. 7 Im Gegenlicht des geknechteten Landlebens leuchtete die Stadt als Motor bürgerlicher Gesellschaftsordnung und als Geburtsstätten des modernen Industrieproletariats, als Ort moderner Umwälzungen wie auch immer. Die Brisanz der Zusammenballungen förderte mit den revolutionären Ereignissen in der Mitte des 19. Jahrhunderts wiederum Zukunftsvisionen und Regulierungsanstrengungen, die nunmehr vor allem die soziale Frage einschlossen. Die Utopien nahmen nun beispielsweise die Form an, die Jules Verne aufschrieb. Als in seiner 1881 publizierten Geschichte ein Arzt, Dr. Sarrasin, eine unerhörte Erbschaft machte, beeindruckte er die versammelte Fachwelt mit dem Plan, als Treuhänder der Wissenschaft die halbe Milliarde in eine Stadtentwicklung zu stecken:

4

L. Mumford, Die Stadt. Geschichte und Ausblick, Köln / Berlin 1961, S. 285ff. M. Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1930, S. 6; zit. nach: M. Schumpp, Städtebau und Utopie. Soziologische Überlegungen zum Verhältnis von städtebaulichen Utopien und Gesellschaft, Diss. Göttingen 1970, S. 9. 6 Schumpp, Städtebau, S. 67ff. 7 M. Rodenstein, ,Mehr Licht, mehr Luft'. Gesundheitskonzepte im Städtebau seit 1750, Frankfurt a. M./New York 1988. 5

24 Vögele/Woelk

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„Meine Herren! Unter den Krankheitsursachen des Elends und des vorzeitigen Todes, die es auf der Welt gibt, ist vor allem die eine, der wir, finde ich, große Wichtigkeit beizumessen haben: Es sind das die grauenhaften hygienischen Zustände, unter welchen die Großzahl der Menschen leben muß. Sie hausen an einem Haufen in den Städten, und zwar in Behausungen ohne frische Luft und ohne Licht, den beiden unentbehrlichen Faktoren des Lebens. Diese Menschenhaufen werden nun sehr oft zu wahren Infektionsherden. Diejenigen, die dabei nicht den Tod finden, nehmen zumindest an ihrer Gesundheit Schaden; ihre produktive Kraft schwindet, und die menschliche Gesellschaft verliert dadurch ein gewaltiges Arbeitspotential, das so seinem eigentlichen Zweck entfremdet wird. Warum also, meine Herren, sollten wir nicht mit allen Mitteln, j a mit dem überzeugendsten, nämlich mit dem guten Beispiel, eine Besserung zu erzielen versuchen? [...] Wollen wir nicht einmal all unsere Vorstellungskraft zusammentun, damit wir den Plan einer Musterstadt auf absolut wissenschaftlicher Basis zustande bringen? [...] (Ja! Jawohl! Richtig!)" 8

Die dann entworfenen Vorstellungen stießen im Roman zwar auf andere Schwierigkeiten in Gestalt der bösen deutschen Waffenschmiede, in Wirklichkeit gab es aber unüberwindlichere. Die Schwierigkeiten lagen nunmehr deutlicher in der begrenzten Fähigkeit der Institution, die in der bürgerlichen Gesellschaft bislang zuständig war: dem Verein. Dies kann an dem gemeinnützigen Verein in Mülhausen im Elsaß (Société industrielle de Mulhouse) dargestellt werden, der für den Aufbau des Systems sozialer Sicherung in Deutschland von großer Bedeutung war. In ihrem zweiten Bericht an die Handelskammer zu Gladbach über die gemeinnützigen Einrichtungen in Mülhausen i.E. hoben die Fabrikanten May und Zeyme im April 1882 die beispielhaften Anstrengungen zur Lösung industrieller und sozialer Fragen hervor. 9 Das Statut verpflichtete die Société auf den „Fortschritt in der Industrie und die Ausbreitung derselben". Hierzu waren vor allem Förderung wissenschaftlicher Entwicklung und Schulung, aber auch alles vorgesehen, „was dazu beitragen kann, unter der arbeitenden Klasse die Arbeitsliebe, Sparsamkeit und den Unterricht zu verbreiten und zu befestigen." Es handelte sich um das klassische, originäre Programm der industriellen Wohlfahrtsgesellschaft, das hier voll entfaltet wurde. Aber sehr bald zeigte sich die gesellschaftspolitische Undurchführbarkeit des Programms als solches. In Mülhausen nämlich wirkte die Dynamik der Angelegenheit: der regionale „Wirkungskreis" der Gesellschaft dehnte sich beständig aus und das gesamte Programm betraf schließlich sachlich u. a.: Kindergärten und Kleinkinderschulen besonders mit Rücksicht auf verheiratete Frauen in den Fabriken; Volksschulen mit privater Unterstützung; Mittelschulen und eine höhere Töchterschule; ein städtisches Gymnasium und eine städtische Gewerbeschule mit

8 9

J. Verne, Die 500 Millionen der Begum, Zürich (1881), S. 53f. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf [HStAD], Regierung Düsseldorf, Nr. 24593, Bl. 2.

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städtischer Unterstützung; Abendschulen für die Kinder der ärmeren Klassen; eine Volksbibliothek; ein chemisches Laboratorium in Verbindung mit einer praktischen chemischen Schule; vor allem eine Zeichenschule für Maschinen etc., später auch für schöne Künste; eine Schule für mechanische Weberei, eine für Spinnerei, eine für Holzschneide und Formertechnik, eine höhere Handelsschule, darüber ein industrielles Museum mit Anschauungsmaterial, nebenbei gab es eine israelitische Handwerkerschule; dann gründete die Gesellschaft einen Verein der Kesselbesitzer und bildete Dampfkesselheizer in einem regelrechten Wettbewerb aus; vor allem wurde ein Verein zur Verhütung von Unfällen in Fabriken gegründet, der mit eigenen Unfallkommissionen den Sicherheitsstandard überprüfte; Fabrikkrankenkassen, Pensionen für Invalide und Witwen; einen Verein der Wöchnerinnen, Kinderkrippen, Mobiliarversicherung; selbstverständlich Arbeiterwohnungsbau, Bäckereien und andere Trucksysteme; aber auch Bäder und Waschanstalten; und sogar Anstrengungen zur Verwertung des abfließenden Kondensationswassers in Fabriken, ein Freizeitverein, in dem jedoch „politische und religiöse Diskussionen und lärmende Unterhaltung" ausdrücklich verboten waren; eine öffentliche Sparkasse, Kreditmöglichkeiten und eine Gesellschaft der Aufmunterung zur Sparsamkeit; nicht zu vergessen ein Greisen- und Invaliden-Asyl, eine Lebensversicherungsgesellschaft, Möglichkeiten zur Gewinnbeteiligung für Arbeiter, verschiedene Wohltätigkeitsvereine, ein Armenverein, ein Haus für fremd zuziehende Dienstmädchen, ein städtisches Waisenhaus und Hospital; es fehlte nicht an Bemühungen zur Legalisierung solcher Verbindungen und deren Folgen, welche vor allem von zugezogenen Arbeitern ohne bürgerliche und kirchliche Weihen eingegangen wurden („es war, namentlich in früheren Jahren, für Ausländer schwierig, auch kostspielig, sich die zum Heirathen nöthigen Papiere zu beschaffen"). Insgesamt ging das gesamte Bestreben dahin, „sowohl alles das zu fordern, was das industrielle, kommerzielle, künstlerische, intellektuelle und moralische Niveau des Obereisass zu heben geeignet ist, als auch ganz besonders sich mit allen Fragen zu beschäftigen, welche auf das Loos der Arbeiter Bezug haben." 10 Zwar erkannten die Fabrikbesitzer in ihrem Bericht, daß „die engen Verhältnisse solch kleiner Gemeinwesen [...] besonders dazu angethan (sind), sowohl die Bürger derselben einander menschlich nahe zu bringen, als sie auch überhaupt zu gemeinsamem Handeln zu vereinigen" 11 , sie nahmen dies aber nicht als Problem moderner industriegesellschaftlicher Entwicklung und als Überforderung der Vereine wahr. Vielmehr wurde die Spannung zwischen globaler

10 Ebd., Bl. 19; vgl. S. Kott, Gesundheitsvorsorge in der Fabrik zwischen elsässischem Patriarchalismus und staatlicher Sozialpolitik, in: D. Milles (Hg.), Gesundheitsrisiken, Industriegesellschaft und soziale Sicherungen in der Geschichte, Bremerhaven 1993, S. 69-84. 11 HStAD, Bl. 20.

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Regelungsdimension und praktischer Durchführbarkeit so gelöst, daß an dem globalen Anspruch festgehalten, aber eben nur kleine Einheiten des Programms, vor allem die Unfallverhütung, verwirklicht wurden. Die kleinen Einheiten waren spezifischen rechtlichen Regelungen zugänglich. Die rechtliche Form solcher Regelungen, etwa der Unfallverhütungsvorschriften, brachte eine allgemeine Gültigkeit, löste den Zweck derselben aber aus einem gesundheitsprogrammatischen Kontext. Mit dem partiellen Erfolg dieser Anstrengungen konnte verborgen bleiben, daß zur gleichen Zeit umfassende und zielgerichtete gesundheitspolitische Programme aufgegeben wurden und der Traum utopischer Gesundheitsvorstellungen verblaßte. Aus dieser Konstellation zum Ende des 19. Jahrhunderts wird im folgenden ein spezifischer Aspekt hervorgehoben und beispielhaft diskutiert: Gesundheitliche Harmonievorstellungen, die aus den frühen Utopien bewahrt wurden, sahen in der Stadt einen abgegrenzten Ort, in dem vernünftige, geregelte und gesunde Verhältnisse möglich wären; diese Harmonievorstellungen bestanden weiter, während die Stadt zugleich zum Kern industriegesellschaftlicher Wachstumsdynamik wurde. Eine große Schere zwischen naturorientierten, harmonischen gesundheitlichen Normalitätsvorstellungen auf der einen sowie produktivitätsorientierten, dynamischen Gesellschaftsleitbildern auf der anderen Seite öffnet sich zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die Spannung zwischen Harmonie und Dynamik wurde durch verschiedene Konstruktionen überbrückt. Eine dieser Konstruktionen beruhte auf der biologisch-technologischen Steuerung industrieller Dynamik. Mit dieser Steuerung wurde angenommen, auch den rasanten Fortschritt im Rahmen der harmonischen Naturgegebenheiten zu halten, so daß demnach die gesellschaftlichen Verhältnisse sich insgesamt in den natürlichen Gesetzen entwickeln. Gesundheit war damit selbstverständliche Implikation industriegesellschaftlichen Fortschreitens, sofern der Fortschritt in einem Rahmen verbleibt, der durch Naturgesetze definiert werden kann. Insofern die Naturgesetze rechtlich formuliert und sozialpolitisch operationalisiert wurden, verlor die öffentliche Gesundheit an politischem Gehalt und wurde ein funktionaler Wert. Recht trat an die Stelle der Politik; Kultur wurde zwischen Gesellschaft und Zivilisation aufgerieben. Am Beispiel der öffentlichen Gesundheitspflege kann im folgenden näher erläutert werden, wie staatliche Normsetzungen an die Stelle ausgehandelter politischer Übereinkünfte traten. Sicherung des Fortschritts und Vergesellschaftung der Leiden Die Stadt war aufgrund brisanter sozialer Verdichtungen selbstverständlicher Fluchtpunkt für die öffentliche Gesundheitspflege in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum einen war sie bedrohliche Brutstätte von „Excessen,

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Crawallen und Tumulten", zum anderen der Ort sozialpolitischer Bemühungen, vor allem der Armenpolitik. 12 In den Diskussionen über die Einrichtung eines Reichsgesundheitsamtes bekräftigte der Deutsche Verein für Öffentliche Gesundheitspflege in seiner ersten Versammlung (1873 in Frankfurt/M.), daß öffentliche Gesundheit zwar fast alle Zweige der staatlichen Verwaltung und vor allem das schwierige Verhältnis von staatlichen zu privaten Rechten berühre, aber gerade deshalb „den Nächstbetheiligten, den Gemeinden, nach bestimmten Normen" übertragen werden sollte. Es herrschte noch die klare Einsicht in die unmittelbare politische Dimension: „Die Sorge für die öffentliche Gesundheit liegt in erster Linie den Gemeinden und den analogen politischen Verbänden (Kreisen etc.) ob. In der öffentlichen Gesundheitspflege sind wesentliche Fortschritte nur auf dem Wege der Selbstverwaltung zu erwarten." 13 Die Selbstverwaltung stand in jenen Jahren vor allem für eine dezentrale, nicht dem ,Bismarckschen Bonapartismus' unterworfenen Politisierung. Solche liberalen Strategien beschäftigten sich vor allem mit der Armenproblematik und suchten Verbündete in der Wissenschaft. 14 Das Problem dieser Politisierung bestand allerdings darin, daß insbesondere wegen der notorischen Schwäche des deutschen Liberalismus mit der „Selbstverwaltung" keine gesellschaftspolitische Strategie verbunden wurde. Auch der über die Städte organisierte Aufbau intermediärer Instanzen, wie vor allem die deutsche Sozialversicherung, schuf formale Handlungsspielräume, die beispielsweise von den Sozialdemokraten genutzt wurden. Zugleich wuchs die Orientierung, besonders auch getragen durch alte Traditionen in der Arbeiterbewegung, auf staatlich verbürgte Rechte. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit wurde in der öffentlichen Gesundheitspflege, im Rahmen der Sozialreform, konkretisiert als Forderung nach Gleichheit, was die Orientierung auf allgemeine und allgemeinverbindliche Normen stärkte, und als Forderung nach Teilhabe, was die Orientierung auf rechtlich garantierten Zugang zu Leistungen stärkte. In dieser Richtung wurde das letzte Heil in gesamtstaatlich verbindlichen Regulierungen gesucht und entsprechende Verrechtlichung angestrebt. Solche Regulierungen waren in dem preußisch-deutschen Staat dem Inhalte nach aber nur in sehr vorsichtigen Schutzbestimmungen und moderaten Interventionsmitteln zu erreichen. Die politischen Erfolge der Sozialreform kamen so zugleich dem Bemühen um Entpolitisierung der sozialen Frage entgegen. Die rechtlichen Regelungen brachten keine sozial- und gesundheitspolitischen Klärungen. 12 G. Steinmetz, Regulating the Social. The Weifare State and Local Politics in Imperial Germany, Princeton NJ 1993, S. 149ff. 13 Bericht über die Erste Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege zu Frankfurt a. M. am 15. und 16. September 1873, Braunschweig 1873, S. 20. 14 Vgl. Steinmetz, Weifare State, 1993, S. 188ff.

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Eine wichtige Figur in der Verbindung von Gesundheit und Recht war Max Rubner. Er wandte sich um die Jahrhundertwende gegen eine weitere Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplin und betrieb statt dessen innerhalb der Hygiene eine konkrete Auffächerung und Beschränkung. Gegen die soziale Hygiene wandte Rubner ein, daß die allzu große Öffnung zur Gesellschaft hin einerseits zu einer uferlosen Aufgabenstellung und andererseits zu nichtssagenden Attributen führen würde: einerseits müßten dann alle Verästelungen der Gesellschaft in ihren Zusammenhängen mit der Hygiene bearbeitet werden, „denn alles dient der Gesundheit und diese ist die Grundlage aller sozialen Bestrebungen" 15, andererseits würden alle bekannten „Kapitel der Hygiene plötzlich sozial". Rubner forderte statt dessen, „den inneren Zusammenhang" zwischen sozialen Übelständen und Erkrankungen kausalanalytisch zu erforschen. Wenn er diese Zusammenhänge auch breit fächerte (von Wohnungsnot und Krankheitsverschleppung bis hin zu Nahrungsmangel und Alkoholismus), so bestand er doch darauf, daß erst eine Erklärung der Übelstände zur hygienischen Diskussion der Abhilfe berechtigte. Die Abhilfe selbst mitsamt der sozialpolitischen Form gehörte demnach nicht zur Hygiene, wohl aber „das Studium der gesundheitlichen Wirkung der sozialpolitischen Gesetzgebung". Am ehesten noch erkannte Rubner eine enge Verbindung mit betriebs- und vor allem volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten. So ginge ein Grundprinzip der Hygiene „darauf aus, den Weg zu weisen, auf welchem die Bedürfnisse des täglichen Lebens am billigsten beschafft werden können", worunter er vor allem die Verbilligung der Kost oder der Heizung verstand. Rubner sah die verschiedenen industriekulturellen Unterschiede in den regionalen und sozialen Gesundheitsverhältnissen, „obschon sich die Unterschiede politisch verwischt haben". Unterschwellig ist zu vernehmen, daß er eine weitere Angleichung und Verbesserung erwartete. Vor allem aber verwies er auf den „sicheren Boden", den die Hygiene durch experimentelle Arbeit erhalte, und von dem aus sie „Hand in Hand mit ihrer langbewährten Freundin - der Statistik - ihre Fühlung mit den Sozialwissenschaften recht innig gestaltet."16 Rubner vertrat also gegenüber dem eher politisch engagierten Programm einer sozialen Hygiene oder sozialen Medizin ein defensives Programm: die sachlichen Gegenstände und deren wissenschaftliche Bewertung sollten vor naheliegender Politisierung ,geschützt' werden.

15

M. Rubner, Rede, gehalten zur Eröffnung des neuen Hygienischen Instituts zu Berlin, in: Berliner Klinische Wochenschrift 19-20,1905, S. 1. 1 Ebd., S. .

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Gewerbehygiene Biologisch-technologisches Gesundheitsmanagement

In der gewerbehygienischen Praxis griffen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts einerseits beamtete Ärzte (Kreis- und Stadtärzte, später Landesgewerbeärzte), andererseits angestellte Ärzte (Werks- und Fabrikärzte) dieses Verständnis der Hygiene auf und entwickelten Handlungsdimensionen in einem biologisch-technologischen Grundverständnis. Das praktische gesundheitsbezogene Programm der Gewerbehygiene in Fabrik und Stadt war zunächst eingebunden in die allgemeinen Bestrebungen der öffentlichen Gesundheitspflege und sozialen Reform. Es wurde dann im Rahmen des staatlich geregelten Arbeiterschutzes und der betrieblichen Arbeitsorganisation auf produktionsbezogene rechtliche Rahmungen und auf personenbezogene Maßnahmen reduziert. Produktionsbezogene rechtliche Rahmungen Nach der klassischen, aus der Physiologie übernommenen UrsacheWirkungs-Konzeption wurden Erkrankungen, die mit bestimmten Produktionsverfahren verbunden waren, von den Wirkungen aus bearbeitet. Hierbei ergaben sich zwei effektive Bearbeitungen: a) Kapselung und Individualisierung (Problemmantelung von Fabrikmauern über Arbeitsvertrag und Masken bis hin zu Schutzblechen); b) Streuung und Vergesellschaftung (Problemverdünnung von hohen Schornsteinen über die Ablösung der unternehmerischen Haftpflicht und Personalfluktuation bis hin zur unspezifischen Krankenversicherung). 17 Praktisch ging es vor allem darum, die Reichweite gesellschaftspolitischer Maßnahmen, vor allem die Beeinflussung betrieblicher Strategien, zu begrenzen. In der unterstellten Parallelität von industriellem Fortschritt und gesellschaftlicher Wohlfahrt hatten soziale Kompetenzen und Interessen einen schweren Stand gegenüber wirtschaftlicher Bilanz. Der Gewerberat Richard Fischer markierte den ArgumentationsZusammenhang, in dem die industrielle Pathogenität nicht mehr als Problem gesundheitspolitischer Steuerung auftauchte: die staatliche Gewerbeordnung hat eine Grundlage für die Verhütung von Krankheiten und Unfällen in gewerblichen Betrieben geschaffen; vor allem in den großen Fabriken geht die Verbesserung der gesundheitlichen Verhältnisse mit der industriell-technischen Entwicklung einher, lediglich die kleineren und kleinsten Betriebe hinken nach. 17

Vgl. D. Milles, Am Rande. Zur Auslagerung industrieller Pathogenität aus kommunaler Ge-

sundheitspolitik um die Jahrhundertwende, in: J. Reulecke / A. Gräfin

zu Caste ll-Rüdenhausen

(Hgg.), Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von „Volksgesundheit" und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 145-163.

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Es gibt demnach eine der Technik und der Industrie immanente Tendenz zur Verbesserung der gesundheitlichen Verhältnisse - und die besteht in der Mechanisierung, darin, „dass jetzt zahlreiche gesundheitsgefahrliche Arbeiten, die früher von Menschenhand zu leisten waren, von Maschinen verrichtet werden." 18 Der „Ersatz der Handarbeit durch Maschinenarbeit" an sich war Indiz für Prävention, für die gelungene Kombination von Gewerbehygiene und Wirtschaftlichkeit; die Freisetzung von Arbeitskräften war Beleg für Gesundheitsförderung. Die öffentliche Gesundheitspflege behielt in dieser Konzeption einen allgemeinen Aspekt, der in Vorstellungen harmonischer Gesamtentwicklung begründet und in fürsorgerischen Anstrengungen konkretisiert wurde. Daneben wurden in dieser Konzeption spezifische Aspekte ins Auge gefaßt, die durch problematische Abweichungen auffallen und spezifische Interventionen veranlassen. So verblieben in der Gewerbehygiene, wie in verschiedenen anderen Bereichen der öffentlichen Gesundheitspflege, allgemeine fürsorgerische Orientierungen, die zugleich immer weniger mit den praktischen Interventionsmöglichkeiten und -notwendigkeiten zu tun hatten. Die Einbindung in die Stadtentwicklung stärkte eine Selbstbeschränkung der Gewerbehygiene. Ausgehend von den praktischen Erfahrungen, die in dem eingeschränkten Aufgabenfeld der Gewerbeaufsicht gemacht wurden, verpackte die Gewerbehygiene einzelne Problembündel und Fragestellungen. Ludwig Hirt, der große Systematiker der neueren Gewerbehygiene, ging von den einfachen Fragen aus, „1) Was wird verarbeitet (gewonnen etc.)? 2) in welcher Körperstellung befindet sich der Arbeiter während der Arbeit? und endlich 3) in welchem Räume wird es verarbeitet?" 19 Später wird dieses Risikoverständnis hierarchisiert (am wichtigsten ist der Stoff, das Arbeitsmaterial) und ergänzt (hinzu kommt die „Auslese des Menschenmaterials bei Berufseintritt" unter dem Stichwort „Berufswahl und körperliche Eignung"). In dem Selbstverständnis der Gewerbehygiene in der Weimarer Republik wurden produktionsbezogene Maßnahmen vollends auf staatlichen Arbeiterschutz orientiert, vor allem über den § 120 der Gewerbeordnung etc. Für Franz X. Koelsch, 1909 der erste Landesgewerbearzt in Bayern, ging beispielsweise die Gesundheitspflege in gewerblichen Betrieben vollständig auf in eine Wiedergabe und Interpretation der einschlägigen Paragraphen der Gewerbeordnung, bzw. der anschließenden Erlasse und Verordnungen. Zusätzlich

18 R. Fischer, Einfluss der sozialen Gesetzgebung auf Verhütung, Erkennung und Verlauf der Krankheiten, in: M. Mosse / G. Tugendreich (Hgg.), Krankheit und soziale Lage, München 1913, S.794. 19 L. Hirt, Arbeiter-Schutz. Eine Anweisung für die Erkennung und Verhütung der Krankheiten der Arbeiter, Leipzig 1879, S. 3.

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herausgestellt wurde nur der professionspolitische Hinweis auf die Bedeutung des ärztlichen Elements in der Gewerbeaufsicht. Angefügt wurden Hinweise auf den Unfallschutz der Berufsgenossenschaften, auf die Dampfkesselüberwachung, auf großbetriebliche Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen und auf den Anwohnerschutz nach der Gewerbeordnung und dem Bürgerlichen Gesetzbuch.20 Der politische Gehalt der städtischen Sozialbeziehungen und Gestaltungschancen war verloren. Auch die wissenschaftliche Ausleuchtung kommunaler Aufgaben zeigte kurz vor dem Ersten Weltkrieg, daß die „soziale Fürsorge der kommunalen Verwaltung" keinen gestaltenden Einfluß auf industrielle Entwicklung nahm und schon gar nichts mit ursächlicher Bekämpfung industrieller Pathogenität zu tun hatte. Gerade die Gemeinden als Arbeitgeber konzentrierten die Problemsicht darauf, „die für die gewerblichen Arbeiter überhaupt geltenden Vorschriften der Gewerbeordnung, bezüglich Arbeitszeit, Arbeitspausen, Sonntagsruhe usw. zu beachten".21 Die Problembearbeitung insgesamt tendierte bereits dahin, kommunale Sozialpolitik der Wirtschaftsforderung zu subsummieren oder flankierend (ζ. B. als Armenpolitik) zu konzipieren. Der Zwang, besonders gut begründete Interventionsmaßnahmen vorschlagen zu müssen, stärkte statt dessen die wissenschaftliche Konzentration auf kausalanalytische Argumentationen und meßbare Methoden. Dies war vor allem bei den Grenzwerten der Fall, die ausgehend von der Konzentration giftiger Gase zu einem allgemeinen Konzept reiften. 22 Personenbezogene Maßnahmen Der 1874 eingestellte Werksarzt der Farbwerke Hoechst, Friedrich Wilhelm Grandhomme, beispielsweise steht für die Verknüpfung betrieblicher Interessen und öffentlicher Gesundheitspflege. Er war Kreiswundarzt (1869) des preußisch gewordenen Landkreises Wiesbaden, 1887 Kreisphysikus und Leiter des Stadtkrankenhauses des neu gebildeten Kreises Höchst a.M. sowie im gleichen

20 F. Koelsch, Arbeit bezw. Beruf in ihrem Einfluss auf Krankheit und Sterblichkeit, in: M. Mosse/G. Tugendreich (Hgg.), Krankheit und soziale Lage, München 1913, S. 227f. 21 F. Stier-Somlo, Die rechtlichen Grundlagen der kommunalen Sozialpolitik, in: Die Praxis der kommunalen und sozialen Verwaltung. Vorträge der Cölner Fortbildungskurse für Kommunal- und Sozialbeamte. I. Kursus: Die soziale Fürsorge der kommunalen Verwaltung in Stadt und Land, Tübingen 1913, S. 16f. 22 Vgl. D. Milles, Grenzen natürlicher Selbstreinigung. Zur Geschichte medizinischer Grenzwertkonzepte, in: A. Kortenkamp / B. Gr ahi / L. H. Grimme (Hgg.), Die Grenzenlosigkeit der Grenzwerte, Freiburg 1988, S. 197-220; D. Milles / R. Müller, Die relative Schädlichkeit industrieller Produktion. Zur Geschichte des Grenzwertkonzeptes in der Gewerbehygiene, in: G. Winter (Hgg.), Grenzwerte, Düsseldorf 1986, S. 227-262.

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Jahr auch Kreisphysikus des Stadtkreises Frankfurt/M. Grandhomme blieb bis 1907 einer der wichtigen Werksärzte der chemischen Großindustrie. Seine Aufgaben bestanden in erster Linie in Einstellungsuntersuchungen für neu eingetretene Arbeitnehmer und Begutachtungen für die Berufsgenossenschaft. 23 Ansonsten bemühte er sich, Gesundheitsgefährdungen für Arbeiter und Anwohner zu marginalisieren. Die Frage war umgekehrt, wie industrielle Pathogenität überhaupt öffentliche Aufmerksamkeit erreichte und wie gewerbehygienische Maßnahmen konzipiert werden konnten. 24 Die Hygiene und insbesondere die Gewerbehygiene verfügten methodisch über zwei Wege, auf denen empirische Ergebnisse mit hygienischen Forderungen verbunden werden konnten: a) den fallbezogen, kausalanalytischen Weg und b) den statistischen, politisch bewertenden Weg. Intensiv hat sich mit dem Zusammenhang von einzelnem Fall und relevante Häufung Ludwig Teleky, der die soziale Medizin in Wien vertrat und 1921 zum ersten preußischen Landesgewerbearzt nach Düsseldorf berufen wurde, auseinandergesetzt. Er ging davon aus, daß statistische Forschung gewissermaßen eine Argumentationslücke schließen könnte, nämlich einen Zusammenhang zwischen Erkrankung und Beruf auch dann abzuklären, wenn dies durch klinische Beobachtung schwer möglich ist. Es ging ihm um die sozialpolitische Relevanz ärztlicher Beobachtung. Im Interesse der jungen Profession bestand Teleky darauf, daß die Gewerbehygiene auch „Wahrerin der Volksgesundheit" wäre und zur günstigen Beeinflussung des Gesundheitsstandes beizutragen habe. Von den klinischen, statistischen, tierexperimentellen Arbeiten, toxikologischen und chemischen Untersuchungen sowie technischen Konstruktionen in der Gewerbehygiene waren also besonders die Ergebnisse interessant, die auf volksgesundheitlich wichtige Häufungen vergleichbarer Problemlagen hinwiesen. Was aber war vergleichbar? Hier sah Teleky verschiedene Beziehungen zwischen Lebenshaltungen und Arbeitsweisen, die etwa in der Textilindustrie mehr Gemeinsamkeiten aufwiesen als in der chemischen Industrie. Die Chance, äußere Lebensumstände in der statistischen Analyse mehr oder weniger unberücksichtigt zu lassen, sah er am ehesten in der Krankenkassenstatistik. Seine vielfältigen Forderungen und Vorschläge zum Aufbau aussagekräftiger Krankenkassenstatistiken, sind allerdings verhallt. Methodisch benannte er aber auch, daß die Auswertung der Statistiken um so schwieriger wird,, j e entfernter in räumlicher und zeitlicher Beziehung die den Statistiken zugrundeliegenden Verhält-

23 F. W. Grandhomme, Die Theerfarben-Fabriken der Actien-Gesellschafl Farbwerke vorm. Meister Lucius und Brüning zu Höchst a.M. in sanitärer und socialer Beziehung, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1880. 24 Vgl. D. Milles , Akuter Fall und gesichertes Wissen. Konstruktion der Berufskrankheiten in der deutschen Geschichte, Habilitationsschrift, Bremen 1994.

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nisse sind, je verschiedener die Organisation der Kassen".25 Die Gesundheitsverhältnisse eines Berufes ergaben sich für ihn aus einem „engen Zusammenwirken, einer innigen Verflechtung der verschiedensten außerberuflichen und beruflichen Einflüsse", so daß die statistische Untersuchung immer nur „wertvolle Fingerzeige geben, niemals aber für sich allein eine Erkenntnis der durch den Beruf ausgeübten Schädlichkeiten" vorlegen könnte. 26 Hierbei verwies Teleky neben der Kassenorganisation auf die Wirtschaftslage, auf Berufsauslese und soziale Verhältnisse. Die gewerbehygienische Untersuchung müsse sich öffnen zu „genauer Durchforschung und Durcharbeitung alles zugänglichen Materials nach allen Richtungen hin, und zwar nicht nur des in handschriftlichen oder gedruckten Berichten niedergelegten, sondern auch genauer Kenntnis des wirklichen Lebens, der Sitten und Gebräuche, der Abstammungsverhältnisse, Lebensgewohnheiten und Lebensverhältnisse der untersuchten Arbeitergruppe." Hierzu sollte „selbstverständlich auch genaues Studium der Betriebsvorgänge, genaue Kenntnis des Herstellungsverfahrens und der Berufsausübung wie auch der Betriebseinrichtungen" gehören. Wie Rubner bereits vorausschauend kritisierte, verlor bei Teleky das Fach seine spezifischen Konturen: im Grunde ist alles mit der Arbeitswelt verbunden und muß berücksichtigt werden. Er bemerkte immerhin einen gewissen Widerspruch zur professionellen Selbstbeschränkung, zumal er eingangs seines Beitrags forderte, „daß er, der Gewerbehygieniker d.V., sich der Grenzen seines Wissensgebietes bewußt bleibt, nicht auf ihm fremden Gebieten stümperhafte Arbeit leistet". 27 Andere methodische Möglichkeiten, beispielsweise durch Massen- oder Reihenuntersuchungen zu verallgemeinerbaren Aussagen zu kommen, beurteilte Teleky skeptisch. „Es ist gar nicht leicht, selbst in einer Stadt oder einem Stadtbezirk, auch nur den größeren Teil aller Angehörigen eines Berufes zur Untersuchung zu bekommen, auch wenn die absolute Zahl der Berufsangehörigen eine geringe ist." 28 Daß ihm dies noch am ehesten bei streikenden Arbeitern gelang, trug nicht gerade zur Attraktivität der Methode bei, forderte vielmehr die Vorbehalte gegen eine allzu ,soziale' Medizin in der Obrigkeit. Also verblieben insbesondere die von Teleky zwar eher kritisch beäugten, aber doch auch systematisch geforderten personenbezogenen Maßnahmen. Diese waren denn auch der wichtigste und wachsende Teil der praktischen ärztlichen Tätigkeiten. Mit ihnen wurde zugleich der Weg von der Gewerbehygiene, 25 L. Teleky, Gewerbehygienisches Arbeiten und Forschen, in: A. Gottstein / A. Schlossmann / L. Teleky (Hgg.), Handbuch der sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge, Bd. 2, Berlin 1926, S. 19. 26 Teleky, Arbeiten, S.21. 27 Ebd., S. 4. 28 Ebd., S. 8.

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also der professionellen Orientierung auf gesundheitsfördernde Maßnahmen, zur Arbeitsmedizin, also der Orientierung auf individuelle Krankheitsanalysen, beschritten. Dies kann an dem verbleibenden Anteil der Gewerbehygiene an der öffentlichen Gesundheitspflege veranschaulicht werden. In der Berliner Stadtverwaltung wurde zu Beginn der Weimarer Republik ein städtischer gewerbeärztlicher Dienst eingerichtet. Ähnliches gab es nur noch in Hamburg. Aus der Arbeitsverwaltung heraus konzipiert wurde in der Folge die Einrichtung des Landesarbeitsamtes. Die Aufgaben waren: Untersuchung Arbeitsloser auf Arbeitsfähigkeit und Beurteilung der gesundheitlichen Vermittlungsfähigkeit von jugendlichen Berufsanwärtern. Als „Wesen des Berliner städtischen gewerbeärztlichen Dienstes" wurde zwar „die Prophylaxe" benannt, das Endziel war jedoch: „das Individuum an die seiner Gesundheit am besten entsprechenden Arbeitsstelle zur Verwendung bringen zu helfen". 29 Für den Arzt lagen die Schwierigkeiten hauptsächlich in „unsererer mangelhaften Kenntnissen von der Konstitution und der Prognose der Person einerseits und der medizinischen Berufskunde andererseits". Praktisch hatte der Gewerbearzt in Berlin „hauptsächlich die Aufgabe, die verteilende und unterstützenden Arbeitsfursorgeeinrichtungen in gesundheitsfursorgerischer Hinsicht zu ergänzen, die gesundheitlich Berufsuntüchtigen von Arbeitsverrichtungen fern zu halten, für welche sie keinerlei Eignung besitzen oder durch welche ihr Wirtschaftswert übernormal verringert werden kann; den gesundheitlich Anbrüchigen und Kranken nach Möglichkeit zur Herstellung völliger Berufsfähigkeit vor Eintritt oder vor Wiedereintritt in den Beruf, insbesondere während der Arbeitslosigkeit durch enge Zusammenarbeit mit Fürsorgen und Sozialversicherung zu helfen." 30

Hierzu sollten auch kollegiale Expertisen angefordert und fachärztliche Mitarbeit organisiert werden. Praktisch wurden also Tauglichkeitsuntersuchungen von Arbeitslosen durchgeführt, wobei vor allem das Augenmerk auf Alkoholabhängigkeit und Tuberkulose gelegt und auffallige Fälle an die Fürsorgestellen überwiesen wurden (auch Geschlechtskrankheiten v.a. in Nahrungsmittel- und Verkehrsberufen). „Überall bewährt sich das Prinzip, daß die gewerbeärztliche Dienststelle zur Ermittlung Fürsorgebedürftiger, deren Beobachtung während der Durchführung der Fürsorgemaßnahmen durch die Fürsorgestelle und späteren Vermittlung in passende Arbeit mit Hilfe aufgeklärter Arbeitsnachweisvermittler zu dienen hat." 31 Die vorgenommene Selektion von „Schutzbefohlenen" war als gesundheitliche Ergänzung der Arbeitsvermittlung konzipiert.

29

W. Pryll, Einige Erfahrungen aus dem Berliner städtischen gewerbeärztlichen Dienst, in: Zeitschrift für Schulgesundheitspflege und soziale Hygiene 11,1924, S. 361. 30

Ebd., S. 361 f.

31

Ebd., S. 362.

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Immerhin erhielt Pryll einen „ungefähren Einblick in die Gesundheitsverhältnisse", dessen Gesamteindruck nach den Kriegs- und Nachkriegswirren „äußerst niederdrückend" war: „unser Volk befindet sich in einer seit zehn Jahren bald mehr, bald weniger offenkundigen Hungerperiode, deren Folgen sich in der Gesamtkonstitution ausdrücken." 32 Ganz im Sinne der „Menschenökonomie" 33 sollte der Volkskörper nicht durch ungünstige Verteilung der Arbeit und auch im Kleinen der „Wirtschaftswert der Individuen" nicht durch „unpassende Arbeit" unnötig gesenkt werden. Nun boten sich Menschenökonomie und Rassenhygiene als neue Modelle öffentlicher Gesundheitspflege an, 34 mit denen der Zusammenhang von gesundheitlichen Zielvorstellungen und praktischen Handlungschancen wiederherzustellen behauptet wurde - jener Zusammenhang, der durch die Verpakkungskunst verloren gegangen war.

32

33

Ebd., S. 366.

D. Milles, Krieg und Humankapital. Gewerbehygienische Sicht der menschlichen Arbeitskraft in Deutschland zu Beginn der Weimarer Republik, Manuskript, Bremen 1991. 34 Vgl. A. Labisch / F. Tennstedt, Der Weg zum „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens" vom 3. Juli 1934. Entwicklungslinien und -momente des staatlichen und kommunalen Gesundheitswesens in Deutschland, 2 Bde., hier: Bd. 1, Düsseldorf 1986, S. 167ff.

Auswanderergeschäft und Gesundheitspolitik Auswandererkontrollen in der Allgemeinen Krankenanstalt Bremen um 1900*

Von Barbara Leidinger Ende des 19. Jahrhunderts kam die Krankenanstalt an der St.-Jürgen-Straße in Bremen mit der ärztlichen Untersuchung und Desinfektion von russischen Transitmigranten beiderlei Geschlechts einer Aufgabe nach, die nicht allein kommunaler Seuchenprophylaxe gehorchte. Vielmehr stützte die Anstalt das Auswanderergeschäft, das im bremischen Stadtstaat einen bedeutenden Wirtschaftszweig darstellte. Mit der Übernahme gesundheitspolitischer Kontrollfunktionen erfüllte die Allgemeine Krankenanstalt Bremen sowohl im inner- als auch im interstädtischen Vergleich eine Sonderrolle, wie sie zumindest im Deutschen Reich, selbst in der Auswandererstadt Hamburg, ohne Äquivalent geblieben ist. 1 1895 verzeichneten die Register der bremischen Krankenanstalt unter 4.394 Aufnahmen 532 Auswanderer. 2 Dies entsprach einem Anteil von immerhin 12,1 Prozent der Krankenhausklientel, zugleich aber nur einem winzigen Bruchteil der knapp 69.000 Migranten, die in diesem Jahr ihre europäische Heimat über Bremen verließen. 3 Verglichen mit anderen Krankenhauspatienten nahmen die Auswanderer in jeglicher Hinsicht eine Sonderstellung ein: Sie

* Für die finanzielle Unterstützung bei der Datenerhebung im Rahmen des Projekts „Urbanisation, the Epidemiological Transition and Public Health Strategies in Nineteenth Century Bremen" sei dem Wellcome Trust, London, gedankt. 1 Vgl. Β. Leidinger, Krankenhaus und Kranke. Die allgemeine Krankenanstalt an der St. JürgenStraße in Bremen, 1851-1897, Stuttgart 2000 (im Druck). 2 Die „Verwaltungs-Stammlisten" der Krankenanstalt befinden sich ebenso wie die im folgenden zitierten Aktenbestände im Staatsarchiv Bremen (StAB). Die genannten Aufnahmezahlen lassen die Kranken der sog. „Irrenanstalt" außer acht. Die Sprachformen „Auswanderer", „Migranten" etc. beinhalten im folgenden jeweils Männer, Frauen und Kinder. 1 Jahrbuch für Bremische Statistik, hrsg. v. Bureau für Bremische Statistik, Jg. 1895, Η. 1, Bremen 1896, S. 277. Von 68.992 „Passagieren" kamen 15.160 (22%) aus deutschen Bundesstaaten, die Mehrzahl jedoch aus „andern Ländern", die in der zeitgenössischen Statistik nicht näher aufgeschlüsselt wurden. Die meisten Auswanderer (65.208) emigrierten in die USA.

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kamen nicht - wie Kranke üblicherweise - allein, sondern mehr als die Hälfte von ihnen gelangte zusammen mit weiteren Familienangehörigen zur Aufnahme.4 Vielfach handelte es sich um verheiratete Frauen, die mit minderjährigen Kindern ihren bereits vorgewanderten Ehemännern auf dem Weg in die Neue Welt folgten. 5 Abgesehen von ihren familiären Verflechtungen fiel ihre fast ausnahmslos russische Herkunft ins Auge. Sie stammten aus einem Land, das seit Anfang der 1890er Jahre verschiedentlich von Choleraepidemien heimgesucht wurde und deshalb aus deutscher Sicht als Seuchenherd galt. Ihre Krankenhausaufnahme erfolgte nicht aufgrund einer medizinischen Indikation, sondern in 97 Prozent der Fälle auf polizeiliche Anordnung zur Desinfektion. Zweck ihres Krankenhausaufenthalts war somit nicht primär eine stationäre Krankenversorgung, sondern ein Akt der Seuchenprävention. Die Kosten der Aktion, die mit nur einem Tag bzw. einigen Stunden zu Buche schlugen, trugen die Auswandererunternehmen, allen voran der Norddeutsche Lloyd. Reale Seuchengefahren sorgten ebenso wie die von Hygienikern, Kommunalpolitikern und Öffentlichkeit überregional geführten Debatten zur Seuchenbekämpfung 6 gegen Ende des 19. Jahrhunderts für eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber der Auswandererfrage. 7 Aber anders als bislang von der Forschung angenommen, entwickelten die Behörden der Hafen- und Handelsstadt Bremen nicht erst im Cholerajahr 1892 ein detailliertes Kontrollsystem zur gesundheitlichen Überwachung von Migranten, sondern bereits in den frühen 1870er Jahren.8 Gänzlich unbeachtet geblieben ist in diesem Zusammenhang die sich wandelnde Rolle der Allgemeinen Krankenanstalt Bremen. 9 Im folgenden wird deshalb einerseits der Herausbildung von seuchenhygienischen Kontrollmaßnahmen nachgegangen: Welche Beweggründe veranlaßten die städti-

4 Unter 515 Migranten, die zur Desinfektion eingewiesen wurden, waren 221 Einzelpersonen, 13 Elternpaare mit insgesamt 35 Kindern, 16 Ehepaare, 43 Mütter mit insgesamt 93 Kindern, fünf Väter mit sechs Kindern sowie 54 Personen, von denen jeweils mindestens zwei verschwistert waren. 5

Dies läßt sich mit dem Wanderungsverhalten, der sog. „Kettenmigration", stützen; vgl. D. Hoerder , From Migrants to Ethnics: Acculturation in a Societal Framework, in: European Migrants. Global and Local Perspectives, hrsg. von D. Hoerder IL. Page Moch, Boston 1996, S. 211-262. 6 R. Otto / R. Spree / J. Vögele, Seuchen und Seuchenbekämpfung in deutschen Städten während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Stand und Desiderate der Forschung, in: Medizinhistorisches Journal 25 (1990), S. 286-304. 7 M. Just, Ost- und südosteuropäische Amerikawanderung 1881-1914. Transitprobleme in Deutschland und Aufnahme in den Vereinigten Staaten, Stuttgart 1988, insbes. Kap. 6. 8 Wie Just, Amerikawanderung, S. lOOff., beziehen sich auch die im folgenden ausführlich zitierten Arbeiten von A. Armgort, D. Hoerder, R. Evans u.a., wenn überhaupt, ausschließlich auf die Situation nach 1892. 9 Allein Just, Amerikawanderung, S. 109, hat in seiner Untersuchung die Kontrollfunktion der Anstalt nach 1893 gestreift, nicht aber die sich entwickelnden Verflechtungen von Anstalt und Auswandererverkehr thematisiert.

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sehen Behörden zur Aufnahme von Auswandererkontrollen, und wie sahen diese aus? (1) Andererseits gilt es, der sukzessiven Einbindung des Krankenhauses in die verschiedenen Aufgaben des Auswandererverkehrs nachzuspüren: Zunächst der Übernahme präventiver Isolierungsfunktionen im Falle seuchenverdächtiger Emigranten (2) und später der Instrumentalisierung des Krankenhauses zur gesundheitspolitischen Überwachung von Transitmigranten (3). Dabei geht es vorrangig um die Fragen, wessen Interessen die Allgemeine Krankenanstalt entgegenkam und welche sie selbst verfolgte.

1. Auswandererkontrollen als Maßnahme städtischer Seuchenprävention Bremen resp. Bremerhaven entwickelte sich bis zum Ersten Weltkrieg noch vor Hamburg zum bedeutendsten Auswandererhafen Europas. 10 Das Geschäft mit den Auswanderern wuchs seit den 1830er Jahren im Zusammenspiel staatlicher und unternehmerischer Kräfte zu einem wesentlichen Wirtschaftsfaktor der Hansestadt, der insbesondere Rückwirkungen auf Handel und Schiffahrt zeitigte. Die Verlegung der bremischen Kaufmannsreederei auf das gewinnbringende Passagiergeschäft, die Schaffung einer entsprechenden Infrastruktur im Transportwesen - mit dem Anschluß Bremens ans Eisenbahnnetz und dem Einsatz von Dampfschiffen - bildeten Voraussetzungen für die Ausweitung des Auswanderergeschäfts ebenso wie der Ausbau eines weitgespannten Agentennetzes, das quer durch Europa für ständigen Nachschub an Auswanderwilligen sorgte. Aber auch der Umschlag von Auswanderern vor Ort ermöglichte ein einträgliches Geschäft bei Gastwirten und Händlern, die für Unterbringung, Verköstigung und Ausstattung der Migranten vor ihrer Weiterreise sorgten. Staatliche Maßnahmen gingen Hand in Hand mit unternehmerischen Initiativen, begründeten den Ruf der Hafenstadt als Auswandererstadt. 11 So entstand seit Beginn der 1830er Jahre eine Auswandererschutzgesetzgebung, die einerseits den Emigranten bei Aufenthalt und Überfahrt zugute kam und andererseits die Hansestadt vor ungewolltem Zuzug mittelloser Fremder schützte. 1851 wurde auf Initiative der Handelskammer das „Nachweisungsbureau für Auswanderer" gegründet, das mit halbamtlichem Charakter und entsprechenden Befugnissen für eine menschenwürdige Unterbringung der Durchreisenden in den Auswandererherbergen sorgte. Gesundheitspolitische Kontrollmaßnahmen

10

A. Armgort, Bremen-Bremerhaven-New York, Geschichte der europäischen Auswanderung über die Bremischen Häfen, Bremen 1991, S. 9f. Zur Frühgeschichte der Auswanderung R. Engelsing, Bremen als Auswandererhafen 1683-1880, Bremen 1961. Zu einzelnen Aspekten siehe Wanderarbeit: Armut und der Zwang zum Reisen, hrsg. v. H. Gerstenberger, Bremen 1984. 11 D. Hoerder , The Traffic of Emigration via Bremen/Bremerhaven: Merchants' Interests, Protective Legislation, and Migrants' Experiences, in: Journal of American Ethnic History 13 (1993), S. 68-101. 25 Vögele/Woelk

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gegenüber Auswanderern im Sinne kommunaler Seuchenabwehr spielten vorerst noch keine Rolle, ebensowenig wie die 1851 neuerbaute Allgemeine Krankenanstalt für die Auswanderer von Bedeutung war. Erkrankte ein Emigrant auf seiner Reise nach oder in Bremen, so stand ihm theoretisch die Möglichkeit eines Krankenhausaufenthalts frei. Als Auswärtiger benötigte er wie alle Fremden einen Bürgen, der gegenüber dem Krankenhaus die Finanzierung der - zudem höheren - Fremdentarife garantierte. Außerdem mußte er wie andere Kranke auch eine ärztliche Einweisung vorlegen. 12 In der Praxis aber dürften Auswanderer das Krankenhaus nicht nur aus Kostengründen gemieden haben. Vielmehr noch bedeutete die stationäre Unterbringung eine Unterbrechung der Reise, von der in der Regel nicht nur der Kranke, sondern auch seine potentiellen Mitreisenden betroffen waren. Dies führte nicht nur zu einer finanziellen Mehrbelastung durch den verlängerten Aufenthalt, sondern unter Umständen auch zum Verlust der gebuchten Schiffspassage. Daß Krankenhausaufenthalte von Auswanderern im Gegensatz zum späten 19. Jahrhundert in den mittleren Dekaden noch nicht zur Normalität gehörten, stützen die Krankenregister des Jahrgangs 1862, die keinen einzigen Auswanderer auswiesen, obwohl in diesem Jahr 15.187 Emigranten Bremen auf ihrem Wege passierten. 13 Wenn Auswanderer auch aus eigener Initiative das Krankenhaus nicht aufsuchten, so konnte doch ein Zwangsaufenthalt angeordnet werden, wenn der Verdacht einer ansteckenden Krankheit vorlag bzw. laut wurde. Dies betraf aber nicht nur Auswanderer, sondern auch Einwohner, die aufgrund der Medizinalgesetzgebung mit einer Zwangseinweisung rechnen mußten, sofern sie nicht in ihren vier eigenen Wänden über entsprechende Isolationsmöglichkeiten verfügten. 14 Da aber Migranten bei ihrem Aufenthalt in Bremen zumeist Quartier in einer der räumlich beengten Auswandererherbergen bezogen, gehörten sie im Verdachts- oder auch Seuchenfall unausweichlich zur Zwangsklientel. Als 1871/72 in der Hansestadt wie in vielen deutschen Landesteilen infolge des deutsch-französischen Krieges die Pocken grassierten, erlangten Auswanderer als potentielle Überträger der Epidemie die Aufmerksamkeit der städti-

12

B. Leidinger, „... solange ihre Behandlung die Zwecke der Anstalt nicht stört." Die Klientel des Städtischen Krankenhauses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts", in: A. Labisch / R. Spree (Hgg.), „Einem jeden Kranken sein eigenes Bett". Zur Sozialgeschichte des Allgemeinen Krankenhauses in Deutschland im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1996, S. 329-348. 13 Die Verwaltungs-Stammlisten weisen für 1862 insgesamt 2.247 Krankenaufnahmen aus; StAB 4,59/3; Jahrbuch für die amtliche Statistik des Bremischen Staats, Jg. 1867, H. 1, Bremen 1868, S. 198. 14 Medicinalordnung v. 18.9.1871, §53, in: Gesetzblatt der freien Hansestadt Bremen 1871, No. 36, Bremen 1872, S. 117ff.

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sehen Verwaltung. 15 Anfang 1872, ein gutes Jahr nach Ausbruch der Seuche, häuften sich Pockenfälle unter einreisenden Migranten, woraufhin die Eisenbahn-Betriebs-Inspektion den Stein ins Rollen brachte: Sie berichtete im März 1872 ihrer vorgesetzten Behörde über Pockenerkrankungen unter den per Bahn anreisenden Migranten und forderte, zumal bei größeren Auswanderertransporten, „im Interesse der übrigen Auswanderer wie auch der Stadt" eine ärztliche Kontrolle der Ankömmlinge, damit bei Pockenverdacht oder -erkrankung sofort die Überweisung ins Krankenhaus angeordnet werden könne. 16 Bestärkt durch den Bericht der Eisenbahner nahm die Medizinalkommission des Senats Verhandlungen mit dem Norddeutschen Lloyd als der führenden Auswandererreederei auf. 17 Die Medizinalverwaltung hoffte auf eine Mitfinanzierung der erforderlichen Maßnahmen, die implizit auch dem Schiffahrtsunternehmen für die anschließende Überfahrt zugutekamen, da sie die Seuchengefahr an Bord verringerten. Der Norddeutsche Lloyd erklärte sich schließlich bereit, einen Teil der ärztlichen Untersuchungskosten zu übernehmen. 18 Außerdem willigte er ein, erforderlichenfalls für die Krankenhausfinanzierung mittelloser Auswanderer aufzukommen und in jedem Fall für ihre spätere Schiffspassage zu sorgen. 19 Einen Monat später, im April 1872, nahmen die bremischen Polizeiärzte die Auswandererkontrollen auf. 20 Nach Ankunft der Züge, deren Eintreffen die Eisenbahndirektion jeweils telegraphisch ankündigte, wurden die im Bahnhof ankommenden Auswanderer untersucht. Die „Untersuchung" erstreckte sich vermutlich, wie in späteren Jahren, auf ein „Besichtigen" von Gesicht und Händen sowie evtl. auf ein Befragen der Reisenden. Infolge der herrschenden Epidemie wie der einsetzenden Kontrollen wurde die Krankenanstalt zusehends mit emigrierenden Männern, Frauen und Kindern konfrontiert. War ihr „Absonderungshaus" bereits im ersten Jahr an die Gren15

1871 erkrankten in Bremen 307 Einheimische und 23 „Auswanderer, Schiffer u.a. Reisende". 1872 waren es 83 Einheimische und 47 Fremde bei einer Wohnbevölkerung von ca. 85.000 Einwohnern. Jahrbuch für Bremische Statistik, Jg. 1876, H. 2, Bremen 1877, S. 312. Allg. s. A. Fischer, Geschichte des deutschen Gesundheitswesens, 2 Bde., Berlin 1933, Bd. 2, S. 565ff. 16

Anfrage an die Senatskommission für Eisenbahn-Angelegenheiten v. 16.3.1872; StAB 4,7VI.4.b. 17 G. Bessell, 1857-1957, Norddeutscher Lloyd Bremen. Geschichte einer bremischen Reederei, Bremen 1957; H. J. Witthöft, Norddeutscher Lloyd, Herford 1973; E. Drechsel, Norddeutscher Lloyd Bremen 1857-1970. History - Fleet - Ship Mails, 2 Bde., Vancouver B.Cc 1994f. 18 Korrespondenz v. 19. / 20.3.1872. Am 6.4.1872 überwies der Norddeutsche Lloyd 100 Reichstaler (332,14 Mark) als vorläufige Beteiligung an den ärztlichen Untersuchungen. Hiervon behielt die Medizinalkommission am 3.1.1873, vermutlich nach Beendigung der Kontrollen, 263,78 Mark ein; StAB 4,7-VI.4.b. 19 Eine Anfrage der Medizinalkommission v. 21.3.1872 an 26 weitere, zumeist kleinere Auswandererexpedienten mit Hinweis auf das Anerbieten des Norddeutschen Lloyd erbrachte überhaupt nur zwei, dabei ablehnende Antworten; ebd. 20 Mitteilung der Medizinalkommission v. 18.4.1872; ebd.

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zen seiner Kapazitäten geraten, so löste der Zustrom weiterer Pockenverdachtswie -erkrankungsfälle eine neuerliche Diskussion der Medizinalbehörden über den Bedarf einer „Beobachtungsstation" aus, obwohl sich die Krankenhausinspektion längst gegen ein zweites Gebäude zur Seuchenabwehr auf dem Anstaltsgelände entschieden hatte. 21 Vielfältige Gründe, nicht nur finanzieller und personeller, sondern insbesondere auch hygienischer Art bestärkten sie darin. Denn trotz aller Vorsichtsmaßnahmen war es in beiden Jahren sowohl innerhalb der Anstalt als auch in unmittelbarer Nachbarschaft der Anlage zu Anstekkungen gekommen,22 so daß ein zweites Isolationsgebäude die Gefahr von Krankenhausinfektionen und die damit verbundene Rufschädigung eher noch erhöhte. Daß in der ablehnenden Haltung der Krankenhausinspektion die Abneigung gegen die zunehmende Vereinnahmung der Institution durch Auswanderer, die als Fremde und zumeist Arme nicht zur ersehnten finanzkräftigen, städtischen Klientel zählten, mitschwang, läßt sich vermuten, aber nicht belegen. Die Medizinalbehörden schufen schließlich unabhängig von der Krankenanstalt eine Beobachtungsstation in der Nähe des Bahnhofs. 23 Pockenverdächtige Auswanderer wurden nunmehr bei ihrer Ankunft abgefangen, zur Beobachtungsstation geleitet und erst im Falle einer tatsächlichen Erkrankung in die Krankenanstalt gebracht. Diese leistete somit allein die isolierende Versorgung von epidemisch Kranken im Rahmen ihrer institutionellen Zielsetzungen als städtische Heileinrichtung. Mit dem Abklingen der Epidemie wurden Ende 1872 die Kontrollen am Bahnhof wieder eingestellt.

2. Seuchenprophylaxe im Auftrag des Norddeutschen Lloyd Kamen in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die via Bremep Emigrierenden zumeist aus deutschen Staaten, so stieg in den 1870er Jahren der Anteil ost- und südosteuropäischer Migranten, die quer durch das deutsche Reichsgebiet zu den Hafenorten reisten. Die zunehmende Transitwanderung löste Ende des Jahrzehnts auf Seiten der betroffenen Transitstaaten Preußen, Sachsen, Hamburg und Bremen weitgehende Reglementierungen der Durchwandernden aus.24 Verstärkt durch antisemitische und ethnische Vorurteile lag

21 Die Frage der Beobachtungsstation wurde bereits im Juli 1871 erstmals thematisiert, ehe sie Ende Dezember 1871 wieder aufgenommen wurde; vgl. Korrespondenzen zwischen Medizinalkommission, Gesundheitsrat und Krankenhausinspektion Juli 1871 sowie Dezember 1871 bis Februar 1872; StAB 4,7-VI.4.c. 22 Berichte der Krankenhausärzte an die Krankenhausinspektion v. Februar 1871 und Korrespondenzen zwischen Polizeidirektion, Gesundheitsrat, Krankenhaus lnspektion v. Mai / Juni 1871; StAB 4,59/1-D.IV.h.3.a.3.b. 23 Senatsbeschluß v. 20.3.1872; StAB 4,7-VI.4.c. 24 Im folgenden Just, Amerikawanderung, S. 96ff.

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das Augenmerk der Behörden insbesondere auf Menschen russischer Herkunft. Die teils gemeinsam beschlossenen Maßnahmen richteten sich zum einen gegen die Mittellosigkeit der Reisenden, die befürchten ließ, daß aus Transitwanderern Immigranten werden könnten, die dann den Armenverbänden zur Last fielen. Zum anderen wuchs die Angst vor der Einschleppung von Seuchen. So wurden in Bremen im Frühjahr 1878 erneut Gesundheitskontrollen nach dem bereits 1872 erprobten Ablauf aufgenommen, die ausschließlich potentiellen Pockenerkrankungen bei russischen Transitwanderern galten.25 Daß die gesundheitspolitischen Maßregelungen von Emigranten immer weniger im Sinne kommunaler Seuchenabwehr als vielmehr zunehmend im Interesse der Auswandererreedereien, insbesondere des marktbeherrschenden Norddeutschen Lloyd, geschahen, belegt ein 1881 zwischen dem Norddeutschen Lloyd und der Krankenanstalt geschlossener Vertrag. Auf Vermittlung der Medizinalbehörden erklärte sich das Krankenhaus bereit, alle wegen Pockenverdachts von der Überfahrt zurückgestellten Passagiere des Norddeutschen Lloyd - unabhängig von ihrer Herkunft - in Beobachtung, nötigenfalls Isolierung, zu nehmen und vor der Entlassung zu desinfizieren. Im Gegenzug verpflichtete sich die Schiffahrtsgesellschaft, ab 1. Juli 1881 monatlich je fünfzig Mark für die Besoldung eines Wärters und einer Wärterin zu zahlen.26 Mit dem Vertrag nahm der Norddeutsche Lloyd vorweg, was die ab 1882 geltenden Einwanderungsgesetze der USA erforderten. Sie sahen u.a. die Zurückweisung kranker Aus- bzw. Einwanderer zu Lasten der transportierenden Reedereien vor. 27 Um das Risiko eines Rücktransports von kranken Migranten, das nicht nur finanzielle Einbußen, sondern auch Imagebeeinträchtigungen für die Schiffahrtslinie beinhaltete, möglichst gering zu halten, wählte der Norddeutsche Lloyd die für ihn kostengünstigere Variante einer vorsorglichen Kontrolle, Isolation und Desinfektion in Verdachtsfällen vor der Abreise. Die Krankenanstalt ihrerseits erhielt, abgesehen von den Normaltarifen für Verpflegung und Desinfektion, eine festgeschriebene Vergütung für das dazu benötigte Wartepersonal. Sie verfügte zu diesem Zeitpunkt über ausreichende Isolationsmöglichkeiten, da einheimische Pockenfälle zunehmend seltener geworden waren. 28 Die vorhandenen Einrichtungen ließen sich bestens ausnutzen, zumal der Norddeutsche Lloyd das entsprechende Wartepersonal finanzierte. Zum er-

25 Berichte des Medizinalamts bzw. Mitteilungen des Norddeutschen Lloyd ab Februar 1878; StAB 4,15-11.0.1. Da die Beobachtungsstation in Bahnhofsnähe 1874 geschlossen worden war, übernahm die Krankenanstalt die Isolation sowohl bei Verdachts- als auch bei Erkrankungsfällen. 26 Verhandlungsprotokolle v. 29. / 30.6.1881 ; StAB 4,59/l-D.IV.h.3.a.3.b. 27 Just, Amerikawanderung, S. 101. 28 In den fünf Jahren von 1876 bis 1880 erkrankten in der Stadt insgesamt 32 Personen an den Pocken, drei Fälle waren „eingeschleppt"; Jahrbuch für Bremische Statistik, Jg. 1882, H. 2, Bremen 1883, S. 337.

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sten Mal übernahm das Allgemeine Krankenhaus Aufgaben im profitorientierten Auswanderergeschäft. Dabei blieb der individuelle, medizinisch begründete Verdacht Voraussetzung jeder Zwangseinweisung ins Krankenhaus. Nach einer vorerst dreimonatigen Probephase konnte Krankenhausdirektor Scholz vom Erfolg des Verfahrens berichten, das bis Anfang der 1890er beibehalten wurde. 29 3. Die Allgemeine Krankenanstalt als Kontrollstation Im Sommer 1892 versetzte der Ausbruch der Cholera in Rußland Reichsund Landesbehörden in höchste Alarmbereitschaft. Das Reichsamt des Innern ordnete zunächst für alle aus Rußland kommenden Migranten an den deutschen Grenzstationen eine ärztliche Kontrolle an und verfügte, daß diese nur noch in größeren Trupps mit Sonderzügen ohne Zwischenstopp befordert werden sollten. Da trotzdem nicht auszuschließen sei, daß einzelne Infizierte in die Hafengebiete gelangten, empfahl es eine weitere Überwachung der Migranten in Bremen. 30 Dies veranlaßte die bremischen Medizinalbehörden zum Erlaß der „Vorschriften für die gesundheitspolizeiliche Überwachung der russischen Auswanderer". 31 Die jahrelang am Bahnhof praktizierten Auswandererkontrollen wurden nunmehr mit Modifikationen - statt den Pocken galt die Aufmerksamkeit der Cholera - öffentlich gemacht, so auch in den bremischen Zeitungen publiziert. 32 Die medizinalpolizeiliche Überwachung von Transitmigranten ist im Kontext weitreichender Präventionsmaßnahmen zur Abwehr eines potentiellen Choleraausbruchs zu sehen.33 Sie diente gleichermaßen zum Schutz und zur Beruhigung der städtischen Bevölkerung wie auch zur Aufrechterhaltung des Auswandererverkehrs, eines für die Stadt unverzichtbaren Wirtschaftszweiges. Wie schon früher gehandhabt, wurden russische Transitwanderer bei ihrer Ankunft am Bahnhof ärztlich „besichtigt" und durch Dolmetscher auf etwaige Verdachtsfälle befragt. 34 Lagen Choleraanzeichen vor, so wurden sie vom Sa29 Bericht v. 20.9.1881. Daß das Verfahren bis mindestens 1890 beibehalten wurde, geht aus einem Disput zwischen der Krankenhausverwaltung und dem Norddeutschen Lloyd v. Januar 1891 über nicht bezahlte Personalkosten hervor. StAB 4,59/1-D.IV.h.3.a.3.b. 30

Reichsamt des Innern an den Bremer Senat v. 17.7. u. 24.7.1892; StAB 3-Μ.1.Γ.18. Quadrat

31

Bekanntmachung v. 27.7.1892; ebd.

1. 32

Hierzu auch B. Kiesling / S. Hüholt, Auswanderer in der Bremer Presse um 1900, in: D. Knauf / H. Schröder (Hgg.), Fremde in Bremen. Auswanderer, Zuwanderer, Zwangsarbeiter, Bremen 1993, S. 56-65. 33

Zur Choleraepidemie in Bremen siehe den Abriß bei R. Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910, Reinbek 1990, S. 383ff. 34 Die ärztliche Kontrolle geschah nun nicht mehr durch die bremischen Polizeiärzte; statt dessen beauftragten die Medizinalbehörden zwei in der Nähe des Bahnhofs frei praktizierende Mediziner, die sog. „Bahnhofsärzte".

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nitätsgehilfen per Cholerawagen schnellstmöglich in die Allgemeine Krankenanstalt gebracht. Des weiteren durften russische Migranten künftig nur noch in den vom Nachweisungsbüro angegebenen Gasthäusern, den sogenannten Russenquartieren, logieren, deren Wirte ebenfalls bei Strafe zur Anzeige von Cholerasymptomen bzw. -fällen verpflichtet waren. 35 Die Vorschriften, die zunächst nur für russische Auswanderer gedacht waren, galten, nachdem die Cholera im August 1892 in Hamburg ausbrach, auch für alle aus Hamburg kommenden Bahnreisenden - unabhängig von ihrer nationalen Herkunft. 36 Während die Cholera in Hamburg über 8.000 Opfer einforderte, verhinderte in Bremen die Einhaltung unterschiedlichster Vorsichtsmaßregeln eine vergleichbare Katastrophe. 37 Insgesamt sechzehn Choleraverdächtige wurden in die Krankenanstalt zwangseingeliefert, darunter jedoch kein einziger Auswanderer. Sechs Todesfälle waren schließlich zu beklagen.38 Als im darauffolgenden Sommer, 1893, erneut Cholerameldungen aus Rußland eintrafen, verpflichtete der Bremer Senat den Norddeutschen Lloyd auf „sanitäre" Maßnahmen gegenüber russischen Migranten, um den Transitverkehr über Bremen weiterhin zu genehmigen.39 Zu diesem Zeitpunkt waren die preußisch-russischen Grenzen offiziell längst geschlossen und finanzielle Einbußen sowohl für den Norddeutschen Lloyd als auch für die Hamburg-Amerika-Paket-Aktien-Gesellschaft (HAPAG) unabsehbar. 40 Angesichts der ökonomischen Misere entwickelten die Reedereien ein gesundheitspolitisches Überwachungskonzept, das von den bremischen Behörden schließlich „abgesegnet" und um weitere Maßnahmen ergänzt wurde. Zentrale Bedeutung erhielt darin die nahe Berlin gelegene Bahnstation Ruhleben, die als erste von insgesamt sechs Kontrollstationen auf preußischem Gebiet eingerichtet wurde. Die Station Ruhleben war 1891 zur Entlastung des Berliner Eisenbahnverkehrs auf Kosten der Staatseisenbahn, der HAPAG sowie des Norddeutschen Lloyd für den Auswandererverkehr gebaut und im Zuge dessen bereits mit Untersuchungs- und Desinfektionsräumen ausgestattet worden. Ab August 1893 wurden hier ost- und südosteuropäische Transitwanderer „gebündelt", ärztlich kontrolliert und gebadet, ihre Kleider und „Effekten" desinfiziert, ehe sie in ge-

35 16

Vorschriften v. 27.7.1892; StAB 3-Μ.1.Γ.18. Quadrat 1. Protokoll der Sanitäts-Behörde v. 24.8.1892 u. Auszug aus dem Senatsprotokoll v. 26.8.1892;

ebd. 37

Zum unterschiedlichen Vorgehen der Hamburger und Bremer Behörden s. Evans, S. 386ff.

38

Vgl. die täglichen Meldungen der Medizinalkommission an das Reichsamt des Innern von Ende August bis Mitte September 1893; StAB 3-Μ.1.Γ.18. Quadrat 1. 39 40

Auszug aus dem Senatsprotokoll v. 18.8.1893; StAB 4,15-II.0.2.g. Quadrat 8.

Im folgenden Just, Amerikawanderung, S. 76f. Nach späteren, eigenen Schätzungen machten die HAPAG und der Norddeutsche Lloyd infolge der von preußischer Seite verhängten Grenzsperrung Verluste von ca. acht Millionen Mark pro Jahr.

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schlossenen Bahnwaggons in die Hafenstädte weiterfuhren. 41 Nach einer Besichtigung Ruhlebens erkannte der bremische Gesundheitsrat das dortige Verfahren als zweckmäßig an. 42 Zur weiteren Absicherung erarbeiteten die Medizinalbehörden zusätzliche (Zwangs-)Maßnahmen auf Bremer Boden: 43 Konnten russische Transitreisende bei ihrer Ankunft in Bremen sowohl ein Gesundheitsattest als auch ein Desinfektionszertifikat aus Ruhleben vorweisen, so durften sie direkt vom Bahnhof aus ihre Expedienten oder Wirte aufsuchen. Andernfalls wurden sie mit polizeilicher Begleitung in die Beobachtungsbaracke der Krankenanstalt geführt, ärztlich untersucht und desinfiziert. Eine Entlassung erfolgte nur bei Unverdächtigkeit. Ansonsten wurden sie dort so lange zurückgehalten, wie es aus medizinischen Gründen erforderlich war. Ihr Gepäck wurde derweil zum Desinfizieren ins Arbeitshaus und von dort aus in die anvisierten Gasthöfe gebracht. Die Kosten trug unabhängig davon, bei welcher Reederei die Migranten gebucht hatten, der Norddeutsche Lloyd. Auf Weisung der städtischen Gesundheitsbehörden entwickelte sich die Allgemeine Krankenanstalt Bremen zum gesundheitspolitischen Kontrollinstrument im Geschäft mit den ost- und südosteuropäischen Transitwanderern. Sie übernahm einen festen Part in der anlaufenden Kontrollmaschinerie, der sich russische Migranten künftig prinzipiell fügen mußten, ohne daß ein konkreter Seuchenverdacht beim Einzelnen vorgelegen hätte. Die Krankenanstalt übte damit dieselbe Funktion aus wie die in Ruhleben speziell für den Auswandererverkehr geschaffene Kontrollstation. Sie übernahm nicht nur die ursprünglich am Bahnhof durchgeführten ärztlichen Kontrollen, sondern auch die kollektive Desinfektion von Transitmigranten. Damit erbrachte sie im kommunalen Auftrag eine Leistung, die nicht ihrer originären Zielsetzung als medizinische Versorgungseinrichtung entsprach. Dies geschah angesichts der allgemeinen Cholerafurcht im Rahmen städtischer Seuchenprophylaxe, diente aber zugleich den ökonomischen Interessen sowohl des Norddeutschen Lloyd als auch des Stadtstaats. Um die gewinnträchtigen Auswanderertransporte in die USA auf Dauer fortsetzen zu können, galt es den 1891 verschärften Einwanderungsgesetzen wie den aufgrund der europäischen Choleraepidemien 1893 neu geschaffenen Quarantänebestimmungen zu gehorchen. 44 So mahnte der amerikanische Konsul in Bremen mit Blick auf die amerikanische Quarantäne die umgehende

41

Mitteilungen des Norddeutschen Lloyd v. 18. / 19.8.1893; StAB 4,15-II.0.2.g. Quadrat 8. Die Besichtigung Ruhlebens fand durch Dr. Wilhelm Olbers Focke auf Kosten des Norddeutschen Lloyd am 23.8.1893 statt. Berichte und Pläne v. 24.8.1893; ebd. 42

43

Bericht des Medizinalamtes v. 31.8.1893; StAB 4,15-II.0.2.i. Just, Amerikawanderung, S. 220f. Zu Gesundheitskontrollen, Quarantänemaßnahmen und Rückweisungen von Immigranten bei ihrer Ankunft in den Staaten: Α. M. Kraut, Silent Travelers. Germs, Genes, and the „Immigrant Menace", New York 1994. 44

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Desinfektion der Emigrierenden bei ihrer Ankunft in Bremen, nicht erst bei ihrer Abreise, an. 45 Die Krankenanstalt nahm ihre neue Aufgabenzuschreibung durchaus nicht uneigennützig wahr: Sie verfugte einerseits über die mit kommunalen Mitteln erbauten, aber nicht ausgelasteten Einrichtungen; 46 zum anderen konnte sie einen lukrativen Vertrag mit dem Norddeutschen Lloyd aushandeln. Zusätzlich zum Gehalt fur je einen Pfleger und eine Pflegerin von drei bzw. zwei Mark pro Tag erlangte sie für jede zu desinfizierende Person vier Mark an Gebühren, was gegenüber dem Normalpreis von 6,50 Mark für Erwachsene und 3,25 Mark für Kinder in Anbetracht kinderreicher Auswandererfamilien nur einem geringen Rabatt gleichkam 47 A u f längere Sicht entwickelten sich die im September 1893 aufgenommenen Kontrollen sogar zu einem profitablen Geschäft für die Krankenanstalt: Als im Winter 1894/95 auf Initiative des Norddeutschen Lloyd und der HAPAG fünf weitere Kontrollstationen an den östlichen Grenzen des Deutschen Reichs eröffnet wurden, ließ der Zustrom von unkontrolliert anreisenden Transitmigranten in Bremen deutlich nach. 48 Die gesundheitspolitische Überwachung fand nunmehr vorwiegend an den deutsch-russischen Grenzstationen statt, wo auf Kosten der Reedereien Untersuchungs-, Bade- und Desinfektionsräume sowie Beobachtungs- und Krankenstationen entstanden. Die Reedereien genügten damit den preußischen Auflagen zur Wiedereröffnung der 1892 offiziell geschlossenen Grenzen für den Massentransport von Transitmigranten. Wer von den russischen Emigranten künftig nicht bereits an der Grenze kontrolliert und desinfiziert wurde, mußte sich dieser Prozedur in Ruhleben unterziehen. Allein diejenigen, die bis zur Ankunft in Bremen noch keine Kontrollstation durchlaufen hatten, kamen nunmehr für einen Zwangsaufenthalt in der Allgemeinen Krankenanstalt in Betracht. Indem die Anzahl der zu kontrollierenden Migranten auf bremischem Boden nachließ, erwies sich der mit dem Krankenhaus eingegangene Vertrag für den Norddeutschen Lloyd als überteuert. Der Norddeutsche Lloyd konnte nachweisen, daß er aufgrund der gezahlten Personalgehälter pro Desinfektion mehr als den von der Krankenanstalt 45 Notizen v. 21.8.1893 sowie Bericht des Medizinalamts v. 31.8.1893; StAB 4,15-II.0.2.g. Quadrat 8. 46 Im Zuge der Choleraepidemie 1892 war auf dem Gelände der Krankenanstalt eine hölzerne Baracke erbaut worden, aber nicht mehr zum Einsatz gekommen. Angesichts der neuerlichen Choleragefahr von 1893 wurde ihre Ausstattung beschlossen. Anordnung der Medizinalkommission v. 23.8.1893; StAB 4,59/1-D.III.c.3.n. 47 Die Krankenanstalt forderte ursprünglich 4,50 Mark pro Kopf, kam aber nach Intervention der Medizinalbehörden dem Norddeutschen Lloyd mit ihrem Angebot von vier Mark entgegen. Korrespondenzen v. 22.9.1893, in: StAB 4,15-II.0.2.i. sowie v. 25. / 26.9. bzw. 29.9.1893, in: StAB4,15-II.0.2.g. Quadrate. 48

Im folgenden Just, Amerikawanderung, S. 107f.

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üblicherweise geforderten Normalpreis von höchstens 6,50 Mark zahlte. Er wünschte, die Abmachungen zu kündigen und, wie andere Auswandereragenturen auch, die gängigen Desinfektions-Tarife zu bezahlen.49 Die von der Krankenanstalt überprüften Vorwürfe ergaben eine interne Bestätigung: Die Reederei hatte für das gesamte Jahr 1894 aufgrund der ausgehandelten Gehälter pro Kopf tatsächlich rund 7,20 Mark pro Kopf aufgewendet. 50 Um aber den vom Norddeutschen Lloyd getragenen Lohn für das Krankenpersonal nicht zu verlieren, schlug die Krankenhausverwaltung ihm einen Preisnachlaß vor. Sie einigten sich auf drei Mark pro Person. 51 Innerinstitutionell lag somit der Beleg für das profitable Geschäft der Krankenanstalt mit den Auswanderern auf der Hand. Denn das vom Norddeutschen Lloyd finanzierte Personal wirkte vermutlich nicht nur bei der Desinfektion der unregelmäßig kommenden Transitwanderer, sondern auch bei anderen Desinfektionsfällen, z.B. bei den in etwa gleich häufig vertretenen Krätzekranken. Somit handelte es sich bei dem mit dem Norddeutschen Lloyd geschlossenen Vertrag um leicht verdientes Geld im Geschäft mit den Auswanderern. Da weder administrative Berichte über das tatsächliche Kontrollverfahren in der Krankenanstalt noch authentische Berichte von Betroffenen erhalten sind, soll eines der seltenen und deshalb verschiedentlich zitierten Dokumente zur Illustration des Geschehens herangezogen werden. Es handelt sich um die Autobiographie der jüdischen Schriftstellerin Mary Antin aus Litauen, die 1894 über Hamburg emigrierte. 52 Antin beschreibt wenige Jahre nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten eindrucksvoll ihre demütigenden Erlebnisse anläßlich der in Ruhleben vorgenommenen Desinfektion: „Wir selbst wurden in einen engen Raum getrieben, wo ein großer Herd stand. Wir wurden ausgezogen, unsere Körper mit einer glitschigen Substanz eingerieben, die irgendetwas Schlimmes sein konnte; eine warme Dusche ging ohne vorherige Ankündigung auf uns nieder. Dann ging es in ein zweites kleines Zimmer, wo wir in Wolldecken eingehüllt sitzen und warten mußten, bis große, grobe Säcke hereingebracht und ihres Inhalts entleert wurden. Wir müssen uns unsere Kleider aus dem großen Haufen heraussuchen, halb blind vor Dampf [...] Ach, man wollte uns also doch nicht umbringen! Man bereitete uns nur auf die Weiterfahrt vor, indem man uns von allen erdenklichen Krankheitskeimen reinigte." 53

49 Schreiben an die Krankenanstalt v. 26.3.1895; StAB 4,15-II.0.2.g. Nach seinen Berechnungen hatte der Norddeutsche Lloyd von Januar bis März 1895 pro Kopf zehn Mark gezahlt. 50 Bericht des Hausverwalters v. 28.4.1895; StAB 4,15-II.0.2.i. 51 Angebot an den Lloyd v. 29.4.1895; StAB 4,15-II.0.2.g. Ab 1. Mai 1895 verzeichnen die Stammlisten den reduzierten Betrag von drei Mark pro Auswanderer; StAB 4,59/3. 52 M. Antin, Vom Ghetto ins Land der Verheißung, Stuttgart 1914. U.a. zitiert bei Armgort, Bremen, S. 54; Just, Amerikawanderung, S. 114; Hoerder, traffic, S. 92. 53 Antin, Verheißung, S. 197.

Auswandererkontrollen in Bremen

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Wenn dieser Bericht auch nicht unmittelbar auf die bremische Situation zu übertragen ist - hier handelte es sich im Gegensatz zu Ruhleben immer nur um eine kleine Anzahl von Migranten, die diese Prozedur gleichzeitig über sich ergehen lassen mußte - so dürften die Bedingungen relativ ähnlich gewesen sein: Verständnisschwierigkeiten nicht allein aufgrund von Sprachproblemen, angefangen mit der diskriminierenden Begleitung eines Polizeibeamten, über den rüden Umgang des Wartepersonals mit den Fremden bis hin zu den entwürdigenden Methoden der Desinfektion, die, ohne angekündigt zu sein, Angst und Schrecken auslösten. Bis 1906 waren die Auswandererkontrollen im Krankenhaus, die sich im Laufe der Zeit immer mehr auf die alleinige Desinfektion ohne ärztliche Untersuchung beschränkten, Teil der Abfertigung russischer Migranten in der Stadt.54 Dann wurde die Krankenanstalt ihres Nebenamtes wie ihrer Nebeneinkünfte enthoben, weil der Norddeutsche Lloyd seine eigene Desinfektionsanstalt eröffnete. 55 Bereits ein Jahr zuvor hatte der bremische Gesundheitsrat angesichts neuer Cholerameldungen das bestehende Verfahren als medizinisch unsinnig verurteilt und statt dessen eine generelle ärztliche Überwachung gefordert. 56 Mit Inbetriebnahme der neuen Desinfektionshalle ging dann eine Modifikation des Kontrollverfahrens einher: Sämtliche Transitwanderer, gleich welcher Herkunft, mußten sich nunmehr zunächst einer ärztlichen Untersuchung unterziehen, es sei denn, sie hatten bereits deutsche oder auch österreichische Grenz-Kontrollstationen durchlaufen. Das Ergebnis der medizinischen Überprüfung erbrachte dann die Entscheidung über eine mögliche Desinfektion. An die Stelle prinzipieller Desinfizierung trat, je nach ärztlichem Beschluß, ein fakultatives Verfahren. Dies galt ab 1907 auch für die preußisch-russischen Grenzstationen, 57 Bremen übernahm mit seinem Vorgehen offensichtlich eine Vorreiterrolle. Die ärztlichen Kontrollen wurden systematisiert, die bremische Krankenanstalt daran aber nicht mehr beteiligt. 58 Ihr blieben die üblichen Versorgungsfunktionen in Erkrankungsfällen vorbehalten.

54 Nach Aussage v. Prof. Hermann Tjaden, Geschäftsführer des bremischen Gesundheitsrats, v. 13.4.1905 wurden in der Krankenanstalt russische Migranten „gereinigt [...] eine ärztlich Kontrolle fand dabei nicht statt." StAB 4,21-502. 55

Betriebsvorschriften v. 1.7.1906; StAB 4,21-507.

56

Gutachten Tjadens zur Neubauplanung der vom Norddeutschen Lloyd in Bahnhofsnähe anvisierten Desinfektionsanstalt v. 13.4.1905; StAB 4,21-502. 57 58

Just, Amerikawanderung, S. 112.

Zu Auswandererkontrollen in Bremen nach 1906 s. Armgort, Bremen, S. 55ff. u. H. Tjaden, Auswanderungswesen, in: ders. (Hg.), Bremen in hygienischer Beziehung, Bremen 1907, S. 381396.

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Barbara Leidinger Resümee

Bremen entwickelte sich im 19. Jahrhundert noch vor Hamburg zur deutschen Auswanderermetropole, in der das Geschäft mit den Migranten vielfältige Konsequenzen zeitigte. Der Zustrom Fremder motivierte die städtischen Behörden zu gesundheitspolitischen Kontrollmaßnahmen, die mit der zunehmenden Zahl osteuropäischer Transitmigranten aus seuchengefährdeten Gebieten schrittweise verschärft wurden. Um einerseits das Risiko eines Seuchenausbruchs in der Bevölkerung zu mindern und andererseits den Auswandererverkehr zu fordern, entwickelten die Medizinalbehörden ein detailliertes Überwachungssystem, in dem die Allgemeine Krankenanstalt schließlich eine hervorragende Rolle einnahm. 1871/72 gaben die reichsweit grassierenden Pocken erstmalig Anlaß zur vorübergehenden, medizinalpolizeilichen Überwachung von Migranten. Die Ende der 1870er Jahre wiederaufgenommenen Pockenkontrollen gehorchten zwar weiterhin kommunaler Seuchenprophylaxe, dienten aber zugleich den profitorientierten Reedereien, deren Geschäfte den schärfer werdenden Einwanderungsbestimmungen der USA unterlagen. Im Zuge der 1892 drohenden Choleragefahr wurde das jahrelang erprobte Kontrollverfahren ausgeweitet, ehe es 1893 zu neuen Reglementierungen speziell des russischen Transitverkehrs kam. Diese rückten das Allgemeine Krankenhaus ins Zentrum der Maßnahmen. Für die russischen Transitwanderer verkörperte das Allgemeine Krankenhaus am Ende des 19. Jahrhunderts, sofern sie nicht die gesundheitspolitischen Kontrollen an den Grenzen des Deutschen Reichs bereits hinter sich gebracht hatten, in erster Linie eine unausweichliche, medizinische Überwachungs- und Desinfektionsstation auf dem Weg an das ersehnte Ziel, und erst in zweiter Linie eine medizinische Versorgungseinrichtung, die sie in der Regel aber auch nicht freiwillig, sondern auf Anweisung der bremischen Behörden beanspruchten. Damit übte das bremische Krankenhaus zwei voneinander zu trennende Funktionen aus, von denen die erstere häufig Vorspiel zur zweiten, isolierenden wie versorgenden, darstellte. Die Einbindung der Krankenanstalt in die Aufgaben des Transitverkehrs erfüllte über die gesundheitspolitischen Zielsetzungen der Kommune hinaus privatwirtschaftliche Interessen der Institution: Das Krankenhaus konnte über lukrative Verträge mit dem Norddeutschen Lloyd nicht nur eine Auslastung vorhandener Kapazitäten, sondern auch gute Mehreinnahmen erzielen. Für die russischen Transitwanderer verkörperte das Allgemeine Krankenhaus in Bremen am Ende des 19. Jahrhunderts, sofern sie nicht die gesundheitspolitischen Kontrollen an den Grenzen hinter sich gebracht hatten, in erster Linie eine unausweichliche, medizinische Überwachungs» und Desinfektionsstation auf dem Weg an das ersehnte Ziel, und erst in zweiter Linie eine medizinische Versorgungseinrichtung, die sie in der Regel aber auch nicht freiwillig, sondern auf Anweisung der bremischen Behörden

Auswandererkontrollen in Bremen

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beanspruchten. Damit übte das bremische Krankenhaus zwei voneinander zu trennende Funktionen aus, von denen die erstere häufig Vorspiel zur zweiten, isolierenden wie versorgenden, darstellte. Die von kommunaler Seite forcierte Durchführung von Auswandererkontrollen im Krankenhaus dürfte aber nicht unwesentliche Rückwirkungen auf die Entwicklung der Institution genommen haben. Die Krankenanstalt zielte auf eine finanzkräftige, zumindest durch Krankenkassen abgesicherte Klientel. Es läßt sich aber vermuten, daß im Hinblick auf die ausgeprägten Vorurteile der Zeitgenossen gegenüber den Fremden, die Aufnahme von Auswanderern eher abschreckend auf diese Klientel gewirkt haben dürfte. Möglicherweise suchten einheimische Kranke im Bedarfsfall lieber andere Krankenanstalten auf. 5 9 Dies ist im Zusammenhang einer wachsenden Armutsklientel in der Allgemeinen Krankenanstalt Bremen noch genauer zu überprüfen. 60 Daß die länger als ein Jahrzehnt auf Geheiß der Medizinalbehörden ausgeübten Kontrollfunktionen nicht unwesentlich zur Kommunalisierung der Anstalt, die bis 1897 formal den Charakter einer Stiftung innehatte, beitrugen, bleibt unbestritten. Des weiteren können die im Krankenhaus durchgeführten Massendesinfektionen vor dem Hintergrund Bremens als Auswandererstadt als Teil einer „funktionalen Spezialisierung" der Anstalt auf dem Weg zur modernen Dienstleistungseinrichtung gesehen werden, gleichwohl sie nicht den medizinischen Heilbereich betrafen. 61

59 Ende des 19. Jahrhunderts bestanden außer kleineren Privatkliniken drei weitere freigemeinnützige Krankenhäuser in Bremen: das St.Joseph-Stift, die Evangelische Diakonissenanstalt sowie das Vereinskrankenhaus zum Roten Kreuz. Für Kinder im Alter bis zu zwölf Jahren gab es ein Kinderkrankenhaus. 60 Während der Anteil der von Armeninstitutionenfinanzierten Kranken 1862 ein gutes Viertel betrug, handelte es sich 1895 bereits um mehr als ein Drittel. Die weitere Untersuchung der Krankenhausklientel ist Gegenstand der laufenden Dissertation: „Zum Funktionswandel des Allgemeinen Krankenhauses in Bremen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts". 61 Hierzu A. Labisch / R. Spree, Die Kommunalisierung des Krankenhauswesens in Deutschland während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: J. Wysocki (Hg.), Kommunalisierung im Spannungsfeld von Regulierung und Deregulierung im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1995, S. 747.

Die Bekämpfung der Pocken in Stockholm: Maßnahmen und Ergebnisse

Von Peter Sköld

Einleitung, Vorgehensweise und Quellen Ansatzpunkt dieses Beitrages ist die Feststellung, daß Stockholm im 18. Jahrhundert eine der höchsten Sterberaten aller europäischen Städte aufwies und die Pocken die vorherrschende epidemische Krankheit zu dieser Zeit in Schweden waren. 1 Bei einer Bevölkerungszahl von ca. zwei Millionen Menschen starben zwischen 1750 und 1800 ca. 300.000 Personen an Pocken. In Krisenjahren machten diese Todesfälle bis zu 25% der Gesamtsterblichkeit aus.2 Dabei lag die Gesamtsterblichkeit in Stockholm fast doppelt so hoch wie im übrigen Schweden, die Hauptstadt war der in dieser Hinsicht gefährlichste Ort des Landes. Im gesamten Betrachtungszeitraum lag die Sterblichkeit in Stockholm zumeist um 50% höher als im restlichen Schweden (Abbildung l). 3 Dies wurde zunächst auf die bemerkenswert hohe Pockensterblichkeit in Stockholm während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückgeführt, da die Pocken eine dominierende Todesursache waren und auch in anderen größeren europäischen Städten verheerende Epidemien häufig auftraten. 4 Diese Untersuchung zeigt allerdings, daß die Pocken tatsächlich einen geringeren Anteil

1 J. Söderberg / U. Jonssort / C. Persson , A stagnating metropolis. The economy and demography of Stockholm, 1750-1850, Cambridge 1991, S. 176. 2 P. Sköld , Frân fruktad farsot till sällsynt sjukdom - smittkopporna i Sverige 1750-1900, in: Nordisk Medicinhistorisk Ârsbok 1994, Södertälje 1994, S. 87-95. 3 Auch während des 19. Jahrhunderts hatte Stockholm eine höhere Sterblichkeit als der Rest des Landes. In den 1860er Jahren hatte ein 25jähriger Mann in ländlicher Gegend eine um zwölf Jahre höhere Lebenserwartung als ein Gleichaltriger in Stockholm. G. Ahlberg, Stockholms befolkningsutveckling efter 1850, Stockholm 1958, S. 68-70. 4 R. P. Hudson , Disease and its control. The shaping of modern thought. Westport, Connecticut 1983, S. 181-186; Y.-M. Bercé , Le chaudron et la lancette. Croyances populaires et médicine préventive 1798-1830, Paris 1984, S. 44-48.

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an der Gesamtsterblichkeit in Stockholm ausmachten. Der Grund hierfür lag nicht in den gesünderen Lebensverhältnissen in Stockholm. Die Hauptstadt war mit ihrer relativ großen Bevölkerung ein Ort, an dem zahlreiche Krankheiten endemisch auftraten. Verschiedene Krankheiten waren deshalb für die hohe Sterberate verantwortlich.

Stockholm Schweden

Zeitraum

Abbildung 1 : Gesamtsterblichkeit in Stockholm und Schweden 1751-1800 (pro 100.000 Lebende) Quellen: Sterberegister für Stockholm 1751-1800. Bevölkerungsregister fur Stockholm, 1751-1800. Forschungsarchiv Universität Umeà. G. Sundbärg, „Döde efter kön, âlder och civilstând i Sverige âren 1751-1900 samt medelfolkmängden efter kön och aider under femärsperioder för samma tid", Statistisk Tidskrift (1905), S. 107162.

Die Untersuchung wird die Charakterisierung des städtischen Umfeldes als ungesund stützen. Doch wird dies nicht anhand der Betrachtung von Lebensstandards, Armut und Schmutz beschrieben. Statt dessen wird das Thema in Hinsicht auf die epidemiologische Transition erörtert, in der sowohl Sterblichkeit und demographische Strukturen, wie auch soziale, ökonomische und politi-

Pocken in Schweden

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sehe Aspekte sowie die Ausformung des öffentlichen Gesundheitswesens von Bedeutung sind.5 Stockholm unterschied sich vom restlichen Schweden nicht nur hinsichtlich der epidemiologischen Gegebenheiten. Die einzige Einrichtung, die im Schweden des 18. Jahrhunderts Impfungen durchführte, war das Inokulationshaus in Stockholm. Wirkung und Organisation der Impfmethode sollen im folgenden untersucht werden. Während des 19. Jahrhunderts wurde deutlich, daß die Hauptstadt nicht dieselbe Entwicklung der präventiven Gesundheitsvorsorge durchlief wie das übrige Schweden. Es soll gezeigt werden, daß in Stockholm eine andere Impforganisation mit eigenen Gesetzen eingerichtet wurde. Stockholmer Kleinkinder waren nicht nur weniger immunisiert, sie waren auch anderen Krankheiten stärker ausgesetzt. Die Untersuchung der Pockenfalle in Stockholm wird mit der Beschreibung einer Stadt enden, in der weniger Kinder lebten - ein Resultat der besonders hohen Sterblichkeit. Die Quellen zur Bevölkerungsentwicklung in Schweden bieten Informationen über Todesursachen seit 1749 für den gesamten Staat. In diesem Jahr wurde das sogenannte „Tabellverket" eingerichtet, in dem Gesundheitszustand und Gesundheitsentwicklung der Bevölkerung zusammenfassend aufgezeichnet werden sollten. In der Mitte des 18. Jahrhunderts war das schwedische System der öffentlichen Gesundheitssicherung nicht extensiv, jedoch relativ gut organisiert. Das Land war in 32 verschiedene Distrikte unterteilt, jeder einzelne Distrikt besaß einen Distriktsarzt. Dieser hatte jährlich einen Bericht an das Collegium Medicum in Stockholm zu senden. Auch Stockholms Stadtärzte lieferten ihre Berichte ab. Diese Aufzeichnungen stellen zusammen mit den Kirchenbüchern eine wertvolle Quelle dar. Die Bevölkerungsgröße Stockholms in verschiedenen Altersklassen wurde auf der Basis der vorhandenen Volkszählungen rekonstruiert. 6 Um vergleichbare Zahlen für Stockholm und Gesamt-Schweden zu erreichen, wurden die verschiedenen Raten in Zahlen pro 100.000 der Bevölkerung ausgedrückt. Säuglingssterblichkeitsraten wurden mittels der Anzahl geborener Kinder und Impfraten mittels der Anzahl im vorausgehenden Jahr geborener Säuglinge berechnet.

5 Für detailliertere Beschreibungen der epidemiologischen Transition siehe Α. M. Omran, The Epidemiologie Transition. A Theory of the Epidemiology of Population Change, in: Milbank Memorial Fund Quarterly 49 (1971), S. 509-538. 6

Volkszählungen liegen vor für die Jahre 1751, 1754, 1757, 1760, 1763, 1766, 1769, 1781, 1785, 1790, 1795, 1800 und von da an für jedes fünfte Jahr. Bevölkerungsaufzeichnungen, Forschungsarchiv, Universität Umeâ. 26 Vögele/Woelk

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Peter Sköld Die Rolle der Pocken im Todesursachenpanorama Stockholms

Schweden durchlief zwischen 1720 und 1735 ein starkes Bevölkerungswachstum. Gleichzeitig wies die Stadt ungewöhnlich niedrige Sterberaten auf. 7 Die Bevölkerung der Hauptstadt wuchs von ca. 45.000 Einwohnern im Jahr 1720 auf 60.000 Einwohner im Jahr 1790 an und bot so ein großes Risikopotential für epidemische Krankheiten. 8 Pocken waren in Schweden spätestens seit dem 16. Jahrhundert in Erscheinung getreten, doch wurden sie erst in den 1740er Jahren als Krankheit registriert. Das Collegium Medicum betonte im Jahr 1747, daß die Pocken eine allgemein verbreitete Krankheit in Stockholm waren. In den Jahren 1747 und 1749 starben in Schweden 4.450 Menschen an Pocken, was 9% aller Todesfälle dieser Jahre ausmachte.9 In Städten, in denen die Bevölkerung in engem Kontakt miteinander lebte und eine hohe Mobilität herrschte, konnten epidemische Krankheiten leicht übertragen werden. Aus diesem Blickwinkel heraus scheint es einleuchtend, daß Stockholm eine hohe Pokkensterblichkeit aufgewiesen haben müßte. 10 Dies traf jedoch nicht zu: Der durchschnittliche Anteil der Pocken an der Gesamtsterblichkeit zwischen 1751 und 1800 lag in Gesamt-Schweden um 49% höher als in Stockholm. Zu Beginn des Betrachtungszeitraums ist der Unterschied auffallend. Während der Anteil der Pockensterblichkeit an der Gesamtsterblichkeit in Schweden während der 1760er Jahre im Vergleich zu Stockholm doppelt so hoch lag, glichen sich während der zweiten Hälfte der 1780er Jahre die Verhältnisse an, um daraufhin erneut auseinanderzustreben. Hier ist die Frage, ob diese Entwicklung durch Maßnahmen zur öffentlichen Gesundheitssicherung in Stockholm erklärt werden kann.

7

G. Utterström, Some population Problems in Pre-Industrial Sweden, in: The Scandinavian Economic History Review 2 (1954), S. 131-135. 8 Statistisk Arsbokfòr Stockholms stad âr 1904,37:1, Stockholm 1905, S. 28. 9 Collegium Medicum Record, 30 October 1747. Archiv der Medizinalbehörde, AIA:7 (157:2). National archiv. 10 S. R. Duncan / S. Scott / C. J. Duncan, Smallpox epidemics in cities in Britain, in: Journal of Interdisciplinary History 15 (1994), S. 255-271.

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