Götter und Mythen im alten Europa
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GÖTTER UND MYTHEN IM ALTEN EUROPA WÖRTERBUCH DER MYTHOLOGIE • BAND II

WÖRTERBUCH DER MYTHOLOGIE Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter

herausgegeben von

H.W. HAUSSIG

Erste Abteilung

DIE ALTEN KULTURVÖLKER

Band II

Götter und Mythen im Alten Europa

ERNST KLETT VERLAG STUTTGART

GÖTTER UND MYTHEN

IM ALTEN EUROPA Unter Mitarbeit von Jonas Balys, José Miguel de Barandiaran, Haralds Biezais

José-Maria Bläzquez, Michael de Ferdinandy

Lauri Honko, Maximilian Lambertz Raymond Lantier, Eduard Neumann, Norbert Reiter

Klaus-Henning Schroeder, Helmut Voigt, Werner Vycichl

herausgegeben von

HANS WILHELM HAUSSIG

ERNST KLETT VERLAG STUTTGART

Alle Rechte Vorbehalten Fotomechaniscbe Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages © Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1973 * Printed in Germany Druck: Wiesbadener Graphisohe Betriebe GmbH ISBN 3-12-909820-8 (Band 11) Dieser Band entbült die Lieferungen mit ISBN 3-12-909550-0 (5. Lief.) ISBN 3-12-909560-8 (6. Lief.) ISBN 3-12-909580-2 (7. Lief.) ISBN 3-12-909600-0 (9. Lief.) ISBN 3-12-909610-8 (10. Lief.)

VORWORT

Wenn in unserem Jahrhundert in breit angelegter Überschau ein sieben Bände umfassendes Werk veröffentlicht wird, das sich als Wörterbuch der Mythologie die Aufgabe gesetzt hat, die Mythen aller Kulturvölker aus einem Zeitraum von fast fünf Jahrtausenden enzyklopädisch darzustellen, soll damit nicht nur der engere Kreis religionswissenschaftlich Interessierter angesprochen werden. Die große Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, das Unternehmen Diderots und d’Alemberts, enthielt in der Form alphabetisch angeord­ neter Einzelartikel alles, was Philosophie, Wissenschaft und Technik jener Zeit an Ergebnissen und neuen Ideen aufzuweisen hatten. Mit dieser Zusammenschau des Wissens der Epoche bewirkte jenes Lexi­ kon eine neue Weltanschauung. Manche Artikel waren Sprengminen, bestimmt, den alten Bau des absolutistischen Staates, das Gehäuse einer privilegierten Gesellschaft, in Schutt und Asche zu legen. Diese Enzyklopädie, die in ihrer Absicht aufzuklären die Ratio an die Stelle des Glaubens setzen wollte, wurde von dem Optimismus einer noch jungen Naturwissenschaft getragen, die meinte, schon unmittelbar vor der Klärung der letzten Dinge mit dem Instrument des kritischen Geistes zu stehen. Auf den ersten Blick wird es ein wenig hoch gespannt erscheinen, das Wörterbuch der Mythologie mit der Enzyklopädie des 18. Jahr­ hunderts zu vergleichen. Aber so wie diese das Signum des aufgeklär­ ten Zeitalters trägt, mag das Wörterbuch das Zeichen einer neuen, freilich gegenläufigen Ära setzen: Wesen und Struktur der Welt und damit auch die Stellung des Menschen zu ihr werden nicht mehr „vernünftig“, rational gesehen; an die Stelle der Ratio tritt vielmehr wieder der Mythos; der Zusammenhang der Welt und die Position des Menschen in ihr werden jenseits rational-kausaler Erklärung wieder im mythischen Bewußtsein erfaßt. Für diese Rückbesinnung suchen die Artikel des Wörterbuchs die Mythen der Völker dem Dunkel des Vergessens zu entreißen. Was aber heißt es heute, Mythen wieder in die Erinnerung zurück­ zurufen? Nicht kann es sich um eine Wiederentdeckung handeln; denn fast alles, was in den einzelnen Artikeln des Wörterbuchs ent­ halten ist, wurde schon einmal an anderem Orte „veröffentlicht“. Das jedoch geschah vielfach, ja meistens, nur für einen engen Kreis von Eingeweihten und Fachgelehrten, in entlegenen oder esoterischen Publikationen, dazu nicht selten in den Sprachen kleiner Nationen, deren Kenntnis im größeren Raum der anderen Kulturvölker nicht gegeben ist. So ruhten bisher viele Mythen gewissermaßen als Mumien, deren Körper zwar erhalten, aber in Schreinen verschlossen und verV

borgen der Welt unbekannt geblieben sind. Diese Schreine also gilt es zu öffnen. Durch mythologische Aufschließung und Darstellung die Mythen selbst wieder sichtbar zu machen und im Rahmen einer großen Zusammenschau zur Wirkung zu bringen, ist Aufgabe und Ziel des Wörterbuchs. Wieweit diese Wirkung einmal reichen wird, läßt sich heute noch nicht absehen; sicherlich aber steht unser Unternehmen nicht isoliert, sondern fügt sich Bewegungen ein, die sich schon seit Jahrzehnten abzeichnen. Hat doch das 20. Jahrhundert mit den beiden Weltkrie­ gen und den großen Revolutionen, die sie begleiteten, ,,das große Chaos“ nicht nur gesehen, sondern auch erlitten. „Chaos und Nacht“ waren schon der alten griechischen Tragödie jener Urgrund, der eine neue Welt gebären sollte. Daß die Kosmogonie, die Geburt der Welt, auf die Nacht und das Chaos folgt, verkündete schon die älteste mythische Offenbarung der Griechen. Es mag paradox erscheinen, wenn in unserem 20. Jahrhundert, das wie kein früheres die Lösung der Welträtsel auf den Wegen der Naturwissenschaften, Mathematik und Technik zu finden hoffte, das Zeichen des Mythos wieder aufgerichtet werden soll. Aber die geistigen Strömungen nehmen andere Wege als den logisch-gradlinigen der Naturwissenschaften. Dichter und Künstler waren schon immer die frühen Künder eines neuen Weltbildes, auch wenn sie dabei kein lautes Echo in den Spalten der Tageszeitungen fanden. Wenn D. H. Lawrence den griechischen Pan in der Gestalt eines Waldhüters wieder auferstehen läßt und bei Henry Miller die phönikische Astarte in das Gewand unserer Zeit schlüpft, wenn Sartre in den „Fliegen“ Jupiter und Apollo beschwört, Thomas Mann Hermes als Hotelpagen Wiedererstehen läßt, wenn O’Neill die Orestie in ein Geschehen des 19. Jahrhunderts transferiert oder schließlich Freud und C. G. Jung den mythischen Bildern eine ganz neue Bedeutung zumessen — dann manifestiert sich darin, über das Spiel mit literarischen Formen und Gestalten hinaus, ein Zusammenhang, der auf eine neue geistige Bewegung hinweist. Vor dem Hintergrund dieser Strömung also steht das Wörterbuch als eine Enzyklopädie der Mythen. Sie will durch ihre Zusammenschau wieder die Straße zu den Mythen freilegen, und das nicht nur, um nach dem Chaos in der Welt, dem auch der Geist unterlag, die Ur­ sprünglichkeit der Frühzeit wiederzuerwecken, sondern um den Menschen seiner Wurzeln bewußt werden zu lassen, die eine alles gleichmachende Technisierung zu durchschneiden droht. Die Zerstö­ rung des Menschlichen, die selbst den Mythos nicht verschonte, hat seine Verteidiger auf den Plan gerufen; sie wehren der Bedrohung, indem sie die sichtbaren Denkmäler der eigenen Geschichte wiederzuVI

gewinnen suchen. So geschah es nach der Zerstörung der alten, ehr­ würdigen Städte, als man daran ging, aus den Trümmern des letzten Krieges das Zerstörte Stein für Stein zu bergen und neu zu fügen. Nicht zuletzt aus der so wiederbelebten Vergangenheit kam der Mut zur Selbstbehauptung gegen einen Strom von Vermassung und Uni­ formierung, der dem Sieg des technischen Zeitalters folgte. Auch Völker besitzen eine Individualität und wollen sie bewahren. Der Industrie und Technik aber fehlt dieses eigene Gesicht; ihre Normen und Leitformen sind an jeder Stelle der Welt zu Hause, sie lassen alles gleich werden, die Räume der Häuser wie die Stätten der Arbeit, körperliche wie geistige Nahrung. So droht der Sog einer allgegen­ wärtigen, nicht mehr aufzuhaltenden Normierung und Technisierung alles zu erfassen; was ihm folgt, gleicht einem Prozeß der Aushöhlung der Menschheit, der mit dem Verlust der Erinnerung den Untergang des Volkes als Individualität bewirkt. Aus diesem Blickwinkel gesehen, verheißt der Wiedergewinn jener verlorenen Mythen wie überhaupt jede Rückerinnerung an die Früh­ zeit der Geschichte Halt und Behauptung gegen diesen alles gleich­ machenden Strom der Gegenwart. Was damals die Menschen auf­ zeichneten über ihre Beziehungen zur Welt des Überirdischen, ist ebenso Teil der Geschichte wie die Registrierung von Ereignissen des Tages. Damals kannte die Religion noch keine Grenzen zwischen den Menschen und der Welt der Götter und überirdischen Wesen. Sie lebten noch in der Vorstellung einer Wirklichkeit, die auch das umfaßte, was sie in Gesichten und Träumen sahen. Für sie waren auch die Gesetze der Welt ebenso Geschenke der Götter wie die ewigen Wunder des Keimens, Fruchttragens und Vergehens oder die großen Katastro­ phen der Natur. Dem Wörterbuch ist es zur Aufgabe gesetzt, alle diese Dokumente eines heute verlorenen mythischen Bewußtseins vorzulegen und damit einen Beitrag zu einer Geschichte jener menschlichen Religiosität zu leisten, die dem Sieg der großen Religionen voranging. Den Worten der Einführung dürfen auch die des Dankes nicht fehlen. Dieser Dank gebührt dem Verlag und hier in erster Linie Herrn Dr. Ernst Klett. Ohne seine persönliche Bereitschaft, das volle Risiko eines solchen Vorhabens allein zu übernehmen, wäre die Ver­ wirklichung dieses Planes unmöglich gewesen. Berlin, im Dezember 1972

Der Herausgeber

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Aus dem Vorwort des Verlags zu Band I

Am bedeutungs- und eindruckvollsten präsentieren sich die Mythen dort, wo sie als Dichtung überliefert sind, sei es als Epos, sei es als Beschwörungsgebet oder gar als Hymne. Mythos ist auch oft als Handlungsablauf mit verschiedenen Personen gestaltet und bedarf deshalb im Grunde der Nacherzählung. Hier ist eine prinzipielle Ein­ schränkung zu machen. Ein Wörterbuch kann niemals darstellend und dichterisch nachschöpfend zugleich sein; es muß vielmehr den Stoff aufbereiten, d. h. notwendig die Zusammenhänge zerreißen und unter äußerlichen Gesichtspunkten ordnen. Auch wäre es bei zahl­ reichen Mythen, in denen noch kein oder nur ein recht bruchstückhafter Zusammenhang rekonstruiert werden kann, anmaßend ge­ wesen, aus erhaltenen Fragmenten einen Sinnzusammenhang zu rekonstruieren, der sich vielleicht durch neuere Funde als völlig ver­ fehlt erweisen würde. So schien es schon allein um der wissenschaft­ lichen Wahrhaftigkeit willen besser, das zuweilen spröde und für sich genommen wenig ergiebige Material in möglichst großer Objektivität vorzulegen und die beschreibende Deutung der vergleichenden Religionswissenschaft zu überlassen. Ferner ist das Mythologische Wörterbuch nicht etwa als eine Enzyklopädie unseres Gesamtwissens von den Religionen der verschie­ densten Völker anzusehen. Dies hätte schon rein äußerlich eine andere Form, nämlich die eines Lexikons mit durchgängig alphabetisch geordneten Stichwörtern aus allen erfaßten Bereichen bedingt. Davon wurde aber bewußt abgesehen und nach Form und Titel das weniger verbindliche „Wörterbuch“ gewählt. Hierin konnten ohne unbeding­ ten Vollständigkeitsanspruch Forschungsberichte aus den verschie­ denen Kulturkreisen vereinigt werden. So erklärt sich auch die Ver­ schiedenheit der Akzente, die von den jeweiligen Autoren gesetzt wurden: Bereiche, in denen bereits gut durchgearbeitete und den Stoff in hinreichender Ausführlichkeit bietende Handbücher vor­ liegen — wie etwa bei der Religion des alten Ägypten —, wurden auf relativ knappem Raum dargeboten; andererseits sind Gebiete, die bisher noch nirgends zusammenfassend dargestellt wurden — so etwa das vorislamische Arabien oder Tibet —, etwas ausführlicher behan­ delt worden, als es vielleicht ihrer Bedeutung für die allgemeine Religions- und Geistesgeschichte entspricht. Hier überwog das Be­ streben, wirklich Neuland zu erschließen und der weiteren Forschung auf diesem Gebiet das Material in möglichst umfassender Form an die Hand zu geben. Naturgemäß kann der Aufbau eines so umfassenden Werkes, wie es das Mythologische Wörterbuch ist, nicht allen Anforderungen VIII

gerecht werden. Jede der dabei beteiligten Disziplinen wird die Schwer­ punkte anders verteilt sehen wollen. Es erschien aber ratsam, die Ab­ schnitte nach den großen Kulturkreisen zu gliedern, die ja als solche nicht nur durch ihren jeweiligen historischen Werdegang, sondern insbesondere auch durch vielfältige und wechselseitige Übernahmen und Beeinflussungen der Mythen und ihrer Gestalten bestimmt sind. Ist also der Rahmen recht weit gespannt, so soll doch versucht wer­ den, auch der vergleichenden Mythenforschung und dem an Einzel­ fragen Interessierten zur Hand zu gehen. Die alphabetische. Anord­ nung der Stichwörter innerhalb der kleineren Abschnitte ist dazu ein Hilfsmittel. Ein weiteres soll das Register bilden, das sowohl die ein­ zelnen Bände als am Ende das gesamte Werk erschließen wird. Hier­ durch soll einem gewissen Mangel abgeholfen werden, daß es nämlich aus verschiedenen Gründen nicht möglich war, innerhalb des gesamten Werkes verwandte Erscheinungen durch Querverweise miteinander zu verbinden. Dies konnte nur jeweils innerhalb der verschiedenen Teile geschehen, will aber auch dort niemals in irgendeiner Form eine Ab­ hängigkeit bezeichnen, soweit es nicht ausdrücklich gesagt ist. Der Aufbau der einzelnen Beiträge folgt bewußt keinen starren Prinzipien, die sich auch bei der Vielzahl der Gebiete und dem unter­ schiedlichen Temperament der Mitarbeiter nur schwer hätten durch­ setzen lassen. Es wurde aber Wert darauf gelegt, daß die Verbindung des Mythos mit der Geschichte und dem Lebensraum des ihn tragenden Volkes einerseits, die mit der künstlerischen Gestaltung mythischer Motive andererseits nicht verlorenging. Deshalb ist jedem Beitrag ein kurzer Abriß der Profangeschichte des betreffenden Raumes — und sei es in Tabellenform — vorangestellt, der dem Leser eine Vor­ stellung von der Zeit und Umwelt vermitteln soll, in der sich die ent­ sprechenden Mythologeme entwickelten und in der sie lebendig waren. Die Karten sollen diese Einsicht vertiefen und wenigstens einige der wichtigsten gesicherten Kultorte verzeichnen; in einzelnen Fällen kommt den Karten allerdings die Bedeutung von Originalbeiträgen zu, weil sie erstmalig das geographische Material systematisch dar­ bieten, wie z. B. hinsichtlich der Heiligen Stätten des Hinduismus u. a. m. Die Abbildungen dagegen wollen einen Eindruck vermitteln von der Vorstellungskraft, mit der die uns nur schriftlich überlieferten Mythen ins Bild umgesetzt wurden und dadurch noch begreifbarer wurden, oder von den Zeichen, die als Symbole jeweils einen weiten Bereich mythischer Realität beschworen, deren Enträtselung uns jedoch noch große Schwierigkeiten bereitet; vielfach handelt es sich dabei um Erstveröffentlichungen von Originalaufnahmen, die — wie z. B. im ägyptischen oder im indischen Beitrag — von den Verfassern IX

selbst gemacht wurden, meist aber um besonders charakteristische und nur an entlegenem Orte zu findende Stücke. Die Literaturangaben konnten im Rahmen eines solchen, räumlich notwendig begrenzten Werkes nicht auf Vollständigkeit bedacht sein. Es wurde aber Wert darauf gelegt, daß zumindest die Originalquellen oder, wo zuverlässig, bewährte Übersetzungssammlungen heran­ gezogen wurden. Hier kann der Interessierte jederzeit weitere Litera­ tur bzw. Hinweise auf die Originaltexte finden. Dem gleichen Zweck dienen auch die kurzen bibliographischen Angaben zum Gesamtgebiet, die jedem Abschnitt vorangestellt sind. Auch hier ist Vollständigkeit nicht erstrebt worden, vielmehr wurde vor allem neuere Literatur berücksichtigt, um dem Fernerstehenden die Irrwege vergangener Jahrzehnte zu ersparen.

Das Abkürzungsverzeichnis (S. 3—20) bezieht sich nur auf die Bei­ träge bis Seite 454. Der albanischen und der berberischen Mythologie ist jeweils ein eigenes Verzeichnis der Abbreviaturen vorangestellt; die Abkürzungen der baskischen und die der althispanischen Mytho­ logie ergeben sich aus den vorangestellten Literaturverzeichnissen. Dem Benutzer des Wörterbuchs sei zu seinem eigenen Nutzen und Vorteil die genaue Lektüre der Vorbemerkung zum Sach- und Namen­ register (Seite 829 f.) empfohlen.

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort des Herausgebers.................................................................

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Vorwort des Verlags............................................................................ VIII Inhaltsverzeichnis.................................................................................. XI Zur Mythologie des Alten Europa von Hans Wilhelm Haussig......................................................... XV

Ahkürzungsverzeiehnis.....................................................................

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Germanische Mythologie von Eduard Neumann und Helmut Voigt................................... 21 Einleitung.................................................................................................... 23 Zur Umschrift und Aussprache.................................................................. 27 Allgemeine Literaturangaben..................................................................... 27 Karten............................................................................................................ 30 Stichwortteil................................................................................................ 32 Tafel I—II.................................................................................... nach 98

Keltische Mythologie von Raymond Lautier...................................................................... 99 A. Geschichtlicher Überblick.................................................................... 101 B. Literatur zur keltischen Mythologie.................................................... 104 C. Abbildungsverzeichnis........................................................................105 Karten...................................................................................................... 109 Stichwortteil...............................................................................................112 Die Quellen...............................................................................................125 Die Götter.................................................................................................. 132 Geographische Verbreitung der Götter.................................................... 140 Die Mythen.............................................................................................. 141 Heiligtümer.............................................................................................. 146 Feste..........................................................................................................151 Ikonographie.............................................................................................. 156 Fortleben.................................................................................................. 159 Tafel I—IV................................................................................ nach 162

Mythologie der Alten Slaven von Norbert Reiter....................................................................... 163 A. Geschichtlicher Überblick....................................................................165 B. Zur slavischen Mythologie....................................................................167 C. Zur slavischen Dämonologie................................................................ 169 D. Quellen.................................................................................................. 170 E. Allgemeine Literaturangaben................................................................ 171 F. Erklärung der Aussprache slavischer Laute..................................... 173 Karte.......................................................................................................... 174 Stichwortteil.............................................................................................. 175 XI

Die Mythologie der Ungarn von Michael de Ferdinandy.......................................................... 209 A. Zeittafel.................................................................................................. 211 B. Zur ungarischen Mythologie................................................................ 213 C. Allgemeine Literatur........................................................................... 213 D. Abbildungsverzeichnis....................................................................... 214 Karte......................................................................................................... 217 Stichwortteil.............................................................................................. 218 Tafel I—IV................................................................................ nach 260

Finnische Mythologie von Lauri Honko...........................................................................261 A. Siedlungsgeschichtlicher Überblick.................................................... 263 B. Materialien zur Finnischen Mythologie.............................................267 C. Wichtigste Quellenliteratur................................................................ 270 D. Abbildungsverzeichnis........................................................................ 272 Karten...................................................................................................... 273 Stichwortteil...............................................................................................275 Tafel I-IV................................................................................ nach 370

Baltische Mythologie von Jonas Balys und Haralds Biezais........................................ 373 A. Geschichtliche Vorbemerkung................................................. • ■ 375 B. Zu Religion und Mythos .................................................................... 377 C. Abbildungsverzeichnis........................................................................392 Karte.......................................................................................................... 393 Stichwortteil.............................................................................................. 394 Tafel I-II.................................................................................... nach 454

Die Mythologie der Albaner von Maximilian Lambertzf, bearbeitet von Klaus-Henning Schroeder............................... 455 A. Geschichtlicher Überblick.................................................................... 457 B. Zeittafel.................................................................................................. 460 C. Zur albanischen Mythologie................................................................ 461 D. Zur Sprache und Orthographie............................................................ 461 Karten........................................................................................ nach 462 E. Quellen.................................................................................................. 463 F. Allgemeine Literaturangaben............................................................... 463 G. Abkürzungen...................................................................................... 465 Stichwortteil.............................................................................................. 466

Die baskische Mythologie von José Miguel de Barandiardn.................................................. 511 A. Einleitung.............................................................................................. 513 B. Allgemeine Literaturangaben................................................................ 516 C. Abbildungsverzeichnis....................................................................... 517 Stichwortteil.............................................................................................. 518 Tafel I-VIII................................................................................ nach 552

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Die Mythologie der Berber von Wertier Vycichl.................................................................... 653 A. Vorbemerkung...................................................................................... 655 B. Zur Ethnologie und Geschichte............................................................ 558 C. Zur Mythologie...................................................................................... 582 D. Literaturverzeichnis........................................................................... 589 E. Abkürzungsverzeichnis der häufiger zitierten Literatur...................... 693 P. Zur Transkription...............................................................................594 G. Zur Karte über die Ausdehnung des berberischen Sprachgebiets in Nordafrika und im Sudan................................................................... 595 Verzeichnis der Abbildungen................................................................... 597 Karte......................................................................................................... 599 Stichwortteil.............................................................................................. 600 Addenda et Corrigenda........................................................................... 704 Tafel I-VI................................................................................ nach 704

Die Mythologie der Althispanier von José-Maria Blâzquez............................................................. 705 A. Zur Geschichte, Ethnologie und Religion Althispaniens.................. 707 B. Literaturverzeichnis............................................................................ 713 C. Verzeichnis der Abbildungen............................................................ 714 Karten...................................................................................................... 716 Stichwortteil.............................................................................................. 720 Tafel I-VIII................................................................................ nach 827

Sach- und Namenregister....................................................................829

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ZUR MYTHOLOGIE DES ALTEN EUROPA von Hans Wilhelm Haussig

Anders als in den Kulturen des Alten Orients öffnet bei den Völkern Alteuropas nicht die Schrift den Weg zurück in die Zeit der Ent­ stehung der Mythen, in jene Epoche, in der Mythos und Geschichte noch identisch waren. Zwar kennt die minoische Kultur auf europ. Boden (2. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr.) schon schriftliche Aufzeichnungen, aber sie enthalten, soweit sie entziffert wurden, keine Mythen. In ihnen begegnen uns Priester als die gehorsamen Buchhalter der Götter, die über die dargebrachten Opfergaben und Weihgeschenke Verzeichnisse führten. Von den Göttermythen jener Zeit ist nichts erhalten. Einzig die Mythe von Theseus und der Tötung des Minotauros im kretischen Labyrinth ragt von dort in die griechische Mythenwelt hinein. Erst die frühe griech. Zeit war die Epoche der Entstehung der ältesten uns als Ganzes erhaltenen europ. Mythen. Freilich liegt zwischen der Geburt dieser Mythen, deren Überlieferung sich an die Namen Homer und Hesiod knüpft, und ihrer Aufzeichnung fast ein halbes Jahrtausend. Doch bei anderen europ. Völkern ist die Spanne zwischen Entstehung und Aufzeichnung noch weit größer, man denke etwa an die Mythen der Finnen, wo der Akt des schriftlichen Fest­ haltens bis dahin mündlich tradierter Mythenüberlieferung erst im 19. Jh. abgeschlossen wurde. Hierin zeigt sich einer der Unterschiede zwischen der Mythologie des Alten Europa und der des Alten Orients. Ein zweiter betrifft die Träger der mythischen Überlieferung: Im Alten Orient sind die Mythen ein untrennbarer Bestandteil der alten großen Kulturen; anders im Alten Europa, wo es, von Griechen und Römern abgesehen, keine Kultur gibt, die sich mit den großen Kultu­ ren des Alten Orients nur entfernt vergleichen läßt — was man hier Kultur zu nennen hat, benutzt andere Ausdrucksformen. Für die Darstellung der Mythen ist die Form der Überlieferung von entscheidender Bedeutung. Bei der Mythologie des Alten Orients gestattet eine vielfach bis in das 4. Jt. v. Chr. hinabreichende schrift­ liche Überlieferung, die Entwicklung der Mythen in allen ihren Phasen zu verfolgen, während in Alteuropa sich dieser Prozeß im Dunkel der Schriftlosigkeit innerhalb der mündlichen Überlieferung vollzieht. Oft manifestiert sich hier die Existenz einer Mythe durch nicht viel mehr als einen Namen oder ein Bild. Niemand weiß, ob die Bilder an den Wänden der Höhle von Altamira Jagdmythen beschrieben, auch nicht, welche kelt. Mythen in der Val Camonica oder auf dem Kessel von Gundestrup dargestellt wurden (vgl. die Abbildungen im Abschnitt „Keltische Mythologie“). XV

Zur Mythologie des Alten Europa

Dieser anderen Form der Überlieferung hat auch die Methode ihrer wissenschaftlichen Erforschung und damit auch ihrer Darstellung zu folgen. Bei der griech. und röm. Mythologie war aus der schriftlich fixierten literarischen Überlieferung herauszuschälen, was einst an ihrem Beginn stand; die Erforschung der Mythen hat sich der Methode der Quellenkritik zu bedienen. Bei den anderen europ. Mythologien ergeben sich die Methoden der Erforschung und auch der Darstellung aus der außerordentlichen Verschiedenheit der Quellen. Unter diesem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Quellenlage lassen sich innerhalb der Mythologien Alteuropas fünf verschiedene Gruppen aussondern. Eine erste Gruppe umfaßt die Mythen der Finnen und Esten, der Letten, der Albaner und Basken. Für sie alle ist kennzeichnend, daß ihre Aufzeichnung sehr spät begonnen hat und erst im 20. Jh. ab­ geschlossen wurde. Ältere literarische Zeugnisse sind bei dieser Gruppe nur in sehr geringem Umfang vorhanden. Eine zweite Gruppe bilden die Mythologien der Slaven, Litauer, Altpreußen und Ungarn. Die von ihnen überlieferten Mythen werden zum größten Teil von Quellen des christl. MA.s aufgezeichnet. Diese Überlieferung wird, mit Ausnahme der Altpreußen, durch folkloristisches Material aus den letzten Jahrhunderten ergänzt. Eine dritte Gruppe umfaßt die Mythologien der Germanen und Kel­ ten. Die Überlieferung setzt sich hier aus Nachrichten antiker Schrift­ steller des Mittelmeerraumes, inschriftlichen und ikonographischen Zeugnissen und Aufzeichnungen des christl. MA.s zusammen. Hierbei kommt den christl. mittelalterlichen Quellen für die Überlieferung vollständiger Mythen die größte Bedeutung zu; erwähnt seien bei den Germanen die festländischen Aufzeichnungen wie die Weltunter­ gangsmythe, das Muspilli, und die skandinav. Literaturdenkmäler wie die Edda. Bei den Kelten enthalten die inselkelt. Denkmäler des MA.s wohl einen großen Teil dessen, was in der festländischen Über­ lieferung an alten Mythen untergegangen ist. Eine vierte Gruppe besteht allein aus den Mythen der althispan. Völker. Auch hier gibt es Nachrichten der antiken Autoren des Mittel­ meerraumes, die durch Berichte aus dem christl. MA und folkloristisches Material ergänzt werden. Die große Masse aber des für den Nachweis alter Mythen ausgewerteten Materials stammt aus In­ schriften und anderen durch Bodenfunde gewonnenen Überresten. In einer letzten fünften Kategorie sind nur die Berber vertreten. Auch bei ihnen handelt es sich um eine besonders gelagerte Mythen­ tradition. Wenn auch die Berber geographisch nicht zu Alteuropa gehören, muß ihre Mythologie wegen ihres inneren Zusammenhangs mit der Althispaniens im Rahmen der alteurop. Mythologien behan­ delt werden. Neben den Berichten antiker Autoren mußten hier die XVI

Zur Mythologie des Alten Europa

mittelalterliche islam. Überlieferung und die Folklore herangezogen werden. Hierzu kommt für die Kanarischen Inseln noch Quellenmate­ rial aus der spätmittelalterlichen Entdeckungsgeschichte. Diese sehr unterschiedlichen Formen der Überlieferung der alteurop. Mythen stellt die Darstellung vor andere Probleme, als sie für die Mythen der Kulturvölker des Alten Orients gegeben sind. Man hat hier in hohem Maße mit einer Veränderung der alten Mythen durch die Art der Überlieferung zu rechnen. Diese Möglichkeit der Veränderung ist schon bei den Berichten der antiken Autoren gege­ ben, die Interpretatio romana oder graeca der einheimischen Götter in literarischen oder inschriftlichen Quellen kann leicht zu Fehlinter­ pretationen führen. Ein weiteres Element der Störung der ursprüng­ lichen Überlieferung ergibt sich aus der Vermittlung der Berichte durch christl. und islam. Quellen, was häufig zu einer negativen Bewertung der ursprünglichen Mythen geführt hat. Schließlich darf auch für das folkloristische Material nicht darüber hinweggesehen werden, daß hier auch die Person der Sammler dieser Nachrichten eine Bolle spielt. Manche haben als Missionare nicht immer mit innerer Unbefangenheit dem Material, das sie aufzeichneten, gegenübergestan­ den. Auch der Nationalismus spielte für die Zuverlässigkeit dieser Art von Aufzeichnung oft eine unheilvolle Bolle. Trotz dieser bedeutenden, sich aus der anderen Quellenlage ergeben­ den Unterschiede zwischen den Mythologien Alteuropas und denen des Alten Orients verlangte die Systematik des Wörterbuchs auch für die ersteren die gleiche Darstellungsform wie die in Band I benutzte. Wie schon angedeutet, gibt es neben der andersartigen Form der Überlieferung noch einen weiteren Unterschied. Es betrifft die Ver­ bindung der Mythen mit großen, in sich geschlossenen Kulturen, wie sie im Alten Orient gegeben ist. Im Alten Europa fehlt, wenn man von den Griechen und Bömem absieht, diese Voraussetzung. Das Bild, das Tacitus in seiner „Germania“ von den Germanen zeich­ net, ist zwar an verschiedenen Stellen literarisch überformt, gibt aber doch im ganzen eine ziemlich deutliche Vorstellung von der Lebens­ form der german. Stämme. Das Fehlen einer politischen Einheit wird hier durch das gemeinsame verbindende Element der Beligion auf­ gewogen. Schon die von Tacitus überlieferte Kosmogonie in ihrer Verbindung mit der Entstehung der drei großen germ. Stammes­ gruppen weist auf das Bestehen eines gemeinsamen religiösen Bewußt­ seins. Ähnlich ist das Bild bei den Kelten, das Cäsar in seinem „Galli­ schen Krieg“ mit den Augen des röm. Feldherrn gezeichnet hat: auch hier einerseits eine politische Zersplitterung, andererseits eine verbindende Gemeinsamkeit in den religiösen Vorstellungen. Was aber die Berichte der antiken Autoren und die Inschriften aus röm. XVII

Zur Mythologie des Alten Europa

Zeit über die mythischen Anschauungen der beiden Völker nur an­ deuten, bringen, wenn auch christlich beeinflußt, in vollem Umfang die literarischen Aufzeichnungen des Mittelalters. Diese ausgeformten Mythen der inselkeltischen und nordgermanischen Überlieferung brauchen an innerem Gehalt und epischer Ausdruckskraft den Vergleich mit den altorientalischen Mythen nicht zu scheuen. Wir begegnen in Alteuropa einer anderen Art von Kultur. Der Mythos kann sich hier ohne jeden Zusammenhang mit äußerer politischer Machtfülle und dem Trugbild, das die Errungenschaften einer Zivili­ sation geben, entwickeln. Der Römer Tacitus hatte erkannt, welche gewaltige innere Kraft der Religion der Germanen innewohnte, und hat sie der römischen Zivilisation gegenübergestellt. So sind die Mythologien der Völker des Alten Europa zwar anders als die des Alten Orients, jedoch keineswegs von geringerer Bedeutung. Freilich gilt hier die Einschränkung, daß sich die Mythen der Kelten und Germanen zu denen der übrigen alteuropäischen Völker verhalten wie in den Mauern aufrecht stehengebliebene Gebäude zu solchen, die, ganz zerstört, erst mit dem Spaten in ihren Grundrissen wieder freigelegt werden müssen; aber auch hier gelingt es dem Kundigen, aus den Trümmern die einstige Größe zu ermessen, um dann den Versuch einer Rekonstruktion zu wagen. Die im Vorangegangenen einzeln aufgeführten Gruppen der Über­ lieferung der Mythen zeigen, mit welchen Mitteln hier der Weg der Rekonstruktion zu beschreiten war. Es kommt noch hinzu, daß die Völker des Alten Europa, bevor sie mit den Kulturen des Mittelmeerraumes in Berührung kamen, geschichtslos waren. Schriftliche Quellen gab es hier nicht. Die Funde des Bodens aber sprechen nicht. Zwar lassen sie sich mit Hilfe der häufig wiederkehrenden Typen bestimmter Funde zu Gruppen ordnen, die auf Völker einer gleichen Zivilisation hinweisen, aber niemand kann von hier aus die Brücke schlagen zu dem, was die spätere Überlieferung in diesem Raum an ältesten Volksnamen kennt. So steht es auch um die zeitliche Datierung der ältesten alteuropäischen Mythen nicht gut. Anders als im Alten Orient gibt es hier kaum An­ haltspunkte für ihre Datierung. Nur dort, wo gleichzeitig ikonographische Zeugnisse, Inschriften und die Erwähnung bei antiken Autoren des Mittelmeerraumes vorliegen, sind wenigstens Aussagen über ihr ältestes Vorkommen möglich. Älteste mythische Erinnerungen gibt es im Brauchtum der Basken, des einzigen lebenden vorindogermanischen Volkes auf europäischem Boden. Hier hat Monsignore Barandariän, selbst ein Sohn der baskischen Berge, die Mythen seines Volkes zu einer Darstellung der Mythologie der Basken zusammengefaßt. Die deutsche Übersetzung XVIII

Zur Mythologie des Alten Europa

seines für das Wörterbuch spanisch geschriebenen Beitrages hat damit zum ersten Mal einem weiteren Kreis von diesen außerhalb der Iberi­ schen Halbinsel noch unbekannt gebliebenen Mythen Kunde ge­ geben. Eng mit den Basken gehören die anderen althispanischen Völker zusammen. Auch bei ihnen gibt es in Gestalt der Iberer ein altes vorindogermanisches Volkselement, das allerdings später zum größten Teil von keltischen Einwanderern überschichtet wurde. Teile dieses Volkes haben sich noch bis in die Zeit der beginnenden griechischen Kolonisation gehalten, so daß über griechische Autoren wenigstens einige iberische Mythen erhalten blieben. Die außerordentlich starke Überschichtung verschiedener ethnischer Gruppen und die von den Kulturvölkern des Alten Orients (Phönizier und Karthager) und auch von den Griechen ausgehende Kolonisation, der später die römische Besetzung des größten Teils der Iberischen Halbinsel folgte, bedingten auch in der Überlieferung eine außer­ ordentliche Differenzierung. Daher war es als ein außerordentlicher Glücksfall zu bezeichnen, daß sich für das Wörterbuch einer der größten lebenden spanischen Archäologen, Bläzquez, zur Verfügung stellte. Als souveränem Kenner nicht nur der Bodenfunde auf der Iberischen Halbinsel, sondern auch der ihnen entsprechenden Analo­ gien an anderen Stellen des Mittelmeerraumes war es ihm möglich, mit Hilfe der Inschriften und der Nachrichten der antiken Autoren eine in dieser Form der großen Überschau einmalige Darstellung der Mythologie der althispanischen Völker zu schreiben und hierfür auch die christlichen Aufzeichnungen des Mittelalters und die spanische Folklore nutzbar zu machen. Auch dieser erst aus dem Spanischen übersetzte Beitrag erschließt eine außerhalb der Iberischen Halbinsel bisher unbekannte Mythenwelt. Die Mythen der Berber, die den gewaltigen Raum von der ägypti­ schen Grenze bis zu den Kanarischen Inseln umspannen, stehen in engem Zusammenhang zu den in der Althispanischen Mythologie fast ausschließlich nur als Substrat erhaltenen iberischen Mythen. Diese Mythologie erfüllt die Aufgabe, dieses vorindogermanische Substrat, das auf der Iberischen Halbinsel nur an einigen Stellen sicht­ bar ist, im Rahmen einer Darstellung der Mythologie der Berber deutlich zu machen und damit auch einen weiteren Beitrag zur Erkenntnis der vorindogermanischen Mythen des Alten Europa zu leisten. Für diese Aufgabe mußte aber ein Autor gefunden werden, der in der Feldforschung in Nordafrika tätig war und nicht nur das Arabische, in dem die islamischen Quellen geschrieben sind, sondern auch die Dialekte der Sprache der Berber, den einzigen Zugang zu ihrer Folklore, einer der wichtigsten Quellen für ihre Mythen, beherrschte. XIX

Zur Mythologie des Alten Europa

Das zu erreichen, gelang durch die Gewinnung von Vycichl für das Wörterbuch. Erst so wurde eine Darstellung der Mythologie der Berber möglich, die es bisher in dieser Form einer großen Überschau nicht gegeben hatte. In Europa, auf dem Wege weiter nach Osten, folgt mit den Kelten die erste große geschlossene indogermanische Mythologie. Hier lag die große Schwierigkeit der Darstellung in der Tatsache, daß die Über­ lieferung der Mythen in eine festländische-antike und inselkeltischechristliche gespalten war. Es galt daher vor allem auch mit Hilfe der Bodenfunde eine Brücke zu schlagen, um nicht nur den inneren Bruch in der Überlieferung für den Leser unsichtbar zu machen, sondern aus diesem heterologen Quellenmaterial das Bild der alten unver­ fälschten keltischen Mythologie zu projizieren. R. Lantier hat diese Aufgabe in dem ihm eigenen souveränen Altersstil glänzend gelöst. Als längjährigem Leiter der größten keltischen Altertumssammlung, die es auf der Welt gibt, in St. Germain en Laye, war es ihm möglich, was den meisten versagt bleibt, intuitiv die Sprache der Denkmäler zu verstehen und mit ihrer Hilfe aus den Berichten der antiken Autoren und den mittelalterlichen Aufzeichnungen ein geschlossenes Bild der verlorenen Urform des keltischen Mythenkreises zu gewinnen. Es darf aber nicht ungesagt bleiben, daß dieser französisch geschrie­ bene Beitrag mit den prägnanten und bis in die kleinste Einzelheit nuancierten Formulierungen für den nicht fachkundigen Übersetzer ein unübersteigbares Hindernis bildete. Hier hat erst die Hilfe des verstorbenen großen Indogermanisten J. Pokorny die vollständige, nichts übergehende Übertragung in das Deutsche möglich gemacht. Auf die Kelten folgen weiter nach Osten die Germanen. Die Form der Überlieferung ist bei ihnen fast die gleiche wie bei den Kelten. Hier aber wurde ein anderer Weg der Darstellung gesucht. E. Neu­ mann, einer der großen Kenner der nordischen Philologie, hat bewußt die christlich-nordgermanische Überlieferung in den Mittelpunkt seiner Darstellung gestellt. Hier glaubte der kritische Philologe aus seiner Ehrlichkeit gegenüber den Quellen, Grenzen ziehen zu müssen. Auf der Grundlage der nordgermanischen Überlieferung wurden daher unter Anlegung eines sehr strengen Maßstabes für die Abgren­ zung des Begriffs der Mythe die in den skandinavischen und isländi­ schen Schriftdenkmälern des Mittelalters erkennbaren Mythen dar­ gestellt. Bei den Völkern im Osten der Germanen, den Slaven, Altpreußen und Litauern, und bei den Ungarn in Südosteuropa zeigt die Quellenlage schon wesentlich andere Züge als bei den Germanen und Kelten. Die mittelalterlich-christliche Überlieferung vermittelt hier nicht ge­ schlossene Mythenkreise; was sie überliefert, sind im wesentlichen XX

Zur Mythologie des Alten Europa

nur die Namen der Götter, ihre Bedeutung und ihre Attribute. Das gilt in besonderem Maße für die Slaven und Altpreußen. Bei den Slaven kann diese Lücke mit Hilfe der Folklore und der Etymologisierung der überlieferten Göttemamen geschlossen werden. Dieses Verfahren erfordert neben einer souveränen Beherrschung des Sprachlichen aber auch eine objektive Kritik gegenüber den Zeugnissen aus dem Gebiet der Folklore; hier hatte der Nationalis­ mus des 19. Jahrhunderts manches verfälscht und hinzugefügt. Diese außerordentlich schwierige Aufgabe des Abwägens und Prüfens und damit die Darstellung einer objektiv alle Quellen kritisch aus­ schöpfenden Mythologie der Slawen übernahm N. Reiter, einer der letzten Schüler des großen Slawisten Max Vasmer. Er hat es verstan­ den, die eigentliche mythische Aussage wieder freizulegen und von jeder Verfälschung zu reinigen. Die drei baltischen Mythologien unterscheiden sich untereinander durch den Charakter ihrer Überlieferung. Für Litauer und Alt­ preußen gibt es mittelalterliche Aufzeichnungen. Bei den Litauern gehören hierzu auch die Berichte christlicher Gesandter am Hof der heidnischen litauischen Großfürsten, die eine ausgezeichnete Quelle für die damals lebendigen litauischen Mythen und das aus ihnen abge­ leitete religiöse Brauchtum darstellen. Anders ist es bei den Mythen der Letten. Hier beruht fast alles, was von den alten lettischen Mythen bekannt ist, auf mündlicher Tradition und folkloristischem Material; erst vom Ende des 18. Jh.s und aus dem 19. Jh. stammen die ersten, meist von protestantischen Geistlichen niedergeschriebenen Aufzeichnungen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß alle drei baltischen Mytholo­ gien sehr altertümliche Züge aufweisen, die sich vielleicht aus der Tatsache erklären, daß diese Völker, solange man von ihnen weiß, nie andere Wohnsitze besessen hatten als die, in denen sie noch heute wohnen, und das sind zwei Jahrtausende. Da sowohl Wanderungs­ bewegungen wie Überschichtungen durch andere ethnische Gruppen bei den baltischen Völkern kaum eine Rolle gespielt haben, enthalten ihre Mythen noch wichtige Analogien zu ähnlichen Erscheinungen bei Griechen und Römern und den Völkern des Alten Iran. Auch für diese Mythologien war bisher die Unkenntnis der Sprache ihrer Völker das größte Hindernis für ihr Bekanntwerden im übrigen Europa. So kommt der Arbeit der beiden Gelehrten, Balys und Biezais, die jeder für sein Volk die Darstellung der Mythen geleistet haben, für den Leser fast die Bedeutung einer Entdeckung zu. Hierbei darf auch nicht vergessen werden, daß es sehr fraglich ist, ob diese Völker jetzt, dreiunddreißig Jahre nach dem Verlust der politischen Freiheit, noch die Erinnerung an ihre alten Mythen besitzen, die diese beiden Gelehr­ XXI

Zur Mythologie des Alten Europa

ten fern ihrer Heimat aus den ihnen noch erreichbaren Aufzeichnun­ gen geben konnten. Bei den Ungarn beruht die Überlieferung für einen Teil der Mythen auf christlichen-mittelalterlichen Quellen. Die besondere Eigenheit der in ihnen erhaltenen Mythen zeigt sich zu einem guten Teil darin, daß sie sich auf die zur Zeit ihrer Aufzeichnung noch regierende Königsdynastie beziehen und den ebenfalls geschichtlichen hunni­ schen Khan Attila behandeln. Für die Überlieferung anderer ungari­ scher Mythen ist dagegen die Folklore von großer Bedeutung. Für die Darstellung dieses Teils der ungarischen Mythen besteht eine große Schwierigkeit darin, daß sie bei ihrer Aufzeichnung in der Zeit der Romantik und der nationalen Erneuerung mit der Absicht, so die alte, nicht mehr erhaltene ungarische Mythologie wiederherzustellen, verändert wurden. Für die Lösung dieser sehr subtilen Aufgabe, den alten Zustand der Mythen vor ihrer Aufzeichnung wiederherzustellen, konnte nur ein ungarischer Gelehrter in Frage kommen, der in der Lage war, sowohl die christlich-mittelalterliche wie die folkloristische Überlieferung zu einem geschlossenen Bild zusammenzufassen. Das Wörterbuch war hier in der glücklichen Lage, in Michael de Ferdinandy einen Mitarbeiter zu gewinnen, der nicht nur diese Aufgabe erfüllte, sondern auch in der Lage war, seine Darstellung in deutscher Sprache zu schreiben, so daß hier das Medium des Übersetzers nicht bemüht zu werden brauchte. Mit der Mythologie der Albaner kommt eine im Rahmen der bisher für die Mythen herangezogenen Quellen einmalige Form der Über­ lieferung in Gestalt der Märchen zu Wort. Sie bilden zusammen mit der Folklore das von M. Lambertz, dem Altmeister der Albanologie, fast ausschließlich für seine Darstellung der albanischen Mythologie ausgeschöpfte Material. Lambertz hat hier aus der vollendeten Be­ herrschung dieser Quellen, die eben nur in einem langen Forscherleben erreicht werden kann, die alten Mythen herausdestilliert und damit die Möglichkeit geschaffen, wenigstens in Umrissen etwas von der untergegangenen Mythenweit der Illyrer zu erahnen. Die Finnen, deren Mythologie als letzte in dieser Einführung zu Wort kommt, gehören zu den ältesten Völkern des Alten Europa. Tacitus beschreibt sie als ein Volk der Jäger und Sammler. Was er über ihre Zivilisation berichtet, bestätigen die Bodenfunde. Auch die von ihm erwähnte große Ausbreitung der Finnen, die sich fast über den ganzen nordrussischen Raum erstreckt, erweist sich als richtig, denn die Sprachwissenschaft führt einen großen Teil der nordrussi­ schen Gewässer- und Flurnamen auf alte finnische Bezeichnungen zurück. Der frühen Erwähnung des Volkes entspricht aber nicht das Alter der Aufzeichnung finnischer Mythen. Erst aus dem 16. Jahr­ XXII

Zur Mythologie des Alten Europa

hundert, einer Zeit, in der sich die Finnen anschickten, den Glauben der Reformation anzunehmen, stammt die erste Aufzeichnung finnischer Götter. Was von den finnischen Mythen erhalten ist, kommt fast ausschließlich aus der mündlichen Überlieferung und der mit ihr eng verbundenen Folklore. Die Sammlung und Sichtung dieses wegen seiner Fülle zunächst nicht überschaubaren Materials, das die finnischen Bauern in Walddörfern und Einödhöfen noch unverfälscht bewahrt hatten, war das Verdienst einer Reihe bedeutender finnischer Gelehrter, von denen hier nur M. Haavio genannt sei. Ihren Arbeiten folgend hat Lauri Honko auf Grund ihrer und seiner Forschungs­ ergebnisse eine umfassende Darstellung der Mythologie aller finni­ schen Stämme und Landschaften für das Wörterbuch gegeben. So eröffnet sein aus dem Finnischen übersetzter Beitrag dem Leser auch hier wieder das Tor in eine ihm sonst schon durch die Sprache unzu­ gängliche Welt europäischer Mythen. Gemessen an dem, was bei den Kulturvölkern des Alten Orients an Vergleichbarem erhalten ist, scheint das, was die Völker des Alten Europa an Mythen zu bieten haben, gering. Vieles bleibt nur frag­ mentarisch, und oft sind es nur Andeutungen, die auf alte, verlorene Mythen hinweisen. Entscheidend bleibt das Bild, das die Vielzahl der einzelnen Erscheinungen zusammen gesehen ergibt. Es ist hier wie bei einem in viele Stücke zersprungenen Relief, von dem nur ein kleiner Teil der Bruchstücke gerettet werden konnte. Von kundiger Hand geordnet, entsteht auch aus diesen Fragmenten ein, freilich nur unvollständiges, Bild. Dieses Bild spiegelt eine Welt der Mythen wider, die nicht durch die Prüfung von Generationen von Priestern gegangen ist und für lange Zeit nur das Zeugnis des mündlich weiter­ gegebenen Wortes besitzt.

XXIII

TEILII

DAS ALTE EUROPA

Abkürzungsverzeichnis

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AAA AASF



3

Abkürzungsverzeichnis

alt. Alv an. ANF angs. Anickov

Anon. AÖAW aoss. APAW

APF

APhS apoln. apr. ar. arab. Arany B Arany T aruss. Arv ARW aserb. aal.; AS1. AslPh AT atscbecb. atürk. AUL aung. av. bab. Balys F 4

Das alte Europa

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Das alte Europa

Balys LMS Balys LTS BCH Bdr Beow

Berze Nagy Bibi. éc. franç.

Biezais (1954) Biezais (1955) Biezais (1961) Bonfini Braune/Helm, Ahd.Leseb.

bret. Bretkünas

Brodowski

Brückner OG

Brückner B Brückner MP Brückner MSt Brückner SL

Brückner Thesen

Abbürzungsverzeichnis

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5

Abkürzungaverzelchnls

BSAW

Dag alte Europa

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Das alte Europa

Abkttrzungsverzelchnis

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7

Abkürzungsverzeichnis

Bas alte Europa

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8

Das alte Europa

Hdl Helm AR

Henneberger

Herzog, Heil. Ges. Hesperia

HHI HI Hieronymus von Prag HKar Hkr

Holder Hrb Hs(s) HSmm

Hubert

hun. Hym idg. IG IGA

IMM ind. ingl. Inscr. cret.

Ipolyi ir. iran. isl. ISLL

AbkUrznngsverzeichnis

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9

Abkürzungsverzeichnis

Das alte Europa

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Ivanov

10

Bas alte Europa

Krohn Sru ksl. KV KVHAH

KZ

lapp. lappon. lat. László Lawson

LE lett. LEW lit. ; Lit. liv. LKV Loth LS

Ls LSAM lyd. MAAL Machek

MAFL Magy.Ny.

mähr. maked. MAL

Malecki Mannhardt

Abkürzungsverzeichnis

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11

Abkttrzungsverzelchnls

Das alte Europa

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Das alte Europa

AbkUrzungsverzelchnls

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13

Abkttrzungsverzelchnls

ofinn. OGI

Das alte Europa

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Das alte Europa

Abkürzungsverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

Das alte Europa

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Schwabe

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Das alte Europa

sl. slk. slov. slovak. SMA Smits (1926) Smits (1930) smj. SnE SNF SO

Solymossy

sorb. Sru SS rer. Hung. SSRL

SS.R.Pr. ST

Abkürzungsverzeichnis

slavisoh. slovakisch. slovenisch. slovakisch. Suomen Muinaismuistoyhdistyksen Aikakauskirja. P. Smits, Latviesu mitologija (Lettische Mythologie) (Riga 1926). P. Schmidt, Die Mythologie der Letten, in : Die Letten (Riga 1930) 192-214. samojedisch. Snorra Edda, zitiert nach: Edda Snorra Sturlusonar, udg. ved Finnur Jönsson (Kobenhavn 1931). Studier i nordisk filologi (Helsingfors 1910ff.). Symbolae Osloenses, auspiciis Societatis Graeco-Latinae (Oslo). S. Solymossy, A magyar ôsi hitviläg, in: A magyarsâg néprajza, Kirâlyi Magyar Egyetemi Nyomda, 4 (Buda­ pest 1943). sorbisch. s. Krohn Sru. Scriptores rerum Hungaricarum, I/II, hrsg. von E. Szentpétery (Budapest 1937—1938). Scriptores rerum Livonicarum, 1—2 (Riga u. Leipzig 1853, 1848). Scriptores rerum Prussicarum, 1—5 (Leipzig 1861 bis 1874). Studia theologica, ed. Ordo theologorum Universitatis Latviensis (Rigae 1935—). P. Stengel, Opferbräuche der Griechen (Leipzig und Berlin 1910). P. Stengel, Die griech. Kultusaltertümer3 (Leipzig 1920), in: Handbuch der Altertumswissenschaft. K. Straubergs, Lettisk folktro om de döda (Stockholm 1949), in: Nordiska Museets Handlingar 32. Chronik des Matthias Stryjkowski (1582). Studi Baltici (Firenze). Studi e materiali di storia delle religioni.

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17

Abkürzungsverzeichnis

Sudauerbüchlein

SuomK sv. T

Thierry Thomas

J>rk Thule

Thuróczi TNTL

Tresp tschech. tscher. tschw. turan. türk. UA Jbh.

ugr. uig. ukr. ung.; Ung. Urbanczyk

urfinn. urfries. urg. um. ursl. urspr. Usener

Vámos 18

Das alte Europa

Warhafftige Beschreibung der Sudawen auff Samlandt, sambt jren Bockheyligen vnnd Ceremonien, von Hiero­ nymus Malecki alias Maletius (l.Aufl. um 1561/62). M. Haavio, Suomalaiset Kodinhaltiat (Porvoo 1942). svjatoj = „heilig“. Latviesu tautas ticejumi (Glaubensvorstellungen der Letten), 1—4. Sak. P. Smits (Riga 1941), in: MAFL A 1-4. A. Thierry, Attila mondäk (Pest 1864). H. Thomas, Die slawische und baltische Religion ver­ gleichend dargestellt, Diss. (Bonn 1934). prymskviöa (Thrymlied), Eddagedicht. (Sammlung) Thule. Altnordische Dichtung und Prosa (Jena und Düsseldorf) (zitiert nach Band und Seite). Iohannes Thuröczi, Chronica Hungarorum (Augsburg 1488). Tijdschrift voor nederlandsche taal- en letterkunde (Leiden 1881 ff.). A. Tresp, Die Fragmente der griechischen Kultschrift­ steller, in: RVV XV 1 (1914). tschechisch. tscheremissisch. tschuwassisch. turanisch. türkisch. Ural-Altaische Jahrbücher, hrsg. von Julius von Farkas u. Omeljan Pritsak (Wiesbaden). ugrisch. uigurisch. ukrainisch. ungarisch; Ungarn. St. Urbanczyk, Religia poganskich Slowian, in: Biblioteka Stud. Slow. Uniwersytetu Jagielonskiego, Serie B, 3 (Warszawa 1947). urfinnisch. urfriesisch. urgermanisch. urnordisch. urslavisch. ursprünglich. H. K. Usener, Götternamen3 (Bonn 1948), zitiert nach 2. Aufl. (Bonn 1929). F. Vamos, A kozmosz a magyar mesebcn (1943).

Das alte Europa

Varonen Vasmer Vendryes

VES Vm vorgerm. de Vries AR

Vsp Vspsk Wais

wal. weps. westgerm. WF Wienecke

Wilamowitz

Wide wog. wotj. WTUSS.

wsl.; Wsl. wung. ZDA ZE zem. ZFO

ZslPh.

2*

Abkürzungsverzeichnis

M. Varonen, Vaiajainpalvelus muinaisilla suomalaisilla (Helsinki 1898). s. EW. J. Vendryes, La Religion des Celtes (Sammlung Mana 113). s. Haavio VES. VafJ>rüönismäl (Vafthrudnirlied), Eddagedicht, vorgermanisch. J. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte2, I/II (Berlin 1956-57). Vplospä (Weissagung der Seherin), Eddagedicht. Vplospä in skamma (kurze Weissagung der Seherin), Eddagedicht. K. Wais, Frühe Epik Westeuropas und die Vor­ geschichte des Nibelungenliedes. Zeitschrift für roma­ nische Philologie, Beiheft 95 (Tübingen 1953). walisisch. wepsisch. westgermanisch. Westfälische Forschungen (Münster 1937ff.). E. Wienecke, Untersuchungen zur Religion der West­ slaven (Leipzig 1940), in: Forschungen zur Vor- und Frühgeschichte 1. U. von Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen, I/II (Bd. II hrsg. von Günther Klaffen­ bach) (Berlin 1931 — 1932; 3., durchgesehene Auflage, Basel und Stuttgart 1959). S. Wide, Lakonische Kulte (Leipzig 1893). wogulisch. wotjakisch. weißrussisch. westslavisch; Westslaven. westungarisch. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur (Leipzig 1841 ff., Wiesbaden 1948ff.). Zeitschrift für Ethnologie (Berlin). zemaitisch. Zeitschrift für Ortsnamenforschung (München/Berlin 1925ff.). Zeitschrift für slavische Philologie, begründet von M. Vasmer (Leipzig 1924 ff.).

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GERMANISCHE MYTHOLOGIE VON

EDUARD NEUMANN UND

HELMUT VOIGT

Einleitung

Jede Darstellung der germanischen Mythologie kann wegen der Lückenhaftigkeit und der räumlich wie zeitlich ungleichmäßigen Ver­ teilung der Quellen — wir wissen mehr über den Norden als über den Süden und Westen Germaniens — immer nur die Gesamtheit der mythischen Überlieferungen von Germanen innerhalb einer be­ stimmten Zeit und eines bestimmten Stammes erfassen, aber keines­ wegs das mythische Glaubensgut aller Germanen aller Zeiten. Schon in der Zeit um Christi Geburt, als die Germanen sprachlich und in ihrer Sachkultur noch kaum gespalten waren, muß überdies mit Stammesverschiedenheiten, Eigenheiten und Sonderformen bei den mythischen Vorstellungen gerade der großen Götter gerechnet werden. Selten nur erlauben die Quellen, einen Mythus als gemeingermanisch nachzuweisen, wenn auch vielfach die Möglichkeit bleibt, daß manches nur für einen beschränkten Raum und eine beschränkte Zeit Belegte zum gemeinsamen Grund germanischer Mythologie gehört haben mag, ohne daß dafür ein wissenschaftlicher Beweis erbracht werden könnte. Einzelheiten des mythischen Glaubensgutes der Germanen aus den Jahrhunderten zwischen der sogenannten Römerzeit und der Be­ kehrung verdanken wir klassischen Schriftstellern wie Caesar und Tacitus (Germania), dann den Lebensbeschreibungen der christlichen Missionare, der englischen Kirchengeschichte des Beda Venerabilis, der Gotengeschichte des Jordanes und Prokop, den Chroniken des Gregor von Tours und des Fredegar (für die Franken), der Origo gentis Langobardorum (für die Langobarden). „Ein befriedigendes Gesamtbild der westgermanischen Götterwelt zu geben, dafür reichen die Quellen nicht aus. Wer das griechische Pantheon oder selbst nur das nordische im Sinne hat, muß notwendigerweise enttäuscht sein von diesem Mosaik an oft unzusammenhängenden Einzelheiten und zahlreichen Lücken“ (Karl Helm AR II, 2, 214).

Sehr viel reicher fließt die mythologische Überlieferung im Norden Germaniens, besonders auch die einheimische in der Muttersprache. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß die Aufzeichnung erst im 12. Jahr­ hundert einsetzt und daß die Zeit zwischen dem Übergang von der 23

Einleitung

Germanen

mündlichen zur schriftlichen Tradition die Möglichkeit zur Aufnahme und Ausgestaltung mannigfacher fremder Einflüsse in sich birgt. Es besteht keine Klarheit über den Umfang der Adaption fremder Stoffe in der nordischen Mythologie. Die altisländischen Sagas, die sonst ein so realistisches, farbechtes Bild des isländischen Bauemlebens des Alltags aufzeichnen, sind ziemlich arm an mythologischem Gehalt. Ihre christlichen Aufzeichner (oder Verfasser f) scheinen sich mehr für das lebendige Brauchtum und für Spuk- und Zauberwesen interessiert zu haben als für die großen Göttergestalten.

Zahlreiche Mythen dagegen überliefern die Götterlieder der Edda (der Name Edda bedeutet wahrscheinlich „das Buch vom Hofe Oddi“, eigentlich die Bezeichnung für ein anderes Werk, nämlich Snorris Lehrbuch der Dichtkunst, s. u.). Die Edda, ungefähr um 1240 zusammengestellt, ist uns vor allem in dem Codex Regius 2365, 4° der Kopenhagener Königlichen Bibliothek erhalten, der um 1270 ab­ geschrieben sein wird. Die Götterlieder der Edda erzählen von den Schicksalen der Welt und der Götter von grauer Urvergangenheit bis in letzte Zukunft, von den Taten -> Thors, von -> Odins Abenteuern, von -> Preyrs Werben um die Liebe der schönen Riesentochter Gerd, von -* Balders Träumen und Tod. In Streitgediohten treten sich Thor und Odin gegenüber und prahlen gegenseitig mit ihren Taten, und -> Loki zankt sich in treffsicherer Schmährede als Eindringling beim Gastmahl der Götter mit allen Anwesenden. In andern Gedichten steht die Belehrung im Vordergrund, so in den „Reden des Hohen“, d. h. Odins, (Hävamäl), oder wie in den Grm: wenn Odin zwischen zwei Feuern sein Wissen kundgibt und dadurch sich selbst offenbart, wenn er in den Vm mit dem -> Riesen Vafthrudnir (wie Thor mit dem -> Zwerg Alvfss in den Alv) im Männervergleich sein Wissen mißt. (Die Eddalieder werden im folgenden mit den Abkürzungen der Neckelschen Edda-Ausgabe zitiert.)

Der bis ins frühe 9. Jahrh. zurückreichenden Skaldendichtung ver­ danken wir ebenfalls manche wichtigen mythologischen Belege, nicht nur in Strophen, in denen noch echt religiöses Gefühl mitschwingt, sondern vor allem auch in ihren „kenningar“ (sg. kenning f.), d. h. in den bildhaften, meist mehrgliedrigen substantivischen Umschreibun­ gen ihrer Hauptbegriffe, die vielfach auf mythologische Kenntnisse zurückgreifen. Der mythologische Quellenwert dieser „kenningar“ ist natürlich unvergleichlich höher in den Skaldendichtungen der vor­ christlichen Zeit als in denen der literarischen Spätzeit, wo sie, nach mehr als einem Jahrhundert des Verstummens nach der Bekehrung, in voller Blüte, nun aber mehr als pseudomythologisierendes Formspiel, wieder auftreten. Verständlich waren die Götterkenningar weithin nur 24

Germanen

Einleitung

dem, der die in ihnen substantivisch verdichteten, oft verrätselten Mythenzüge kannte. Darum hat sich Snorri Sturluson (1179—1241) bemüht, in seinem Lehrbuch der Skaldenkunst, genannt Snorra Edda (,, Snorris Edda “ )\ die für das Verständnis der Dichtungen und zur Ver­ wendung in Skaldenstrophen nötigen und brauchbaren mythologischen Erzählungen,welche die mythologische Grundlage der skaldischenBildsprache darstellen, übersichtlich zusammenzustellen und — vielfach in Anlehnung an bekannte Götterlieder der Edda — naohzuerzählen, nicht ohne hier und da an den (mündlich?) überlieferten Mythen (wie besonders in Skäldskaparmäl, dem zweiten Teil seiner „Edda“) selbständig und phantasievoll weiterzudichten. Noch einen Schritt weiter ging Snorri in seiner norwegischen Königsgeschichte, der Heimskringla, die er mit dem religionsgeschichtlichen Versuch be­ ginnt, euhemeristisch die Geschichte der angeblich aus Asien ein­ gewanderten -> Asengötter zu erzählen und sie, indem er Göttergeschiohte in Königsgeschichte umdeutet, in die Geschichte des nor­ wegischen Königshauses einmünden zu lassen, die das eigentliche Thema seines umfangreichen Werkes bildet. Interessant ist, daß fast gleichzeitig mit Snorri, aber nicht altisländisch wie dieser, sondern in lateinischer Sprache, Saxo Grammaticus in seinen „Gesta Dano­ rum“ (1200—1216) im Rahmen der ältesten Geschichte des Dänen­ volkes manche mythologische Überlieferung erzählt, in der er, wie Snorri, Göttergestalten zu Heldenkönigen umgeformt hat. (Vgl. -> Kelt. Epen; -* Finn. Einl.) So groß ist das Übergewicht der nordgermanischen Quellenzeugnisse, daß selbst Jacob Grimms „Deutsche Mythologie“ (1. Auf­ lage 1835), die bahnbrechende und trotz mancher zeitbedingter Mängel auch heute noch grundlegende Leistung der wissenschaft­ lichen Erforschung der germanischen Mythologie, die eigentlich das deutsche Heidentum „mit ausschließung des vollständigen Systems der nordischen mythologie selbst“ (Grimm DM I, 8) sammeln und dar­ stellen wollte, immer wieder auf die nordgermanischen Mythenbelege zurückgegriffen hat, nicht zuletzt auch, weil Grimm dadurch seine Überzeugung von der ursprünglichen Einheit der verschiedenen Mythologien aller deutschen Stämme stützen zu können glaubte. Mag 1 Der Name Edda ist ursprünglich für Snorri Sturlusons Lehrbuch verwendet worden. Der Codex Upsaliensis von Snorris Werk bezeugt dies mit den Worten: „Dieses Buch heißt Edda, Snorri Sturluson hat es zusammengesetzt.“ Der islän­ dische Bischof Brynjölfur Sveinsson (1605—1675) übertrug den Namen Edda auf die Liedersammlung des Codex Regius, dessen Eigentümer er 1643 wurde. Er folgte offenbar einer damals auf Island verbreiteten Meinung, daß Snorris Edda nur der Auszug eines größeren Werkes sei, und glaubte, die Vorlage im späteren.Codex Regius gefunden zu haben.

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Einleitung

Germanen

Jacob Grimm auch manchmal mit kühner Intuition, mit gewagter Etymologie geirrt haben, sein feiner Spürsinn hat im Schrifttum des klassischen Altertums und des deutschen Mittelalters überall die Wort- und Sachzeugnisse für die mythische Überlieferung der Ger­ manen aufgestöbert, gesammelt, geordnet und darüber hinaus viel neues Material erschlossen. Auf seinen Forschungen, deren Wert weniger von seinen Zeitgenossen als von den nachfolgenden Genera­ tionen erkannt wurde, haben die Gelehrten bei der Ergründung der germanischen Mythologie aufgebaut, wenn sie nicht, wie die naturmythologische Schule (Max Müller, Adalbert Kuhn), in alle Mythen den Sturm, das Gewitter, den Sonnenlauf hineindeuteten und gleich zu einer indogermanischen Urreligion vorzustoßen suchten. Solchem Hang zu leichtfertiger Gleichsetzung von Mythen, die räumlich, zeitlich und sachlich weit auseinanderliegen, hat der kritische Karl Müllenhoff energisch Einhalt geboten und auf klare Scheidung und saubere Unterscheidung der mythischen Überlieferung der ver­ schiedenen Stämme gedrängt.

In Skandinavien versuchte Sophus Bugge in seinen deutsch 1889 erschienenen „Studien über die Entstehung der nordischen Götter­ und Heldensagen“ (einseitig philologisch und zu wenig religions­ wissenschaftlich) eine Zurückführung der eddischen Mythologie auf christliches Vorstellungsgut und spätantike Erzählungen, nicht ohne heftigen Widerspruch von Karl Müllenhoff und Finnur Jönsson; seine heute fast allgemein abgelehnten Anschauungen haben aber doch anregend auf die Forschung gewirkt. Mit großer Besonnenheit hat besonders Axel Olrik die Buggeschen Thesen vom Ungermanischen in der altnordischen Mythologie aufgegriffen und in seinen RagnarökStudien (1902—1913) Germanisches und Christliches, Keltisches und Kaukasisches in den Weltuntergangsmythen zu scheiden gesucht. Eine neue Wendung gab Vilhelm Gronbech der mythologischen For­ schung: er stellt die Haltung des Menschen zum Mythus und zu den Göttern in das Blickzentrum und schafft aus einer Fülle verstreuter Einzelzeugnisse ein (wohl zu) einheitliches Bild germanischer Fröm­ migkeit. Nachdem die ältere Forschung in den großen zusammenfassenden Darstellungen von Eugen Mogk (1891,1900), Wolfgang Golther(1895), Elard Hugo Meyer (1891), Paul Herrmann (1898, 1906) u. a. zum Abschluß gekommen war, begann mit Karl Helms „Altgermanischer Religionsgeschichte“ (1913—1953) eine neue Periode der mytholo­ gischen Forschung: der Vorwärtsschritt zur Religionsgeschichte. Helm wagt in entwicklungsgeschichtlicher Darstellung das Zustande­ kommen des historischen Bildes der germanischen Religion „durch

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Germanen

Einleitung

Schichtung und Mischung, aus Überlagerung religionspsychologisch deutlich zu scheidender, relativ chronologisch und in seltenen Fällen auch absolut chronologisch genau festzulegender Schichten“ nachzu­ zeichnen (AR II, 2,13). Jan de Vries gelang in seiner „Altgermanischen Religionsgeschichte“ (1935—1937), besonders in der 2. Auflage (1956/57), eine Vereinigung von Religionsgeschichte und Religions­ phänomenologie. Es versteht sich von selbst, daß die vorliegende Darstellung nur eine Auswahl des Wichtigsten geben kann. Sie will interessierte Leser einführen und zum Studium der großen Gesamtdarstellungen anregen. Überall war eine Begrenzung auf den engeren Begriff Mythologie notwendig1. Daher ist der Kultus im allgemeinen nicht berücksichtigt; theophore Ortsnamenbelege sind nur gelegentlich erwähnt. Bei der Auswahl von spezieller Literatur (in der zeitlichen Reihenfolge ihres Erscheinens) zu den jeweiligen Artikeln wird das Prinzip verfolgt, den Weg weiterer, eingehenderer Orientierung vorzubereiten. Grund­ sätzlich muß auf die Darstellungen von Helm und de Vries verwiesen werden; sie sind nur bei wenigen Artikeln ausdrücklich zitiert. Zur Umschrift und Aussprache

Die Lemmata der mythologischen Namen erscheinen in deutscher Umschrift, Wo nötig, ist daneben die altisländische Namensform angegeben. Im Kontext wird genauso verfahren. Erläuterung der germanisch-nordischen Sonderlaute: p ist gleich engl, th in thing, 8 die stimmhafte Entsprechung (engl. that). Alt­ isländisch r> meint einen ursprünglich sehr offenen o-Laut, der später zu ö geworden ist; 0 ist gleich ö, se gleich ä. Skandinavisch ä ist ein sehr offenes 0. Ein * vor einer Wortform bedeutet: nicht belegt, sondern erschlossen. Allgemeine Literaturangaben

a) Zum gegenwärtigen Forschungsstand. Jan de Vries, Der heutige Stand der germanischen Religionsforschung, in: GRM33 (1951/52), 1—11; Karl Helm, Mythologie auf alten und neuen Wegen, in: PBB (Tübingen) 77 (1955), 333-365.

b) Hauptquellen. Carl Clemen, Fontes historiae religionis Germanicae (Berlin 1928); Franz Rolf Schröder, Die Germanen (Tübingen 1 Die germanische Altertumskunde trennt germanische Mythologie von germanischer Heldensage. (Anmerk. ds. Hrsgbs.)

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Einleitung

Germanen

1929) (Religionsgeschichtliches Lesebuch, hrsg. von Alfred Bertholet, 2. Aufl. 12); ders., Quellenbuch zur germanischen Religionsgeschichte (Berlin-Leipzig 1933); Walter Baetke, Die Religion der Germanen in Quellenzeugnissen, 2. Aufl. (Frankfurt 1938); Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern, hrsg. von Gustav Neckel; I, Text (Heidelberg 1914; 2. Aufl. 1927; 3. Aufl. 1936l); Völuspä. Volvens spadom, udg. og tolket af Siguröur Nordal (Kobenhavn 1927); Edda Snorra Sturlusonar, udg. ved Finnur Jönsson (Kobenhavn 1931); Den norsk-islandske Skjaldedigtning, udg. ved Finnur Jönsson, I—IV (Al. Bl. A2. B2.) (Kobenhavn 1912—1915); Saxo Grammaticus, Gesta Danorum, tom. I, textum oontinens, edd. J. Olrik/H. Rseder (Kopenhagen 1931). c) Übersetzungen der Lieder-Edda und der Edda Snorris. Edda. Erster Band: Heldendichtung, übertragen von Felix Genzmer (Jena 1912 u. ö.) (Thule I); Edda. Zweiter Band: Götterdichtung und Spruch­ dichtung, übertragen von Felix Genzmer (Jena 1920 u. ö.) (Thule H); Die jüngere Edda, übertragen von Gustav Neckel und Felix Niedner (Jena 1925 u. ö.) (Thule XX).

d) Darstellungen. Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, 4. Aufl. be­ sorgt von Elard Hugo Meyer, I—III (Berlin 1875—1878; unveränder­ ter Nachdruck Basel 1953); Elard Hugo Meyer, Germanische Mytho­ logie (Berlin 1891); ders., Mythologie der Germanen (Berlin 1903); Eugen Mogk, Mythologie, in: Grundriß der germanischen Philologie, hrsg. von Hermann Paul, I (Straßburg 1891), 982—1138; 2. Aufl. III (1900), 230—406; Wolfgang Golther, Handbuch der germanischen Mythologie (Leipzig 1895); Paul Herrmann, Deutsche Mythologie in gemeinverständlicher Darstellung (Leipzig 1898; 2. Aufl. 1906); Karl Helm, Altgermanische Religionsgeschichte, I; II1; II2 (Heidelberg 1913—1953); Vilhelm Grönbech, Die Germanen, in: Lehrbuch der Religionsgeschichte, begründet von Pierre Daniel Chantepie de la Saussaye, 4. Aufl., II (Tübingen 1925), 540—600; Hermann Schnei­ der, Die Götter der Germanen (Tübingen 1938); ders., Glauben, in: Germanische Altertumskunde, hrsg. von Hermann Schneider (Mün­ chen 1938; verb. Nachdr. 1951), 222—305; Religionshistorie, utg. av Nils Lid (Stockholm-Oslo-Kobenhavn 1942) (Nordisk kultur 26); Jan de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte 2. Aufl. I—II (Berlin 1956/57); Werner Betz, Die altgermanische Religion, in: Deutsche Philologie im Aufriß, hrsg. von Wolfgang Stammler, III (Berlin 1957) 2467-2556, 2. Aufl. (Berlin 1962) 1547-1646; Wilhelm Grönbech, 1 Eine Neubearbeitung durch Hans Kuhn erschien inzwischen 1962 als „dritte Auflage“ und wurde nachträglich zur vierten Auflage erklärt.

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Germanen

Einleitung

Kultur und Religion der Germanen, 5. Aufl. I—II (Darmstadt 1954) (Übertragung der erweiterten englischen Passung des dänischen Ori­ ginals: Vilhelm Gronbech, Vor Polkeset i Oldtiden, I—IV, Kabenhavn 1909—1912). e) Lexika1. Reallexikon der germanischen Altertumskunde, hrsg. von Johannes Hoops, I—IV (Straßburg 1911 — 1919); Reallexikon der Vorgeschichte, hrsg. von Max Ebert, I—XV (Berlin 1924—1932); Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli, I—X (Leipzig-Berlin 1927—1942); Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder, Iff. (bisher erschienen I—VII) (Kobenhavn 1956 ff.). 1 Es wird vor allem auf die einschlägigen Artikel des Kulturhistorisk leksikon verwiesen. Die Artikel zur germanischen Mythologie von Mogk bei Hoops sind weitgehend veraltet. Das Ebertsche Reallexikon wird hier wegen des Artikels „Eelszeichnungen“ aufgeführt.

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Ortsnamen, die auf einen Odinskult hinweisen. Die Natumamen enthalten die folgenden Wörter: 1. ey, 2. berg, 3. haugr, 4. bilde, 5. viÖr, 6. eiki, 1. sser 8. fors, 9. bekkr. Nach: J. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte2 II, 53.

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Germanen

Einleitung

Ortsnamen, die den Namen einer Wanengottheit enthalten. © Kultname mit NjQrör, @ Kultname mit Freyr Q Kultname mit Freyja Natumame mit Njprör Natumame mit Freyr Natumame mit Freyja Nach: J. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte2 II, 201.

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Aegir

Germanen

Aegir (aisl. jßgir), nordischer Meerriese, trägt auch die Namen Gymir und Hlör (Ls, SnE), Gatte der -> Rän (SnE). A. bewirtet die Götter: ein Gelage bei A. ist Erzählrahmen sowohl der Hym (Neckel, 85ff., übers. Thule II, 17ff.) wie der Ls (Neckel, 93ff., übers. Thule II, 51 ff.). Der Rahmen der Skäldskaparmäl der SnE (78ff., übers. Thule XX, 117ff.) ist umgekehrt: A. weilt bei den -> Äsen zu Gast und hört durch -> Bragi von den Taten der Äsen. Die Goidkenning „A.s Feuer“ erklärt Snorri (SnE, 121, übers. Thule XX, 177f.) mythologisch: beim Gastmahl für die Äsen habe A. Leuchtgold in die Halle tragen lassen, so daß sie wie von einem Feuer erhellt worden sei. -> Loki 1. -> Kelt. Meergottheiten -+ Lett. Jtqas mäte.

Grieeh. Göttermahl.

Alben -> Elben.

Alfheim —> Freyr. Allvater -> Odin 1.

Alvaldi -> Thjazi.

Alviss -> Thor.

Andhrimnir -> Einherier. Andvari -> Loki 1. Angrboda -> Fenrir; Hel; Loki; Midgardsohlange. Anthropogonie. Im westgerm. Bereich liefern die von Tacitus (Germ, cap. II) erwähnten carmina antiqua, wonach sich von Mannus, dem Sohn des erdgeborenen Tuisto („Zwitter“), die Stämme der Ingaevones, Herminones und Istaevones herleiten, die einzige umfassen­ dere heidnische Vorstellung vom Ursprung der Menschen (-> Stam­ mesmythen). Christlichen Ursprungs ist die Anschauung, daß Gott den ersten Menschen aus verschiedenen Teilen der kosmischen Materie geschaffen habe (afries. Erzählung von Adams Erschaffung bei K. v. Richthofen, Friesische Rechtsquellen, 1840 [Neudr. 1960], 211; Ezzolied B [Fassung der Vorauer Hs], Zusatzstr. 3, Braune/ Helm, Ahd. Leseb., Nr. 43; vgl. ferner Grimm DM 1,468ff.; III, 161). Im Norden gibt die SnE (12ff., übers. Thule XX, 52ff.) den Ge­ samtbericht einer Anthropogonie in drei Stufen: Entstehung der Reifriesen (-> Riesen), der Götter und der Menschen. Die ursprüng­ lich vermutlich selbständigen Vorstellungen vom Urriesen und von der lebenspendenden Kuh sind darin verbunden. Aus schmelzendem Giftreif entstehen der Urriese -> Ymir in Menschengestalt und die

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Germanen

Asen

Kuh (->kelt. Damena) Audhumla (aisl. Auöumla), die ihn ernährt. Aus den salzigen Reifsteinen, die die Kuh beleckt, kommt der erste Mensch und Stammvater der Götter, Buri, zum Vorschein. Seine Sohnessöhne -> Odin, -> Vili und V6 finden am Meeresstrand zwei Baumstämme (—> Finn. Anthropogonie 3), aus denen sie den Mann Askr und die Frau Bmbla gestalten und ihnen Leben, Ver­ stand und die menschlichen Sinne geben. In Vsp 17f. (Neckel, 4L, übers. Simrock/Kuhn, 17) tun dies Odin, -> Hönir und -> Lodur, die Askr und Embla nichtsvermögend und schicksalslos antreffen. Askr ist sicher Baumname („Esche“); die Etym. von Embla ist umstritten (dazu Nordal, Völuspä, 44L, und de Vries AR II, 371 f. mit Literatur). Mit der Entstehung aus Holz stimmt der Mythus von Lif und Lifthrasir (aisl. Llf, Llfprasir} überein, die im Gehölz (i holti) Hoddmimir den -> Weltuntergang überdauern und Ahnen eines neuen Menschengeschlechts werden (Vm 44 f.: Neckel, 51, übers. Thule II, 91 f.; SnE, 76, übers. Thule XX, 115). Auf tierische Ahnen berufen sich nur einzelne Familiensagen (-> Stammesmythen). Nicht zur Anthropogonie gehört die Lehre von der Abstammung der Stände der Knechte, der Freien und der Herren in RJ> (Neckel, 276ff., übers. Thule II, 112ff.). Ein be­ sonderes Kapitel ist die Schöpfung der -> Zwerge. K. Helm, Weltwerden und Weltvergehen in altgermaniseher Sage, Dichtung und Religion. HBV 38 (1940), 1—35 mit weiterer Literatur.

Äsen (aisl. ass m. sg., pl. sesir), Name des nordgerm. Göttergeschlechts aus der Spätzeit des Heidentums, an dessen Spitze -> Odin steht. Der Name A. (sg. um. *ansuR) wird etym. mit germ. *ansu-, „Balken“, oder der Sippe, zu der lat. anima gehört, verbunden (Literatur bei de Vries AR II, 9; vgl. K. Helm AR I, 225ff.). Als Zusammensetzungsglied in PN ist der Name A. gemeingerm. Jordanes (De origine actibusque Getarum XIII, 78) berichtet von den proceres der Goten, die diese „non puros homines, sed semideos, id est Ansis, vocaverunt“. (Zur Deutung K. Helm AR II, 1, 32ff.) Im Futhark heißt die a-Rune F ass. Die germ. Religionsgeschichte betrachtet die A. als die jüngere, kriegerische Göttergruppe gegenüber der älteren, einer Ackerbau­ kultur zugehörigen der -> Vanen. Der religiöse Gegensatz beider Gruppen ist im nordgerm. Raum bis zum Ende des Heidentums bewußt geblieben, auch wenn die späte mythologische Systematik die Grenze dadurch verwischt hat, daß sie die vanischen Gottheiten ->Njörd, ->Freyr und —>Freyja den A. zurechnet. Die nordgerm. Mythologie ist eine asische Mythologie; der Name A. wird vers

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Asgard

Germanen

allgemeinert für die Götter überhaupt; der Kreis der zu den A. zählenden Gottheiten ist nicht fest: erst in den späten Katalogen hat bei variierenden Listen der Zugehörigkeit die Zwölfzahl Be­ deutung. Das Auftreten von Vanen in der A.familie ist zudem eine Folge des Mythus vom A.-Vanen-Krieg. In ihm hat sich wohl die geschichtliche Auseinandersetzung zweier durch die Götterfamilien bezeichneter Religionen und ihr Ausgleich in kultischer und mythi­ scher Geltung niedergeschlagen. Nach der Ynglingasaga (Kap. 4: Hkr I, 12f., übers. Thule XIV, 29) greift ->Odin die Vanen an. Da im Kampf keine Entscheidung fällt, wird ein Friedensvertrag geschlossen. Beide Seiten stellen Geiseln: die Vanen Njörd, Freyr und —>Kvasir, die A. —>Hoenir und —>Mimir. Von Freyja lernen die A. den vanischen Zauber (->seiör) kennen; die vanische Ge­ schwisterehe Njörds lassen die A. nicht bei sich gelten. In der SnE (82, übers. Thule XX, 120) ist der A.-Vanen-Krieg als Einleitung zur Erzählung von der Erwerbung des -> Skaldenmets nur eben erwähnt. In der Edda wird Vsp 21 ff. (Neckel, 6f., übers. Thule II, 36f.) auf den A.-Vanen-Krieg zu beziehen sein: die «eiür-kundige Gullveig kommt (offenbar von den Vanen) zu den A. Die A. stoßen sie mit Geren und versuchen dreimal vergeblich, sie zu verbrennen. Dadurch wird der erste Krieg in der Welt entfacht und zwischen A. und Vanen ausgetragen; die betreffende Partie der Vsp ist nicht sicher erklärt. Sitz der A. ist -> Asgard. Sterblich zwar, halten die A. sich jung, solange sie -> Iduns Äpfel essen.

Die Volksetymologie hat den A. Asien als Urheimat zugeschrieben (Ynglingasaga, Kap. 2). Über Snorris Auffassung der A. -> Ein­ leitung. K. A. Eckhardt, Der Wanenkrieg (1940); E. A. Philippson, Die Genealogie der Götter in germanischer Religion, Mythologie und Theologie (1953) (ISLL 37, 3). -> Kelt. Götterfamilien; Mythische Kriege. -»• Griech. Götterkriege.

Asen-Vanen-Krieg -> Äsen.

Asgard (aisl. AsgarÖr m.), die Burg der -> Äsen. In der Edda ist A. nur in den Thorsgedichten Hym und |>rk erwähnt. Nach der SnE (16, übers. Thule XX, 57) haben die Götter im Anfang A. mitten in der Welt gebaut. Die Ynglingasaga (Kap. 2: Hkr I, 10 f., übers. Thule XIV, 28) nennt A. die Hauptburg im alten Asenlande öst­ lich des Don, wo die Äsen früher ansässig gewesen seien. Eine späte Vorstellung macht den Himmel zum Ort der Götter und verlegt

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Germanen

Balder

auch A. dorthin, ausgestattet mit einer Reihe von -> Götter­ wohnungen und besonderen Götterplätzen (-> Kosmologie). Askr -> Anthropogonie; Yggdrasill.

Audhumla (aisl. Auöumla) -> Anthropogonie. Aurgelmir -> Ymir. Aurvandill. Im Anschluß an den Mythus von -> Hrungnir berichtet die SnE (104, übers. Thule XX, 147f.), wie -> Thor der vplva (Sehe­ rin) Gröa (->Mantik) begegnet, die durch ihre Zauberlieder den Schleifstein in Thors Schädel lockert. Zum Dank sagt Thor ihr, daß ihr Gatte A. bald heimkehren werde; er habe ihn in einem Korb auf dem Rücken aus -> Riesenheim getragen; A.s eine Zehe habe herausgeragt, sei erfroren, von ihm, Thor, abgebrochen und als Stern an den Himmel geworfen worden. A. scheint eine alte, nicht nur im nordgerm. Bereich bekannte Sagengestalt gewesen zu sein. Darauf deuten Namenformen wie langobardisch Auriwanddlo, mhd. Orendel (Held eines Spielmannsepos), bei Saxo Horvendillus, als Appellativum ae. Zarendet, „Glanz“, „Morgenstern“. Der mythi­ sche Sinnbezug ist dunkel. -> Sternsagen.

Austri -> Kosmologie. Bäume -> Anthropogonie; Heimdall; Schicksal.

Balder (aisl. Baldr, etym. unklar), nordgerm. Gott, Ase (->Asen), Sohn -> Odins (Vsp, Bdr, Hdl, SnE) und der -> Frigg (Ls, SnE), Bruder -> Hermods, Gatte der Nanna, beider Sohn ist -> Forseti (SnE). Grm 12 (Neckel, 57, übers. Thule II, 81) nennen B.s Woh­ nung Breiöablik („weite Aussicht“). Die SnE (29f., übers. Thule XX, 71) charakterisiert B. als den Besten, Beliebtesten, Schönsten, glänzend von Aussehen, und bringt den skand. Namen für die Hundskamille, „die weißeste aller Pflanzen“, baldersbrä, mit B.s Wimpern (aisl. brär pl.) in Verbindung. Außerdem berichtet die SnE, es sei B. eigen, daß keiner seiner Urteilssprüche Bestand behält.

1. Quellen und Inhalt des B.-Mythus. Der B.-Mythus, nach der SnE (63—68, übers. Thule XX, 103—108) wiedergegeben, erzählt von Träumen B.s, die ihm Gefahr ankündigen. Diese Träume ver­ anlassen in Bdr -> Odin zu einem Ritt zu —> Hel, wo er sich von einer toten Seherin B.s Geschick verkünden läßt. Auf Beschluß der Äsen läßt sich Frigg von allen Dingen und Lebewesen schwören, 3*

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Balder

Germanen

daß sie B. nichts anhaben werden. Daraufhin wird es zum Spiel der Äsen, auf B. zu schießen oder nach ihm zu werfen. —> Loki miß­ fällt das. In Gestalt einer alten Frau erfährt er von Frigg, daß sie lediglich vom Mistelzweig keinen Eid gefordert habe. Loki nimmt, den Mistelzweig und läßt den blinden ->Höd nach seiner An­ weisung damit auf B. schießen. B. fällt tot zur Erde. Die Äsen sind ratlos und üben zunächst, da sie sich an einer Friedensstätte be­ finden (-> Friede), nicht Rache, sondern schicken Hermod mit dem Angebot eines Lösegeldes zu Hel. Die Äsen schaffen B.s Leichnam auf sein Schiff Hringhomi zur Bestattung. Nanna stirbt vor Schmerz und wird mit B. verbrannt. Auch Odins Ring Draupnir und B.s Pferd kommen mit auf den Scheiterhaufen. Hermod überbringt von Hel die Bedingung, alle Dinge und Lebewesen der Welt müßten B. beweinen, wenn er heimkehren solle. Aber eine Riesin namens Thökk, in die Loki sich verwandelt zu haben scheint, weigert sich, das zu tun. B. muß bei Hel bleiben. Die Edda (Vsp, Vm, Bdr, Hdl, Ls) ergänzt diesen Bericht u. a. mit Mitteilungen über die Rache an Höd (Vsp 32f.: Neckel, 8, übers. Simrock/Kuhn, 20; Bdr 11: Neckel, 275, übers. Thule II, 26; Hdl 29: Neckel, 289, übers. Thule II, 45) und über letzte geheime Worte Odins an seinen Sohn (Vm 54: Neckel, 53, übers. Thule II, 92). In ganz anderer Form, ohne Anteil Lokis, erzählt Saxo (Gesta Danorum lib. III, 1 ff.) den Streit, der zwischen Hotherus und Balderus um Nanna entbrennt und in dem Hotherus seinen Nebenbuhler im Zweikampf besiegt. Als stoff­ lich verwandt mit dem B.-Mythus, aber nicht mehr als Quelle für diesen, betrachtet man die Erzählung von der Tötung Herebealds durch Haeöcyn im Beow (2435ff.). Ein Seitenstück hat der B.Mythus auch in der Tötung des Königs Vfkarr, wie sie in der Gautrekssaga (ed. W. Ranisch, Berlin 1900, Palaestra 11), Kap. 7 erzählt wird. Der nord. Mythus weiß von der Wiederkehr B.s nach den ->Ragnarök: B. und Höd werden (versöhnt) in der neuen Welt wohnen (Vsp 62). Ein Auftreten B.s im westgerm. Bereich ist fraglich. Der zweite Merseburger Zauberspruch liefert keinen Be­ weis für einen westgerm. Gott B.

2. Deutung des B.-Mythus. Die vielen Erklärungsversuche gehen weit auseinander; eine Übersicht gibt Betz, DPh 1. Aufl. III, 2502ff. Es ist auf vermeintliche stoffliche Vorbilder und motivische Parallelen, vor allem in orientalischen Vorstellungen, hingewiesen worden. Zuletzt hat man der von Dumözil in ossetischen Sagen aufgezeigten Parallele besondere Beachtung geschenkt. Die Frage nach Herkunft und Ursprung des B.-Mythus muß trotz des bei­ gebrachten Vergleichsmaterials als ungeklärt gelten. 36

Berserker

Germanen

Die naturmythologische Betrachtungsweise hat den Gegensatz helldunkel im B.-Mythus ausgeprägt gesehen (->Ung. Dualismus) und B. als Lichtgottheit aufgefaßt. Das Schema der sterbenden und wiederkehrenden Vegetationsgottheit (-> Fruchtbarkeit) ist auf die Gestalt B.s angewendet worden. In der Tötung B.s hat man die Spiegelung von Initiationsriten erkennen wollen. Damit sind noch nicht alle Deutungsrichtungen genannt. Wahrscheinlich liegt eine Schichtung und Mischung verschiedener Elemente vor, die, minde­ stens im Bild von B.s Wiederkunft, von christlichem Einfluß überlagert sind. Es bestehen nur Vermutungen darüber, wie die Einschmelzung vor sich gegangen ist, wo sie stattgefunden hat. 3. Bildliche Darstellung. Motive aus dem B.-Mythus meint Höfler auf den skand. -> Felszeichnungen nachweisen zu können. S. Bugge, Studien über die Entstehung der nordischen Götter- und Helden­ sagen (1889); F. Detter, Der Baldrmythus, PBB 19 (1894), 495—516; G. Neckel, Die Überlieferungen vom Gotte Balder (1920) ; dazu M. Olsen, Om Balderdigtning og Balderkultus, ANF 40 (1924), 148—175; R. Much, Balder, ZDA 61 (1924), 93-126; K. Helm, Balder in Deutschland’, PBB 67 (1945), 216—222; G. Dumézil, Loki (1948; deutsch 1959); J. G. Frazer, Balder the beautiful, I—II, Neudruck (1951) (Frazer, The golden bough, 3. Aufl. 7), bes. I, 101 ff. ; II, 76ff. ; O. Höfler, Balders Bestattung und die nordischen Felszeichnungen, AÖAW 88 (1951), 343—372; F. R. Schröder, Balder und der zweite Merseburger Spruch, GRM 34 (1953), 161 — 183; J. de Vries, Der Mythos von Balders Tod, ANF 70 (1955), 41—60; N. Lid, Art. Balder, Kulturhistorisk leksikon I, 313—316. A. B. Rooth, Loki in Scandinavian mythology (1961) (SKHVL 61), bes. 90ff. ->■ Finn. Lemminkäinen; Sämpsä 2a; Virankannos. -> Kelt. Lichtgottheiten; -> Ung. Hadür. -> Lett. Üsipä.

Beli -> Freyr. Bergelmir

Ymir.

Berserker (aisl. berserkr m. sg., pl. berserkir), „Bärenhaut“, Bezeich­ nung für den „Bärenhäuter“, den männerbündischen, fellvermumm­ ten Krieger, der durch ursprünglich kultischen Gestaltwechsel sich Kräfte und Gebaren des Tieres zulegt und in ekstatischer Un­ empfindlichkeit bis zur Erschöpfung kämpft. Aus der Kultübung leitet man den mythischen Glauben an die Fähigkeit zum -> Ge­ staltwechsel hei Menschen ab, die die Mythologie ebenso Göttern und -* Riesen zuschreibt. Die B. sind in eigentlich mythologischen Quellen selten erwähnt; die Ynglingasaga (Kap. 6: Hkr I, 17f., übers. Thule XIV, 32) nennt sie als Gefolgsleute -> Odins, in dessen Kult das ekstatische Element bedeutsam ist. 37

Bestia

Germanen

L. Weiser, Altgermanisohe Jünglingsweihen und Männerbünde. Ein Bei­ trag zur deutschen und nordischen Altertums- und Volkskunde (1927); N. Lid, Art. Berserk, Kulturhistorisk leksikon I, 501—503. -» Kelt. Helden.

Bestla -* Odin 1. Bifröst, Bilröst (aisl. Bifrgst, Bürgst) -> Heimdall; Himmel. Bilskirnir -> Thor.

Bodn (aisl. Bodn) -> Skaldenmet. Borr, Vater von -> Odin, -> Vili und Vö.

Bragi, nordgerm. Gott der Dichtkunst (aisl. bragr „der Vornehmste“). B.s Gemahlin ist —>Idun; ihren Bruder soll B. getötet haben (Ls). An B. ist weder Mythus noch Kult geknüpft. B. erzählt in der Rahmenhandlung der Skäldskaparmäl (SnE, 78ff., übers. Thule XX, 117ff.) dem -> Aegir von den Taten der -> Äsen. B. wird „der hervorragendste Skalde“ genannt (Grm 44; Neckel, 64, übers. Simrock/Kuhn, 33). Die Eiriksmäl, Str. 3f. (Skj B I, 165) und die Häkonarmäl des Eyvindr skäldaspillir, Str. 14 (Skj B I, 59) er­ wähnen B. als in -> Walhall anwesend beim Einzug von Helden. Fraglich ist, ob in B. der historische Skalde B. enn gamli Boddason (B. der Alte) aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhs. zu sehen ist. 0. Nordland, Art. Brage, Kulturhistorisk leksikon II, 194 — 195.

Breiöablik -> Balder.

Brfsingamen. Auch men (aisl. n., „Halsschmuck“) Brlsinga (ver­ schieden gedeutet, s. Pering, 226f.), Attribut der -> Ereyja (SnE, 38, übers. Thule XX, 80), das diese nach der jungen Überlieferung des Sprlapättr (Flat I, 276ff.) von —> Zwergen erhielt und dessen sie von -^-Loki im Auftrag —> Odins beraubt wurde. In der prk (Neckel, 108f., übers. Thule II, 13f.) wird das B. —>Thor angelegt (->Thrym). Die SnE (99f., übers. Thule XX, 142f.) weiß von einer Auseinandersetzung -> Heimdalls und Lokis um das B., die auch sonst aus kenningar nachweisbar ist. Snorri bezieht sich auf Ülfr Uggasons Hüsdräpa, wo Str. 2 (Skj B I, 128) zwar nicht vom B., aber von einer sogen. „Meerniere“ (aisl. hafnyra), der Frucht einer ursprünglich westindischen Pflanze, die Rede ist. Als Geburts­ stein getragen, dürfte sie ein älteres Attribut Freyjas sein, woraus sich die Vorstellung eines Gürtels (Brlsinga giröi: frjööölfr, Haustlpng Str. 9: Skj BI, 16) und dann eines Halsschmucks entwickelt haben könnte (Pering). 38

Germanen

Christliche Einflüsse

Sprachlich ungeklärt ist der Zusammenhang mit dem Schmuck Brösinga mene, Beow 1199. J. deVries, The Problem of Loki, 1933 (FFC 110), bes. 125ff.; B. Pering, Heimdall (1941), bes. 210ff.

Buri -> Anthropogonie. Byleistr-> Loki 1.

Christliche Einflüsse. Mit christl. Einflüssen auf die germ. Mythologie ist von vornherein zu rechnen. Leben in christlicher Umgebung oder christlicher Nachbarschaft, Handelsverbindungen, Volksbewegun­ gen, Wikingerzüge, christliche Mission und nicht zuletzt die erst nach der Bekehrung einsetzende Niederschrift germ. Mythen er­ möglichten das Eindringen christlicher Gedanken und Vorstellungen (aus AT und NT, aus biblisch-apokryphem Schrifttum, aus der frühchristlichen Literatur) in die germ. Mythologie. Mit Recht meint A. Olrik (Nordisches Geistesleben in heidnischer und früh­ christlicher Zeit, 2.Aufl. 1925, 96), daß kein germ. ,,Heide des 10. Jahrhunderts, jedenfalls kein begabterer und empfänglicherer Geist,... ganz unbeeinflußt“ von christlichen Gedanken war. Christ­ liche Einwirkung auf germ. Mythologie konnte verschiedene Formen annehmen: von unveränderter Übernahme christlicher Motive bis zur umschmelzenden Anverwandlung christlicher Vorstellungen ins Heidnische, wobei dann im heidnischen Gewand das Christliche kaum mehr erkennbar geworden ist. Der gelehrten Mythologie Snorris in seiner Edda liegt eine euhemeristische Konzeption zu­ grunde, die die heidnischen Vorstellungen in die christliche Lehre einzubauen versucht (Baetke). Über das Ausmaß christl. Einflüsse auf die mythologischen Überlieferungen außerhalb Snorris gehen die Ansichten der Forscher weit auseinander. Eine summarische Darstellung kann hier — so umstritten ist die Frage — nicht ein­ mal für die einzelnen Quellen gegeben werden. —> Anthropogonie; Balder; Eschatologie; Friede; Heil; Heimdall; Hel; Loki 1; Ragnarök; Thrym. V. Grenbech, Religionsskiftet i Norden (1913); R. Meißner, Die Nord­ germanen und das Christentum (1929) (Bonner akademische Reden 1); H. de Boor, Germanische und christliche Religiosität, Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 33 (1933), 26—51; W. Baetke, Arteigene germanische Religion und Christentum, 2. Aufl. (1936) (Der Weg der Kirche 4); C. Clemen, Die Bedeutung andrer Religionen für die altnordische Religionsgeschichte, ARW 34 (1937), 13—18; H. Ljungberg, Die nordische Religion und das Christentum (1940); W. Baetke, Die Auf­ nahme des Christentums durch die Germanen. Ein Beitrag zur Frage der Germanisierung des Christentums, Die Welt als Geschichte 9 (1943), 143

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Dämonen

Germanen

bis 166 (separat wiederabgedruckt 1959: Libelli 48); ders., Die Götterlehre der Snorra-Edda (1950) (BSAkW 97, 3); P. Paasche, Hedenskap og kristendom. Studier i norren middelalder (1948); ders., Metet mellom hedendom og kristendom i Norden (1958); W. Lange, Studien zur christlichen Dichtung der Nordgermanen 1000—1200 (1958) (Palaestra 222). -> Kelt. Christliche Überlieferung. -> Pinn. Christliche Einflüsse. -> Ung. Christliche Tradition. -> Lit. Teuflische Götter, -> Asl. Christlicher Einfluß. Lett. Einl. B. b. 4.

Dämonen, Dämonische Gestalten -> Eschatologie; Fenrir; Hel; Krieg; Loki 3; Midgardschlange; Ragnarök; Stammesmythen; Thor; Utgard; Utgard-Loki; Walküren; Yggdrasill. -* Kelt. Dämonen. -> Ung. Dämonen.

Dag (aisl. Dagr) -> Tag.

Delling (aisl. Dellingr) -> Nacht; Tag. Dichtermet -> Skaldenmet.

Disen (aisl. disir f. pl.), Kollektivbezeichnung für nordgerm. weibliche Gottheiten, die beim D.opfer (aisl. disablöt) vegetationskultisch im Opferheiligtum des disarsdlr („Tempel einer dis“) verehrt wurden. In der Edda wird die Bezeichnung auch auf -> Nomen und -> Wal­ küren angewendet. Die D. gelten als Helferinnen bei der —> Geburt. -> Freyja, der die gleiche Funktion zugeschrieben wird, trägt den Beinamen Vanadis, ,,dis der Vanen“ (SnE). Die westgerm. idisi sind, den alten Belegen nach, als Kampffrauen aufzufassen. Im ersten Merseburger Zauberspruch (Braune/Helm, Ahd. Leseb., Nr. 31, 1) sind sie beim Kampf zugegen: sie bereiten Fesseln für Gefangene und lösen Gefangene aus den Fesseln; sie halten das Heer auf. Idisiawiso, „Feld der idisi“, heißt nach Tacitus (Annales II, 16) eine Ebene zwischen den Bergen und der Weser im nördlichen Weserbergland, Schlachtfeld im Jahre 16 n. Chr. P. Ström, Art. Diser, Kulturhistorisk leksikon III, 101 — 103. ->Lit. Kankas; Opfer. -> Asl. Opfer; Vila. ->Kelt. Opfer. ->Pinn. Opfer. -> Ung. Opfer. Lett. Lauma.

Donar -> Thor. Donnergott

Thor.

Draupnir -> Odin.

Edda -> Einleitung. Eibental (aisl. Ydalir), Wohnsitz des -> Uli. 40

Germanen

Erde

Einherier (aisl. einherjar N. pl., sg. einheri), kriegerbündische „Zwei­ kämpfer“ im Gefolge -> Odins als Totengottes, die als Tote in -> Walhall versammelt sind. Dort kämpfen sie täglich (Vm 41: Neckel, 50, übers. Thule II, 91), halten ihr Gefolgschaftsgelage (Grm. passim; SnE, 42ff., übers. Thule XX, 84£f.), wozu der Met aus dem Euter der Ziege Heidrun fließt und der Koch Andhrimnir den Eber Saehrimnir im Kessel Eldhrimnir immer von neuem siedet. Die Skalden lassen bedeutende Fürsten in Walhall von den E. aufgenommen werden (Eiriksmäl, Str. 1: Skj BI, 164; Eyvindr skäldaspillir, Häkonarmäl, Str. 16: Skj B I, 59). Die E. ziehen mit Odin zum Kampf in den -> Ragnarök. 0. Höfler, Kultische Geheimbünde der Germanen, I (1934); F. Ström, Art. Einherjar, Kulturhistorisk leksikon III, 532—533. -> Kelt. Heldenmythus.

Elben, Alben (aisl. älfar N. pl.), Wesen von kleinem Wuchs, die, im Unterschied zu den -> Zwergen, im Norden kultische Verehrung im alfablot genossen, das bald als Totenverehrung, bald als ->Frucht­ barkeitskult zur Vermittlung von Gedeihen, Wachstum und Hei­ lung erscheint. Ihr Charakter innerhalb der Geistervorstellungen ist nicht fest abgrenzbar. In der Mythologie treten sie wenig hervor; sie sind aber auch hier, wie etwa im Wissensgespräch der Alv (Neckel, 120ff., übers. Thule II, lOOff.), terminologisch von den Zwergen getrennt. Die Stabreimbindung —> „Äsen und Alben“, häufig in Eddagedichten (Häv, Skm, Ls, Vsp, jjrk, Grm), läßt über bloßen Formelgebrauch hinaus erkennen, daß die E. als die wichtig­ sten der niederen mythischen Wesen aufgefaßt wurden. Snorris Einteilung und Wesensunterscheidung in Lichtalben, die in Älfheimr wohnen, und in Dunkelalben, die unter der Erde hausen (SnE, 25, übers. Thule XX, 66) ist bereits eine mythographische Spätleistung. N. Lid, Art. Alv, Kulturhistorisk leksikon I, 121 — 123. -> Mimir; Streitgespräche.

Eldhrimnir -> Einherier. / Eliwagar (aisl. Elivägar) -> Kosmogonie; Ymir. Elli -> Utgard-Loki. Embla -> Anthropogonie. Erdbeben

Loki 1.

Erde. Die E. spielt in Kult und Brauchtum eine weit größere Rolle als im Mythus. Die E. ist auch bei den Germanen als Terra mater

41

Eschatologie

Germanen

(entsprechend ae. eorpan mödor) verehrt und angerufen worden, wie es etwa Tacitus (Germ. cap. XL) für den —> Nerthuskult bezeugt und wie es durch den angs. Flursegen (Grein/Wülker I, 312ff.) be­ legt ist. Die Namengebung der mythisch personifizierten E. scheint z. T. von der Ackerfurche auszugehen. Im angs. Flursegen wird die eorficm mödor mit dem Namen Erce angesprochen, der aus einem agall. vorauszusetzenden Wort *rica „Furche“ abgeleitet werden kann und dessen etym. Grundform (vgl. lat. porca) die Verbindung zum Namen der nord. -^Fjörgyn herstellt (Schröder). Wenn ->Thor als Sohn der ->Jörd (aisl. jgrö „Erde“), der Fjörgyn oder der -^-Hlodyn (aisl. Hlööyri) bezeichnet wird, so ist damit überein­ stimmend sein Ursprung aus der Erde umschrieben. Ebenso be­ richtet Tacitus (Germ. cap. II) von Tuisto, er sei „deus terra editus“. W. Mannhardt, Wald- und Feldkulte, I, 2. Aufl. (1904); A. Dieterich, Mutter Erde, 3. Aufl. (1926); E. A. Philippson, Germanisches Heidentum bei den Angelsachsen (1929) (KAA 4), bes. 122ff.; F. R. Schröder, Erce und Fjörgyn, in: Erbe der Vergangenheit. Festgabe für Karl Helm (1951), 25—36. -»■ Lit. Erdgottheiten. ->■ Kelt. Erde; Muttergottheiten. Finn. Erdgeist. Lett. Zemes mäte. -* Griech. Muttergottheiten.

Eschatologie. Vorstellungen vom Vergehen der Welt, der Götter und Menschen müssen im germ. Heidentum allgemein verbreitet ge­ wesen sein. Nach ihren äußeren Motiven lassen sie sich ordnen: Untergang durch -> Dämonen, durch Kälte oder Hitze, durch Wasser, durch Einsturz des Himmels. Die Überlieferung zeigt diese Motive in einem Neben- und Ineinander.

Hauptquelle für den nordgerm. Mythus ist Vsp; von ihr abhängig ist SnE. Im Mittelpunkt steht das „Geschick der Götter“, -> Rag­ narök. Diese E. vereinigt die Motive des Dämonenkampfes, des Versinkens der Erde ins Meer, des Einflusses von Hitze und Feuer und anklangsweise das Motiv der Kälte mit der Schilderung sitt­ lichen Verfalls als Zeichen und Ursache des drohenden Untergangs. Auf Dämonenkampf und Weitende beziehen sich einige andere Edda- und Skaldenstrophen. Steigen des Meeres bis zur Himmels­ wölbung und Schneefall sind Untergangsmerkmale in der Vspsk (Hdl 42: Neckel, 291, übers. Thule II, 46); in Vm44 (Neckel, öl, übers. Thule II, 91) ist der Fimbulwinter („große Winter“) Vor­ zeichen des Untergangs.

Das Motiv des Weltbrandes scheint in dem eschatologischen Be­ griff aisl. -> Muspell, ahd. muspilli, gemeinsames nord- und westgerm. Eigentum zu sein. Dagegen ist der Glaube, daß der Himmel einstürzen könne, sicher nur bei den Bastamen bezeugt, von denen

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Germanen

Felszeichnungen

Livius XL, 58 berichtet, sie seien in diesem Glauben bei einem Gewitter geflohen. Dem Motiv des TTimmelseinst11r7.es liegt wohl die Vorstellung der tragenden Himmelssäule zugrunde (-> Kosmo­ logie), die beim Weitende bricht, ähnlich wie bei den Ragnarök des Nordens der Weltbaum erzittert (->Yggdrasill). Die Untergangsmotive ziehen Vorstellungen einer Erneuerung nach sich. Sicher christlich beeinflußt, entwirft Vsp 59ff. (Neckel, 14f., übers. Thule II, 42ff.) ein visionäres Bild vom „Wiederheraufkommen“ der Erde, von der Wiederkunft der Götter und einem versöhnenden Zeitalter. Dieses Bild wird von SnE (74fif., übers. Thule XX, 113ff.) systematisch ausgestaltet. Eindeutig christlichen Ursprungs sind die entsprechenden Strophen der Vspsk (Hdl 43f.). Nach Vm 441f. werden die Söhne der alten Götter herrschen und eine neue Sonne, Tochter der alten, scheinen. Im westgerm. Bereich fehlen sichere Anhaltspunkte für den Gedanken der Weltemeuerung. W.-E. Peuckert, Art. Eschatologie, HDA II, hes. 991 ff.; K. Helm, Welt­ werden und Weltvergehen in altgermanischer Sage, Dichtung und Religion, HBV 38 (1940), 1—35 mit weiterer Literatur. -> Einn. Eschatologie.

Fafnir -> Loki 1.

Färbauti -> Loki 1. Felszeichnungen (schwed. hällristningar, norw. helleristninger, pl.), in Süd- und Mittelskandinavien, vor allem in Südschweden und Süd­ ostnorwegen vorkommend,vermitteln Einblick in die mythologischen Vorstellungen und kultischen Gebräuche der Steinzeit und besonders der Bronzezeit. Sie zeigen stilisierte und oft schematisierte Darstel­ lungen von Menschen, Tieren, Geräten (Wagen, Pflügen, Schiffen usw.). Die Bildtexte wurden zunächst mit dem Totenkult in Zusam­ menhang gebracht; heute hat sich die fruchtbarkeitsmythologische Deutung durchgesetzt, die in den vegetationskultischen Bildern (Pflugszene, heilige Hochzeit, kultischer Tanz, Schiffsumzüge, Sonnensymbole usw.) eine starke Stütze findet (-> Fruchtbarkeit). Bislang hat man nur im Ausnahmefall zusammenhängende, aus der späteren literarischen Überheferung bekannte Mythenmotive auf einzelnen F. wiederzuerkennen versucht, z. B. aus dem Mythus von -> Balder. Dagegen hat man einzelne Typen von Bildsymbolen mit entsprechenden literarischen Darstellungen der Mythologie häufiger verglichen. So hat man beispielsweise die Figur der F. „Mann mit Hammer oder Axt“ (—> Kelt. Hammergott) zu dem hammerbewaffneten —> Thor in Beziehung gesetzt und im Hin43

Fenrir

Germanen

blick auf die charakteristisch hammer- oder axtbewaffnete Gottheit typologisch und auch über das Germ, hinaus religionsvergleichend zu deuten versucht. 0. Almgren, Art. Felsenzeichnung, Reallexikon der Vorgeschichte III, 207 bis 223; ders., Hällristningar och kultbruk (1926), dt. unter dem Titel Nordische Felszeichnungen als religiöse Urkunden (1934); C.-A. Althin, Studien zu den bronzezeitlichen Felszeichnungen von Sk&ne I-II (1945). ->■ Asl. Götterbilder. -> Kelt. Ikonographie.

Fenrir, auch Fenrisülfr („der Wolf F.“), -> Dämon der nordischen -> Ragnarök. F. ist Sohn Lokis und der Riesin Angrboda (aisl. Angrboda) (Ls, Hdl), seine Geschwister sind die —> Midgard­ schlange und —> Hel (SnE). F. liegt bis zum Weitende gefesselt (Ls 41: Neekel, 101, übers. Thule II, 56; Eyvindr skäldaspillir, Häkonannäl, Str. 20: Skj B I, 60). Die Fesselung F.s gelingt den Göttern erst beim dritten Versuch, wobei —> Tyr seine Hand ein­ büßt; die Erzählung trägt märchenhafte Züge (SnE, 34ff., übers. Thule XX, 76ff.; Ls Eingangsprosa: Neckei, 93). F. verschlingt beim Weitende die -* Sonne (Vm 46f.: Neckei, 51, übers. Thule II, 92; Anspielung darauf Vsp 40: Neckei, 9, übers. Thule II, 39); nach Grm 39 (Neckei, 63, übers. Thule II, 83) bedrohen F.s Söhne die Sonne. Im Zweikampf der Ragnarök verschlingt F. —> Odin und wird darauf vom Odinssohn —> Vidar getötet (Vsp 53 und 55; SnE, 71 ff., übers. Thule XX, Ulf.). F. gehört wie —> Garm zum Vorstellungskreis vom gebundenen Raubtier. A. Olrik: Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang (1922), bes. 311ff.; Ö. Briem, Art. Fenrisülfr, Kulturhistorisk leksikon IV, 220—221.

Fensalir -* Frigg. Feuergott -> Njörd.

Fimbulwinter -> Eschatologie; Ragnarök.

Fjölnir -> Freyr. Fjörgyn, Fjörgynn (aisl. Fjgrgyn, Fjgrgynri), nordgerm. Göttin und Gott, von denen fast nur die Namen überliefert sind. Fjörgyn wird Vsp 56 und Hrb 56 als Mutter —> Thors bezeichnet. Die SnE nennt nur den männlichen Fjörgynn als Vater der -> Frigg. Das­ selbe genealogische Verhältnis wird Ls 26 gemeint sein, wo Frigg „Fjgrgyns mxr“ („F.s Mädchen“) heißt.

Die Deutungen des Namens FjörgynfFjörgynn sind einerseits von der Ähnlichkeit mit dem Namen des alit. Donnergottes -> Lit. 44

Germanen

Freyja

Perkünas ausgegangen und haben den Zusammenhang in einer vorgerm. Gewittergottheit sehen wollen; andererseits haben sie die Etym. an lat. quercus < *perquos „Eiche“ und got. falrguni „Berg“ angeschlossen und an eine Berg- oder Eichengottheit gedacht (-> Asl. Perun). Wahrscheinlicher ist, daß Fjörgyn ein Name der göttlich personifizierten -> Erde ist (Schröder). Die männliche Entsprechung dürfte erst aus der weiblichen Gottheit entwickelt sein. (Vgl. J. de Vries, Altnordisches etym. Wörterbuch (1957—61), 126.) J. de Vries, Studien over Germaansehe mythologie I. Fjijrgyii en Fjprgynn, TNTL 50 (1931), 1—25; F. B. Schröder, Erce und Fjprgyn, in: Erbe der Vergangenheit. Festgabe für Karl Helm (1951), 25—36.

Folkwang, Wohnsitz -»■ Freyjas. Forseti, in dieser aisl. Schreibung („der Vorsitzer“) wohl volksetym. Umgestaltung von Fosete, germ. Gott, nach SnE Sohn -> Balders und der Nanna, wohnt im Saal Glitnir und schlichtet allen Streit (Grm 15), ohne Mythus. Einen fries. Gott Fosite bezeugt Alcuin (Vita Sancti Willebrordi cap. Xf.). Aus einer ONbelegung (Forsetlund) in Südnorwegen schließt man, daß dem Auftreten F.s im Norden eine Kultwanderung aus fries. Gebiet zugrunde liegt.

Freyja (etym. „Frau, Herrin“), nordgerm. Göttin, Vanin, von Snorri ungenau auch als —> Asin bezeichnet, aus Geschwisterehe hervorgegangene Tochter —> Njörds, Schwester -> Freyrs (f>rk, SnE, Ynglingasaga), Gattin -> Ods (SnE). F.s Wohnsitz heißt Folk­ wang (Grm 14: Neckel, 58, übers. Thule II, 81). F. und -> Odin wählen täglich je zur Hälfte die toten Krieger (ebd.). Andererseits wird F. von Liebenden angerufen (SnE, 31, übers. Thule XX, 73). F.s Attribut, der kostbare Schmuck -» Brlsingamen, gehört ur­ sprünglich wohl zu ihrer Funktion als Helferin der Gebärenden. Dieser Funktion dürfte auch ihr Beiname Vanadis (SnE) zu­ zuschreiben sein (—>Disen). Ein weiteres Attribut ist ihr Feder­ oder Falkengewand (prk 5: Neckel, 107, übers. Thule II, 12; SnE, 80, übers. Thule XX, 119), das sie -> Loki leiht, wie auch -> Frigg es tut, der von Snorri gleichfalls ein Falkengewand zugeschrieben wird. Als Reittier benutzt F. den goldborstigen (—> Freyr) Eber Hildeswin (Hdl 7: Neckel, 285, übers. Thule II, 95); zu -> Balders Bestattung fährt sie (-> Freyr) mit einem Katzengespann (SnE, 66, übers. Thule XX, 106).

Mit den vanischen Geiseln —> Njörd und -> Freyr kommt F. zu den —> Äsen und lehrt sie den vanischen Zauber (-> seiör) (Ynglinga­ saga, Kap. 4: Hkr I, 13, übers. Thule XIV, 29). Ihrem Gatten Od 45

Freyr

Germanen

zieht F. nach und weint Tränen von rotem Gold über seinen Ver­ lust; beider Töchter nennt Snorri Hnoss, „Kleinod“ (SnE, 38, übers. Thule XX, 80), und Gersimi, „Schatz“ (Ynglingasaga, Kap. 10: Hkrl, 24, übers. Thule XIV, 36). F. wird Lüsternheit vorgeworfen (Hdl 46 f.) sowie Buhlschaft mit ihrem Bruder Freyr, mit den Äsen (Ls 30 und 32: Neckel, 99, übers. Thule II, 55) und mit den —> Zwergen, von denen sie das Brisingamen erhalten hat. Mehrfach wird sie von —> Riesen begehrt, so von ->Thrym, —>Hrungnir und dem Riesenbaumeister (—> Loki). Aus Vsp 25 (Neckel, 6, übers. Thule II, 37) geht vielleicht hervor, daß F. tatsächlich ein­ mal in der Gewalt der Riesen gedacht wurde. Die schillernden Züge und die vielfältigen Eigenschaften F.s werden aus dem fruchtbarkeitsreligiösen Grundcharakter der Göttin her­ geleitet (-> Fruchtbarkeitsgötter; Interpretatio Romana). J. de Vries AR II, 307ff. -* Finn. Rauni; Sämpsä 2b. ->• Lett. Mäte.

Freyr (etym. „Herr“), nordgerm. Gott, -> Vane, von Snorri ungenau auch als —> Ase bezeichnet, aus Geschwisterehe hervorgegangener Sohn -> Njörds, Bruder -> Freyjas (Grm, Skm, SnE, Ynglinga­ saga), Gatte der Gerd (aisl. Oerör) (Skm, Ls, Hdl, SnE, Ynglinga­ saga); beider Sohn ist Fjölnir (aisl. Fjglnir) (Ynglingasaga). F.s Wohnsitz heißt Alfheim (Grm 5: Neckel, 56, übers. Thule II, 80). F. ist Gott des Wachstums, der Ernte, des Wohlstands und des friedlichen Gedeihens (SnE, 31, übers. Thule XX, 73). Es heißt auch, daß er aus Banden löse (Ls 37: Neckel, 100, übers. Thule II, 56). Er ist Eigentümer des Schiffes Skidbladnir (aisl. SkiöWabnir), das die Ynglingasaga, Kap. 7, jedoch -> Odin zuschreibt, und des Ebers Gullinborsti oder Slidrugtanni (aisl. Slidrugtanni) (Grm 43: Neckel, 64, übers. Simrock/Kuhn, 33; SnE passim). Beide Attribute sind von -> Zwergen verfertigt. Skidbladnir kann so klein zusam­ mengefaltet werden wie ein Tuch; das Segel hat immer Fahrwind (SnE, 47f„ übers. Thule XX, 90). Der Eber läuft schneller als alles andere, durch Luft und Wasser; seine Goldborsten (-> Freyja) er­ hellen die Nacht (SnE, 124, übers. Thule XX, 181).

Mit dem Eber fährt F. zu Balders Bestattung (SnE, 66, übers. Thule XX, 106). F.s Werbung um das Riesenmädchen Gerd er­ zählen Skm (Neckel, 67, übers. Thule II, 27ff.) und SnE (40f„ übers. Thule XX, 82ff.). Von Odins Hochsitz (—> Götterwohnungen) aus sieht F. das Riesenmädchen und verzehrt sich in Liebes­ verlangen nach ihr. Er schickt seinen Diener Skirnir zur Werbung aus und gibt ihm sein Schwert mit. Es gelingt Skirnir durch 46

Germanen

Friede

Drohungen und Beschwörungen, Gerd willfährig zu machen. Seines Schwertes ledig, erschlägt F. den Riesen Beli mit einem Kirsch geweih. In den Ragnarök fällt P. im Kampf gegen -> Surt (Vsp 53: Neckel, 12, übers. Thule II, 41); nach der SnE (72, übers. Thule XX, 111) entbehrt er auch in diesem Kampf sein Schwert. In der Ynglingasaga (Kap. 10: Hkr I, 23, übers. Thule XIV, 36) stirbt F. dagegen an einer Krankheit. Sein Tod wird zunächst ver­ heimlicht. Friede und Fruchtbarkeit dauern fort. F. wird weiter verehrt und Weltgott (aisl. verdldar goö, von den Lappen als Waralden Olmay übernommen) genannt.

F. gilt in der Ynglingasaga als Herrscher der Schweden; unter seinem Namen Yngvi-F. sieht das schwed. Königsgeschlecht der Ynglinge, in ihm seinen Ahnherrn (-> Stammesmythen). Der be­ sondere Friedenszustand unter F. wird von der Ynglingasaga als Prodi-Friede (aisl. Fr6öa-friör) bezeichnet. Auch aus anderen Gründen darf angenommen werden, daß die Namen Frodi und F. derselben Person gelten. Als -> Fruchtbarkeitsgott erweist F. auch der phallische Charakter seines Kultes (u. a. Adam von Bremen, Kirchengesch. IV, 26). —> Interpretatio Romana. J. de Vries AR II, 177 ff.; E. F. Halvorsen, Art. Freyr, Kulturhistorisk leksikon IV, 618—620. -> Finn. Rauni; Sampo; Sämpsä 2b. -> Lett. Jumis.

Friede ist ein Begriff des germ. Gemeinschaftsdenkens. Er ist person­ gebunden und bezeichnet daher nicht (im heutigen Sinne) den Zu­ stand, der in einer soziologischen Gruppe oder zwischen soziolo­ gischen Gruppen bestehen kann, sondern die Kraft, die die germ. Gemeinschaft im aufrichtigen Verhältnis der einzelnen unterein­ ander bindet und zum übereinstimmenden Auftreten nach außen verpflichtet. Der F. wirkt vornehmlich in der Sippe und dem Kreis der Hausgemeinschaft. Der F. kann aber auch aus anderen, besonders geschlossenen F.nsgemeinschaften hervorgehen und sie erhalten. Die Erhaltung des F.ns erstreckt sich auf den inneren F.n der Gruppe; der äußere F., in dem die Gruppe mit anderen Gruppen lebt, ist davon unberührt. Zur Wahrung des Rechts und zum Schutz der Gruppe und jedes ihrer Mitglieder ver­ langt vielmehr gerade der in ihr herrschende F. die Bereitschaft zum kriegerischen Einsatz nach außen (—> Krieg). Gebrochen wird der F. durch Vergehen innerhalb der Gemeinschaft, so z. B. durch Totschlag innerhalb derselben Sippe. Der F. kann, obzwar person47

Frigg

Germanen

gebunden, in einer Sonderfriedensgemeinschaft auch eine lokale Geltung haben, so am Versammlungsort, etwa beim Thing (—> Heil). Dieser F.nsbegriff wirkt verschiedentlich in den Mythus hinein. Im -> Balder-Mythus geschieht die Tötung Balders an einem F.nsort und kann daher nicht unmittelbar gerächt werden. Sie ist überdies ein unerhörter F.nsbruch unter den -> Äsen. In —> Loki tritt der Gegensatz zur üblichen germ. Gemeinschaftsauffassung, wenngleich nicht eindeutig, stark hervor. Mit seinen Taten des Unfriedens trägt er zum Geschehen der -> Ragnarök bei. Die Vsp zeichnet nach dem Weltuntergang ein Bild des vollkommenen F.ns in stark christ­ lich anmutender Färbung, wie auch schon das goldene F.nszeitalter gleich nach der Schöpfung allgemeinere, nicht unbedingt germ. Züge trägt. Der Kampf der Äsen und -> Vanen, mit dem der an­ fängliche Glückszustand aufhört, wird mit Schließung einer F.nsgemeinschaft beendet. Von da an stehen die Götter gemeinsam gegen -> Riesen und -> Dämonen. Nur der durch Loki herauf­ beschworene Unfriede beeinträchtigt ihre mythische Gemeinschaft. —>Freyr. R. v. Kienle, Germanische Gemeinschaftsformen (1939); W. Grönbech, Kul­ tur und Religion der Germanen, I—II, 5. Aufl. (1954). —> Kelt. Fiana.

Frigg (aisl. F., ahd. Frija, latinisiert Frea; etym. zu ai. priyä „Ge­ liebte“ gehörend), germ. Göttin, bei Nord- und Westgermanen unter gleichem Namen. Frija-F. ist die Gemahlin Wodan-(->)Odins. In der nord. Genealogie gilt sie als Tochter des -> Fjörgynn (SnE) und Mutter -> Balders (Ls, SnE). Der „dies Veneris“ der Römer ist von den Germanen als Tag der Frija-F. (z. B. ahd. Friatac, ae. Frigedseg, „Freitag“) übernommen worden. Die Gleichsetzung mit Venus weist bereits auf den Charakter F.s als Göttin der Liebe und Ehe. In dieser Funktion kommt ihr -> Freyja nahe, die mit F. und anderen Göttern und Wichtern den Gebärenden hilft (Oddr 9 : Neckel, 229, übers. Thule I, 108). Wie Freyja besitzt auch F. ein Falkengewand, das sie gleichfalls an -> Loki verleiht (SnE, 105 und 110, übers. Thule XX, 151 und 161). F.s Wohnsitz heißt Fensajir (Vsp 33; Neckel, 8, übers. Thule II, 38; SnE, 38, übers. Thule XX, 80). Snorri sagt von ihr, sie kenne alle Menschenschicksale (SnE, 27, übers. Thule XX, 69). Im nordischen Mythus wird F. von Loki der Vorwurf des Ehe­ bruchs mit -> Vili und V6 gemacht (Ls 26: Neckel, 98, übers. Thule II, 55; vgl. Ynglingasaga, Kap. 3: Hkr I, 12, übers. Thule XIV, 28). In anderem Zusammenhang berichtet auch Saxo (Gesta

48

galdr

Germanen

Danorum, lib. I, 7) von einem Ehebruch F.s. F.s Rolle steht in anderen Mythen zurück. Sie rät Odin ab, zu Vafthrudnir zu gehen (Vm 1—4: Neckel, 44, übers. Thule II, 86f.). Durch Eid­ abnahme versucht sie, Balder zu schützen (SnE, 63f., übers. Thule XX, 103f.), und trägt Trauer um ihn und Odin bei deren Tod (Vsp 33 und 53). Das Gespräch zwischen Odin und F. in der Prosa­ einleitung der Grm (Neckel, 54f., übers. Simrock/Kuhn, 25f.) ähnelt der Situation in der langobardischen Winilersage (-> Stam­ mesmythen).

Als Begleiterin Wodans und Schwester der Volla erscheint Frija im zweiten Merseburger Zauberspruch. J. de Vries AR II, 302 ff.

Frodi (aisl. Froöi)

Freyr.

Fruchtbarkeits(götter, -kulte) -> Balder; Disen; Elben; Felszeich­ nungen; Freyja; Freyr; Idun; Njörd; seiör; Skadi; Thor; Vanen. -» Lit. Fruchtbarkeitsgötter. -> Asl. Mokos. -> Kelt. Fruchtbarkeit. Fruchtbarkeitsmythen.

Finn.

fylgja, aisl. f. sg. (pl. fylgjur}, „Folgewesen, Schutzgeist“. Das Wort wird abgeleitet von fylgja, „folgen“, oder von fulga, „(Geburts-) Haut“. Die f. wird als Verkörperung des Wesens eines Menschen verstanden, oft als Personifizierung seiner Seele in Tiergestalt. Die f. erscheint zuweilen als Traumbild und kündigt dem Träumenden sein und anderer Schicksal an. Daneben steht die Vorstellung von fylgjur in Frauengestalt als Schutzwesen. Die -> hamingja- und f.-Vorstellung gehört überwiegend in die nordische Sagareligiosität, also nicht in den eigentlich mythologischen Quellenbereich. I. Blum, Die Schutzgeister in der altnordischen Literatur (1912); W. Gehl, Der germanische Schicksalsglaube (1939), bes. 12111.; W. Grönbech, Kultur und Religion der Germanen, I—II, 5. Aufl. (1954).

galdr, aisl. m. sg., „Zauber, Zauberweise“, ist das asische (-> Äsen; Magie) Zauberverfahren im Gegensatz zum vanischen (—> Vanen) des seiör. Der g. ist ein Bewirkzauber, und zwar als Wortbeschwörung in fester, dichterischer Form. Die Zauberspruchstrophe heißt galdralag. Mit dem g. können u. a. feindliche Mächte gebannt oder von der Erde Verschlossenes geborgen werden. -> Odin wird der Vater des g. genannt (Bdr 3: Neckel, 273, übers. Thule II, 24). Die mytho­ logische Quelle, die die Zauberformen von g. und seiör am besten erläutert, ist die Ynglingasaga, Kap. 7 (Hkr I, 18f., übers. Thule XIV, 32f.). Allerdings wird dort auch der seiör ->Odin zugeschrieben. 4

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Garin

Germanen

I. Lindquist, Galdrar, Göteborgs högskolas arsskrift 29, 1 (1923), 1 — 193; E. F. Halvorsen, Art. Galder, Kulturhistorisk leksikon V, 159—161. -*• Lit. Zauber. —> Asl. Zauber. —> Kelt. Magie. -> Finn. Zauber. —> Ung. Zauber. -> Lett. Burtnieks.

Garm (aisl. Garmr), Hund, der vor Gnipahellir bellt: ein Zeichen der ->Ragnarök (Vsp Stefstr. 44: Neckel, 10, übers. Thule II, 40). Grm 44 (Neckel, 64, übers. Thule II, 77) nennen ihn den besten der Hunde. Die SnE macht G. zum Gegner —> Tyrs im Endkampf. G. steht in motivischer Verwandtschaft zu -> Fenrir, ist aber nicht mit ihm gleichzusetzen. Geburt. Die G. steht unter dem Einfluß, dem Schutz und der Hilfe verschiedener mythischer Wesen: der -> Disen, der -> Nomen und der Göttinnen -> Freyja und -> Frigg. —> Lit. Läima. —> Asl. Geburtsfeen. -> Ung. Boldogasszony. —> Griech. Geburtsgottheiten.

Gefjon, nordgerm. mythische Gestalt, nach der SnE eine asische (—> Äsen) Göttin und Jungfrau, der alle gestorbenen Jungfrauen dienen. Andererseits (SnE, 8, übers. Thule XX, 49; Ynglingasaga, Kap. 5: Hkr I, 14, übers. Thule XIV, 30) ist G. eine Frau, die mit ihren vier Riesensöhnen, die sie in Ochsen verwandelt, Seeland vom skand. Schild abpflügt. Dies geht auf Str. 13 von Bragis Ragnarsdräpa (Skj B I, 3, übers. Thule XIV und XX ebd.) zurück. —> Odin schickt G. auf Landsuche. Der Odinssohn Skjöld (aisl. Skjgldr) wird ihr Gatte. Die Sage, die die Entstehung See­ lands und des Öresunds wie auch des Mälarsees erklärt, wird dän. Ursprungs sein. Darauf deutet auch die Verknüpfung mit Skjöld (-> Stammesmythen). N. Lukman, Art. Gefion, Kulturhistorisk leksikon V, 228—229.

Geirröd (aisl. Geirraör), nordischer -> Riese, Gegner —> Thors. —>Loki wird von G. gefangen, als er in -> Friggs Falkengewand auf der Halle G.s sitzt, und verspricht, um freizukommen, Thor ohne seine Attribute: Hammer und Kraftgürtel, zu G. zu bringen. Thor leiht sich den Kraftgürtel und die Eisenhandschuhe der Riesin Grid (aisl. Griör), der Mutter —> Vidars. Damit gelingt es ihm, G. zu überwinden (Eilifr Goörünarson, pörsdräpa: Skj BI, 139ff., übers. Thule XX, 153ff.; SnE, lOöff., übers. Thule XX, lölff.). Auch Saxo (Gesta Danorum, lib. VIII, 14) berichtet die Überwindung ' des Geruthus durch Thorkillus. Gerd (aisl. Gerör), Gattin des -> Freyr.

Gersimi -> Freyja. 50

Germanen

Götterwohnungen

Gestaltwechsel -> Berserker; fylgja-, Gefjon; hamingjcr, Idun; Lokil; Odin 1; Skaldenmet; Zwerge. -> Lit. Tiergestaltige Götter. -> Asl. Tiergestaltige Götter. -> Kelt. Tier­ gestalt der Götter. -» Finn. Tiergestalt. -> Ung. Tiergestaltige Wesen. ->■ Griech. Tiergestaltige Götter und Dämonen.

Gilling (aisl. Gillingr) -> Skaldenmet.

Ginnungagap -> Kosmogonie. Gjallarhorn -> Heimdall; Ragnarök.

Gjöll -> Hel.

Gleipnir -> Tfr.

Glitnir -> Forseti. Gnipahellir -> Garm. Götterdämmerung (aisl. ragnarßkkr n. „Verfinsterung der Götter“), in jüngeren Eddagedichten und in der SnE belegt, im Dt. nachweis­ lich zuerst von Michael Denis, Lieder Sineds des Barden (1772) mit „der Götter Dämmerung“ (ebd. 46) und „Götterdämmrung“ (ebd. 51) wiedergegeben, seit Simrock und Wagner eingebürgert, ist eine schon von den Quellen (Schreibern) mißverstandene Form für -> Ragnarök (aisl. ragnargk n. pl. „letztes Geschick der Götter“). K. Müllenhoff, Um ragnaröckr, ZDA 16 (1873), 146—148.

Göttermahl -> Aegir; Loki 1. Götterwagen -> Freyja; Mond; Nacht; Sonne; Tag; Thor. -> Kelt. Manannän. -> Finn. Ukko. -* Lett. Dievs; Säule. -> Griech Götter­ wagen.

Götterwohnungen. Der nordische Götterhimmel ist von der jüngeren Mythologie mit einer Reihe von G. ausgestattet. Danach war inner­ halb —> Asgards, der in himmlische Regionen (-> Himmel) ver­ legten Siedlung der Götter, für jede Göttergestalt ein besonderer Wohnplatz eingerichtet. Die Namen verzeichnet der Katalog der G. in den Grm (Str. 4—17: Neckel, 56ff., übers. Thule II, 80f.). Wal­ hall ist der Saal der -> Einherier (-> Odin). Einer der wichtigsten Plätze in Asgard, wenn auch keine Wohnung, ist die Hlidskialf (aisl. Hliüiskiälf, etym. umstritten), der an bevor­ zugter Stelle errichtete Hochsitz -> Odins, von dem er um heima alla, über die ganze bewohnte Welt, zu blicken vermag (Grm Ein­ leitungsprosa; Skm Eingangsprosa: Neckel, 67, übers. Simrock/ 4*

51

Göttliche Mächte

Germanen

Kuhn, 112; SnE passim). Wie aus der Winilersage hervorgeht, muß der Vorstellung von Odin-Wodans himmlischem Hochsitz eine weitere Verbreitung zugekommen sein (-> Stammesmythen).

—> Balder; Elben; Forseti; Freyja; Freyr; Frigg; Heimdall; Jen­ seitsvorstellungen; Kosmologie; Njörd; Riesenheim; Skadi; Thor; Uli; Vanen; Vidar. -* Kinn. Lemminkäinen; Sampo; Weltbild 2. -> Ung. Kacsaläbon forgö vär. ->■ Lett. Dievs; Weltbild. -> Grieeh. Götterwohnungen.

Göttliche Mächte. Für die göttl. M. hat das Aisl. (mit teilweisen Ent­ sprechungen in den übrigen germ. Sprachen) eine Reihe von Be­ zeichnungen, die diese Mächte entweder unpersönlich neutral oder persönlich kollektiv fassen. Dazu gehören: regin n. pl., „die Herr­ schenden, Götter“; goö n., „Gott“; tivar m. pl., „Götter“; hgpt n. pl., eigentlich „Fesseln“; bgnd n. pl., eigentlich „Bande“. Mit der starken Objektbezogenheit gehören hgpt und bgnd in ihrer meta­ phorischen Bedeutung enger zu den Wörtern der schicksalhaften Mächte (-> Schicksal). Diese Bezeichnungen stehen auf einer anderen Stufe des religiösen Bewußtseins als die mythologische Personifikation. Man möchte diese „kollektivierende“ Religiosität in ihrem Ursprung gern als vor- oder nachmythologisch erweisen. In der Überlieferung der nord. Mythen gehen beide Formen in­ einander über. So berichtet z. B. der Mythus von den —> Ragnarök, den „letzten Schicksalen der regin“, von den unter gleichen Zeichen sich abspielenden Schicksalen einzelner Göttergestalten. -> Disen; Nomen; Runenmagie. Grid (aisl. Oriör) -> Geirröd; Vidar.

Grda -> Aurvandill; Mantik.

Gullinborsti -> Freyr. Gullveig -> Äsen; seiör. Gungnir -> Odin.

Gunnlöd (aisl. Gfunnlgö) -> Skaldenmet. Gymir -> Aegir.

Hällristningar -> Felszeichnungen. hamingja, aisl. f. sg„ „Glückkraft, Schutzgeist“, wohl aus älterem *hamgengja entstanden, möglicherweise einer Bezeichnung für die Fähigkeit des —> Gestaltwechsels; oder Ableitung von hamr in der literarisch nicht belegten Bedeutung „Eihaut“. Beide Herleitungen

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Germanen

Heil, heilig, Heiligtum

und die Vorstellung der h. sind eng mit dem Begriff -> fylgja ver­ bunden. Das Wort h. gehört wie auch das Wort fylgja überwiegend der Sagaliteratur an.

Das Motiv des Gestaltwechsels muß nicht von vornherein mit der h.-Vorstellung Zusammenhängen. Im Mythus erscheint zuweilen eine rein literarische, pseudorationalisierte Form des Gestalt­ wechsels, wo nur von der Anlegung eines Gewandes, etwa Freyjas Falkengewandes, die Rede ist. Wo dagegen der Glaube an Gestalt­ wechsel besteht, kann er durch entsprechende Bräuche begünstigt sein (-> Berserker). Zur h.-Vorstellung gehört wohl beispielsweise die Nachricht von -> Odins Gestaltentausch in der Ynglingasaga, Kap. 7 (Hkr I, 18, zitiert nach Thule XIV, 32), wenn auch das Wort h. selbst hier nicht erscheint: „Wollte Odin seine Gestalt wechseln, dann lag sein Körper wie schlafend oder tot da, er selbst aber war ein Vogel oder ein wildes Tier, ein Fisch oder eine Schlange. Er konnte in einem Augenblick in ferne Länder fahren in seinen oder anderer Angelegenheiten.“ Im Sinne der aus *hamgengja zu folgernden Entwicklungslinie wäre h. ursprünglich die aktive, wahlfreie Verwandlungskraft und dann im Sinne der späteren abstrakten Bedeutung die von solcher Fähig­ keit ausstrahlende Glückhaftigkeit. h. bezeichnet ferner personal das verwandelte Wesen selbst, zuweilen im pl. als Hamingjen. Die von der Bedeutung „Eihaut“ ausgehende Erklärung beruft sich auf die Vorstellung der Glückshaube bei der Geburt. W. Grönbech, Kultur und Religion der Germanen, I—II, ö.Aufl. (1954).

Hammergott-> Felszeichnungen; Thor; Thrym.

Heidrun -> Einherier. Heil, heilig, Heiligtum. Für die drei Begriffe H., h„ H. kennt das Germ, verschiedene Wörter, die zwei etym. getrennten Sippen an­ gehören: in der Form des Adjektivums „heilig“ germ. *wihaz (got. weihs, ahd. wih) und germ. *hailagaz (got. hailags, aisl. heilagr, ae. halig, as. h&lag, ahd. heilag). Der christliche Gebrauch hat den Unterschied in der Terminologie des Heiligen verwischt. Die heid­ nisch-germ. Bedeutungsdifferenz ist nach Baetke folgende:

1. *wihaz bezeichnet „die Seite des Numinosen ..., von der es dem Menschen als das ,Andere', von der profanen Welt wesentlich Un­ terschiedene erscheint — dasjenige, was zu ihm in Distanz steht, was in ihm die Gefühle der Ehrfurcht und der Scheu erweckt.“ (Baetke, 213). 53

Heilige Hochzeit

Germanen

2. *hailagaz bezeichnet „die dem Menschen und. der Welt zugekehrte Seite des Numinosen“. Heilig' heißt seinem Grundsinn nach: heilvoll, heilsam, heilbringend.“ (Baetke, 215.) Im nhd. „weihen“ blickt noch etwas vom Grundgehalt von *wihaz durch: die entprofanisierende, tabuierende Bedeutungsschicht. Aisl. vi n., „heiliger Ort, Heiligtum“, ist Zusammensetzungsglied in zahl­ reichen skand. ON. V6 ist in der Mythologie Name eines Gottes (-> Vili). Der Plural aisl. vear m. wird appellativ für „Götter“ gebraucht.

★hailagaz ist von dem Adjektiv *hailaz, nhd. heil, abzuleiten. Sub­ stantiviert ist „Heil“ „Glück, Segen, Heil“, auch „glückhaftes Vor­ zeichen“. Heil kommt sowohl Personen wie Dingen zu. Der Ver­ sammlungsfriede „heiligt“ Menschen und Ort (->Friede); die „hel­ gar kindir“ (Vsp 1) sind als die rechtlich gesicherten Mannheiligen aufzufassen. Über die eigentlich religiöse Sphäre hinaus ist Heil ein wichtiger Begriff des germ. Gemeinschaftsdenkens. So wie Heil direkt von der Gottheit ausgehen kann, wirkt es etwa als Königs­ heil auch von der Person des Königs aus. In magischem Sinne kann ebenso von Gegenständen Heil ausstrahlen. In jedem Falle ist Heil der dem Menschen zuteil werdende Segen, der sich in offensicht­ lichen Heilswirkungen zeigt. W. Baetke, Das Heilige im Germanischen (1942); W. Grönbech, Kultur und Religion der Germanen, I—II, 5. Aufl. (1964).

Heilige Hochzeit -> Felszeichnungen.

Heimdall (aisl. Heimdäilr), nordgerm. Gott. Die etym. Deutung ist unsicher (Übersicht bei Pering, 55ff.; 247ff.; J. de Vries, AR II, 239). H. ist der Sohn von neun Schwestern (HeimdaUargaldr-. Neckel, 312, übers. Thule XX, 75; Ülfr Uggason, Hüsdräpa, Str. 2: Skj B I, 128). Seine Wohnung heißt Himinbjörg (aisl. Himinbjgrg) (Grm 13: Neckel, 57, übers. Thule II, 81). Er wird als „der weißeste“ (aisl. hvltastr) unter den -> Äsen und zukunftskundig wie sonst die Vanen bezeichnet (£rk 15: Neckel, 109, übers. Thule II, 13).

Daß die Menschen Kinder H.s seien, wird man aus Vsp 1 (Neckel, 1, übers. Thule II, 35) nicht mit Sicherheit herauslesen dürfen. Die Prosaeinleitung der RJ> (Neckel, 276, übers. Simrock/Kuhn, 130), die Rig (aisl. Rigr), den Stammvater der drei Stände (-> Ru­ nenmagie), mit H. identifiziert, ist als Quelle nicht unbedenklich. H. ist der vpr&r goöa (aisl.), „Wächter (oder Wache) der Götter“ (Grm 13; Ls 48: Neckel, 102, übers. Thule II, 57 ;u. ö.); in dieser

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Germanen_________________________________________ Hel

Funktion kündigt er den Beginn der —> Ragnarök durch Blasen auf dem Gjallarhorn an.

Nach der SnE (73, übers. Thule XX, 112) töten H. und -> Loki einander in den -> Ragnarök. Die SnE lokalisiert Himinbjörg bei der Brücke Bilröst (-> Himmel). Sie stattet H. mit mythisch scharfem Blick und Gehör aus (SnE, 32f., übers. Thule XX, 74f.). Sie weiß unter Berufung auf die Hüsdräpa von einer Auseinander­ setzung H.s mit. Loki um das -> Brisingamen (SnE, 98f., übers. Thule XX, 142). Die Angaben Snorris über H. sind kompiliert. Auch das H.bild der Vsp unterliegt einer Schichtung. Das Blasen auf dem Gjallarhorn erinnert an die biblische Posaune des Jüng­ sten Gerichts (-> Christliche Einflüsse). Als ursprünglich kann H.s Aufgabe als vprör goöa gelten. Die Deutung ihrer Herkunft aus -> Elben- und Wichtervorstellungen (schwed. värd, „Schutzgeist“) ist, wenn sie auch einige Übereinstimmungen aufzuweisen vermag, wohl nicht hinreichend. Aufschlußreicher ist der Vergleich par­ alleler Motive in den Vorstellungen von H. und dem Welt- und Schicksalsbaum -> Yggdrasill (s. dazu dort Literatur : Holmberg, Pipping). Ein Zusammenhang ist sehr wahrscheinlich und dürfte in dem gemeinsamen Schutzcharakter von Gott und Baum zu suchen sein (-> Schicksal). Von einer kultischen Verehrung H.s fehlen sichere Spuren (—> Magie). A. Ohlmarks, Heimdalls Horn und Odins Auge I (1937); dazu D. Strömbäek, APhS 12 (1937/38), 1—24; B. Pering, Heimdall (1941); E. Neumann, Das Schicksal in der Edda, I (1955); J. de Vries, Heimdallr, dieu énigmatique, EG 10 (1955), 257-268.

Hel (aisl. f., dt. „Hölle“) ist der Name des Totenreiches, das in der Unterwelt liegt, auch Niflhel,-* Niflheim genannt wird, und der seiner Herrscherin. Die Abkunft der H. von —>Loki und der —> Riesin Angrboda (aisl. Angrboöa) sowie ihre Geschwisterschaft mit ->Fen­ rir und der -> Midgardschlange machen sie zu einem dämonischen Wesen ; jedoch hat H. nichts mit dem -> eschatologischen Mythus zu tun. H. haust unter einer Wurzel der Esche -> Yggdrasill ; eine Anzahl von Strömen fällt hernieder zur H. (Grm 31 und 28 : Neckel, 61 und 60, übers. Simrock/Kuhn, 31 und 30). Der Fluß Slid (aisl. Sliör), den auch Vsp 36 (Neckel, 8, übers. Thule II, 39) nennt, ist mit Messern und Schwertern gefüllt (->Finn. Jenseitsvorstellungen 2 a): das ist die nicht mehr heidnische Vision (—> Christliche Ein­ flüsse) der Vsp von den Straforten. Über den Grenzfluß Gjöll (aisl. Gjgll) führt die nach ihm benannte Brücke (aisl. Gjallarbrü), 55

Helhlindi

Germanen

an der die Magd Modgud (aisl. Mööguör) Wache hält. Der H.weg verläuft weiter hinab und nordwärts. Das H.gatter bildet die end­ gültige Scheide zwischen Lebenden und Toten: wer hindurch­ gegangen ist, gehört unabänderlich der Totenwelt an. Deshalb muß —>■ Hermod, als er -> Balders wegen zur H. reitet, darüber hinweg­ sprengen (SnE, 66f., übers. Thule XX, 106f.). -> Odin, um die Deutung von Balders Träumen bemüht, begegnet vor der H. einem blutigen Hund, der ihn umheult (Bdr 2: Neckel, 273, übers. Thule II, 24). Neun Welten sollen unterhalb Niflhels liegen (Vm 43: Neckel, 51, übers. Thule II, 91). H. hat Anspruch auf alle auf dem Land nichtkriegerisch Gestor­ benen (-> Jenseitsvorstellungen; Dämonen). -> Grieoh. Totenreich.

Helblindi -> Loki 1.

Helleristninger -> Felszeichnungen.

Hermod (aisl. Hermoör), vergöttlichter Held des nordgerm. —> BalderMythus, Balders Bruder, wahrscheinlich mit dem Dänenkönig Heremöd im Beow identisch. Von -> Odin erhält H. Helm und Brünne (Hdl 2: Neckel, 284, übers. Thule II, 94). Die Häkonarmäl des Eyvindr skäldaspillir, Str. 14 (Skj B I, 59) erwähnen H. als in -> Walhall anwesend beim Einzug des Königs Hakon.

Hildeswin -> Freyja. Himinbjörg, Wohnung des -> Heimdall.

Himmel. Der H. ist ein Bereich der mythischen Kosmologie. Der Götterwohnsitz -> Asgard, ursprünglich irdisch gedacht, wird in den H. verlegt. In einer mythologischen Spätschicht werden -> Sonne, -> Mond, -> Tag und -> Nacht als Wesen beschrieben, die mit eigenem Gefährt am H. entlangfahren. Durch Blitz und Donner hat die H.sVorstellung eschatologische Züge erhalten (-> Eschatologie); so ist auch der Donner- und Gewittergott ->Thor am meisten mit dem H. verbunden. Zwischen H. und -> Erde be­ steht eine Brücke namens Bilröst oder Bifröst (aisl. Bürgst, Bijrpst); in der SnE wird sie als der Regenbogen erklärt. -> Griech. Himmelsvorstellungen.

Himmelsgott -> Odin; Tyr.

Hldr

Aegir.

Hlidskialf (aisl. Hliöskidlf) -> Götterwohnungen; Odin 1. Hlodyn (aisl. Hloöyri) -> Jörd. 56

Germanen

Hrungnir

Hnoss -> Freyja. Höd (aisl. Hpör; aisl. Apö, „Streit“), nordgerm. Gott, blinder -> Ase, Sohn -> Odins (SnE). H. ist der Töter -> Balders. H. wird von -> Väli getötet. Hoddmimir -> Anthropogonie.

Hönir (aisl. Hcenir), nordgerm. Gott. Sein Auftreten im Mythus ergibt kein klares Bild. H. erscheint in einer Trias mit —> Odin und -> Lodur bei der -> Anthropogonie und gibt den Menschen die geistigen Eigenschaften (Vsp 18: Neckel, 5, übers. Simrock/Kuhn, 17); in einer anderen Trias erscheint er mit Odin und -> Loki in der Einleitung zu ßm (Neckel, 169, übers. Thule I, 113) und im Mythus von -> Idun und -> Thjazi (SnE, 78, übers. Thule XX, 117f.). H. wird zusammen mit ->Mfmir beim Friedensschluß nach dem Vanenkrieg von den -> Äsen den -> Vanen als Geisel gestellt (SnE, 30, übers. Thule XX, 72; Ynglingasaga, Kap. 4: Hkr I, 12f., übers. Thule XIV, 29). Im Sogubrot, Kap. 3 (edd. C. af Petersens/ E. Olson, Kopenhagen 1919—1925,11) wirdH. als der ängstüchste Ase bezeichnet. Nach den —> Ragnarök wird H. „den Losstab wählen“ (Vsp 63). F. Ström, Guden Hcenir och odensvalan, Arv 12 (1956), 41—68.

Hreidmar (aisl. Hreiömar). -> Loki 1.

Hringhorni -> Balder. Hrungnir (etym. „Lärmer“), nordischer Riese. Der H.-Mythus be­ ginnt mit einer Wette -> Odins und H.s um das bessere Pferd, in deren Verlauf H. zu den —> Äsen reitet, von ihnen zum Gelage geladen wird und im Trünke droht, die Götter zu erschlagen außer -> Freyja und -► Sif, die er mitnehmen wolle. Der dazukommende -> Thor will gegen H. Vorgehen, wird aber von dem waffenlosen Riesen daran erinnert, daß dies als unehrenhaft gelten müsse, zu­ mal er, H., den —> Frieden Odins genieße. Es wird ein Zweikampf vereinbart. Thor erscheint dazu mit seinem Diener Thjalfi (-> Utgard-Loki); die Riesen haben zu H.s Unterstützung aus Lehm und einem Stutenherz den Lehmriesen Mökkurkalfi aufgebaut. Auf eine List Thjalfis hin trifft Thor H. tödlich, wird aber selbst vom Stück eines Wetzsteins, der Waffe des Riesen, am Kopf getroffen: beide stürzen, und H.s Bein kommt über Thors Hals zu liegen. Thjalfi erschlägt den Mökkurkalfi, vermag aber ebensowenig wie alle Äsen, H.s Bein von Thor zu heben. Das gelingt erst Thors drei­ tägigem Sohn -> Magni. Für diese Tat will Thor ihm H.s Hengst 57

Hrym

Germanen

schenken; auf den erhebt aber Odin Anspruch. Die Wetzstein­ episode wird in der Erzählung von —> Aurvandill fortgeführt. Der in der SnE (lOOff., übers. Thule XX, 144ff.) ironisch-schwankhaft wiedergegebene Mythus, auf den mehrfach an anderen Stellen an­ gespielt wird, ist in seinem Kern, dem Zweikampf Thors und H.s, wie er nach einem Schildbild bei j>jööölfr, Haustlpng 14ff. (Skj B I, 17f., übers. Thule XX, 148ff.) berichtet wird, sicher alt. Man kann in H. mit dem Wetzstein vielleicht einen steinschleudemden (steinzeitlichen?) Gewitterriesen sehen, der vom hammerwerfenden (eisenzeitlichen?) Gott des gleichen Machtbereiches überwunden wird. K. Helm AR I, 195f.; H. Schneider, Die Geschichte vom Riesen Hrungnir in: Edda, Skalden, Saga. Festschrift Felix Genzmer (1952), 200—210.

Hrym (aisl. Hrymr) -> Ragnarök.

Hugi -* Utgard-Loki.

Huginn -> Odin.

Hvergelmir -> Yggdrasill. Hymir, nordischer Riese. In der Hym (Neckel, 85ff., übers. Thule II, 17 ff.), die ihn als Vater -> Tyrs bezeichnet, gehen Tyr und —>Thor zu H., um für die Götter einen Bierbottich (->Kelt. Bier; Finn. Ukonvakat) zu besorgen. Als Kraftprobe verlangt der Riese von Thor u. a., mit ihm auf Fischfang zu gehen. H. angelt auf dem Zug zwei Wale auf einmal. Thor gelingt es, mit einem Stierkopf als Köder sogar die -> Midgardschlange an der Angel hochzuziehen. Die SnE (61 ff., übers. Thule XX, 101 ff.), die den Rahmen der Hym, die Bottichgewinnung, nicht kennt, sondern nur den Fisch­ zug berichtet, erzählt, H. habe aus Angst in dem Augenblick die Angelschnur durchgeschnitten, als Thor den Hammer gegen die Midgardschlange schwang. Die Hym knüpft an diese Episode weitere Kraftaufgaben für Thor und Tyr, bis diese mit dem Bottich H.s heimziehen können. Auf dem Rückweg erschlägt Thor den ihn verfolgenden H. und seine Riesen. Während die junge Hym in der Rahmenhandlung eine Reihe von Märchenzügen aufweist, ist das Motiv, daß Thor die Midgardschlange zu angeln versucht, alt. Das geht aus Skaldenbezeugungen (z.B. Ülfr Uggason, Hüsdräpa, Str. 5f.: Skj B I, 129) und den bildlichen Darstellungen u.a. auf dem kleineren Kreuz von Gosforth sowie den Steinen von Altuna und Hordum hervor, wo Thor durch sein kräftiges Angeln mit den 58

Germanen

Ing

Beinen durch den Schiffsboden bricht, was Snorris Erzählung er­ wähnt. Vgl. Tafel I und Tafel II (nach Seite 98). K. Reichardt, Hymiskviöa. Interpretation, Wortschatz, Alter, PBB 57 (1933), 130—156; F. R. Schröder, Das Hymirlied. Zur Frage verblaßter Mythen in den Götterliedern der Edda, ANF 70 (1955), 1—40.

Idun (aisl. Iöunn), nordgerm. Göttin, Asin, Gattin -> Bragis (Ls, SnE). I. ist im Besitz der die -*■ Äsen verjüngenden Äpfel. Der Mythus, der ihr Verschwinden berichtet, beginnt damit, daß -> Odin, —> Loki und -> Hönir unterwegs einen Ochsen zu braten versuchen, vergeblich; ein über ihnen im Baume sitzender Adler, der Riese -> Thjazi in Adlergestalt, verhindert durch Zauber das Garwerden. Gegen Gewährung einer Mahlzeit zieht er den Zauber ab, nimmt sich aber so viel von dem Bratochsen, daß Loki verärgert mit einer Stange zuschlägt. Die Stange bleibt am Adler und an Loki haften; der Adler fliegt los und schleift Loki am Boden mit sich fort. Um frei zu kommen, geht Loki auf das Verlangen des Adlers ein, ihm I. und ihre Äpfel zu verschaffen. Loki bewerk­ stelligt es, daß I. in die Gewalt des adlergestaltigen Riesen Thjazi gelangt. Die Äsen, die nach I.s Verschwinden zu altern beginnen, zwingen Loki, I. zurückzuholen. In -> Freyjas Falkengewand fliegt Loki mit der in eine Nuß verwandelten I. nach -> Asgard, verfolgt von dem Adlerriesen Thjazi, der durch List der Äsen Feuer fängt und von ihnen erschlagen werden kann. Dieser Thjazi-I.-Mythus, alt überliefert in Jjjööölfs Haustlong (Skj BI, 14ff., übers. Thule XX, 161 ff.), ähnlich erzählt von Snorri (SnE, 79ff., übers. Thule XX, 117f.), läßt I. als eine —> Fruchtbarkeitsgöttin erscheinen, deren Attribut und Symbol die Äpfel sind. Die Andeutungen der Ls 17 (Neckel 96, übers. Thule II, 53), I. sei „die Männertollste“ und habe den Töter ihres Bruders umarmt, beziehen sich auf Zusammen­ hänge, die nicht überliefert sind. A. Holtsmark, Myten om Idun og Tjatse i Tjodolvs Haustlpng, ANF 64 (1949), 1 — 73; wiederabgedruckt in Holtsmark, Studier i norran diktning (1956), 96—161; E. F. Halvorsen, Art. Idunn, Kulturhistorisk leksikon VII, 330-331.

Ing. Das angs. Runenlied (Grein/Wülker I, 335) nennt zur q-Rune x einen I., der zuerst bei den Ostdänen gesehen worden und später ostwärts über die Wogen gezogen sei. Der Runenname deutet auf einen Gott, der mit dem nordgerm. Yngvi (—>Freyr) und den Ingvaeones (Ingaevones) bei Tacitus (Germ. cap. II) zusammen­ hängt ; ein Mythus von I. ist nicht überliefert. W. Krause, Ing, in: NAWG (1944), 229—254.

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Interpretatio Romana

Germanen

Interpretatio Romana. Der älteste Bericht über eine -> Anthropo-

gonie der Germanen findet sich bei Tacitus, Germania eap. II. Hiernach gab es einen german. Hauptgott Tuisto (->Ymir), den die Erde hervorgebracht hatte. Man hat bei ihm an die von Tacitus (cap. XLIII) erwähnte Zwillingsgottheit Castor und Pollux, die bei den Hariern, Helvekonen, Manimern, Elisiern und Naharvalem verehrt wurde, zu denken, da Tuisto (nach Müllenhoff ZDA 10, 260) das Zahlwort „zwei“ enthält. Über den bei den Indogermanen vor­ kommenden, in sich selbst gedoppelten Himmelsgott berichtet Usener (Rh.Mus. LVIII, 1903, 345f.). Tacitus (cap. XLIII) sagt über die Verehrung dieses göttlichen Zwillingspaares (Büchner, Tacitus, Die historischen Versuche): „Bei den Naharvalem zeigt man einen Hain von alter Weihe. Ihn regiert ein Priester in Frauen­ tracht, aber als Götter nennen sie nach römischem Begriff Castor und Pollux. Das ist die Kraft der Gottheit, ihr Name Alken.“ Anderen germ. Hauptgöttern gibt Tacitus die römischen Namen Mercurius, Mars, Hercules und Isis. Der röm. Mercurius entspricht dem germ. Hauptgott Wodan (—>Odin). Mars ist Tiu (—>Tyr); Hercules Donar (->Thor); die Fruchtbarkeitsgöttin Isis muß als -> Freyja verstanden werden. Freyja und -> Freyr gehörten zu den —> Fruchtbarkeitsgöttern der Germanen. Freyr besaß noch in den letzten Jahrhunderten des germ. Heidentums in Uppsala einen Tempel mit einem Kultbild, das den Gott mit einem ungeheuren Phallus (cum ingenti priapo) zeigte. Was die Verehrung der Freyja als Fruchtbarkeitsgöttin betrifft, so könnte die von Tacitus (cap. IX) erwähnte Darstellung der Göttin Isis in einem Liburnerschiff — wenigstens für die Ikonographie des Bildes — die von ihm an­ gedeutete Herkunft des Kultes von außerhalb stützen. Hier ist in erster Linie an die Kelten zu denken, die, wie die Darstellung der keltischen Stammesgöttin Sequana in einem Liburnerboot zeigt, diese Art der Wiedergabe der Göttin kannten. Was Tacitus über den Kult der Isis/Freyja bei den Sueben berichtet, findet seine Entsprechung in dem, was er von dem Glauben der Aestier sagt (cap. XLV): „Sie tragen als Kennzeichen ihres Glaubens Figuren von Ebern.“ Der Eber gehörte zu den Attributen der männlichen Fruchtbarkeitsgottheit Freyr. Mercurius/Wodan oder Odin war bei den Germanen der allgemein verehrte höchste Gott. Nur ihm wurden Menschenopfer dargebracht (Tacitus cap. IX). [H. W. Haussig] Die Übersetzung der Germania des Tacitus stammt aus E. Büchner, Die historischen Versuche Agricola/Germania/Dialogus (1958). E. Norden, Die germ. Urgeschichte in Tacitus Germania (1922). -> Kelt. Eber; Herakles; Merkur; Quellgottheiten; Taf. IV, Abb. 9. -> Griech. Castor und Pollux; Mercurius; Mars; Hercules; Isis.

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Germanen

Jörd

Irmin. Widukind von Corvey (Res gestae Saxonicae 1,12) entnimmt dem Namen einer von den Sachsen errichteten Säule, den er in der Form Hirminsül gekannt haben muß, den Namen eines Gottes Hirmin, den er dem Mars gleichsetzt. Mit Berufung auf die bei

Tacitus (Germ. cap. II) erwähnten Herminones erschließen einige Forscher einen Gott I., der mit dem Kriegsgott Tiwaz (-» Tyr) identisch wäre. Der Name Irminsül (-»Kosmologie) bedeutet jedoch eher „große Säule“, wie sich aus einer Anzahl ähnlicher Zusammen­ setzungen im West- und Nordgerm, wahrscheinlichmachen läßt. K. Helm, Erfundene Götter?, in: Studien zur deutschen Philologie des Mittel­ alters, Friedrich Panzer dargebracht, hrsg. von R. Kienast (1950), 1—11.

Irminsül -»Irmin; Kosmologie. Järnsaxa -» Magni.

Jenseits Vorstellungen setzen den Glauben an ein Weiterleben nach dem —»Tode voraus. Die Mythologie schafft Stätten solchen Weiter­ lebens, die freilich kein einheitliches Bild abgeben. Das Dasein nach dem Tode spielt sich im Unterirdischen ab. Der Tote wird aus dem Grabhügel in den Raum einer größeren Gemeinschaft, in die Totenhalle, geführt. Das Totenreich -» Hel ist ein auf dem Nordweg zu erreichender Ort in der Tiefe; zugleich ist Hel der Name seiner dämonischen Beherrscherin. Jeder auf dem Land kampflos Gestorbene verfällt Hel. Die Ertrunkenen kommen in einen besonderen Totensaal zu —» Rän. Die toten Krieger werden in —» Walhall versammelt. In der mythologischen Spätzeit mit —» Odin als Totengott wird Walhall mit dem Götterwohnsitz in himmlische Regionen verlegt (-» Kosmologie). Von den -» Wal­ küren ausgewählt, werden die toten Krieger in die Odinsschar der —» Einherier eingereiht, um die Götter im Kampf der —» Ragnarök zu unterstützen. Während die Welt mit ihren Bewohnern in den Ragnarök untergeht, ohne daß die alten Hauptgötter und die Menschen in eine andere Daseinsform hinüberfinden, erscheinen in der Vision der Vsp die vorher zu Hel eingegangenen —» Balder und —» Höd zusammen mit den überlebenden Götterabkömmlingen in einem neuen Dasein in der erneuerten Welt. G. Neckel, Walhall. Studien über germanischen Jenseitsglauben (1913). -» Kelt. Jenseits. -» Pinn. Jenseitsvorstellungen 2. -» Ung. Skythien. -» Lett. Weltbild. Griech. Jenseitsvorstellungen; Totenreich.

Jörd (aisl. Jprö f., —>■ „Erde“), Name einer nordgerm. Göttin. Die SnE (17, übers. Thule XX, 57) bezeichnet sie als Tochter -» Odins

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Kosmogonie

Germanen

und zugleich als seine Frau. Sie gilt wie -> Fjörgyn als Mutter -> Thors (Ls, prk, SnE).

Kosmogonie. Einen bestimmbaren Weltanfang als Schöpfung kennt das germ. Heidentum nicht, wohl aber ein Weltwerden, aus dem die Götter selbst hervorgehen und an dem sie dann schaffend und ordnend mitwirken. Feste kosmogonische Vorstellungen sind nur im nordgerm. Raum greifbar. Nach der SnE (11 ff., übers. Thule XX, 51ff.) bestehen vor dem eigentlichen Werden bereits mythische Weltorte: im Süden das heiße -» Muspell, als Gegenstück das kalte —> Niflheim. Aus Niflheim kommend, füllen die Ströme Eliwagar die Schlucht Ginnungagap von Norden mit Eis und Reif. Darauf trifft der heiße Luftstrom Muspells und bewirkt einen Schmelzvorgang, durch den — bei Snorri „durch die Macht dessen, der die Hitze sandte“ — der Urriese -> Ymir entsteht. Nach einer weiteren, theogonischen Etappe (-> Anthropogonie) schaffen die Götter —> Odin, —> Vili und Ve aus den Körperteilen des von ihnen erschlagenen Ymir die Erde und aus seinem Blut das sie umschließende Meer. Schließ­ lich ist die Ordnung der Welt Werk der Götter. Diese Darstellung der SnE enthält Elemente der Spekulation, die verschiedene Über­ heferungen harmonisieren. So zitiert die SnE Vsp 3 (Neckel, 1, übers. Thule II, 35) in der Form, daß im Anfang „nichts“ ge­ wesen sei, während es im Codex Regius der Edda und in der Hauksbök heißt, daß in der Urzeit schon Ymir gehaust habe. Der Urzustand wird in Vsp nur als Nichtsein des vorstellungshaft Be­ kannten ausgedrückt: „es gab weder Sand noch Meer . . .“ usw., bis die Götter (Str. 4) „die Erde emporhoben“ und (Str. 5ff.) die Ordnung der Welt festlegten. Daß Ymirs Glieder Urstoff der Schöp­ fung sind, wird in Grm 40f. (Neckel, 63, übers. Simrock/Kuhn, 32) und Vm 21 (Neckel, 47, übers. Thule II, 88) erzählt. Vm 31 be­ richten einfacher als SnE die Entstehung eines nicht namentlich genannten Urriesen aus den Eliwagar.

Spurenhafte Übereinstimmungen mit der nord. Urzustandsschilde­ rung finden sich auch in außemordischen Quellen (s. J. de Vries AR II, 361 Anm.; K. Helm AR II, 2, 285). Adam von Bremen erwähnt in seiner Kirchengeschichte (IV, 39) den Grenzschlund des nördlichen Ozeans, den ein Scholion mit dem Namen Ghimmendegop versieht. Über das Entstehen einer neuen Erde nach dem Untergang der alten: ->Eschatologie. -»Friede. K. Helm, Weltwerden und Weltvergehen in altgermanischer Sage, Dichtung und Religion, HBV 38 (1940), 1—35 mit weiterer Literatur.

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Germanen

Krieg

Kosmologie. Das mythische Weltbild der Germ, ist anthropozentrisch, so wie ursprüngliches Denken den Menschen und das von ihm ein­ genommene Territorium in die Mitte der Weltvorstellung rückt. Für die bewohnte Erde gibt es eine gemeinsame germ. Bezeichnung, die die Mittellage des Ortes betont; sie liegt vor in got. midjungards, aisl. miögarör (-^Midgard), ae. middangeard, as. middilgard, ahd. mittilagart. Um den Schild der Erde und seinen ,,Mittgart“ zieht sich in einem Gürtel das Meer. Nach nord. Auffassung um­ schlingt darin die -> Midgardschlange die Erdscheibe. An der Peripherie des nordgerm. Midgards erstreckt sich nach allen Rich­ tungen der teils öde, teils von —> Dämonen behauste —> Utgard. Nach Norden führt der Weg ins Totenreich (—> Hel), nach Norden und vor allem nach Osten in die Heimat der -> Riesen (-> Riesen­ heim). Die übrigen Himmelsrichtungen sind weniger deutlich aus­ gestaltet. Eschatologisch erscheint auch der Süden dämonisiert (-> Surt), während er sonst diesen Aspekt nicht hat. Der Westen ist für die Nordgermanen von mythischen Gefahren frei. Über der Erde wölbt sich als Halbkugel der aus dem Schädel des Urriesen -> Ymir Riesen) geformte Himmel. Nach der SnE stehen vier —> Zwerge mit den Namen Austri, Vestri, Nordri (aisl. Noröri) und Sudri (aisl. Suöri) an den Enden der Himmelsrichtungen. In der mythologischen Spätzeit wird der Götterwohnsitz -> Asgard in himmlischen Regionen vorgestellt. In der Tiefe ist der Aufenthalt der Toten. Über den nordgerm. Bereich hinaus scheint die An­ schauung von der Himmelsstütze Geltung gehabt zu haben. Welt­ baum (—> Yggdrasill) und Weltsäule tragen das Himmelsgewölbe. Ein kultisches Abbild der Weltsäule ist in der Irminsül der Sachsen zu sehen, die Karl der Große 772 zerstörte. Sie ist nicht die einzige Säule dieser Art und dieses Namens auf deutschem Boden gewesen (Quellen bei Grimm DM I, 96ff. und III, 45; und bei H. Wesche, PBB 61 (1937), 78f.). Die hier zusammengezogenen Bausteine mythisch-kosmologischer Vorstellungen bei den Germanen lassen sich keineswegs zu einem System mit zeitlich und räumlich einheitlicher Geltung ordnen. JenseitsVorstellungen. J. de Vries AR II, 372ff.; J. Trier, Irminsül, WF 4 (1941), 99—133. -> Kelt. Jenseits. -» Finn. Weltbild. Ung. örfa; Skythien; Tetejeteen nagy fa. -> Lett. Weltbild. —> Grieeh. Kosmogonie.

Krieg. Die Götter selbst führen nach einem friedlichen Anfangs­ stadium der Welt den ersten K. (—> Äsen). Ihr ganzes mythisches Dasein ist von einer kriegerischen Grundhaltung getragen, die teils Merkmale germ. Gemeinschaftsformen (Sippe und Gefolgschaft) 63

Kriegsgott

Germanen

spiegelt, teils mythisierte Abenteuermotive erkennen läßt. In den einzelnen Göttergestalten ist diese Haltung, ihren jeweiligen mythi­ schen Rollen entsprechend, unterschiedlich ausgeprägt. Als Kriegs­ gottheiten gelten -> Odin und -> Tyr. Gegner der Götter sind die -> Riesen und -> Dämonen, die außerhalb des Götterbereichs am Rande der Welt autonom existieren. Im -> eschatologisehen End­ kampf unterliegen die Götter den von allen Seiten andringenden feindlichen Mächten (-> Ragnarök). -*■ Friede. Kriegsgott -> Tyr. Kuh, Urkuh -> Anthropogonie.

Kvasir, nordgerm. mythische Figur, Personifizierung eines Gär­ getränks (norw. kvase). Im Mythus entsteht K. so wie das Getränk durch Zusatz von Speichel: -> Äsen und -> Vanen speien nach Beendigung ihres Krieges gemeinsam in ein Gefäß. K. gilt als der klügste Mensch. In der Ynglingasaga, Kap. 4 (Hkr I, 13, übers. Thule XIV, 29) gehört K. zu den Geiseln, die von den Vanen ge­ stellt werden. K. wird von -> Zwergen erschlagen; aus seinem Blut, mit Honig vermischt, stellen sie den -> Skaldenmet her (SnE, 82, übers. Thule XX, 120f.), der jeden, der davon trinkt, zum Weisen und Dichter werden läßt. B. Stübe, Kvasir und der magische Gebrauch des Speichels, in: Festschrift Bugen Mogk (1924), 500—509.

Lärad (aisl. Lazräör) -> Yggdrasill. Lauiey -> Loki 1. Leuchtmähne -> Tag.

Lichtgott -> Balder.

Lii, Lifthrasir (aisl. Lif, Lifprasir) -> Anthropogonie. Lodur (aisl. Loöurr) -> Loki.

Logi -> Utgard-Loki.

Loki, nordgerm. Gott. Der Göttername aisl. Loöurr ist mit Wahr­ scheinlichkeit nur eine andere Namensform für L. Mit diesem aisl. Loöurr versucht man immer wieder den Namen frühahd. Logapore auf der ins 6./7. Jahrh. datierten größeren Nordendorfer Runen­ spange (s. u.) zu verbinden. Die Forscher vermuten hinter diesen Namen ein und dieselbe mythische Person. Im nord. Mythenmärchen von —> Thors Fahrt zu —> Utgard-Loki wird der Name L. volksetym. mit aisl. logi, „Lohe“, in Beziehung gebracht. Eine Beziehung 64

Germanen

Loki

des Namens L. zum Feuer ist auch von der wissenschaftlichen Etym. verschiedentlich, zuerst von Jacob Grimm, angenommen worden. Daneben hat man u.a. L. zu germ. lükan, „schließen“, gestellt und ihn so als den Endgott, der den Weltuntergang herbeiführt, ver­ standen (Nachweise der etym. Deutungen bei J. de Vries AR II, 265, 271 f.). Krogmann führt Logapore und Lodurr mit einem Glossenwort ae. logepor, „cacomicanus“ (=griech. xaw^z//aro?), zusammen und versucht von daher eine Bedeutung „der Arglistige, Heuchlerische“ zu fassen und L. als Kurzform dazu anzunehmen. 1. L.-Myihen. Im nordgerm. Mythus ist L. Sohn des riesischen Färbauti (jzjööölfr, Haustlong; Ülfr Uggason, Hüsdräpa; SnE; Sorlajzättr) und der Laufey (Ls, prk, SnE, Sorlajzättr) oder Näl (SnE, Sorlajzättr). Snorri gilt er als Bruder des Byleistr und des Helblindi (SnE). L.s Frau heißt -> Sigyn (pjööölfr, Haustlong; SnE); beider Sohn ist Nari oder Narfi (SnE). L. ist parens monstronim: seine Kinder mit der Riesin Angrboda (aisl. Angrboöa) sind der Wolf-> Fenrir (Hdl; pjööölfr, Ynglingatal; SnE), die -> Mid­ gardschlange (SnE) und —>Hel (jzjööölfr, Ynglingatal; SnE). In L.s genealogische Beziehungen gehört außerdem, daß er als Stute (vgl. —> Asl. Vila; Kelt. Epona; Rhiannon; Ung. Särkäny) den Hengst Sleipnir geboren hat (s. u.).

L. ist die rätselhafteste Gestalt der nord. Mythologie: verwand­ lungsfreudig, listenreich, verschlagen, Unheilstifter, Spaßmacher, Gegner und doch auch wieder Helfer der Götter. In Urtagen haben —> Odin und L. ihr Blut zusammen gemischt und so Blutsbrüder­ schaft geschlossen (Ls 9: Neckel, 95, übers. Thule II, 52f.). Wo L. in Verbindung mit Odin auftritt, fungiert er als der listige Helfer der Götter. Die Riesenbaumeistersage (SnE, 45ff., übers. Thule XX, 87ff.) erzählt, in früher Zeit habe sich ein Riese erboten, den Göttern in drei Halbjahren die vortrefflichste Burg zu bauen, wenn er dafür —> Freyja sowie —> Sonne und -> Mond als Lohn be­ komme. Die -> Äsen gehen unter der Bedingung, die Burg müsse bis zum ersten Sommertag fertig sein, darauf ein und gewähren auf L.s Rat dem Riesenbaumeister die Hilfe seines Hengstes Svadilfari (aisl. Svaöilfari). Die Arbeit von Baumeister und Pferd ge­ deiht so rasch, daß die Äsen befürchten, dem Riesen nach ab­ gelaufener Frist den vereinbarten Lohn geben zu müssen. Sie zwingen L., Abhilfe zu schaffen. In Gestalt einer Stute (-> Gestalt­ wechsel) lockt L. den Svadilfari von der Arbeit weg. Der Riese kommt mit dem Bau in Verzug; die Äsen fühlen sich nicht mehr an den Vertrag gebunden; —>Thor erschlägt den Riesenbaumeister. L. aber gebiert nach einiger Zeit ein graues, achtbeiniges Hengst­ s

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Loki

Germanen

fohlen, den Sleipnir, „das beste Roß bei Göttern und Menschen“. Das auch anderwärts bekannte, aber mit einer anderen Bedingung versehene und besonders an die Erbauung verschiedener skand. Kirchen geknüpfte Riesenbaumeistermotiv ist nur bei Snorri als My­ thus überliefert; Snorri bezieht jedoch die Andeutungen zweier Stro­ phen der Vsp (25f.) auf die Riesenbaumeistersage. Gefahrbringend und doch die Gefahr listig abwendend ist L.s Verhalten auch im Andvari-Mythus (Rm 1 bis 9 und Prosastücke: Neckel, 169ff., übers. Thu­ le 1,113ff.), den Snorri zur Erklärung der GoYdkenning „Otterbuße“ wiedergibt (SnE, 126 ff., übers. Thule XX, 185 f.). Auf einer Fahrt mit Odin und -»Hönir erschlägt L. einen Fischotter und nimmt die Beute mit in die Herberge zu Hreidmar (aisl. Hreiömarr). Hreidmar erkennt in dem Otter seinen Sohn und verlangt als Lösegeld, die Äsen sollten den Otterbalg mit Gold füllen und umhüllen. Das Gold er­ langt L. von einem in Fischgestalt lebenden Zwerg namens Andvari, den er fängt. Der Zwerg belegt den Goldring Andvaranaut mit dem Fluch, wer ihn besitze, dem solle er den Tod bringen. (Andvaris Schatz und sein Ring gelangen später in den Besitz Fafnirs und Sigurd-Sigfrids und so in die Nibelungensage.) Ein Zu­ sammenwirken Odins und L.s zeigt ferner der Diebstahl des -» Brisingamen, den L. ausführt. Um das Brisingamen hat L. eine Aus­ einandersetzung mit -> Heimdall. Zwiespältig ist L.s Verhältnis zu Thor. Den Riesen -> Thrym täuschen beide gemeinsam. L. begleitet Thor auf der Fahrt zu —» Utgard-Loki. Thor gerät durch L.s Unvorsichtigkeit in die Auseinandersetzung mit —» Geirröd. Boshaft schneidet L. Thors Frau, -» Sif, das Haar ab. Im übrigen stellt sich L. durch sein Handeln in Gegensatz zu allen anderen Göttern. Aus Eigennutz verschafft er dem Riesen -»Thjazi —>Idun. Obszön ist L.s Verhalten —» Skadi gegenüber. Beim Gastmahl, das —»■ Aegir für die Götter veranstaltet, verhöhnt und beschimpft L. in einem Streitgespräch (aisl. senna) die Götter, und zwar der Reihe nach -» Bragi, Idun, -» Gefjon, Odin, -» Frigg, Freyja, -»Njörd, -» Tyr, -» Freyr, Heimdall, Skadi, Sif und Thor; vor Thor allein weicht er zurück (Ls: Neckel, 93ff., übers. Thule II, 51 ff.). L.s ehrenrührige Anspielungen sind nicht alle in ihrem Hintergrund deutlich. Allen Göttinnen, die sich mit ihm in Wortwechsel ein­ lassen, macht L. den Vorwurf der Lüsternheit und des Ehebruchs. Odin beschuldigt er, -» seiör getrieben zu haben. Die Ls setzt die Hauptuntat L.s als schon geschehen voraus: L. ist — mit einem Ausdruck von de Vries — der „auctor intellectualis“ von -» Balders Tod. Als parens monstrorum und durch sein eigenes Eingreifen in die -»Ragnarök trägt L. auch den Hauptanteil der Schuld am Untergang der Götter. Bevor er in den Ragnarök frei wird 66

Loki

Germanen

und mit den Leuten ->Muspells übers Meer zum Kampf fährt (Vsp 51), bestrafen ihn die Götter. L. fürchtet die Rache der Götter und verbirgt sich auf einem Berge. Als er die Götter heran­ kommen sieht, springt er als Lachs in einen Wasserfall. Mit L.s eigener Erfindung, einem Fischnetz, gelingt es den Göttern, L. zu fangen. Sie binden L. in einer Felshöhle. Skadi bringt eine Giftschlange so über L. an, daß ihm das Gift ins Gesicht träufelt. Aber Sigyn hält eine Schüssel unter das Gift. Wenn die Schüssel voll ist und sie das Gift ausschüttet, fallen die Tropfen L. ins Gesicht, und „er zuckt so heftig, daß die ganze Erde bebt“. Die vollständige Quelle für L.s Bestrafung ist die SnE (68ff., übers. Thule XX, 108f.); vgl. daneben Vsp 35 (Neckel, 8, übers. Thule II, 38f.) und Ls Schlußprosa (übers. Simrock/Kuhn, 100).

2. L., Lööurr, Logapore. L.s häufigster Beiname ist Loptr. „Lopts vinr“ und „Lööurs vinr“ („Lopts bzw. Lodurs Freund“) sind kenningar für Odin (z. B. Einarr skälaglamm, Vellekla, Str. 12: Skj BI, 118; Eyvindr, Häleygjatal, Str. 10: Skj BI, 61; Haukr Valdisarson, islendingadräpa, Str. 1: Skj B I, 539). Lööurr erscheint zusammen mit Odin und -> Hönir in der -> Anthropogonie der Vsp. Die Trias kommt sonst mehrfach mit L. an Stelle von Lööurr vor (vgl. Betz, DPh 1. Aufl. III, 2523). Die Vermutung ist also be­ gründet, daß Lööurr nur eine andere Namensform für L. ist. Zur Etym. s. o. Während für L. im Norden irgendeine Beziehung zum Kult nicht nachweisbar ist, belegt die 1843 beim Bau der Eisenbahn von Augs­ burg nach Donauwörth gefundene größere Nordendorfer Runen­ spange möglicherweise eine sdgerm. Entsprechung des Gottes in mindestens magischer Geltung. Die Inschrift lautet (in der Reihen­ folge der Zeilen nach W. Krause, Runeninschriften im älteren Futhark, 1937, 203): awdleubwini wiguponar wodan logapore

Übersetzung: „Awa Leubwini (PN), Schleuder-Donar, Wodan, Lo­ gapore.“ Bei den Göttemamen wird es sich um eine magische An­ rufung handeln. (Auf die Inschrift kann hier nicht näher ein­ gegangen werden.) 3. Deutungen L.s. L.s Charakter verbindet überlegene Intelligenz mit Schalkheit, Bosheit und Tücke: Züge, die aus dem Mythus 5*

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Macht

Germanen

erwachsen und in ihm verankert sind. Diese Züge sind in der volks­ tümlichen L.-Tradition, die sich über ganz Skandinavien ausbreitet, fruchtbar ausgestaltet. Das volkskundliche L.-Material ist jedoch für die Entstehungsgeschichte der L.-Mythen nicht verwertbar. L.s Fesselung ordnet sich dem Typus der Prometheussage zu; das Motiv vom gefesselten -> Riesen ist außerdem vor allem aus kau­ kasischen Sagen bekannt. Beide Schichten der nordischen L.-Vorstellung scheinen sich im Mythenmärchen von —> Utgard-Loki zu begegnen (Schneider): einerseits in Utgarthilocus bei Saxo die des gefesselten -> Dämons, andererseits in L., aus den Zügen seines Charakters in der übrigen Überlieferung hervorgegangen, die des listigen Götterbegleiters, einer Funktion, die sich schwer von der des tückischen Schädigers der Götter trennen läßt. Charakter und Typus des göttlichen Be­ trügers hat J. de Vries (The Problem of Loki) zum Angelpunkt seiner Interpretation der L.-Gestalt als „trickster“ gemacht, später diese Deutung aber als nicht befriedigend bezeichnet (AR II, 266). Dumézil zieht Parallelen aus der oss. und aus der ir. Sagenüber­ lieferung zum Vergleich heran und versucht L. als die Verkörperung der impulsiven Intelligenz, die immer der Gefahr des Mißbrauchs unterliegt, zu fassen. Bei der Beurteilung der L.-Gestalt auf Grund der germ. Überlieferung wird man seine enge Verbindung mit -> Odin, nicht mit -> Thor (wie Olrik meinte), im Auge behalten müssen (Ström). Odin zeigt vergleichbar schillernde Wesenszüge. Die Zurückführung der Entwicklung auf eine ursprüngliche Identi­ tät L.s mit Odin geht jedoch zu einseitig mit den religionshistori­ schen Möglichkeiten um. A. Olrik, Tordenguden og hans dreng, DS (1905), 129—146; H. Celander, Lokes mytiska Ursprung, Sprakvetenskapliga sällskapets i Uppsala förhandlingar (1906—1909), 18 — 140; A. Olrik, Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang (1922); E. J. Gras, De Noordse Loki-mythen in hun onderling verband (1931); J. de Vries, The Problem of Loki (1933) (PFC 110); W. Krogmann, Loki, APhS 12 (1937/38), 59—70; H. Schneider, Loki, ARW 35 (1938), 237—251; G.Dumézil, Loki (1948; deutsch 1959); P. Ström, Loki. Ein mythologisches Problem (1956) (Göteborgs universitets arsskrift 62, 8); A. B. Rooth, Loki in Scandinavian mythology (1961) (SKHVL 61).

Macht -> Göttliche Mächte. Magie. Von den verschiedenen Arten der M. sind in der germ. Mytho­ logie vor allem der vanische (^-Vanen) —>seiör, der asische (—>Asen) -* galdr und die -> Runenmagie von Bedeutung. Die magische Macht (aisl. meginn., mdttr m.) ist übernatürliche Zauberkraft, die sich in jedem Wesen auf besondere Weise zeigt. So wird der Gott

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Germanen

Meergottheiten.

—> Heimdall erst durch die Erdkraft (aisl. jaröar megin) voll wirk­ sam (Hdl 43: Neckel, 291, übers. Thule II, 47), und erst durch das „dsmegin“ gewinnen die Götter ihre überlegene Macht. Beim Menschen ist „mättr ok megin“ gleichbedeutend mit seinem Macht­ gefühl, das ihn zur Bewältigung seines Lebens befähigt (das ihm angeborene Glück, das in der -> hamingja auch übertragbare Ge­ stalt annehmen kann). —>Odin; Mantik. -► Lit. Zauber. -> Asl. Zauber. -> Kelt. Magie. -> Kinn. Zauber. -> Ung. Zauber. -> Griech. Zauber.

Magni, Sohn -> Thors und der Järnsaxa, Bruder des -> Modi (Hrb, SnE). M. hebt, drei Tage alt, das Bein -> Hrungnirs von Thor (SnE, 103, übers. Thule XX, 147), M. und Modi besitzen nach den —> Ragnarök den Hammer Thors (Vm 51: Neckel, 52, übers. Thule II, 92; SnE, 75, übers. Thule XX, 114f.). Mantik. Schon Tacitus (Germ. cap. VIII) weiß von der besonderen mantischen Begabung der germ. Frauen als Weissagerinnen und Seherinnen (aisl. spdkona sg.). Fast göttlich verehrt waren die Veleda im Lipper Land wegen ihrer Orakelsprüche (Tacitus, Hist. IV, 60f.) und die Albruna (Germ. cap. VIII), berühmt die Ganna und die semnonische Waluburg. Große Verehrung wegen ihres Zu­ kunftsblicks genoß die nordische vplva, d. h. Stabträgerin. Einer idealisierten und ins Mythische gesteigerten vplva, vor deren geisti­ gem Blick die Urvergangenheit ebenso offen lag wie die Zukunft und das Endschicksal der Götter und Menschen, und die in —> Odins Auftrag zu den Menschen spricht, ist die tiefste mythologische Dichtung des Nordens in den Mund gelegt, die Voluspä, „Der Seherin Weissagung“ (Neckel, lff., übers. Thule II, 35ff.). Zum Grabe einer vplva reitet Odin (Bdr: Neckel, 273ff., übers. Thule II, 24ff.), um sie durch Totenzauber (aisl. valgaldr) zur Deutung von -> Balders Träumen zu zwingen. Solchen Totenzauber übt auch der von der bösen Stiefmutter gebannte Svipdag, als er seine

Mutter Gröa (-> Aurvandill) aus dem Grabhügel weckt (Gg 1: Neckel, 298, übers. Thule II, 177). Neben der Totenbeschwörung gab es noch andere Verfahren der Zukunftserforschung und -erfragung (aisl. frdtt f.): u. a. durch —> seiör, durch Losorakel und besonders durch die utiseta, das „Draußensitzen“, wofür ebenfalls die Vsp das berühmteste Beispiel bietet: Odin selbst besucht die einsam auf ihrem Orakelsitz „draußensitzende“ vplva (Vsp 28f.) und belohnt sie für ihre Auskünfte über die Zukunft. ->Odin; Mimir. -> Asl. Pferdeorakel; Weissagung. -> Pinn. Omen. -> Griech. Weissagung; -> Vorzeichen.

Meergottheiten -> Aegir; Njörd; Rän.

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Midgard

Germanen

Midgard (aisl. Miögarbr m.), der „Mütgart“ (-> Kosmologie), die von Menschen bewohnte Erde. Der M. ist von den Göttern geschaffen : und wird besonders von —> Thor gegen die —> Riesen verteidigt (Vsp). In Anlehnung an Grm 40 (Neckel, 63) ist für Snorri M. eine Burg, deren Wall aus den Wimpern des Urriesen -> Ymir errichtet ■ist; die Menschen siedeln im Schutze dieser Burg (SnE, 16, übers. Thule XX, 56f.). Midgardschlange (aisl. Miögarösormr m., auch Jgrmungandr, „riesiger (Zauber-)Stab“ oder „Zauberungetüm“), dämonisches Wesen von riesenhafter Größe (-> Dämonen). Die M. liegt, sich in den Schwanz beißend, rings um Midgard, die bewohnte Erde, im Weltmeer. Sie ist Abkömmling -> Lokis und der Riesin Angrboda (aisl. Angrboöa), ihre Geschwister sind —> Fenrir und —>Hel (SnE, Skaldik). Die M. hat riesische Eigenschaften (-> Riesen), besonders den Riesenzom (Vsp 50: Neckel, 11, übers. Thule II, 41). Ihr Gegner ist -> Thor. Das Gegnerverhältnis hat verschiedenartige Ausprägungen erfahren. Episodenhaft ist die Kraftprobe bei —> Utgard-Loki. Dort gelingt es Thor nicht, die als Katze erscheinende M. vom Boden zu heben (SnE, 60, übers. Thule XX, 100). Bekannt und von den Skalden öfters erwähnt ist der Versuch Thors, die M. zu angeln, den der Riese —> TTymir vereitelt (Hym 22 ff.: Neckel, 89, übers. Thule II, 20f.; SnE). Thor erlegt die M. in den —> Ragna­ rök, geht aber an den Folgen des Kampfes zugrunde. -> Griech. Thyphon.

Mimameiör -> Yggdrasill.

Mimir, auch Mimr, Mimi, rätselhafte Figur elbischen (-> Elben), gött­ lichen oder riesischen (-> Riesen) Wesens in der nordgerm. Mytho­ logie. Snorri erzählt in der Ynglingasaga, Kap. 4 (Hkr I, 13, übers. Thule XIV, 29), daß die —> Äsen den —> Vanen nach dem AsenVanen-Krieg —> Hönir und M. als Geiseln stellten. Hönir sei von dem weisen M. in allen Dingen beraten worden und habe sich sehr unselbständig gezeigt, wenn er ohne M. war. Die Vanen hätten sich daher beim Geiselaustausch hintergangen geglaubt, M. das Haupt abgeschlagen und es —> Odin geschickt. Dieser habe es einbalsamiert und besprochen, so daß es zu ihm redete und ihm Verborgenes enthüllte. Es ist nicht entschieden, inwieweit diese Erzählung nur mythographische Erklärung des weissagenden Mims hgfuö („M.s Haupt“) ist. Die Fähigkeit des Hauptes zur Weissagung belegt Sd 14 (Neckel, 188, übers. Thule II, 169). Zu Beginn der —> Ragna­ rök spricht Odin mit M.s Haupt (Vsp 46: Neckel, 11, übers. Thule II, 40). Die vglva (->Mantik) weiß überdies, daß Odin sein Auge im 70

Germanen

Muspell

Mimirbrunnen verborgen hat und daß M. jeden Morgen Met vom „Pfände Walvaters“ trinkt (Vsp 28). Die SnE sagt nicht mehr über M., als aus der Vsp hervorgeht. (Über die Belege weiterer Namen­ formen s. J. de Vries AR I, 245ff.) Der Deutungsversuch, der Mlms lipjub und Mlmis brunnr als Quellhaupt und die Mlms synir (Vsp 46) als die Wasserläufe im Zusammenhang einer Wasser­ orakelvorstellung versteht, dürfte dem Mythus von M. am ehesten gerecht werden. K. Müllenhoff DA V, 99 ff.

Mjöllnir (aisl. Mjgllnir) -> Thor. Modgud (aisl. M6ögubr)^>- Hel.

Modi (aisl. Modi), Sohn Thors, Bruder des —> Magni (Hym, SnE). Magni und M. überleben die -> Ragnarök und erben den Hammer ihres Vaters (Vm 51: Neckel, 52, übers. Thule II, 92; SnE, 75, übers. Thule XX, 114f.). Mökkurkalfi -> Hrungnir.

Mond. Nach Vm 23 (Neckel, 47, übers. Thule II, 89) und SnE (17f., übers. Thule XX, 58f.) ist der M. (aisl. Mäni) Sohn des Mundilferi, Bruder der —> Sonne. Er lenkt das M.gefährt (—> Götterwagen) am Himmel (->Nacht; Sonne; Tag). Der Glaube, daß der M. vor allem bei Finsternissen von Ungeheuern bedroht ist, ist westgerm. mehrfach belegt. Im Norden berichtet die SnE, daß der M. beim Weltuntergang (-> Eschatologie) von einem Wolf verschlungen werden wird. Lit. Menülis. -> Kelt. Manannän. -> Finn. Mond; Ukko. -> Lett. Meness. -> Griech. Mond.

Mundilferi -> Mond; Sonne.

Muninn -> Odin.

Muspell. Ahd. muspilli, as. mutspelli (mudspelli), aisl. muspell, n., -> eschatologischer Begriff, etym. undurchsichtiges Kompositum (Übersicht der Deutungen bei Braune/Helm, Ahd. Leseb., 168f.). Man hält heute überwiegend das Wort für heidnischen Ursprungs und denkt an die Möglichkeit, daß es in christlichen Dichtungen (Muspilli, Heliand) bewußte oder dunkle heidnische Reminiszenz ist, deren Inhalt sich von der Vorstellung eines Weitendes durch Feuer her bestimmt. Im Norden begegnet die Form M. nur in einer Gruppe der Hss der SnE. M. tritt sonst auf als Bestimmungswort in Verbindungen wie M.s heirnr („M.heim“),M.s megir („M.ssöhne“), was einen

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Myrkviör

Oermanen

sicheren Rückschluß auf den N. sg. nicht zuläßt, eine Personifika­ tion Muspellr aber nahelegt. Snorri hat die M.-Vorstellung aus der positiven Sicht der lebenbegünstigenden Wirkung des Feuers in seine —> Kosmogonie aufgenommen. M.heim ist der vor der Schöp­ fung bestehende heiße Weltort; aus den dorther sprühenden Funken schaffen die Götter die Gestirne (SnE, 11. 15, übers. Thule XX, 52.55). Mit M.heim wird -> Surt in Verbindung gebracht: er herrscht dort bzw. übt dort das Landwächteramt aus. Surt besitzt ein lohendes Schwert, womit er die Welt verbrennen wird (SnE). Surt und die M.ssöhne treten in den nord. Endzeitvisionen auf. In Vsp 51 (Neckel, 12, übers. Simrock/Kuhn, 22) fährt -> Loki mit den M.sleuten (aisl. M.slyöir) übers Meer zum Kampf gegen die Götter in den —> Ragnarök. Surt bringt das verderbende Feuer (Vsp 52). Ls 42 (Neckel, 101, übers. Thule II, 57) läßt die M.s­ söhne zu diesem Kampf durch den Myrkviör („Dunkelwald“, „Grenzwald“) reiten. Das ist auch die Sicht der SnE (71, übers. Thule XX, Ulf.): Surt reitet den M.ssöhnen voran, umgeben von Feuer; er schlägt —> Freyr im Kampf und schleudert Feuer über die Erde, so daß sie in Flammen aufgeht. Das Feuermotiv findet sich auch in dem von Schmeller „Muspilli“ genannten ahd. Gedicht vom Weltuntergang. Elias wird im Kampf mit dem Antichrist verletzt; das niedertropfende Blut entzündet die Erde, und sie verbrennt. In diesem Zusammenhang heißt es: Wenn der Tag der Strafe kommt, dar ni mac denne mak andremo helfan vora demo muspille. (Z. 57) („da kann kein Sippengenosse dem andern helfen vor dem M.“). Zwei weitere, nd. Belege stehen im Heliand 2591 und 4358 in Ver­ bindung mit dem Jüngsten Gericht. Die Verbreitung des Begriffs M. läßt die Vermutung zu, daß die Vorstellung des Weltbrandes West- und Nordgermanen eigen ge­ wesen ist. Wahrscheinlich haben die Nordgermanen sie von ihren südlichen Nachbarn übernommen. Über die ursprüngliche Her­ kunft ist damit noch nichts gesagt. Literatur s. Braune/Helm, Ahd. Leseb., 168 ff. -> Finn. Eschatologie.

Myrkviör -> Muspell.

Mythische Tiere -> Anthropogonie; Audhumla; Berserker; Fenrir; Freyja; Freyr; Garm; Gefjon; Heidrun; Hel; Idun; Loki; Midgard­ schlange ; Mond; Nacht; Odin 1; Pferde; Saehrimnir; Skaldenmet; Svadilfari; Tag; Thor; Utgard-Loki; Yggdrasill. 72

Germanen

Njörd

Nacht. Nach Vm 25 (Neckel, 47, übers. Thule II, 89) und SnE (17f., übers. Thule XX, 57f.) ist die N. (aisl. Nott) Tochter eines Riesen, von Natur schwarz, hat aus drei Ehen je ein Kind, aus der letzten mit Delling (aisl. Dellingr) den Sohn Dag (aisl. Dagr), den -> Tag. N. und Tag fahren, von Allvater mit Wagen (-> Götterwagen) und Pferden ausgerüstet, über den Himmel (—>Mond; Sonne), die N. voran mit dem Hengst Reifmähne, der die Erde betaut. -> Kelt. Manannän. ->■ Finn. Ukko. -> Griech. Tag und Nacht.

Naglfar (aisl.), „Nagelschiff“, das nordische Totenschiff. N. kommt zu Beginn der -> Ragnarök los (Vsp 50: Neckel, 11, übers. Thule II, 41). Snorri faßt es als Fahrzeug der Muspellssöhne (-> Muspell) auf und deutet es, möglicherweise volksetym., aber in Überein­ stimmung mit einem auch anderweitig belegten isl. Volksglauben, als das aus den Nägeln der Toten erbaute Schiff (SnE, 47. 71, übers. Thule XX, 90, 110f.). -> Finn. Jenseitsvorstellungen 3. -r Griech. Jenseitsvorstellungen; Toten­ reich.

NM

Loki 1.

Nanna -> Balder. Narfi, Nari -> Loki 1. Nerthus -> Njörd.

Nidhögg (aisl. Niöhgggr) -> Yggdrasill. Niflheim (aisl. Niflheimr), Niflhel -> Hel; Kosmogonie.

Njörd (aisl. Njprör-, zur Etym. s. J. de Vries, AR II, 163f.), nordgerm. Gott, —► Vane, Vater von —> Freyr und —> Freyja, die aus Geschwisterehe hervorgegangen sind (Grm, Skm, Ls, j>rk, SnE, Ynglingasaga). Später ist N. Gatte der -> Skadi (Grm, Hdl, SnE). N. wohnt in Nöatün (Grm 16: Neckel, 58, übers. Thule II, 81; j>rk 22: Neckel, 110, übers. Thule II, 14). Er ist reich, gebietet über Wind, Meer und Feuer; man ruft ihn an für Seefahrt und Fischfang (SnE, 30, übers. Thule XX, 71 f.). N. ist den -> Äsen von den Vanen als Geisel gestellt und wird beim Weitende (-¿»Escha­ tologie) zu den Vanen zurückkehren (Vm 39: Neckel, 50, übers. Thule II, 91). Nach der Ynglingasaga, Kap. 9 (Hkr I, 22, übers. Thule XIV, 35) herrscht er nach -> Odins Tod über die Schweden. N. entspricht lautlich völlig dem Namen der Göttin Nerthus, von deren Kult Tacitus (Germania cap. XL) berichtet. Der zugrunde­ liegende u-Stamm kann sowohl maskulin wie feminin aufgefaßt

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Ndatdn

Germanen

worden sein. Man wird N. und Nerthus als Geschwistergottheiten anzusehen haben, die auf eine ursprünglich doppelgeschlechtige -> Fruchtbarkeitsgottheit zurückzuführen sind (-> Erde). G. Dumézil, Njçrôr, Nerthus et le folklore Scandinave des génies de la mer, RHR 147 (1955), 210-226. -* Lit. Véjopatis. -> Asl. Stribog; Svarog. -> Kelt. Meergottheiten. -> Finn. Waldgeist. -> Ung. Nemere; Sârkâny; Szél. -> Lett. Vëja mate.

Nöatün. Wohnort des ->Njôrd; Skadi. Nordri (aisl. Noröri)

Kosmologie.

Nomen (aisl. nomir f. pl.) sind Schicksalsfrauen, die das Lebenslos vorausbestimmen (-> Lit. Lâima; Asl. Geburtsfeen). Sie spielen vor allem in der Heldendichtung eine Rolle. Die N. fällen den Spruch über das Geschick des Menschen bei seiner -> Geburt wie die —> Walküren beim Tod des Kriegers. Wie die —> Disen haben die N. geburtshelfende Funktion. Die Vorstellung von geburts­ helfenden, aus Gewässern kommenden Wesen klingt wohl in Vsp 19/20 (Neckel, 5, übers. Simrock/Kuhn, 17) an. Die drei Mädchen, die aus dem Wasser kommen, haben die Funktion der N. : ein jedes von ihnen bestimmt den Menschen in besonderer Weise ihr ur­ sprünglich festgelegtes, ihr im Leben geschehendes und ihr zum —> Tode bestimmendes —> Schicksal. Die Schicksalsmädchen der Vsp führen entsprechende Namen: Urd (aisl. Urör), Verdandi (aisl. Veröandi) und Skuld. Darin könnte eine verschiedenartige Ab­ hängigkeit des Menschen von Schicksalsmächten sichtbar werden (-> Göttliche Mächte). Man hat Urör sprachlich mit veröa, „wer­ den“, und bedeutungsgeschichtlich mit dem verwandten lat. vertere, „drehen, wenden“, d. h. mit dem Spinnen des Schicksalsfadens, das den N. zugeschrieben wird, in Zusammenhang gebracht. —> Yggdrasill. F. Ström, Diser, nomor, valkyrjor. Fruktbarhetskult och sakralt kungadöme i Norden (1954) (KVHAH 1). -> Kelt. Göttertriaden. ->■ Lett. Laima. Griech. Moiren.

Od (aisl. Öör) -> Odin; Freyja. Odin (aisl. Ööinn), nd. Wodan (obd. Wuotan, Wotan), ae. Wöden, germ. Gott. Etym. gehört sein Name zu lat. vates, „Dichter, Se­ her“, aisl öör, „Erregtheit, Dichtung“, got. wöps, „wütend“ (vgl. Adam von Bremen IV, 26: „Wodan id est furor“). Germ. *wööanaz kann den Herrn der *wöd bezeichnet haben, den Führer der im Wilden Heer dahinziehenden Seelen. Hieraus geht die vielseitige Tätigkeit O.s hervor und die Vielschichtigkeit seiner Persönlichkeit. 74

Oermanen

Odin

Ihr entspricht die große Zahl seiner Beinamen im Norden (vgl. den Katalog der O.namen in Grm 46 bis öO, 54) und die Menge seiner verschiedenen Erscheinungsformen, wenn er auch gewöhn­ lich als einäugiger Krieger mit dem Speer (namens Gungnir im Norden) auftritt, mit tief herabhängendem Schlapphut und blauem Mantel (Volsungasaga, Kap. 11, ed. Olsen, 1906—08, 26ff., übers. Thule XXI, 63). 0. ist vor allem Gott der Ekstase, die in der kriegerischen Gefolgschaft geübt wird (-> Berserker, -> Einherier), zauberkundig, Gott der Dichtkunst und Totengott. Der Mittwoch (dies Mercurii; —> Interpretatio Romana) ist im Norden ebenso wie in Mittel- und Niederdeutschland und in England nach 0. -Wodan-Wöden benannt, nicht aber in Oberdeutschland. 1. O.-Mythen. 0. ist Haupt der —> Äsen und der oberste Gott der nord. Mythologie (-> Tyr). Er ist der weiseste der Weisen, wie der -> Riese Vafthrudnir (aisl. Vafrfrvßnir) im Wissensgespräch mit ihm feststellt (Vm). Von seinem Hochsitz Hlidskialf (aisl. Hlidskialf) aus läßt sich die ganze Welt überblicken (-> Götterwohnungen). 0. ist der Sohn des Borr und der Riesentochter Bestla (SnE); seine Brüder sind -> Vili und V6 (-> Anthropogonie). Seine Frau ist -> Frigg. Die SnE (27, übers. Thule XX, 69) nennt ihn den vor­ nehmsten und ältesten der —> Äsen, der über alle Dinge herrscht und dem die anderen Götter alle wie Kinder ihrem Vater die­ nen. „0. heißt Allvater, denn er ist der Vater aller Götter. Er heißt auch Walvater, denn alle, die auf der Walstatt fallen, sind seine Adoptivsöhne (aisl. oskasynir): diesen weist er dann Walhall und Wingolf an, und sie heißen dann -> Einherier.“ Außer seinem Speer Gungnir besitzt 0. den Ring Draupnir. Er ist von -> Zwergen geschmiedet und hat die Eigenschaft, daß in jeder neunten Nacht acht gleichschwere Ringe aus ihm ent­ stehen (SnE). 0. legt ihn auf-> Balders, seines Sohnes, Scheiter­ haufen und bekommt ihn durch -> Hermod zurück. 0. besitzt ferner die beiden sprechenden Raben Huginn und Muninn (vgl. -> Kelt. Rabe), die weit über die Lande fliegen und ihm Botschaft bringen (Grm, SnE), und das Roß Sleipnir,das acht Beine hat (Grm, SnE). Es ist das beste aller Pferde; über seine Herkunft-> Loki.

Nach der Weltentstehung erscheint 0. als Ordner des Welt­ geschehens. In einer Göttertrias (-> Kelt. Göttertriaden) ist 0. an der -> Anthropogonie beteiligt. Als Gott des -> Krieges (->Tyr; Asl. Gerovir; Asl. Rugievit; Asl. Svantevit; Kelt. Kriegsgottheiten; Ung. Hadür) und der kriegerischen Gefolgschaft (im Gegensatz zum Bauerngott —> Thor, vgl. Hrb: Neckel, 75ff., übers. Thule II, 61 ff.) eröffnet 0. den ersten Krieg auf der Welt. Er ist der 75

Odin

Germanen

Siegverleiher und Schirmherr der Helden, denen er im Kampf Un­ verletzlichkeit schenkt und die er dann doch zum Tode bestimmt (—>Kelt. Helden). O. hatte solche Macht, berichtet die Ynglingasaga (Kap. 6: Hkr 1,17f., übers. Thule XIV, 32), „daß er in der Schlacht seine Feinde blind oder taub machen konnte oder von Schrecken wie gelähmt, und ihre Waffen schnitten dann nicht mehr als Ruten. Aber seine eignen Mannen gingen ohne Brünnen, und sie waren wild wie Hunde oder Wölfe. Sie bissen in ihre Schilde und waren stark wie Bären oder Stiere . . . Weder Feuer noch Stahl konnte ihnen etwas anhaben. Man nannte dies ,Berserkergang1.“ Die ge­ fallenen O.skrieger ziehen in Walhall ein, wo sie als Einherier am Tage miteinander kämpfen und abends in der Halle feiern. 0. sammelt diese Kriegersehar um sich, weil er sie für den Endkampf der —> Ragnarök braucht; und doch scheint die Mannschaft zu klein zu sein, wenn der Wolf —> Fenrir kommt. Als Gott des Zaubers vermag 0. nach Belieben seine Gestalt zu wechseln (-> hamingjcr, Gestaltwechsel), in einem Augenblick in ferne Länder zu fahren, durch ein Wort allein Feuer zu löschen oder die See zu beruhigen, tote Männer aus der Erde aufzuwecken. „Alle diese Künste lehrte er durch Runen (-> Runenmagie) und solche Lieder, die man ,Zauberweisen“ (aisl. galdrar, —> gdldr) nannte“ (Ynglingasaga, Kap. 7). —> Mimirs Haupt hat 0. stets bei sich; es vermittelt ihm Nachrichten aus anderen Welten. Weiter heißt es in der Ynglinga­ saga, daß er in einer Kunst erfahren war, die die größte Macht verlieh, in der Zauberkunst nämlich, die er selbst ausübte. „Sie befähigte ihn, das -> Schicksal der Menschen und noch nicht ein­ getretene Ereignisse vorauszusagen, ja auch den Menschen Tod, Unheil oder Krankheit zu bescheren“ (-> Mantik; -> Magie). 0. kannte alle verborgenen Schätze und wußte durch Zauberlieder die Erde zu öffnen. Als Gott der Dichtkunst erwarb 0. den Göttern und Menschen den —> Skaldenmet. „Er selbst sprach alles in Reimen, wie dies noch jetzt in der Kunst geschieht, die man Skal­ dendichtung nennt“ (Ynglingasaga, Kap. 6). Wie schon bei der Erwerbung des Skaldenmets ist 0. auch sonst Held von Liebes­ abenteuern. So gewinnt er durch Zauber Rind (Kormäkr Qgmundarson, Siguröardräpa, Str. 3: Skj B I, 69), die ihm -> Väli, den Rächer Balders, gebiert (Bdr 11: Neckel, 27ö, übers. Thule II, 26). Saxo (Gesta Danorum, lib. III, 4) schildert ausführlich O.s Versuche, sich Rinda zu nähern. Der Mythus von O.s Hängeopfer (Hav 138 bis 141: Neckel, 39, übers. Thule II, 170f.) berichtet, wie 0. neun Nächte lang am windigen -> Weltbaum hängt, mit dem Speer verwundet, dem 0. geweiht, er selber sich selbst, und so zur Runenfindung und zur Dichtkunst gelangt.

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Germanen

Odroerir

Die nord. Mythologie kennt einen von O. getrennten Gott Ödr (—> Freyja). Es ist aber anzunehmen, „daß diese Namen die nur dem Alter nach verschiedenen Bezeichnungen für einen einheit­ lichen religiösen Begriff waren“ (de Vries AR II, 87).

2. Wodansmythen. Der Teil der westgerm. Überlieferung von Wodan, der als mythologisch gelten kann, zeigt ihn zunächst als Zauber­ gott, der im Gegensatz zu den nord. Belegen nur guten Zauber ausübt. Im zweiten Merseburger Zauberspruch (Braune/Helm, Ahd. Leseb., Nr. 31, lb) bespricht Wodan den verrenkten Fuß des Pferdes, „wie er es gut konnte“. Auch in angs. Quellen erscheint Wöden als Zaubergott (vgl. Philippson, 152ff.). Die angs. Stamm­ tafeln stellen Wöden an die Spitze ihrer Genealogien (-> Stam­ mesmythen). Die langobardische Winilersage in der Origo gentis Langobardorum und bei Paulus Diaconus (Hist. Langob. I, 8) er­ zählt, wie die Winiler die Gemahlin Wodans, Frea (-> Frigg), um den Sieg im Kampf gegen die Wandalen anrufen, die ihrerseits Wodan selbst bitten, ihnen den Sieg zu geben. Frea rät den Wüh­ lern, ihre Frauen sollten das Haar lösen und wie einen Bart um das Gesicht binden. Wodan verspricht, er werde den Sieg denen geben, die er am Morgen zuerst sehe. Frea erreicht durch List, daß Wodan zuerst ihre Schützlinge erblickt und mit der Frage „Wer sind diese Langbärte?“ den Wühlern einen neuen Namen und wider Willen auch den Sieg verleiht. Neben der Rolle des siegspendenden Kriegs­ gottes hat sich Wodans Funktion als Totengott im Führer der Wilden Jagd erhalten. Die Mehrzahl der Forscher hält noch immer daran fest, daß 0.Wodan seine Herrschaft erst nach und nach von einem Teilgebiet (Niederrhein) aus über das ganze Germanien, also auch nach dem Norden, ausgedehnt hat. Vielleicht war zwar seine Funktion alt und gemeingerm., die Vereinigung der verschiedenen Tätigkeits­ bereiche mit seinem Namen und seiner Person ist aber erst Ergeb­ nis der Ausbreitung seines Kultes in germ. Zeit (Betz) und seine überragende Stellung erst die Leistung der nordgerm. Mythologie. E. A. Philippson, Germanisches Heidentum bei den Angelsachsen (1929) (KAA 4); O. Höfler, Kultische Geheimbünde der Germanen, I (1934); K. Helm, Wodan. Ausbreitung und Wanderung seines Kultes (1946) (Gießener Beiträge zur deutschen Philologie 85); ders., AR II, 2, 251 ff.; J. de Vries, AR II, 27ff.; W. Betz, DPh III, 2485ff. Lit. -> Perkänas; Zauber. -> Asl. Perun; Svarog; Zauber. ->■ Kelt. Iuppiter; Mars; Totengötter; Vatergötter; Zauberer. —> Finn. Ilmarinen; Ukko; Zauber. -> Ung. Hadür; Isten; Zauber. -> Lett. Dievs. -> Griech. Zeus.

Odroerir (aisl. Öörcerir) -> Skaldenmet. 77

Opfer

Germanen

Opfer -> Disen. Orakel -> Mantik; Mimir.

Ösköpnir -> Surt. Pferde -> Balder; Hrungnir; Loki 1; Nacht; Odin; Runenmagie; Tag. -> Asl. Pferd. —> Kelt. Pferd. -> Ung. Pferd. -> Lett. Dievs; Säule. ->Griech. Pferd.

Ragnarök (aisl. Ragnargk n. pl. „letztes Geschick der Götter“), Be­ zeichnung für die nordgerm. -> Eschatologie, von Olrik im weiteren Sinne für Weltuntergangsvorstellungen überhaupt verwendet. 1. Quellen und Inhalt des R.-Mythus. Hauptquelle ist Vsp. Eine erweiterte Paraphrase gibt SnE (70ff., übers. Thule XX, llOff.); sie verwendet dafür über andere Eddalieder verstreute eschatologische Einzelbilder. Solche finden sich in Vm, Grm, Ls, Fm, Bdr, Hdl. Hindeutungen auf die R. kommen in Skaldengedichten vor: in den Eiriksmäl, Str. 7 (Skj B I, 165), in Egill Skallagrimssons Sonatorrek, Str. 24 (Skj B I, 37) und in Eyvindr skäldaspillirs Häkonarmäl, Str. 20 (Skj B I, 60). Über bildliche Darstellungen s. u. — Nach der Erzählung von -> Balders Tötung und der Vision der Straforte sieht die vglva (Vsp 40ff.: Neckel, 9ff., übers. Thule II, 39ff.) die Vorzeichen der R.: das Wachsen der Dämonen­ brut (^-Dämonen), Verfinsterung der -> Sonne und böses Wetter — dem letzten entspricht in Vm 44 (Neckel 51, übers. Thule II, 91) und SnE der dreijährige Fimbulwinter —, Zerbrechen der Sippen­ bande, moralischen Verfall. Den Beginn des Endkampfes kündigt -> Heimdall durch Blasen auf dem Gjallarhorn an. —> Odin spricht mit -> Mimirs Haupt. Die -> Äsen beraten auf dem Thing. Der Weltbaum -> Yggdrasill erzittert und dröhnt. Die Dämonen kommen auf die Götter zu: der Riese Hrym hebt den Schild, die -> Midgardschlange peitscht die Wogen auf, das Schiff ->Naglfar wird los, über See kommen die Söhne -> Muspells. Die Götter und nach Grm 23 (Neckel, 59, übers. Thule II, 82) und SnE auch die -> Einherier ziehen den Feinden entgegen. In Zweikämpfen fällt -> Odin gegen den Wolf -> Fenrir, der selbst darauf vom Odinssohn -> Vidar getötet wird; -> Freyr unterliegt -> Surt; -> Thor überwindet zwar die Midgardschlange, geht aber an den Folgen des Kampfes zugrunde. Die SnE vermehrt die Gegner­ paare um -> Tyr und den Hund -> Garm, Heimdall und -*■ Loki, die jeweils einander töten. Auf den Tod der Götter folgt der kos­ mische Untergang. Die Sonne verfinstert sich abermals, — Fenrir verschlingt sie (Vm 46f.) —, die Erde sinkt ins Meer, und die Sterne fallen. Zugleich rast eine Feuersbrunst. Das Ende der Welt 78

Germanen

Rän

ist besiegelt. Die vplva siebt jedoch weiter: eine neue Erde wird auftauchen; die überlebenden Götter werden sich in einem neuen, versöhnenden Zeitalter an die R. erinnern.

2. Ausformung und Deutung des R.-Mythus. Die Überheferung der R. in der Vsp ordnet sich der literarischen Erscheinung dieses Denkmals unter. Die Vsp verbindet altheidnische und christliche Elemente in der Weise, daß der germ. Mythus im eschatologischen Ausblick zunehmend christliche Anklänge spüren läßt (-> Christ­ liche Einflüsse). Ob es sich dabei um einfache Verschmelzung christ­ licher Gedanken und heidnischer Vorstellungen handelt oder um bewußte, in der Vision traditioneller Motive gehaltene Sicht der christlich angereicherten und vertieften Eschatologie: jedenfalls setzt das die historische Situation der beginnenden Bekehrung vor­ aus und macht zugleich verständlich, daß die Vsp mehr ein Sammel­ becken alter Endzeitauffassungen ist, die handlungsmäßig und motivisch sich nicht als strenge Einheit fassen lassen, als der Be­ richt eines geschlossenen Mythus. Da die übrigen Quellen, SnE ausgenommen, kein Gesamtbild der R. ergeben, muß man mit einer eigenen Mythographie der Vsp rechnen. Die Frage nach dem Ur­ sprung der R. spaltet sich so in ein Fragen nach der Herkunft und Bedeutung einzelner Züge auf. Olrik gelangt auf vergleichendem Wege zu einer Sonderung der christlichen und der heidnischen Motive; einen Teil der letzteren bringt er in Zusammenhang mit kaukasischen (gefesselter Riese) und orientalischen Mythen. Andere Forscher betonen das Vorbild der manichäischen bzw. airan. Welt­ untergangsvorstellungen. Historische Beeinflussung läßt sich aus dem Nachweis sachlicher Parallelen allein indessen nicht sichern. 3. Bildliche Darstellungen. Christliche Steinkreuze in Nordengland, ein Grabstein und Runensteine von der Insel Man sowie einige andere Steindenkmäler geben Szenen wieder, die z. T. aus Motiven der R. gedeutet werden können. (Näheres zunächst bei Olrik, 8ff. mit Literatur; dazu J. de Vries AR II, 397f.) A. Olrik, Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang (1922); R. Reitzenstein, Weltuntergangsvorstellungen, Kyrkohistorisk ärsskrift 24 (1924), 129—212; ders., Die nordischen, persischen und christlichen Vorstellungen vom Welt­ untergang, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1923 — 1924 (1926), 149 bis 169. -> Finn. Eschatologie 2. -> Kelt. Mythische Kriege. -> Griech. Götterkriege.

Rän, nordisches Seeweib, Frau -> Aegirs, mit dem sie neun Töchter hat (SnE). R. und ihre Töchter erscheinen als Personifizierungen der Wogen (Skalden); R.s Umarmung wird den Seeleuten gefähr­ lich (HH I, 30). R. besitzt ein Netz, womit sie alle Ertrunkenen 79

Biesen

Germanen

fischt (SnE, 121, übers. Thule XX, 178); Loki entleiht dieses Netz (ßm Prosaeinleitung 19: Neckel, 169, übers. Sünrock/Kuhn, Hel­ denlieder, 59). Da die Schiffbrüchigen zu R. eingehen, wird sie späterhin Herrscherin eines besonderen Totenreiches (-> Jenseits­ vorstellungen). -> Finn. Maahiset 3. -> Kelt. Meergottheiten. Meergottheiten.

Lett. Jn^as mäte. -> Grieeh.

Riesen, dämonische Wesen von roher Kraft, die die Menschen in ihrem Wuchs so weit überragen, wie die —> Zwerge darin hinter den Menschen Zurückbleiben. Es gibt mehrere germ. Kollektiv­ benennungen für R., die auf ursprüngliche, jetzt schwer erkennbare Unterschiede in den R.Vorstellungen hindeuten. Die mythologisch wichtigen sind 1. germ. puris m. sg. (in der Schreibung thuris als Name der Jj-Rune noch belegt im Abecedarium Nordmannicum: H. Arntz, Handbuch der Runenkunde, 2. Aufl. [1944], 168), ae. Pyrs, aisl. purs-, 2. germ. *etanaz m. sg., liegt vor in aisl. jptunn, ae. eoton, 3. as. wrisi, ahd. risi, „Riese“. (Zur Etym. s. K. Helm AR II 2, 89ff. mit Literatur.)

In der Edda erscheinen die Bezeichnungen purs und jptunn in synonymer Verwendung. Die R. sind die „früh Geborenen“ (Vsp 2: Neckel, 1, übers. Thule II, 35), die beim Weltwerden schon vor­ handen sind (—> Kosmogonie; Anthropogonie). Da die R. aus dem Urzeitalter stammen (-> Ymir), gelten sie als weise, wie Vafthrudnir, der mit —> Odin als dem weisesten der Götter einen Wis­ senswettstreit austrägt. Die R. hausen in -> Riesenheim (-> Kos­ mologie) und geraten in den kultur- und menschenfeindlichen R.zorn. Sie sind Gegner der Götter; besonders —> Thor ist ihr Feind. Er überwindet —> Hrungnir, ->Hymir, -> Skrymir, ->Thjazi, ->Thrym und den R.baumeister (-> Loki). —> Aegir; Balder; Fenrir; Freyja; Freyr, Friede; Gefjon; Geirröd; Hel; Midgard; Midgardschlange; Mhnir; Nacht; Odin; Ragnarök; Skadi; Skaldenmet; Surt; Utgard-Loki; Vidar; Yggdrasill; Ymir. Der Dualismus von R. und Göttern in der nordischen Mythologie ist im westgerm. Bereich nicht erkennbar. Hier zeigt die mittel­ alterliche Heldensage die R. fast durchweg als Einzelgänger. Ihrer zerstörerischen Natur entsprechend werden die R. mit Natur­ gewalten verbunden und als Wasser-, Berg-, Sturm-, Wetter-R. usw. vorgestellt. —> Finn. Götfcerverzeichnis 2. —> Lett. Milzis.

Riesenbaumeistersage -> Loki 1.

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Germanen

Runenmagie

Riesenheim (aisl. Jptunheimr m. sg., „Riesenwelt“, oder pl. Jptunheimar, „Riesenbehausungen“ [Edda]), Bezeichnung für den Herr­ schaftsbereich der -> Riesen. R. ist ein Teil von -> Utgard und wird als im Osten oder Nordosten von -> Midgard und -> Asgard am Ende der Himmelswölbung hegend vorgestellt. Rig -> Heimdall; Runenmagie.

Rind (aisl. Rindr) -r Odin; Vali. Röskva (aisl. Rpskva) -> Utgard-Loki. Runenmagie. Die Runen, deren Ursprung und Herkunft (ob aus dem lat. oder aus dem griech. Alphabet gebildet und von den Goten in Südrußland nach dem Norden verbreitet oder aus einem norditalisehen Schriftsystem mit kimbrischer Vermittlung entwickelt) noch keineswegs endgültig geklärt ist, sind von altersher aufs engste mit der -> Magie verbunden. Über den bloßen Lautwert der Runen­ zeichen hinaus sind die Runen magische Symbole. Der Name Rune stellt sich etym. zu nhd. raunen; dem Begriff haftet die Bedeutungs­ sphäre von „Geheimnis, Geflüster“ an; das Lehnwort finn. runo bedeutet „Gedicht“, ursprünglich „Zauberspruch“. Die magische Qualität der Runenzeichen drückt sich in den Runennamen aus: im nordischen Futhark, dem „Runenalphabet“ (benannt nach den Zeichen für f, u, p, a, r, k, den einleitenden von ursprünglich 24 Zeichen der Runenreihe) trägt z. B. die a-Rune f55 den Namen ass (-> Äsen), die t-Rune T" -> den Namen Tyr; ferner —>Ing, -> Riesen. Jede Rune für sich und die ganze Runenreihe haben darüber hinaus noch einen bestimmten Zahlenwert von zahlen­ magischer Wirkung und Bedeutung. Der Zusammenhang zwischen R. und Zahlenmagie hat die Annahme nahegelegt, daß die Runen­ reihe nur dort ausgebildet werden konnte, wo bereits ein Schrift­ system zahlenmagisch verwendet wurde (wie etwa im Kreis der spätantiken Mithrasverehrer).

In Runen sind segnende und verfluchende Zauberformeln auf­ gezeichnet worden. Wenn es in Sd 6 (Neckel, 186f„ übers. Thule II, 165) heißt: „Siegrunen lerne, willst du Sieg haben! Auf den Sohwertknauf schneide sie, auf die Blutrinne und des Rückens Breite, und ruf zweimal zu Tyr!“, so ist damit die Runenritzung zweier t-Zeichen gemeint, die dem Schwert magische Kraft zum Erringen des Sieges verleihen sollen. In ähnlicher Form geben die Sd 7 ff. eine Gebrauchsanweisung für verschiedene andere Zwecke praktischer R,. u. a. zur Erleichterung der —> Geburt, zur Heilung von Wunden oder zur Sicherung des Seefahrers. Nach Sd 15 bis 17 s

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Saehrimnir

Germanen

(übers. Thule II, 167f.) tragen Götter und mythische Lebewesen sowie Dinge in ihren wirkenden Gliedern und Teilen Runen ein­ geritzt, so z. B. -> Bragi in seiner Zunge, -> Sleipnir in seinen Zähnen. Die Runen gelten als göttliche Schöpfung (z. B. Häv 80: Neckel, 28, übers. Simrock/Kuhn, 59), -> Odin ist ihr Urheber (Sd 13). Im Selbstopfer am Baum hängend nimmt Odin die Runen auf, stöhnend, bevor er herabstürzt (Häv 138ff„ übers. Thule II, 170f.). Häv 142 (übers. Thule II, 171) schreiben die verschiedenen Handlungen der R.-^-göttlichen Mächten zu: das Schaffen (aisl. gara), das Ritzen (aisl. rista) und das Färben (aisl. fd) der Runen scheinen ursprünglich vor allem mit Odin mythisch verbunden zu sein. Die Handhabung der Runenkunst hat bei wenigen Kundigen ge­ legen. Einen Hinweis darauf kann man u. a. Rf> 36 (Neckel, 281, übers. Thule II, 117, Str. 37) entnehmen: Rig (—> Heimdall) lehrt erst Jarl, die Verkörperung der obersten der drei Stände, die Runen. H. Arntz, Handbuch der Runenkunde, 2. Aufl. (1944), bes. 257ff.; A. Baeksted, M&lruner og troldruner. Runemagiske studier (1952).

Saehrimnir -> Einherier. Saxnot -> Tyr.

Schicksal. Die germ. Auffassung vom S. ist am deutlichsten in den mythologischen Texten des Nordens erkennbar, wo sich aus dem S.swortschatz neben einem („vanischen“) immanenten Werdeschick­ salsdenken ein („asisches“) Machtschicksalsdenken nachweisen läßt. Die unpersönlichen S.smächte (z. B. aisl. urör „das Werdenmüssen“, ae. wyrd, ahd. wurt) erscheinen in der Edda vielfach personifiziert: urör begegnet als Schicksalsgottheit Urd am Schicksalsbrunnen unter der Weltesche, in der Vsp zusammen mit Verdandi und Skuld in einer -> Nornen-Trias; die Namen (Urd und Skuld bedeuten S.snotWendigkeit, die Neubildung Verdandi eigentlich „die Wer­ dende“) hat man wohl nach dem Vorbild der lat. Parzen später umgedeutet auf Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart als die besonderen Wirkbereiche der drei Schicksalsnornen. Der Schicksalsbaum -> Yggdrasill, dessen Wurzeln schon in der Urzeit in die neun Welten hineinreichen, der in der Weltzeit grünt und in der Endzeit erdröhnt und erzittert, könnte als das Baum­ symbol des Werdeschicksals verstanden werden und -> Heimdall als seine göttliche Personifikation.

Dem S. sind auch die Götter, selbst die mächtigsten wie -> Odin und —> Thor, unterworfen, das sie in den -> Ragnarök, den Endschick­ salen der Götter, kämpfend zu bestehen haben. Darum kann auch

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Germanen

SU

Odin nur eine relative, beschränkte schicksalbestimmende Macht zukommen: seine —> Walküren sind Heldenschicksals-Mitwirkerinnen in seinem Auftrag und im Einklang mit seinem Willen. Andere persönliche Schicksalswirkerinnen sind die dem Bereich der Ge­ burtshilfe nahestehenden -> Disen und Nomen. Der schicksalhafte Lebensraum eines Helden (z. B. Helgis in HHI) wird vom Schick­ salsfaden durch die Nomen umspannt und bestimmt. -> Tod. W. Gehl, Der germanische Schicksalsglaube (1939); E. Neumaim, Das Schicksal in der Edda, I (1953). Lit. Daliä; Läima. -> Asl. Geburtsfeen. -> Kelt. Schicksal. -> Finn. Ein­ teilungszeit 1. -* Ung. Ähnos 2. -> Lett. Kärta. -> Griech. Schicksalsgötter.

Schöpfungssagen -> Kosmogonie; Anthropogonie. seiör, aisl. m. sg., „Zauber“. Der s. ist ein dem lapp.-alt. Sehamanis­ mus ähnelndes Zauberverfahren, das die Mythologie den -> Vanen zuschreibt. Von ihnen soll es durch —> Freyja zuerst zu den -> Äsen gebracht worden sein. Ein deutliches Bild des s. ist aus den Quellen nicht zu gewinnen. Ekstase und Weissagung (—> Mantik) scheinen das s.-Zaubern vor allem zu bestimmen. Es enthält aber auch Elemente eines —> Fruchtbarkeitskultes, mit denen zu befassen sich Männer schämten, so daß der s. besonders von Frauen (aisl. seiökona, „Zauberfrau“) geübt wurde. Die berühmteste Zauberfrau der Mythologie ist die Gullveig der Vsp (Str. 21 ff.- Neckei, 5f., übers. Thule II, 36f.), wahrscheinlich eine Vanin: mit dem Versuch der Äsen, sie zu töten, kommt „zuerst Krieg in die Welt, als Götter Gullveig mit Geren stießen und in Heervaters Halle brann­ ten, dreimal brannten, die dreimal geborne.“ Die Ynglingasaga, Kap. 7 (Hkr 1,18f., übers. Thule XIV, 32f.) berichtet von -> Odin, er sei erfahren in der Kirnst des s. gewesen und habe dadurch einer­ seits die Zukunft Voraussagen und andererseits Tod und Unheil heraufbeschwören können: zwei Seiten des s., die Strömbäck (142 ff.) als „weißen“ und „schwarzen“ s. bezeichnet. -> galdr; Magie. D. Strömbäck, Sejd. Textstudier i nordisk religionshistoria (1935) (Nordiska texter och undersökningar 5). -> Lit. Zauber. -> Asl. Zauber. -> Kelt. Magie. -> Finn. Zauber. Ung. Zauber. -> Griech. Zauber.

Sif, Gemahlin -> Thors (Hym, Ls, f>rk, SnE). Ihr Sohn ist -> Uli, ihre Tochter Thrud (aisl. prüör) (SnE). S. wird der Vorwurf der Buhlschaft gemacht (Hrb 48: Neckel, 82, übers. Thule II, 70), und zwar rühmt sich -> Loki des Ehebruchs mit ihr (Ls 54: Neckel, 104, übers. Thule II, 58). -> Hrungnir droht, -> Freyja und S. zu rauben (SnE, 101, übers. Thule XX, 145). Die Goldfcewreiwg' „Sifs «•

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Sigyn

Germanen

Haar“ erklärt Snorri: Als Loki boshaft der S. das ganze Haar abgeschnitten hatte, verlangte Thor von ihm, von -> Zwergen Ersatz aus Gold dafür schaffen zu lassen. Loki erreichte dies und gewann zugleich weitere Kostbarkeiten für die -> Äsen. Das Kunst­ haar wuchs, wie gefordert, auf S.s Kopf sofort fest und wuchs weiter wie natürliches Haar (SnE, 122f., übers. Thule XX, 179f.).

Sigyn, Gemahlin -> Lokis (pjööölfr, Haustlong; Vsp, Ls, SnE). S. er­ scheint nur im Mythus vom gefesselten Loki (Vsp 35: Neckel, 8, übers. Thule II, 38f.; Ls Schlußprosa: Neckel, 106, übers. Simrock/Kuhn, 100; SnE, 69f., übers. Thule XX, 109). Unter die Schlange, die über Loki hängt, hält S. eine Schale, damit das Schlangengift Loki nicht trifft. Auf dem Gosforth-Kreuz scheint diese Szene abgebildet zu sein. Skadi (aisl. Skadi), nordgerm. Göttin, der Abstammung nach Riesin. Der Name bietet mehrere etym. Anknüpfungsmöglichkeiten (dar­ über Schröder, 64 ff.; Philippson, 21). S. ist die Tochter des -> Riesen -> Thjazi und wird Gattin des -> Njörd (Grm, Hdl, SnE). Um Thjazi zu rächen, kommt S. zu den -> Äsen. S. nimmt den ihr gebotenen Vergleich an, wonach sie erstens sich unter den Äsen einen Mann wählen darf, ohne mehr als die Füße von ihm zu sehen, und zweitens von den Äsen zum Lachen gebracht werden muß. S. wählt den mit den schönsten Füßen, der aber nicht, wie sie glaubt, -> Balder, sondern Njörd ist. S. lacht, als ihr -> Loki in den Schoß fällt, der das eine Ende eines Strickes einer Ziege an den Bart, das andere Ende sich selbst an die Schamteile gebunden hat (SnE, 80f., übers. Thule XX, 119). In der Auseinandersetzung der Ls Str. 52 (Neckel, 103, übers. Thule II, 58) behauptet Loki, von ihr zum Beilager aufgefordert zu sein. S. nimmt bei der Fesse­ lung Lokis an ihm Rache, indem sie die Giftschlange über ihm befestigt (Ls 49 und Schlußprosa).

Mit Njörd vermag sich S. nicht über den gemeinsamen Wohnsitz zu einigen, da Njörd die See liebt und S. die Berge. Sie versuchen, abwechselnd neun Tage bei Njörd in Noätün und bei ihr in Thrymheim (aisl. prymheimr) zu leben, bis S. sich ganz in die Berge zurück­ zieht, wo sie Ski fährt und Wild erlegt (SnE, 30f., übers. Thule XX, 72). Der Zwist mit Njörd mündet in der Ynglingasaga, Kap. 8 (Hkr I, 21, übers. Thule XIV, 34) in eine neue Ehe S.s mit -> Odin. Als Skiläuferin wird S. pndurdis (Eyvindr skäldaspillir, Häleygjatal, Str. 4: Skj B I, 60) und pndurgod (pjööölfr, Haustlong, Str. 7: Skj B I, 15), „Skigöttin“, genannt, so wie -> Uli gnduräss, „SkiAse“, heißt. Auf Grund dieser gleichartigen Bezeichnungen hat man 84

Germanen

Skrymlr

auf eine Beziehung zwischen beiden Gottheiten geschlossen und, da S. sprachüch maskulin sein kann, an ursprüngliche Identität beider gedacht. Wahrscheinlich ist indessen nur, daß S. ähnlich wie Njörd und im Zusammenhang mit ihm das Genus gewechselt hat. Die Einflüsse, die der Mythus von da her genommen haben könnte, sind jedoch kaum mehr abzuheben. Der mythischen Lokalisierung S.s glaubt man Züge einer Vegetations- und -> Fruchtbarkeits­ gottheit ablesen zu können. Eine kultische Verehrung S.s dürfte aus ON, vor allem schwed., hervorgehen. Der Zusammenhang der Namen S. und Scandinavia ist hypothetisch. E. R. Schröder, Skadi und die Götter Skandinaviens (1941); E. A. Philippson, Die Genealogie der Götter in germanischer Religion, Mythologie und Theologie (1953) (ISLL 37, 3).

Skalden -> Einleitung. -> Kelt. Barden.

Skaldenmet, in der nordischen Mythologie ein Getränk, dessen Genuß zum Dichten und zur Weisheit befähigt. Der S. ist aus -> Kvasirs Blut hergestellt. Die Erwerbung des S. durch —> Odin wird in den Häv 104—110 (Neckel, 32f., übers. Thule II, 148f.) und ausführ­ lich in der SnE (82ff., übers. Thule XX, 120£f.) berichtet. Der -> Riese Suttung (aisl. Suttungr), der den Met von den -> Zwergen als Sühnegeld für seinen von diesen getöteten Vater, den Riesen Gilling (aisl. Gillingr), erhalten hat, wird von Odin überlistet: Odin fährt als Schlange (-> Gestaltwechsel) durch den Berg, hinter dem Suttungs Tochter Gunnlöd (aisl. GunnlpÖ) den Met bewacht. Odin verführt sie, bekommt durch sie vom Met zu trinken und fliegt in Adlergestalt, von Suttung verfolgt, nach -> Asgard, wo er den S. ausspeit und ihn -> Äsen und Menschen schenkt.

Nach Snorri wird der S. in drei Gefäßen aufbewahrt, die Son, Bodn und Odroerir (aisl. Sön, Bodn, Öörcerir) heißen. Odroerir ist aber sicher kein Name für das Gefäß, sondern für den S. selbst; er be­ deutet „Geistbeweger“.

Skidbladnir (aisl. Skidbladnir) -» Freyr. Skirnir -> Freyr.

Skjöld (aisl. Skjgldr) -> Stammesmythen.

Skrymir, nordischer Riese, der -> Thor und seinen Begleitern auf der Fahrt zu —> Utgard-Loki begegnet und, wie Thor nachträglich erfährt, Utgard-Loki selbst ist, dessen Täuschungen Thor unter­ liegt: Thor übernachtet im Handschuh des Riesen S., er vermag 85

Sfeuld

Germanen

nicht den Riemen des Speisebündels zu lösen und versucht dreimal vergeblich, S. mit dem Hammer zu erschlagen. Die Sage wird nur in der SnE (50ff., übers. Thule XX, 92ff.) erzählt; in der Ls 62 (Neckel, 105, übers. Thule II, 59) wird darauf angespielt. C. W. v. Sydow, Tors färd tili Utgärd, DS 1910, 65-105; 145-182.

Sfeuld -> Nomen; Schicksal.

Sleipnir -> Odin; Loki; Runenmagie.

Süd -> Hel. Slidrugtanni -> Ereyr.

Snorra Edda —> Einleitung. Son (aisl. S6n) -> Skaldenmet.

Sonne. Nach Vm 23 (Neckel, 47, übers. Thule II, 89) und SnE (17f., übers. Thule XX, 58f.) ist die S. (aisl. Sol) Tochter des Mundilferi, Schwester des -> Mondes. Um sich dem Bericht, wonach die Götter die Gestirne aus den von Muspellheim (-> Muspell) geflogenen Funken geschaffen haben (-> Kosmogonie), anzupassen, bringt Snorri eine komplizierte Mythographie; Mundilferi habe sich an­ gemaßt, seine Kinder S. und Mond zu nennen; das hätten ihm die Götter damit heimgezahlt, daß sie die Geschwister als Wagenlenker (—> Nacht; Tag) der betreffenden Gestirne einsetzten. Die S. zieht schnell am Himmel hin, da ein Wolf sie verfolgt, der sie beim Welt­ untergang (-> Ragnarök) verschlingen wird (-> Fenrir). Zuvor hat sie jedoch eine ihr gleiche Tochter geboren (Vm 47).

Personifizierung der S. begegnet auch in der ahd. Sunna des zweiten Merseburger Zauberspruchs (Braune/Helm, Ahd. Leseb. Nr. 31,1 b). -> Lit. Säule. -> Asl. Chors; Daisbog; Svarog. -> Kelt. Manannän; Sonne. -> Finn. Kosmogonie; Ukko. Ung. Astrale Vorstellungen.

Stammesmythen. Unter S. werden hier Überlieferungen verstanden, die historische oder pseudohistorische Geschlechter und Volks­ stämme aus mythischen Ursprüngen ableiten. S. gehören zur „ge­ lehrten Urgeschichte“, die die Mythologie als Mittel zur Erklärung der Anfänge benutzt. Als Ausfluß der Mythologie wirken die S. nur insofern auf den Mythenglauben zurück, als sie zuweilen eine euhemeristische Götterauffassung begünstigen. Am Anfang germ. S. stehen die von Tacitus (Germ. cap. II) er­ wähnten carmina antiqua, wonach der erdgeborene Tuisto („Zwit­ ter“) einen Sohn Mannus, dieser wiederum drei Söhne hat, nach

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Germanen

Surt

denen die Stämme der Ingaevones, Herminones und Istaevones genannt werden. Ob die drei Stammväter ala aus den Namen der offenbar kultisch verbundenen Stämme abgeleitete 77'gcoef aufzufassen sind oder als wirkliche Kultgötter dieser Stämme ge­ golten haben, ist umstritten. Nur der Gott -> Ing ist sicher nach­ weisbar (—> Irmin). Ahnherr des schwed. Königsgeschlechts der Ynglinge ist Yngvi-Freyr (—> Freyr), dessen Namensteil Yngvi in einem nicht klar umreißbaren Zusammenhang zu Ing und den Ingvaeones steht. Die dän. Skjöldungen, deren Stammreihe aus Beow und nord. Überheferung entnommen werden kann, werden auf den Odinssohn Skjöld (ae. Scyld, aisl. Slefoldr) zurückgeführt. Die angs. Stammtafeln gehen alle von Wöden (Wodan) aus. -> Odin ist in der Völsungasaga an die Spitze des Völsungengeschlechts gestellt, dem im Norden Sigurd-Sigfrid angehört.

Die Stammsage der Merowinger bei Fredegar (Kap. 9) setzt ein dämonisches Wesen (—> Dämonen) an den Ursprung der Merowinger­ genealogie: Merowig ist der Sohn eines stierähnlichen Meermannes. Die langobardische Winilersage stellt keinen genealogischen Zu­ sammenhang, sondern die Namengebung durch Wodan als be­ gründende Ableitung von der Gottheit dar (—> Odin). J. Grimm DM I, 282 ff.; III, 377 ff.; A. Heusler, Die gelehrte Urgeschichte im altisländischen Schrifttum (APAW 1908).

Sternsagen -> Aurvandill; Sonne; Thjazi. -> Lit. Astrale Götter. -> Kelt. Sterne. -► Finn. Astrale Vorstellungen. Ung. Astrale Vorstellungen. -> Lett. Auseklis.

Streitgespräche ->Loki 1. -> Finn. Anthropogonie 1.

Sudri (aisl. Suöri) -> Kosmologie.

Surt (aisl. Surtr), Gegner der Götter in den nordischen -> Ragnarök, etym. „der Schwarze, Schlechte“ (zu aisl. svartr). S. ist fest mit dem Weltbrandmotiv und der Verderblichkeit des Feuers ver­ bunden. Er bringt das Feuer von Süden her (Vsp 52: Neckel, 12, übers. Thule II, 41). Der Kampf mit den Göttern findet auf dem Feld Vigrid (aisl. Vlgriör) (Vm 18: Neckel, 46, übers. Thule II, 88) bzw. dem Eiland Ösköpnir (Fm 15: Neckel, 178, übers. Simrock/ Kuhn, Heldenlieder 67) statt. Nach Vsp 53 ist S. der Töter ->Freyrs. Durch das Weltbrandmotiv steht S. in Berührung mit der -> MuspellVorstellung. In der SnE (71, übers. Thule XX, 111) ist S. der An­ führer der Muspellssöhne. Er hat Eingang in die -> Kosmogonie der 87

Suttung

Germanen

SnE gefunden (11, übers. Thule XX, 52), wo er als Herrscher bzw. Landwächter in Muspellhehn auftritt und ein lohendes Schwert besitzt. Der Name S. wird auch an ein riesisches, in der Tiefe hausendes Wesen geknüpft, das aber schwerlich mit dem Feuer­ dämon S. in eins gesehen werden kann. A. Olrik, Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang (1922), bes. 74ff.

Suttung (aisl. Suttungr) _> Skaldenmet.

Svadilfari (aisl. Svabilfari) -> Loki 1. Tag. Nach Vm 25 (Neckel, 47, übers. Thule II, 89) und SnE (17, übers. Thule XX, 58) ist der Licht-T. Dag (aisl. Dagr) Sohn der -> Nacht und des Delling (aisl. Ddlingr). Dag fährt täglich seiner Mutter nach mit dem Wagen (-> Mond; Sonne), der von dem Hengst Leuehtmähne gezogen wird. Kelt. Manannän. -> Rinn. Ukko.

Thjalfi (aisl. pjälfi) -> Hrungnir; Utgard-Loki.

Thjazi (aisl. pjazi), nordischer Riese, Sohn des Alvaldi (Hrb, SnE), Vater der -> Skadi (Grm, Hdl, SnE). Über den T.mythus —> Idun. -> Thor gibt sich als Töter T.s aus (Hrb 19: Neckel, 78, übers. Thule II, 65); und -> Loki rühmt sich gegenüber Skadi seiner Beteiligung an der Tötung (Ls 60f.: Neckel, 103, übers. Thule II, 58). Die Augen T.s werden von Thor (Hrb) bzw. Odin (SnE) als Sterne an den Himmel geworfen. Thökk -+ Balder.

Thor (aisl. p6rr), dt. Donar (germ. *punraz, „die göttliche Macht, die den Donner hervorbringt“, Betz, DPh III, 2502), germ. Gott des Gewitters und der -> Fruchtbarkeit. Im Norden gilt T. als Sohn -> Odins (Vsp, Hrb, Hym, prk, SnE) und der göttlich personifi­ zierten ->Erde: -> Jörd (Ls, j>rk, Skalden, SnE), ->Fjörgyn (Vsp, Hrb) oder Hlodyn (Vsp). T.s Frau ist -> Sif (Ls, Hym, ¡>rk, SnE). T. ist der Vater des ->Magni und des -»-Modi (Hrb, Hym, SnE); beide sind eigentlich nur Personifizierungen der göttlichen Eigen­ schaften T.s, seiner Kraft und seines Zornes. T.s Stiefsohn ist -> Ull (Skalden, SnE). T.s Wohnsitz und Reich heißen Thrudheim (aisl. pruöheimr)', seine Halle, das größte bekannte Gebäude in Thrud­ heim, trägt den Namen Bilskirnir (Grm 4: Neckel, 56, übers. Thule II, 80; SnE, 28, übers. Thule XX, 70). Die SnE bezeichnet T. als den stärksten von allen Göttern und Menschen und sagt, T. werde auch Wagen-T. genannt, weil er auf einem von zwei Böcken 88

Germanen

Thor

„Zähneknischer“ (aisl. Tanngniöstr und Tanngrisnir) gezogenen Wagen (-> Götterwagen; Kelt. Manannän; Finn. Ukko) fährt. Drei Attribute kennzeichnen T.: sein Hammer Mjöllnir (-> Felszeich­ nungen; Asl. Perun; Kelt. Hammergott; Finn. Ukko; Ung. Attila; Urreligion 2), der nach jedem Schleudern wie ein Bumerang zu ihm zurückkehrt (-> Lit. Perkünas), sein Kraftgürtel, der seine Asen­ kraft verdoppelt, und seine Eisenhandschuhe, die er braucht, um Mjöllnirs Hammerschaft anzufassen. T.s Hammer ist von -> Zwer­ gen verfertigt; der Stiel ist kurz: ein Fehler beim Schmieden (SnE, 123f., übers. Thule XX, 180f.) oder ein nachträglicher Verlust beim Kampfe (Saxo, Gesta Danorum III, 66).

Die nordgerm. Mythologie kennt eine ganze Anzahl von Episoden, in denen sich T. in Verbindung mit seinen Attributen bewährt. Ohne sie muß er bei der Fahrt zu —> Geirröd auskommen. T. ist der stets zuverlässig dreinschlagende Schützer der Götter, der Mensch­ heit und der Weltordnung vor der Bedrohung durch riesische -> Dämonen. „Fast alle T.-Mythen sind zugleich Riesenmythen“ (Ljungberg). Der Gegensatz zu den -> Riesen bestimmt das Bild der Mythologie von T. Häufig wird berichtet, daß T. nach Osten (gegen die dort hausenden Riesen) gezogen sei (—> Kosmologie). T. rettet die -> Äsen vor dem Riesenbaumeister (-> Loki). Er über­ windet —r Hrungnir, ->Hymir, -> Skrymir, —>Thjazi und ->Thrym, den Riesen, der ihm den Hammer gestohlen hat. Gefoppt wird T. von -> Utgard-Loki. Sonst vermag T. sich überall Respekt zu ver­ schaffen, als einziger der Götter auch von seiten -* Lokis, der ihn zuweilen begleitet. T. beteiligt sich maßgebend an der Ergreifung Lokis. In einer ganz anderen Rolle zeigen die Alv (Neckel, 120ff., übers. Thule II, lOOff.) T.: den Zwerg Alviss, der T.s Tochter zur Braut begehrt, hält T. listig mit einem Wissensgespräch bis zum verderblichen ersten Sonnenstrahl am Morgen fest. T., der Schützer -> Midgards vor der -> Midgardschlange, tötet dieses Ungetüm in den -> Ragnarök; aber nach dem siegreichen Kampf geht er selbst zugrunde.

Mehrere Skaldengedichte spielen auf T.-Mythen an; nur ein Teil dieser Skaldengedichte ist erhalten. Das wichtigste ist die £6rsdräpa des Eilffr Goörünarson (Skj B I, 139ff.).

Westgerm. Donarsmythen gibt es nicht. Es läßt sich aber den Quellen entnehmen, daß Donar eine bedeutende Rolle spielte. Seit Übernahme der röm. Woche ist der Donnerstag fast im ganzen westgerm. Bereich nach Donar an Stelle von Jupiter, im Norden nach T., genannt (—> Interpretatio Romana). 89

Thrud

Germanen

H. Ljungberg, Tor, Undersökningar i indoeuropeisk och nordisk religionshistoria, I (1947) (Uppsala universitets ärsskrift 1947, 9); K. Helm AR II, 2, 244ff.; J. de Vries AR II, 107ff. -* Lit. Perklnas. -> Asl. Perun. -> Kelt. Taranis. -> Pinn. Rauni; Tuuri; Ukko.

Thrud (aisl. prtifrr), Tochter der -> Sif. Thrudgelmir (aisl. Prtiögelmir), Sohn des -> Ymir. Thrudheim, Wohnsitz des -> Thor.

Thrym (aisl. prymr), nordischer Riese. T. hat —> Thors Hammer gestohlen, den er nur dann herausgeben will, wenn er -> Freyja zur Braut erhält. Thor und —> Loki fahren, verkleidet als Freyja (-> Brisingamen) und Dienerin, zu T. und täuschen ihn; Thor er­ schlägt mit dem wiedererlangten Hammer den Riesen. Der Mythus ist in der an Anklängen an andere Eddagedichte reichen prk (Neckel, 107ff., übers. Thule II, 11 ff.) überliefert und als sehr jung, wahrscheinlich nichtheidnisch, anzusehen, zumal die SnE ihn nicht erwähnt und auf ihn anspielende kenningar fehlen.

Thrymheim, Wohnsitz der -> Skadi. Tiu -> Tyr.

Tod. Der T. ist das vom -> Schicksal bestimmte Lebens-, aber nicht Daseinsende für Götter und Menschen. Der Tote ist „lebender Leichnam“: er existiert in anderer Daseinsform weiter (^- Jenseits­ vorstellungen). Der T. ereilt Götter und Menschen. Der Versuch, -> Balder vor seiner Todesahnung zu sichern, scheitert. Wohl aber sind die Götter gegen das Altern gefeit (—> Idun). -> Lit. Totenglauben. -> Asl. Totenglauben. -> Kelt. Tod. -> Finn. Toten­ glaube. ->■ Ung. Tod. -> Lett. Velis. -► Griech. Tod.

Totengott -> Odin.

Totenreich —> Hel; Jenseitsvorstellungen. Totenschiö

Naglfar.

Tuisto —> Anthropogonie; Erde; Interpretatio Romana; Stammes­ mythen.

Tyr, germ. Gott, germ. *Tiwaz, westgerm. Tiu, ahd. Ziu, aisl. Tyr (pl. tivar, „Götter“); bei den Sachsen ist mit Saxnot (ae. Saxneat, Seaxneat) wohl derselbe Gott gemeint. T. wurde dem röm. Mars gleich­ gesetzt (Votivsteine, alem. Ziestac, ae. Tiwesdx^ für „dies Martis“; —> Interpretatio Romana). Der nhd. Dienstag geht zurück auf seinen Beinamen Thingsus (Mars Thingsus), der ihn als Wahrer des Rechts und Schützer der rechtsprechenden Kriegerversammlung kenn-

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Germanen

Uli

zeichnet. Ursprünglich war T. der agerm. Himmelsgott (zur Etym., die T. mit Zeus und lat. deus zusammenstellt, vgl. J. de Vries AR II, 25f.), wurde aber später von -*■ Odin-Wodan verdrängt. Die interpretatio Germanica der röm. Wochentagsnamen zeigt ihn in der Geltung als Kriegsgott (s. o.). Auch Snorri kennt ihn als Gott des Krieges und des Zweikampfes und rühmt seine Kühnheit und Klug­ heit. „Er ist der kühnste und beherzteste und entscheidet vielfach über den Sieg in Schlachten; Kriegsleute tun gut, ihn anzurufen... Er bewies seine Tapferkeit, als die —> Äsen den Fenriswolf (—>Fenrir) verlockten, sich die Fessel Gleipnir anlegen zu lassen. Da glaubte der Wolf ihnen nicht, daß sie ihn wieder losmachen würden, bis sie ihm zum Pfände die Hand des T. ins Maul legten. Und als die Äsen ihn losmachen wollten, da biß er die Hand ab an der Stelle, die jetzt ,Wolfsglied‘ heißt, und so ist er einhändig und gilt nicht als Friedensstifter unter den Menschen.“ (SnE, 32, übers. Thule XX, 73f.; vgl. SnE, 35ff., übers. Thule XX, 77ff.) Mit -> Thor zieht T. zu -> Hymir (Hym: Neckel, 85ff., übers. Thule II, 17ff.); Hymir wird als T.s Vater bezeichnet. In den -> Ragnarök fällt T. im Kampfe gegen Garm, den er tötet (SnE, 72, übers. Thule XX, 112). Auf T.s Bedeutung für den Sieg im Kampfe weist die -* Runenmagie in Sd 6 (Neckel, 186f„ übers. Thule II, 165): „Siegrunen lerne, willst du Sieg haben! Auf den Schwertknauf schneide sie, auf die Blutrinne und des Rückens Breite, und rufe zweimal zu T.!“

Seinen Kult belegen ON hauptsächlich für Dänemark, vereinzelt für Schweden, Norwegen und England.

Der einhändige Kriegsgott weist hin auf die „ständige Gefährdung der Herrschaft, des Sieges, wie der Welt überhaupt“ (W. Betz, DPh III, 2498). K. Helm AR II, 2, 236ff.; J. de Vries AR II, lOff. -> Asl. Gerovit; Rugievit; Svantevit. ->Kelt. Kriegsgottheiten;Mars.-* Ung. Hadür.

Uli (aisl. Ullr, auch Ullinn), nordgerm. Gott, etym. verbunden mit got. wulpus, „Herrlichkeit“ (Deutungen zitiert bei J. de Vries AR II, 159). In der Mythologie wird U. als -> Ase, Sohn der -> Sif, Stiefsohn -> Thors bezeichnet (Skalden, SnE). Sein Wohnsitz heißt Eibental (aisl. i'dalir') (Grm 5: Neckel, 56, übers. Thule II, 80). U. ist ein guter Bogenschütze und Skiläufer, so daß er pnduräss, „Ski-Ase“ (-> Skadi) genannt wird (SnE, 33. 99, übers. Thule XX, 75. 143). Als -> Odin bei dem König —> Geirröd zwischen den Feuern sitzt, wird die Huld U.s und aller Götter dem zugesagt, der 91

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Urd

Germanen

zuerst Hand an das Feuer legt (Grm 42). U. wird beim Zweikampf angerufen (SnE). Einen bei U.s Ring geschworenen Eid kennt die Akv (Str. 30: Neckel, 239, übers. Thule I, 48). Bei Saxo (Gesta Danorum, lib. III, 4) flieht Ollerus, nachdem er zehn Jahre lang in Byzantium an Stelle des verbannten Othinus geherrscht hat und wieder vertrieben wird, nach Schweden und wird von den Dänen erschlagen. U. spielt sonst in Mythen keine Rolle. Sein Kult war nach Ausweis zahlreicher theophorer ON im Gebiet des Oslofjords und in Mittel­ schweden verbreitet.

Urd (aisl. Urör) -> Nomen; Schicksal. Utgard (aisl. Ütgarör m., „Draußenwelt“), die unbewohnten Rand­ zonen, wo nur —> Dämonen hausen, Gegenbegriff zu -> Midgard. Die Vorstellung von U. ist unfest und offensichtlich sehr jung. Die Edda kennt den Namen nicht. In der SnE ist U. die Burg von -> Utgard-Loki. -> Riesenheim.

Utgard-Loki (aisl. Ütgarbaloki), Riese des nordischen Mythen­ märchens von -► Thors Fahrt zu U., das in verschiedener Aus­ formung bei Snorri (SnE, 48ff., übers. Thule XX, 90ff.) und bei Saxo (Gesta Danorum, lib. VIII, 15) überliefert ist.

Snorris Erzählung beginnt mit der Schlachtung von Thors Böcken und ihrer Wiederbelebung. Die Knochen werden auf die Felle ge­ worfen und von Thor geweiht. Die Böcke stehen wieder auf; aber der eine lahmt, weil Thjalfi (aisl. pjdlfi), Sohn des Bauern, bei dem Schlachtung und Mahl stattgefunden haben, einen Schenkel­ knochen gebrochen hat. Zur Buße nimmt Thor Sohn und Tochter des Bauern, Thjalfi und Röskva (aisl. Rgskva), als Diener an, die ihn fortan begleiten (—> Hrungnir). Nach dem Abenteuer mit —> Skrymir kommt Thor mit seinen Begleitern, zu denen auch —> Loki gehört, zu U. In Wettkämpfen messen sich die —> Äsen und die Leute U.s. Thjalfi unterliegt im Wettlauf mit Hugi (dem Gedanken), Loki im Wettessen mit Logi (dem Feuer). Thor selbst vermag ein Horn nicht leerzutrinken, dessen Ende, wie er nachher erfährt, im Meer liegt. Es gelingt ihm nicht, U.s Amme Elli (das Alter) im Ringkampf zu besiegen und U.s Katze, die in Wirklich­ keit die -> Midgardschlange ist, vom Boden zu heben. Als Thor und seine Begleiter am nächsten Morgen U.s Burg verlassen, werden sie von U. über die Täuschungen aufgeklärt. Thor schwingt rächend seinen Hammer, aber U. und seine Burg sind verschwunden. 92

Germanen

Vanenheim

Bei Saxo ist Utgarthilocus der gefesselte Unhold, der in dunklen Höhlen hei —> Dämonen haust; er trägt Teufelszüge; Thorkillus ent­ rinnt ihm mit Mühe. In dem Mythenmärchen von U. scheinen sich zwei Schichten der Vorstellung von -> Loki zu begegnen. C. W. v. Sydow, Tors färd tili Utg&rd, DS 1910, 65—105; 145—182; H. Schneider, Loki, ARW 35 (1938), 237—251; S. Wikander, Tors bockar och patriarkemas kalv, Arv 6 (1950), 90—99. -> Pinn. Knochen. -> Griech. Wiederbelebung.

Vaithrudnir (aisl. Vajpruönir) -> Odin. Väli, Sohn -> Odins und der Rind (SnE). V. ist der Rächer -> Balders an ->Höd (Hdl 29: Neckel, 289, übers. Simrock/Kuhn, 141). Wenn er mit dem Rächer von Bdr 11 (Neckel, 275, übers. Thule II, 26) und Vsp 32f. (Neckel, 8, übers. Simrock/Kuhn, 20), wo V. nicht genannt wird, identisch ist, so soll sich V. weder gewaschen noch gekämmt haben, bevor er, eine Nacht alt, Höd getötet hat. V. hatte also ein Gelübde abgelegt. Die Altersangabe des Mythus bezieht sich wohl auf die Zeit seit V.s Initiation. Bei Saxo (Gesta Danorum, lib. III, 4) geschieht die Rachetat Bous’ erst später. V. wird mit —> Vidar nach den —> Ragnarök in der erneuerten Welt herrschen (Vm 51: Neckel, 52, übers. Thule II, 92). Vanadis -> Disen; Freyja.

Vanen (aisl. vanir m. pl.), geschlossene Gruppe von nordgerm. Göttern, von denen drei mit Namen erscheinen: —> Njörd, -> Freyr, -> Frey­ ja. Der Name V. ist etym. strittig (Übersicht der Deutungen bei J. de Vries AR II, 203). Die drei vanischen Gottheiten treten als —> Fruchtbarkeitsgötter auf. Das wertet man als Charakteristikum der ganzen Gruppe. Dazu passen die mythologischen Mitteilungen über das Geschlecht der V. Aus ihnen geht vornehmlich hervor, daß die V. die Geschwisterehe kennen, ein bestimmtes Zauber­ verfahren, den -> seidr, üben und zukunftskundig sind. Darin stehen sie im Gegensatz zu den -> Äsen, mit denen sie sich nach kriegerischer Auseinandersetzung zum Vergleich finden. Snorri nennt den Sitz der V. Vanenheim (aisl. Vanaheimr) (Ynglingasaga, SnE). Snorris Lokalisierung des V.gebietes an der Donmündung beruht auf volksetym. Spekulation. In der Mythologie liegt das V.reich sonst außerhalb des auf die Äsen gerichteten Blickfeldes. -> Kelt. Götterfamilien.

Griech. Götter- und Dämonenfamilien.

Vanenheim (aisl. Vanaheimr), Sitz der -> Vanen. 93

V6

Oermanen

V€, Bruder des -> Vili. Vegetation -> Fruchtbarkeit.

Verdandi (aisl. Veröandi) —> Nomen; Schicksal.

Vestri ->■ Kosmologie. Vidar (aisl. Viöarr), Sohn -> Odins (Vsp, Ls) und der Riesin Grid (aisl. Oriör-, —> Geirröd) (SnE). V. ist schweigsam und fast so stark wie -> Thor (SnE). Seinen Göttersitz lassen die Grm (Str. 17: Neckel, 58, übers. Thule II, 81) mit Gestrüpp und hohem Gras bewachsen sein. V. ist Odins Rächer in den -> Ragnarök (Vsp 55: Neckel, 13, übers. Thule II, 41; Vm 53: Neckel, 52, übers. Thule II, 92). Er tritt mit dem einen Fuß in den Unterkiefer -> Fenrirs und reißt den Oberkiefer so weit hoch, daß der Wolf verendet (SnE, 72f., übers. Thule XX, 112). V. wird mit -> Väli nach den Ragnarök in der erneuerten Welt herrschen (Vm 51). Die Tötung Fenrirs durch V. kann mit der bildlichen Darstellung auf dem Grabstein von Kirk Andreas auf Man gemeint sein. Das Gosforth-Kreuz zeigt ein ähnliches Bild; das Ungeheuer ist jedoch kein Wolf (Olrik, 9f.). A. Olrik, Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang (1922).

Vigrid (aisl. Vigriör) -> Surt.

Vili und Ve sind in der nord. Mythologie Söhne des Borr und Brüder —> Odins (SnE, Ynglingasaga), der mit ihnen eine ursprünglich w-stabende Trias bildet. —> Loki wirft -> Frigg vor, mit V. und Vö Ehebruch getrieben zu haben (Ls 26: Neckel, 98, übers. Thule II, 55). Die Ynglingasaga (Kap. 3: Hkr I, llf., übers. Thule XIV, 28) berichtet, daß V. und Vö die Herrschaft bei Odins Abwesenheit ausübten. Als Odin einmal lange ausblieb, glaubten die —> Äsen nicht mehr an seine Rückkehr. V. und Vö teilten sich das Erbe und nahmen Frigg gemeinsam zur Frau. Odin kam aber doch zurück, und Frigg wurde wieder seine Gemahlin. Völuspä (aisl. Vpluspä) —>Mantik; Ragnarök 2.

Vogel (gestalt) -> Freyja; Frigg; hamingja-, Idun; Odin 1; Skaldenmet. -> Lit. Vögel. -> Asl. Vögel. -> Kelt. Vögel. -> Firm. Vögel. -> Ung. Vögel, -> Lett. Hl. Tiere. -> Grieeh. Vögel.

Volla, Schwester der -> Frigg.

Walhall -> GötterWohnungen. 94

Germanen

Yggdrasill

Walküren (ae. wxleyrge, aisl. valkyrja f. sg., „Totenwählerin“) heißen die überirdischen, kriegerischen Dienerinnen -► Odins, die sich am Kampf beteiligen, den Sieg verleihen und die zum Tode bestimmten Krieger auswählen. In Walhall bringen sie den -> Einheriern Bier (Grm). Die W. gehören im übrigen mehr in die Heldendichtung als in die Mythologie. Der ursprünglich dämonische Charakter (-> Dä­ monen) der W. ist in der Heldendichtung zu einem menschlichen Bild abgeschwächt worden. -> Disen. G. Neckel, Walhall. Studien über germanischen Jenseitsglauben (1913), bes. 74ff.; P. Ström, Diser, nornor, valkyrjor. Pruktbarhetskult och sakralt kungadöme i Norden, 1954 (KVHAH 1). -> Asl. Vila.

Walvater -> Odin 1.

Wanen -> Vanen. Weltbaum -> Yggdrasill.

Weltbrand -> Eschatologie; Muspell; Ragnarök. Weltordnung -> Kosmogonie.

Weltsäule -> Kosmologie; Yggdrasill.

Weltschöpfung -> Kosmogonie. Weltuntergang —> Anthropogonie; Eschatologie; Fenrir; Muspell; Ragnarök.

Wettergottheiten -> Thor.

Windgott -> Njörd. Wingolf -> Odin. Wodan -> Odin.

Yggdrasill (aisl. m.), der heilige, immergrüne Weltbaum, etym. „Roß Yggs“, d. i. Odins; auch Yggdrasils äslcr („die Esche, der BaumY.“). Der Name Y., ein typisches Wort des Vsp-Kreises, führt auf den Mythus von —> Odins Selbstopfer zurück. Y. hat gewaltige Ausmaße. Seine Krone ragt über den Himmel; seine Zweige strecken sich über die bewohnte Welt; seine drei Wurzeln dehnen sich nach -> Hel, dem Reifriesenreich (-> Anthro­ pogonie) und der Menschenwelt aus (Grm 31: Neckel, 61, übers. Thule II, 83; ähnlich SnE, 22, übers. Thule XX, 63). Y. über­ schattet mehrere Quellen: die Quelle der Urd (aisl. Urdr} (Vsp 19: 95

Yggdrasill

Germanen

Neckel, 5, übers. Simrock/Kuhn, 17), die Mimirquelle (Vsp 28) (—> Mimir) und, soweit man den Baum Lärad (aisl. Lxräör) mit Y. gleichsetzt, die Quelle Hvergelmir (Grm 26). Die SnE systemati­ siert dies und läßt je eine Quelle unter einer Wurzel sein. Der Nadelbaum Mimameiör (Fi 19f.: Neckel, 305, übers. Thule II, 107), dessen Name von Mimis brunnr (-> Mimir) hergeleitet sein wird, stellt gleichfalls den Weltbaum vor, hier allerdings nicht der Species Esche (Fraxinus), sondern wohl Eibe (Taxus baccata; —>Kelt. Eibe) zugehörig. Die Verwendung von Baumnamen bei Isländern ist zwar allgemein an Unsicherheiten und Verwechslungen reich, und die Bezeichnung dskr kann ebensogut „Esche“ wie „Baum“ über­ haupt meinen; die Art des Weltbaumes scheint jedoch eine be­ sondere, mit anderen Arten nur vergleichbare zu sein, wie auch Adam von Bremen (Scholion 138) von der immergrünen arbor maxima beim Uppsalatempel sagt: „Cuius illa generis sit, nemo seit.“ Grm und SnE statten Y. mit einer Reihe von Tieren in be­ stimmten Funktionen aus: dem vielwissenden Adler, zwischen des­ sen Augen ein Habicht sitzt, dem leichenfressenden -> Dämon Nidhögg (aisl. Nibhgggr), der an den Wurzeln des Baumes nagt, dem Eichhörnchen, das am Stamme auf und nieder läuft und feind­ selige Worte zwischen Adler und Nidhögg hin und her trägt, dem Hirsch, der im Wipfel des Baumes äst. Zur kosmischen Vorstellung von Y. gehört auch, daß die Tautropfen auf der Erde von dem Naß herrühren, womit der Weltbaum beträuft ist. Die Vorstellung des Weltbaums berührt sich mit der der Weltsäule (-> Kosmologie).

Über seine kosmische Stellung hinaus ist Y. der Schicksalsbaum, wie das schon aus der Verknüpfung mit dem Uröarbrunnr und den —> Nomen ablesbar ist. Y. ist das Symbol der Welt für die Dauer ihres Bestehens. Die vglva (—> Mantik) entsinnt sich seiner als Keimling unter der Erde vor der Weltschöpfung (Vsp 2). Das Beben und Dröhnen des schweren Stammes ist ein Zeichen des nahenden Untergangs (Vsp 47). Kosmische und schicksalsmäßige Funktion Y.s können aus der Vorstellung des Schutzbaumes (schwed. värdträd), wie sie sich von historischer Zeit aus in Spuren zurück­ verfolgen läßt, hervorgegangen sein. Die Heiligkeit des Baumes macht ihn u. a. zum Ort der Gerichtsberatung der Götter (SnE). —> Heimdall. W. Mannhardt, Wald- und Feldkulte, I 2. Aufl. (1904), bes. 51 ff.; A. Olrik, Yggdrasill, DS (1917), 49—62; U. Holmberg-Harva, Der Baum des Lebens (1922) (AASF 16, 3); H. Pipping, Eddastudier II (1926) (SNF 17, 3); A. Olrik und H. Ellekilde, Nordens Gudeverden, I (1926ff.), bes. 367ff. -> Finn. Heilige Bäume; Weltbild. -> Ung. örfa; Tetejeteen nagy fa.

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Germanen

Zwerge

Ymir. Nord. Urriese, etym. entweder „Zwitter“ (urg. *iumijaz; lett. jumis „Doppelfrucht“; ai. yama, mir. emuin „Zwilling“) oder „Rauscher“ (zu aisl. ymja), nach Vm 28ff. (Neckel, 48, übers. Thule II, 89f.) und SnE (12, übers. Thule XX, 53) gleichzusetzen mit Aurgelmir, ist Urlebewesen (-> Anthropogonie) und Ursprung des Reifriesengeschlechts (—> Riesen). Y. ist aus den Gifttropfen, die aus den Strömen Eliwagar (aisl. ¿livdgar) sprühten (Vm), bzw. aus dem schmelzenden Giftreif dieser Ströme (SnE) entstanden. Vm und SnE berichten ferner, daß unter dem Arm Y.s ein Knabe und ein Mädchen wuchsen und daß Y.s Füße miteinander einen Sohn zeugten. Mit Namen ist als Sohn Y.s der Riese Thrudgelmir (aisl. prddgelmir) bekannt. Thrudgelmirs Sohn heißt Bergelmir. Y. wird von den Göttern erschlagen; sein Körper wird als Urstoff der Weltschöpfung verwendet (Vm 21; Grm 40: Neckel, 63, übers. Simrock/Kuhn, 32; SnE, 14f., übers. Thule XX, 55); -> Kosmogonie. —> Zwerge.

Y. ist mit dem Tuisto des Tacitus (Germ. cap. II) verglichen worden, der auch als „Zwilling“ oder als „Zwitter“ vorgestellt zu sein scheint (—> Interpretatio Romana). F. R. Schröder, Germanische Schöpfungsmythen, I, GRM 19 (1931), bes5 ff.; F. Börtzler, Ymir. Ein Beitrag zu den eddischen Weltschöpfungs­ vorstellungen, ARW 33 (1936), 230—245.

Zauber -> galdr-, Magie; Mantik; seiör. -> Lit. Zauber. Asl. Zauber. -> Kelt. Magie. -> Finn. Zauber. -> Ung. Zauber. Griech. Zauber.

Ziu -> Tyr.

Zwerge. Die kleinen Wesen menschenähnlicher Gestalt treten auf als -> Elben, Kobolde, Wichter, Geister, Z. usw., worin sich Unter­ scheidungen nach Funktion und Vorstellungskreis andeuten. Im Rahmen der Mythologie sind die Gruppen der Z. und der Elben die wichtigsten. Z. hausen in der Erde, besonders im Gestein; sie meiden das Tageslicht; sie sind hervorragende Schmiede und kunst­ reiche Verfertiger von Kleinodien, Besitzer großer Schätze, weise; zuweilen haben sie die Fähigkeit, sich zu verwandeln (-> Gestalt­ wechsel). Diese Züge hat die mythologische Überlieferung mit jüngeren Formen (Märchen, Heldendichtung) gemeinsam. Von den Z. n stammen die Zauberwaffen und kostbaren, unnachahmlichen Attribute der Götter: so ->Thors Hammer, -> Sifs Haar, der Ring Draupnir (-> Odin), das —> Brisingamen (SnE). In den Mittelpunkt eines mythologischen Gedichts rücken die Alv (Neckel, 120ff., übers. Thule II, lOOff.) einen Zwerg, der die Tochter Thors zur

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Zwerge

Germanen

Braut begehrt und von -> Thor listig mit einem Wissensgespräch bis zum verderblichen ersten Sonnenstrahl am Morgen festgehalten wird. Z. erschlagen den Kvasir und stellen aus seinem Blut den ->Skaldenmet her. Die Schöpfung der Z. geht in einem Z.-Katalog der -> Anthropogonie der Vsp (Str. 9ff.: Meckel, 2ff., übers. Simrock/Kuhn, 16f.) voran. Snorri läßt die Z. aus den Maden im Fleisch ->Ymirs entstanden sein (SnE, 20, übers. Thule XX, 61). In der -> Kosmologie der SnE sind vier Z. an die Enden der Himmelsrichtungen gestellt. Im ganzen macht die mythologische Überlieferung von Z.-Vorstellungen den Eindruck literarischer Auffrischung. -> Freyr; Skaldenmet. H. de Boor, Der Zwerg in Skandinavien. Festschrift Eugen Mogk (1924), 536—557; W. Müller-Bergström, Art. Zwerge und Riesen, HdA IX, 1008 bis 1138; E. F. Halvorsen, Art. Dverger, Kulturhistorisk leksikon III, 376-378. _> Lit. Kankas. ->■ Finn. Maahiset. -> Lett. Rükis.

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Tafel I

Germanen

Ein Ausschnitt aus dem Fragment des kleineren Kreuzes von Gosforth (Cumberland, England). Darstel­ lung von Thors Eisehzug (Germ. -* Hymir). Thor, links im Boot, in der rechten Hand den Hammer, in der linken die Angelschnur, hat als Köder für die Midgard­ schlange einen Stierkopf ausgelegt. Hymir wartet auf den Augenblick, die Angelschnur zu trennen. (Nach Wessen/Jansson. Vgl. Tafel II.)

Tafel II

Germanen

Die linke Schmalseite des Runen­ steins von Altuna (Uppland, Schwe­ den). Auf der unteren Hälfte Dar­ stellung von Thors Fischzug (Germ. —> Hymir). Thor, mit Hammer im Boot, bricht mit dem linken Fuß durch den Schiffsboden bei dem Versuch, die Midgardschlange zu angeln. (Nach Wessen/Jansson, Upplands runin­ skrifter 4, 3 Stockholm 1953—58, in: Sveriges runinskrifter 9.)

KELTISCHE MYTHOLOGIE VON

RAYMOND LANTIER

A. Geschichtlicher Überblick

Die älteste Geschichte der Kelten bleibt in dem Dunkel einer „ge­ schichtslosen“ Zeit, denn die griechischen und römischen Quellen, die als einzige über die Festlandskelten Kunde geben, wissen darüber nichts zu berichten. Doch mit Hilfe der Bodenforschung läßt sich dieses Dunkel wenigstens etwas aufhellen. Hiernach sind die Kelten in einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit mit jener großen Gruppe von Völkern identisch, die als Urnenfelderleute bezeichnet wird. Sie waren es, die in Mittel- und Westeuropa der Herrschaft einer älteren und vielleicht in gewissem Sinn autochthonen Schicht, die man mit dem Epitheton „Erbauer der Megalithgräber“ kennzeichnet, ein Ende bereiteten. Wenn diese Gleichsetzung der Kelten mit den Urnen­ felderleuten richtig ist, muß man jene erste große Ausbreitungswelle der Kelten für die Zeit zwischen 850 und 800 v. Chr. ansetzen. Aber erst aus der Zeit um 500 v. Chr. stammen die ersten historischen Nach­ richten, die den Namen „Kelten“ anführen und Angaben über die Wohnsitze dieses Volkes machen. Es ist Herodot, dem wir die Er­ wähnung der Kelten in Süddeutschland im Gebiet der Donauquellen verdanken, wobei sein Bericht auf eine ältere ionische Quelle zurück­ geht. Zwischen dieser ersten Erwähnung in dem Geschichtswerk eines Mittelmeervolkes und dem Zeitpunkt jener ersten großen keltischen Wanderung, die sich mit Hilfe der Bodenforschung nachweisen läßt, liegt eine Epoche weiterer Wanderungen keltischer Völker nach Frankreich, Spanien, den britischen Inseln, Italien und dem Balkan. Auch diese Wanderungen können nur durch Bodenfunde nachgewiesen werden. Man vermutet, daß die Kelten unter dem Druck der von Norden kommenden, Süd- und Westdeutschland besetzenden ger­ manischen Stämme ihre damaligen Wohnsitze aufgegeben haben und, wie gesagt, nach Frankreich, Spanien, den britischen Inseln und Italien ausgewandert sind. Verstärkt wird diese Vermutung durch die überlieferten Stammesnamen. So müssen die Turones, deren Name in der heutigen französischen Stadt Tours weiterlebt, ursprünglich aus Mitteldeutschland gekommen sein, wo die germanische Bezeich­ nung Thoringa an ihre alten Wohnsitze erinnert. Von anderen kel­ tischen Stämmen, wie den Boiern, die zusammen mit den ebenfalls aus dem mitteleuropäischen Raum kommenden Semnonen und mit den Biturigen nach Italien zogen, weiß man, daß sie vorher in Süd­ 101

Einleitung

Kelten

deutschland gewohnt hatten. Semnonen, Boier und Biturigen erober­ ten um 390 v. Chr. die etruskische Stadt Melpum in Oberitalien und belagerten wenig später unter ihrem Führer Brennus Rom, nachdem sie das römische Heer an der Allia vernichtend geschlagen hatten. Allein die Stadtburg, das Capitol, konnte als letzte Zuflucht gehalten werden; damit wurde der römische Staat vor dem Untergang bewahrt. Andere keltische Stämme drangen — wohl von Schlesien aus — zunächst nach Illyrien und Pannonien vor. Auch hier — wie bei dem Zug nach Italien — sind die Führer bekannt: Bellovesus und Segovesus. Sie führten ihre Völker nach Süden, nachdem die von Norden kommenden Germanen sie zur Auswanderung gezwungen hatten. Ihr altes Gebiet wurde von den Vandalen besetzt, die, zu­ nächst an der Ostsee wohnend, unter dem Druck anderer germanischer Stämme nach Süden gezogen waren. Ein Teil der Kelten ließ sich nördlich der heutigen ungarischen Hauptstadt Budapest nieder. Hier­ zu gehörten die Ösen, während die Aravisker sich am rechten Ufer des Donauknies festsetzten. Die keltischen Karner unterwarfen sich damals Kärnten und das mittlere Drau-Gebiet. Ende des 4. vorchristl. Jahrhunderts schon waren keltische Stämme, von der Save kommend, an die Bosna vorgedrungen. Wenig später waren auch die Täler der Marenta und Morava keltisch. Die Triballer, seit alter Zeit an der unteren Morava wohnend, mußten weiter nach Süden ausweichen. Selbst die gut ausgerüsteten makedonischen Heere wurden von den Kelten besiegt. Es kam hier schließlich zur Bildung eines keltischen Reiches, das weite Teile des heutigen bulgarischen Staats­ gebietes umfaßte. Die keltischen Namen der später von den Römern besetzten Städte an der unteren Donau wie Durostorum (Silistria) oder Noviodunum, um nur diese beiden zu nennen, weisen auf die starke keltische Besiedlung dieses Gebietes hin. Zeitweise war sogar das mächtige Byzanz diesem Keltenreich tributpflichtig. Erst 193 v. Chr. wurde es durch einen Aufstand der unterworfenen Thraker zerstört. Damals blieben die Kelten nicht auf der Balkanhalbinsel, sondern setzten sogar nach Kleinasien über. Als keltische Stämme von den Nachfolgern Alexanders für ihre Kämpfe in Sold genommen wurden, blieben sie entgegen dem Vertrage in Kleinasien, um hier auf der phrygischen Hochebene ein eigenes Reich zu gründen. Obwohl von AttalosL, dem König von Pergamon, besiegt, gelang es ihnen, ihre Selbständigkeit als Volk zu wahren. Noch ihr letzter König, der sein Reich nach den Kriegen des Pompeius in Kleinasien Rom als Erbe hinterließ, trug einen keltischen Namen: Deiotarus. Noch im 2. Jh. n. Chr. war das Keltische als Sprache in dem von den Kelten be­ wohnten und nach ihnen Galatien genannten Gebiet so lebendig, daß 102

Kelten

Einleitung

sich die dorther kommenden christlichen Missionare des Keltischen als Sprache der Predigt bedienen konnten, um in Gallien besser ver­ standen zu werden. Nur die Keltenzüge nach der Balkanhalbinsel, nach Kleinasien und nach Italien sind durch Nachrichten aus griechischen und römischen Quellen belegt. Für die nicht minder wichtigen Züge nach den bri­ tischen Inseln, nach Frankreich und nach Spanien versagen diese Quellen. Bodenfunde und die Deutung der Orts- und Stammesnamen müssen hier die literarischen historischenNachrichten ersetzen. Gleich­ wohl ist das Bild, das man auf diese Weise gewinnt, ausreichend genug, um wenigstens in Umrissen die wichtigsten WanderungsVorgänge rekonstruieren zu können. Hiernach sind vor allem Kastilien, Galizien und Portugal von keltischen Stämmen besiedelt worden. Zum Teil sind auch die Wanderungswege näher bekannt. So weiß man z. B., daß die Cempsi, aus dem nordöstlichen Teil von Holland kommend, den Rhein überschritten, um sich schließlich nach einer Wanderung durch das nördliche Gallien im Westen Frankreichs niederzulassen. Die hier bisher wohnenden, ebenfalls keltischen Pelendonen wurden zur Auswanderung gezwungen; sie fanden in Spanien im Gebiet von Madrid eine neue Heimat. Die Wanderung der Kelten kam erst in dem Augenblick zum Ab­ schluß, als eine befestigte römische Militärgrenze an Rhein, Main und Donau eingerichtet wurde. In dieser Zeit begann die Romanisierung der Festlandskelten, die etwa mit dem Anfang des 4. Jahrh. ihren Abschluß fand. Ihr Ergebnis war das Verschwinden nicht nur der keltischen Kultur, sondern auch der keltischen Sprache. Zum Zeit­ punkt der beginnenden germanischen Landnahme in den ersten Jahrzehnten des 5. Jahrh. gab es in Gallien kaum noch jemand, der Keltisch sprach oder verstand. Schon zur Zeit Konstantins des Großen wurde es als Besonderheit betrachtet, daß man in dem sehr stark von Kelten (Treverer) besiedelten Raum um Trier auf dem Lande noch Keltisch verstand. Unter dem Druck der Germanen wich um 400 ein Teil der Fest­ landskelten auf die britischen Inseln aus und fand dort endgültige Sitze. Hier hat die besonders von Irland ausgehende Christianisierung der Kelten dazu geführt, daß sich die Kelten als Volk behaupten konnten. Die Insel Iona, eine der Hebriden, auf der sich früher ein altes keltisches Heiligtum befand, wurde seit der zweiten Hälfte des 6. Jahrh. der christliche Mittelpunkt des Keltentums. Von Iona aus wurden unter Wahrung ihres keltischen Volkstums die Schotten von den ebenfalls keltischen Iren zum Christentum bekehrt. Ihr Missionar Columba — er trug den gleichen Namen wie der berühmte Gründer der Klöster Luxeuil und Bobbio — war, wie sein Name (latinisiert 103

Einleitung

Kelten

aus keltisch Colum Cille) verrät, ebenfalls ein Kelte. Dieses christia­ nisierte Keltentum, das sich in Irland, Schottland, Wales und in der von Flüchtlingen aus England besiedelten Bretagne bildete, hat seine keltische Kultur und Sprache bis heute bewahrt. [H. W. Haussig] B. Literatur zur keltischen Mythologie

I. Quellen zur keltischen Religion und Mythologie:

a) Literarische Quellen: Holder, Altceltischer Sprachschatz I—III (1896—1903) ; W.Krause, Die Kelten, in: Religionsgeschichtliches Lesebuch XIII (1929); E. Gwynn, Poems from the Dindschenchas, in: Royal Irish Academy, To Lecture Series, VII, IX—XII; R. A. Stewart Macalister u. John Mac Neill, Leabhar Gabhâla, The book of Conquest of Ireland; R. A. St. Macalister, Lebor Gabala Erenn, The book of the taking of Ireland, Irish Text Society XXIV—XXV (1938—39); Wh. Stokes u. E. Windisch, Coir Anman (Fitness of Names), Irische Texte III 2 (1897); Arhois de Jubainville, L’épopée celtique en Irlande (1892); ders. Tâin Bô Cualnge, Enlèvement des vaches de Cooley (1907); G. Dottin, L’épopée irlandaise (1926); J. Loth, Les Mabinogion I—II (1913); K. Meyer, Fianaigecht (1910); H. O’Grady, Silvae Gaelicae (1892); Eoin Mac Neill, Duanaire Finn I (1908); G. Murphy, Duanaire Finn II (1933); R. Thurneysen, Die irische Helden- und Königs­ sage (1921); J. Zwicker, Fontes historiae religionis celticae I—III (1934-36), CIL XII-XIII (1888-1943).

b) Ikonographische Quellen: E. Esperandieu, Recueil général des bas-reliefs, statues et bustes de la Gaule romaine I—XI; XII—XIV continué par R. Lautier (1907 bis 1955) ; W. Krause, Religion der Kelten, in : Bilderatlas zur Religions­ geschichte, Lieferung 17 (1933) ; F. Benoit, L’art primitif méditeranéen dans la vallée du Rhône2 (1956); J. Déchelette, Manuel d’Archéologie préhistorique, Celtique et Gallo-Romaine (Paris 1910—14).

II. Quellen zur keltischen Geschichte: H. Hubert: Les Celtes et l’expansion celtique jusqu’à l’époque de la Tène. — Les Celtes depuis l’époque de la Tène et la civilisation celtique 1953. Bibliothèque de Synthèse historique. L’évolution de l’Humanité. 2. Aufl. Paris 1950; J. Pokorny, Zur Urgeschichte der Kelten u. Illyrier, in: Zeitschr. f. celtische Philologie 20 (1936), 21

104

Kelten

Einleitung

(1940); R. Pittioni, Die Urnenfelderkultur und ihre Bedeutung für die europ. Geschichte, in: Zeitschr. f. celtische Philologie 21 (1940); P. Bosch Gimpera, Les mouvements celtiques. Essai de reconstruction, in: Études celtiques (1950 u. 1954); P. Bosch Gimpera, TwoCeltic Waves in Spain. Sir John Rhys Memorial Lecture. British Academy (London 1948) ; W. W. Evans, Prehistory in Ireland. Proceedings of the Pre­ historic Society (1948); G. Fabre, Les civilisations protohistoriques de L’Aquitaine (Paris 1952); J. Filip, Pravëké öeskoslovensko (Prag 1948) ; I. v. Hunyady, Die Kelten im Karpatenbecken. Diss. Pannonicae II, 18 (Budapest 1942) ; M. Jahn, Die Kelten in Schlesien. Quellenschriften z. ostdeutschen Vor- u. Frühgeschichte I (Leipzig 1931); I. Nestor, Keltische Gräber bei Mediaä. Ein Beitrag zur Frage der frühen keltischen Funde in Siebenbürgen, in: Dacia VII—VIII; K. Bittel, Die Kelten in Württemberg, in : Römisch-Germanische Forschungen 8 (Berlin und Leipzig 1934) ; R. Pittioni, Die latènezeitlichen Funde Niederösterreichs, in: Materialien zur Urgeschichte Österreichs V (Wien 1930); T. D. Kendrick/Ch. Hawkes, Archaeology in England and Wales (London 1931).

Arbeiten über keltische Mythologie: G. Roth, Mythologie celtique, in : Mythologie générale de F. Gui­ raud (1935); J. A. Mac Culloch, The Religion of ancient Celts (1911); ders., Celtic Mythology (1918); A. G. van Hamel, Aspects of Celtic Mythology, in: Proceedings of the Brit. Academy XX; C. Clemen, Religionsgeschichte Europas, I (1926) 314ff. ; Arbois de Jubainville, Le cycle mythologique irlandais, Cours de littérature celtique II (1884); M. L. Sjöstedt, Dieux et héros des Celtes. Mythes et religions. Bd. 7. Paris (1940); J. Vendryes, La religion des Celtes, in: Samm­ lung Mana 2, III (Paris 1948) 248—289; P. M. Duval, Les dieux de la Gaule (1957); R. Lantier, La religion celtique (Histoire des reli­ gions, de Gorce et Mortier III) (1948).

Nachwirkungen der keltischen Mythologie in christlicher Zeit: Fr. Henry, La sculpture irlandaise pendant les douze premiers siècles de l’ère chrétienne (Paris 1933); E. Male, La fin du paganisme en Gaule et les premières basiliques chrétiennes (Paris 1950). C. Abbildungsverzeichnis

Bei der Auswahl der Bilder (nach Seite 162) wurde vor allem darauf gesehen, Darstellungen zu wählen, die in enger Verbindung mit jenen keltischen Mythen stehen, deren schriftliche Überlieferung verloren­ gegangen ist. Daher begegnen auf den Bildern zwei Darstellungen 105

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Kelten

des keltischen Hirschgottes Cemunnos, die eine im Val Camonica, die andere auf dem Kessel von Gundestrup, die beide offenbar auf die gleiche an diesen Gott geknüpfte Mythe Bezug nehmen. Diese und die anderen ausgewählten Götterbilder zeigen, wie stark das Eigenleben der Kelten trotz griechischen und römischen Einflusses gewesen ist, wenn etwa der Gott von Bouray trotz offensichtlicher Entlehnungen aus der Kunst der Mittelmeerländer in der aus anderen (älteren) keltischen Zeugnissen bekannten buddhistischen Sitzhaltung dargestellt wird. Abb. 1. Ausschnitt aus einer Felszeichnung in Val Camonica. Die Fels­ zeichnung, wohl sicher das Werk von Kelten, stammt aus der früheren Latenezeit, etwa um 400 v. Chr. Es ist hier ein Ausschnitt gewählt, der den keltischen, an seinem Hirschgeweih kenntüchen Gott Cer­ nunnos zeigt, der bemerkenswerterweise aufrechtstehend dargestellt ist. Soweit der Erhaltungszustand der Zeichnung und die photo­ graphischen Reproduktionen erkennen lassen, hält der Gott, an dessen rechtem Arm der keltische Ringreif deutlich sichtbar ist, mit seiner rechten Hand einen nicht näher bestimmbaren Gegenstand. An bzw. unter seinem linken Arm glaubt man eine gehörnte Schlange zu sehen, vermutlich mit den Hörnern eines Widders. Die davorstehende kleinere Gestalt ist im Gegensatz zum Gott unbekleidet; es mag sich um einen Menschen in Gebetshaltung oder um einen Genius der Zeugung handeln — auffallend ist die starke Betonung des Phallus. Die Felszeichnung von Val Camonica ist nicht frei von Einflüssen der griechischen Welt; es ist die Darstellung der mit erhobenen Armen betenden Gestalt, die an das bekannte Bildnis des betenden Knaben erinnert. Vgl. S. 156 f. Abb. 2. Ausschnitt des Kessels von Gundestrup (heute im National­ museum in Kopenhagen). Der Kessel besteht aus Silber; die auf ihm dargestellten Szenen sind in Treibarbeit gefertigt. Er wurde in einem Moor in Jütland gefunden, stammt aber schon nach der Technik, in der er gearbeitet ist, nicht aus der Umgebung des Fundortes. Er ist mit großer Wahrscheinlichkeit in dem keltischen Gebiet an der oberen Donau in Süddeutschland hergestellt worden und später unter uns unbekannten Umständen, möglicherweise im Zuge einer Plünde­ rung nach Jütland gelangt, wo man ihn vielleicht als Weihgabe für die Götter in einem Moor versenkte. Er mag im 2. oder 1. Jh. v. Chr. entstanden sein. Auf dem hier wiedergegebenen Ausschnitt sieht man wiederum den Gott Cernunnos, das Hirschgeweih auf dem Kopf, in der auch aus anderen keltischen Götterbildern bekannten sitzenden Haltung. Die rechte Hand hält den wohl als Zaubermittel verwendeten Ring­

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reif, während die linke eine Schlange mit Widderkopf packt, die unter der Wirkung des Zaubers zu Bewegungslosigkeit erstarrt. Der Gott trägt die enganliegende keltische Tracht, lange Hosen, Gürtel und Hemd und als Schmuck den auch sonst auf Götterdarstel­ lungen vorkommenden Halsring. Den Gott umgeben die zu seinem Machtbereich gehörenden Tiere des Waldes, aber nicht nur sie. Man bemerkt neben dem Löwen auch eine Darstellung Arions, der von einem Delphin gerettet wird. Beide weisen auf einen also auch bei diesem Stück festzustellenden Einfluß der griechischen Welt. Vgl. S. 127,154,157.

Abb. 3. Die Vase von Bavay (Cabinet des Médailles de la Biblio­ thèque nationale de Paris). Die Vase zeigt die Darstellungen von sieben gallischen Gottheiten. Unter ihnen auch die des dreiköpfigen Lug. Er ist auf dem hier wiedergegebenen Ausschnitt zu sehen. Lug, der in der Interpretatio Romana dem Merkur entspricht, war einer der höchsten keltischen Götter. Seine Dreiköpfigkeit erinnert an den ebenfalls mit drei Köpfen dargestellten slavischen Gott Triglav.

Abb. 4. Ein Menschen verzehrendes Ungeheuer (Tarasque von Noves). Musée Calvet in Avignon (Vaucluse). Das Ungeheuer, im Begriff einen Menschen zu verzehren, dessen einer Arm ihm noch aus dem Maul hängt, legt seine Klauen auf zwei abgeschlagene Köpfe. Die sehr naturalistisch dargestellten Köpfe weisen auf Angehörige eines nicht­ keltischen, möglicherweise ligurischen Stammes. Die früher bemalt gewesene Plastik läßt sich mit den griechischen und römischen Be­ richten über die Menschenopfer der Gallier in Verbindung bringen.

Abb. 5. Die Säulenhalle des keltischen Heiligtums von Roquepertuse (Bouches de Rhône). Die heute noch aufrecht stehenden Pfeiler des Heiligtums von Roquepertuse sind ähnlich wie das berühmte Heilig­ tum von Stonehenge errichtet. Der mittelste von einer Ente ge­ krönte Pfeiler enthält drei Vertiefungen, die der Aufnahme von Schädeln geopferter Menschen dienen. Die Skeletteile der Körper der Geopferten wurden in unmittelbarer Nähe der Pfeiler gefunden. Der Brauch, Menschen, vor allem Kriegsgefangene, den Göttern zu opfern und ihnen hierbei die Köpfe abzuschneiden, war bei den Kelten ver­ breitet und hing, wie die Anbringung der Köpfe in dem Heiligtum zeigt, eng mit den religiösen Vorstellungen zusammen. Die ab­ geschnittenen Köpfe der Geopferten wurden nicht nur im Heiligtum angebracht, sondern auch unter naturalistischer Wiedergabe der Ge­ sichtszüge porträtiert und die Bildnisse als Denkmäler aufgestellt. Ein derartiges Denkmal mit den Köpfen von vier offenbar zu gleicher Zeit getöteten Menschen ist z. B. aus Entremont (Bouches du Rhône) erhalten. (Photo Mougins Co.)

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Seiten

Abb. 6. Der Gott von Bouray (Seine et Oise). Musée des Antiquités nationales, St. Germain en Laye. Die aus dem 3. Jh. v. Chr. stam­ mende, 45 cm hohe Figur eines in buddhistischer Pose sitzenden Gottes zeigt die schon zu dieser Zeit bestehende hochentwickelte Technik des Metallgusses der Kelten, die das Götterbild aus zwei gegossenen Formen zusammensetzten. Die Augen waren, wie es dem griechischen Brauch bei Bronzefiguren entsprach, eingesetzt. Die Dar­ stellung des Gottes mit den Beinen eines Hirsches, die in BuddhaArt gekreuzt sind, und dem Halsring dürfte auf Cernunnos weisen. Die Wiedergabe des Gottes hält sich also trotz des vor allem in der Technik zum Ausdruck kommenden starken griechischen Einflusses an das alte ikonographische Formular, das vor allem auf den Darstel­ lungen des Gottes des Kessels von Gundestrup und in Val Camonica zum Ausdruck kommt. Abb. 7. Der Gott von Eufjigneix (Haute Marne). Musée des Anti­ quités Nationales, St. Germain en Laye. Die nur 26 cm hohe Stein­ figur lehnt sich in der Form eng an die eines Menhir an. Die Art der Gestaltung, die dem Götterbild das Aussehen eines Monolithen gibt, scheint archaisch und nicht fern jener Zeit, wo Monolithen, eben die sogen. Menhire, an der Stelle von Götterbildern verehrt wurden. Der unbekannte Gott trägt einen Halsring und auf dem Körper die Darstellung eines Ebers. Abb. 8. Keltische Münze (Gewicht 7 g), Bibliothèque nationale. Dargestellt ist eine nackte, auf einem Pferd sitzende Göttin, die Rad und Speer schwingt. Es handelt sich wahrscheinlich um eine Dar­ stellung der Epona. Diese Göttin, deren Name „die große Stute“ be­ deutet, wird häufig auf einer Stute reitend dargestellt. Die Darstellung der Göttin auf der Münze folgte nicht konsequent dem vorgeschriebe­ nen ikonographischen Formular wie die bisher behandelten Dar­ stellungen von Göttern, denn das Pferd der Göttin scheint hier ein Hengst und das Rad ist das Symbol eines anderen keltischen Gottes. Offensichtlich wurde das Münzbild zu einer Zeit geschaffen, als man über die keltischen Mythen und Götter nicht mehr sehr gut unter­ richtet war. Abb. 9. Die Göttin Sequana von der Seinequelle (Côte-d’Or). Musée de Dijon. Die Seinegöttin und Hauptgöttin des großen keltischen Stam­ mes der Sequaner wird hier auf einem Schiff stehend dargestellt. Nur die den Bug des Schiffes bildende Ente — sie begegnet auch auf dem Heiligtum von Roquepertuse — und die Darstellung der Göttin auf einem Schiff weisen noch auf die Benutzung alter keltischer ikonographischer Formulare. Dagegen ist die Göttin ganz in griechischer Weise aufgefaßt und dargestellt. [H. W. Haussig]

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Kelten

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Die Keltische Machtausbreitung (nach E. Wahle) Nach: Die Neue Propyläen-Weltgeschichte Bd. II, Berlin 1940

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Einleitung

Kelten

Die Wohnsitze der wichtigsten keltischen Stämme (Zur Orientierung wurden auch einige nichtkeltische Stämme in die Karte aufgenommen)

Aus: Historia Mundi, 3. Bd., Bern (A. Francke A. G. Verlag) 1954

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Kelten

Einleitung

Die Volksstämme des freien Galliens im Zeitpunkt der römischen Eroberung (Die Namen der Stämme in großen Buchstaben, die Namen der Städte und Orte in kleinen Buchstaben)

Aus: L’Art Gaulois, hrsg. v. André Varagnac und Gabrielle Fabre, Paris (Zodiaque) 1956

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Stichwortverzeichnis

Für die Darstellung der keltischen Mythologie ist nicht der für das Wörterbuch grundsätzlich geforderte Aufbau in der Form von Stich­ wortartikeln gewählt worden, weil das überlieferte Material an Mythen so trümmerhaft ist, daß nur eine monographische Darstellung dem Leser eine Vorstellung von dem einstigen Umfang, Inhalt und Zu­ sammenhang der Mythen geben kann. Um jedoch dem Benutzer des Wörterbuches das rasche und voll­ ständige Auffinden eines bestimmten Stoffes zu erleichtern und auch um die monographische Darstellung von den an sich erforderlichen Verweisungen zu entlasten, wurden die Stichwörter ausgezogen und durch Verweiswörter ergänzt; in alphabetischer Ordnung dienen sie als Sachregister zur nachfolgenden Monographie, auf die sich die Seitenzahlen beziehen; im Text sind die Stichwörter zur leichteren Ermittlung kursiv gesetzt. a$vamedha 132. Adsmerios, Epitheton des -> Merkur 138. Aed, Vater einer der -> Machas 140. Agrargottheiten 140, 142, 152, 160f. -> Amaethon; Erde; Muttergott­ heiten. Griech. Feld- und Fruchtgottheiten. -> Lit. Feldgott­ heiten; Getreidegötter. -> Asl. Svantevit. -> Finn. Ackerbauriten. -> Germ. Fruchtbarkeit. -> Lett. Jumis; Lauku mäte. Ahnenkult -> Heldenmythos; Seelenglauben; Tod. Albiorix 135. -> Teutates. -> Lett. Velis. Amaethon -* Agrargott in Wales (der große Ackermann), zu den „Kindern von —> Don“ gehörig, 133, 160. Ana, Anu, ir. -> Muttergottheit 140. -» Griech. Demeter. -> Lett. Mäte. Andarta, Kriegsgöttin der Vocontier 136. —> Griech. Athene. Anthropomorphismus 130f., 134, 142, 146, 161 f. Anu -> Ana. Apollo 130, 132, 137, 148, 160. -> Dian-Cecht; Interpretatio Romana. Griech. Apollo. Arduinna, Göttin der Ardennen 131, 136. -> Diana.

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Kelten

Cenn Cruaich

Ares, griech. -> Kriegsgott, von Kallimachos als Äquivalent eines kelt. Gottes erwähnt 130. -> Griech. Ares. -> Lett. Meness. Arianrot 133. Artaios, kelt. Bärengott, mit -> Merkur identifiziert 138.

Arthur, Held der wal. Sage 142, 144. Artio, Bärengöttin in Nordostgallien 131, 136. Arvernus, Epitheton des -> Merkur 138. Äskulap 160. -> Apollo; Interpretatio Romana. -> Griech. Äskulap. Badb -> Bodb. Badio-Casses Casses. Bär -> Artaios; Artio; Tiergestalt der Götter. -> Germ. Berserker. Barden, kelt. Dichter 129, 144f. -> Druiden; Priestertum. -> Germ. Skalden. -> Lett. Burtnieks. Baum, Baumgottheiten, -kulte 137, 146, 162. -> Lit. Medis. -> Asl. Einl. -> Finn. Heilige Bäume. -> Ung. Äldö-küt. -> Germ. Heim­ dall. -> Griech. Baumkulte. -> Lett. Meza mäte, Heilige Bäume. Belenos 152. Beli, Götterfamilie in Wales 142. Beltene 151 f. -> Feste. ->Lett. Feste. Berge 130. -> Lit. Kälnas. -> Griech. Berggötter. Bier 154f. ->Finn. Pellonpekko. Bodb, kriegerische Trinitätsgöttin in Vogelgestalt 139f. -> Morrigan; Tiergestalt der Götter. -> Lett. Alus. Bodb, lokale Variante des ->Dagda 139f. Bran -> Hund, Neffe des -> Finn 142, 146, 154. -> Tiergestalt der Götter. Brigit -> Muttergottheit, Patronin der Schmiede, Dichter und Ärzte 140, 152, 160. -> Griech. Schmiedegott Hephaistos. Brixia -> Quellgottheiten 136f. -> Götterpaare. Brunnengötter -> Quellgottheiten. -> Griech. Quell- und Flußgötter. Carman, Festgöttin, Verkörperung von Natur- und Bodenkräften 140, 152. Casses, Dii Casses, Tri-casses —> Kriegsgottheiten. -> Germ. Walküren. -> Lett. Meness. Cath Maige Tuired, Epos 129. -> Maige Tuired. Caturix 135. -> Teutates. Cenn Cruaich -> Cromm Cruaich. s

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Ceres

Kelten

Ceres 160. -> Erde; Interpretatio Romana; Muttergottheiten. -> Griech. Demeter. -> Lett. Mäte, Zemes mäte; Einl. B. b. 4.

Cernunnos, Gott mit Hirschgeweih 131, 136, 141, 156 f., 161 f. -> Tiergestalt der Götter. Christliche Überlieferung 126, 128, 132, 140ff., 142f., 151, 154, 162. -► Asl. Christlicher Einfluß. —> Lit. Teuflische Götter. -> Finn. Christliche Einflüsse. —> Ung. Christliche Tradition. -> Germ. Christliche Einflüsse. Cöir Anmann, etym. Werk 128. Colum Cille 155. Conaire, König 140. Conall, Bruder des Cüchulainn 145. Conn 142. Connla, Held 142. Cormac, König-Bischof in Irland 128. Cromlech 130f., 147ff. -> Heiligtümer; Menhir. -> Lett. Alkas. Cromm Cruaich, königlicher Götze auf dem Hügel von Mag Siecht 131, 153. Crunnchu, Gemahl einer der -> Machas 140. Cüchulainn, der „Hund des Culann“, Held der ir. Sage 131, 140, 142ff„ 153, 156. -> Hund; Tiergestalt der Götter. Cüil Dreimne, Schlacht von C. D. 155. Cuac?epa, Sanskrit-Erzählung im Cath Maige Tuired 129. Dagda, druidischer Gott, Haupt der -> Tuatha De Danann (->Dana) 133f, 139, 154, 160. -> Gwydyon; Iuppiter; Sucellos. Damona, die „große Kuh“. -> Tiergestaltige Göttin 136. -> Germ. Audhumla. -> Griech. Hera. Dämonen 130f. 133, 143, 150, 156f., 162. -> Ung. Dämonen. -> Germ. Dämonen. -> Griech. Dämonen. Dana, ir. Göttin 133, 140. Dea Arduina -+■ Arduinna. Dea Sequana 137. Deus Fagus 137. -> Baumgottheiten. Deus Robus 137. -> Baumgottheiten. Diana 131, 160. ->■ Arduinna; Interpretatio Romana. -»Asl. Vila. -> Griech. Artemis. Dian-Cöcht, göttlicher Arzt Irlands 133f., 160. -> Apollo. Dichter -» Barden. 114

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Feinid

Dii Casses -> Casses. Dindshenchas, ir. Legendensammlung 128. Dionysos 137. -> Griech. Dionysos. Dioskuren 130. Griech. Dioskuren. -> Lett. Using. a Dispater 133, 137, 139, 160f. -» Interpretatio Romana; Jenseits; Sucellos; Totengötter. -> Lett. Dievs. Don, Göttin; „Kinder von Don“, wal. Götterfamilie 133, 142. Drei, Dreizahl 133, 135ff., 140,143, 150, 158,161f. -> Göttertriaden. Dreigesichtige, dreiköpfige Götter -> Polykephalie. Druiden 128f., 132ff., 146, 155f. -> Barden; Priestertum. Dumias, Epitheton des -> Merkur 138. Duro-Casses -* Casses. Eber 131,138. -> Diana; Moccus. -> Tiergestalt der Götter. -> Griech. Tiergestalt der Dämonen. Eibe 131, 137, 146. -> Baumgottheiten. -> Griech. Baumgottheiten. Eiche -> Deus Robur. —> Lett. Perkons, Hl. Bäume. Emer, Frau des -> Cuchulainn 156. Eochaid Ollathair, Titel des Dagda 139. Epen (Zyklen), mythische E. 127ff., 133, 139, 141, 143, 145, 147, 155, 157. —> Mythische Erzählungen; Mythische Kriege. -> Finn. Einl.r, Kalevala; Schlachtmythos; Väinämöinen. -> Einl. und passim. Epona, Pferdegöttin in Gallien 131, 136, 141, 162. -> Pferd; Rhiannon; Tiergestalt der Götter. -> Asl. Vila. -> Ung. Särkäny. -> Gerjn. Loki. Griech. Pferdegott Poseidon. -> Lett. Usins. Erde, Erdgottheiten 136, 139, 152, 157, 160f. -> Agrargottheiten; Heilige Hochzeit; Muttergottheiten; Naturismus. -> Lit. Erdgott­ heiten. -* Finn. Erdgeist. -> Germ. Erde. -> Griech. Erdgott­ heiten. -> Lett. Zemes mäte. Erstlingskult 163, 155. -> Finn. Erstlingsgaben. -> Griech. Erstlings­ kult. Eschatologie Jenseits. Griech. Eschatologie. Esus, gall. Hauptgott 127, 133ff., 137, 141, 154. Euifigneix, Gottheit von E. 131. Fackel 158. Febal, Vater des Helden -> Bran 142. Feen (in Irland) 141 f., 162. -> Lit. Feen. -> Asl. Feen. -> Ung. Bäba Lett. Baltäs Sievas. Feinid -> Fian. 8»

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Ferdlad Conganohness

Kelten

Ferdiad Conganchness, der Held „mit der Hornhaut“ 144.

Festgöttinnen 140.

Feste.

Feste 140, 147f., 150, 151 ff. -> Finn. Feste; Kekri; Pellonpekko 4. -> Griech. Feste. -> Lett. Feste.

Feuer 142, 152f. —> Fackel. —> Lit. Feuer. -> Asl. Svarog. —> Finn. Feuergeist; Feuerriten. -> Ung. Urreligion 1. -> Germ. Muspell. -> Lett. Uguns mäte. fian(a), Gemeinschaft jagender Krieger 145f. Germ. Friede.

Ung. Urreligion 2.

Finn, Anführer der Cianna Baoiscne von Leinster 145f. Fisch 139, 148. -> Griech. Fischgottheiten. Fluß(gottheiten) 130, 137. —> Griech. Flußgottheiten. Fomore -> Dämonen, ir. Götterfamilie 133, 139, 142. monen.

Griech. Dä­

Fruchtbarkeit 132, 136, 152, 154, 157, 161. -> Erdgottheiten; Mutter­ gottheiten. Lit. Fruchtbarkeitsgötter. -> Asl. Mokös. -> Finn. Fruchtbarkeitsmythen. -> Germ. Fruchtbarkeit. -> Griech. Frucht­ barkeitsgötter. Lett. Jumis, Lauku mäte. Geburt eines Gottes 154. Geister(glauben) -> Seelenglauben. -> Griech. Seelenglauben. -> Lett.

Velis.

Genius, Genius loci 160. -> Interpretatio Romana. Gilvaethwy, zu den „Kindern von -> Don“ gehörig 133. Gobannon, Gofannon, Govannon Goibniu. Goibniu, Schmied 133f„ 154, 160. -> Asl. Svarog. —>■ Finn. Ilmarinen. -> Ung. Tetejetlen nagy fa. -> Germ. Zwerge. -> Griech. Schmiede­ gott Hephaistos. -> Lett. Debess kalejs. Goll, Anführer der fiana von Connaught 145.

Götter 132 ff. -> Göttinnen; Ikonographie; Interpretatio Romana; Kriegsgottheiten; Tiergestalt. Götterbilder -> Ikonographie. -> Griech. Götterbilder. Götterdyaden 137. ->Götterpaare. -> Griech. Dioskuren. ->Lett. Üsins. Götterfamilien 133, 137fr., 142. -> Germ. Äsen; Vanen. -> Griech. Göttergeschlechter. -> Lett. Saule; Perkons. Götterpaare 137ff. ->■ Finn. Raunio. -» Germ, passim. Göttertriaden 133, 137f., 140. -> Dreizahl. -> Lit. Läima. -> Asl. Geburtsfeen. -> Germ. Nornen; Odin 1. 116

Kelten

Interpretatio Graeca, Bomana

Götterwagen 139f. -> rinn. Ukko. Germ. Götterwagen. -> Griech. Sonnenwagen. -> Lett. Dievs ; Saule. Göttinnen 132, 136f., 140, 152, 157ff. -> Festgöttinnen; Muttergott­ heiten. -> Lett. Mate. Gofannon, auch Gobannon, Govannon -> Goibniu. Grannos, Gefährte der -> Sirona 137. -> Götterpaare. Gundestrup, Kessel von G. 127, 154, 157f. Gwydyon, wal. Gott, zu den „Kindern von -> Don“ gehörig 133, 160. -> Dagda; Sucellos. Hahn 138, 161. Hammer 127, 137f. -> Hammergott. -> Germ. Hammer; Mjöllnir.

Hammergott 131, 137, 141, 161. -> Sucellos. -> Lit. Perkûnas. -> Asl. Perun. -> Finn. Ukko. -> Ung. Attila; Urreligion 2. -> Germ. Fels­ zeichnungen; Thor. -> Lett. Përkons. Heilgötter 137, 144, 160. -> Apollo; Äskulap; Dian-Cêcht. -> Lit. Médis. -> Asl. Vila. -> Finn. Heilkunde.

Heilige Hochzeit 132, 139. -► Finn. Rauni. -> Griech. Dionysos. Heiligtümer 127, 131. 133, 146ff., 151,J 153ff., 158. -+ Lit. Alkà; Kàlnas. Asl. Tempel. -> Finn. Heiligtümer. -> Ung. Âldô-kût. -> Germ. Disen. -> Griech. Heilige Bezirke. -> Lett. Hl. Plätze. Helden (mythos) 128,131 f., 138,142ff., 147 ff., 151,153,157 f. ->Finn. Lemminkäinen; Väinämölnen. -> Ung. Urreligion 2. -> Germ. Ber­ serker; Einherier; Odin 1.

Herakles, Herkules 127, 130, 157f., 160f. -> Interpretatio Romana. —> Ung. Herakles. -> Griech. Herakles. Heveydd, zu den „Kindern von -> Don“ gehörig 133. Himmelsgott -> Iupitter; Taranis. -> Griech. Zeus. -> Lett. Dievs. Hirsch 131, 136, 145f., 156f. -> Cernunnos; Oisin; Tiergestalt der Götter. Ung. Hirsch. Hund 131, 145f., 155, 158. -> Cüchulainn; Finn; Hammergott; Tier­ gestalt der Götter. -> Griech. Höllenhund. -> Lit. Zvériné. Ikonographie 126f„ 131f„ 135ff„ 143, 153f„ 156ff„ 161f. -> Asl. Götterbilder. -> Germ. Felszeichnungen. Imbolc 151 f. -> Feste. Interpretatio Graeca, Romana 127, 130, 133, 135, 137ff., 141, 157, 159ff. (vgl. die Namen der griech. und röm. Götter). -> Ung. Inter­ pretatio Romana.

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iuppiter________________________________________________________Kelten

Iuppiter 127, 132, 134f„ 141, 159f. -> Dagda; InterpretatioRomana; Taranis. Griech. Zeus. -> Lett. Dievs. Jagdgötter 160. -> Diana. -> Griech. Artemis. -> Lett. Dieva deli.

Jahreszeiten Feste. -> Finn. Jahreszeiten. Lett. Feste. Jenseits 132, 134, 139, 141 ff., 151, 153ff, 162. -> Tod; Totengötter. -> Finn. Jenseitsyorstellungen 2; Weltbild. -> Ung. Skythien. -> Germ. Jenseitsvorstellungen; Kosmologie. -> Griech. Hades. -> Lett. Weltbild. Juno 160. -> Interpretatio Romana. -> Griech. Hera. Jupiter -> Iuppiter. -> Griech. Zeus. Lett. Dievs. Kei, Gefährte -> Arthurs 144. Kessel 139, 142, 154. -> Dagda; Gundestrup. -> Finn. Uken vakat. Kopfjagd 155f. -> Menschenopfer. Krähe 131. Kranich 136. -> Esus. Krieger, mythische K. -> Helden. -> Griech. Heroen.

Kriegsgott(heiten) 130, 133, 135f„ 138, 140, 157, 160. -> Helden. Asl. Gerovit; Rugievit; Svantevit. -> Ung. Hadür. -> Germ. Odin; Tyr. Griech. Kriegsgötter. -> Lett. Meness. Kuh -> Damona; Tiergestalt der Götter. —> Griech. Hera. Kultgebote, -verböte^ 131, 133, 135, 145, 158. -> Lit. Kultische Ge­ bote. -> Asl. Kultische Gebote. -> Finn. Kultgebote. -> Griech. Kultvorschriften. Kultstätten -> Heiligtümer. -> Griech. Heilige Bezirke. -> Lett. Hl. Plätze. Kulturbringender Heros 142. -> Finn. Umarmen; Väinämöinen. —> Griech. Kulturbringer. Labraidh Loingseach, ir. Erzählungen 129. Legenden -> Mythische Epen(zyklen); Erzählungen. Ler, Okeanos, Vater des -► Meergottes Manannän 139,141. -> Griech. Okeanos. -> Lett. Jüras » mäte. Lichtgottheiten 132. -> Lugus; Taranis. -> Ung. Lichter Weltapsekt. -» Germ. Balder. -> Griech. Apollo. -> Lett. Üsinä; Ausma. Loucetios 135. -> Teutates. Luft 153. Lugus, Lugus-Samildftnach, Gott des Lichtes und der Künste 132 ff., 138f„ 141 f., 152, 160. -> Merkur. Ung. Hedür. -> Germ. Balder. —> Lett. Usins. 1 118

Kelten

Morrigan

Lugnasad 151f. -> Feste. Luxovius, Gefährte der -> Brixia 137. -> Götterpaare. Mabinogion, Sammlung cymrischer Sagen 128, 133. Machas, ir. Göttinnen 140, 152. Mag (Maige) Tuired, Schlacht von M.T. 129, 133, 139, 152. Magie, magische Kräfte 128, 134, 138f., 144f., 156 (pag. 96/140) Z. 97/147. -> Zauberer. -> Lit. Zauber. -> Asl. Zauber. -> Finn. Zauber. ->Ung. Zauber. -> Germ. Zauber. -> Griech. Magie; Medea. Manannän, Gott der -> Meere 139, 141 f., 146. Manawyddann ab Llyr 139. -+ Manannän. Maponos 135. -* Teutates. Marc’h, Gott mit Pferdeohren 131. Mars 132,135,137,160. -> Götterpaare, Interpretatio Romana; Kriegs­ gottheiten ; Ogma; Teutates. -> Asl. Gerovit; Svantevit. -> Ung. Hadur. -> Germ. Odin; Tyr. -> Griech. Ares. Lett. Meness. Matres, Matronae -> Muttergottheiten. -> Griech. Muttergottheiten. -> Lett. Mäte. Matres Nemausiae 136. -> Muttergottheiten. -> Griech. Muttergott­ heiten. -> Lett. Mäte. Meer(gottheiten) 139f., 141, 146, 155. -> Manannän. -> Germ. Aegir; Njörd; Rän. -> Griech. Meergottheiten. -> Lett. Juras Mäte. Megalithische Denkmäler -> Cromlech.' Mehrköpflgkeit -> Polykephalie. -> Griech. Thryphon. Menhir 147, 156. Menschengestaltige Götter -> Anthropomorphismus. Menschenopfer 153ff. -+ Opfer. Asl. Perun. Ung. Älmos 3. -> Griech. Menschenopfer. Merkur 132, 134, 138, 141, 160f. Interpretatio Romana; Lug; Rosmerta. Griech. Hermes. Midas 129. Mider, lokale Variante des -> Dagda 139. Mil 141. Minerva 132, 160. Interpretatio Romana. Griech. Athena. Moccus, Ebergott 138. -> Tiergestalt der Götter. Griech. Tier­ dämonen. Mongfin, König, Sohn des -> Manannän 146. -> Finn. Morrigan 140. -> Bodb; Kriegsgottheiten. -> Griech. Kriegsgott­ heiten. —> Lett. Meness. 119

Muirchertach MacErca

Kelten

Muirchertach MacErca 153. Muttergottheiten 136f., 140f., 152, 160. -> Lit. Muttergottheiten; Zemyna. -> Germ. Erde. -> Griech. Muttergottheiten. -> Lett. Mate. Mythische Erzählungen 127f., 131,134f., 140,151 ff.-> Epen ¡Mythische Kriege. Mythische Kriege 129, 132f., 136, 139, 141f., 152, 155. ->Ung. Hun­ nensage; Urreligion 2. -> Germ. Äsen-Vanen-Krieg; Ragnarök. -> Griech. Mythische Kriege. Nantosuelta, Nantosuwelta, Nantosvelta, Gefährtin des -> Apollo bzw. -> Sucellos 137. -> Götterpaare. Naturismus, Natur- und Bodenkräfte in göttlicher Gestalt 128, 130, 136f., 140. -> Baumgottheiten; Erde; Luft; Meergottheiten; Quell­ gottheiten; Steine; Waldgottheiten; Wasser. Nechtan 139. Nemed, Gemahl einer der -> Machas 140. Nemetona,, Gefährtin des -> Mars 137. -*■ Götterpaare. Neptun 139,160. -> Interpretatio Romana; Meergottheiten; Nechtan; Wasser -> Griech. Poseidon. -> Lett. Juras mäte. Nera 152. Nuada, König 139. Nymphen 137. -> Lit. Vandnö. -> Asl. Rusalka. -> Finn. Wassergeist. -> Griech. Nymphen. Ogma, ir. Hauptgott 133, 136, 139, 160. -> Mars; Teutates.

Oisin (Ossian), Sohn des -> Finn, als -> Hirsch(kalb) vorgestellt 127, 131, 142, 145. Okeanos 141, 155. -> Manannän; Meergottheiten; Ler. Griech. Okeanos; Meergötter. -> Lett. Jüras mäte. Opfer 148ff. -*■ Menschenopfer. -*■ Lit. Opfer. -> Asl. Opfer. -> Lett. Opfer. -> Opferbräuche. -*■ Ung. Opfer. -> Germ. Opfer. Griech. Opfer. Orakel 150. -> Asl. Pfordeorakel; Weissagung. -> Finn. Omen. -> Germ. Mantik. -* Griech. Orakel. -> Lett. Orakel. Ortsgötter 160. -> Lit. Hausgeist. -> Asl. Hausgeist. -> Finn. Orts­ geist. Griech. Stadtgötter. -> Lett. Majas gars.

Pantheon 134, 162. -> Griech. Pantheon. Personifikationen -> Anthropomorphismus. ->■ Griech. Anthropomor­ phismus.

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Selten

Schlange

Pferd 131, 136, 148f., löOf.; P. mit Menschenkopf 157. -> Epona; Rhiannon; Rudiobos; Tiergestalt der Götter. -> Asl. Pferd. -> Ung. Pferd. Germ. Pferde. -> Griech. Heilige Pferde. -> Lett. Dievs; Saule. Pferdeohren 131. Pluto 160. -> Interpretatio Romana. Polykephalie der Götter 137f., 160, 162. -* Asl. Porenutius; Rugievit; Triglav. -> Ung. Särkäny. -> Griech. Tryphon. Priestertum 129, 132, 143, 150. -> Barden; Druiden. -> Griech. Priestertum. Lett. Burtnieks. Proxumae 160. —> Juno. -> Griech. Hera. Pwyll 142. Quellgottheiten 136f., 147, 162. Brixia; Dea Sequana; Sirona; Wasser. -> Lit. Vanduö. -> Asl. Einl. -> Pinn. Wassergeist. -> Ung. Äldö-kut. -> Griech. Quell- und Elußgottheiten. Rahe 131, 138. -> Lugus; Tiergestalt der Götter. -> Germ. Huginn; Muninn. Rad, Gott mit dem R. 127, 137, 157. Raubtiere 131, 155. Rhiannon, Göttin-Stute in Wales 136. -> Epona; Pferd. -> Asl. Vila. -> Ung. Särkäny. Germ. Loki. Rigisamos 135. -> Teutates. Rosmerta, Gefährtin des —> Merkur 136,138. -► Götterpaare. -> Griech. Dioskuren. -> Lett. Üsins. 9 Rnad-Ro-fhessa, Titel des -> Dagda 139. Rudiobos 131, 136. -> Pferd; Tiergestalt der Götter. -> Asl. Wasser­ mann. -> Ung. Mönröth; Tältos. Saar -> Hirschkuh, eine der Frauen des -> Finn 146; Tiergestalt der Götter. -> Ung. Csodaszarvas; Enee. Samildfinach, ir. Erscheinungsform des -> Lugus 138, 160. Samhüin 144, 146, 151 ff. —> Feste. Finn. Kekri. Schamane -> Zauberer. -> Griech. Zauber. -> Lett. Burtnieks. Schicksal (geasa) 144. —> Lit. Paliä; Laima. —> Asl. Geburtsfeen. -> Finn. Einteilungszeit 1. -> Ung. Älmos 2. -> Germ. Schicksal. -* Griech. Schicksal. -> Lett. Laima; Kärta. Schildkröte 138. Schlange, gehörnte Schl. 156.; Schl, mit dem Widderkopf 131, 136, 141, 157f., 162. -> Segomo; Tiergestalt der Götter. -> Griech. Heilige Schlange; Echidna. 121

Schmiedegott

Kelten

Schmiedegott -* Goibniu. -*■ Griech. Hephaistos. -> Lett. Debess kelejs.

Seelenglauben 151f., 154, 161. -> Lit. Seelenglauben. -> Asl. Seelen­ glauben. -> Finn. Seelenvorstellungen. -> Ung. Seelenglauben; Tod. -* Germ. Tod. -> Griech. Seelenglauben. -> Lett. Velis. Segomo 131. Sdtanta Cfichulainn -> Cüchulainn. Sexarbores 137. Sgeol&n -> Hund, Neffe des -> Finn 146. -> Tiergestalt der Götter. Sld 141 f., 146, 152. -+ Jenseits. -> Lett. Weltbild. Siebenzahl 143. -> Griech. Heilige Zahlen. Silvanus 141, 160f. -> Interpretatio Romana.

Sirona -> Quellgottheit, Gefährtin des -> Grannos 136f. -* Götter­ paare. Smertrios, der „Sorgende“ 136, 160. Sommer 151 f. -> Jahreszeiten. -> Lett. Feste.

Sonne, Sonnenkult 130, 152. -> Lit. Säule. -> Asl. Chors; Daitbog; Svarog. -* Finn. Kosmogonie. -> Ung. Astrale Vorstellungen. -* Germ. Sonne. -> Griech. Sonnengottheit. Steine 131, 147ff. 156, 162. -> Cromlech; Menhir. -> Lit. Akmuö. -* Asl. Wassermann. Firm. Steine. -* Ung. Äldö-kiit. Sterne 130. -> Lit. Astrale Götter. -> Finn. Astrale Vorstellungen. -> Ung. Astrale Vorstellungen. -> Germ. Sternsagen. -> Griech.

Sternmythen. -> Lett. Auselkis; Ausma. Stier 131, 136, 155, 158. -> Esus; Tiergestalt der Götter. -> Asl.

Perun; Wassermann. -> Finn. Stieropfer. -> Ung. Stier. Stute 136, 156. -> Epona; Pferd; Rhiannon; Tiergestalt der Götter. Sucellos 137, 139, 160f. -> Dagda; Dispater; Götterpaare; Hammer­ gott; Silvanus. Swastika 156. Lett. Ugunskrusts. Tabu -> Kultgebote, -verböte. Griech. Kultgebote und Kult­ verbote.

Tailtiu, Amme des -> Lugus. -> Festgöttin, Verkörperung von Naturund Bodenkräften 140, 152. Tfiin B6 Cua(i)lnge 144f. Taranis, gall. Hauptgott 132ff., 154, 158. -> Interpretatio Romana; Iuppiter. -> Lit. Perkiinas. -> Asl. Perun; Svarog. Finn. Ilma-

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Kelten

Velio-casses

rinen; Ukko. -> Isten. -> Germ. Odin; Thor; Tyr. -> Griech. Zeus. ->■ Lett. Dievs; Perkons. Taraske 131.

Tea -> Festgöttin, Verkörperung von Natur- und Bodenkräften 140. Terra Mater 160. -> Erde; Interpretatio Romana; Muttergottheiten. —> Lit. Erdgottheiten. -> Finn. Erdgeist. Germ. Erde. -> Griech. Erdgottheiten. -> Lett. Zemes mäte. Tethra, ein König der -> Fomore 139.

Teutates, gall. Hauptgott 133ff., 153, 157, 160. -> Interpretatio Romana; Mars; Ogma.

Tiergestalt der Götter und Helden 130L, 138, 140L, 145,154ff. Iko­ nographie. -> Lit. Tiergestaltige Götter. -> Asl. Tiergestaltige Götter. -> Finn. Tiergestalt. -> Ung. Tiergestaltige Wesen. -> Germ. Gestaltwechsel. -> Griech. Tiergestaltige Götter und Dämonen. Tod 137, 139, 143f., 150, 153ff., 162. -> Heiligtümer; Jenseits; Menschenopfer; Seelenglauben; Sid; Totengötter. -> Lit. Toten­ glauben. -> Asl. Totenglauben. -> Finn. Totenglaube. -> Ung. Tod. Germ. Tod. -> Griech. Totengötter. -> Lett. Velis; Kapu mate; Smilsu mate. Totemismus 131 f. Totengötter 139, 141L, 161. Dagda; Jenseits; Manannän; Sid; Sucellos; Tod. -> Lit. Giltinei. -> Germ. Odin. -> Griech. Toten­ götter. -> Lett. Kapu mate. Totenkult -► Heiligtümer; Tod; Totengötter. —> Griech. Totenkult. -> Lett. Feste. Toutiorix 135. Teutates. Triaden -> Dreizahl; Göttertriaden. -> Griech. Göttertriaden. -> Lett. Laima. Tri-casses -> Casses. Tuatha (DS Danann), ir. Götterfamilie 133, 138L, 141 f„ 146. Unterwelt -> Jenseits. Griech. Unterwelt. Unterweltfahrt eines Helden. -> Finn. Friedhofsgeist; Lemminkäinen; Väinämöinen. -> Ung. Skythien; Tetejetlen nagy fa. -> Griech. Unterweltsfahrten. -> Lett. Weltbild. Vatergötter 137, 139. -> Germ. Odin. -> Lett. Veoais tevs. Vegetationsgötter -> Fruchtbarkeit. -► Griech. Vegetationsgötter. Lett. Jumis; Lauku mäte. Velio-casses -> Casses.

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Vellaunos

Kelten

Vellaunos, Epitheton des -> Merkur 138. Viktoria 160. -> Interpretatio Romana; Smertrios. Virotutis, Epitheton des -> Apollo 137. Vögel 131, 136, 140, 148ff., 158. -> Tiergestalt der Götter. -> Lit. Dansos; Gabötä. -> Asl. Hauskobolde; Navi. Pinn. Vögel. ->Ung.Skythien;Tältos2; Turul.->Germ. Vogel(gestalt). ->Griech. Tiergestaltige Götter und Dämonen. -> Lett. Laima. Vortigern 155. Vulkan, Schmiedegott 138, 160. -> Goibniu; Interpretatio Romana. -> Griech. Hephaistos. ->• Lett. Debess kalejs. Waldgottheiten 136. -> Arduina; Baumgottheiten. -> Lit. Wald­ gottheiten. Asl. Waldgeist. -> Pinn. Haine; Waldgeist. -> Lett. Hl. Bäume. Wasser 130, 153, 160. -> Flußgottheiten; Meergottheiten; Neptun; Nymphen; Quellgottheiten. -> Lit. Potrimpus; Vanduö. -> Asl. Einl.; Rusalka; Wassermann. -> Finn. Wassergeist. -> Ung. Äldökiit. —> Lett. Juras » mäte. Weibliche Gottheiten -> Göttinnen. Widder 138. -> Griech. Widder. Widderkopf -* Schlange mit dem Widderkopf. Winter 151. -> Jahreszeiten. Wolf 151, 158. -> Lit. Vilktakas. -> Asl. Waldgeister. -> Ung. Dula und Bereka. -> Lett. Vilkacis. Zange 138. Zauberer 133 f., 138,144,152. -* Magie. -> Lit. Zauber. -> Asl. Zauber. -> Finn. Zauber. -> Ung. Zauber. -> Germ. Zauber. -> Griech. Zauber. -> Lett. Burtnieks.

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Die Quellen

Während des 1. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung herrschten in Europa so ungeordnete und wirre Zustände, daß nicht die Rede davon sein kann, die Existenz eines keltischen Reiches ins Auge zu fassen. Was man von den verschiedenen Tätigkeiten der Kelten auf sozialem, kulturellem und religiösem Gebiet in Erfahrung bringen kann, bezieht sich auf eine Kultur und nicht auf eine Nation. Sogar die Sprache, ein Band, das fähig wäre, den Zusammenhalt der keltischen Stämme zustande zu bringen, verrät durch die Ver­ schiedenheit ihrer Dialekte und durch die Varianten ihrer Eigennamen diesen Zustand der Zersplitterung. Faßbar sind nur Gallier, Iren, Bewohner von Wales und Bretonen, deren gesellschaftlicher Aufbau aber nicht gleich ist. Dazu kommt die nicht minder schwerwiegende Tatsache, daß überall dort, wo diese Gruppen als Eroberer sich mehr oder weniger mit den unterworfenen Völkern vermischten, aus dieser Vereinigung Zwittervölker entstanden, die die Alten mit den Namen Kelto-Skythen, Kelto-Thraker, Gallo-Griechen, Kelt-Iberer be­ zeichnet haben, und die keltische Kultur bewahrt Züge dieser Ver­ mischungen. Ebenso schwierig ist es, die Kelten von ihren unmittel­ baren Nachbarn, Germanen oder Italikern, zu unterscheiden, zumal zu jenen Zeiten, in denen die Grenzen zwischen den Völkern un­ bestimmt und fließend sind und in den zusammengewürfelten Scharen, die über Westeuropa dahinbranden, die verschiedensten ethnischen Elemente brodeln. Mehr noch als die Rassenverschiedenheit wirken sich die ungleichen Kultur- und Sittenstufen aus. Es gibt keine Einheit in dem weiten Gebiet, das die Kelten ihrer Herrschaft unterworfen haben. Diese lebten zur Zeit ihrer Un­ abhängigkeit nach Stämmen {teuta, später touta und tota) gesondert, die eifersüchtig auf ihre Selbständigkeit bedacht waren und sich in ererbtem Haß oder in gelegentlicher Rivalität befehdeten. Niemals im Laufe ihrer Geschichte waren die Kelten fähig, sich zu einigen und den Zusammenhalt ihrer Gruppen zu sichern.

Bei der gegebenen vollständigen Unabhängigkeit von irgendeinem übergreifenden politischen Verband mußte jeder Stamm seine eigenen Gottheiten besitzen, Symbole seiner Selbständigkeit, deren Schutz auch auf andere Stämme übergreifen konnte.

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Quellen

Kelten

Natürlich erleichtern derartige Verhältnisse nicht gerade eine Re­ konstruktion der Mythologie der Kelten, so wie sie sich hinter den noch faßbaren äuferen Erscheinungen verbirgt. Das Problem wird noch verwickelter durch die Tatsache, daß die Gallier kein schrift­ liches Zeugnis über ihre Religion hinterlassen haben, so daß man sich mit den fragmentarischen und summarischen Auskünften über ihre mythische Welt zufriedengeben muß, die von griechischen und latei­ nischen Autoren eingeholt wurden. Diese Quellen sind verschieden­ artig, denn sie umfassen Dokumente, die weder gleicher Beschaffen­ heit sind, noch aus der gleichen Epoche stammen, so daß man sie auf unterschiedlicher Ebene und in chronologischer Reihenfolge unter­ suchen muß. Sie sind auch unter sich nicht genau vergleichbar: für Gallien z. B. unterrichten die griechischen Geographen zwar über die Riten, tragen aber nichts zur Kenntnis der Mythologie bei. Die übrigen griechischen und lateinischen Texte, die zeitlich fast alle nach dem Jahre 100 vor unserer Zeitrechnung einzuordnen sind, lassen eine zerfallene Religion ohne Theologie gewahr werden, verdeckt unter der Maske der großen Götter des griechisch-lateinischen Pantheons oder hinter den in Gruppen zusammengefaßten volkstümlichen Gott­ heiten, die in der ständig wiederkehrenden Gestalt von ReichtumsSpendern verkörpert werden. Nur selten haben diese Autoren Ergeb­ nisse persönlicher Nachforschungen berichtet. Sogar Caesar, dessen Bericht in De bello Gallico (VI, 17—18) das wichtigste Dokument über die gallische Mythologie darstellt, scheint nicht immer ein un­ mittelbares Zeugnis wiederzugeben. Die übrigen Historiker haben oft ihre Vorgänger ausgeschrieben: So wurde Poseidonios öfters aus­ gewertet, Iustinus faßt Pcmpeius Trogus zusammen, Ammianus Mar­ cellinus übersetzt Timagenes, und dieser war bereits dem Dionysios aus Halikamassos gefolgt. Auf der einen Seite gibt Lucan (Pharsalia I, 444—445) wichtige Präzisierungen, während demgegenüber Plinius d. Ä. und Tacitus nur fragmentarische Einzelheiten überliefern. Auch darf man nicht vergessen, daß all dies das Werk von Fremden, ja mitunter von Feinden ist. Die „Heiligenleben“ und die christlichen Schriftsteller (-^-Christliche Überlieferung), wiez.B. Gregor von Tours, können nur mit größter Vorsicht benutzt werden, weil sie zu den religiösen Zuständen, die sie schildern, feindselig eingestellt waren. Reicher und reiner fließt die Quelle der Inschriften, die uns mit einer Fülle von Zueignungen aus allen Teilen der römischen Welt bekannt machen, uns dabei Göttemamen überliefern und das Vorkommen von Kultstätten näher bestimmen. Nicht weniger zahlreich sind die Denk­ mäler figürlicher Art, Reliefs, Statuen und Figürchen aus Stein, Terra­ kotta und Metall, auch Münzen (—> Ikonographie). Aber ihre Deutung stellt uns oft vor sehr heikle Probleme. Die keltische Plastik (Statuen

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Quellen

der -> Heiligtümer von Roquepertuse und von Entremont) datiert aus jüngerer Zeit. Sie beweist, daß es sich damals um die zweifache Aufgabe handelte, die Götter zu definieren und sie darzustellen, indem man zum Gebrauch der Eingewanderten und der Fremden, aber vor allem für die durch die Eroberung geformte, zweisprachige und in eine Doppelkultur eingetretene Bevölkerung die Namen der heimischen Götter ins Lateinische übersetzte. Angesichts der neuen Darstellun­ gen, die das Bild der Götter vielleicht zu scharf Umrissen Wiedergaben, mußte der Gallier sich anstrengen, um seine alten, ihm vertrauten, düsteren Gottheiten wiederzuerkennen. Auch um sie sich deutlich zu machen, hat er sich bemüht, sie in den Göttern des klassischen Pan­ theons wiederzufinden, denn dieses wies typische Bilder und plasti­ sche Attribute auf, während seine eigenen Götter nur poetische Attri­ bute besaßen, deren Symbole bei den bildlichen Darstellungen häufig fehlten. Es gab eine Zeit, in der die Kelten keine Götterbilder besaßen, sei es aus Unfähigkeit oder aus Abneigung; daher ihre Anleihen bei der hellenischen und dann der römischen -> Ikonographie, als sich das Bedürfnis nach plastischer Darstellung der Gottesvorstellung geltend machte. Aber wie kann man hier zu einer Scheidung dessen kommen, was im besonderen den Kelten zuzuschreiben ist und was auf fremde Vorbilder zurückgeht? Motive wie der Holzhauer -> Esus auf dem Altar der Nautae von Lutecia (-> Heiligtümer), sind als einheimische klar erkennbar; aber auf welche Quelle soll man das -> Rad oder den -> Hammer des -> Herakles oder des -► Iuppiter zurückführen ? Eines der charakteristischsten Beispiele bietet der Kessel von ->Gundestrup, auf dessen Wänden sich religiöse Szenen abspielen, die uns immer noch rätselhaft sind und aus einer bis jetzt verschlossen gebliebenen Mythologie stammen. Eine weitere Quelle der Dokumentation muß man den von den Kelten selbst nachgelassenen Zeugnissen entnehmen, obwohl diese Quelle aus der Zeit nach dem Untergang der keltischen Religion stammt: die mittelalterlichen literarischen Zeugnisse irischen und cymrischen Ursprungs, in denen, vor allem in Irland, die Züge des keltischen Heidentums überleben und sich fortpflanzen; sie enthüllen die Existenz einer mythischen Welt, die man ohne zu großes Risiko für ebenso ursprünglich oder doch zumindest für nicht wesentlich andersartig halten darf als diejenige, die uns eine mündliche Über­ lieferung des unabhängigen Galliens vermittelt haben würde. Diese irische Überlieferung stellt sich in einer breiten Masse von Texten dar: Erzählungen in Prosa (->Mythische Erzählungen), vermischt mit —> Epen, die man in Zyklen eingeteilt hat: mythologischer Zyklus, Zyklus von Ulster, ossianischer Zyklus (-^-Oisiri), Zyklus der Könige, 127

Quellen

Kelten

durch die einheimischen Literaten geordnet in Genre-Szenen, Raub­ züge, Entführungen, Seefahrten, Geburten, Eroberungen von Be­ festigungen, Untergänge usw.; ferner zugleich belehrende und er­ zählende Dichtungen, wie das Dindshenchas, eine Sammlung von Überlieferungen über die bedeutendsten Stätten in Irland; weiter Glossarien und Abhandlungen verschiedener Art, wie das Glossarium des König-Bischofs Cormac (f 908) oder das Coir Anmann, eine Ety­ mologie der Eigennamen. Aber alle diese Texte sind, so wie sie auf uns gekommen sind, nicht älter als 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, und deshalb darf man sie nur mit dem nötigen kritischen Vorbehalt benutzen und die religiöse Bedeutung isolierter Pakten und Tat­ sachen nur dann einräumen, wenn sich Vergleichslinien zu anderen mythischen oder rituellen Elementen ziehen lassen. Was die cymrische Literatur betrifft, weniger konservativ und auch zeitlich später, entstanden in einem christlichen, romanisierten und dann durch die Iren kolonisierten Lande (-> Christliche Überlieferung), so bewahrt sie Reste der britannischen Religion und alte mythische Elemente, die unter dem Namen Mabinogion zusammengefaßt werden. In all diesen Erzählungen lebt das alte Heidentum der insularen Kelten wieder auf. Das geht bis in die Hagiographie hinein, in der die Heiligen auf dem Gebiete der -> Magie mit den -> Druiden rivali­ sieren : So unbestimmt ist die Grenze zwischen dem neuen Glauben und dem alten Heidentum (-> Christliche Überlieferung). Aber auf den Inseln wie auf dem Kontinent muß man sich folgenden Umstand stets gegenwärtig halten: die ursprünglichen keltischen Überliefe­ rungen könnten sich, da in diesen Gebieten die Kelten zahlreichen Eroberern nachgefolgt sind, durch die Berührung mit Elementen, die diesen Vorgängern entliehen wurden, verändert haben. Man darf außerdem nicht vergessen, daß in dem Augenblick, da der Glaube an die alten religiösen Vorstellungen erloschen ist, der Mythos der Phantasie des Erzählers ausgeliefert ist, der ihm seine eigene Note aufprägt, der ihn seinem eigenen Geschmack oder dem seiner Zu­ hörer anzupassen sucht, indem er ihn beliebig kombiniert oder ab­ wandelt. Es kann Vorkommen, daß sich in einem einzigen Mythos zu­ gleich „eine Personifizierung von Naturkräften (-> Naturismus), eine Übertragung der menschlichen Konflikte in eine übernatürliche Welt, ein Spiel der Einbildungskraft über Wortbilder, eine Symbolisierung der Opfer-Handlung und zusätzlich die mündlich überlieferte Kunde von einem Eroberer-Helden mischen“ (Vendryes). Eine sagenhafte Einzelpersönlichkeit kann ebenso Anlaß für einen Mythos sein, wie ein alter Mythos sich in einer Persönlichkeit verkörpern kann, die eine entsprechende Anziehung ausübte: dem —> Helden. 128

Kelten

Quellen

Auf einer letzten Stufe stellt der Mythos oft nur noch ein einfaches folkloristisch.es Thema dar, manchmal in eine Erzählung ein­ geflochten und dann mehr oder weniger zu einer possenhaften Episode degeneriert, deren Quellen sich von der Legende des Königs Midas (Labraidh Loingseack) oder von der Sanskrit-Erzählung Cuagqepa (Episode der Schlacht von Moytura im Cath Maige Tuired) (-> Mythi­ sche Kriege) ableiten lassen. Alle diese Schwierigkeiten und diese unerläßlichen Vorsichtsmaß­ regeln bilden indes kein Hindernis, in der Verschiedenartigkeit der Dokumente die Zeichen einer tieferliegenden Identität zu suchen, auch dann, wenn es schwierig ist, das Bestehen einer wirklichen ein­ heitlichen Gesamtmythologie in der keltischen Welt anzunehmen. Alles nämlich, was man vom Partikularismus ihrer Gruppen, von der örtlichen Fixierung und der anarchischen Vielfältigkeit der Mythen und Kulte weiß, spricht gegen einen solchen Universalismus. Freilich kann man gleichwohl in Einzelheiten auch Übereinstimmungen inner­ halb des Gesamtkeltentums entdecken. Aber man möge darin weniger das Zeugnis für eine ursprüngliche Einheit der religiösen Vorstellungen sehen; vielmehr erklärt sich dies durch die kulturellen und wirtschaft­ lichen Beziehungen zwischen gallischen, britannischen und donauländi­ schen Gruppen der gleichen Familie, die durch tausend Bande verbun­ den waren und die gleichen Götter, z. T. sogar unter gleichen Namen, verehrten. Gewisse Motive mythischer Vorstellung, gewisse religiöse Haltungen, gehören allen Kelten gemeinsam an, und derartige Ent­ sprechungen der Strukturelemente rühren von einer Empfindungs­ welt her, die ihrerseits einen gemeinsamen Ursprung hat, der sich in einem gesellschaftlichen Tatbestand darstellt: dem Vorhandensein einer —> PriesterSchaft, die sich über alle Völker des Keltentums er­ streckt, der Kaste der —> Druiden (gallisch ögoviöa; irisch drui, pl. druid-, cymrisch dryw), von der man nur schwer den Stand der Dichter trennen kann (gallisch bardos; irisch bard; cymrisch bardd; oder gallisch vates; irisch fdith. -> Barden). Diese Institution, Bewahrerin der Tradition, gehört nicht zu einer einzelnen Stammesgruppe, sondern sie entspricht einer internationalen Organisation, deren Teile mit den verschiedenen territorialen Gruppen in Verbindung stehen. Es wäre undenkbar, daß eine solche Kaste, die Wahrerin der gesamten juristischen, moralischen und religiösen Überlieferungen, deren berufliche Institution hoch über den politi­ schen Gliederungen stand und deren Tätigkeit sich auf das gesamte Keltentum erstreckte, nicht einen alle Kelten umspannenden uni­ versellen Charakter besessen hätte. Gerade dieses gemeinsame Priester­ tum bewirkt trotz der örtlichen Abweichungen eine einheitliche Kon­ zeption über die keltische Welt hin; die Ergänzung des Nachwuchses o

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und die technische Ausbildung der Druiden sichern die Kontinuität der Tradition in Raum und Zeit. Diese Einheit der religiösen Auffassungen läßt sich indes nicht leicht fassen, da die Entwicklung der verschiedenen Keltenvölker sich nicht gleichmäßig und nicht überall gleichzeitig vollzogen hat. Die Kelten haben sich nämlich nach Maßgabe ihres Kontaktes mit der mediterranen Welt entwickelt: so ist die irische Gesellschaft archaischer geblieben als die übrigen, und so ähneln sich die ver­ schiedenen keltischen Gemeinschaften wie Verwandte verschiedenen Alters. Auf Grund dieser Tatsachen kann man versuchen, einen alten Bestand von ungleich erhaltenen Kulten und Mythen herauszufinden. „Natio est omnis Gallorum admodum dedita religionibus“, schreibt Caesar (De bello Gallico VI, 16, 1), und die Stärke dieses religiösen Gefühls wurde von den Zeitgenossen, die es miterlebten, anerkannt. Seit der La-Töne-Zeit ist in Gallien das gleichzeitige Vorhandensein von individualisierten Göttern und tierischen -> Dämonen (-> Tiergestalt) festzustellen, womit sich die Annahme einer Entwicklung von niederen zu höheren Formen bei den keltischen Gottheiten verbietet. Einiges hiervon dringt durch die Berichte der griechischen Autoren in der Zeit vor der römischen Eroberung zu uns: Ungefähr um 300 vor unserer Zeitrechnung läßt Hekataios (bei Diodor II, 47, 1) -> Apollo auf der Insel der Hyperboräer geboren werden, d. h. also in Großbritannien. Timaios (bei Diodor IV, 56, 4) berichtet vom Be­ stehen eines Dios&wrem-Kultes bei den Ozean-Kelten. -> Herakles durchquerte auf seiner Wanderung nach Spanien das gallische Land, und die Anthologia graeca (VIII, 492) und die Hymnen des Kallimachos (IV, 173) erwähnen einen keltischen Ares (—> Interpretatio Graeca). Die hellenischen Legenden haben vielleicht cinbeimisphp Par­ allelen überlagert: Sonnenkult, Existenz eines —>■ Kriegsgottes, Tra­ dition von der Ankunft der Götter über den Ozean. Eine genauere Angabe findet sich in einem Abschnitt der Antho­ logia graeca (IX, 125) über die einem -+Fluß wie dem Rhein zu­ geschriebenen übernatürlichen Kräfte, den man zum Zeugnis über die Legitimität der Neugeborenen anrief. Eine derartige Feststellung erlaubt die Vermutung, daß die Kelten wie die übrigen Völker im Europa der Urzeit vor der Stufe des —> Anthropomorphismus ein —> naturistisches Stadium gekannt haben, in dem sie den -> Sternen, den -> TFewserelementen und den Bodenerhebungen (-> Berge) einen Kult widmeten. Wie dem auch sei, jedenfalls haben die Kelten den ihnen in den eroberten Gebieten vorangegangenen Völkerschaften viel zu ver­ danken gehabt. In Großbritannien wie in Gallien haben sie die megalithischen Bauten der großen Tumuli von New-Grange benutzt

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(-> Heiligtümer). Sie machten sie zum Sitz ihrer Götter. Die 12 -> Steine, die die Satelliten des irischen Götzen —>Crornm Cruaich vorstellten, sind die Pfeiler eines —> Cromlech. Bei der Erforschung dieses Erbes gelangt man zu einer noch viel älteren Vergangenheit zurück, nämlich bis zum Totemismus. Von diesen Kulten können nur mehr Spuren erfaßt werden, und zwar recht späte. Die Gallier besaßen Tier-Götter (—> Tiergestalt): -> Rudiobos, das -> Pferd von Neuvy-en-Sullies; Segomo, die -> Schlange mit dem Widderkopf der Denkmäler von Mavilly, Paris und Reims; -> anthropomorphe Götter, die an der tierischen Natur teilhaben, wie der Gott mit dem Hirschgeweih, -> Cemunnos, Marc’h mit den Pferde­ ohren bei den Britanniern; verschiedenen Göttern zugeordnete Tiere wie das Pferd der Epona, der -^-Hund des ->Hammergottes, der —> Bär der —> Artio, der -> Eber der -> Diana —> Arduinna und der Gottheit von Euffigneix. Jedoch sind diese Tiere nicht notwendigerweise Totems. Sie erinnern an die volkstümlichen Elemente der Mythen, die auf den Totemismus zurückgehen können, aber man kennt die einzelnen Abschnitte dieses Weges nicht. Aus jenen fernen Epochen überliefert uns die irische Literatur eine Reihe von -> Helden {-+My­ thische Erzählungen), die Verwandtschaften mit Tieren aufweisen: —> Cüchulainn, der „Hund des Culann“, dem der Genuß von Hunde­ fleisch untersagt war (-> Kultgebote); -> Oisin, dessen Mutter in eine -> Hirschkuh verwandelt wurde, und der selbst ein Hirschkalb ist. Man kennt außerdem vereinzelte Tier-Sinnbilder der Clans, -t-Eber, Pferd, —> Vogel auf keltischen Münzen; Eber auf Insignien. Viel­ leicht finden sich Spuren des Totemismus auch in den Wappen der schottischen Clans, in den Stammes- oder Personennamen: Eburones (die —> Eiben), Tarbelli (die —> Stieret), Matugenos (der Sohn des -> Bären), Boduognatos (der Sohn der -> Krähe), Brannogenos (der Sohn des -> Raben). Kann man als Reste eines Totemismus die plastischen oder maleri­ schen Darstellungen (—> Ikonographie) der Oppida Südgalliens vom 3. und 2. Jahrh. vor unserer Zeitrechnung betrachten, —> Pferde, —> Raubtiere, wie die -> Taraske von Noves, oder menschenfressende Vierfüßler, Vögel, Fische und Schlangen? Aber falls diese Tiere über­ haupt jemals Totems gewesen sind, stellen sie doch im Augenblick, da wir sie antreffen, nur -> Dämonen im Dienst der Gottheit dar. Jedenfalls sind Sinnbilder, Clan-Tiere, Speiseverbote (-> Kultgebote) nur der Widerschein der Überbleibsel einer seit langem zerronnenen Vergangenheit. Im Laufe der Entwicklung, deren Etappen uns nicht erkennbar sind, profiliert sich die Gestalt des Helden, des Helden als Kulturbringers der einzelnen Volksgruppen; einige der Helden können alte Totems gewesen sein, andere wurden vielleicht mit totemistischen 9»

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Quellen

Symbolen ausgestattet. Eins steht jedenfalls fest: an Stelle des ClanTotems finden wir in den keltischen Gemeinschaften den —> Helden des Clans, des Stammes, der Nation (H. Hubert). Indem man die Kelten dem indoeuropäischen Kreis zuordnete, mit dem sie aufs engste verbunden waren, hat man sich bemüht, in ihrer Mythologie die Elemente arischen Ursprungs von denen zu unter­ scheiden, die den Urbewohnern Irlands zugehören. Nun, zu dem Zeit­ punkt, da diese Völkerschaften sich zu differenzieren und eine von der anderen sich zu entfernen begannen, hatten sie schon eine ziemlich hohe Entwicklung, einen bestimmten Grad von politischer, juridischer und religiöser Eigenart erreicht. Auch bleibt für uns wenig Brauch­ bares aus jenen Vergleichen zurück, die sich auf den Streit zwischen den sogenannten arischen Göttern, Gottheiten des —> Lichts (—> Lug, Taranis) und den einheimischen Göttern (Götter des -> Jenseits, der Vegetation [-> Fruchtbarkeit]} stützen. Die mythologischen Kämpfe, in die die einen und die andern verwickelt sind, können keine Er­ innerung an historische Kämpfe darstellen (-> Mythische Kriege). Sie sind die mythologische Transponierung eines Ritus. Indessen kann man auf diesen Vergleichsgebieten zwischen der arischen Welt (Indien und Iran) und der europäischen (Italiker und Kelten) nicht die Existenz gemeinschaftlicher Überlieferungen ver­ kennen, die in den Entsprechungen des Wortschatzes erscheinen; auch nicht die Existenz, im einen wde im andern Gebiet, einer Kaste von heiligen Männern, keltischer —> Druiden, Hindu-Brahmanen, ja sogar latinischer Flaminen; und schließlich die Ähnlichkeit in den religiösen Vorstellungen, Mythen und Riten. Nicht zufällig findet man noch bei einem christianisierten Christliche Überlieferung) irischen Stamm einen hierogamischen Ritus (-> Heilige Hochzeit) in seiner ganzen ursprünglichen Brutalität in Gebrauch, der in jeder Hinsicht mit der seltsamen Zeremonie des agvamedha verglichen werden kann, die ganz gewdß ein Erbe der indoeuropäischen Vergangenheit dar­ stellt. Die Götter

Ausgangspunkt jeder Untersuchung über die Mythologie der Kelten ist der Text, in dem Caesar in Buch VI, cap. 17—18 von De bello Gallico kurz die Götter Galliens aufzählt. „An erster Stelle unter den Göttern ehren sie -> Merkur. Seine Bilder (->Ikonographie) sind am zahlreichsten; sie halten ihn für den Erfinder aller Künste, den Herrn der Straßen und der Reisen, den großen Herrn des Gewinns und des Handels. Dann folgen -> Apollo, -> Mars, -> Jupiter und Minerva. Von ihnen glauben sie ungefähr 132

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das gleiche wie die andern Völker: Apollo vertreibt die Krankheiten, Minerva vermittelt die Grundlagen von Kirnst und Handwerk, Jupiter regiert über die Himmel, Mars steht dem Kriegswesen vor (—> Kriegs­ gottheiten). Dem letzteren geloben sie bei einem Kriegsbeginn alles, was sie an Beute gewinnen werden; sobald sie gesiegt haben, opfern sie die lebende Beute und tragen alles übrige zu einem Haufen zu­ sammen. Bei vielen Völkerschaften kann man derartige aus Beute bestehende Haufen an geheiligten Stätten sehen (->Heiligtümer), und es ist nicht oft vorgekommen, daß ein Mann unter Mißachtung des religiösen Gesetzes (—> Kultgebote) es gewagt hätte, in seinem Hause Beute zu verbergen oder das Geopferte anzurühren; ein solches Ver­ brechen wird mit einem furchtbaren, qualvollen Tode bestraft. Alle Gallier glauben, sie stammten von -> Dispater ab; das, so sagen sie, ist eine Überlieferung der —> Druiden. Auf Grund dieses Glaubens messen sie die Zeit nicht nach der Zahl der Tage, sondern nach der­ jenigen der Nächte; die Geburtstage, die Monats- und Jahresanfänge werden berechnet, indem man den Tag mit der Nacht beginnen läßt“ (-> Interpretatio Romana). Einige Verse Lukans (Fharsalia I, 444—446), der ein Zeitgenosse Caesars war, lassen die keltischen Namen dieser Götter erkennen: -> Teutates, -> Esus, -> Taranis. Was die insularen Kelten in Irland anbetrifft, so beträgt die Zahl der alten Götter (-^Götterfamilieri), nämlich der —> Tuatha De Danann („Volk der Göttin -> Dana“), die -> Fomore zum Siege über die -^-Dämonen bei der zweiten Schlacht von -+Mag Tuired (-^-Mythische Kriege) führen (The second battle of Moytura, ed. W. Stokes 75—76), fünf: wie bei Caesar eine grundlegende Triade (-> Dreizahl, Götter­ triaden), —> Lug-Samildanach, Herr der Künste und des Handwerks, —> Dagda, ein —> druidischer Gott, Haupt der Tuatha De Danann, -> Ogma, der Hauptgott. Dieser Triade sind durch Zuwahl Meister des Handwerks beigeordnet, nämlich -> Dian-Gecht, der Arzt, und —> Goibniu, der Schmied. Bei den Bewohnern von Wales findet man unter den „Kindern von —> Don“ den —> Zauberer —> Gwydyon wieder, ferner -> Amaethon, Gilvaethwy, Govannon, Heveydd und das Mädchen —>Arianrot. Zwei von ihnen sind Techniker: Amaethon, der große Ackersmann (gälisch amaeth, gallisch ambactos), und Govannon, der große Schmied. Diese Funktionen werden außerdem durch die —> epische Legende voll be­ stätigt (Loth, 300—301). Die kelt. Mythologie entspricht einem allgemeinen Entwicklungs­ stand der Welt, bei welchem die (Götter-) Gestalten durch soziale Kriterien gekennzeichnet werden; die Gesichtspunkte, nach denen sich deren Rangordnung regelt, sind an sich schon sehr aufschlußreich. 133

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Es ist kein Zufall, daß der erste Platz nicht von Dagda-Jupiter, sondern von Lugus-Mercurius eingenommen wird. Der Vorrang des „Gottes aller Künste“ überden „Großen Gott“ hat folgende Bedeutung: die Entfaltung und das Ansehen der Künste und technischen Fertig­ keiten in einer Gesellschaft, die das Verdienst für den Sieg ihrer Götter nicht deren Heldentum, sondern der Geschicklichkeit ihrer Arbeiter zuschrieb, wird ins Religiöse übertragen. Die Kelten haben sich ihre Götter als erdgebunden (-> Anthropomorphismus) vorgestellt; diese in sich zusammenhängende Götterwelt ist also ein Spiegelbild der Tätigkeiten und Organisationsformen in der Welt der Lebenden, wo man den Erfinder, den -> Druiden und den Krieger antrifft und, ein wenig tiefer stehend, den Arzt, den Handwerker und die Arbeiterin. Die Vorstellung eines Jenseits als Stätte des Heiligen ist der kelti­ schen Welt fremd. Die Kelten haben ihre Götter und Menschen auf den gleichen, von den großen mythischen Ahnen geformten Boden gestellt. Wenn erwiesen ist, daß diese Gottheiten nach ihren Tätigkeiten charakterisiert wurden, ist es doch ungewiß, ob sie polyvalent waren und ob man ihnen „das Fehlen einer funktionellen Differenzierung“ (Sjoestedt, 31 f.) zuschreiben kann. Der Begriff der „funktionellen Ausweitung“, auf die G. Dumézil (Naissance de Rome, 17 f.) hinweist, stiftet Verwirrung. Wenn auch die Iren und die Bewohner des gälischen Sprachgebietes sehr auf Klassifizierung eingestellt waren, so verwand­ ten sie doch wenig Sorgfalt darauf, hierbei eine strenge Ordnung ein­ zuhalten. Ihre literarischen Erzeugnisse (-> Mythische Erzählungen) zeigen eine Mischung von peinlicher Genauigkeit und Verworrenheit, und ihre Götter greifen sehr oft über ihre theoretische Definition oder die ihrer Eigennamen hinaus. Aber -> Lug, der Magier mit mannigfaltigen Kunstgriffen, fällt in seiner Funktion nicht mit dem —> Zauberer Dagda zusammen. Eine außerordentlich große -^-magische Kraft beseelt —> Dian Cêckt und -> Goibniu, aber sie wirkt sich nur innerhalb der Grenzen der ihnen eigentümlichen Funktionen aus: Jener heilt auf wunderbare Weise die Wunden, dieser stellt unfehl­ bare Waffen her. Im 1. Jahrh. unserer Zeitrechnung, nach den Ver­ folgungen, die das Verschwinden der gallischen Religion zur Folge hatten, überlebten ausgerechnet als einzige diejenigen einheimischen Götter, die am reinsten die für sie charakteristische Funktion bewahrt hatten, aber sie sind nur noch Schutzpatrone irgendwelcher Zünfte. Vor der Mitte des 1. Jahrh. unserer Zeitrechnung können etwa zehn einzelne Götter im kontinentalen Gallien festgestellt werden. Sie besitzen eine ungleichmäßige Bedeutung; neben —>- Teutates, -> Taranis und -> Esus vereinigt das gallische —► Pantheon Götter von Stämmen, Völkerschaften oder Völkergruppen. Zu einem ähn-

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liehen Bild kommt man angesichts der Vielfältigkeit göttlicher Be­ nennungen, die durch die Inschriften belegt sind (s. die Liste der ein­ heimischen Göttemamen, die mit römischen Göttern verbunden sind, bei Vendryes, 285—288) Interpretatio Romana). Diese Vielfalt der Bezeichnungen quer durch das ganze gallische Gebiet verrät einen mehr politischen und geographischen als funktionellen Charakter, und dieser Tatbestand macht es unmöglich, an die Existenz eines einigen gesamtkeltischen Gottes zu denken. Das Beispiel von -> Teutates ist beweiskräftig. Sein Name leitet sich von dem des Stammes *teuta ab. Er ist dessen Gottheit. Ein einziger Stamm hat ihm Huldigung erwiesen, aber jedes gallische Volk mußte seinen eigenen Teutates besitzen, der unter verschiedenen Beinamen verehrt wurde: Albiorix, „König der Welt“, Rigisamos, der „Sehr Königliche“, Maponos, der „Große Jüngling“, Toutiorix, der „König der Stammes“, Caturix, der „König des Kampfes“, Loucetios, der „Glänzende“. Das sind Hilfsmittel, um einen Gott zu bezeichnen, bei dem vielleicht ein Tabu das Aussprechen seines Namens verbot (-> Kultgebote). Man könnte ein Zeugnis dieses Ver­ botes in der Eidesformel finden, die so oft in den irischen Erzählungen (->Mythischen Erzählungen) wiederkehrt: „Ich schwöre bei dem Gott oder bei den Göttern, bei denen mein Stamm schwört.“ Der —>Kriegs­ gott, den man —>Mars anglich, ist auch ein gewerblicher Gott, je nach den Lebensverhältnissen des Stammes. Entsprechend dem kriege­ rischen Rang des Stammes hat die gallische Mythologie ihre Kriegs­ gottheiten, ihre dii Gasses (casses = Kampf), eine Bezeichnung, die wiederkehrt in der der Tri-casses (-> drei) von Troyes, der Velio-casses (die Besten) des Vexin, der Duro-casses (die Harten) von Dreux, der Badio-casses (die Blonden) von Bayeux. Der Herr des Himmels ist —> Taranis, dessen Name Donner be­ deutet (irisch torann, cymrisch taran). Man kennt eine Widmung taranoou aus Orgon in Südgallien und einen —> Jupiter Taranucnos aus Ungarn und Dalmatien. Dieser Name des „Donnerers“ (-> Lit. Perkünas; Asl. Perun; Finn. Ukko; Germ. Thor) stellt eine Äquivalenz zu Jupiter dar, seinem Erben in den gallo-römischen Zeiten (—>■ Interpretatio Romana). Ein anderer „Herr“ ist -> Esus, dessen Name auf ein indogerma­ nisches *esu- zurückgehen kann, das vielleicht in dem griechischen *e? (adv. eJ) „gut“ wieder auftaucht, aber eher an das iranische ahu„Herr“ erinnert, und von dem av. ahura und sanskr. asura abgeleitet sind, die Gottheiten bedeuten. Sein Name „Der gute Herr“ ist seinem Bilde (—> Ikonographie) auf dem Denkmal der Pariser Nautae hinzu­ gefügt. Lukan stellt ihn als nach Menschenblut gierig dar, und die Scholiasten haben aus ihm einen -> Mars gemacht (-> Kriegsgott-

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heiten). Indes nimmt auf dem Pariser Denkmal dieser blutige Herr kriegerischer Stämme den gutmütigen Ausdruck des Chefs irgendeiner Schilfer-Korporation an, als Arbeiter in eine kurze Tunika gekleidet und mit Hilfe einer Axt einen Baum fällend. Auf einem Basrelief in Trier findet man ihn gleichfalls wieder in der Haltung eines Holz­ fällers, wobei man im Blätterwerk des Baumes den Kopf eines —> Stieres und —> drei große, auf den Zweigen sitzende -> Vögel er­ kennen kann. Diese über einem Stier sitzenden Vögel finden sich auch auf einem Pariser Relief, das die Widmung trägt: Tarvos Trigaranos (tri = drei; garan = Kranich), der Stier mit den drei Kra­ nichen. Diese Darstellung gibt ganz gewiß eine Episode der Esussage wieder, eine der sehr seltenen gallischen Mythen, die uns überkommen sind, deren Deutung aber unsicher bleibt. Esus wird hier in Beziehung gesetzt zu einem Stier-Gott mit den drei Kranichen (-> Tiergestalt), der den Wald abrodet, in dem sich die Tiere verbergen. -> Cernunnos, „der Gehörnte“, ist ebenfalls ein —> Tiergott, und zwar mit einem Hirschgeweih, ebenso wie die —> Schlange mit dem Widderkopf. Diese Ungeheuer, die gnädig sein können, werden zu Feinden von Mensch und Tier, sobald sie nicht mehr göttlich sind; um sie zu bekämpfen (-+Mythische Kriege), hat die keltische Mytho­ logie einen Gott heraufbeschworen, den -^-Smertrios, „den Sorgenden“, der gegen sie kämpft und der auf einem Pariser Relief als bärtiger Athlet, der seine Keule über einer Schlange (—> Ikonographie) schwingt, dargestellt wird. In —> Ogma besitzt die irische Götterwelt ihre Hauptgottheit. Das Tierelement ist stärker als bei den Göttern bei den Göttinnen betont, —> Artio, die —> Bären-Göttin, —> Damona, „die große Kuh". -> Epona, deren Name „die große -> Stute" bedeutet, ist die be­ kannteste. Sie wird auf einer Stute sitzend dargestellt, mit und ohne Füllen. Wie Epona ist auch —>Rhiannon, die große cymrische Königin, eine Stuten-Göttin. —> Rudiobos ist ein P/eräe-Gott (-> Pferd). Ein wichtiges Merkmal dieser Mythologie ist, daß sie den weiblichen Gottheiten einen so großen Platz einräumt, den Kriegerinnen (—> Kriegsgottheiten) wie der Andarta der Vocontier, den Schützerinnen, den Matres, Matronae (irisch mäthair), die mit dem Boden verbunden sind (Matres Nemausicae von Nîmes) und mit seinen Erhebungen —> Quellen (Sirona, Brixiä) und —> Wäldern (Dea —> Arduinna) (->Erdgottheiten', Muttergottheiten). Nach ihren zahlreichen bildlichen Darstellungen (-> Ikonographie), sind sie die Personifizierung der Naturkräfte (->Naturismus), die Erzeugerinnen des Lebens (—>Frucht­ barkeit) und des Überflusses gemäß ihren Attributen : Füllhorn, Frucht­ korb, Kinder an der Mutterbrüst oder schlafend in ihrem Schoß. Manchmal ist die Göttin allein dargestellt, aber zahlreiche Denkmäler

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gruppieren sie zu zweien, öfter noch zu dreien, Seite an Seite sitzend, und steigern durch die Wiederholung den Eindruck. Diese Zahl —> drei spielt eine große Rolle in der keltischen Über­ lieferung (-> Göttertriaden): Götter mit drei Köpfen (—> Polykephalie) oder drei Gesichtem, Gruppen von drei Gottheiten oder von drei heiligen Tieren. Den Matres sind beizufügen die Nymphae, die Gott­ heiten der —> Flüsse und der -> Quellen (Dea Sequana) (-> Naturis­ mus). Die keltische Mythologie kennt außerdem heilige Pflanzen (Sexarbores, deus Fagus, deus Robus), Eburodunum (Embrun) ist die „Festung der —> Eibe“ (—> Baumgottheiten). Einige dieser Göttinnen sind Partnerinnen eines Gottes: Brixia ist mit Luxovius verbunden, Sirona mit Grannos, Nemetona mit -> Mars, Nantosuelta mit —> Sucellos. So entsteht ein göttliches Paar, indem eine weibliche —> Flußgottheit (cymrisch nant — Wasserlauf) mit einem —> Vater-Gott in Beziehung gebracht wird (-> Götterpaare). Eine solche Verbindung ist ein Beispiel für die Vielgestaltigkeit, die sich bei der Analyse der Merkmale der meisten Götter offenbart. -> Sucellos, „Der sicher Treffende“, wurde mit -> Dispater gleich­ gesetzt, nach Caesars Worten der Ahnherr der Gallier (—> Interpretatio Romana), den die gallo-römische -> Ikonographie in der Gestalt eines bärtigen Gottes darstellt, gekleidet in die heimatliche kurze Tunika, in der Hand einen -> Hammer haltend, in der andern eine Vase, das Symbol des Überflusses. „Gott der unendlichen und der vorüber­ gehenden Leiden, des Lebenssaftes, der über den —> Tod hinwallt, der mörderischen Begeisterungen, der an Festtagen erlaubten Trunken­ heit und der täglichen Arbeit der Handwerksleute, ein einzigartiger Gott, beunruhigend, grandios oder grotesk, vielleicht im Grunde ein Biedermann, so reicht der —> Hammergott, Dispater und Sucellos, nahe an Dionysos heran, der den Thrakern das Bier schenkte, bevor er den Griechen den Wein brachte und dem Orpheus die mystische Philosophie“ (Hubert). Trotz dieser genaueren Angaben bleibt der Beitrag schwach, den die Ikonographie zur Kenntnis der keltischen Mythologie leistet. Diese bildlichen Darstellungen bleiben immer ein Rätsel, sei es, daß es sich um den Hammergott, den Gott mit dem —> Rad oder auch um -> Esus auf den Reliefs von Paris und Trier handelt. Sie beziehen sich auf Sagen und Mythen, die immer noch der Erklärung harren. Unter dem -> Apollo Caesars verbirgt sich ein -> Heilgott, wie es das Epitheton Virotütis, „Wohltäter oder Heiler der Menschen“, an­ deutet, das ihm beigegeben wird (-> Interpretatio Romana). Was nun den gallischen Gott anbetrifft, dem der gleiche Autor den Vorrang über allen andern Götter gibt, so verbirgt er sich unter dem

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gallo-römischen Merkur, der von den Gallo-Römern am meisten verehrten Gottheit. Sie wird am häufigsten in der Gestalt eines Jünglings dargestellt (—y Ikonographie), bartlos und nackt, den Flügel­ helm auf dem Kopf, die geflügelten Sandalen an den Füßen, den Merkurstab und die Börse in der Hand, begleitet vom Widder, dem -* Hahn und der Schildkröte. Manchmal indes erscheint sie mit dem Aussehen eines bärtigen Mannes, in der Kraft der Jahre, in gallische Tracht gekleidet. In den nördlichen und östlichen Teilen Galliens ist dieser Gott dreiköpfig, einmal sogar, und zwar in Bordeaux, vier­ köpfig (-> Polykephalie). Zur Erinnerung an seine Wirksamkeit als Erfinder aller Künste besitzt er den -> Hammer und die Zangen ->■ Vulkans. Seine Beinamen verbinden ihn mit Lokalgottheiten (Arvernus, Dumias). Andere wiederum gesellen ihn zu einem Tiergott, Artaios (-^-Bär), Moccus (-^Eber). Er ist gütig, ein Sorgender (Vellaunos, Adsmerios), und als solcher mit Rosmerta, „der Sorgenden“, ver­ bunden (-^-Götterpaare). Seine Verehrer, Künstler, Reisende, Händler, ehren in ihm den Schützer des Handels und der Verbrauchsgüter. Indessen haben die Gallo-Römer diesem Herrn der Künste und der Technik Eigenschaften und Attribute verliehen, die nicht immer eine Beziehung zum Merkur Caesars haben (-> Interpretatio Romana). Dieser Lugus-Mercurius erscheint in Irland als der höchste Gott. Als mythische Erscheinung einer schon fortgeschrittenen Kultur, aber der alten gemeinkeltischen Basis noch zugehörig, vereinigt Lugus in seiner Person einige dieser Mythologie eigene Züge. Lugus bedeutet „der Rahe“, und dieser Vogel erscheint im Wappen von Lyon, Lugudunum, „der Festung des Raben“. Ursprünglich hat er teil am animalischen Leben, wie die übrigen Götter und Göttinnen Galliens (-> Tiergestalt). Man kann ihm auch, wie das auf dem Kontinent geschieht, einen trinitarischen Aspekt (-> Göttertriaden) zuerkennen auf Grund seiner in der irischen Sage auftauchenden zwei Brüder, zwei anderen Lug, die im frühen Lebensalter gestorben sind. Hauptgott, trägt er die Züge eines schönen Jünglings und ist mit Wurfspeer und Schleuder bewaffnet (—> Ikonographie). Er ist es, der aus der Entfernung zu­ schlägt, und so entfaltet sich seine Eigenart als Neuerer, der Methoden des Kampfes auf größere Entfernungen einführt, die dem Kampfe von Mann zu Mann überlegen sind. Dies wird auch durch seinen Bei­ namen Samildanach bestätigt, „der gleichzeitig (samh-) zahlreiche (il-) Techniken (däri) Besitzende“. Seit dem Tage, da er in der Ver­ sammlung der -> Tuatha Di Danann (-^- Götterfamilien) erschien, ist er nicht nur Meister des Handwerks, sondern auch der Künste, ein Harfenspieler, Dichter, -> Held oder —> Zauberer. Er ist der einzige in dieser Versammlung, der eine solche Menge von Kenntnissen in seiner Person vereinigen kann, -> Magie, Kriegskunst (-> Kriegs138

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gotfheiten) und technische Kunstferigkeiten. Im -> Epos symbolisiert Lug eine neue Welt, die von neuen Ideen, neuen Geschmacks­ richtungen und neuen Fertigkeiten beherrscht wird. —> Dagda, der Ruad Ro-fhessa, „der Herr des vollkommenen Wissens“, verkörpert eine ganz andere Weltanschauung, die wahr­ scheinlich älter ist als diejenige, der —> Lug entstammt. Dagda ist vom Nimbus des Altertümlichen umgeben. Man nennt ihn Eochaid Ollaihair, -> „Vater Aller oder Höchster Vater“, und in diesem väter­ lichen Aspekt verkörpert sich der Begriff des Anführers. Auch seine äußerliche Erscheinung (-> Ikonographie) bildet einen Gegensatz zu Lug: er ist abschreckend häßlich, schmerbäuchig, trägt eine kurze Tunika mit Kapuze. Er ist mit der —> magischen, wegen ihres Ge­ wichtes auf Rädern befestigten Keule bewaffnet, die tötet und ins Leben zurückruft. Er ist Herr über Leben und -> Tod (-> Toten­ götter), wie er gleichzeitig Herr des Überflusses ist auf Grund seines magischen -> Kessels mit dem unerschöpflichen Inhalt. Obgleich es sich nicht um die gleiche göttliche Figur handelt, entspricht Dagda der gleichen Vorstellung wie der -> Dispater der Gallier, der oberste —> Vater, der gleichzeitig auch der „sicher Treffende“ (—> Sucellos) und der Ernährer ist. Diese selbe Macht wird durch einen orgiastischen Aspekt bestätigt: seine Freßorgien bekunden Lebenskraft und Überfluß {Schlacht von -+Mag Tuired, -^-Mythische Kriege) und seine periodischen Beilager (-> Heilige Hochzeit) mit Erd­ gottheiten (das „Lager des Paares“ -> Götterpaare) geben der Ver­ einigung von Erde und Mensch ihre Weihe und sichern damit seinem Volke den Schutz dieser Wesenheiten, ein mythisch-rituelles Ganzes, das aus dem ältesten Grunde der irischen Überlieferung stammt. Die andern Götter der —> Tuatha, der König Nuada, -> Ogma der Kämpfer, die lokalen Führer Mider, Bodb, sind nur mehr oder weniger stark individualisierte Varianten dieses Hauptgottes -> Dagda. Bei den -> Meergottheiten ist dies nicht mehr der Fall, und zwar besonders bei der Figur des Manannan Mac Dir, der seinen Namen von der Insel Man (irisch Inis Manann) erhalten hat und im cymrischen Mythos in der Gestalt des Manawyddann ab Llyr erscheint. Er durch­ fährt in seinem Wagen {-> Götterwagen) sein Meeresreich, das sich von einem Ufer der Irischen See zum andern erstreckt, „die mit Purpur­ blumen besäte Ebene“. So begegnen ihm die Schiffer, die die Glück­ lichen Inseln suchen. Er ist eine Erscheinung mit vielfachen Aspek­ ten — man unterscheidet vier Manannan — und er steht mit dem -> Jenseits in Verbindung. Gestalten wie der Fomore Tethra (-> Götter­ familien), dessen „Viehbestand“ die Fische sind, Nechtan, in dem man den Namen -^-Neptuns wiederfindet, bewahren die Erinnerung an noch ältere, vergessene Meeresgötter.

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Geographische Verbreitung der Götter____________________________ Kelten

Ähnlichkeiten in den Mythen, der —> Götterwagen, auf dem die Götter sich fortbewegen, ihr vielseitiges Wesen, ihre Verbindung mit Tier-Gottheiten (-> Tiergestalt), das alles sind gemeinsame Züge der -*Meergötter und ->Muttergöttinnen der insularen Kelten. Aber während die Göttinnen bleiben, ist es bei den Göttern ein Kommen, Gehen und Nachfolgen. Der Mythos läßt eine Folge von Eroberern erkennen, die ihre eigenen Götter mitbringen, aber die örtlichen, mit dem Boden verbundenen Göttinnen als Erbe früherer Einwanderer übernehmen. Ebenso wie die Mythologie der kontinentalen Kelten besitzt also die irische ihre Muttergöttinnen, Anu oder Ana, deren beide Brüste sich als Zwillingshügel in Munster erheben. Diese Muttergöttinnen vermischen sich mehr oder weniger mit —>Dana. In der gleichen Reihe findet sich die Göttin par excellence, —> Brigit, Patronin der Schmie­ de, Dichter und Ärzte, deren Fest auf den 1. Februar fiel. Sie wird später in die christliche Hagiographie übernommen (—> Christliche Überlieferung). Als Göttin der jahreszeitlichen -> Feste leitet sie die großen religiösen Versammlungen, ebenso wie die -* drei —> Machos (->Göttertriaden), bei denen man gewisse Merkmale aussondem kann: mütterlich und gebärfreudig ist Macha, die Gemahlin des Crunnchu; Beziehung zum Ackerbau (-* Agrargottheiten) hat die Gemahlin des Nemed, zum Kriege die Tochter des Aed (-*■ Kriegsgottheiten). Andere Festgöttinnen, wie Tailtiu, —> Carman, Tea, stellen Verkörperungen von Naturgewalten und von Erdkräften dar (-> Naturismus), die dem Menschen dienstbar gemacht werden sollen. Einige dieser Gottheiten haben einen kriegerischen Aspekt. Die irische mythische Phantasie hat die Kräfte des Mordes und der Ver­ nichtung in weiblichen Gestalten personifiziert. Diese —► Kriegs­ göttinnen fliegen in Vogelgestalt zu —> dreien dahin, haben aber nur einen Namen, nämlich —> Morrigan oder Bodb. Wie die weiblichen Gottheiten der kontinentalen Kelten können sie sich einem männ­ lichen Partner zugesellen (-> Götterpaare), der anonym bleibt, wie es in der Episode des Zusammentreffens des —> Cütchulainn und der Bodb oder in der des Königs Conaire in der „Zerstörung der Burg von Derga“ geschieht (->Mythische Erzählungen). In diesen Mythen finden sich die Reflexe einer sehr alten matriarchalen Struktur wieder, die näher bestimmt wird durch den der Göttin eingeräumten Vorrang vor ihrem Partner. Geographische Verbreitung der Götter

Die Verteilung der Mythen über die Welt der Kelten hin ist sehr ungleich. Die Rheinlande, die Provence, das Languedoc, Großbritan­ nien, Pannonien und Noricum haben mehr Zeugnisse bewahrt als die

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übrigen Gebiete. Der Nordosten und Westen Galliens gehören zu den unergiebigsten Regionen. Bei dieser Untersuchung der geographischen Verbreitung kommt man zu der Feststellung, daß allein der Himmelsgott, der -> Iuppiter angeglichen wurde (-> Interpretatio Romana), Spuren in dem ganzen Gallien, mit Ausnahme Aquitaniens, hinterlassen hat. Das Herr­ schaftsgebiet des —> Lugus-Merkur liegt nördlich der Garonne und Lyons, in der Mitte und im Osten des Landes, sporadisch auch im Gebiet von Narbonne und in Aquitanien. Er erscheint wieder in den Donauländern und in Großbritannien. Der —> Hammergott ist in den Tälern der Rhône und Saône und im Nordosten lokalisiert; im Gebiet von Narbonne deckt sich seine Verbreitung mit der des -> Silvanus. —> Epona tritt selten südlich der Seine auf, ist aber über Ost­ gallien, Italien, Spanien, Großbritannien und die Donauländer ver­ breitet. Der Oott mit dem Hirschgeweih (-> Cernunnos) herrscht über die Mitte, den Westen und Norden Galliens, über das Pariser Becken, über die italischen Alpen und Spanien. Burgund ist der Bereich des —> Schlangengottes mit dem Widderkopf. Die -> Muttergöttinnen haben ihr Gebiet in den Tälern der Rhône, Saône, am Mittelrhein und in Großbritannien; -> Esus wird in der Isle-de-France und im Trierischen Lande verehrt. Die Mythen

In der Welt der keltischen Mythen, wie sie unter einer leicht christlichen Verhüllung (—> Christliche Überlieferung) aus Berichten, Sagen und Dichtungen (-> Epenzyklen) der Inselkelten deutlich wird, gibt es keine Grenze zwischen der übernatürlichen und der natürlichen Welt; zeitlich und räumlich gehen sie ineinander über. Eine gewisse Anzahl von Seelen und Geistern wechselt ständig von der einen zu der anderen. Die Erzähler (—> Epen) schildern die jen­ seitige Welt (-> Jenseits) als die Glücklichen Inseln, als Land der ewigen Jugend, mit wunderbaren Früchten, mit verschwenderisch gefüllten Gefäßen und mit göttlichen und berauschenden Getränken, als das Land, in dem —> Mananncln, der Sohn des —> Ler herrscht, der Okeanos Meergottheiten), der Gott der Meere und der Toten (—> Totengötter), der Meister des Handwerks und der Herr des irischen —> Feenvolkes. Diese jenseitige Welt erscheint auch in einer zweiten, die erste nicht ausschließenden Form: als unterirdische Welt, als ver­ zauberte Berge mit einem Zugang zum Märchenschloß des Feenvolkes der —> Tuatha De Danann, der ersten Einwohner Irlands, die sich unter die Erde begeben, wo sie nach ihrer Niederlage gegen die Söhne des Mil ihr Leben weiterführen (-> Mythische Kriege). Wenn sie auch

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verjagt wurden, verfügen die -> Sidhe doch noch über Zaubertalis­ mane, über zivilisatorische Geräte, über Herrschersymbole, die ihre Besitzer auszeichnen und bereichern. Eine Reihe gegenseitiger Leistungen (geasa) verbindet sie mit dem Erdenvolk. In Überliefe­ rung und Brauchtum beteiligen sich mythische Heldengötter am Leben der Menschen, von diesen gerufen und vermenschlicht (—> An­ thropomorphismus). Die Irländer haben sich ihre Geschichte mythisch vorgestellt, und die Feenwelt, in der -> Götter-Familien ihr Wesen treiben, wie -> Fomore und Tuatha de Danann (Irland), —> Pwyll, —> Don und —> Beli (Wales), ist genau wie die irdische Welt von Kriegen durchsetzt. Das ganze Wunderwesen des —> Arthurzyklus hat in dieser innigen Verbindung, in dieser Solidarität zwischen beiden Welten seinen Ursprung und seine Wurzel. Verstorbene, Geister, Ge­ spenster, Götter und Heroen sind immer bereit, auf die Erde zurück­ zukehren, und den Menschen steht diese unterirdische Welt bzw. die Welt jenseits der Meere stets offen. Eine beträchtliche Gruppe von Erzählungen berichtet über eine Reise zu den Gefilden der Seligen und Toten: ein Held, Bran, Sohn des Febal, oder Cuchulainn, auch Connla oder -> Oisin, wird vom Ruf einer —> Fee oder durch das Hilfegesuch eines Königs angelockt. Er schifft sich auf einer Zauberbarke ein und begegnet —> Manannan in einem wunderbaren Lande, in dem er freundlich aufgenommen wird. Dieses Lebens überdrüssig geworden, möchte er zurückkehren, sei es auch nur, um zu sterben. Diese Er­ zählungen haben dann ihre Fortsetzung gefunden in den christlichen Berichten von Maeldüin oder vom Hl. Brendän über ihre Reisen nach den Glücklichen Inseln (-* Christliche Überlieferung). Das Thema der „Ekstase des Helden“ führt zu einem zweiten Zyklus von Erzählungen: dem Abstieg in ein -> Sidh: Conn stattet dem Gott -> Lug im Berge von Tara einen Besuch ab. Die Darstellungen des Fegefeuers des Hl. Patrick enthüllen einen dritten Zyklus: Abstieg des Helden in eine Höhle, ein wahrhaftiges Heiligtum, wo er im Schlaf eine Vision des Fegefeuers schaut. Eine vierte Reihe enthält Angriffe (-> Mythische Kriege), die gegen die -^-jenseitige Welt geführt werden, um von dort eines der Wundergeräte zu beschaffen, wie die von -> Cuchulainn, -> Pwyll und Arthur dort entführten —>■ Kessel. Pwyll bringt dabei auch die Schweinezucht mit. Hier steht man vor dem Mythos des Helden, der zugleich Bringer der Kultur (-> Kulturbringender Heros) ist, es handelt sich um -> Agrargötter und Könige des Totenreiches in einer Person, in denen sich dieser ewige Vorgang des Austausches zwischen den beiden Welten darstellt (-> Toten­ götter). Diese ganze Mythologie ist eine Helden-Mythologie. Die Kelten haben aus ihren Göttern Helden und zugleich den Typus der Ahnen

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ihrer Clans und ihrer Familien geschaffen, wobei sie an und durch deren Biographien den Zustand ihres Volkes und das Wesen ihrer religiösen und mythischen Überlieferung erläuterten. Im Helden hat sich die Überlieferung der keltischen Götter aufrechterhalten und fortgepflanzt. Der Kelte hat in einer Welt von übernatürlichen Wesen, die sich mit ihm in die Erde teilen und mit denen er gewissermaßen zwischen­ staatliche Beziehungen teils freundschaftlicher, teils feindlicher Art unterhält, eine mythische Gestalt „von einer bis an die Grenzen des Übernatürlichen, aber nicht darüber hinaus, überhöhten Menschlich­ keit geschaffen, den Helden, die Verkörperung der idealen Eigen­ schaften der Rasse. Als eine übermenschliche — nicht übernatür­ liche — Gestalt, erscheint er wie ein Wesen, das gelebt und sich in den -> Tod zurückgezogen hat, jetzt durch sein Grabmal oder die Erinnerung seines Todes an bestimmte Landschaften oder bestimmte Bodenerhebungen gebunden“ (Hubert). Der Name, mit dem in den keltischen Dialekten der Held be­ zeichnet wird, läech, vom lateinischen laicus, bedeutet den Gegensatz zum —> Priester, zu dem, der keine Waffen trägt. Dieses Wort hat in der christianisierten Gesellschaft (-> Christliche Überlieferung) die alten keltischen Bezeichnungen nia, Idth, gaile, cur oder caur, arg, donn ersetzt, lauter Begriffe der Wut, des Eifers, der strotzenden Kraft, der Schnelligkeit, die sich in der Person des Setanta -> Cüchulainn verkörpern, um den sich der Mythus des Stammes-Helden ge­ wissermaßen kristallisiert hat. Er ist der Verteidiger und Vorkämpfer seines Volkes, das erhabene Sinnbild des Kämpfers, und fügt sich so in die keltische Gesellschaft ein, sowohl im Epos wie in der Geschichte: er hat seine Festung in Dün Delgän, seinen Landbesitz in Mag Muirthemne, und sein Platz ist „zu den Knien des Königs“ unter den andern Helden, aber als erster unter ihnen. Körperlich stellt er durch seine Schönheit im Gegensatz zum klassischen Kanon das „barocke“ Ideal dar, das uns durch die Figuren auf den Münzen (-^-Ikonographie) und die Beschreibungen der Kontinental-Kelten aus der Feder der alten Autoren überliefert ist: sein dreifarbiger Haarwuchs, „braun dicht am Haarboden, rot in der Mitte und an den Spitzen ein Goldschimmer“, bildet eine -> dreifache Welle, bevor er in Locken auf seine Schultern fällt. Hundert Rubinketten schmücken seinen Kopf, hundert Bänder aus rotem Gold seine Brust, seine Wangen sind durch vier farbige Zeichen in Gelb, Blau, Grün und Rot hervorgehoben, sieben Augäpfel glänzen in jedem seiner Augen, seine Hände haben sieben Finger, seine Füße sieben Zehen; so ist überall seiner Person die heilige Zahl auf­ geprägt. Dies ist sein normales Aussehen, nämlich wenn er nicht von den -^-Dämonen ergriffen ist und zum siäbartha wird, zum Dämonischen 143

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oder zum Zauberer, Schamanen, ein Bild der ambivalenten Per­ sönlichkeit des Helden, in dem sich kriegerische und -> magische. Züge vereinigen. Jeder hat seine „Überlegenheiten“ (buada) in Irland, seine „Fähigkeiten“ (cynneddfau) in Wales, die ihn vom einfachen Sterblichen unterscheiden. Das befähigt Kei, den Gefährten -> Ar­ thurs, ganze neun Tage unter Wasser zu leben und diese Zeit ohne Schlaf zu verbringen, den Wuchs des größten Baumes im Walde zu übertreifen. Seine natürliche Wärme ist derart, daß sie zum Ein­ brennen dienen kann, und keine der Wunden, die er schlägt, ist heil­ bar. Eine gewisse Anzahl dieser Fähigkeiten gehört auch zur Aus­ stattung von —> Cüchulainn: in Emain Macha, bei Gelegenheit seiner Stammesweihe, als man ihn in eine kalte Kufe tauchte, war die Hitze, die ihn belebte, so mächtig, daß die erste Kufe zersprang, die zweite unter heftigen Aufwallungen kochte und die dritte noch lauwarm wurde. Er kann außerdem von -> samhuin bis zur nächsten Ernte des Schlafs entbehren. Er allein ist imstande, die Wunden zu heilen (-> Heilgötter), die er schlug. Er besitzt vollkommene Schönheit und ist ein vollendeter Krieger, sein Mut kommt seiner Meisterschaft in den körperlichen Übungen gleich, er ist der erste im Rat wie bei der Beutejagd, und er ist immer redegewandt. Die Tain Bö Cuailnge schreibt ihm neunzehn jener clessa zu, d. h. der Kunststücke, die bei Kriegern gebräuchlich sind: Hechtsprung über einen in voller Fahrt befindlichen Wagen, das Atem-Anhalten, um ein Fliegen vor­ zutäuschen, das Schweben auf der Lanzenspitze und anderes mehr. Indessen ist im Gegensatz zu der Fähigkeit, die der Mythos freigebig dem Helden verleiht, Cüchulainn nicht unverwundbar. Die keltische Legende kennt nur einen Helden, dem eine solche Unverletzlichkeit gewährt wurde, Ferdiad Conganchness, „mit der Hornhaut“. Während man also ihm und den andern Heroen eine solche kostbare Eigenschaft verweigert, suchte man sie aber anscheinend dadurch um so mehr zu verherrlichen, daß man sie mit einem Ideal des Heroismus aus­ stattete, das bis zu selbstmörderischem Exzeß getrieben werden konnte. Ein gewaltsamer —> Tod stellte die Krönung ihrer Laufbahn dar. Unbesiegbar, kann der Held nur durch eine Macht gebrochen werden, die in ihrem Wesen nicht heldisch ist, durch einen Betrug oder durch einen Verrat. —> Cüchulainn wird durch die -> Zauberer besiegt, die seine geasa gegen ihn wenden, d. h. sein eigenes —> Schick­ sal, und der Tod erfüllt es. Als Krieger, als —> Magier nimmt der keltische Held auch geistig am Wissen des Dichters (-> Barden) teil. Er wird in die Heilige Sprache eingeweiht, die ein Gewebe von Rätseln in Form der über­ lieferten Metaphern darstellt, reich an mythisch-rituellen Anspielun­ gen („Hof zu Emer“). 144

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Wenngleich die Persönlichkeit des Helden, wie die der Götter, vorwiegend kriegerisch ist, so wird sie doch nicht darauf spezialisiert, sondern vereinigt eine ganze Summe von Eigenschaften und Werten in sich. Jede mythische Vorstellung zeigt die Tendenz zur Totalität, zur Ganzheit. Sie hat indes ihre Grenzen, und zwar wenn die geis dazwischentritt, dieses —> Tabu —> magischen Wesens, das bei jedem Individuum anders gestaltet ist und das an den Handelnden ge­ bunden ist, nicht an das Objekt. Cuchulainn, der Hund des Cülann“, kann, so haben wir gesehen, kein Hundefleisch essen, er darf außerdem niemals einen Krieger ernennen (-> Kultgebote). In­ des bezieht sich die Mehrzahl seiner geasa auf seinen Charakter als Beschützer seines Volkes sowie des Gebietes, dessen Sicherheit er gewährleistet. Diese Funktionen übernahm er an dem Tage, da er nach Erhalt seines menschlichen Namens seinen Bruder Conall in der Grenzhut ablöste, anläßlich des „Raubzugs auf die Rinder von Cuailnge“ (= -> Tain Bo Cuailnge); damals, auf dem „Fest von Bricriu“, als er seinen Kopf darbot, um die Ehre seines Volkes zu retten, indem er die Herausforderung der Ulsterleute im „Haus des Roten Zweiges“ annahm. Krieger und Magier: so zeigen sich die irischen Helden als die zweifache Realisierung ein und derselben Kraft, die im Mythos von -> Cuchulainn sozialer Natur ist, asozialer dagegen, wenn man zu den Sagen (—> Epen) der fiana kommt; und dieser Dualismus ist die Widerspiegelung eines sozialen Tatbestandes: Die Güter dieser Welt sind in zwei Lose aufgeteilt: das eine, dem Menschen als Frucht seiner Arbeit überlassen, gehört dem Stamm, das andere, die freie Natur, ist die Mitgift der —> fiana, der „Landlosen“. Die Bezeichnung fian, „die Bande“, entspricht etymologisch zweifellos dem alten slawischen vojna = Krieg, und verbindet sich mit der Wurzel, aus der lateinisch venari = jagen, avestisch vanaiti = er erobert, sanskrit vanoti = er gewinnt, althochdeutsch winnan = kämpfen, entstanden sind. Die epische Sage (—> Epen) bestätigt das, was die Etymologie der fiana lehrt: Gemeinschaft von jagenden Kriegern, die als Halbnomaden unter der Leitung eigener Anführer leben, so z.B. des —>Finn, Anführer der Fianna Baoiscne von Leinster, Vater des Oisin (Ossian), woher die Zyklenbezeichnung ossianisch stammt, die oft dem Zyklus der fiana beigelegt wird, oder Ooll, An­ führer der fiana von Connaught. Man wird nicht als feinid geboren, sondern man wird es, nachdem man die Prüfung der Weihen abgelegt und eine höhere, freie Bildung erhalten hat, denn auch der Held der fiana ist gleichfalls ein Dichter (—> Barden). Sind diese Bedingungen erfüllt, hört die Mitgliedschaft in seinem Clan auf, und er hat nur noch den sozialen Charakter des io

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fian. Von nun an lebt er am Rande der Gesellschaft, in den Wäldern und Einsamkeiten, dem Herrschaftsgebiet der —> Tuatha, der Leute des -> sid, wo er in ständiger Verbindung mit den geheimnisvollen Mächten steht, mit denen die andern nur bei Gelegenheit einer Nacht des -> samhuin Bekanntschaft machen. In den Mythen der fiana ist das Übernatürliche das Natürliche; an der Schwelle der beiden Welten des Realen und des Übernatürlichen stehend, nehmen die Helden an beiden teil, und daher stammt das halbtierischo Wesen, das ihr Erbteil ist. Eine der Frauen —> Finns, —> Saar, ist eine Hirschkuh, seine beiden -> Hunde, Bran und Sgeolan, sind seine Neffen, er selbst ist Hund, Mensch oder —> Hirsch, je nachdem er seine Kapuze dreht, aber dann nicht mehr als Finn, sondern in der Erscheinung des Königs Mongän, Sohn des —> Manannän, des —> Meergottes. Die fiana, die sich neben und auf Kosten des Stammes aus ihm entfremdeten Elementen, die dort keinen Platz finden konnten, bilden, stellen eine auf Initiations-Riten beruhende Gesellschaft dar, die auch nichtkeltischen Elementen offensteht. Im Laufe der Zeit folgt der Mythos von —> Cüchulainn, der mit einem Gesellschaftssystem von Fürsten, Literaten und Geistlichen verbunden ist, dem Schicksal dieser Gruppe, indem er ihren Nieder­ gang und ihr Verschwinden teilt. Der Mythos der fiana lebt in münd­ licher Überlieferung heute noch in Volk und Volksbrauch weiter. Heiligtümer

Die Kelten bezeichneten den Kultort mit nemeton (altirisch nemed). Es handelt sich dabei nicht notwendigerweise um ein Gebäude, ob­ wohl eine Inschrift aus Vaison (CIL, XII, 162) das nemeton erwähnt, das von Segomaros für Belesama erbaut wurde, und Venantius Fortunatus (I, IX, 10) vernemeton (Holder III, 218) durch fanum ingens übersetzt. Das Wort bezeichnet auch die loci consecrati (De bello Gallico VII, 121, 3, 6), die Anlagen unter freiem Himmel, auf denen die den Göttern dargebrachten Schätze aufgehäuft wurden, den Ver­ sammlungsort (ögvvsfierov) der Galater (Strabo XII, 5, 1) oder den Ort der jährlichen Zusammenkünfte der -> Druiden im Walde der Carnuten ( De bello Gallico VI, 13). Die Toponomie bewahrt noch die Erinnerung an die über das ehemalige Gebiet der Kelten verstreuten Kultorte: in Kärnten hält Tasinemetum vielleicht die Erinnerung an das Heiligtum eines —> Baumes wach, nämlich der —> Eibe (lat. taxus)', Arnemeton, „nahe dem Heiligtum“, dürfte sich in der moder­ nen Form von Alempde (Haute-Loire) wiederfinden. Die Wurzel nem, die im Keltischen anscheinend „das Heilige“ bedeutete, erscheint

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wieder im Synonym von nemeton, Nemossos, auf das man bei dem alten Namen von Clermont-Ferrand stößt. Nemossos in einem Medionemossos (Mezunemusus der Zignago-Stele) ist dem britannischen Medionemeton gleichwertig. Eine andere Form dieses nemos(s)os finden wir im alten Namen von Nîmes, Nemausos, vielleicht in Beziehung zum Heiligtum einer geweihten -> Quelle. Eine Inschrift aus Alesia macht uns mit einer andern Bezeichnung für eine Kultstätte be­ kannt, nämlich dem celicnon (gotisch: kelikri), das für den Bau, den Martialis zu Ehren von Ucuetis errichtete, verwendet wird. Wenn das Vorhandensein von Kultstätten durch solche Dokumente auch einwandfrei bezeugt wird, so vermitteln diese doch nur un­ befriedigende Angaben über ihre Anlage. Der irischen —> epischen Literatur sowie der archäologischen Forschung fällt die Aufgabe zu, über die Anlage dieser Kultstätten präzisere Einzelheiten zu liefern. In diesen Kultstätten verkörpert sich die mythische Weltanschauung der Kelten, denn „der keltische Tempel ist die Umkleidung eines Totendenkmals, er ist eigentlich das Grabmal des Helden“ (Gre­ nier), um das sich im insularen Keltentum bei den großen Versamm­ lungen anläßlich der jahreszeitlichen Feste das religiöse Leben der Königreiche, der Stämme und der Clans konzentriert. Der älteste Typus, das megalithische Denkmal (-> Cromlech), stammt aus der Zeit vor Ankunft der Kelten, wurde aber von ihnen über­ nommen. Auf den britannischen Inseln finden wir keine Bauten, sondern nur eine durch einen Graben und eine Aufschüttung an­ gedeutete Umfriedung um ein Schachtgrab, mitunter um ein Flach­ grab, meist jedoch eine von einem Tumulus bedeckte Einäscherungs­ stätte. Der Tumulus wird zuweilen durch einen -> Menhir ersetzt, der Graben durch einen Kreis von -> Steinen. Steinkreis und An­ ordnung in Reihen sind oft miteinander verbunden, wobei die Reihen durchweg ein Aschengrab zum Ausgangspunkt haben. Denkmäler wie die von Stonehenge und Avebury weisen schon eine gewisse Kompliziertheit auf. Die zweitgenannte dieser Stätten ist aus Steinkreisen von 114 m und 400 m im Durchmesser errichtet, mit Wall und Graben, beide mit langen Steinreihen verbunden; die im Zentrum des Kreises aufgerichteten Steine sind vielleicht Grab­ stelen. Im Mittelpunkt von Stonehenge zeichneten aufgerichtete Steine und fünf aus einem Architrav auf zwei Pfeilern bestehende Monumente ein Hufeisen von etwa 12 m Durchmesser, das nach Nord­ osten, in Richtung auf die Steinreihe, offen stand; diese Anlage stellt die Grabkapelle des umfriedeten Platzes dar, der von zwei kon­ zentrischen Kreisen aus aufgerichteten Steinen umschlossen war. Wahrscheinlich haben sich auf derartigen Plätzen die Zeremonien abgespielt, die, wie Diodor berichtet (II 47), bei den Hyperboräern

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„auf einer im Ozean, Gallien gegenüber gelegenen Insel von der Größe Siziliens einen herrlichen, dem -> Apollo geweihten Wald und einen durch seine Kreisform bemerkenswerten Tempel“ zum Schauplatz hatten. „Dort singen die Hyperboräer beim Klang der Kythara im Tempel die heiligen Hymnen, in denen sie die Heldentaten der Götter preisen . . Bei den Festlandskelten, wo die Cromlechs ebenfalls als Wohn­ stätte des Helden gelten, sind die ältesten Kultstätten die Fried­ höfe. Im östlichen Gallien in Normée (Marne) erstrecken sich unter freiem Himmel inmitten der Grabhügel die für die Feier von Toten­ spielen bestimmten umfriedeten Plätze, und über dem Grabmal des Helden erhebt sich eine bescheidene Kapelle aus Holz. Im mittleren Gallien vollzieht sich unter dem Einfluß der Mittel­ meerkultur in der allgemeinen Struktur der Kultstätte eine Weiter­ entwicklung, die sich in Roquepertuse, Entremont, in Mouriés, in Orgon im Auftreten von Kultbauten aus Stein äußert, in Kultstatuen und in gestochener, gemalter oder plastischer architektonischer Aus­ schmückung. Man kann zwar das Vorhandensein mehrerer solcher Tempel im Oppidum von Entremont (Saint-Remy-de-Provence) nachweisen, doch ist gewöhnlich für sie zweierlei charakteristisch: ihre vereinzelte Lage in der gallischen Landschaft und ihre nur gelegent­ liche Verwendung an gewissen Daten, nämlich dann, wenn sich der Volksstamm anläßlich der großen jahreszeitlichen Feste versammelt. In Roquepertuse gewährten auf dem höchsten Punkt des Fels­ rückens, der die Ebene beherrscht, einige in den Felsen gehauene Behausungen kleinen Werkstätten von Handwerkern, Töpfern und Gießern Unterschlupf. Am Fuße des Felsens ist eine halbkreisförmige, zum Teil von Menschenhand erweiterte Aushöhlung, die durch einen im Felsen eingehauenen Graben abgesondert ist, der nur über eine enge Aussparung hin überquert werden kann. Vor einem doppel­ wandigen Trockenmauerwerk erstreckt sich ein unregelmäßiges Pflaster, in dem am nördlichen und südlichen Ende zwei kreisförmige Aushöhlungen von einem Meter Durchmesser und mit konkavem Boden angelegt waren. Vor der Mauer lagen auf dem Boden die Trümmer eines steinernen Portikus, der mindestens zwei, wahr­ scheinlich aber vier Pfeiler umfaßt hatte und von einem Türsturz überlagert war. Die Vorderfläche war mit gravierten und bemalten Ornamenten geschmückt: ein Laufvogel mit einem Federbusch (-> Vögel), der eine rote Scheibe überfliegt; ein ->Fisch mit vier aus­ gespreizten Flossen, die in roter Farbe mit schwarzer Umrandung ausgeführt sind ; ein Pferdekopf in Rot, die struppige Mähne in weißen und roten Strähnen ; rotes Geäst und rote Früchte ; geometrische Ver­ zierungen, Doppelbänder, Kreise, Zickzackmuster, Wolfszinken. Einer 148

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der Türstürze trägt Pferdeköpfe in Strichzeichnung (-> Pferd). Zeitlich später als diese Ausschmückung waren auf einer der Vorderflächen des Eingangstores eiförmige Nischen eingemeißelt worden, in denen die Schädel der Enthaupteten befestigt wurden ; man fand ihre Überreste am Fuß des Denkmals, das von dem Bildwerk eines phantastischen Vogels, teils Raub-, teils Schwimmvogels, gekrönt war. Die gleichen kopfförmigen Einschnitte auf Pfeilern, die zu einer keltischen Kult­ stätte in Saint-Remy-de-Provence gehört hatten, wurden in einem späteren Monument wiederverwandt. In Entremont stellte die Deko­ ration auf den Pfeilern, abgeschnittene Köpfe im Flachrelief wie beim Fries von Nages, vielleicht eine Weiterentwicklung des Ritus dar, mit der Tendenz, die Realität durch das Bild zu ersetzen. Hinter dem Portikus öffnet sich das Heiligtum, in Roquepertuse ein einfacher, von einem Schutzdach überdeckter Halbkreis, in Entremont eine ausgesprochene Schädelkapelle. In Roquepertuse erhoben sich vor dem Portikus die Statuen der -> Helden, die in Entremont längs der heiligen Straße aufgereiht waren, zu seiten der monumentalen Stein­ urnen mit der heiligen Asche. Trotz der Variationen in der allgemeinen Anlage der keltischen Tempel aus der Zeit vor der römischen Eroberung, die gewiß noch stärker waren, als die allzu seltenen Fundspuren erkennen lassen, vollzog sich der Übergang von den älteren megalithischen Kultstätten her ohne Bruch. Der Säulengang, als wesentliches Element des Tempelbaues, ist die architektonische Übertragung der in Avebury und Stonehenge aufgerichteten -> Steine : einschließlich der halbkreis­ förmigen Anlage der Kapelle erinnert alles an diese alten Heiligtümer, und in beiden Gruppen dieser Denkmäler findet man die Aushöhlungen wieder, die die Asche aufnahmen. Was in den provenzalischen Heiligtümern erst skizzenhaft an­ gedeutet ist, erhält seine eigentliche Entfaltung in den großen gallorömischen Tempeln. Von allen nach der Eroberung in Gallien er­ richteten Gebäuden stellt der Tempel eines der seltenen architek­ tonischen Denkmäler dar, das mit Erfolg einen Originalcharakter be­ wahrt hat. Durch seine kreisförmige oder dem Kreis angenäherte polygonale Anlage unterscheidet er sich vom klassischen Typus. Die immer noch lebendige gallische Überlieferung bleibt der unheil­ abwehrenden Bedeutung des Runden verhaftet und behält deshalb die Kreisform bei. Es gibt Beispiele, bei denen ein Tempel im quadra­ tischen oder rechteckigen Grundriß mit einer Ringmauer versehen wird (Mandeure, Doubs; Saint-Just-en Chaussée, Oise; Trougouzel, Finistère). Ebenso erhält sich der Charakter der Grabstätte, und die beiden Gestaltungen, Tempel und Grabmal, vermischen sich auch weiterhin. Auf dem Donon, einem der Vogesen-Gipfel an der Grenze 149

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von Elsaß und Lothringen, im Zentrum der Hochfläche, die von den -sc drei Tempeln begrenzt wird, stellt ein großer, in den Felsen ge­ hauener Schacht, der in einem loculus endet, den ein halbkreisförmiger Steindeckel schließt, das Grab oder das Kenotaph eines —> Helden dar. Wenn auch das Heiligtum auf dem Donon das einzige dieser Art ist, das eine so klar angelegte Disposition zeigt, so ist man doch zu der Frage berechtigt, ob die kleinen kreisförmigen Denkmäler in Chassenon (Charente-Maritime), in Sablé (Mayenne), in La Butte-aux-Fées an der Straße von Jublains nach Angers, die mehr oder weniger der tholos von Sanxay (Vienne) ähneln, nicht eher mit Kultstätten ver­ bundene Totenmäler oder Kenotaphe sind als Tempel. Die Kultstätten, für die Sanxay ein Beispiel bildet, stellen einen Typ dar, der in Gallien keineswegs eine Ausnahme ist. Sie bilden architektonische Komplexe, in denen Tempel, Theater oder Amphi­ theater, Säulengänge, Thermen, Wohnräume für die -> Priester, Unterkunftshäuser und Kaufläden mit Wallfahrtsandenken für die Pilger vereinigt sind. Diese Anlagen stehen als Abschluß am Ende einer langen Entwicklung. Die keltischen Heiligtümer des östlichen Galliens wiesen bereits ihre wesentlichen Elemente auf. Theater oder Amphitheater bilden die letzte Form der für die Spiele bestimmten Einfriedungen, sie sind wichtige Bestandteile der Kultstätten, wo sich die Feste abspielten. In ihrer Anlage veranschaulichen die großen Tempel des römischen Galliens die Wandlungen der Persön­ lichkeit des -> Helden. In Sanxay wird die Esplanade, in deren Mitte sich die tholos erhebt, das Heroon des Tempels wie das Pelopeion in Olympia, auf zwei Seiten bis zur Hälfte durch Säulenhallen ein­ gefaßt. Aber hier dienen sie nicht mehr zum Bergen der Trophäen, sie sind zu Schlafräumen geworden, in denen die Pilger untergebracht sind, die Offenbarungsträume erwarten; nach Tertullian (De anima57) verbrachten sie die Nacht bei den Grabmälem der Helden, um dort Orakel zu empfangen. Wie in den Zeiten der Unabhängigkeit findet man, als Entsprechung zu den auf dem Lande fern von jeder Siedlung isoliert gelegenen Kultstätten, in den Städten wirkliche kleine heilige Bezirke, wie im Altbachtal in Trier, mit einer Gruppe kleiner rechteckiger Heilig­ tümer, bescheidener Behausungen oder einfacher an den Felsen an­ gelehnter Schutzdächer. In dem keltischen Heiligtum deutet alles auf den Tod hin. Die -> Pferde von Mouriés, von Roquepertuse, die menschenfressenden Raubtiere, der -> Vogel von Roquepertuse haben einen Symbolgehalt im Hinblick auf die Religion des Todes. Es sind göttliche Symbole, die -> Dämonen einer übernatürlichen Welt. Dies ganze Bildwerk des Iodes ist nicht ohne Beziehung zur Reise der Seele, die durch 150

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Kelten

das -> Pferd, das seelenleitende Tier (-> Seelenglauben), ins -^-Jen­ seits weggeführt wird, und diese Tierwelt ist verwandt mit der des cymrischen Bereichs, in dem die blutgierige —> Wölfin herrscht. Ein ähnliches Thema erscheint auf den ornamentalen Terrakottatafeln des Heiligtums von Orgon: Jäger, die ihre symbolische Jagd unter den Augen der Gottheit durchführen, verewigen einen ähnlichen Ritus, wie er sich auf thasischen Friesen abwickelt.

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Die Organisation des Heiligen ist Teil der politisch-häuslichen Organisation der Gruppen, die die irische Gesellschaft bilden, eine Gesellschaft, die auf dem Führertum und den Festen beruht und ein Mittelding zwischen natürlichen Stammesvereinigungen und einer monarchischen Zusammenfassung darstellt. Städte trifft man selten in Irland an, die Bevölkerung lebt zerstreut auf dem Lande. Das Band zwischen den Menschen bilden die Ahnen, die -► Helden und Götter sind; um ihre Grabmäler, die gleichzeitig auch als -> Heilig­ tümer dienen, politische ebenso wie religiöse Zentren, versammelt sich das Volk, um seine Feste zu feiern, Feste des Clan, Feste des König­ reichs. Sie sind jahreszeitlich bedingt, bedeuten aber nicht nur die rituelle Feier des an den Jahresablauf gebundenen Landlebens. Sie sind eng mit der mythischen Welt verknüpft und erscheinen wie eine Illustration der Sagen (—> Mythische Erzählungen), in denen Sterb­ liche und Götter in ständigem Konflikt miteinander stehen. Man kann sie nicht von der sagenumwobenen Geschichte der Invasionen und jener Völker trennen, die nacheinander das Land in Besitz nahmen. Es gab vier Feste: -> Samhuin, am 1. November, Imbolc, am 1. Februar, -^-Beltene, am l.Mai, -^Lugnasad, am 1. August. Diebeiden wichtigsten waren -> Samhuin und Beltene, Feste des -> Winters (gallisch giamon, irisch geim-red, cymrisch gaiaf) und des Sommers (gallisch samon, irisch sam-rad, cymrisch haf); da sie auf den Beginn und das Ende der Anbau- und Tierzuchtarbeiten fielen, unterbrachen sie die Eintönigkeit der täglichen Arbeit. Diese Einteilung war der gesamten keltischen Welt gemeinsam, sie findet sich in der Zeittafel von Coligny wieder und ist heute noch im cymrischen Gebiet (Calan Gaiaf, Galan Mai) im Gebrauch. Jede Jahreshälfte wird außerdem durch die Feste Imbolc und Lugnasad in zwei Vierteljahre geteilt. Es gab weitere Feierlichkeiten, deren Erinnerung aber nur noch durch die Feste zu Ehren einiger großer irischer Heiliger wachgehalten wird, wie das Fest des Hl. Finnian im Dezember, das des Hl. Patrick am 15., 16. und 17. März (->Christliche Überlieferung). Diese zwischen

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die großen Versammlungen eingeschobenen Feste gaben Gelegenheit zur Abhaltung von Märkten, zu politischen und gerichtlichen Tagun­ gen, zu Lustbarkeit und Spiel (Pferderennen für —> Tailtiu und Emain -> Macha', der Wettlauf der Frauen für -> Carman). Aus der Tatsache, daß der keltische Kalender nicht auf das -> Son­ nenjahr, auf die Sonnenwenden und die Tag- und Nachtgleichen auf­ gebaut ist, sondern auf das Jahr des Ackerbauers und des Hirten (-> Finn. Kekri), kann man schließen, daß die mythische Welt der Kelten von den Erdgöttinnen beherrscht wurde, zum Nachteil der Sonnengötter. Dieser Landbau-Charakter (—> Agrargottheiten) erscheint besonders in zweien dieser Feste. Die Göttinnen-Mütter (-> Muttergottheiten) führen den Vorsitz beim -> Lugnasad, dessen Name den des -> Lag enthält und der wiederum in den Namen mehrerer galli­ scher Städte auftaucht, unter denen „Lyon“ ist. Eine ganze Reihe von sagenhaften Episoden (—> Mythische Erzählungen), die sich auf Lug und seine Amme Tailtiu (talam die Erde), auf die -> Zauberin —> Garman und die Göttin —> Macha beziehen, verbinden sich mit diesem Fest. —> Imbolc, das Fest der Hl. -> Brigit, wird zu Beginn der Säugezeit der Lämmer gefeiert. Der Name Beltene enthält den Wortstamm des Feuers (tene), dem ein mit Belenos verwandter göttlicher Name vorangestellt ist. Er erinnert an die großen Feuer, zwischen denen man damals das Vieh hindurchtrieb, um es gegen Krankheiten zu feien. Auch das -> Samhuin hat etwas von diesem agrarischen Charakter, obwohl dieses Fest sonst einen stärker mythisch betonten Charakter besitzt und sich in einer sehr eigenartigen, düsteren und phantastischen Atmosphäre abwickelt. Für die Iren bedeutet Samhuin das Ende des —> Sommers (Sam + fuin), man kann es aber auch im Sinne von „Tagung“, „Versammlung“ interpretieren. Die blutigen -> Opfer entsprechen schweren Tributen, die den Menschen nicht mehr durch Schutzgottheiten, sondern durch zerstörende Mächte auferlegt werden, Zehnten, die auf die zu Ende gehende —> Frucht­ barkeit an der Schwelle zur unfruchtbaren Jahreszeit erhoben werden. Samhuin ist das Fest der gesamten Welt, der Geister und ihres Ein­ dringens in die Welt der Lebenden (-> Seelenglauben). Das Fest erhält dadurch einen drohenden und kriegerischen Charakter. Ein ganzer Zyklus von Mythen bezieht sich darauf, Mythen der Begegnung, und zwar meist einer feindlichen, zwischen den beiden Welten. Die Schlacht von -> Mag Tuired (-> Mythische Kriege) stellt eine solche dar, ebenso wie die Erzählung (-> Mythische Erzählungen), in der die Ulsterleute, durch Trunkenheit und Dunkel der Nacht irregeleitet, mit knapper Not dem Tode in einem „zur Weißglut erhitzten Hause“ entrinnen, oder das Abenteuer Neras, eine Schilderung der Beziehungen zwischen den Menschen und den Leuten von —> Sid, in dieser „Nacht der Ver-

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wirrung“. Das Thema dieser Mythen ist immer das gleiche: Angriffe der Legionen der übernatürlichen Welt gegen die Siedlungen der Menschen, Angriffe, denen glückliche Gegenangriffe folgen können. Die Themen des —> Feuers, des -> Wassers, der überschwemmten Häuser, des Ertränkens in einem Faß (Legende von Muirchertach MacErca) erinnern an gewisse -> Opferriten im kontinentalen Keltentum. Bei diesem Fest treten die Zustände einer überwundenen Vergangenheit wieder ein, und damit das Wechselspiel zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Mehr noch als bei allen andern Festen „sind die Geister losgelassen, das Wunder wird erwartet und tritt auch ge­ wöhnlich ein“ (Hubert), was dem vom Volk der Geister heimgesuchten Menschen gestattet, sich zum Sturm auf diese geheimnisvolle Welt anzuschicken, eine Welt, die sich ihm für diese einzige Nacht, an der Schwelle des alten zum neuen Jahre und damit sozusagen an der Schwelle der Zeit, öffnet (—> Jenseits). Für diese Feste ist ein Element des Gedenkens erforderlich, ja sogar unentbehrlich. Der -> Held ist wie dafür geschaffen, es zu liefern, und er tritt eigentlich nur auf den Festen hervor. Er ist, als weltliche Form des Gottes, die mythische Persönlichkeit, die zu religiösen Dramen anregt, durch deren Aufführung auf dem Fest der Ahnenkult feste Formen annimmt, als Gedenkfeier des Helden und auch als Ent­ sühnung seines -> Todes. So ist jeder Held einbezogen in eines dieser Feste. —> Cüchulainn stirbt am Tage des Samhuin. Das Fest des Helden hat den Charakter einer Gedenkfeier. Aus dem, was man über das damalige Ritual aus den —> mythischen Erzählungen Irlands entnehmen kann, wird ersichtlich, daß ehe­ dem Götteropfer stattfanden, die als —> Menschen-, Tier- oder Pflanzenopfer erneuert wurden. Am 1. November opferten die Iren auf dem Hügel von Mag Siecht, auf dem sich das Standbild (—> Ikono­ graphie) von —>Cromm Cruaich oder Cenn Cruaich (der „Gekrümmte“ oder der „Herr des Hügels“) erhob, dem königlichen mit Gold und Silber bedeckten Götzen, der von zwölf anderen bronzeverkleideten Götzen umgeben war; man brachte die Erstlinge (—> Erstlingskult) jeder Generation dar, ein rituelles Opfer, das in feierlicher Zeremonie an einem eigens dafür vorbereiteten Platz vollzogen wurde (-^-Heilig­ tümer), ein Brauch, der Iren und Britanniern gemeinsam ist. Über Menschenopfer in der keltischen Welt kann kein Zweifel herrschen, die alten Autoren geben uns darüber unwiderlegliche Be­ weise. Die den Göttern des keltischen Pantheons dargebrachten Opfer werden von Lukanus (Pharsalia I, 444) mit Bezug auf die Elemente Wasser, Luft und Feuer nach ihrer Natur und Mannigfaltigkeit des näheren beschrieben: Um -> Teutates zufriedenzustellen, wur­ den die Opfer in einem mit Wasser gefüllten Faß erstickt; die dem 153

Feste

Kelten

-> Esus dargebrachten Opfer wurden an einem Baum aufgehängt; im Kult des -> Taranis wurden sie in einer Holzfigur verbrannt, was noch im 1. Jahrh. vor unserer Zeitrechnung üblich war (Cicero, Pro Pompeio X, 21; Caesar, De bello Gallico VI, 16; Dionysios aus Halikamassos, Ant. Rom. I, 38; Justin XXVI, 2, 2; Sueton, Claudius 25). Die christlichen Schriftsteller (Laktantius,Div. inst. 1,21,3; Tertullian, Apolog. 9; Augustinus, Civ. div. VII, 19) geben mit Abscheu die gleichen Berichte wieder (-> Christliche Überlieferung). Diese Art des Opfers ist im 1. Jahrh. unserer Zeitrechnung in Gallien verschwunden, wird jedoch in Großbritannien noch länger ausgeübt, wo die Britannier (Tacitus, Arm. XIV, 30) ihre Altäre mit dem Blut der Gefangenen begossen und den Willen der Götter aus den menschlichen Eingeweiden erforschten. Schon Diodorus Siculus (V, 32, 6, nach Poseidonios) hatte berichtet, daß die Gallier und die Galater sich der Kriegsgefangenen als Opfer bei den zu Ehren ihrer Götter gefeierten Festen ebenso bedienten wie der ihnen zur Beute gefallenen Tiere, die sie erwürgten, verbrannten oder auf irgendeine Art vernichteten. Poseidonios hat selbst die den Besiegten abgeschnittenen Köpfe in den Eingangshallen der keltischen Behausungen aufgesteckt ge­ sehen, und die Flachreliefs, die die Säulengänge der südgallischen -> Heiligtümer schmücken, entstammen dem Ritus, der Gottheit den Schädel des enthaupteten Feindes zu weihen, den man im Heiligtum aufhängt. Zur Erläuterung dieser Angaben bleibt das Silbergefäß von -> Gundestrup, gefunden in Jütland, wohin es wahrscheinlich infolge Plünderung gelangt ist, immer noch trotz aller Probleme, die es stellt, das bedeutendste Dokument. Die getriebenen Figuren auf den Wand­ flächen drücken symbolisch den myth. Gehalt der Zeremonie aus, für die das Gefäß bestimmt war. Der -> Kessel bildet tatsächlich das wich­ tigste Gerät in der Küche der Kelten, die, von Ausnahmen abgesehen, Fleisch kochen und —> Bier hersteilen. Nun folgt die religiöse Küche sehr eng der Tradition der Laienküche. Die irischen Literaturdoku­ mente erwähnen die Kessel des -> Dagda, des ->Goibniu, und im Lande von Wales besaß Bran einen Wiederbelebungs-Kessel. Alle Verzierungen stehen dabei in Beziehung zu den Opferbräuchen: auf dem Boden ist ein Opfer dargestellt, die Wand wiederholt es und stellt den Mythos der Geburt des Gottes dar, außen sind die Umstände der Opferhandlung geschildert, die Zeit, der Zyklus der Jahreszeiten und der Feste, die ihnen entsprechen. Die auf den Kesseln abgebildeten Götter sind die der Feste, deren Haupt-Ritus das Opfer ist, das die Sicherung möglichst guter Ernten, das Gedeihen des Viehes und die Geburt gesunder Kinder zum Ziel hat (-> Fruchtbarkeit). Je mehr Opfer gebracht werden, desto mehr Seelen (-> Seelenglauben) können bei Gelegenheit der Feste die -> jenseitige Welt verlassen. Der -> Tod 154

Kelten

Feste

bildet das Mittel, eine gewisse Zahl von Leben gegen neue Leben auszutauschen. Deshalb erscheinen unter den Kessel-Figuren auch die des Menschenfressers und die der -> Hündin des Okeanos, die die Menschen verschlingt, alles Darstellungen des Jenseits und auch des -* Meeres. Man sieht nicht nur Menschenopfer wiedergegeben, sondern auch die Opferung eines -> Stieres und als Ersatzopfer auch die Dar­ bietung von Feldfrüchten, da der Kessel auch zur Herstellung des rituellen -> Bieres diente, des Getränkes, das die bacchische Ekstase hervorrief in einem Kult, der es mit den Erstlingen der Ernte zu tun hatte (—► Erstlingskult). Im Laufe der Feierlichkeiten, die sich während des Festes ab­ wickeln, zeigt sich die Opferhandlung auch unter anderen Formen, als Spiele, Wettläufe, bei denen der Sieger zum Opfer wird, das sterben muß, gleichfalls ein agrarisches Opfer. Bei diesem Handel mit den Göttern ist auch das freiwillige Opfer, das von einem einzelnen dargebracht wird, um die Gemeinschaft zu retten, ein Menschenopfer; die irischen Erzählungen {-^-Epen, Mythi­ sche Erzählungen) haben diese devotio durch genaue Beispiele ver­ anschaulicht [Schlacht von Cüil Dreimne; Kampf zwischen den Leuten von Ossory und den Desi) [-+ Mythische Kriege). Die jüngsten Spuren von Menschenopfern finden sich bei den Gründungsopfern: Vortigern begießt auf den Rat der Druiden mit dem Blute eines Kindes die Stelle, an der eine Festung erbaut werden soll (Nennius, Hist. Br. in Farral III, 30—31), Cdlum Cille vollzieht den gleichen Ritus bei der Gründung der Abtei Iona (Reeves, Adamnäns Vita Columbae 203 —204) Unter diesen Menschenopfern wurde das der „Verehrung des Kopfes“ durch neuerliche Funde in den Heiligtümern der Rhönelandschaft verdeutlicht. In Entremont stellt die Vereinigung einer großen Zahl von Schädeln in einem Heiligtum im Zentrum der Stadt eine regelrechte Kraftreserve dar. Der abgeschnittene und mumifizierte Kopf oder seine Darstellung auf den Eingangshallen der Kultstätten (-> Heiligtümer), auf den Wällen der Oppida (die Bringasses in Beana; das Castelet in Fontvieille), auf den Werken der Goldschmiedekunst und den Münzen besitzt eine eschatologische Bedeutung (-> Jenseits), die die der Kriegstrophäe noch übertrifft und weit über das keltische Gebiet hinaus verbreitet ist.Wenn auch der Ritus mit dem Mythos zeit­ lich zusammenfällt, gibt dieser doch verschiedene Auffassungen wieder. Das irische -> Epos, für das die Schlacht (-> Mythische Kriege) eine Ernte von Köpfen darstellt, die man nach dem Kampf aufhäuft, erklärt diesen Akt näher. Indes kann diese Trophäen-Ernte obliga­ torisch und rituell sein: die „Schädeljagd“ ist eine Konsequenz aus der Weihe der in Altersklassen gruppierten jungen Männer. Wenn sie 155

Ikonographie

Kelten

einen Kopf erjagt haben, dürfen sie heiraten. Jedesmal, wenn ein junger Mann aus Ulster zum erstenmal in den Krieg zieht, muß er die Grenze von Connaught überschreiten und versuchen, einen Mann zu töten. Wenn er einen Menschenkopf mit zurückgebracht hat, hat er sich auf Kosten einer anderen gesellschaftlichen Gruppe die Hilfe eines Toten, eines Bürgen gesichert. Auf diese Weise hat z. B. -> C$chulainn nach Ablegen seiner Prüfung Emer heiraten können. Die Verknüpfung des Schädels mit der Darstellung des Kopfes ohne Mund — Abbild eines Menschen, der sein irdisches Leben, „wenn auch ohne die Fähigkeit der Sprache“ im -> Jenseits fortführt — in den provenzalischen -> Kultstätten läßt ferne Kontakte mit Dar­ stellungen erkennen, die vor der Ankunft der Kelten liegen, mit den -> Menhir-Statuen des südlichen Galliens und Liguriens. Vielleicht Trophäe, aber vor allem doch Bürge, führt die Verehrung des Kopfes zu der Bedeutung zurück, die Caesar (De bello Gallico VI, 16) dem Menschenopfer im keltischen Gebiet zulegte: dem Austausch eines Lebens gegen ein anderes. Bei den Statuen der Helden von Entremont entspricht die Handauflegung auf den Kopf des Enthaupteten einem Akt der devotio, Erinnerung an das Opfer, das bei diesem Ritual an erster Stelle bleibt, obgleich bei den Inselkelten eine Gewichts­ verschiebung von der Mythologie zur Magie stattfindet, wobei den durch den Druiden oder file vermittelten Formeln, Beschwörungen, sogar einfachen Gedichten eine immer größere Bedeutung zukommt.

Ikonographie

Bildliche Darstellungen von rein keltischen Göttern sind Verhältnis mäßig selten. Einige Symbole auf Metallgegenständen oder -> Steindenkmälern der La-Tène-Zeit seien hier angeführt: die Scheibe, die Spirale, die Swastika. Aber das alles sind Zeichen, die nicht spezifisch keltisch sind. Eine Stele aus dem Tal von Argens (F. Benoit, L’art primitif méditerranéen, Tafel IV, 30) zeigt eine Zusammenstellung der Swastika, einer -> Stute, ihres Füllens und eines zusammen­ gekauerten Vierfüßlers. Indessen besaßen die Kelten schon vor der römischen Eroberung der Provence Götterbilder. Im cisalpinischen Gallien, im Val Camonica, fand sich aus dem 4. Jahrh. vor unserer Zeitrechnung das älteste uns bekannte Bild eines Gottes und eines Tier-Dämons {-^-Dämonen} : der Gott mit dem Hirschgeweih (—> Cemunnos) und die gehörnte —> Schlange. Aufrecht stehend und bekleidet, am rechten Arm einen Ringreif (Torques), die Schlange am linken Arm, ist der Gott von einer kleinen nackten Figur begleitet, die die Arme in einer

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Selten

Ikonographie

Gebetsgeste erhebt. Man kann in diesen Darstellungen die Verbindung eines Gottes der —> Fruchtbarkeit mit einem Genius der menschlichen Zeugungskraft und einem chthonischen -> Dämon Erdgottheiten) er­ kennen (Phyllis Pray Bober, AJA 55 [1951], 14,18). Der Bogenschütze, der eine geringelte Schlange bekämpft (in Genicai, in den italienischen Alpen), stellt einen einheimischen Herakles dar, aber bereits unter dem Einfluß der griechischen Heldenmythen (-> Interpretatio Romana). Eine andere ikonographische Quelle bilden die figürlichen Dar­ stellungen auf keltischen Münzen des 3. bis 1. Jahrh. vor unserer Zeitrechnung und die Schmuckflächen des Kessels von -> Gundestrup (Jütland). DerVergleich der Münz-Figuren mit den Angaben des irischen ->Epos gestattet, sich den insular-mythischen Zug zu vergegenwärtigen: das Bild ist nicht die Illustration zum Mythos, sondern der Mythos ist der Kommentar zum Bilde. Die Abbildungen auf den Münzen der Armorika lassen Götter und Helden, Gestalten von „barocker“ Schön­ heit, Wiedererstehen : es sind Köpfe junger Leute, aus deren Schädel­ oder Stirnmitte ein Strahl bricht und denen Perlenschnüre mit kleinen abgehauenen Köpfen umgehängt sind; es sind Gestalten mit selt­ samen Verdrehungen, es ist ein Geistergespann, ein von einem Pferd mit Menschenkopf gezogener Wagen ; es ist auf einem Goldstater der Armorika eine nackte Prau mit langem, flatterndem Haar, die ein Schwert schwingt; sie veranschaulicht eine dieser blutrünstigen Mächte (Grenier 350—351, Fig. 6—7), die von der mythischen Phan­ tasie der Iren in weiblichen Gestalten verkörpert wurden (-^Göttinnen). Von dieser mythischen Welt entfaltet der Kessel von -> Gundestrup auf seinen Schmuckflächen eine zusammenfassende Darstellung. Auf dem Grunde des Gefäßes findet man die Gestalt des Gottes mit dem Hirschgeweih (->Cernunnos) wieder, der dort in der sogen. „Stellung des Buddha“ sitzt, mit der rechten Hand gerade den Ringreif er­ hebend, in der andern eine große —^Schlange mit Widderkopf haltend. Er scheint der Tierwelt zu befehlen ; Tiere, darunter ein -> Hirsch, umgeben ihn. Auf einer anderen Fläche begegnet der Gott mit dem -> Rade, bärtig, mit erhobenen Armen und mit der rechten Hand das Rad berührend, das ihm ein Krieger darbietet. Vielleicht kann man auf einem andern dieser Bilder die Darstellung des -> Tentâtes er­ kennen, und zwar in der Gestalt mit dem übergroßen Haupt, die den Kopf eines kleineren Menschen in einen Kübel eintaucht ( J. Gricourt, Latomus 13, 1954). Gesicherter erscheint der -*■ Kriegsgott auf dem Pfeiler von Mavilly (Côte d’Or) (E. Thévenot, Latomus 14, 1951), im kriegerischen Aufzug, ähnlich dem, den man auf den Münzen der Santones findet, mit Panzerhemd, langem Schwert und sechseckigem 157

Ikonographie

Kelten

Schild; ebenso wie auf dem heiligen Kessel ist er dort in Begleitung der Schlange mit dem Widderkopf; hinter ihm, auf dem Pfeiler, erhebt sich eine -> weibliche Gottheit, die ihre Hand auf einen Schild stützt. Das von den Gottheiten auf dem Kessel getragene eng an­ liegende, in der Taille durch einen Gürtel zusammengehaltene Gewand erscheint wieder auf der äußerst wichtigen Gruppe von Denkmälern, welche die in den keltischen Heiligtümern des unteren Rhönetals ge­ fundenen Bildwerke bieten. In diesem Gebiet, das längs der -> Herakleischen Straße liegt, hatten die Kelten versucht, die Persönlichkeiten ihrer Mythologie in figürlichen Darstellungen einzufangen, indem sie als Vorbilder die Plastik der Italiker benutzten. Wenn es also jemals ein Verbot (-> Kultgebote) der Darstellung von Göttern in mensch­ licher Gestalt gegeben hat, so war dieses Verbot schon lange vor der römischen Eroberung außer Kraft getreten, und Caesar stellt fest (De bello Gallico VI, 17, 7), daß es jenseits der Cevennen Statuen von Göttern gebe, unter denen die des —> Taranis am zahlreichsten anzutreffen seien.

Sehr oft macht das Fehlen von Attributen die Identifizierung der Persönlichkeit des Gottes unmöglich; so kann man z. B. bei einer Statue, die eine sitzende Person zeigt, nur aus der Tatsache, daß der Eisenstab, den sie in der Hand hält, zu einem Blitz gehört haben könnte, erweisen, daß es sich um einen Gott handelt. Doch kann sehr wohl in den Statuen der provenzalischen Heiligtümer die Darstellung dieser oder jener Gottheit gesucht werden. Einige tragen die -^Fackel, ein heiliges Ornament auf den gallo-römischen Denkmälern. Die Statuen von Roquepertuse, Entremont, Roc de Sers (Charente), Bouray (Seine-et-Oise), Quilly (Loire-Atlantique) lassen sitzende Per­ sonen erkennen, die Beine unter dem Körper gekreuzt, den Oberkörper aufgereckt und steif, die Hände auf die Oberschenkel oder auf den Kopf eines Enthaupteten gelegt. Keine Bewegung belebt diese gleich­ mütigen und weltentrückten Gestalten mit den harten, knochigen Gesichtern, deren eng in ein kriegerisches Gewand gezwängter Körper, im Lederwams mit metallischen Verzierungen von abschreckendem Charakter, in einer hieratischen Bewegungslosigkeit erstarrt ist. Alles wirkt zusammen, diesen Bildwerken einen sakralen Charakter zu geben; aber mehr noch als die Bilder von Gottheiten erkennt man in ihnen Darstellungen keltischer —> Helden. In der keltischen Ikonographie nehmen die Darstellungen der mythologischen Tierwelt einen bedeutenden Platz ein (-> Tiergestalt): der phantastische -> Vogel von Roquepertuse, das Ungeheuer von Noves, die ->Schlange mit dem Widderkopf, der -»■ Stier mit den -+drei Hörnern, die nach Menschen gierige —> Wolfs-{->)Hündin. Diese 158

Kelten

Fortleben

Bilderwelt, die zeitlich fast ganz mit der gallo-römischen Epoche zusammenfällt, gehört unmittelbar zur Mythologie der Kelten. Sowohl auf dem Kontinent wie auf den Inseln läßt eine Reihe von Reliefs typische Merkmale dieser Ikonographie erkennen: der pyra­ midenförmige Pfeiler von Sankt Goar (Deutschland) mit Köpfen, die einen fischblasenartigen Schmuck tragen und die Übertragung eines Hathor-Typus darstellen; der Pfeiler von Greuten (Deutsch­ land), ein echtes Xoanon (holzgeschnitztes Götterbild), geschmückt mit spiralförmigen Verzierungen; die heiligen Steine von Entremont, Kermaria, Turos, Castlestrange, deren Oberflächen mit KurvenVerzierungen bedeckt sind. Fortleben

Zur Zeit der römischen Eroberung hatten die einzelnen Götter der keltischen Mythologie schon Gestalt angenommen, mindestens in sich entsprechenden Formen, wie man ihnen jeweils an einer Mehrzahl von Orten des keltischen Raumes begegnet, wo sie vielleicht schon den (nicht- bzw. vorkeltischen) Lokalgottheiten angeglichen worden waren. Indem Caesar diese mythologischen Wesenheiten fünf großen Göttergestalten zuordnete, hielt er eine Phase der gallischen Religion fest. Als dann in gallo-römischer Zeit diese Götter in das religiöse System des römischen Reiches eingeordnet wurden, bedeckte ein einziger römischer Gott wiederum eine Gruppe von lokalen Gott­ heiten, deren Andenken in den Beinamen des neuen Gottes fortlebte (—> Interpretatio Romana). Eine Tabelle einiger Parallelen wurde neuerdings aufgestellt (Duval, 94; vgl. S. 160). Es stellt sich nun ein Problem: Entsprechen die diesen Göttern verliehenen einheimischen Epitheta Namen oder Beinamen? Mythi­ sche Namen spielen auf eine Eigenschaft oder Fähigkeit an; ortsgebundene bezeichnen ein Verbreitungsgebiet; Eponyme sind an eine lokale Besonderheit des Bodens gebunden. Wenn man aber an den unpersönlichen Charakter der Götterbilder (-> Ikono­ graphie) der großen gallischen Heiligtümer von Roquepertuse und Entremont denkt, ist man eher geneigt, hier einen in römischer Zeit verliehenen Beinamen zu erkennen, der gleichzeitig die Vielwertigkeit und die funktionelle Eigenart der Gottheit wiedergab (F. Benoit, Ogam, 1956, 89). Andererseits läßt sich bei einem Studium der Ver­ breitungskarten der Kulte einiges feststellen: Eine einzige göttliche Person, der Gott des Himmels, der —rluppiter angeglichen war, wurde in ganz Gallien verehrt — außer in Aquitanien, wo sich die keltischen

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Kelten

Fortleben

GALLIEN

IRLAND

Lugus, Gott der Künste

Lug Samildänach

Merkur

Brigit

Minerva

Schmiede-Gott

Goibniu

WALES

Gofannon

ROM

Vulkan

Jupiter

Taranis

Gwydyon

Dispater Pluto Silvanus

Sucellos

Dagda

Teutates Kriegsgottheiten Smertrios

Ogma u. Kriegerinnen

Mars Viktoria Herkules

Heilgötter

Dian Gécht

Apollo Äskulap

Wasser-Götter

Neptun

Jagd-Götter

Diana

Matres, Matronae

MutterGöttinnen

Amaethon

Ceres Terra Mater

Proxumae

Genius,Juno

Ortsgötter

Genius loci

160

Kelten

Fortleben

Kultureinflüsse wenig ausgewirkt hatten. Das mittlere Keltenland, die Belgien und die germanischen Provinzen blieben die große Domäne, wo unter römischer Maske die alten, einheimischen Götter (-> Ger­ nunnos, der -^-dreiköpfige Gott) herrschten. Das will indes keineswegs besagen, daß diese Gegenden, die stark vom Keltentum durchdrungen waren, das Monopol für das Fortleben der alten Gottheiten gehabt haben : So stark romanisierte Gebiete wie die Täler von Rhein und Rhône haben ebenfalls zahlreiche Denkmäler des einheimischen Kul­ tes zugesteuert. Es ist nicht immer leicht, die Voraussetzungen des Überganges vom keltischen zum gallo-römischen Mythus zu rekonstruieren. Die Gestalten des -> Sucellos und des -* Silvanus lassen sich jedoch zu einer solchen Untersuchung gut gebrauchen. Ihre Vereinigung ent­ sprang den Mythen der bäuerlichen Religion (-*-Agrargottheiten), wobei einfach die Attribute des einen zu den Attributen des anderen hinzu­ gefügt wurden. Bei der Formung des -> ikonographischen Typs des -> Hammergottes spielen der römische Einfluß und die römische Dar­ stellung des Silvanus eine wichtige Rolle, und es ist mehr als zufällig, daß sich die Verbreitungsgebiete des einen und des anderen Kultes gegenseitig decken. Aber die Vermengung der Bilder der beiden Götter allein würde nicht hinreichen, die Assimilierung zu sichern, wenn nicht beide weitgehende Ähnlichkeiten, einen nahen Verwandt­ schaftsgrad und fast gleichartige göttliche Funktionen aufwiesen. Die Gestalt des Sucellos ermöglicht in der Tat vielfältige Kombinationen. Seine Gleichstellung mit —> Herakles, mit —> Merkur, von dem er drei seiner Attribute entleiht, den -> Hahn, den Beutel, die Flügelschuhe, erhellt seinen chthonischen Charakter (-> Erdgottheiten). Als Gott der Toten (-> Totengötter) spielt Sucellos, -> Dispater, wie Merkur eine Rolle als Seelengeleiter (—> Seelenglauben) ; er ist auch einer der großen Spender der Güter der Erde, wobei sich die -^-Frucht­ barkeit der Felder aus derselben Quelle speist wie die Zeugungskraft der Menschen. Die große Entwicklung dieser göttlichen Wesen zum -> Anthropo­ morphismus ist dem griechisch-römischen Einfluß zu verdanken, aber die gallo-römischen Götter scheinen dem Menschentum näher zu sein als der Göttlichkeit; so sehr, scheint es, hat das Keltentum seinen alten und neuen Göttern die äußere Gestalt und die Bekleidung seiner eigenen Menschen gegeben. Keine Trennung besteht zwischen diesen Götterbildern und den männlichen und weiblichen Figuren in den Szenen des täglichen Lebens, wie sie so häufig auf den gallo-römischen Skulpturen wiederkehren (-> Ikonographie). Aber dafür sind hier jene Szenen selten, in denen man Episoden aus den Göttersagen wieder­ erkennen kann ; so sehr sind jene Gestalten jeder mythischen Substanz

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Fortleben

Kelten

bar. Im Gegensatz zu dem, was im Inselkeltentum gilt, sind die gallorömischen Götter, die niemals einen festen Standort haben, geschichts­ los. Daher rührt auch ihre Vertrautheit mit dem Menschlichen, dessen Gesundheit und Wohlstand sie in dieser irdischen Welt sicherstellen. In Wahrheit gibt es keinen Bruch zwischen dem keltischen -^-Pantheon und dem gallo-römischen Pantheon — alle beide sind Ausdruck eines realistischen Volkes, das seine Götter nach seinen eigenen Maßstäben erdacht und sie dann in Bildern dargestellt hat, die dem klassischen Ideal sehr fern stehen. Das keltische Pantheon war ein Friedhof, und diese Todes-Mythologie lebt nach der Eroberung fort. Die GalloRömer haben den Hang zum -> Tod, beibehalten und haben mit Vor­ liebe Szenen aus dem —> Jenseits, Unterweltsgötter, sogar den Tod in Person (—> Anthropomorphismus) dargestellt. In der Schaffung einer sagenhaften Tierwelt, wo sich Götter, Menschen und Tiere (—> Cernun­ nos-, der Oott mit dem Hirschohr) vermischen (-> Tiergestalt), findet sich wieder die Tendenz zur Abstraktion, zu phantastischen Vor­ stellungen, welche die göttlichen Gestalten absichtlich mit irrealen Zügen schmücken. Dieser gallo-römische Polytheismus, in welchem Götter und —> Dämonen sich vermengen, ebenso die Welt der ->Feen und der Fabelwesen im insularen Keltentum sind eng mit dem Leben des Menschen verbunden. Dieser üppige Bestand an Mythischem und Mythologien wird später das Haupthindernis sein, gegen welches das Christentum im Verlauf seiner Ausbreitung über das insulare und kontinentale Keltentum zu kämpfen hat (-+Christliche Überlieferung). Die hagiographischen Schriften sind voll von Erzählungen über die Kämpfe, die von den großen Aposteln Galliens, Martin von Tours an der Spitze, geführt wurden gegen die großen Götter ebenso wie gegen jenes Gewimmel von -> Baum-, —> Brunnen- und —> Stein­ kulten. Ihren letzten Ausdruck findet diese Mythologie, wenn auch nur vereinzelt, in der Skulptur des Mittelalters (—> Ikonographie), auf dem Kontinent wie auf den britannischen Inseln: —> Epona auf den Kapitellen von Saint Benoit-sur-Loire, von Saint-Bertrand-de-Comminges, auf dem schottischen Kreuz von Hilton of Cadboll; -> Cernun­ nos auf dem irischen Kreuz von Clonmacnoise und auf dem Kapitell der Kathedrale von Parma. Die —> Schlange mit dem Widderkopf, in zahlreichen Handschriften abgebildet, der schlangenschwänzige Mann von Brioude, die dreiköpfigen (-> DreizahT, Polykephalie) Gestalten der Dreifaltigkeitskirche in Caen und die menschenfressenden Un­ geheuer sind nichts anderes als verspätete Motive, die ihrer religiösen Grundsubstanz entleert sind; sie gehören nicht mehr zur Mythologie, sondern zum Bereich der Folklore. 162

Tafel I

Kelten

1

2

Tafel II

Kelten

3

4

Kelten

Tafel III

Kelten

Tafel IV

8

MYTHOLOGIE DER ALTEN SLAVEN VON

NORBERT REITER

Ich nehme hier Gelegenheit

meinem verstorbenen, hochverehrten Lehrer

PROF. DR. VASMER

für seine Hilfe zu diesem Beitrag zu danken

A. Geschichtlicher Überblick

Auch die älteste Erwähnung der Slaven stammt noch aus dem 1. und 2. Jahrh. n. Chr. Der 79 n.Chr. gestorbene ältere Plinius kennt bereits die Slaven unter der Bezeichnung Venedi (Wenden). Er kennt sie als Nachbarn der iranischen Sarmaten und der germanischen Skiren. Auch Tacitus in seiner „Germania“ sind die Slaven unter dem Namen Venedi bekannt. Im Gegensatz zu den älteren Er­ wähnungen bei Plinius und Tacitus, die sich auf die slavischen Stämme in der Nachbarschaft der Germanen beziehen, nennen die jüngeren Nachrichten aus dem 6. und 7. Jahrh. n. Chr. die Slaven vor allem im Gebiet der mittleren und unteren Donau. Besonders über die slavischen Stämme an der unteren Donau, dem Gebiet der rumänischen Walachei, sind wir durch die byzantinischen Autoren recht gut unterrichtet. So kennen wir in der Walachei die von den Byzantinern als Slavenen bezeichnete Stammesgruppe, während in dem Raum zwischen Dnjepr und Dnjestr ein anderer slavischer Stamm, die sogenannten Anten, Wohnsitze besaß. Während der Name der Slavenen zweifellos auf ein slavisches Wort zurückgeht, ist bei den Anten eine iranische Herkunft des Volksnamens sehr wahrschein­ lich. In dieser Zeit, dem 5., 6. und 7. Jahrh., standen die slavischen Stämme neben germanischen Stämmen auch in enger Verbindung zu prototürkischen Völkern, den sogenannten Hunnen. In der Tat hat das Slavische eine ganze Reihe von Bezeichnungen von diesen tür­ kischen Völkern übernommen. Es sei hervorgehoben, daß die Be­ zeichnung strava für Leichenmahl, die schon in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts für die Leichenfeier des hunnischen Khans Attila gebraucht wird, ein slavisches Wort wiedergibt, das in der gleichen Form und Bedeutung auch im Altpolnischen erhalten ist. Das 6. Jahrh. bringt slavische Einfälle nach Mazedonien und in die Balkan-Halbinsel. Wenig später, um 600, scheint es schon zu einer Landnahme gekommen zu sein. Sie mag für Mazedonien und den Peloponnes ungefähr gleichzeitig gewesen sein. Auf dem Peloponnes haben sich die slavischen Stämme noch bis in die ersten Jahrhunderte der türkischen Herrschaft hinein halten können. Wir hören von den sogenannten Milengi im spartanischen Gebirgsland. Für die weitere Ausbreitung der Slaven nach dem Westen war aber der Einbruch eines anderen prototürkischen Volkes von großer Bedeutung; es

li»

165

Einleitung

Slaven

waren die Awaren. In Verbindung mit den Awaren gelang es den Slaven, in der Dobrudscha, in der ungarischen Tiefebene, aber auch in dem Gebiet östlich der Elbe Fuß zu fassen. Im 6. und 7. Jahrh. kam es zu einer slavischen Landnahme sowohl an der dalmatinischen Küste wie auch im Gebiet des heutigen Kärnten. Der Name Kärnten erinnert an die alte Bezeichnung des slavischen Stammes der Karentaner. Im russischen Raum gelang es den Slaven, die in Nordrußland beheimateten Finnen allmählich immer weiter nach Norden zu drän­ gen und damit die wichtige Verkehrsstraße zwischen Ostsee und Schwarzem Meer ganz in ihre Hand zu bekommen. Auch bei den Slaven wird das Mythengut nur zum geringsten Teil von literarischen Quellen überliefert. Vieles muß erst aus den Be­ richten über Volksbräuche wiedergewonnen werden. Wichtig ist, daß ein großer Teil der russischen Bevölkerung das Christentum zwar annahm, aber daneben noch den alten heidnischen Glauben bei­ behalten hat. Hierdurch war es möglich, daß Teile der alten slavischen Mythologie auch noch in christlicher Zeit bekannt waren und all­ mählich in das Volkstum übergegangen sind. Es scheint so, daß sich im nordrussischen Raum, der der Christianisierung weit weniger zu­ gänglich war als das Gebiet der südlichen Russen, heidnische Vor­ stellungen und damit auch die alten Mythen viel länger erhalten haben als im Süden. Für die Einteilung der Slaven sind drei Hauptgruppen zu unter­ scheiden: die Südslaven, die Westslaven und die Ostslaven. Zu den Südslaven gehören Bulgaren, Serbo-Kroaten und Slavenen und die untergegangenen slavischen Stämme auf dem Peloponnes. Als Teil der Westslaven sind einmal die Tschechen, Slowaken und Polen und zum andern die untergegangenen Stämme der Elb- und OstseeSlaven sowie der Mainslaven anzusehen. Zu den Ostslaven gehören die Gruppen der sogenannten Großrussen, der Kleinrussen (Ukrainer) und der Weißrussen. Alle drei unterscheiden sich durch Besonder­ heiten des Dialektes und ein eigenes Volkstum. Für die Christianisierung der Slaven ist es von Bedeutung, daß zu­ erst bei den Südslaven, und hier von den Bulgaren, das Christentum angenommen wurde. Es war in der Mitte des 9. Jahrh. Erst dann, fast ein Jahrh. später, setzt die Christianisierung der Ostslaven ein. Eine wichtige Station auf dem Wege zur Christianisierung war hier der Übertritt des Großfürsten von Kiev, Vladimir des Heiligen, in Cherson zum griechisch-orthodoxen Christentum. Zuletzt haben die westslavischen Stämme das Christentum angenommen; am frühesten die Tschechen im 10. Jahrh., während die heute untergegangenen Stämme der Elbslaven erst im 12. Jahrh. endgültig zum Christentum übergetreten sind. 166

Slaven

Einleitung

Die Nachrichten über Brauchtum, Religion und Mythen der Slaven stammen fast ausschließlich von den Nachbarvölkern. Im 6. und 7. Jahrh. waren es besonders für die Südslaven byzantinische Autoren, im 10., 11. und 12. Jahrh. für die Westslaven deutsche, lateinisch geschriebene Geschichtsquellen. Erst verhältnismäßig spät, im 11. Jahrh., setzt im Raum von Kiev unter Förderung der russischen Großfürsten in Gestalt der Nestorchronik eine eigene slavische Ge­ schichtsschreibung ein. Neben dieser offiziellen Geschichtsschreibung ist es aber auch hier im russischen Raum vor allem das in den Volksbräuchen und Orts­ namen Überlieferte, das uns Rückschlüsse über die alten Mythen der Slaven gewährt. Die russischen Volkslieder Bylinen kommen hier ab späte Quellen nur sehr bedingt in Frage. Die große Masse alles dessen, was wir an Nachrichten über die Mythologie der slavischen Völker besitzen, stammt von den Ostslaven. Über die Mythen der Westslaven und Südslaven besitzen wir nur in sehr geringem Maße Nachrichten. [H. W. Haussig] B. Zur slavischen Mythologie

Über die slavische Mythologie ist man wegen der Spärlichkeit der zur Verfügung stehenden Quellen nur sehr ungenau orientiert. Die Archäologie gibt wenig her, die Volkskunde ebenso, es sei denn, daß sie in einigen Fällen das vorhandene Material ergänzt (->Svarozic; Mokos). In der Hauptsache ist man auf schriftliche Zeug­ nisse angewiesen, deren Aussagen über die slavische Götterwelt je­ doch kritisch zu werten sind. Die wichtigsten Quellen stammen aus Rußland (sog. Nestorchronik in verschiedenen Fassungen, Predigten und das Igorlied), aus Deutschland (Chronik des Thietmar v. Merse­ burg, die Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum des Adam v. Bremen, die Cronica Slavorum des Helmold sowie die Biographen des Otto v. Bamberg, nämlich Monachus Prieflingensis, Ebo, Herbord), aus Dänemark (Gesta Danorum des Saxo Grammaticus) und aus Island (Knytlingasaga). Die Angaben des Prokopius v. Caesarea, De bello Gothico III, 14, sind zu unbestimmt (Brückner, AslPh 40 [1926], 1—22, läßt ihn überhaupt nicht gelten), die der Araber (Ibn Fadlän, Mas’ üdi u.a.) unglaubwürdig, weil zu phantastisch. Auch derHudüd al-’Älam vermag zur Lösung des Problems nichts beizutragen. Die genauesten Mitteilungen machen die westlichen Quellen, deren Schrei­ ber vielfach selbst mit dem noch im 12. Jahrh. in Blüte stehenden Heidentum der Ostseeslaven in Berührung kamen; doch muß bei Wertung ihrer Aussagen die geistige Haltung eines christlichen

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Einleitung

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Schreibers des Mittelalters berücksichtigt werden, aus der heraus er seinen Bericht verfaßte. Die Folge war eine in antike Formen ge­ preßte, summarische Darstellung der heidnischen Welt (Interpretatio Romana, I. christiana). Darum ist überall Vorsicht am Platze, wo von Menschenopfern, goldverzierten Götterbildern und reich ge­ schmückten Tempeln die Rede ist. Für die Chronisten Rußlands gilt das gleiche. Sie schrieben zu einer Zeit, da die slavischen Götter (nach der Taufe des Fürsten Vladimir, Ende des 10. Jahrh.) längst ent­ thront waren. Wo sie die alten Götter erwähnen, geschah es in der Absicht, das Christentum gegenüber den Greueln der Heiden ins ge­ bührende Licht zu rücken. Demselben Zweck dienten die Predigten des späten Mittelalters ; sofern alte Slavengötter in ihnen auftauchen, stammen sie aus früheren Quellen und sind der antiken Mythologie angepaßt. Mit Sicherheit darf angenommen werden, daß die slavische Religion eine den Bedürfnissen des Ackerbauern angemessene Naturreligion war (->Lit. Eint). Es wird berichtet, daß Quellen (—>Lit. Vanduö, Kelt. Quellgottheiten; Finn. Wassergeist; Ung. Aldö-küt), Gewässer, heilige Haine und Bäume (->Lit. Médis; Kelt. Baum; Finn. Heilige Bäume; Ung. Aldö-küt) angebetet wurden; ob man diese aber personifiziert oder als Sitz eines Gottes angesehen hat, läßt sich trotz zahlreicher Zeugnisse mit Sicherheit nicht ausmachen, da man von den wenigen Göttern, die man meistens nur dem Namen nach kennt, kaum weiß, welche Bedeutung ihnen zukam, ob sie von anderen Völkern herstammen, wie man, noch wo man sie verehrte. Die Frage ihrer geographischen Verbreitung versucht man durch etymologische Analyse von Orts- und Personennamen zu beantworten. Auf Grund des vorhandenen Materials kann man in der slavischen Mythologie zwei Kreise annehmen, den ostslavischen (Rußland) und den ostseeslavischen (Pommern, Mecklenburg). Welcher Art die Hei­ dengötter der Polen, Tschechen, Serben und Bulgaren waren, läßt sich nicht ermitteln, da bei ihnen über die Götter schriftliche Zeug­ nisse fehlen. Es ist nach den vorliegenden Meldungen anzunehmen, daß die in Ostdeutschland ansässigen Slaven, welche ein beachtliches kulturelles Niveau erreichten, auch einen dementsprechend verfei­ nerten Kult ausgebildet haben, der in Tempelbauten, einer gut organisierten Priesterkaste und einem festgelegten Ritual seinen Aus­ druck fand. Zudem hat das Heidentum als eine Art slavischer National­ religion auch den politischen Bestand der Slavenstämme gegenüber der Ausdehnungspolitik christlicher Staaten zu behaupten gehabt. Glaubt man den Quellen, so haben die Slaven ihre Götter bildlich dar­ gestellt (Wienecke bestreitet das). Funde von angeblichen Slavengötzen, z. B. der sogen. -> Svantevit von Altenkirchen, der Stein­ säule aus dem Flusse Zbruez, erweisen sich als profan oder nicht168

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slavisch. Russische Götterbilder werden in der sog. Nestorchronik erwähnt. Die Dürftigkeit der slavischen Götterwelt hat polnische Chronisten des 16. und 17. Jahrhs. (Dlugosz, Maciej v. Miechöw, Stryjkowski, Kromer u. a.) bewogen, den slavischen Olymp nach antikem Vorbild aufzufüllen. A. Brückner, Mitologja polska, hat nachgewiesen, daß diese „Götter“ nicht echt sind. Auch der in jüngster Zeit von Machek unternommene Versuch, das slavische Pantheon in Anlehnung an die ai. Mythologie zu rekonstruieren und die ai. Namen dafür in Anspruch zu nehmen, beruht auf reiner Spekulation (vgl. hierzu die Einwände von B. Unbegaun und M. Vasmer, EW I, 221 und II, 586). Von einem Dualismus in der Art belbog „weißer Gott“ und cemobog „schwarzer Gott“ kann bei den Slaven nicht die Rede sein (hierzu L. Sadnik, W. Nehring). Der Versuch Peiskers, an Hand der Toponymie einen Dualismus nachzuweisen, ist von A Brückner, Slavia 8, 340—351, als unsinnig abgelehnt worden. Die slavischen Götter waren gut und böse zugleich, je nachdem, wie sich der an sie glaubende Mensch zu ihnen verhielt. C. Zur slavischen Dämonologie

Die Umwelt des Slaven ist mit einer Fülle von Dämonen bevölkert. Es sind bis auf wenige Ausnahmen die Geister der Abgeschiedenen, die unter den Lebenden weilen, ihnen Gutes oder Böses antun, je nachdem, wie das Verhältnis des Verstorbenen zu seinen Mitmenschen war. Die auf natürliche Weise Gestorbenen, d.h. solche, die die ihnen bestimmte Lebensdauer erfüllt haben, verhalten sich, sofern sie zu Lebzeiten keine Missetäter waren, den Menschen, ihren Angehörigen gegenüber freundlich. Anders ist es bei jenen, die vorzeitig, sei es durch Unfall, Mord oder Selbstmord, zu Tode gekommen sind. Sie finden im Grabe keine Ruhe, solange nicht ihre Zeit erfüllt ist. An den Lebenden versuchen sie sich für die ihnen zugefügte Unbill zu rächen. Riesen und Zwerge, wie sie z.B. bei den Germanen auftreten (—>Germ. Riesen; Zwerge), spielen bei den Slaven überhaupt keine Rolle, wo sie erscheinen, wie bei den Slovenen und Kaschuben, sind sie von den Deutschen übernommen. Auch bei anderen Dämonen sind deutsche Einflüsse unverkennbar, so z.B. beim -> Wassermann, der —>Mahr und dem Schrat (-> Hauskobold). Die slavische Dämonologie ist nicht einheitlich. Wie in sprachlicher, so kann man, natürlich mit gewissen Vorbehalten, auch in dämonologischer Hinsicht zwischen Ost-, West- u. Südslaven unterscheiden. Auch die Terminologie ist nicht einheitlich. Die Bezeichnungen decken sich nicht. Ferner ist 169

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festzuhalten, daß die Vorstellungsinhalte ineinander übergehen, d. h. daß die Grenzen zwischen einzelnen Dämonen fließend sind. Die slavische Geisterwelt, so wie sie hier beschrieben wird, mochte vor etwa fünfzig Jahren noch lebendig gewesen sein, heute ist sie infolge der Technisierung und des gesellschaftlichen Strukturwandels in den Ostblock-Ländern weitgehend geschwunden. Anklänge an sie haben sich nur in gewissen Volksbräuchen gehalten, ohne daß damit eine konkrete Vorstellung verbunden wäre. Auch im Sagengut sind die alten Geister noch lebendig. Vom Christentum sind die slavischen Dämonen im großen und ganzen verschont geblieben. Da und dort hat sich der Geisterglaube zwar christlichen Vorstellungen assimiliert, doch haben sich die Dämonen, eben weil sie ein so fester Bestandteil des Volksglaubens waren, dem Christentum gegenüber viel widerstandsfähiger gezeigt als die alten Heidengötter, deren Schicksal schon im 13. Jahrh. als besiegelt gelten kann.

D. Quellen Die Nachrichten über die slavische Götterverehrung umfassen einen Zeitraum von schätzungsweise 600 Jahren. Wegen der z.T. heute noch nicht feststehenden Datierung gewisser russischer Quellen, deren Ab­ schriften aus dem 14.—16. Jahrh. stammen, läßt sich die zeitlich jüngste Grenze nicht festlegen. Die Quellen, auf die sich die Angaben über die slavischen Heiden­ götter stützen, sind im wesentlichen folgende: Prokopios von Caesarea (gest. um 562 n. Chr.): Procopii Caesariensis opera omnia, rec. J. Haury, Vol. I, De bellis libri V—VIII (Leipzig 1905); speziell: De bello Gothico III, 14, 353—359.

Russische Quellen: Lavrent’evskaja letopis’, Polnoje Sobranije Russkich Letopisej, I, 2. Aufl. (Leningrad 1926—1928). — Ipat’evskaja letopis’, Polnoje Sobranije Russkich Lßtopisej, II, 2. Aufl. (St. Petersburg 1908) (um 1425). — Novgorodskaja pervaja letopis’, Polnoje Sobranije Russ­ kich Letopisej (St. Petersburg 1841). — Slovo o Polku Igoreve, ed. V. P. Adrianova-Peretc (Moskau-Leningrad 1950). — Slovo nekoego christoljubca i revnitelja po pravoj vere, ed. F. Buslaev, in: Istoriceskaja Christomatija cerkovno-slavjanskago i drevne-russkago jazykova (Moskau 1861), 519—525 (nach der Pajsijevschen Abschrift). — Slovo sv. otca naäego Ioanna Zlatoustago . . . (eine russ. Kompilation von Predigten verschiedener Autoren, u. a. auch des Ioannes Chrysostomos), ed. N. S. Tichonravov, Letopisi russkoj 170

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literatury i drevnosti, IV (Moskau 1862), 107. — Slovo i otkrovenije svjatycha apóstola (eine Belehrung, Abschrift aus dem 16. Jahrh.), ed. N. S. Tichonravov, Létopisi russkoj literatury i drevnosti, III, 2 (Moskau 1859—1860), 5ff. — Slovo sv. Grigor’ja . . . (Russ. Er­ läuterungen zur Epiphanienpredigt des Gregor von Nazianz, nach der Pajsijevschen Abschrift aus dem 14. Jahrh.), ed. P. Buslaev, Istoriceskaja Christomatija cerkovno-slavjanskago i drevne-russkago jazykova (Moskau 1861), 528—530. — Chozdenije Bogorodicy po mukama (eine asl. Übersetzung eines griech. Originals nach der Abschrift des Troickij-Klosters aus dem 12. Jahrh.), ed. N. S. Ti­ chonravov, Pamjatniki otrecennoj, russkoj literatury, Bd. II (St. Petersburg 1863), 23—29. — Povest’ Vremennykh Let (Nestor­ chronik), ed. V.P. Adrianova—Peretc I/II (Moskau—Leningrad 1950).

Lateinisch geschriebene Quellen aus Deutschland und Dänemark: Thietmar von Merseburg, Chronicon, ed. R. Holtzmann, MG SS. rer. Germ. N. S. 9 (Berlin 1935). — Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, 3. Aufl., ed. B. Schmeidler, MG SS. rer. Germ, in usum scholarum (Hannover-Leipzig 1917). — Helmold von Bosau, Crónica Slavorum, 2. Aufl., ed. B. Schmeidler (Hannover 1909). — Vita Ottonis auctore monacho Prufeningensi, ed. R. Koepke, MG SS. 12 (1856), 883—903. — Herbordi Dialogus de vita Ottonis episcopi Babenbergensis, ed. R. Koepke, MG SS. 20 (1868), 697—769. — Vita Ottonis auctore Ebone monacho montis S. Michaelis, ed. R. Koepke, MG SS. 12 (1856), 822—883. — Saxonis Grammatici Gesta Danorum, ed. A. Holder (Straßburg 1886). Nordische Quellen: Ex historia regum Danorum dicta Knytlingasaga (ca. 950—1185), ed. F. Jónsson, MG SS. 29 (1892), 271—322. — Snorri Sturluson, Heimskringla, ed. E. Monsen New York 1932).

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Slaven und Litauer, in: Lehrbuch der Religionsgeschichte von Ch. de la Saussaye, II (Tübingen 1925), 506—539. — Ders., Mythologische Thesen, in: AslPh 40 (1926), 1—22. — Ders., Fantazje mitologiczne, in: Slavia 8 (1929—1930), 340—351. — Ders., Slownik etymologiczny jgzyka polskiego, 2. Aull. (Warschau 1957). — E. Dicken­ mann, Serbokroatisch Dabog, in: ZslPh 20 (1950), 323 bis 346. — L. Franz, Falsche Slavengötter (Brünn 1943). — F. Haase, Volksglaube und Brauchtum der Ostslaven, in: Wort und Brauch 26 (Breslau 1939) . — Holub-Kopecny, Etymologicky slovnik jazyka cesköho (Prag (1952). — J. Ivanov, Kul’t Peruna u juznych slavjan, in: Izv. 8, 4 (1903), 140—174. — V. Jagic, Mythologische Skizzen I, Svarog und Svarozic, in: AslPh 4 (1880), 412—427; Mythologische Skizzen II, Dazd&bog, Dazbog—Dabog, in: AslPh 5 (1881), 1—14. — Ders., Zur slavischen Mythologie, in: AslPh 37 (1920), 492—511. — R. Jakobson, in: Funk and Wagnalls Standard Dictionary of Folklore, II, 1025— 1028. — F. S. Krauss, Slavische Volksforschungen. Abhandlungen über Glauben, Gewohnheitsrechte, Sitten, Bräuche und die Guslarenlieder der Südslaven, vorwiegend auf Grund eigener Erhebungen (Leipzig 1908). — V. Machek, Essai comparatif sur la mythologie slave, in: RES123 (1947), 48—65.— Ders., Etymologicky slovnik jazyka cesköho a slovensköho (Prag 1957). — V. J. Mansikka, Die Religion der Ost­ slaven I, Quellen (Helsinki 1922) (FFC 43). — K.-H. Meyer, Fontes historiae religionis slavicae (Berlin 1931). — K. Moszynski, Kultura ludowa Slowian, II1 (Krakau 1934). — W. Nehring, Der Name belbog in der slavischen Mythologie, in: AslPh 25 (1903), 66—73. — L. Niederle, Zivot starych Slovanü. Zäklady kulturnich starozitnosti slovanskych, II1 (Prag 1916). — Ders., Un travail nouveau sur la mythologie russe, in: RES1 3 (1923), 115—120. — T. Palm, Wendische Kultstätten, Diss. (Lund 1937). — J. Ruzicka, Slawische Mythologie (Olmütz 1907). — St. Rozniecki, Perun und Thor, in: AslPh 23 (1901), 462—520. — L. Sadnik, Die Religion der Slaven, in: Christus und die Religionen der Erde, Handbuch der Religionsgeschichte, hrsg. von Franz König, II (Freiburg 1951), 367—379. — A. Schmaus, Zur altslavischen Religionsgeschichte, in: Saeculum 4 (1953), 206—230. — E. Schneeweis, Grundriß des Volksglaubens und Volksbrauchs der Serbokroaten (Celje 1935). — B. Unbegaun, L’ancienne religion des Slaves de la Baltique, in: RHPhR 26, 3-4 (1946), 211-235. - St.Urbanczyk, Religia poganskich Slowian, Biblioteka Stud. Slow. Uniwersytetu Jagielonskiego, Serie B, Nr. 6 (Warschau 1947). — M.Vasmer, Russisches etymologisches Wörterbuch, I—III (Heidelberg 1953 bis 1958). — E. Wienecke, Untersuchungen zur Religion der West­ slaven, Forschungen zur Vor- und Frühgeschichte 1 (Leipzig 1940) . -

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Slaven

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F. Erklärung der Aussprache slavischer Laute

a nasaliertes on, wie in frz. pont c wie dt. tz c, cz wie dt. tsch c etwa wie dt. tch d etwa wie dt. dj g nasaliertes än, wie in frz. pain h etwa wie dt. ch l unsilbisches u, etwa wie engl, w n erweichtes n, vergleichbar einer Kombination von n + j d wie dt. u p nasaliertes on, wie in frz. pont f Kombination von r + sch rz wie frz. ge s wie dt. ss s erweichtes s S, sz wie dt. sch m wie dt. langes u v wie dt. w z wie dt. s in Rose z weiches, stimmhaftes s z, z wie frz. ge ’ ist Umschrift für kyrill. b in russ. Wörtern, das heute nicht mehr gesprochen wird, dafür aber den vorausgehenden Konsonanten erweicht. b, b in asl. Formen sind nach i bzw. y hin tendierende Murmel­ vokale. Ebenso b in bulg. Wörtern, auf tschech. oder slovak. Wörtern zeigt die Länge an.

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Daihbog

Ahnenkult —> Totenglauben.

Astrale Gottheiten -> Sonnengott.

Baumgottheiten -> Einl. Bereginja -> Rusalka.

Boginki, Bohyni -> Waldgeister.

Borovit, Borowiec, Borowy, Boruta -> Waldgeister. Brodarice -> Vila.

Chobold -> Hauskobold. Chors, Ch'Brs'B, Chr'ts'B, ChrosT,, Churs'b, Chcrst, Gott des osl. Kreises, wahrscheinlich Sonnengott (—> Dazbbog, Svarog). Etymologie un­ klar. Erklärungen aus dem Iran, befriedigen nicht (M. Vasmer, EW III, 265).

C. ist bekannt aus der sog. Nestorchronik s. a. 980, dem apokryphen Chozdenije Bogorodicy po mukamb, dem Slovo i otkrovenije sv. apostola, der Beseda trechb svatitelej und dem Igorlied, woselbst es heißt, daß Vseslav auf dem Wege von Kiev nach Tmutorokan’ in eiligem Lauf den großen C. (anscheinend die Sonne) überholte. C. könnte aus dem Süden übernommen worden sein. Dafür spricht der aserb. PN Chr&sb, das gemeinsame Auftreten mit —> Trojan (Igorlied, Chozdenije, Slovo i otkrovenije), sein Beiname „zidovnik“ „der jüdische“. Ursprünglich slav. ist er wahrscheinlich nicht (gegen Brückner SL), trotz des aserb. PN; auch Trojan hat sich bei den Sdsl. eingebürgert. -> Lit. Säule. -> Kelt. Sonne.

Germ. Sonne.

Chozjain -> Hausgeist. Christliche Einflüsse Einl. A.; Dazbbog; Hausgeist; Hauskobolde; Mokos; Navi; Perun; Svantevit; Svarog; Veles; Vila; Waldgeister; Wassermann. Lit. Teuflische Götter. -> Kelt. Christliche Überlieferung. -> Pinn. Christ­ liche Einflüsse. -> Ung. Christliche Tradition. -> Germ. Christliche Einflüsse.

Cikavec -> Hauskobold. Certovki -> Waldgeister.

Dazbbog, DaäSdtbog, Dabog (sdsl.), Sonnengott. Der erste Teil des Namens, dazb, alter Imperativ zum Verbum dati „geben“, der 175

Damavik

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zweite, bog, entweder mit der Bedeutung „Glück, Wohlstand, Reichtum“, vgl. russ. bogatyj „reich“, u-bogij „arm“ (so nach M. Vasmer, EWI, 326) oder das selbständige bog „Gott“ (nach Jagic II). Zur Form Dabog vgl. Dickenmann und Jagic II. Je nach etym. Deutung wäre der Name mit „gib Reichtum!“ hzw. mit „Gott, gib!“ zu übersetzen (das erstere verdient den Vorzug). Dazbbog belegt in der Hypatiuschronik s. a. 1114, als Glosse in einem ins Russ. übersetzten Text des Malalas, wo er als Helios und Sohn des Hephaistos (-> Svarog) ausgegeben wird. Dieser Stelle ist entgegen Mansikka, 66—75; 396f. Glauben zu schenken (was Helios-D. betrifft, nicht dagegen, was das Verhältnis Svarog-D. an­ langt). Dem Glossator muß D. bekannt gewesen sein, und er muß dasselbe auch von seinen Lesern vorausgesetzt haben, sonst hätte er die Glosse nicht eingesetzt. D. ist frühzeitig Beiname des Svarozic und hat dessen Funktion als Sonnengott übernommen, darum auch nur Erwähnung des D. unter den in Kiev aufgestellten Götter­ statuen (sog. Nestorchronik s. a. 980). Ein Beleg aus dem Igorlied, wo davon die Rede ist, daß „D.s Enkel“, d. i. das russ. Volk, durch die Fürstenstreitigkeiten zugrunde gerichtet werden, läßt die Bedeu­ tung des Gottes für die Russen erkennen. Der Dabog der serb. Sage (Jagic II, 11 f.) ist ein Gottvater ebenbürtiger Erdenherrscher, worin die dualistische Auffassung der Bogomilen zum Ausdruck kommt (Jagic II und Dickenmann, 344, Anm. 1). Wichtig hier der Nachweis des Gottes bei den Sdsl., bei denen sonst Spuren sl. Götter kaum vorhanden sind. Das spricht für die Annahme, daß Dazbbog den —>Svarozie verdrängt und sich in seiner Eigenschaft als Sonnen­ gott, der der bedeutendste aller sl. Götter war (—>Perun; Svarog), länger als die anderen Gottheiten behaupten konnte, bis er unter —> christlichem Einfluß die Rolle des Satanaei übernahm (—► Vampir; Veles). Die Identifizierung des Dazbbog mit -> Chbrs wegen Lauren­ tiuschronik s. a. 980, Ghbrsa Dazbboga (gen.; Bindewort i „und“ fehlt) nach Jagic II ist problematisch. D. bekannt auch bei den Polen: PN in alten Urkunden, Daczbog (1345), Dasbogouicz (1411) (Jagic, AslPh 8, 665). Weitere poln. PN bei Brückner MP, 34. -> Götterbilder. -> Lit. Säule. -> Kelt. Ikonographie; Sonne. -> Germ. Sonne.

Damavik -> Hausgeist. DeduSka -> Hausgeist.

Dinggestaltige Dämonen -> Mahr; Vampir.

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Geburtsfeen

Diva -> Vila.

Dobrochot —> Hausgeist. Domovoj, Domovoj ded, Domovyk -> Hausgeist. Donnergott -> Perun.

Drachen -> Hauskobolde; Veles; Wassermann. Erdbeherrscher

Dazbbog.

Falke ->• Vila.

Falter

Mahr.

Feen -> Geburtsfeen; Hexen; Mittagsfrau; Rusalka; Vila; Wald­ geister; Wassermann. -* Lit. Feen. -> Kelt. Feen. -> Ung. Baba.

Feldgottheiten -> Svantevit.

Feuer -> Hauskobolde; Svarog.

Fisch -> Wassermann.

Fruchtbarkeitsgötter -> Mokos; Perun. Geburtsfeen, tschech. sudicka, slov. sojenica, skr. sudenica zu asl. spditi „urteilen“, vgl. skr. sudbina, russ. sud’ba „Schicksal“; bulg. narecnica zu naricam „ich nenne, bestimme“, urisnica zu urisvam „ich weissage“; ferner slov. rojenica, skr. rodenica, aruss. rozanica, rozdenica, rod (Slovo nekoego christoljubca, Slovo sv. Grigor’ja) zu rod „Geburt, Geschlecht“. Die G. versammeln sich am dritten oder siebenten Tage nach der Geburt um Mitternacht im Hause des Neugeborenen. In Erwartung ihrer Ankunft werden verschiedene Vorbereitungen getroffen; das Neugeborene wird gebadet und in saubere Windeln gewickelt. Da und dort wird das Abendessen zeitiger als gewöhnlich eingenommen, die Hausbewohner wachen bis Mitternacht. An das Bett der Wöchnerin stellt man Brot, Salz und Wein (—> Hausgeist) zur Begrüßung der Feen. Es erscheinen drei Feen verschiedenen Alters. Zuerst weissagt die jüngste, dann die mittlere, zuletzt die älteste, deren Spruch ausschlaggebend ist. Der Schicksalsspruch der Feen wird dem Neugeborenen unsichtbar auf die Stirn geschrieben. Bisweilen sollen die Feen auch ein Zeichen hinterlassen, das von den Menschen nicht entziffert werden kann. Die Weissagung der Feen bezieht sich nur auf die Lebens­ dauer, die Art des Todes und die künftigen Vermögensverhältnisse 177

Slaven

Geister

des Kindes. Wo die Eltern Grund zu der Annahme haben, der Spruch der Feen könnte für das Kind ungünstig ausfallen, wird das Neugeborene in der Zeit, in der man die Feen erwartet, außer Haus gebracht. Die eben geschilderten Bräuche, die eng mit der Erscheinung der G. verbunden sind, finden sich nur bei den Sdsl. Tschechen und Slovaken sollen früher auch an die G. geglaubt haben. Jedoch fehlt der Glaube an bestimmte G. den Osl. und den Polen, woraus Mansikka, 307, schließt, daß die russ. Rozanicy eigentlich keine G., sondern die Geister verstorbener weiblicher Familienmitglieder (—> Hausgeist; Hauskobolde; Mahr; Navi; Rusalka; Vampir; Vila; Waldgeister; Wassermann) seien, die sich bei der Geburt eines Kindes im Hause versammeln und denen man (ähnlich wie dem —> Hausgeist) Speiseopfer darbringt. Zwar mag es sich bei den Rozanicy (wie auch bei den G. der Sdsl.) um die Geister verstorbener Frauen handeln (vgl. Niederle, 69), doch wird man die Funktion der russ. Rozanicy als G. nicht ohne weiteres in Frage stellen dürfen, weil der Glaube an Schicksalsdämonen auch in Rußland und Polen verbreitet ist, obwohl die Rozanicy heute damit nichts mehr zu tun haben. (In Polen verrichten die —> Boginki die Funktion der G., ein Teil der Ukrainer glaubt, daß die Engel dem Kinde das Schicksal vorausbestimmen, bei einem Teil der Kaschuben sind es die Kraäniaki.) -> Feen; Hexen; Opfer; Seelenglauben; Totenglauben. -> Lit. Daliä; Läima; Totenglauben. -> Kelt. Göttertriaden; Schicksal. -> Ung. Boldogasszony; Älmos 2. -> Finn. Einteilungszeit 1. -> Germ. Geburt; Nomen; Schicksal.

Geister —> Seelenglauben; Totenglauben. Gerovit, Gerovitus

Jarovit

Götterbilder —> Ikonographie. Gumennik

Hauskobold.

Hastrmäk, Hastrman -> Wassermann.

Hausgeister. Bei den Sl. werden zwei Arten von H. unterschieden, einmal die aus den Seelen verstorbener Ahnen entstandenen (—»-Ge­ burtsfeen; Hauskobolde; Mahr; Navi; Rusalka; Vampir; Vila; Waldgeister; Wassermann), zum anderen diejenigen, die künstlich, d.h. durch verschiedene Zaubereien hervorgebracht werden können (—> Hauskobolde). An die erste Gruppe glauben die Osl. und die Bulgaren (außerdem die nördlichen und östlichen Nachbarn der SL, d. h. die Finnen und verschiedene Turkvölker, deswegen ist Moszynski, 672, geneigt, eine Übernahme des Glaubens durch die 178

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Hausgeister

Sl. für möglich zu halten). Die zweite Gruppe (Hauskobolde) findet sich bei allen Sl. (z. T. verwischen sich die Unterschiede zwischen beiden Gruppen). Der der Seele des Ahnen gleichgesetzte H. (-> Totenglauben) heißt bei den Großrussen domovoj, den Weißrussen damavik, den Ukrainern domovyk (alles Ableitungen von dom „Haus“), bei den Bulgaren stopan „Herr“ oder sajbija aus arab. sahib „Herr“ durch türk. Vermittlung. Daneben noch andere Na­ men, z.B. russ. chozjain „Hausherr“, domovoj ded, deduSka „Groß­ väterchen“, dobrochot „der Wohlgesinnte“, zirovik „der Feiste“, oder auch nur on „er“.

Nach dem Glauben der Groß- und Weißrussen zeigt sich der H. in der Gestalt eines Menschen, der dem augenblicklichen oder einem bereits verstorbenen Hausherrn ähnlich sieht (—>menschengestaltige Gottheiten). Er hat, da er die Wärme liebt, seinen Platz in der zagnjotka, einer Vertiefung an der linken Seite des Ofens, in welche glühende Kohlen gescharrt werden, oder auf dem Dachboden. Da der H. die Familie beschützt, sich um das Vieh kümmert (—> Volos; Waldgeist) und den Hausbewohnern bei der Arbeit hilft, läßt es sich der Hausherr angelegen sein, den Geist freundlich zu behandeln. Wenn man den Eindruck hat, ein fremder H. dringe nachts ins Haus ein und stehle (-> Mittagsfrau; Vila), füttert man den eigenen um so besser (-> Vampir), damit er stark werde und den Ein­ dringling vertreibe. Soll die Familie ein neues Haus beziehen, muß der H. gebeten werden mitzukommen, da er ohne Aufforderung nicht geht und das neue Haus ohne Beschützer bleiben würde.

Ähnliche Vorstellungen haben auch die Bulgaren. Auch sie ver­ wöhnen den H. Ärgert man ihn, so rächt er sich, indem er die Familie mit bösen Träumen, Krankheit, ja sogar Tod heimsucht. Geschieht das, so muß in diesem Fall der H. durch eine Festlich­ keit versöhnt werden. Die Familie reinigt das Haus, zieht sich sonntäglich an, schmückt sich mit Blumen. Die älteste Frau gräbt beim Herd eine kleine Grube, in die sie das Blut einer geschlachteten schwarzen Henne (—>Hauskobolde; Wassermann) fließen läßt, dann wird die Grube mit Lehm verklebt, die Henne gebraten und ein Festmahl beim Herd veranstaltet, wobei wieder die Älteste den H. anruft. Anschließend trägt man Speise- und Weinreste auf den Boden (-> Geburtsfeen), verteilt sie unter Beschwörungen in ver­ schiedene Ecken und sieht nach etwa vierzehn Tagen nach, ob sie noch vorhanden sind. Haben sie abgenommen, oder sind sie gar verschwunden, so herrscht in der Familie große Freude, denn man nimmt an, der H. sei versöhnt. Ähnlich wie die orthodoxen ver­ fahren auch die mohammedanischen Bulgaren, nur verrichten bei 12

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Hausgeister

Slaven

ihnen alle Arbeiten die Männer, auch schlachten sie kein Huhn, sondern einen schwarzen Hammel. Bei den orthodoxen Serben und einem Teil der katholischen Kroaten Slavoniens, Dalmatiens und der Herzegovina feiert man an be­ stimmten Tagen das Fest des Hauspatrons, die Slava. Heute ver­ steht man unter dem Hauspatron einen christlichen Heiligen (in erster Linie den Hl. Nikola, Hl. Jovan, Hl. Ilija, Hl. Arandeo [Erz­ engel Michael]), dessen Bild in jedem Haushalt zu finden ist. Der Hauspatron vererbt sich vom Vater auf den Sohn. Wenn heute auch christliche Heilige als Hauspatrone auftreten, so ist doch anzu­ nehmen (vgl. Schneeweis, 211), daß hier alter Ahnenkult mit christ­ licher HeiligenVerehrung eine enge Verbindung eingegangen ist (-»Christliche Einflüsse). Das erklärt sich auch aus der Bedeutung von krsno ime, eigentlich „Taufname“, worunter man den Namen jenes Heiligen versteht, auf den der Sippenälteste bei der Annahme des Christentums sich taufen und dem er die Kirche der Sippe weihen ließ. Da sich in patriarchalischen Verhältnissen Kirchen­ patron und Hauspatron deckten, gedachte man am Feste des Kirchenheiligen sowohl des Heiligen selbst als auch der ersten christlichen Ahnen und der übrigen Toten der Sippe. Man brachte ihnen Opfer in Form von Brot (-> Geburtsfeen), Kerzen und dem sog. Koljivo dar (ein Brauch, der bei der Slava heute noch gepflegt wird). Vom namentlich bekannten Hauspatron zu trennen sind die anderen, namenlosen H.; auch sie sind aus den Seelen der Ver­ storbenen entstanden. Sie hausen beim Herd, unter der Türschwelle oder auf dem Deckenbalken. Die Wertschätzung, die man ihnen entgegenbringt, kommt bei verschiedenen Anlässen (z.B. bei der Hochzeit oder zu Weihnachten) zum Ausdruck. So verabschiedet sich die Braut von ihrer Familie und damit von den H., indem sie dreimal den Herd umschreitet; im Hause des Bräutigams begrüßt sie die neuen H., indem sie die Schwelle küßt und darauf einige Münzen niederlegt, anschließend umwandelt sie den Herd und stellt Opfergaben daneben nieder. In manchen Gegenden muß sie das Feuer schüren und dabei den Funkensegen sprechen. (Ähnliche Bräuche auch in Rußland.) In Makedonien wird beim Mischen des Hochzeitskuchens ein Stück Holz der Kornelkirsche, an welchem einige Münzen befestigt sind, von einem Knaben über den Dach­ balken geworfen (in anderen Gegenden wirft die Braut ein Sieb oder einen Apfel mit eingesteckten Münzen über das Dach); diesen Brauch kann man, mit Schneeweis, 100, als Gabe für die bösen Geister ansehen, die dadurch aufgefordert werden sollen, den Ort zu verlassen, oder man kann darin eine Opfergabe erblicken, die 180

Slaven

Hauskobolde

die Hausgeister gegenüber der Neuangekommenen günstig stimmen sollen (—> Opfer, Zauber. —>Lit. Haushaltgötter. -^-Finn. Hausgeist). -> Lit. Totenglauben. -> Kelt. Ortagötter. -> Firm. Ortsgeist.

Hauskoboldc werden vornehmlich von den Wsl. verehrt, sind aber

auch den anderen Sl. nicht unbekannt. Zu ihnen zählt man den feurigen, fliegenden Schrat, den die Sl. wie auch die Balten wohl von den Deutschen übernommen haben (Moszynski, 678), wofür seine aus dem Dt. stammenden Bezeichnungen sprechen: poln. skrzat, chobold, klobuk, skrzak, tschech. skfitek „lar domesticus“, slov. skrat. Daneben gibt es eine Reihe von Bezeichnungen, die davon zeugen, daß man sich den Schrat als Drachen oder Schlange vorstellt (—>Veles; Wassermann), poln. smok „Drache“, sorb. plon, russ. zmej. Die Auffassung des H.s als eines Drachen wird durch den bei den Sl. bestehenden Glauben an eine Hausschlange erklärt (Schneeweis, 37), vgl. auch zmija cuvarkuca, zmija kucarica „die das Haus hütende Schlange“, in welcher sich die Seele verstorbener Ahnen darzustellen pflegt (-> Geburtsfeen; Hausgeist; Mahr; Navi; Rusalka; Vampir; Vila; Waldgeister; Wassermann). Endlich gibt es noch andere Ausdrücke verschiedener Bedeutung, z.B. skr. (Dalmatien, Herzegovina) cikavec von ciknuti „kreischen“, hier liegt ein Zusammenhang mit der Mandragora-Wurzel, aus welcher ein H. u.a. auch entstehen soll, vor, vgl. poln. pokrzyk „Alraun“ von krzyknqc „schreien“, russ. pevenka trava „Schreikraut“; ferner haben wir skr. (Krk, Montenegro) malic von mali „klein“, skr. (Pag) macic zu macak „Kater“ (da man glaubt, der Kobold könne sich in einen Kater verwandeln). Der H„ den im Unterschied zum Haus­ geist nicht jedes Haus besitzt, entsteht gewöhnlich aus einem Hahnenei (—>Lit. Aitvaras) oder aus der Mandragora-Wurzel. Bei den Serben hegt hier augenscheinlich eine Vermischung mit dem Ahnenkult vor (-> Totenglauben). Der H. verschafft dem Haus­ herrn materielle Güter, weswegen jeder danach trachtet, eines sol­ chen Kobolds habhaft zu werden. Er zeigt sich, je nach der Gegend, als —> Drache, Schlange, Kater, —> Vogel oder auch als das reine Feuer. Die Großrussen halten die Meteore für Reichtum bringende Drachen (Moszynski, 467). Das Element des H. ist das Feuer. Mancher behauptete, ihn mit feurigem Schweif in den Kamin fahren gesehen zu haben. Aus der Farbe, die der H. annimmt, schließt man auf die Güter, die er bringt; ist er rot, so bedeutet das Geld, ist er gelb oder blau, bringt er Getreide, ist er weiß, Mehl oder weiße Wolle. (Ähnlich orakeln die Maked. mit Hilfe des Regen­ bogens, vino-zito „Regenbogen“, wörtl. „Wein-Getreide“. Zeigt er 12*

181

Heilkundige Götter

Slaven

mehr Rot, so deutet das auf ein gutes Weinjahr [vino], zeigt er mehr Gelb, so kommt ein gutes Getreidejahr [zito].) Eine Art H. ist wohl auch der russ. Ovinnik, der unter der Getreidedarre (pvin) sitzt. Ihm schlachtete man im Bezirk Orel am Tage des Druschs, dem 4. September, unter der Darre ein Huhn (-»Haus­ geist; Wassermann). Am 1. November geht der Bauer, wenn er Kreuzschmerzen hat, in den unteren Feuerraum der Getreideriege und betet zu ihm. Jedes Haus hat seinen eigenen Ovinnik (Ver­ mischung mit Hausgeisterkult), zu ihm betet die Familie. An be­ stimmten Tagen darf man unter der Darre kein Feuer anmachen: 23. Sept. (Hl. Thekla), 14. Sept. (Tag der Kreuzerhöhung), 1. Okt. (Mariä Schutz und Fürbitte). Wer zuwiderhandelt, wird mit Feuer­ brunst bestraft (->Lit. Aitvaras N, Gabetä; Finn. Hausgeist). Eine Abart des Ovinnik ist der Qumennik, der sich auf der Tenne (gumno) aufhält (—> Svarog, Tiergestaltige Dämonen). -> Lit. Haushaltgötter; Kaükas; Pnkys; Totenglauben; 2altys.

Finn. Para.

Heilkundige Götter -> Vila.

Herdfeuer -> Svarog. Hexen -> Feen; Mahr; Wassermann. -> Lit. Hexen. -> Ung. Hexen.

Hirtengott

Waldgeist.

Ikonographie Einl.; Daz&bog; Perun; Porenutius; Radigast; Rugievit; Svantevit; Svarog; Triglav. -> Kelt. Ikonographie. -> Germ. Felszeichnungen.

Jagdgötter -> Vila.

Jarovit, Gerovitus (Niederle, 149), Gott der Pommern. J. zu­ sammengesetzt aus jar- „heftig, feurig, hitzig“ (vgl. E. Berneker, EW, 447) und -vit Suffix zur Bildung von PN; vgl. auch PN Jaroslav, Jaropolk. Nach Brückner MSt ist J. identisch mit —> Svantevit wegen der Bedeutungsähnlichkeit der Stämme jar- und sv%t-, beide aber nur Epitheta für einen dritten Gott (-> Svarozic ?). J. (Gerovi­ tus) erwähnt bei Herbord III, 6 und Ebo III, 3. Wurde nach Her­ bord in Wolgast, nach Ebo in Havelberg verehrt (Wienecke hält die Angabe Ebos für unzuverlässig). Herbord vergleicht den Gott mit dem röm. Mars. -»Rugievit; Svantevit. -> Kelt. Kriegsgottheiten; Mars.

Jedogonja -> Vampir. 182

Ung. Hadür. -» Germ. Odin; Tyr.

Slaven

Kultstätten

Juda -> Vila. Kater

Hauskobolde.

Kikimora -> Navi. Klobuk -* Hauskobolde.

Krasniaki —> Geburtsfeen.

Kriegerische Göttinnen -> Vila. Kriegsgötter -* Gerovit; Rugievit; Svantevit. Kultische Gebote, k. Verbote -> Hausgeist; Hauskobolde; Mahr; Vampir; Wassermann; Zauber. -> Lit. Kultische Gebote. -> Kelt. Kultgebote.

Finn. Kultgebote.

Kultstätten. Die Kultstätten der heidnischen Slaven lagen auf Hügeln oder einem Kap (Arkona). Sie sind meistens nach Osten und dem Wasser zugewandt (Arkona, Novgorod, Kiev, Rethra). Es ist anzunehmen, daß die Standbilder ebenfalls dem Osten, d.h. der aufgehenden Sonne zugekehrt waren. Aus dieser Anordnung könnte man mit einiger Vorsicht den Schluß ziehen, daß die Kult­ stätten ursprünglich dem Sonnengott (—> Svarozic) und nicht, wie in Rußland, dem Donnergott (—> Perun) geweiht waren. Die Frage, ob sich an den Kultstätten, zumindest denen der Elbslaven, Tem­ pel befanden, ist nach wie vor ungeklärt; in Rußland sind Tempel jedenfalls nicht nachgewiesen. Im Bereich der Oslslaven wurden Kultstätten an folgenden Orten nachgewiesen oder mit gutem Grund vermutet: Novgorod (s.d.), Kiev (in der Nähe der Desjatinenkirche; erwähnt in Chroniken, bestätigt durch Ausgrabungen), Pskov (Ausgrabungen), Beregovaja, Kr. Belev, 100 km südwestlich von Tula (nur vermutet, wegen äußerer Ähnlichkeit mit Novgorod; hier saßen die Vjatitschen, ein besonders kriegerischer Stamm, der sich gegen die Annahme des Christentums am hartnäckigsten gewehrt hat). Bei den Elbslaven handelt es sich um folgende Orte: Arkona, Rethra, Landin, Wolgast, Qützkmv, Stettin, Malchow, Garz, Wollin, Brandenburg, Vehlin.

Novgorod. Bei den Ausgrabungen von 1951 wurde bei Peryn, 4 km südlich der Stadt, eine Kultstätte entdeckt. Sie liegt auf einem Hügel, der im Osten und Nordosten von den Wassern des Volchov, im Süden von der Verjazja, einem Nebenfluß des Volchov, um­ spült wird. Westlich des Hügels erstreckt sich ein Sumpf. In der Nähe der ehern. Kultstätte auf dem Hügel steht eine der hl. Gottes183

Kultstätten

Slaven

mutter geweihte Kirche. Die Kultstätte hat die Form einer acht­ blättrigen Rosette. Sie besteht aus einem kreisförmigen, erhabenen Mittelteil, auf dem sich das Götterbild befunden haben muß, und einem um die Erhöhung laufenden Graben, wo zu besonderen Gelegenheiten Feuer angezündet wurden. Da die Vorgefundenen Kohlereste nicht zahlreich genug sind, scheidet die Möglichkeit von „ewigen Feuern“ aus; freilich scheinen die Reste der östlichen Feuerstätte auf „ewiges Feuer“ hinzu deuten. In der Nähe des Idolstandortes entdeckte man die Reste eines Herdes aus Feld­ steinen ; unter den Steinen befand sich einer, der zur Konstruktion des Herdes nicht paßte und vermutlich Teil eines ovalen oder runden Opferaltars war. Reste eines etwaigen hölzernen Tempel­ baues, der sich über dem Standbild erhoben haben könnte, sind nicht gefunden worden. Die Kultstätte war dem -> Perun geweiht, dessen Standbild in Novgorod urkundlich belegt ist. Die Rosettenforrn der Kultstätte bringen russische Gelehrte mit einigen Blumen­ namen zusammen, die auf Perun hinzudeuten scheinen, z. B. skr. perunika „Iris“ oder ukr. gromovylc, gromovnyk zum grom „Donner“ (Perun war Donnergott). Es ist aber dabei zu bedenken, daß die Form der Kultstätte auch die Sonne symbolisieren konnte, und dann wäre sie ursprünglich dem Sonnengott geweiht gewesen und später erst Perun. Literatur: V. V. Sedov, Kratkie soobäienija instituta istorii material’noj kul’tury AN SSSR Bd. 50 (1953) 92-103.

Landin, nordöstlich von Rathenow, Teufelsberg. Weithin ins Land schauende Kuppe, slavisches Gräberfeld am Nordfuß des Berges. Anlagen von Landin und Vehlin (zwischen Wittenberge und Kyritz) unterscheiden sich von sonstigen slavischen Burgtypen, daher Annahme, es könnten Kultstätten sein, nicht unwahrschein­ lich. Landin hat drei um den Berg herumlaufende konzentrische Wall-Grabenanlagen, Vehlin ist ein kegelförmiger von einem Hilgenwall umgebener Hügel, der aus einer sumpfigen Niederung aufragt. Literatur: Deutsche Akad. d. Wiss. zu Berlin, Schriften d. Sekt, für Vor- u. Frühgeschichte, Bd. 9 (1960) (J. Herrmann, Handbuch vor- u. frühgeschichtlicher Wall- u. Wehranlagen, Teil 2, S. 66f.).

Wollin, erwähnt bei Ebo II, 7, 15; III, 1; Herbord II, 24, 37; Mon. Prüf. Vit. II, 5, 6, 16. Zwei Tempelbauten werden erwähnt. Ge­ naueres nicht festzustellen. Garz auf Rügen, erwähnt bei Saxo Gramm. XIV, 840, der auch von einer Tempelanlage spricht, die einem Gott Porevit oder Porenut,

184

Slaven

Kultstätten

nach der Knytlingasaga Turupiä, geweiht war. Näheres nicht zu ermitteln (-> Porenutius). Giitzkow, erwähnt bei Ebo III, 9 und Herbord III, 6. Archäologischer Nachweis nicht gelungen. Wolgast, erwähnt bei Herbord III, 4f. u. Ebo III, 5ff. Sie be­ richten, die Begleiter Ottos von Bamberg hätten versucht, in den Tempel einzudringen, um das Idol zu sehen. Darüber empört, habe sich das Volk zusammengerottet und eine bedrohliche Haltung ein­ genommen. Ein Missionar jedoch sei in den Tempel geflohen und habe darin nichts weiter als einen Schild an einer Wand entdeckt. In seiner Furcht habe er ihn heruntergenommen, um sich mit ihm des Volkes zu erwehren. Ihn als Deckung benutzend, sei er in die Menge gesprungen, das Volk aber, in der Meinung, es nahe der Gott selbst, habe sich vor dem Schild auf die Erde geworfen. Die Tempelanlage soll 1128 von Otto von Bamberg abgerissen worden sein. Arkona (-> Svantevit). Die Kultstätte befindet sich, nach den Aus­ grabungen von C. Schuchardt 1921, auf Rügen an der Ostspitze des Kaps innerhalb eines Walls, der das Kap nach Westen hin abschließt. Es sind drei Pfostenlöcher vorhanden, das vierte, nord­ östliche, ist mit dem Erdreich im Meer versunken. Schuchardt will die Reste einer Tempelanlage gefunden haben, die aber nach den neuesten Erhebungen von E. Dyggve in so früher Zeit nicht vor­ handen gewesen sein kann. Literatur: C. Schuchardt, Arkona— Rethra—Vineta (Berlin 1926); E. Dyggve, Germania 37 (1959) H. 1, S. 4; Bericht über den 5. Internationalen Kon­ greß für Vor- u. Frühgeschichte vom 24.—30. VIII. 1958 (gedruckt 1961) Beitr. Nr. 74.

Rethra will Schuchardt auf dem Schloßberg bei Feldberg (Neu­ strelitz) wiedergefunden haben. Thietmar VI, 17, nennt Rethra eine „urbs tricornis in pago Riedirierum Riedegost nomine“. Urbs tricornis deutete Schuchardt als „Burg mit drei hochaufragenden Türmen“. Da Thietmar außerdem behauptet, das Osttor der Burg sei nach einem „mare“ gelegen, während die Westseite von einem großen Walde umgeben sei, glaubte Sch., der Schloßberg entspreche geographisch den Angaben Thietmars am ehesten. Er machte sich 1922 an die Ausgrabungen, um den Schloßberg mit Rethra zu identifizieren. Er fand eine imposante Burganlage mit drei Toren, von denen zwei nach Osten lagen, eins nach Westen. Reste eines Tempels konnte er nicht nachweisen. Sch. nimmt an, Rethra (auf dem Schloßberg) sei 1068/69 endgültig zerstört und danach, wohl 185

Laskowiec

Slaven

auf der Fischerinsel in der Tollense, neu aufgebaut worden. Auf dieses zweite Rethra könnte sich nach Sch. Adam von Bremen beziehen. Trotz Sch.s Ausgrabungen ist Rethra bis heute nicht einwandfrei lokalisiert, vgl. die Einwände von Wienecke. Stettin, erwähnt bei Ebo III, 1. Die Burgmauer umschloß drei Hügel, auf deren mittlerem, nach Ebo, ein dem Triglav (s. d.) geweihter Tempel gestanden hat. An seiner Stelle ließ Otto von Bamberg die Adalbertskirche errichten. Malchow, erwähnt in den Magdeburger Annalen (MGH XVI, 188); Fanum eciam cum idolis quod erat ante civitatem in Malchon cum ipsa civitate concremaverunt.

Laskowiec, Lesavik, Lesovik, Lesovoj, LcSak, LeSij, Lisovyk, Lisovyj Cert, Lisun -» Waldgeister. Latawiec -» Navi.

Lojmy -» Waldgeister.

Maci Hauskobolde.

Mahr, ukr., slovak., skr., poln., tschech.-dial. mora, tschech. rnüra, poln. zmora, osorb. murawa, nsorb. morawa, bulg. morava-, nach Brückner MP, 110, soll es aus dem Dt. entlehnt sein. Die Auffas­ sungen von der M. sind verschieden. Ein Teil der Weißrussen, Ukrai­ ner und Polen glaubt, die M. sei der Schatten eines Verstorbenen (-» Geburtsfeen; Hausgeist; Hauskobolde; Navi; Rusalka; Vampir; Vila; Waldgeister; Wassermann), der die Lebenden quält (Moszyhski, 592). Tschechen, Slovaken, Kroaten und Serben halten sie für die Seele eines lebenden Menschen, die des Nachts in Gestalt eines Falters (oder anderen Tieres, —» Tiergestaltige Dämonen) den Körper verläßt und den Menschen das Blut aussaugt (vgl. eine Reihe von slovak. Falternamen, die von dem Ausdruck abgeleitet sind, z.B. morka, sanimorka, kanimura). Die schles. Polen glauben, es sei der Mensch selbst, der nachts den Schlaf seiner Mitmenschen stören kommt. Die M. kann als Tier (s.o.) oder als Gegenstand erscheinen (Haar, Strohhalm u. ä.). Sie dringt durch das Schlüsselloch ins Haus und saugt den Schlafenden das Blut aus. Vor der M. kann man sich durch mancherlei -»Zauber schützen. Beliebt ist der Trudenfuß. Auch wird empfohlen, sich einen scharfen Gegenstand unter das Kopfkissen zu legen. Wenn man die M. ertappt, soll man ihr etwas versprechen (Spiegel, Salz, Brot), am nächsten Tage würde sie sich das Versprochene holen kommen. Die schles. Polen hielten es für wirksam, der M. aufzulauern und sie, wenn sie sich als Strohhalm 186

Slaven

MokoS

um Mitternacht durch das Schlüsselloch schob, entzweizuschneiden, worauf man am folgenden Tage einen halbierten Menschen zu sehen bekäme. Zur M. wird nach verbreitetem Glauben eine —> Hexe oder, bei den Sdsl., ein Mädchen, das mit einem roten Glückshäutchen ge­ boren wurde, und bei dessen Geburt man den Abwehrsegen zu sprechen vergessen hat (Schneeweis, 38). —> Vampir, Navi, Toten­ glauben. -> Lit. Slogüte; Totenglauben; Vaidilas; Zauber. -> Kelt. Magie. -> Finn. Zauber. -> Ung. Zauber. -> Germ. Zauber. Grieeh. Zauber.

Malic -> Hauskobold. Menschengestaltige Gottheiten -> Feen; Hausgeist; Navi; Trojan; Vampir; Vila; Waldgeist; Wassermann.

Menschenopfer -> Perun. Mittagsfrau, poln. poludnica, tschech. polednice, osorb. pfipol(d)nica, nsorb. p&espolnica, grruss. (Archangelsk, Sibirien) poludnica, alle Ausdrücke zu asl. pokbdbm, „Mittag“. Die M. erscheint während der Ernte an heißen Tagen um die Mittagszeit, sie trägt ein weißes oder graues Gewand und hält sich auf den Feldern auf. Menschen, die sie ruhend oder arbeitend antrifft, verwirrt sie den Verstand (vgl. dasselbe bei den —> Vilen) oder lähmt sie an den Gliedern. Die M. stiehlt (—> Hausgeist; Vila) mit Vorhebe Kinder und läßt Wechselbälge zurück (->Lit. LaumS). Sorben und Tschechen glau­ ben, eine Wöchnerin dürfe um die Mittagszeit nicht das Haus ver­ lassen, weil die M. sonst das Kind wegnimmt (vgl. die Erzählung Divä Bära der tschech. Schriftstellerin Bozena Nemcovä). Die M. hat einige gemeinsame Züge mit den Vilen: Hitzschlag, Kinder­ stehlen, Vorstellung als Wirbelwind. Die M. ist nur den Wsl. (außer den Kaschuben) und den nördlichen Großrussen bekannt, nicht dagegen den Ssl. (hier wird sie von der Vila vertreten), den Ukrai­ nern und Weißrussen. Bis heute ist ungeklärt, wie es kommt, daß die M. in zwei voneinander getrennten Gebieten auftritt (Polen und Nordrußland), während sie im dazwischenhegenden Streifen unbekannt ist. Moszynski, 698, hat versucht, eine Erklärung zu geben, die aber nicht befriedigt. -> Feen; Hexen. -> Lit. Feen; Hexen; Vejopatis. -> Finn. Waldgeist. -> Ung. Delibäb; Hexen; Nemere; Sarkäny; Szel. Germ. Njörd.

MokoS, Göttin der Fruchtbarkeit. Wird gewöhnlich mit mokryj „feucht“ verknüpft (M. Vasmer, EW II, 148). Vergleich mit ai. makhas „reich“ (Machek) stimmt bedenklich. 187

Slaven

Mora

M. wird erwähnt in der sog. Nestorchronik s.a. 980 und in der Pre­ digtliteratur, z.B. in russ. Erläuterungen zu einer Predigt des Hl. Gregor v. Nazianz (bekannt aus Abschriften des 14. —15. Jahrh. und in einer ksl. Fassung einer Predigt des Ioannes Chrysostomos). Für einen alten M.-Kult auch Belege in der Volkskunde (Haase). Volksbräuehe um M. und die Rozanicy (—> Geburtsfeen) ähneln sich. M. wurde von Frauen und Mädchen verehrt und mit der Ver­ ehrung der Geburtsschmerzen der Gottesmutter in Verbindung gebracht. Ein in Rußland vorkommender weiblicher -> Hausgeist, Mokosä, beweist weiter, daß die Göttin volkstümlich gewesen ist. Für eine Verehrung der M. außerhalb Rußlands spricht ein Berg­ name in Böhmen, Mokosin. Anickovs Auffassung von M. als einer von den Finnen übernommenen Göttin (wegen Moksa, Bezeichnung eines Teiles der finn.-ugr. Mordwinen) ist sehr fraglich. -* Lit. Fruchtbarkeitsgötter. -> Kelt. Fruchtbarkeit. -> Finn. Fruchtbar­ keitsmythen. - > Germ. Fruchtbarkeit.

Mora, Morava, Murawa, Mura -> Mahr.

Morski ljudi -> Wassermann.

Narecnica

Geburtsfeen.

Naturgötter -> Perun; Waldgeister; Windgötter. Navi (pl.). Unter diesem Ausdruck fassen wir alle diejenigen Dämonen zusammen, die ihre Entstehung den Seelen von Kindern verdanken, und zwar solchen, die von der Mutter im Schlafe erdrückt, oder, bei uneheüch geborenen, nach der Geburt beseitigt, tot geboren oder schon im Mutterleib getötet wurden. Bei den Wsl. und dem westl. Teil der Ssl. sind es die Seelen der Ungetauften. Bulg. navi, navjaci, skr. (Pirot) navije, slov. navje aus asl. navb „der Tote“, dazu russ. nav’, nav’je, navej „der Tote“, ukr. navka, mavka „Seele eines unge­ tauft verstorbenen Mädchens“, tschech. nav „Hölle, Jenseits“ ur­ verwandt mit got. naus „der Tote“, ahd. not „Not“ (Vasmer, EWII, 192), serb. nekrStenci „die Ungetauften“, kroat. nevidincici, nevidmici „die Unsichtbaren“.

Nach bulg. Auffassung stellen sich die N. in der Gestalt eines —> Vogels, in manchen Gegenden eines nackten Kückens von der Größe eines Adlers dar (—> Tiergestaltige Dämonen), die in finsteren Nächten um die Hütten der Menschen flattern und einen schreck­ lichen Schrei ausstoßen. Wer diesen Schrei hört, fällt in Ohnmacht oder stirbt (-> Rusalka). Mit Vorliebe überfallen sie Schwangere oder Wöchnerinnen, Kindern saugen sie das Blut aus (-^-Mahr; 188

Slaven

Perun

Vampir). Um sie zu vertreiben, verbrennt man in den Häusern der Wöchnerinnen des Nachts Knochen oder Harz oder räuchert mit einem Räucherfaß (-> Zauber). Bei den Serben und Kroaten stellt man sich die N. als große Vögel mit Kinderköpfen vor. Milchtieren rauben sie die Milch. Wer in derselben Stunde geboren wurde wie sie, kann sie sehen. In Polen und der Ukraine treten die Kinderseelen teils in Menschen-, teils in Tiergestalt auf; hier heißen sie jedoch anders: poln. latawiec (nicht zu verwechseln mit dem latawiec in Masowien, der eine Art —> Schrat ist), ukr. potercuk. Ihre Eigen­ schaften sind etwa dieselben wie auf dem Balkan. Bei den Tsche­ chen waren sie dem skritek gleich (—> Hauskobold), in einem Teil der Ukraine rechnet man sie ebenfalls zu den Hauskobolden, bei den Großrussen nennt man sie kikimory, das sind Hauskobolde, die des Nachts spinnen und den Menschen den Flachs verwirren. Kikimora ist unklar, erster Teil vielleicht zu —>lit. Kaukas „Ko­ bold“, zweiter Teil zu ukr. mora ,,->Mahr“. -> Geburtsfeen; Hausgeist; Totenglauben; Vampir; Vila; Waldgeister. -* Lit. Daüsos; Nelaiksis; Totenglauben. -> Kelt. Vögel. -> Finn. Ahnen­ kult 2b; Totenglaube lb. ->■ Grieeh. Ahnenkult.

Nixen —> Wassermann. Nykus -> Wassermann. Nymphen -> Rusalka.

Oblakinje vile -> Vila.

Opfer -> Geburtsfeen; Hausgeist; Hauskobolde; Perun; Waldgeister; Wassermann. -> Lit. Opfer. -> Kelt. Opfer. -> Finn. Opferbräuche. -> Ung. Opfer. -> Germ. Opfer.

Orakel —> Pferdeorakel; Weissagung. Ovinnik _> Hauskobolde. Perun „Donnergott“, zum Stamm per- „schlagen“ (russ. pral', skr. prati), erweitert durch das Suffix -un zur Bezeichnung eines Täters. Demnach würde P. „Schläger“ bedeuten (so Ivanov und Vasmer, EW II, 345). Brückner SL stellt P. zu —>Lit. Perkunas, dessen Name bei den Sl. volksetym. in Anlehnung an den Stamm per- um­ gestaltet worden sein soll. Brückner zieht zur Stütze seiner These lat. quercus „Eiche“, das mit Perkunas urverwandt ist, heran, da ja die Eiche ein dem Donnergott geweihter Baum ist. Urbanczyk pflichtet Brückner bei. Mansikka sieht in P. ein aus dem Germ.

189

Perun

Slaven

entlehntes (->Germ.) Figrgynn „Mutter des Thor“. Einwände zu diesen Erklärungsversuchen bei M. Vasmer, EW II, 345.

Daß man in P. einen Donnergott zu sehen hat, beweisen neben der Etymologie auch die Sprachen, in denen der Name des Gottes zu einem alltäglichen Gebrauchswort gesunken ist: poln. piorun „Donner“, slk. paromova strela „Donnerwetter“; polab. Peräunedän „Donnerstag“ ist eine Übersetzung nach dem Dt. Die erste Anspielung auf einen sl. Donnergott bei Prokopius v. Caesarea, De bello Gothico III, 14, wo von einem Gott die Rede ist, der den Blitzen gebietet, dem Stieropfer dargebracht werden und den die Sl. als höchsten Gott verehren (->Dazz>bog; Svarog). Brückner hat den Wahrheitsgehalt dieser Stelle bestritten, da sich aber Prokop auch sonst als über die Sl. gut unterrichtet erweist, wird man seine Nachricht nicht zurückweisen dürfen. Ivanov berichtet zudem, daß Stieropfer auf dem Balkan zuEhren des Hl. Elias, des Donnerheiligen, bis ins 20. Jahrh. hinein vollzogen wurden (->Finn. Stieropfer; Kelt. Stier). Unter seinem vollen Namen tritt P. erstmalig in der sog. Nestorchronik, s.a. 907, 912, 945 und 971, in den zwischen Russen und Byzantinern geschlossenen Verträgen auf. Die warägischen Russen leisteten bei „ihrem Gott“ (svoj bog) den Eid, die Verträge zu halten, dabei legten sie die Waffen nieder und gelobten, daß der Eidbrüchige von seinen eigenen Waffen möge erschlagen werden. Diese an nord. Eideszeremonien gemahnenden Vorgänge haben Rozniecki bewogen, im P.-Kult den nord. (—>Germ.) Thor-Kult zu sehen, der durch die Waräger nach Rußland verpflanzt worden ist. Ansätze zu einem P.-Kult müssen indessen in Rußland und bei den anderen Sl. auch vorhanden gewesen sein, da sich sonst der sl. Name nicht erklären ließe. Der nord. Thor-Kult mag mit einem vielleicht weniger hervorragenden P.-Kult bei den Sl. verschmolzen worden sein und hat im warägischen Rußland eine Art Staats­ religion abgegeben. In der sog. Nestorchronik s.a. 980 wird P. unter den vom Fürsten Vladimir in Kiev aufgestellten Göttern genannt. Die I. Novgoroder Chronik s.a. 989 berichtet ebenfalls von einem P.-Standbild, das durch den Erzbischof Akim gestürzt worden ist. Auch Fürst Vladimir ließ nach seiner Taufe die Kiever Götter­ bilder (-^ Ikonographie) zerschlagen und sie in den Fluß werfen. Als Attribut soll der hölzerne P. eine Keule gehabt haben (-> Lit. Perkünas; Kelt. Hammergott; Finn. Ukko; Ung. Urreligion 2; Felszeichnungen; Germ. Thor), sein Kopf soll aus Silber, sein Mund aus Gold gewesen sein. Die angeblichen Menschenopfer, die ihm und anderen Slavengöttern dargebracht worden sein sollen, be­ ruhen auf biblischen Klischees. 190

Slaven

Porenutius

P. war anscheinend bei allen Sl. bekannt. Eine Reihe von ortsund Bergnamen, wie z.B. Pirna in Sachsen, Pronstorf in Holstein auf ehern, wsl. Gebiet, sowie Perunji Vrh in Kärnten, Perunovac in Serbien (vgl. M. Vasmer, EW II, 345 und Ivanov), legt den Schluß nahe, daß P. bei allen Sl. verehrt wurde. Die von Ivanov an­ geführten PN Perun, Perunika brauchen auf den Gott nicht hinzu­ weisen, Perun kann hier einfach „Schläger“ bedeuten (s. M. Vasmer EW). Der Frauenname Perunika mag von der gleichnamigen Pflanze herrühren (Beispiele für eine Übertragung von Blumen­ namen auf weibliche Personen gibt es genug), indes könnte perunika „Schwertlilie“ mit dem Gott Zusammenhängen, zumal dieselbe Pflanze in Dalmatien bogisa, d. i. „Gottesblume“, genannt wird. Inwieweit eine abulg. Übersetzung der Alexandreis, in welcher Zeus durch P. wiedergegeben wird, für die Existenz des P. auf dem Bal­ kan beweiskräftig ist, bleibt unentschieden. Ebenso verhält es sich mit gewissen durch den Bulgaren Otec Spiridon aus dem 18. Jahrh. vom Balkan berichteten Volksbräuchen, in denen P. bei Trocken­ heit angebetet worden sein soll, was ihm zusätzlich die Eigenschaft eines Regengottes verleihen würde. In diesem Fall könnte bulg. d'bzd'bt pere „es regnet“ dem P. einen solchen Sinn eingetragen haben. Kelt. Menschenopfer; Taranis. -> Ung. Isten. -> Griech. Zeus.

Pferd Radigast; Svantevit; Triglav; Vampir; Vila; Waldgeister; Wassermann. -> Kelt. Pferd. -> Ung. Pferd. -> Germ. Pferde.

Pferdeorakel -> Radigast; Svantevit; Triglav; Vampir. -> Kelt. Orakel. -> Pinn. Omen. -> Germ. Mantik.

Pion

Hauskobolde.

Plttnik, Plttenik -> Vampir. Polisun -> Waldgeister. Polednice, Poludnica, Poludnica -> Mittagsfrau. Polykcphalie -> Porenutius; Rugievit; Triglav. -> Kelt. Polykephalie. -> Ung. Särkäny.

Porenutius und Porevit (Saxo Grammaticus, 577), Götter auf Rügen. Etym. unklar, trotz Niederle, 153, der Porenutius zu -> Perun stellt, und Maretic, AslPh 10, 138, der in Porevit ein polab. pary „der erste“ sieht. Ort der Verehrung: Garz auf Rügen. Saxo berichtet 191

Potercuk

Slaven

von einer fünfköpfigen Statue des Porevit und einer vierköpfigen des Porenutius (—> Rugievit; Triglav). Knytlingasaga (Kap. 122, S.313) hat Puruvit und Renvit sowie einen gewissenTurupid, hinter dem man einen finn. Tarapita vermutete (—> Ikonographie, Kult­ stätten). -> Kelt. Ikonographie; Polykephalie. -> Ung. Särkäny.

Poterßuk -> Navi. Povodne vile, pozemne vile -> Vila.

Pfipol(d)nica, Psespolnica -> Mittagsfrau.

Radigast (Helmold I, 52), Redigast (Adam von Bremen), Radogost (Niederle, 131 —136). Unsicher, ob selbständige Gottheit oder ein­ gebürgert auf Grund eines Mißverständnisses (s. Brückner AslPh 14, 1611'.); danach habe Adam v. Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum II, 17, aus dem ON Riedegost des Thietmar v. Merseburg, VI, 18, einen Götternamen und aus Stammesnamen bei Thietmar (vgl. „in pago Riedirierum“ [Redarier]) einen ON, Rethra, gemacht. Nach der These Brückners, die viel für sich hat, wäre Adams Redigast nichts weiter als der Zuarasici (-> Svarozic) bei Thietmar. Urbanczyk legt auf die Aussage Adams mehr Gewicht und hält R. für einen Beinamen des Svarozic. Dasselbe tut auch Wienecke, er zerlegt den Namen in rad- „gern“ und -gast „Gast“ (russ. gost’}, übersetzt „einer, der als Gast gern gesehen wurde“ und sieht in R. einen von den Osl. übernommenen Gott (Svarozic); durchaus abzulehnen. Andere, so Niederle, sehen in R. einen selb­ ständigen Gott, der nach dem Zeugnis Adams in Rethra verehrt wurde. Rethra will C. Schuchhardt 1922 auf dem Feldberg am Lucinsee entdeckt haben (Zweifel bei Wienecke und Palm, Tempel wurde nicht gefunden). Wienecke glaubt, daß mit Rethra Stettin (—> Triglav) gemeint gewesen sei (wegen Ähnlichkeit im Kult, nämlich —> Pferdeorakel [-> Svantevit; Vampir]; Holzschnitzereien an der Außenseite des Tempels und Lage an einem „mare“). -> Kultstätten. -> Kelt. Ikonographie.

Germ. Felszeichnungen.

Regl -> Sim und Regl. Riesen -> Einl.

Rod, Rodenica, Rozanica, Rozdenica, Rojenica -> Geburtsfeen. Rugievit, Rugievithus (Saxo Grammaticus 1.1. 577), Gott auf Rügen. Bedeutung des Namens: Herr auf Rügen, vgl. poln. Rugia „Rügen“.

192

Slaven

Schlange

Wurde in Garz verehrt. Nach Saxo befand sieh in einem Tempel ein Standbild aus Eichenholz mit sieben Köpfen (-> Porenutius; Triglav), einem Schwert in der Hand und sieben weiteren am Gürtel hängend. Saxo hält R. für einen Kriegsgott (-»Gerovit; Svantevit). -> Kelt. Ikonographie; Kriegsgottheiten; Polykephalie. -> Ung. Hadür; Särkäny. -> Germ. Odin; Tyr.

Rusalka „Wassernymphe“, nur bei den Osl. bekannt (besonders bei den Ukrainern u. Weißrussen), zu aruss. msalija, einem heidnischen Frühlingsfest („pascha rosarum“), „Sonntag der Hl. Väter“, „Spiele an diesem Festtag“ (Vasmer EW II, 549). Das Wort wurde im 10./11. Jahrh. aus dem Sdsl. ins Russ. übernommen. Nach Jagic, AslPh 30 (1909), 629, ist rusalka selbst schon eine sdsl. Bildung, natürlich ohne die Bedeutung „Wassernymphe“, die das Wort nicht vor Ende des 16. Jahrhs. in Rußland, möglicherweise in Anlehnung an ruslo „Strömung“ erhielt. Das mgriech. govad/.ia muß direkt aus dem Rom. entlehnt sein. Jagics Annahme einer Vermittlung ist bedenklich. Unter einer R. verstehen die Osl. den Geist einer auf unnatürliche Weise ums Leben gekommenen weiblichen Person oder eines Kindes (->Geburtsfeen; Hausgeist; Hauskobolde; Mahr; Navi; Vampir; Vila; Waldgeister; Wassermann). Die R. vertritt andere weibliche Dämonen, entweder die —> Vila, wenn sie in Ruß­ land bekannt war, die —»Navi oder die bereginja, „Uferfee“. Das Volk stellt sich die Rusalki als schöne Mädchen vor. Sie haben lange Haare und tragen grüne Kränze. In Neumondnächten tanzen sie auf Waldlichtungen. Vorübergehende locken sie herbei, und wenn sie eines Menschen habhaft werden, so lachen sie schallend, ihr Lachen aber tötet den Menschen (-»Navi). Bisweilen geben sie ihren Opfern auch Rätsel auf. Wer sie löst, entzieht sich ihrer Macht. Gewisse Verhaltensweisen der Rusalki erinnern an die Vilen, doch wird man beide schwerlich miteinander gleichsetzen können. Die Rusalki sind dem Menschen durchweg feindlich gesinnt, nicht so die Vilen. (-»Feen; Menschengestaltige Gottheiten.) -» Lit. Vanduö. -» Kelt. Nymphen. -» Kinn. Wassergeist. -» Griech. Nymphen.

Sajbija

Hausgeist.

-» Totenglauben.

Lit. Neläiksis; Totenglauben.

Samodiva, Samojuda, Samovila -» Vila.

Schicksalsgöttinnen -» Geburtsfeen. Schlange -» Hauskobolde.

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Schmiedegott

Slaven

Schmiedegott -> Svarog. Schrat -> Hauskobolde. Schwan -> Vila. Seelenglauben -> Einl. A.; Geburtsfeen; Hausgeist; Hauskobolde; Mahr; Navi; Rusalka; Totenglauben ; Vila; Waldgeister. -> Lit. Scelenglauben. -*■ Kelt. Seelenglauben. -* Finn. Seelenvorstellungen. -> Ung. Seelenglauben; Tod. -> Germ. Tod.

Sim und Regl, bzw. Simartgla (gen.), Gott des osl. Kreises. Unklar, ob eine oder zwei Gottheiten. Für eine Trennung setzt sich Brückner MP, 41 f., ein. Nach ihm sei Sim verwandt mit russ. sem’ja „Fa­ milie“ (vgl. PN wie Siemowit, Siemomysl), Regl mit ursl. *nib „Roggen“, russ. roz’, poln. rez dasselbe (dazu ON Rgielsko in Polen). Andere Etym. bei M. Vasmer, EW II, 625, nämlich Verknüpfung mit biblischen Namen 'Aai/j,d& und ’£pye'2, griech.-äg. Ve/z

’Hoax/.fjQ oder mißverstandenes cri^aa “.Pz/yAou. Simar&gla begegnet in der Laurentiuschronik s.a. 980. Fremde Überlieferung vorzu­ ziehen.

Skrzak, Skrzat, Skfitek, Skrat -> Hauskobolde. Smok -> Hauskobolde. Sojcnica -> Geburtsfeen. Sonnengott -> Chors; Daz&bog; Svarog.

Stichija -> Wassermann. Stier -> Perun; Wassermann.

Stopan -> Hausgeist. Stribog, osl. Gott, angeblich Windgott. Nach M. Vasmer, EW III 27 wohl entlehnt aus airan. *Sribaya- „erhabener Gott“. Erwähnt in

der sog. Nestorchronik s.a. 980, in der russ. Fassung einer Predigt des Ioannes Chrysostomos und dem Igorlied, wo „Stribogs Enkel“ den Winden gleichgesetzt werden. Poln. ON Strzyboga bei Skierniewice legt Verbreitung auch bei den Polen nahe. -> Mittagsfrau; Vila. -> Lit. Vejopatis. -> Finn. Waldgeist. -> Ung. Nemere; Särkäny; Szel. -> Germ. Njörd.

Strzyg, Strzyga, Strzygon -> Vampir.

Suantovitus -> Svantevit. 194

Slaven

Svantevit

Sudicka, Sudenica -> Geburtsfeen.

Svantevit, Svgtovit, Suantovitus (Saxo Grammaticus, Gesta Danorum XIV), Svantaviz (Knytlingasaga Kap. 122, 313), Zwantewit und Zuantevith (Helmold II, 12 und I, 52), Gott in Arkona auf Rügen, Kriegsgott (-> Gerovit; Rugievit) und Beschützer der Felder. Erster Teil des Namens zu russ. svjatoj, poln. swiqty „heilig“, zweiter Teil, -vit, Suffix zur Bildung von PN. Nach Brückner, EW 199. 537 identisch mit Jarovit (-> Gerovit), weil sv$t- und jar- ursprünglich mit der gleichen Bedeutung „stark“; „heilig“ erst unter christ­ lichem Einfluß. Mit alter Bedeutung PN wie russ. Svjatoslav, Svjatopolk. Brückner vergleicht S. (bzw. Jarovit) mit dem alten italischen Mars, dem Krieg und Ackerbau gleichermaßen geheiligt waren (vgl. Brückner MSt, 166).

Die ausführlichste Schilderung stammt von Saxo Grammaticus. Danach hat in Arkona, das 1168 durch den Dänenkönig Waldemar zerstört wurde, ein überlebensgroßes Standbild des Gottes gestan­ den (—> Götterbilder), das, als es gefällt wurde, eine Wand des Tempels einriß (Wienecke bezweifelt die Existenz einer solchen Statue). Das Fest des S. war das Erntefest, damit zusammen­ hängend der von Saxo, 564 erwähnte Brauch, wonach sich der Priester hinter einen riesenhaften Kuchen stellte und die Bauern fragte, ob sie ihn sähen, und, wenn diese antworteten „ja“, wünschte, er möge nächstes Jahr nicht mehr zu sehen sein, was bedeuten würde, daß der Kuchen infolge der nächsten, guten Ernte noch größer wäre. Denselben Brauch berichtet auch Haase aus Rußland. Der S.-Statue war ein Füllhorn beigegeben, das jedes Jahr nach der Ernte neu gefüllt wurde. Nach dem Grade der Verdunstung jener eingefüllten Flüssigkeit innerhalb eines Jahres orakelte der Priester den kommenden Ernteertrag. Dem S. gehörte ferner ein weißes Pferd, das zu weiden oder zu besteigen nur dem Priester gestattet war. Man glaubte, der Gott ziehe auf diesem Pferde mit den Slaven ins Feld. Vor einem beabsichtigten Kriegszug pflegte man mit Hilfe des -^-Pferdes über den Ausgang des Krieges zu orakeln (->Radigast; Triglav; Vampir), indem man es in einer bestimmten Weise über gekreuzte Lanzen schreiten ließ und genau beobachtete, wie sich das Pferd dabei verhielt; bei diesem Vorgang legte man dem Pferd einen Sattel auf, woraus Wienecke schließt, man habe sich den Gott darauf unsichtbar sitzend und da3 Pferd lenkend vorgestellt. Für die Orakel wurde bezahlt, was die Haupteinnahmequelle des Tem­ pels gewesen zu sein scheint. Der Tempelschatz wurde bei der Er­ oberung ausgeliefert. Der Tempel war nach Palm ein nordischer Stabbau, dessen Außenseiten verziert waren. Das Heiligtum von 13

195

Svarog

Slaven

Arkona wurde 1921 von C. Schuchhardt und R. Koldewey frei­ gelegt. Der angebliche S. von Altenkirchen (als Relief in eine Mauer der Kirche eingelassen) stellt nicht den Gott dar. -> Lit. Feldgottheiten. -> Kelt. Heiligtümer; Ikonographie; Kriegsgott­ heiten; Mars; Orakel. -> Finn. Ackerbauriten. -> Ung. Hadür. -> Germ. Mantik; Odin; Tyr. -> Griech. Feldgottheiten.

Svarog, Svarozii, Zuarasici (Thietmar v. Merseburg VI, 17), Zuarasiz (Bruno v. Querfurt in einem Brief an Heinrich II. vom Jahre 1018), Feuer- und Sonnengott. Name urverwandt mit ai. svargas „Him­ mel“, ahd. gi-swerc „finsteres Wettergewölk“, angs. sweorc „Dunkel, Nebel, Wolke“ (vgl.Vasmer, EWI, 586). Suffix -ic (osl.)bzw. -ic (wsl.) ist Diminutiv und nicht Patronymikon (vgl. Brückner, Thesen), da sonst Helios-Dazbbog® als Sohn des S. in Hypatiuschronik s. a. 1114 (Glosse zu Malalas) nicht verständlich (Schreiber hätte Svarozicb als Sohn des Svarog® angeben müssen, wenn er in -ic ein Patronymikon gesehen hätte). Svarozic® nicht nur das irdische Feuer (vgl. Brückner a. a. 0.), sondern auch das himmlische, die Sonne, weil Svarozic im Westen als Gott und nicht bloß als Feuer­ geist (wie später in Rußland) verehrt wurde. Die Bezeichnung des Sonnengottes mit einem Diminutiv ist angesichts *,s®Zw®ce, russ. solnce, skr. sunce usw. „Sonne“ (Dimin.) nicht verwunderlich, vgl. Namen für den Mond ksiqzyc, meSgcek. Früher Beiname des Svarozic schon ->Daz&bog, der dann die Funktion des Sonnengottes bei den Sl. übernahm (dessen Name etym. durchsichtiger; Daz&bog auch unter den Kiever Götterbildern erwähnt, Svarozic nicht), während Svarozic zu einer Art Feuergeist wurde (so in Predigten des Gregor v. Nazianz in der russ. Fassung, des Ioannes Chrysostomos in russ. Über­ setzung, des Slovo nekoego christoljubca). Svarog® (Hypatius­ chronik s. a. 1114 gleichgesetzt mit [-> Griech.] Hephaistos) ist vermutlich eine Rekonstruktion des Glossators nach Svarozic, da die dim. Form zur Bezeichnung des Vaters der Sonne nicht passend erschien. Identifizierung des Svarog® mit Hephaistos, dem gött­ lichen Schmied und Stifter der Einehe (nach Hypatiuschronik) wahrscheinlich auf Grund volksetym. Deutung des sl. Namens, vgl. russ. svarit’ „zusammenschweißen, verheiraten“ (s. Jagic I, der diese Etym. dem Namen überhaupt zugrunde legt). Svarozic hat wegen der Verehrung des Feuers, besonders des Herdfeuers, bei allen Sl. (Moszynski I, 494—509) bis weit in die christliche Zeit hinein eine Rolle gespielt (vgl. die obengenannten Predigten). Da sich Svarozic in Rußland wie auch bei den Sl. in Deutschland belegt findet und weil er seiner Bedeutung nach für einen Ackerbauern wichtig war, wird man ihn trotz scheinbar fehlender Zeugnisse bei

196

Slaven

Triglav

den Sdsl. (hier haben wir an seiner Stelle Dabog) als die höchste sl. Gottheit ansehen dürfen (-> Dazbbog; Perun). In Rußland mag sein Kult durch den von den Warägern gestützten —> Perun-Kult zurückgedrängt worden sein. Eine Wanderung des Gottes von Westen nach Osten (Jagic a. a. 0.) oder gar eine von Osten nach Westen (Wienecke) ist nicht möglich, da die Voraussetzungen hier­ für fehlten. Das von Brückner MP, 29, beigebrachte ON-Material aus Polen (Swarocin, Swaryszew, Swarzykowo, Swarzen, Swarz$dz, Swaryz und Swaruzewo) läßt sich mit dem Namen schwerlich ver­ binden. Ebenso steht es mit Namen aus dem sdsl. Bereich (s. Peisker, Blätter für Heimatkunde [Graz 1924], 4), etwa Twaroch, ON in Slovenien (1309) oder Tbaraschitzberg in der Untersteiermark (1480), die angeblich nach tvarog „Quark“ umgebildet sein sollen. -> Chors; Hauskobolde; Ovinnik. -►Lit. Gabetä; Säule. -> Kelt. Feuer; Ikonographie; Iuppiter; Sonne. -> Finn. Feuergeist; Feuerriten; Umarmen. -►Ung. Isten; Tetejetlen nagy fa; Urreligion. -> Germ. Muspell; Njörd; Sonne.

Tempel

Radigast; Ruglevit; Svantevit.

Ten(j)ac -> Vampir.

Teufel -> Dazbbog; Perun; Vampir; Veles. -> Lit. Teuflische Götter. -* Finn. Teufel. -> Ung. Ördög.

Tiergestaltige Götter und Dämonen -> Hauskobolde; Mahr; Navi; Vampir; Vila; Waldgeister; Wassermann. -> Lit. Tiergestaltige Götter. -> Kelt. Tiergestalt der Götter. -> Finn. Tier­ gestalt. -> Ung. Tiergestaltige Wesen. -> Germ. Gestaltwechsel. -> Griech. Tiergestaltige Götter.

Topiec, Topielec -> Wassermann. Totenglauben -> Einl. B.; Geburtsfeen; Hausgeist; Hauskobolde; Mahr; Navi; Rusalka; Vampir; Veles; Vila; Waldgeister; Wasser­ mann. -►Lit. Totenglaube. -► Kelt. Tod. -►Finn. Ahnenkult; Totenglaube. -► Ung. Tod. -* Germ. Tod. -► Griech. Totenglaube.

Triglav, Trigelawus (Ebo II, 1), Triglaus (Herbord II, 32), Triglous (Mon. Priefl. II, 11), Tryglav (Chronicon march. Brand.). Gott der Ostseeslaven. Erster Teil des Namens, tri „drei“ (so unter Berück­ sichtigung der Lautwandlungen in allen sl. Sprachen), zweiter Teil, -glav, zu ursl. *golva „Kopf“ (russ. golova, skr. glava, tschech. hlava), also „Dreikopf“. 13»

197

Trojan

Slaven

T. war „summus deus“ (Ebo III, 1) in Stettin. Verehrt auch in Brandenburg. Nach übereinstimmender Darstellung aller Chronisten soll sowohl in Stettin als auch in Brandenburg eine dreiköpfige T.-Statue gestanden haben (—> Kultstätten). (Wienecke bestreitet die Richtigkeit dieser Meldung, er leugnet die Polykephalie [-> Porenutius; Rugievit] bei den Sl. überhaupt, die seinerseits Brückner SL für gegeben hält.) Der Stettiner T. soll von Otto v. Bamberg gefällt worden sein. Die drei Köpfe habe man abgehackt und dem Papst Calixt II. (gest. 1124) angeblich als Beweis für eine erfolg­ reiche Missionierung der heidnischen Sl. übersandt (höchst unwahr­ scheinlich). Den T. in Brandenburg hat, wie H.-D. Kahl, ZfO 3 (1954), 68—76 glaubhaft machen kann, nicht Heinrich-Pribislav zerstört, sondern vermutlich Albrecht der Bär zwischen 1150 und 1157. In Stettin wurden mit Hilfe eines dem Gott geweihten Pferdes ähnliche -> Orakel angestellt wie in Arkona (-> Svantevit; Radigast; Vampir). Wienecke, der an einem Gott T. zweifelt, hält den Namen für einen ON, der zu Stettin passen soll, da Stettin auf drei Hügeln gelegen ist. Er verbindet damit auch die „urbs . . tricornis“ des Thietmar (VI, 22), die dieser Riedegost nennt (-> Radi­ gast). Demnach wäre Stettin mit Riedegost (Rethra?) gleich, eine Meinung, der man sich nicht anzuschließen braucht. Topographische und nicht mythologische Bedeutung sollen nach Wienecke ON wie Triglav bei Greifenberg und Torgdow haben (das letztere hat mit triglav nichts zu tun, sondern ist Tunja Glova „Kopf des Ur“). Auch der Triglav in den Julischen Alpen hat mit dem Gotte nichts zu schaffen. Nach BrOG, 161 — 197, soll auch der rätselhafte Tjarnaglofi (Knytlingasaga, Kap. 122) mit T. identisch sein, was äußerst zweifelhaft ist. -> Kelt. Dreizahl, Ikonographie, Polykephalie. -* Ung. Sárkány.

Trojan, mythische Gestalt bei den Russen und Sdsl., ist der röm. Kaiser Trajan (98—117), der durch die Eroberung Dakiens (107) die Grenze des röm. Imperiums bis an die Karpaten vorschob und bei den S. von sich reden machte. Bei den Sdsl. ist eine Reihe von Sagen mit seinem Namen verknüpft (s. Vuk Stef. Karadzic, Srpske narodne pripovijetke, 150ff.). In Rußland erwähnt im Chozdenije Bogorodicy po mukama, dem Slovo i otkrovenije sv. apostóla und dem Igorlied (hierzu vgl. den Kommentar von Lichacov, Slovo o polku Igoreve [Moskau-Leningrad 1950], 385f. und M. Vasmer, EW III, 142). -> Chors. Unterweltsgötter -> Totenglauben; Veles. Upar, Upir, Upérice, Upirina, Upierzyca, Upiór, Upyr’ -> Vampir.

198

Slaven

Vampir

Urisnica -> Geburtsfeen.

Utoplec -> Wassermann. Vampir, ukr. upyf, vopyf, grruss. upyr’, dial. upir’, wruss. upar, vupar, upir, poln. upiör aus upier (Eversio Atheismi des Jesuiten­ paters Gengell vom Jahre 1716) polonisierte ukr. Form (Brückner, EW, 594), daneben weiblich upierzyca, heute upiorzyca, kasch. wupi, lupi (wenn hierher gehörig), tschech. upir „Fledermaus, Vampir“, als weibliche Form dazu upefice (Jungmann Wb.), dieses wohl Lehnwort aus dem Poln., skr. upir, upirina, bulg. vepir, vbpir, vapir, daneben noch in allen Slavinen vampir. Etym. noch unklar. Sicher ist das Wort nicht türkisch (wie von Holub-Kopecny, EW, 403 angesetzt), sondern slavisch. Urslav. Ansatz jedoch ungewiß. Zur Auswahl stehen *gpir’, *gpyr’ (Vasmer, EW III, 186) und *upir’ (Vaillant, Slavia 10 [1931], 678). Die Schwierigkeit besteht darin, das in ganz Europa bekannte Vampir, fr. vampire, das zwei­ fellos sl. ist, mit einem der genannten Ansätze in Übereinstimmung zu bringen. Vaillant sieht in Vampir eine skr. Form, die volksetym. aus upir nach dem Muster vazduh — uzduh entstanden sein und ein sekundäres -m- erhalten haben soll (wie dial. tambor aus tabor, dumbok aus dubok); das widerspricht aber einem in der Gegend von Lublin gebrauchten wapierz und dem ON Wqpiersk (in Urkunden Wampertsch [1411], Wamperschke, Wampersch). Daß es sich hier tatsächlich um eine Ableitung von wapierz „Vampir“ bzw. „Hexe“ handelt, sieht man aus einem in der Nähe von Wqpiersk vorkom­ menden Flurnamen Strzygi (Ableitung von strzyga „Hexe“), ferner als ON in Rußland Upiry, Upirov (Moszynski, 666). Man wird also einem der beiden nasalierten Ansätze den Vorzug geben. Die Schwierigkeit, zu erklären, aus welcher sl. Sprache das dt. Vampir stammt, ist damit immer noch nicht aus der Welt geschafft. Es kann sich nur um eine Sprache handeln, die die alten sl. Nasal­ vokale nicht entnasaliert hat. In Frage kommen das Polab., Poln. und eine Mundart des Maked. (Sobolewskij in EW entscheidet sich für das Polab. bzw. Apoln., Holub-Kopecny, EW und Brückner, EW, 594 für das Maked.) Das Apoln. scheidet aus, weil Vampir in Deutschland und Westeuropa erst seit dem Anfang des 18. Jahrh. bekannt ist (vgl. Vaillant; in den Jahren 1725 und 1731 berichteten Zeitungen über zwei Fälle von Vampirismus in Serbien), zu jener Zeit hatten die Polen aber den Ausdruck strzyga, upierz gerade aus dem Ukr. entlehnt. Die Spur führt auf das SdsL, und zwar auf das Maked., nicht auf das Serb. Nachdem sich vampir in Europa ein­ gebürgert hatte, wanderte es aller Wahrscheinlichkeit nach zu den Sl. zurück und verdrängte z. T. die alten einheimischen Ausdrücke,

199

Vampir

Slaven

wie z. B. bei den Serben und Kroaten, wo vampir schriftsprachlich, upir dagegen mundartlich ist. Daß es sich hier um ein Fremdwort handelt, sieht man aus der volksetym. Umgestaltung zu lampir, was mit dem einheimischen Wort nie hätte geschehen können. Die maked. Herkunft des Wortes wird auch durch bulg. vapir nahe­ gelegt, welches kein Serbismus ist, wie Vaillant annimmt, sondern eher Makedonismus (maked. in nördlichen Dial. g zu a). Die Grundbedeutung von *gpir’ bzw. *gpyr’ ist „fliegendes Wesen“ (nach Brückner MP, 85f., entspricht (w)p- der Vorsilbe w- „in“, -pyr’ stellt er zu netopyr’ „Fledermaus“); leitet man von *gpir’ ab, müßte mit pero „Feder“ verglichen werden, an der Grundbedeutung würde sich jedoch nicht viel ändern. Außerdem noch andere Aus­ drücke: bulg. plbtnik, phtenik zu asl. pfoto „Körper, Menschen­ fleisch“, Bedeutung demnach „der (wieder) zu Fleisch Gewordene“; skr. (Montenegro) ten(j)ac; poln. strzyga, strzyg, strzygon nach lat. strix „Ohreule, die den Kindern das Blut aussaugt“ (Brückner MP, 83). Unter dem V. versteht ein Teil der Sl. entweder den Geist eines Verstorbenen (—> Lit. Vaidilas) oder den durch einen bösen Geist (in manchen Gegenden den -> Teufel) zum Leben erweckten Leich­ nam (-> Seelenglauben; Totenglauben); diese zweite Konzeption findet sich bei den Sdsl., vornehmlich bei den Bulgaren (Moszynski, 661). Der V. saugt lebenden Wesen (Menschen wie Tieren) das Blut aus (—>Mahr), was den Tod des Betreffenden zur Folge hat. Der Glaube an den V. ist besonders auf dem Balkan und bei den Ukrainern stark entwickelt. Er findet sich auch bei den Kaschuben, einem Teil der Polen, den Tschechen und Slovaken. In weiten Teilen Groß- und Weißrußlands fehlen dem V. die hervorstechendsten Eigenschaften (Blutsaugen und Morden). Auch bedeuten upyr’ und seine Entsprechungen in den einzelnen Slavinen nicht immer das­ selbe, am Dnjestr versteht man darunter einen Zauberer; der Pole verbindet mit upiör nur den Geist eines Verstorbenen, der nachts umherwandelt und die Lebenden schreckt (dagegen strzyga als blut­ saugendes Ungeheuer). Die Serben und Kroaten haben den Namen des Werwolfes (->Lit. Vilktakas), vukodlak, örtlich auf den V. über­ tragen, bzw. identifizieren beide miteinander (Krauss, 125), die Kaschuben haben ferner viesc, die Slovenen vedomec (beides eigent­ lich „Zauberer“) für den ursprünglichen Namen (Vaillant a. a. O., 677), auch in Kroatien findet man (v}jedogonja „Zauberer, Vampir“. Sterben von einer Familie mehrere Personen in kurzem Abstand hintereinander, glaubt man, ein V. treibe sein Unwesen. Nach dem Tod wird ein Verbrecher zum V., ein ansonsten rechtschaffener

200

Slaven

Vampir

Mensch jedoch nur dann, wenn ein unreines Tier (Katze, Hund, Maus, Huhn) über seinen Leichnam bzw. über das offene Grab springt; daher muß an der Bahre des Toten Wache gehalten werden. Der Vampir kann in vielerlei Gestalt erscheinen, als Mensch wie auch als Tier (-> Tiergestaltige Dämonen). Die Sdsl. glauben, er sei behaart wie ein Hund, habe blutige Augen und Zähne, und Flammen schlügen aus seinem Maul. Verbreitet ist auch die Vorstellung, der V. habe keine Knochen, sondern sei ein mit Blut gefüllter Sack, der zustande kommt, indem der Teufel einer bestimmten Leiche die Haut abziehe und sie auf­ blase. Um das zu verhindern, verwundet man die Leichen solcher Personen, von denen man glaubt, sie könnten zum V. werden. (Sollte der Teufel den Balg aufblasen, würde die Luft ent­ weichen.) Gegen den V. gibt es kein zuverlässiges Abwehrmittel. Man kann ihn günstig stimmen, wenn man ihn bewirtet (Kroatien; —> Hausgeist), in anderen Gegenden darf man das nicht, sondern muß ihn in den Wald weisen (Serbien). Als Abwehrmittel wird auch empfohlen, die Türen von Häusern und Scheunen kreuzweise mit Teer zu bestreichen oder sich einen spitzen Gegenstand unter das Kopfkissen zu legen. Am besten aber tut man, die Entstehung eines V.s überhaupt zu verhindern (s. oben) oder ihn unschädlich zu machen; dazu gehört aber, daß man zuvor sein Grab feststellt. Das erreicht man, indem man ein Fohlen über die verdächtigen Gräber schreiten läßt. Da das Fohlen als Geisterseher gilt (—>Pferdeorakel), glaubt man, es müßte vor dem betreffenden Grabe scheuen. Man streut auch Asche um die Gräber. Auf der Asche sollen sich Fuß­ spuren abbilden. Hilft dieses Verfahren nicht, so bleibt nichts anderes übrig, als die jüngsten Gräber der Reihe nach zu öffnen und nach dem Grade der Verwesung der Leichen den V. ausfindig zu machen. Ist das geschehen, wird die Leiche mit einem Weißdorn­ pfahl (bei den Sdsl.) durchbohrt und schließlich verbrannt, wobei der Pope geistliche Lieder singt. Die Arten, einen V. unschädlich zu machen, sind verschieden. Sehr beliebt ist es, den Schädel einer Leiche mit einem Pflock oder Nagel zu durchbohren, in das Fleisch unter der Zunge einen Dorn zu treiben (was den V. am Blutsaugen hindern soll), die Leiche mit dem Gesicht nach unten zu bestatten (damit sich der V. in der Erde festbeiße), ihr eine Sichel um den Hals zu legen (damit sich der V. den Hals zerschneide, wenn er das Grab verläßt) und ähnliches (—> Zauber). Als ärgster Feind des V. gilt bei den Maked. der cetvorook wörtlich „Vierauge“, das ist ein Hund, der über jedem Auge einen Haarwirbel hat. Er erkennt den V., setzt ihm nach und zerreißt ihn. Übrig bleibt eine gallert­ artige Blutmasse.

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Vapir

Lit. Totenglauben; Vaidilas; Zauber. -> Ung. Zauber. -> Germ. Zauber.

Slaven

Kelt. Magie. -> Finn. Zauber.

Vapir -> Vampir. Vastrman —> Wassermann.

Vedomec —> Vampir.

Veles und Volos. Nach Vasmer, EW I, 180f. 221 zwei verschiedene Götter, da lautlich miteinander nicht vereinbar. Nach Brückner, Thesen ist Volos aus Veles in Anlehnung an den Namen des Hl. Blasius (BAdoioz) umgestaltet. Vasmer a. a. 0., 180 schlägt Ver­ knüpfung von Veles mit abulg. velvjb „groß“ vor, Brückner (in fast allen seinen mythologischen Arbeiten) verbindet mit -^-Lit. Veles, den „Seelen der Verstorbenen“, und sieht in Veles bzw. Volos den sl. Gott der Unterwelt (-> Totenglauben). Volos stellt Vasmer, 221 zu an. vgls „Priapus“. Veles begegnet im Chozdenije Bogorodicy po mukams und im Igorlied sowie der verhältnismäßig späten Vita des Avraamij aus Rostov. Mansikka sieht in Veles eine sdsl. Umgestaltung des osl. Volos (zu verwerfen, s. Brückner). Veles im modernen Tschech. heißt „Teufel“, was Brückner als Beweis für die Eigenschaft desselben als Gott der Unterwelt ansieht (unzulässig, weil andere Götter auch dem -> Teufel gleich wurden, vgl. slk. parom -> Perun, skr. -> Dabog). Volos erscheint in der sog. Nestorchronik s. a. 907 und 971 in den zwischen Russen (Oleg bzw.Svjatoslav) und Byzantinern geschlosse­ nen Verträgen mit dem Zusatz slcotvjb bogb „Viehgott“, bei welchem die nichtwarägischen Russen zu schwören hatten (s. Rozniecki). Dieser Zusatz, der der Unterscheidung des Gottes der Waräger, Perun, von dem der Slaven dient, verdankt seine Entstehung ent­ weder einer volksetym. Deutung des Namens Volos (zu vol „Ochse“) oder einer Anlehnung an den Namen des Hl. Blasius, den Be­ schützer des Viehs (—>Hausgeist; Waldgeist). In beiden Fällen bleibt unentschieden, wie der Name des Gottes früher gelautet hat. Die Verknüpfung mit Blasius wird von Vasmer aus lautlichen Gründen abgelehnt.

Über die Verbreitung von Veles und Volos ist nichts bekannt. Brückner MP, 37, berichtet von einem Drachen (—> Hauskobolde; Wassermann) Woloszyn und einem gleichnamigen Berg in der Tatra, eine Lautform, die auf poln. Gebiet bedenklich stimmt. Vepir -> Vampir.

202

Slaven

Vila

Vichri -» Sturmgeister; Vila. Viehgottheit -» Hausgeist; Veles; Waldgeister. Vila (sg.), Vilen (pl.). Entstehung des Wortes wie auch des Glaubens noch nicht restlos geklärt. Skr. vila, slov. vila, bulg. vila, diva, juda, samovila, samodiva, samojuda, aruss. vila, slovak. vila. Verschiedene Etym. (vgl. Vasnier, EW I, 200). Moszyhski, 695, verbindet mit viti „winden“ und asl. vich’bn „Wirbelwind“; Schneeweis, 18, stellt es zu lit. vijas (—>Lit. Vöjöpatis), ai. väyü- „Luft“, idg. *uej,o„Wind“. Beide Etym. besagen im Grunde dasselbe, sie deuten die V. als Wind- und Sturmgeist, als welche sie auch heute noch er­ scheint, die Bulgaren sehen in den V. die Schwestern der Vichri, der Sturmgeister. Die V. kennt man nur bei den Slovaken und Sdsl. Angaben über ihr Vorkommen auch bei den Polen sind falsch. Manches wollte man so ausdeuten, daß sie auch die Tschechen früher gekannt haben. Vila „Waldfee“ ist bei ihnen im 15. Jahrh. belegt, doch gibt es eine Reihe von älteren Ortsnamen, z. B. Vilice bei Tabor, Vilov bei Domazlice, Vilin bei Sedlcany u. a. m. In der atschech. Dalimil-Chronik (3,53) steht wyla „Narr“ (so auch apoln.), was zwar auf eine bestimmte Eigenart der V. (s. u.) hin­ weist, aber nicht mit ihnen zusammenzuhängen braucht. Ntschech. vila ist (wegen der Länge) Entlehnung aus dem Sdsl.; Machek, EW 567 nimmt literarische Entlehnung an. In Rußland werden die V. im 11./12. Jahrh. erwähnt (Slovo nek. Christoljubca, Slovo sv. otca nasego Ioanna Zlatoustago), doch ist nach Mansikka zweifel­ haft, ob die V. in Rußland tatsächlich lebendiger Bestandteil des Volksglaubens waren, oder ob sie nicht durch literarische Vermitt­ lung zu den Russen kamen. Wenn das so ist, dürften die russ. —» Rusalki nicht, wie Schneeweis annimmt, mit den V. identisch sein, obwohl sie mit diesen einige gemeinsame Züge haben. In der Slovakei (Gegend von Zilina und Trencansko) glaubt man, die V. seien die Seelen verstorbener Mädchen (-»Geburtsfeen; Hausgeist; Haus­ kobolde; Mahr; Navi; Rusalka; Vampir; Waldgeister; Wasser­ mann), die im Grabe keine Ruhe finden können und junge Männer in die Mitte ihres todbringenden Reigens locken (-»Totenglauben). Hier, in der Slovakei, haben die V. mit den Rusalki tatsächlich eine weitgehende Ähnlichkeit, doch sind diese Züge nicht ursprünglich, sondern von anderen Dämonen (vermutlich den -»Navi) über­ nommen. Die V. treten in ihrer charakteristischen Form nur bei den Sdsl. auf. Unter einer V. versteht man da ein weibliches Wesen von großer Schönheit mit langen, blonden Haaren (-»Feen; Menschengestaltige Gottheiten). Nach ihrem Aufenthaltsort unterscheidet man Land- bzw. Wald-V. (zagorkinje, pozemne vile),

203

Vila

Slaven

Wasser-V. (brodarice, povodne vile) und Wolken-V. (vile oblakinje, zracne vile). Sie erscheinen oft in der Gestalt eines Schwans, manch­ mal eines Falken, —> Pferdes (->Kelt. Epona; Ung. Särkäny; Germ. Loki), ja sogar Wolfes (—> Tiergestaltige Götter). Die Wolken-V. erscheinen als Wirbelwind (ebenso die —> Mittagsfrau). Zur Nacht­ zeit jagen sie mit Geheul unter Pfeifen- und Trommelklang durch die Wolken. Wer vors Haus geht und nach ihnen ruft, wird auf der Stelle steif und kann sich nur mit Mühe zurückbegeben. Er bleibt von Siechtum befallen und stirbt nach ein, zwei Jahren (Maked.). Die V. reiten gern auf Pferden oder Hirschen, sie gehen auf die Jagd (—»Kelt. Diana), tanzen im Reigen (skr. vilino kolo, bulg. samodivski iqriska) und suchen die Liebe schöner, starker Männer (—» Lit. Laume), denen sie mit Rat und Tat zur Seite stehen, denen sie im Kampf gegen ihre Feinde helfen. Diese ihre Kampfeslust erinnert an die —»germ. Walküren und ist in der sl. Dämonologie einmalig. Jeder serbische Volksliedheld hat eine V. zur posestrima „Wahl­ schwester“ (vgl. einige der von Vuk Stefan Karadzic gesammelten Lieder, Srpske narodne pjesme, I—IX, Staatsausgabe [Belgrad 1891 — 1902]). Doch nicht nur dem Helden kann die V. posestrima sein, sondern auch einem Mädchen. Es kann sich von der V. Schön­ heit erbitten (Karadzic, Nar. Pjes. I, Nr. 224) oder sie auffordern, den Geliebten in der Ferne zu beschützen (Karadzic, Nar. Pjes. I, Nr. 227). Die V. sind mit übernatürlichen Kräften begabt. Ihre Burgen, die sie am Rande der Wolken bauen, sind von nie gesehener Pracht. Die V. gelten allgemein auch als heilkundig (vgl. das Lied Marko Kraljevic i Vila, Karadziö, Nar. Pjesm. II.). Am bekann­ testen ist die V. Ravijojla. Den Namen leitet Beric, Prilozi 20 (1954), 267—276, von Rafael ab. Der Erzengel tritt auch in der Bibel als Heiler auf. So sind die V., Helferinnen in Liebesdingen und treue Kampfgefährten, dem Menschen im allgemeinen wohlgesonnen, was sie wesentlich von den —» Rusalki unterscheidet, doch können sic sich furchtbar rächen, wenn man sie beleidigt, ihre Anweisungen nicht befolgt oder ungebeten ihrem Reigen zu nahe kommt (^Haus­ geister). Mit ihren Pfeilen verwirren sie dem Menschen den Ver­ stand (vgl. o. atschech. wyla „Narr“) oder sie bewirken einen Hitz­ schlag (wie auch die —»Mittagsfrau). Sie stehlen (-»-Hausgeist) Kinder und lassen an ihrer Stelle Wechselbälge zurück (ebenso die Mittagsfrau; -> Lit. Laum§). Das Volk verehrte sie, indem es Blumen, Speise oder Trank vor die Höhlen legte, in denen es V. vermutete. -»Lit. Medis; Totenglauben; Vanduo. -» Kelt. Heilgötter. -» Finn. Heil­ kunde; Waldgeist. -» Ung. Boldogasszony; Nemere; Särkäny; Szel. -» Germ. Disen; Njörd.

204

Slaven

Waldgeister

Vjedogonja

Vampir.

Viesc -> Vampir.

Vodjanoj, Vodnfk, Vodni Muz, Vodni Moz Vögel

Hauskobolde; Navi; Waldgeister.

Volos

Veles.

Vopyr’, Vupar, V'i.pir

Wassermann.

Vampir.

Vucji Pastir -> Waldgeister. Vukodlak -> Vampir.

Waldgcister. Zu unterscheiden ist hier zwischen dem eigentlichen Waldgeist (oder Wolfshirten, wie er bei den Serben und Kroaten heißt) und einer Reihe von die Natur bevölkernden Schreck­ gespenstern (s.u.). Der W., grruss. lesij, lesovik, lesak, lesovoj, weißruss. lesavik, ukr. lisovyk, lisun, polisun, lisovyj cert, poln. laskowiec (Ableitungen von asl. lest „Wald“), poln. borowy, borowiec, boruta, tscbech. borovit (nach Jungmann Wb.) (zu poln. bör „Wald“), skr. vucji pastir „Wolfshirte“, ist seiner Entstehung nach noch nicht ganz geklärt. Manches deutet daraufhin, daß es sich um die Seelen von im Walde durch Gewalt Umgekommenen handelt (—> Seelenglauben; Toten­ glauben), jedoch dürfte diese Erklärung nicht die einzige sein (Moszynski glaubt, die personifizierte Natur könnte hier eine Rolle spielen). Der Glaube an den W. findet sich bei allen 0.- und Sdsl., wohingegen er bei den Wsl. überhaupt nicht oder nur sporadisch auftritt. Der W. ist der Beschützer der wilden Tiere. Man stellt sich ihn als Hirten vor (—> Menschengestaltige Gottheiten), dessen Herde aus Hirschen, Rehen oder Hasen besteht und dessen Wachhunde Wölfe oder Luchse sein sollen. Anderenorts, besonders bei den Sdsl., ist er der Herr der Wölfe. Die Hirten lassen es sich darum angelegen sein, den W. durch -> Opfergaben günstig zu stimmen. Den Hirten, denen der W. gewogen ist, beschützt er das Vieh ( ->Hausgeist; Volos). Es wird erzählt, daß der W. seine Wölfe alljährlich um sich versammelt und ihnen die Beute für das kom­ mende Jahr zuweist, welche sie auch trotz aller von Menschen ge­ übten Vorsichtsmaßregeln erhalten. Auch sollen die Wölfe in Be­ gleitung des W.s unsichtbar sein. Der W. kann sich dem mensch­ lichen Auge in mancherlei Gestalt darstellen, als Hirte auf einem Wolfe reitend, als Wolf, Uhu oder als anderes Waldtier (—>Tier-

205

Wassermann

Slaven

gestaltige Götter). In fast allen Gegenden, in denen man an einen W. glaubte, haben christliche Heilige einzelne seiner Züge über­ nommen. So gilt bei den Russen und Kroaten der Hl. Georg als Be­ schützer des Viehs. (Im Gebiet um Smolensk bittet man ihn, sich des Viehs anzunehmen. Der Georgstag ist der Feiertag der Pferde.) St. Georg gilt in Kroatien und Rußland nunmehr auch als Be­ schützer der Wölfe. Die Serben haben den Hl. Sava und den Hl. Arandeo (Erzengel Michael), die Polen den Hl. Nikolaus an die Stelle des W.s gesetzt. Zu der anderen Gruppe von Walddämonen zählt man die poln. boginki (pl.), ukr. bohyni (pl.), weißruss. lojmy, grruss. certovki u.a.m. Hier handelt es sich um weibliche Walddämonen, die dem Menschen durchweg feindlich gesinnt sind. Die Vorstellungen von ihnen über­ schneiden sich mancherorts mit denen vom —»-Wassermann und den -> Geburtsfeen. ->Feen; Hexen. -> Vila. -> Lit. Medeîné; Médis; Neläiksis; Vilktakas; Z vérifié. Kelt. Waldgottheiten; Wolf. -> Finn. Waldgeist. -> Ung. Dula und Bereka.

Wassermann, grruss. vodjanoj, osorb. wodzan, wodnik, slovak. vodnik sind Ableitungen von voda „Wasser“; poln. topielec, topiec, poln.schles. utoplec zu topic „ertränken“. Die Gestalt des W.s scheint bei den Wsl. und Slovenen unter dt. Einfluß geraten zu sein, davon zeugen tschech. hastrman, atschech. vastrman aus ahd. wazzerman (Machek, EW, 125), slovak. hastrmdk, so auch osorb. hastrman „Wildfang“ (wenn nicht tschech. Lehnwort), osorb. nykus aus ahd. nihhus (woraus dt. „Nix“, „Nixe“) und die Lehnübersetzungen osorb. wodni muz, tschech. vodni muz, slov. vodni moz nach dt. Wassermann. Ein W. entsteht nach sl. Glauben aus einem ertrun­ kenen nichtgetauften oder von der Mutter verfluchten Kinde (-> Ge­ burtsfeen; Hausgeist; Hauskobolde; Mahr; Navi; Rusalka; Vam­ pir; Vila; Waldgeister). Er bewohnt Seen, Flüsse und Teiche, be­ sonders solche, die wegen ihrer Strudel für den Menschen gefährlich sind (nach dem Glauben der Oberschlesier hält er sich vornehmlich in den durch ihre Untiefen berüchtigten Grubenteichen auf); bis­ weilen kommt er ans Ufer, um sich auszuruhen. Er kann in mancher­ lei Gestalt erscheinen, als Tier (meistens als Fisch ; —> Tiergestaltige Götter) oder als Mensch (->Menschengestaltige Gottheiten). Er hat lange grüne Haare (so bei den Sorben und Polen). Der W. ist den Menschen durchweg feindlich gesinnt, er lockt sie in die Gewässer, um sie zu ertränken. Die obschles. Polen glauben, er verheirate die Männer, die ihm zum Opfer fielen, mit seinen Töchtern (—>Finn. Maahiset 1) oder stelle sie als Diener in seinem Unterwasserpalaste an (vgl. J. Lompa, Schlesische Provinzialblätter, NF 1 (1862),

206

Slaven

Weissagung

393—396); liier handelt es sich wohl um dt. Einfluß. Aus der Vor­ stellung, der W. betrachte seine Opfer als Tribut, den ihm die Menschen schulden, erwächst der Glaube, man dürfe einem Er­ trinkenden nicht zur Hilfe eilen, wolle man sich nicht der Rache des W. aussetzen. Um ihn günstig zu stimmen, bringt man ihm -> Opfer dar. Werden die Anwohner von Gewässern durch die im Frühjahr über die Ufer tretenden Wasser in Schrecken versetzt, glaubt man, es sei das Werk des W.s oder — da, wo er nicht bekannt ist — anderer Wasserdämonen. Den W. beschwichtigt man in diesem Falle, indem man einen Tribut entrichtet. So haben die Bauern im ehern. Gouvernement Archangelsk im Frühjahr gemeinsam ein -> Pferd gekauft, es gut gefüttert und dann, nachdem sie ihm einen Stein um den Hals gebunden hatten, dem W. zuliebe ertränkt. In Polen opferte man ihm jedes Jahr ein Huhn (-> Hausgeist; Haus­ kobolde). Ebenso taten die Sl. an der Donau (besonders die Fischer), sie opferten Lebewesen, einen Hahn, ein Lamm, eine Maus. Fischer und Wassermüller, welche fürchten, der W. zerstöre ihre Werk­ zeuge, kaufen sich von ihm durch Opfer los. Auch beim Brückenbau spielten solche Opfer eine bedeutende Rolle. An den W. glauben die Wsl., die Slovenen, Kroaten, Großrussen und ein Teil der Weiß­ russen. Bei einem anderen Teil der Weißrussen und bei den Ukrai­ nern tritt an seine Stelle die -> Rusalka. Die Sdsl., d.h. ein Teil der Kroaten, die Serben und Bulgaren kennen ihn nicht. Die Kroaten sprechen von einer Wasserhexe (-> Hexen), bei den Serben er­ scheinen hier die -> Vilen (Wasservilen), die den Menschen jedoch gut gesinnt sind und sie vor verunreinigten Gewässern warnen, die Bulgaren glauben an die stichija (aus griech. aToi'/fäov), worunter sie sich eine Frau mit langen Haaren vorstellen, die in tiefen Seen und Flüssen haust und badende Menschen hinabzieht (—>Feen; Lit. Vanduö; —>Finn. Wassergeist). Außerdem kennt man auf dem Balkan noch andere Wassergeister. Sie halten sich vornehmlich in einsamen Bergseen auf und können in vielerlei Gestalt erscheinen (Stier I^Kelt. Stier; Ung. Stier], Pferd [vgl. Kelt. Rudiobos; Ung. Menröth; Tältos], Drache. [—>Hauskobolde; Veles]).Die Dalmatiner sprechen von den morslä ljudi „Meermenschen“, die, halb Fisch, halb Mensch, nachts ans Ufer kommen und mit einem leuchtenden Stein das Land erhellen. Wem es gelingt, in den Besitz eines solchen Steines zu kommen, wird sein Leben lang glücklich (Schneeweis, 29). -> Lit. Akmuö; Nelaiksis; Potrimpus; Totenglauben. -> Kelt. Steine; Wasser. ->■ Finn. Steine. -> Ung. Äldö-küt.

Weissagung -> Geburtsfeen; Radigast; Svantevit; Triglav; Vampir. -> Kelt. Orakel. -> Finn. Omen. -> Germ. Mantik. ->■ Griech. Orakel.

207

Werwolf

Slaven

Werwolf -> Vampir.

Wind(götter) -> Mittagsfrau; Stribog; Vila.

Wödni Mui, Wödnik, Wodian -> Wassermann.

Wupi -> Vampir. Zagorkinja -> Vila. Zauber, Beschwörungen -> Hausgeist; Mahr; Navi; Vampir. -> Lit. Zauber. -> Kelt. Magie. -> Finn. Zauber. -> Ung. Zauber. -> Germ. Zauber.

2irovik _> Hausgeist. Zmej, Zrnija -> Hauskobolde. Zmora -> Mahr.

Zraßne vile -> Vila. Zuantevith, Zwantewit -> Svantevit. Zuarasici, Zuarasiz -> Svarog. Zwerge -> Einl. B.

208

DIE MYTHOLOGIE DER UNGARN VON

MICHAEL DE FERDINANDY

A. Zeittafel Mitte des 5. Jahrhs.

nach 496

615-679

14

Die türkischen Onoguren ziehen aus Zentralasien, aus dem Gebiet östlich des Ui, nach Westen in das Gebiet nördlich des Kaukasus und lassen sich zunächst am Kuban, wenig später unmittelbar östlich des Dnjepr nieder. Hier vereinigen sie sich mit den nach der Gotengeschichte des Jordanes über den Dnjepr zurück­ flutenden Resten der Hunnen, die nach der Niederlage (469) des Attilasohnes Dengisig (bei Jordanes: Dintzik) hier Zuflucht suchen. Von dieser Zeit an überwiegt die Benennung „Onogur-Bulgaren“. Über diese Onogur-Bulgaren regiert 615—679 ihr größter Herr­ scher, Kurt oder Kuvrat, laut einer bei den Bulgaren in einer altslavischen Übersetzung erhaltenen Fürsten­ liste Nachfahre eines anderen — auch bei Priskos Rhe­ tor erwähnten — Attilasohnes, Ernak. Kurt gelingt es, die Reiternomaden der südosteuro­ päischen Steppe wie teilweise auch die Fischer- und Jägervölker der nördlich jener Steppe sich erstrecken­ den Waldzone oder — genauer ausgedrückt — die Mehrzahl der vom Awarenreich östlich und vom westtürkischen Reich westlich hausenden Stämme organi­ satorisch zusammenzufassen. Hier — Fischer und Jäger erwähnend — stoßen wir auf die ugrischen Völker — den östlichen Teil des Finno-Ugriertums —, die damals zum Teil auch noch im mittleren Uralgebiet beheimatet waren. Dort ge­ raten ihre südlichsten Völkerschaften in den An­ ziehungsbereich der politisch gereifteren, zur Staats­ bildung fähigeren onogur-bulgarischen Stämme. Wie es nun oft geschieht, daß der Herr die Sprache seiner Untergebenen erlernt, so ging es auch im Falle der die Südugrier organisierenden türkischen Reiternoma­ den : Sie zwangen den Unterworfenen die eigenen mili­ tärischen und sozialen Lebensformen auf, verloren aber selbst ihr ursprüngliches Idiom und begannen die Sprache ihrer — inzwischen durch sie selber zu Reiter-

211

Einleitung

Ungarn

hirten erzogenen — ugrisehen Untertanen zu sprechen, während andere, ursprünglich ebenfalls türkische Onogur-Bulgaren, nach Kurts Tod nach dem Balkan zogen und dort unter dem Namen Bulgar das nach ihnen benannte Land besetzten. Die letzteren nach 679 nahmen die Sprache ihrer slavischen Untertanen an. In beiden Fällen zeichnet sich das Onogurentum als eine politisch begabte, militärisch fähige ziemlich breite Führungsschicht ab. Durch diese organisiert, tritt die neue Volkspersönlichkeit, das Ungartum (hunyarus aus, onogur) als ein Volk ugrischer Sprache, aber tür­ kischer Lebensform im Laufe des 9. Jahrh. in die Ge­ schichte ein. Während dieser Zeitspanne gelingt es nach 856 Almos, dem Fürsten des mächtigsten der Stämme, des Stammes Megyer (mogyeri, megyer, magyar: daher der andere, in der heimischen Übung gebrauchte Name der Ungarn), die sieben Stämme der Ungarn (Hetumoger = Hetmagyar = Sieben Ungarn) in einem Stammesverband zusammenzufassen, aus dem durch Wahl der Stammesfürsten das Großfürstentum seines vor 895 Sohnes Arpäd (f 907) hervorgeht. Unter diesem ziehen 896 u. später dann die Ungarn in ihre heutige Heimat. Der Urenkel Ärpäds, Großfürst Geyza, öffnet um 970 das Land der 970- 997 christlichen Mission und damit der westlichen Kultur. 997-1038 Was er begonnen, ward unter seines Sohnes, Stephans d. Hl., langer Herrschaft vollendet, wobei ein welt­ geschichtliches Unikum zustande kommt: Das heid­ nische Reiternomadenvolk der Ungarn büßte, indem es christlich und seßhaft wurde, weder seine Sprache noch die Grundzüge seines Charakters und seiner Denkungsart noch solche Urformen seiner politischen und wirtschaftlichen Organisationen, die mit der neuen christlichen und seßhaften Lebensform zu vereinigen waren, ein. Z. Gombocz, Die bulgarisch-türkischen Lehnwörter in der ungarischen Sprache (Mémoires de la Société Finno-Ougrienne, XXX., Helsinki 1912); B. HönianGy. Szekfü, Magyar torténet, Bd. I (Budapest 1927); J. Moravcsik, Zur Ge­ schichte der Onoguren, in: Ungarische Jahrbücher 10 (1930); Gy. Németh, A honfoglalô magyarsâg kialakulâsa (Budapest 1930); Graf I. Zichy, Magyar ôstôrténet (Budapest 1939) ; G. Vernadsky-M. de Ferdinandy, Probleme der ungarischen Frühgeschichte, in: Südosteuropäische Arbeiten (München 1957); H. W. Haussig, Die protobulgarische Fürstenliste, in F. Altheim-H. W. Haussig : Die Hunnen in Osteuropa (Baden-Baden 1958, 9—29).

212

Ungarn

Einleitung

B. Zur ungarischen Mythologie

Grundsätzliche Ausführungen über die Vorbedingungen und das Wesen der altungarischen mythologischen Vorstellungen sowie über ihre Auswirkung auf das Selbstverständnis der Ungarn findet der Leser unter dem Stichwort „Urreligion, ungarische“ (S. 253—258). Dort wird auch die Geschichte der ungarischen Mythologie-Forschung in ihren Grundzügen aufgezeigt und die wichtigste Literatur dafür angegeben. C. Allgemeine Literatur Hauptquellen: P. Magistri, qui Anonymus dicitur, Gesta Hungaro­ rum, Bd. I. pag. 33—117; Simonis de Keza Gesta Hungarorum, Bd. I., pag. 141 —194; Chronicon Pietum Vindobonense, Bd. I.,pag. 239—505. Legenda Sancti Ladislai Regis, Bd. II, 515—527 (sämtlich in Emericus Szentpetery, Scriptores rerum Hungaricarum tempore ducum regumque stirpis Arpadianae gestarum I/II, Budapest 1937/38). Constantinus Porphyrogenitus, De administrando imperio (letzte und wohl beste Ausgabe die von Gy. Moravcsik); Antonio Bonfini, Hungaricarum rerum decades IV et dimidia, hrsg. von Sambucus (Basel 1568); Regos-Énekek, hrsg. von Gy. Sebestyén als IV. Bd. des Ma­ gyar Népkoltési Gyüjtemény (Budapest 1902). Darstellungen von grundlegender Bedeutung: A. Ipolyi, Magyar Mythológia I/II (Pesth 1854; unveränderter Neusatz Budapest 1929); A. Thierry, Attila-mondák (letzter Teil seines Werkes „Attila et ses successeurs“, übersetzt und mit Noten versehen durch K. Szabó, Pesth 1864); Gy. Grexa, A Csaba-monda és a székely hunhagyomány (Budapest 1922); V. Diószegi, A sámánhit emlékei a magyar népi müveltségben (Budapest 1958, mit deutschem und russischem Aus­ zug). Des weiteren: Gy. László, A honfoglaló magyar nép élete (Budapest 1944); G. Róheim, A kazár nagyfejedelem és a Turul monda, „Etno­ grafía“ 28 (1917); S. Eckhardt, Attila a mondaban, in Gy. Németh, Attila és hunjai (Budapest 1940); K. Wais, Frühe Epik Westeuropas und die Vorgeschichte des Nibelungenliedes, Bd. I (Tübingen 1953); Clara-Maria Ney und Z. Kádár, Un capítulo del Folklore centroeuropeo : El culto de la Madre de Dios en Hungría, in: Anales de Arqueo­ logía y Etnología, Mendoza, 10 (1949).; die Beiträge von S. Solymossy, J. BerzeNagy u.a. m., im Sammelwerk: Amagyarságnéprajza, Budapest, Magy. Egyet. Nyomda, s. d., Bd. IV; F. Vamos, Kozmosz a magyar mesében, I. A térelképzelés (Budapest 1943); M. de Ferdinandy, Almos, die Gestalt eines Gründers in Sage und Geschichte, in: G. Vernadsky-M. de Ferdinandy, Studien zur ungarischen Früh­ 14*

213

Einleitung___________________________________

Ungarn

geschichte, Südosteurop. Arbeiten, 47 (München. 1957); M. de Ferdinandy, Mi Magyarok, Tíz tanulmány a magyar torténelemból (Bu­ dapest 1941) Kapitel I., II. und IV.; M. de Ferdinandy, Az Istenkeresök, Az Árpádház torténete (Budapest 1942) Kapitel V, VI, VII, VIII; M. de Ferdinandy, En torno al pensar mítico (Berlin 1961) Studie I und II (deutscher Auszug unter dem Titel „Studien zu den Quellen der ugrischen Mythologie“ in: Ural-Altaische Jahrb. 27, 1956) und III; M. de Ferdinandy, En torno al pensar histórico Bd. II, Studie I und II (Puerto Rico 1961). D. Abbildungsverzeichnis

Abb. 1. Kampf des Hl. Ladislaus mit den Rumänen. Wandgemälde in der alten röm.-kath. Pfarrkirche zu Bäntornya (Turnisce, heute Jugoslavien). Der im Jahre 1389 entstandene Freskenzyklus stellt eine der zahlreichen spätmittelalterlichen Ladislauslegenden aus den ungarischen Grenzgebieten dar. Auffallend ist die weitgehende ikonographische Übereinstimmung zwischen den voneinander weit ent­ fernten, im siebenbürgischen Szeklerland, in der Zips und im südwest­ lichen Nieder-Ungarn erhaltenen Bilderfolgen. Die übereinstimmen­ den Szenen, darunter auch das hier abgebildete waffenlose Ringen des Ladislaus mit den Kumanen, weisen aber Kompositionsschemata und Einzelheiten auf, die aus den überlieferten kirchlichen und historischen Texten nicht zu erklären sind, um so mehr aus der eurasischen Nomadenkunst (Ordos-Bronzen), der Volksdichtung und den Über­ bleibseln schamanistischer Vorstellungen im Volksglauben. Wie das Ungarische Legendarium, dessen Teile im Vatikan, in der PierpontMorgan Library zu New York und in der Eremitage von Leningrad aufbewahrt werden (1.Hälfte des 14. Jahrh.), das Chronicon Pictum in Budapest und die Illustrationen in der Augsburger Ausgabe der Chronik des Johannes de Thurocz (1488) beweisen, bestimmte diese heidnisch-volkstümliche Überheferung auch die Ladislausdarstellun­ gen der höfischen Kunst. -> Läszlö kiräly; Tältos i. Abbildung nach Foto Hollenzer.

Abb. 2 und 3. Jagdszene auf einem Kapitell der röm.-kath. Pfarr­ kirche zu Kisbeny (Bina, heute Tschechoslowakei). Das Relief schmückt ein Wandpfeilerkapitell an der Westempore (früher Herrschafts­ empore) der von Comes Omode vor 1217 gegründeten ehern. Prämonstratenserkirehe. Dargestellt sind zwei Jäger mit Schnurrbart und in ungarischer Tracht, die — wie im Chronicon Pictum die Verfolger der Hindin — vom Pferde gestiegen jagen. Der eine führt einen Ge­ pard oder eine Löwin an der Leine und hält einen Dolch oder ein

214

Ungarn

Einleitung

kurzes Schwert in der Rechten, der andere spannt seinen Bogen. Die gejagten Tiere sind nicht sicher zu identifizieren. Es handelt sich um die einzige szenische Darstellung in der Bauplastik der Kirche. Die Tracht der Jäger und der Genre-Charakter der Darstellung legen neben der christlich-symbolischen Deutung auch die Ableitung der Komposition von der volkstümlichen Tradition nahe. -> Hunnen­ sage ; Hunor und Magor. Abbildung nach T. Gerevich, Magyarorszäg romänkori emlekei (Budapest 1938). Taf. CXXXIX. und K. Divald, Magyarorszäg müvöszeti emlökei (Budapest 1927) S. 51 Abb. 56.

Abb. 4. Darstellung eines Schamanenbaumes auf einer awarischen Büchse aus Knochen. Die Heilsalben enthaltende Büchse mit der Ritz­ zeichnung wurde in einem frühawarischen Grab zu Mokrin (Komitat Torontäl) gefunden. Läszlö (Läszlö, Gy. A nepvandorläs lovasnepeinek osvalläsa. Kolozsvär 1946) deutet die Zeichnung auf Grund der scha­ manistischen Vorstellungen der Altai-Völker als Darstellung des Welt­ alls. Unten stellt der durch sieben Linien geteilte Hügel den Weltnabel dar. Die eckige Säule darüber ist die Weltachse, der Hügel am Fuße des Baumes die Spitze des Weltberges. Der Baum mit neun Ästen ist der Lebensbaum, an seinen Stamm angelehnt steht die neun­ stufige Leiter, damit der Schamane — wie der ungarische Tältos — zum Gipfel hinaufsteigen kann. Die Scheibe links bedeutet die Sonne, eine krumme Linie rechts den Mond. Der awarische Fund ermöglicht die Deutung der nachfolgend abgebildeten ähnlichen Darstellungen der ungarischen Volkskunst und des Märchenmotivs des „bis zum Himmel reichenden Baumes“. —> Tältos e; Tetejetlen nagy fa. Abbildung nach V. Diöszegi, A sämänhit emlökei a magyar nöpi müveltsägben. Budapest 1958. S. 290 Abb. 28.

Abb. 5. Darstellung des Weltbaumes auf einem Salzfaß aus Horn aus dem Dorf SdrretudvariAbbildung nach Diöszegi, a. a. O., S. 290 Abb. 29.

Abb. 6. Weltbaum und Schamanenleiter auf einem Salzfaß aus Horn aus dem Dorf Biharnagybajom. Abbildung nach Diöszegi, a. a. 0., S. 291 Abb. 30.

Abb. 7. Stilisierte Darstellung des Weltbaumes auf einer Büchse aus Horn aus dem Dorfe Berettyöujfalu. Abbildung nach Diöszegi, a. a. 0., S. 291 Abb. 31.

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Einleitung

Ungarn

Abb. 8. Altungarischer Riemenzungenbeschlag mit Darstellung eines Hirsches aus Törtel. Silber. Hintergrund der Figur vergoldet. Budapest, Ungarisches Nationalmuse um. Der Beschlag einer Pferdegeschirr­ garnitur aus dem Grabe einer vornehmen Ungarin des 10. Jahrh. ist stilistisch mit Funden vom Minussinsker Becken am oberen Jenissei eng verwandt. Die Darstellung des Hirsches war sicher mehr als bloße Verzierung, ihre Bedeutung und Funktion können aber nur vermutet werden. Vielleicht wurde auf dem Pferdegeschirr das Ahnentier (->Ongon) dargestellt, oder aber sollte dem Pferd die Kraft und Schnelligkeit des Hirsches verliehen werden. —> Csodafiuszarvas; Csodaszarvas; Hirsch; Regöles. Abbildung nach N. Fettich, Die altungarische Kunst. Berlin 1942. Tafel 24, 3.

Abb. 9. Der Tältos Ferenc Csuba mit einem Drachen. Zeichnungo um 1830. Die Darstellung des Drachen entspricht dem westlichen Typ indogermanischen Ursprungs, sein Sinngehalt aber ist östlich. Als Begleiter des Tältos-Schamanen weist er auf dessen übernatür­ liche Fähigkeiten und enge Beziehungen zu Wolke und Sturm hin. -> Garabonciäs; Särkäny; Szäl; Tältos. Abbildung nach V. Diöszegi, A sämänhit cmlekei a magyar nöpi müveltsögben (Budapest 1958). S. 397 Abb. 37.

[Th. von Bogyay].

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Wanderung der Ungarn: vor 956 von der ersten Heimat aus, immer südlich der Südgrenze der nordeuropäischen Waldregion, dann entschieden nach Süden bis auf die Gegenden von Kiev,. von da aus um 668 in die heutige Moldau und Bessarabia,- 896 in die heutige Heimat

■n

Wanderungen der Onoguren nach 463

....

vermutliche Linie des Zurückflutens der Hunnen nach 454 bzw,469

__

Wanderungsroute der Bulgaren des Esperuch nach 679

Wanderungen und Sitze der Ungarn k

Perm; ° ;

Ungarn

(Entwurf: M. de Ferdinandy)

Onogur-bulgarisches Reich 615-679 onogurischer Kultureinfluß auf die ugrischen Völker

Chasaren nach 679 Awaren bis etwa 600

_____________ Einleitung

217

Zum ungarischen Wanderweg vgl. G. Vernandsky —M. de Ferdinandy, Probleme der ungarischen Frühgeschichte, München 1957

■■■

Adler

Ungarn

Adler -> Isten.

Aladarius. Name aus aoss. aldar „Held“. Sohn -> Attilas und der Krimhild. Fällt in der „Krimhildenschlacht“ im Kampf gegen seinen jüngeren Halbbruder (-> Csaba. -> Hunnensage). Äldö-küt, „Opferbrunnen“. Mit egy-kö („Heiligenstein“) und ügy-ja („heiliger Baum“) in ON erhaltene Bezeichnung heiliger (-»Opfer-) Stätten des ung. Heidentums. Vgl. Gesetzbuch König -» Ladislaus’ des Heiligen 1, 22: „Wer nach heidnischer Sitte bei Brunnen, Bäumen, Quellen und Steinen opfert, soll sein Verbrechen durch einen Ochsen sühnen.“ -» Lit. Akmuö; Médis; Potrimpus; Vanduö. -> AS1. Einl. ; Wassermann. -»Kelt. Baum; Steine; Wasser. -> Pinn. Heilige Bäume; Steine; Wasser­ geist. -» Germ. Disen.

Äldomäs. Noch heute feierlicher Umtrunk nach einem Vertrags­ abschluß oder einer Verhandlung. Ursprünglich bezeichnet Â. das Mahl nach einem -» Opfer, das Opfermahl. Nach dem Bericht der Gesta Hungarorum wird ein Berg in rituellem Wettlauf erstürmt, wonach auf seinem Gipfel more paganismo ein „wohlgenährtes Pferd“ geopfert wird. Ein magnum aldamas schließt sich an (Anon., cap. 16, S. 56). Zur Etymologie G. Mészôly (Läszlö, 18f.): äld, dldoz „segnen“, „opfern“ (aus *alt, olt „zusammenstellen“, „angleichen“). Vgl. alku „Verhandlung“; alkonyodik „die Sonne geht unter“ (eigtl. „sie gleicht sich der Erde an“, „sie opfert sich ihr“); napledldozas „Sonnenuntergang“ (eigtl. „die Sonne neigt sich zur Erde“, „sie beugt sich“ — wie der Opfernde — „zu ihr hernieder“). -» Pinn. Stieropfer; Ukon vakat.

Älmos. „Primus dux Hungarie“ (Anon. [Prologus], 33), zusammen mit seinem Sohne —» Arpäd die bedeutendste Figur des ung. Sagen­ kreises. Auch historisch greifbar, übernimmt Ä. die wichtigsten Inhalte eines allgemeingültigen mythischen Urbildes vom sagen­ haften Gründer (-»Attila; Istvän Kiräly), nicht eines Kulturheros. Drei Hauptzüge treten hervor: die Geschichte seiner Geburt, die seiner Wahl zum Fürsten, schließlich die seines Todes.

1. Der Ungarnfürst Ugek (Ügyek; etym. vermutlich „Ahn, Ahnchen“) aus dem Blute des Urkönigs —» Magor (Mogyer, Magyar; in christlich-mittelalterlichen Texten dem biblischen Magog gleich­ gestellt [Anon., 38f.]) zeugte mit der eunedubelianischen (ON bisher unbekannter Bedeutung) Häuptlingstochter —» Emesu (von ung. 218

Ungarn

Älmos

emse „Sau“) einen Sohn, der wegen eines Wunders Ä. genannt wurde, „denn seiner schwangeren Mutter war im Traume ein gött­ liches Gesicht in Gestalt eines Falken erschienen, und es war, als käme er und schwängere sie, so daß ihrem Leibe ein wilder Berg­ strom entsprang und aus ihrem Schoß ruhmreiche Könige hervor­ gingen“ (Anon., 38: ... ab eventu divino est nominatus Almus, quia matri eius pregnanti per sompnium apparuit divina visio in forma asturis, que quasi veniens eam gravidavit et innotuit ei, quos de utero eius egrederetur torrens et de lumbis eius reges gloriosi propagarentur . . . Quia . . . sompnium in lingua Hungarica dicitur almu et illius ortus per sompnium fuit prognosticatum, ideo ipse vocatus est Almus.). Die Vereinigung von Falke und Sau zeigt klar ablesbar —> exogamische Konstellation (—>Hunor; Turul).

2. Die Häuptlinge (Hetumoger) der sieben Ungarnstämme ver­ bünden sich und küren Ä. und seine Nachkommenschaft ducem ac preceptorem, indem sie zugleich ihr Los für immer an das Geschick (fortuna; Anon., 40: Ex hodernia die te nobis ducem ac preceptorem eligimus et quo fortuna tua te duxerit, illuc te sequemur) des Ä. und seines Geschlechts binden. More pagano öffnen sie ihre Adern, trinken das in einem Becher aufgefangene Blut und treten in ewige Wahlbrüderschaft, die mit großem Treueschwur unter­ einander und dem Fürsten gegenüber besiegelt wird. Analogien zum Wahlvorgang und zur Form des Bündnisabschlusses finden sich bei den Skythen (Herodot 4, 70) und Mongolen (Die Geheime Ge­ schichte der Mongolen [Yüan-ch'ao pi-shi, deutsch], übersetzt und erläutert von E. Haenisch [1948]2, 33). Die Bedeutung von fortuna in diesem Zusammenhang wird klar vor dem Hintergrund reiter­ nomadischer Auffassung. An Glück und Unglück knüpft sich ihre tiefste Vorstellung. Glücklich ist, der mit dem Weltall, mit dem gött­ lichen Plan des Weltgeschehens im Einvernehmen lebt. Doch wer den göttlichen Plan der Dinge nicht begreift und nicht danach handelt, stellt sich gegen Gott. Die fortuna, die das Leben führt, ist Schicksal und Glück zugleich. Macht, Glück und Schicksal sind merkwürdig verwoben und bilden eine sich klar herausstellende Einheit in der Würde des Nomadenkönigs. Im Uig. heißt diese Würde selbst idiqut (iduqqut): das „heilige Glück“ (G. Vernadsky, The Mongols and Russia, Yale University Press, 31). Auch bei den Chasaren war der Besitz der Würde mit dem des Glücks verbunden. Bei denselben Chasaren keimt man auch den Gegenstand, in dem das königliche Glück auf bildlich-sinnbildliche Weise sichtbar wurde. Wenn der Khagan der Chasaren, so berichtet der zeit­ genössische Araber Ihn Rusta, aus seinem Palast zieht, wird ein

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Älmos

Ungarn

„trommelförmiges Objekt, der Sonne gleich, von einem Reiter vor dem Heere getragen. Dieser reitet dem König voran . . .“ (M. de Ferdinandy, Die nordeurasischen Reitervölker und der Westen bis zum Mongolensturm, „Historia Mundi“ V [Bern 1956], 203. Ebd. weitere Literaturangaben [am Ende des Bandes].) Im Lied auf -> Attilas Tod ergänzen sich die Vorstellungen des Glückes und des Weltschicksals mit denen der Macht in einem organischen Gebilde. Der über allen stehende König, fortissimarum gentium dominus, „der mit vordem unerhörter Macht allein“ die „Vier Winkel“ der Welt besaß, tat alles dies „mit Glückes Hilfe“, bis er dann „in der Blüte seines Geschlechtes, unter Freuden froh, schmerzlos dahin­ ging . . .“ (F. Altheim, Attila und die Hunnen [Baden-Baden 1951], 150). So war es im Falle Attilas, und ebenso wurde Tschingis Khan von den Seinen verstanden (M. de Ferdinandy, Tschingis Khan [Hamburg 1958], 82f.). Doch nicht jeder König ist Träger des göttlichen Glückes. Wenn die Chasaren von Unglücksfällen heim­ gesucht werden, treten die Vornehmen vor den isa (den Zweit­ fürsten) und sagen: „Von diesem Khagan (dem Erstfürsten) und seiner Regierungszeit ist nichts Gutes zu erwarten; er und sein Walten stehen im Zeichen eines bösen Gestirns; töte ihn also oder liefere ihn uns aus, daß wir ihn töten.“ (Stud. z. ung. Frühgesch. 68.) 3. In hohem Alter erreicht Ä. mit den bereits von seinem Sohne -> Ärpäd geführten Ungarn die endgültigen Wohnsitze seines Volkes. Nach vierzigtägiger Ruhe- und Sammlungspause und vier­ tägiger Opferfeier übergibt er das Fürstentum seinem Sohne, worauf er feierlich getötet wird. Solch ritueller Königsmord läßt erneut an die Chasaren denken, von denen wir Entsprechendes an­ führten. Durch den gewaltsamen Tod sollte die Kraft der Auserwähltheit des Fürsten auf dessen Geschlecht und Volk übertragen werden. Noch für den christlichen Verfasser der Gesta Hungarorum ist Ä„ licet paganus (Anon., cap. 4, 39), der geheiligte Ahnherr der ung. Dynastie (vgl. Anon., cap. 1, 38: Almus, id est sanctus), die Quelle ihres Charisma, der „durch den Traum Verkündete“, dem „gleichsam die Gabe des Heiligen Geistes“ innewohnte (Anon., cap. 4, 39: ... velut 'donum spiritus sancti’ erat in eo . . .). Hauptquelle: die Gesta Hungarorum des ung. Anonymus. Zum Tode des Ä. s. Chron. Pict., 287. Literatur: Gy. Sebestyän, Ärpäd emläke a hagyomänyban, in: D. Csänki, Ärpäd es az Ärpädok (1907), 161—83; G. Röheim, A kazar nagyfejedelem 6s a Turul monda, in: Etn. 28 (1917), 58—99; Ferdinandy MM, 28—53; ders., Die Gestalt eines Gründers in Sage und Geschichte, in: Stud. z. ung. Frühgesch., Südosteuropäische Arbeiten 47 (1957), 35—112. -> Lit. Daliä. -> Kelt. Menschenopfer; Schicksal. _> Germ. Schicksal. -> Griech. Menschenopfer.

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Ungarn

Attila

Ärmäny. Seit der Romantik Gottheit des dunklen Weltaspektes im ung. Epos, fehlt in der Überlieferung. Von Alexander Szükely von Aranyosräkos, in: A szökelyek Erddlyben (1823) noch mit ->Nemere gleichgesetzt, erscheint die Gottheit unter dem Namen Ä. erstmalig bei M. Vörösmarty, in: Zalän futäsa (1825). Arany B hielt an diesem Namen fest (Arany B).

Wortbedeutung: „List“, „Tücke“ (von ärmänyos, 17. Jahrh.; dies ursprünglich „Bauer“, aus dem Deutschen: „Arm-Mann“ = „Leib­ eigener“, dann „Dieb“, „Halunke“, endlich „listenreich“, „tükkisch“. Vgl. G. Bärczy, Magyar szöfejtö szotär, 1941). Obwohl Erfindung der ung. Romantik, entspricht Ä. den dualisti­ schen Vorstellungen der ung. —> Urreligion.

Ärpäd. Großfürst der Ungarn (o ¡/¿yat; xovQKiaq äoyojv, Const. Porph. 40) zur Zeit der Landnahme, Sohn des -> Älmos. Auch seine Gestalt weist mythische Züge auf. Mit seinen sieben Ungarn, den Anführern der sieben ung. Stämme, gewinnt er Pannonien, das Land seines Urvaters —> Attila, zurück, indem er es — nach den Gesta Hung. (Anon., cap. 16, 56f.) vom bulg. Zalan, laut Chron. Pict. (288f.) vom mähr. Swatopluk — mittels symbolischer Gaben (eines weißen Hengstes, eines vergoldeten Sattels und eines Pferdegeschirrs), durch die er in den Besitz der Erde, der Weiden und der Gewässer des Landes gelangt, zurückkauft. Der Kauf wird durch eine Hornzeremonie und ein Wasseropfer (-> Opfer) ge­ heiligt, wobei das Volk dreimal feierlich den Namen der Gottheit ausruft. Quellen: Anon., SS.rer.Hung., I, 53ff.; Chron. Pict., 286ff.; vgl. Gy. Sebestyen, Ä. eml6ke a hagyomänyban, in: D. Csänki, Ä. ez az Ärpädok (1907), 161-83.

Astrale Vorstellungen -> Äldomäs; Csodafiuszarvas; Särkäny; Skythien; Tetejetlen nagy fa. -> Lit. Astrale Götter. ->- Kelt. Sonne; Sterne. -> AS1. Sonnengott. -> Germ. Mond; Sonne; Stemsagen. -> Griech. Astrale Götter.

Attila, Ethela, Etele. Mythischer Ahnherr der Ungarnfürsten, in der poln.-ung. Chronik Aquila genannt. Nach A. Thierry (S. 141) „der zeugende Falke“ (-> Älmos, Turul). Der Name A. bedeutet aber zugleich „Strom“ (aung. Etel „der große Fluß“ — noch im 14. Jahrh. bezeugt), ’AxeXxov^cm = Etelköz „Stromland“ (Const. Porph. 38, 30, vgl. auch 66ff.). Wasser als Symbol der Macht begegnet im Traum der —> Eme.su, der Mutter des -> Älmos (vgl. auch Astyages’ Traum: Herodot 1, 107). Auch von A.s Mutter wird ein zukunfts­ weisender Traum berichtet, der ihr die Auszeichnung ihres Sohnes,

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Attila

Ungarn

und zwar durch ein Gottesschwert, kündet. Damit ist A. auf drei­ fache Weise — durch das Symbol des Falken, das Bild des Wassers und das Motiv des Traums der Mutter — mit der mythischen Genealogie des Arpadenhauses (-> Ärpäd) verbunden. Weitere Be­ standteile alter, teils volkstümlicher, teils dynastischer Tradition bewahren die Gest. Hung., die im allgemeinen die Gestalt des mythischen A. von der des historischen Hunnenkönigs nicht tren­ nen. Ethelas, des Sohnes Bendacuz’, Auftritt in Begleitung seiner beiden Brüder als einer der sechs Stammeshäuptlinge, die unter Führung eines gewählten rector das Hunnenvolk regieren, sein, seines Vaters und seines jüngsten Sohnes sagenhaft hohes Alter, der merkwürdige Hexameter der Gesta (erhalten bei Thuröczi, lib. 1, cap. 16), in dem A. sich „Hammer des Erdkreises“ (malleus orbis) nennt, die Tötung seines Bruders und Mitregenten Buda (des Bledas der Geschichte), der geschichtlicher Wahrheit geradezu widersprechende Bericht über A.s Freigebigkeit und Ver­ schwendung : hier scheint echt volkstümliche Überlieferung sichtbar zu werden. Gleichzeitig tritt in der Familiengeschichte des Arpaden­ hauses das Bestreben hervor, das ung. Königshaus mit seinem legendären Urahn zu verbinden: wie A.s Mutter und die des -> Älmos erblickt auch die Mutter des hl. Stephan (-> Istvän Kiräly) ein zukunftweisendes Traumgesicht. Alle drei großen Gründergestalten erscheinen somit als Herrscher, denen die Aus­ zeichnung zuteil ward, daß ihr Kommen und Walten von der Gott­ heit vorher verkündet wurde. Jeder der drei Fürsten wird dadurch zum von der Gottheit versprochenen großen König. Damit wird deutlich: A.s Gestalt prägt im ung. Geschichtsbewußtsein ung. Geschichte in nicht geringerem Maße als die Gestalt Stephans des Heiligen. „. . . in Ungarn besitzt die A.-Überlieferung positiven geschichtlichen Wert. An seine Figur knüpft sich ein heroischhistorisches Bewußtsein; sie erlangt dynastische Bedeutung und ... befindet sich endlich im Mittelpunkt einer sagenhaften Geschichte, die immer treu den Geist des Zeitalters spiegelt: Zur Zeit der alten Könige ist er der mächtige Ahnherr, Rechtsquelle der ung. Land­ nahme; zur Zeit des eine Wiedergeburt des Heidentums bewirken­ den Königs Ladislaus des Kumanen ein großer ung. Heidenkönig, vor dem der christliche Westen erzittert; für Matthias Corvinus der kluge Tyrann, Vorbild persönlichen Erfolges“ (S. Eckhardt, Attila a mondäban, in: Nömeth, 214f.). -> Hunnensage; Urreligion 2. Quellen: K6zai, 141—94; Chron. Pict., 256—88. Literatur: -> Hunnensage. Zu ’AreAxovCov: Karl H. Menges, Some Päöänäg Names, in: Byzantion XVII (1944/45) 259.

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Boldogasszony

Ungarn

Bäba, vasorrü, „die Alte mit der Eisennase“. Hexe. Ugr. Idole tragen nicht selten metallene Nasen (ung. bdb „Gestalt“, „Figur“; ->Bälväny). Die Zusammensetzung delibdb, „die mittägliche Fee“ (Fata Morgana), läßt jedoch eine ältere Bedeutung von bdb, baba er­ kennen. Danach bezeichnet baba ursprünglich eine gütige Helferin. Dem entspricht, daß der Volksmund Hebammen, die noch in jüng­ ster Zeit als zauberkundig galten und im 17.—18. Jahrh. als Hexen (—>Boszorkäny) verfolgt wurden, baba, bäbaasszony nennt. Verbindet sich mit delibdb eher die Vorstellung eines männlichen Wesens, so erscheint bdbabukra (eigentlich „die Masche der Fee“, s. Ipolyi, 64, 275), der „Regenbogen“, als Attribut einer großen Fee, die als weibliche Gestalt gedacht ist. -> Zauber. -> Lit. Hexen.-> AS1. Feen; Hexen; Mittagsfrau. -» Griech. Zauber.

Bäjoläs -> Igözös.

Bälväny, gombfa. Idol. Bei den alten Ungarn Ahnenidol, das an Gräbern aufgestellt wurde. Erstmalig 1108 genannt. Közai (cap. 9, S. 150) erwähnt B. in der Beschreibung von Keves Begräbnis. G., irrtümlich auch kopjaja genannt, finden sieh noch heute nament­ lich im Szöklerland. Ursprünglich muß es sich dabei um Dar­ stellungen der menschlichen Gestalt — ähnlich den aus Südrußland bekannten kamenaya baby — gehandelt haben. Heute sind g. von geometrisch-schematischem Aussehen. Man unterscheidet je­ doch noch immer Kopf, Mütze, Knoten, Schnurrbart, Mund, Hals, Schultern, Herz (zum Zeichen des Todes umgekehrt gezeichnet), Nabel und Beine. Literatur: Laszlö.

Bäume

Äldö-küt; Orfa; Tetejetlen nagy fa.

Belär —> Dula.

Bendacuz -> Attila; Hunnensage. Bereka

Dula.

Boldogasszony, Kisasszony, Kisboldogasszony, Nagyasszony, Nagyboldogasszony. „Die reiche und große Herrin“, „die Jungfrau“. An Artemis gemahnend, seit der Christianisierung als Nagyb. mit der Gestalt der hl. Anna, der Mutter Marias, als Kisb. (oder einfach B.) mit der Gestalt Mariens selbst verschmolzen (vgl. ->Isten; Magor). Hauptwesenszug der Kisb. ist ihre Jungfräulichkeit. Dem ent­ spricht, daß Maria im Ung. nie einfach als Heilige, sondern stets als Jungfrau Maria (Szüz Maria) bezeichnet wird. Wie Eileithyia hilft die B. der Wöchnerin bei der Geburt. Das Kindbett (B. dgya),

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Bors

Ungarn

in das man sich nicht ohne Haube legen darf, wird nach ihr be­ nannt. Bei der Weihe des Neugeborenen (csöfc) spricht man den Segen mit ihrem Becher in der Hand (B. pokara). Der B. sind Bett, Pantoffeln, Binde und Becher eigen. Ihre Milch ist heilig. Ein eigener Tag (ursprünglich wohl der Dienstag) ist ihr geweiht. Der Nagyb. sind die Engel und selbst die hl. Jungfrau unter­ geordnet. Zu diesen volkstümlichen Zügen ihrer Verehrung s. L. Kálmány, B., osvallásunk istenasszonya, in: M. Tud. Akad. Ertek. a Nyelv-és Széptud. Korébol (1885). Von nicht geringerer Bedeutung ist jedoch die Art, in der die Verehrung der B. durch das ung. Königshaus gefördert wurde. Der wog. Weltlenker (Mir susne-chum; -> Skythien) thront in der „Weißen Burg“ auf dem „Weißen Berg“, begleitet und geschützt von einer großen Göttin. Am Weißen Berg auf der Weißen Burg (Székesfehérvár = „Stuhl­ weißenburg“; eigtl. „weiße Burg des Thrones“) weiht Stephan der Heilige (—>István Király) der B. (Muttergottes) die Hauptkirche seines Reiches und damit das ganze Ungarnland. Uraltes Gleich­ gewicht wird so wiederhergestellt. B., einst „göttliche Fürstin“ (Nagyasszony) der ung. Erde, wird in ihrer christlichen Form zur eigtl. „Königin“ des Landes. Von ihren Ungarn wird sie ohne Nennung des Eigennamens nur als „Königin“ angesprochen, Un­ garn wird als ihr „Erbe“ bezeichnet. Zugleich zeigt die Formel Regina Regnorum, die sich als sakrale Bezeichnung des Ungarnreiches findet, Ineinssetzung von „Fürstin“ (Maria) und „Erbe“ (Ungarn). Namentlich ist es oft schwer zu unterscheiden, ob diese Formel im Einzelfalle die ung. Herrschaft oder Maria als „Königin der Lande des Ungarnreiches“ meint. Auf Darstellungen der Barockzeit erscheint die Madonna in ung. Königstracht, gleich­ zeitig wird Ungarn zum Regnum Marianum. Die B. erweist sich somit als mythische Wesenheit, die völlig in eine andere Kultur und in einen anderen Kult eingegangen ist, ohne den ursprünglichen Sinn ihrer Existenz verloren zu haben. Clara M. Ney u. Z. Kádár, Un capítulo del Folklore centro-europeo: El culto de la Madre de Dios en Hungría, in: Anales de Arqueología y Etnología, Mendoza, 10 (1949), 231—60; Ferdinandy pens. hist., II, 156—62. -> László Király. -> Lit. Láiwe. -> ASI. Geburtsfeen; Vila. -> Germ. Geburt. Griech. Geburtsgöttin.

Bors -> Csodaszarvas.

Boszorkány. „Hexe“. Von türk, basyrkan, tschw. busturgan „Haus­ geist“, „Kobold“. Im Ung. ursprünglich männlich und eher mit der Bedeutung „Priester“, später fast ausschließlich weiblich. Mutter des -> Särkäny. Im Jahre 1061 wird von einer großen b.

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Ungarn

Csaba

namens Rasdi (varasdi, varasolo „Zauberin“) berichtet. Die Ge­ setze des 11. Jahrhs. (—> Stephan und —> Ladislaus der Heilige) sehen milde Strafen für b. vor. Von König Koloman (1095—1116) ist das Wort überliefert: de strigis vero quae non sunt, ne ulla quaestio fiat (Koloman, § 57). Im späteren Mittelalter nehmen die b. mehr und mehr Züge der Hexen westeuropäischer Mythen, Sagen und Märchen an, gewisse Eigenheiten bleiben jedoch stets erhalten. Durch Zügel, die sie ihrem Opfer um den Hals wirft, verwandelt die b. dieses in ein Pferd. Sie kann nicht sterben, bevor sie ihr Wissen (tudomâny, heute „Wissenschaft“, ursprünglich „okkultes Wissen“, „Zauber“, „Magie“) durch Händedruck oder mündliches Einweihen weitergegeben hat. Systematisch verfolgt werden die b. erst unter den Habsburgern, doch bestand auch zu dieser Zeit in Ungarn keine der Inquisition ähnelnde kirchliche oder staatliche Behörde, vielmehr oblag dieses Amt dem Komitat und den Städten. Größere Hexenprozesse (—> Baba) fanden erst im 18. Jahrh., d.h. zu einer Zeit statt, da das Land fast widerstandslos westlichem Absolutismus ausgeliefert war. Solymossy, 402ff. -> Dämonen; Zauber. -> Lit. Hexen; Zauber. -»• AS1. Feen ; Hexen ; Zauber. -> Kelt. Magie. -> Finn. Zauber. -> Germ. Zauber. -> Griech. Zauber.

Brunnenverehrung -> Aldö-küt. Buda, Bruder -> Attilas, -> Hunnensage; Urreligion 2.

Bulchu -> Vérbulcs.

Büvöles ->Igézés. Cadusa -> Sobamogera.

Chaba —> Csaba. Christliche Tradition -> Aldö-küt; Älmosß; Boldogasszony; Isten; Istvän Kiräly; Läszlö Kiräly; Magor; Regö. -> Lit. Teuflische Götter. —> AS1. Christlicher Einfluß. -> Kelt. Christliche Überlieferung. —> Finn. Christliche Einflüsse. -> Germ. Christliche Einflüsse.

Csaba, auch Chaba, jüngster Sohn -> Attilas. Typischer héros reve­ nant. Nach dem Tode seines Vaters König der Hunnen. Nach blutigen Kämpfen mit seinem Halbbruder —> Aladarius zerfällt sein Reich. Aladarius, Sohn der Cremild (Krimhild; Kézai, cap. 19, 161), besiegt, unterstützt von Detre dem Sachsen (Dietrich v. Bern; Kézai: Ditricus Veronensis), Cs. in der „Krimhildenschlacht“ (praelium Crumhelt, praelium Crimildinum, Kézai, cap. 19, 162 ; praelium Crunhelt, Kézai, cap. 19, 163 [Crumhelt E]), fällt jedoch selbst. Nur wenige der Hunnen überleben. Mit fünfzehntausend

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Csoba

Ungarn

Kriegern, die er durch ein Zauberkraut (Chaba ire h.e. Chabae emplastrum; so im sogen. Clusiuskodex [C. Clusius, Stirpium no­ menclátor Pannoniae, 1583], bei Grexa, 29 Anm. 128) von ihren schweren Wunden heilt, zieht Cs. nach „Griechenland“ (-> Sobamogera) und darauf „zu seinen Verwandten nach -> Skythien“. Von dort soll er wiederkommen, sein in Attilas Land, dem heutigen Ungarn, verbliebenes Volk gegen dessen Feinde zu verteidigen. Wie ein Sprichwort zeigt („Dann sollst du zurückkommen, wenn Cs. aus Griechenland zurückkehrt.“ Vgl. Kézai, cap. 21, 163: Isti quippe Zaculi in Graecia perisse Chabam putaverunt, unde vulgus adhuc loquitur in communi: ,Tunc redire debeas', dicunt recedenti, ,quando Chaba de Graecia revertetur“), schwand im 13. Jahrh. allmählich die Hoffnung auf seine Rückkehr. Nach einer Variante der Sage hat Cs.s Rückkunft jedoch stattgefunden: auf der himm­ lischen „Heerstraße“ (Hadak utja, had wth, via lactea: sogen. Sehlägli-Vokabular. S.: J. Szamota, A Schlägli magyar szójegyzók [1888], 88. Vgl. M. de Ferdinandy pens. mit., 85f.) führte der tote Held seine toten Krieger zur Verteidigung seines Volkes. -* Hunnensage; László Király; Sobamogera; Zauber. Quellen: Kézai, 141—94; Chron. Piot., 276—84; ferner spätere Chroniken des 15. Jahrhs. Aus der umfangreichen modernen Literatur sei hervorgehoben: Grexa. Neulich-Gy. Györffy, Krónikáinkés a magyar ßstörtenet (Budapest 1948) 142—146 bedeutet einen Rückfall in den hyperkritischen Positivismus des 19. Jahrhs.

Csoba —> Sobamogera. Csodafejüszarvas —> Csodafiuszarvas.

Csodafiuszarvas, csodafejüszarvas, „Wunderknabenhirsch“, „Hirsch mit dem wundersamen Kopf“. Fabelwesen der Regöslieder (-> Re­ gó), namentlich des aus dem kleinen wung. Dorfe Dozmat stam­ menden Liedes. Der cs. ist eine gefiederte, geflügelte Lichtgestalt, deren Geweih mit funkelnden Lichtern besetzt ist und die auf der Stirn die Sonne, auf Schultern und „Nieren“ Mond und Sterne trägt. Sie erscheint, ihr Gefieder ordnend, in einer schwarzen Wolke (—>Sárkány; Táltos li). Verwandtschaft des cs. mit dem cervus der Vision des -> László király und dessen Bruder Geyza (Chron. Pict., cap. 124, 394 f.) ist unverkennbar. Der Schlüssel zur Deu­ tung der Gestalt des cs. scheint sich in einer Volksballade aus dem Széklerlande (Julia szép leány) zu finden. Hier erscheint anstelle des cs. ein „krauses weißes Lamm“, das, Bote des Todes, die „schöne Jungfer Julia“ ins Totenland entführt. Literatur: Sebestyén. Über den cervus der Vision des László Király: Ferdi­ nandy, in: Stud. z. ung. Frühgesch., 69.

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Ungarn

Drachen

Csodaszarvas. Hinde der ung. —> Ursprungssage. Die beiden Jäger -> Hunor und —>Magor, Söhne des Riesen —>Mönröth, trafen beim Jagen in der Steppe auf eine Hinde (cerva: Közai, cap. 5, S. 144; Chron. Pict., 250ff.), die sie in ein von Sümpfen umgebenes, fruchtbares Land führte (-> Skythien), wo sie verschwand. Dieses Land wählten die Jünglinge für sich und ihre Gefolgschaft zum Wohnsitz. Sechs Jahre später wurden sie durch Gesang und Musik erneut auf die Steppe hinausgelockt. Dort trafen sie die Frauen der Söhne des Königs Bereka (Belär), die mit den Töchtern des Königs —>Dula ein nicht näher beschriebenes Fest, das festum tubae, feierten. Hunor und seine Genossen raubten diese Frauen und Mädchen und zeugten mit ihnen die Ahnen des hun. und des ung. Volkes. Das fehlende Mittelglied der Erzählung, die Verwand­ lung der Hinde in das Weib, das dann, geraubt, zur Urmutter des Volkes wird, fand K. Kerönyi in einer pers. Märchensammlung (vgl. K.Kercnyi, A cs. az lool napban, in: Etn. 41 [1930], 145f.; Pschmadt, Die Sage von der verfolgten Hinde [Greifswald 1911]; J. Berze Nagy, A cs. mondäja, in: Etn. 38 [1927]. Zur Gegenüberstellung mit Jordanes’ bekannter Erzählung: Ferdinandy pens. mit., 40). Varianten des cs. finden sich in der Erzählung vom Jagdahenteuer des Häupt­ lings Bors (Anon., cap. 34, S. 76: Dort erscheint ein männliches Tier, ein Hirsch [cervus]), ferner im Chron. Pict. (S. 416), wonach König Ladislaus der Heilige (-> Läszlö Kiräly) beim Jagen an seine eigene spätere Begräbnis­ stätte geführt wird.

Dämonen. Die ung. —> Urreligion kannte neben —>Isten, dem all­ mächtigen Schöpfer des Alls, eine Reihe durchweg den dunklen Weltaspekt verkörpernder göttlicher oder halbgöttlicher Wesen, die zum Teil noch heute im Volksaberglauben fortleben (->Dualismus). Hierzu gehören die nur noch in wenigen Zügen faßbare —>Fene, der seine Opfer schlagende -* Guta, -> 1z, die „Toten-“ oder „Schattenseele“, ->Manö, —>ördög (dies heute Bezeichnung des Teufels), der Drache —> Särkäny (ursprünglich ein Wetterdämon) und dessen Schwanz —> Szöl („Wind“ auch —>Nemere). Die Gott­ heit —>Ärmäny ist Erfindung der Romantik, fußt aber auf alten Vorstellungen. -> Boszorkäny; Dualismus. -> Kelt. Dämonen. -4» Germ. Dämonen. -> Griech. Dämonen.

Delibäb -> Baba.

Detre (Dietrich von Bern) —> Csaba; Hunnensage. Doppelkönigtum —>Tältos; Urreligion.

Drachen 15

Särkäny.

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Dualismus

Ungarn

Dualismus. Die ung. Urreligion duldete neben -> Isten andere gött­ liche oder halbgöttliche Wesenheiten. Die Vorstellung einer duali­ stischen Spannung, eines Kampfes, ist der Hauptnenner, auf den sich ihre sämtlichen Äußerungen bringen lassen. Auf volkstümliche Stufe zeigt sich dies im Kampf des Tältos. Das Vorhandensein derartiger Vorstellungen führte zur Annahme eines „ung. Parsis­ mus“. Dem entspricht namentlich, daß die ung. Romantik das Adjektiv ärmänyos („trügerisch“; „listenreich“, „tückisch“), aus dem sie den Namen der von ihr erfundenen, dem lichten —>Hadür entgegengesetzten dunklen Gottheit ->Ärmäny gewann (-> Dunk­ ler Weltaspekt), mit dem iran. Ahramanyu, Ahriman in Ver­ bindung brachte. -> Läszlö Kiräly. -> Finn. Kosmogonie 1. -> Griech. Kosmogonie.

Dula und Bereka (Belär). D.: in der ung. -> Ursprungssage Name des Alanenkönigs, dessen Töchter durch Heirat mit -> Hunor und Magor Ahnherrinnen des hun., bzw. des ung. Volkes werden. B. da­ gegen ist vermutlich Stammesname der „Frauen und Kinder der Söhne B.s“, die — zusammen mit den Töchtern des D. — in der Steppe das festum tubae feierten, wobei sie von Hunor und seinen Genossen geraubt wurden (—> Csodaszarvas). Bereka gehört zu ostoss. biräy „Wolf“ (F. Altheim u. H. W. Haussig, Die Hunnen in Osteuropa [1958], 25). Die Sage gibt Kunde von den auch histo­ risch greifbaren, sprachgeschichtlich nachweisbaren aung.-alan. Be­ ziehungen. Deutlich tritt eine -> exogamische Konstellation hervor: Die Töchter eines alan. Clans, dessen Ongon der Wolf (berekabiräy) ist, werden von Männern des Clans der Brüder Hunor und Magor geraubt. D.s Name erscheint in der Form Dulo auch als Name des ersten Herrscherhauses der abulg. Königsliste. Nach der vorliegenden ung. Ursprungssage ist er mithin zugleich als einer der Sippennamen des ung. Königshauses aufzufassen. I. Graf Zichy, Magy. östörtenet (1939); dort weitere Literatur. -> AS1. Wald­ geister. -> Kelt. Wolf.

Dunkler Weltaspekt -> Dämonen; Dualismus; Guta; Isten; Läszlö Kiräly; Manö; Nemere; Ördög; Szäl; Tältos li; Urreligion 2.

Egigerö fa -> Tetejetlen nagy fa.

Egy-kö —> Äldö-küt. Emesu. Name aus ung. emse („Sau“). Eunedubelianische (ON bisher unbekannter Bedeutung) Häuptlingstochter. Gemahlin des Ugek. Von ihm Mutter des —>Älmos. Großmutter des —>Ärpäd (—>Turul).

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Ungarn

Guta

Enee. Name aus ung. ünö („Hinde“). Weib des -> Mönröth, Mutter des Hunor und Magor. -> Kelt. Hirsch; Saar.

Etele, Ethela -> Attila.

Eule ->Tältos 2. Exogamische Konstellationen _> Älmos; Dula und Bereka; Hunor und Magor; Mönröth. Falke -> Turul. Fee

Bäba.

Fene, Dämon. Nur noch wenige Züge seiner Gestalt sind faßbar. Dennoch spielt er in volkstümlichen Redewendungen noch immer eine große Rolle. Ausdrücke wie ,,F. soll dich holen“, ,,F. soll dich fressen“, ,,F. soll dich schlagen“ u. ä. zeugen von seiner Bösartig­ keit. Man erfährt, daß F. ein Nest (fiszkes f.), seltener, daß ihm ein Schlitten gehört. Als Hauptwort wird F. im Volksmund manch­ mal zur Bezeichnung der Krankheit Krebs (Karzinom) gebraucht. Metonymisch bezeichnet F. zugleich einen Aufenthaltsort von Dä­ monen: „Geh’ ins F.!“ Als Eigenschaftswort drückt f. große Wild­ heit, aber auch Tapferkeit aus, als Zeitwort bezeichnet f. eine langdauernde Handlung, die Ipolyi (I ,96) mit den Worten „eine böse Absicht heimtückisch ins Werk setzen“ umschreibt. -> Dämonen; Ördög.

Fortuna -> Älmos 2. Garabonciäs. Zauberer, der in der Gewitterwolke auf dem Rücken des -> Särkäny reitet. Zauber. -> Lit. Zauber. -> AS1. Zauber. -> Kelt. Zauberer. -> Finn. Zauber. -» Germ. Zauber. -> Griech. Zauber.

Geyza, Bruder -► Läszlö Kirälys, —> Csodafiuszarvas. Glück -> Älmos 2.

Gombfa -* Bälväny. Greif -> Skythien.

Gründer -> Älmos; Attila; Istvän Kiräly. Guta. Die ung. -> Urreligion kannte neben -> Isten, dem allmächtigen Schöpfer des Alls, eine Reihe den -> dunklen Weltaspekt ver­ tretender göttlicher oder halbgöttlicher Wesen wie —>Fene, —>Iz, 15*

229

Hadúr

Ungarn

-> Manó, -> Ördög und -> Szél, die z. T. noch im Volksaberglauben fortleben. Ihnen ist G. zuzuzählen, ein Dämon, der seine Opfer erschlägt. ,,G. schlug ihn“, sagt man von einem vom Schlag (der Apoplexie) Getroffenen (eine Vorstellung, die G. besonders eng mit Szél verbindet). Sprichwörtlich heißt es, daß nicht einmal Gott G.sKraft brechen könne („Dem G.kann selbst Gott nicht schaden“). Hadúr, Haddúr. Gottheit des —> lichten Weltaspektes. Gegensatz -*■ Ármány. Obwohl H.s Name erstmalig bei S. Székely v. Aranyosrákos (1823; später bei M. Vörösmarty und J. Arany) erscheint, ist H. ebensowenig wie Ármány bloße Erfindung der Romantik. Ür bedeutet „Herr“, „Herrscher“, „Fürst“ und endlich „Gott“; fiad „Heer“, aber auch „Sippe“, „Stamm“. Der religiöse Gedanke, den mithin ein solcher Name ausdrückt, weist entschieden auf alte Überlieferung. Von Priskos und Iordanes wird als höchster Gott der Hunnen Ares bzw. Mars genannt. Dem entspricht die Be­ zeichnung Mars pater als die des obersten Gottes der Ungarn bei Bonfini (->Isten). Bereits bei Herodot (4, 59. 62) findet sich unter dem Namen Ares jener kriegerische Skythengott, dessen Schwert­ kult, durch Alanen und Alttürken vermittelt, in Siebenbürgen bis in das 13.—14. Jahrh. weiterbesteht. Vorhandensein einer kriege­ rischen Hauptgottheit der Ungarn bezeugen ferner die epischen Stellen der ung. Gesta. -> ASI. Gerovit; Rugievit; Svantevit. -> Kelt. Kriegsgottheiten; Lug; Mars. -> Germ. Balder; Odin; Tyr. -> Griech. Kriegsgötter.

Hammer -> Attila; Hunnensage; Urreligion. -> Lit. PerkúnasJ -> ASI. PerunJ -> Kelt. Hammergott. -A Pinn.' Ukko. -> Germ. Thor.

Häuptlinge (Hetumoger) —> Almos 2; Arpad; Csodaszarvas. Herakles, Herkules. Bei Bonfini (15. Jahrh.) Ahnherr der Ungarn. Schon nach Herodot 4, 8 ff. Ahnherr der Skythenkönige. Bonfini erwähnt neben Mars, den er als obersten Ungarngott anzusehen scheint (—>Hadúr; Isten), Herculem patriosque deos, indem er ein­ heimische Gottheiten nach Art antiker Autoren durch Übernahme klassischer Götternamen kennzeichnet (Bonfini, 96. 118; dort auch die Wendungen: parens Hercules . . ., ... Herculi progenitori). Im Volkstum leben noch von diesen „Göttern“ fort: —>Fene, —>Guta, ->lz, ->Manó, -> Ördög und -> Szél. Diesen Wesen tritt auf Erden eine tätige, große göttliche oder halbgöttliche Wesenheit entgegen (—> Urreligion), die man sich als heraklesähnliche Gestalt vorzu­ stellen haben wird. Im Zusammenhang damit sei auf den Sagen-

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Ungarn

Hunnensage

kreis des „starken Helden“ hingewiesen, der sich im 10. Jahrh. um Botond (Anon., 85ff.; Kezai, cap. 42, S. 171 f.) rankt, im 11. Jahrh. anBätor Opos knüpft (Chron. Pict., cap. 101. 107. 118, 121, 127); im 14. Jahrh. ist Nikolaus Toldi Held entsprechender Erzählungen (s. das Kleinepos des P. Selymes von Ilosva (1574) und die große Trilogie des J. Arany), im 15. Jahrh. Paul Kinizsi usw. Kelt. Herakles. -> Grieoh. Herakles.

Hexen ->Bäba; Boszorkäny; Tältos lf. -> Lit. Hexen. -> Asl. Hexen.

Himmel -> Astrale Vorstellungen; Kacsaläbon forgö vär; Tältos 1 i; Tetejetlen nagy fa.

Hirsch -> Csodafiuszarvas; Csodaszarvas; Enee; Hunor und Magor; Läszlö Kiräly; Regö; Skythien; Tältos lf. -> Kelt. Hirsch.

Hunnenchronik. Die einleitenden Abschnitte der Gesta, in denen die sagenhafte Geschichte der Hunnen als IJunnorum gesta (Kezai, 142) oder Prima chronica Hungarorum (Chron. Pict., 243) vor­ getragen wird. Berichte von der ung. Landnahme reihen sich als Liber de reditu (Kezai, 164), Secunda chronica oder Secundus ingressus (Chron. Pict., 283f.) an. Die H. fehlt beim Anon. Hunnensage. Die mittelalterlichen Gesta berichten von Hunnen als einem Brudervolk der Ungarn. Später findet sich sogar völlige Gleichsetzung: Hunni sive Hungari. Beide Völker stammen von Brüdern, -> Hunor und Magor, Nachkommen eines legendären Skythenfürsten, ab (-> Csodaszarvas). Die politische Gestaltung des auf Eroberung im Westen ausziehenden Hunnenvolkes voll­ zieht sich nach Art späterer ung. Stammesgliederung, ohne jedoch deren Dublette zu sein. Auch eine hun. Landnahme wird erdichtet. In der Erzählung davon verbinden sich örtliche Überlieferungen der westl. Ungarn mit Resten germ., an den Donauraum gebunde­ ner Überlieferung. Danach wird -> Attila „nach römischer Art“ (Käzai, cap. 10, 150) zum König der Hunnen und regiert zuerst mit seinem Bruder Buda, den er später gewaltsam beseitigt (-> Ur­ religion 2). Neben der bekannten Bezeichnung Attilas als „flagellum dei“, die in den Gesta als ehrender Beiname verstanden wird, er­ scheint, in Attilas Mund gelegt, die Bezeichnung „malleus orbis“. Auf ältester Überlieferung scheint Käzais Darstellung des in der Weltmitte residierenden Weltkönigs zu beruhen, dessen nach den vier Himmelsrichtungen aufgestellte Wächter der Welt den Willen des Herrschers künden. Auch aus den Schilderungen der Gesta

231

Hunnensage

Ungarn

von Attilas Charakter tritt ein Bild hervor, das dem des Hunnen­ königs in der Geschichte völlig widerspricht. Nach Attilas Tod, den — wie auch die Mehrzahl seiner Taten — die ung. H. im großen und ganzen in Übereinstimmung mit Iordanes beschreibt, endet in den Gesta die Geschichte der Hunnen mit dem Zusammenbruch ihres Reiches unter Attilas Söhnen. Gegeneinandergehetzt durch List ihres Erzfeindes Detre (Dietrich von Bern), der von Attilas Vater nur halb unterworfen wurde und während Attilas Regierungs­ zeit als hun. Vasall am Leben blieb, rotten sich in der „Krimhilden­ schlacht“ die Hunnen gegenseitig aus. —>Aladarius, Sohn Attilas und der Krimhild, fällt im Kampfe gegen seinen jüngeren Halb­ bruder —> Csaba, den Sohn der „griechischen“ Kaisertochter Honoria. Csaba begibt sich nach „Griechenland“, später nach —> Skythien, wo er seinen Großvater Bendacuz noch am Leben findet. Zusammen mit den Ungarn sollen Csabas Nachkommen die „zweite Landnahme“, den „reditus“, und dadurch Wiederaufriehtung des Hunnenreiches vollbringen. So wird die H. für das ung. Königs­ haus zur rechtlichen Grundlage für die Besitznahme Pannoniens, das, einst Attilas Land, als „Erbe“ betrachtet wird.

Hauptquelle: Kezai (141 ff.) (nach 1280). Spätere Gesta bereichern diesen Bericht nur um wenige Züge. Wichtig ist, daß dem Anon., bei dem sich keine —> Hunnenchronik findet und der — darüber hinaus — den Hunnennamen nicht anführt, um 1200 eine Über­ lieferung vorlag, die zwar die ung. Dynastie mit Attila, jedoch keineswegs das ung. Volk mit dem der Hunnen verbindet. Der­ artige Tradition muß bereits 1063 lebendig gewesen sein, wie der bei Lambert von Hersfeld (Chronica, in: MGHSS 5, 185) an­ geführte Bericht von der Verschenkung eines Schwertes aus dem ung. Königsschatz, das einst Attila gehört haben sollte, zeigt. Es überrascht, daß die ung. H. selbst in ihren aus germ. Bereich herrührenden Bestandteilen Älteres bewahrt hat als die dt. Fassungen. Dies tritt vor allem in der Rolle hervor, die Krimhild und Dietrich von Bern spielen (s. Wais). Die moderne Literatur zur H. ist umfangreich. Veraltet sind die Arbeiten von G. Petz (A magy. hün-monda [1885]), J. Bleyer (A magy. hün-monda germän elemei [1906]) und B. Höman (A magy. hün-hagyomäny es hünmonda [1925]). Eine gute Zusammenstellung der Attila-Sagen findet sich im Anhang zu A. Thierry, Attila et ses successeurs (1854). Hervorgehoben sei Grexa, als beste Auseinandersetzung mit den Fragen der ung. H.; lesens­ wert ferner: S. Eckhardt, Attila mondäk, in: Nemeth, 185—216. Hin­ gewiesen sei noch auf: M. de Ferdinandy, En ego malleus orbis, in: pens. hist. II, 7—64; ders., Clariores genere, in: pens. hist. II, 65—167. Neue Gesichtspunkte zeigt die bereits genannte Arbeit von Wais.

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Ungarn________________________________________ ____ ___________ Igczes

Hunnentradition, szeklerische. Die Szökler (szekely) bilden die sogen, „kleine ung. Sprachinsel“ im östlichsten Winkel Siebenbürgens. Nach ihrer Überlieferung sind sie „hunnischer Abstammung“. (Vgl. Anon. [um 1200], cap. 50, 101: omnes Siculi [sc. szökely], qui primo erant populi Atthyle regis.) Diese ohne Zweifel uralte Tradition ist um so auffälliger, wenn man bedenkt, daß sämtliche Orts­ angaben der ung. -> Hunnensage sich auf die ung. Landesmitte oder Westungarn, keineswegs jedoch auf das Szöklerland beziehen. (Anon. läßt die erste Begegnung zwischen Ungarn und Szeklem ebenfalls in der Landesmitte, Umgegend der Stadt Szentes, ge­ schehen, loc. cit. 101.) Solange die Fragen nach dem Ursprung der Szekler und dem Zeitpunkt ihrer Ansiedlung in ihrer heutigen Hei­ mat nicht beantwortet sind, kann auch hinsichtlich der s.H. nicht das letzte Wort gesprochen werden. Literatur: Grexa.

Hunor und Magor. Brüderpaar in der ung. —> Ursprungssage (Közai, cap. 4L, 144L; Chron. Pict., cap. 4—5, 248—52). Beim Jagen treffen sie in der Steppe auf eine Hinde (-> Cscdaszarvas), die sie in ein fruchtbares Land führt, das die Jünglinge für sich und ihre Gefolgschaft zum Wohnsitz wählen. Nach sechs Jahren werden sie durch Gesang und Musik erneut auf die Steppe hinausgelockt. Dort feiern die Frauen der Söhne des Königs Bereka (Belar) und die Töchter des Königs —>Dula das festum tubae. H. und seine Genossen rauben die Frauen und Mädchen und zeugen mit ihnen die Ahnen des hun. und des ung. Volkes. H. (*hun-eri) wird Stamm­

vater der Hunnen, M. (mogy-eri) (in christlich-mittelalterlichen Texten dem biblischen Magog gleichgesetzt; vgl. Anon., cap. 3—4, 38f.) Stammvater der Ungarn (Magyaren). Ihr Vater ist der in Vielweiberei lebende Riese ->Mönröth (ung. men „Hengst“), ihre Mutter —>Enee (ung. ünö „Hinde“). Verbindung von Hengstongon mit Hindeongon zeigt —> exogamische Konstellation (—>Turul2). -> Kelt. Hirsch.

Ausdrücke für „Zaubern“, wobei vardzsolds einfach „Ausüben des Zaubers“ (vardzs) bedeutet. Igezes bezeichnet Zaubern durch das Wort (ige) des Zaubernden, das den Verzauberten in Bann schlägt, bdjolas das Betätigen der Zauberkraft (bdj), büvoles die Ausdehnung der Zaubermacht auf den Gegenstand des Zaubers (bü, büv).

Igezis, bäjoläs, büvöläs, varäzsoläs.

-^-Regß; Tudomäny; Zauber. -> Lit. Zauber. ->AS1. Zauber. ->Kelt. Magie. ->Finn. Zauber. -> Germ. Zauber. -> Griech. Zauber.

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Interpretatio Romana

Ungarn

Interpretatio Romana -> Hadür; Herakles; Isten; Urreligion 2. -> Kelt. Interpretatio Romana. -> Germ. Interpretatio Romana.

Iranischer Einfluß. Die Annahme eines solchen auf die ung. -»-Ur­ religion beruht auf dem für diese kennzeichnenden —> Dualismus.

Isten. Gott. Etymologie unsicher. Allmächtiger, ewiger Schöpfer des Alls. Kurz nach der Christianisierung in der Gestalt Gottvaters auf­ gegangen (vgl. -> Boldogasszony; Magor). Wichtigste Epitheta: egy („heilig“; auch „einzig“), ür („Herr“), örök („ewig“), élô („der da lebt“, „der Seiende“; dies erscheint auch als Hauptwort [eleve] mit der Bedeutung „Gott“ in: Sermo supra sepulchrum, D. Kerecsényi, Régi magyar pröza [1942], 35f.), szerelmes („geliebt“), boldog („mächtig“ und „reich“), teremtö („erschaffend“) und nagy („groß“). Seine Attribute sind noch in Redewendungen (Sprich­ wörtern, Flüchen) erkennbar: Isten nyila („Gottes Pfeil“), I. faja („Gottes Baum“), I. lova („Gottes Pferd“), I. poharkdja („Gottes Becherchen“), I. szakälla („Gottes Bart“), I. tdskdja („Gottes Sack“), I. kenyere („Gottes Brot“), I. papucsa („Gottes Pantoffel“), I. fasza („Gottes Phallus“), I. ünöje („Gottes Hinde“), I. tava („Gottes Teich“), I. mezeje („Gottes Wiese“) u. a. m. — Obwohl im Himmel lebend (mennybéli) und unsichtbar gedacht, erscheint er zeitweilig in Gestalt eines greisen Hirten (vgl. Finn. Ukko 2) oder eines uralten Bettlers. Auch im Sinne von „einstig“, „dem Altertum angehörend“ (wie etwa lat. antiquus) wird er als „alt“ (régi) bezeichnet. Aus Wendungen wie Magyarok Istene, Magyar isten (beides: „Gott der Ungarn“) geht hervor, daß der Ungar sieh ihn als Gott seines Volkes (entsprechend: türk tenggrisi „Türken­ gott“) vorstellt. Durch Flügelschläge seiner großen Adler treibt I. die sich als sein erwähltes Volk, als „des höchsten Gottes Rache“ (Ultio summi dei, Chron. Pict., cap. 60, 308) fühlenden Ungarn über die Karpaten in ihre neue Heimat (voluit enim deus ut citius descenderent in Hungariam, Chron. Pict., cap. 26, 286.). — Obwohl im wesentlichen monotheistisch vorgestellt, duldet I. kleinere Gottheiten neben sich. Damit ist erklärt, daß die Quellen abwechselnd einen einzigen Ungarngott oder deren mehrere erwähnen (Anon., 33—117 : deus [dominus], daneben aber auch diis immortalibus. In Chron. Pict. [338] und in der Legenda S. Gerardi Ep. [SS. rer. Hung. II, 501] finden sich die Wendungen dedicavit demoniis, libéraverunt demonibus, während das Edikt Andreas’ I. [1046] falsos deos kennt). Von diesen Nebengöttern, die christ­ licher Auffassung weniger entsprachen, ist kaum Kunde erhalten. Bonfini (15. Jahrh.) erwähnt (S.96) neben Mars, den er als obersten 234

Ungarn

Kacsaläbon forgd vär

Gott anzusehen scheint, Herculem (—> Herakles) patriosque deos (S. 118 sogar: . . . Herculi progenitori . . .), indem er nach Art antiker Schriftsteller einheimische Gottheiten durch Übertragung klassischer Götternamen charakterisiert. Im Volkstum leben noch fort: —>Fene, —>iz, sowie -> Guta, -> Szdl, —>Manö und —>ördög. Alle diese letztgenannten Gestalten stehen auf der Seite des —> dunklen Weltaspekts der ung. -> Urreligion (—>Ärmäny; Hadür). Literatur: Ipolyi (1929), unveränderter Neudruck.

Istvän Kiräly, Szent Istvän Kiräly. Stephan der Heilige, regierender Fürst, dann erster König von Ungarn, 997—1038. Als Begründer des christlichen Ungarn übernimmt seine Gestalt mythische Züge älterer Ahnherrenfiguren, namentlich des -> Älmos und -> Attila. Wie deren Müttern erscheint vor Stephans Geburt beiden Eltern der schicksalsschwere Traum. Des Himmels „mulier pulcherrima“, begleitet von „multae speciosae virgines“, kündet Stephans Vater die Geburt eines gott-erwählten Sohnes (Leg. maior S. Stephani regis, in: SS. rer. Hung. II, 379). Der hier in christlich-gemilderter Form auftretende Namengeber entspricht dem in der Älmos- und Attilasage auftretenden Genitor. „Wir finden hier das Gegenstück der Geschichte der Emese (-> Emesu; Turul) in der andersartigen Form, die die andersartige religiöse Umgebung bedingt“ (Thierry, 155; vgl. Z. v. Töth, Szt. Istvän legrdgibb dletirata nyomän, in: Szäzadok [1947], 85). -> Christliche Tradition; Läszlö Kiräly.

iz. Ursprünglich „Totenseele, Schattenseele“, Gegensatz lölek (von lehel, ldlekzik „atmen“), die eigtl. „Seele“. Später wie —>Fene personifizierter böser Zauber, Krankheit (—>Dämonen; Isten; Ur­ religion). Literatur: Läszlö.

Jenseits —► Tod; Unterwelt. Kacsaläbon forgö vär, „die sich auf einem Entenfuß drehende Burg“. Nach alter Vorstellung kreist der gestirnte, als durchlöchertes Zelt gedachte Himmel um den Weltenbaum (—> Tetejetlen nagy fa). In seiner obersten Wölbung werden Gott, -> Dämonen, Heroen und

Fabelwesen angesiedelt (—> Särkäny). Entsprechend der Bewegung des Himmels dreht sich die den Himmelsbewohnern als Wohnstatt dienende Märchenburg. Sie wird von einem breiten, fest auf der Erde ruhenden Entenfuß getragen. -> Germ. Götterwohnungen. -> Griech. Götterwohnungen.

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Ungarn

Kaducsa

Kaducsa -* Sobamogera. Kisasszony, Kisboldogasszony -> Boldogasszony. Kobolde —> Boszorkäny; Dämonen.

Königswürde —>Älmos 2; Attila; Hunnensage; Tältos li; Urreligion2. Kosmographie Kacsaläbon forgö vär; Särkäny; Skythien; Tetejetlen nagy fa.

Kriegsgott —> Hadür.

Krimhild —>Aladarius; Csaba; Hunnensage; Verbulcs. Krimhildenschlaclit -» Krimhild. Ladislaus der Heilige

Läszlö Kiräly.

Lamm —>Csodafiuszarvas.

Läszlö Kiräly, Szent Läszlö Kiräly. König Ladislaus der Heilige, 1077—1095. Im Mittelpunkt der ung. Königssage stehend. Heiliger der katholischen Kirche. Da letzterwähnter Umstand den sich an L.s Namen knüpfenden, um dessen Gestalt rankenden Überlieferun­ gen auch im Sinne der Kirche Daseinsberechtigung lieh, konnte sich, eingeflochten in sein geschichtliches Bild und mit diesem verwoben, eine Fülle heidnischen Sagengutes retten, wie dies bei keiner anderen Gestalt der ung. Vergangenheit der Fall ist. Eine an einen Löwen gemahnende, große, kraftvolle Erscheinung zeichnet L. aus (erat enim manu fortis et visu desiderabilis et secundum phisonomiam leonis magnas habens extremitates statura quippe procerus ceterisque hominibus ab humero supra preeminens ... So die Legenda S.i Ladislai regis, in: SS rer. Hung. II, 517), in die Schlacht wird er von seinem Wunderpferd Szög getragen (im Chron. Pict., 368: Zug). L. ist erwählter Held (mtez) der -> Boldogasszony. Er trägt die ehrenden Beinamen Bdtor („der Heldenmütige“) und Bajnok („pugil“) (so in einem in einer ung. und lat. Fassung bekannten Hymnus aus dem 15. Jahrh., Gy. Förster, III. Bela magyar kiräly emlökczete [1900], 300). Während seines Vaters Verbannung in Polen geboren, wird er Lengyel („der Pole“) genannt. Damit erweist sich L. als Held, der, aus der Fremde kommend, in seine Heimat zurückgekehrt ist. Hier wird eine Beziehung zu —> Csaba sichtbar. Während dieser jedoch weichen mußte, kehrt L. siegreich heim. In seiner Gestalt verkörpert sich somit eine erfüllte Hoffnung, wogegen die Csabas lediglich ein Versprechen repräsentiert. Auch in anderen Punkten zeigen sich Berührungen der Sagengestalt L.s

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Ungarn

Läszlö Kiräly

mit der des Csaba. So findet das Zauberkraut (Pimpinella Saxi­ fraga; ung. Chaba yre, [—> Csaba]), mit dessen Hilfe dieser seine Recken zu neuem Leben erweckte, seine deutlichste Entsprechung im „Gras des heiligen Ladislaus“ (Genciana cruciata; ung. Szent Läszlö füve), das ein gleiches Wunder zu wirken vermag. Wie Csaba wurde auch L. noch Jahrhunderte nach seinem Tode in Kriegszeiten — namentlich von den Szöklern, bei denen er sich besonderer Verehrung erfreut — als Retter des Vaterlandes zurückerwartet. Nach einem Bericht aus dem 15. Jahrh. (Chronieon Dubniciense [1479], A. Pör, Az Anjouk kora [S. Szilägyi, A magyar neinzet törtenete, III (1895), 166f.]) sahen die 1345 in Ungarn eingebrochenen Tataren in der Entscheidungsschlacht einen gekrönten Helden auf sich zureiten, als ob er die Szökler befehligte. In schimmernder Pracht schwebte über seinem Haupte die ge­ krönte Gestalt der Boldogasszony. Mit Siebenbürgen ist L. auch durch die glänzendste Heldentat seiner Jugend, die Schlacht bei Kerles, verbunden, an die sich die Verfolgung des kumanischen Mädchenräubers knüpft (Chron. Pict., 368L). Mittelalterliche Kirchen des Szöklerlandes weisen zahlreiche Darst. dieser Verfol­ gung, des Kampfes L.s mit dem Kumanen, des Kampfes ihrer Streitrosse, des L. zu Hilfe eilenden Mädchens und des nach dem Kampfe im Schoß der geretteten Jungfrau ruhenden Helden auf. 1913 fand Göza Nagy östliche Entsprechungen dieser Darstellungen in den bekannten sib. Goldplatten der Eremitage (1944 durch Gy. Läszlö ergänzt). Der Sage und ihren Darstellungen liegt die der ung. —> Urreligion eigene Vorstellung vom Kampf eines —> lichten und eines —>■ dunklen Weltaspekts zugrunde (-> Dualismus). Der Kampf entscheidet sich erst, nachdem das Weib - Gegenstand des Streites entschieden Partei ergreift. Solches ist anfänglich keineswegs der Fall. Vom „dunklen“ Kumanen geraubt, gehorcht das Mädchen zwar dem Wort des „lichten“ Verfolgers, indem es den Räuber und sich selbst aus dem Sattel stürzt. Anschließend bittet es jedoch für seinen Entführer und sieht dem langen, waffenlos ausgetragenen Ringkampf, der sich daraufhin entwickelt, abwartend zu. Auf einer Darstellung betreut die Jungfrau sogar den in ihrem Schoß liegen­ den Entführer. Schließlich hilft sie jedoch dem „lichten“ Kämpfer, indem sie dem „dunklen“ Recken die Achillessehnen durchschneidet. Dies erinnert an den Kampf, den der ung. Schamane (—>Tältos) auszufechten hat. Dem „lichten“ L. der Sage entspricht die Rolle, die der geschichtliche L. als Wiederhersteller „lichter“ Ordnung nach jahrzehntelangen Wirren spielt. Gestalt und Umgebung L.s sind daher gleichsam überstrahlt und durchflutet von Licht. Als L. in einfacher Kriegerrüstung „in der Stille des Mittags“ König Salomon, 237

Leel

Ungarn

seinen gegnerischen Vetter, trifft, wagt dieser nicht, L. anzu­ greifen, denn er sieht strahlende Gestalten über ihm schweben, durch deren glühende Schwerter er zum Weichen gezwungen wird. Als L. später mit seinem Bruder, dem späteren König Geyza I., gegen Salomon rüstet, erscheint ihnen ein leuchtender Wunder­ hirsch (->Csodafiuszarvas), der in die Donau springt, worin er ver­ schwindet (Geyza: „Was für Kerzen waren das auf seinem Ge­ weih?“ — L.: „Das war kein Geweih, das waren glänzende Flügel; das waren keine Kerzen, sondern leuchtendes Gefieder“). In diesen Motiven (Brüderpaar und Wunderhirsch) klingt die ung. -> Ur­ sprungssage an (-»Csodaszarvas). Als L. König wird, begrüßt man seinen „Aufgang“ mit einem Lobpreis auf den Sieg des Lichts (Chron. Pict., 404):

„Wie Morgenstern durch Nebelschauer schimmerte er; geflohen ist vor ihm des Dunkels Grauen; wie der Vollmond zu seiner Zeit, eher noch der strahlenden Sonne ähnlich, so glänzte er; wie weißes Fett, vom Fleisch getrennt, leuchtete er vor seinem Volke.“

Den alternden König führt ein Jagderlebnis (Motiv des weisenden Tieres, —> Csodaszarvas) an die Stätte seiner letzten Ruhe, nach Großwardein, dessen Bistum seine Gründung ist. Dennoch wollte man ihn nach seinem Tode in Stuhlweißenburg beerdigen, allein der Wagen, der den Toten trug, verschwand aus dem Leichenzug. Man fand ihn wieder, als er mit hoher Geschwindigkeit Großwardein entgegenrollte. Wiederum zeichnet sich Beziehung zu reiternomadischem Sagengut ab: das Wagenmotiv findet Ent­ sprechung in der Erzählung vom Begräbnis Tschingis Khans. Hauptquellen: Chron. Pict. und Leg. S.-i Ladislai regis. Über das leben­ spendende Wunderkraut: Andreas Beythe, Fives könyv (1583). Literatur: J. Karäcsonyi, Szent L. kiräly elete (1926); C. Horvath, Szent L. legendäink eredetäröl (1928); Ferdinandy MM, 141—50; Ferdinandy IÄt., 127—37, 183, 186; Läszlö, 417ff. -^-Christliche Tradition; Istvan kiräly; Zauber.

Leel ~>L61. Lei. Zusammen mit -^-Vörbulcs Anführer des 955 von Otto dem Großen auf dem Lechfelde besiegten Ungarnheeres.

238

Ungarn

Nemere

Lichter Weltaspekt —> Dualismus; Hadür; Läszlö Kiräly; Tältos li; Urreligion 2. -> Kelt. Lichtgottheiten. -> Germ. Balder.

Maeotis. Name des als Ursprungsland der Ungarn beschriebenen Sumpfes und der Wunderinsel der ung. Sage in den Gesta. -> Skythien; Ursprungssage.

Magie -> Zauber. Magor. Nach der ung. —> Ursprungssage Stammvater der Ungarn (Magyaren). In christlichen Texten des Mittelalters dem biblischen Magog gleichgesetzt (vgl. Boldogasszony; Isten). Bruder des ->Hunor (—> Dula und Bereka).

Man Ur­ religion mit —>Fene, -» Guta, —>lz, —>ördög und -> Szel jenen Wesen zugehörig, die —> Isten kämpfend gegenüberstehen und durchweg den -> dunklen Weltaspekt (-> Ärmäny) repräsentieren. Maria -> Boldogasszony. Mars -> Isten. Mars pater -> Hadür.

Menröth. Von ung. men „Hengst“. Nach der ung. -> Ursprungssage (-> Csodaszarvas) in Vielweiberei lebender Riese. Sein Weib —>Enee (ung. ünö „Hinde“) gebar ihm die beiden Söhne —>Hunor und Magor. Verbindungen von Hengstongon mit Hindeongon zeigt -> exogamische Konstellation (-> Ongon). -> Tältos -> Kelt. Rudiobos.

Menschengestalt der Dämonen -> Särkäny. Mir susne-chum —> Boldogasszony; Skythien.

Mittagsfee (delibäb) -> Bäba

Nagyasszony, Nagyboldogasszony -> Boldogasszony. Nemere, kalter, unfreundlicher Nordwind des Szeklergebirges. Gleich­ zeitig ein Berg, von dem dieser Wind herabstreichen soll. Der Name wurde 1823 von S. Szckely v. Aranyosräkos als Bezeichnung der Gottheit des —> dunklen Weltaspekts (-> Ärmäny) verwendet. Hinter ihm verbirgt sich eine halbverschollene mythische Wesen­ heit, der der Wind (auch -> Szöl) zugehörte. Aus alten Rede239

Ongon

Ungarn

Wendungen geht hervor, daß sie als so stark gedacht war, daß sie „den Menschen töten könne“ (-» Tod). Man hat sie sich als bärtigen, mürrischen, dem asl. grand-père des vents nicht unähnlichen Alten vorzustellen. A. Ipolyi, 136. 145; P. Gyulai, Vörösmarty Mihály összes munkái (Budapest 1884—5), I, 15 und II, 464; vgl. G. Vernadsky, Santorit, dieu des Slaves baltiques, in: Ann. de lTnst. de Phil, et d’Hist. Orient, et Slav., New York, 8 (1939—44), 339-56. Lit. Vejopatis. -» Asl. Mittagsfrau; Stribog; Vila. -» Pinn. Waldgeist -» Germ. Njörd.

Ongon. Magische Bezeichnung des Ahnentieres -» Turul 2 ; -» Dula und Bereka; Hunor und Magor; Ménróth.

Opfer -> Áldó-kút; Áldomás; Almos 3; Árpád; Ördög. -»Lit. Opfer. -»ASI. Opfer. -»Kelt. Opfer. -»Pinn. Opferbräuche. -»Germ. Opfer. -» Griech. Opfer.

Ördög. Heute Bezeichnung des Teufels. In der ung. Urreligion eine auf seiten des -»dunklen Weltaspekts stehende Gottheit, der auch geopfert wurde (vgl. Ipolyi [1929], 121 ff.) ~>Fene; Guta; Isten; íz; Manó; Szél. -» Lit. Teuflische Götter. -» ASI. Teufel. -» Pinn. Teufel.

Örfa. Apotropäischer Schutzstab oder -bäum. Ausgeschnittener, ent­ laubter, vor der Hütte der ung. Hirten oder dem Pferch gerammter junger Baumstamm, dem seine dickeren Äste belassen wurden, so daß er eine Art „Leiter“ vorstellt. Nach S. Solymossy (Amagyarösvalläs, in : Magyar Szemle [1932], 113) Überbleibsel der „Weltsäule“ (der Weltachse, des Weltenbaums, —»Tetejetlen nagy fa) des ung. Schamanenglaubens (-»Tältos). Ein an seiner Spitze befestigter Strohwisch mag Reminiszenz an ein einstiges Vogelidol sein. -» Pinn. Heilige Bäume; Weltbild. -» Germ. Kosmologie; Yggdrasill.

Parsismus -» Iranischer Einfluß; Urreligion. Pferd —» Boszorkäny ; Hunor und Magor ; Ménróth ; Sárkány ; Szög ; Tältos la.i; Tältos 2; Tetejetlen nagy fa; Urreligion. -» AS1. Pferd. -» Kelt. Pferd. -» Germ. Pferde. -» Griech. Pferdegott.

Polygamie -» Ménróth. Polykephalie —» Sárkány.

Rasdi. Name einer großen —» Boszorkäny. Regenbogen -» Bäba. 240

Ungarn

Begö

Regô, regôlés, rejtôzés, révület. Ursprünglich „Zaubern“, „Zauber­ wort“ (B. Vikâr, Regös, in: Magy. Ny. 28 [1899], 100; —>Igézés; Tudomâny). Ferner die Ekstase des Schamanen (—>Tältos). D. Pais (Reg, in: AM. Nyelvtud. Tärs. Kiad. 75 [1949], 7f.) er­ kannte Zusammenhang mit rejt-, röjt- („verbergen“, „verheim­ lichen“). Davon elrejtezik ~ elrejtözik (heute „sich verstecken“, ursprünglich „in Verzückung geraten“). Das Verb ist ugr. Ur­ sprungs. Auch révület, réülés (P. Hunfalvy, Régi magyar szôk, in: Nyelvünk 5 [1886], 247—52: „in extasim rapi“) ist bis zu den ugr. Urschichten der ung. Sprache zurückzuverfolgen.

Der regös, heute in Westungam und im Széklerlande als Weihnachts­ sänger bekannt, war ursprünglich der Spielmann, der verzückte Sänger. Am Tage des Protomärtyrers Stephan (26. Dezember) von Haus zu Haus ziehend, tragen die regös — der eine als —> Hirsch, der andere als Stier verkleidet — ihr Weihnachtsspiel vor, das stellenweise noch heute zahlreiche (unverstandene) Bruchstücke alter Mythen enthält (—> Csodafiuszarvas). Eine Aufzeichnung aus dem 16. Jahrh. (vgl. Diöszegi, 322) kennt noch das regös ut, den „Weg des Zauberns“. Ähnlich dem had-wth, auf dem —>Csabas tote Recken herbeieilen, führt dieser aus dem Totenreich in die Welt der Lebenden. Laut G. Heltai (A részegségnek és tobzôdâsnak veszedelmes voltäröl valö dialögus [1552]) wird nach dem Weih­ nachtsfest regölö-het, die ,,r.-Woche“, als „großes Teufelsfest“ ge­ feiert. Zu dieser Angabe stimmt eine merkwürdige Anspielung der r.-Spiele von Nagy-Récse (Komitat Zala):

„Verfolg uns nicht, verfolg uns nicht, unser König Sankt Stephan, wir sind ja keine Teufel, sondern deine Knechte!“ Ergänzt wird diese Stelle durch den Text des viel vollständigeren Spieles von Dozmat (Komitat Vas), worin der Csodafiuszarvas zum König spricht :

„Beeile dich nicht, beeile dich nicht, mein Herr König Sankt Stephan, mich zu töten. Ich bin ja nicht dein Wild, das du töten kannst: ich bin ein Bote, zu dir gesandt vom Vater Gott.“ 241

Regö

Ungarn

„Auf meiner Stirne steht die aufgehende, strahlende Sonne, auf meiner Schulter steht der glühende, schöne Mond, auf meiner rechten Niere stehen die himmlischen Sterne.“

„Ich habe ein Geweih, ich habe tausend Hörner, hunderttausend Lichter sind auf meinem Geweih : sie leuchten, ohne entzündet zu werden, verlöschen, ohne gelöscht zu werden.“ An jede der drei Strophen wird refrainartig eine Zauberformel an­ gehängt. Sie lautet: Hej regülejtem, regülejtem! —

oder (nach einer Variante) : Rétôkôm régi törveny, hej, regö rejtem!

Den ursprünglichen Wortlaut dieser fast unverständlich geworde­ nen, in verschiedenen korrumpierten Fassungen bekannten Formel versuchte B. Vikär (A regös ének, in: Magy. Ny. 35 [1906], 258) wie folgt wiederherzustellen : Rejtekem régi törveny, haj, regul rejtem!

(ebn: „Mein Zaubern folgt altem Gesetz, -haj\ Ich zaubere zau­ bernd“). Dem ursprünglichen Sinn scheint indessen V. Diöszegi (416ff. und 429) näherzukommen, indem er die zweite Zeile der noch heute gesungenen Form des Spruches, haj, regö rejtem, als haj! révüléssél revülök deutet, d. h. : ,,Haj, durch Verzückung (= Ver­ zückung bewirkende Zauberhandlung, das Sich-in-Verzückung-Versetzen) gerate ich in Verzückung (in den Zustand der Ekstase).“ Mit „Blockflöte, Trommel und Geige“ (sippal, dobbal nddi hegedüvel (so ein im ganzen Land gesungenes Kinderlied) zaubert der ung. Schamane (—>Tältos). K. Viski (A hagyomäny tärgyai, in: A magyarsâg néprajza II, 54) erkannte in hegedü („Geige“) das ur­ sprüngliche heigetü („das Instrument, das den“ — für das Zaubern eigentümlichen — „Klang hej [he-e-ej, auch haj oder huj] 242

Ungarn

Särkäny

hervorruft“). Noch heute kennt der r.-Gesang ein aus diesem hej (oder, mit dunklem Vokal, haj) gebildetes Zeitwort in der Be­ deutung „zaubern“: Hajgassuk, hajgassuk, de kinek hajgassuk (etwa: „Zaubern wir, singen wir! Doch für wen singen wir?“). Schon Ekkehard von St. Gallen (Die Geschichte des Klosters St. Gallen, in: Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 102 [1958], 109) und Luitprand von Cremona fiel das Singen des Zauberwortes huj auf (Luitprandus Cremonensis, Antapodosis, in: MGSS III, 294: Haud mora, bellum incipitur, atque ex Christianorum parte sancta ac mirabilis vox Kyrie eleison, ex eorum vero turpis et diabolica hui, hui frequenter auditur.) V. Diöszegi rekonstruierte daher mit Hilfe der ugr. Wendungen für „der Schamane singt den Scha­ manengesang“

wog.: kajne %um kaj-saw kaji, ost.: keita %o kaj-saw keji, die Zauberformel des r. wie folgt:

a hajgatö film haj-szot hajgat, a hejgetö film hej-szot hejget. Zu deutsch etwa:

„Der Aeq-sagende Mann das Aa/-Wort sagt, der Ae;-singende Mann das Ae/-Wort singt.“ Gesammelt und in musterhafter kritischer Ausgabe veröffentlicht wurden die r.-Lieder von Sebestyen. Literatur: B. Vikar, in: Magy. Ny. (1899; 1906); K. Viski, Drämai hagyomänyok, in: A magyarsäg neprajza III; Diöszegi. -> Christliche Tradition. Finn. Einteilungszeit 5; Kekri.

Regöles, rejtözes, revület -> Regö. Riesen -> Mönröth; Särkäny.

Ritueller Königsmord -> Älmos 3.

Säßagtoi aGaloi

Sobamogera.

Salomon, ung. König, Vetter des ->Läszlö Kiräly; —> Urreligion 2.

Särkäny. Drache. Unter dieser Bezeichnung kennt das ung. Volk zwei gänzlich verschiedene Wesen. Einmal den s. der Märchen, der sich von den Drachen westeuropäischer Märchen und Sagen nicht unterscheidet, weshalb es sich erübrigt, ihn zu besprechen. Die zweite Gestalt war ursprünglich wahrscheinlich ein Wetterdämon. Ein Sprichwort der Szekler sagt: „Der s. ließ sich herab. Großer 16

243

Schamanen

Ungarn

Regen wird, kommen.“ Im Alföld gilt der Wirbelwind als „Schwanz des s.“ In der Gewitterwolke (—> Csodafiuszarvas; Tältos li) reitet der Zauberer (-> Garabonciäs) auf dem Rücken des s. (A. Ipolyi). Solch volkstümlicher Auffassung entspricht ein Wort des Dichters Graf L. Listius (1628—1663): „Welch’ Riesenwolke steht am Him­ mel regungslos: gewißlich sitzt der s. in ihrem Innern.“ Mutter des s. ist die -> boszorkäny. Wie ihr Sohn, kann sie Menschen in Steine . verwandeln. Megütötte a szel heißt „vom Schlag getroffen“, wobei ->szel „Wind“, d. h. den Schwanz des s. bedeutet. Vermöge seiner Verwandlungsgabe erscheint s. häufig in menschlicher Gestalt. In der Unterwelt lebt er, bewaffnet mit Säbel und Morgenstern, mit einer irdischen Frau in einer sich auf einem Vogelfuß drehenden Burg (—> Kacsaläbon forgö vär). Er hat mehrere (sieben, neun oder zwölf) Köpfe und ist von riesiger Gestalt. Sein Roß ist eines der Füllen seiner in Stuten verwandelten Schwestern (vgl. ->AS1. Vila; Kelt Epona; Rhiannon; Germ. Loki). Auf ihm stürmt er — Sonne und Mond, die er gestohlen, mit einem Lasso am Sattel befestigt — durch (manchmal auch auf) Gewitterwolken einher. Solymossy, 439; Berze Nagy, 303. -»Nemcre; Tältos li. -> Lit. Schatz­ bringender Drache; Wettergottheiten. -> AS1. Hauskobolde; Polykephalie; Wind Kelt. Polykephalie. -> Finn. Wettergott. Germ. Gestaltwechsel; Thor. -> Griech. Typhon; Wettergott.

Schamanen -> Tältos.

Schicksal -> Älmos 2. Schmied -> Tetejetlen nagy fa. Schwein -> Älmos 1. Seelenglauben -> Tältos lh.

Skythien, Scythia, Scytia. Die ung. Gesta-Literatur kennt zwei an entgegengesetzten Weitenden gelegene wundersame Länder: im Süden den mythischen Sumpf —> Maeotis (Közai, cap. ö, 144), im Norden dagegen, von Bergen umrahmt (Közai, cap. 6, 145), „Sky­ thien“. Ein schwierig zu begehender Pfad führt in das Sumpfgebiet (Kez.ai, 144f.). Nördlich davon dehnt sich die weite Steppe, auf der —>IIunor und Magor der Hirschkuh (—> Csodaszarvas) nach­ setzten und später ihre Frauen errangen. Am Nordrand dieser Steppe endlich beginnt „Skythien“. Gefährlich wie der Zugang zur Maeotis, mehr noch: schrecklich ist der Weg dorthin. Unglaub­ liche Gefahren warten des Wanderers (Chron. Pict., cap. 6, 253). Garstiges Gestrüpp umgibt ihn, sumpfige, moorige Weiden wechseln ab mit schneebedeckten Bergen, von Nebel umgeben, den nie die 244

Ungarn_______________________________________________________Skythien

Sonne durchdringt. Schlangen, Kröten, Basilisken, Tiger und Ein­ hörner : Tiere, deren Gift tödlich ist, leben in dieser Einöde (Chron. Pict., 253). Nach Norden erstreckt sich das gefahrenreiche Gebiet bis an den Ozean. Neun Monate lang liegt „nubium densitas“ über der öden Landschaft, in der sich nie ein Mensch zeigt: die Wüstenei ist humano generi immeabile (vgl. Käzai, 146). Wer dennoch nach „Skythien“ gelangt, sieht sich indes unvermutet in völlig anderer Umgebung. Das Land, eine riesige, von der Natur geschaffene Festung (Chron. Pict., 253), von schneeigen Bergen, durch die der in „Skythien“ entspringende Fluß Etui (-> Attila) sich seinen Weg bahnt, wie von gewaltigen Bastionen umgeben, von entsetzlichen Wüsteneien umgürtet (Chron. Pict., 253), ähnelt nicht allein durch seine „Insellage“ inmitten einer nur einen einzigen, gefahr­ vollen Zugang gewährenden Wildnis der Sumpfinsel Maeotis, viel­ mehr ist es gleich dieser eine reiche, heitere Gegend, voll schattiger Wälder, blühender Weiden, reich bevölkert von mancherlei Tieren (Kezai, 146; Chron. Pict., 254). In seinen Kristallbergen nisten Greife, und auch der Jagdfalke (->Turul) brütet dort (Közai, 146; vgl. Marco Polo, Travels, translated and edited by W. Marsden, re-edited by Th. Right, London-New York [1946], 134, wo — völlig entsprechend den Vorstellungen des ung. Mythos — gleichfalls von nahe dem Eismeer gelegenen Bergen die Rede ist, auf denen Geier und Wanderfalken leben. Hierzu: Stud. z. ung. Frühgesch., in: Südosteuropäische Arbeiten 47 [1957], 82). Dieser in gewissen Zügen fast arktisch anmutenden mythischen Landschaft entspricht das Fabelland ung. Märchen. Auch dieses liegt im nngeteg hams (etwa: „im unermeßlichen Schneegebirge“), „hinter den sieben Ländern“ (hetudhet orszdgon tul) und jenseits des Ozeans (öpenncids tengeren tül) (Vämos, 45). Es ist das „Land herrlichen Glanzes“, wohin der Märchenheld nur mit ungeheuren Schwierigkeiten, ja, unter Todes­ gefahr gelangen kann (Vämos, 67). Hat er jedoch die verschneiten Wälder des sich rings auftürmenden Schneegebirges durchwandert und dessen Gipfel bezwungen, liegt es vor ihm ausgebreitet (Vämos, 45). Am Horizont ragt der „Glasberg“ (der „Berg aus Kristall“ oder der „Diamantberg“) empor (Vämos, 46). Am Himmel strahlen eine besondere Sonne und besondere Sterne (Vämos, 55), und unter den Felsen des „Glasberges“ liegt der „herrlich schöne Ort“, der „Ort des Ausruhens“, in dessen Mitte der Milchteich glänzt. Hier erhebt sich auch der große Weltenbaum, der „wipfellose Baum“ (—>Tetejetlen nagy fa), in dessen Zweigen der Vogel Greif (griffmaddr) (Vämos, 46f.) nistet. Dieser nimmt den Helden auf seinen Rücken und fliegt mit ihm hinab zur Unterwelt, wo auf einer wunderbaren Insel (Vämos, 55) „um die immerwährende Mittags16*

245

Sobamogera

Ungarn

zeit“ (alió délkor) sich erfüllt, worauf die Handlung des Märchens zielt (Vereinigung der Liebenden, Entwirrung von Mißverständ­ nissen u. a. m.). Zum Vergleich heranzuziehen ist auch die Land­ schaft der Mythen und Märchen fernnördlicher, den Ungarn sprachverwandter ugr. Völker. Der eine Typ ostj. Märchenlandschaft ist ein strahlend schöner Ort, ein wunderschönes Land, in dem goldenes Gras wächst. Der Zugang zu ihm ist ebenso schwierig wie der zum gelobten Land des ung. Märchens oder zu den beiden mythischen Ländern der Gesta. Die Erde erscheint hier „gefährlicher als Wasser“, doch wird andererseits wohl auch dieses als „gefährlicher denn die Erde“ bezeichnet. Endlich verschlägt es den Märchen­ helden an einen riesigen, dunklen Berg, der meist Vogelgestalt hat. Durch die schneebedeckten Glas- oder Kristallfelsen seines Gipfels kann der Held gelangen, wenn er einen aus seinem eigenen Bein­ knochen gefertigten Pfeil durch den verzauberten Raum schießt. Tut er dies aber, öffnet sich auch ihm — wie dem ung. Märchen­ helden — jenes herrliche Land mit dem Ort der Ruhe und seinem Milchteich (Munkácsi II, 2 [1910], 291 ff.). Eine Variante setzt die Erzählung fort, indem sie den Helden gleichfalls auf dem Rücken eines Greifen in die Unterwelt fliegen läßt (Munkácsi II, 2 [1910], 324f.), wo er, wiederum in Entsprechung zum ung. Märchen, eine wunderbare, mit goldener Pracht ausgestattete Insel findet, auf der die Braut des die Insel in Gestalt eines Gänserichs oder eines Schwanes besuchenden großen wog. Weltenlenker-Gottes (Mir susne-chum; —> Boldogasszony) lebt (Munkácsi II, 2 [1910], 295). Vámos; Munkácsi II, 2 und 4; M. de Ferdinandy, El paisaje mítico, in: pens. mit., 19—83; ders., Studie zu den Quellen der ugrischen Mythologie, in: UAJb 28, 1—2 (1956), 18—34. -> Kelt. Unterweltsfahrt. Finn. Fried­ hofsgeist; Väinämöinen; Weltbild. -> Germ. Kosmologie. —>Grieeh. Weltbild.

Sobamogera. Nach dem Anonymus der Gesta (cap. 45, 92f.) jener Teil landnehmender Ungarn, der unter Zuard und Cadusa nach Bulgarien und Griechenland zog und dort Fuß faßte. D. Pais (in seinen annot. exeget. zum Anon., ebd. 93, 1 [vgl. 42, 3]) wies auf den sprachlichen Zusammenhang von soba- (Gsoba, Szaba, Zuard; vgl. Zdßaoroi (Zäßaoroi aacpaXoi), nachConst. Porph., cap. 38, ein Teil der „Türken“ der sich jiqöq avaroAr/v elq rd rfjq IlEQCSÍdoq aécoq niederließ, während ein anderer unter Führung des „Woiwoden“ Lebedias sich weiter westlich in jener ’Arefocov^ov [= „Strom­ land“; -> Attila] genannten Gegend ansiedelte, in der dann rorätv üar^ivaMr&v eövoq seine Wohnsitze hatte) u. ä., desgleichen von Cadusa und Kaducsa mit dem Namen des mythischen Attilasohns —>Csaba hin, welcher nach Griechenland zog und (nach einer 246

Stute

Ungarn

Variante der Sage) vergebens zurückerwartet wurde (—> Csaba). Die erwähnte Variante sieht in Csabas nicht erfüllter Aufgabe, im Nichtzurückkehren des héros revenant, ein Scheitern. Dem ent­ spricht, daß der Anonymus (cap. 45, 93) S. als „stultus populus“ deutet und hinzufügt : „quia . . . viam non dilexit redire ad patriam suam.“ Bei Kézai (cap. 20, 162) gelangt Csaba weiter nach -> Skythien und erreicht endlich das damals im Osten wohnende ung. Brudervolk. Eine in dieser Fassung festgehaltene Eigentümlichkeit schimmert auch beim Anonymus durch (cap. 45, 92 f. ; Kézai, cap. 22, 163; vgl. Chron. Pict., 10): Csaba bekommt in „Skythien“ keine Frau und führt eine Chwaresmierin heim. Auch unter den Ungarn kommt er, obwohl —> Attilas Sohn, nicht zur Ruhe. Selbst sein Sohn, den er mit der Chwaresmierin zeugte, muß auswandern. Csaba, dieser so viel umherirrende, sich so vielen Lebensformen unterwerfende, letztlich jedoch immer nur ein Ziel — nämlich Wiederaufrichtung der väterlichen Herrschaft — verfolgende Held, ist ein ,,quester hero“ (vgl. die Einführung in den „Zauberberg“ von Th. Mann für Studenten der Princeton-Universität [1939], XXIII; Th. Mann-K. Kerényi, Gespräch in Briefen [1960], 195), dem gleichfalls jener merkwürdige Zug von Einfalt eignet, welcher die Mehrzahl der in der Weltliteratur begegnenden Gestalten gleicher Prägung kennzeichnet. Csaba als Suchender und Irrender, von einem großen Gedanken, dessen Verwirklichung unmöglich erscheint, Besessener, muß eben dieses seines Zieles wegen auf den Durchschnittsmenschen den Eindruck eines Einfältigen machen, eines stultus, um das Wort des Anonymus zu gebrauchen. Zu Csaba zu gehören, der zu Lebzeiten in Graecia oder Scythia verbleibt und nur als Toter zurückkehrt, sein unruhiges, schweifendes Da­ sein zu teilen, bedeutete mithin nicht nur Erwählung zu Größe­ rem, sondern — wie die S.-Variante der Sage zeigt — zugleich Annahme eines Verdammungsurteils. In diesem Sinne gelten die S., die „Csaba-Magyaren“, als stultus populus, ihr wider jegliche Aus­ sicht auf Erfolg unternommener Versuch einer restitutio regni als Torheit.

Sonne, Mond und Sterne -> Astrale Vorstellungen. Steine -> Äldö-küt.

Stephan der Heilige -> Istvän Kiräly. Stier ->Regö; Tältos la.i.2; Urreligion 2. -> Asl. Wassermann.

Kelt. Stier.

Griech. Stier.

Stute -> Pferd.

247

Szaba

Ungarn

Szaba, Szavard -> Csaba; Sobamogera.

Szäl, „Wind“. Als Schwanz des Särkäny aufgefaßt, mit dem dieser tödliche Schläge austeilt (->Nemere; Tod). Dem entspricht die ung. Wendung für „vom Schlag getroffen“ (megütötte a szel). Ursprüng­ lich wohl eine eigene, dämonische Wesenheit, die wie -> Guta ihre Opfer erschlägt und in der ung. —> Urreligion zusammen mit —> Fene, —> iz, -> Manö und Ördög auf seiten des dunklen Welt­ aspekts (-> Ärmäny) ->Isten kämpfend gegenübersteht. -> Lit. Vejopatis. —> AS1. Mittagsfrau; Stribog; Vila. -> Finn. Waldgeist. -> Ung. Nemere; Sarkäny; Szel. -> Germ. Njörd.

Szont Istvän Kiräly

Istvän Kiräly.

Szent Läszlö Kiräly -> Läszlö Kiräly.

Szög, Zug. Zauberpferd des —> Läszlö Kiräly.

Szüz Maria -> Boldogasszony. Tältos. „Schamane“ und „Pferd des Schamanen“.

1. „Schamane“. Etym. nachD. Pais (in:Magy. Ny. 30 [1934], 192): aus türk, tal-, talt- („ermüden“, „in Ohnmacht fallen“, „die Be­ sinnung verlieren“). Nach Diöszegi (461—68) kennzeichnen fol­ gende Merkmale das ung. Schamanentum: a) Der t. muß von Geburt an zum Schamanen bestimmt sein und sich schon in der Kindheit durch außergewöhnliche Kraft, anderer­ seits durch gewisse seelische Störungen von seinen Altersgenossen unterscheiden. Er erhält seine Berufung durch Erscheinungen über­ natürlicher Wesen in Gestalt von —> Stieren, —> Pferden usw.

b) Der t. erhält sein Wissen (->Tudomäny) nach einem einige Tage anhaltenden Scheintod. Man bezeichnet diesen Zustand als ein „Sich-Verbergen“ (vgl. Arany T, IV, 21f.). c) Während dieses Scheintodes werden die t. manchmal „von Geistern zerstückelt“.

d) Bei solcher „Zerstückelung“ des Einzuweihenden werden dessen Knochen gezählt. Stellt sich heraus, daß der Kandidat einen „über­ zähligen“ Knochen (einen sechsten Finger o. ä.) hat, ist er zum t. berufen. e) Die Einweihung selbst geschieht durch eine „Prüfung“, eine „Probe“. Meistens muß der „Prüfling“ den „bis zum Himmel reichenden Baum“ (—>Tetejetlen nagy fa) erklettern.

248

Ungarn

Tiltos

f) Wenig ist über den Kopfputz des t. bekannt. In diesem Zu­ sammenhang sei auf den Hörnerkopfputz der —> Hexen, der auch aus Hirschgeweih (vgl. —> Csodafiuszarvas) bestehen kann, hin­ gewiesen. g) Einzig bei den moldauischen Ungarn (den csdngö) hat sich bis in jüngste Zeit der Gebrauch der Schamanentrommel (s. u.) er­ halten (—>Finn. Ihnarinen 2).

h) Zwei Formen der t.-Ekstase sind bekannt. Entweder dringt „die Seele“ in den t. ein, oder die Seele des t. begibt sich zu fremden Geistern ins Jenseits. Auf dieser Reise erfährt der t. Vergangenheit, Zukunft und Geschehnisse, die sich an räumlich fernen Orten abspielen. (Ausführliche Beschreibung der Ekstase des t. bei den Csängö aus dem Jahre 1646: s. Diöszegi, 320f.) i) Höhepunkt der Schamanentätigkeit des t. ist der Schamanen­ kampf (küzdö tdltosok; tdltospdrbaj). Ein t. in Gestalt eines weißen -> Stieres (seltener eines hellfarbigen —> Hengstes) kämpft mit einem anderen t., der als schwarzer oder bunter Stier (seltener als grauer oder schwarzer Hengst) erscheint. Der t. weiß im voraus, daß ihm ein Kampf bevorsteht. Er kennt Zeit und Ort des Kampfes und weiß auch, welche Farben er und sein Gegner haben und unter welcher Gestalt sie das Duell austragen werden. Er fürchtet diesen Kampf und erbittet menschliche Hilfe. Dem „weißen“ t. wird diese Hilfe dadurch zuteil, daß seine Freunde seinem Gegner, dem „dunklen“ Stier oder Hengst, hinterrücks die Sehnen durchschneiden. Ähnlich ergeht es in der Sage des heiligen Ladislaus (->Läszlö Kiräly) dem „dunklen“ Kumanen. Sturm begleitet den Kampf, denn der t. steht in engster Beziehung zur Wolke, aus der er kommt und in die er zurückkehrt. Darin wird ein Zusammenhang zwischen dem sich aus einer Gewitterwolke in einen schwarzen Stier wandeln­ den „bösen t.“ einerseits und dem sich gleichfalls aus einer Wolke bildenden —> csodafiuszarvas, dem tötenden Nordwind -> Nemere und dem in der Wolke hausenden ->Särkäny andererseits sichtbar. Alle diese Gestalten erscheinen lediglich als verschiedene Aus­ prägungen ein und desselben —* dunklen Weltaspekts (-^Dualis­ mus). Der „gute t.“ kämpft um Abwehr einer Naturkatastrophe, gegen eine Krankheit oder für günstiges Wetter. 1725 jedoch gab die Angeklagte eines Hexenprozesses eine überraschende Erklärung des Sinns der Schamanenduelle: „Sie kämpfen im Himmel um das Reich“ (Viaskodnak az cgben a birodalomert [Diöszegi, 348]; birodalom = „großer Besitz“, „Reich“). Häufig wird von Kämpfen des t. mit Schamanen anderer „Länder“ (orszdg) berichtet. Zugleich ist 249

Tetejetlen nagy fa

Ungarn

der Kampf um das Reich wichtigster Wesenszug des alten Doppel­ königtums, in dem ein dunkler und ein lichter Herrscher um höchste Macht ringen. Solcher Streit wird nur durch den Tod eines der beiden Könige entschieden (-> Attila; Hunnensage; Läszlö Kiräly). Aus dem Schamanenkampf geht der t. müde, gebrochen, krank hervor. Eine Niederlage kann sogar Tod zur Folge haben. Dann ist das birodalom verloren (Diöszegi, 461—68; vgl. M. de Ferdinandy, A kettöskirälysäg, in: Jb. d. Bartha Miklös Ges. [1941], 3—23; Ferdinandy IÄt., 169—88). (—> Urreligion 2.) 2. Sodann bezeichnet t. das —► Pferd des ung. Schamanen. Nach dem Sieg über den „dunklen“ Stier zieht der Schamane aus, sich das t.-Pferd zu suchen (-> Tetejetlen nagy fa). Es muß ein krankes, mageres Tier sein, das geschleppt werden muß, ja, das sogar ver­ enden kann. Wenn es jedoch gewaschen wird, kommt es wieder zu sich. Mit Glut gefüttert, fliegt es auf und wird zum Berater und Helfer seines Herrn. Ursprünglich ist das t.-Pferd nichts anderes als die Schamanentrommel. Noch Listius (17. Jahrh.) kennt die Trommel des Helden Kinizsi (15. Jahrh.), die bika („Stier“) hieß. Andere Trommeln mögen als „Pferd“ bezeichnet worden sein. Wie ein Pferd, auf dem er reitet, hält ja der t. seine Trommel zwischen den Beinen. In gleiche Richtung weist ein im Volk bekanntes Rätsel: „Ich habe ein Rösselein, das wiehert in jeden Hof hinein. Was ist das?“ — Die Antwort muß lauten: „Die Trommel“. (^►Regö.) Endlich gehört zum t. ein weiteres Tier, die Eule, die von den Csängö der Moldau als t.-Vogel (t.-maddr) bezeichnet wird. Ipolyi I (1853), 250; Solymossy, 439ff.; von entscheidender Bedeutung: Diöszegi. -> Garabon eiäs; Mönroth. -> AS1. Wassermann. -> Kinn. Vögel. -> Kelt. Pferd; Rudiobos; Stier; Vögel. -> Germ. Seidr; Vogelgestalt. -> Griech. Zauber.

Tetejetlen nagy fa, tigigtsrö fa. Der „wipfellose“ (eigentlich der „kein Dach habende“), der „bis zum Himmel reichende“ große Baum. Eines der acht Märchenmotive des ung. Märchenschatzes, die nach S. Solymossys Feststellung aus der Vorlandnahmezeit stammendes, östliches Geistesgut bewahren. (Diese acht Motive sind: 1. der t.; 2. das Stutenmilchbad; 3. die fortspringenden Kissen; 4. die sich auf einem Vogelfuß drehende Burg [->Kacsaläbon forgö vär]; 5. die —>Unterweltfahrt des Weißroßsohnes; 6. der Königssohn, der die Morgenröte anbindet; 7. der Sonnenbefreier und Sternenschmied, auch „Schmied des Reiches“, orszäg kovdesa, genannt [->Lit. Teljawelik; ->Finn. Ilmarinen]; 8. der Mönch mit dem 250

Ungarn

Trommel

bleiernen Kopf.) Im t. des Volksmärchens klingt noch die Vor­ stellung vom Weltenbaum nach, den der —> tältos zu erklettern hatte. Diese ung. Vorstellung kennt — ebenso wie die nordeurasische — übereinanderliegende Welt-, bzw. Himmelsschichten, zu denen sich der Held nacheinander Zugang erkämpft. So hat auch das Erklimmen des t. durch den tältos Prüfungscharakter. Im höchsten Bereich des t. erwartet den Helden sein tältos-Pferd, die sich drehende Himmelsburg (-> Kacsaläbon forgö vär), die ihm versprochene Königstochter usw. — Volkstümliche zeichnerische Darstellungen der Schichten des Weltenbaumes sind namentlich von einem aus Horn gefertigten Salzbecher aus Särrötudvari be­ kannt. Im gleichen Ort erzählte man, daß es irgendwo einen Wunderbaum gäbe, dessen neun weit ausladende Äste, die so groß seien wie neun Wälder, durch ihr Rauschen den Wind erzeugten. Dieser Baum sei so hoch, daß nicht nur der Mond, sondern auch die Sonne ihren Lauf zwischen seinen Ästen zurücklege. Nur der tältos könne ihn finden. In der Tat gehört der tältos nicht allein in der angedeuteten Weise mit dem t. zusammen, vielmehr be­ gegnet auch die Vorstellung vom tältos als einem Bewohner des Weltenbaums (manche tältos indessen klettern nur im Rausch am Baum empor, um mit Verstorbenen zu sprechen). -> Örfa; Skythien. Eine vollständige Fassung des sehr verbreiteten t.-Märchens bei Berze Nagy, 257; dort weitere Literatur. Hervorgehoben sei noch: Solymossy, 431 sowie Diöszegi, 399.

Teufel ->Ördög; Regö.

Tiergestaltige Wesen -> Älmos 1; Attila; Csodafiuszarvas; Csodaszarvas; Dämonen; Dula und Bereka; Emesu; Enee; Hunor und Magor; Kacsaläbon forgö vär; Läszlö Kiräly; Mönroth; Regö; Särkäny; Skythien; Szög; Tältos; Turul. -> Lit. Tiergestaltige Götter. -> AS1. Tiergestaltige Götter. -* Kelt. Tier­ gestalt der Götter. -> Finn. Tiergestalt. -> Germ. Gestaltwechsel.

Tod —> Älmos; Bälväny; Csodafiuszarvas; Nemere; Regö; Sobamogera; Szöl; Tältos lb.c.d.i; Tetejetlen nagy fa; Unterwelt; Vörbulcs. Lit. Totenglauben -> AS1. Totenglauben. -> Kelt. Tod. -* Finn. Toten­ glaube. -> Germ. Tod. -> Griech. Tod.

Träume -> Älmos 1; Attila; Istvän Kiräly; Turul. Trommel -> Älmos 2; Regö; Tältos.

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Tschingis Khan

Ungarn

Tschingis Khan -> Älmos; Läszlö Kiräly; Urreligion 2.

Tudomäny. Heute „Wissenschaft“; ursprünglich „okkultes Wissen“, „(->) Zauber“, „Magie“. Die —>Boszorkäny kann nicht sterben, bevor sie ihr Wissen durch Händedruck oder mündliche Mitteilung weitergegeben hat. Der -> tältos erlangt sein t. nach einem einige Tage anhaltenden Scheintod, währenddessen manche der Ein­ zuweihenden von Geistern zerstückelt werden. ->Igözös; Reg6. -> Lit. Zauber. -> AS1. Zauber. -> Kelt. Magie. -> Pinn. Zauber. -> Germ. Zauber. -* Griech. Zauber.

Turul, „der Falke“. 1. Das „göttliche Gesicht in Gestalt eines Falken“ (Anon., cap. 3, 38), das der Mutter des -> Älmos im Traume erschien, sie schwän­ gerte und so zum mythischen Ahn des ung. Herrscherhauses wurde. A. Thierry (S. 141) erkannte die mythische Identität des t. mit —> Attila.

2. Ongon (magische Darstellung des Ahnentieres, hier: des Falken­ ahnen der Arpaden). Közais Bericht (cap. 10, 152), der diese Kenntnis vermittelt, führt wiederum zu Attila: „Das Wappen des Königs Ethela, das er auf seinem Schild zu tragen pflegte, hatte Ähnlichkeit mit dem Vogel, der ung. t. genannt wird.“ (Közai [cap. 10, 152] fügt die Worte in capite cum corona hinzu. Läszlö [242] will in dieser „Krone“ des Vogels die Kappe des Jagdfalken erkennen.) 3. An zwei Stellen bei Közai, der die Älmossage nicht anführt, Sippenname des Arpadenhauses: Arpad, filius Almi... de genere t. (cap. 27, 165); ferner: dux . . . Geicha de genere t. (cap. 76, 188). Thierry, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von K. Szabö (1864); G. Röheim, A kazär nagyfejedelem es a t.-monda, in: Etn. (1917); Ferdinandy MM, Kap. 1; ders., Älmos, in: Stud. z. ung. Frühgesch. (1957), 41 ff.; ders., Tschingis Khan (1958), 29f. und 49; Läszlö. -> Kelt. Vögel. -> Finn. Vögel. -> Germ. Vogelgestalt.

Ugek, Ügyek -> Älmos; Emesu. Ügy-fa -> Äldö-küt.

Unterwelt —> Särkäny; Skythien; Tetejetlen nagy fa; Tod.

Unterweltsfahrt -> Skythien; Tetejetlen nagy fa. -> Kelt. Unterweltsfahrt. -> Finn. Friedhofsgeist; Lemminkäinen; Väinämöinen.

252

Ungarn

Urreligion

Urreligion, ungarische. 1. Zur Geschichte ihrer Wiederentdeckung. Vor Erschließung des ugrofinn. und turkotatarischen Vergleichsmate­ rials war über die U. wenig bekannt. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrh. gab man sich mit der Feststellung zufrieden, die alten Ungarn seien Heiden gewesen. Erst Daniel Cornides (1732—87) beschäftigte sich eingehender mit diesem Gegenstand (D. Cornides, Commentatio de religione veterum Hungarorum [Wien 1791 = Vorlesung, Göttinger, vom 10. Sept. 1785]; vgl. L. Katona, Irodalmi tanulmänyai, II [1912], 211ff.). Ausgehend von dem berühm­ ten Satz des Theophylaktos Simokatta über die Religion der alten Türken (E. Chavannes, Documents sur les Tou-Kiue [Turcs] occidentaux, St. Petersburg [1900], 248), den er auf die U. bezog, nahm er in seiner Commentatio einen Kult der Elemente bei den Altungarn an und brachte gleichzeitig den ung. —> Isten mit dem iran. Isdan in Zusammenhang. Auf dieser Grundlage wurde der Schritt zur Annahme eines ung. Feuerkultes getan und gleichzeitig die von den Ungarn einem höchsten, hinter und über den Elementen stehenden Gotte gezollte Verehrung zu späten Formen des ZaraQuStrismus in Beziehung gesetzt. Die Annahme eines dualistischen Weltbildes lag nahe (-> Dualismus): in ->Manö und namentlich in -> Ördög, dessen Name als „Ureigentum“ der ung. Sprache er­ schien, vermutete man den anderen Gott von einst, während das Adjektiv drmdnyos („trügerisch“, „listig“; -^Ärmäny) als Über­ nahme des iran. Ahramanyu!Ahriman aufgefaßt wurde. Daraus entwickelte sich die eigentümliche Auffassung von einem ung. „Parsismus“. Diese Vorstellung wurde von dem als Lehrer und Patriot auf die Jugend seiner Zeit zündende Wirkung ausübenden Pesther Universitätsprofessor Stephan Horvät (1784—1846) auf­ gegriffen und zur Grundlage einer geschichtlichen Schau der ung. Frühzeit ausgebaut. Seine größtenteils phantastisch anmutende Betrachtung erschien 1825 unter dem Titel „Rajzolatok a magyar elöidökböl“. Wie stark aber die literarische Welt Ungarns zu jener Zeit von derartigen Gedanken erfaßt war, zeigt S. Szekely v. Aranyosräkos’ Heldengedicht ,,A szökelyek Erdelyben“, das, 1823 in Wien erschienen, seine mythologische macchina ganz im Sinne eines „persiseh-parsischen Dualismus“ ausstattet. Dieser vermeintliche „Parsismus“ ist eine so bemerkenswerte Er­ scheinung der ung. Geistesgeschichte, daß er der Erörterung bedarf. Namentlich die Frage nach der Herkunft des ung. Volkes ist es, die im Zeitalter der Romantik Forschen und Dichten in zunehmen­ dem Maße beschäftigt. Nur zu verständlich ist, daß man in der Gegend der Urheimat nach Geschwistervölkern sucht. Daß man 253

Urreligion

Ungarn

solche nicht findet, vertieft im ganzen Volke das Gefühl einer ge­ wissen Einsamkeit, eines Für-sich-Alleinstehens ohne stammes­ mäßig Verwandte. Der größte ung. Dichter der Romantik, M. Vörösmarty (1800—1850), sprach am deutlichsten aus, daß der Ungar „ein abgetrennter, geschwisterloser Zweig seiner Gattung“ sei, der „vergebens seinen Blick nach dem Westen“ wendet und gleicher­ maßen „Vergehens . . . auch nach dem Osten zurück“ schaut. Diese Worte treffen selbst heute noch zu, obwohl die vergleichende Lin­ guistik im 19. Jahrh. das Ung. in die Gruppe der ugrofinn. Sprachen einreihte. Seiner Eigenart nach ist der Ungar ebensowenig Finne oder Türke wie er Slave, Germane oder Romane ist. Die 1770 von Sajnovics (in seiner Demonstratio idioma Ungarorum et Lapponum idem esse) vorgenommenen Vergleiche des Ung. mit dem Lappon. wurden, obwohl sie den vom Standpunkt der Sprachwissenschaft aus richtigen Weg einschlugen, fast einmütig abgelehnt. Solche aus dem geschichtlichen Bewußtsein des Ungarn erwachsende Ab­ lehnung war die damals einzig mögliche Haltung. Linguistisch­ formale Übereinstimmungen erschließen nicht das Rätsel der ge­ schichtlich-geistigen Erscheinung eines Volkes. Folglich mußte jene andere Schule, die ihr Augenmerk auf geschichtliche Wesensschau richtete, ihre Suche dort fortsetzen, wo sie der nationalhistorischen Grundhaltung Entsprechendes vermutete. So führen wahlverwandt­ schaftliche Neigungen diese späten, romantischen Nachkommen reiterlich ritterlicher Halbnomaden zur Annahme eines Urzusam­ menhanges zwischen Altungarn und Parthern. Unwissenschaftlich wäre es freilich, die „Parther“ Horvaths und seiner Anhänger den Parthern der Geschichte gleichzusetzen. Be­ rücksichtigt man jedoch die innere Zielsetzung romantischer Ge­ schichtsschreibung, erweist sich der Name „Parther“ als generische, fast symbolische Bezeichnung. Eine Betrachtungsweise, die jeder ihr kleinlich erscheinenden Systematisierung abhold, aber groß­ angelegter Wesensschau zugeneigt war, suchte durch das Wort „Parther“ etwa das gleiche zu umschreiben, was die heutige Wissen­ schaft mit dem Terminus „Reiternomaden“ bezeichnet. Im Zusam­ menhang damit sei daran erinnert, daß im frühmittelalterlichen Sprachgebrauch unter Ilunni keineswegs nur wirkliche Hunnen ver­ standen werden. Der „parthischen Welt“ aber stand die „persische“ gegenüber. Heute würden wir von Iran und Turan, vom „Gegensatz zwischen fruchtbarem Land und Steppe, zwischen Ackerbau und Jägerdasein, zwischen Seßhaftigkeit und nomadischem Leben“ (F. Altheim, Zarathustra, in: Neue Rundschau [1952], 2, 24) sprechen: es ist der gleiche Gegensatz, der in den Worten persischer 254

Ungarn

Urreligion

Großkönige von „Iran und Nicht-Iran“ zum Ausdruck kommt. Wie weitgehend und mannigfach iran. Kultur die Welt der Reiter­ nomaden beeinflußte, ist bekannt. Die neuere Geschichtsforschung — und namentlich ihr nüchternster Zweig, die Spatenforschung — hat gezeigt, wie sehr auch die Ungarn bis zum Ende des 10. Jahrh., also noch in ihrer heutigen Heimat, diesem Einfluß ausgesetzt waren (N. Fettich, Die Metallkunst der landnehmenden Ungarn, in: Arch. Hung. 21 [1937]; besonders Kap. 3, 5 und 6). Damit ist Entscheidendes deutlich geworden. Das dualistische Welt­ bild hat den Dichter Szekely so tief beeindruckt, daß er die gött­ liche Zweiheit in den Mittelpunkt seiner „Mythologie“ stellte. Daran wurde festgehalten. Nicht nur Vörösmartys Götterwelt baut sich auf dieser Idee auf, auch Arany (1817—82) bietet in seinem Hunnenepos keinen anderen Gedanken. Sofort, nachdem sie ein­ mal ausgesprochen war, wurde die Konzeption eines dualistischen Weltbildes vom gesamten Ungartum als selbstverständlich an­ genommen und als eigener Besitz verstanden. Diese Tatsache be­ zeugt, daß das auf den ersten Blick so gekünstelt wirkende „Mythologem“ eines sich durch Gegensätze aussprechenden Weltbildes in den tieferen Schichten der ung. Seele Verwandtes zum Klingen brachte, daß es als Eigenes verstanden werden konnte, veil es einem Urbild ung. Vorstellungen entsprach.

2. Versuch einer Rekonstruktion. Dieses Urbild findet seinen Aus­ druck im Kampf, der Hauptnenner aung.-religiöser Vorstellungen ist. Der Kampf ist Wesenszug der iran.-turan., „persisch-parthischen“, damit aber auch der aung.-westlichen Spannung zwischen Reiterhirten und Städtebewohnern. Namentlich im Kampf hat der Reiternomade Lösung der aus seinem sich immer in Gegensätzen ausdrückenden Weltgefühl erwachsenden Spannungen gefunden. Der Mann als Krieger, der Krieger als Leitbild des Menschen, Krieg als Lebensinhalt, überwiegend militärische Staats- und Gesellschaftsorganisation, das als Kampf erschaute Weltgeschehen und Offenbarung dieses Kampfes im Kosmos sind innerlich zusammen­ hängende Grundzüge reiternomadischer Kultur, die stets in Wechsel­ beziehung und im Gegensatz zu „Iran“, zum „Westen“, zu den „Seßhaften“ erschaut und erlebt werden. Daraus wird deutlich, daß die ung. Romantik mit der Wieder­ entdeckung eines sich im Kampf zweier Weltwirklichkeiten aus­ sprechenden dualistischen Weltbildes den wirklichen Geist der U. beschwor, ungeachtet der Tatsache, daß die Terminologie gewisser Korrekturen bedarf.

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Urreligion

Ungarn

Die U. war eine, der von Theophylakt beschriebenen sehr nahe­ stehende, monotheistische Religion, die aber neben einem einzigen, ewigen und unsichtbaren großen Gott (->Isten) andere göttliche oder halbgöttliche Wesen, Heroen usw., duldete. Einerseits scheint sie Einflüsse nordeurasischen Schamanismus’, andererseits An­ regungen durch mittelasiatisch-osteuropäische Träger nachzaraöustrischen Geistesgutes in sich aufgenommen zu haben und darinden übrigen türk.-reiternomadischen Religionen zu gleichen. Vorstellung dualistischer Spannung, der Gedanke des Kampfes, ist der Haupt­ nenner, auf den sich ihre sämtlichen Äußerungen bringen lassen.

Auf der volkstümlichsten Stufe äußert sich diese Vorstellung im Kampf der Schamanen (-> Táltos). Solcher Kampf ist der zentrale, bis auf unsere Tage gültige Ausdruck des ung. Schamanenwesens. Entsprechend bei den Polen des dualistischen Weltbildes stehen sich ein „guter“ (in Gestalt eines weißen —> Stieres) und ein „böser“ (als schwarzer Stier auftretender) Schamane gegenüber. Seine Ent­ sprechung hat der Schamanenkampf im Duell des „lichten“ -> László király mit dem Kumanen. Letzterer wird nach bild­ lichen Darstellungen der Sage auf gleiche Art überwunden wie der schwarze Stier des „bösen“ Táltos. Glanz und Licht umgeben die Sagengestalt Lászlós; demgegenüber vertreten seine Feinde (auch sein Vetter Salomon) den dunklen Aspekt. Somit wird Lászlós Kampf mit ihnen zum Kampf des Lichtes mit dem Dunkel. Das Paar Salomon (Dunkel) — László (Licht) steht nicht allein in der Reihe von Herrscherpaaren, die in ihrer Gesamtheit als ung. Dop­ pelkönigtum in Erscheinung treten: eine Erscheinung, die ihrer­ seits die Vorstellung von das gesamte Weltbild bestimmenden polaren Gegensätzen spiegelt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß in dieser gleichsam „kosmisch-politischen“ Einrichtung Tiefstes Ausdruck gefunden haben muß, da sie die Christianisierung um Jahrhunderte überdauerte, so daß sich ihr Vorhandensein vom 9. bis zum ausgehenden 13. Jahrh. verfolgen läßt. Am klarsten ent­ spricht dieses politische Gebilde im 10. Jahrh. den hinter ihm stehenden weltanschaulichen Inhalten. Zu jener Zeit befand sich ein kaum noch regierender Großfürst im Mittelpunkt des Landes, während im Osten der gyula, im Westen der horka (J. Deér, Le probléme du chap. 38 du De Administrando Imperio, in: Annuaire de lTnst. de Philol. et d’Hist. Orient, et Slaves, 12 [1952] = Mélanges H. Grégoire, IV, 117ff.) die tatsächliche Regierung in der Hand hatten. In der sagenhaften Hunnengeschichte wird diese Lage so gedeutet, daß ein rector über dem ganzen Volk steht, während den rechten Flügel dieses Volkes drei Fürsten aus dem

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Ungarn

Urreligion

Geschleckte Erd (-> Attila und seine Brüder), den linken drei Fürsten aus dem Geschleckte Zemen beherrschen. Erst nach Aus­ scheiden aller anderen wird der Bruderkampf zwischen Attila und Buda ausgetragen (—> Hunnensage). Allein der Sieger in diesem Kampfe bleibt im Besitz des birodalom (des Reiches; -> Taltos 1. i). Dieser Gedanke entspricht den Gottesvorstellungen der ung. U. Vgl. die Inschrift auf dem Siegel Tschingis Khans: ,,Im Himmel Gott, auf Erden der Khakan . . .“ Gleiche Parallel-, ja in gewissem Sinne Ineinssetzung von Gott und Herrscher im reiternomadischen Denken zeigt das Edikt, das Möngke khan durch Wilhelm v. Rubruk an Ludwig IX. von Frankreich sandte:.......in coelo non nisi unus deus aeternus, super terram non sit nisi unus dominus Chingischan, filius dei“. Der Überwinder kosmisch bedingter Zweiheit repräsen­ tiert gleichsam Gott selbst (,,en ego malleus orbis“ ->Lit. Perkunas ; Asl. Perun; Kelt. Hammergott; Finn. Ukko; Germ. Thor), obwohl es erbitterter, grausamer Kämpfe bedarf, dieses Ziel zu erreichen. Auch der Gottheit selbst steht — in der höchsten Schicht dieses Weltbildes — eine Reihe dunkler Kleingötter gegenüber, —> Dä­ monen, deren einige noch im Volksaberglauben fortleben und die vielleicht nur verschiedene Aspekte einer ursprünglich einzigen Wesenheit bezeichnen. Ihnen, durch die selbst der deus otiosus des Himmels in irdische Kämpfe verwickelt ward, trat eine große, tätige, göttliche oder halbgöttliche Wesenheit entgegen, die man sich, wenn man dem späten Bonfini (15. Jahrh.) Glauben schenken darf, als eine —>Herakles ähnliche Gestalt vorzustellen haben wird. Wie -> Attila oder Stephan (—> Istvän Kiräly) die mythische Rolle des Weltlenker-Gottes für sich aufgreifen, wie ->Läszlö mit der „herkulischen“ Heldengestalt der lichten Seite eins wird, so kennt die Heldensage auch Vertreter des —> dunklen Weltaspekts. Es sind der horka-Fürst —► Vérbulcs, der „Mann des Blutes“, und sein Be­ gleiter Lél, die nach der Niederlage auf dem Lechfeld bekennen, die „Rache des höchsten Gottes“ zu verkörpern. Ausschlaggebend dabei ist die Bejahung ihrer finsteren und blutigen Berufung, die ebenso Bekenntnis ist wie die Worte des mythischen Attila : „Tellus tremit, Stella cadit: en ego malleus orbis“ (Erh. bei Iohannes Thüröczi, Chronica Hungarorum [Augsburg 1488], lib. I, cap. 16; vgl. Ferdinandy pens. hist. 18) und mit der bekannten Wendung „metus orbis, flagellum dei“ (Gottfried v. Viterbo, Pantheon, lib. 22, cap. 17; Ferdinandy, pens. hist. 17) zusammengehört, welche ihrerseits in der Wertordnung der aung. Welt ein Epitheton orna ns dunklen, einzigartigen Glanzes darstellt. E. Buday, Kôzônséges histôria (1800); J. Horvâth, A Régi Magyaroknak Vallâsbeli és Erkölesi Ällapotjokröl, in: Tud. Gyüjt (1817), 27—91; Ders.,

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Ursprungsgage

Ungarn

Umrisse aus den älteren Geschichten der magyarischen Nation, deutsch von J. Graf Majláth in dessen Geschichte der Magyaren, IV (1831); A. Ipolyi, Magyar Mythológia I—II (1929 = 1854); S. Solymossy, A magyar 6si hitviläg, in: A magyarság néprajza, IV, 431 ff.; I. Graf Zichy, Magyar östört. (1939); Ferdinandy MM, Kap. 1, 2 und 4; Ders.: En ego malleus orbis, in: En torno al pensar histórico, II (1961), 7—64. ->■ Hadúr. -> Kelt. Piaña; Heldenmythus.

Ursprungssage —> Csodaszarvas; Dula und Bereka; Hunor und Magor; László Kiräly; Maeotis; Magor; Ménróth. Varasdi, Varasolo -> Boszorkäny.

Varäzsoläs -> Igézés. Vérbulcs, auch Bulchu, Werbulchu. Zusammen mit Lei (Leel) Führer des ung. Aufgebotes, das 955 auf dem Lechfeld von Otto dem Großen besiegt wurde. Nach ihrer Niederlage in Regensburg hingerichtet. Ihr Untergang gab Anregung zu einer epischen Schöpfung, die sich im Chron. Pict., cap. 60, spiegelt. Ihre Aussage ist von größter Bedeutung für unser Erfassen des aung. Weltbildes. V., vir sanguinis (Anón., cap. 53,107), ist die düstere Gestalt des ung. Sagen­ kreises. (Seine diesem Bild ziemlich widersprechende historische Rolle soll hier nicht berührt werden. Vgl. Ferdinandy MM, 77—83.) Sein Wesen — in der Sage — ist nur auf Rache ausgerichtet, wobei ein Zug finsteren Ahnenkultes hervortritt. ,,Bulchu des Blutes“ (vér „Blut“) wird er genannt, weil er, um seinen in der „Krimhilden­ schlacht“ (—>Csaba) gefallenen Ahnherrn zu rächen, in solcher Grausamkeit gegen die Westländer entbrennt, daß er sogar das Blut manches Deutschen wie Wein schlürft (Kézai, cap. 33, 167). Nach der Niederlage auf dem Lechfeld tritt jedoch Lél in den Vorder­ grund. Vor den Kaiser geführt (Chron. Pict., 308; vgl. Ferdinandy MM, 68—70; Ferdinandy pens. hist. II, 17), werden die beiden Ungarnführer gefragt, warum sie die Christen verfolgten. Sie ant­ worten: „Wh" sind die Rache des höchsten Gottes, von ihm zur Geißel über Euch erkoren. Und durch Euch werden uns Haft und Tod zuteil, wenn wir aufhören, Euch zu verfolgen.“ Der Kaiser entgegnet: „Wählt Euch den Tod, der Euch zusagt.“ „Gebt mir mein Horn“, erwidert Lél, „nachdem ich noch einmal auf ihm geblasen, werde ich antworten!“ Das Horn in der Hand, erschlägt er damit den Kaiser und jauchzt in ungestümer Hybris: „Du gehst vor mir und wirst mir in jener anderen Welt dienen!“ Daß ihnen ein getöteter Feind in alio seculo zu dienen habe, sei — so erklären dazu die Gesta — „Glaube der Skythen“. Damit ist selbst in der Niederlage und angesichts eines schmachvollen Todes die Ordnung der Welt gewahrt: wer im Leben Herr war, bleibt es auch im Tode.

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Zweite Landnahme

Ungarn

Hier — wie nur ganz selten in der Geschichte, und in der ung. Überlieferung kein zweites Mal — liegt gleichsam das Innere des Reiternomadentums offen. Seine tiefste Lebensstimmung und seine vitalste Not offenbaren sich hier mit der Wucht eines großen Selbst­ bekenntnisses.

Vögel —> Örfa; Skythien; Tältos 2; Turul.

Wasser -> Äldö-küt; Älmos; Ärpäd; Attila. Weltenbaum -> Örfa; Skythien; Tetejetlen nagy fa. Weltherrschaft -> Älmos 2; Hunnensage; Tältos li.

Werbulchu -> Vörbulcs.

Wetterdämon

Särkäny; Wolken.

Wind(dämoncn), Wirbelwind ->Nemere; Särkäny; Szöl; Tältos li; Tetejetlen nagy fa. ->• Lit. Vejopatis. ->■ Germ. Njörd.

Asl. Mittagsfrau; Stribog; Vila. -> Finn. Waldgeist.

Wolf —> Dula und Bereka.

Wolken ->Csodafiuszarvas; Särkäny; Tältos li. Zauber Bäba; Boszorkäny; Csaba; Garabonciäs; Igözös; Läszlö Kiräly; Örfa; Regö; Szög; Tudomäny.

Böser Zauber —> Fene; Iz. -> Lit. Zauber. -> Asl. Zauber. -> Kelt. Magie. -> Finn. Zauber. Zauber. -> Grieeh. Zauber.

Germ.

Zuard -> Sobamogera.

Zug -> Szög. Zweite Landnahme —> Älmos; Ärpäd; Hunnenchronik; Hunnensage; Isten.

17

259

Zu den folgenden Abbildungen vergleiche die beschreibenden Texte im Ab bildungsverzeichnis S.214ff.

Ungarn

Tafel I

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FINNISCHE MYTHOLOGIE VON

LAURI HONKO

A. Siedlungsgeschichtlicher Überblick

„Fennis mira feritas, foeda paupertas: non arma, non equi, non penates; victui herba, vestitui pelles, cubile humus; sola in sagittis spes, quas, inopia fern, ossibus asperant.“ Mit diesen Worten läßt Tacitus in seiner Germania im Jahre 98 die Finnen zum ersten Male in den Bereich der Geschichtsschreibung treten, und wenig später werden sie von Ptolemaios in seiner Geographie erwähnt. Zwar paßt die Schilderung des Tacitus von einem außerordentlich primitiven Einödjägervolk besser zu den Lappen als zu den Finnen, die bereits in jener Zeit Ackerbau und Viehzucht in relativ entwickelter Form kannten. Zuverlässigere Angaben über die Vorgeschichte der Finnen vermögen die Archäologie, die vergleichende Sprachwissenschaft und die frühgeschichtliche Linguistik zu geben. Danach gehören die Finnen zur uralischen und finnisch-ugrischen Sprachfamilie; die meisten hier­ her gehörigen Völker leben in der heutigen Sowjetunion. Man nimmt an, daß sich die Jäger- und Fischergemeinschaften, deren Idiom die uralische Ursprache war, im Zwischenland des Uralgebirges und des mittleren Laufes der Wolga bewegt haben. Diese Sprachperiode endete spätestens um 4000 v.Chr. mit der Loslösung der Samojeden vom finnisch-ugrischen Urvolk. Danach zweigten sich vom „Stamm­ baum“ die folgenden Zweige ab: um 3000—2500 v.Chr. die Ugrier (die späteren Obugrier — Ostjaken und Wogulen — und Ungarn), um 2000—1500 v.Chr. die Permier (die späteren Wotjaken und Syrjänen), vielleicht um das Jahr 1000 v.Chr. die Wolgafinnen (die spä­ teren Tscheremissen und Mordwinen). Über die heutigen Wohnsitze dieser Völker s. Karte 1 (S.273). Man nimmt an, daß die Ostseefinnen etwa um das Jahr 500 v. Chr. vom mittleren Lauf der Wolga im Baltikum eingetroffen waren; für diesen Zeitpunkt läßt sich eine eigene Sprachgruppe der Lappen nachweisen, und in der ostsee­ finnischen Ursprache traten baltische Lehnwörter auf. Einige Sprach­ wissenschaftler und Archäologen halten die obigen Datierungen für zu spät, doch wird man mit der Lösung der Streitfrage warten müssen, bis die neuesten Datierungsmethoden der Archäologie auf die Praxis angewendet worden sind. Die urfinnische Sprachperiode wird vom Jahre 500 v. Chr. bis ca. zum Jahre 100 n. Chr. anberaumt, wenn hier auch die Datierungen schwanken. Die Stämme, die von den Wohnsitzen der Finnen an der 263

Einleitung

Finnen

Wolga nordwestwärts wanderten, erreichten spätestens in dieser Periode die Gegenden am Weißen See (Bjelosero), am Wolchow, am Peipus-See und an der Düna und okkupierten das Gebiet, das sich von der Rigaer Bucht durch den nördlichen Teil von Witebsk bis zum Waldai und im Norden bis in die Nähe des Onega- und Ladoga­ sees erstreckte. Die lange andauernden friedlichen Verbindungen mit den Balten hoben das Kulturniveau unter anderem auf dem Gebiet von Ackerbau und Viehzucht (die ersten Anzeichen dieser Wirtschafts­ form stammen bereits aus permischer Zeit), doch spielten Jagd und Fischerei immer noch eine wichtige Rolle. Etwas später kam, wohl von einem gotischen Stamm, die älteste germanische Lehnwort­ schicht in die Ursprache; sie enthält eine große Anzahl zentraler Termini eines entwickelten Gesellschafts- und Wirtschaftslebens. Man hat vermutet, daß diese Einflüsse zumindest teilweise von einem germanischen Volkssplitter stammen, der dann mit den Ostsee­ finnen verschmolzen ist; dies würde die Tatsache erklären, daß sich in den germanischen Sprachen keine Spuren dieser Wechselwirkung erhalten haben. Offenbar gerade dank fruchtbarer’ kultureller Kon­ takte trat in der urfinnischen Periode eine tiefgehende Veränderung ein: man ging von den sogen, „aneignenden“ Erwerbstätigkeiten, die ausgedehnte Nutzungsgemarkungen voraussetzen, zur Lebensform der bäuerlichen Gesellschaft über, welch letztere örtlich beständiger und fester organisiert war. Mit der Abnahme der Mobilität der Be­ völkerung begann die Isolierung und Differenzierung zu jenen ostsee­ finnischen Stämmen, die wir aus historischer Zeit kennen. Die ersten Berührungen mit den Slaven finden erst nach dieser Differenzierung statt, um 600—800 n.Chr. Vom religionsgeschichtlichen Standpunkt sind unter den altslawischen Lehnwörtern u. a. pakana 'Heide’, pappi 'Priester, Pfarrer’ und risti 'Kreuz’ interessant; sie zeigen, daß die Ostseefinnen ihre ersten christlichen Einflüsse eben von den Slaven erhielten. Die Wohnsitze der Ostseefinnen gehen aus Karte 1 hervor. Der westlichste Stamm, die Liven, kam die Düna entlang an das Ufer der Bucht von Riga. Am Ostufer, in Livland, verschmolzen sie mit den Esten und Letten; die letzten 700 Liven lebten vor dem Zweiten Weltkrieg an der Nordspitze von Kurland, in zwölf kleinen Fischer­ dörfern. Die Esten teilen sich dialektologisch in Nord- und Süd­ esten. In Nord-Estland finden wir bereits in den ersten nachchrist­ lichen Jahrhunderten eine auf Ackerbau beruhende, entwickelte Bauernkultur, zu deren Nutzgemarkung unter anderem die Südküste von Finnland gehörte. West-Finnland wurde über das Meer gerade von Nord-Estland aus besiedelt; die Hämeer (hämäläiset) zogen ins Binnenland und die eigentlichen Finnen (varsinaissuomalaiset)

264

Finnen

Einleitung

an die Südwestküste, wo sie weiterhin enge Beziehungen zu Estland aufrechterhielten. Von den Nord-Esten differenzierte sich im ersten Jahrtausend auch ein Zweig ostwärts, die Woten, die dann später im Reich von Novgorod das sogen, „wotische Fünftel“ bildeten. Später nahm ihre Anzahl ab und ihr Wohngebiet beschränkte sich auf den westlichen Teil von Ingermanland. Zu Beginn des zweiten Jahrtausends kam ein Zweig des altkarelischen Stammes, die Ingrier (inkerikot), aus dem Osten nach Ingermanland, und zur Zeit der schwedischen Herrschaft im 17. Jahrh. erhielt das Land viel Be­ völkerung aus Finnland. Der Zweite Weltkrieg und die Umsiedlungen bereiteten den ostseefinnischen Stämmen in Ingermanland ein Ende, und die Besiedlung wurde praktisch gesehen völlig russisch. Im Mittelalter waren die Woten und Ingrier zum griechisch-orthodoxen Glauben bekehrt worden; diese Stämme markierten gemeinsam mit den im Südosten von Estland wohnenden Setukesen die Westgrenze des Macht­ bereichs der Ostkirche an der Südküste des Finnischen Meerbusens. Die Wohnsitze der Alt-Karelier (karjalaiset) liegen nach den letzten Forschungen im Gebiet des Südost-Ladoga, im Raum der Flüsse Wolchow, Sjass, Pascha, Ojat und Swir. Hier gerieten sie in Berüh­ rung mit den den Ostweg südwärts ziehenden Warägern und nahmen teil an der Gründung des Reiches Novgorod, die nach der Nestor­ chronik im Jahre 862 von dem Warägerhäuptling Rurik vollzogen wurde. Die karelische Expansion richtete sich, wie erwähnt, Anfang des zweiten Jahrtausends nach dem Westen (Ingrier), an das Nord­ westufer des Ladoga, wo bereits im 9. Jahrh. eine Kolonie mit Verbindungen nach West-Finnland und Schweden existierte, und an das Ostufer des Ladoga, nach dem Olonetz. Später breiteten sich die Karelier an der finnischen Ostgrenze entlang nordwärts bis zum Polarkreis aus, nach Arehangelsk-Karelien. So gestaltete sich das nördliche Wohngebiet der Karelier, das auf finnischer Seite Süd-, Nord- und Grenz-Karelien umfaßte und jenseits der Grenze RussischKarelien (Archangelsk-Karelien und Olonetz). Spätestens im 17. Jahrh. zog ein Teil der griechisch-orthodoxen Karelier — teils aus Angst vor lutherischer Bekehrung — aus den ruhelosen Grenzgebieten ins Innere Rußlands, nach Twer, wo eine lebenskräftige karelische Kolonie entstand. Die Wepsen dürften, nachdem sie sich von den anderen Stämmen getrennt hatten, die ganze Zeit östlich der Kare­ lier gelebt haben; heute findet man sie westlich von Bjelosero und am Ufer des Onega nordwärts von Syväri (Swir). Im Olonetz ist am Berührungspunkt der Karelier und Wepsen ein Misch­ stamm entstanden, die Lüden, deren Sprache dem Karelischen nahesteht, während die sonstige Kultur eindeutig eine wepsische Grundlage hat. 265

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Die Lappen sind vermutlich vom Ladoga und Onega her zu ihren heutigen Wohnsitzen gekommen; in dem Maße, wie die Finnen und Karelier neue Gebiete eroberten, mußten die Lappen nach Norden weichen. Ihre arktische Kultur (Rentierzucht, Fischerei, später auch Ackerbau) weicht deutlich von der ostseefinnischen ab und läßt sich besser z. B. mit den samojedischen Kulturen vergleichen. Die finnische Landnahme dauerte lange. Noch im Mittelalter waren ausgedehnte Gebiete im Binnenland unbesiedelt. Von den Siedlungszentren in Südwest-Finnland aus kamen, die Küste des Bott­ nischen Meerbusens entlang, die Siedler bis an die Flußläufe der lappischen Flüsse. Die jetzigen Bewohner dieser Gebiete heißen Ostbottnier (pohjalaiset); vom nördlichsten Finnland verbreitete sich die Besiedlung über die Grenze nach Schweden, Norrbotten und nach Norwegen, Finnmarken. Die Hämeer, die die Binnengewässer von West-Finnland entlangzogen, okkupierten Gebiete in Mittel-Finnland, Satakunta und Uusimaa. Die Eroberung der Einöden von Mittel­ und Ost-Finnland geschah dagegen vom Südosten her, durch die Savoer (savolaiset), einen Stamm, der sich im späten Mittelalter von den Kareliern am nordwestlichen Ladoga differenziert hatte. Im Westen vermischten sie sich mit den Hämeern und Ostbottniern; durch Mittel-Ostbottnien reichte ihre Expansion schließlich bis an den Bottnischen Meerbusen. Im 17. Jahrh. zogen Savoer aus MittelFinnland nach Schweden, nach Värmland (Waldfinnen). Durch eine teilweise Verschmelzung der einzelnen Stämme bildeten sich allmäh­ lich jene örtlich begrenzten Überheferungsgebiete heraus, die auf Karte 2 ersichtlich sind. Die Karte zeigt gleichzeitig den geographischen Raum, der als Ausgangspunkt für die vorliegende Darstellung der finnischen Mythologie dient. Obgleich sich auf diesem Gebiet einige mehr oder minder deutliche kulturelle Gegensätze feststellen lassen, sind doch z. B. die sprachlichen Unterschiede nirgends besonders stark, nicht einmal zwischen Finnland und Karelien. Kulturhistorisch ist Finnland der nördlichste Vereinigungspunkt westlicher und östlicher Kulturströmungen in Europa. Das kommt auch in der Geschichte der Bekehrung der Finnen zum Ausdruck. Seit dem Mittelalter versuchte die byzantinisch-russische Kirche über Novgorod im Lande Fuß zu fassen. Ihre Expansion kam jedoch in Ingermanland und Karelien zum Stehen und wurde teilweise zurück­ gedrängt. Bereits Ende des ersten Jahrtausends kamen christliche Einflüsse aus dem Westen bis nach Karelien. Schon vor Beginn der eigentlichen Bekehrungsarbeit wurde — den Handelswegen ent­ lang — die Kunde von einem neuen Glauben und von neuen Göttern (u. a. Heiligen) bekannt (-> Götterverzeichnis). Die von Schweden aus unternommenen Kreuzzüge (1155, 1238, 1293) reihten Finnland

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offiziell dem Machtbereich der römischen Kirche ein; seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhs. war das Land politisch und kulturell eng an Schweden gebunden. Ahvenanmaa (Aland) war schon früher von Schweden besiedelt gewesen; nun siedelte sich auch in den Küsten­ kirchspielen von Ostbottnien, Südwest-Finnland und Uusimaa schwe­ dische Bevölkerung an. Die Bedeutung der westlichen Kultureinflüsse stieg auch dadurch an, daß Schwedisch allmählich zur Umgangs­ sprache der Gebildeten wurde und dies bis Ende des 19. Jahrhs. blieb, also auch in jener Zeit, da Finnland, bevor es selbständig wurde, mit Rußland vereint war (1809—1917). Im Jahre 1527 wurde in Schweden—Finnland die Reformation durchgeführt; seitdem ist fast das gesamte finnische Volk lutherisch. Nur einige Kirchspiele an der Ostgrenze sind griechisch-katholisch geblieben; in dieser Hinsicht schließen sie sich an das orthodoxe Karelien jenseits der Grenze an. Das Erbe des Katholizismus ist jedoch vom Standpunkt der Erforschung des Volksglaubens äußerst wichtig, sowohl in West- als auch in Ost-Finnland. Unter der luthe­ rischen Bevölkerung haben sich die römisch-katholischen Heiligen­ traditionen — halb heidnisch geworden — unter anderem in Festund Arbeitskalendern, in volkstümlichen Zaubersprüchen und Ge­ beten bis in unser Jahrhundert erhalten. In den orthodoxen kare­ lischen Gebieten unterhielt die Kirche nicht nur ihre eigene Lehre, sondern sie tolerierte auch die Erhaltung einiger solcher ursprünglich heidnischen Ritenkomplexe (u. a. im-> Ahnenkult), die im Westen bereits frühzeitig verschwanden. Allgemein läßt sich sagen, daß OstFinnland, Karelien und Ingermanland der letzte Zufluchtsort des Heidentums waren: dort haben sich die alte Mythen- und Zauber­ spruchdichtung, die großartigen Ritenschauspiele von Hochzeit, Be­ stattung und Bärenfest, die Opferfeste von Ackerbau und Viehzucht, am besten und am längsten erhalten. West-Finnland dagegen war, wenn es auch viel Altes, z. B. in seinem reichen Schatz an Glaubens­ sagen und in seiner Zauberpraktik, bewahrte, der Invasion moderner Kulturentlehnungen und Überlieferungsformen zugänglicher.

B. Materialien zur finnischen Mythologie

Wie schon auf Grund der Besiedlungsgeschichte zu erwarten ist, setzt sich die finnische Mythologie aus mehreren Schichtungen ver­ schiedenen Alters zusammen. Tatsächlich herrscht hier eine Mannig­ faltigkeit: Mit dem althergebrachten finnisch-ugrischen Erbe sind jüngere ostseefinnische und lappische Elemente verschmolzen, und wiederholt haben fremde — christliche und nichtchrist liehe — baltische,

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kontinentalgermaniscbe, skandinavische und slavische Einflüsse den Mythenschatz und das Glaubensleben der Finnen bereichert. Die ältesten Schichten lassen sich nur mühsam aufdecken: sie dürften in erster Linie im Totenkult und im Geisterglauben zu finden sein, in der Religion des Jägers und Fischers und in den schamanistischen Zügen des Zaubererberufes. Die Forschung wird in diesem Punkt durch zwei Umstände erschwert: erstens haben auch die anderen finnisch-ugrischen Völker unter starken fremden kulturellen Ein­ flüssen gelebt; so erklären sich z. B. viele Glaubensvorstellungen, die den Finnen und den Wolgafinnen oder Permiern gemeinsam sind, eher als getrennt von den Slaven übernommen denn als direktes gemeinsames Erbe. Zweitens sind gerade die ältesten Schichten mehrere Male dem sich erneuernden Weltbild angepaßt worden: bei den Finnen haben wir keinen reinen Schamanismus mehr, auch treffen wir hier keine reine Jäger- und Fischerkultur; das Forschungs­ material stammt aus der Zeit einer recht entwickelten Ackerbau- und Viehzuchtkultur. Auch bei den jüngeren kulturellen Entlehnungen bereitet die Datierung Schwierigkeiten; oft läßt sich lediglich die Richtung bestimmen, woher die Überlieferung stammt. Wenn man weiß, daß praktisch das gesamte Material aus einer Zeit stammt, wo die Finnen bereits jahrhundertelang zum Christentum bekehrt waren, nimmt es nicht wunder, daß die finnische Religionsgeschichte zu so großem Teil die Geschichte von Synkretismus und Barbarenchristen­ tum ist. Durch die Jahrhunderte hindurch kann man diese Er­ scheinung, gleichsam wie Ebbe und Flut, verfolgen: Einerseits erhalten die heidnischen Riten einen christlichen Anstrich, andererseits geraten aus dem christlichen Glauben übernommene Begriffe und Gebräuche in nichtchristliche Verwendung. Die archäologischen Funde, Felszeichnungen u. a. sind in Finn­ land vom Standpunkt der mythologischen Forschung nicht so zahl­ reich und ergiebig wie bei einigen anderen Völkern. Das läßt sich auch von den alten schriftlichen Quellen sagen. Einige Nachrichten sind in der skandinavischen Sagaliteratur enthalten. Darin wird unter anderem berichtet, wie die Norweger Thorer Hund und Karli im Jahre 1026 auf Befehl Olafs des Heiligen nach Bjarmaland reisten (vielleicht eine karelische Gegend an der Küste des Weißen Meeres, obwohl der Name auf „Land der Permier“ hinweist). Dort drangen sie in der Nacht in eine heilige Umzäunung ein, zerschlugen ein großes Götterbild, dessen Name Jómale lautete (vgl. finn. jumóla 'Gott’, -> Ilmarinen), und raubten die silberne Geldschale von dessen Knien. Ähnliche, nicht immer ganz zuverlässige Erwähnungen treten in rus­ sischen Chroniken und kirchlichen Urkunden auf. Die erste wirklich wertvolle Quelle ist das vom Reformator und Bischof Michael Agricola 268

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verfaßte metrische Verzeichnis der Götter der Hämeer und Karelier aus dem Jahre 1551. In den folgenden Jahrhunderten wurde Agricolas —> Götterverzeichnis eifrig nachgeahmt, unter anderem wurde es wiederholt ins Schwedische, Deutsche und Lateinische übersetzt, während neues Wissen über die finnische Mythologie gering und fragmentarisch blieb. Nachdem die Sammelarbeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhs. neuen Aufschwung erhielt, begannen Werke zu erscheinen, die das Gesamtbild wesentlich beeinflußten. Von den damaligen Gelehrten seien Christfrid Ganander (Mythologia Fennica, 1789, und das Manuskript eines dreiteiligen Finnisch-Schwedischen Wörterbuchs aus den Jahren 1786—1787) und der Professor für Rhetorik Henrik Gabriel Porthan erwähnt (mit Propst Erik Lencqvist verfaßte der letztere ein Werk, das als Dissertation von Chri­ stian Lencqvist veröffentlicht wurde: De superstitione veterum Fennorum theoretica et practica, 1782). Eine neue Phase im Bekanntwerden der finnischen Mythologie be­ deutete jenes finnische Epos, das hauptsächlich als Ergebnis einer umfangreichen Sammel- und Kompositionsarbeit von Elias Lönnrot erschien, das Kalevala (erste Ausgabe 1835, erweitert 1849). Da es in zahlreiche fremde Sprachen übersetzt wurde, hat dieses Werk auch ausländischen Forschern ermöglicht, die alte finnische Dichtung kennenzulernen. Es muß jedoch bemerkt werden, daß das Kalevala, obwohl es auf volkstümlichen Gedichtvarianten beruht (die Anzahl der von Lönnrot selbst gedichteten Verse ist sehr gering), als solches doch nicht als Quelle für eine wissenschaftliche Forschung dienen kann. Lönnrot wollte aus den vom Volk getrennt und in verschiedenen Zusammenhängen vorgetragenen Liedern eine umfangreiche und kon­ sequente epische Ganzheit schaffen, hat aus diesem Grunde die ver­ schiedenen Gedichte zusammengefügt und die Namen der Haupt­ personen des Epos, des —>Väinämöinen, —>Ilmarinen, —>Lemminkäinen u.a., in Gedichten untergebracht, zu denen sie ursprünglich überhaupt nicht gehören. Zu wissenschaftlichen Zwecken eignet sich dagegen ausgezeichnet das 33teilige — zwar nur auf finnisch erschienene — Werk „Suomen Kansan Vanhat Runot“ (Die alten Gedichte des fin­ nischen Volkes, 1908—1948), wo beinahe alle Gedichtvarianten (ins­ gesamt ca. 1270000 Verse) veröffentlicht sind. Hier findet man die finnischen Mythen, Zaubersprüche und Gebete im Urtext, in der Form, wie sie in eifriger Sammelarbeit, die hauptsächlich im vorigen und in diesem Jahrhundert durchgeführt wurde, nach dem Volksmund aufgezeichnet worden sind. Von besonderer Wichtigkeit für die For­ schung sind jedoch auch die Angaben über die rituellen Funktionen der Mythen, über die Situationen, in denen sich die verschiedenen Glaubensvorstellungen aktualisieren, die Schilderungen von supra­

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normalen Erlebnissen (Memorate), von Zauberverfahren, Opfer­ gebräuchen usw. Um ein vielseitiges und grundlegendes Bild von all dem zu erhalten, sollte man das Archiv für Volksdichtung der Fin­ nischen Literaturgesellschaft in Helsinki kennenlernen, dessen Samm­ lungen im Augenblick ca. anderthalb Millionen Nummern enthalten. Der finnischen Religionsforschung steht also ein außerordentlich reicher Schatz von primären Quellen zur Verfügung. Obgleich man mittels der vergleichenden Methode den meisten Motiven eine lange Geschichte nachweisen kann, darf nicht vergessen werden, daß der relevante kulturelle Hintergrund des lebendigen Volksglaubens im Durchschnitt nicht älter ist als die Bauerngemeinschaften des 19. Jahrhs. Die überreiche Fülle des Materials bedingt, daß wir uns in dieser Darstellung mit einer Auswahl der Hauptpunkte des fin­ nischen Volksglaubens begnügen müssen, besonders mit einer Aus­ wahl derjenigen Themen, die den nichtfinnischen Leser interessieren könnten. C. Wichtigste Quellenliteratur

Hier werden nur umfangreichere Einzeluntersuchungen angeführt, die den Leser zu weiteren Quellen führen. Die ältesten Abhandlungen, wie die von M. A. Castren (1853) und Julius Krohn (1894), sind in erster Linie nur von forschungsgeschichtlichem Interesse; der Wert von Castrens viel zitierten „Vorlesungen über die finnische Mytho­ logie“ wird stark dadurch herabgesetzt, daß er beim finnischen Material das Kalevala und nicht die ursprünglichen Feldaufzeichnun­ gen verwendete. Vom Standpunkt der modernen Forschung sind die Werke von Kaarle Krohn, Uno Harva (ehern. Holmberg) und Martti Haavio am wichtigsten. Kleinere Studien und Schriften werden nur in der Bibliographie des betreffenden Stichwortartikels erwähnt. Weil uns hier zunächst die Mythologie der Finnen (nicht die aller finnischugrischen Völker) beschäftigt, sei erwähnt, daß der Leser die meisten Monographien (von Holmberg-Harva, Karjalainen u. a.), Material­ sammlungen und kleineren Studien über die anderen finnisch-ugri­ schen Religionen in den Reihen FFC, MSFOu und JSFOu, meist in deutscher Sprache, findet. Als Anleitung können auch kurzgefaßte, allgemeine Überblicke dienen wie: Uno Holmberg-Harva, Finno-ugric Mythology (Mythology of All Races 4; 1927) und Ivar Paulson, Die Religionen der finnischen Völker (Die Religionen der Menschheit 3; 1962). Die für Einzeluntersuchungen verwendeten' Abkürzungen werden hier hinter dem Titel des Werkes in Klammern angeführt. Weitere Abkürzungen s. das allgemeine Abkürzungsverzeichnis (S. 3—19).

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M. A. Castren, Vorlesungen über die finnische Mythologie; aus dem Schwedischen übertragen und mit Anmerkungen versehen von A. Schiefner (St. Petersburg 1853). M. Haavio, Suomalaisen muinaisrunouden maailma (= HSmm) (Porvoo und Helsinki 1935). Ders., Suomalaiset kodinhaltiat (= SuomK) (Porvoo und Helsinki 1942). Ders., Väinämöinen Eternal Sage (= Haavio VES), in: FFC 144 (Helsinki 1952). Ders., Kirjokansi (= Kir) (Porvoo und Helsinki 1952). Ders., Kansanrunojen maailmanselitys (Helsinki 1955). Ders., Karjalan jumalat (= HKar) (Porvoo und Helsinki 1959). Ders., Es­ sais folkloriques (= Haavio Ef), in SF 8 (Porvoo und Helsinki 1959). Ders., Heilige Haine in Ingermanland, in: FFC 189 (Helsinki 1963). U. Harva (bis 1927 Holmberg), Sammon ryöstö (Porvoo und Helsinki 1943). Ders., Suomalaisten muinaisusko (= Harva) (Porvoo und Hel­ sinki 1948). J. Hautala, Suomalainen kansanrunoudentutkimus (Tur­ ku und Helsinki 1954). U. Holmberg (siehe auch Harva), Die Wasser­ gottheiten der finnisch-ugrischen Völker, in: MSFOu 32 (Helsinki 1913). Ders., Der Baum des Lebens, in: AASF 16 (Helsinki 1922 bis 1923). Ders., Para, in: AAA B7 (Turku 1928). L. Honko, Krankheits­ projektile. Untersuchungen über eine urtümliche Krankheitserklä­ rung, in: FFC 178 (Helsinki 1959). Ders., Geisterglaube in Ingerman­ landl, in: FFC 185 (Helsinki 1962). J. Krohn, Suomen suvun paka­ nallinen jumalanpalvelus (Helsinki 1894). K. Krohn, Suomalaisten runojen uskonto (= Krohn Sru) (Porvoo und Helsinki 1914). Ders., Magische Ursprungsrunen der Finnen (= MUF), in: FFC 52 (Kerava und Helsinki 1924). Ders., Kalevalastudien I—VI, in: FFC 53, 67, 71, 72, 75, 76 (Helsinki 1924—1928). Ders., Zur finnischen Mytho­ logie I (= Krohn FM), in: FFC 104 (Hamina und Helsinki 1932). M. Kuusi, Sampo-eepos, in: MSFOu 96 (Helsinki 1949). Ders. u. a., Suomen kirjallisuus I (Keuruu und Helsinki 1963). I. Manninen, Die dämonistischen Krankheiten im finnischen Volksaberglauben, in: FFC 45 (Loviisa und Helsinki 1922). H. Paasonen, Über die ursprüng­ lichen Seelenvorstellungen bei den finnisch-ugrischen Völkern und die benennungen der seele in ihren sprachen, in: JSFOu 26: 4 (Helsinki 1909). A. V. Rantasalo, Der Ackerbau im Volksaberglauben der Finnen und Esten I-V, in: FFC 30,31, 32,55, 62 (Helsinki 1919-1925). Ders., DerWeidegang imVolksaberglauben der Finnen I—IV, in: FFC 134,135, 143,148 (Helsinki 1945—1953). E. N. Setälä, Sammon arvoitus (Helsinki 1932). L. Simonsuuri, Typen- und Motivverzeichnis der finnischen my­ thischen Sagen, in: FFC 182 (Helsinki 1961). Y. H. Toivonen, Sanat puhuvat (Porvoo und Helsinki 1944). M. Varonen, Vainajainpalvelus muinaisilla suomalaisilla (= Varonen) (Helsinki 1898). A. Vilkuna, Das Verhalten der Finnen in „heiligen“ (pyhä) Situationen, in: FFC 164 (Helsinki 1956). K. Vilkuna, Vuotuinen ajantieto (Helsinki 1950). 271

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D. Abbildungsverzcichnis

Abb. 1. Alte finnische Idole in Bärengestalt. Sie wurden in dem von der östlichen Gruppe der Urfinnen (heutige Karelier und Wepsen) bewohnten Landstrich zwischen Onega- und Ladoga-See gefunden. -> Bärenkult.

Abb. 2. Alte finnische Idole in der Gestalt eines Elches aus dem gleichen Gebiet wie Abb.l. —> Bärenkult. N. N. Gurin, Drevnjaja istorija severo-zapada evropejskoj öasti SSSR. Moskva, Leningrad: Izdatel’stvo Akademii Nauk SSSR 1961.

Abb. 3. Tassensteine, zu denen im Zusammenhang mit Ackerbauund Viehzuchtriten Opfer gebracht wurden, vor allem -> Erstlings­ gaben, für die Toten und für die Geister, a) Tassenstein aus Vanaja in Häme. Wie viele westfinnische Tassensteine befand sich auch dieser bei einem eisenzeitlichen Brandbegräbnisplatz, b) Tassenstein aus Sääminki in Savo. Die ostfinnischen Tassensteine stammen aus dem Mittelalter und liegen an alten Wohnsitzen; verdrängt wurden sie im Bereich der Schwendkultur durch den Kult des heiligen Haus­ baumes. -> Ahnenkult 3; Heiligtümer 4; Totenglaube 1 b. Photogr. E. Sarasmo. Finnisches Nationalmuseum (Abb. 3 a); Photogr. J. Hautala, Privatsammlungen (Abb. 3b).

Abb. 4. Abgeästeter „Baum der Voreltern“ mit Gedenktafeln aus Uusikirkko in Süd-Karelien. Diese karsikko-WeMcae befanden sich am Wege zum Begräbnisplatz. —> Ahnenkult lb. Photogr. V. Mainow, Finnische Literaturgesellschaft.

Abb. 5. Heiliger Hain in Järvikoiskylä, Ingermanland. Dort wurde dem heiligen Ilja (Elias) geopfert, dessen Kult die Fortsetzung des heidnischen —> Ukko-Kultes ist. —> Ukon vakat 4; Sämpsä 5. Photogr. S. Paulaharju, Finnische Literaturgesellschaft.

Abb. 6. Bild der Weltsäule in einem lappischen Heiligtum: ein

vierkantiger, dem Sonnenaufgang zustrebender Balken, an dessen Ende sich ein Eisennagel befindet. -> Sampo 2; Weltbild 1. Abbildung nach Knud Leem, Beskrivelse over Finmarkens Lapper, deres Tungemaal, Levemaade og forrige Afgudsdyrkelse; Kobenhavn 1767.

Abb. 7. Der Wassergeist verlockt durch sein Spiel einen Mann, sich von der Mauer der Burg Olavinlinna (in Savo) in den Wasserfall zu stürzen. —> Wassergeist 4. Abbildung nach Olaus Magnus, Historia de gentibus Septentrionalibus; Romae 1555.

Abb. 8. Der Teufel hilft der Bäuerin, das Butterglück zu vermehren. Zwischen den Beinen einer Kuh stiehlt para Milch, um sie seiner Bäuerin zu bringen. —> Para. Gemälde aus der Kirche von Lohja in Uusimaa.

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Karte. 1. Die Wohnsitze der finnisch-ugrischen (uralischen) Völker und Stämme. (Entwurf L. Honko) 273

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Karte 2. Die Überlieferungsgebiete der finnischsprachigen Bevölkerung; nach dem Stand der 1930er Jahre. (Aus: L. Honko, Krankheitsprojektile. Helsinki 1959)

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Ackerbauriten —> Äkräs; Einteilungszeit; Kekri; Köndös; Pellonpekko; Rauni; Rongoteus; Sampo; Sämpsä; Stieropfer; Ukon vakat; Virankannos.

Ahnenkult. „Das Geschlecht bildet eine Gesamtheit, ob seine Glieder nun auf oder unter der Erde leben.“ Dieser Satz enthält einen wichtigen Gesichtspunkt für das religiöse Verhalten der Finnen. Die vielfältige Verehrung der Toten war speziell den Vorfahren zu­ gedacht; Tote außerhalb des Geschlechts brauchten nur berück­ sichtigt zu werden, wenn sie unruhig oder irgendwie gefährlich waren, dann griff man zu bestimmten Vorbeugungsmaßnahmen (-> Totenglaube), die jedoch nie die Natur eines Kultes annahmen. Die Verehrung der Vorväter beruht auf der Auffassung, daß sie in ihrem neuen Wohnort, dem -> Jenseits, leben und einige den Mit­ gliedern des Geschlechtes gehörende Rechte bewahren. Aus diesem Grunde müssen die Lebenden zum einen dafür sorgen, daß die Toten bei der Bestattung sachgemäß für ihren Aufenthalt im Jenseits ausgestattet werden, zum andern, daß die Verstorbenen fort­ dauernd den ihnen zustehenden Anteil von den Produkten des Er­ werbslebens erhalten.

Auf dieser Basis hat man in der Verehrung der Toten dreierlei Riten zu unterscheiden: 1. Grabausstattungen, 2. periodische Erinnerungs­ feste und 3. Zuweisung eines Anteils in den verschiedenen Phasen des Erwerbslebens (-> Opfer). Die Grundlagen dieser Riten sind fest in den Besitzverhältnissen und den wirtschaftlichen Interessen verankert, ihre Nichterfüllung gefährdet die zentralen Werte der Gemeinschaft, das Korn-, Vieh- und Jagdglück und die Gesundheit. 1. a) Zu der Grabausstattung gehörte zunächst die Versorgung desKörpers: die Leiche wurde gewaschen und in heile Kleidungsstücke gehüllt (wenn z. B. die Strümpfe vergessen wurden oder das Lei­ chenhemd beschädigt war, begann der Tote, seine Angehörigen zu plagen). In Karelien und Ingermanland wurden neben dem Leich­ nam in den drei Nächten, die er gewöhnlich noch im Hause lag, Speisen aufbewahrt. In diesen Nächten beging man die sog. „Toten­ wachen“ oder das „Nachtsitzen“, was in dem Fall, daß nach der Beerdigung Unglück geschah, wiederholt wurde. Den eigentlichen Reiseproviant erhielt der Tote in den Sarg, neben verschiedenen Speisen legte man ihm auch Eßbestecke und andere Haushalts­ gegenstände, Waffen, Schmuck und Geld, mit hinein. Einer un­ verheirateten Frau konnte man auch die Kopfbedeckung einer ver­ heirateten Frau mitgeben, damit sie im Jenseits heiraten könne (-> Jenseits Vorstellungen la). 18

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Das Material aus den Grabfunden ist natürlich in gewissem Maße problematisch: die Begründung, weshalb die betreffenden Gegen­ ständehineingelegt wurden, bleibt zwangsläufig hypothetisch. Offen­ sichtlich beruht die Ausrüstung der Toten wenigstens zum Teil auf der Auffassung, daß der Aufenthalt der Verstorbenen im Jen­ seits in vieler Beziehung dem irdischen Leben gleich sei, d. h. daß sie tatsächlich vielerlei Geräte benötigten. Andererseits war die Anerkennung des Besitzverhältnisses ein Faktor, der einen starken Einfluß ausübte: die persönlichsten Gegenstände, die keinem der Lebenden überlassen werden konnten, wurden dem Verstorbenen mitgegeben, damit dieser nicht komme, die Menschen zu stören und das Seine zu fordern. Gegenstände, die dem Toten nahe gewesen waren, zurückzubehalten, enthielt ein direktes Gefahrenmoment. Anläßlich der Bestattung wurde gleichzeitig die Verwaltung des Nachlasses vorgenommen: man versuchte den Anspruch des Toten, der sich auf sein Eigentum richtete, in der Form zu befriedigen, daß er einen Teil mitbekam und ein Teil im Besitz der Erben verblieb. Dem Toten wurde ein Tier geschlachtet — häufig die beste Kuh oder der beste Ochse des Hofes —, das man bei einer gemeinsamen Mahlzeit verzehrte, an der, wie man glaubte, auch der Verstorbene teilnahm (-> Götterspeisung). Die-> Knochen dieses Tieres wurden aufgehoben, damit der Tote aus ihnen im Jenseits ein neues Tier erhalte. Diese Maßnahme garantierte, daß der Verstorbene das Vieh­ glück des Hofes nicht mit sich führte. Wollte man wertvolles Eigen­ tum sparen, griff man zu Scheingaben: es wurde nur ein Hahn ge­ schlachtet oder Kohle und Asche des Herdes in den Sarg gelegt, mit den Worten „Da ist deine Kuh, und da ist dein Schaf!“ Mit der Kuhkette schlug man auf den Sargdeckel, damit nicht die Tiere den Verstorbenen vermißten und zugrunde gingen. In Ingermanland zerbrach man den Namenslöffel des Toten, warf die Stücke auf den Sarg und sagte: „Da ist dein Teil, etwas anderes bekommst du nicht!“ Die Begräbnismahlzeit wurde ursprünglich auf dem Fried­ hof genossen, erst später im Trauerhause.

b) Der Leichenzug zum Friedhof wurde überall von vielen Riten begleitet. Sie sind am großartigsten in Russisch-Karelien, wo sich aus dem letzten Weg des Verstorbenen ein umfangreiches Klage­ liedschauspiel entwickelte. Klagelieder waren bereits vorgetragen worden, wenn die Leiche gewaschen und in den Sarg gelegt wurde, die Gäste eintrafen u. a., der Höhepunkt wurde jedoch auf dem Wege zum Begräbnisplatz erreicht: das Klageweib identifizierte sich mit dem Verstorbenen und nahm Abschied von der ganzen Landschaft, von den Treppen, vom häuslichen Hof, von den Fel276

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dem usw., woraufhin sie dazu überging, die Trauer der Angehörigen und die neuen Wohnsitze des Verstorbenen im Jenseits zu schildern. Am Grabe forderte das Klageweib den Toten u. a. auf, anderen verstorbenen Verwandten Grüße zu überbringen. Die Klagelieder, voll von komplizierten Metaphern, Euphemismen und Beschwichti­ gungen, waren jene sakrale Sprache, mit der die Toten in dieser kritischen Übergangszeit angesprochen werden konnten. Die Ka­ relier glaubten fest daran, daß der Verstorbene alles höre, was man ihm im Klagelied sagte. — In Savo und im finnischen Karelien machte das Leichengefolge auf dem Weg zum Friedhof bei einer am Wege stehenden großen Kiefer oder Fichte halt. Der Baum wurde fast bis zum Wipfel abgeästet, nur ein oder zwei Zweige ließ man in der Mitte des Stammes stehen. Später wurden an jenen Ge­ denkbäumen von Verstorbenen auch Tafeln aufgehängt, auf denen sich Initialen und Sterbejahr des Betreffenden befanden (s. Abb. 4). Am Fuße des abgeästeten Baumes (karsikko) nahmen die Leute des Leichenzuges Branntwein zu sich; eigentliche Opfer wurden nicht gebracht. Man glaubte dagegen, der Baum hindere den Ver­ storbenen, in sein Zuhause zurückzukehren. (Ähnliche Gedenk­ bäume hat man auch für verschiedene „Erstanfänger“ hergerichtet, z. B. für die Braut, die in ihr neues Heim kam, oder für einen Neuling bei der Teilnahme an einem Fangzug oder einer langen Reise; die Sitte ist auch im —>Bärenkult bekannt.) — In Inger­ manland pflegte man bei der Rückkehr vom Grab mit Fichten­ zweigen die Spuren der Begleiter vom Wege zu wischen, damit der Tote ihnen nicht folgen und nach Hause zurückkehren könne. In Russisch-Karelien wurden auf den Gräbern kleine Blockhütten mit Fenstern als Wohnung für die Toten errichtet, man legte auch umgestülpte Boote auf die Gräber, vielleicht in der Annahme, der Tote brauche sie auf seiner Reise ins Jenseits (—> Jenseitsvor­ stellungen). 2. Periodische. Erinnerungsfeste wurden in West-Finnland begangen, das in der letzten Hälfte des Mittelalters in den Einflußkreis der römisch-katholischen Kirche geriet, und zwar am dritten, siebenten und dreißigsten Tag nach dem Tode sowie am Jahrestage. Nach­ richten über entsprechende Zeremonien besitzen wir sehr wenig, denn sie wurden als heidnisch schon sehr früh ausgerottet und durch kirchliche Bräuche ersetzt (-> Christliche Einflüsse). Die Bevölke­ rung an der Ostgrenze Finnlands wurde zum griechisch-katho­ lischen Glauben bekehrt, und weil die Kirche hier den Erinnerungs­ festen an die Toten tolerant gegenüber stand, erhielten sie sich —- christianisiert — bis zum Beginn des 20. Jahrhs. ->Lit. Sermenys, 18*

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a) Das wichtigste der Erinnerungsfeste für jeden Toten war das „Sechswochenfest“, das sechs Wochen nach der Bestattung be­ gangen wurde. Diese Zeit entspricht dem Erinnerungsfest am 40. Tage bei den Russen. Als Festessen schlachtete man ein Tier, eine Kuh oder ein Schaf. Alle Verwandten versammelten sich mit ihren Mitbringseln auf dem Hofe. War der Tisch gedeckt, wurde der Tote mit einem Wagen oder Schlitten vom Kirchhof geholt und an den Ehrenplatz am Tische geleitet. Beim Schein der Fackeln wurde bis zur Morgendämmerung gefeiert, wo man den Toten wie­ derum gemeinsam zum Friedhof zurückgeleitete. Auch feierte man gewöhnlich den ersten Jahrestag nach dem Tode mit einem Fest­ essen, besonders auf reicheren Höfen.

b) Nachdem Jahrestag wurde dem Toten kein Fest mehr veranstal­ tet ; man gedachte seiner in der Hauptsache an den allgemeinen Totengedenktagen. Unter der griechisch-katholischen Bevölkerung sind die wichtigsten dieser Gedenktage der ruadintSa (russ. radunitsa), am zweiten Dienstag nach Ostern, und der muistinsuovatta „Gedenksonnabend“, am 15. Oktober a. St. An den Gedenktagen wurde den Toten Speise auf die Friedhöfe gebracht (man glaubte, sie kämen in Gestalt von Vögeln zum Essen -> Totenglaube lb), und in Klageliedern gab man seiner Sehnsucht Ausdruck. Die Toten wurden auch ins Haus geladen, wo am Festtisch einem jeden toten Angehörigen ein eigener Platz reserviert war. Auf derartige Ze­ remonien dürfte auch folgender Satz in dem -> Götterverzeichnis des Michael Agricola hinweisen: Coolludhen hautijn Roorn wietin / ioissa walitin j parghutin ia idketin, „Zu den Gräbern der Toten wurde Speise gebracht, wo man klagte, jammerte und weinte“. c) Eine eigene Gruppe innerhalb der Feiern für die Toten des ganzen Geschlechtes bilden die sogenannten piirut, „Gedenk­ feste“, die keinen Termin hatten, sondern deren Abhaltung jeweils im Familienkreis bestimmt wurde. Häufig hatten der Bauer oder die Bäuerin eines Hofes bei Lebzeiten ein derartiges Fest nach ihrem Tode versprochen; das Versprechen bedeutete für die Hinter­ bliebenen heilige Verpflichtung. Mitunter wartete man mehrere Jahre, bis der Zeitpunkt für das Gedenkfest passend schien, und begann dann mit sorgfältigen Vorbereitungen, die sechs, ja sogar neun Wochen dauern konnten. Während dieser Zeit stand ständig Speise auf dem Tisch, denn der zuletzt Verstorbene war bereits anwesend (-> Götterspeisung). Für ihn war ein eigenes Zimmer da, dessen Fenster angelehnt gelassen wurde, damit er nach seinem Wunsche durch das am Fenster aufgehängte Handtuch kommen und gehen könne. Über die Toten, die man zum Fest erwartete,

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fertigte man ein Verzeichnis an, das man dem Priester für die Für­ bitten überreichte. Auch ging man auf den Friedhof und brachte dort die Einladung vor. Zum Ablauf des Festes gehörten auch mehrere Klagelieder, in denen die Verstorbenen angeredet wurden. Sie hatten einen eigenen Tisch, wie auch die jeweiligen Verwandten und Gäste. Der Priester war anwesend und segnete den Tisch der Toten und die Festspeisen. Abschließend wurden die Toten zurück auf den Friedhof geleitet, was ebenso wie das Abholen mit einem Schlitten o. ä. geschah. 3. An den wichtigsten Wendepunkten des Arbeits- und Ernte­ jahres erhielten die Toten ihren Anteil an den Produkten. Dabei handelte es sich oft um sog. -> Erstlingsgaben, die z. B. auf den Friedhof, auf die Gräber oder an die Wurzeln -> heiliger Bäume und auf heilige „Tassensteine“ (->Totenglaube lb; Heiligtümer 2) gebracht wurden. In späterer Zeit wurden diese Gaben (Beestmilch, die ersten Fische im Frühjahr, die ersten Beeren im Sommer, neues Brot) an die Armen verteilt oder gemeinsam mit den Ver­ wandten verzehrt. Auch bei Abschlußfesten von Jahres- und Ar­ beitsperioden wurden die Verstorbenen gespeist (-> Einteilungszeit), die wichtigste derartige Veranstaltung war in Finnland das Fest der Jahreswende (-> Kekri). Bei den großen Wendepunkten im mensch­ lichen Leben wollte man sich ebenfalls der wohlwollenden Ein­ stellung der Toten versichern. So ging die Braut bei der Hochzeit zum Grab ihrer Eltern, weinte dort und brachte Hochzeitsbier hin. Ganz besonders mußte eine Witwe, die sich wieder verheiratete, ihren verstorbenen Mann besänftigen. Hierauf weist u.a. Michael Agricola hin: Menningeiset mös beiden Wffrins sait / coska Lesket hoolit ia nait, „Die Toten erhielten ihr Opfer, wenn die Witwen heirateten“. -► Einteilungszeit 4.

Die Berücksichtigung der Toten des Geschlechtes war in den religi­ ösen Bräuchen der Finnen ein zentrales Anliegen. „Die Toten sind die Wächter der Moral, die Richter über die Sitten und die Unterhalter einer organisierten Gesellschaft. In dieser Beziehung konnte nicht einmal der Gott der oberen Regionen mit den ins Jenseits Gegangenen wetteifern“, schreibt Uno Harva. Harva, 488—511; Krohn Sru, 40—58; Varonen, 46 — 125 et passim; M. Haavio, Piirut, suvun vainajien juhla, in: Kotiseutu 1934; Ders., Lisätietoja piiruista, in: Virittäjä 1937; H. T. Lehmusto, Muistajaiset, in: Virittäjä 1937; U. T. Sirelius, Om gästabnd i Finland för släktens samtliga avlidna, in: Etnologiska studier tillägnadeN. E. Hammarstedt (Stockholm 1921); A. Vilkuna, Das Begräbnistier, in: SKHVL 1957 — 1958, 3; L. Honko, Itkuvirsirunous, in: Suomen kirjallisuus I (Keuruu 1963), 81 — 128; Ders., Karsikko,

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Ahti

Finnen

in: Kulturhistorisk Leksikon for Nordisk Middelalder VIII (Kabenha vn 1963). -►Christliche Einflüsse; Feste; Kultmahlzeiten; Opferbräuche; Zauber.

Ahti -> Eschatologie; Wassergeist. Ainemöinen -> Götterverzeichnis; Väinämöinen. Äkräs. Doppelfrüchte sind bekanntlich bei Ackerbau treibenden Völ­ kern in den verschiedensten Gegenden der Erde Gegenstand be­ sonderer Beachtung geworden. Man hat sie für einen Ausdruck der Fruchtbarkeit und der Wachstumskraft gehalten, die ihrem Finder Reichtum und eine gute Ernte bringen, man hat sie auch verehrt, und Vorstellungen über einen persönlichen Vertreter, einen Gott der Fruchtbarkeit, haben sich an sie geknüpft. Eine Doppelfrucht konnte als positives oder negatives -> Omen gedeutet werden; findet ein Unverheirateter sie, ist es ein Zeichen für die Heirat; eine schwangere Frau erhält Zwillinge, wenn sie davon ißt; anderer­ seits wiederum kann die Doppelfrucht ein Hinweis auf das über­ mäßige Glück ihres Finders sein und auf einen baldigen „Ausgleich“ durch Unglück in irgendeinem Gebiet des Lebens. (->Fruchtbar-

keitsmythen.) 1. Bei den Finnen war die Doppelrübe in der Überlieferung Gegen­ stand derartiger Glaubensvorstellungen, besonders unter den Finn­ land- und Rußlandkareliern. Sie hieß pyhä ägräs, „heilige Ägräs“. Fand man bei der Rübenernte eine solche, aus zwei aufeinander gewachsenen Rüben gebildete Frucht, hatte man sie vorsichtig auszugraben, damit die Verbindung zwischen beiden nicht ge­ brochen werde. Danach wird sie auf die Schulter gelegt und in die Rübengrube getragen. Auf dem Wege kniet man in geringer Entfernung auf das eine Knie nieder und seufzt: „O, o, es ist sehr schwer, ich kann es nicht, o, o, sehr schwer, ich kann nicht.“ Ä. ist die erste Rübe, die man in die Grube legt. Wie man sie befördert, unterscheidet sich in den verschiedenen Gegenden ein wenig voneinander, überall aber wird das übermäßige Gewicht der Doppelrübe ausgedrückt. So kann Ä. von zwei in Pelze gekleideten Männern in einem zweihenkligen Korb getragen werden, den die andern Erntenden noch an den Seiten stützen, gleichsam als könnten jene zwei Männer ihn nicht tragen. Beim Tragen sagt man: „Heiliger Ägröi Ernährer, in diesem Jahre eine, im zweiten neun, im dritten drei mal neun.“ Die Ä.-Rübe hat man auch an eine dünne, fadenartige Wurzel gebunden und so die Erde entlang gezogen. Der Ziehende fallt unterwegs auf die Erde und sagt: „Die heilige Ägröi ist schwer.“ Mitunter wird Ä. mit geschlossenen Augen trans­ portiert. Ä. wird in die Ecke der Grube gelegt, getrennt von den

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Finnen

Äkräs

anderen Rüben. Man erklärt, sie bewache die Rüben, damit Mäuse und Maulwürfe sie nicht fressen können. Ä. hat sogar die Funktion eines Vermögensvermehrers erhalten: man glaubt, sie hole Rüben aus Gruben anderer (-> Para). Beim Tragen der Ä. sagt man manchmal: „Ich trage, trage Ägräs, Ägräs trägt achtzig Metzen, neun Schlitten voll Rüben.“ Vor der in die Grube gelegten Ä.-Rübe fällt man auf die Knie und sagt: „Heilige Ägräs, gute Ägräs, nimm aus den Gruben anderer, bring in unsere Grube.“ An manchen Orten wurde Ä. bis zum nächsten Frühjahr aufbewahrt, wo sie gegessen wurde (-> Kekri 3). Allgemein wurde die heilige Doppelrübe jedoch nicht für eßbar gehalten, man nannte sie „bösartig“, besonders Frauen wurde sie nicht gegeben, während sie dagegen zurNahrung einer Kuh taugte. 2. Als der Kartoffelbau sich Anfang des 19. Jahrhs. einbürgerte, wurde die Benennung der Doppelrübe auch auf die Doppelkartoffel über­ tragen. Außerdem bezeichnete man breiten, aus mehreren Stengeln zusammengewachsenen Flachs auch als Ägrä-Flachs, der ebenso wie der „dicke“ Hanf in der Truhe den Winter über in der Stube aufbewahrt wurde. Auch andere Zwillingsfrüchte waren in Finnland Gegenstand von Glaubens Vorstellungen. Eine Doppelpreiselbeere hieß man „Glückspreiselbeere“ und eine doppelte Gerstenähre „Glücksgerste“. Am Michaelstag oder am -> Kekri (1. November) wurden Schafe mit einer Doppelähre gefüttert, damit sie im nächsten Jahr Zwillingslämmer bekämen. Frauen wiederum haben das Essen von doppelten Kartoffeln, Beeren und Rüben vermieden, um keine Zwillinge zu erhalten. Ähnliche Glaubensvorstellungen trifft man u.a. in den verschiedenen Gegenden Europas. Besondere Aufmerk­ samkeit erweckt die Sitte der Wotjaken, eine auf dem Felde gefundene doppelte Roggenähre nach Hause zu nehmen und in einen leeren, neuen Behälter zu tun. Getragen wird sie von zwei Männern, die einen Stab auf ihre Schultern legen und daran in einem Stück Leinen die Ähre hängen lassen. Beim Tragen gebärden sie sich so, als wäre ihre Last überaus schwer. Dieses Verfahren entspricht also ziemlich genau dem finn. Tragen der Ä.-Rübe.

3. In Agrícolas -> Götterverzeichnis befinden sich folgendeÄ. bezeich­ nende Zeilen: Egres / hernet / Pawudh / Naurit loi / Caalit / Linat ia Hamput edestoi, „Egres schuf Erbsen, Bohnen, Rüben, brachte Kohl, Leinen und Hanf“. Nach Agrícola war der Egres der Karelier ein äußerst vielseitiger Gott der Fruchtbarkeit. Wir haben oben bereits festgestellt, daß der Name „Äkräs“ in der späteren Über­ lieferung im Zusammenhang mit Doppelrübe, -flachs und -hanf erscheint, sogar auch mit der Doppelkartoffel, was zu Agrícolas Zeit in Finnland noch nicht bekannt war. Nach einer Angabe der 281

Äkräs

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Karelier in Petsamo aus dem Jahre 1929 „führt der Heilige Äkräs, der Ernährer, aus dem von Gott geschaffenen Wasser den Fisch, aus der von Gott geschaffenen Erde die Rübe, die Kartoffeln, den Roggen und die Gerste“. Hierauf beschränken sich auch die Angaben von Ä.’ vielen Funktionen, allgemein wird Ä. nur als Beschützer und Spender der Rüben angeredet. So sagt man in RussischKarelien in Pistojärvi: „Der Heilige Äkräs läßt die Rüben wachsen, der Heilige Ilja das Getreide, der Heilige Petri gibt den Fisch.“ Beim Beginn des Rübensteckens wurde dreimal ein Gebet gespro­ chen, in dem der Heilige Äkrässei gebeten wird, Rüben sowohl für die Reichen und die Armen als auch für die Diebe wachsen zu lassen. Nach beendetem Rübenstecken werden auf dem Feld Näpfe oder Mützen hochgeworfen und Äkrässie wird gebeten, Rüben von deren Größe zu geben. Anderwärts sagt man: „HeiligerÄgräs, Ägrässei, laß so große Rüben wachsen wie die hierüber ziehenden Wolken!“ Aus diesen Angaben geht hervor, daß mit Ä. nicht nur die Doppel­ rübe, sondern auch der für das Wachstum der Rübe sorgende Gott gemeint ist. Als solcher wird er völlig neben die Heiligen gestellt (—> Christliche Einflüsse), z.B. wird er in der oben angeführten Nachricht neben dem Getreidepatron, dem Heiligen Elias, und dem Fischpatron, dem Heiligen Petrus, erwähnt. Ä. wird mit Heiligen­ epitheta angeredet: „heilig“ und kormelitsa „Ernährer“.

4. Die Frage, ob Ä. ein ursprünglich heidnischer, in Verbindung mit der Verehrung einer Doppelfrucht (-rübe) entwickelter Rüben­ geist ist, oder ob in seiner Gestalt Züge eines katholischen Getreidepatrones zu finden sind (—> Christliche Einflüsse), hat die Forscher sehr beschäftigt. Uno Harva bezog den ersteren Standpunkt und wies auf lett. jumis und russ. sporyS hin, unter denen sowohl „Doppelähre“ als auch „Getreidegeist“ verstanden wird. Er wider­ spricht dem Versuch Kaarle Krohns, die Form „Ägräs“ aus dem Namen „Gregorius“ abzuleiten (dieser Heilige wird als Sämann und Beschützer des Getreides vor Mäusen und Ratten erwähnt), und ebenso der Etym. von A. Rytkönen Ägräs < Jegorij (= Hl. Georgios). Das Namensproblem hat sich als äußerst schwierig er­ wiesen. Seit den 1540 er Jahren erscheint Ägräs in ofin. Familienund Ortsnamen, und man hat vermutet, daß das Wort auch dem skar. KirchspielnamenÄyräpää (Ägräpää) zugrunde liege; die Nach­ kommen von dessen Bewohnern wurden mit einem gemeinsamen Stammnamen Äyrämöiset genannt. Kürzlich hat Martti Haavio auf den Parallelnamen Pyhäristi (= das Heilige Kreuz) des Kirch­ spiels Äyräpää hingewiesen und vermutet, daß auch Ägräs auf einem „Kreuz“ bedeutenden Worte beruhe. Der Name des Rübengottes 282

Finnen

Anthropogonie

erscheint gewöhnlich als Konnexion Pyh’Ägräs oder Pyh'Äkräs, das nach Haavio umzuformen ist *Pyhä Kräs (finn. pyhä „heilig“; *kräs „Kreuz“ < z.B. skand. krus, kross oder urfries. kros). Haavio stellt fest, daß sich die Rübenernte in Finnland auf den Tag des Heiligen Kreuzes konzentriert (14. September) und vergleicht das Tragen der Ä.-Rübe mit den Trageprozessionen des Kreuzes, die im Mittelalter auch in Finnland veranstaltet wurden. In seiner umfangreichen Untersuchung klärt er den mythischen Hintergrund dieser Trage­ riten und die gegenseitige Wechselwirkung. Der erwähnte wotj. Trageritus ist jedoch eine Parallele, welche die Möglichkeit offenläßt, daß die Ä.-Tradition religionsgeschichtlich zu einer sehr frühen Schicht gehört. HKar, 219—244; Uno Holmberg (Harva), Doppelfrucht im Volksglauben, in: MSFOu 52 (Helsinki 1924), 55—57; Harva, 209—220; K. Krohn, Oman ravinnon jumaloimisesta suomalaisilla, in: SFAW 1909; Ders. Sru, 136—137; Ders. FM, 54—55; A. Rytkönen, Äkräs, in: KV 14 (Helsinki 1934); V. Voionmaa, Suomen karjalaisen heimon historia (Helsinki 1915), 65—67. -> Acker­ bauriten; Getreidegottheiten; Saatriten.

Ameisen -> Maahiset. Annikki -> Waldgeist 2.

Anthropogonie. Es herrschte lange Unklarheit darüber, ob in den finn. ätiologischen Erzählungen und Mythen überhaupt eine Schil­ derung über die Entstehung des Menschen enthalten sei. Eine kleine, kürzlich erschienene Untersuchung von Matti Kuusi scheint uns zu berechtigen, diese Frage positiv zu beantworten. 1. In einem epischen Gedicht findet sich eine Stelle, wo -> Väinämöinen und Joukahainen um die Wette ihr tiefstes Wissen vor­ tragen (-> Väinämöinen 1; -> Germ. Streitgespräche). Joukahainen prahlt, er erinnere sich einer Zeit, da die Meere gepflügt, die Fisch­ gräber gegraben, die Hügel geformt und die Berge geschaffen wurden. Väinämöinen antwortet mit der Behauptung, selbst diese Schöpfungswerke vollbracht zu haben. Mit der Bildung des Meeres­ bodens und der Erdkruste wurde ein fremdes Element verknüpft; die Erwähnung von einem im Meere wachsenden Baumstumpf. Am reinsten hat sich dieses Motiv in Ingermanland erhalten, die russ.-kar. Varianten enthalten nur verschwommene Hinweise auf einen Baumstumpf, einen Schößling o. ä. im Wasser. In Ingerman­ land wurden die Schöpfungswerke dem Kullervo, der Hauptperson eines umfangreichen epischen Gedichtzyklus, übertragen: es heißt, er pflüge die Meere und die Wälder; aber ein Grashügel bleibt ungepflügt, spaltet sich später entzwei, woraus zwei Kinder, Kalervo und Untamo, entstehen.

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Finnen

Astrale Vorstellungen

2. Aus Strophen, die in andere epische Zusammenhänge gerieten und sich zum Teil veränderten, kann man folgendes rekonstruieren: aus dem Meere erhebt sich ein Baumstumpf, der spaltet sich in zwei Teile, woraus zwei Kinder entstehen. Es handelt sich ohne Zweifel um das Bruchstück eines anthropogonischen Mythos, in dem das entscheidende Geschehen in die typische kosmogonische Urszene, das Meer, verlegt wird (-> Kosmogonie). Der dort wach­ sende Baumstumpf ist dem in fast allen Weltschöpfungsmythen häufigen Baum oder Wassergewächs zur Seite zu stellen, die im Urmeer oder auf der eben aus dem Meere emporgestiegenen Erdkruste wachsen. Dieser Baum oder diese Rohrpflanze spalten sich und daraus entsteht das erste Menschenpaar. 3. Mythen mit diesem Grundschema sind bei zahlreichen Völkern bekannt: Brahma entsteht aus dem Lotus; das erste Geschwister­ paar kommt aus einem auf offener See treibenden Kürbis (Indien); ein Baum, Bambus- oder Zuckerrohr schlägt aus, spaltet sich und bringt die Stammeltern des Menschengeschlechtes hervor (Salomon-Inseln, Ost- und Süd-Afrika); die ersten Menschen entstehen aus einem an den Strand getriebenen Baumstumpf oder Bambusrohr, den bzw. das ein Gott oder ein Vogel zerspaltet (Celebes, Philippi­ nen); das Götterpaar Izanagi und Izanami entspringt auf einem im Urmeer treibenden Stück Land aus einem sprießenden Rohr (Japan); der Heros schlägt ein Bambusrohr in die Erde, es erhält zwei Schößlinge: den ersten Mann und die erste Frau (Formosa). Bei den alt. Völkern verbindet sich der entsprechende Mythos eng mit dem Ideenkreis des -> Weltbaumes und des Lebensbaumes. In Europa kannten ihn die transsilvanischen Zigeuner, und in der urg. Mythologie ist er in zwei Redaktionen belegt: der Askr und Embla-Mythos (-> Germ. Anthropogonie) und die Erwähnung des Menschenpaares im Vafprüdnismäl (-> Germ. Odin), das über den -> Germ. Fimbul-Winter im Weltenbaum bewahrt bleibt, und von dem dann ein neues Menschengeschlecht ausgeht. M. Kuusi, Suomalaisen luomistarinan jäänteitä, in: KV 39 (Helsinki 1959). -> Heilige Bäume; Weltbild 6.

Astrale Vorstellungen-> Bärenkult 3; Götterverzeichnis; Ilmarinen; Kosmogonie; Sampo; Väinämöinen 2; Weltbild. -> Lit. Astrale Götter. -> Kelt. Sterne. -> Ung. Astrale Vorstellungen. -> Germ. Stemsagen. -> Griech. Sternsagen.

Auferstehung eines Gottes kannos.

Lemminkäinen; Sämpsä2a, 5; Viran-

Austreibung von Geistern -> Kekri 5; Pellonpekko 4.

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Finnen

Bärenkult

Bärcnkult. Zu den ältesten Schichten der finnischen Mythologie ge­ hören die dramatischen Bärenzeremonien. Parallelen dazu finden sich im Bereich von Jägerkulturen bei den Lappen, Samojeden, Wogulen, Ostjaken und noch entfernteren paläoarktischen Völkern. Die meisten finnischen Nachrichten über die Bärenzeremonien stammen aus Ost-Finnland und Russisch-Karelien, doch noch im 17. Jahrh. lebte die Tradition auch in West-Finnland (die älteste Schilderung stammt aus Häme vom Ende der 1660er Jahre). 1. Die Bärenzeremonien teilen sich in zwei Hauptakte, die Tötung des Bären und die Bestattung des Bären. Mit beiden sind Bärenlieder verbunden, wenn sich auch ein bestimmter regionaler Unterschied feststellen läßt: In Russisch-Karelien konzentrieren sich die Lieder mehr auf die Tötung, in Ost-Finnland wiederum mehr auf die Bestattung des Bären. Die Vorbereitungen begannen mit dem Auf­ finden und Einkreisen jenes Platzes, wo der Bär überwinterte. Man durfte den Bären nicht völlig einkreisen, damit der Waldgeist ihn nicht warnte. Man glaubte, in der letzten Nacht bringe der Geist dem Bären Blut an Stelle von Honig zum Essen: dann beuge sich der Bär seinem Schicksal. Bevor die Männer auszogen, den Bären zu töten, hatten sie zwei Tage festlich gekleidet zu sein, durften keine Arbeit verrichten und mußten kräftig essen. Beim Aufbruch zogen sie sich die über Feuer geräucherten Alltagskleider um­ gekehrt an. Aus der Tür ging man dort hinaus, wo sich die Angeln befanden, die untere Angel wurde ausgehoben und man kroch durch die so entstandene Öffnung (die Sitte entspricht dem Aufbruch der paläoarktischen Bärenjäger durch die heilige Hinterecke im Zelt). War man in die Nähe des Fangplatzes gekommen, wurde aus neun Holzsorten ein Feuer angezündet und gegessen und getrunken. Die Männer rangen auch miteinander und sprangen durch das Feuer; auch die Hunde und die Waffen wurden durch Rauch gereinigt. Dann näherte man sich in einer Kette dem Bärenlager und grup­ pierte sich an dessen Öffnung. Schon vorher hatten sich die Bären­ fänger durch Jägerzaubersprüche gestärkt, doch nun war das erste Bärenlied an der Reihe. Dadurch wurde der Bär geweckt, im Be­ darfsfälle schoß man auch noch am Eingang des Bärenlagers. Wenn der Bär herausgekommen und getötet war, zündete man eilig ein Feuer an und/oder schnitt dem Tier einen Streifen um das Maul ab, den turparengas. Das war die Okkupation der Beute: wenn vorher ein Außenstehender herbeikam, mußte auch er einen Anteil an der Beute erhalten. Der Bär wurde ehrerbietig angeredet, man reichte ihm zum Zeichen der Versöhnung die Hand und sang, wie er an­ geblich aus Versehen den Tod gefunden habe, vom Baum oder

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Bärenkult

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einem Erdhügel gerutscht sei und wie die Männer zufällig herbei­ gekommen seien. Wenn der Bär abgezogen und das Fleisch in Stücke zerteilt war, trennte sich die Gruppe: ein Teil ging im voraus zum Haus und die anderen kamen in feierlichem Zug, indem sie zum Preis des „Königs des Waldes“ und zur Beschwichtigung des Waldgeistes sangen. Näherte man sich dem Hause, gab man ein Schießzeichen; die Jäger wurden schon auf dem Hof mit Gesangs­ repliken von den Wartenden begrüßt. Ursprünglich nahmen nur die Männer an dem Gesang teil, die Frauen mußten sich abseits halten, sie wurden gewarnt und ermahnt, ihren Bauch und ihren Schoß zu beschützen. Zuerst wurde das Bärenfell in die Stube gebracht und dort an die Wand gehängt. Falls man den toten Bären unversehrt aus dem Walde gebracht hatte, ging man zu­ nächst mit ihm in die Sauna und zog ihn dort ab. Die Jagdzeremonie endete mit einer Abmachung darüber, wann das eigentliche Bären­ fest, die Bestattung des Bären, abgehalten würde. 2. Die Bestattung des Bären (karhunpeijaiset) hieß auch „Scheffel­ fest“ (karhunvakat, vgl. ->Ukon vakat) oder „Hochzeit“ (ohdon häät). Die zentrale Stellung dabei nahm das Trinken von starkem Bier oder Schnaps und das Verzehren von Bärenfleisch ein. Irgend­ welche Erzeugnisse der Kuh durften nicht angeboten werden, denn dann würde das Viehglück schwinden. Das Fleisch wurde in einer abgesonderten Hütte gekocht; das Herbeitragen und Kochen des Fleisches wurde von Liedern begleitet, in denen der Bär u. a. als „Auerhahn“, „Reisigvogel“ und „Gast“ angeredet wurde. Die ein­ treffenden Teilnehmer am Fest hatten den Bären höflich zu grüßen. Das Bärenfest selbst war voller Hochzeitssymbolik. Wenn es sich um einen männlichen Bären handelte, wählte man für ihn ein 16jähriges Mädchen zur Braut, wenn es dagegen eine Bärin war, suchte man einen Mann als Bräutigam aus. Das Los bestimmte, wer mit der Mahlzeit begann; der Schädel des Bären befand sich die ganze Zeit auf dem Tisch, und nach einer Angabe aus den 1640er Jahren wurde daraus getrunken, indem man „brummte wie ein Bär“. Auch der Waldgeist, das „Honigmütterchen“, wurde zur „Hochzeit seines Stiers“ eingeladen. Am folgenden Tag fand der zweite Akt des Bärenfestes statt. In feierlichem Hochzeitszug (Braut, Bräutigam und Brautführer an der Spitze) brachte man die Bärenknochen, die alle genau und heil aufgehoben worden waren, zu deren endgültigem Aufbewahrungsort, wozu gewöhnlich eine große Föhre im nahen Wald ausgewählt wurde. Sie wmrde bis in die Nähe des Wipfels abgeästet, weiter unten ließ man einen Zweig stehen, wo der Bärenschädel aufgehängt wurde (einen

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Bärenkult

ähnlichen Baum richtete man auch zur Erinnerung an einen ver­ storbenen Menschen her, —> Ahnenkult lb). Beim Befestigen des Schädels sang man: „Ich setze ihn nicht an eine Weide, hänge ihn nicht an eine Palmweide, setze ihn an einen sauberen Baum, in eine Föhre, einen guten Baum . . . Ich stelle ihn nicht sehr niedrig — sonst fressen ihn die schwarzen Ameisen, und auch nicht sehr hoch — sonst fressen ihn die grauen Habichte ... da hast du eine Lachs­ zugnetzstelle bei dir, kannst Wasser trinken gleich neben dir, frischen Fisch essen, da hast du es gut.“ Es wurden auch Zauber­ sprüche aufgesagt, durch die man die Stelle vor bösen Mächten schützte und den Bären am Spuken verhinderte. Nach der Rück­ kehr erkundigen sich die zu Hause Wartenden, wo die Beute ge­ lassen wurde. Sie erhalten zur Antwort: „Wir ließen sie auf dem Goldhügel, auf den Schultern des Erzrückens, auf dem geschützten Föhrenzweig, damit sie Sonne und Mond betrachte.“

3. Im Zusammenhang mit den Zeremonien wurde auch der Mythos von der Entstehung des Bären vorgetragen. Es gibt drei alternative Entstehungshistoriola: Die eine berichtet, der Bär sei durch ins Wasser geworfene Wolle entstanden; die zweite erklärt, er sei „im dunklen Nordheim, unter einer blütengipfligen Fichte“ geworden; die dritte — und eindeutig älteste — verlegt seine Entstehung in obere Regionen. Der Bär wurde auf einer Wolke geboren, bei Mond, Sonne und Großem Bären, von dort an silbernen Ketten in einer goldenen Wiege, einem kleinen Wollkorb auf eine Honigblüte herabgelassen. Den gleichen Mythos kennen die Ostjaken und Wo­ gulen. Danach lebte ein junger Bär im Himmel; als sein Vater, der Obergott Num-toram, auf die Jagd gegangen war, brach der Bär das Schloß der Hütte auf und ging auf den Hof des Himmels. Sein Fuß sank tief ein und durch das entstandene Loch sah er das Land der Obugrier und fand großen Gefallen daran. Numtorarn ging auf des Bären Bitte ein und ließ ihn an Silber- und Goldketten auf die raschelnde Oberfläche der schwarzen Erde. Gleichzeitig hieß er den Bären, die guten Menschen in Frieden zu lassen und die bösen zu bedrängen; ferner setzte er die Bärenfest­ zeremonien fest, an deren Abschluß der Bär mit seiner Silberlast, seinem Futterranzen dem Vater zurückgegeben werden sollte. Aus Lappland ist die Auffassung bekannt, daß die Skoltlappen von einem Lappenmädchen abstammen, das einst einen Winter im Lager eines Bärenmännchens zubringen mußte. In einer Nachricht aus dem Jahre 1755 heißt es, daß der Bär seiner Frau erst alle heiligen Zeremonien beibrachte, die beim Töten und Verzehren von ihm und allen späteren Bären zu befolgen waren, und dann frei-

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Bäume

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willig zustimmte, daß der jüngste Bruder seiner Frau ihn tötete. Genaue Parallelen hierfür finden sich bis bei den Indianern von Nord west-Amerika. — Bei beiden Mythen handelt es sich um einen typischen Kultbegründungsmythos; die letztere Überlieferung hat einen deutlichen totemistischen Zug und zeigt gleichzeitig, was für einen Ausgangspunkt die weitverbreiteten Bärensohn- und Bären­ frau-Märchen gehabt haben. Die europäischen und skandinavischen Erscheinungsformen dieses Motivs sind kürzlich von C.-M. Edsman erläutert worden. Matti Kuusi hat vermutet, daß auch in dem finnischen Mythos eine Erinnerung an totemistische Geschlechter­ verbände verborgen sein kann. Er weist auf die in Finnland und Russisch-Karelien gefundenen Steinwaffen hin, von denen die einen durch den Kopf eines Bären, die anderen durch den eines Elches verziert sind, und meint, es habe vielleicht auch in diesem Gebiet seinerzeit ein ähnliches Zweiklansystem gegeben wie bei den Wo­ gulen und Ostjaken. Diese Annahme wird vielleicht unterstützt durch die im Raum zwischen Ladoga- und Onega-See gefundenen Bären- und Elchidole (Abb. 1, 2). Es scheint sicher zu sein, daß sich die Hochzeitssymbolik der finnisch-karelischen Bärenfeste aus Mythen erklärt, die eine Ehe zwischen Mensch und Bär schilderten. Die an die Frauen gerichteten Warnungen spiegeln die Furcht davor wider, daß der Bär sie vielleicht befruchten würde. Die Über­ zeugung von der Sonderstellung des Bären unter den anderen Beutetieren wird auf manche Weise auch in der späten Tradition sichtbar. Die karelischen Jäger erklärten, daß der Bär „wie ein Mensch“ sei; wenn sie auf Bärenjagd zogen, hieß es bei ihnen, sie gingen „um die Waldjungfrau freien“. Zahlreiche Einzelheiten so­ wohl im Mythenhintergrund als auch in den Riten selbst weisen dem finnischen Bärenkult einen Platz in der jägerischen Tiefen­ schicht der nordeurasischen Religionen zu.

Krohn Sru, 146—164; Ders., MUF, 234—242; Ders., Bärenlieder der Finnen, in: Publication d’hommage offerte au P. W. Schmidt (Wien 1928); J. W. Juvelius, Karhun synty, in: Suomi IV: 11 (Helsinki 1910); K.F.Karjalainen, Die Religion der Jugra-Völker III, in: FFC 63 (Porvoo 1927), 193—235; U. T. Sirelius, Obin ugrilaisten peijaisista, in : KV 9 (Porvoo 1929), 192 bis 207; U. Holmberg, Über die Jagdriten der nördlichen Völker Asiens und Europas, in: JSFOu 41: 1 (Helsinki 1925); J. Karhu, Karhun synty (Mikkeli 1947); C.-M. Edsman, Studier i jägarens förkristna religion: finska björnjaktsriter, in: Kyrkohistorisk Arsskrift 1953, 48—106; Ders., The Story of the Bear Wife in Nordic Tradition, in: Ethnos 1956, 1—2, 36 — 56; M. Kuusi, Suomen kirjallisuus I (Helsinki 1963), 41—51.

Bäume

Ahnenkult; Anthropogonie; Bärenkult; Heilige Bäume; Heiligtümer 2; Ilmarmen 3; Jenseitsvorstellungen 2; Sämpsä 2b; Waldgeist ; Weltbild 6.

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Eichhörnchen

Bauopfer -> Friedhofsgeist; Hausgeist; Heiligtümer. Begräbnistier -> Ahnenkult.

Berge -> Eschatologie 2; Götterverzeichnis; Jenseitsvorstellungen; Weltbild.

Besitzrechte (im Geisterglauben) -> Ahnenkult; Friedhofsgeist; Haus­ geist; Jenseitsvorstellungen; Maahiset. Bier

Pellonpekko.

Bootsgeist -»■ Hausgeist. Caleuanpoiat -> Götterverzeichnis.

Capeet -> Götterverzeichnis. Chaos -+ Einteilungszeit. Christliche Einflüsse -> Einl.; Ahnenkult 2; Äkräs; Eschatologie; Götterverzeichnis; Heiligenkulte; Heiligtümer; Hittavainen; IImarinen; Jenseitsvorstellungen; Kekri; Köndös; Kosmogonie; Nyrckes; Pellonpekko; Rongoteus; Stieropfer; Ukko; Ukon vakat; Virankannos; Waldgeist. Lit. Teuflische Götter. -> Aal. Christlicher Einfluß. -> Kelt. Christliche Überlieferung. -> Ung. Christliche Tradition. Germ. Christliche Einflüsse

Cratti -> Götterverzeichnis; Para.

Darrengeist -> Hausgeist; Heiligtümer. Däumling -> Kekri 6b; Weltbild 6.

Diebstahl —> Äkräs; Götterverzeichnis; Hausgeist; Kosmogonie 1; Para; Sampo. Donnergott -> Köndös 3; Pajainen; Rauni; Stieropfer 2. 3; Ukko. Doppelfrüchte -> Äkräs.

Dorfbaum -> Heiligtümer.

Drachen -> Sampo. Dualistische Mythen -> Eschatologie; Kosmogonie.

Egres -> Äkräs.

Eichhörnchen —> Götterverzeichnis; Nyrckes. 289

Einteilungszeit

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Einteilungszeit. Am Ende des alten und am Anfang des neuen Jahres liegt eine besondere Übergangsperiode, die in Finnland jakoaika „Einteilungszeit“ genannt wird. Ihre Dauer und ihr Anfangstag wechseln; oft dauert die E. zwei Wochen und beginnt an—> Kekri, also an Allerheiligen oder am Montag nach dem Michaelstag. In einigen Gegenden beginnt die E. eine Woche vor Kekri und hört eine Woche danach auf, anderwärts fällt der Anfangstag wieder auf den 26. oder 28. Oktober. Die Länge der E. kann auch neun oder zwölf Tage betragen. Eine sehr allgemeine Bestimmung ist, daß die E. von Allerheiligen bis zum Martinstag dauert.

1. Diese Zeit ist eine kritische. Übergangsperiode, in der man aus dem Hause nichts weggibt, weder verschenkt noch verborgt, nicht einmal verkauft. Werden diese Verbote gebrochen, trifft Verarmung und Verderben das Haus; was man weggibt, das kommt in keiner Form mehr zurück. Im Laufe der E. werden das „Glück“ und der , .Anteil“ des Menschen für das kommende Jahr bestimmt (-> Omen), ein Weggeben würde eine gewollte Verringerung des „Anteils“ und den Verlust des „Glückes“ bedeuten.Die Situation könnte man auch so schildern, daß die normale Weltordnung während der E. erschüt tert wird, es herrscht eine Art Chaoszustand. Bis zum Schluß der E. hat sich die neue Weltordnung für das kommende Jahr gefestigt; im Krisenstadium muß der Mensch sich vor der Verschlechterung seines „Anteils“ schützen. In der E. kontrolliert man Omina und sieht die Geschehnisse des kommenden Jahres. Jeder Tag dieser Zeit entspricht einem bestimmten Monat des folgenden Jahres, und das Wetter, das an diesem Wahrsagetag herrscht, wird auch in dem diesem Tag entsprechenden Monat herrschen. Es geschieht also eine Art Wettereinteilung.

In der E. wird ein besonderes Brot gebacken, in das so viele Roggen­ ähren gedrückt werden, wie die Familie Mitglieder hat. Wenn das Brot aus dem Ofen genommen wird, werden die Ähren angeschaut; wessen Namensähre verbrannt ist, der stirbt im Laufe des folgenden Jahres. Der Vater der Familie schneidet eine Kante vom Brot ab und läßt sie auf den Tisch fallen: wenn die Kruste den Tisch be­ rührt, hat das Haus Erfolg bis zum nächsten Kekri. Die Mädchen zaubern in der E. (-> Zauber) und erfahren etwas über ihre Heirats­ aussichten im nächsten Jahr, im günstigen Fall sogar den Namen des Bräutigams. Hier geschieht also eine Einteilung der Menschen­ schicksale. -> Lit. Daliä; haiwa. -* Asl. Geburtsfeen. -> Kelt. Schicksal. -> Ung. Älmos 2. -> Germ. Schicksal.

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Finnen

Finteilungszeit

2. Während der E. hat das Lohn erhaltende Gesinde eine freie Woche, in der es frei von Hof zu Hof zieht. Die Leute haben ihren Lohn für das letzte Jahr erhalten und können nun wählen, ob sie auf ihrem alten Arbeitsplatz bleiben oder sich einen neuen suchen. Auf den Höfen werden sie wie die besten Gäste bewirtet. Die Bäuerin sagt mitunter: „Ich diene dir jetzt, und du dienst mir das ganze Jahr.“ Das Gesinde seinerseits singt: „Wenn wir eine Woche Herr spielen konnten, dann sind wir ein Jahr Gefangene“, oder: „Jetzt ist der Knecht ein größerer Herr denn selbst der Bauer.“ Hier findet also eine Vertauschung der Rollen statt, es herrscht eine Art „Karne­ valszeit“, in der die soziale Ordnung vorübergehend gestört ist. Die Erscheinung ist international, es sei nur an die bab. akitu-Zeit er­ innert, eine zwölftägige Periode im Herbst, da die „Sklaven Herren waren“, oder an die am 17. Dezember beginnende saturnalia-Periode des Jahreswechsels der Römer, da die „Sklaven frei waren“. Mit dem Ende der E. wird die Ordnung wiederhergestellt: das Gesinde wird auf die Arbeitsplätze verteilt. 3. Wo das Vieh im Sommer auf gemeinsamer Weide geweidet wird, geschieht in der E. eine Aufteilung des Eigentums, d.h. der Vieh­ herden. So wurde auf der großen Insel Hailuoto im Bottnischen Meerbusen in dieser Zeit der „Schafmarkt“ abgehalten, jeder Vieh­ züchter schied seine eigenen Schafe aus der gemeinsamen Herde. Ein ähnlicher Vorgang ist die Rentierscheidung der Lappen im Oktober. 4. In der E. sind die Toten des Geschlechtes unterwegs, auch sie sind auf eine bestimmte Weise unstet und kommen in ihr früheres Heim, um ihren Teil von der Bewirtung beim -> KekriPest zu erhalten. Diese unsichtbaren Gäste werden äußerst ehr­ erbietig behandelt, und die Freude der Bauersleute ist groß, wenn aus irgendeinem kleinen Zeichen (z.B. dem Abnehmen des Breies in der Schüssel oder der anderen Lage eines Löffels) hervor­ geht, daß die Verstorbenen tatsächlich von den Gaben des für sie gedeckten Tisches genossen haben. So ist der Anteil der Verstor­ benen am Ertrag des abgeschlossenen Erwerbsjahres sachgemäß verteilt, man kann sicher sein, daß die Toten auf Grund der recht­ mäßigen Behandlung im folgenden Jahr friedlich sein und dem Tun der Lebenden Sympathie zeigen werden (-> Ahnenkult 3). Verstorbene, die an Kekri nach Hause kamen, heißen u.a. „heilige Männer“ und „Kekri-Jungfrauen“.

5. Diese Bezeichnung galt auch für die Glieder eigentümlicher Maskenzüge, die zur E. von Hof zu Hof wanderten. In einem Umzug 19

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Eisen

Finnen

gibt es gewöhnlich vier bis fünf Teilnehmer, sowohl Jungen als auch Mädchen, sie tragen einen umgedrehten Pelz und Masken aus Birkenrinde vor dem Gesicht. Sie können sich auch in ein Laken hüllen, sich Löffel als Ohren, eine Schafschere als Nase und ein Beil als Hals in den Ärmel des Pelzes hängen. Diese Furcht erregenden Wesen drohen bei ihrer Ankunft in der Stube, den Ofen umzukip­ pen, wenn sie nicht freundlich behandelt würden. Im allgemeinen ist auch für die „Kekri-Gespenster“ schon ein Festtisch gedeckt, und nach einer reichlichen Bewirtung setzt der Umzug seinen Weg zum nächsten Hof fort (-> Kekri 4). Nachdem der Jahreswechsel später auf die Zeit um Weihnachten verschoben worden war, wurde die Sitte ein Teil des Weihnachtsfestes, und die Teilnehmer erhielten demgemäß den Namen „Weihnachts-Gespenster“. In einigen Ge­ genden waren die Umzüge am Martinstag unterwegs („Die Heiligen des Martin“). Die „Vertauschung der Rollen“ in der E. dürfte sich darin ausdrücken, daß die Jungen sich als weibliche, die Mädchen als männliche Wesen maskierten. Später hat diese Sitte in der Welt der Kinder am meisten Bedeutung erlangt: die älteren Kinder veranstalteten Umzüge und erhielten dadurch ihren Teil von den Festspeisen der Nachbarhöfe, und die kleineren Kinder veranlaßte man zum Artigsein, indem man ihnen mit den „WeihnachtsGespenstern“ Angst machte. Ursprünglich besaß die Sitte einen gedanklichen Zusammenhang mit der Bewirtung der Verstorbenen (-> Ahnenkult), es handelte sich um einen zur „Zeit der Geister“ gehörenden Ritus. Der Brauch hat eine Entsprechung u.a. in Est­ land, wo der am Tage des heiligen Michael beginnende Monat der „Monat der Geister“ genannt wurde. Es sei noch erwähnt, daß die Liven an fünf Montagen nach dem Michaelstag „Abende der Gei­ ster“ begehen und die Letten der Verehrung der Geister die Zeit vom 28. September bis 28. Oktober widmen. HKar, 30—36; Varonen, 166—181;K. Vilkuna, Vuotuinen ajantieto (Helsinki 1950), 284—289. -> Ackerbauriten; Feste; Kultmahlzeiten. -> Ung. Regö.

Eisen -> Eschatologie 2; Ilmarinen. Erde -> Heilige Hochzeit; Kosmogonie; Maahiset; Weltbild. Erdgeist -> Hausgeist; Heiligtümer; Maahiset.

Erstlingsdämon -> Friedhofsgeist; Hausgeist.

Erstlingsgaben -> Ahnenkult; Hausgeist; Heiligtümer; Kekri; Maahi­ set; Waldgeist; Wassergeist. -> Kelt. Erstlingskuh.

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Finnen

Eschatologie

Eschatologie. In den finn. eschatologischen Vorstellungen lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: die Vorzeichen des Weitendes und die Schilderungen eines großen kosmischen Endgeschehens. In beiden Gruppen finden wir internationale Motive, die sich im europäischen Volksglauben wiederholen. Einige beruhen offensichtlich auf apo­ kalyptischer Literatur (—> Christliche Einflüsse). 1. Aus Russisch-Karelien sagt eine Angabe, das Ende der Welt komme in der Osternacht, was auf die im Mittelalter allgemeine Auffassung weist, an Ostern geschehe das letzte Gericht. Als Erscheinungen, die Vorzeichen für das Weltenende darstellen, werden in der finn. Überlieferung erwähnt: die Sonne scheint von Norden, der Mond scheint brennend heiß, Sonne und Mond hören auf zu scheinen, die Sterne tanzen am Himmel, man sieht einen Stern in der Form eines Pfaues, der Donner hört auf zu poltern, der Kuckuck zu rufen, der Hahn zu krähen, die Fische verschwinden in den Wassern und die Vögel in den Wäldern. Angaben über das eigenartige Verhalten der Gestirne finden sich auch in der Offen­ barung und in den Weissagungen der Sibylle; der Tanz der Sterne erinnert an das Motiv „die Sonne tanzt am Ostermorgen“, das auch auf die mittelalterliche Eschatologie zurückgehen dürfte.

2. Von den eigentlichen Geschehnissen des Weltuntergangs sind in Finnland der große Weltenbrand, die große Kälte und der blutige Krieg bekannt. In Grenz-Karelien schildert man: „Die Meere und die Felsen brennen wie Birkenrinde. Die Erde wird so glatt, daß ein Ei von einem Ende der Welt zum anderen rollen kann.“ Nach einer anderen Nachricht brennen Land und Wasser. In der finn. Redaktion der bekannten Ballade „Edward, Edward“ („Der blutige Junge“) heißt es, es regne Feuer und Feuersteine; es handelt sich um einen deutlichen Hinweis auf die Offenbarung des Johan­ nes und das Wahrsagebuch der Sibylle mit den entsprechenden Schilderungen. Das Weltenbrand-Motiv treffen wir außer in der germ. Mythologie (^Germ. Eschatologie; Muspell) auch bei den Lappen und den Altai-Tataren, bei denen es nach Axel Olrik ein Erbe des Buddhismus ist. In einer Redaktion der finn. Zauberformel über die Entstehung des Eisens hat sich eine Schilderung von einem vor langer Zeit gewesenen Weltenbrand erhalten; da brann­ ten „viel Land, viel Sumpf, in dem schlimmen Brandsommer, in dem kraftlosen Feuerjahr“, und es blieb nur ein Mensch übrig und auch der völlig verrußt. Der Mensch wusch sich und kratzte die ver­ brannten Hautfetzen ab, die in die Quelle fielen: aus ihnen entstand das Eisen (—>- Ilmarinen 3). Nach einer anderen Vorstellung wird am Ende der Welt eine große Finsternis und Kälte sein (-► Germ. 19*

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Eschatologie

Finnen

Fimbulwinter). In einem Ursprungszauberspruch des Frostes findet sich die Schilderung eines schrecklichen Winters vergangener Zeit: „Da wurde es sehr kalt, die Kraft des Frostes fror, als Ahti zum Meer erfror. In einer Sommernacht kam ein ellenstarkes Eis, es fiel Schnee so hoch wie ein Skistock, es gefror der Penis in der Vagina, das Füllen im Bauch der Stute, die Hand der Frau im Teig“ (--> Wassergeist 1). Die am meisten verbreitete Schilderung des Weltuntergangs bei den Finnen ist der „letzte große Krieg“, dem Hunger und Pest voraufgehen. Im Krieg fallen so viele Männer, daß die Frauen, wenn sie die Fußspuren eines Mannes sehen, diese küssen. Es fließt so viel Blut, daß die Flüsse und Ströme zu Blut werden. Auch auf dem Land liegt so viel Blut, daß es zu den Schuhen hineinfließt. Die letzten am Leben Gebliebenen treiben im Blut auf einem fünf Meter langen Balken. Der letzte Kampf ist auch in der -> germ. Eschatologie bekannt (-> Germ. Ragnarök); ob der darin er­ wähnte Schlachtbaum irgendwie mit dem finn. im Blute schwimmen­ den Balken zusammenhängt, ist ungewiß. Es sei erwähnt, daß die Tataren meinen, am Weltenende fließe derart viel Blut, daß das Quellwasser in Form von Blut hervorströmt. Die Verminderung der Männer wird in der Bibel angeführt (Jes. 3,25; 4,1). Die Finnen kennen auch ein Sintflut-Weltenende, über das wie auch über ver­ schiedene andere eschatologische Motive in Form einer Lokalsage berichtet wird: man fürchtet, der Berg Simpsiö im Kirchspiel Lapua in Süd-Ostbottnien werde noch einmal ausbrechen und solche Mengen Wasser vergießen, daß das ganze Tal Lapua ertrinkt. Die Karelier von Olonetz sehen ein Geschehen des Weltuntergangs darin, daß die im Himmel wohnenden Gestalten, der Heilige Elias, Johannes der Täufer und die Jungfrau Maria sterben. Nach einer grenz-kar. Erklärung wiederum durchsticht der Antichristus den Heiligen Elias mit einem Speer, und das aus dieser Wunde fließende Blut setzt die Welt in Brand. Das Motiv erinnert ein wenig an die Vorstellung der Tataren, daß die Welt durch das Blut des Mai-Tärä-Ungeheuers in Brand gerät.

Die dualistischen Mythen, die den Antagonismus zwischen dem Gott und seinem gefesselten Widersacher schildern (->Kosmogonie 1), er­ halten manchmal eine eschatologische Funktion: so heißt es in Finn­ land, wenn der von Gott an einen Felsen gefesselte Böse loskommt, ist der Weltuntergang da. Den gleichen Gedanken des in der letzten Zeit zurückkehrenden Ungeheuers treffen wir u.a. bei den Arme­ niern (Shidar), den Persern (Azdi-Dähaka), den Arabern (Khikk), den Altskandinaviern (-> Germ. Fenrir-Wolf) und in der Bibel (Leviathan). (-> Ung. Dualismus.)

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Finnen

Friedhofsgeist

M. Haavio, Über orientalische Legenden und Mythen in Grenz-Karelien und Aunus, in: SF 2 (1936), 50-51; ders., Kansanrunojen maailmanselitys (Hel­ sinki 1955), 66—69, 306—313; L. Simonsuuri, Kansa tarinoi (Porvoo 1950), 151-156.

Fest der Götter -> Lemminkäinen.

Feste -> Ahnenkult; Einteilungszeit; Hausgeist; Heiligtümer; Jenseitsvorstellungen; Kekri; Pajainen; Pellonpekko 4; Sampo; Sämpsä 2a. 3; Stieropfer; Totenglaube 2; Ukon vakat. Feuergeist -> Hausgeist 2.

Feuerursprung-Mythos -> Ilmarinen; Väinämöinen; Pellonpekko 2. Feuerriten -> Kekri. Fischfangriten -> Ukko 3; Wassergeist.

Frau und Wild -> Bärenkult. Friedhofsgeist. Den gleichen Gedanken vom „Ersten“ und von der „Okkupation“, der in den Vorstellungen vom —> Hausgeist so bedeutend ist, treffen wir auch im Kreise des Friedhofes und — in späterer Zeit — des Kirchengebäudes. Auch sie haben ihren eigenen Geist; der erste auf dem Friedhof begrabene Mensch. Der erste Tote nimmt eine Sonderstellung ein, er ist gleichsam der Herrscher auf dem Friedhof und der Bevollmächtigte der Verstorbenen, an den sich die Lebenden mit Erkundigungen wenden. Häufig ist auch sein Name bekannt; mit Hilfe der Kirchenbücher hat man die Echtheit der Volksüberlieferung in diesem Punkt überprüfen können, der Name des zuerst Begrabenen konnte sich jahrhunderte­ lang als Name des Geistes dieses Friedhofes bewahren. Das Ge­ schlecht des Geistes, sein Alter und auch andere Eigenschaften gehen in einigen Fällen auf den zuerst Bestatteten zurück; man glaubt z.B., wenn der erste Tote ein Kind war, wird dies als Geist „hart“ und aus der Kirche kann nichts gestohlen werden. Mitunter wird die Figur des Friedhofsgeistes mit Zügen charakterisiert, die aus anderen Geistervorstellungen entlehnt sind (man spricht z.B. von der „großbrüstigen Frau“, Wassergeist). An den finn. Fried­ hofsgeist erinnert der mordw. „Beginner des Friedhofs“, der den übrigen Begrabenen Vorstand und die zum Friedhof kommenden Bittsteller empfing. Es ist möglich, daß die Finnen früher ein als Oberhaupt der Toten fungierendes Wesen kannten, das durch eine auf dem Friedhof begrabene mächtige Persönlichkeit, z.B. einen Schamanen, vertreten wurde. Später lebte die Konzeption weiter im Bereich der Ortsgeisttradition, verbunden mit dem zuerst

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Frosch

Finnen

Begrabenen, sie hat sogar auch den Gedanken des Bauopfers berührt (beim Bau einer Kirche wurden dieser wie auch anderen Gebäuden mitunter ein Geist verschafft; -> Hausgeist; Heiligtümer). Die wich­ tigste Aufgabe des Friedhofsgeistes bestand in der Vermittlung von Nachrichten aus dem -> Jenseits: eine weit verbreitete Sagentradition erläutert, wie ein Zauberer in die Kirche geht, um vom Geist etwas über das Schicksal eines gestohlenen Gegenstandes oder aber die Gründe einer Krankheit zu erfahren. Es handelt sich offensichtlich nicht um eine bloße Sage, sondern um eine Erinnerung an tatsächliche Erkundigungen seitens der Zau­ berer, die mühelos mit jenen Erkundigungsreisen zu verbinden sind, welche der Schamane ins Totenreich, zu den mächtigen Toten, unternimmt (-> Väinämöinen; Heiligtümer). Harva, 501—502; Krohn Sru, 65—68. -> Opferbräuche, Zauber. -> Kelt. Unterweltsfahrt. -> Ung. Skythien; Tetejetten nagy fa.

Frosch -> Maahiset 2; Para 2. Fruchtbarkeitsmythen -> Äkräs; Lemminkäinen; Rauni; Sampo; Sämpsä; Ukon vakat; Virankannos. -* Lit. Fruchtbarkeitsgötter. -> Asl. Mokos. -> Kelt. Fruchtbarkeit. -> Germ. Fruchtbarkeit.

Frühjahrsspiele

Sämpsä.

Gerstengott -> Pellonpekko.

Gerstenursprungsmythos -> Pellonpekko. Gespenster -> Einteilungszeit; Totenglaube.

Getreidegottheiten -* Äkräs; Köndös; Lemminkäinen; Para; Pellon­ pekko; Rauni; Sampo; Sämpsä; Tonttu; Ukko; Ukon vakat. Glück -> Ahnenkult; Äkräs; Einteilungszeit; Hausgeist; Heiligtümer; Kekri; Maahiset; Para; Sampo; Waldgeist; Wassergeist.

Götterkampt

Sampo.

Götterspeisung -> Ahnenkult; Einteilungszeit 4; Hausgeist; Heilig­ tümer; Kekri; Opfer; Sämpsä 2a; Waldgeist 1; Wassergeist 2.

Göttertod -> Eschatologie.

Götterverzeichnis von Michael Agricola. Im Jahre 1551 veröffentlichte der finn. Reformator und Bischof Michael Agricola in der Vorrede zur finn. Übersetzung der Psalmen Davids ein metrisches Verzeichnis der 296

Finnen

Götterverzeichnis von Michael Agrícola

heidnischen Götter in Karelien und Häme. Das G. sollte das unge­ lehrte Volk vor den alten heidnischen Irrlehren bewahren. Als solches hatte es Vorbilder: wir weisen nur auf das Vorwort zur 1547 veröffentlichten Übersetzung des Katechismus von dem Litauer Martinus Mosvidius (-> Lit. Quellen) und den aus dem Ende des 14. Jahrhs. erhaltenen schwedischen Text „Själinna Thröst“ (Trost der Seele) hin, wo beidemal mythische Wesen und Gottheiten aufgezählt werden und das Volk gewarnt wird, an sie zu glauben. Bei Agricola kann man jedoch, ohne zu übertreiben, neben dem Re­ formator auch den Humanisten an der Arbeit sehen, der aus Neu­ gierde gegenüber besonderen Sitten Aufzeichnungen macht und Angaben über die finn. Mythologie sammelt. Agricola hätte bei Bedarf sichtlich auch eingehender über den Volksglauben handeln können, so aber begnügt er sich mit einer verhältnismäßig knappen Aussage, wobei zudem die Suche nach Endreimen die Wortwahl leitet und begrenzt. Agricola nennt elfHämeer und zwölf kar. Götter bei Namen und führt ihre Aufgaben an. Diese Darstellung ist — lassen wir kurze Aktenerwähnungen außer acht — die älteste und für lange Zeit die einzige Quelle der finn. Mythologie gewesen; erst Ende des 18. Jahrhs. erhielten die Gelehrten neues Wissen, so daß das von Agricola geschaffene Gesamtbild sich wesentlich änderte (siehe Einl.). Der Wert des Gs. steigt dadurch, daß seine Glaubhaftigkeit allgemein mit Hilfe der späteren Tradition befriedigend überprüft werden konnte, in einigen Fällen haben die Nachrichten von Agricola sogar eine entscheidende Bedeutung bei der Erforschung unklarer Relikte von Sitten und Glaubensvorstellungen. Richtig ausgelegt — an verschiedenen Möglichkeiten der Deutung mangelt es durch­ aus nicht —, eröffnet das G. interessante Perspektiven und bietet wertvolle historische Anhaltspunkte. Michael Agricola hat nicht um­ sonst denNamen des „Vaters der Religionsgeschichte“ von der Nach­ welt erhalten. Der Versuch einiger Forscher, die Priorität des Götter­ verzeichnisses von Agricola auf die sog. Handschrift 311 (incerti auctoris) zu verlagern, dürfte als irrig betrachtet werden. 1. In der Übersetzung lautet das Götterverzeichnis wie folgt:

„Götzen sind viele hier, früher verehrte man sie nah und fern. Vor diesen verneigten sich die Hämeer, die Frauen wie die Männer. Tapio gab die Beute aus dem Wald, und -> Ahti brachte die Fische aus dem Wasser. ->Äinemöinen schmiedete die Lieder­ gesänge, Rachkoi teilte den Mond schwarz. Lieckiö (-> Toten­ glaube 3) herrschte über Gräser, Wurzeln und Bäume und dergleichen anderes. ~>Ilmarinen machte die Windstille und den Sturm und brachte die Reisenden ans Ziel. ->Turisas gab den Sieg im Krieg, 297

Götterverzeichnis von Michael Agricola

Finnen

—> Cratti sorgte für das Eigentum. -> Tontu beherrschte den Haus­ halt, wie der Teufel führte er viele irre. Auch Capeet aßen von ihnen den Mond, Caleuanpoiat schlugen Wiesen und anderes. Den Kareliern gehörten diese Götzen, die sie anbeteten. ->Rongoteus gab den Roggen, -> Pellonpecko ließ die Gerste wachsen, -> Wirancannos sorgte für den Hafer, sonst hatte man keinen Hafer. -> Egres schuf die Erbsen, Bohnen und Rüben, brachte Kohl, Leinen und Hanf. —► Köndös pflügte das Schwendland und die Äcker, wie ihr Unglaube meinte. Und wenn die Frühjahrs­ bestellung vor sich ging, dann trank man den Becher des Ukko. Dazu holte man den Scheffel des Ukko, so betrank sich sowohl das Mädchen als auch die Frau. Dann tat man dort viel Schandbares, wie man sowohl hörte als auch sah. Wenn die Frau des —> Rauni Ukko brünstig wurde, wurde auch Ukko sehr brünstig. Es gab also ein gün­ stiges Wetter und gute Ernte; -> Käkri, er vermehrte den Zuwachs des Viehs. Hijsi gab Gewinn an Waldtieren, —> Wedhen Eme brachte die Fische ins Netz. Nyrckes gab Eichhörnchen aus dem Walde, -> Hitt auanin brachte die Hasen aus dem Gebüsch. Ist das Volk nicht von Sinnen, das daran glaubt und dergleichen anbetet? Dahin zog sie der Teufel und die Sünde, daß sie sich verneigten und daran glaubten. An die Gräber von Toten brachte man Speisen, dort klagte man, jammerte und weinte. Die Toten erhielten ihr Opfer, wenn die Witwen heirateten. Man betete auch viel anderes an: Steine, Baumstümpfe, Sterne und den Mond.“

2. Der von Agricola geschaffene Hämeer Olymp erweist sich bei näherer Betrachtung als recht heterogen. Wir finden -> Väinämöinen, den Schamanen und Demiurgen (-> Kosmogonie), die beliebte Zentralfigur des hauptsächlich im Osten, in Savo und in Karelien lange erhaltenen Liedes, weiterhin den von der gleichen Ebene be­ kannten mythischen Schmied und Heros -> Umarmen, dem alte Quellen die Aufgaben eines Windgottes zuschreiben. Die Geister von Natur- und Kulturorten vertreten Tapio (-> Waldgeist), Ahti (-> Wassergeist) und Tonttu (-^ Hausgeist). Ein Geister­ wesen ist ebenfalls Kratti (—> Para), der den Reichtum mehrt, ebenso wie vielleicht der sehr problematische Turisas (-> Wasser­ geist). Unter Liekkiö verstand man wiederum ein im Walde gespensterndes, ruheloses totes Kind (-> Totenglaube). In den Kreis von ätiologischen Erklärungssagen gehören Rahko und Kapeet. Ersterer begegnet uns in der Sage vom Dieb, der den Mond teert, ebenso in einigen älteren Zauberspruchversen, wo es heißt, Rahko klettere den Steinhügel von Nordheim (Weltberg; -> Weltbild 2) mit Eisenstiefeln hinan. Rahko veranlaßte also die verschiedenen Mond-

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Finnen

Götlerverzeichnis von Michael Agrícola

phasen, die Kapeet sind dagegen mythische Tiere, die den Mond essen (->Germ. Fenrir), d.h. ihn verdunkeln (vgl.&ial.mdnagarmr). Dies ist jedoch nur eine der Funktionen der früher äußerst expansiven KapeetWesen. Die im Verzeichnis zuletzt angeführten Kalevanpojat, „Söhne des Kaleva“, sind aus den Sagen als Riesen bekannt, welchedie Ober­ fläche der Erde erschaffen und Felsen, Bergrücken, Hügel, Seen, Landzungen, Inseln bilden. Agrícolas Satz „die Kalevanpojat schlugen Wiesen und anderes“ weist auf volkstümliche Auffassun­ gen von diesen Söhnen des Kaleva als Verderber und Verwüster (-> Germ. Riesen): Hochmoore, steinige Felder und allgemein un­ fruchtbare Stellen, wasserlose Stromschnellen — das ist ihr Werk. In der Sage vom Schwenden des Kalevanpoika wird geschildert, daß der Wald soweit fallt, wie man den Ruf des Kalevanpoika hört. Auf dem Schwendacker wächst kein Getreide, der vom Kalevanpoika ge­ fällte Wald wird zu einer sumpfigen Wiese. Ähnlich verfährt auch der Kalevipoeg der est. Sagen. Wir können feststellen, daß die von Agrícola aufgezählten Hämeer „Götter“ dies in des Wortes eigentlicher Bedeutung nicht alle sind, desgleichen gehören sie nicht nur dem Hämeer Volksglauben an, sondern viele von ihnen sind auf einem bedeutend größeren Gebiet bekannt. 3. Die karelischen Götter Agrícolas stellten die Forscher besonders aus dem Grunde vor eine Reihe schwieriger Probleme, da die zugehörige spätere Tradition meist gering und unklar ist. Uno Harva, der sich in seinem letzten Werk mit diesem Themenkreis beschäftigte, sah in den meisten kar. Göttern ehemalige Geister der Vegetation und Tierarten. An vielen Stellen polemisiert er stark gegen seinen Vorgänger Kaarle Krohn, der nach seiner all­ gemeinen Auffassung, die er aus der Erforschung der finn. Volks­ dichtung, speziell der Zaubersprüche, sich angeeignet hatte, die Be­ deutung der Heiligenkulte des Mittelalters bei der Herausbildung der finn. Mythologie unterstrich und den Ursprung der Götter inner­ halb der kirchlichen Tradition suchte (-» Christliche Einflüsse). Kürz­ lich hat Martti Haavio in einer umfangreichen Untersuchung darauf hingewiesen, daß die meisten von Agrícolas kar. Göttern in der späten Überlieferung in kurzen Gebetsformeln erscheinen, wo nur der Name des Gottes oder ein auf dessen Aufgabe weisendes Attribut erwähnt und eine Bitte vorgebracht wird. Diese Gebete, die man besonders in Savo und Finnisch-Karelien angetroffen hat, erinnern in großem Maße an die katholischen Benediktionen. Haavio vermutet, daß aus jenen Gebetsformeln und den Angaben des Agrí­ cola eine Art mittelalterliche Bauernpraktik herauszulesen ist, nach welcher die Götter an bestimmten Tagen im Jahre aktualisiert

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Götterverzeichnis von Michael Agrícola

Finnen

werden. Diese Tage fallen regelmäßig auf eine wichtige Phase einer Erwerbsperiode, des Ackerbaus, der Viehzucht, der Jagd — oft auf den Anfang oder das Ende. Der Ursprung der Götter ist in bestimmten, hauptsächlich fries. und nds. Heiligenkalendarien zu suchen. Die Namen, Attribute und Aufgaben der Götter werden durch die Namen, Attribute und Aufgaben der in diesen Kalen­ darien enthaltenen Heiligen erklärt. Der Zusammenhang mit der Heiligentradition ist jedoch nicht so direkt; Haavio betont ausdrücklich, daß als vermittelnde Tradition, als eigentliche Quelle des Götterglaubens jene barbarisch-christlichen und „apokry­ phen“ Auffassungen wirkten, welche das Bauerntum, das die Kirchensprache nicht beherrschte und an Nützlichkeitsstandpunk­ ten interessiert war, sich selbst schuf, indem es die kirchliche Lehre an vielen Stellen falsch auslegte. Die kar. Götter sind das Erbe von jenen Reisen, die die ersten Missionare des Nordens und eifrige Kaufleute, die Friesen, im 9. Jahrh. und früher in das Innere des Finnischen Meerbusens und an die Küsten des Ladoga führ­ ten. Beweise einer eigentlichen Bekehrungsarbeit gibt es nicht, ein Wissensaustausch kann jedoch angenommen werden. Ohne kirchliche Kontrolle lebte die Heiligentradition ein eigentümliches Schattenleben, gestaltete sich den religiös-wirtschaftlichen Bedürf­ nissen des Volkes gemäß und wurde in solchem Maße heidnisch, daß Agricola, als er Mitte des 16. Jahrhs. sein G. schuf, die Götter für heidnisch hielt und nicht zum Kreis der päpstlichen Religion zählte, wogegen er in einem warnenden und verurteilenden Tone zu Felde zog. Von dieser Basis aus kommt Haavio — dabei entscheidend von den Erklärungen Krohns abweichend — zu der Feststellung, daß in einem frühen Stadium die Heiligen Stephanus und Theodorus (-> Rongoteus), Petrus Cathedratus (-+ Pellonpekko), der Evangelist Johannes (-> Virankannos), der Saatheilige Urbanus (-> Köndös), der Heilige Bartholomäus (-> Nyrckes) und der Heilige Vitus (-> Hittavainen) in die kar. Überlieferung ein­ gegangen sind. In Egres sieht Haavio eine Erinnerung an die Prozessionen am Tage des Heiligen Kreuzes (-> Äkräs); Käkri wiederum ist der Name eines Festes, nicht der eines Gottes, und gehört in den Bereich der Jahresanfangsriten (-> Kekri). Über­ lieferung von skand. Seite ist seines Erachtens -> Rauni, die Entsprechung von (-> Germ.) Freyr. Den Geisterglauben, vertreten durch Hiisi (-> Waldgeist) und Wedhen Eme (-> Wassergeist), behandelt Haavio nicht. Über das von Agricola erwähnte Saat­ fest, „die Scheffeln des Ukko“, gibt es auch in der späteren Tradi­ tion Angaben, wonach allerdings das Fest erst im vorgeschrittenen Sommer, während einer Trockenperiode zur Beschaffung von Regen

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abgehalten wurde (-> Ukon vakat). Am Ende seines G.s schildert Michael Agricola noch kurz die Totenverehrung (—> Ahnenkult). HKar; Harva; Krohn FM. -> Zauber.

Götterwagen -> ükko. Göttliche Ehe —> Bärenkult; Heilige Hochzeit. Göttliche Frauen, weibliche Dämonen -> Friedhofsgeist; Maahiset; Nyrckes; Rauni; Waldgeist; Wassergeist; Weltbild 7.

Göttlicher Musikant -> Väinämöinen; Wassergeist 4.

Grabausstattung —> Ahnenkult; Jenseitsvorstellungen; Totenglaube.

Hafergott -> Virankannos. Haine -> Jenseitsvorstellungen lb; Heilige Bäume; Sämpsä 5; Wald­

geist. Hase -> Para 2. Hasengott -> Hittavainen.

Hausgeist. Neben dem —> Ahnenkult bildet die Verehrung der im Kreise des Heimes wirkenden verschiedenen Geister das zweite zentrale Gebiet des finn. Glaubens. Die Bezeichnung dieser Wesen, die auch für die Geister der Erde, des Waldes und des Wassers gilt, lautet haltia (eigtl. „Hüter“, „Besitzer“, „Beherrscher“, < germ. *halöiaz, vgl. got. haldan, an. halda). Der Name enthält häufig eine erklärende, die besondere Aufgabe des Geistes anzeigende Komponente: man redet von dem haltia des Hauses, des Vieh stalles, der Darre, der Sauna, der Mühle und des Feuers, in gleicher Weise z.B. auch vom Geist der Netzhütte oder des Bootes. Sie sind Geister von Kulturorten, eine eigene Gruppe bilden da­ gegen die Geister von Naturorten (-> Maahiset, Waldgeist, Wasser­ geist), und es gibt Geister, die zu beiden Gruppen gerechnet werden können (-> Friedhofsgeist). Die Empfänger der Opfer, die im Zusammenhang mit periodischen Festen oder an Wende­ punkten des Erwerbslebens veranstaltet wurden, waren die Toten des Geschlechtes (—> Ahnenkult) oder die Geister, vielfach wurde beiden gleichzeitig geopfert. 1. Die Beziehung zwischen dem Totenkult und der Verehrung der Lokalgeister war häufig Gegenstand wissenschaftlicher Er­ örterung; mitunter hat man gemeint, die verschiedenen Geister seien ursprünglich Totenwesen. Beim H. z. B. ist eine derar­ tige Auffassung einigermaßen motivierbar: nach dem Volks­ glauben konnte derjenige, welcher als erster an der Stelle des Hauses

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Hausgeist

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Feuer geschlagen oder das Haus begründet hatte, der erste Hausherr oder auch der erste Tote zum Hausgeist werden. Die Geister von Naturorten passen schlechter zu der Theorie: als ursprünglicher Zug zeigt sich bei ihnen eher die Verehrung der verschiedenen Naturelemente an sich, der Erde (-> Lit. Erdgottheiten; Kelt. Erde; -> Germ. Erde), des Wassers und des Waldes, und die Problematik der Besitznahme der notwendigen Produkte, die man aus ihnen erhält. Die Verknüpfung des H.s mit dem ersten Toten des Hauses ist ebenfalls nicht die hauptsächliche Auslegungsart, sondern wird zu einem Sonderfall in dem wichtigen Ideenkreis vom Ersten und der Okkupation. Der H. ist mit anderen Worten der erste, der den Wohnort in Besitz nimmt. Das entscheidende Moment für die Entstehung eines H.s ist in Finnland das An­ zünden von Feuer auf dem Platz des künftigen Gebäudes, d. h. eine mit Feuer vollzogene Okkupation. Wenn die erste Flamme emporzüngelt, hat der Ort einen Geist erhalten, dessen Eigen­ schaften (Geschlecht, Aussehen, Kleidung, Alter und Charakter) genau denen entsprechen, die der Feuermacher besitzt. Für jünger als diese alte, in Savo erhaltene Konzeption hält Martti Haavio Auffassungen, nach denen der erste, welcher Feuer im Ofen eines neuen Hauses anzündet (Mittel-Finnland, Ostbottnien) oder der erste Tote (Satakunta, Häme) der Geist wird. Sporadisch sind Vorstellungen vorhanden, daß der Begründer des Hauses, der erste Hausherr oder eine beliebige Person, die an der Baustelle erscheint, wenn gerade die dritte Balkenlage verfertigt wird, zum Geist wird. Die letzterwähnte Auffassung wird mit Maßnahmen Zusammen­ hängen, durch die man u. a. in verschiedenen Teilen von Europa eine außenstehende Person während des Baustadiums als H. ge­ winnen wollte (z. B. hat man den Schatten eines Vorbeigehenden gemessen oder einen Vorübergehenden lebendig in die Grund­ mauern eingeschlossen). Die Macht des Besitzrechtes ist bei der Entstehung des H.s der zentrale Gedanke, der erste Besitzer bewahrt sein Recht bis weit in die Zukunft und überwacht die Taten der Bewohner. Mitunter taucht der Gedanke auf, daß ein Ort bereits im Naturzustand, bevor er in einen Kulturkreis einbezogen wird, einen Besitzer hat, von dem man sich das Bau­ recht erkaufen muß. In Grenz-Karelien warf man bei der Grund­ steinlegung Silbergeld in die Grube und sagte: „Meine Mutter, Erd­ geist, Zimmergeist, nimm Silber, gib Glück!“ Hier wird also der Erdgeist zum H. erhoben (-> Maahiset); beides sind häufig, z. B. in Ingermanland, beinahe identische Begriife. Außer Geld wurden unter den Eckstein auch Wasser, Kohle oder ein Teil der ersten an dieser Stelle verzehrten Mahlzeit gelegt. —>■ Friedhofsgeist; Heiligtümer.

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Finnen

Hausgeist

2. Zum Okkupationsdenken gehört auch die Sitte, daß man beim Umzug in ein neues Haus den Geist des alten Heimes mitbringt: er folgt z.B. mit dem „Umzugsstein“, der vom Ofen des alten Hauses genommen wurde, mit Asche aus dem Herd oder Erde, die man unter der Hinterecke hervorgrub. Auch in Finnland treffen wir die international bekannte Vorstellung, daß der H. eine nahe Be­ ziehung zum Herd hat. Zuweilen wird er fast identifiziert mit dem sich im Herd aufhaltenden, die Heiligkeit und Reinheit der Feuerbehandlung überwachenden Feuergeist, so z. B. in der weit verbreiteten Sage vom Gespräch zweier Feuergeister, wo der eine sich über schlechte Behandlung beklagt und aus Rache beschließt, das Haus abzubrennen (-> Para 2; -> Lit. Aitvaras; Lit. Gabetä; Asl. Hauskobolde). Außer in der Nähe des Herdes kann sich der H. auf dem Boden oder unter dem Fußboden aufhalten, ihm be­ stimmte Opfer brachte man vielfach auf die Bodentreppe oder schüttete sie durch einen Spalt unter die Diele. Dem H. hat man sogar auch ein eigenes Zimmer mit Bett reservieren können. Auf dem Tisch des Zimmers standen ständig frische Speisen. Rief man den Geist in sein Zimmer, fragte man entweder an der Tür, ob er drin sei, oder man sagte: „Da wäre nun ein eigenes Zimmer für dich, geh’ dahin! Dort ist es sauber und warm. Dort hast du es ruhig.“ Einen älteren Stand dürfte jedoch die Sitte widerspiegeln, nach der dem H. in der heiligen Hinterecke der Stube geopfert wurde, an der gleichen Stelle also, wohin später die Heiligenbilder bei der griechisch-katholischen Bevölkerung kamen (-> Christliche Einflüsse; Heiligtümer). Dem Geist wurde ferner an der Wurzel des außerhalb des Hauses wachsenden heiligen Baumes geopfert (-> Heilige Bäume). Die Opfer bestanden teilweise aus sich häufig wiederholenden -> Erstlingsgaben (beim Melken einer Kuh ließ man die ersten Tropfen auf die Erde fallen; beim Beginn der Mahlzeit streute man ein wenig Essen auf den Boden, usw.) oder aus seltener dargebrachten Opfern von Neuem, z.B. Getreide, dann wieder periodische, an großen Festtagen veranstaltete Gelage, wie an Allerheiligen (-> Kekri) und Weihnachten. Im letzterwähnten Zusammenhang wurde dem Geist ein eigener Tisch gedeckt (-> Ahnenkult; Kekri; Sämpsä l.a; Waldgeist 1.; Wassergeist 2.) und er durfte vor den Hausbewohnern in der Sauna baden. Die Zeremonien sind mit anderen Worten dieselben, wie sie sich gewöhnlich auf die Toten des Geschlechtes richteten (-> Ahnenkult; Kekri). Die Glau­ bensvorstellungen über die Aufgaben des H.s zeigen, daß ein wohl­ gesinnter Geist auf viele Weise Glück und Reichtum brachte, im voraus vor Unglücksfällen warnte, für die Haustiere sorgte, die Erhaltung von Sauberkeit und Ordnung verfolgte. Ein schlecht

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Heilige Bäume

Finnen

behandelter oder z. B. wegen Unsauberkeit auf die Bewohner er­ zürnter H. dagegen brachte Unruhe ins Haus, störte die Schlafen­ den und verhieß Unglück (-> Rache der Götter). Ein Haus konnte auch einen schlechten und faulen Geist haben, obwohl die Leute selbst keinen Fehler hatten; in einer Redaktion der Sage von dem Umzug des H.s symbolisiert dieses Wesen das dem Menschen ständig folgende Unglück, dem man nicht entfliehen kann. Allgemein läßt sich feststellen, daß der H. die Ordnung verteidigt und die Moral bewacht, oder wie Agrícola sagte: Tontu / Honen menon hallitzi, „Tonttu regierte den Haushalt“. (Die in West-Finnland allgemeine Bezeichnung tonttu geht zurück auf das schwedische Wort tomte „Wohnplatz, Grundstück“.)-> Asl. Hausgeist.

3. Von den anderen an Kulturorte gebundenen Geistern seien die des Stalles, der Darre, der Mühle und der Sauna erwähnt. Ein freund­ licher Stallgeist füttert, striegelt und bürstet die Tiere und weckt den Stallknecht bei drohender Gefahr. Man glaubt auch, er be­ vorzuge eine bestimmte Farbe bei den Tieren. Der Darrengeist wiederum erhitzt die Darre, schützt sie vor Brand und weckt bei Bedarf den Darrenheizer. Die gleiche Aufgabe des Weckenden be­ sitzt auch der Mühlengeist; wenn er aus irgendeinem Grunde dem Müller zürnt, hält er die Mühle an. Den Saunageist sieht man manchmal mit einem roten Hemd baden; mitunter hört man nur das Schlagen seines Quastes. Ein wütender Saunageist kann einen badenden Menschen auch töten. Die Geister des Stalles, der Darre und der Sauna suchte man zu beschwichtigen, indem man ihnen Essen an ihre Aufenthaltsorte brachte. — Eigene Gruppen bilden im finn. Geisterglauben schließlich verschiedene Wesen, die Ge­ treide, Milch und Butter aus anderen Häusern tragen (- >Para; Akräs 1). Von den sog. Geistigeren ist das wichtigste die Pflegeschlänge (-> Para 2), gewöhnlich eine Ringelnatter, die heilig ge­ halten und gefüttert wurde (-> Lit. Zaltys), da man glaubte, sie stehe in enger Verbindung mit dem Gedeihendes Viehes, ja mit dem Viehzüchter selbst. Auf das Töten einer Pflegeschlange kann der Tod der besten Kuh oder des Viehzüchters folgen. SuomK; Harva, 320—348; Krohn Sru, 85—88; J. Lukkarinen, Inkeriläisten kotijumalista, in: SMA 26 (Helsinki 1912); L. Honko, Geisterglaube in Ingermanland I, in: FFC 185 (Helsinki 1962). -> Feste; Opferbräuche. -> Lit. Haushaltgötter.

Heilige Bäume -> Ahnenkult; Anthropogonie; Bärenkult; Haus­ geist; Heiligtümer; Jenseitsvorstellungen; Kekri;Maahiset; Wald­ geist. -> Lit. Medis. -> Asl. Einl. -> Kelt. Baum. -> Ung. Áldókút.

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Finnen

Heiligtümer

Heilige Hochzeit —> Rauni; Sämpsä 2c, 5. Heiligenkulte —> Einl.; Äkräs; Christliche Einflüsse; Götterverzeich­ nis; Hausgeist; Ukon vakat; Waldgeist. Heiligtümer. Die Orte, an denen die Kultzeremonien der alten Finnen stattfanden, waren zum Teil zufällig gewählt; Speiseopfer an die Geister und die Toten wurden an Stellen gebracht, wo man sich ihren Aufenthalt gerade vorstellte. So legte man die Gaben für den -> Hausgeist im Wohnhaus z.B. auf den Boden, die Boden­ treppe oder unter den Fußboden, der Stallgeist erhielt sein Opfer im Kuhstall oder auf dessen Schwelle, der Darrengeist in der Darre, der Saunageist in der Sauna; den Toten wurden die Speisen auf den Friedhof gebracht (-> Ahnenkult); dem Erdgeist opferte man z. B. auf der Übemachtungsstelle (-> Maahiset) oder an dem Ort, wo ein Hausbau beginnen sollte (-> Friedhofsgeist; Hausgeist); dem -> Waldgeist machte man einen Opfertisch (-> Götterspeisung) im Walde auf einem Baumast usw. In vielen Fällen waren diese Stellen nur für die Zeit der Opferzeremonie sakralisiert. -> Opfer.

1. Den Charakter eines festen Heiligtums hatte der Friedhof als Wohnort der Toten (-> Friedhofsgeist), der heilige -»Hain, und ge­ wissermaßen vielleicht auch das in einem Wohnhaus für den Geist zur Verfügung gestellte Zimmer. Die alte Anbetungsstelle der Hausgötter war die Hinterecke des großen Wohnzimmers, der Stube, deren sakraler Charakter für viele finn.-ugr. Völker be­ zeugt ist. Unter der lutherischen Bevölkerung Finnlands hat man noch spät an den großen Festtagen, besonders um die Jahres­ wende (-> Kekri), einen Teller mit Essen in die heilige Hinterecke auf den Boden für den Erd- oder Hausgeist gestellt. Bei der grie­ chisch-katholischen Bevölkerung von Ost-Finnland und Ingerman­ land verschmolz der Geisterkult in der heiligen Ecke mit der Anbetung der ebenfalls dort aufbewahrten Ikonen (-> Hausgeist). Die Heiligen übernahmen die Rolle des Geistes (-> Christliche Einflüsse) — bei der Sitte, die Ikonen, die „Eckengötter“, zu füttern, indem man ihnen den Mund mit Sahne bestreicht und ihnen Salzkörner zuwirft, wird es sich eher um den Hausgeist- als um den Heiligen­ kult handeln. — Prinzipiell konnte jeder Ort für ein traditionelles Opfer passen; in Ingermanland und Karelien hat man Opfertiere und -bocke am Ufer eines Flusses oder Sees geschlachtet, mitunter in einer speziellen Opferumzäunung (-> Sämpsä 2a), später jedoch auch in der Nähe des Bethauses des Dorfes, der tSasouna (—> Stier­ opfer).

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Heiligtümer

Finnen

2. Vielfach wird aber ein in der Landschaft stark dominierendes Naturobjekt zum Opferplatz gewählt, ein großer oder seiner Form nach besonderer Baum oder Stein. Heilige Bäume und Steine (-> Maahiset) spielten besonders bei den Kultzeremonien der OstFinnen eine wichtige Rolle, aus ihnen bildeten sich primitive Heilig­ tümer, zu ihnen brachte man Opfer sowohl für die Toten als auch für die Geister. Ein jeder Hof (Geschlecht) hatte seinen eigenen Opferbaum (-> Waldgeist) in unmittelbarer Nähe des Wohnortes. Bei der Begründung des Hauses wurde er entweder gesetzt oder aus den bereits wachsenden Bäumen ausgewählt. Zahlreiche Taburegeln betonten das Heilige des Baumes: man durfte ihn in keiner Weise beschädigen, nicht fällen, keinen Zweig wegnehmen, ja nicht einmal eine Nadel oder ein Blatt. Das Glück des gesamten Geschlechtes verband sich mit dem Geschick des Baumes, außer „Heiliger Baum“ und „Heiligtumsbaum“ nannte man ihn u. a. „Glücksbaum“, „Wächter des Hauses“, „Gesehlechtsbaum“ und „Sippenkiefer“ (-> Waldgeist). Das Abbrechen eines Zweiges sagte den Tod eines Familienmitgliedes voraus, und das Fällen des Baumes bedeutete das Verderben des ganzen Geschlechtes. In Warnungssagen wurde geschildert, wie einen Schänder des Baumes zahlreiche Unglücksfälle trafen: wer den Baum fällen wollte, schlug sich mit der Axt ins Bein, das Haus brannte ab oder die Kühe gingen ein. Auf den am Fuße des Baumes ausgeübten Kult und dessen Ziele weisen die Bezeichnungen „Kultbaum“, „Opferkiefer“, „Käsebirke“, „Gottesfichte“, „Baumgott“ und „Geisterbaum“. Zu dem Baum brachte man im Zusammenhang mit den großen Jahresfesten Speisen und die -> Knochen der ge­ schlachteten Opfertiere, ebenso -> Erstlingsgaben von neuem Brei und Brot, von den ersten Fischen im Frühling, von der Milch einer Kuh, die gekalbt hatte, usw. Besonders wichtig waren die Opfer, wenn das Geschlecht neue Mitglieder erhielt: die erste Muttermilch gab man dem Ba um, ebenso einen Teil der ersten Mahlzeit einer in die Familie gekommenen jungen Frau, ja sogar auch einer Magd oder eines Knechtes. Mit dem Anwachsen des Geschlechtes erweiterte sich auch der Kultkreis, immer mehr Familien begannen an den Opfern teilzunehmen; so erwähnen einige Nachrichten, das ganze Dorf habe sich am heiligen Baume versammelt, um dort die Opfer­ speisen einzunehmen (vgl. die Benennung „Dorfbaum“). Auch dann handelte es sich jedoch nur um Zeremonien innerhalb des Ge­ schlechtes.

3. Da der Kult eine klare Geschlechterinstitution war, sind die For­ scher geneigt gewesen, die Toten des Geschlechtes (-> Ahnenkult) als

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Finnen

Himmelsgott

ursprüngliche Empfänger der Opfer anzunehmen. Dieser Meinung ist u. a. Martti Haavio, der jedoch betont, daß beim heiligen Baumim Bedarfsfälle auch verschiedenen Geistern geopfert werden konnte. Auf keinen Pall wurden der Baum selbst oder der Genius des Baumes verehrt, der Baum markierte nur die Opferstelle, war Heiligtum. Aus West-Finnland liegen äußerst wenig Angaben über eigentliche Opferbäume vor, doch hat man auch dort einen in der Nähe des Hauses ausgewählten Baum als Pflegebaum gekannt, den man schützte und versorgte. Haavio hat die Vermutung aufgestellt, daß die Gruppendörfer West-Pinnlands gemeinsame Kultstellen für mehrere Geschlechter hatten, während bei der sporadischen Be­ siedlung in Ost-Finnland jeder Hof seinen eigenen Opferplatz besaß. 4. Neben Bäumen wurden auch wegen ihrer Form oder Größe eigenartige Steine zu Kultplätzen; in deren Löcher wurden Erst­ lingsgaben, Speisen, Knochen von Opfertieren, Silber u. a. ebenso wie zu den heiligen Bäumen gebracht. Besonders alt sind wohl die sog. „Tassensteine“, in die von Menschenhand mitunter viele kleine Vertiefungen für Opferspeisen eingegraben sind (->Totenglaube lb; vgl. Abbildungsverzeichnis S. 272). Die älteste Nachricht über einen Opferstein stammt aus dem Jahre 1534, wo ein aus Novgorod ge­ sandter Missionar, der Mönch Ilja, einen kar. Opferstein versenkt haben soll. Von der Verehrung der Steine und Bäume berichtet Michael Agricola im Jahre 1551. Haavio Ef, 29—48; Ders., Heilige Haine in Ingermanland, in: FFC 189 (Helsinki 1963); Harva, 299—314, 336—341; J. Hautala, Itä-Suomen uhrikiviryhmistä, in: Suomen Museo 1960, 83 — 115. -> Feste; Kultmahlzeiten; Opferbräuche. -> Lit. Alka; Erdgottheiten; Kälnas. -* Asl. Tempel. -> Kelt. Erde; Heiligtümer. -> Germ. Pisen; Erde.

Heilkunde -> Heilsprüche; Lemminkäinen; Weltbild 7. -> Lit. Media. -> Asl. Vila. -> Kelt. Heilgötter.

Heilsprüche -> Hittavainen; Pellonpekko 2; Weltbild 7.

Herd -> Hausgeist. Hermelin

Maahiset.

Herospaar -> Ilmarinen; Sampo; Väinämöinen.

Hiisi, Hijsi -> Götterverzeichnis; Jenseitsvorstellungen 1 b; Waldgeist. Himmel-> Bärenkult 3; Heilige Hochzeit; Ilmarinen; Kosmogonie; Pajainen; Sampo; Ukko, Virankannos; Weltbild.

Himmelsgott -> Bärenkult 3; Ilmarinen; Pajainen; Ukko. 20

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Hirsemann

Finnen

Hirsemann -> Köndös.

Hittauanin -> Hittavainen. Hittavainen. Michael Agricola erwähnt in seinem ->■ Götterverzeichnis, die Karelier kennten einen besonderen Gott der Hasenjäger: Hit­ tauanin I toi Jenexet Pensast „Hittauanin brachte die Hasen aus dem Gebüsch“. Die spätere Überlieferung kennt ein Wesen dieses

Namens nicht mehr, jedoch findet man in Zaubersprüchen einige verzerrte Namensformen, die möglicherweise mit H. in Ver­ bindung stehen. Kaarle Krohn vermutete, daß die frühere Ge­ stalt des Namens *Huittavainen gewesen sei und den Heiligen Hu­ bertus bedeute, der in der katholischen Zeit als Geber des Wildbrets verehrt wurde (-> Christliche Einflüsse). Man hat auch gedacht, daß das u. a. „Teufel“ bedeutende hitto, hittolainen den Namen erkläre und auf den Jägereid hingewiesen: „Die Hasen mein, und ich des Teufels“. Zuletzt hat Martti Haavio diese Frage in einer um­ fangreichen Untersuchung behandelt, die in Frage kommenden Zaubersprüehe und Gebete eingehend analysiert und abschließend festgestellt, daß es sich offensichtlich um den Heiligen Vitus handelt, der in Finnland aus dem fries.-nds. Gebiet, genauer gesagt, aus dem Bistum Bremen, bekannt geworden ist (-»-Köndös). Dieser Heilige war in Deutschland u. a. der Schutzpatron der Jäger, und in der Ikonographie trägt er als Attribut einen kauernden Hasen. Der in kar. Jägergebetsformeln auftretende Kynsi-Kyttä, den man um Wildbret bittet, ist nach Haavio eben der Heilige Vitus. Kynsi „Nagel“ wird u. a. als Euphemismus für Hase, Eichhörnchen und Fuchs verwendet; Kyttä ist wiederum auf die Form Hitta < (Fit-) Vit- zurückzuführen. In Deutschland wurden Kranke mit Wasser geheilt, das aus den Quellen des Heiligen Vitus an seinem Tage (15. 6.) geschöpft wurde. In kar. -> Heilsprüchen bittet man Hiitta um heilenden Met (Wasser), und in einigen anderen Zauber­ formeln wird erklärt, das Wasser sei Viitta-Väinö’s Sohn. Die frühere Form dieses Namens ist nach Haavios Meinung * Vittavainen gewesen. — Der Heilige Vitus war der Heilige der Sommersonnen­ wende. An seinem Tage brannte man u. a. in Deutschland Feuer ab, ebenso wie später — als die Sommersonnenwende sich verschob — am Tage des Heiligen Johannes. Auch der Heilige Johannes war ein Schutzpatron des Hasen. Im Hinblick darauf, daß die Hasenjagd in Finnland allgemein im Winter, wenn Schnee liegt, mit Schlingen stattfindet, kann es erstaunen, daß der Heilige des Mittsommers Spender der Hasen gewesen sei. Es gibt jedoch Nachrichten über die Hasenjagd mit Netzen, die im Sommer ausgeübt wurde. Lär­ mend erschreckten die Jäger die Hasen im Gebüsch, die dann auf

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Finnen

Ilmarinen

die ausgelegten Netze zuliefen. Aus Russisch-Karelien haben wir eine Nachricht, nach der das Kloster von Vjazitski den Bauern, die ihm hörig waren, in den Jahren 1477—78 diese Hasenjagd verbot. HKar, 161 — 179; Krohn Sru, 269—270; Ders. FM, 52—54; Harva, 363—365. -> Nyrckes; Waldgeist. -* Lit. Medelne.

Höchster Gott

Ukko.

Hochzeitsriten -> Ahnenkult 1 a, 3; Bärenkult; Heiligtümer 2; Jen­

seitsvorstellungen la.

Hölle -> Teufel. Umarinen. 1. Die große Schmiedgestalt der epischen Volksdichtung. 1. erscheint in zahlreichen mythischen Zusammenhängen als Bestirner des Himmels, Schmied des -> Sampo, ja sogar als der, welcher das ganze Himmelsgewölbe erschafft (-> Kosmogonie). Der Name ist eine Ableitung aus dem Wort ilma „Luft, Wetter“, das in Dialekten die älteren Bedeutungen „Unwetter, Sturm“ und „Him­ mel“ hat. Ebenso ist im Wotj. von in {inm-) „Himmel“ (= etym. Entsprechung für finn. ilma) die Benennung der Himmelsgottheit inmar abgeleitet, die die Forscher mit I. verknüpft und vermutet haben, es handle sich um den Namen des aus der finn.-perm. Zeit stammenden Himmelsgottes. Aus dem Wotj. wurde das Wort ins Tschw. entlehnt {ilmar) und es ist auch dort als mytholo­ gischer Begriff bekannt {ilmar kalli „Gebetsort“, „böser Geist“). Es sei erwähnt, daß daB finn. jumala „Gott, Heiliger“, das bereits früh zur Bezeichnung des christlichen Gottes wurde (-> Christliche Einflüsse), offenbar auch eine alte Benennung der Himmelsgott­ heit ist. Das Wort hat etym. Entsprechungen in den Ostsee- und wolgafinn. Sprachen (z.B. tscher. jump „Himmel, oberster Gott“), wohin es möglicherweise aus dem Ar. gelangt ist (vgl. sanskr. dyumän „hell, klar“, auch als Attribut des Indra). 2. Auf die viel erörterte Frage, ob I. mit den alten finn.-ugr. Him­ melsgottheiten Verbindung hat, erhalten wir aus der späteren Überlieferung keine Antwort. Die Tatsache, daß er als Beherrscher des Windes und des Wetters erwähnt wird, berechtigt nicht ohne weiteres zu einer positiven Antwort. Michael Agricola schrieb in seinem -> Götterverzeichnis: Ilmarinen / Rauhan ia ilman tei I ia Matkamiehet edheswei „Ilmarinen machte das ruhige Wetter und den Sturm und brachte die Reisenden ans Ziel“. Er gab den Reisenden also entweder günstigen Rückenwind, oder er ließ einen Sturm aufkommen. Die Angabe Agricolas wird bestärkt 20«

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Ilmarinen

Finnen

durch -> Zaubersprüche, in denen I. (der Name erscheint zwar ein wenig verändert) einmal um starken Wind, zum andern um Windstille gebeten wird. Von den Finnen lernten auch die Lappen den I. keimen. Im Jahre 1692 wurde ein Lappe der Zauberei ange­ klagt, und er mußte die Figuren auf seiner Zaubertrommel (-> Ung. Tältos) erklären. Im obersten Abschnitt der Trommel, neben dem Bild des Donnergottes, befand sich eine menschenähnliche Zeich­ nung, die der Zauberer als eine Abbildung des Ilmaris erklärte, der den Booten und Schiffen durch schlechten Wind oder Sturm Ver­ derben bringt, aber auch ein Unwetter zu beruhigen vermag. Diese Nachricht steht vereinzelt da; allgemein schreiben die Lappen diese Aufgaben ihrem Windgott, dem „Windmann“ (biegg-olmai), zu. 3. Das Problem hat noch eine zweite Seite. Wenn man I. in jenen mythischen Zusammenhängen untersucht, an welche die epische Volksdichtung eine Erinnerung bewahrt hat, läßt sich die eigenartige Beobachtung machen, daß er dort nicht als Herrscher über das Wetter erscheint. Er hat zwar weiterhin eine wichtige Beziehung zum Himmelsgewölbe, aber nicht als ein dort wohnen­ der und wirkender Gott, sondern als dessen Hersteller, als Schmied des Sternenhimmels. Es heißt, er habe außer dem Himmel auch den —> Sampo geschmiedet, er war auch der erste, dem es gelang, aus Raseneisenerz das Eisen zum Nutzen der Menschen zu gewinnen (-►Eschatologie 2).Ein damit vergleichbares großartiges Schöpfer­ werk hat er gemeinsam mit -> Väinämöinen am Himmel voll­ bracht: I. schlägt Feuer, Väinämöinen blitzt und die „bunte Schlange“ (Blitz) fällt in die Tiefen des Meeres, gerät in den Bauch des Lachses; der Lachs wird im Netz gefangen und die Menschen nehmen den Feuerfunken, indem sie ihn in den Feuerzeugen auf­ bewahren. Somit hat I. im mythischen Denken der Gedichte die Rolle eines am Anfang der Zeiten auftretenden Kulturheros inne­ gehabt : er vollbrachte einst, in der großen Urzeit, da die Weltord­ nung erst geformt wurde, seine großen Taten (die Schöpfung des Himmelsgewölbes, des Sampo, des Eisens und des Feuers). Nach dieser Konzeption tritt er heute nicht mehr als wirkender Gott auf; und so erklärt sich auch die Tatsache, daß wir hier keinen IKult finden können, aus dem Heros-Begriff: die Kulturheroen der Völker gehen nach Vollendung ihrer großen Taten z. B. in die Sternbilder am Himmel oder in Bäume oder Pflanzen ein. Nur die ätiologischen Mythen bewahren ihr Andenken. Andererseits werden jedoch, wenn die herkömmliche Lebensordnung erschüttert wird, jene fernen Geschehnisse gerade durch die Darstellung von Mythen reaktualisiert (-> Weltbild). Bei den Völkern des nördlichen 310

Finnen

Jenseits (Vorstellungen)

Eurasien finden wir Parallelen dafür, daß der Kulturheros gerade ein Schmied ist. Auch ist das Motiv vom Herospaar (I. und Väinämöinen) weit verbreitet. -> Kosmogonie.

4. Aus dem Obigen geht hervor, daß wir also eigentlich zwei I. haben: den Herrscher über das Wetter (einen ständig wirken­ den Gott; -> ükko) und den Kulturheros (den großen Schmied der Urzeit). Vor allem aus dem Namen des Gottes wird man folgern können, daß die erstere Konzeption älter ist. Die befremd­ liche Veränderung des an sich bekannten Namens I. in den Wind­ zaubersprüchen (-> Zauber) erklärt sich vielleicht gerade aus der Verdrängung des Windgottes durch die dominante Heros-Kon­ zeption. Man kann natürlich fragen, ob alle erwähnten großen Schöpfungen ursprünglich zu I. gehören. Die Antwort kann durch­ aus negativ ausfallen, was jedoch die Tatsache gar nicht ändert (sondern im Gegenteil hervorhebt), daß die Kulturheros-Kon­ zeption im mythischen Denken der Finnen lebendig gewesen ist. Daß I. später zur Hauptperson von Gedichten wurde, die ursprüng­ lich nicht unbedingt mit den Geschehnissen der großen Urzeit in Verbindung gebracht zu werden brauchen, zeigt die Expansivität der beliebten Gedichtgestalt. Aber auch von diesen Gedichten ver­ wenden einige (z. B. das Wettfreien von Väinämöinen und I.) deut­ lich mythische Motive. U. Holmberg (Harva), Permalaisten uskonto (Porvoo 1914), 169; Harva, 137—151; M. Räsänen, Volgan-suomalaisten ja Itämeren-suomalaisten yhteisiä taivaanjumaluuksia, in: KV 36 (Helsinki 1956); Y. H. Toivonen, Suomen kielen etymologinen sanakirja I (Helsinki 1955), 104—105, 122; K. Krohn, Kalevalastudien III, Ilmarinen, in: FFC 71 (Hamina 1927); L. Honko, Krankheitsprojektile, in: FFC 178 (Helsinki 1959), 172 — 173. -> Lit. Teljawelik. -> Asl. Svarog. -> Kelt. Goibniu; Kulturbringender Heros. -> Ung. Tetejetten nagy fa. -> Germ. Zwerge.

Isäinen -> Ukko. Jagdriten -> Bärenkult; Hittavainen; Nyrckes; Ukko 3; Waldgeist. Jahreswenderiten -> Einteilungszeit; Kekri. Jahreszeiten -> Ahnenkult; Einteilungszeit; Götterverzeichnis; Hitta­ vainen; Kekri; Köndös; Pajainen; Pellonpekko; Rongoteus; Sampo; Sämpsä; Ukko 3; Ukon vakat; Virankannos; Waldgeist.

Jenseits (Vorstellungen). 1. Die frühesten finn. J. spiegeln sich zweifels­ ohne in der Auffassung wider, daß der Mensch auch nach dem Tode im Grabe ein Leben führe, das in vieler Beziehung an das irdische erinnert. Der Friedhof in der Nähe der Behausungen war 311

Jenseits (Vorstellungen)

Finnen

das Dorf der Toten, wo die Verstorbenen ihren Beschäftigungen nachgingen und ihre lebenden Verwandten empfingen (-> Ahnen­ kult; Friedhofsgeist).

a) Auf kar. Friedhöfen wurden auf den Gräbern kleine Block­ hütten errichtet, die in ihrer Bauart an gewöhnliche Wohn­ gebäude erinnern: sie besitzen ein gebrochenes Dach, eine Tür und im Giebel ein kleines Fenster. In Ingermanland wurde am Ende oder an der Seite des Sarges ein Fenster angebracht, ein 1—2 Zoll breites Loch, „damit der Tote Licht bekäme und hinausschauen könne.“ Ähnliche Totenwohnungen wurden auch von anderen finn.-ugr. Völkern errichtet; in einer mordw. Grabrede an eine Frau heißt es: „Wir haben dir eine Wohnung mit Fenster ge­ macht, damit du beim Spinnen und Nähen siehst.“ Die in den Sarg gelegten Kleidungsstücke, der Schmuck, der Proviant und die Gerätschaften zeigen, daß man glaubte, der Verstorbene habe in der jenseitigen Welt die gleichen Bedürfnisse wie in der dies­ seitigen. Einer ledigen Frau gab man das Kopftuch einer ver­ heirateten mit, damit sie im Jenseits heiraten könne (-> Ahnen­ kult 1). Die Gesellschaft der Toten war eine Art Miniaturwelt: sie wohnten in kleinen Blockhütten, wärmten ihre Füße an Herden von der Größe eines Schwalbennestes und wandelten die „Pfade der Toten“, die in kar. Klageliedern mit den Gängen der Ameisen verglichen werden. b) In heidnischer Zeit wurden die Toten in kleinen Waldungen in der Nähe des Dorfes begraben. In diesen heiligen —> Hainen durfte kein Baum gefällt und auch kein Zweig abgebrochen werden. Diese Begräbnisplätze, Fichten- und Kiefernhaine, be­ finden sich in völligem Naturzustand und zeichnen sich auch jetzt noch deutlich in der karelischen Landschaft ab; oft liegen sie heute in der Mitte von Feldern. Noch als die Verstorbenen auf kirch­ lichen Friedhöfen beerdigt wurden, haben die Haine, in denen man weiterhin opferte, ihre Heiligkeit bewahrt. Mitunter hat die Kirche einen heidnischen Begräbnisplatz okkupiert: es wurde ein kleines Gebetshaus dort errichtet. In West-Finnland verschwanden die heiligen Haine, genannt hiisi, bereits frühzeitig, doch kann man ihre Verbreitung an Hand von alten Ortsnamen verfolgen. Der Begräbnisplatz war das Zentrum des Totenkultes: an den Gedenk­ tagen brachte man Speise an die Gräber und glaubte, die Toten

würden in Gestalt kleiner Vögel kommen und davon essen (—>Ahnenkult; Totenglaube lb). Wenn sich auch die Kontaktaufnahme mit dem Jenseits in der Hauptsache nur auf einige Tage konzentrierte, so bewahrte der Begräbnisplatz doch das ganze Jahr hindurch 312

Finnen

Jenselts(vorstellungen)

seinen heiligen Charakter; das Verhalten in der Nähe der Wohnun­ gen der Toten wurde u. a. mittels zahlreicher Warnungssagen ge­ regelt. Das Andenken des Toten konnte auch auf eine besondere Weise an dem abgeästeten karsikko-B&vma. vergegenwärtigt werden, der jedoch nicht auf dem Begräbnisplatz selbst, sondern an dem dorthin führenden Weg stand (—»-Ahnenkult lb).

2. Die Glaubensvorstellungen über das Friedhof-Jenseits bilden nur einen Teil der finn. Jenseitsvorstellungen, zu denen auf vielen verschiedenen Wegen — sowohl mit westlichen als auch mit östlichen Kulturströmungen — eine vom obigen etwas abweichende Gruppe weit bekannter Jenseitsvorstellungen kam, die der finn. Kosmographie angepaßt wurden (-> Weltbild). a) Besonders in der Volksdichtung und in den Klageliedern kom­ men Vorstellungen von einem weit am nördlichen Weltenende hinter einem Strom liegenden Jenseits zum Ausdruck; der dorthin führende Weg ist mühsam und voller Gefahren (-> Weltbild 2, 3). Der Fluß des Jenseits ist gleichzeitig der Rand der Welt, er fließt in einem tiefen Tal und seine Ufer sind so steil, daß die Kronen der dort wachsenden Bäume niedriger als das Wurzelende sind und die Pflan­ zen von oben nach unten blühen. In dem Strom befindet sich eine wirbelnde und wilde Schnelle, in der Speere, Schwerter und Nadeln aufrecht stehen. (-> Germ. Hel.) Diese Stelle ist „menschenfressend, heldenversenkend“, dort sieht man Tote in ihren blutigen Kleidern schwimmen. Es gibt viele Möglichkeiten, den Strom zu überqueren. Die Toten können hinüber waten; man glaubt, das Wasser reicht bis zu der Stelle, wo der Mensch ein Muttermal hat. Befindet sich dieses Mal am Finger, sinkt der Verstorbene so tief ein, daß nur der über den Kopf gehobene Arm über der Wasseroberfläche ist. Über den Strom führt auch eine Brücke, die sich jedoch durchaus nicht leicht überqueren läßt, denn sie besteht nur aus einem dünnen Faden. Man glaubt, beim Aufwickeln von Wolle müssen der Aufwickler und derjenige, der den Knäuel hält, nahe beieinander sitzen, denn wenn der Faden zwischen ihnen lang ist, müßten sie nach ihrem Tode ihn entlang über den Fluß des Jenseits gehen. Die Lappen erzählen, daß man auf dem Weg ins Paradies über den „Feuerfluß“ (-> Weltbild 3) auf einer so schmalen Brücke gehen muß,daß dann und wann jemand abgleitet. In der finn. Volksdichtung werden die an der anderen Seite Wartenden wie folgt geschildert: „Die Alte Eisenzahn vom Jenseits saß am Ende der Brücke des Totenreiches mit drei Hunden.“ Am sichersten kommt der Tote ans Ziel, wenn es ihm gelingt, ein Boot zu bekommen, das ihn übersetzt. In Russisch-Karelien heißt

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Jenseits(vor8tellungen)

Finnen

es, wenn einem die Ohren klingen, daß die Verwandten auf dem Strom des Totenreiches nach einem Boote rufen. Dann muß man aufstehen und vor den Heiligenbildern (-> Christliche Einflüsse) beten: „Laß, Gott, über den Fluß des Totenreiches hinweg!“ Äußerst detailliert ist die Schilderung eines Klageliedes vom Olonetz, wo von den Pforten des Totenreiches und den Schlüsseln die Rede ist, vom Fluß der Unterwelt und dessen Fährmann mit seinem eichenen Boot und den goldenen Rudern, ferner von der „blauen Brücke mit dem schilfigem Geländer“ des Totenreiches. Dem Wanderer drohen auf seiner Reise viele Gefahren, u. a. die immer wachen Schlangen, bis er endlich dahin kommt, wo die Milchflüsse und die Brombeersträucher des Paradieses ihn erwar­ ten. Die Schilderung vertritt die Tradition der griechisch-katho­ lischen Bevölkerung, in der östliche Einflüsse spürbar sind. b) Es gibt auch eine ältere finn. Topographie des Jenseits: danach ist das Totenreich das düstere und dunkle, „ewige“ und „kalte“ Dorf des Nordens, dessen weit sichtbare Eisenpforten in ihren Angeln dröhnen. Die schauerlichen Züge der mittelalterlichen Höllenschilderungen konnten den ursprünglichen Charakter des finn. Totenreiches nicht viel ändern; es erhielt sich als bäuerlich einfaches Dorf am Ufer des Einödflusses. Den Bauern vom Dorfe des Nordens und die Bäuerin mit ihren Söhnen und Töchtern erwähnt die Volksdichtung oft, und zwar als gewöhnliche Menschen in ihrem Tun und Treiben. Die Schilderung der Reise des -> Väinmöinen ins Jenseits entbehrt ebenfalls aller Schauereffekte, die wie auch der Abschnitt, der vom Tode des -> Lemminkäinen berichtet, einige oben nicht erwähnte Züge des finn. Jenseitsglaubens enthält.

3. Zahlreiche einzelne Taburegeln enthalten die Drohung, den­ jenigen, der gegen sie verstoße, erwarte im jenseitigen Leben eine Strafe. Die meisten sind deutlich erkennbar spät und aus pädago­ gischen Absichten heraus entstanden, ein Teil jedoch — wie die über das Schneiden der Fingernägel — enthält Material alter Glaubensvorstellungen. In Grenz-Karelien hat man das Aufheben der abgeschnittenen Nägel damit begründet, der Mensch brauche sie, wenn er nach dem Tode den Berg des Totenreiches hinan­ klettern müsse, der so glatt wie ein Eisei (-> Weltbild 2). Weit ver­ breitet ist der Glaube, der Teufel mache aus an Feiertagen abge­ schnittenen Nägeln ein Boot (-> Germ. Naglfar) und hole damit den Menschen in die Hölle. Hierfür, wie auch für die meisten der oben zitierten Vorstellungen, fanden die Forscher zahlreiche Parallelen, bald in den Totenreichsvorstellungen der Hochkulturen VorderAsiens und der Antike, bald in der Visionsliteratur des Mittel­ 314

Finnen

Kekri

alters, bald in den entsprechenden Vorstellungen der Slaven und der alten Skandinavier. Harva, 50—58, 488—511; M. Haavio, Suomalaisten tuonela-kuvitelmia, in: Kotiseutu 1939; Ders. VES, 91 — 105; Ders. Kir, 256—261; Varonen, 97—102 et passim; Krohn Sru, 43—50, 59—65; V. J. Mansikka, Itkujen Tuonela, in: MSFOu 52 (Helsinki 1924); L. Honko, Itkuvirsirunous, in: Suomen kirjallisuus 1 (Keuruu 1963), 112—113; A. M. Tallgren, Hiisi ja Moisio, in: Virittäjä 1937, 319—331. -» Feste; Maahiset 2; Opferbräuche; Sämpsä 2c. ->■ Germ. Jenseitsvorstellungen. _> Griech. Jenseits Vorstellungen; Toten­ reich. -> Kelt. Jenseits. -> Lett. Jenseitsvorstellungen; Weltbild. —> Ungar. Skythien.

Joukahainen -> Anthropogonie; Sampo; Väinämöinen.

Käkri -> Kekri.

Kalervo -> Anthropogonie 1. Kaleva -> Götterverzeichnis.

Kalevala -* Einl.; Lemminkäinen. Kalevanpojat -> Götterverzeichnis.

Kapeet -> Götterverzeichnis.

Karneval -> Einteilungszeit 2; Kekri 3. Katze -> Maahiset 2; Para 2. Kaukamoinen -> Lemminkäinen. Kekri. 1. Das finn. Ackerbau- und Viehzuchtjahr endet mit dem ,,Kekri“-Fest (dial. keyri, köyri, keeri), das allgemein an Aller­ heiligen oder am Montag nach dem Tage des Heiligen Michael ge­ feiert wurde (~>Kelt. Feste). Die Zeit des Festes wechselte früher noch mehr, da es sich ursprünglich nicht um die Feier eines ka­ lendarischen Gedenktages handelte, sondern um ein zum Abschluß bestimmter Arbeiten, z.B. des Schlachtens, gehörendes Fest. In einigen Gegenden spricht man im Zusammenhang mit K. vom „Anfangsfest des Jahres“, was darauf hinweist, daß das Abschluß­ fest des Arbeitsjahres gleichzeitig ein altes Neujahrsfest gewesen ist. Das herrschende Bedeutungselement des Wortes Kekri w&r je­ doch „letzter, abschließender“; in Dialekten hat sich die Bedeutung des Wortes auf den letzten Tag einer mehrtägigen Festperiode ver­ schoben (Ostern, Pfingsten, Johanni). In Häme heißt der spät gesäte Winterroggen köyri-Roggen; in Satakunta sind die letzten auf dem Felde gebliebenen Halme köyry. Dasselbe Wort wurde in West-Finn­ land verbreitet für den letzten Schnitter oder Leinenpflücker verwen­ det. Im östlichen Uusimaa bleibt der Hirt, der am köyry-Abend als

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Kekri

Finnen

letzter mit seinem Vieh heimkommt, oder derjenige, welcher an diesem Morgen am längsten schläft, ein köyry. Die Beispiele zeigen, daß man mit kekri die letzte Arbeit oder den letzten Arbeiter einer Periode bezeichnete. 2. Zu den ältesten Riten des K.-Festes gehört das Schlachten und Verspeisen eines Schafes oder Schafbockes (_> Stieropfer 2). Die älteste Nachricht über K.-Schafe stammt aus dem Jahre 1670 aus Nord-Karelien und Nord-Savo. Im Jahre 1754 berichtet Eric Castrón, daß früh am Morgen von Allerheiligen oder schon am vor­ hergehenden Morgen ein Schaf, am liebsten ein einjähriges, ge­ schlachtet und gekocht wird, wobei die -> Knochen unversehrt bleiben müssen. (-> Wassergeist 2.) Unter der Gefahr des Verlustes der Gesundheit durfte man von dem Fleisch nicht kosten, bevor es aufgetragen wurde. Das Schaf wird gemeinsam verzehrt, und es wird nichts übriggelassen. Am Vorabend von K. wird den Geistern zu essen und zu trinken gegeben (-> Ahnenkult; Hausgeist 2; Sämpsä 2a; Waldgeist 1; Wassergeist). Einige bringen diese Opfer­ gaben in den Kuhstall wegen des Viehglücks, andere in den Pfer­ destall wegen des Pferdeglücks, andere an große Bäume (-* Heilige Bäume) oder Steine auf die Felder und in die Wälder, andere an alle diese Stellen (-> Opfer). Aus in der späteren Tradition erhaltenen Angaben geht hervor, daß das K.-Schaf in einigen Gegenden um Mitternacht geschlachtet und noch vor der Morgendämmerung ver­ zehrt wurde. Die Knochen wurden sorgfältig aufbewahrt, z. B. auf dem Ofen der Stube oder im Schafstall, oder sie wurden in der Erde vergraben, damit Raubvögel und Hunde sie nicht erreichten. Zur K.-Mahlzeit gehörte Sauergrütze, Fleischsuppe, Erbsen, Bier und Schnaps. Einen Teil der Mahlzeit brachte man an den heiligen Baum des Hofes und an die Aufenthaltsstellen der Geister. In Savo ge­ hörten zu diesem Opfer -> Erstlingsgaben von der Wolle der Schafe, den Haaren der Kälber und der Milch der Kühe und Frauen. Diese Bewirtung der Geisterwesen galt außer den Geistern des Hauses und der nahen Umgebung auch den Toten des Geschlechtes, die an K. unterwegs waren und in ihre früheren Heime kamen. (-> Ahnen­ kult 3; Einteilungszeit 4.) Für die Verstorbenen, die man „heilige Männer“ oder „Kekri-Jungfrauen“ nannte, veranstaltete man eine besondere Gedenkmahlzeit. Am Vorabend von K. erwartete man die Verstorbenen, besonders die des vergangenen Jahres, man machte die Sauna für sie zurecht, steckte eine Kienspanleuchte an, sorgte für warmes Wasser und erwärmte den Quast. Während die Toten saunten, warteten die Leute in der Stube. Die Mahlzeit wurde aufgetragen. Schließlich gingen die Hofbewohner in die

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Finnen

Eekri

Sauna, und die Toten kamen aus der Sauna in die Stube zum Essen. Aus der Sauna kommend, trat der Bauer als erster in die Hütte und fragte höflich: „Haben die Gäste schon zu essen ge­ kriegt?“ Alle aufgetragenen Speisen kosteten zuerst der Bauer und die Bäuerin, dann erst die anderen Hofbewohner. Wenn er zu essen begann, schöpfte der Bauer erst einen Löffel Suppe auf den Tisch und zwei auf den Fußboden, danach steckte er dann den Löffel selbst in den Mund. Eric Castrón erwähnt, daß der Besitzer des Hofes die am Vorabend von K. gekommenen „heiligen Männer“ einen ganzen Tag bedient und sie dann feierlich an Allerseelen (2. November) aus dem Kreis des Hofes hinausbegleitet. Der Bauer trägt dabei keine Kopfbedeckung, und zum Abschied gibt er Bier und Branntwein. Castrón bemerkt, daß die Sitte katholisch und die Gäste Heilige seien (-> Christliche Einflüsse). Diese Auffassung ist nur insofern richtig, als die Kirche schon früh das heidnische Totenfest substituierte und ihm eine neue Begründung gab. Eine Art Fortsetzung der Bewirtungs-Sitte von Verstorbenen liegt in der Bewirtung der um K. oder Weihnachten von Haus zu Haus ziehenden Maskenumzüge, welcher Brauch sich bis in die jüngste Zeit erhalten hat (-> Einteilungszeit 5). 3. Die älteste Nachricht über K. ist in Michael Agrícolas Götter­ liste enthalten (-> Götterverzeichnis): käkri / se Uséis Carian cassuon, „Käkri, der vermehrte das Wachstum des Viehs“. Wenn er K. als Gott vorstellt, ist Agrícola wie auch einige andere frühe Schreiber das Opfer eines Mißverständnisses: K. ist der Name eines Festes, nicht der eines Gottes. Der Hinweis auf die Zunahme des Viehglücks er­ scheint jedoch durchaus nicht unmotiviert, denn um den Jahres­ wechsel geschieht ja eine Art „Einteilung der Schicksale“: Omina werden untersucht und man schließt daraus, wie die Ernte, das Gedeihen des Viehs, die Gesundheit der Menschen usw. sich im folgen­ den Jahr gestalten werden (-> Einteilungszeit 1; Omen). Mit der Feier des K.-Festes wird der wirtschaftliche Erfolg für das nächste Jahr verbürgt. Aufmerksamkeit erweckt in dieser Hinsicht ein an K. gebackenes großes Brot, das nicht gegessen wurde, sondern das an den großen Festtagen im Winter auf dem Tisch an einem Ehren­ platz lag und dann in den Speicher zurückgetragen wurde. Erst im Frühling (-»-Akräs 1), wenn man mit der Frühjahrsbestellung begann, gab man denen, die zur Arbeit gingen, Stückchen von dem Brot mit, und am Georgstag, wenn das Vieh aus dem Winterstall auf die Weide getrieben wurde, tat man Brotkrümel in das Wasser für die Tiere. In einigen Gegenden wurden die Restkrümel der K.-Mahlzeit vom Tisch in einen besonderen Beutel gesammelt, wozu später noch 317

Kekri

Finnen

die Reste des Festessens von Weihnachten und Fastnacht kamen, und am Gründonnerstag gab man die Reste dem Vieh. So erstreckte sich also die Wirkung des K.-Festes konkret bis zum Anfang der folgenden Weideperiode. An K. war es ferner Sitte, den Schafen Doppelähren zu füttern, damit sie im folgenden Jahre Zwillinge bekämen (->Äkräs 2).

4. K. ist im allgemeinen ein Fest des Familienkreises, Fremde oder Diener durften nicht daran teilnehmen, nicht einmal Schwieger­ töchter und Schwiegersöhne, wenn sie erst kurze Zeit auf dem Hofe waren. Es gibt jedoch auch zwei Nachrichten darüber, daß K. als Fest in einem weiteren Kreise begangen worden ist. In Keuruu, in Mittel-Finnland, veranstalteten abwechselnd zwei Dörfer das K.-Fest. Das zum Schlachttier bestimmte Schaf war bereits ein Jahr vorher ausgewählt worden, man erzählte, daß dieses Schaf häufig aus der Herde verschwand und erst nach Allerheiligen zurückkam, dann bedeutend stattlicher und fetter als andere Schafe. Wenn die Opfermahlzeit beginnt, erhebt sich der Dorf­ älteste: „Heilige Kaarana (= Katarina?)! 0 du schönes Schaf, Geber des Fleisches, Träger der Wurst! Jetzt laßt uns nehmen!“ Als solches erinnert das K.-Fest an die -> Stieropfer in GrenzKarelien und die Schafbockopfer in Ingermanland. Aus dem Jahre 1670 stammt eine Nachricht über an K. abgehaltene Schmausereien, bei denen Schafe geschlachtet wurden, und an denen früher auch Priester teilgenommen haben sollen. 5. In Südost-Häme und in Ost-Uusimaa wurde K. am Montag nach dem Michaelstag durch Abbrennen von Feuern auf Bergen und Hügeln gefeiert. Dies geschah in der Nacht und das Fest endete mit einem Wettlauf: der letzte war köyry. Ob es sich hier um ein Relikt irgendeiner Reinigungs- oder Geistervertreibungszeremonie handelt (-> Pellonpekko 4), ist ungewiß.

6. a) M. Haavio hat kürzlich in seinem Werk über kar. Götter die K.-Riten erklärt. Er bemerkt, daß die Bestimmungen, welche die Behandlung des K.-Schlachtviehs betreffen, ziemlich genau den Vorschriften in bezug auf das Neujahrs-Schlachttier, das Oster­ schaf oder die -ziege der Juden entsprechen, von denen Exodus (12, 1 — 11) berichtet. Er zeigt auch, daß die Altpreußen und die Letten ähnliche Sitten kannten. K. wurde in Finnland entweder an Allerheiligen (1. November) oder am Montag nach dem Michaels­ tag Anfang Oktober gefeiert. Die gleiche Duplizität treffen wir bei den germ. Völkern an, die zwei herbstliche Jahreswechsel kannten, am 1. Oktober und am 1. November. Nach Eugen Fehrle 318

Finnen

Kekri

erklärt sich diese Tatsache daraus, daß das Ackerbaujahr und das Viehzuchtjahr zu verschiedenen Zeiten endeten. Älter ist der Jahres­ wechsel der Viehzuchtkultur, der 1. November. Das finn. K. an Allerheiligen ist ebenfalls offensichtlich gerade der Endpunkt des Viehzuchtjahres; Redewendungen wie „an Ostern die Glocke der Kuh um den Hals, an Kekri an den Nagel“ zeigen, daß die Weidezeit des Viehs an K. endete, die Kühe und Schafe wurden in den Winterstall gebracht, und das Herbstschlachten fand statt. Ursprünglich wird jedoch das Fest der Jahreswende in ver­ schiedenen Gegenden zu unterschiedlichen Zeiten begangen worden sein, erst später verknüpfte man diesen Wendepunkt mit einem bestimmten kalendarischen Gedenktag, mit Allerheiligen. Haavio vermutet, daß eine finn.-est. Benennung des Bocks jäärä (jaara, jäär, jaar) mit der Wortfamilie zu verbinden ist, die im Deutschen durch Jahr (urg. j&ra) vertreten ist. Die Bezeichnung hätte ur­ sprünglich „Jahresbock“ bedeutet, der im Herbst als Speise für das Fest der Jahreswende geschlachtet wird.

b) Interessant ist Haavios Theorie darüber, daß zum Programm des K.-Festes das Vortragen der finn. Schlachtmythe, des das Schlachten des Großen Stieres oder Schweines beschreibenden Ge­ dichtes, gehört habe (-> Stieropfer 2). Das Gedicht berichtet, wie in Finnland ein maßlos großer Stier (oder ein Schwein) heranwuchs, den zu schlachten ein kleiner, drei Daumen langer Mann aus dem Meere entstieg (-> Weltbild 6). Der Schlächter, auch Schwarzer Mann genannt, schlägt mit einem knöchernen Beil dem Stier den Schädel ein. Von dem geschlachteten Tier erhält man sieben Boote Blut, hundert Klafter Wurst, tausend Pud Fleisch und sechs Liespfund Fett. Die Schweine-Version des Gedichtes endet anders: mehrere Götter kommen, um das riesengroße Schwein zu schlachten (-> Pajainen); als das Schwein seine Ohren be­ wegt, erschrecken sie jedoch und fliehen auf die Bäume. Das Ge­ dicht hat sich lange erhalten und ist in zahlreichen Varianten auf­ gezeichnet worden, aber Angaben über seine vermutlich rituelle Verwendung gibt es äußerst wenige. Das Gedicht vom Großen Stier wurde in Estland beim Erntefest gesungen. Die Waldfinnen in Värmland wiederum trugen das Gedicht des Großen Schweines vor, wenn sie der Sau ihre Ferkel Wegnahmen. Aus Russisch-Karelien stammt eine Nachricht aus dem Jahre 1881, wonach das Gedicht vom Großen Stier ein besonderes K.-Lied war, das an diesem Fest der Jahreswende vorgetragen wurde. Von anderwärts ist bekannt, daß an K. nicht immer ein Schaf geschlachtet wurde, sondern mit­ unter auch eine Kuh, ein Stier oder ein Schwein. Das Jahres319

Klagelieder

Finnen

anfangsfest wurde in einigen Gegenden „Stier-Schmaus“ genannt. Aus alledem folgert Haavio, daß das Gedicht vom Schlachten eines großen Stieres oder Schweines die die K.-Riten begrün­ dende Mythe gewesen ist. Wenn wir bedenken, daß viele Völker gerade in den Festen der Jahreswende kosmogonische Schlacht­ mythen vortrugen, erscheint Haavios Annahme beachtenswert. In seiner Beweisführung zieht Haavio die zahlreichen Schlachtmythen von Naturvölkern und alten Hochkulturen heran und stellt fest, daß die finn. Mythenversion zunächst auf den Mithras-Mythos zurückzuführen ist, daß aber auch der assyrische Labbu-Mythos zahlreiche Motive enthält, die in dem aus einzelnen Fragmenten rekonstruierten Mithras-Mythos nicht erwähnt werden, die aber in der finn. Sehlachtmythe anzutreffen sind. Haavio folgert, daß eine Version des Mithras-Mythos den Finnen durch Vermittlung der Germanen schon in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung bekannt wurde. Auf Grund dieser Version wurde dann der Mythos vom Schlachten des Großen Stieres verfaßt. HKar, 17—78; Varonen, 135—189; A. Rytkönen, Kekriä kiertämässä (Hel­ sinki 1934); K. Vilkuna, Vuotuinen ajantieto (Helsinki 1950), 288—292. Ackerbauriten; Feste; Kultmahlzeiten; Opferbräuche. -> Ung. Regö.

Klagelieder -> Ahnenkult lb, 2 b, c; JenseitsVorstellungen 2a.

Knochen -> Ahnenkult Í; Bärenkult 2; Heiligtümer 2; Kekri 2; Stieropfer 2; Wassergeist 2. -> Germ. Utgard-Loki.

Köndös. 1. Für den rätselhaftesten Götternamen in Agrícolas Götter­ liste hat man Köndös gehalten (-> Götterverzeichnis): Köndös / Huchtat ia Pellot teki ¡quin beiden Epeuskonsnäki, „Köndösbesäte die Schwenden und die Äcker, wie ihr Aberglaube meinte“. Die Rätselhaftigkeit war jedoch ein wenig vermindert, als gezeigt wurde, daß das Verb tehdä in diesem Zusammenhang nicht „machen, zube­ reiten“, sondern „säen“ bedeutet. Es handelt sich also um den GW der Saat (-> Sämpsä 2 b). Unmittelbar nach Erwähnung des K. fährt Agrícola fort: „Und wenn im Frühjahr der Acker bestellt wurde, trank man den Becher desUkko . . .“ Die Schilderung zielt auf das Saatfest im Frühjahr (-> Ukon vakat), und einige Forscher vermu­ ten auch, daß die Aufeinanderfolge dieser Angaben kein Zufall ist, sondern daß der Glaube an den K.-Säer und das Begehen des Festes des Ukko sich in jener Gegend Kareliens eng verbunden haben, aus deren Überlieferung Agrícola seine Angabe erhielt. Am umfas­ sendsten hat Martti Haavio diese Auffassung begründet, der in K. den Heiligen Urbanus, den u. a. in Deutschland und Ost-Finnland

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Finnen

Eöndös

bekannten Heiligen des Sommeranfangstages (25. Mai), sieht (-> Christliche Einflüsse). Schon E. N. Setälä hatte die Möglichkeit, Köndös mit dem finn. Wort köynnös „Ranke“ (dial. kyönnös, könnös) zusammenzustellen, erwähnt und die Vermutung geäußert, daß K. das personifizierte Getreide bedeute. Haavio verwirft Setäläs Theorie sonst, hält aber die Etym. für treffend. Das Attribut des Heiligen Urbanus ist nämlich eine Weinrebe, und in Finnland ist das Attribut eines Heiligen oft zum Epitheton seines Namens geworden. Nach Haavios Annahme hätte man also vom KöynnösUrbanus gesprochen, später wäre der Name auf die bloße Anfangs­ komponente, das Epitheton des Heiligen, verkürzt worden. 2. Sein Attribut hat der Heilige Urbanus, wie man weiß, von Dionysos geerbt; in vielen Städten Griechenlands und Roms wurde im Frühjahr das Fest rd daund Aiovvoia, lat. Urbana begangen. Dionysische Feste wurden später u. a. im Rheintal als Trinkgelage am Tage des Heiligen Urbanus fortgesetzt. In Südeuropa war der Heilige Urbanus der Weinpatron, weiter nördlich nahm er die Funktion des Getreide- und besonders des Saatpatrons an. In Deutschland erhielt er den Namen Hirsemann; außer Hirse wurden an seinem Tage auch Spätgerste, Leinen und Hanf gesät und Bohnen gesteckt. In Estland war der Tag des Urbanus für die Leinsaat wichtig. In Schweden war der Tag der letzte Saattag des Frühjahrsgetreides; in einem Bilderkalender sieht man an dieser Stelle den Samen ausstreuenden Urbanus. In Finnland sagt man „Urpo (Urbanus) drückt die Hand des Säers zu“; der Tag ist die letzte Saatmöglichkeit für Hafer und Gerste: „Was bis Urpo nicht gesät ist, das zerstört der Nachtfrost.“

3. Nach Haavio konnte K. (Urbanus) in Karelien infolge jener katholi­ schen Überlieferung bekannt werden, deren Ausgangspunkt Deutsch­ land, genauer gesagt das Bistum Bremen, ist. (->■ Hittavainen.) Dar­ auf würde u. a. die Tatsache weisen, daß in Deutschland und OstFinnland der Tag des Sommeranfangs Urbanus ist, während in Schwe­ den und West-Finnland dies der Tag des Heiligen Erich war. Der SäerUrbanus also „besäte die Schwenden und Äcker“, d.h. die Früh­ jahrsbestellung wurde an seinem Tage abgeschlossen. Dann beging man auch das Saatfest, das mit dem Trinken und dem sich Be­ rauschen an das mitteleuropäische Urbanus-Fest erinnert. Hierbei schwoll das Trinken der Gedenkbecher eines Heiligen zu unmäßigen Gelagen an, die ihrem Vorbild, den Festen des Dionysos, nicht viel nachstehen. Das finn. Fest des -> Ukko wurde außer im Zusam­ menhang mit der Aussaat auch später im Sommer, wenn Trocken­ heit dem Getreide drohte, gefeiert (-> Ukon vakat). Der Ukko in 321

Kosmogonie

Finnen

diesen Regenbeschaffungsriten, an den die Gebete gerichtet wurden, braucht nicht unbedingt als Urbanus gedacht zu werden, obwohl, wie Haavio bemerkt, auch das möglich ist (war doch Urbanus auch ein Wetterpatron derselben Art wie z. B. der Heilige Petrus). Regen konnte in verschiedenen Gegenden von verschiedenen Heiligen erbeten werden. Haavios Gedanke erhält dadurch eine gewisse Bestätigung, daß unter der griechisch-katholischen Be­ völkerung mit dem regenspendenden Ukko nachweislich der Heilige Petrus oder Elias gemeint war. Dagegen scheint Haavios Be­ hauptung, im Kult des Ukko mit seinen Regenbitten und Trink­ gelagen könne man die Verehrung des Donnergottes der heid­ nischen Zeit überhaupt nicht bemerken, zu kategorisch, wenn man bedenkt, daß u. a. die Esten, Letten und Litauer dem Donner­ gott (-> Lit. Perkunas) Schlachtvieh opferten und ihn um Regen und Getreidewachstum baten. Alle derartigen Kulte kann man keinesfalls als rein christlichen Ursprungs erklären. Am wahr­ scheinlichsten ist, daß christliche Züge in einen schon vorhan­ denen Kult hineinkamen und ihn nur modifizierten.

HKar, 129—159; E. N. Setälä, Beiträge zur finnisch-ugrischen Wortkunde, in: FUF 13 (Helsinki 1913), 310—312; Uno Holmberg-Harva, Agricola ja Porthanin aikaa varhaisemmat suomalaisten jumalain luettelot, in: KV 10 (Porvoo 1930), 92—93; Harva, 177; Krohn FM, öl —62; R. E. Nirvi, Köndös Huchtat ia Pellot teki, in: Virittäjä 1940. -> Ackerbauriten; Pajainen; Getreidegottheiten; Saatriten. Kosmogonie. In Finnland sind zwei auf dem Erdball sehr verbreitete Weltschöpfungsmythen bekannt: der Taucher-Mythos und der Welt-Ei-Mythos. In beiden ist der Schauplatz das offene Meer, das Urmeer.

1. Die Idee des Taucher-Mythos ist dualistisch: (-> Eschatologie; Ung. Dualismus) der Sehöpfergott befiehlt seinem Antagonisten, dem Teufel, auf dem Meeresboden nach Erde zu tauchen. Er taucht dreimal, nimmt aber beim letztenmal selbst ein wenig Erde in den Mund. Der Schöpfer reibt die Erde zwischen seinen Händen und bildet daraus die Erdoberfläche. Die gestohlene Erde im Munde des Teufels beginnt aufzuschwellen, der Betrug wird offenbar und der Schöpfer nimmt dem Teufel die Erde und formt daraus die Steine, die Felsen und die Berge. In einigen Varianten tritt der Teufel in Gestalt eines Wasservogels, einer Ente, auf, in anderen wird seine Entstehung so erklärt, daß der Schöpfer im Wasser sein Spiegelbild sieht und ihn aufstehen heißt, wobei daraus der Teufel wird. Zu diesem Mythos, der besonders unter der griechischkatholischen Bevölkerung in Ost-Finnland (-> Christliche Einflüsse)

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Finnen

Kosmogonie

fortgelebt hat, gehören in der Überlieferung noch einige andere ätiologische Ansätze, in denen z. B. die Entstehung der Seen (sie bildeten sich, als der vor dem Teufel fliehende Heiland einen Stock nach sich zog) oder die der kleinen Schädlinge (der Teufel erbat sich ein Stück Erde, der Schöpfer versprach ihm ein Gebiet von der Größe eines Stockknaufes, und aus diesem Loch kamen die Mäuse, Wühlmäuse, Mücken, Fliegen usw.) geschildert wird. Diese Zusätze werden ziemlich jung sein, außerdem haben sie eher den Charakter einer Spottfiktion als den eines echten My­ thos. Der Taucher-Mythos ist bekanntlich die bevorzugte Kosmogonie bei den Völkern Eurasiens und Amerikas. 2. Von südlicheren Kulturverbindungen, und zwar recht frühen, zeugt ein finn.-est. Weltschöpfungsgedicht, wo das Weltall aus dem Ei eines Vogels entsteht. Die kar. Version schildert, wie ein Wasservogel, ein Taucher, eine Gans, eine Ente, eine Eisente oder ein Adler über dem uferlosen offenen Meer schwebt und einen Platz für sein Nest sucht. Im Meer schwimmt -> Väinämöinen, der aüs dem Wasser sein Knie als dichten Rasenhügel erhebt. Der Taucher macht dort ein kupfernes Nest und legt ein goldenes Ei. Während des Brütens glaubt Väinämöinen, sein Knie brenne, bewegt es, und das Ei rollt ins Wasser, wo es zerbricht. Aus der unteren Schale des Eies wird die Erde, aus der oberen der Himmel, aus dem Eiweiß die Sonne, dem Eigelb der Mond und aus den „bunten Teilen“ die Sterne. Väinämöinens Auftreten in dem Gedicht ist ein sekundärer Zug, der entstanden sein wird, als die Zauberergestalt zum Kultur­ heros wurde. Nach der ingl. Version findet die Schwalbe im Meer einen Grashügel oder drei verschiedenfarbige Hügel; sie legt ein Ei oder drei Eier, die der Wind des -> ükko ins Meer rollen läßt. Die Schwalbe läßt einen Rechen machen und sammelt aus den Wellen die Eistücke, aus denen die Gestirne werden. In Estland wiederum sang man von einem Vögelchen, das über der Welt fliegt und sich einen Platz für sein Nest sucht. Es fliegt über den blauen und den roten Strauch, im gelben Strauch macht es sein Nest und beginnt zu brüten. Die Jungen schlüpfen aus: aus dem einen wird die Beere, aus dem anderen der Stein, aus dem dritten der Mond und aus dem vierten die Sonne. — Das finn.-est. Weltschöpfungsgedicht ist der nördlichste Punkt auf dem Verbreitungsgebiet des Weltei-Mythos, das sich par­ allel zum Äquator durch Griechenland, Kleinasien, Tibet, Indien, Indonesien, China, Japan und Ozeanien nach MittelAmerika bis in die Anden erstreckt. Da im Osten sichtlich keine vermittelnden Glieder zu finden sind, ist anzunehmen, daß der 21

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Kosmographie

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Mythos auf westlichem Wege an die Ufer des Finnischen Meer­ busens gelangt ist, möglicherweise mit der verhältnismäßig kurz­ fristigen Expansion des Mithras-Glaubens in den ersten Jahrhunder­ ten unserer Zeitrechnung. Älter ist bei den Finnen vielleicht der Taucher-Mythos, der erst später eine christliche Übertönung (-> Christliche Einflüsse) erhalten hat. Vorläufig ist im einzelnen noch ungeklärt, ob noch ein drittes Grundmotiv zur finn. Kosmogonie gehört hat, als dessen Erinnerung sich die Erwähnung von -> Umarmen, der das Himmelsgewölbe schmiedete und die Sterne schuf, bewahrt hat (-> Anthropogonie). Haavio VES, 45-63, 230; Kir, 245-248; HSmm, 243-247; M. Kuusi, Virolais-suomalainen maailmansyntyruno, in: KV 36 (Helsinki 1956); K. Krohn, Kalevalankysymyksiä II, in: JSFOu 36 (Helsinki 1918), 5—26; Ders., Kalevalastudien V, Väinämöinen, in: FFC 75 (Hamina 1928), 6 — 18. -* Götterverzeichnis 2; Kekri 6b; Zauber.

Kosmographie -> Jenseitsvorstellungen 2; Weltbild.

Krankheit -> Heilkunde; Totenglaube; Weltbild 7. Kratti -> Para. Krieg -> Eschatologie; Götterkampf; Wassergeist 3.

Kullervo -> Anthropogonie 1.

Kultbilder -» Pellonpekko; Sampo; Ukon vakat 3; Waldgeist; Welt­ bild 1.

Kultgebote, -verböte ->Ahnenkult; Bärenkult; Einteilungszeit; Haus­ geist; Heiligtümer; Jenseitsvorstellungen 5; Kekri; Opfer; Para; Totenglaube; Waldgeist; Weltbild 2. -»■ Lit. Kultische Gebete. -> Asl. Kultische Gebete, ->■ Kelt. Kultgebote.

Kultgegenstände —>Eirl.; Heiligtümer; Pellonpekko; Sampo.

Kultmahlzeiten -> Ahnenkult; Bärenkult; Einteilungszeit; Heilig­ tümer; Kekri; Pellonpekko; Stieropfer; Ukon vakat; Waldgeist 1. Kultspiele -* Sämpsä 3, 4; Stieropfer 1. Kulturgeister -> Hausgeist. Kulturheros -* Ilmarinen; Kosmogonie 2; Väinämöinen. Lebensbaum -> Anthropogonie.

Lemminkainen. Im Hinblick auf den in einigen epischen Gedichten erscheinenden L. steht die Forschung vorläufig erst auf halbem 324

Finnen

Lemminkäinen

Wege: Man hat zeigen können, daß diese Gedichte viele inter­ essante Mythenelemente enthalten; welche Schichtung sie jedoch jeweils vertreten, und welche Ideenassoziationen hei ihrer Kombi­ nierung gewirkt haben, ist noch ungeklärt. Erwähnt sei, daß Elias Lönnrot im Kalevala den L. in viele Gedichte gebracht hat, in die er ursprünglich nicht gehört (-> Eint). Ähnlich sind offenbar auch die volkstümlichen Liedersänger und die Neudichter verfahren, indem sie das Gedicht von dem kriegerischen und Frauen verfüh­ renden Kaukamoinen, welches Wikingthemen enthalten soll, mit L. in Verbindung gebracht haben. 1. Den Kern und zugleich wohl auch die älteste Schicht der L.- Dich­ tung bildet die phantasievolle Schilderung seiner Reise zu dem groß­ artigen Gelage von Päivölä „Sonnenheim“ (-> Germ. Götterwoh­ nungen), den „Trinkgelagender Götter“. Die Stube von Sonnenheim ist groß:,, Wenn der Hahn an der Decke kräht, hört man es am Boden nicht, wenn der Hund hinten bellt, hört man es ander Tür nicht. “Bei der Vorbereitung des Festes wurden „einen Monat Steine erhitzt, einen Sommer Wasser gekocht, einen Winter Bier gebraut, ein Ödwald Holz verbrannt“. Zum Gelage wurde alles Volk geladen, auch die Krüppel, Verwachsenen und Blinden, nur L. hatte man nicht ein­ geladen. Er zieht dennoch los, sagt aber — sein Schicksal ahnend — seiner Mutter, aus dem First fließendes Blut werde das Zeichen seines Todes sein. Auf der Fahrt begegnet L. drei Hindernissen (einer Gruft voll heißer Steine, einer vieläugigen Schlange, einer feurigen Stromschnelle, in der eine feurige Birke steht, auf welcher ein feuriger Adler sitzt), überwindet sie aber. Beim Gelage beleidigt man ihn, indem man ihm Schlangenbier anbietet. L. beginnt zu singen und zaubert den Leuten auf dem Fest golden und silbern schimmernde Kleider an, besingt jedoch einen Gast, einen blinden Alten, nicht, welcher in seiner Jugend als Hirt „die Pferde ge­ schändet“, d. h. Sodomie getrieben hat. Der Blinde erzürnt, nimmt „aus der Welle eine Schlange“, einen Schierlingstengel, und stößt ihn dem L. in Herz und Leber. Im Tode klagt L„ daß er eins vergaß, als er seine Mutter nach Heilmitteln fragte, nämlich die Wunde durch Schierling. Der blinde Alte wirft L.’s Leichnam in den Fluß des Totenreiches. Die Mutter bemerkt das aus dem First strömende Blut und geht den Leichnam ihres Sohnes suchen, kommt schließ­ lich an den Fluß des Totenreiches, macht einen großen Rechen, mit dem sie die Körperteile des L. aus dem Fluß fischt. Sie fragt, ob er noch leben werde, doch er antwortet: „Der Gegangene taugt nicht mehr zum Mann, der Versunkene nicht mehr zum männlichen Wesen“, sinkt zurück in den Strom und wird zu einem Fisch. 21*

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Lemminkäinen

Finnen

2. Das Sonnenheim, wo das Gelage der Götter stattfindet, hat man hauptsächlich mit der Begründung als Totenreich erklärt, daß die Hindernisse, die L. auf seiner Reise trifft, sich in den Schilderungen der Reise ins —> Jenseits bei den mittelalterlichen Visionen wieder­ holen. Unter Hinweis auf zahlreiche Einzelheiten hat man das Ge­ dicht von L. häufig mit dem Mythos von -* (Germ.) Balders Tod verglichen. Ersteres setzt sich jedoch aus derart vielen verschiede­ nen Mythenelementen zusammen, daß es nicht als eine direkte Ver­ sion des Balder-Mythos betrachtet werden kann. Das Motiv vom blinden oder sonst fehlerhaften, geringwertigen Töter ist in vielen Zusammenhängen sowohl in der finn. als auch in der ausländischen Überlieferung bekannt (vgl. Herebealds Tod im Beowulf-Epos, Fergus mac Roigs Tod in der ir. Heldensage, Kains Tod in der Lamech-Legende, Christus’ Tod in der Longinus-Legende, Atys’ Tod bei Herodot). Man hat vermutet, daß in diesen Schilderungen des vorhergeahnten Todes eines bedeutenden Individuums, der mit allen Mitteln verhindert werden sollte, ein die Unausweichbarkeit des Todes beschreibender Mythos verborgen sei. Andererseits befanden sich im L.-Gedicht Züge, die auf den sterbenden und auf­ erstehenden Fruchtbarkeitsgott hinweisen (-> Sämpsä 2a; Virankannos), wie die mit dem Osiris-Mythos vergleichbare Stelle vom Herausfischen des Leichnams aus dem Strom. Dem Ende des Ge­ dichtes zufolge ist der Tod des L. jedoch unwiderruflich, eine Auferstehung geschieht nicht. Die Einsicht in die mythische Be­ deutung des vielschichtigen L.-Gedichtes wird weiterhin da­ durch erschwert, daß wir keine Angaben über dessen eventu­ elle Ritusfunktion besitzen. Das Gedicht wurde manchmal im Zusammenhang mit dem Lied von der „Entstehung des Bieres“ und des -> Sämpsä vorgetragen, also Mythen, die zu den Saat- und Erntezeremonien und -festen gehören; seine Ein­ ordnung in die Kategorie der Getreidemythen wäre jedoch beim heutigen Stand der Forschung gewagt. Der Name Lemminkäinen (< lempi „Liebe“) gibt ebenfalls keinen Hinweis. Anscheinend muß man sich damit begnügen, das L.-Gedicht für ein Konglomerat von Mythenelementen zu halten, dessen Leitgedanke so unklar ge­ worden ist, daß es schließlich im Volksmund als märchenhafte Erzählung lebte. Kir, 310—313; U. Harva, Lemminkäisen matka Päivölän pitoihin, in: Virittäjä 1945; K. Krohn, Lemminkäinens Tod Balders Tod, in: FUF 5 (Helsinki 1905); Ders., Kalevalastudien II, Lemminkäinen, in: FFC 67 (Hamina 1926); L. Honko, Sokea tappaja, in: Virittäjä 1959; M. Haavio, Jumaliston juomingit, in: Virittäjä 1959. -> Fruchtbarkeitsmythen; Getreidegottheiten; Saatriten. -> Kelt. Heldenmythos; Unterweltsfahrt. -> Ung. Tetejetten nagy fa.

326

Finnen

Maahiset

Liebe, Gott — Mensch -> Bärenkult 3; Maahiset.

Lieckiö, Liekkiö

Götterverzeichnis; Totenglaube.

Lokalgeister -> Ahnenkult; Friedhofsgeist; Hausgeist; Kekri.

Maahiset. Die Vorstellung von unter der Erde wohnenden, an Men­ schen erinnernden, aber kleinen Wesen gehört zu den verbreitet­ sten auf der Welt (-> Lit. Kaükas; -> Germ. Zwerge; Elben). Bei den europäischen Völkern hat dieser Vorstellungskreis vielfäl­ tig entwickelt gelebt (vgl. dt. „Erdmännchen“, „Unterirdische“,

schwed. underjordiska, jordbyggare, norw. underjordsfolk, isl. huldufolk, est. maa-alused), und wir treffen die gleiche Tradition auch bei den arktischen Völkern, z.B. den Lappen und Samojeden. Die Benennung der entsprechenden Wesen in Finnland lautet maahiset „Erdbewohner“ oder ,,-geister“, maan väki „Erdvolk“ oder maanalaiset „Unterirdische“. 1. Die Sagen über die M. sind häufig die gleichen, die im Zusam­ menhang mit dem ->Haus-, —> Wald- oder —> Wassergeist erzählt werden. Die Vorstellung von M. beruhte jedoch nicht nur auf Sagen, wie aus zahlreichen Erzählungen, die auf persönliche Erfahrung zurückgehen, erhellt sowie daraus, daß die M. an vielen Stellen Gegenstand der Verehrung gewesen sind. Besonders in NordFinnland ist diese Tradition reichhaltig und läßt sich klar als eigene Gruppe unterscheiden. Die Vorstellungen über die M. sind geschich­ tet: Allgemein ist von einem in einer eigenartigen Miniaturwelt lebenden Zwergvolk die Rede, d.h. die M. werden als gesellige Na­ turwesen betrachtet; manchmal tritt der maahinen jedoch auch als Einzelwesen auf, wobei der Begriff dem des eigentlichen Erd­ geistes nahekommt. Die letztgenannte Konzeption ist eine Art Zwischenstufe, wenn man an jene andere denkt, nach der kein besonderes Wesen, sondern die Erde selbst Gegenstand der Ver­ ehrung ist, wie es sich vor allem bei der griechisch-katholischen Bevölkerung verhält. Die M. haben das Aussehen eines Menschen, sind nur „kürzer und stärker“ und die Zehen des einen Fußes sind nach vorn, die des anderen nach hinten gerichtet. Die alten weib­ lichen M. sind äußerst häßlich, aber ihre Töchter sind schön, blond und rotwangig. Die M. wohnen in Bergen, Hügeln, Wäldern und Einödseen; in Lappland erzählt man von Seen mit zwei Gründen, wo am Ufer des unteren die Wohnungen der M. liegen. Sie besitzen schönes Vieh; die Kuh eines M. kann mitunter in den Besitz eines Menschen geraten und bringt Glück und Reichtum mit sich. Die Beziehungen der M. zu den Menschen sind vielfältig: Da sie Sauberkeit und Ordnung lieben, sind sie auch Menschen mit

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Maahlset

Finnen

guten Sitten wohlgesonnen, sie warnen im voraus vor Unglücks­ fällen und sorgen besonders für das Gedeihen des Viehs. Der Mann, der die Tochter eines M. zur Frau bekommt (->Asl. Wassermann), ist wegen der vielen Mitgift zu beneiden. Die M. bewirten einen Menschen, der zu ihnen zu Gast kommt, ausgezeichnet; aber im Genuß der Speisen verbirgt sich eine Gefahr: der Mensch kann nicht mehr zurückkehren oder muß bei seiner Rückkehr feststellen, daß ein Tag unter der Erde so lang wie 50 Jahre über der Erde ist. Die M. können auch feindselig eingestellt sein: sie rauben oder tauschen ein Kind (->Asl. Mittagsfrau; Vila) oder lassen eine Kuh sich im Walde verirren. Wer in der Gewalt der M. gerät, bemerkt, daß sich im Walde alles verdreht hat; will er in eine bestimmte Richtung, bewegt er sich doch in der entgegengesetzten; um den Weg zu finden, muß er seine Jacke umdrehen und verkehrt zuknöpfen. 2. Auch sonst ist die Welt der M. verkehrt, mitunter heißt es, „sie laufen, die Füße unseren Füßen entgegengesetzt“. Wenn wir weiterhin berücksichtigen, daß der Weg zu den M. durch Seen und tiefe Quellen führt, erscheint die Theorie von Uno Harva zutreffend, daß ein derartiges Denken auf dem Spiegelbild im Wasser beruht. Die M. haben ein enges Verhältnis zu den Ameisen, deren Gänge sind ihre Pfade. Andere Erscheinungsformen (-> Para 2) der M. waren der Frosch, die Eidechse, das Hermelin, das Wiesel, die Katze, die Spitzmaus und der Dachs. Zuweilen tritt der Gedanke zutage, daß die M. ehemalige Bewohner des Landes sind; in NordFinnland werden sie als Lappen geschildert. Auf jeden Fall gehört im Naturzustand befindliches Land diesen geheimnisvollen kleinen Wesen: Braucht der Mensch einen Ort für sein Haus, muß er das Land entweder kaufen, indem er Silbergeld auf die Erde wirft, oder die Besitznahme durch Anzünden eines Feuers vollziehen (-> Haus­ geist 1). Ein im Walde übernachtender Wanderer muß sich davor hüten, auf die Pfade der M. zu geraten, auch dann ist ein Opfer not­ wendig ; wer das Lösegeld nicht zahlt, den schrecken die M. aus dem Schlaf in die Flucht. An -> heiligen Bäumen oder Steinen (-> Heilig­ tümer) wurden den M. (oder dem Erdgeist) ebenfalls Opfer gebracht, u.a. -> Erstlingsgaben von Milch, Korn, Beeren und vor allem vom Blut der Schlacht- und Beutetiere. Der Kult des Erdgeistes kommt der Totenverehrung also recht nahe (-> Ahnenkult; Jenseitsvor­ stellungen; Totenglaube). So vermutet Uno Harva auch — und schließt sich damit der Auffassung von Kaarle Krohn an —, daß die M. auf die Totenwesen zurückzuführen sind. Er weist auf die alten Erdgeistvorstellungen der Lappen hin, wo die Welt der M. als eine Gegend in der Art des Totenreiches erscheint, von der die 328

Nyrckes

Finnen

Lappen glauben, sie kämen auch selbst nach ihrem Ausscheiden aus dem Leben dorthin. Harva, 263—319; Krohn Sru, 67—71; HSmm, 341—344. -> Opferbräuche; Zauber. -> Lit. Erdgottheiten. -* Kelt. Erde. -» Germ. Erde.

Mana —> Totenglaube; Ukko. Maskenzüge -> Einteilungszeit 5; Kekri 2.

Meer -> Anthropogonie; Kosmogonie; Sampo; Sämpsä 2 c; Weltbild 4.

Meeresslrudel, -nabel -> Weltbild. Meerungeheuer -> Wassergeist 3. Metsähinen -> Waldgeist. Milchstraße -> Weltbild 4.

Mond -> Götterverzeichnis; Kosmogonie. -* Lit. Menülis. -> Germ. Mond.

Morgenröte -> Sampo. Mühlengeist -* Hausgeist.

Nabel der Welt -* Sampo; Virankannos; Weltbild 1. Naturgeister -* Hausgeist; Maahiset; Waldgeist.

Nebel(frau) -> Weltbild 7. Netzhüttengeist -> Hausgeist.

Neujahrsfest

Kekri.

Nixen -> Wassergeist. Nyrckes. Nach Michael Agricola wandten sich die kar. Jäger bei der Eichhörnchenjagd an ein Wesen namens Nyrckes (-> Götterver­ zeichnis) : Nyrckes / Orauat annoi Metzast „Nyrckes gab die Eich­ hörnchen aus dem Walde“. In den ungefähr dreihundert Jahre spä­ ter, Mitte des 19. Jahrhs. aufgezeichneten karelischen Jägerzauber­

sprüchen sind Verse enthalten, in denen dieses Wesen angesprochen wird und es heißt, daß Nyrkkis (Nyrkkiö, Nyrkytär, Nylkys} das Weib Tapios, des Königs des Waldes (-> Waldgeist), ist. Das weibliche Geschlecht von N. dürfte das Ergebnis einer späteren Formulierung sein, denn einige Varianten stellen Nyyrikki als Tapios Sohn vor. Eine interessante Nachricht enthalten die Verse eines Bärenjägerzauberspruches; „Komm jetzt, Nyrkys, abhäuten, Tapio,

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Okkupation

Finnen

Haut machen!“ Der Waldherr wird also gebeten, das Beutetier, in diesem Falle den eben erlegten Bären, abzuhäuten. — Im ganzen ist die Überlieferung von N. äußerst gering, und die Forscher hatten einige Schwierigkeiten bei der Erklärung des Ursprunges jenes ge­ heimnisvollen Spenders von Wildbret. Kürzlich hat Martti Haavio seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache gewandt, daß N. als Enthäuter auftritt. Er vermutet, daß es sich um den auch in Finnland bekanntgewordenen Heiligen Bartholomäus handelt (-> Christliche Einflüsse), welcher der Legende nach getötet wurde, indem man ihm die Haut abzog. In der Ikonographie hat er das Attribut Fell­ messer. In den verschiedenen Gegenden Europas, auch in Finnland, wurde der Heilige Bartholomäus zum Schutzheiligen des Schlacht­ tages. Insonderheit wird erwähnt, daß an seinem Tage (24. August) die Böcke zu schlachten sind. Außer in dem oben zitierten Bären­ jägerzauberspruch treffen wir auch in Zauberformeln, in denen finn. Vogelfänger, Rentier- und Eichhornjäger um Beute bitten, Namensformen, die nach Haavio aus dem Namen des Bartholomäus abzuleiten sind. Er erklärt den Namen Nyrckus, Nylkys aus dem Epitheton, das auf die Aufgabe des Heiligen weist, nylky (< finn. nylkeä „enthäuten“). HKar, 181—218; Krohn Sru, 189 — 191; Ders. FM, 52—54; Harva, 362—363. -> Hittavainen; Waldgeist; Zauber.

Okkupation -> Friedhofsgeist; Hausgeist. Omen ->Äkräs; Einteilungszeit; Eschatologie; Kekri 3; Rongoteus;

Wassergeist. -> Asl. Pferdeorakel; Weissagung. -> Kelt. Orakel. -> Germ. Mantik.

Opfer (brauche) -> Ahnenkult; Friedhofsgeist; Götterverzeichnis; Hausgeist; Heiligtümer; Jenseitsvorstellungen; Kekri; Maahiset; Para; Pellonpekko; Sämpsä 3.4; Stieropfer; Totenglaube lb; Ukon vakat ö; Waldgeist; Wassergeist. -» Lit. Opfer. -* Asl. Opfer. -> Kelt. Opfer. -> Ung. Opfer. -> Germ. Opfer.

Ortsgeist -> Ahnenkult; Friedhofsgeist; Hausgeist; Heiligtümer. -> Lit. Hausgeist. -» Asl. Hausgeist. -*■ Kelt. Ortgötter.

Paarungsriten -> Heilige Hochzeit.

Päivölä -> Lemminkäinen.

Pajainen. In dem finn. Gedicht, das das Schlachten des großen Stieres oder Schweines beschreibt, werden als Schlächter des riesen­ haften Tieres eine Reihe Götter erwähnt. Die Anzahl und Namen der Götter wechseln, wir finden in den verschiedenen Varianten u.a.

330

Finnen

Pajainen

die Namen ->Ukko, Röönikkä, -> Virokannas, Tuuri und Pajainen (Palvanen). Man hat angenommen, daß das Gedicht im Zusammen­ hang der Jahreswenderiten vorgetragen wurde (-> Kekri 6 b). P. ist also eine finn. Parallele zu jenen Schlachtmythen der Jahres­ beginnfeste, über die Angaben u. a. in den Glaubensvorstellungen alter Hochkulturen vorliegen. Martti Haavio hat kürzlich die Namen der Schlächter-Götter erklärt und u.a. festgestellt, daß Ukko, Tuuri und Pajainen offensichtlich auf die Donnergottheit hindeuten (über die anderen Namen -> Rauni; Virankannos). Schon Uno Harva bemerkte, daß der Name Tuuri auf den skand. (-> Germ.) Thor zurückzuführen sei. Nach Haavio ist Pajainen ins Finn. aus dem Lapp, entlehnt, wo der Donnergott Pajanolmai heißt, wie u.a. Henric Forbus im Jahre 1727 berichtet. Den lapp.Namen findet man auch in den Formen Pajonn, Bajan, Pajan; es sind Ableitungen von dem Wort pad’d’i „oben“. Zacharias Plantin erklärte im Jahre 1731, der Donnergott der Lappen heiße „Doragass, alias Pajonn“. Doragass ist eine entstellte Form des Namens Horagalles (< Thor-karl). Die Lappen redeten also ihren Donner­ gott skand. Ursprungs als den „oberen“, „oben befindlichen“ an. Das Epitheton ist ins Finn. entlehnt worden und hat sich in der Volksdichtung u.a. als Parallelwort für Tuuri erhalten. — Haavio bemerkt weiterhin, daß Ukko, mit welchem Namen die Finnen mehrere Götter anredeten, u. a. den Donnergott, in diesem Zusam­ menhang, da er ein Schwein oder einen Stier mit einem Hammer oder einem ehernen Beil schlachten kommt, offensichtlich gerade der Donnergott ist. Das Gedicht läßt den Ukko aus dem Himmel (-> Weltbild) kommen. Haavio sieht die Gestalt des Schlächter Ukko geschichtet: als Parallelen zu seiner Bewaffnung können das Doppelbeil des griech. Zeus und der Hammer des germ. Thor gelten; andererseits bringt die Rolle des Ukko als Stiertöter den Mithras in Erinnerung. Haavio hält denn auch den finn. Stier­ tötungsmythos für einen Nachfolger des entsprechenden MithrasMythos, an dem fremde Elemente haften geblieben sind. Als der Schlächter-Gott die Züge des Donnergottes erhielt und als dem Mythos der von skand. Seite bekannte, den Hammer schwin­ gende Thor und Röönikkä oder Frö (< —> Germ. Freyr; -> Rauni) hinzugefügt wurden, trat an die Stelle des Stieres des Mithras in der neuen Mythosredaktion der Freyr gewidmete Eber (sonargoltr); einige Varianten sprechen speziell vom Eber, kaltti (< schwed. galt}. Die ältere Stier-Version erhielt sich bis in die jüngere Zeit neben der neueren in den Wohngebieten der Karelier; gerade dort entstand auch, vermutet Haavio, die Eber-Version. —> Stieropfer. HKar, 95 — 102; Harva, 92—93; Krohn Sru, 119. -> Feste.

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Palranen

Finnen

Palvanen -> Pajainen. Para. 1. Das ständige Streben des Viehzüchters, die Ergebnisse seiner Arbeit zu sichern,wird in jenen vielfältigen Verbots- und Verhal­ tungsregeln sichtbar, die sich in der volkstümlichen Haushalts­ führung um die zentralen Werte, das Getreide-, Milch- und Butter­

glück usw., bilden. Ein neuer Gesichtspunkt wird dieser Tätigkeit durch eine Überlieferung eröffnet, in der es sich um die Vermehrung des Glückes mit unredlichen Mitteln handelt, was mit Hilfe eines mythischen Wesens, para, geschieht, welches aus anderen Häusern Getreide und Viehprodukte stiehlt. Die Benennung ist eine Ent­ lehnung aus dem Schwed., wo das entsprechende Wesen bjära „der Tragende“ heißt. Man spricht auch vom viljatonttu,, Getreide geist“ oder ,,-bringer“, dessen Aufgabe speziell im Eortholen des Getreides vom Acker oder aus dem Speicher des Nachbarn be­ steht.

2. Das Sprichwort „Die böse Alte macht den para, die Männer gebären den tonttu“ zeigt, daß man sich den P. als Hilfe für die Bäuerin, den Getreidebringer dagegen für den Bauern vorstellte. Gleichzeitig deutet es auf die allgemeine Auffassung hin, daß der Vermehrer des Glückes von seinem Besitzer selbst verfertigt wird. Der P. wurde z.B. in der Johannisnacht in der Sauna, ohne daß es jemand wußte, gemacht: Man benutzt dazu einen gestohlenen Bandknäuel, Spindeln und Stückchen von Birkenrinde, woraus man ein vierfüßiges Wesen herstellte, indem man immer wiederholte: „Entstehe, para, entstehe, para“ und die Sache nannte, die der P. stehlen sollte (Milch, Sahne, Butter, Getreide, Geld). Der P. war in Gestalt mehrerer Tiere unterwegs (-> Maahiset 2), z.B. einer Katze, eines Hasen, eines Vogels, eines Frosches oder einer Schlange (-> Hausgeist 3), manchmal erschien er als kleine Frau oder kleiner Mann, oder er wurde als eilendes Feuerknäuel gesehen. (-> Asl. Hauskobolde.) Er sog den Kühen des Nachbarn die Milch aus dem Euter und erbrach sie dann ins Butterfaß seines Besitzers. Die P.-Butter war weißer als die gewöhnliche, und es befanden sich Blutstreifen darin. Einen Schleimpilz (Aethalium) hielt das Volk für Butter, die der P. unterwegs verloren hat. Schlug man ihn mit einer Rute, konnte man den Besitzer des P. sehen. Der P. stand in enger Beziehung zu seinem Besitzer, wenn man ihn erwischte und tötete, starb auch der Besitzer im selben Augenblick. Der P. ist also eine Erscheinungsform seines Besitzers. Er wurde jedoch mit­ unter beinahe wie ein -*■ Hausgeist behandelt: in Estland wurde dem Förderer des Reichtums (kratt) Brei und Milch geopfert, und auch in Finnland hat sich eine Erinnerung an eine derartige Praxis 332

Pellervoinen

Finnen

in der Sage vom geschändeten Getreidegeist erhalten, der aus Rache das Haus abbrannte (-> Hausgeist 2), als der Knecht in seine Eßschale entleert hatte. Uno Harva vermutet, die Schlangengestalt des P. erkläre sich aus den Pflegeschlangen, die sich beim Kuhstall aufhalten (-> Hausgeist); das Auftreten des P. als Feuerknäuel dagegen beruhe auf einer bestimmten Naturerscheinung, auf Beob­ achtungen am Kugelblitz. —> Lit. Aitvaras.

3. Zweifellos sind viele Züge des finn. P.-Glaubens international, außer in Skandinavien und Deutschland können Parallelen u.a. bei den Esten (kratt, tulutooja), den Wotjaken (nulliskis), den Klein­ russen (sporiS), den Polen (skrzatek; -> Asl. Hauskobolde), den Letten (puhkis -> Lit. Pükys), den Armeniern (visap) usw. gefun­ den werden. Wir begnügen uns hier mit der Erwähnung der Vor­ stellung, daß der Getreide-P. „beim Gehen durch das Getreide eine schmale Gasse mäht, von der er das Getreide mitnimmt“. Das gleiche tut der dt. Getreidebringer Bilwis. Man vermutete, daß diese geheimnisvolle schmale Gasse in Wirklichkeit die Spur eines Kugelblitzes sei. Zum P.-Glauben gehört auch die Vorstellung von einem kleinen, in einer Schachtel aufbewahrten Ding, das seinem Besitzer Geld oder anderen Reichtum bringt. Man glaubte, beson­ ders die Freimaurer besäßen derartige Wesen, deren Benennung piritys (< lat. Spiritus) zeigt, daß dieses uralte, u.a. aus Sagen be­ kannte Motiv durch die Vermittlung des P.-Glaubens, der vor­ nehmlich im Mittelalter blühte, nach Finnland gekommen ist. Die finn. Vorstellungen von den Wohlstandsmehrern spiegeln speziell die Auffassung dieser Zeit wider, wie anhand von Wandmalereien in Kirchen festgestellt werden kann. Im älteren Geisterglauben hatten sie kaum eine so zentrale Stellung inne. In seinem -> Götter­ verzeichnis hat Michael Agricola auch den Wohlstandsmehrer unter die Hämeer Götter aufgenommen: Cratti / murhen piti Tauarast, „Kratti sorgte für das Eigentum“. Die Benennung kratti ist in Finnland sehr selten (wird mitunter als Name für das einen in der Erde vergrabenen Schatz bewachende Wesen erwähnt), in Estland dagegen ist sie die häufigste Bezeichnung des Wohlstandsmehrers (< schwed. skratte „Kobold“). U. Holmberg-Harva, Para, in: AAA B7 (Turku 1928); Harva, 426 —450; SuomK, 297—344; HSmm, 358—361; Krohn Sru, 96—99. -> Getreide­ gottheiten; Opferbräuche. -> Lit. Haushaltgötter; Kaükas; Pükys; Zaltys.

Paradies -> Jenseitsvorstellungen; Lemminkäinen; Weltbild.

Pellervoinen

Sämpsä.

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Pellonpekko

Finnen

Pellonpekko. 1. In Michael Agricolas Götterliste wird unter den kar. Göttern P. erwähnt (-> Götterverzeichnis) Pellonpecko / Ohran casuon soi, „Pellonpecko gab den Wuchs der Gerste“. Ende des 16. Jahrhs. dichtete Sigfrid Aronus Forsius ein lat. Gedicht über die alten finn. Götter und verwendete Agricolas Götterverzeichnis als Quelle. Forsius gibt in diesem Gedicht weitere Nachrichten über P.: Hordea Pellpeckus cultis producit in arvis, Zythifer et genti creditur esse Deus. Nach den ältesten Quellen läßt der P. also die Gerste auf bebauten Feldern wachsen und gibt dem Volk ein berauschendes Ge­ tränk, das Bier. Der erste Teil des Namens P. ist das finn. Wort petto „Feld, Acker“ ( Zauberspruch, der bei der Hei­ lung des Schmerzes, der durch eine in die Haut oder ins Auge ge­ ratene Granne verursacht wird, verwendet wurde (->Heilsprüche). In Grenz-Karelien ist ferner ein Gedicht bekannt, das die Ent­ stehung der Gerste beschreibt. Die Hauptperson darin ist Pekka (Pikka, Pikki), der „als Kleiner“ schwendet, aber eine Birke als Ruheplatz für die Vögel stehen läßt. —> Väinämöinen schlägt Feuer, und die Winde schwenden das Land. Der Glückalte sät Gerste, die reichlich wächst, mit sechskantigen und dreiknotigen Ähren. Pekka läßt die Witwen das Getreide mähen, die Bräutigame das Getreide binden und bereitet aus einem Teil der Ernte Malz und kocht daraus das Festbier. Dieses Gedicht wurde gemeinsam mit einem anderen, die Entstehung des Bieres beschreibenden Lied („Das Bier des Osmonen“) gesungen. Sowohl in West- als auch in Ost-Finnland ist die Sitte bekannt, die Milch eines schwarzen Schafes auf den Gerstenaeker als Opfer für Pekko zu gießen, wenn das Getreide zu ver­ dorren droht. Pekko hielt man außer für den Beschützer der Gerste auch für deren Verderber: daß nicht alle Samen aufkeimten, 334

Finnen

Pellonpekko

erklärte man, indem man sagte, Pekko habe die aufsprießende Saat gegessen. Dies versuchte man zu verhindern, indem man ein Schneide­ werkzeug, ein Messer oder ein Beil, in das Getreidefeld legte. 3. Mit dem finn. P. in Verbindung steht der Peko der est. Setukesen, der „Getreidegott“, dessen kleines Wachsbild in Gestalt eines Kindes in der Getreidekiste aufbewahrt wird. Zur Gruppe der Verehrer des Peko gehören 20—30 Männer, die sich im Früh­ jahr und im Herbst auf dem Hof versammeln, in dessen Getreide­ speicher die Wachspuppe gerade aufbewahrt wird. Die Fenster der Stube werden verdeckt, eine Harz- oder Teerkerze wird angezündet, Peko wird aus dem Speicher geholt und auf den mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch in der Mitte des Raumes gelegt. Nach Genuß des gemeinsam beschafften Essen und Trinkens gehen die Teilnehmer des Festes neunmal um Peko herum und sin­ gen: „Peko, guter Gott, weide unseren Hafer, hüte unsere Pferde, beschütze unser Getreide.“ Danach wird ein neuer Peko-Priester, der Aufbewahrer der Wachspuppe, für die nächste Periode gewählt. Dabei wird das folgende System benutzt: Die Mitglieder der PekoGruppe springen über einen Zaun und wer die erste blutige Wunde erhält, nimmt die Wachspuppe mit in seinen Speicher. In Ost-Finn­ land hat man ein Überbleibsel der erwähnten Sitte in einem Kinder­ spiel gefunden, in welchem die Kinder um die Wette über einen Zaun laufen und dem letzten zurufen: „Zaunalte, pellon pekko, Steven des Bootes von Viipuri!“ Die Peko-Riten erinnern stark an die entsprechenden Zeremonien der Mordwinen und Russen, in denen Statol, eine große Wachskerze, das Symbol des Kultes ist. Die Kerze wird reihum auf den Höfen, die zur Kultgruppe gehören, aufbewahrt und hat eine zentrale Stellung bei den Trinkgelagen, die am Tage nach Pfingsten veranstaltet werden, bei denen sie u.a. um den Getreidewuchs und um das Gedeihen des Viehes gebeten wird. -> Lit. Curche; Rigi) böba.

4. Einige Forscher (Magnus Olsen, Nils Lid u. a.) haben den Pellonpekko mit dem in Lokasenna auftretenden Wesen (peHo < *beggwu > bygg „Gerste“) zusammengestellt. Nachdem sich die Etym. als unhaltbar gezeigt hat, ist der Gedanke jedoch aufgegeben worden. Uno Harva vermutete im Jahre 1948, der finn. Pekko hätte ursprünglich die Gerste selbst sowie die personi­ fizierte Gerste, den Gerstengeist bedeutet. In eine ganz neue Rich­ tung zielte Kaarle Krohn im Jahre 1926 mit seiner Bemerkung, daß der P. offensichtlich auf die römisch-katholische Heiligentradition des Mittelalters zurückzuführen sei (-> Christliche Einflüsse) und den Patron des Ackerbaues, den Heiligen Petrus, darstelle, dessen

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Fellonpekko

Finnen

Name in der finn. Tradition nachweislich Pekka geworden ist. Die Beweisführung Krohns blieb jedoch sehr kurz und lückenhaft. Martti Haavio hat kürzlich das Problem von P. weitgehend unter­ sucht. Nach ihm ist der finn. undest. Pekko-Kult eine Abzweigung jener Eröffnungsfeste des Frühjahres, die innerhalb der römischkatholischen Kirche des frühen Mittelalters an den Tag des Petrus Cathedratus (22. Februar) gebunden waren Feste). Diese ur­ sprünglich heidnischen Feierlichkeiten haben ihr Vorbild in den röm. caristia- und februatio-Festen, die zur gleichen Zeit begangen wur­ den. Zu den Zeremonien gehörten u.a. das Verbrennen von Fackeln und gemeinsame Trinkgelage (-> Kekri 5). Zu Beginn wurden mit den Fackeln Vertreibungs- und Reinigungszeremonien vollzogen ( = februatio), später wurde das Verbrennen der Fackeln und deren Verwerfen als Zeichen des Winterendes angesehen: Beleuch­ tungsmittel wurden nicht mehr benötigt. In Friesland besaß die Frühjahrseröffnungsfeier am Tage des Petrus Cathedratus, des Schutzpatrons von Bremen und Hamburg, eine hohe Rangstellung. In Kreisen der Kirche hieß das Fest Festum St. Petri epularum; der volkstümliche Name des Festes lautete jedoch Beckenbrennen (Beekenbrennen, Biiken). Der Name weist auf die Festfackeln (fries. pek „Fachei“, urspr. „Binsenmark“). Als die Friesen ihre Bekehrungs- und Handelsfahrten nach Norden ausdehnten, wurde ihr Tag des Frühlingsbeginnes in Skandinavien, Finnland und Est­ land bekannt. Hierauf weisen u.a. einige kalendarische Redens­ arten : Der Heilige Petrus sticht mit seinem Stab ein Loch ins Eis, oder er wirft einen heißen Stein ins Wasser. Letztere Redensart erklärt Haavio aus einer alten Bierbrauweise: das Bier wurde erhitzt, indem man glühende Steine hineintat. Diese Redensart und die anfangs erwähnte finn. Bierentstehungsmythe weisen also auf die Zubereitung des Festbieres am Tage des Petrus. Der Zweck der Trinkgelage in Finnland war nach Haavio der gleiche wie bei den in einem Beschluß der Kirchenkonferenz von Tours im Jahre 567 erwähnten Festlichkeiten des Petrus Cathedratus, die man beging, um ein gutes Saatglück zu erzielen. Oder wie Michael Agricola berichtet, „Pellonpekko gab den Wuchs der Gerste.“ Den fries. Ursprung der Sitte begründet Haavio u.a. etym.: finn. Pekko und est. Peko, das ursprünglich Wachskerze bedeutet haben wird, sind nach ihm Ableitungen aus dem fries. Wort pek „Fackel“. HKar, 103—127; Harva, 189-208; Krohn Sru, 134-136; Ders. FM, 56-57; M. J. Eisen, Peko, in: SGEG 1934 (Tartu); N. Lid, Jolesveinar og grederikdomsgudar (Oslo 1933), 131; Ders., Gudar of gudedyrkning, in: NK26 (Oslo 1942), 107 — 109. Ackerbauriten; Kultmahlzeiten; Opferbräuche. -> Kelt. Bier; Feste.

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Bauni

Finnen

Pferdeursprungsmythos -> Rongoteus. Pflanzen ->Äkräs; Ilmarinen; Sämpsä; Virankannos.

Pohjola -> Sampo; Weltbild 2.

Polarstern -> Sampo 2; Weltbild 1.

Pygmäen

Weltbild.

Rache der Götter -> Glück; Hausgeist; Heiligtümer; Maahiset; Para2;

Totenglaube 2 und 3. Rachkoi, Rahko -> Götterverzeichnis. Rauni. 1. Die Verse in Michael Agricolas Götterliste (-> Götterver­ zeichnis) Quin Rauni Vkon Naini härsky / ialosti Wkoi Pohiasti pärsky. Se sis annoi llman ia Wdhen Tulon sind in einem Maße rätselhaft, daß ihre Übersetzung den frühen Bearbeitern und spä­ teren Erforschern des Götterverzeichnisses große Schwierigkeiten bereitet hat. Eine sehr freie Übertragung fertigte Sigfrid Aronus Forsius Ende des 16. Jahrhs. an: Ucko eiet pluvias, metuendaque fulgura vibrat, Rauni movet ventos, fulmine et ipse minax. Die Über­ setzung der zwei ersten Verse von Chr. Erici Lencqvist aus dem Jahre 1782 (Gum Rauni Uckonis uxor streperet, Valide Ucko prorsus tonabat) wurde von Kaarle Krohn und Uno Harva gebilligt. Man meinte, es handle sich um den Donnergott ükko und seine Frau Rauni. Wenn R. den -> Ukko beschimpfte, begann dieser zu don­ nern. Eine Folge dessen war wiederum (günstiges? stürmisches?) Wetter und eine neue Ernte, wie es im dritten Vers heißt. Petrus Bang verglich bereits im Jahre 1675 den Ukko mit (-> Germ.) Thor und übertrug die betreffende Stelle wie folgt: När Ragnel Thorin­

nan begynte storljuda, bulrade Thor och gaff nyt siuda „Als Ragnel Thorinnan zu lärmen begann, donnerte Thor und ließ aufs neue schäumen“. Woher Bang seine Ragnel nahm, ist nicht bekannt, aber von ihm kam dieser Pseudogott in einige, im 19. Jahrh. ver­ öffentlichte Darstellungen der germ. Mythologie (Finnur Magnüsson, E. H. Meyer). Die spätere Forschung hat den Namen Rauni mit der von Jacob Fellman erwähnten lapp. „Göttin“ Ravdna oder Akko (lapp, raudna „Eberesche“) und dem schwed. Wort rönn (< *rauniR) „Eberesche“ verbinden wollen. E.N. Setälä wies auf den Satz reynir er bjgrg porrs, „die Eberesche ist Thors Rettung“ aus Snorris Edda hin, der von der Rettung Thors aus dem Strome Vimur berichtet, da dieser sich an eine Eberesche klammerte, und behauptet, weil die Eberesche Thors „Hilfe, Rettung“ gewesen sei, lag der Gedanke, die Eberesche sei Thors Weib, nahe. Obwohl 337

Banni

Finnen

man hat beweisen können, daß Fellmans Angaben über Raudna sichtlich unzuverlässig sind, haben viele Forscher (Nils Lid, Uno Harva, Jan de Vries) diese Theorie nicht aufgegeben. Uno Harva wies auf das Rätsel der Schweden Estlands iwe würde raunträ „über der Erde eine Eberesche“, hin, dessen Lösung der Regenbogen ist, und vermutete, daß mit R., der Frau des Donnergottes, der Regen­ bogen gemeint ist. 2. Das Problem dieses finn. Götterpaares ist in Martti Haavios jüngster Untersuchung in ein neues Licht gerückt worden. Er stellte zunächst fest, daß Ukko eine Art Appellativum für die Götter ist, das auch anderen Göttern als dem Donnergott zugeeignet wurde (-> Ukko). Die Verben härskyä und pürskyä, mit denen Agricola die Tätigkeit von Ukko und R. kennzeichnet, bedeuten in finn. Dialekten außer „streiten“ auch „brünstig sein“. Die ursprüngliche Bedeutung dieser Verben ist nach Haavio „schnell Speicheltropfen verspritzen“. Die problematischen Verse übersetzt er wie folgt: „Wenn die Frau des R.-Ukko brünstig ist, wird auch (Rauni-)Ukko sehr brünstig.“ Es geht um den Ieqoq yd/aoQ, die „heilige Hochzeit“, zwischen dem männlichen R.-Gott und seiner (nicht mit Namen genannten) Frau, dessen Ergebnis — wie der dritte Vers sagt — ein günstiges Wetter und eine neue Ernte ist. Angaben über einen tepog yd/zo? gibt es auch an anderer Stelle in der finn. Volksdichtung. In kar. Saatmannsgebeten wendet man sich an zwei Wesen, von denen das eine Weib und das andere Junge genannt wird. Letzterer ist der „Unterste des Feldes“. Beide haben die Aufgabe, die Saat aufkeimen zu lassen. Auf ein Wesen auf dem Grunde des Feldes weist auch das von Agricola verwendete Wort Pohiasti hin, „vom Boden“, das er im Zusammen­ hang mit dem Ukko anführt. In einer Variante heißt es, „der Junge, der unterste des Feldes, wohnte seiner Stiefmutter mitten auf einem Kornhaufen bei.“ In dem Gedicht über die Entstehung der Bäume wohnt -> Sämpsä Pellervoinen seiner Mutter und

seiner Schwester ebenfalls „mitten auf einem Kornhaufen“ bei. Den Mythos vom ieqoq ydyoQ kennt man u.a. aus dem antiken Griechenland: Homer erwähnt, daß Iasion sich mit Demeter (der Erdmutter) auf der Kruste dreimal gepflügter Erde vereinigte. Aus dieser Vereinigung entstand der Gott des Reichtums, Plutos (= Getreidevorrat). Denselben Gedanken spiegeln auch jene Paarungsriten wider, die auf einem Getreidefeld zur größeren Ergiebigkeit der Ernte ausgeübt wurden und über die u.a. Wilhelm Mannhardt berichtet. Die nächste Parallele für den finn. R. und seine Frau ist das skand. Götterpaar Freyr-Freyja. (-> Germ.) Freyr

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Finnen

Rongoteus

herrschte über den Regen und die Sonne und das Wachstum auf der Erde. Von (-4- Germ.) Freyja wiederum wird gesagt, daß sie wie eine Ziege brünstig herumläuft (úti á ngttum, sem meö hgfrum Heiörun fari; Hyndluljód) und daß „holde Götter sie einst in Vereinigung mit ihrem Bruder Ereyr fanden“ (siz pik at braeör pinum siöu bliö regin; Lokasenna). Das Götterpaar Freyr-Preyja ist in der finn. Überlieferung vielleicht über zwei verschiedene Wege bekannt­ geworden. In einem bei den Waldfinnen Värmlands angetroffenen Schlachtmythos des Großen Schweines (-> Pajainen) erscheint der Name Röönikkä. Es handelt sich dabei um eine Deminutivableitung, deren Grundform Haavio in der sdschw. Form des Namens von Freyr, Frö, sucht. In dem Namen Rauni dagegen wird sich eine ältere Form des Namens von Freyr *fraujan (vgl. got. franja „Herr“) widerspiegeln. Haavio vermutet, daß Rauni bereits im Zusammen­ hang mit sehr frühen Kulturbeziehungen aus Mitteleuropa in die finn. Sprache aufgenommen worden ist. ->Kelt. Götterpaare; Kelt. Heilige Hochzeit. HKar, 79—102; E.N. Setälä, Aus dem Gebiet der Lehnbeziehungen, in: FUF 12 (Helsinki 1912), 199—208; Krohn FM, 40—46; Harva, 123—136; de Vries AR II, 128—129. -> Aekerbauriten; Fruchtbarkeitsmythen; Getreide­ gottheiten; Saatriten.

Regenbogen -> Rauni. Regenzauber -> Köndös; Ukon vakat.

Reichtum -> Glück. Reinigungen -> Bärenkult; Kekri 5; Kultgebote; Pellonpekko 4.

Riesen -> Götterverzeichnis. Ringelnatter -> Hausgeist. Roggengott -> Rongoteus; Sämpsä 2.

Rongoteus. Rongoteus / Ruista annoi „Rongoteus gab Roggen“, berich­ tet Michael Agrícola über diesen Gott, den er als kar. bezeichnet (-> Götterverzeichnis). In einigen, hauptsächlich im 19. Jahrh. aufgezeichneten Zaubersprüchen über die Granne hat sich der Name in einer verzerrten Form erhalten: Rungat ej vaan, Runka tei vai, Runkoteivas, Runkateira, Ruukoteera. Außer dem Namen berichten die -> Zauberformeln über dieses Wesen lediglich, daß es in enger Beziehung zum Roggen steht („der Roggen von Runkoteivas“). In einem Gedicht über die Entstehung des Pferdes erscheint ,,Rukotivo des Alten Sohn“ als Gebärer, und eine Variante eines Zauber­ spruches über den Feuerursprung (-> Ilmarinen 3; Väinämöinen) 22

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Röönikkä

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erwähnt den „Roggen von Rukitehvana“. Der wenigen Angaben wegen waren sich die Forscher unklar über die Auslegung des Namens und über die Art des sich hinter ihm verbergenden „Gottes“. Man hat u.a. beweisen können, daß der Name als Familienname bereits im Jahre 1574 in der Form Ronkateus erscheint. Nach einigen Forschern bedeutet der zweite Teil des Namens -teivas, -teus dasselbe Wort wie urg. *teiwaz, aus dem an. tivar „Götter“ abgeleitet ist. Die Zurückführung des ersten Teiles des Namens auf finn. ruis (gen. rukiin) „Roggen“ hat sich nicht als möglich erwiesen, obwohl es, wie Uno Harva bemerkt, die Grundlage der neueren Namensform Ruki-Tehvana „RoggenStefanus“ ist (vgl. schwed. Halmstaffan „Stroh-Stefanus“). Uno Harva ließ damit die Namensfrage auf sich beruhen und wies darauf hin, daß der Wiesenschnarrer im finn. Volksglauben eine bemerkenswerte Beziehung zum Roggen hatte: das Feld, von dem sein Ruf erklingt, bringt eine gute Ernte, und von seinem ersten Ruf an zählt man neun Wochen bis zur Reife der Ernte. (-> Omen.) Zuletzt hat Martti Haavio das Rätsel des R. erörtert. Indem er einige in diesem Zusammenhang bisher nicht erwähnte Zauber­ sprüche analysiert, stellt er fest, daß R. ursprünglich nichts mit dem Roggengetreide im Sommer zu tun habe (-> Sämpsä), vielmehr mit dem um die Weihnachtszeit hervorgeholten Roggenstroh. An den Tagen des Heiligen Stefanus, Theodorus und Theofanes (26.-27. Dezember) wurde u.a. das Saatgetreide geräuchert und gesegnet. Die verschiedenen Varianten des Namen R. leitet Haavio aus jenen Heiligennamen ab (-> Christliche Einflüsse). HKar, 259—274; Krohn Sru, 134; Ders. FM, 59—61; Harva, 221—224. -> Ackerbauriten.

Röönikkä -> Pajainen; Rauni. Rübengott -* Äkräs.

Saatgott -> Köndös; Sämpsä.

Saatriten -> Äkräs; Köndös; Lemminkäinen; Rauni; Sampo; Sämpsä; Ukko; Ukon vakat. Sampo. 1. Das Grundthema im finn. Epos Kalevala (-^ Einl.) ist die Schilderung des Raubes eines geheimnisvollen Gegenstandes, der Reichtum und Erfolg bringt, des Sampo, aus dem sagenhaften Pohjola „Nordheim“ (-> Germ. Götterwohnungen). Volkstümliche Gedichtvarianten berichten, wie -> Väinämöinen bei seinem Ritt auf dem Meer ins Wasser stürzt, als der übelgesinnte Lappe den „Hengst aus Stroh“ unter ihm wegschießt, und wie er an den Strand

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Sampo

von Pohjola treibt (-> Weltbild 2). Die Herrin von Nordheim ver­ spricht Väinämöinen die Heimreise, wenn er den S. schmiedet. Väinämöinen ruft -> Ilmarinen zu Hilfe, der den S. schmiedet und als Belohnung die Tochter von Pohjola erhält. Für Nordheim ist nun eine Zeit des überströmenden Reichtums angebrochen, denn der S. „mahlt“ Getreide, Salz und Geld in solchen Mengen, daß es zum Essen, zum Verkaufen und auch für Festgelage reicht. Väinä­ möinen ergreift der Neid, er geht mit Ilmarinen und Joukahainen den S. holen. Nach spannenden Episoden (die Leute von Nordheim werden eingeschläfert, die Wurzeln des S. werden abgepflügt) gelingt der Raub und das Wunderding wird ins Boot gebracht. Schließlich erwachen die Leute von Pohjola, die Herrin verwandelt sich in einen großen Vogel und nimmt die Verfolgung auf. Es ent­ steht ein Kampf und der S. sinkt ins Meer, wobei er in Stücke zerfällt. Nach einigen Varianten ist aus diesem Grunde „die Erde arm, das Meer reich“, nach anderen wiederum trieben Stücke des S. ans Land und bewirken einen guten Getreidewuchs. 2. Die Handlungseinheit des S.-Zyklus ist ein Problem für sich; Matti Kuusi, der den Variantenreichtum aufs gründlichste er­ läutert hat, bemerkt u.a., daß in erster Linie der von den Sängern des nördlichen Russisch-Kareliens bewahrte umfangreiche S.Zyklus den Namen eines volkstümlichen Epos verdient. Interessant ist die Beobachtung, daß die S.-Gedichte auf diesem Gebiet als Ritengedichte gelebt haben: man sang sie bei der Frühjahrs- und Herbstbestellung. Dabei wurde dem Gedichtzyklus ein Abschluß hinzugefügt, der schildert, wie Väinämöinen den von der Herrin von Nordheim gesandten Frost abwendet und das Gedeihen des Ge­ treides sichert. Wir können also von einem S.-Mythos sprechen und ihn in den Kreis des Fruchtbarkeitsgedankens einschließen. Was ist aber der S. selbst? Zahlreiche Forscher haben ein Jahrhundert lang versucht, das Rätsel zu lösen, man hat fast zwanzig Theorien aufgestellt, von denen die meisten äußerst phantastisch sind, und auch die sachlichsten bleiben in einigen Punkten unbefriedigend. Etym. gehört S. mit dem Wort sammas „Säule“ zusammen. Da­ von ausgehend, daß das in einigen Redewendungen vorkommende maasammas „Erdsäule“ offensichtlich die Weltsäule bedeutet, die gegen den Polarstern, den Himmelsnabel, stützt und das Himmels­ gewölbe trägt und auf der sich der Himmel dreht, hat Uno Harva geschlossen, auch der S., als dessen Parallelwort in den Gedichten kirjokansi „Sternenhimmel“ erscheint, gehöre zu dem gleichen kosmographischen Begriffskreis (-> Germ. Kosmologie). Beim Raub des S. handelt es sich jedoch nach ihm nicht um eine illusorische 22*

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Sämpsä

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Weltsäule, sondern um eine Nachahmung derselben, um ein bei Kultzeremonien verwendetes Bild, worüber uns zumindest von den Lappen (maylmen stytto) und den Altsachsen (irminsül) Nach­ richten überliefert sind. Harva sieht im Hintergrund der Gedichte ein historisches Ereignis, einen Raubzug finn. Krieger in irgend­ ein überseeisches skand. Heiligtum, wo ein Bild von der Welt­ säule gewesen wäre. E. N. Setälä kommt dagegen in seinem um­ fangreichen Werk zu dem Ergebnis, der S. sei speziell der Polar­ stern und der Inhalt der Gedichte rein naturmythisch (-> Ilmarinen schmiedet den Polarstern und übersät den Himmel mit Sternen, um die Tochter von Nordheim, die Morgenröte, zur Frau zu bekom­ men). Wie es sich auch mit diesen Hypothesen verhalten mag, interessant ist die Feststellung, daß einige die Fruchtbarkeit vertretende Gottheiten (skand. [-► Germ.] Freyr oder veraldar gob > lapp, veralden-olmai „Weltenmann“) und Kultgegenstände, welche die Weltensäule darstellen, sichtlich eine enge Beziehung zueinander gehabt haben. War vielleicht auch der S. die Kultsäule einer Gottheit, welche das Wachstum des Getreides förderte? -> Kosmogonie; Weltbild. 3. Leichter, als das Rätsel vom S. zu lösen, läßt sich die Themen­ gattung zeigen, wozu das Gedichtganze, das S.-Epos, gehört. Man kann z. B. auf den Zug der Argonauten hinweisen. Der Verfasser des S.-Epos wird als nächste Quelle jedoch die nord. fornaldarsögur benutzt haben, wo Reisen in ein sagenhaftes nördliches Land geschildert werden (Norbbotn, Trollebotn, Botnar, Skumeheim). Zwei Helden ziehen aus, eine dort gefangene Jungfrau zu befreien oder das goldbunte Ei des Vogels gamr zu holen. Zwischen der Zauberin von Botnar (gygr) und den Räubern werden Kämpfe ausgetragen; es geschieht die Verwandlung in einen fliegenden Drachen usw. Diese sowie einige andere erstaunliche Übereinstimmungen, die Nils Lid angeführt hat, sind für die Erforschung des Ursprungs und der Motivgeschichte des S.-Epos von Bedeutung. U. Holmberg (Harva), Lisiä sammon selityksiin, in: Virittäjä 1918,136; Ders., Sammon ryöstö (Porvoo 1943); E. N. Setälä, Sammon arvoitus (Helsinki 1932); Ders., „Taistelu sammosta“, in: KV 13 (Porvoo 1933); K. Krohn, Kalevalastudien IV, Sampo, in: EFC 72 (Hamina 1927); M. Kuusi, Sampoeepos, in: MSFOu 96 (Helsinki 1949); Kir, 280—294; Haavio VES, 207—213; N. Lid, Kring Kalevala-miljaet, in: Trolldom, Festkrift til Nils Lid (Oslo 1950). -> Ackerbauriten; Fruchtbarkeitsmythen; Getreidegottheiten; Saatriten.

Sämpsä. 1. In Gedichten aus Karelien, Savo und Ingermanland hat sich die Erinnerung an S., eine Art „Vegetationsgott“, den Vertreter der Wachstumsfähigkeit der im Frühjahr erwachenden Pflanzenwelt, bewahrt. In der Volkssprache verstand man unter 342

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Sämpsä

8ämpsä eine zeitig grünende Graspflanze, in Ingermanland u.a. Waldschilf (Scirpus silvaticus), das man den Kühen zu füttern pflegte, wenn es noch kein anderes Gras gab. Man hat das Wort mit dem hochdeutschen „Semse“ verknüpft, mit dem Schilfgewächse bezeichnet werden (See-, Sumpf-, Waldsemse) sowie verschiedene Riedgrasarten (Carex, Juncus, Luzula). „Riedgras“ hat sämpsä in Ingermanland bedeutet; dort und in Finnisch-Karelien sprach man auch von „Sämpsäs Grashügeln“, eine geringschätzige Benennung für ein kleines, unbedeutendes Stück Land und für eine schwer zu mähende Wiese mit widerborstigem Gras. Wie diese Bedeutungs­ elemente sich mit dem Namen des mythischen Wesens S. verbinden lassen, ist nicht ganz klar. In den savo-kar. Gedichtvarianten erhält S. die Epitheta „Junge“ und Pe.llervoine.n-, letzteres ist mit dem Wort für „Feld“ zu verbinden. S. wird also als Junge des Feldes angeredet.

2. a) Die S.-Mythen konzentrieren sich auf drei Motive, dieErwekkung des S. aus demWinterschlaf, die Aussaat des S. und die Hochzeit des S. Ein ingl. Gedicht erzählt, daß Roggen und Hafer nicht wachsen, weil S. untätig im Bett liegt, so daß nur die Beine heraus­ schauen. S. muß also aufgeweckt werden (-> Lemminkäinen 2; Virankannos). Zuerst macht sich der „Winterjunge“ auf, der mit dem Winde fahrend zu S.’s Bett kommt und ihn bittet, er möge aufstehen und kommen, den Roggen wachsen lassen und die Saat­ felder beleben (-> Rongoteus). S. gibt jedoch eine ablehnende Ant­ wort, weil der Winterjunge die Bäume blätterlos, die Gräser gran­ nenlos, die Jungfrauen blutlos und die Rüben krautlos geblasen hat. Nun kommt der „Sommerjunge“ und trägt die gleiche Bitte vor; diesmal willigt S. ein und dankt dem Sommerjungen, indem er sagt, daß dieser an die Bäume Blätter, an die Gräser Grannen usw. geblasen habe. In Hevaa in Ingermanland wurde dieser Mythos als „Lied des -► Ukko“ am Petrustag (29. Juni a. St., „Tag des Ukko“) an einem „eingefriedeten Ort“, in einer Art Heilig­ tum also, vorgetragen, wo „früher der Ukko verehrt wurde, das Ukko-Bier getrunken und das Ukko-Lied gesungen wurde“. Zu diesem Gedicht gehörten dann noch einige Ableitungsverse, in denen der „heilige gnädige Ukko“ gebeten wird, als Gast zu er­ scheinen (-> Ahnenkult; Hausgeist 2; Kekri; Waldgeist; Wasser­ geist 2). Durch sein Motiv paßt der S.-Mythos sehr gut zum Pro­ gramm dieses Festes (-> Feste), das zur Förderung des Getreide­ wuchses veranstaltet wurde (-> Ukon vakat).

b) S. tritt auch als Sämann (-> Köndös) auf: er wird als klein ge­ schildert, und er hat ein Samensäckchen aus dem Fell des Sommer343

Sämpsä

Finnen

eichhörnchens oder aus dem Schwanz eines Wiesels, in dem sich fünf, sieben Körner befinden. S. sät auf Sümpfe Heide, auf Hügel Kiefern, auf Halden Fichten, auf Heiden Wacholder. Diese Tätig­ keit beruht auf dem Ursprungsmythos der Bäume, wo inVarianten auch zahlreiche andere Wesen (u. a. Ukko) als Säer erwähnt werden. Es kam zu einer Kontamination der im Motiv gleichen Gedichte über das Säen des S. und die Entstehung der Bäume. Uno Harva erklärt die Schilderung von dem kleinen Samensäckchen und den darin befindlichen Körnern offensichtlich richtig als ursprüngliches S.-Gedicht und sieht die primäre Beschreibung der Bestellung in den Versen jener Varianten, wo von der „Frühjahrsaussaat“ die Rede ist. S. wäre also ursprünglich ein Sämann, der die Felder bestellt, nicht aber Bäume setzt. Diese Schlußfolgerung wird weiter­ hin dadurch unterstützt, daß im nördlichen Russisch-Karelien bei Beginn der Frühjahrsbestellung ein Gebet gesprochen wurde, in dem man sich an S. wendet und ihn bittet, er möge eine tausendzackige und hundertzweigige Saat auf dem Felde aufgehen lassen. c) Bruchstückhaft sind jene Varianten, die von der heiligen Hoch­ zeit berichten, die S. vor der Saat mit seiner Stiefmütter begeht („Sämpsä, der Junge Pellervoinen, wohnte seiner Stiefmutter mitten auf einem Kornhaufen bei“). Der Mythos vom tegö; yd,««)? ist in Finnland auch in anderem Zusammenhang bekannt (—> Rauni). Wir treffen dasselbe Motiv bei vielen Völkern im Zu­ sammenhang mit Fruchtbarkeitsriten und Gottheiten, welche die Fruchtbarkeit vertreten (vgl. Iasion und Demeter, Germ. Freyr und -> Germ. Freyja). Zu den Fruchtbarkeitsmythen gehört auch die Vorstellung, der Beschützer des Getreides oder der Gott der Fruchtbarkeit halte sich zeitweise (z.B. im Winter) im —> Jenseits auf. So wurde erwiesen, daß der Getreidespeicher und das Toten­ reich in der alten griech. Mythensprache parallele Begriffe waren (das fertige Korn wird in die Erdgrube gebracht = der Gott der Fruchtbarkeit geht ins Totenreich). Es besteht die Möglichkeit, daß man sich unter dem winterlichen Ruheort des S. auch eine dem Jenseits ähnliche ferne Gegend vorstellte; in einigen Varianten wird nämlich geschildert, wie S. von einer fernen Insel im Meer, einer baumlosen Klippe, geholt wird. Die Meinung der Forscher, dies geschehe mit einem Schiff oder Schlitten, beruht teils auf einer unsicheren Rekonstruktion, teils dagegen auf Strophen, die ur­ sprünglich vielleicht nicht zum S.-Gedicht gehörten.

3, Was nun die Winter- und Sommerjungen betrifft, die in der obenerwähnten ingl. Mythenversion den S. abholen, so hat man vermutet, daß ein Zusammenhang mit der bekannten Tradition 344

Finnen

Sämpsä

des europäischen Frühjahrsspiels vorliege. Im Mittelalter wurden im Frühling Turniere veranstaltet, bei denen der Anführer der einen Gruppe Sommer und der der anderen Gruppe Winter hieß. Zu diesen Kampfspielen gehörten auch Lieder, in denen derjenige, welcher den Winter darstellte, sagte, er bringe kalten Wind und Schnee mit sich, während der Vertreter des Sommers wiederum versprach, das Gras auf der Erde und die Blätter an den Bäumen wachsen zu lassen. Der Zweck des Spieles war, den Sieg des Som­ mers über den Winter darzustellen. Ähnliche Wettspiele kannten auch die alt. Völker. Beim Frühlingsfest der Jakuten wurde ein Wettlauf oder ein Wettreiten (-> Stieropfer 1) zwischen zwei, den Winter und den Sommer vertretenden, Personen veranstaltet. Der­ artige Riten sind ein Teil des Programms der Opferfeste; es werden auch Lieder gesungen, in denen der Freude darüber Ausdruck verliehen wird, daß das Gras auf den Wiesen wieder wächst und die Bäume wieder Blätter bekommen. Die Tungusen feiern das Fest „zur Zeit des ersten Grases“ und die Wotjaken, wenn der erste schneefreie Fleck auf der Erde sichtbar wird. Zu den Zeremonien gehören allgemein auch Gebete, in denen um guten Graswuchs gebeten wird. -> Feste. 4. Es ist nicht ganz ausgeschlossen, daß der finn. S.-Gedichtzyklus in irgendwelchen Mythen wurzelt, die im Rahmen von urfinn. Frühjahrsspielen vorgetragen wurden, worauf auch die späte Funk­ tion des ingl. S.-Gedichtes als Lied des Ukko hinweist. Ferner sei erwähnt, daß der S. von seiten der Forscher mit der Rana-neide (Rana-Jungfrau) der Lappen verglichen worden ist, von der man glaubte, sie lasse im Frühjahr das erste Gras für die Rentiere wachsen, und der aus diesem Grunde Opfer dargebracht wurden. Die Bedeutung des Wortes Rana ist etwas unklar, es wird wohl das „Erste im Frühjahr“ bezeichnen (das Wort wurde auch für die ersten Zugvögel und Rentierkälber im Frühling verwendet). Die Parallelbenennung der Göttin, welche das Wachstum im Frühling verkörpert, lautete Bienen, was auf das Wort für Pflanzenblatt zu­ rückgeht und offensichtlich die Vorstellung von den Blättern der ersten Gräser und Kräuter im Frühjahr enthält. Derartige Paralle­ len sind phänomenologisch interessant, obgleich sie allerdings nicht zur Annahme genetischer Zusammenhänge berechtigen. 5. Martti Haavio hat kürzlich eine andersartige phänomenologische Nebeneinanderstellung durchgeführt. Er vergleicht die S.-Tradi­ tionen mit dem antiken Dionysoskult. Der Mythos von der Er­ weckung des S. gehörte in Ingermanland zum Programm des Scheffelfestes (—>Ukon vakat; Köndös); in Griechenland stellten

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Saunageist

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die thiasos- und speira-Gruppen auf ihrem Fest den Mythos von der Erweckung des göttlichen Kindes, Dionysos, dar. Bei beiden Festen labte sich die Kultgruppe an Speise und Trank (Bier bzw. Wein), die aus gemeinsam gesammelten Zutaten bereitet waren, und beiderseits bat man den Gott um besseres Wachstum. Sowohl mit S. wie auch mit Dionysos ist der Mythos von der heiligen Hochzeit verbunden. Diese und die zahlreichen anderen Ent­ sprechungen beruhen nach Haavio nicht unbedingt auf historischen Überheferungskontakten, doch sie zeigen, daß die Traditionen phänomenologisch auf der gleichen Ebene stehen. Beim Vergleich der verschiedenen Redaktionen des Erweckungsliedes von S. kommt Haavio teilweise zu neuen Resultaten: Die ursprünglichen Erwecker seien nicht Winter und Sommer, sondern der Wind, der Wolf, der Hase, der Frühling und der Sommer, bei denen es sich um Wesen handelt, die durch Personifizierung alter Monatsnamen zustande gekommen sind. Das Gedicht bedient sich also kalenda­ rischer Metaphorik, um jenen Zeitabschnitt zu schildern, wo die Wachstumskraft der Erde „schläft“. Der Gesang zeigt die Form des Wiederholungsliedes, welche an sich nicht sehr alt ist (die meisten finnischen Wiederholungslieder dürften auf das Mittelalter zurückgehen), doch ist die Aussage des Mythos, das Erwecken des Wachstumsgottes im Frühjahr, bekanntlich urständig und weit verbreitet. U. Harva, Sämpsä Pellervoinen, in: KV (Porvoo 1946), 25—26; Harva, 170—188; N. Valonen, Sämpsä ja sämpsänmätäs, in: KV (Porvoo 1945), 23—24; K. Krohn, Sampsa Pellervoinen < Njordr, Freyr?, in: FUF 4 (Hel­ sinki 1904); Hers. Sru, 137 — 139; N. Lid, Vegetasjonsgudinne og värplantar, in: Festskrift til J. Qvigstad (Oslo 1928); Hers., Joleband og vegetasjonsguddom, in: Skrifter av Det norske Videnskaps-Akademi i Oslo II, 4 (Oslo 1929), 201-212; de Vries AR II, 205-206. M. Haavio, Heilige Haine in Ingermanland, in: FFC 189 (Helsinki 1963). -* Ackerbauriten; Fruchtbarkeitsmythen; Getreidegottheiten; Opferbräuche; Saatriten.

Saunageist -> Hausgeist. Schaf -> Ahnenkult; Kekri; Opferbräuehe; Pellonpekko; Stieropfer2; Ukon vakat 5. Schamane -> Friedhofsgeist; Väinämöinen.

Scheffel -> Bärenkult; Ukon vakat. Schicksal —> Einteilungszeit.

Schlachtmythos -> Kekri 6b; Pajainen; Rauni 2; Stieropfer; Ukko 4; Virankannos.

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Finnen

Stieropfer

Schlange -> Hausgeist; Umarmen; Jenseitsvorstellungen 2a; Lemminkäinen 1; Para 2; Väinämöinen. Schmied -> Ilmarinen; Sampo; Weltbild 7.

Schöpfungsmythen -> Anthropogonie; Ilmarinen; Kosmogonie, Sam­ po; Väinämöinen; Weltbild.

Schweincopfer -> Kekri 6b; Pajainen; Rauni; Virankannos. Sechswochenfest -> Ahnenkult. Seen -> Kosmogonie 1; Maahiset 1.

Seegeist -> Wassergeist. Seelenvorstellungen -> Jenseitsvorstellungen; Totenglaube.

Sintflut -> Eschatologie. Sonne -> Kosmogonie.

Sonnenheim -> Lemminkäinen. Stallgeist ->■ Hausgeist.

Steine -> Ahnenkult 3; Heiligtümer; Maahiset; Totenglaube 1 b; Ukko.

Sterben eines Gottes -> Eschatologie; Lemminkäinen; Virankannos. Sterne -> Astrale Vorstellungen.

Stieropfer. Unter der Bevölkerung von Grenzkarelien und RussischKarelien sind interessante Spuren von jährlichen, zu Ehren des Heiligen Ilja oder Elias (-> Christliche Einflüsse) dargebrachten Stieropfern angetroffen worden (-> Ukon vakat 5). Am besten hat sich die Erinnerung an diese alte Einrichtung in der Nordostecke des Ladoga, auf der flachen, sandigen Mantsi-Insel bewahrt. Dort wurde zum letzten Mal im Jahre 1892 ein Stieropfer dargebracht. Noch im Jahre 1933 traf Martti Haavio auf der Mantsi-Insel die letzten „Stierpriester“ und andere Greise, die an den Opferzere­ monien teilgenommen hatten und nun das große und denkwürdige sommerliche Geschehen ihrer Jugendzeit, das Stierfest, lebendig schilderten. 1. Nach diesen Angaben wurde das Pest am Sonntag nach dem Tag des Heiligen Ilja (2. Juli) im stattlichen Fichtenhain, der um das tSasouna, das Bethaus des Dorfes Työmpäinen, wuchs, an dem Ufer des Ladoga-Sees gefeiert. Das Pest wurde nicht nur für die Einwohner 347

Stieropfer

Finnen

eines Dorfes veranstaltet, sondern die Teilnehmer kamen in großer Anzahl von den nahen Inseln und auch vom Festland auf der Seite des Olonetz, aus dem Kirchspiel Salmi. Työmpäinen war also das Zentrum eines weiten Opferkreises. Zweck der Vorgänge am Stier­ tag war, das Vieh vor Schaden zu schützen: wenn man das Opfer brachte, so bewahrte der Heilige IIja das Vieh vor Wölfen, Bären und Krankheiten. Zum Opfertier konnte manz.B. auf die Weise kommen, daß jemand für das folgende Fest einen Stier versprach. Wenn einem Bauern eine Kuh starb, so konnte er sagen: „Wenn der Heilige Ilja mich vor weiterem Schaden bewahrt, so opfere ich einen Stier.“ Der versprochene Stier war, wenn er geopfert wurde, zwei- oder drei­ jährig, besonders gepflegt und gemästet und hatte keine Kuh decken dürfen. Hatte jemand auf dem Festland einen Stier ver­ sprochen, wurde dieser, sobald der See zugefroren war, nach Työmpäinen gebracht, wo dann die Dorfbewohner ihn abwechselnd fütterten. Mitunter waren im gleichen Jahr mehrere Stiere ver­ sprochen worden, sogar fünf bis sechs — also mehr als nötig —, manchmal konnte es aber geschehen, daß gar kein Opfertier in Aussicht stand. Dann wurde ein Opfertier durch die Reihenfolge gesichert: Jedes Dorf hatte abwechselnd für ein Tier zu sorgen; zuweilen wurde der Stier mit gemeinsamen Mitteln gekauft. Am Sonnabend, am Vorabend des Stiertages, versammelte sich die Festgemeinschaft. Nach einigen Angaben wurde das Opfertier bereits dann geschlachtet, nach anderen Nachrichten wurde es am Sonntagmorgen an den Opferplatz gebracht, wo das ganze Volk es sah und der Priester es segnete. Vor dem Segnen sagte der Bauer, der den Stier versprochen hatte: „Dieser Stier ist gezüchtet worden, damit das Volk ihn gemeinsam esse, und damit er dem Herren zur Hilfe sei! Der Herr nehme dieses aufgezogene Geschenk an! Dieses ist aus gutem Herzen dem Volk zum Verzehren geschenkt.“ Dann vollzog der „Stierpriester“, der Wächter des tsasouna, im Opfer­ fichtenhain oder auf einem nahen Hof das Schlachten, während die anderen Leute mit dem Priester in die Kirche beten gingen. Die Männer sorgten für das Kochen des Fleisches über einem Feuer auf den Ufersteinen, die Frauen kamen erst eine Weile später und brach­ ten Piroggen und Holzlöffel mit. Die Mahlzeit wurde auf der Wiese aufgetragen und andächtig unter Schweigen verzehrt. Alles mußte aufgegessen werden, blieb etwas übrig, wurde es in den See ge­ schüttet. Am Nachmittag folgte der zweite Teil des Festes, das Wettreiten (-> Sämpsä 3). Man ritt immer paarweise eine Strecke von drei Kilometern, zwischendurch ließ man die Pferde ausruhen, und wieder wurde wettgeritten, bis sich das Tier, das alle anderen Pferde besiegt hatte, herausstellte. Nach dem Reiten folgte eine

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Finnen

Stieropfer

Stille; in dieser Zeit trat ein Bauer hervor und verkündete der Menschenmenge, er verspreche für das Fest im nächsten Jahr einen Stier. 2. Die Tradition berichtet, daß mit dem Schlachten von Stieren Ende des 19. Jahrh. auf Ermahnung des energischen Priesters Leontij hin aufgehört wurde. Zwar wurden auch später entsprechende Feste gefeiert, aber man verkaufte die versprochenen Stiere und gab das Geld dem tSasouna. Über S. am Tage des Ilja liegen Angaben auch aus anderen Kirchspielen Grenzkareliens vor und auch von weiter her, aus Vuokkiniemi im nördlichen Russisch-Karelien und aus Inger­ manland, u.a. aus den Dörfern Järvenperä und Tosna. Im letzt­ erwähnten Ort pflegte man den Stier mit gemeinsamen Mitteln zu kaufen; nach der Mahlzeit warf man den Kopf, die Klauen und die Eingeweide des Stieres ins Wasser. Über diese Behandlung der Reste des Opfertieres haben wir auch aus dem Dorfe Kotko in Ingerman­ land Nachrichten, wo die Eingeweide des Opferschafbocks in den Fluß geworfen wurden. Der gleiche Brauch ist u. a. bei den Mord­ winen bekannt: in Psenevo im Kreise Insari wurden das Herz, die Milz und die Klauen des Schafes, das beim Ernte-Abschlußfest verzehrt wurde, in den Fluß geschüttet; mitunter werden wiederum die —> Knochen des Opfertieres in der Erde vergraben. Ähnliche Regeln galten auch für das finn. Neujahrs-Schlachttier, das KekriSchaf. In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, daß auch ein Stier das Kekri-Schlachttier sein konnte, und daß man ver­ mutet, der finn. Schlachtmythos (-* Pajainen), das Gedicht, in dem das Schlachten des Großen Stieres beschrieben wird, gehöre zum Pro­ gramm der Kekri-Riten (-> Kekri 6b). Auch von den Woten weiß man, daß sie S. veranstalteten. Diese Opfer wurden jedoch nicht überall am Tage des Heiligen Elias dargebracht, sondern in Inger­ manland am Tage des Pietari und Makoffie und in Olonetz am Tage des Valassi. Eine Nachricht aus Estland vom Jahre 1644 berichtet, daß am Flusse Vöhanda jährlich an Himmelfahrt ein Stier geopfert wurde, und daß der Donnerpriester Vihtla Jürgen ein an den Donner gerichtetes Gebet vortrug. Wir wissen, daß der Heilige Elias u. a. in Ingermanland als Donnerheiliger verehrt wurde (-> Ukko; Ukon vakat). 3. Mindestens gibt es bereits aus dem 6. Jahrh. eine Erwähnung über den Donnergott der Slaven, dem Stiere geopfert wurden, und auf dem Balkan wurde der Heilige Elias als Donnerheiliger bis ins 20. Jahrh. verehrt, indem man ihm S. darbrachte (-> Asl. Perun). Es ist klar, daß das kar. Stierfest des Elias in letzter Hand auf eine sl. Sittenüberlieferung zurückgeht, eine Tradition, deren 349

Tapio

Finnen

Wurzeln wiederum in den S. der alten Skythen, Perser und Inder liegen können. Es gibt einen besonderen Beweis dafür, daß das S. der Mantsi-Insel eng mit der Sitte der russ. Bevölkerung der Gouvernements von Olonetz und Wologda, am Tage des Elias einen Stier zu schlachten und zu essen, zusammenhängt. Beide Einrichtungen haben nämlich als Grundlage die gleiche ätiologische Sage. Auf der MantSi-Insel wird erzählt: Früher schwamm jedes Jahr eine Woche vor dem Tag des Ilja ein wildes Rentier vom Fest­ land herüber; es kam zum Bethaus und wurde geschlachtet. In einem Jahr verspätete sich das Rentier jedoch wegen des stür­ mischen Wetters und kam erst an, als die Einwohner von Työmpäinen schon einen Stier genommen und geschlachtet hatten. Das wilde Rentier schwamm wie früher zum Strand, ging zum Stier, beschnüffelte dessen Blut und schwamm dann zum Festland zurück. Danach kam das Rentier nie mehr zurück, sondern statt dessen mußte jedes Jahr ein Stier geschlachtet werden. Die Russen von Olonetz und Wologda berichten: Früher kam immer ein Hirsch aus dem Walde zum Tag des Elias und bot sich als Opfer. Einmal erschien jedoch kein Hirsch; die Bauern nahmen einen Stier und schlachteten ihn. Da lief der Hirsch endlich hervor, aber als er sah, daß er nicht mehr gebraucht wurde, kehrte er in den Wald zurück. Danach kam kein einziger Hirsch mehr als Opfer. Haavio Ef, 49—59; J. Lukkarinen, Inkeriläisten praasnikoista, in: Suomi IV: 11 (Helsinki 1912), 47—53. -> Aekerbauriten; Feste; Kultmahlzeiten; Opferbräuehe. -> Kelt. Stier. -> Ung. Äldomäs.

Tapio -> Waldgeist.

Taucher-Mythos -> Kosmogonie. Teufel -> Christliche Einflüsse; Hittavainen; Jenseitsvorstellungen; Kosmogonie 1; Waldgeist. -> Lit. Teuflische Götter. -> Asl. Teufel. -> Ung. Ördög.

Tiergeister -> Götterverzeichnis; Hittavainen.

Tiergestalt -> Hausgeist 3; Maahiset 2; Para 2; Vögel. -> Lit. Tiergestaltige Götter. ->■ Asl. Tiergestaltige Götter. -> Kelt. Tier­ gestalt der Götter. -> Ung. Tiergestaltige Wesen. -> Germ. Gestaltwechsel.

Todesursprungsmythos -* Lemminkäinen.

Tonttu, Tontu

Hausgeist; Para.

Totemismus -> Bärenkult.

Totengedenktage -»-Ahnenkult; Kekri.

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Finnen

Totenglaube

Totenglaube. 1. Mit dem Aufhören der Atmung entfernt sich etwas aus dem Menschen, das ins Freie gelangen muß. Um dieser unsicht­ baren Substanz den Weg zu bereiten, haben die Finnen im Augen­ blick des Todes den Rauehfang oder das Fenster der Stube ge­ öffnet. In Russisch-Karelien wurden die Dachbretter dreimal auf­ gehoben. Zur Erleichterung des Todeskampfes hat man in NordSavo über dem Kopf des Sterbenden eine Spindel zerbrochen. Kurz vor dem Hinscheiden wurde der Mensch aus dem Bett auf das „Totenstroh“ gelegt, auf den Fußboden unter das offene Rauch­ rohr.

a) Für die Behandlung dieses Strohs ebenso wie auch des Leichen­ waschwassers u. a. gab es zahlreiche Regeln und Verbote, aus denen ersichtlich ist, daß alle Gegenstände, die mit dem Leich­ nam in Berührung gekommen waren, mit einer von ihm aus­ gehenden schädlichen Kraft, kalma, ausgestattet waren. Der Ort, wohin das Leichenwaschwasser geschüttet worden war, mußte ge­ mieden werden, denn der Mensch steckte sich dort leicht mit kalma an und erkrankte. Das Totenstroh mußte an einem einsamen Ort, weit von den Behausungen entfernt, verbrannt werden. Kalma ist einer der ältesten bekannten religiösen Ausdrücke der finn.-ugr. Völker: im Finn. bedeutete er u.a. „Tod, Leiche und deren Geruch, Grab, von einem Toten stammende Krankheit“, im Lapp., Lyd., Weps., Liv. und Mordw. „Grab“ und im Smj. „Leiche, Geist des Toten“. Die ¿aZw,«-Krankheit kann außer durch Berührung auch dadurch entstehen, daß der Mensch vor einem Leichnam erschrickt; im ersteren Fall kann es sich um Krebs oder Eitergeschwüre han­ deln, im letzteren dagegen um Epilepsie. b) Durch Erschrecken kann der Mensch seine Seele verlieren und erkranken: die weps. Benennung der Epilepsie itshine „Selbst­ krankheit“ und der finn. Ausdruck für „bewußtlos werden“, mennä itsMömäksi „selbstlos werden“, haben eine Erinnerung an diese uralte Konzeption bewahrt. In den finn.-ugr. Sprachen be­ deuten die Entsprechungen des Wortes itse „selbst“ gerade „Seele, Schatten, Seelentier“, wog. is, es z.B. „während des Schlafes ent­ schwindende Seele, Schatten des Menschen, Gespenst“, ostj. is, is „Seele, Geist, sehwalbenartiger (Seelen)vogel“; vgl. auch mordw. es-orma „Selbstkrankheit, Epilepsie“. In diesem Zusammenhang ist ferner finn. ihtiriekko „Selbst-Vogel“ zu erwähnen, die Benen­ nung eines friedlosen und gespensternden Geisterwesens. Ebenso wie die Seele eines lebenden Menschen erscheint auch der Tote in Vogelgestalt (-> Ahnenkult 2b), welche Vorstellung aus kar. Grab­ kreuzen hervorgeht, an deren Spitze aus Holz geschnitzte Vogel -

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Totenglaube

Finnen

bilder angebracht sind (vgl. -> Asl. Navi; Kelt. Vögel). Vögel, die zum Grab kamen, um dorthin gebrachtes Essen zu picken, wurden als Totenwesen begrüßt (-> Götterspeisung). Man hat vermutet, daß die sog. „Tassensteine“ (Opfersteine, in denen kleine Vertie­ fungen angebracht sind) gerade für die vogelgestaltigen Toten ver­ fertigt worden sind (_> Heiligtümer 4). Die Toten können auch die Gestalt eines anderen kleinen Wesens annehmen, z.B. die eines Schmetterlings oder einer Fliege: in Nord-Savo berichtete man, daß sich aus dem Grabe eine Fliege erhob, die mit einem heftigen Wirbelwind verschwand. 2. In einer sechswöchigen Periode nach dem Tode hatten die Ver­ storbenen nach dem Glauben der Karelier alle Schritte ihres ver­ gangenen Lebens von neuem zu gehen. Erst wenn die Ausrüstung des Toten für seinen Aufenthalt im -> Jenseits beendet ist und die periodischen Gedenkfeste (-> Feste) abgehalten sind (^ Ahnen­ kult), werden die Bindungen zwischen dem Toten und seinen leben­ den Angehörigen lockerer und man gedenkt seiner in der Haupt­ sache nur an den allgemeinen, für alle Toten des Geschlechtes bestimmten Gedenktagen. Die Tradition von Sagen und Glaubens­ vorstellungen im Zusammenhang mit den „Wiedergängern“ ist in Finnland äußerst reichhaltig. Schlecht ausgerüstete und vernach­ lässigte Tote oder Tote, die mit einem Lebenden Streit gehabt hatten, kommen und rächen sich an den Hinterbliebenen (-> Rache der Götter); andererseits kann der Tote auch kommen, um seine nächsten Verwandten vor einer drohenden Gefahr zu warnen. Wenn die Leiche dann im Grab verwest war, nahm auch die Zahl der­ artiger Besuche sehr ab.

3. Eine eigene Gruppe bilden die friedlosen Toten oder die „platz losen“, die lange nach ihrem Tode herumgeistern. Es sind vor allem durch Mord oder Selbstmord umgekommene Menschen, bei der Geburt getötete uneheliche Kinder und große Übeltäter, die aus dem Jenseits zurückkehren, ihre sündigen Taten fortzu­ setzen. Bei den Letztgenannten griff man oft bereits im Zusammen­ hang mit der Bestattung zu Vorsichtsmaßregeln: die Beine des Leichnams wurden an den Knien zusammengebunden oder der Tote wurde mit einem durch den Körper gehenden Pfahl an die Erde gespießt. Der von Michael Agrícola als Gott erwähnte Liekkiö, der „die Gräser, Wurzeln und Bäume und dergleichen anderes beherrschte“, ist nach dem Zeugnis der späteren Überlieferung nichts anderes als ein gespensterndes, getötetes Kind, wie sie häufig im Walde versteckt wurden. Liekkiö und damit vergleichbar ihtiriekko (vgl. o.), heitto „Verstoßener“, uloskannettu „Ausgesetzter“ 352

Ukko

Finnen

und äpärä „uneheliches Kind“ tun sich mit wehklagenden Rufen kund, die dem Wanderer im Walde folgen. Sie beruhigen sich erst, wenn ihre Leiche gefunden und in gesegnete Erde gebracht worden ist. Varonen, 56—57; Harva, 488—511; Haavio Ef, 61 — 142; HSmm, 319—329; 1. Manninen, Die dämonistischen Krankheiten im finnischen Volksaber­ glauben, in: FFC 45 (Loviisa 1922), 13—43; H. Paasonen, Über die ursprüng­ lichen Seelenvorstellungen bei den finnisch-ugrischen Völkern, in: JSPOu26 (Helsinki 1909); Y. H. Toivonen, Suomen kielen etymologinen sanakirja I (Helsinki 1955), 103,110—111; 150—151; Ders., Sanat puhuvat (Porvoo 1944), 103—109; A. Vilkuna, Das Verhalten der Pinnen in „heiligen“ (pyhä) Situa­ tionen in: PFC 164 (Helsinki 1956), 64—75; Krohn Sru, 41—44. -> Friedhofs­ geist; Hausgeist; Jenseitsvorstellungen; Lemminkäinen; Maahiset 2; Para 2. Lit. Totenglauben. -> Asl. Totenglauben. -> Kelt. Tod. -r Ung. Tod. -> Germ. Tod.

Totenkult -> Ahnenkult; Einteilungszeit; Kekri. Totenmahl, -wache -> Ahnenkult.

Trageriten -> Äkräs. Turisas, Tursas, Turzaz

Wassergeist.

Tuuri -> Pajainen.

Ukko. 1. Wie die meisten Völker haben auch die Finnen den Donner personifiziert. Er wurde ukko „alter Mann“ und isäinen „Väter­ chen“ genannt. Aus der ersteren Anrede erklärt sich die Benennung des Gewitters im Finn. ukkonen (Dimin. zu ukko}. In der Volks­ sprache sagt man z. B. „Der alte Mann geht, fährt“ (vgl. schwed. gogubben gär, körer), und aus Sagen geht hervor, daß Ukko ein alter, graubärtiger Mann ist, der mit seinem Wagen (-> Kelt. Manannän; Germ. Freyja; Germ. Mond; Germ. Nacht; Germ. Sonne; Germ. Tag; Germ. Thor) den Himmel (-> Weltbild) entlang fährt, auf einem steinigen Weg, so daß die Wagenräder und die Hufe des Pferdes Funken sprühen. Bei der griechisch-katholischen Bevöl­ kerung von Karelien und Ingermanland tritt der Heilige Elias an die Stelle des U. (—> Christliche Einflüsse). Die uralte Sage von dem Wagen des Donnergottes, die u.a. die Römer kannten, ist nicht die einzige Erklärung der betreffenden Naturerscheinung in der finn. Überlieferung: man sagt auch, U. wälze Steine, mahle oder dresche Getreide. In den Glaubensvorstellungen zahlreicher Völker hat der Donnergott die Funktion des obersten Gottes inne. Wie ist es in Finnland? In Gebeten an ihn finden sich hier folgende Verse: „O Ukko Obergott, alter himmlischer Großvater“, „Ukkoinen, oberster 353

Ukko

Finnen

Vater, er ist der alte himmlische Mann“,, ,Ukko, Gott des Himmels“, „Isäinen, oberster Schöpfer“. Offensichtlich hat die christliche Gottkonzeption den finn. U. in gewissem Maße beeinflußt. Einen Hof oder eine Familie der Götter, vergleichbar dem Homerischen Olymp, gibt es in der finn. Mythologie nicht; U.’s Epitheta „Ober­ gott“ und „Oberster“ weisen ebenfalls kaum auf das Oberhaupt der Götter, sondern vielmehr wörtlich auf etwas „oben Befind­ liches“, auf den am Himmel erscheinenden Donnergott. 2. Die Beiwörter „alter Mann“ und „Vater“ erinnern an die ent­ sprechenden skand. Benennungen, norw. Qammdtor und dän. Gamle Oldefader. Auch die Litauer stellten sich den Donner (-> Lit. Perkunas) als graubärtigen Greis vor (vgl. ->Ung. Isten). Die Gestalt des U. ist in den Gebetszauberspräehen am ausführlichsten beschrieben: darin werden als seine Ausrüstung ein blauer Umhang, ein feuriger Pelz, und als Waffen Bogen, Schwert, Beil und Hammer erwähnt. Die Lappen wähnten den Donnergott blaugekleidet, die Litauer dagegen in feuriger Kleidung. Die Waffenattribute sind ebenso international, es sei nur an den skand. (-> Germ.) Thor und seinen Hammer erinnert.

3. Ein äußerst vielseitig zu verwendender Zaubergegenstand war der Donnerkeil (u. a. finn. ukonnuoli „Donnerpfeil“), von dem man glaubte, er werde mit dem Blitz tief in die Erde hinein ge­ schleudert. Es herrscht die Vorstellung, der Donnerkeil steige nach jedem Donnergrollen wieder aufwärts, bis er nach mehreren Jahren an die Erdoberfläche gelangt und gefunden wird. Oft hat man steinerne Gegenstände, die bei der Einschlagstelle eines Blitzes gefunden wurden, für Donnerkeile gehalten. Ein derartiges Ding, in dem die „Kraft“ (väki) des Donners konzentriert war, ist ein für den Ackerbauern und Viehzüchter notwendiger Gegenstand gewesen: beim Säen tat man ihn auf den Boden des Saatkorbes, mit ihm schliff man das Beil für das Hoden des Feldes, und man schützte das Vieh vor Krankheit und anderem Schaden damit. Ein brennendes Haus wurde mit dem Donnerkeil umkreist, ebenso das Schwendland, d. h. man wollte das um sich greifende Feuer abwehren. Die „Kraft“ des Donners befindet sich auch in Holzspänen eines Baumes, in den der Blitz schlug; in dem aus ihnen bereiteten Feuer reinigte der Jäger seine Fanggeräte und der Fischer seine Netze von „Bezauberung“. — Eine interessante Benennung des Donnerkeiles lautet „Donnerkralle“ (ukonkynsi). In einem Zauber­ spruch heißt es: „Komm Ukko und nimm, schlag deine Steinkralle, zieh mit deinen steinernen Krallen!“ Dem liegt offensichtlich die­ selbe Vorstellung zugrunde, die u. a. bei den sib. Völkern anzu-

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Finnen

Ukon vakat

treffen ist. Danach entsteht der Donner durch einen Riesenvogel, der mit seinen steinernen Krallen die Bäume zerreißt und dessen Krallen bisweilen in der Erde gefunden werden. — Man hat die „Kraft“ des Donners auch mit anderen Mitteln als mit Hilfe des Donnerkeils zu beschaffen versucht. Einn. Zauberer kannten einen Brauch, die „Natur“ (luonto) oder die „Kraft“ (väki) des Donners selbst zu empfangen. Im Frühling, beim ersten Gewitter, wirft man sich auf einen Felsen, beißt dreimal hinein und sagt: „Ukko, gib mir eine stärkere Natur und nimm diese schlechte Natur von mir weg!“ 4. Die Überlieferung, die sich an den finn. U. knüpft, ist äußerst heterogen. Mit Hinweis auf das Hammer-Attribut des U. ist ver­ mutet worden, es handle sich um den skand. (-> Germ.) Thor. Die Erklärung trifft kaum das Richtige. Der Name Ukko bedeutet nämlich nicht überall in der Überlieferung die Donnergottheit, das Wort ist kein Eigenname, sondern ein Appellativum, eine Art ehrende Anrede, die als Epitheton mehrerer Gottheiten auftritt. So weisen z. B. der von Michael Agrícola erwähnte U. (-> Rauni) und das im Namen des U. begangene Frühjahrssaatfest (-> Ukon vakat) offensichtlich auf andere Vorstellungskreise, die keine nahe Verbindung zur Donnergottheit haben. Dagegen hat man vermutet, daß der U. im Mythos, der das Schlachten des Großen Stieres oder Schweines darstellt, der Donnergott sei und auf bestimmte Weise dem skand. Thor gegenüberzustellen sei (-> Pajainen). Harva, 74—102; Krohn Sru, 116—126; HKar, 95—102 et passim; M. Haavio, Ukko ylijumala, in: KV41 (Helsinki 1961), 5—37. -* Getreidegottheiten; Ilmarinen; Saatriten; Wettergott; Zauber. -> Ung. Isten.

Ukon vakat. 1. Die älteste Nachricht über den „Scheffel des Ukko“ genannten Ackerbauritus ist in Agrícolas -> Götterverzeichnis (1551) enthalten: Ja quin Keuekyluö kyluettin / silloin vkon Malia iootijn. Sihen haetin vkon wacka / nin ioopui Pica ette Acka. Sijtte palio Häpie sielle techtin / quin seke cwltin ette nechtin. „Und wenn die Frühjahrssaat gesät wurde, dann wurde der Becher des Ukko getrunken. Dazu holte man den Scheffel des Ukko, so betranken sich sowohl Mädchen als auch Weiber. Dann wurde dort viel Schänd­ liches getan, wie man sowohl hörte als auch sah.“ Nach Agrícola begingen also die Karelier im Frühjahr ein Saatfest mit gemein­ samen Trinkgelagen, an denen die Glieder einer umfassenderen Kultgruppe, als es die Familie ist, teilnahmen, auch die Frauen. Der Zweck des Ritus bleibt in gewissem Maße problematisch, denn es ist nicht ohne weiteres klar, daß -> Ukko in diesem Zusammenhang den Donnergott bedeutet. Wenn die Erwähnung „schändlicher“ 23

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Ukon vakat

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Vorgänge auf sexuelle Riten weist, wie Uno Harva vermutet, könnte man den Verdacht hegen, daß die Förderung des Ge­ treidewuchses mit auf dem Felde geschehenden Vereinigungen zum Programm des Festes gehörte. Spätere Nachrichten bekräftigen jedoch eine derartige Annahme nicht, denn aus ihnen geht hervor, daß Trinkgelage mit dem Namen „die Scheffel des Ukko“ im vor­ gerückten Sommer, wenn Trockenheit dem Getreide drohte, statt­ fanden.

2. So wird in einem Gerichtsprotokoll aus dem Jahre 1662 be­ richtet, daß im Kirchspiel Hauho in Häme ein Hofbesitzer namens Sigfrid Antinpoika von Hof zu Hof gegangen war und Leute für ein Trinkgelage des Ukko gesammelt hatte. Er hatte neun Kannen Bier gekauft und war an das Ufer eines Sees gegangen, wo die Teilnehmer, drei Männer und drei Frauen, im Kreis knieten, während Sigfrid sie aufforderte, zu trinken und zu sagen: „Heiliger Ukko, Vater des Wetters, Gottes Diener, gib du uns Regen, damit die schöne Blume nicht vertrocknet, das reifende Getreide nicht verdirbt . . .“ Danach war Sigfrid allein in den See gewatet, hatte mit den Händen Wasser in die Luft geworfen und seinen Becher geleert, indem er die oben erwähnten Worte sprach. Auf dem Nach­ hauseweg war man dann einen Bach entlanggegangen, aus dem sich alle gegenseitig mit Wasser bespritzten und dabei riefen: „So regne es!“ Als Sigfrid vor Gericht gezwungen wurde, seine Tat zu ge­ stehen, verteidigte er sich mit der Bemerkung, daß die große Trockenheit ihn zu diesem Verfahren genötigt habe, das auch früher, von den Vorvätern angewandt, half, und dessen sie nicht angeklagt worden waren. — Regenzauber (—> Zauber) wurde auch in anderem Zusammenhang als mit Trinkgelagen ausgeübt; so pflügten die Waldfinnen von Värmland das Flußbett eines trockenen Baches, so daß die Steine polterten, in der Hoffnung, Ukko beginne zu donnern und bringe Regen. Ein anderes Regenzauberverfahren der Waldfinnen war das Setzen der „Birkenrindenschachtel des Ukko“ auf die Traufe des Hauses. Diese Schachtel wurde an der trocken­ sten Ecke des Ackers hergestellt, man tat Torf, drei Körner jeder Getreideart und ein Silberstück hinein. Der Bauer brachte die Birkenrindenschachtel am Mittag auf das Dach, er hatte nur Unter­ hosen und ein Hemd an (zum Zeichen der übermäßigen Hitze) und beim Herunterkommen pfiff er Wind. Die Schachtel wurde jede Stunde mit Bier benetzt, bis man Regen erhielt. Die Bauern der nahen Höfe versammelten sich zu gemeinsamem Essen und Trinken auf diesem Hof, wo die Birkenrindenschachtel auf der Traufe stand. Wenn der Regen dann endlich kam, brachte man die Schachtel an 356

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Ukon vakat

dieselbe Stelle des Ackers, wo sie angefertigt worden war, und ein neues Fest, „das Gelage des Ukko“, wurde veranstaltet, bei dem starkes Bier im Überfluß getrunken wurde, denn „je mehr die Leute betrunken waren, desto mehr Getreide kam“. — In Süd-Karelien hat sich bis in die jüngste Zeit die Erinnerung an das Fest „die Scheffel des Ukko“ erhalten, das abwechselnd auf den ein­ zelnen Höfen des Dorfes hauptsächlich im Juni, während langer regenloser Perioden begangen wurde. Ein gehäuft voller Gerstenscheffel wurde auf die Traufe gestellt, um auf Regen zu warten. Wenn „Gottes Wasser“ die Körner benetzt hatte, wurden sie ge­ malzt und man kochte Bier. Die Männer und Frauen des Dorfes versammelten sich am reichlichen Tische, der unter freiem Himmel auf dem Hofe gedeckt war. Man dankte Ukko für den Regen, betete, daß Gott dem Getreide ein günstiges Wetter gebe, und genoß „gesegnetes“ Bier. Anschließend wurde gelost, auf wessen Hof das Fest das nächste Mal gefeiert werde.

3. Ob Agricola einen auf die Traufe gestellt en Gerstenscheffel meinte, als er erwähnte, daß zum Frühjahrssaatfest „der Scheffel des Ukko geholt wurde“, ist fraglich. Uno Harva vermutete, daß Scheffel (wacka) an dieser Stelle die zum Fest des Ukko gehörende Be­ wirtung bedeute. In finn. Dialekten versteht man unter diesem Wort „Trinkgelage, Festivität“; wie auch bei anderen finn. Fest­ bezeichnungen wird das Wort dann im Plural verwendet (vakat). Man spricht z.B. von den „Scheffeln der Frauen“ oder der Festivi­ tät der Frauen, von den „Scheffeln des Bären“ oder dem Bärenschmause. Die pluralische Bezeichnung ükon vakat, die hier mit „die Scheffel des Ukko“ übersetzt wird, bedeutet also das Fest, die Festivität des Ukko. Wie ein Wort mit der Bedeutung „Scheffel“ Name eines religiösen Festes werden konnte, wird verständlich, wenn man bedenkt, daß der Scheffel in verschiedenen Kult­ zeremonien eine zentrale Stellung innehatte. Hierfür ist der Gersten­ scheffel der finn. Regenriten nicht das einzige Beispiel. Es sei nur erinnert an den voriud- Scheffel der Wotjaken, die Geister­ truhe der Ostjaken und Wogulen, dem vajma kätk-Schrein der Mordwinen und den tönn-Scheffel der Esten, die Opfergaben sowie die Bilder der Hausgötter enthalten und die einen wichtigen Platz in den verschiedenen Erwerbsriten und -festen einnahmen. Ein ähn­ licher heiliger Scheffel war auch das Adonisgärtchen (’Aöwviöoq), ein einfacher Korb, in dem gekeimte Gersten- oder Weizenkörner lagen. (--> Kelt. Kessel.) 4. Die Entsprechung des Ukko-Festes in Ingermanland ist vakkove., ein großes Biergelage, das zu Beginn der Heuernte am Tag des 23«

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Ukon vakat

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Petro (Petrus) oder Ilja (Elias) veranstaltet wurde (29. Juni, 20. Juli). In diesem dorfinternen Fest wurde aus gemeinsamen Zu­ taten hergestelltes Bier getrunken und das Lied des Ukko gesungen. Mit Ukko meinte man in diesem Falle Petro oder Ilja (-> Christliche Einflüsse). Aus verschiedenen Varianten geht hervor, daß mitunter beide Heilige gleichzeitig angeredet wurden: „Heiliger Herr Ilja, Heiliger gnädiger Petro, laß dich auf die Erde aus dem Himmel nieder, komm zu uns zu Gast, wir haben fünferlei Branntwein, neunerlei Bier, wir haben gehörntes Gebäck, zweischalige Kuchen, für den Heiligen Ilja, zu Ehren des Heiligen Petro. Bring eine Wolke mit, benetze unseren Hafer, richte unsere Gerste auf, auf dem Schwendland wächst nicht der Hafer, in der Mulde steigt die Gerste nicht auf, alles hast du mit deinem Sonnenschein verbrannt, mit der heißen Zeit gequält.“ Anderwärts bittet man den „Heiligen gnädigen Ukko, den Heiligen Herrn Ilja“, die Frühjahrssaat wachsen zu lassen. Uno Harva hält auch für möglich, daß das Fest des Ukko früher auch in Verbindung mit der Saat zeitig im Frühjahr gefeiert werden konnte. Das Trinken des Bechers von Ukko wäre dem Saattrinken gegenüberzustellen, einem Genuß starken Bieres zu Beginn der Frühjahrsbestellung, worüber Nachrichten u. a. aus Finnland und Schweden vorliegen. Die im Lied des Ukko erwähnten Brote be­ deuten vielleicht das Saatbrot, ein schon im vorhergehenden Herbst gebackenes großes Brot, das für den Frühling als Mahlzeit der Säer aufgehoben wird, und von dem Stücke in den Saatkorb unter das Saatgut getan werden. An dieses Brot wurden Hörner gebacken, in Häme lautete sein Name auch „Hornbrot“, was an das „gehörnte Gebäck“ in dem ingl. Lied des Ukko erinnert. In Mittel-Ostbottnien hieß das Saatbrot „Brot des Ukko“. Und in Süd-Karelien betete man zu Beginn der Saat: „Gib, Ukko, neues Getreide, gib den Kornreichen, gib den Armen, gib allen Bedürftigen!“ Es ist also sehr gut möglich, daß Agricolas Nachricht über die Feier des Festes des Ukko zu Beginn der Frühjahrsbestellung zuverlässig ist (-> Sämpsä 2 a). 5. Die Forscher sind sich bis jetzt über den Ursprung der obigen Feste des Ukko nicht ganz klar. Uno Harva sah im Ukko einen alten heidnischen Donnergott, der um Regen und Getreidewuchs gebeten wurde. In verschiedenen Quellendes 17. Jahrhs. finden sich Nachrichten über Sitten der Esten, Letten und Litauer, zeitig im Frühjahr und auch später bei drohender Trockenheit dem Donner­ gott einen Stier oder ein anderes Schlachttier zu opfern (-> Stier­ opfer) und um Regen und gute Getreideernte zu beten (-> Lit. Perkünas). Harva hält es für möglich, daß auch dem Ukko früher

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Ukon vakat

Schlachtvieh geopfert worden sei, obwohl hierüber keine Angaben in der Überlieferung erhalten sind. Er meint, zwei Heilige hätten die Opfer des Ukko substituiert. Der eine von ihnen ist Ilja, Elias, der die Funktion des Donnergottes übernahm und dem die griechisch-katholischen Finnen nach von den Russen erlernter Sitte Stiere opferten (->AS1. Perun). Der andere wiederum ist der Heilige Olaf, der in Skandinavien das Beil-Attribut und die Aufgaben des (_> Germ.) Thor erbte, und dessen Tag (29. Juli) mit Biergelagen und Schlachtopfern begangen wurde. In Finnland wurden am Tage des Olaf Schafe geschlachtet (vgl. -> Kekri). — Martti Haavio bemerkt, daß das Feiern der „Scheffel des Ukko“ die Widerspiegelung eines mittelalterlichen römisch-katholischen Heiligenkultes sein könne (-> Christliche Einflüsse). Ukkov&r eine allgemeine Benennung, eine Anrede, die durchaus nicht immer auf den Donnergott weist. Die Gebete, in denen man Ukko um Regen bittet, verraten häufig klar christliche Züge: Ukko erhält das Epitheton „heilig“, man nennt ihn „Gottes Diener“ (vgl. o.), mit anderen Worten wird er wie ein Heiliger angeredet. So kann man den Verdacht haben, daß es sich ursprünglich um einen von der Kirche kanonisierten Wetterpatron, den Heiligen Petrus, Urbanus oder Elias handelt. Unter der griechisch-katholischen Bevölkerung ist Ukko auch vielfach geradezu der Heilige Petrus (Petro) oder Elias (Ilja). Haavio betont besonders die Bedeutung des Heiligen Urbanus als Heiliger des Sommerbeginns und Getreideschutzpatron und meint, die Schilderung Agricolas vom Trinken des Bechers des Ukko am Saattage bedeute das am Tage des Heiligen Urbanus (25. Mai) gefeierte Fest, das in der europäischen Tradition einen sichtbaren Platz innehatte und genetisch auf das Fest des Dionysos (xä aaxixä Aiovvaia, lat. Urbana) zurückzuführen ist (->Köndös; vgl. auch Sämpsä 5). 6. Das Fest der „Scheffel des Ukko“ mag in seiner uns erhaltenen Form ein Konglomerat heidnischer Zeremonien und der Heiligenkulte sein. Vielleicht konnte auch die Kirche gerade der christlichen Züge wegen dem Fest gegenüber früher tolerant sein; offensichtlich be­ gann man erst Ende des 17. Jahrhs., es energischer zu bekämpfen und auszurotten. Bei einer Inspizierung der Gemeinde Kuopio im Jahre 1670 wurden die Bauern wegen des Feierns der „Scheffel des Ukko“ getadelt; da verteidigten sie sich, indem sie sagten, „daß ihre Pfarrer ihnen das nicht verboten haben, sondern daß ihre früheren Pfarrer mit ihnen daran teilgenommen haben“. Harva, 103—122; Krohn FM, 33—40; HKar, 137—159; H. Helminen, Värmlantilaisten ukonjuhlista, in: KV 11 (Porvoo 1931); K. R. Melander,

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Väinämöinen

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Muutamia tietoja Ukon ja maanhaltijan palvonnasta meillä entisaikoina, in: Virittäjä 1932; J. Lukkarinen, Inkeriläisten praasnikoista, in: Suomi IV: 11 (Helsinki 1912), 37—53; M. Haavio, Heilige Haine in Ingermanland, in: FFC 189 (Helsinki 1963). -> Ackerbauriten; Feste; Getreidegottheiten; Kultmahlzeiten; Opferbräuche; Saatriten. -> Kelt. Bier. Ung. Äldomäs.

Untamo -> Anthropogonie 1.

Unterirdische Dämonen -> Maahiset.

Unterwelt

Jenseits Vorstellungen 2; Lemminkäinen; Väinämöinen;

Weltbild 2.

Unterweltsfahrt -> Friedhofsgeist; Lemminkäinen; Väinämöinen. Unterweltsfluß

Jenseitsvorstellungen 2; Lemminkäinen; Weltbild2.

Unterweltsgott

Friedhofsgeist.

Urbaum —> Anthropogonie.

Ursprungszaubersprüche ->■ Zauber. Urzeit-> Umarmen; Väinämöinen 2; Weltbild 7. Väinämöinen. Die große, zentrale Gestalt in der epischen Volks­ dichtung, V., der „ewige Zauberer“, war bei Dichtern und Vor­ tragenden derart beliebt, daß die Gefahr besteht, daß seine ursprüng­ lichen Züge im Laufe der Zeit durch neue, seinem Namen hinzu­ gefügte Motivelemente verdeckt werden. So war es auch die Haupt­ aufgabe von Martti Haavio’s grundlegender Untersuchung, diese Motivattraktion zu erläutern und die verschiedenartigen Schich­ tungen der von V. handelnden Gedichte aufzuzeigen. Auf die klassische Streitfrage, ob V. ursprünglich ein Gott oder eine histo­ rische Persönlichkeit sei, hat Haavio eine befriedigende Antwort gefunden.

1. In der ältesten Schichtung wird u. a. geschildert, wie V. in Gestalt einer -> Schlange eine Reise ins Totenreich unternimmt, (-> Fried­ hofsgeist; Kelt. Unterweltsfahrt; -> Ung. Skythien), einen toten Zauberer, Antero Vipunen, besucht und mit Joukahainen wettsingt (-> Anthropogonie 1). Hier zeigt sich V. als Schamane im Kreise einer Fischerkultur, als Besitzer des tiefsten Wissens und geistiger Führer seines Stammes. Außer zahlreichen Gedichtmotiven weist auch der Name des V. auf das Wassermilieu hin: er ist von dem Wort väinä für strömendes Wasser abzuleiten, worauf auch sein Epitheton uvantolainen (vgl. lapp, uvve „langsam strömendes Wasser“) deutet. Haavio hält es für möglich, daß wenigstens ein 360

Finnen

Väinämöinen

Teil der V.-Gedichte spätestens um das 9. Jahrh. in Besiedlungs­ zentren an der Küste in West-Finnland oder am Ladoga auf Grund von Sagen über einen Schamanen, der tatsächlich gelebt und die Verehrung seines Stammes genossen hat, verfaßt worden ist.

2. Im Lauf der Zeit hat das schöpferische mythische Denken die Entwicklung vorangetrieben und dem V. eine neue Funktion ge­ geben: es hat aus ihm einen Kulturhe/ros geformt, der im Zu­ sammenhang mit den großen Schöpfungsgeschehnissen (-> Kosmogonie) erscheint und, nachdem er den Menschen wertvolle Dienste geleistet hat, durch einen aufwirbelnden Strudel nach einer fernen Gegend im Ozean verschwindet, aber verspricht, bei Bedarf zu seinem Volk zurückzukehren. Zu dieser Konzeption gehören wohl auch die Erwähnungen des V. am Himmel (Orion = „Väinämöinens Sense“, die Plejaden = „Väinämöinens Bastschuhe“) sowie auf der Oberfläche des Wassers (ein ruhiger Streifen auf einer sich kräuselnden Wasseroberfläche = „die Spur von Väinämöinens Boot“ oder „Väinämöinens Hafen“). V. bildet gemeinsam mit Ilmarinen das Herospaar, das den Menschen das Feuer bringt. Vielleicht ist auch im mythischen Kern des -> Sampo-Epos die Vor­ stellung von einem Herospaar enthalten, das den Reichtum des Ertrages aus Erde und Wasser sichert. Im Gedicht vom Kantelespiel des V. wird er als Schöpfer so wunderbarer Töne geschildert, daß die Tiere des Waldes, die Vögel und die Fische des Wassers zuhören kommen und das Spiel Tränen in die Augen der Anwesen­ den, ja sogar des Spielenden treibt. Das Gedicht erinnert an Orpheus und an das Bild, das Olaus Magnus auf seine Carta marina in die Nordostecke von Island zeichnete: ein Spieler, dem Mäuse, Füchse, Schwäne und Fische lauschen. Vielleicht meinte Michael Agricola die dichterischen und musikalischen Fähigkeiten des V., als er ihn im Verzeichnis der Götter von Häme eintrug: Äinemöinen / wirdhet tacoi, „Ainemöinen schmiedete Gedichte“. Angaben über einen Kult im Zusammenhang mit V. sind nicht erhalten; seine mythi­ schen Funktionen weisen auf einen Kulturheros hin, der in der großen Urzeit geschaffen hat und weggegangen ist. V. ist nicht das einzige Beispiel in der Religionsgeschichte, daß spätere Genera­ tionen aus einer bedeutenden Persönlichkeit, die einst gelebt hat, einen mythischen, die Weltordnung schaffenden Heros formten. -> Kelt. Heldenmythus.

Haavio VES; Kir, 256 — 279; K. Krohn, Kalevalastudien V, Väinämöinen, in: FFC 75 (Hamina 1928); Ders., Kalevalankysymyksiä II, in: JSFOu 36 (Helsinki 1918). -* Zauber. Kelt. Heldenmythos; Kulturbringender Heros; Unterweltsfahrten; Zauberer. -+ Ung. Skythien; Tältos; Tetejetlen nagy fa. -* Germ. Zauber. 361

Vedenemä

Finnen

Vedenemä -> Wassergeist.

Vegetation -> Fruchtbarkeitsmythen. Verschwinden einer Gottheit —> Sterben eines Gottes; Väinämöinen.

Vieh -> Einteilungszeit; Glück; Hausgeist; Kekri; Maahiset; Para; Pellonpekko; Stieropfer; Ukko; Waldgeist. Viehstallgeist -> Hausgeist; Heiligtümer.

Viljatonttu

Para.

Virankannos. In seinem metrischen -> Götterverzeichnis sagt Michael Agricola über den kar. Hafergott: Wirancannos / Cauran caitzi / mutoin oltin Caurast paitzi „Wirancannos sorgte für den Hafer, sonst hatte man keinen Hafer.“ Später begegnet dieser Name in der epischen Volksdichtung in der Form Virokannas. In einem Gedicht, das Urteil und Weggang -> Väinämöinens beschreibt, tritt V. als Täufer des unehelichen Kindes von Väinämöinen auf. In einer finn. Schlachtmythe, in der Schilderung vom Schlachten des Großen Stieres oder Schweines zeigt sich V. neben -> Ukko (oder Röönikkä, -> Palvanen; -> Pajainen) als Schlächter, der je­ doch — nach einer Version des Gedichtes — mit den anderen Schlächtern auf einen Baum flieht, als das riesenhafte Schwein seine Ohren bewegt. Das Gedicht vom Großen Stier steht in Finn­ land im Zusammenhang mit den Riten des Jahresbeginns (-> Kekri), in Estland dagegen mit dem Erntefest. In SW-Finnland bedeutet das Wort virankanto „Wurmfarn“ (Polystichum spinulosum). Das Wort hat eine verhältnismäßig alte Entsprechung in lapp, varcaäßis, ebenfalls ein Pflanzenname, der eine Wasserpflanze bezeichnet (Sparganium natans). Eine befriedigende Etymologie für Viran­ kannos zu finden, hat sich als schwierig erwiesen. Man hat u. a. ge­ meint, es handle sich nur um eine an einem Baumstumpf (finn. kanto) befestigte Schlinge (finn. virka, gen. viran), welche die Hasen daran hinderte, auf den Haferacker zu gelangen; die Zusammen­ setzung ist jedoch schon lautlich zu bezweifeln. Auf Grund einiger Verse in der Volksdichtung vermutete E. N. Setälä, das Wort vira (> viro) habe „Welt“ bedeutet, kannas dagegen sei als „Träger“ auszulegen (finn. kantaa „tragen“). Uno Harva meinte, diese Er­ klärung ziele in die rechte Richtung, und bemerkte, daß sowohl der Weltträger-Gott der Lappen, veralden olmai „Mann der Welt“, als auch dessen Vorbild, der skand. veraldar goö oder (-> Germ.) Freyr, die Förderer allen Wachstums waren. Finn. virankanto „Wurm­ farn“, eine büschelkronige Pflanze, sowie virakannus „Haarbüschel 362

Finnen

Waldgeist

auf dem Kopf“ bei den Esten von Saarenmaa sind nach ihm eben­ falls durch Gestaltanalogie aus Himmelsnabel- und -> Weltsäulen­ vorstellungen entstanden. Diese Theorie ist kürzlich von zwei Seiten angegriffen worden. T. I. Itkonen hält es für möglich, daß es sich um die Vorstellung vom sterbenden und auferstehenden Pflanzen­ geist oder -gott (ursprünglich = der Pflanze selbst) handelt (->Lemminkäinenß; Sämpsä 2 a), die sich an Aufsehen erweckende, mehr­ jährige Pflanzen knüpfte. Zuletzt hat Martti Haavio dargestellt, daß sich im ersten Teil des Namens Virankannos das Wort virak verbirgt (mndt. wirok, wirek, dän. und schwed. virak, est. viirok, viiruk}, das „Heiligenrauch, Weihrauch“ bedeutet. Der zweite Teil des Namens -annos wiederum sei eine Abkürzung des Namens des Heiligen Johannes (-> Christliche Einflüsse). Am Tage des Heiligen Johannes (27. Dezember) wurde in Karelien, so nimmt Haavio an, jenes Weihen und Beräuchern des Hafers vollzogen, das im Bereich der römisch-katholischen Kirche des Mittelalters, wie bekannt, einen Tag früher stattfand, am Tage des Heiligen Stefanus. HKar, 247—257; Harva, 225—233; E. N. Setälä, Virokannas, in: Pestskrift til J. Qvigstad (Oslo 1928); Ders., Kaukovälähdyksiä (Helsinki 1939), 68—75; Krohn Sru, 11; Ders. PM, 58—59; T. I. Itkonen, Lisiä kapeiden ja Virokannaksen ongelmaan, in: Virittäjä 1959. Aekerbauriten; Fruehtbarkeitsmythen.

Virokannas —> Virankannos. Vögel, Vogelgestaltige Wesen -> Ahnenkult 2b; Kosmogonie; Para 2; Sampo 1. 3; Totenglaube lb; Ukko 3; Weltbild 4. -> Lit. Daüsos; Gaberä. -+ Asl. Hauskobolde; Navi. -> Kelt. Vögel. -> Ung. Vögel. -> Germ. Vogel(gestalt).

Wachstumsgott -> Sämpsä. Wald —> Götterverzeichnis 2; Haine; Heilige Bäume; Waldgeist.

Waldgeist. 1. Der Jäger, der auf sein Weidglück bedacht war, mußte im Walde und im Umgang mit dem Wild zahlreiche Verhaltens­ normen befolgen, von denen einige auf den Glauben an einen personi­ fizierten Spender des Wildes, den Waldgeist, zurückweisen. In den Gebeten und -> Zaubersprüchen des Jägers wird dieses Wesen meistens mit „Herr des Waldes“ oder „Herrin, Mutter des Waldes“ angeredet. (-> Bärenkult.) Der erste Beutevogel (—> Erstlings­ gaben) mußte dem W. gespendet werden, indem man auf die untersten Äste einer dichten Eichte (-> Heilige Bäume) Moos legte und den Vogel auf dem somit gebildeten „Tisch“ ließ (—> Götterspeisung). Dieser Aufbau wurde „Tisch“ oder „Hand363

Waldgeist

Finnen

fläche des Tapio“ oder „Stube der Waldherrin“ genannt. Mit­ unter wurde der erste Vogel mit den Federn gekocht und auf dem Opferplatz verzehrt, die Reste goß man dann an die Wurzeln des „Tisches von Tapio“. Die Waldfinnen in Värmland pflegten im Frühjahr, wenn sie das Vieh in den Wald ließen, Stücke verschie­ dener Speisen in die „Stube der Waldherrin“ zu bringen; derselbe Ritus wiederholte sich im Herbst, wenn die Kühe hereingeholt wurden. Die Sitte lebt in diesem Fall im Kreise der Viehzucht­ kultur. Ursprünglich war der Opferplatz nicht fest bestimmt, son­ dern wurde bei jeder Jagd gesondert an der Fang- oder Beutestelle errichtet. In Russisch-Karelien wurden an guten Beutestellen grobe Bilder des W. mit Ruß und Messer an Teile von Bäumen ange­ bracht, wo sich die Rinde von selbst gelöst hatte oder absichtlich abgetrennt worden war. In Ost-Finnland glaubte man, daß der metsähinen „Waldbewohner oder -geist“ Fallen stellt, Wild fängt und den Jägern hilft. Man erzählt auch vom Hunde des W„ der kurz aufbellt und schnell von einem Rand des Waldes zum anderen wechselt. Hierbei dürfte es sich um irgendeinen Vogel handeln. Der W. wird „baumhoch“ geschildert, er hat einen „Nadelhut und einen Flechtenbart“. Diese Beschreibungen lassen den W. also wie seinen Aufenthaltsort aussehen. Offensichtlich wurde der Wald und sein Geist oft identifiziert, was auch daraus hervorgeht, daß man, wenn der Waldgeist einen Menschen oder ein Tier in die Irre geführt hatte, den Wald bestrafte, indem man einen schweren Stein an herumgebogene Bäume hängte. Eine eigene Gruppe bilden die erotisch gefärbten Vorstellungen von der Waldjungfer, die am Lagerfeuer des Jägers oder Teerbrenners erscheint und von vorn wunderschön und verführerisch, von hinten aber wie eine nadlige Kiefer aussieht. Manchmal stimmen die Vorstellungen vom W. mit denen von den maahiset überein, wie z.B. im Hinblick auf die Gefahren, wenn man sich auf dem Pfad des Waldgeistes schlafen legt, oder bezüglich der guten Milchkühe des metsähinen.

2. Die Angabe bei Michael Agricola (-> Götterverzeichnis), der Gott der Hämeer Tapio / Metzest Pydhyxet soi „Tapio gab die Beute aus dem Walde“, wird gerade auf den W. hinweisen. Besonders im östlichen Überlieferungsgebiet erscheint der Name Tapio, dessen Etym. ungeklärt ist, häufig in den Gebeten des Jägers, bald in der Bedeutung von Herr oder Herrin des Waldes, bald von Wald selbst. In verschiedenen Teilen Finnlands sind Redewendungen bekannt, die bei einem Sturmwind im Vorfrühling, der Zweige von den Bäumen reißt, lauten: „Tapio drischt“ und „Tapio sät“. Uno Harva hält es für möglich, daß auch der von Agricola erwähnte kar. 364

Finnen

Wassergeist

Gott Hiisi, der Metzeleist soi woiton „den Gewinn vom Wildbret des Waldes gab“, wohl in diesem Zusammenhang als W, auf­ zufassen wäre. Das Wort hiisi bedeutete ursprünglich „Wald“, besonders einen heiligen Opferhain (-> Haine), und erhielt später den Sinn eines persönlichen Wesens, Geistes, sogar des Teufels. Die Schutzpatrone der Jagd in der römisch-katholischen Kirche haben den Waldgeistglauben der Finnen im Mittelalter auch bereichert (-> Christliche Einflüsse): Annikki (die Heilige Anna) gilt für die Tochter des Tapio und man bittet sie, den Speicher des Tapio zu öffnen und die Tiere des Waldes frei zu lassen. Die im Götterver­ zeichnis Agrícolas enthaltenen kar. Götter, der Hasen spendende -> Hittavainen und der Eichhörnchen gebende Nyrckes, dürften ursprünglich ebenfalls Jagdpatrone sein.

Harva, 349—365; Krohn Sru, 71—74; Ders. FM, 49—52; HSmiu, 338—341; Y. H. Toivonen, Suomen kielen etymologinen sanakirja I (Helsinki 1955), 74. Bärenkult; Hittavainen; Nyrckes; Kultmahlzeiten; Opferbräuehe. -> Lit. Medeine Médis; Zvériné. Asl. Waldgeist. Waldjungfer, -mutter -> Bärenkult 2; Waldgeist 1.

Wassergeist. 1. Michael Agrícola (—> Götterverzeichnis) kannte zwei finn. Wassergottheiten, in Häme: Achti / wedhest Caloia toi „Ahti brachte die Fische aus dem Wasser“, und in Karelien: Wedhen Eme wei Galat wercon „Wassermutter brachte die Fische ins Netz“. In der späteren Volksdichtung erscheint der Name Ahti in zahlreichen Zusammenhängen, die durchaus nicht alle zum Wassermilieu ge­ hören. Teilweise wird das daran liegen, daß Ahti schon früh als PN gebraucht wurde und u. a. den Weg in epische Gedichte mit Wiking­ themen fand. In verschiedenen Fischergebeten haben sieh jedoch Erinnerungen an den Wassergeist-Ahti bewahrt, der die zerstreut schwimmenden Fische sammelt und sie dem gibt, der um den „Ertrag des Wassers“ bittet. In ihnen spricht man auch von den „Gruben des Ahti“, aus denen eine „fischreiche Herde“ gehoben wird. Daß das Wasser der Aufenthaltsort des Ahti ist, geht aus einem besonderen Gedicht hervor, in dem eine einstige ungeheure Kälte dadurch geschildert wird, daß auch Ahti zu Meer gefror (-> Eschatologie 2). 2. In Karelien und in Ingermanland baten die Fischer die Wassermutter um Hilfe: „Wassermutter, schick’ einen Fischschwarm in die ausgeworfenen Netze, die alten Fangwasser!“ Wertvoller als diese dichterischen, zum Teil jungen Beweisstücke sind jedoch die Nachrichten über Opfer an den W. Die ersten Fische im Frühjahr wurden (—> Kekri 2), ohne die Gräten zu zerbrechen ( > Kekri 2),

365

Wassergeist

Finnen

direkt am Ufer gekocht, man entfernte sich vom Kochkessel und lud den W. zum Essen (-> Ahnenkult; Hausgeist 2; Kekri; Sämpsä 2a; Waldgeist 1). Manchmal wurde der Kopf des ersten Fisches abgeschnitten und zurück in den See gebracht, dann wieder, wenn der Seegeist launisch war, mußte ihm ein lebendiger Fisch aus irgendeinem anderen See gebracht werden, bevor die Fischerei begonnen werden konnte (-> Erstlingsgaben). Wenn der Geist beim Lagerfeuer des Fischers in silbergeschmückter Kleidung und mit freundlichem Gesicht erschien, bedeutete dies einen guten Fang (-* Omen). Agricolas Behauptung, die Größe der Ausbeute hänge von der Gunst der Wassergottheit ab, trifft sichtlich zu: der im Wasser hausende Geber der Fische hatte im Glauben der afinn. Fischer eine wichtige Stellung inne.

3. Zum W.-Glauben gehört der weps. turzaz, „der seine Herde vor den Netzen des Fischers bewahrt“. Ein Wesen namens tursas erscheint auch in der finn. Volksdichtung in äußerst verschie­ denen Verbindungen, bedeutet besonders eine Art Ungeheuer der Tiefe, erhebt seinen Kopf aus dem Meere oder sitzt in einer feurigen Stromschnelle. Die Problematik dieses Wesens wird durch Agricolas Angabe, Turisas / annoi Woiton Sodhast, „Turisas gab den Sieg im Kriege“, keineswegs vermindert. Man hat angenom­ men, daß dem Namen an. thurs „Riese, Ungeheuer“ zugrunde hegt (-> Germ. Riesen). Germ. Rän.

4. Der finn. W.-Glauben hat aus dem internationalen Wander­ sagenschatz viel Neues erhalten. So wird von einem weiblichen W. erzählt, den man manchmal am Strande sich waschen und seine langen Brüste über die Schulter werfen sieht. Das Motiv ist im gesamten Arktikum weit verbreitet. Man berichtet weiterhin von den Kühen der Wassermutter und von einem Geist, der auf einem Stein in einer Stromschnelle wunderschön spielt (näkki < schwed. näcken) und die Menschen in die Tiefe lockt. Einen W. stellte man sich außer in Flüssen und Seen auch in Brunnen und Quellen vor. In jüngerer Zeit wurde dieser Glauben allgemein nur aus pädagogi­ schen Gründen gepflegt: mit dem W. ängstigte man die Kinder, damit sie nicht allein baden gingen oder in einen Brunnen schau­ ten. -> Lit. Vanduö; AS1. Rusalka; Vila; Wassermann; -> Kelt. Nymphen; Wasser. U. Holmberg (Harva), Wassergottheiten der finnisch-ugrischen Völker, in: MSFOu 32 (Helsinki 1913); Harva, 366—395; Krohn Sru, 74—79; Ders. FM, 49, 65-66; 71-73; MUF, 146-147; HSmm, 332-338, Kir, 308-309; 362 — 365. -» Maahiset 1; Opferbräuche. —> Ung. Äldo-Küt. 366

Finnen

Weltbild

Wedhen Eme -> Wassergeist. Weingott -> Köndös.

Weltbaum -> Anthropogonie; Weltbild. Weltberg -> Götterverzeichnis; Jenseitsvorstellungen; Weltbild.

Weltbild. 1. Wie manche andere Völker stellten sich die Finnen die Erde kreisförmig und das sie bedeckende Himmelsgewölbe als riesengroße Kuppel vor, die sich mit ihren Sternen um ein festes Zentrum dreht (-> Ung. Kacsaläbon forgö vär; Tetejetten nagy fa). Den Polarstern in diesem Zentrum nannte man „Boden­ nagel“ (pohjan naula) oder „Nagelstern“. Die Vorstellung, daß der Himmel oben bleibt und sich durch einen Nagel dreht, ist u. a. auch bei den Esten (pohjanael) und den Lappen (boahje-navlle, auch alme-navlle „Himmelsnagel“) bekannt, vgl. auch aisl. veraldarnagli. Die Finnen haben den Polarstern auch mit einem Schar­ nier verglichen, indem sie ihn „Himmelszapfen“ und „Himmels­ scharnier“ nannten. Als Träger des Himmelsgewölbes stellte man sich ferner eine riesige, von der Erde bis zum Mittelpunkt des Himmels reichende Säule vor, die „Weltsäule“ (maailmanpatsas) oder „Himmelsstütze“ (-> Germ. Kosmologie) In einer est.-finn.lapp. Redewendung wird ein bejahrter Mensch mit der Weltsäule verglichen. Die kosmische Säule hat, wie Uno Holmberg-Harva gezeigt hat, in der Kosmographie der sib. Völker und der Eskimo eine wichtige Stellung inne. Es ist bekannt, daß die Lappen und die Altsachsen Nachahmungen der Weltsäule als Kultgegenstände be­ nutzten. Man hat angenommen, daß auch die Finnen eine derartige handgearbeitete Säule kannten (-> Sampo). Die SäulenVorstellungen hängen eng zusammen mit denen von einem riesenhaften Mittel­ punktsberg derWelt, der in Finnland „kupferner Berg“, „Eisenberg“ und „Steinhügel von Nordheim“ hieß. Der Gipfel des Berges liegt an der Stelle des „Himmelsnabels“, Polarsternes oder „Nabelsternes“ (-> Ilmarinen). 2. In die nördliche Gegend, wo man sich den Weltberg vorstellte, verlegte man auch das ferne Totenreich hinter einem Strom (-> Jen­ seitsvorstellungen 2 a). Gelangt man dort hin, sieht man sich am Rande einer Steilwand, wo sich die Wipfel der Bäume nach unten wölben, tief unten schäumt eine feurige Stromschnelle, welche die Toten auf einer Brücke, mit einem Boot oder watend überqueren. Hinter dem Strom befindet sich das Dorf Pohjola „Nordheim“ mit seinen knarrenden Eisenpforten (-^- Sampo), dort erhebt sich auch der glatte Berg vom Totenreich, für dessen Ersteigung der Mensch 367

Weltbild

Finnen

zu Lebzeiten seine abgeschnittenen Fingernägel aufbewahren muß (-> Jenseitsvorstellungen 3; Rahko). Das Zeilenpaar der Volks­ dichtung „Vor der Pforte von Nordheim, unter der Schwelle des Sternenhimmels“ weist darauf hin, daß das Nordheim-Totenreich dort liegt, wo das Himmelsgewölbe die Erde berührt. 3. Wir können fest stellen, daß die eigentliche Kosmographie und die Vorstellung über die Topographie des Totenreiches hinter dem Strome, die verschiedenen Ursprungs sind, in der finn. Volks­ dichtung tiefgehend aufeinander gewirkt haben. Die gleiche Er­ scheinung läßt sich auch anderwärts beobachten, z.B. in den ent­ sprechenden Vorstellungen der Babylonier. Der finn. Orientalist Knut Tallqvist bemerkte, daß der Khubur-Strom, den die Toten auf ihrer Reise ins Jenseits überqueren, offensichtlich mit dem „Kreisfluß“ (marratu) identisch ist, der ebenso wie der äg. „große Kreis“ und der griech. Okeanos um die Erde fließt. Er vermutet auch, daß der Kreisfluß ferner jenes „Todeswasser“ bedeutet, wohin Gilgames auf seiner Reise zu seinen Ahnen gelangt, nachdem er einen Monat und 15 Tage westwärts gesegelt war. Der in der nördlichen Gegend fließende feurige Fluß (-> Jenseitsvorstellun­ gen 2a) gehört sichtlich nicht zu einer sehr alten Schicht der finn. Kosmographie; wenigstens hat man von vielen damit zusammen­ hängenden Vorstellungen feststellen können, daß sie auf die mittel­ alterlichen Visionsbeschreibungen zurückgehen.

4. Ein die Erde umgebendes Meer erscheint in Vorstellungen über am Rande der Welt wohnende Pygmäen, die taivaanääreläiset „Be­ wohner des Himmelsrandes“ oder Untukotolaiset „Bewohner der Heimat der Vögel“. Diese Bewohner einer Insel im Meer sind so klein, daß drei von ihnen auf dem Grunde eines Waschbottichs liegen können. Ihre Kleinheit rührt daher, daß der Himmel sich am Ende der Welt so herniedersenkt, daß ein normaler großer Mensch sich nur auf dem Bauche kriechend vorwärts bewegen könnte. Die Pygmäenfrauen heben auch des abends ihren Spinnrocken auf das Himmelsgewölbe. Die Pygmäen leben von Vogeleiern, in ihrem Lande überwintern die Vögel. Die Lappen nennen diese Gegend Barbmo-Land (barbmo „Grenze, Rand“); dort wohnen kleine Menschen, die sich überwinternde Vögel als Nahrung fangen. Wenn sie aus dem südlich warmen und fruchtbaren Barbmo-Land zurück­ kehren, sind die Vögel „sehr dick und fett“. Die Vorstellung vom Winterland der Vögel am Himmelsrand oder dahinter ist im Arktikum weit verbreitet, die nächsten Entsprechungen zum Motiv vom Pygmäen volle finden sich jedoch in der Überlieferung der Antike (vgl. die Schilderung in der Ilias vom Kampf der Pygmäen und Kraniche 368

Finnen

Weltbild

am Rande des Ozeans). Zur alljährlichen Wanderung der Zugvögel gehört auch die Vorstellung einer matt schimmernden Spur am Him­ mel, die den Vögeln die Richtung weist, der Milchstraße (finn. linnunrata „Vogelstraße“ Lit. Daüsos), an deren Endpunkt das lintukotola „die Heimat der Vögel“, eine Insel im Ozean, liegt, wo die Vögel überwintern. 5. Irgendwo in nördlicher Himmelsrichtung, so glaubt man, befindet sich im Meer ein ungeheurer Strudel, kurimus, der alles Wasser, nahekommende Schiffe, Treibholz usw. verschlingt und nach einer bestimmten Zeit (sieben Jahren) wieder ausstößt. Auch diese internationale Vorstellung, die die Erscheinung von Ebbe und Plut erklärt, wurde mit dem Totenreich verknüpft; so fährt Väinämöinen, als er seinen Stamm verläßt, mit einem Eisenboot „unter die Kehle des Strudels“. Dieser Strudel wurde „Meer- oder Wasser­ nabel“ genannt, er ist also der Mittelpunkt des Meeres wie die Säule, der Berg oder der Baum, welche Himmel und Erde ver­ binden, jeweils das Zentrum der Erde sind. 6. Die Vorstellung vom Weltbaum hat sich bei den Finnen in dem Gedicht von der großen Eiche und in einigen anderen Zusammen­ hängen (-> Anthropogonie) erhalten. In jenem Gedicht wird ge­ schildert, wie die Eiche so hoch wuchs, daß sie die Wolken am Ziehen und die Sonne und den Mond am Scheinen hinderte. Ein kleiner Mann stieg aus dem Meer (-> Kekri 6b) und fällte den Baum, die Krone neigte sich nach Südwest, die Wurzel nach Nordost. Uno Harva vermutete, der gefällte kosmische Baum bedeute die Milch­ straße, in der einige Völker ja einen Baum sehen (auch die Finnen sprechen von der „Krone“ und dem „Stamm“ der Milchstraße). Viele Völker sehen in der Milchstraße ferner eine Brücke der Seelen (—> Lit. Daüsos) und in einigen Gedichtvarianten wird erwähnt, die große Eiche sei über den Fluß von Nordheim gefallen, als Brücke ins Totenreich.

7. Die kosmographischen und kosmogonischen Vorstellungen hat" ten bei der Schaffung der finn. -> Heilsprüche eine große Bedeu­ tung, denn aus ihnen schöpfte man Motive für jene Mythologie des „Mittelpunktes“ und des „Urbeginns“, die in den-> Zauberformeln herrscht. Der finn. Ursprungszauberspruch erklärt jenes entschei­ dende Geschehnis der großen Urzeit, in dessen Zusammenhang das Objekt der Zauberformel, z.B. der Krankheitserreger, zum erstenmal auf der Welt erschien. So heißt es z.B., die Pfeile, welche die Stichkrankheiten verursachen, seien Späne, die beim Fällen der Großen Eiche, des Weltenbaumes, zur Seite geflogen seien, oder

369

Weltbrand

Finnen

es wird geschildert, wie ein Krüppel, Verwachsener und Blinder dreimal in das Weltall schießen: der erste Pfeil hatte den Himmel zu durchschneiden, der zweite die Grundfesten der Erde zu er­ schüttern und der dritte traf den Weltberg und prallte von dort ab und traf in die Haut des Menschen, wodurch die „Stichkrank­ heit“ entstand. Man führt den Anfang der Stichkrankheit außer auf den Mittelpunkt der Welt auch auf die Entstehung der Erde zurück: die Pfeile sollen entstanden sein, als die Nebelfrau auf dem (Ur-)Meer Nebel siebte, oder als der Schmied sie in einer „fenster­ losen und türlosen Werkstatt“ schmiedete (? im Kosmos, vgl. ->Ilmarinens Schmieden des Himmelsgewölbes). In den auslauten­ den Beschwörungen der Zauberformeln wird der Krankheitserreger z.B. zum Meeresnabel, „in den Schlund des Strudels“, oder auf den Weltenberg, den „Steinhügel von Nordheim“, vertrieben. Die Auf­ zählung ähnlicher Beispiele könnte noch lange fortgesetzt werden. Wir stellen fest, daß die kosmographischen und kosmogonischen Bil­ der in vielen Fällen den mythischen Inhalt von Heilriten bildeten.

U. Holmberg (Harva), Der Baum des Lebens, in: AASF 16 (Helsinki 1922 — 1923); Harva, 42—73; Y. H. Toivonen, Pygmäen und Zugvögel, in: FUF 24 (Helsinki 1937); Haavio VES, 191 — 196; Ders., Kansanrunojen maailmanselitys (Helsinki 1955), 7—75; L. Honko, Krankheitsprojektile, in: FFC 178 (Helsinki 1959), 126—146; 197 — 198; Ders., Maailmanjärjestyksen palauttamisen aate parannusriitteissä, in: Verba docent, Lauri Hakulisen juhlakirja (Helsinki 1959); Ders., Varhaiskantaiset taudinselitykset ja parantamisnäytelmä, in: Tietolipas 17 (Forssa 1960). -»-Kosmogonie. -s-Kelt. Jenseits. -> Ung. örfa; Skythien. ->■ Germ. Kosmologie; Yggdrasill. Weltbrand -> Eschatologie.

Weltei -> Kosmogonie. Weltordnung -> Einteilungszeit 1; Ilmarinen; Väinämöinen; Weltbild. Weltsäule —¡~ Sampo; Virankannos; Weltbild.

Wcltschöpfung -> Kosmogonie.

Weltuntergang -> Eschatologie. Wettergott —> Ilmarinen; Köndös; Ukko; Ukon vakat. Wiedergänger -> Totenglaube. Wiesel -> Maahiset.

Wind -> Kosmogonie 2; Pellonpekko 2; Waldgeist. Windgott -> Ilmarinen. 370

Schluß des Kapitels nach den Tafeln (S. 371).

Tafel I

Pinnen

1

2

Tafel II

Finnen

4

Tafel lit

Finnen

5

6

Tafel IV Finnen

8

Finnen

Zwerge

Wirankannos -> Virankannos. Wohlstandsmehrer ->Äkräs; Para.

Zauberformeln, -Sprüche) -> Ahnenkult; Bärenkult; Einteilungs­ zeit ; Eschatologie; Friedhofsgeist; Götterverzeichnis; Hittavainen; Ilmarinen; Kosmogonie 2; Maahiset; Nyrckes; Pellonpekko; Rongoteus; Sampo 3; Ukko 2. 3; Ukon vakat 2; Väinämöinen; Wald­ geist; Weltbild 7.

-> Lit. Zauber. -» Asl. Zauber. -> Kelt. Magie. ->■ Ung. Zauber. -> Germ, Zauber.

Zwerge -> Maahiset; Weltbild 4.

24

371

BALTISCHE MYTHOLOGIE VON

JONASBALYS UND

HARALDS BIEZAIS

In der Einleitung (auf den Seiten 376—387) und in den Stichwort­ artikeln sind die lettischen Teile von H.Biezais, die litauischen Teile von J. Balys und die altpreußischen von beiden Autoren verfaßt. Die Geschichtliche Vorbemerkung (S. 375 f.) schrieb H. W. Haussig.

A. Geschichtliche Vorbemerkung Die heute ausgestorbenen Preußen, die Litauer und Letten bilden zusammen die baltischen Völker, deren Mythologien hier insgesamt dargestellt werden sollen. Wenn man von den Nachrichten in der „Germania“ des Tacitus absieht, die kaum Wesentliches zur Charak­ terisierung der baltischen Völker beitragen, müssen die Angaben der angelsächsischen Seefahrer, die die Ostsee befuhren, als früheste wichtige Quelle für die Geschichte der baltischen Völker bezeichnet werden. Es ist hier vor allem der Bericht des sog. Wulfstan, der das Gebiet der Alten Preußen selbst besucht hat und daher aus eigener Beobachtung und Erfahrung berichtet. Erst von der Mitte des 13. Jahrh. ab haben wir eine einigermaßen kontinuierliche histo­ rische Berichterstattung über das Gebiet der baltischen Völker. Sie beginnt mit wichtigen Nachrichten in der russischen Fortsetzung der Chronik des Malalas vom Jahre 1271 und wird von den Historikern der Ordenszeit weitergeführt. Eine wichtige Rolle spielen hier auch die Berichte französischer Gesandter, die den Hof litauischer Groß­ fürsten besuchten; sie waren z. B. Zeuge der Verbrennung der Leichen der heidnischen Großfürsten Olgierd und Kiojstut, die bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrh. regierten. Als einziges der baltischen Völker haben die Litauer schon im 13. Jahrh. zu einer eigenen Staatsgründung gefunden; diese wurde vor allem durch den Zerfall der altrussischen Staaten möglich. Die noch bis zum Ende des 14. Jahrh. heidnischen Großfürsten Litauens bedienten sich vor allem russischer Beamter, ehe durch den Bund des litauischen Großfürsten Jagiello mit der polnischen Königstochter Jadwiga (Hedwig) der Anschluß an die abendländisch-katholische Welt gewonnen wurde. Mit der Union von Horodlo wurden 1413 der litauische und polnische Adel miteinander vereinigt und damit die Personalunion der Herrscher in eine Realunion verwandelt. Trotz dieser starken staatlichen Bindung blieb ein Bewußtsein für die nationale Eigenständigkeit in Litauen immer bestehen. Bei den Letten verlief die Entwicklung ungünstiger. Hier ist es wegen der Eroberungen und der Besetzung durch den Deutschen Orden und den Orden der Schwertbrüder zu keiner staatlichen Bin düng gekommen. Die Letten kamen im Verlauf des 13. Jahrh. unter deutsche Herrschaft, die sie dann in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh.

375

Einleitung

Balten

mit der polnischen Oberherrschaft vertauschten. Kurland, das den größeren Teil von Lettland umfaßte, hat bis 1795 als selbständiges Fürstentum unter deutschen Regenten bestanden, um dann unter russische Herrschaft zu treten. Die 1522 einsetzende Reformation hatte über das religiöse Ereignis hinaus für die Letten die besondere Bedeutung, daß erst durch sie eine wirkliche Europäisierung eintrat. Als dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. die Wirksamkeit der Herrnhuter einsetzte, erlebte das lettische Volkstum (insbesondere durch die Schaffung eines Gesang­ buches und eines Katechismus in lettischer Sprache) seine erste eigentliche nationale Ausformung. Es sind die protestantischen Geist­ lichen gewesen, die in der Folge einen großen Teil des im Volke lebenden Mythengutes aufzeichneten und veröffentlichten [H.]. Die Erforschung der Religion der Baltischen Völker ist erst neuer­ dings in Angriff genommen worden, und die Ergebnisse sind der inter­ nationalen Forschung wenig bekannt. Zum Teil ist das darauf zurück­ zuführen, daß diese kleinen Völker schwer zugängliche Sprachen und eine verwickelte Geschichte haben. Doch ist die Kenntnis von Sprache und Geschichte die Voraussetzung für ein richtiges Verständnis der religiösen und mythologischen Vorstellungen. Aus diesem Grunde er­ scheint es zweckmäßig, hier kurze Hinweise auf die neuesten Werke auf den Gebieten der Geschichte und der Sprache zu geben, die die Orientierung erleichtern können.

1. Geschichte. a) Apr. W. Gaerte, Urgeschichte Ostpreußens, Königsberg 1929; H. Harmjanz, Volkskunde und Siedlungsgeschichte Altpreußens, Berlin 1942; H. Lowmianski, The ancient Prussians, London 1937; B. Schumacher, Geschichte Ost- und Westpreußens, Würzburg 19572.

b) Lett. Fr. Balodis, Det äldsta Lettland, Stockholm 1940; Baltische Geschichte, hrsg. v. R. Wittram, München 1954; A. Schwabe, Histoire du peuple letton, Stockholm 1953; A. Spekke, History of Latvia, Stockholm 19572.

c) Lit. Th. Chase, The Story of Lithuania, New York 1946; V. Jungfer, Litauen, Tübingen 19482; C.Jurgela, History of the Lithuanian nation, New York 1948; G. Storost, Litauische Geschichte von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Tilsit 1921. 2. Sprache a) Apr. H. Arntz, Sprachliche Beziehungen zwischen arisch und baltoslawisch. Indogermanische Bibliothek III, 13, Heidelberg 1933; J. Endzelins, Altpreußische Grammatik, Riga 1944; E. Fraenkel, Die 376

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Baltischen Sprachen, Heidelberg 1950; R. Trautmann, Baltischslavisches Wörterbuch, Göttingen 1923.

b) Lett. A. Bielenstein, Handbuch der lettischen Sprache, 1863; J. Endzelins, Lettische Grammatik, Heidelberg 1922 (erweiterte let­ tische Ausgabe, Riga 1951); Ch. Ulmann, Lettisch-deutsches Wörter­ buch, Riga 1872; K. Mühlenbachs Lettisch-deutsches Wörterbuch, red. v. J. Endzelin 1—4, Ergänzungen 1—2, Chicago 1953 — 1956.

c) Lit.E.Fraenkel, Litauisches etymologischesWörterbuch 1—, Heidel­ berg 1955— ; J. Otr^bski, Gramatyka j^zyka litewskiego 1 — Warszawa 1956—; A. Senn, Handbuch der litauischen Sprache, Heidelberg 1957; Wörterbuch der litauischen Schriftsprache, Litauisch-deutsch, bearb. v. M. Niedermann u. a. 1 — , Heidelberg 1932—,

B. Zu Religion und Mythos

Genauso, wie alle drei baltischen Völker, die Altpreußen, Letten und Litauer, ethnisch und sprachlich sehr eng miteinander verbunden sind, sind sie es auch in ihren mythologischen und religiösen Vor­ stellungen. Trotzdem ist bis heute kein Werk veröffentlicht worden, das die baltische Mythologie und Religion in ihrer Gesamtheit um­ faßte, wenn auch fast jede Arbeit, die von den religiösen Vorstellungen eines dieser Völker handelt, auf ähnliche Vorstellungen der ver­ wandten Völker hingewiesen hat. Das ist verständlich, wenn man die gemeinsame Ethnogenese dieser Völker berücksichtigt. Doch haben sie sich schon im ersten Jahrtausend n. Chr. getrennt und sind jedes seinen eigenen Weg gegangen. Das hat erstens die Differenzierung verschiedener Phänomene gemeinsamer Herkunft und zweitens die Ausbildung neuer Erscheinungen bei den einzelnen baltischen Völkern hervorgerufen. Erst künftige Untersuchungen werden in jedem kon­ kreten Fall bestimmen können, ob man es mit neuen Elementen zu tun hat, die nach der Trennung der Völker entstanden sind, oder ob es sich um Elemente handelt, die einzelne dieser Völker länger und besser als die anderen aus der Zeit des gemeinsamen Lebens bewahrt haben. In der vorliegenden Arbeit über die Mythologie der baltischen Völker ist daher jedem Stichwort eine kurze Angabe darüber bei­ gefügt, in der Mythologie welches baltischen Volkes es anzutreffen ist (Apr., Lett., Lit.}. Aus den bereits angeführten Gründen schließt das nicht aus, daß die gleiche Erscheinung, sei es unter demselben oder einem anderen Namen, auch bei den übrigen verwandten Völkern anzutreffen ist. Es ist daher zu empfehlen, die entsprechenden Stich­ wörter, auf die verwiesen ist, nachzulesen. Entsprechendes gilt für

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die Hinweise auf Quellen und die Literaturangaben, die hier zwar nach den drei Völkern aufgeteilt sind, im Einzelfall aber häufig auch Material über die anderen Völker enthalten und nicht nur über das Volk, unter dem sie angeführt sind. Alle gemeinsamen Quellen und Forschungen über die Mythologie der baltischen Völker sind in dieser Einleitung unter den Ziffern a, 2 und a, 3 nachgewiesen.

Altpreußen a, 1. Die bisherige Forschung. Das wissenschaftliche Interesse für die altpreußische Religion reicht in die erste Hälfte des vorigen Jahr­ hunderts zurück. Es sind hier die Forscher E. Reusch, H. Frisch hier, F. Lemke, F. Tetzner u.a.m. zu nennen; ein großer Teil der von ihnen vertretenen Anschauungen ist aber schon veraltet. Von bleiben­ dem Wert sind von den Arbeiten der Forscher des vorigen Jahr­ hunderts die Ergebnisse M. Töppens und J. Benders (nachstehend auf­ geführt unter a, 3). Das Verdienst M. Töppens ist, daß er erstmalig eine strenge Kritik der Quellen durch geführt hat und dabei zu dem recht radikalen Schluß gelangt ist, daß von allen in den verschiedenen Chroniken genannten preußischen Göttern nur -> Curche als ein echter apr. Gott anzuerkennen ist. Die größte Aufmerksamkeit wendet er der preußischen Naturreligion zu, die im Anbeten der Steine, Flüsse, Seen, Bäume wie auch der astralen Erscheinungen zum Ausdruck kommt. In einzelnen Gebräuchen, die in der Volksüberlieferung an­ zutreffen sind, erblickt er Elemente des Fruchtbarkeits- und des Seelenkults. M. Töppens Verdienst ist nicht so sehr eine gültige Dar­ stellung der preußischen Religion als die Einführung des kritischen Forschungsprinzips bei der Erforschung dieser Religion. Er hat den Kampf des Christentums gegen die alte preußische Religion und das Entstehen synkretistischer Vorstellungen richtig erfaßt und be­ schrieben. J. Bender folgte im großen und ganzen dem kritischen Prin­ zip M. Töppens, doch erweiterte er es solcherart, daß er von den seitens M. Töppens verneinten preußischen Göttern diejenigen als echt an­ erkennt, die in mehreren voneinander unabhängigen Dokumenten Vorkommen. Man kann bei J. Bender sogar von einer gewissen ver­ gleichenden Methode sprechen. Er gesteht zu, daß Götter wie Patollus (-> Patolus) und Patrimpo (-> Potrimpus) als echte apr. Götter an­ zuerkennen sind, hingegen sei —> Picullus erst unter dem Einfluß des Christentums aufgekommen. Gleicherweise findet er, daß die apr. Religion sich auf drei Hauptgebiete konzentriert: Naturverehrung, Priesterhierarchie, die sich im Criwe konzentriert, und den von dieser Priesterhierarchie gepflegten Glauben an ein Leben nach dem Tode. Unter dem Einfluß der herrschenden Meinung seiner Zeit versucht er die preußische Naturverchrung vom Urmonotheismus her zu er378

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klären, als Anbetung eines einzelnen Gottes in verschiedenen Er­ scheinungen der Natur. Seine Versuche, Beziehungen zu den Gottes­ vorstellungen der griechischen, slavischen, keltischen und finnischen Völker aufzudecken, sind bedeutungslos; sie sind auf das Negativ­ konto des damaligen Komparatismus zu setzen. Die erste und bisher einzige umfassende monographische Unter­ suchung über die preußische Religion stammt von H. Bertuleit. Ob­ gleich eine direkte Abhängigkeit von J. Bender nicht zu leugnen ist, hat er doch alle ihm zugänglichen geschichtlichen Dokumente selbst systematisch durchgearbeitet. Seine Untersuchungen konzentrieren sich auf vier Komplexe: Naturverehrung, Götterglaube, Priesterschaft und Kultus, Unsterblichkeitsglaube und Seelenkult. In gewisser Hin­ sicht verbessert er die Ergebnisse der früheren Forscher. Der preußi­ sche Naturkult mit den dort genannten niederen mythologischen Wesen schließt nicht aus, daß hinter ihnen höhere Wesen stehen. Es ist das besondere Charakteristikum der Quellen, daß sie sie als niedere Wesen bezeichnen; daher liegt kein Grund vor, das Vorhanden­ sein auch höherer göttlicher Wesen bei den Preußen zu bestreiten. Ferner hat H. Bertuleit das preußische Material mit dem lettischen und litauischen verglichen und ist zu dem negativen Resultat gelangt, daß es nur einen allen drei Völkern gemeinsamen Gott gibt, —> Percunis. Diese Ansicht H. Bertuleits wird scharf kritisiert von J. Balys und P. Smits1. Auf der Grundlage der Forschungen M. Töppens, J. Benders und H. Bertuleits haben mehrere andere Forscher Zu­ sammenfassungen und kurze Übersichten über die preußische Religion gegeben, so 0. Krollmann, H. Crome u. a.

Zusammenfassend können wir sagen, daß die Erfassung der Quellen über die preußische Religion abgeschlossen ist und keine neuen Er­ gebnisse zu erwarten sind. Die Auslegung und Erläuterung dieses Quellenmaterials aber, und nicht nur im Zusammenhang mit den mythologischen Vorstellungen der übrigen baltischen Völker, sondern auch im Lichte der gegenwärtigen Religionsforschung im allgemeinen, kann zu anderen und neuen Erkenntnissen führen. Zu bedeutenden Ergebnissen können hier richtig gezogene Verbindungslinien zwischen den archäologischen Forschungen und Volksüberheferungen einerseits und den Zeugnissen der historischen Dokumente andererseits führen. Jedenfalls steht schon jetzt fest, daß die preußische Religion eine Ackerbaureligion mit den hierfür typischen Zügen ist, was einerseits in der Personifizierung und kultischen Verehrung der chthonischen Naturkräfte und der astralen Erscheinungen, andererseits durch den ausgebildeten Vorfahrenkult mit differenzierten Bestattungsriten, die

1 vgl. Biezais (1954), 101. 379

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mit den Feuerriten im direkten Zusammenhang stehen, zum Ausdruck kommt. a, 2. Quellen. Es gibt dreierlei Arten von Nachrichten über die alt­ preußische Mythologie, wie überhaupt über die baltische Mythologie: archäologische Zeugnisse, geschichtliche Dokumente und Folklore. Die ostpreußische Archäologie ist verhältnismäßig erfolgreich ge­ wesen; dort haben Gelehrte wie M. Ebert, C. Engel, A. Gaerte, B. Richthofen Arbeiten von bleibendem Wert geschaffen. Über die preußische vorgeschichtliche Religion ist aber noch kein erschöpfen­ des Werk geschrieben worden, die Äußerungen hierüber sind in ver­ schiedenen Werken der genannten Forscher verstreut zu finden. Viel besser steht es um das historische Material. Alle wichtigen Dokumente dieses Charakters sind in der bekannten preußischen Sammlung historischer Dokumente (SS.R.Pr.) zusammengefaßt, die sogar bis ins 9. Jahrh. zurückführt; sie wird durch die Dokumentensammlung Mannhardts (1936) nur um ein Weniges ergänzt. Einzelne bedeutende Dokumente sind auch in anderen Sammlungen zu finden (Preußisches Urkundenbuch, Hrsg. R. Philippi, I, 1, 1882). Ein Teil der alten preußischen Vorstellungen ist auch im folkloristischen Material er­ halten geblieben; hier sind die Arbeiten von A. Gaerte und H. Meyer besonders beachtenswert (vgl. a, 3). A. Wittorf, Baltische Sagen und Märchen, 1860; W. Tettau und J. Temme, Die Volkssagen Ost­ preußens, Lithauens und Westpreußens, 1857. Eine kritische Be­ wertung derselben bei H. Biezais (1954) 67—73. M. Praetorius, Deliciae Prussiae oder Preußische Schaubühne, 1871. Acta Borussica ecclesiastica civilia literaria, I—III, 1730—1732; Fon­ tes historiae religionum primitivarum, praeindogermanicarum, indogermanicarum minus notarum, ed. C. Clemen (Fontes historiae reli­ gionum ex auctoribus graceis et latinis collectos, VI), 1936; J. Lasicius, De diis Samagitarum (MLL XIV, [1868]); W. Mannhardt, LettoPreußische Götterlehre (MLL 21, [1936]). a, 3. Allgemeine Literaturangaben. H. Bertuleit, Das Religionswesen der alten Preußen mit litauisch-lettischen Parallelen (Prussia 25, [1925]); J. Bender, Zur altpreußischen Mythologie und Sitten­ geschichte, in: Altpreußische Monatsschrift II (1865) 577—603, 694—717 nud IV (1867) 1—27, 97—135; J. Bender, De veterum Prutenorum diis, Braunsberg 1865; H. Biezais, Die Religionsquellen der baltischen Völker und die Ergebnisse der bisherigen Forschungen, in: Arv 9 (1953) 65—128; A. Brückner, Osteuropäische Götternamen, in KZ 50 (1922) 161 — 197; C. Clemen, Die Religion der Balten und Slaven, in: Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft 53 (1938) 76—95; W. Friederici, Ueber altpreußische Gräber und Bestat­ 380

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tungsgebräuche, in: Altpreußische Monatsschrift 9 (1872) 137—161; Gottesidee und Kultus bei den alten Preußen, Berlin 1870; L. Gray, Baltic Mythology, in: The Mythology of all races, III, 315—330, Boston 1918; C. Krollmann, Das Religionswesen der alten Preußen, in: Alt­ preußische Forschungen 4, 2 (1927) 5—19; H. Lullies, Zum Götter­ glauben der alten Preußen, in: Beilage zum Jahresbericht 1904 des Königlichen Wilhelms-Gymnasium in Königsberg i. Pr. Programme 7, 41—51; V. Pisani, Le religioni dei celti e dei balto-slavi nel ’Europa precristiana, Milano 1950; V. Pisani, II paganesimo balto-slavo, in: Storia delle religioni, ed. di G. Castellani, II (Torino 19625) 838—857; L. v. Schröder, Arische Religion 1—2, Leipzig 19232; H. Thomas, Die slawische und baltische Religion vergleichend dar­ gestellt, Diss. Bonn 1934; H. Usener, Götternamen, Frankfurt a. M., 19483, 79-115, 280-283.

Letten b, 1. Die bisherige Forschung. In der Erforschung der lettischen Mythologie kann man recht deutlich zwei sich voneinander abzeich­ nende Perioden erkennen. Nachdem im vorigen Jahrhundert die sprachvergleichende Wissenschaft die Zugehörigkeit des Baltischen zum indoeuropäischen Sprachkreis festgestellt hatte, wandte sich die Forschung auch den religiösen Darstellungen der anderen Völker dieses Sprachkreises zu. In diesem Zusammenhang bedeutet — wenn man von einzelnen Bemerkungen absieht, die sich in verschiedenen sprachwissenschaftlichen Werken eingestreut finden — das von W. Mannhardt 1875 veröffentlichte Werk über die lettischen Sonnen­ mythen, das in mancher Hinsicht bis zu unserer Zeit seine Bedeutung behalten hat, den Beginn einer Epoche. Seinen Anregungen folgend haben mehrere Forscher die verschiedenen Fragen der Religion der Letten bearbeitet; unter ihnen beanspruchen die Veröffentlichungen von A. Bielenstein und L. Schröder einen bleibenden Platz (s. Einl. B: b, 3). Den Tendenzen ihrer Zeit folgend, versuchten sie die lettischen mythologischen Vorstellungen mit den altindischen in Beziehung zu bringen. Da jedoch jede breitere kritische Bearbeitung der Quellen und analytische Untersuchungen überhaupt fehlen, sind diese Ver­ gleiche und die aus ihnen gezogenen Folgerungen nicht mehr aufrecht­ zuerhalten. Doch hat man diesen Forschern dafür zu danken, daß sie die Aufmerksamkeit der internationalen Forschung auf die lettische Mythologie hingelenkt haben. Die zweite Periode wird durch die Arbeiten derjenigen Gelehrten gekennzeichnet, die aus der Mitte der Letten selbst gekommen sind. Hier waren in erster Linie die von W. Mannhardt und L. Schröder völlig abhängigen Forscher J. Lauten­ bachs, L. Bersins u. a. zu nennen. Eine mehr kritische Richtung ver-

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Einleitung___________________________________________________ Balten traten P. Smits und L. Adamovics, die die ersten und bis jetzt einzigen synthetischen Arbeiten über die lettische Mythologie geliefert haben. Einzelne Fragen haben danach vor allem E. Zicäns und K. Straubergs sowie andere mehr behandelt. (Weitere Autoren und Werke werden bei den einzelnen Artikeln genannt.) Die kritische mono­ graphische Bearbeitung des Themas hat erst mit den Arbeiten des Verfassers dieses vorliegenden Werkes richtig eingesetzt. Die höheren Qötter. Die enge Beziehung der Mythologie der Letten zu der Mythologie der übrigen indoeuropäischen Völker erhellt be­ sonders deutlich bei den astralen Gottheiten. Unter ihnen steht an zentraler Stelle —> Dievs, dessen ursprüngliche Bedeutung „Himmel“ ist. Obgleich er nicht der Herrscher über die anderen Götter geworden ist, sind seine Funktionen eines pater familias unter den anderen Göttern typisch. Aus der Welt niederer mythischer Vorstellungen ist er zu einem Gott universellen Charakters und zum Bestimmer mora­ lischer Normen emporgewachsen. Diese seine Stellung erklärt auch den Umstand, daß er in allen möglichen konkreten Lebenslagen des lettischen Bauernvolkes anzutreffen ist. Seine Allgegenwart und seine Allwissenheit sind Eigenschaften, die ihn als typischen Himmelsgott charakterisieren. Neben ihm nimmt einen gleich hervorragenden Platz -> Säule, die Sonne, ein, zu der Dievs in einem, wenn auch nicht voll ausgestalteten, Familienverhältnis steht. Dafür zeugen die Freiers­ fahrt des Dievs zur Säule sowie auch die oft erwähnten —> Dieva deli, Gottessöhne, und -> Saules meitas, die Sonnentöchter. Die Rolle der Säule beschränkt sich auf die zwei größeren Aspekte als Förderin der Fruchtbarkeit und als Hüterin der moralischen Gerechtigkeit. Nicht so bedeutend ist die Rolle, die in den Himmelsmythen dem ->Meness, Mond, zuerteilt ist. Seine Funktionen sind so weit reduziert, daß er vorwiegend mit der Gestalt des Kriegers in Verbindung gebracht wird. Es scheint, daß sich hier die alte baltische Vorstellung des Kriegs­ gottes erhalten hat. Zu der Gruppe der Himmelsgötter gehört auch -> Perkons, Donner. Seine Funktionen beziehen sich auf die Förderung der Fruchtbarkeit, sekundär auch auf den Kampf gegen die bösen Geister. Mit diesen sich klar abzeichnenden Himmelsgöttern verbindet sieh ein mehr oder weniger ausgestalteter Kult, mit Spezialopfern und Riten, Anbetung und Hymnen. Die an den Söhnen, Töchtern und den Brüdern dieser Götter haftenden mythischen Vorstellungen sind ohne jeden tieferen religiösen Gehalt. Unter den höheren Göttern nimmt die Schicksalsgöttin Laima einen hervorragenden Platz ein. Ihre besondere Aufgabe ist es, das Schick­ sal des Menschen schon im Augenblick der Geburt zu bestimmen. Deshalb wird sie oft als Glüeksbringerin und Hüterin des Glücks be­ zeichnet. Sie ist mit jedem Schritt im Leben des Menschen verbunden.

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hatten____________________________________________ ______ Einleitung Sie bestimmt Glück und Unglück. Unter der Bestimmung des Glücks des Menschen ist eine Erweiterung ihrer Funktionen bis zu einem Umfang zu verstehen, der das ganze Milieu, in dem der Mensch lebt, umfaßt. Laima wird auch zur Hüterin der Viehzucht und der Frucht­ barkeit der Felder. Sie bestimmt noch eindeutiger als die anderen höheren Götter das moralische Leben des Menschen, was das Be­ griffspaar Ehre—Unehre einschließt. Ganz anderen Charakters ist —> Zemes mäte, die Erdmutter. Ihr Wesen weist einerseits Züge der chthonischen Gottheiten auf, deren Funktionen auf dem Weg der Differenzierung von verschiedenen anderen ->Mätes, Mütter — als Hypostasen der Funktionen der Zemes mäte — übernommen worden sind; andererseits haben sich in ihm klar erkennbare Züge einer Göttin der Fruchtbarkeit erhalten. Wie mit Laima, so ist auch mit der Zemes mäte ebenso wie mit, anderen höheren Gottheiten ein bestimmter Kult verbunden. Gottheiten des Lebens und der Arbeit. Die höheren Gottheiten wurden von den christlichen Missionaren, denen wir die ersten schriftlichen Nachrichten über die baltischen Völker verdanken, entweder größten­ teils übersehen oder mit voller Absicht nicht erwähnt. Daher ist über sie in den Quellen wenig zu finden. Desto mehr verbreitet man sich über die mythologischen Wesen, die die Arbeit des Menschen im Hause und in der Natur bestimmen. So hat bereits Adam v. Bremen (um 1075) in einem Bericht über die Letten speziell ihren Götzenkult erwähnt (nimium ydolatrie cultum) und besonders unterstrichen, daß divinis, auguribus atque nigromanticis omnes domus plene sunt. Ein gleiches Bild stellt sich dem Papst Innozenz III. in der neuerworbenen Provinz Livonia laut der Bulle vom 5. Oktober 1199 dar, in der die Bevölkerung als solche qui honorem Deo debitum animalibus brutis,

arboribus jrondosis, aquis limpidis, virentibus et spiritibus immundis impendunt charakterisiert wird. Das Bild hatte sich auch vierhundert Jahre später nicht verändert, wie die Aufzeichnungen des Jesuiten­ paters J. Stribins vom Jahre 1606 zeigen: Interrogatus quot deos

haberent, Respondit, varios pro varietate locorum et personarum et necessitatum esse Deos, Habemus, inquit, Deum qui habetat (!) curam coeli, habemus et Deum, qui terram regit, hie cum sit supremus in terra, habet sub se varios minores sibi Deos. Habemus Deum qui nobis pisces dat, habemus Deum qui jeras nobis dat, habemus Deum frumentorum, Agrorum, hortorum, Pecorum, videlicet Equorum, Vaccarum et variorum animalium (s. Biezais [1961] 88). Es liegt kein Grund vor, über die verschiedenen hier genannten niederen Gottheiten Zweifel zu hegen, insbesondere, da diese gleichen Wesen, wenn auch zuweilen unter anderen Benennungen, im Material der Folklore in den gleichen von J. Stribins erwähnten Funktionen anzutreffen sind. Das zähe Fest­

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halten an ihnen noch im 17. und 18. Jahrh. beweisen die wiederholten Aufzeichnungen der Visitatoren in ihren Protokollen und in den Kirchen-Gerichtsakten (s. im folgenden unter b, 2). Die verschiedenen Gottheiten kann man nach ihren Wirkungs­ bereichen mehr oder weniger systematisieren, indem man sie um drei Punkte konzentriert: den Menschen selbst, sein Haus und seine Arbeit, und die Natur. Eine solche Systematisierung ist natürlich schematisch, und die Gottheiten, die wir in einer Gruppe nennen, können in ge­ wissem Zusammenhang auch in einer anderen Gruppe auftreten. Dieser letztgenannte Umstand ist besonders zu berücksichtigen. Ebenso darf man niemals außer acht lassen, daß auch die höheren Gottheiten in bestimmten Situationen des Lebens die Funktionen niederer Gottheiten übernehmen können. Über den Menschen selbst ist zu sagen, daß, obgleich sein Leben vom Augenblick der Geburt bis zum Tode von der Schicksalsgöttin Laima und von Dievs bestimmt wird, nebenher in entscheidenden Situationen auch andere mehr oder weniger personifizierte Kräfte in Erscheinung treten.

So wohnt an der üblichen Stätte der Niederkunft der lettischen Bäuerin, in der Badestube, die —> Pirts mäte, die Badestubenmutter (T 24086), der nach einer glücklichen Geburt ein Opfer dargebracht wird (T 6597). Die Tradition weiß auch von der Bewirtung der -> Veji, der lebenden Toten, in der Badestube zu berichten. Bei einer Hochzeit war der Augenblick wichtig, in dem die Braut ins neue Haus und in die neue Familiengemeinschaft eingeführt wird. Das war mit einer Beschenkung der neuen Familienglieder verbunden, haupt­ sächlich aber mit der Anknüpfung besonders freundschaftlicher Be­ ziehungen zu den ->Mäjas gari, den Hausgeistern. Die wichtigen Stellen waren der Herd des Hauses resp. das Feuer, der Platz hinter dem Ofen als Aufenthaltsort der Geister, und die Türschwelle. An all diesen Stellen wurde unter Beobachtung eines bestimmten Rituals geopfert, womit man die Gewogenheit dieser Geister dem neuen Hausbewohner gegenüber sicherte1. Mit dem Tod des Menschen war die aktive Tätigkeit mehrerer mystischer Wesen verbunden. Der Tod selbst wurde personifiziert und häufig als - >Näves mäte, Todesmutter, bezeichnet (27533, T 35786), die einen durchweg ambi­ valenten, nicht nur negativen Charakter hatte (49350, 49390). Auf dem Friedhof wird der Verstorbene zunächst von der -> Zemes mäte erwartet und betreut; neben ihr werden mehrere andere erwähnt, die die gleichen Funktionen haben: Kapu mäte, die Gräbermutter (27 519, 27522), Smilsu mäte, die Sandmutter (49489), Rüsumäte, die Sorgen­ mutter (27528), —> Veju mäte, die Mutter der lebenden Toten, u. a.

1 Siehe Biezais (1955) 221—227. 384

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Wenn man von der ersten Gruppe der Gottheiten sagen kann, daß sie das Leben des Menschen auf dieser Welt und nach dem Tode zu sichern haben, so gehören in die zweite Gruppe diejenigen, die den Erfolg der Arbeit und den Wohlstand zu garantieren haben. Auch diesen schwach personifizierten Gottheiten, die sich in der nächsten Umgebung des Bauernhauses aufhalten, werden zu gewissen Zeiten und bei besonderen Anlässen Opfer dargebracht. Gelegentlich der bereits erwähnten Hochzeit geht die neue Hausbewohnerin durch alle Gebäude, Gärten, Wege und zum Brunnen, überall legt sie ihre Opfer­ gaben nieder. Im Kuhstall wohnt die Govu mäte, Kühemutter (Märsavina), resp. die Kühe-Laime, im Pferdestall die PferdeLaime oder der Pferde-Patron -> Usins, die sich an den genannten Orten in verschiedenen Tiergestalten zeigen: als Schlange, Kröte, Mistkäfer, Margaretchen, Meise, u.a.m. In der Scheune wohnen im Winter zusammen mit dem Getreide —> Jumis u. a. In der Riege sorgt für Sicherheit gegen Feuer und für das Wohlergehen der Dre­ scher die Rijas mäte, die der Uguns mäte, Feuermutter, sehr nahe­ steht (T 16219, T 19171, T 31103—05). In der Riege füttert in der veJu-Zeit auch —> Velis (T 32492). Sehr oft vermischen sich mit diesen Gestalten mehrere Vorstellungen. Mit den dem Hause wohlgesinnten Geistern verbinden sich Elemente des Totenkults. Ebenso wie im Hause wird der Bauer auf dem Felde von den dort lebenden För­ derern der Fruchtbarkeit begleitet. Außerhalb der näheren Um­ gebung des Hofes trifft er andere, seine Arbeit und sein Leben schützende oder gefährdende mythische Wesen ->Meza mäte, die Waldmutter, die ->Ce]a mäte, Wegemutter, —> Juras mäte, die Meermutter. Während schwerer Epidemien wird die Mera mäte, die Pestmutter, erwähnt (4124, 34119), in den Krieg begleitet die Kara mäte, die Kriegsmutter (13604, 26117 — 18). Hier ist nur ein Teil der in verschiedenen Lebenslagen anzutreffenden niederen mythischen Wesen aufgezählt. Sehr oft vereinigen sie in sich mehrere Züge, die ursprünglich nicht in ihrer Natur lagen. Am häufigsten kommen in diesen Gestalten offen oder versteckt Elemente des Totenkults (—> Ve)u mäte) zum Ausdruck. Eine genauere Erforschung dieser niederen Wesen ist bisher so gut wie gar nicht in Angriff genommen, es sind nur verschiedene Vermutungen ausgesprochen worden. Zur Charakterisierung der Religion der Letten ebenso wie der übrigen baltischen Völker wird häufig summarisch der Begriff Natur­ religion oder Religion der Naturverehrung gebraucht. Diese Bezeich­ nung ist im vorigen Jahrhundert unter dem Einfluß der Natur­ mythologischen Schule entstanden. In Wirklichkeit ist eine solche Bezeichnung nur so weit begründet wie in jeder anderen Religion land­ wirtschaftlich tätiger Völker. Neuere Untersuchungen haben immer 385

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mehr einen anderen Zug aufgedeckt, der von den besonderen sozialen Verhältnissen bestimmt wird. Das ist nicht nur in der Ausgestaltung derjenigen mythischen Gestalten zu beobachten, deren enger Zu­ sammenhang mit den durch Naturerscheinungen ausgelösten Erleb­ nissen klar zutage liegt, sondern ganz besonders auch in den Gestalten der höheren Götter. Falsche Götter und fragliche Verbindungen. Der Charakter der Quellen der lettischen Mythologie ist insofern von eigener Art, als die ersten schriftlichen Mitteilungen in den von aktiven Verbreitern des Christentums hinterlassenen Dokumenten auftreten, das Material der Folklore aber von einem weitgehenden Synkretismus und von der späten Aufzeichnungszeit beeinflußt ist. Durch diese Umstände sind viele christliche Heilige bzw. personifizierte heilige Tage unter die lettischen Götter geraten, wobei ihre Namen sich in der Volks­ etymologie verändert haben, manchmal sogar so stark, daß es schwer­ fällt, die ursprünglichen etymologischen Zusammenhänge zu finden. Diese Wesen haben seit dem Aufblühen der nationalen Romantik in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts als Pseudogötter nicht nur die vulgäre Vorstellungswelt, sondern sogar hervorragende wissen­ schaftliche Arbeiten bis zum heutigen Tage beeinflußt, z. B. Mära (Hl. Maria) (Anthropos 54 [1959] 764), Dekla (Hl. Thekla) (V. Pisani [1950] 94),Tenis (Hl. Antonius), Miesmetis (Fastenzeit) u. a. Eine ähn­ liche Kategorie von Pseudogöttern, die in großem Umfange schon Ende des 18. Jahrh. von G. Stender in die lettische Mythologie auf­ genommen worden sind, sind als Mißverständnisse seitens Land­ fremder oder als in dichterischer Begeisterung geschaffene Phantasie­ wesen anzusprechen, die weder durch historische Dokumente bestätigt werden noch im Material der Folklore zu finden sind. Zu ihnen ge­ hören die vielbesungenen und oft erwähnten Pikols, Trimpus, Liga, Tikla, Milda u. a. (s. Smits [1926] 66—78). Gottheiten dieser Art sind selbstverständlich in unserem Buch nicht aufgeführt. Der ursprüngliche Zusammenhang der lettischen Sprache mit der Sprache des indoeuropäischen Urvolks und der altindischen Sprache hat viele kritiklose Forscher dazu verführt, unbegründeterweise auch auf dem Gebiet der Mythologie solche Zusammenhänge zu suchen. Obgleich solche Beziehungen in vielen Fällen nicht zu leugnen sind, fehlen auf diesem Gebiet nach wie vor ernste, auf Quellen be­ ruhende vergleichende Forschungen. Aber unter dem Einfluß neuester phänomenologischer und archetypologischer Forschungen ist auch eine entgegengesetzte Tendenz zu beobachten, nämlich auf Grund eines theoretischen Schematismus (M. Eliade, W. Betz) Züge ab­ zulehnen, die in Wahrheit geschichtlich konkret gegeben und eigen­ ständig sind.

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Einleitung

Es ist nicht möglich, an dieser Stelle die mit der Quellenkritik und der Methodologie zusammenhängenden Fragen zu erörtern, doch muß darauf hingewiesen werden, daß die bei den einzelnen Stichwörtern angegebene Literatur keineswegs die Ansichten des Autors dieses Bei­ trags wiedergibt, sondern nur den gegenwärtigen Stand der Forschung auf dem Gebiet der Religion der Letten aufzeigt. Vor der Benutzung der angeführten Literatur ist es auf jeden Fall empfehlenswert, die kritischen Hinweise des Autors in seinen Schriften kennenzulernen, besonders Biezais (1955) 1—67 und Biezais (1961) 44—89.

b, 2. Quellen. Die Quellen sind teilweise historischer, teilweise folkloristischer Art. Von den ersteren sind besonders zu nennen: Henriei Chronicon Livoniae, ed. L. Arbusow et A. Bauer. Hannoveriae 1955; P. Einhorn, Historia lettica, Dorpat 1649 (19562), auch in SSRL II 569—604; P. Einhorn, Wiederlegunge der Abgötterey . . . Riga 1627, Auszüge in SSRL II 630—652; Fontes Historiae Latviae Societatis Jesu I—II, Ed. J. Kleijntjens (Fontes Historiae Latviae III). Rigae 1940—1941; E. Kurtz, Die Jahresberichte der Gesellschaft Jesu über ihre Wirksamkeit in Riga und Dorpat 1583—1614, Riga 1925; K. Bregzis, Baznïcu vizitäciju protokoli (Visitationsprotokolle der Kirchen) (deutsch). Riga 1931. Das folkloristische Material ist in mehreren Sammlungen ver­ öffentlicht worden. Außer den itn Abkürzungsverzeichnis erwähnten Werken (Nummer, Pasakas, T.) sind noch auf folgende Werke Hin­ weise zu geben: E. Brastins, Latvju Die va dziesmas (Lettische Gottes­ lieder). Riga 1928; E. Brastins, Latvju gadskärtas dziesmas (Volks­ lieder der Jahreszeiten). Riga 1929; M. Jonval, Les chansons mytho­ logique lettonnes. Riga 1929; K. Straubergs, Lettische Volksgebräuche (lettisch) (MAFL A. 11). Riga 1944; K. Straubergs, Formules magi­ que des Lettons I—II (lettisch) (MAFL A. 5, A. 10). Riga 1939—1941 ; H. Wissendorf-Zinciém, Légendes mythologiques lataviennes, in : Revue des traditions populaires 2 (1887) 4—8, 481—486; 3 (1888) 117-119; 7 (1892) 257-258, 552-553. b, 3. Allgemeine Literaturangaben. Außer der im Abkürzungs­ verzeichnis unter den Namen L. Adamovies, H. Biezais und P. Smits genannten Literatur sind noch folgende weitere Arbeiten zu nennen : L. Adamovics, Diferenciäcija un integräcija latviesu mitologijä (Differenzierung und Integrierung in der lettischen Mythologie), in: Senatne un mäksla (1936) 210—217; L. Adamovics, Zur Geschichte der altlettischen Religion, in ST 2 (1940) 13—39; 0. Lideks, Lat­ viesu svötki (Die lettischen Feste) (Zusammenfassung auf deutsch) (MAFL B. 8). Riga 1938; W. Mannhardt, Die lettischen Sonnen­ mythen, in: ZE 7 (1875) 73-104, 209-244, 281—330; E. Rumba, 25

387

Einleitung

Balten

Latviesu dieviete Laima (Die lettische Göttin Laima), in: IMM 7—10 (1936) 1—22, 232—245, 367—377; E. Zicäns, Die Ewigkeitsahnung im lettischen Volksglauben, in: ST 2 (1940) 41—63.

Litauer c, 1. Die bisherige Forschung. Alte Quellen berichten häufig über die Naturverehrung der Litauer. Peter von Dusburg hat 1326 geschrie­ ben: „Sie sahen in allem Erschaffenen eine Gottheit, in Sonne, Mond und Sternen, den Donnerschlägen, den Vögeln, auch den Vierfüßlern, bis zur Kröte; sie hatten auch heilige Wälder, Felder und Gewässer, dergestalt, daß sie darin nicht Holz zu schneiden, Ackerbau zu treiben und zu fischen wagten“ (zitiert von Usener, 81). Dies ist freilich eine zu allgemeine Darstellung, die keine besondere Beachtung verdient. Der­ artigen primitiven Auffassungen von der Naturverehrung heidnischer Völker begegnet man häufig (vgl. Bischof Agriólas einleitende Be­ merkungen zu finn. Mythologie, -> Finn. Einl.; Finn. Götterverzeich­ nis). Die Naturverehrung schließt noch nicht das Vorhandensein von Göttern aus. Die älteste Quelle, die wolhynische Bearbeitung der grie­ chischen Weltchronik des Malalas, hat bereits eine Anzahl von indivi­ duellen Göttern einschließlich —> Perkunas, mit Namen genannt. Die Chronisten und Mönche hatten Schwierigkeiten, etwas Näheres sowohl über die Namen als auch über die Kulte der heidnischen Götter zu erfahren. Die Jesuiten berichteten 1605, daß die Leute den fragenden Mönchen nichts über die Verehrungsweise des Haushaltungsgottes —> Dimstipatis verraten wollten: und mit guten Gründen. Aus Preußen wissen wir durch ein amtliches Schreiben des Amtmanns von Labiau aus dem Jahre 1571 an Oberburggraf Christoph von Kreytzcn, daß ein Bauer Michel aus Popkeimcn (Kr. Tapian) verhaftet und vielleicht zu Tode gemartert wurde wegen „greulicher Abgötterei“, weil er während der Pest einen schwarzen Bock an Diedewaythe (die große Göttin?) geopfert hatte usw. (NPPB 2 [1846] 227). Ähnliche Berichte und die Darstellungen der Jesuiten enthüllen manche Einzelheiten über kul­ tische Bräuche; so wird z. B. in einem aus dem Jahre 1583 stammen­ den Bericht gesagt: „Wenn die Unsrigen in ihren Predigten derlei Gebräuche angriffen, wenn sie Viehknochen und andere Abzeichen dieses rauhen Glaubens von den Türpfosten und Wänden abrissen, mit den Füßen traten, auf den Scheiterhaufen hinwarfen, wenn sie ihre göttlichen Eichen niederhieben und die heiligen Schlangen, welche den Hauseltern und ihren Kindern schon von der Wiege an vertraut waren, zerschmetterten, schrien die Heiden, daß ihre Heilig­ tümer entweiht, daß ihre Baum- und Thon- und Felsen- und Garten­ götter vernichtet würden“ (Rostowski, 118, zitiert von Brückner, Beiträge, 34). 388

Balten

Einleitung

Auch manche verhältnismäßig späte Schriften mögen das Richtige angegeben haben. In einem anonymen Büchlein „A New Account of Poland and Lithuania“ (London 1702) wird S.14 gesagt: „In alten Zeiten beteten die Litauer das Feuer an, verehrten Schlangen und glaubten, daß der Aufenthaltsort der Götter in den Wäldern sei. Sie verbrannten die Leichen der Verstorbenen zusammen mit ihren Pfer­ den, zwei Jagdhunden und was sonst sie zumeist schätzten, wenn sie lebten. Sie tanzten um das Leichenfeuer, bliesen die Trompete und schlugen die ganze Zeit die Trommel; später wurde der Asche noch Milch, Honig und Wasser geopfert.“ Über das letztgenannte -»Opfer an die Asche der Verstorbenen wissen wir allerdings aus anderen Quellen nichts. Die religiösen Vorstellungen der alten Litauer können folgender­ maßen charakterisiert werden: Naturverehrung (-»Feuer, —»Wasser, -»Baum und -»Wald usw.), Götter des —»Himmels, Götter der -»Erde, —»Fruchtbarkeitsgötter, -»Haushaltungsgötter und Götter des -»Lebenslaufs (—»AS1. EinL). Es sind zwei Stufen der Natur­ verehrung zu bemerken. Zuerst wurden die Elemente (—»Feuer, -»Wasser, -»Steine), die Himmelskörper (-»Sonne, -»Mond, -»Sterne), die Objekte der Natur (—»Bäume, gewisse Tiere) direkt als heilige Gegenstände betrachtet. „Alles, was wir über dem Kopf sehen, ist heilig“, sagt das Volk. Die Gegenstände fühlen und be­ nehmen sich als Lebewesen (Animatismus). Dann aber kommt die animistische Denkweise zur Geltung, nämlich, daß über die betreffende Region (Wasser, Wald, usw.) ein Geist regiert, der dort lebt und günstig gestimmt werden soll, damit er den Menschen nicht schade. Schließlich haben wir Götter, wie -»Perktinas, die nicht mehr mit einem gewissen Bereich eng verbunden sind, sondern überall wirksam sein können: Wetter, Fruchtbarkeit, Rechtsaufsicht, Eheleben, Ver­ nichtung der Dämonen usw. gehören ihm zu. Häufig umschreibt der Name dieTätigkeit oder den Wirkungsbereich des Gottes, z.B. —»Bangpütys („Wellenblaser“), —»Medeine (von medis, ursprünglich „Wald“, jetzt auch „Baum“). Beliebt sind die alter­ tümlich klingenden Benennungen mit patis („selbst, Herr“, vgl. Viespatis, der höchste Herr, nur für Gott und König als Attribut ge­ braucht). Beispiele: —» Zomtipatis („Erdherr“, erwähnt 1547), -»Dimstipatis („Haushaltherr“, erwähnt 1583), -»Vejopatis („Windherr“, erwähnt bei Praetorius); vgl. ind. Prajäpati und Vastos-patiu („Woh­ nungsherr“). — Viele Götternamen beruhen einfach auf Mißverständ­ nissen der Aufzeichner, die nicht Litauisch konnten, wie Jan Lasicki und sein Gewährsmann Jakob Laskowski, der 1568—1572 als „Revi­ sor“ im Zemaitenland weilte. Von den 78 Götter- und Geisternamen, die in Lasickis Schrift erwähnt werden, sind nur 8 echt, d.h. volks­ 385>

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Balten

tümlich, und können aus anderen Quellen belegt werden. Zahlreiche Götternamen wurden auch einfach von poln. und lit. Romantikern, wie T. Narbutt, J. I. Kraszewski, S. Daukantas u. a. erfunden. Alle diese Namen kommen hier nicht in Betracht.

Von den großen Kultstätten wissen wir wenigstens über drei oder vier etwas: Romowe in Nadrauen; Rambynas Berg mit einem großen Opferstein am rechten Nemunas-Ufer gegenüber Ragnit; am Zu­ sammenfluß zwischen Dubysa und Nemunas; in Wilna, wo der Legende nach die Kathedrale an der Stelle der alten Opferstättc er­ baut wurde; in der Nähe befand sich auch Sventaragis-Tal, wo die Leichen der litauischen Großfürsten verbrannt wurden. Der Name für eine heilige Stelle ist —> alka(s) (vgl. got. alhs). In erster Linie ist dies ein heiliger Hain, aber es kann auch ein Berg, eine Insel oder ein Fluß sein. Es ist immer eine Opferstelle. Die häufigsten Opfertiere waren Bock und Hahn. Personen, die als Priester tätig waren und den Göttern Opfer dar­ brachten, sind verschiedentlich genannt. Der Friedensvertrag von Christburg zwischen dem Deutschen Orden und den alten Preußen, aus dem Jahre 1249, führt Ligaschones und Tulissones an. Grunau erwähnt Waidelotten. Maletius nennt Wurschkayten. Praetorius kennt eine Menge von Zukunftsdeutern, die nach ihrer Tätigkeits­ weise verschieden genannt wurden: Waszkones (von vaskas „Wachs“), Dumones (von dümai „Rauch“), Zaltones (von - >zaltys „Ringel­ natter“) usw., je nachdem, was sie als Mittel für ihre Prophezeiungen benützten. Dusburg nennt Criwe und Dhigosz nennt Znicz (zynys „der Weise“), die vielleicht nur Eigennamen berühmter Priester waren (Buga I [1958] 170—183). Allgemein bekannt ist die Benen­ nung Burtininkas (—> Burlnieks), eine Person mit übernatürlichen Kräften (von burti „zaubern“), die Gutes für andere Leute tun kann. Dagegen ist Raganius (^Ragana) der böse Zauberer, der Schaden bringt.

c, 2. Quellen. Die wichtigsten Quellen zur litauischen Mythologie sind: die Galizisch-Wolhynische oder die sog. Chronik des Malalas (1261); die Livonische Reimchronik (die ältere, Ende des 13. Jahrhs.); die Erzählungen des Hieronymus von Prag (1432); die Chronik des Simon Grunau, wenig zuverlässig (1521); Agenda der Bischöfe (1530); Katechismus von M. Mosvid (1547) (der litauische Verfasser hieß Mazvydas und nannte sich selbst Mosvidius); „Sudauerbüchlein“ (voller Titel: Warhafftige Beschreibung der Sudawen auff Samlandt, sambt jren Bockheyligen vnnd Ceremonien) von Hieronymus Malecki alias Maletius (sein eigentlicher, polnischer Familienname war Sandecki) (1 .Aufl.um 1561/62); JanLasicki’s „De diisSamagitarum“ (geschrieben 390

Balten

Einleitung

um 1580, gedruckt 1615, meist unzuverlässig); Chronik des Matthias Stryjkowski (1582); Katechismus von M. Dauksa (1595); Berichte der Wilnaer Jesuiten, besonders von 1600—1605 (publiziert bei S. Rostowski [1768]); „Deliciae Prussicae oder Preußische Schau­ bühne“ von Matthias Praetorius (abgeschlossen um 1690, auszugs­ weise veröffentlicht von W. Pierson [1871]); Litauisch-deutsches Wörterbuch (im Mskr. verblieben) von Jakob Brodowski (um 1730) und andere ältere Drucke. Die Quellen sind zusammengestellt und mit Kommentar veröffentlicht von Anton Mierzyhski und Wilhelm Mannhardt. Ganz beträchtliches mythologisches Material liefert auch die Volkskunde, d.h. Volkslieder und -sagen, Volksaberglaube und -brauche, die in reicher Menge zur Verfügung stehen.

A. Brückner, Beiträge zur litauischen Mythologie, in: AslPh 9 (1886), 1—35; A. Mierzyhski, Mythologiae lituanicae monumenta, I—II (Warszaw 1892 bis 1896); W. Mannhardt (fortgeführt und abgeschlossen von G. Bergholz und A. Bauer), Letto-Preußische Götterlehre, in: Magazin der Lett LG 21 (Riga 1936); Lituanicarum Societatis Jesu historiarum provincialium pars prima auctore Stanislao Rostowski (Vilna 1768, 2. Aufl. 1877); Z. Ivinskis, Biblijografine senoves lietuvhj religijos ir mitologijos mediiaga (Bibliographia de antiqua Lituanorum religione et mythis) in: Soter 21—25 (1935/37); H. Biezais, Die Religionsquellen der baltischen Völker und die Ergebnisse der bis­ herigen Forschungen (Uppsala 1953) (Sd. aus Arv 1953).

C, 3. Allgemeine Literaturangaben. A. Bezzenbergcr, Litauische For­ schungen (1882); K. Büga, Medziaga lietuviu, latviu ir prüsu mytologijai (Material für litauische, lettische und preußische Mythologie) 1—2, Vilnius 1908—09 (= Rinktiniai rastai I, Vilnius 1958, 143 bis 189); K. Büga, Kalba ir senove (Sprache und Altertum) I, Kaunas 1922 (= Rinktiniai rastai II, Vilnius 1959, 5—328); H. K. Usener, Litauische Götter, in: Götternamen, 2. Aufl. (Bonn 1929) 79—122; A. Brückner, Osteuropäische Götternamen, in: KZ 50 (1922) 161 bis 197; H. Bertuleit, Das Religionswesen der alten Preußen mit litauisch­ lettischen Parallelen, in: Prussia 25 (1924); H. Thomas, Die slawische und baltische Religion vergleichend dargestellt (Bonn 1934); J.Balys, Lietuviu tautosakos skaitymai (Lesebuch der litauischen Volks­ kunde), Teil II (Tübingen 1948); J. Balys, Mitologija lietuviu (Litau­ ische Mythologie) in: Lietuviu Enciklopedija, Bd. 19 (Boston 1959) 68—75; W. C. Jaskiewicz, Study in Lithuanian mythology, in: Studi Baltici 9 (1952) 65—106; P. Skardzius, Lietuviu mitologiniai vardai (Litauische mythologische Namen), in: Aidai 5 (1954), 218—226; M. Gimbutas, Ancient symbolism in Lithuanian folk art, in: Memoirs of the American Folklore Society 49 (1958); M. Gimbutas, TheBalts (1963) 179—204. Vgl. auch verschiedene Artikel in: Lietuviu Enci­ klopedija (Boston 1953—). 391

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Balten C. Abbildungsverzeichnis

Abb.l. Gottesbild aus Lehm. Purciems, Lettland. Neolithikum, ca. 2000 v. Chr. (Aus: Fr. Balodis, Det äldsta Lettland. Uppsala 1940, S. 35.) Abb.2. „Götzenbild“ aus Salaspils, Lettland. (Aus: Latvijas saule. Riga 1926, Nr. 37/38, S.407.)

Abb.3. Scheibenfibel mit Rad- und Sonnenornament. Aus verschie­ denen Plätzen in Lettland. 1. — 8. Jahrh. n. Chr. (Aus: Katalog der Ausstellung zum X. Archäologischen Kongreß in Riga 1896. Riga 1896, Tafel 8.)

Abb.4. Der Alkhügel „Baznicas kalns“ bei Matkule, Kr. Tukums. (Aus: Conventus primus historicorum Balticorum. Acta et relata. Riga 1938.) Abb.5. Opfergrube des Alkhügels in Strazde. (Aus: Conventus pri­ mus historicorum Balticorum. Acta et relata. Riga 1938.) Abb.6. Vrnengräberfeldmit Merksteinen; Langendorf, Kr. Sensburg. (Aus: W. Gaerte, Urgeschichte Ostpreußens. Königsberg 1929.)

Die Abbildungen stehen nach Seite 454.

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Balten

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Die Baltischen Völker (9. bis 12. Jahrhundert). Die lettischen, litauischen und altpreußischen Stämme hatten zu dieser Zeit ihre Position innerhalb der Grenzen ihrer Gebiete befestigt, was anhand von archäologischen und historischen Quellen mit ausreichender Genauigkeit nachgewiesen werden kann.

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Äitvaras

Balten

Äitvaras. Lit. Hausgeist, schatzbringender Drache; der Name bereits von Mosvid 1547 genannt. Er zeigt sieh in Gestalt einer feurigen Schlangenlinie oder Ofenkrücke, wenn er fliegt; auch als ein Tier, ge­ wöhnlich als schwarzer Hahn oder schwarzer Kater, wird er häufig vorgestellt. Er bringt seinem Wirt Getreide, Geld, Milchprodukte und andere Güter (-»Kaükas; Pükys), die er von anderen Leuten gestohlen hat. Er ist ein teuflisches Wesen (-> Teuflische Götter), der Wirt muß ihm seine Seele verschreiben, und es ist schwer, sich wieder von ihm zu befreien. Er muß mit Eierpeisen gefüttert werden; wenn er aber beleidigt wird, brennt er das Haus seines Wirtes nieder (—> Gabetä; Perkünas; —> AS1. Hauskobolde; —»Finn. Hausgeist). Ä. wird entweder in Riga, Memel oder Königsberg bei einem Kaufmann gekauft, oder man kann ihn ausbrüten. Dafür verwendet man die Hoden eines schwarzen Hengstes oder Ebers. Wenn ein Hahn(!) ein Ei legt, kann man daraus ebenfalls Ä. aus­ brüten, nur soll das Ei in der Achselhöhle gehalten werden. Es gibt eine Menge von Erzählungen über Ä. (BLMS, Nr. 48—96). Unter anderem wird berichtet, wie ein Knecht ein Maß Roggen mit der Handmühle nie zu Ende mahlen kann, bis er einen schwarzen Hahn oder Kater entdeckt, der das Getreide speit; er ist sogleich mit Mahlen fertig, wenn das Tier getötet wird. In einer anderen Sage legt der Knecht Mist an die Stelle der Eierspeise; zwei Ä. kommen zum Essen, fühlen sich beleidigt und brennen das Haus nieder.

Im westl. Litauen wird dasselbe von —» Pükys oder —» Kaükas er­ zählt. Es ist eine germ. Tradition. Viele lit.-lett. Sagen und aber­ gläubische Erzählungen von schatzbringenden Drachen sind auch in Norddeutschland zu finden. Der Name Ä. ist noch nicht geklärt, obwohl es öfters versucht wurde (zuletzt von E. Fraenkel, ZslPh 21 [1952], 140—150). Es kann ein alter Haushaltgeist gewesen sein (vgl. est. aijatar, finn. ajaltnra), der erst später mit Teufelswerk vermengt wurde. —»Finn. Para.

A. Bezzenberger (1882) 64. -> Haushaltgötter; Öitas; Tiergestaltige Götter; Pükis; Kaukis. Hausgeister.

Slav.

Akmuö Lit. „Stein“. Eine Quelle bei Rostowski aus dem Jahre 1583 erwähnt, daß die 2emaiten und die alten Preußen „Steine als Götter verehrten“ (saxa pro diis culta); besonders wurden große Steine verehrt (alibiAkmo,saxum grandius).Die Jesuiten berichteten 1605, daß große Steinplatten aus der Erde ausgegraben und im Vorrats­ haus, mit Stroh bedeckt, aufbewahrt wurden, als Hüter des Getrei­ des und der Haustiere. Solche Steine wurden deyves (-»Deive; Kalnas) genannt. Getränke wurden als »Opfer daraufgegossen (Quelle 394

Balten

Alus

beiRostowski, von 1618). Besonders Steine mit Einprägungen („Fußabdrüeke“) wurden respektiert. Die Feensteine (dejwa akminau) hat Jucewicz beschrieben (Das Ausland [1839] 279, wiederholt bei Grimm DM I 345 Anm. 2).

M. Gimbutas (1958) 93—96; H. Reichelt, Iler steinerne Himmel, in: Indo­ germ. Forschungen 32 (1913) 23—57. -> Getreidegötter; Haushaltgötter. -> AS1. Wassermann. -> Kelt. Steine. -> Finn. Steine. -> Ung. Äldö-küt. -> Griech. Opfer. Alka, aikas. Lit. Ein heiliger Hain oder allgemein heiliger Ort; zuerst erwähnt in J. Bretkünas’ Postilla von 1591 als Synonym für „Hain“. Vgl. got. alhs „Tempel“. Es war eine Opferstätte. Ursprünglich wohl ein heiliger Wald (—> Waldgottheiten), wurde der Name später auch für andere Ortsbezeichnungen verwendet, z. B. Alkakalnis (Alka-Berg; —>Kälnas), Alkupis (Alka-Fluß), oder direkt Alkviete (Alka-Ort). Sturms verzeichnete etwa 100 derartige ON in Litauen. Auch in Ostpreußen bekannt: Alkayne, Alkanasoyte (G. Gerullis, Apr. Ortsnamen [1922]).

Sturms. -> Einl. -> AS1. Tempel. -> Kelt. Heiligtümer; Waldgottheiten; -> Finn. Haine; Heiligtümer. -> Ung. Äldö-küt. -> Germ. Disen. Alkhügel (lett. elkakalns', lit. ->alku, aikas). Ein großer Teil der lettischen und litauischen Alkhügel genoß bis in die Gegenwart Verehrung. Das zeigt auch die nicht unterbrochene mythische Überlieferung über diese Alkhügel, wie z. B. die von einem „Brun­ nen der Gebete“ (lit. maldu sulinys), der sich auf einem dieser Alkhügel befand und in dem verschiedene Gaben zur Ehre der Gottheit deponiert wurden. Nach der mündlichen Überlieferung wurden auf den Alkhügeln Ochsen, Böcke, Widder und andere Tiere verbrannt; die archäologische Untersuchung hat diese Überlieferung bestätigt.

Sturms; Derselbe, Elka kalni un pilskalni Kursä (Alkhügel und Burgberge in Kursa), in: Pagätne un Tagadne, 1 (1936) 82—102; Derselbe, Elka kalni un pilskalni KursS. (Alkhügel und Burgberge in Kursa), in: Labietis (1937) 21 — 32; Derselbe, Altlettische Alkhügel, in: Conventus primus historicorum Balticorum (1938) 116-132. -> Hl. Stätten. Lett. b). Alus. Lett., das Bier, als personifiziertes Wesen sehr verbreitet. Ge­ wöhnlich wird es Brüderchen, alter Bruder, Braunauge u. a. ge­ nannt (2007, 2025). In der neueren Tradition ist A. bei den bäuer­ lichen Festen das wichtigste Getränk. Doch hat sich der alte sakrale Charakter in den Texten erhalten, die A. als ein Getränk bezeichnen, mit dem man -> Dievs (39609), _» Laima u. a. bewirtet. 395

Apldeinö

Balten

Dievs beteiligt sich auch selbst am Bierbrauen (19658). A. ist auch weithin als Trankopfer bekannt. A. Bielenstein, Die nationalen Getränke der alten Letten, in: MLL 19, 4 (1894) 35-65. _> Hl. Feste.

Apldeme (Apydeme). Lit. Wir wissen wenig über diese Gottheit, die von Lasicki als Göttin des Haushaltwechsels („mutati domicilii deus“) erwähnt und in der Wolfenbütteier Postilla-Handschrift von 1573 einfach als Teufel bezeichnet wird („czertas ira apideme“). Doch wurden damals alle heidnischen Gottheiten von christlichen Autoren für Teufel erklärt. In J. Bretkünas’ Postilla von 1591 steht auch die richtige Form appidemes (acc. pl.), während Lasicki Apidome schreibt. -> Haushaltgötter; -> Teuflische Götter.

Astrale Gottheiten -> Einl. c, 1; Daüsos; Diwerix; Menülis; Perkünas; Säule; Suaixtix; Auseklis; Dieva deli; Dievs; Meness; Perkons; Saules meitas; Usins. -> Kelt. Sterne. -> Finn. Astrale Vorstellungen. -> Ung. Astrale Vorstellun­ gen. -> Germ. Stemsagen.

Auseklis. Lett. „Morgenstern“. A. wird in den Himmelsmythen stets in Verbindung mit anderen Sternen genannt (31939). Als Mitglied der Himmelsfamilie besitzt er eigene Pferde. Ebenso wie die übrigen Sterne ist er dem ->Meness, „Mond“, unterstellt. Der Letztgenannte zählt oftmals am Abend die Sterne und stellt fest, daß A. unter ihnen fehlt. Das bedeutet, daß A. in besonderem Auftrage der -> Säule, „Sonne“, verreist ist. Am häufigsten ist er in solchem Falle auf einer Freiersfahrt (35745, 35857). Er ist der Freier der —> Saules meita, der Sonnentochter, sein Nebenbuhler ist ->Meness. Säule hegt gegenüber A. besondere Sympathien, und wenn Meness dem A. seine Verlobte, die Saules meita, fortnimmt, entsteht Feind­ schaft zwischen Säule und Meness. Entweder zerhackt die Säule den Meness oder bewirft ihn mit einem Stein (33950). Zuweilen ist der Nebenbuhler auch der Sohn des —> Perkons. A. nimmt auch sonst an Himmels-Hochzeiten teil, z. B. im Brautgefolge (33892, 34047,5). Er ist auch in der Himmels-Badestube aktiver Mit­ wirkender, wo er die gleiche Rolle hat, wie die —> Dieva deli, und zwar wirft er das zum Verdampfen nötige Wasser, wenn die Saules meitas sich mit den Birkenzweigen schlagen (33844). A. hat auch Söhne (33795, 34009), die als Freier der Saules meitas genannt werden. Weiter ist die Familie des A. nicht ausgebildet.

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Balten

Bestattungsbräuche

Adamovißs (1937) 69; L. v. Schröder 2 (1923) 392-395. -> Astrale Götter.

Ausma -> Austra.

AuSrlnc -> Astrale Götter ; Ménùlis ; Perkunas.

Austra. Lett. „Morgenröte“, etym. ebenso wie -> Auseklis mit dem Verbum „aust“, aufgeben, zu verbinden. In den Quellen der Ge­ schichte und der Folklore fehlen nähere Angaben; es scheint, daß die Vorstellungen mit denen vom —>■ Usina und vom Morgen- und Abendstern verschmolzen sind. Dennoch haben einige ON (Austrene, Austrini u. a.) nicht nur die ursprüngliche Bedeutung des Wortes bewahrt, sondern lassen auch durch ihre Lage in bestimmten Teilen der Landschaft den Gedanken an alte Kultstätten aufkommen. ME Ergn. I, 188; gmits (1926) 21-22. -> Astrale Gottheiten.

Autrimpus —> Potrimpus.

Baltäs sievas -> Lauma. Bangpütys -> Vanduö ; Jüras mäte.

Bangu mäte -> Jüras mäte.

Baumgottheiten —> Einl. C, 1 ; Daüsos ; Mödis ; Pusaitis ; Waldgott­ heiten. Berggottheiten -> Kälnas ; Hl. Stätten.

Bisu mäte —> Usins. Bestattungsbräuche. Einen wichtigen Einblick in die an einen Mythos gebundenen JenseitsvorStellungen der alten baltischen Völker ver­ mitteln die Bestattungsbräuche. Neben dem archäologischen Be­ fund von in der Neuzeit aufgedeckten alten Gräbern verdanken wir alten Aufzeichnungen eine weitgehende Kenntnis über die Formen der Totenbestattung und die hierbei obwaltenden Vor­ stellungen.

Die Art der Totenbestattung und vor allem der Charakter der Grabbeigaben weisen auf die bei den Indogermanen allgemein ver­ breitete Vorstellung von einem Weiterleben der Persönlichkeit des Verstorbenen nach dem Tode. Zu diesem Zweck wurden dem Toten entsprechende Gaben mit in das Grab gelegt. Grabbeigaben waren neben Schmucksachen und Waffen vor allem Geld und besonders Gegenstände, die zum Essen und Trinken benötigt wurden, wie

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Bestattungsbräuche

Balten

Trinkgeschirre und Messer; aber auch das Leibpferd mußte seinem Herrn in das Grab folgen; wie die Funde erkennen lassen, wurde das Tier lebend mit dem Toten begraben. Die Beisetzung erfolgte zunächst in Grabhügeln, die in einem Wald, jedenfalls weit ent­ fernt von der Siedlung der Lebenden, lagen. Die Angst vor dem Toten spielte bei der Auswahl des Platzes eine entscheidende Rolle. Erst verhältnismäßig spät in christlicher Zeit setzte sich die Bei­ setzung auf Kirchhöfen durch. Es wurde bei der Anlage des Grabes beachtet, daß der Tote mit den Füßen nach Osten hin bestattet wurde, damit er am Tag der Auferstehung nach Osten blickte, da man sich den auferstandenen Christus des Jüngsten Gerichtes im Osten vorstellte. In der heidnischen Zeit wurden die Toten bei den baltischen Völ­ kern nicht nur begraben, sondern auch verbrannt. Auch der Toten­ verbrennung lagen bestimmte mythische Vorstellungen zugrunde. So ist in der russischen Fortsetzung zur Chronik des Malalas aus dem Jahre 1261 ein Mythos aufgezeichnet, der die Vorstellungen der baltischen Völker bei der Leichenverbrennung beleuchtet. Konkret bezieht er sich auf die litauischen Vorstellungen von der Reise des Verstorbenen durch das Totenreich. Dieses wurde in der Vorstellung der Litauer mit einem hohen Berg verknüpft, auf den man nach dem Tode klettern müßte. Noch im Jahre 1890 war unter dem Volk eine mythische Überlieferung lebendig, in der es hieß, daß die Verstorbenen über eine gläserne Brücke auf einen gläsernen Berg klettern müssen. Diese Volksüberlieferung wird durch einen Bericht der im 16. Jh. von M. Stryjkowski verfaßten „Kronika polska, litewska zmudzka . . .“ bestätigt, der sich auf die 1271 erfolgte Verbrennung der Leiche eines litauischen Großfürsten be­ zieht, die bei Vilna an der Einmündung der Vilnia in die Neris erfolgte. Der Großfürst wurde auf einem Scheiterhaufen mit Schwert und Bogen, Falken, Hunden, Pferden und den Lieblingssklaven verbrannt; es heißt dann: „Die Bojaren warfen Luchs- und Bären­ klauen in die Flammen, indem sie glaubten, daß die Toten mit Hilfe derselben einen steilen Berg hinaufklettern müßten, wenn auf diesem einst ein Gott, den sie nicht zu nennen wußten, seinen Thron aufgeschlagen und die Seelen der Verstorbenen aus den Gräbern zu sich rufen werde.“ Zweifellos sind hier auch christliche Einflüsse, wie die Vorstellung der Auferstehung der Verstorbenen am Tage des Jüngsten Gerichtes, die dann Christus zu sich ruft, nicht zu verkennen.

Auch die Sitte eines rituellen, sich auf die Zeit zwischen Tod und Verbrennung beziehenden Totenmahles und Wettkämpfe gehören 398

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Ceroklis

zum Totenkult der baltischen Völker. Eng verbunden mit der Bei­ setzung des Verstorbenen war auch die sogenannte Totenklage. Sie wurde in christlicher Zeit von der Kirche verboten, hielt sich aber doch bis in die Neuzeit. Auch wurde bei den baltischen Völkern die Sitte der Totenspeisung geübt; dabei wurden ursprünglich die Speisen für die Toten an den Plätzen aufgestellt, wo man den Leichnam auf einem Herde verbrannt hatte.

L. Adamoviës, Tautas dziesmas par debesu käpnöm. Chansons populaires concernant l’échelle céleste. AUL. Theol. I, 67 (1940); M. Alseikaité-Gimbutiené, Die Bestattung in Litauen in der vorgeschichtlichen Zeit (1946) 148—153; K. Straubergs, Zur Jenseitslehre der lettischen Volkstraditionen, in: Spiritus et Veritas (1953) 149 — 167; Derselbe, Zur Jenseitstopographie, in: Arv 13 (1957) 56—110; E. Zicäns, Latviesu tradicija par garo pupu un ar to saistîtie mïtologiskie priekSstati (Die lettische Überlieferung von der langen Bohne und die damit verbundenen mythologischen Anschauungen), in: 1MM II (1936) 224-232, 352-367. -> Weltbild. Burtnieks. Lett. Zauberpriester. Gegenwärtig wird die kürzere Form „burvis“ mit der Bedeutung „Zauberer“ gebraucht. In vorchrist­ licher Zeit wurde damit ein Mensch bezeichnet, der innerhalb seiner Familie oder in einem kleinen Kreise bestimmte Priesterfunktionen ausübte. So sagt Adam von Bremen in einem Bericht über die ersten Begegnungen der Christen mit den Letten: „Divinis, auguribus atque nigromantic-is omnes domus plenae sunt11 (lib. IV, cap. XVI). Die Bekämpfung der B. bereitete der christlichen Kirche große Schwierigkeiten ; in den Berichten über Visitationen und in Gerichts­ protokollen werden sie noch zu Beginn des 19. Jahrhs. erwähnt. Näheres ist nur über ihre magische Tätigkeit zur Bekämpfung ver­ schiedener Krankheiten oder zur Förderung der Fruchtbarkeit von Äckern und Vieh bekannt, aber auch über negative Funktionen, z. B. beim Heraufbeschwören von Unglück verschiedener Art.

Edith Kurtz, Heilzauber der Letten in Wort und Tat 1—2 (1937—38), in: Veröffentlichungen der volkskundlichen Eorschungsstelle am HI 5, 7 ; K. Straubergs, Formules magiques des Lettons (lettisch) 1—2 (1939—41). (MAFL A. 5, A. 10.); Pasakas 15 (1937) 139-207. -> Zîlnieks. -> Kelt. Druiden; Priestertum. -> Germ. Nornen. Burvis -> Burtnieks. Cawx. Apr. (sprich „kauks“) als Teufel erklärt. —> Kaükas. Cela mate -> Einl. b, 1.

Ceroklis. Lett. Wird in einer relatio des Kardinals Valenti vom Jahre 1604 als „Corakle“ bezeichnet und mit —>Velns, Teufel, identi­ fiziert. Doch hat der Jesuit Stribins, der selbst Lette war, das Wesen 399

Ceru

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des C. offensichtlich besser begriffen; er schrieb im Jahre 1606: „Deo Agrorum frumentorumque, quem vocant Dewing Cerklicing certis temporibus Buoem nigrum, Gallinam nigram, Porcellum nigrum, ect. ect. ahquot tonnas Cerueisiae, pro ut illos deus Cerekling iuuerit, plus vel minus.“ C. wird auch in den Berichten der Jesuiten vom Jahre 1619 erwähnt, in denen gesagt wird, daß ihm der erste Bissen und der erste Schluck vom Essen und Trinken geopfert wird, indem diese auf den Fußboden geschüttet werden; er wird als Gott der Gastfreundschaft angesehen: „Ceroklis, ex orco ille hospitaütatis deus“ (Rostowski [1877] 252). Ungeachtet der verunstalteten Form des in diesen Berichten genannten Namens ist in ihm deutlich die etym. Beziehung zu „cerot“, sich Stauden, zu erkennen, was darauf schließen läßt, daß er ein Gott des Frucht­ barkeitskults gewesen ist und Göttern wie Jumis und _> Lauku mäte, „Mutter der Äcker“, nahegestanden hat. C. wird in der Folklore nicht genannt, es scheint aber, daß ihm die dort vor­ kommende Ceru mäte, „Staudenmutter“, entspricht.

L. Adamovics (1937) 71; P. Smits (1926) 37-38. -> Curche; Jumis; Velnias.

Ceru mäte -> Ceroklis.

Curche (Curcho) Apr. —> Fruchtbarkeitsgottheit der Apr. Zuerst 1249 in dem Friedensvertrag von Christburg zwischen den alten Preußen und dem Deutschen Orden erwähnt. Es wird berichtet, daß die alten Preußen nach Abschluß der Ernte aus der letzten Ähre einen Götzen anfertigten und verehrten („ydolo quem in anno collectis frugibus consueuerunt confingere et pro deo colere, cui nomen Curche imposuerunt“). Grunau nennt Curcho als Gott der Speise und des Trankes. Die lit. Form wäre *Kurkas. Es gibt ON die vielleicht daraufhindeuten, z. B. Kurkelauk (d. h. Kurkc-Feld), Kurkosadel, Kurkau u. a. Ein Nachklang in modernem Volksbrauch ist unter Umständen im zcm. Kursis zu finden, der als eine aus Stroh gemachte männliche Puppe nach Abschluß des Dreschens verfertigt und zu dem Nachbarn gebracht wird, der mit Dreschen noch nicht fertig ist (Gimtasai Krastas [1935] 243f.; —>Rugiu böba).

Getreidegötter; Teuflische Götter; Jumis; Ceroklis. -> Finn. Pellenpekko 3. -> Griech. Fruchtbarkeitsgötter. Balia. Lit. Das „Los“ eines Menschen (vgl. sl. dolja). Es wird nur in Volksliedern erwähnt, als ein dem Menschen vorgegebenes Schick­ sal, das ihn das ganze Leben hindurch begleitet, häufig auch personi­ fiziert als eine Frau vorgestellt. In einem Lied heißt es z. B.: „Ich 400

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Dieva deli

ging weinend meines Weges, meine Daluzê (oder Dalelè, Dimin. von dalia) suchend; da rief meine Dalelé von der anderen Seite des Meeres zurück.“ Weiter wird erzählt, daß sie Anweisungen gibt, wie die arme Frau ihre Not verringern könnte. Im allgemeinen ist dalia ein schweres Los. (—>Läima).

-Feen; Giltine; Kärta. ASI. Geburtsfeen. -> Kelt. Schicksal. -> Finn. Einteilungszeit. -> Ung. Älmos 2. ->• Germ. Schicksal.

Därza mäto —> Lauku mäte. Daüsos. Lit. Das Land der Seligen. Nach dem Volksglauben leben die Seelen der Verstorbenen entweder in den Bäumen fort und büßen (_>Mcdis), oder sie fliegen hoch, der Milchstraße (Pauks&iu takas „Vogelweg“; Finn.Weltbild 4) folgend, weiter in die dausos (lit. pl.) (-> Finn. Weltbild 5). Das Wort hat vielleicht etwas mit dvèsli „den Geist aushauchen“ und „Atem, Seele“ zu tun (LEW Fraenkel, I, 115).

-> Seelenglauben ; Totenglauben; Weltbild. -> AS1. Navi. -> Kelt. Vögel. Finn. Ahnenkult 2b. -> Griech. Jenseitsglauben.

Dcbess kalêjs -> Përkons. Deive (deivé). Lit. Eine heidnische Gottheit, eine ->Fee. Jetzt in der Volksüberlieferung oft Synonym für „Laumé“, ursprünglich aber eine heidnische Gottheit im allgemeinen (—> Dievaitis). Die Autoren der ersten religiösen Bücher (Mosvid, Bretkünas u. a.) tadeln die Leute, daß sie eine große Menge von deiwes (acc. pl.) verehren. Verehrte Steine wurden auch de/yves genannt ( >Akmuö). Abgeleitet von idg. *deiuos. Alte Schriften kennen auch deiwys „der Abgott“. Auch Pestjungfrauen (maro deivés) sind bekannt.

J. Balys, Die Sagen von den litauischen Feen (deivés, laumés),DieNachbarn 1 (1948), 31—-71; A. Sennas, Keleto Dievo pavadiniimj etimologija, Soter 4 (1927) 3 —11 ; A. Senn, Zu litauisch diëvas „Gott“ und finnisch taiwas „Him­ mel“, in: Die Sprache 1 (1949) 1 —10. -> Dicvs, Dieviçi.

Diedewaythe Lit. —>Einl. c, 1. Dieva dcli. Lett. „Gottessöhne“. Die Vorstellung D. d. ist in histo­ rischen Dokumenten nicht anzutreffen, sondern nur in der Folklore, wo ihr Wesen klar Umrissen ist. Meistens ist von mehreren D. d. die Rede, zuweilen wird auch ihre Zahl genannt — zwei, drei. Es kommt aber auch nicht selten vor, daß von D. d. in der Einzahl gesprochen wird. Sie fügen sich völlig den Himmels-Mythen ein, sowohl was ihr Äußeres, als auch was ihre Funktionen betrifft.

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Dieva mcita

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Mehrere Forscher haben ihnen ihre Aufmerksamkeit gewidmet und versucht, sie mit einem Himmels-Phänomen zu identifizieren, was aber zu keinem einheitlichen Resultat geführt hat. Es scheint viel glaubwürdiger, eine rein soziale Basis mit der Familie als primäre Vorstellung anzunehmen, die dem —> Dievs als Vater die Söhne hinzuordnet. Das äußere Gewand der D. d. ist prächtig, das typi­ sche Merkmal ist die Marderfell-Mütze des reichen Bauernsohnes. Zuweilen ist auch der Säbel erwähnt. Ebenso wie Dievs selbst reiten sie häufig eigene Pferde. Gewöhnlich arbeiten sie auf den Feldern des Himmels oder mähen die Himmelswiesen, wo die —> Saules meitas, die Sonnentöchter, das Heu zusammenharken. Sie sind auch die Jäger des Himmels, die ein silbernes Eichhörnchen oder ein Haselhuhn jagen (33755). Manchmal bauen sie ein Haus für Dievs (33754,3). Doch ist ihre hervorragendste Rolle diejenige als Freier der -> Säule und der Saules meitas. Ebenso aktiv ist ihre Beteiligung in der Badestube des Himmels, wo sie gewöhnlich das Wasser zum Verdampfen auf den heißen Stein gießen, während sich die Saules meitas mit den Birkenzweigen bearbeiten (33770, 33844). Die D.d. gehören der Welt der reinen Mythen-Vorstellungen an, ein Kult ist mit ihnen nicht verbunden.

H. Bielenstein MLL 19 (189(1) 240 - 281; Biezais (1955) 155-156; W. Mann­ hardt ZE 7 (1875) 305-315. -> Dievs; Auseklis. Kelt. Drei; Göttertriaden. Dieva meita —> Laima.

Dievaines -> Hl. Feste, a.; Sermenys.

Dieväitis. Lit. Abgott, wahrscheinlich auch ein Götze. Abgeleitet von dievas „Gott“, aber nur für heidnische Gottheiten gebraucht. Ältere Form war deivaitis. Häufig wird D. als Synonym für —>Perkunas verwendet, auch der Mond (—>Menülis) wird D. ge­ nannt. In einem Volkslied (Rhesa Nr. 32) wird ein „Wellengott“ (bangu dievaitis) erwähnt. Brodowski übersetzt den Ausdruck deivaieius garbinti als „Abgötterei treiben“. Die weibl. Form dievaite ist auch gebräuchlich, aber häufiger wird dafür -xfewe ver­ wendet.

Büga I (1958) 143—149.

Dievini. Lett. Das Wort D. ist etym. die Diminutivform pluralis von —> Dievs (—> Perkons). Die Bedeutung ist aber eine andere, was besonders klar zutage tritt, wenn man einen Vergleich zieht mit der Einzahl des gleichen Wortes, Dievins. Die Einzahlform hat die gleiche Bedeutung bewahrt wie die Grundform; die Bedeutung

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Dievs

der Mehrzahlform weist auf Gottheiten einer besonderen Kategorie hin. Das Wort selbst scheint eine sehr späte Bildung zu sein, die Erscheinung aber, die damit bezeichnet wird, entspricht der Gruppe der Götter, die als röm. minores bekannt ist. Die lett. D. erwähnt zum erstenmal J. Lange im Jahre 1772 in seinem Wörter­ buch, wobei er sie als „Gözzen der hydn. Letten“ bezeichnet. Unter D. sind verschiedene niedere und weniger ausgeprägte Wesen zu verstehen, unter deren Obhut das Wohlergehen des Hauses stand und denen auch Opfer dargebracht wurden Haushalt­ götter). Biezais (1961) 60 — 66.

Zcmcs mäte. Dievs. Lett. „Himmelsgott“.

a) Bedeutung und Wesen. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ist der physische Himmel, was sich zum Teil bis zu unseren Tagen in einigen phraseologischen Sätzen erhalten hat. Etym. ist es mit der gleichen idg. Wurzel verbunden wie aid. dyaus und griech. Zevg, apr. deivas, deren ursprüngliche Bedeutung ebenfalls „Him­ mel“ ist. Unter dem Einfluß unterschiedlicher kulturgeschichtlicher Verhältnisse haben sich Gestalten entwickelt, die zwar viele ge­ meinsame Züge aufweisen, aber doch recht verschieden voneinander sind. Dievs wird in der heutigen Sprache zur Bezeichnung des christlichen Gottes gebraucht sowie auch als Gattungsname. Das spricht für eine spätere Entwicklung etwa aus der Zeit, als ihn die christlichen Missionare im 13. Jahrh. zur Bezeichnung ihres Gottes übernahmen, wie es Adamovifs (1937) 66 richtig vermerkt hat. Doch erwähnt Kardinal Valenti noch im Jahre 1604 in einem Bericht über das religiöse Leben der Letten „Tebo Deves“, „Him­ melsgott“, und einige Jahre später bezeugt dieses auch ein solcher Kenner des religiösen Lebens der Letten, wie der Jesuit J. Stribins — „sie sagten Habeamus Deum qui habet curam coeli“. Der Himmelsgott D. lebt im Himmel, wo er sein eigenes Haus hat, das hinsichtlich der Einrichtung und des Ingesindes vollkommen dem lett. Bauernhaus entspricht. Er besitzt eigene Äcker, Gärten und Wälder, in denen er allerdings nicht selbst arbeitet. Seine Knechte und seine Söhne verrichten die landwirtschaftlichen Ar­ beiten. Er erscheint prächtig gekleidet, meistens in einem breiten Mantel. Dieser Mantel ist aus Gold, Silber, Samt und Seide an­ gefertigt (33682,1). D. trägt einen Gürtel mit einem Säbel und eine Mütze (32555). Doch ist die beliebteste Vorstellung des D. als Reiter auf dem Himmelsberg (-> Weltbild). Seltener wird erwähnt, 26

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Dievs

Balten

daß D. seinen Wagen fährt. Seine Beziehung zu Pferden ist über­ haupt sehr eng und im Material der Folklore eingehend beschrieben (32931, 33654, 54644). Er erscheint auch als Geber und Versorger von Pferden. Die Vorstellung des D. ist ausgesprochen die eines himmlischen Großbauern.

b) Dievs und die anderen Himmelsgötter. D. fügt sich vollkommen in die Familie der Himmelsgötter ein und hat seine Angehörigen. Doch sind die Familienbeziehungen fluktuierend und unbestimmt. Am häufigsten tritt er als Freier der -> Säule, der „Sonne“, oder gar der -> Saules meitas, der „Sonnentöchter“, auf. Auch aus ge­ meinsamen Wegen der Sonne und des D. auf dem Himmelsberge kann man schließen, daß sie Hofbauern und Hofbäuerin mit einer gemeinsamen Wirtschaft sind. Zuweilen streiten sie sich und ihre Beziehungen werden feindlich, häufig für drei Tage. Daneben werden auch —> Dieva deli, „Gottessöhne“, und Saules meitas „Sonnentöchter“, erwähnt, die sich beim Spielen verzankt haben, weshalb auch D. und Säule wegen ihrer Kinder in Feindschaft geraten (34017, 34019). D. spielt eine große Rolle bei der —> himm­ lischen Hochzeit, die das hervorragendste Ereignis im Leben der Himmelsgötter ist; von gleicher Wichtigkeit ist nur das Versam­ meln in der Himmelsbadestube. Neben den Gelegenheiten, wo er selbst als Freier der Säule auftritt, ist er häufig Brautführer, oder er geht im Brautgefolge bei Hochzeiten der anderen Himmels­ götter, der —.-Meness, „Mond“; Dieva deli; Auseklis, „Morgen­ stern“; Perkons, „Donner“, u. a. Der Ritus der himmlischen Hoch­ zeiten der verschiedenen Götter wird eingehend beschrieben, er entspricht den Hochzeitsbräuchen der lett. Bauern. c) Dievs bei den lett. Bauern während der Arbeit und bei Festlich­ keiten. D. als Himmelsreiter reitet häufig den Himmelsberg hinab zu den Bauern. Es geschieht gewöhnlich in wichtigen Augenblicken des Bauernlebens, d. i. in Verbindung mit der Förderung der Frucht­ barkeit des Feldes zu Beginn des Sommers oder bei der Einbringung der Ernte im Herbst. Das Herunterreiten vom Himmelsberg ge­ schieht leise, damit der Entwicklungsgang der Feldfrucht nicht gestört werde (33681, 33683,2). Er steht den Säenden bei, auch den Hütern der Pferde in der Nacht. Im Herbst betätigt er sich als Segner der Ernte, in der Riege während des Dreschens und in der Mahlstube.

D. nimmt auch aktiven Anteil an den Feiern (-> Hl. Feste), die in drei Perioden — Frühjahr, Sommersonnenwende und Herbst — fallen. Bei diesen Anlässen sitzt er in der Bauernstube am Kopf-

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Dimstipatis

ende des Tisches. Seine Bekleidung ist jetzt im Unterschied zu der des Himmelsreiters ein grauer Mantel. Solche Feste sind mit Mahl­ zeiten (-> Hl. Festmahl) verbunden, an denen Dievs aktiv teil­ nimmt. Er genießt das Bier und ist fröhlich mit der Familie (54751, 19658).

d) Dievs und Laima. Die Schöpfungsfunktionen des D. rücken ihn nahe an die Schicksalsgöttin —> Laima heran; beide erscheinen dabei abwechselnd. Ihr Zusammenwirken in dieser Hinsicht kommt in variierenden Vorstellungen zum Ausdruck, so wird Laima als Tochter des D. bezeichnet. Daneben tritt auch ihre gemeinsame, wenn auch nicht voll ausgebildete Familie in Erscheinung. Dieses Zusammenwirken von D. und Laima wird besonders in schicksals­ vollen Augenblicken des Menschenlebens offenbar.

e) Dievs im Kult. Der Kult des D. ist nicht ausgeprägt. Der Charak­ ter der Quellen läßt nicht die Entscheidung der Frage zu, ob dieser Kult überhaupt jemals ausgebildet gewesen Ist, wie es sich auch bei anderen indoeuropäischen Völkern beobachten läßt, oder ob sich in den Quellen nur keine ausführlichen Mitteilungen darüber erhalten haben. Dennoch bezeugen die Quellen, daß man dem D. in verschiedenen Fällen sowohl blutige —> Opfer (Huhn) (28934), als auch andere (1096) dargebracht hat. Er scheint, daß es auch kultische Gebete gegeben hat. Die Gestalt des D. weist neben den hier genannten Spezialzügen natürlicherweise auch Züge auf, die aus seinem universellen und moralischen Wesen als Hochgott resultieren, doch sind hier nicht aufgezählt. Er ist neben Säule, Laima und Perkons der be­ deutendste Gott der Letten. Aber er, der zur Familie der Himmels­ götter gehört, wird niemals zum Herrscher über die anderen Götter. Ihre Beziehungen untereinander halten sich im Rahmen derjenigen von Familiengliedern.

Biezais (1961) (Spezialarbeit mit Lit.); Adamovids (1937) 65 — 67; V. Maldonis ST 1 (1955) 119-156; Pasakas 13 (1936) 7-215; LKV 3 (1928) 5596-5599. Astrale Götter; Fruehtbarkeitsgötter. Griech. Theos. -> Germ. Odin; Thor. -> ASJ. Perun; Svarog. Pinn, llmarinen; Ukko. —> Ung. Isten. —> Kelt. Iupiter; Taranis; Drei; Pferd.

Dinistipatis. Lit. Der Haushaltherr der östlichen Lit., wörtlich der „Hofherr“ (von dimstis „Hof“ und patis „Herr“), welcher dreimal in den Berichten der Jesuiten erwähnt wird (1583, 1604 und 1605). Ihm wurden von den Männern Hähne geopfert; das Fleisch wurde gegessen, die Knochen ins Feuer geworfen. Die Jesuitenmönche 26»

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Diwerix

haben ihn mit dem röm. Lar familiaris gleichgestellt. Die Einzel­ heiten der kultischen Zeremonien wollten die Leute den fragenden Mönchen nicht verraten (1605). Volkstümlich nicht überliefert. Der Gott hat nichts mit Feuer und Rauch zu tun, wie manche Mönche vermuteten.

A. Salys, Dimstipatis, LE V, 45. -> Haushaltgötter; Opfer; Mäjas gars. -> AS1. Hausgeist. -> Finn. Haus­ geist.

Diwerix (Diveriks). Lit. Göttername in Malalas’ Chronik, ohne Be­ deutungsangabe. Es wird versucht, D. als Dievo ryküte, wörtlich „Gottes Rute“, zu erklären. Das Volk bezeichnet auf diese Weise einen Kometen (LE V, 78).

-> Astrale Götter.

Donnergott -^-Perkünas.

Drachen —> Schatzbringender Drache; Schlangen. Dundülis -> Perkünas.

Erde —>Einl. c, 1; Menülis; Perkünas. Erdgottheiten —> Einl. c, 1; Pusaitis; Zemöpatis; *Zemininkas; Ze­ myna; Zemes mäte; Smilsu mäte.

*Ezerlnis -» Vanduö. Feen, göttliche Frauen -> Akmuö; Daliä; Deive; Hexen; Krümine; Laume; Medeine; Rugiu böba; Baltäs sievas; Svetäs meitas.

-> AS1. Feen. -> Kelt. Feen. -> Ung. Baba.

Feldgotthciten

Laukasargai; Laukpatis; Rugiu böba; Zemepatis;

Zemyna; Ceroklis; Jumis; Zemes mäte.

Felsengottheiten -> Einl. c, 1; Akmuö; Deive. Feuer —> Einl. c, 1; Äitvaras; Dimstipatis; Gabetä; Jagaubis; Per­ künas; Uguns mäte; Hl. Feuer.

Fruchtbarkeitsgötter —> Einl. c, 1; Curche; Laukasargai; Laukpatis; Menülis; Perkünas; Pilnitis; Rugiu böba; Zemepatis; Zemyna; Ceroklis; Jumis; Lauku mäte; Perkons; Säule; Zemes mäte.

-> AS1. Mokos. —> Kelt. Fruchtbarkeit. Finn. Fruchtbarkeitsmythen. -> Germ. Fruchtbarkeit. Griech. Fruchtbarkeitsgötter.

Gabetä, Gabietä, Gabijä. Lit. Ein Feuergeist (_> Jagaubis). Der Name wird zuerst in einem Gebet erwähnt, das Lasicki überlieferte:

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(»abetä

„Gabie, Göttin, hebe den Dampf, lasse nicht Funken.“ Außerdem werden von demselben Verfasser Polengabia (Aschen-Gabia) und Matergabia (Frauen-Gabia) genannt. Praetorius weiß von einer —> Gabjäuja (Gabia der Darre; Gabjäujis). Wie K. Büga bereits 1911 bewiesen hat, ist das Wort von gobti, gaubti („zusammen­ scharren, bedecken“) abzuleiten und stammt nicht vom Namen der Hl. Agatha (russ. Agafija), wie A. Brückner einst vermutete (es müßte dann lit. Gapija lauten). Eine richtige Göttin war G. wahr­ scheinlich noch nicht, eher wurde mit diesem Namen das Feuer selbst ehrwürdigerwoise genannt. G. hat auch nichts mit germ. ,,deae Gabiae“ zu tun, über die röm. Inschriften am Niederrhein berichten. Alte Quellen nennen die Litauer häufig als Feuerverehrer (Dhigosz u. a.). Zwei Formen der Feuerverehrung sind bekannt: Stamm­ feuer und Hausherdfeuer. Die letztere und mehr primitive Form ist bis zum heutigen Tag im Volk lebendig geblieben. Das Feuer wird stets als „heiliges Feuer“ bezeichnet. Es muß ehrenhaft be­ handelt werden: man darf es nicht schlagen, nicht mit Füßen treten, nicht hineinspucken oder es mit schmutzigem Wasser be­ gießen. Man muß die brennende Kohle schön im Herd zusammen­ scharren, mit Asche bedecken und darf sie, wenn nötig, nur mit klarem und kaltem Wasser auslöschen. Das beleidigte Feuer rächt sich, es „geht spazieren“, d. h. brennt das Haus nieder (->Äitvaras; Perkünas; —> AS1. Hauskobolde; -> Finn. Hausgeist 2). Früher hatte jeder Haushalt sein „ewiges Feuer“ im Herd. Das Verlöschen des Herdfeuers war ein schlechtes Zeichen. In der Johannisnacht wurde jedoch das Herdfeuer ausgelöscht und ein neues, vom Mittsommer-Scheiterhaufen, angezündet. Die junge Braut brachte ihr eigenes Feuer vom Elternhaus in die neue Wirt­ schaft. Es gibt viele Gebete, die die Hausfrau am Abend aufsagt, wenn sie das Feuer im Herd für die Nacht zusammenscharrt, z.B.: „Lebe mit uns in Frieden, heilige Gabija“ (Plunge); oder: „Heilige Gabcta, bleibe ruhig, wenn zusammengescharrt, und leuchte, wenn angezündet“ (Kaltinenai). Solche Gebete wurden noch bis vor kurzem weithin gebraucht (Balys LTS, 27f.). Ähnliche waren auch den Altpreußen (Sudanern) bekannt, z.B. beim Abschiednehmen der Braut: „Ohow, mein liebes heiliges Feuerlein (panicke)(Panicke Dimin. zu panno „Feuer“ im Apr. - - K. Buga [1908] 14—18). Es werden auch - .-Opfer dargebracht: man schüttet Salz ins Feuer und sagt dabei: „Heilige Gabija, sei gesättigt.“

Eine Sage erzählt, daß das erste Feuer von einem Vogel (Schwalbe, Storch) aus der Hölle gebracht wurde. Der Vogel hat gelitten (der

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Gabjäuja

Storch wurde mit einem Feuerbrand geschlagen und bekam einen schwarzen Fleck auf dem Rücken), aber die Menschen haben das Feuer erhalten, und deshalb werden Storch und Schwalbe von den Menschen gut behandelt (J. Balys, Liet. liaudies sakmes [1940], Nr. 26-28).

-> Haushaltgötter; Vanduö; Uguns mäte. -> AS1. Svarog. -> Kelt. Feuer. —> Finn. Feuergeist; Feuerriten. -> Ung. Urreligion 1. Germ. Muspell. Griech. Herdfeuer. Gabjäuja. Lit. Göttin der Darre nach Praetorius. Sie hat mit Feuer zu tun, wenn Getreide in der Darre getrocknet wird. Das Wort ist im Volke lebendig erhalten und hat verschiedene Bedeutungen: die letzte Darre ('gabijauja), das Fest nach Abschluß des Getreide­ dreschens (-> Gabjäujis), Göttin des Reichtums, schließlich böser Geist, Teufel. Abgeleitet von 'gabijet (-+ Gabetä) und 'jauja’Darre (Lietuviu kalbos zodynas III [Vilnius 1956] 6).

-> Jagaubis.

Getreidegötter. -> Haushaltgötter.

Gabjäujis. Lit. Hausgeist, Verwalter des Vorratsraumes; daher das Fest nach Abschluß des Dreschens: ein Hahn wird unter einen Topf gesetzt, dann schlägt man zu; er darf am Leben bleiben, wenn es ihm gelingt, nach Zerschlagen des Topfes wegzulaufen (Lietuviu kalbos zodynas III [Vilnius 1956] 6). G. ist das männ­ liche Gegenstück zu -> Gabjäuja.

-> Haushaltgötter; Majas gars; Gabvartas. -> AS1. Hausgeist; Hauskobolde. -> Finn. Hausgeist; Para.

Garbvartas. Synonym für -> Gabjäujis. Geburtsgöttin —> Läima; Kärta; Svetäs meitas. Getreidegötter —> Äitvaras; Akmuö; Curchc; Gabjäujis; Jagaubis; Javlne; Krümine; Mcnülis; Pilnitis; Rugiü böba; Ceroklis; Jumis; Läima.

Giltine, Giltine. Lit. Die Todesgöttin, der Tod (v. gelti „stechen, weh­ tun“). Sie wird als eine Frau in Weiß vorgestellt, die nach dem Haus fragt, wo jemand krank ist. Die Hunde erkennen sie und heulen. Wenn sie in die Krankenstube eindringt, wird sie unsichtbar, aber der Kranke stirbt sofort. Sie erwürgt oder erdrückt den Menschen. Nach einer älteren Auffassung sticht sie den Menschen mit ihrer langen Zunge tot. Der Tod kann Wasser nicht überqueren, darum ist es gut, zwischen Dorf und Friedhof einen Fluß zu haben. Ein gescheiter Mann kann die G. betrügen, sie irgendwo einschließen, dann sterben die Leute nicht; aber sie befreit sich wieder, und auch

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Hl. Feste

der Klügste ist schließlich ihr Opfer. Manche Ähnlichkeiten mit der ir. Todesgöttin Banschi sind zu beobachten (vgl. —>Kelt. Jen­ seits; Totengötter). Der Tod als Skelett mit einer Sense ist wohl eine spätere Erscheinung.

M. Alseikaite-Gimbutiene, Müstj protevh{ paHüros j mirtj ir sielq. (Die Vorstellung unserer Vorväter von Tod und Seele). Tremties Metai (1947). —>■ Hexen; Totenglauben; Kapu mäte; Smilsu mäte; Näves mäte. -> AS1. Hexen. Kelt. Totengötter. -* Ung. Hexen. Germ. Odin. Griech. Tod. Götterspeisung —> Äitvaras; Zaltys; Velis.

Götterwagen -> Perkünas. Govu mäte

Einl. b, 1.

Hausgeist —> Einl. B: b, 1; Haushaltgötter; Kobolde; Majas gars.

Haushaltgötter —> Einl. C: 1; Äitvaras; Akmuö; Apideme; Dimstipatis; Gabetä; Gabjäujis; Kaükas; Pükys; Zemepatis; Majas gars; Pükis; Uguns mäte.

-> AS1. Hausgeist; Hauskobolde. -► Finn. Hausgeist; Para. Hl. Bäume —> Hl. Stätten. Hl. Berge -> Hl. Stätten. Hl. Feste. Lett. Sie sind mit den wichtigsten Augenblicken des Men­ schenlebens, sowie mit dem Rhythmus der Arbeit und der Natur verbunden. In einigen von ihnen sind die Überreste sehr alter Kultgebräuche erhalten geblieben, die auf enge Beziehungen zu anderen indogermanischen Völkern hinweisen.

a) Familienfeste. Ein eigenartiges Opfer- und Festmahl ist die pirtizas, das mit der Niederkunft verbundene Badestubenfest, an dem nur Frauen teilnehmen; veranstaltet wird es gewöhnlich in der Badestube nach der Niederkunft. Dabei wird die Fürsorge der —>Laima für Mutter und Kind erfleht; ihr werden auch blutige (Huhn) und unblutige -> Opfer (Garn, Gürtel, Geld u.a.m.) dar­ gebracht.

Sehr umfangreich und vielgestaltig sind die mit der Hochzeit ver­ bundenen Riten. Aus den Quellen geht eindeutig hervor, daß Raubehen vorkamen (H. Biezais, Svenska regeringens kamp mot hedniska seder och bruk bland lettiska bönder, in: KÄ [1958] 88—110, mit deutscher Zusammenfassung). Wichtig waren die Maßnahmen zur Bindung der jungen Frau an die neue Familie, 409

Hl. Feste

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was durch dreimaliges Umschreiten des im Vorhause befindlichen Herdes (—>Uguns mäte) und durch Hineinstreuen von Opfergaben in den Herd bewirkt wurde. Ebenso mußte die Braut alle wichtigen Gebäude des Hofes umschreiten, sowie den Weg zum Brunnen bzw. zur Quelle, zur Badestube, zum Kornspeicher usw. zurück­ legen und an diesen Stellen Opfer niederlegen, um mit den Haus­ geistern (-VMäjas gars) freundschaftliche Beziehungen anzuknüpfen. Nach der Aufnahme der jungen Frau in die Gemeinschaft der Familie folgte ein Festessen mit Trankopfern; an diesem Mahl nahmen auch die verstorbenen Familienglieder teil.

Mit dem Tode und den Vorstellungen über das —> Vehs steht ein weitverbreiteter Brauch im Zusammenhang — die Fütterung der Veji (plur.). Es war ein sakrales Festessen, das gewöhnlich im Herbst nach der Einbringung der Ernte in den Kornspeichern stattfand. In den Quellen finden sich verschiedene Bezeichnungen für dieses Festmahl, wie Dievaines, Geisterzeit, Dieva dienas, Geistertage, Zemlikas, Opfertag, FeZw laiks, Zeit der Veji. In der christlichen Interpretation sprach man von Dvëselu mielasts, Festmahl der Seelen.

Adamoviês (1937) 74—91; A. Aizsils, La noce letonne ancienne dans le district de Daugavpils (lettisch). (MAFL B 10 [1941]); Biezais (1955) 185—191, 216—229; K. Pêtersons, Latweeschu mahte ar behrnu (Die lettische Mutter mit dem Kind). JLBR 6 (1901) 1—56; Derselbe, Latvieäu käzas (Die lettische Hochzeit), in: RLBR 16 (1912) 59—266; Biruta SenkeviÈa, Godi Vidus-Kursä (Lebenslauffeste im mittleren Kursa). MAFL B 5 (1939); Straubergs (1949), 108—114.

b) Jahresfeste. Der Beginn oder der Abschluß jeder wichtigen Arbeit im Bauernleben wurde durch eine Feier gekennzeichnet, haupt­ sächlich durch ein Festmahl, bei dem die entsprechende Gottheit angerufen, ihr der Dank ausgesprochen und Opfer dargebraeht oder auch ihre Wohlgeneigtheit für die Zukunft erbeten wurde. P. Smits (1930) 214 spricht von drei Jahreszeiten, in die die drei wichtigsten Feste fallen: der Anfang des neuen Jahres, der auf den Frühling, den Beginn der Saatzeit fällt, das Fruchtbarkeitsfest mit phallischem Charakter, auch als Sonnenfest gefeiert (Johanniszeit), und das Herbstfest (Rudenaji) nach Abschluß der Einbringung der Ernte; dieses Fest fällt mit der velu laiks zusammen. Es scheint aber, daß die älteste Tradition nur zwei Jahreszeiten gekannt hat — den Winter und den Sommer (Adamovics 1937, 92). Jedenfalls war der Beginn der Frühjahrsarbeiten — Aussaat, Austreiben des Viehs auf die Weide, Austreibung der Pferde zur Nachhütung — die Veranlassung, besonders den Lichtgott und den Pferdepatron 410

Balten

HI. Feuer

Usins sowie andere —> Fruchtbarkeitsgötter anzurufen. Den Ab­ schluß der Frühjahrszeit bildete das Fest der Sommersonnenwende, in dessen Mittelpunkt der -> Saules kults, der Sonnenkult, stand. Die Einbringung der Sommerernte begann mit der Heumahd. Da die Arbeit in Nachbarschaftshilfe kollektiv geleistet wurde, gab sie Anlaß zu Versammlungen. Nach getaner Arbeit wurden bei Gesang, Tanz, Dankopfern und einem gemeinsamen Festmahl auch die entsprechenden Götter geehrt (—> Jumis; Lanka mäte; Zemes mäte; Perkons u. a.). Daher ist eine größere Zahl von Be­ zeichnungen für die einzelnen Herbstfeste bekannt: Applavibas, Apjumibas, Apkulibas, Saberi (wo Essen und Getränke zusammen­ gebracht sind) u. a. m.

Adamoviös (1937) 91—99; A. Bielenstein, Das Johannisfest der Letten, in: Baltische Monatsschrift 23 (1874) 1 — 46; Biezais (1961) 149 — 162; L. v. Schröder 2 (1922) 129—133; Straubergs, Die Letto-preußischen Getreide­ feste, in: Arv 5 (1949) 130—159; Derselbe, Latviesu gada svetki (Jahres­ feste der Letten) (Summary), in: Acta Societatis Philologorum Latviensium Suecanae 1 (1947) 9 — 61. —> Griech. Hl. Feste. Kelt. Feste. -> Finn. Feste. ->■ AS1. Hausgeister. Hl. Festmahl —> Hl. Feste, Velis, Laima, Pirtizas.

Hl. Feuer. Lett. uguns, wurde bei den Letten ebenso wie bei vielen anderen igd. Völkern als heilig angesehen. Über die Feuerriten geben die archäologischen Ausgrabungen unmißverständliche Aus­ künfte, vor allen Dingen über die Leichenverbrennungen. Mit dem Herdfeuer hingegen sind viele Elemente des Familienkults ver­ bunden (-> Hl. Feste a), ebenso mit dem in der Badestube und in der Korndarre geschürten Feuer (Pirts mäte; Rijas mäte). Zum Teil haben sich auch Texte erhalten, die bezeugen, daß dem Hl. Feuer Opfer dargebracht wurden: „Brenne mein Feuerchen, ich gebe Dir ein weißes Huhn mit allen Küken (dim.)“ (T 30910). Von dem Herdfeuer hängt das Wohlergehen der Familie ab, daher hält -> Laima (T 30915), die Bestimmerin des Glücks, sich in ihm auf bzw. übernachtet dort. Das Herdfeuer darf man nicht an andere abgeben; wenn man es tut, so sind bestimmte rituelle Vorsichts­ maßnahmen zu treffen (T 30912—13). Man darf das Feuer nicht beleidigen, weder mit Worten noch mit Taten (T 30920—63). Neben dem Hl. Feuer ist auch die Uguns mäte, die Feuermutter (T 31103—05) bekannt, wohl hauptsächlich in Zauberformeln (—>Gabetä) (Pasakas 13 [1936] 245-247). Edite Hauzenberga-Sturma, Zum Anlaut von lit. ur/nis, lett. uguns „Feuer“, in: ZslPh XXV, 1 (1956) 53—57; H. Kiekstips, Latviesu cilsu kapu tipi un apbedlsanas parasas dzelzs laikmetä (Die Typen der Gräber der lett. Stämme und die Begräbnisbräuche der Eisenzeit) (1935); Smits (1926) 24—26. 411

Hl. Stätten

Balten

-> Feuer. -> Kelt. Feuer. -> Finn. Feuergeist. —> Asl. Hauskobolde; Svarog. -> Griech. Herdfeuer.

Hl. Stätten. Lett. Es ist vorläufig nicht nachgewiesen, daß die Letten spezielle Kultgebäude gehabt hätten (vgl. Biezais [1961] 117). Zu Zwecken des religiösen Kults wurden gewöhnlich die von der Familie bewohnten Gebäude oder auch bestimmte ausgewählte Stellen in der freien Natur benutzt.

a) Gebäude. Im Wohnhause waren viele Gebräuche und Kult­ ausübungen besonders an zwei Stellen gebunden: an die sog. „Hl. Hinterecke“, die häufig mit dem Platz hinter dem Ofen iden­ tisch war, wo die guten Hausgeister (-> Majas gars) wohnten und wo auch Opfer hingelegt wurden. Der zweite Hl. Platz im Hause war die im Vorraum befindliche Herdstelle; auch die Türschwelle war von Wichtigkeit. Die sakrale Bedeutung der Herdstelle wird besonders bei Hochzeitszeremonien (-> Hl. Feste b) deutlich. Sehr große Bedeutung hatten ferner zwei weitere Räume: die Bade­ stube und die Korndarre. Die in der Badestube stattfindenden Geburten wurden von —> Laima beschützt; der Niederkunft folgte ein sakrales Frauen-Festmahl (—> Hl. Feste a). Die Badestube war auch die Heilstätte bei Krankheiten; in ihr wohnte die Pirts mäte, die „Badestubenmutter“, der Opfer dargebracht wurden (vgl. Bie­ zais [1955] 179—194). In der Korndarre lebte die Rijas mäte, die Riegenmutter, die hauptsächlich die schwere Drescharbeit be­ schirmte. In der Korndarre wurde auch — im Zusammenhang mit dem zum Trocknen des Kornes angefachten Feuer — die -> Uguns mäte angerufen. Der einen wie der anderen wurden Opfer dar­ gebracht, zuweilen sogar blutige. Die Korndarre war auch der Aufenthaltsort der —> Velis im Herbst; ihnen wurde dort ein Mahl gereicht (-> Hl. Feste c) und in ihrer Gesellschaft hielt sich der Hofbauer als pater familias und Vollstrecker des Kultes auf.

b) In der Natur. Die bedeutendste Stelle unter den hl. Kultstätten in der Natur nahmen die Berge ein. (In Lettland gibt es keine hohen Berge, es wäre daher richtiger, von Hügeln zu sprechen.) Die Forschungen Ed. Sturms weisen nach, daß sich in der Nähe der alten Burgen auch spezielle Opferstätten befunden haben (vgl. Ed. Sturms, Baltische Alkhügel, in: Conventus primus historicorum Balticorum [1938] 116—132). Diese Anhöhen mit den Opfer­ stätten wurden hl. Berge genannt. Es scheint, daß in diesem Zu­ sammenhang auch solche Hügel zu nennen waren, die man 3aulc.s kalni, „Sonnenberge“, oder Ptrkona kalni, „Donnerberge“, usw. nannte. Neben den Bergen werden in den Dokumenten hl. Haine erwähnt, in denen sich die Bevölkerung der Umgegend zu bcstimm-

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Balten

Himmlische Badestube

ten Festlichkeiten versammelte; diese Feier war mit kultischen Übungen und Opfern verbunden. Auch mehrere einzelne Bäume wurden als heilig angesehen. Noch zu einem so späten Zeitpunkt wie Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhs. berichtete der Jesuit J. Stribins, daß die Letten: „Et haec dona omnia Arboribus et Lucis certis, quas Arbores sanctas vocant, olferunt“ (W. Mann­ hardt [1936] 442), ebenso P. Culesius (Fontes Historiae Latviae III, 2 [1941] 254). Besonders wurden die Eiche und die Linde als heilige Bäume angesehen; unter ihnen wurde geopfert und sie wurden auch im Gebet direkt angesprochen, wie es ein sehr be­ zeichnender Ausspruch vom Jahre 1725 bezeugt: „Bonum diem o tiliola, rectene vales! et qua fortuna? en tibi a me homagium. Ne tangas (quaeso) meos liberos, non pecora, non sues, non valetudinem, nec ulluin nobis damnum inferas aut infortunium“ (ibid. III, 1 [1940) 391). Mit dem Fällen von heiligen Bäumen und der Zerstörung der damit verbundenen Kultstätten befaßten sich einzelne Pfarrer noch in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhs. Als solche Kultstätten in freier Natur sind auch die zahlreichen (etwa 40) auf dem Territorium Lettlands befindlichen Opfersteine anzusprechen; bei ihnen wurden Opfer gebracht, auch fanden dort gemeinsame Festmähler statt (->H1. Feste).

Adamovißs (1937) 99-109; A. Bielenstein, Die altlettischen Burgberge Kur­ lands, in: MLL 14, 2 (1869) 12 — 142; A. Brosow, Uber Baumverehrung, Wald- und Feldkulte der litauischen Völkergruppen (1887); Edith Kurtz, Verzeichnis alter Kultstätten in Lettland, in: MLG 22 (1924) 47 — 119; K. Straubergs, Opferstätten und Opfersteine im lettischen Haus- und Familienkult (1962) (Commentationes Balticae VIII/IX, 6); Ed. Sturms, Elka kalni un pilskalni Kursä (Alkhügel und Burgberge in Kursa), in: Pagätne und tagadne (1936) 82—102; Derselbe, Baitu tautu svötmeii (Die heiligen Wälder der baltischen Völker), in: Sauksme (1948) 17—21, Pasakas 15 (1937) 415-475. ->■ Griech. Sakrale Bezirke; Baumkulte. -> Kelt. Berge; Heiligtümer; Baum. -> Finn. Hl. Bäume; Haine; Heiligtümer. Germ. Heil. -> Asl. Hausgeister. Ung. Äldo-küt.

Hexen —>Feen; Giltine; Rugiu böba; Slogute; Vanduö; Vilktakas; Laima; Lauma; Ragana; Svetäs meitas; Vadätäjs.

->■ AS1. Hexen. -> Ung. Hexen.

Himmelsbcrg —> Dievs; Weltbild; Sonne. Himmelsgott —> Einl. B: 6, 1; C: 1.; Perkünas; Dievs. Himmlische Badest»be -> Auseklis; Dieva deli; Dievs; Säule; Saules meitas.

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Himmlische Hochzeit

Balten

Himmlische Hochzeit —> Auseklis; Dieva deli; Dievs; Perkons; Säule; Saules meitas.

Hölle —> Teuflische Götter.

Jagaubis, Lit. Feuergott, nach den alten Wörterbüchern von Brodowski, Ruhig und Mielcke. Kontaminiert aus jauja „Darre“ und Gabija (^-Gabetä); J. bedeutet „Gabija (Feuergeist) der Darre“. Volkstümlich nicht überliefert. —> Gabjäuja, wo dieselben Wörter anders zusammengesetzt sind. (-> Rijas mäte.)

Jäger -> Perkünas; Dieva deli.

Javine. Lit. Brodowskis Wörterbuch erwähnt eine „Göttin des Getrei­ des Jawinne“. Abgeleitet von javai (pl.) „Getreide“; J. ist regel­ mäßiges lit. Wort, das als Eigenschaftswort wie als Hauptwort ge­ braucht werden kann; sonst aber nirgends als Name einer Göttin belegt.

-> Getreidegötter; Krümme; Jumis.

Jenseitsvorstellungcn -> Bcstattungsbräuche; Totenglauben; Welt­ bild.

Joda mätc -> Mäte. Jumis. Lett. Das Wort scheint mit dem aid. yuvati, „bindet an“ (ME 2 [1953] 118), eventuell auch aid. yama-h, „gepaart; Zwillinge“ lt. Meillet (SB 1 [1931] 115) in Verbindung gesetzt werden zu kön­ nen. Es ist in der lett. Sprache gebraucht worden, um „zwei zu einer Einheit verbundene, zusammengewachsene Dinge, etwas Ver­ einigtes, Zusammengewachsenes“ (ME 2 [1953] 117) zu bezeichnen. In mythologischer Bedeutung ist es zur Bezeichnung eines im Fruchtbarkeitskult bekannten Wesens gebraucht worden. Sein Symbol sind zwei zusammengewachsene Früchte, gewöhnlich Roggen- oder Gerste-Ähren, aber auch zwei Nüsse oder zwei zu­ sammengewachsene Flachsstengel (Fasciation). Mit der Gestalt des J. verbinden sich Glaubensvorstellungen im Leben des Bauern, die im Erlangen und Bewahren des J. auf dem Acker bei der letzten Mahd zum Ausdruck kommen. Falls es nicht gelungen ist, eine Doppelähre zu finden, so läßt man symbolisch ein Jumis-Bündel oder eine Jumis-Garbe zurück. Die Jumismacht wird laut Volks­ tradition dem Acker erhalten, wenn man die Ähren der letzten Garbe zur Erde biegt und, um ihnen Halt zu geben, einen Stein darüberlegt, oder man schüttet Körner von der letzten Garbe auf das Feld, oder man hinterläßt den künstlich angefertigten J. unter einem Stein auf dem Felde. Neben diesen Gebräuchen sind noch

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Balten

Kalnas

andere zu beobachten, bei denen J. ins Bauernhaus gebracht und an einem Ehrenplatz in Stube oder Speicher aufbewahrt wird. Zur Zeit der Frühjahrsbestellung wird er entweder auf dem Feld unter einen Stein gelegt, oder seine Körner werden ausgestreut und der ersten Handvoll Saatgut hinzugefügt.

J. nimmt unter den —> Fruchtbarkeitsgöttern (-> Feldgottheiten) einen hervorragenden Platz ein. Er ist eine der seltenen Gestalten der lett. Mythologie, die eine klar festgelegte Familie mit Frau und Kindern besitzen (28532, 28535, 28533), die sich im Sommer auf dom Felde aufhält, im Winter aber in der Scheune schläft. Er besitzt eigene graue Pferde und trägt selbst Stiefel (28525). Entsprechend seinen Funktionen wird J. Roggen-J., Gerste-J., Flachs-J. usw. genannt. Somit kann man von einer gewissen Diffe­ renzierung sprechen. Mit der Gewinnung des J. auf dem Felde und seiner Aufbewahrung sind verschiedene rituelle Gebräuche, verbunden mit einem Gastmahl, Liedern und Tänzen, zu beob­ achten, was einigen Forschern Veranlassung gegeben hat, hier Elemente alter Kultdramen zu suchen. Auf jeden Fall haben wir es beim J.-Kult mit einem sehr alten Ausdruck des lett. religiösen Bauernlebens zu tun. L. Adamoviös, Der Acker und sein Ertrag in der altlettischen Volksüber­ lieferung, Conventus primus historieorum Balticorum; Acta et relata (1938) 133 1.38; RLBR 23A (1940) 362363; gmits (1926) 38-39; Pasakas 13 (1936) 329; LKV 8 (1932) 14569-14575. Lauku mäte; Mäte; Ceroklis; Curche.

Juras mäte. Lett. Superintendent P. Einhorn schreibt im Jahre 1649: . . . „daß die Fischer sich klaget, cs were die Meer-Mutter oder Göttinn des Meeres über sie sehr erzürnet, und gebe ihnen kein Gedeyen zu jhrer Handthierung und Fischerey“ (18). Auch das folkloristische Material bestätigt das Vorhandensein einer solchen Göttin (27683, 30910), besonders im Heilzauber (MAFL A5 405; Edith Kurtz 2 [1938] Nr. 601). Neben der J. m. werden ihre Töchter und Dienerinnen genannt. Im Zusammenhang mit dem Meer wird auch die Bangu mäte, „Wogenmutter“ erwähnt. —>■ Einl. b, 1; Mäte, Vanduö. Griech. Meergötter. -> Germ. Aegir; Njörd; Rän. -> Einn. Wassergeist.

Kelt. Meergottheiten.

Kälnas. Lit. „Berg“. Heilige Berge und Hügel sind häufig in alten Schriften genannt. Gewöhnlich kommen sie in dem Namen eines Alkalealnis, PerkUnkalnis oder Kaukakalnis (—> Alka; Kaükas; Perkünas) vor. Oft erwähnt und beschrieben wurde der heilige Rambynas-Berg (am rechten Ufer der Memel gegenüber Ragnit) mit

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Kapu máte

Balten

seinem großen Opferstein (so von Henneberger 1595, von Pisanski 1769 und von Nanke 1794). Die Wegberichte des Deutschen Ordens vom Ende des 14. Jahrh. erwähnen zweimal, daß sich ein heiliger Wald am Rambynas-Berg befand.

-> Opfer; Weltbild; Hl. Stätten b. -> AS1. Tempel. -> Kelt. Berge; Heilig­ tümer. -> Pinn. Haine; Heiligtümer. -» Ung. Äldö-küt. -> Germ. Disen.

Kapu mäte -> Einl. b, 1; Zemes mäte; Veju mäte. Kaja dievs -> Einl. B. b, 1; Meness.

Kara mäte -> Einl. B. b, 1; Mäte. Kärta. Lett. K. ist eine Schicksalsgöttin. Der etym. Zusammenhang ist unklar. Man kann das Wort von kärt, „hängen“, oder von kärtot, „ordnen“, ableiten. K. wird nur in einer kleinen Anzahl von Volks­ liedern erwähnt, und man kann aus deren Text schließen, daß sie eine Hypostase der Funktionen des Verhängens des Schicksals durch —> Laima ist, denn sie hat keinerlei Funktionen außer den der Laima zugeschriebenen (—>Daliä). Unbegründeterweise wird sie zuweilen mit der einen der in den Volksliedern häufig genannten drei Laimas (gewöhnlich im Diminutiv) identifiziert (Biezais [1955] 377-388).

Kaükas, pl. kaükai. Lit. Kobold, zwcrghafter Hausgeist, Heinzelmänn­ chen (—> Cawx; Teuflische Götter).Zuerst von Mosvid 1547 erwähnt („quid ad malas artes adiiciunt animum, Eithuaros et Caucos deos profitentur suos“), sind K. hauptsächlich in West-Litauen bekannt. Es gibt viele ON in Klein-Litauen, die daran erinnern, wie Kauke. (ein Flüßchen), Kaukenai, Kaukalauke (/va?z/ia-keld), Kaukaliskis, Kaukvieiiai u. a„ auch in Suvalkija sind drei kleine ÄziwÄ;«-Berge zu finden, dazu Kaukonys an der östlichen lit.-lett. Grenze. Nach der Vorstellung des Volkes sind es kleine männliche Wesen, die gewöhnlich zu zweien sich zeigen und wirken, darum häufig in der Mehrzahl genannt (kaukai) werden. Sie bringen Glück für den Haushalt, betreuen die Pferde und verrichten andere Hausarbeiten in Stall, Scheune und Speicher. Sie gehen in fetzigen Kleidern, aber verschwinden als „ausgelohnt“, wenn sie mit neuen und schönen Kleidern beschenkt werden. Der Name ist nicht auf­ geklärt. Im Finn. und Est. bedeutet kauko, kauki „Geist, Teufel, Bär“ und ist nach E. Setälä vom Begriff der Seele eines Ver­ storbenen abzuleiten (FUF 12, 193). Kaukutis (Dimin.) ist im Lit. manchmal auch als „ungetauftes Kind“ vorgestellt (-> Slogüte). Heutzutage ist K. häufig mit dem -> schatzbringenden Drachen vermengt (—> Äitvaras). 416

Balten

Laima

A. Bezzenberger (1882) 63—64. -> Haushaltgötter; Mieivilks; Rukis; Seelenglauben. -> AS1. Hauskobolde; Totenglauben. -> Finn. Maahiset; Para. Germ. Elben; Zwerge.

Kobolde —> Haushaltgötter.

Krümine. Lit. Stryjkowski (1582) berichtet über eine Kruminie pradziu warpu (d. h. „die Buschfrau der Anfänge der Ähren“, von krümas „Busch“). Es ist nicht klar, wieso eine „Buschfrau“ etwas mit Getreide und Ernte zu tun hat.

-> Feen; Getreidegötter; Ceroklis; Jumis.

Kult -> Opfer; Hl. Feste. Kultische Gebote, k. Verbote -> Gabetä; Laume; Mfdis; Menülis; Perkiinas; Pusaitis; Sefmenys; Slogüte; Vaidilas; Vanduö; Vejopatis; Zemyna.

-> ASl.Kultische Gebote. -> Kelt. Kultgebote. —> Finn. Kultgebote. -> Griech. Kultvorschriften.

Kultstätten —> Einl. c, 1; Alka; Kälnas; Pirts mäte; Rijas mäte; Hl. Stätten

Laima. I. Lett. In der lett. Religionswelt bestehen nebeneinander zwei Vorstellungen, nämlich das unpersönliche Glück laime als Gattungs­ name und die personifizierte Schicksalsgöttiu Laima bzw. Laime als Eigenname. Glück können auch die anderen Götter gewähren —> Dievs; Säule (9217). Das Streben nach Glück — worunter das völlig konkrete Wohlergehen im allerweitesten Sinne verstanden wird, das das ganze Leben umfaßt — steht in der Kultur der lett. Bauern an zentraler Stelle. Daher ist die Gestalt der L. neben Dievs die am vollkommensten ausgeprägte. In geschichtlichen Doku­ menten wird sie zuerst Anfang des 16. Jahrhs. bei Vienbrock er­ wähnt; „Habuerunt autem et Deas, . . . matrem bonae fortunae, quas Deas invocabant pro Omnibus quae peragenda haberent domi, foris, in pace, bello, terra marique publice privatimque“ (Biezais [1955] 71). Hieraus ergibt sich die zentrale Stellung der L. Das gleiche bestätigt die Aufzeichnung P. Einhorns vom Jahre 1649: „Insonderheit aber ist von den weiblichen Geschlecht fürnemblich aber von den Schwängern und Kindbetterinnen geehret und angcruffen die Laima, das ist, die Fortuna oder Göttin des Glückes, denn dieselbe in Kindes-Nöthen den Gebärenden geholffen“ (18). Auch folkloristisches Material bestätigt diese Auffassung vielfältig.

a) Funktionen der Schöpfungs- und Schicksalsbestimmung der L. Etym. scheint L. mit laist (lassen) in Verbindung zu stehen (ME 417

Laima

Ba ten

II, 409; Böga II [1959] 125—127). Das wird besonders dadurch bestätigt, daß daneben Hauptworte laidums (Schöpfung) und Laidsja (Schöpferin) stehen. Außer —> Dievs hat nur L. schöpferische Funktionen, kein anderer Gott besitzt sie. Sie ist die Schöpferin des Menschen (1210, 4961,1; 8746). Doch ist ihre Hauptfunktion die Bestimmung des Schick­ sals. Sie ist es, die in allen schicksalhaften Augenblicken des Men­ schenlebens entscheidend eingreift: bei der Geburt, der Heirat und dem Tode. L. bestimmt, ob das Kind überhaupt geboren wird (27457) und welche Gestalt es haben soll (331,1). Schon im Augen­ blick der Geburt entscheidet sie auch über den ganzen künftigen Lebenslauf, nämlich, ob das Leben leicht oder schwer (1196, 9201), ob der Mensch reich oder arm sein wird (1178). L. entscheidet, ob das Mädchen oder der Bursche sich überhaupt verheiraten (11849, 21431) und — ganz konkret — wie der zukünftige Mann bzw. die Frau sein wird: reich, ein Trinker, faul, böse, klug oder dumm u.a.m. (10602, 10162, 9738,9). Ebenso radikal ist das Eingreifen der L. im Augenblick des Todes. Sie bestimmt, wer zu sterben hat, und setzt auch den Zeitpunkt fest, wann es zu geschehen hat. Des­ halb wendet man sich an sie mit der direkten Bitte, sie möge retten, oder im Falle eines schweren Schicksals, sie möge gestatten, daß man stirbt (27684, 22194,4). Die Funktionen der Schicksalsbestimmerin enthüllen den ambi­ valenten Charakter der L. Sie kann einem ein gutes oder auch ein schlechtes Leben zuteilen, sie kann bestimmen, daß man lebt, sie kann einen aber auch sterben lassen. Das ist ein sehr charakteri­ stischer Wesenszug der L., der keinen Zweifel daran übrigläßt, daß sie eine typische Schicksalsgöttin ist. Diese Ambivalenz hat zu einer Differenzierung geführt — es hat sich von ihr ihre negative Funktion als selbständiges Wesen abgeteilt: Nelaime, Unglück. Nelaime wendet sich gegen L. und sie geraten in Streit (1220, 9263, 9212, 1). Nelaime wird auch mit dem personifizierten Launa diena, dem „bösen Tag“ identifiziert (9180).

Das Zusammenwirken der L. mit Dievs ist sehr eng im positiven Sinn, und sie sind immer bei den gleichen Funktionen anzutreffen. Aber dieses enge Nebeneinandererscheinen eröffnet auch zwei weitere Einblicke. L. als Schicksalsgöttin ist in ihren Entschlüssen souverän. Sie bespricht nicht nur mit Dievs verschiedene Fragen, sondern sie streitet sich oft mit ihm und bleibt bei ihrem gegen­ sätzlichen Beschluß (10042, 9459, 34015). Andererseits läßt diese enge Zusammenarbeit auf Familienbande schließen (7996, 8243).

418

Balten

Laima

b) L. als Segenspenderin. L. wird auch als Mutter bezeichnet, dann spricht man von der L.-mäte „Glücksmutter“. Diese Benennung zeigt sie in anderen Funktionen, die sich konsequent aus ihrer Funktion als Schicksalsbestimmerin ergeben. Sie kann auf ver­ schiedenen Lebensgebieten ihren Segen geben. Bei diesen Funk­ tionen teilt sie ihr Wirken oft mit anderen -> Muttergottheiten, auch mit ■ Perkons, Usins; Säule u. a. Des Hauses Wohlfahrt ist davon abhängig, ob darin auch L. wohnt (18813). Gewöhnlich geht sie auf dem Dach des Hauses einher (1440), oder sie wohnt unter der Schwelle und im Pavards (der Feuerstelle). Ganz offen treten ihre Funktionen zutage, wenn sie aktiv eingreift, um den Wohl­ stand der Bauern zu heben. L. beteiligt sich am Segnen der Frucht­ barkeit des Feldes; bei der Aussaat (54813), indem sie den Acker umschreitet (32542,3), oder im Herbst, indem sie nach der Ein­ bringung der Ernte in der Mahlkammcr sitzt (8249, 7996). Noch größer ist ihre Aktivität bei der Viehzucht. Man trifft sie im Vieh­ stall, wo sie unter der Schwelle schläft (32501), sie gibt die Kühe (29182, 29190), sie wird direkt als Kühe-L. bezeichnet (32446,1); aber sie gibt auch Pferde und wird dann Pferde-L. genannt (32501). c) L. in Kult und Magie. L. gehört zu den wenigen Gottheiten der Letten, an die ein einigermaßen ausgeprägter Kult geknüpft ist. In allen angeführten schicksalhaften Augenblicken des Menschen­ lebens, bei denen L. aktiv eingreift, ist der Kult mit —>Opfern, rituellen Festmählern (—> Hl. Feste) und zu ihren Ehren gesungenen Hymnen verbunden. Bei der Geburt eines Kindes wird ihr gewöhn­ lich ein Huhn mit einem Schopf (1140) oder ein Ferkel (1139) ge­ opfert. Daneben sind auch andere Opfer bekannt: Silber, Gürtel, Wollgarn u. a. Desgleichen opfert man der L. bei der Hochzeit, ge­ wöhnlich beim Eintreffen im neuen Heim, aber nur unblutige Opfer (44030). Die wichtigste Kulthandlung im Zusammenhang mit der Niederkunft, die unter dem Schutze der L. steht, ist ein besonderes Festmahl Pirlizas,, Badestubenmahl, das nach einer glücklichen Geburt in der Badestube stattfindet und an dem nur Frauen teilnehmcn. Diese kultischen Gebräuche sind gewöhnlich mit dem Hersagen oder Absingen entsprechender Texte verbunden. Unter dem Einfluß des Christentums bildete sich ein Synkretismus heraus, in dem L. einerseits in die Familie der Himmelsgötter eingereiht wurde und die ihr entsprechenden Attribute und Ge­ wänder zugeordnet bekam, andererseits des öfteren zusammen mit den Heiligen der katholischen Kirche beim Heilzauber (Edith Kurtz 2 [1938] Nr. 450, 541, 642) und bei anderen magischen Verrich­ tungen angerufen wurde (—>Kärta). 27

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Läima

Balten

Biezais (1955); Pasakas 13 (1936) 305—318. Griech. Moiren; Schicksal. —> Kelt. Schicksal. —> Asl. Geburtsfeen; Haus­ geister. -> Pinn. Einteilungszeit 1. -> Ung. Älmos 2. -> Germ. Schicksal.

Läima, Läime. II. Lit. Schicksals- und Glücksgöttin (von leisti „lassen, bescheren, erschaffen“?). Das Schicksal des Menschen wird bei seiner Geburt von L. für das ganze Leben bestimmt. Sie wird auch direkt Läime (Glück) genannt. G.Ostermeyer schreibt; „Laima, auch Lahne, die Führerin des Menschen von seiner Geburt an bis an sein Lebensende; die Glücks- und Unglücksgöttin, dergleichen die Parcen bey den Alten waren ... Ihre Laima bestimmte die guten und die widrigsten Begebnisse der Menschen ganz willkürlich, und niemand konnte dem entgehen, was ihm zuerkannt war. Taip Laima lerne = So hat’s die Laima beschlossen, ist ein Sprichwort, so sich bis auf heutigen Tag erhalten. Ein ähnliches Sprichwort ist: Tai jau jo Liklcim’s (= Das ist sein Schicksal), dem hat er nicht entgehen können. Und so denkt man noch.“ (Kritischer Beytrag zur alt­ preußischen Religionsgeschiehte [Marienwerder 1775], 15. 47). In einem Volkslied heißt es: „Weine nicht, Mädchen, beruhige dein Herzlein, vielleicht bist du von Läima mir bestimmt und wirst doch meine Liebste“ (A. Juskeviee, Lietuviskos svotbines däjnos, Nr. 14 [Petersburg 1883]). Auch sonst ist L. in Volksliedern ge­ nannt (daselbst Nr. 1085). Die schriftlichen Quellen erwähnen L. erst seit dem 17. Jahrh., zuerst W. Martini 1666. Practorius nennt Laimeie (Dimin.) als die Göttin der Geburt. Die lit. Sehicksalsgöttinnen wirkten nicht immer zu dreien, häufig wird nur eine ein­ zige L. erwähnt. Die drei Laimos, die zuweilen auch als Schwestern auftreten, entsprechen zweifellos den bekannten drei Schicksals­ frauen (vgl. Moiren, Parcen, Fata, Nomen).

Biezais (1955) 279-283; Büga II (1959) 125-127. -> Daliä; Giltine; Laume. —> AS1. Geburtsfeen. Kelt. Göttertriaden; Schicksal. -> Pinn. Einteilungszeit 1. —> Ung. Boldogasszony; Älmos 2. -> Germ. Geburt; Schicksal; Nomen. -> Griech. Moiren; Schicksal. Laimas mätc

Laima I/II.

Laukasargai. Lit. Die Feldhüter, erwähnt v. Mosvid 1547 („ Fruchtbarkeitsgötter. —> AS1. Svantevit. Laukpatis. Lit. Der Herr des Feldes (v. laukas,,Feld“ und patis „Herr“) nur von Lasicki, 1580, erwähnt: „Laukpatimo(!) ituri aratum uel

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Balten

Laume

satum supplicant,“ Die Form sollte richtig Laukpatims (dat. pl.) lauten. Eine ältere Form könnte *Laukopatis sein.

- > Fruchtbarkeitsgötter; Laukasargai; Feldgottheiten, Lauku mäte. -> AS1. Svantevit. — Griech. Feldgötter. Lauku mäte. Lett. „Mutter des Ackers“ wird bereits von P. Einhorn im Jahre 1649 zusammen mit der Därza mäte „Gartenmutter“ und ->Meza mäte „Mutter des Waldes“ genannt. Die Letten beten sie an und opfern ihr, heißt es, damit die Frucht des Feldes gut gedeihe. Sie wird auch in einigen Volksliedern erwähnt (7729) und ist als eine typische -> Fcldgöttin anzusehen (->Laükpatis; Mäte; Ceroklis).

Lauma. Lett. Ist identisch mit der lit, -> Laume (T 16655-T 16659; 34060, 34069—70). In der Tradition der Letten werden die L. auch Svetäs meitas, „hl. Jungfrauen“ genannt, oder Baltäs sievas, „weiße Frauen“. In ihrer gegenwärtigen Charakterisierung ent­ halten sie viele Züge ähnlicher Wesen der germanischen Mythologie. Biezais (1955) 294—301; A. Gäters, in: KZ 73 (1950) 52—57; Pasakas 13 (1936) 243—245, 301—305.

Laume, Laume. Lit. Die -> Fee, urspr. verschieden von —> Läima, obwohl jetzt in der Volksübcrlioferung ihre Tätigkeit manchmal vermengt ist. Die Etym. des Wortes ist nicht aufgeklärt (die Versuche sind verzeichnet und besprochen von Fraenkel, LEW I, 346). i-zLauma.) Lit. laumineli bedeutet „Blindekuh spielen“, laimycia ist „Tochter einer L.“, laumes juosta „der Regenbogen“, laumes zirgas („Roß der L.“) „blaue Libelle, Wasserjungfer“, laumes sluota („Hexenbesen“) „Mistel“, laumes papas (der „L. Zitze“) wird der Donnerkeil oder der Belamnite genannt (letzte­ rer heißt auch kaukaspenis, ->Kaukas). Nach Volkserzählun­ gen und Volksglauben ist L. eine typische Fee, eine Naturgott­ heit niederen Ranges, die sich häufig in das Menschenleben ein­ mischt. Sie hat Liebesverhältnisse mit Männern (-> AS1. Vila) und kann geheiratet worden, ist eine gute Frau und Mutter; aber die Ehe dauert nicht lange, die L. macht sich frei und verschwindet. Sie trägt viele typische Züge der —>kelt. Fee: sie ist ein sehr schönes Frauenwesen, hat langes blondes Haar, große Brüste, er­ scheint meistens nackt, liebt zu baden, Linnen zu klopfen und andere Frauenarbeiten zu verrichten, ist eine ausgezeichnete Spin­ nerin und Weberin. Sie ist gutmütig, aber boshaft, wenn sie be­ leidigt wird. Sie hilft den Armen und beschützt die Waisenkinder, aber bestraft gierige Leute. Sie liebt Kinder und vertauscht sie manchmal mit einem Wechselbalg (-> ASI. Mittagsfrau; ASl.Vila). 27

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Lebensgottheiten

Balten

Die Geschenke der L. (z. B. Linnen) darf man nicht messen ( >Perkünas), sonst verlieren sie die Eigenschaft, unerschöpflich zu sein. Manchmal wirkt sie als Alp (succuhus; vgl. -> Slogüte). Sie hat Angst vor der Flachsblüte. Nur selten ist sie als Kinderfresserin bezeichnet (vgl. griech. Lamia). Freilich hat später L. viele Züge von der - > Hexe (-xRagana) übernommen, obwohl sie ursprüng­ lich gerade das Gegenteil einer Hexe war. L. wird auch -^-deive genannt. Am Donnerstagabend darf man nicht spinnen, das ist der Laumen-Abend {laumiu vakaras) (A. Bezzenbcrger [1882] 65—67).

—> AS1. Hexen. -> Ung. Hexen. Lebensgottheiten -> Einl. c, 1; Daliä; Giltine; Läima; Laumö; Kärta.

Lietuvens —> Slogüte.

Lungis -> Pükis. *Lytuvonis —>Vanduö.

Magie - > Zauber. Majas gars. Lett. Hausgeist, bewahrt und sichert das Wohlergehen der Hausbewohner. Die betr. lett. Traditionen haben für ihn keinen speziellen Namen, denn der in den Visitationsprotokollen und Wörterbüchern erwähnte Majas kungs, „Hausherr“, ist eine späte Entlehnung zur Bezeichnung dieses Wesens (Smits [1926] 36). Trotzdem kann nicht behauptet werden, daß der Glaube an den Hausgeist nicht alt, genauer gesagt, nicht universell und bei allen Völkern anzutreffen gewesen wäre. Die Zuversicht, daß das Haus des Segens und des Wohlergehens teilhaftig werde, ist im Bauern­ leben so wichtig, daß man stets bemüht war, sowohl durch Opfer und Gebete, als auch durch magische Beschwörungen das Wohl­ wollen des M. g. zu erlangen. Gegen dieses Brauchtum der lett. Bauern führte die Kirche noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhs. einen sehr intensiven Kampf. In den Kult des M. g. sind unverkenn­ bar auch Elemente des Totenkults (-> Vehs) aufgenommen worden, was in der großen Rolle zum Ausdruck kommt, die dem -> Zaltis, „Ringelnatter“, im Haushalt eingeräumt war (T 33642—67). Doch sind auch andere Götter in Funktion des M. g. zu beobachten: -^Dievs, -> Raima, auch Spezialgottheiten der einzelnen Wirt­ schaftsgebäude -> Pirts mäte, -> Rijas mäte u. a., während der Segen für die Äcker von —>• Feldgottheiten gespendet wurde. L. Adamoviös, Zur Geschichte der altlettischen Religionen, in: ST 2 (1940) 36-39; Smits (1926) 35-37; Pasakas 13 (1936) 248-282. Dimstipatis; Gabjäujis. Asl. Hausgeist; Hauskobolde. Finn. Haus­ geist; Para.

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Balten

Medeine

Märsavina Einl. B. b, 1. Male. Lett. „Mutter“. Eine sehr große Anzahl mythologischer Wesen wird als Mütter bezeichnet. Es ist zu beobachten, daß einerseits alle vollständig charakterisierten Göttinnen, wie ->Laima und —> Säule, in bestimmten Situationen als Mütter bezeichnet werden. Andererseits gibt es niedere mythologische Wesen: —>Meza mäte, „Waldmutter“, —>Uguns mäte, „Feuermutter“, ->Juras mäte, „Meer-Mutter“ u. a. Daneben sind noch Mütter-Gestalten an­ zutreffen, deren Tätigkeit sehr beschränkt ist oder von denen nur der Name bekannt ist, z. B. Ogu mäte, „Beeren-Mutter“ (30653), Ziedu mäte, „Blüten-Mutter“ (28253), Miega mäte, „Schlaf-Mutter“ (6724). Das läßt an ein Spiel dichterischer Phantasie denken. Doch damit allein ist diese Erscheinung nicht zu erklären, denn man trifft auch auf: Naudas mäte, „Geldmutter“ (11031), Meslu mäte, „Dünger-Mutter“ (29089) und Gausas mäte, „Segens-Mutter“ (28810). Es scheint, daß man es hier mit einer besonderen Art personifizierter Kräfte zu tun hat, mit denen der Naturmensch in seiner unmittelbaren Umgebung zusammentrifft. Unter diesen sind positive, den Wohlstand des Menschen fördernde, aber auch nega­ tive Wesen zu finden: Mera mäte, „Pestmutter“ (4124, 31363), Kara mäte, „Kriegs-Mutter“ (13604), Joda mäte, „Mutter des Teufels“ (29835) u. a. Die Funktionen dieser niederen mytholo­ gischen Wesen überschneiden sich in vielen Fällen mit denen der weiblichen Göttinnen der höheren Kategorie, so daß man in ein­ zelnen Fällen an eine Hypostase einiger ihrer Funktionen denken kann. Die Zahl der Mütter (ca. 60) ist bei den Letten so groß und viel­ gestaltig wie bei keinem anderen europäischen Volk. Die Frage wird dadurch noch komplizierter, daß sie bei den verwandten baltischen Völkern und anderen Nachbarvölkern nicht in so großer Zahl anzutreffen sind oder daß an ihrer Stelle nur wenige ent­ sprechende Wesen männlichen Geschlechts auftreten. Diese Er­ scheinung ist bisher noch nicht ernsthaft erforscht worden.

Biezais (1955) 286-289; Smits (1926) 86-88; ME IV (1953) 587-589; Pasakas 13 (1936) 292—296. -> Muttergottheiten. —> Kelt. Muttergottheiten. -> Germ. Erde. -> Griech. Muttergottheiten. Medeine. Lit. Waldgöttin (—> Medis). Sie wird zuerst in der Wolhynischen Chronik aus dem 13. Jahrh. zusammen mit einem Hasen­ gott erwähnt und Mejdejn geschrieben. Lasickis Modeina ist als eine —> Waldgottheit bezeichnet, und Dauksa (1595) schreibt ganz 423

Médis

Balten

richtig Medeines (acc. pl.), jedoch ohne ihren Tätigkeitsbereich an­ zuzeigen. Es ist eine Waldfrau (—>Feen), die einzige gut belegte Waldgottheit, jedoch dem Volke nicht mehr bekannt. Der Eigen­ name Miskinis (Waldmann, von miskas „Wald“) könnte eventuell etwas mit Waldgeistern zu tun haben. Alle anderen angeblichen Wald- oder Baumgeister, wie Gyrotys oder Girristis, Parstukai oder Bezdukai, sind reine Mißverständnisse.

->Meza mäte. -> AS1. Waldgeist. -> Kelt. Waldgottheiten. -> Finn. Haine; Hittavainen; Waldgeist. Medis Lit. („Baum“, „Wald“). Heilige Wälder oder einzelne verehrte Bäume sind häufig in den alten Schriften erwähnt. Besonders der Eichbaum wurde verehrt, der dem -> Perkünas geweiht war („quercus annosae; Szermuksznis sive Sorbus . . . Percuno ignem in sylvis sacrum . . . perpetuum alebant.“, nach einer Quelle vom Jahre 1583, hei Rostowski, 118). Hieronymus von Prag versuchte 1390, die heilige Eiche abzuhauen, aber das Volk revoltierte und Großfürst Vytautas befahl dem übereifrigen Missionar, das Land zu verlassen. Die Jesuiten fällten eine dem Porkünas geweihte Eiche in Kraziai noch im Jahre 1618. Einzelne berühmte Bäume wurden als heil­ kräftig betrachtet, die Leute suchten hier Genesung und brachten Opfer dar. Besonders Bäume, die aus zwei Stämmen zusammen­ gewachsen waren, wurden als heilkräftig angesehen. Das Durch­ kriechen sollte die Krankheit wegnehmen. Solche Bäume sind viel­ fach beschrieben (z. B. Piersons Ausgabe von Praetorius, 16f. 22ff. 28. 42; NPPB 10 [1865], 159; Beiträge zur Kunde Preußens 2, 144; MLLG 1, 398f.; Lietuviu Tauta [1914]). Neben der Eiche wurde die Eberesche verehrt, und man glaubte, daß ein Ebereschenzweig oder -stock die bösen Geister vertreiben könne.

Man kann verschiedene Anschauungen erkennen, die zur Baum­ verehrung führen mögen. Zuerst der Glaube an magisch belebende und heilende Wirkung der grünen Zweige. Am Palmsonntag schla­ gen die jungen Leute einander mit grünen Wacholderzweigen und sagen u. a.: „Ich wünsche dir Gesundheit.“ Weiter wird der Baum als ein lebendiges Wesen betrachtet, der wie ein Mensch fühlt, eine Seele hat und sogar sprechen kann. Der Tote kann in einem Baum reinkarniert werden; wenn ein solcher Baum verletzt wird, dann fließt Blut. Lieder und Märchen erzählen, wie ein Mensch in einen Baum verwandelt wird. Ferner leben in Bäumen gewisse Geister. Schließlich wird geglaubt, daß die Seelen der Verstorbenen in alten Bäumen ihre Buße ablegen (—> Seelenglauben, Toten­ glauben; vgl. -> Vanduö). So gab es viele Gründe, die Bäume zu 424

Balten

Meness

verehren. Die Jesuiten berichteten am Ende des 16. Jahrhs., daß die Männer besonders Eichen und die Frauen Linden verehrten.

Thomas, 29—30; Sturms, 20—26; Z. Ivinskis, Medziu kultas senoves lietuviu religijoje (Cultus arborum in antiqua religione Lituanorum [Der Baum­ kult in der alit. Religion]) in: Soter 27/28 (1938/39) 141 — 176; J. Balys, Baum und Mensch im litauischen Volksglauben, in: Deutsche Volkskunde (1942) 171-177; M. Gimbutas (1958) 47-93. Baumgottheiten; Medeine; Waldgottheiten; Zauber. AS1. Einl.; Zauber. Kelt. Baum; Magie; Waldgottheiten. -> Finn. Heilige Bäume; Wald­ geist; Zauber. -> Ung. Äldöküt; Zauber. Germ. Heimdall; Zauber. -> Griech. Hl. Bäume u. Haine. Meness, Leit. „Mond“, hat in der altlett. Religion mit seinem be­ sonderen Kult neben den anderen Himmelsgottheiten eine zentrale Stellung eingenommen. Im Bericht S. Hennings um 1570 an den Herzog von Kurland G. Kettler lesen wir: „Denn vorzeiten sich dieses Vndeudsches Volck, wie auch noch wol eins theils heimlich, großer Abgöterey gebraucheit, die Sonne, Stern, Mond, Feuer, Wasser . . . angebetet“ (SSRL 2 [1848] 295). Auch D. Fabricius schreibt um 1611: „Barbaram hanc ab initio fuisse gentem, et omnis expertem vrbanitatis civilitatisque, vel ex eo qvod solem, lunam, tonitrua, deorum loco coluerunt, liqvido constat“ (Daselbst, 441). Mehrere Hunderte von Volksliedern bezeugen das gleiche; aus ihnen erfahren wir Näheres über das Wesen und die Funktionen des M. Erstens ist er der bedeutendste Freier der —>Saule. In diesem Mythos der Hochzeit von M. und der Sonne erblicken einige For­ scher (W. Mannhardt, L. v. Schröder, E. Zicäns) die Überreste eines sehr alten idg. Mythos. Neben M. haben sich dort auch weitere himmlische Wesen als Freier eingeschlichen: ->I)ievs; Perkons; Auseklis u. a. Der Mond hat, ebenso wie che anderen Himmels­ bewohner, seine eigene, wenn auch nicht fest umrissene Familie; zuweilen werden sein Sohn (33857) oder seine Söhne (33803) ge­ nannt.

M. ist ein alter lett. Kriegsgott. Man ruft ihn nicht nur bei ver­ schiedenen Anlässen, bei Beginn eines Feldzuges oder bei der Weihe der Kriegsfahne an, sondern er wird auch selbst direkt als Krieger bezeichnet (31929, 3; 32004, 1; 32087). Unter seiner Obhut stehen die Reisenden; in späterem Synkretismus ist er ebenso wie die Sonne der Helfer und Beschützer der Waisen. Unmißverständliche M.-Kultelemente haben sich erhalten, einerseits in den Gebets­ texten und in der Anrufung des M., andererseits bei magischen Be­ schwörungen, hauptsächlich in den Riten zur Förderung der Frucht­ barkeit und in der Volksmedizin.

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Menülis

Balten

Adarnovies (1937) 70; Mannhardt (1875) 315-317; L. v. Schröder 2 (1922) 459—465; E. Zicäns, Die Hochzeit der Sonne und des Mondes in der let­ tischen Mtyhologie, in: ST 2 (1935) 171 — 200; Pasakas 13 (1936) 215—223; LKV 14 (1936) 26625-26630. -+ Menülis. -> Kelt. Kriegsgottheiten. ->■ AS1. Cierovit; Rugievit; Svantevit. -> Ung. Hadtir. -> Germ. Odin. Griech. Kriegsgötter.

Menülis, Menuo Lil. „Mond“. Es gibt keinen Mondgott, der Mond selbst ist Gott und wird -> dieväitis oder dangaiis karaläitis („der himm­ lische Prinz“) genannt. Es wird personifiziert und als Ehegatte der Sonne betrachtet (—>Perkdnas; Säule). Das himmlische Ehe­ paar ist jedoch geschieden. Die Zwietracht wurde entweder durch die Untreue des Mondes verursacht (er verliebte sich in den Morgen­ stern), oder das Paar konnte sich bei der Teilung seiner Tochter, der Erde, nicht einig werden. Ein Wettlauf wurde veranstaltet, den die Sonne gewann; darum schaut sie am Tage auf die. Erde, während der Mond nur nachts herabsehen darf.

Der Mond kann sich in einen schönen Prinzen mit silbernen Klei­ dern verwandeln und auf der Erde wandern. Einmal hat er ein schönes Mädchen getroffen und auf den Mond entführt. Es wird auch erzählt, daß ein Waisenmädchen selbst gebeten hat, auf den Mond mitgenommen zu werden, als es spät nachts von der Stief­ mutter ausgeschickt wurde, Wasser zu holen. Deshalb sehen wir auf dem Mond eine Frau mit Eimer. Häufiger aber werden zwei andere Variationen der Ursprungssage über die Frau im Mond er­ zählt. Eine Frau mit Wassertrage und zwei Eimern wurde zur Bestrafung auf den Mond versetzt: das eitle Mädchen ging nachts unbekleidet aus der Badestube, Wasser zu holen. Der Mond schien hell, und sie sagte: „Lieber Mond, bist du heller, oder ist mein Körper heller?“ Oder: „Ich möchte, daß mein Körper so hell scheine wie der Mond.“ Sofort wurde sie mit ihren Eimern auf den Mond versetzt. Am häufigsten aber wird von einem bösen Weib erzählt. Sie ging nachts Wasser holen, der Mond schien nicht hell genug, sie glitt und goß das Wasser aus. „Wenn du scheinst, dann scheine hell, jetzt scheint mein Hinterteil besser als du.“ Oder: „Was für ein Licht, ich könnte mit meinem Hintern besser leuch­ ten.“ Der Mond war böse, er zog das Weib an sich, und sie wird dort bis zum Ende der Welt bleiben (Balys F, 9 ff). Wenn man den jungen Mond am dritten Abend zum ersten Male erblickt, dann soll man keinen Schritt weiter gehen, sondern zuerst ein Gebet sprechen, in welchem dem Mond die Fülle (also Vollmond) gewünscht wird, wogegen der Mensch Gesundheit und Schönheit vom Mond zu erhalten hofft, z. B.: „Junger Herr, Königssohn des

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Balten

Miezvilks

Himmels, dir Fülle und uns Gesundheit“ (s. Lietuviu tautosakos lobynas 2 [1951], 17—23, wo viele derartige Gebete veröffentlicht sind). Bei dieser Gelegenheit kann man auch Zahnweh und Warzen heilen. Der Bauer gibt bei der Aussaat sehr auf die Mondphasen acht. Im allgemeinen wird gesagt, daß man bei jungem Mond Getreide säen (—> Getreidegötter), dagegen Kartoffeln und Rüben, die unter der Erde wachsen, bei altem Mond pflanzen soll. Eine Ausnahme gilt für Roggen und Hülsenfrüchte, die bei altem Mond gesät werden sollen: dann wird der Roggen stärkere Wurzeln bekommen, und die Erbsen werden nicht zu lange blühen (-> Fruchtbarkeitsgötter). Gewöhnlich glaubt man, daß der junge Mond belebt, verjüngt und stärkt, und zwar sowohl Menschen als Tiere; der alte Mond da­ gegen bewirkt das Gegenteil.

M. Gimbutas (1958) 6—24. ->■ Astrale Götter; Zauber; Meness. -> Finn. Mond. -> Germ. Mond. —> Griech. Mond.

Mera mäte -> Einl. B. b, 1; Mäte. Meslu mäto -> Mäte.

Meza mäte. Lett. „Waldmutter“. Sie wird von P. Einhorn unter anderen -> Mäte als „Patronin der Jäger“ genannt. In Volksliedern werden ihr aber auch andere Funktionen zugeschrieben. Sie ist die Beschützerin der Waldarbeiter (30565) und hilft den Hirten, wenn sie das Vieh im Walde hüten (29087). Sie sorgt für alle Geschöpfe des Waldes, das Wild und die Vögel, sie nennt sie sogar beim Namen (30623). Neben der M. m. wird auch der Mezatevs, „Waldvater“ (2675, 30489) erwähnt.

Smits (1926) 47—48; K. Straubergs, Do heliga skogarna (Summary) in: Folkliv 9 (1945) 128-139; Pasakas 13 (1936) 239-243. -> Waldgottheiten; Medeine. Meza tevs —> Meza mäte. Miega mäte -> Mäte.

Miezvilks (Miezvilkas). Lett. M. sind mythologische Wesen, die ge­ wöhnlich in der Mehrzahl genannt werden. Ihre Funktionen sind die Förderung der Fruchtbarkeit und des Reichtums. Sie gehören zur Familie der guten Geister des Hauses. Die Bedeutung des Wortes ist unklar, es ist zusammengesetzt aus miez, „Gerste“, und vilki, deren maskuline Form „Wölfe“ bedeutet, die feminine Form vilkas aber heißt „Zieher, Träger“. Im ersten Falle wäre es also Kron-

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Milzis

Balten

wolf (-> Germ. Roggenwolf), im zweiten, ein Wesen, das dem —>Pükis, „Drachen“, nahesteht. M. ist mit einer Sitte verbunden, sich während der Weihnachtszeit zu verkleiden und in einer Pro­ zession von Haus zu Haus zu gehen — eine Reminiszenz der Förderung der Fruchtbarkeit. K. Petersons, BLBR 17 (1914) 25-27; Strauborgs (1949) 118. -> Vilkacis; Majas gars; Hausgeist.

Milzis, Lett. „der Riese“, ist ein mythisches Wesen menschlichen Aussehens doch von übernatürlicher Größe und mit übernatürlichen Kräften versehen. Er hat auch Familie - ■ eine Frau und Töchter. Gewöhnlich ist M. in Sagen ätiologischen Charakters anzutreffen, die über die Entstehung verschiedener Seen und Berge berichten. Pasakas 15 (1937) 260—270; Latvieäu tautas teikas (Die Sagen des lettischen Volkes), hrsg. v. Alma Anceläne (1961) 266—271.

Mond —> Einl. c, 1. Dieväitis; Menülis; Perkünas; Säule; Auseklis; Meness; Perkons; Säule.

Muttergottheiten -> Einl. c, 1. Krümine; Laume; Medeine; Zemyna; Mäte. ->■ Kelt. Muttergottheiten. -> Germ. Erde.

Natrimpe —> Potrimpus.

Naudas mäte —> Mäte. Näves mäte -> Einl. B. b, 1; Velu mäte. NeläikSis. Lit. Der unzeitig Verstorbene, ein Mensch, der einen gewalt­ samen Tod gefunden hat: der Gemordete, der Selbstmörder oder einer, der durch ein Unglück umgekommen ist AS1. Navi; Rusaka). Er muß so lange herumgehen und spuken, bis seine vor­ bestimmte Lebenszeit abgelaufen ist. —>Vaidilas.

-> Seelenglauben; Totenglauben; Vele.; Vadätäjs; Velis. -> AS1. Toten­ glauben.

Nelaimc -> Laima.

Nixen —> Vanduö. Ogu mäte -> Mäte. Öitas. Lit. Eine abgekürzte ostlit. Form für —> Äitvaras. Okopirmus. Lit. In einer Agende von 1530 als Occopirmus erwähnt und dem Saturnus gleichgestellt, dann von Maletius wiederholt („Occopirnum deum caeli et terrae“), sonst unbekannt. Manche 428

Pêrkona mate

Balten

Linguisten versuchten O. von apr. uefca „aller“ und pirmas „erster“ abzuleiten, also „der Allererste“. O. bleibt gänzlich rätselhaft, beruht wahrscheinlich auf irgendeinem Mißverständnis.

Büga II (1959) 156. Opfer —> Einl. C: 1 ; Akmuö; Dimstipatis; Gabêtà; Götterspeisung; Kultstätten; Médis; Perkilnas; Sermenys; 2emyna; Rijas mäte; Perkons ; Zemes mäte ; Laima ; Uguns mäte.

->AS1. Opfer. - > Kelt. Opfer. -*Pinn. Opferbräuche. ->Ung. Opfer. ->Germ. Opfer. Griech. Opfer. Orakel. Lett. Das 0. hat im Leben des lett. Bauern eine sehr große Bedeutung. K. Straubergs führt mit einiger Übertreibung die im wesentlichen richtige Beobachtung an, daß „im Leben des lett. Landwirts keine Arbeit und kein Unternehmen ohne Zauber und Orakel weder begonnen noch beendet“ worden sei. Das Erkunden der Zukunft konzentrierte sich seinem Inhalt nach um zwei Mittel­ punkte — das Schicksal des Menschen (Geburt, Heirat, Tod) und den Erfolg der zu leistenden Arbeit (Fruchtbarkeit und Furchtsam­ keit). Sofern der Mensch selbst die Zeichen des Orakels nicht deuten konnte, wandte er sich an andere, die in dieser Hinsicht Spezial­ begabungen hatten (—> Zilnieks). Zum Deuten wurden sowohl Er­ scheinungen der Natur, besonders kosmischer und atmosphärischer Art benutzt, wie auch Eigentümlichkeiten an der Gestalt von Bäumen oder Tieren, häufig auch Vogelstimmen und die Richtung des Vogelfluges (Meise, Eule, Elster u. a.). Aber auch der Körper des Menschen und sein Befinden in verschiedenen Situationen wurde zur Deutung des zu erwartenden Schicksals benutzt.

K. Straubergs, Lettische Volksgebräuche 1 (Riga [1944]; MAFL A 11). -> Burtnieks; Zauber. -> Griech. Orakel. -> Kelt. Orakel. -> AS1. Pferde­ orakel; Weissagung. -> Finn. Omen. -> Germ. Mantik. Panicke

Gabétà.

Patolus. Apr. Eine völlig dunkle Gottheit der Apr. Zuerst in der Collatio episcopi Warmiensis 1418 genannt (Patollum, —> Potrimpus), später von Grunau in der Form Patollo als „Got der Todtin“ bezeichnet; P. ist vielleicht in den ON Patollen oder Potollen noch 1465 bekannt gewesen; heute heißt der Ort Gr.Waldeck (Usener,96).

Büga II (1959) 78-79.

-+ Pikülas; Totenglauben. Percunis -> Perkunas.

Pêrkona mäte —>Përkons. 429

Perkons

Balten

Perkons. Leü. „Donner“, ist ein Gott vieler idg. Völker. Bei den baltischen Völkern, insbesondere bei den Letten, ist er in scharf umrissener Gestalt überliefert. Er wird in historischen Dokumenten erwähnt, und zwar recht früh (Livländische Reimchronik [1876], V. 1434ff.) im Zusammenhang mit dem lit. Kriegszug vom Jahre 1218 gegen die Letten. Auch im Material der Folklore nimmt er eine hervorragende Stellung ein (33699, 33731, 54867—84; T 23118—480). Neben dem Namen P. trägt er die Bezeichnungen Debess kalejs, -> Dievins, Vecais tevs. Die naturmythologische Schule hat insofern recht, als die ihm zugeschriebenen Attribute vermut­ lich wohl unter dem Eindruck von Naturerlehnissen entstanden sind, denn man spricht von seinen schwarzen Rossen oder seiner bleiernen Stute. Seine Waffen sind das Schwert, der Speer, ein eiserner Pfeil oder eine Kugel, auch eine eiserne Rute. Das läßt an entsprechende Naturerscheinungen denken. Diese Attribute charakterisieren sein ambivalentes Wesen. Seiner Bewaffnung nach ist er ein harter Kämpfer und Vergelter des Bösen. Andererseits ist seine Tätigkeit aber direkt mit der Förderung der Fruchtbar­ keit verbunden, besonders mit dem Gewähren von Regen. Es scheint, daß in diesen beiden Funktionen die ältesten Schichten seines Wesens zutage treten. Jedenfalls gehören die internationalen Züge seines Wesens, wie z. B. als Teufelsbekämpfer — besonders in Märchen anzutreffen —, einer späteren Epoche an (Pasakas 14 [1936] 482-483). P. hat, ähnlich wie die anderen debesu dievi, „Himmelsgötter“, eine vielköpfige Familie. Er besitzt Söhne und Töchter, die in ver­ schiedener Zahl angegeben werden: drei, fünf, sieben, neun. Seine Söhne begeben sich auf die Brautschau, dann erhält P. eine Schwie­ gertochter. Gewöhnlich ist er bei den himmlischen HochzeitsMythen in der Rolle des Vaters anzutreffen, zuweilen geht er auch im Brautgefolge. Er richtet die Hochzeiten seiner Söhne aus und beschenkt die Hochzeitsgäste. Bei der himmlischen Hochzeit steht P. neben —> Dievs und —> Säule an zentraler Stelle. Auch eine P.Mutter wird erwähnt. Als Himmels-Schmied ist er ein gewandter Vertreter seines Hand­ werks, er arbeitet sehr energisch, so daß die Funken in die Daugava stieben. Er stellt für die Saules meitas und die -»Dieva deli Schmuck und Waffen her.

Bei den Festlichkeiten ist er ein fröhliches Mitglied der Himmels­ familie. Einzelne Texte geben an, daß er zusammen mit Dievs feiert und tanzt (24044). 430

Balten

Perkûnas

Biczais (1961) 53—56; Smits (1926) 22—24; E. Zieäns, Der altlettische Gott Perkons. In piam memoriam Alexander von Bulmerincq. Abhandlungen des HI 6, 3 (1938); Pasakas 13 (1936) 223-229; LKV 16 (1937) 31645-31648. ->■ Asl. Perun. —> Griech. Wettergott; Zeus. Germ. Thor. -> Pinn. Rauni; Tuuri; Ilmarinen; Ukko. -> Kelt. Taranis; Goibnu.

Perkûnas, Lit. Donnergott. Aus allen alten schriftlichen Quellen geht hervor, daß es sich bei P. um einen bedeutenden lit. Gott handelt. Nach Usener (98) ist er „als oberster, richtiger als einziger echter Gott der Volksvorstellung“ zu betrachten. Er ist aber von den zuverlässigen Quellen nirgends ausdrücklich der oberste Gott der Litauer genannt. Er waltet im Himmel, lebt über der Wolke, aber es ist kein echter Himmelsgott. Es sind überhaupt keine festen Zeugnisse darüber vorhanden, daß die alten Litauer einen spezifischen Himmelsgott oder gar einen obersten Gott gehabt hätten. Perkûnas war der Verwalter des Donners und des Wetters (-> Vejöpatis), Geber des Regens und damit der Fruchtbarkeit für die Erde, er war auch Beschützer des Rechtes und Verfolger der Dämonen, bzw. des Teufels (-> Teuflische Götter), die er durch Blitze tötete. Ihm wurde die Eiche geweiht und in heiligen Wäldern das ewige Feuer unterhalten (—> Médis). In einem Bericht der Jesuiten vom Jahre 1583 wird gesagt: ,,. . . Antique colonis superstitiones: Jupiter ille fulmineus, vulgo Perkûnas; quercus annosae . . . Percuno ignem in sylvis sacram . . . perpetuam alebant . . .“ (Rostowski, 118). P. wurde häufig als Greis vorgestellt, der über den Wolken in einem Karren fährt (->Kelt. Götterwagen; Finn. Götterwagen; Germ. Götterwagen). In der Hand hält er eine Axt (seltener einen Hammer; —>AS1. Perun; Kelt. Hammergott; Finn. Ukko; Ung. Attila; Ung. Urreligion2; Germ. Thor), welche von selbst zurückkommt, wenn er sie schleudert (-> Germ. Thor). Auch wird er vom Volke als ein starker Mann mit braunem Bart geschildert, der als Jäger auf der Erde wandelt und die Teufel schießt. Kein anderer Gott erscheint den alten Litauern so stark vermenschlicht wie P. Er ist böse, aber sehr gerecht. Er beobachtet die Taten der Menschen und bestraft die Schuldigen. Er wird direkt „Aufseher der Gerechtigkeit“ genannt. Er liebt keine selbst­ süchtigen und neidischen Menschen, duldet keine Diebe, Lügner und Prahler. Die schlechten Menschen werden getötet oder ihre Häuser verbrannt (—>Aitvaras; Gabétà). Der erste Donner im Frühjahr erschüttert die Erde, dann beginnen Kräuter und Ge­ treide besser zu gedeihen. Im allgemeinen wird dieser erste Donner als Frühlingsbote und Erweckor der Natur angesehen. Gewitterreiche Jahre hält man für fruchtbare Jahre. Damit hat der Donner­ gott auch die Bedeutung eines —> Fruchtbarkeitsgottes inne (—>Finn. 431

Perkunas

Balten

Ukon vakat). Es wird davor gewarnt, vor dem ersten Donner baden zu gehen, weil in dem Wasser der Teufel sitze (der erste Donner jedoch vertreibt ihn). Über P. ist noch viel Volksglauben lebendig geblieben. Daß es mehrere Geschwister P.’s gebe, ist wohl eine jüngere Auffassung. Aber nirgends ist etwas von P.’s Frau erzählt, ja, es wird sogar behauptet, daß P. zu böse sei, um eine Frau bei sieh zu dulden.

Es gibt naturdeutende Mythen, in denen P. aktiv mitwirkt. Ein Mythos erzählt, wie Sonne (—> Säule) und Mond (->Menülis) einst als Ehepaar lebten. Ihnen wurde eine Tochter, nämlich die Erde, geboren. Nach einiger Zeit entzweite sich das himmlische Paar und wollte sich scheiden lassen, aber sie konnten ihre Tochter nicht teilen. Gott sandte den Donner, und dieser gab die Verordnung: am Tage darf die Sonne zur Erde schauen und nachts der Mond. Wenn sie beide auf einmal zur Erde schauen wollen, dann treibt der Donner den einen weg. (Aufgezeichnet in Dusetos, veröffentlicht in: Balys F, 8—9.) Ein anderer Mythus, als Volkslied überliefert, erzählt vom selben himmlischen Paar und seiner Zwietracht wie folgt: der Mond heiratete die Sonne im ersten Frühling; die Sonne pflegte früh aufzustehen, der Mond kam später; er wanderte allein, begegnete der Ausrine (Morgenstern) und verliebte sich in sie; P. sah die Affäre, wurde böse und hieb mit seinem Schwert den Mond entzwei. Damit zeigt sich P. als Beschützer der Ehe (s. Rhesa, 92). Eine dritte Erzählung berichtet, wie P. auf der Jagd nach dom Teufel verfährt. Als Jäger verkleidet, trifft er einen Mann und gibt ihm Anweisungen, wie er ein merkwürdiges Wesen, das den Donner verhöhnt, einschließen soll; dann folgt ein Donnerschlag, und der Teufel wird getötet. In einer moderneren Fassung wird erzählt, wie der Jäger sein Gewehr mit einer silbernen Münze oder einem silbernen Knopf lädt und nach dem merkwürdigen Wesen in Gestalt irgendeines Tieres, das den Donner verhöhnt, schießt. Der Mann begegnet dann einem anderen Jäger, der wie ein starker Mann aussieht und einen braunen Bart hat. Der Fremde ist P.; er dankt jenem, daß er seinen Feind getötet hat. P. hat schon lange Zeit den Teufel verfolgt, aber nie hat er ihn erwischen können. Aus Dankbarkeit gibt P. dem Jäger ein wunderbares Pulvcrhorn (auch Schrot dazu) und sagt, daß nur ein paar Körnchen für einen Schuß genügen und kein Schuß danebengehen werde. Man dürfe nur nicht hineinsehen oder messen (^-Laume). Der Fremde ge­ steht häufig: „Ich bin P.“ Die Sage ist bei den Litauern und Letten sehr populär, seltener bei den Esten und Polen, etwas häufiger

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Balten

Perkunas

aber in einer entstellten Form bei den Ukrainern (Tautosakos Dar­ bai 6 [1939], 53-85).

In den altertümlichen Gebeten an den jungen Mond wird unter anderem gesagt: „Gib (Gott) ihm (dem Mond) die Fülle und emp­ fange mich in das Reich des P.“ (Balys F, llf.). Während des Gewitters wird dem P. ein —> Opfer dargebracht und folgendes Ge­ bet gesprochen: „Gottehen P„ sei uns gnädig, verdränge diese Finsternis auf die Öde, und wir werden (dir) gehorsam sein bis zum Ende der Welt“ (Tautosakos Darbai 3 [1937], 231). Der Name Perkunas wird verschieden gedeutet und abgeleitet: entweder von perti („schlagen“, also „der Schläger“), oder von lat. quercus („der Eichenmann“). Das Volk wagt häufig nicht, den echten Namen zu gebrauchen, und bedient sich der Synonyme. Am häufigsten wird Dundulis gebraucht, aber auch andere Namen kommen vor, die alle ungefähr den „Brummer“ bedeuten. Oft sind noch bestimmte Epitheta beigefügt, wie „Göttchen“ oder „der heilige“, z. B.: „Daß dich Göttchen (oder: der heilige) Perkünelis (Dimin.) erschlage“. Es gibt viele Verwünschungen dieser Art. In einem Lied wird gesagt: „Blitze, lieber Blitz, donnere Perkünelis, erschlage meinen bösen Mann.“ Das Wort -^dieväitis („Göttchen“, Dimin. von dievas „Gott“) wird nur für einen heidnischen Gott gebraucht, niemals für den christlichen, man sagt dievulis für „lieber Gott“.

Leopold v. Schroeder hat einst geschrieben: „So bestimmt nun aber auch Perkunas als Gewittergott hervortritt, . . . wir gewinnen durch andere Momente doch wieder den Eindruck, daß dieser Donnergott keineswegs durchweg scharf von dem Himmelsgotte als eine besondere Göttergestalt sich abhebt, daß er vielmehr mit ihm ursprünglich einer und derselbe gewesen sein dürfte“ (Arische Religionen I [1923], 533f.; vgl. II, 602L). Usener dagegen hat in die entgegengesetzte Richtung gewiesen: „Der Begriff des Donners konnte sieh darum zu dem allgemeineren des Himmelsgottes er­ weitern“ (109). In beiden Fällen haben wir theoretische Spekula­ tionen vor uns, die mit Tatsachen nicht begründet werden können. Es ist aber wahr, wenn Usener daselbst sagt: „Nur ein einziger der litauischen Götternamen reicht in indogermanische Vorzeit zurück, der Donnergott Perkunas.“

P. wurde häufig mit dem skand. (—> Germ.) Fjörgyn und ind. Parjanya in Beziehung gebracht. Direkte Verbindungen bestehen kaum. Auch von dem sl. (-> Asl.) „Perun“ scheint keine direkte Abhängig­ keit vorhanden zu sein. A. Brückner sagt: „Es gibt somit keine 433

PicuHus

Balten

sprachliche Vermittlung zwischen Perun und Perkunas, beide Namen: der Schlager und der Eichler, berühren sich nur sachlich; es gibt keine litu-slavische Gottheit — die Mythologien beider Völker gehen völlig auseinander, berühren sieh in keinem Punkte“ (AslPh 40 [1925], 17). Die Erza-Mordwinen haben ihre Pirgene oder Purgine-pas für Donnergott wohl von den Balten entlehnt. Wahr­ scheinlich steht es ebenso mit dem finn. perkele (Teufel) und dem est. pörgu (Hölle).

J. Balys, Der Donner im litauischen Volksglauben, Tautosakos Darbai 3 (1937), 149—238; ders., Donner und Teufel in den Volkserzählungen der baltischen und skandinavischen Völker, Tautosakos Darbai 6 (1939), 1—220; E. Wolter, Perkunastempel und litauische Opfer- oder Deivensteine, in: AKW (1899). -> Zauber. -> Kelt. Taranis. — AS1. Perun. -> Germ. Thor. -> Griech. Zeus. -> Ung. Isten.

PicuHus. Apr. Der Gott der Hölle und Finsternis nach dem „Sudauerbüchlein“. Die alten Quellen schreiben den Namen verschieden: PicuHus, Pykullis, Pecols u. ä.; die echte Form sollte *Pikulas lauten. Eigentlich ist P. nichts anderes als der christliche Teufel, Einwohner der Hölle. Vgl. apr. picküls, lett. pikuls, beide bedeuten „Teufel“. P. ist wohl eine Entlehnung aus dem Asl. (vgl. poln. pkiel „Teufel, Hölle“). Fraenkel: „Die Wörter gehören im Grunde der Familie von lit. piktas 'schlecht, böse’, sind aber in der Bedeutung z. T. durch das sl. Lehnwort pekla 'Hölle’ beeinflußt“ (LEW I, 589). Der Teufel wird auch jetzt noch volkstümlich pikeius, pikeiukas „der Bösewicht“ genannt (Wb. der lit. Schriftsprache III [1952], 82). —>Völnias.

Büga II (1959) 78—79. Teuflische Götter.

Pilnitis (Pilnytis). Apr. Maletius charakterisiert: „Der Gott macht reich und füllet die Scheuern“; nach den Agenda ist er Ceres gleich­ gesetzt. Der Name wird verschieden geschrieben (Piluitum, Piluuytus, Pilwittus) und kann von lit. pilnas „voll“ oder apr. pilnan „ganz“ u. ä. abgeleitet werden. Wörtlich bedeutet P. „die Fülle“. Volkstümlich nicht überliefert.

Büga II (1959) 155 — 156. Fruchtbarkeitsgötter; Getreidegötter; Javine.

Pirtlzas —> Hl. Feste, a. Pirts -> Hl. Stätten.

Pirts mäte -> Einl. B. b, 1. 434

Kalten

Pülfis

Potrimpus. Apr. Möglicherweise eine —> Wassergottheit der Apr. Maletius erwähnt „Potrympum deum fluviorum ac fontium“ und „Äutrhnpum deum maris“. Eine Urkunde vom Jahre 1418 (Collatio episeopi Warmicnsis) berichtet: „Tcrro Pruwsie . . . sunt gentes servientes domonibus, eolentes Patollum, Natrimpe et alia ignominiosa fantasmata.“ In den Agenda ist Autrimpus dem Neptunus gleiehgesetzt. Nach Grunau war Potrimpus der zweite Gott der alten Preußen, „ein Gott des Gluekis in Streiten und sust in anderen Saehin“. Volkstümlich ist P. nicht überliefert, und wir bleiben völlig im Dunkeln, was der Stamm trimp bedeutet. Es sind manche ähnliche ON in Ostpreußen und im westlichen Litauen zu finden: Potrimpen bei Heydekrug, Potrimmen bei Tilsit, Potrempchen bei Insterburg, ebenso Trimpow und Trempai. Auch ein lit. Schimpfwort trimpa ist in Gebrauch. „Geh zum Pitrimpus“ wurde in Kreis Stumm (Westpreußen) noch vor kurzem gesagt. „Kannst trumpfe bet Potrimm“ wird als ein Sprichwort angegeben (H. Frisch­ bier, Preußische Sprichwörter I [1865], Nr. 3848). BügaJI (1959) 77-78. -> Vanduö. —•» AS1.1’Iiiil.; Wassermann. geist. -> Ung. Äldö-kiit.

Kelt. Wasser. -> Finn. Wasser­

Pükis. Lett. „Der Drache“. Schon Smits ([1926] 63) hat richtig darauf hingewiesen, daß das Wort Pükis eine Entlehnung aus dem Deut­ schen ist (germ. Puck). Er meint, daß auch das mythische Wesen selbst —in den Überlieferungen verschiedener Völker, besonders in Sagen und Märchen, als ein durch die Lüfte fliegendes, bösartiges, schlangenähnliches Wesen bekannt — eine verhältnismäßig späte Entlehnung aus dem Deutschen zur Zeit der Verbreitung des Christentums ist. Wenn man sich aber genauer mit dem Material beläßt, entdeckt man Züge, die nicht vom teuflischen P. abzuleiten oder mit ihm zu identifizieren sind. Er ist gutmütig, hilft beim Anhäufen von Reichtum und fördert ihn, wie Adamovics betont. Es scheint daher, daß in der Vorstellung des P. mehrere Schichten unterschieden werden müssen, so z. B., daß zu den von den Deut­ schen übernommenen Zügen einige Eigenschaften des —> Majas gars, oder sogar des —> Velis hinzugekommen sind. Auf den kom­ plexen Charakter und die Unbestimmtheit der Auffassung des P. weisen auch zahlreiche Synonyme hin, die zur Bezeichnung dieses Wesens, oder wenigstens in großen Zügen ihm verwandter Gestalten verwendet werden, wie Vilce (Vilkis), Lungis und Rungis. Die zwei letztgenannten werden hin und wieder näher als Rudzu-L. und Rudzu-R., „Korn-Alp“, bezeichnet. Einige dieser Wesen un­ bestimmten Charakters stehen dem -»Jumis nahe (—»Aitvaras). 28

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Balten

Piikys

L. Adamoviös, Pükis latviesu folklorä un senlatviesu nntologijä (Pükis in der altlettischen Mythologie), in: RLBR 23 A (1940) 246—362; R. Auning, Über den lettischen Drachen-Mythos (Puhkis), in: MLL XIX, 1 (1891) 1 — 128; A. Bielenstein, Beitrag zur Kunde des lettischen Drachenmythos, in: MLL XIX, 2 (1893) 81-89; Pasakas 13 (1930) 351-440; 283-291.

Pükys. Lit. Hausgeist, Kobold, der —> schatzbringende Drache. Der Name ist nur bei den 2emaiten geläufig und entspricht den lett. —> Pükis, est. Puuk, dt. Pück. Ein allgemein in Litauen bekannter Name für den schatzbringenden Drachen ist —> Äitvaras. Viele abergläubische Vorstellungen und Sagen von sehatzbringenden Drachen sind aus Norddeutschland ins Baltikum gekommen. Der Name Puk für einen Hausgeist ist in verschiedenen Formen in ganz Nordeuropa bekannt: engl. Puck, ir. Puca oder Pocka, aisl. Puki, norw. Pukje, in Nicderdcutsehland Puk, in Friesland Pück, in Mecklenburg Puks usw. Es ist anzunchmcn, daß unter diesem Namen ein älteres Wesen steckt als ein gewöhnlicher Teufel (-»-Teuflische Götter), der seinem Herrn gestohlene Sachen bringt. A. Bczzenbergcr (1882) 01 — 03. Haushaltgötter; Kafikas. -> /LSI. Hauskoboldc. -

Pinn. Para.

Pusaitis. Lit. Nach Stryjkowski ein —> Erdgott, im Holunderbaum wohnend. Wahrscheinlich ein Mißverständnis. Das Wort ist regel­ mäßig nach pitsis .,Fichte“ gebildet, also ein „Fichtenmann“, was eher ein —> Waldgott sein könnte. Es klingt glaubwürdiger, wenn Praetorius schreibt: „Es ist noch ein Wäldchen, Heiligenwald ge­ nannt, an der zamaitischen Gränze, da sie dem. Puscaito zu ehren nichts darin abhauen lassen“ (Pierson, 28). Volkstümlich nicht überliefert. -> Baumgottheiten; Waldgottheitcn. Haine.

> Kelt. Waldgotthcitcn. -> Pinn.

Bache der Götter —> Äitvaras; Gabetä; Perkunas; Perkons. Kagana I. Lctt. Ursprünglich „Seherin“ (Büga 257—258; ME 3, 464), jetzt im Sinne von „Hexe“ gebraucht. Sie ist eine Person weiblichen Geschlechts, die mit —> Orakel und Heilzauber zu tun hat. Thr negativer Charakter und die Identifizierung mit der Hexe ist spä­ teren Datums. In Anbetracht der am bivalenten Natur der —> Laima, wird diese auch in verschiedenen Texten R. genannt. Weiter sind Identifikationen mit Laumas und den Svetäs meitas vor­ gekommen. Smits (1920) 05—00; Pasakas 15 (1937) 207 -200. Burtnieks; Zilnicks. 436

Balten

Kusriii

Rägana (f.), Ragänius (m.) II. Lit.. Ursprünglich die Seherin, die Zukunftdeuterin, eine Frau, die vieles weiß oder voraussehen kann (von regeti = „sehen“), später zu einer Hexe abgewandelt, d. h. eine Frau, die zaubern kann. Sie hat ihre Macht vom Teufel erhalten, ihm ihre Seele verschrieben, ist seine Buhlerin und Feindin der Gott fürchtenden Leute geworden. Sie kann Menschen und Tiere krank machen, besitzt den bösen Blick, kann den Kühen Milch abnehmen, Unfruchtbarkeit verursachen, Menschen in Tiere ver­ wandeln usw. Sie selbst kann sich in Tiere und Sachen verwandeln, durch die Luft fliegen, Menschen und Tiere als Alp quälen u.a.m. Der Hexenglaube der Lit. ist ebenso wie der Teufelsglaube christ­ lich-westeuropäischen Ursprungs. Die Hexen wurden in Lit. ver­ folgt, Wasserprobe unterzogen, unter Torturen untersucht, schließ­ lich abgeurteilt und am Scheiterhaufen verbrannt. Als angeblicher Versammlungsplatz der lit. Hexen wurde der Berg Satrijä near Luoke in Ndlit. angegeben.

J. Balys, Ragana in Liet. cncikl. 24 (1961) 418—422; ders., LMS 78—140, Nr. 99 —186; L. A. Jucevitius, ßastai (Vilnius 1959) 476—498 (Dokumente der Hexenprozesse sind veröffentlicht). Ri ja -> Hl. Stätten.

Rijas mäte

Einl. B. b, 1; Hl. Stätten.

Rudenäji -> Hl. Feste, b. Rugiü böba. Lit. Roggenweib, gut bekannt in Suvalkija und KleinLitauen. Nach einem Bericht aus Tilsit eine strengblickende Frau, die eiserne Zitzen und mit Tar gefüllte Brüste habe. Sie fängt Kinder, die in das Roggenfeld kommen, und zwingt sie, an ihren Brüsten zu saugen. Die Kinder worden entweder an den eisernen Brüsten zerdrückt oder um die Ohren geschlagen, wenn sie die Brust nicht nehmen; auch werden sie mit der Rute gezüchtigt, ihre Füße werden in eiserne Schuhe gesteckt usw. Manchmal reitet R. b. ein Pferd, und ein Hund folgt nach; sie beschützt das Roggen­ feld. Mit der letzten Garbe wird das Roggenweib abgeschnitten. Der Schnitter und die Binderin der letzten Garbe bilden das BobaPaar. Die letzte Garbe wird als ein weibliches Wesen geformt und feierlich nach Hause gebracht, dort mit Wasser begossen (um Regen zu sichern), und alle tanzen mit der Boba-Garbe. Einige Halme läßt man ungeschnitten auf dem Felde für das Roggenweib. Nach Beendigung desDreschens wird jene letzte Garbe ungedroschen zurückbehalten, in Weiberkleider gesteckt und zu dem Nachbarn gebracht, der mit Dreschen noch nicht fertig ist (—>Curche). Für das Fest nach dem Abschluß des Dreschens (-> Gabjäujis) 28»

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Bükis

Balten

wird ein Brot in Form der Boba-Puppe gebacken. Nach W. Mann­ hardt ist rugiü böba nichts anderes als Verkörperung des Vegeta­ tionsgeistes (—> Fruchtbarkeitsgötter). In Ostpreußen, der lit. Grenze zu, hat das Roggenweib andere Vorstellungen dieser Art verdrängt. Zahlreiches Material wurde von W. Mannhardt hinter­ lassen und später von R. Beitl bearbeitet. Von manchen Forschern ist wsl. Einfluß in Betracht gezogen worden. R. Beitl, Korndämonen, HdA 5, 249—314; J. Balys, Javu dvasia ir derliaus paproeiai (Getreidegeist und Erntebräuche), Zornes Ükis 8 (1942), 791-809. -> Feen; Feldgottheiten; Getreidegötter; Hexen; Zauber; Jumis; Pükis. ->■ AS1. Hexen. —> Finn. Pellonpokko 4. —> Ung. Hexen.

Rnkis. Leit. Der Zwerg, ein gutes Wesen, das nach dem Volksglauben unter Bergen oder Baumwurzeln lobt, nachts aber hervorkommt und die Arbeit der Menschen verrichtet. Es scheint sich um eine Entlehnung aus der Mythologie anderer Völker zu handeln. Pasakas 13 (1936) 296-300. -> Kaukas.

Rungis -> Pükis. Rnsu mäte -> Ein], B. b, 1.

Säule. I. Lett. „Sonne“, neben -> Dievs und —> Perkons die zentrale Gestalt der Religion der Letten, entspricht ähnlichen Vorstellungen der anderen idg. Völker. Die Besonderheiten im Wesen und in den Funktionen der lett. S. sind durch die Eigenart der Kultur bedingt. In den Quellen der Folklore wird sie abwechselnd „Sonnenjung­ frau“ und „Mutter Sonne“ genannt.

a) Sonnenjungfrau. S. als Sonnenjungfrau ist die Zentralfigur bei den himmlischen Hochzeiten, wobei das Brautgewand, beginnend mit dem funkelnden goldenen Kranz und dem Gürtel, dem Seiden­ kleid, dem Samtrock und dem um die Schultern gelegten weißen wollenen Umschlagetuch (33791, 33980, 33984) detailliert be­ schrieben werden. Ihre Freier erscheinen bei ihr auf dem Himmelsberg (--Weltbild) in Wagen, vor die mehrere Pferde gespannt sind, oder auch reitend. Das sind -> Dievs; Meness; Perkons und Auseklis. Sie selbst fährt über den Ilimmelsberg mit eigenen Pfer­ den, oder sie steigt in den Wagen des Freiers (3374-7, 33992). b) Müller Sonne. Sie besitzt auf dem Ilimmclsberge ihre eigene Landwirtschaft, anscheinend der Hofwirtschaft des Dievs benach­ bart : sie ist eine aktive Hofbäuerin, die die Arbeit ihrer Knechte und ihrer Töchter (—> Saules meitas) lenkt. Diese pflügen und eggen 438

Balten

Saule

die Felder und mähen die Ilimmelswiesen. S. und ihre Töchter harken das Heu oder sind mit häuslichen Arbeiten beschäftigt; sic weben, spinnen Seide (33820,1) und flechten Kränze (33942). S. ist ihren Töchtern eine fürsorgliche Mutter, sie empfängt die Freier und greift in Konflikte zwischen den verschiedenen Freiern ein, die sich um die Töchter bemühen (-»Perkons; Auseklis). Gemäß den Traditionen bei lett. Hochzeiten gibt sie der heiraten­ den Tochter eine Aussteuer mit und verteilt selbst die Hochzeits­ geschenke. Die —> Dieva deli und —> Säule mcitas als Nachbar­ kinder und später Brautleute bereiten ihren Eltern auch Sorgen. Die Dieva deli zerbrechen die Ringe der S.-Töchter oder die Säule meitas zerbrechen die Schwerter der Dieva deli. Dadurch entstehen Konflikte ewisehen der S. und Dievs, die gewöhnlich drei Tage dauern (34017, 34019). Mehrere Forscher (L. v. Schröder, E. Zicäns) versuchen, die Konflikte /.wischen S. und Dievs mit gegensätzlichen Naturerscheinungen zu erklären. Es ist bezeichnend, daß im Mate­ rial der Folklore keine Söhne der Säule und ebenso keine Töchter des Dievs Vorkommen.

r) Kult. Um die von mythischen Vorstellungen umrankto Göttin S. hat sich auch ein religiöser Kult entwickelt, der besonders in der großen Anzahl von Sonnenhymnen zum Ausdruck kommt; in diesen Hymnen wendet man sich an sie mit der direkten Bitte, in ver­ schiedenen Situationen des Lebens zu helfen, besonders in der Land­ wirtschaft. Ihre Aufgaben bei der Förderung der Fruchtbarkeit sind sehr ausdrucksvoll geschildert. Zur Sommersonnenwende, dem kritischen Zeitpunkt der Fruchtbarkeit, erscheint S. beim lett. Bauern und umschreitet seine Acker, besonders die Roggenfelder; bei dieser Gelegenheit trägt sie ein dieser Aufgabe entsprechendes graues Gewand. Ihre Tätigkeit wird wie folgt geschildert: ,,S. durchwatete das Roggenfeld, den Samtrock emporgehoben; wenn sie den Samtrock fällen ließ, neigte sich das Roggenfeld“ (32542,8). Dieser malerische Ausdruck will besagen, daß, wenn die S. das Roggenfeld durchschritten hat, die Ähren reif und schwer werden und sich neigen. Einer späteren Vorstellungsschicht gehört ihre spezielle Fürsorge für „kleine Leute“, Knechte und Waisenkinder, an. Einige ON und mit ihnen verbundene Volksbräuche legen den Gedanken an alte Kultstätten nahe. W. Mannhardt und L. v. Schrö­ der haben dem Sommersonnenwendfest der Letten besondere Auf­ merksamkeit gewidmet und viele Merkmale gefunden, die diese lett. Sonnenfeste mit den ai. Sonnenfest-Traditionen gemeinsam haben. Doch diese Frage erfordert eine ernsthafte kritische Über­ prüfung. 439

Säule

Balten

Adamoviös (1940) 339—357; Derselbe, in: LKV 19 (1939) 37782—86; Biczais (1961) 40-43; Mannhardt (1875) 92-104, 209-243; L. v. Schröder, Arische Religion 2 (1922) 45—47; E. Zicäns, Die Hochzeit der Sonne und des Mondes in der lettischen Mythologie, in: ST 1 (1935) 171—200.

Säule, II. Lit. „Sonne“. Obwohl Sonne und Mond verehrt wurden, ist keine gesicherte Sonnengottheit überliefert. Sonne und Mond wurden personifiziert, sie wandelten auf der Erde. Malalas’ Chronik er­ wähnt Teljawelik, vielfach als Kalvelis gedeutet, d. h. der himm­ lische Schmied, der die Sonne geschmiedet und an den Himmel gesetzt hat, wie der Chronist berichtet. Agenda und Maletius nennen —> Suaixtix als Sonne, von A. Brückner als Svaistikas („Umherleuchter“) gedeutet. Brodowski machte daraus Swaigzdunks,PraetoriusSweigsdunka, RuhigZvaigzdzuks („kleine Sterne“, von zvaigzde „Stern“). In all diesen Fällen haben wir künstliche Deutungen und Erklärungen vor uns.

Hieronymus von Prag hat einen Mythus überliefert: Einst wuide die Sonne gefangen und in einen Turm gesperrt; die Zeichen des Zodiakus nahmen einen großen Hammer und befreiten die Sonne; deswegen verehrten die Leute einen riesigen Hammer (— Perkrtnas). Die ganze Geschichte trägt den Stempel der Gelehrsamkeit. Ein Volkslied erzählt einfacher; —>Läima hat Bier gebraut und alle Sterne zum Fest eingeladen; die Sonne aber wurde nicht ein­ geladen. Sie fühlte sich sehr beleidigt und nahm Rache: neun Morgen ging sie nicht auf und schickte einen dicken Nebel. Am zehnten Morgen erst war sie wieder da; alle hatten sie sehnlich er­ wartet (Gimtasai Krastas 31 [1943], 96). In anderen Mythen leben Sonne und Mond als ein Ehepaar (>Mcnülis; Perkunas). M. Gimbutiene (1953) 5—7; Gimbutas (1958) 6—24; J. Balys, Saulincs dainos (Sonnenlieder), Gimtasai Krastas 31 (1943), 95—116. -> Astrale Götter. -> AS1. Chors; Daibög; Svarog. -> Kelt. Sonne. -> Finn. Kosmo- gonie. —> Ung. Astrale Vorstellungen. -> Germ. Sonne. -> Gricch. Sonne

Saulcs meitas. Lett. „Sonnentöchter“. Es handelt sich hier um eine der eigentümlichsten Ausprägungen der Himmelsmythen. S. m. werden äußerlich als sehr schön gekleidete Himmelswesen be­ schrieben (33948, 33887, 33881). Gewöhnlich sind sie in der Wirt­ schaft der —> Säule tätig, sei es, daß sie an einem goldenen Stoff weben, das Heu zusammenharken oder auch als Hausmägde dienen. Am häufigsten werden sic zusammen mit den —> Dieva deli ge­ nannt; das Zusammenwirken mit ihnen erstreckt sich sowohl auf nützliche Arbeiten auf dem Himmelsberg (-> Weltbild) als auch — zum größten Teil — auf verschiedene Spiele; die Dieva deli bauen

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Balten

Seîmenys

eine Brücke, die S. m. gehen zitternd darüber hin (33759); die Dieva dêli fahren die S. m. in ihren Schütten aus (34011, 55054); die S. m. säen Rosen, die Dieva dêü streuen goldenen Tau (55048). Ihre Verbindung trägt zuweilen den Charakter eines Liebesspieles, denn die Dieva dêli haben sich in den Sträuchern der Himmelswiese in ihrem Mantel oder hinter Mohnblättern versteckt und beob­ achten heimüch die S. m. bei ihren Spielen, beim Waschen, An­ kleiden, Kränzewinden und Reigentänzen. Manchmal nimmt das freundschaftliche Spielen ein böses Ende, die S. m. zerbrechen das Schwert der Dieva dêü oder letztere zerbrechen den Ring der S.m. oder sie nehmen ihnen den Kranz ab. Das führt hernach zu Miß­ verständnissen und Feindschaft zwischen ->Dievs und —> Saule. Die S.m. nehmen bei der himmüschen Hochzeit einen zentralen Platz ein; ihre Freier sind verschiedene Mitglieder der Himmelslämiüe. Eingehend wird auch ihre Mitwirkung in der himmüschen Badestube geschildert. Schon Mannhardt (ZE 7 [1875] 295—305) bemerkte die Eigenständigkeit cüeser Mythen und versuchte ihre Beziehung zu ähnüchen ai. Vorstellungen aufzuzeigen. Doch sind in den lett. Mythen mehrere heterogene Elemente vermengt. Die rein poetischen Naturerlebnisse lassen sich schwer von den mythi­ schen Vorstellungen und sehr späten sekundären metaphorischen Anwendungen trennen. Die Erscheinung harrt einer gründlichen Prüfung.

Adamoviös (1940) 357—364; Biezais (1961) 40—41, 125 — 130; Smits (1926) 19-26.

Schatzbringender Drache -> Aitvaras ; Kaükas ; Pükÿs ; Pükis ; Miezvilks; Rungis; Vilce.

Schicksalsgöttin—> Läima; Lebensgottheiten; Dalià, Kärta; Laima. Schlangen —>Einl. Lit.; Aitvaras; schatzbringender Drache; Zalt j’s ; Zaltis. Seelenglaubon -> Aitvaras ; Dafisos ; Kaükas ; Médis ; Neläiksis ; Sermenys; Slogùté; Totenglauben; Vaidilas; Vanduö; Vêlé; Velu mäte; Velis.

AS1. Seelenglauben. - > Kelt. Seelenglauben. - > Finn. Seelenvorstellungen. -> Ung. Seelenglauben ; Tod. -> Germ. Tod. -> Griech. Seelenglaube.

Scrmenys. Lil. Das Totenmahl (von Serti „füttern“), bereits anfangs des 14. Jahrhs. erwähnt. Wenn die Lebenden schmausen, soll der Tote nicht vergessen werden (—>Finn. Ahnenkult). Darum ist ein 441

Seimenys

Balten

Bier, die S. m. schüren das Feuer (33753); die Dieva deli bauen leerer Platz am Tisch für den Toten freigehalten, die Speisen werden über Nacht auf dem Tisch gelassen, sogar die Fenster werden ge­ öffnet, um die Seele anzuloeken. Für den verstorbenen Hauswirt soll man einen Ochsen schlachten und während der Totenwache alles aufessen oder an die Klagefrauen verteilen, was noch übrig­ bleibt. Salz und Messer wurden früher beim Totenmahl nicht ge­ braucht (Geister haben Angst vor Eisen und lieben kein Salz), auch wurde nicht viel und nicht laut gesprochen, um die Seele nicht zu verscheuchen. Das erste Stück jeder Speise wurde unter den Tisch geworfen, auch der erste Trunk wurde dorthin gegossen, alles für die armen Seelen. Nachdem die Seelen gefüttert sind, werden sie weggekehrt oder geboten, das Haus zu verlassen. Die zurückgebliebenen Lebenden essen und trinken dann nach Belieben, und es geht sehr lustig zu. Solche Mahlzeiten werden vielfach be­ schrieben (von Maletius, Sigismund Schwabe, Stryjkowski, Ro­ stowski, Praetorius u. a.). Was die Zeit betrifft, so wurde S. bei verschiedenen Gelegenheiten veranstaltet: sofort nach dem Be­ gräbnis; vier Wochen später; am Jahrestag dos Todes; im Herbst, besonders an Allerseelen. Auch am Weihnachtsabend und am Oster­ morgen wurden die Toten bedacht und gefüttert. Besonders große Feste wurden an Allerseelen auf dem Friedhof, in der Darre oder der Badestube veranstaltet. Noch im 17. Jahrh. wurden in Nord­ litauen an Allerseelen große Feste, sermiena genannt, auf dem Fried­ hof veranstaltet, aber Priester und Gutsbesitzer schritten dagegen ein und verboten die Zeremonien. Jetzt bestellt man gewöhnlich eine Totenmesse, und zu Hause wird der Rosenkranz gesungen. Aber wie früher wird viel gegessen und getrunken. In Ostlitauen wurde noch vor kurzem im November eine Zeremonie veranstaltet, azinkai genannt: eine brennende Kerze wird von jedem Familien­ mitglied dreimal um den Tisch getragen und schließlich in die Mitte des Tisches gestellt; drei Löffel jedes Gerichtes werden unter den Tisch geschüttet, dann wird (sine typische Totenspeise gegessen, wie Grütze und Hahnenfleisch, und was übrigbleibt, wird an die Bett­ ler verteilt, damit sie für die Verstorbenen beten mögen (BalysLTS, 196). Diese Zeremonie läßt sich mit einer anderen vergleichen, über­ liefert aus dem Jahre 1583: „Den Toten brachten sie Mahlzeiten zu den Gräbern am Jahrestage; aus einem Bocken wurde unter den Eßtisch Wasser gegossen, auf dom Tische wurden Löffel im Viereck aufrecht gestellt, hierauf, vor den auch zur Mittagszeit herumgesteckten Lichtern, nannte der Götterwahrsager die Toten in bestimmten Wortformeln . . .“ (Jesuitenbericht bei Rostowski, 118, zitiert von Brückner B, 33). 442

Balten

Svetäs meitas

W. Caland, Die vorchristlichen baltischen Totengebräuche, AsRW 17 (1914), 476—512; LTS, 170—200; R. E. Lange, Sterben und Begräbnis im Volks­ glauben zwischen Weichsel und Memel (Würzburg 1955); M. Alseikaite-Gibutiene (1940) 107 — 171; R. Meulen, Die Naturvergleiche in den Liedern und Totenklagen der Litauer (Leiden 1907); Ch. Bartsch, Totenklagen in der litauischen Volksdichtung, in: Ztsch. f. vergl. Litteraturgeschichte und Renaissance-Litteratur, N.F. 2, (1889) 81. 99; A. Vysniauskaite, Laidotuviu paprociai Lietuvoje (Begräbnisbräuehe in Litauen), in: Is lietuviu kultüros istorijos 3 (Vilnius 1901), 132- 157. -> Opfer; Seelenglauben; Totenglauben; Vaidilas; Vele; Zauber; Hl. Feste; Velis. -> Griech. Totenkult. -> Finn. Ahnenkult.

Slogute (f.), slogütis (m.). Lit. Alp, der nachts den Schlafenden drückt. Verschieden von incubus und suecubus (-->Laumo), die durch sexuelle Träume verursacht sind. Der Alp ist die Seele eines kleinen ungetauften Kindes (->Kaükas; AS1. Wassermann); auch manche Erwachsene sind gezwungen, von Zeit zu Zeit als Alp herumzugehen und Leute oder Tiere zu drücken. Pferdedrücken und -reiten wird auch von ->Laume und —> Ragana („Hexe“) geübt, darum ist der Stall mit Eberesche, Espenzweigen (Ostlitauen) oder Pentagramm­ zeichen (Westlitauen) zu schützen. Wenn die Zeit kommt, als Alp herumzugehen, ziehen es gute Menschen vor, einen Stein oder einen Zaun an Stelle des Menschen zu drücken (Pasakas 14 [1936] 465 bis 483).

-» Hexen; Scelenglauben; Zauber. -> AS1. Mahr; Totenglauben. -> Ung. Hexen.

Sniilsii inätc

Einl. B. b, 1; Zornes mäte; Vclu mäte.

Sonne —> Einl. Lit. Menülis; Pcrkunas; Säule; Suaixtix; Meness; Perkons; Saules meitas; Dieva deli; Auseklis; Dievs.

Sonnenbauni -> Weltbild. Speisegottheiten -> Getreidegötter.

Steine —> Felsengottheiten.

Sterne -> Astrale Götter.

Suaixtix. Apr. Sonne bzw. Sonnengott, nach den Agenda und Maletius. Der Name ist bestimmt entstellt, aber es ist unmöglich, mit Sicherheit die ursprüngliche Form zu erraten (—> Säule). Büga ver­ mutete darin die Form Zvaigstiks (vgl. apr. swaigstan Licht). Bügal (1958) 149-154; Büga II (1959) 156.

♦Sulnlnis —> Vanduö. Svetäs meitas

Lauma. 443

Teljawelik

Balten

Teljawelik (Telvelik). Lit. Nach Malalas der himmlische Schmied (kalvelisl), der die Sonne geschmiedet und an den Himmel gesetzt hat (—> Säule).

-> Perkons; Debess kalijs. -> Finn. Ilmarinen. -> Ung. Tetejetlen nagy fa.

Teuflische Götter -» Äitvaras; Apldeme; Curche; Hexen; Kaükas; Perkünas; Pikülas; Pükys; Vaidilas; Völnias.

-» AS1. Christlicher Einfluß; Teufel. -> Kelt. Christliche Überlieferung. Finn. Christliche Einflüsse; Teufel. -> Ung. Christliche Tradition; Ördög. ->■ Germ. Christliche Einflüsse.

Tiergestaltige Götter -»Einl. c, 1; Äitvaras; Vilktakas; Zaltys; *Zverine; Meza mäte; Vilkacis; Zaltis.

-» AS1. Tiergestaltige Götter. -» Kelt. Tiergestalt der Götter. Finn. Tier­ gestalt. -» Ung. Tiergestaltige Wesen. -» Germ. Gestaltwechsel.

Todesgötter -»Totenglauben. Totenglauben -» Einl. e, 1; Daüsos; Giltine; Kaükas; Neläiksis; Patolus; Sefmenys; Vaidilas; Vele; Smilsu mäte; Kapu mäte.

Vadätäjs;

Velns;

Velis;

Bestattungsbräuche. -» AS1. Totenglauben. -» Kelt. Tod. -» Finn. Toten­ glaube. -» Ung. Tod. -> Germ. Tod.

Udens mäte -» Vanduö.

Uguns mäte -> Einl. B. b, 1; Hl. Feuer, Gabetä. Uplnis -> Vanduö.

UsinS. Lett. Eine Gestalt in der lettischen Religion, die unter den Forschern einen lebhaften Meinungsaustausch hervorgerufen hat. Die etym. Beziehungen zu den anderen idg. Sprachen sind noch nicht völlig geklärt, doch scheint es, daß das Wort mit der gleichen Wurzel wie das Verbum aust und den hiervon abgeleiteten Worten -» Auseklis und Austra im Zusammenhang steht. In der Geschichte wird U. zum erstenmal im Bericht des Jesuiten J. Stribinis im Jahr 1606 als Pferdepatron erwähnt (vgl. Mannhardt [1936] 442). Auf jeden Fall hat U. unter dem Einfluß des hl. Georg seine Attribute und Funktionen entsprechend denjenigen dieses Heiligen erhalten, und die ihm gewidmeten Festtage fallen im großen und ganzen mit dem St. Georgstag zusammen. Außerdem wird Ü. auch als Bienen­ patron genannt, was eine sekundäre Beziehung ist, insbesondere wegen der neben ihm bestehenden Bisu mäte „Bienenmutter“ (30274, 30283). Die bedeutendsten Wesenselemente des U. sind in

444

Balten

Vaidilas

den Merkmalen zu suchen, die Züge eines Lichtgottes aufweisen. Es scheint, daß hier mehrere mit Naturerscheinungen verbundene Erlebnismomente zusammengeflossen sind: der Abendstern und der Morgenstern bzw. das Abend- und Morgenrot haben einerseits Anregungen gegeben, andererseits spielt auch die Wiederkehr des Lichts im Frühling mit hinein, denn das erste Hinaustreiben der Pferde zur Nachthütung fand im Frühling statt und war mit den dem U. dargebrachten -> Opfern verbunden.

R. Auning, Wer ist Uhssing?, in: MLL XVL, 2(1881) 5—42; Derselbe, Bei­ träge zürn Uhsip-Mythus, in: MLL XX, 3 (1905) 1—30; Derselbe, Ueber den Uhsip-Mythus, in: MLL XX, 4 (1913) 14—27; J. Endzellns, Kas bija Usips (Wer war Usips)?, in: Apskats 2 (1903) 25—27; Derselbe, Velreiz par Üsipu (Noch einmal über Usipä), in: RLBR 14 (1908) 134—138; Pasakas 13 (1936) 318-325. -> Astrale Gottheiten.

Vadätäjs. Lett. V, ist ein Wesen von sehr unbestimmtem Charakter, das in Menschen- oder auch in Tiergestalt, gewöhnlich in grauem Gewände erscheint und die Menschen am häufigsten im Walde, aber auch sonst an Kreuzwegen irreführt, so daß sie ihr Ziel nicht erreichen können (T 31470—78). In diesen Wesen sind verschiedene Elemente verschmolzen — ->Meza mäte, „die Waldmutter“, —> Vilkaeis, „Werwolf“, auch der Teufel. Es ist eine negative Er­ scheinung, man kann sich von ihr durch verschiedene magische Mittel befreien. H. Biezais, The Latvian Forest Spirit; Acta Universitatis Stookholmiensis; Stockholm Studies in Comparative Religion 1 (1961) 15—18; Pasakas 14 (1936) 427-465. -> Vaidilas.

Vaidilas. Lit. Der spukende Tote (v. vaidentis „spuken“). Er belästigt nachts alleinwandernde Leute; gewöhnlich fordert er sie auf, mit ihm zu ringen. Er hat nur so viel Kraft, wie der Verstorbene gehabt hat. Vor Kreuzzeichen oder heiligen Namen hat er keine Angst, manchmal sagt er selbst, es werde nichts nützen, er sei kein Teufel (—> Teuflische Götter). Er lebt unverwest als „lebender Leichnam“ in seinem Grab. Manche von ihnen sind Blutsauger (Vampire, —> AS1. Vampir). Um V. zur Ruhe zu bringen, soll man die Leiche köpfen und den Kopf an das Fußende legen, damit er ihn nicht mit seinen Händen erreichen könne; sonst wandert er mit dem Kopf unter dem Arm. Das Pfählen mit einem Ebereschenstock hilft auch. Es spuken nur solche Leute, die ein schlechtes Leben geführt haben, die mit dem Teufel verbündet waren usw. Andere Namen sind vaidulas, vaiduoklis oder vaidinuoklis. 445

Vampir

Balten

J. Balys, Ghosts and Men. Lithuanian Folk Legends about the Dead (Bloom­ ington, Ind. 1951) (= A Treasury of Lithuanian Folklore 1); Büga II (1959) 139. —>■ Neläiksis; Seelenglauben; Totenglauben; Vadütâjs; Vêle; Velis; Zauber. -> AS1. Totengluuben.

Vampir —> Vaidilas; Vadätäjs; Slogùtè.

Vanduö Lit. „Wasser“. Schon im 11. Jahrh. wird von Adam v. Bremen berichtet, daß die Altproußen die Quellen verehrten. Dusburg schrieb Anfang des 14. Jahrhs. über heilige Gewässer („aquas sa­ cras“) der Altpreußen, in denen nicht gefischt wurde. Die WartburgChronik des Jahres 1385 berichtet über Swentc Azere (Heiliger See) nicht weit von Stakliskês. Verehrung der Flüsse wird von Mosvid und anderen Autoren religiöser Schriften getadelt. Es sind mehrere Sventezeris (Heiliger See) und Sventupê oder Sventoji (Heiliger Fluß) bekannt, und wenigstens zwanzig Alkupis ( >All dievaitis) bezeugt (Rhesa, Nr. 32). Alle anderen Namen von —> Wassergottheiten sind fraglich, wie Upinis dievas (Flußgott) und *Lytuvonis (Regengott, im Original „Lituwanis“), beide über­ liefert von Stryjkowski, ferner *Ezerinis (Soegott, im Original ,,Ezernim lacuum deum“), überliefert von Lasicki. Praetorius weiß noch von *Sulninis (Brunnengott, im Original „SzuUinnus“ geschrieben) zu berichten. Alle diese Wesen scheinen, auch falls sie wirklich vom Volk vorgestellt wurden, doch nicht für richtige Götter gehalten worden zu sein; sie können höchstens als Verwalter gewisser Re­ gionen betrachtet werden. Über tückische weibliche Wassernixen (-> Hexen), die Menschen ertränken wollen (-> AS1. Rusalka; AS1. Vila; AS1. Wassermann ; —>Finn. Wassergeist), wissen die west­ lichen Fischer manche Einzelheit zu erzählen (Globus [1902], 238; Tautosakos Darbai 7 [1940], 140). Nach den Volksliedern ist unter dem Wasser eine andere Welt (-> Seelenglauben; Totenglauben), wo die Ertrunkenen ein ähnliches Leben weiterführen wie diesseits (Tautosakos Darbai 4 [1938], 350f.). Im allgemeinen wird auch jetzt noch das Wasser respektiert; so darf man z. B. nicht ins Wasser spucken oder es verunreinigen (—> Gabêtà). Im Wasser büßen die sündigen Seelen (—>Médis). Dem V. entspricht in der lett. Myth. Udens mäte (Pasakas 13 [1936] 233—239).

-> Jüras mäte; Potrimpus ; Weltbild. -> AS1. Einl. -> Kelt. Quellgottheiten; Wasser. -> Ung. Äldö-küt. -> Griech. Quell- u. Flußgottheiten.

446

Balten

Velis

Vatergottheiten -^Einl. B. c, 1; Dievs; Pcrkons. Vecais tëvs -> Përkons.

Vegetationsgöttcr -> Fruchtbarkeitsgötter. Vöja mätc. Le.lt. „Windmut 1er“. Daneben werden auch Vëjs, „der Wind“ (33798), und Vëja dëls, „Sohn des Windes“, genannt (33983). Letztere treten bei der himmlischen Hochzeit als Freier der ->Saule auf; ihr Erscheinen ist sporadisch. Hingegen hat die V. m. breitere Funktionen, was durch historische Dokumente mehrfach belegt ist (P. Einhorn u. a.). Sie beherrscht das Wetter. Ihre Tätigkeit wird durch zahlreiche farbenfreudige Metaphern charakterisiert. Sie „webt auf dem Meer weiße Linnen“ (31003), oder sie „bläst die Flöte“ (12490). Bei stürmischem Wetter bittet man sie, sich schlafen zu legen (30730, 34150—51). In einigen Fällen decken sich ihre Funktionen mit denen der —>Meza mäte, und sie wird Be­ treuerin des Waldes und der Vögel. Ihre Kraft ist gewaltig, man nennt sie auch „die große“ V. m. (1350); sie verfügt über Mägde.

Smits (1926) 24. -> Vejöpatis. -> Griech. Windgötter. -> Kelt. Naturismus; Luft. Njörd. —>■ Asl. Stribog. -> Ung. Nemere.

Germ.

Vejöpatis. Lit. Nach Praetorius Herr des Windes (vèjas „Wind“), sonst nicht überliefert. Volkssagen erzählen von vier starken Windbrü­ dern. Der Wind hat dicke Lippen und einen großen Schnurrbart. Man darf ein Messer nicht in den Wirbelwind werfen, da dies den Wind verletzen kann (Balys LMS, Nr. 215—218).

Perkûnas; Vëja mäte. —> AS1. Mittagsfrau; Stribog; Vila. -> Finn. Wald­ geist. -> Ung. Nemere; Siirkäny; Szél. Germ. Njörd.

Vêle (sg.); volés (pl.f.). Lit. Die geisterhaften Gestalten der Ver­ storbenen, als Nebel oder Schatten vorgestellt (—> AS1. Veles). Sie sind durchsichtig und weich, wie Baumwolle, darum sind sie nicht leicht zu fassen. Doch kann man die Gesichtszüge erkennen, und sie tragen die Kleider, in welchen sie begraben wurden. Die V. eines lahmen Mannes hinkt. Der Tote wird vdionis genannt.

J. Basanavicius, Is gyvenimo lietuvisku véliu bei velniu (Aus dem Leben der litauischen Geister und Teufel) (Chicago 1903) ; R. Meulen, Uber die litauischen Vêles, in: ARW 17 (1914) 125—131. —> Nelâikëis; Sermenys; Totenglauben; Valdilas; Vadätäjs; Velis. -> AS1. Totenglauben. -> Finn. Totenglaube.

Velis. Lett. „Der lebende Toto“, eine sehr verbreitete Vorstellung, die schon verhältnismäßig früh auch in den historischen Dokumenten 447

Vilnias

Balten

erwähnt wird, so von S. Henning im Jahre 1570 bei der Ausarbei­ tung der Bestimmungen über die Visitationen der Gemeinden Kur­ lands. Superintendent P. Einhorn erwähnt ([1649] 49—53) ganz besonders den Kampf gegen den alten Brauch der Letten, im Herbst als höchstes Gedenkfest V.-Gastmähler (-> Hl. Festmahl) zu ver­ anstalten. Doch wird darüber hinaus die Anwesenheit der V. in fast allen hervorragenden festlichen Augenblicken festgestellt, sei es in bezug auf die wichtigsten Augenblicke des Menschenlebens, oder auch bei den mit dem Jahres- und dem Arbeits-Rhythmus verbundenen Festen (_>H1. Feste). Straubergs (1949). (Eine Spezialarbeit über diese Frage mit ausführlichem Literaturverzeichnis. Doch sind die Hinweise auf Quellen und Literatur un­ sicher und müssen überprüft werden.) Pasakas 14 (1936) 194—357; A. Win­ ter, Lettische Totenklagen, in: Globus 82 (1902) 367—372. Veju mäte. Vele.

Velnias. Lit. Der älteste, häufigste und echt litauische Name für den Teufel, abgeleitet wahrscheinlich von —> veil oder velys, velionis („der Tote“). Ältere Form bei Dauksa velinas. Es gibt auch andere Benennungen: biesas und certas (beide aus wruss.), ledakas (aus poln.), nelabasis („der Ungütige“) und andere umschreibende Be­ zeichnungen. Lit. volkstümliche Traditionen über V. sind sehr zahlreich, aber wenig originell; sie haben allgemein europäisch­ christlichen Charakter. In Volkssagen wird V. häufig in Gestalt eines schmucken Burschen vorgestellt und vokietukas (d. h. der kleine Deutsche) genannt. J. Balys, LLS, Nr. 243—890. -> Pikülas; Teuflische Götter.

Velns -> Völnias. Velu mäte. Lett. „Mutter der Toten“ oder „Mutter der Manen“, wie Straubergs ([1949] 29) und Smits ([1930] 200) sie nennen. Doch scheint es richtiger zu sein, sie als „Mutter der lebenden Toten“ zu bezeichnen, denn sie ist ein göttliches Wesen, das für die Ver­ storbenen sorgt; diese sind in der Vorstellung des Volkes lebende Wesen, die in einer anderen Welt wohnen (—>Velis; Weltbild). Die V. m. ist somit eigentlich die Herrscherin des Totenreiches. Sie empfängt die Verstorbenen bei sich (10735, 10789), gewöhnlich an der Pforte des Begräbnisplatzes (49491), wobei schon ein Fest­ essen (27411,27533,49481) und für jeden ein Platz (9246) vorbereitet ist. Der lebensmüde und alte Mensch bittet gewöhnlich die V. m., sie möge ihn in ihre Fürsorge aufnehmen. Einige Texte geben an, daß sie in ein weißes, wollenes Umschlagetuch gehüllt ist (49478

448

Balten

Viikatas

bis 49479). Die V. m. tanzt vor Freude, wenn sie auf dem Fried­ hofsberge einen neuen Einwohner erwartet (27537—40). Neben diesen positiven Eigenschaften hat sie auch negative Züge, und zwar erlangt sie ihre Opfer mit List (27529, 27535), sie erschlägt sie so­ gar selbst (27726, 23177). Doch gibt es keine Anzeichen dafür, daß sie sie quält. Die V. m. ist ihrem Wesen nach zum Teil mit der ->Zemes mäte, der „Erdmutter“, verwandt. Andere Namen für sie sind Smilsu mäte, „Sandmutter“, Kapu mäte, „Friedhofs­ mutter“, u. a.

Straubergs (1949) 29 — 31.

Vilce (Vilkis) -> Pükis. Vilkacis, Lett. Der „Werwolf“. Er hat im Volksglauben der Letten nicht nur die üblichen negativen Züge (—> Viikatas), sondern auch

positive Eigenschaften, und zwar Funktionen eines Schatzbringers. In gewisser Hinsicht steht er dem —> Pükis und dem - >Velis nahe und weist ausgesprochene Züge von Seelenglauben auf. Seit der Veröffentlichung der Arbeiten von S. Münster und Olaus Magnus in der Mitte des 16. Jahrhunderts ist das Baltikum als das Land des Vilkacis-Glaubens par excellence angesehen worden. Sehr glaub­ würdiges und brauchbares Material hierüber liefern die veröffent­ lichten Gorichtsprotokolle aus den Jahren 1608, 1647, 1683, 1691 und spätere. H. v. Bruiningk, »er Werwolf in Livland, in: MLG 22 (1922) 163-220; Straubergs, Formules magiques des Lettons 1—2 (lettisch) (MAFL A 5, A 10); T. Zemzaris, Vilkaöu prävas Vidzeme (Werwolf-Prozesse in Livland), in: Latviesu vestumieku veltijums prof. R. Viperam (Riga 1939) 114—142; Pasakas 15 (1937) 88—139. Viikatas. -> Germ. Fenrir. Vilkatas (m.), vilktrasa (f.). Lit. Der Werwolf, welcher im Lit. viele Benennungen hat: vilkatakis, vilkalotas, vilkalokis u. a. Meistens abgeleitet von vilkas „Wolf“ und teketi „laufen“. Entweder ist ein Mann von einem Zauberer oder einer —>Hexe in einen Werwolf verwandelt worden (ganze Hochzeitszüge wurden angeblich von boshaften Zauberern in Wölfe verwandelt), oder er hat gelernt, durch eine magische Handlung sich in einen Wolf zu verwandeln und nach Belieben wieder ein Mensch zu werden. Eine Hexe ver­ wandelt ihren Mann in einen Wolf, wenn sie ihm einen verzauberten Gürtel gibt. Er ist wieder Mann, wenn der Gürtel zufällig bricht. Es gibt viele Erzählungen über Verwandlungen in Werwölfe (z.B. Balys LMS, Nr. 192-206).

449

Vögel

Raiten

Tiergestaltige Götter; Zauber. -> AS1. Hexen; Vampir; Waldgeist; Zauber. —> Kelt. Magie; Wolf. Kinn. Zauber. Ung. Hexen; Zauber. -> Germ. Zauber.

Vögel —>Daüsos; Gabetä; Laima; Orakel. Waldgottheiten —>Einl. c, 1; Alkä; Medeine; Medis; Pusaitis; *2verine; Hl. Stätten; Meza mäte. -> AS1. Waldgeist.

Kelt. Waldgottheiten. -> Finn. Haine.

Wasscrgottheiten —>Einl. C: 1; Dieväitis; Potrimpus; Vanduö; Udens mäte; Juras mäte.

Weltbaum

Weltbild.

Weltbild. Lett. Über die mit dem Weltbilde verbundenen Vorstellungen gibt nur das Material der Folklore Auskunft. Da sieb dort aber Ansichten langer Zeitperioden übereinandergelagert haben, sind die Aussagen uneinheitlich, oft sogar einander widersprechend. Die Forscher haben sich nicht darüber einigen können, ob man die Welt als dreistöckig angesehen hat, wie Adamovies meint, oder als zweistöckig (Zicäns, Straubergs). Es hat aber den Anschein, daß die älteste Schicht in Äußerungen über zwei Stockwerke sich wider­ spiegelt und die Vorstellung von der Dreistöckigkeit unter dem Einfluß des Christentums entstanden ist. Das ist besonders aus dem typischen Vorstellungspaar saule, „unter dieser Sonne“, und vina saule, „unter anderer Sonne“, zu folgern. „Diese Sonne“ ist die sichtbare Welt mit Himmel und Erde. Auf der Erde leben die Menschen. Den Himmel stellt man sich als einen Berg vor, über den die —> Saule mit eigenen Pferden fährt, -> Meness und andere fahren zur himmlischen Hochzeit, -»Perkons, „der Don­ ner“, bzw. Debesu kalejs, „der Himmelsschmied“, schmiedet Schmuck und Waffen. Die älteste Bezeichnung für den Himmel ist „dievs“. Bei der Personifizierung des Himmels ist diese Bezeich­ nung zum Eigennamen, zum Namen des Himmclsgottes (-> Dievs) geworden. Auf dem Himmelsborge leben in ihren eigenen Häusern, ähnlich wie die Bauern auf ihren Höfen, die verschiedenen Himmels­ götter, jeder mit seiner Familie und seinem Ingesinde. Vina saule dagegen ist der Ort, der für den Menschen nicht sichtbar ist; dort hält sich die Sonne während der Zeit auf, in der sie un­ sichtbar ist, also in der Nacht. Der Untergang der Sonne im Westen wird so erklärt, daß sie sich zur Nachtfahrt in ein Boot setzt, um das Boot am Morgen, wenn sie aufgeht, wieder zu verlassen, wobei goldene Ruder erklingen (33923). Das läßt darauf schließen, daß

450

Balten

Zaltys

die Sonne im Gegensatz zu ihrem Tageslauf, bei dem sie mit mehre­ ren Pferden über den Himmelsberg fährt oder auf ihrem Pferde reitet, in der Nacht im Boot auf dem Meere fährt. So könnte man von einer urtümlichen Vorstellung eines Weltmeeres sprechen. In dieser unsichtbaren vina saule halten sich auch die Verstorbenen auf, die dort im Jenseits die gleichen Arbeiten verrichten und in den gleichen Verhältnissen leben wie auf dieser Erde. Die zentrale Position in den kosmischen Vorstellungen nimmt der Sonnenbaum ein, der dem Weltenbaum entspricht. Er wächst am Rande des Sonnenpfades (33749, 33827); auf ihn hängt die Sonne, wenn sie untergeht, ihren Gürtel. Die Vorstellung von diesem Baum entspricht den vom bäuerlichen Menschen in seinem Alltag ge­ sehenen Bäumen, er kann eine Linde, eine Eiche, eine Weide u. a. sein. Den Sonnenbaum in die Mitte des Weltmeeres zu versetzen, wie cs einige Forscher versucht haben (K. Straubergs, Zur Jenseits­ lehre der lett. Volkstraditionen, in: Spiritus et Veritas [Festschrift für K. Kundsins] [1953] 156—158), ist nicht möglich.

Adamovics (1938) 3 — 31; Derselbe (1940) 306—314; H. Biezais, Der steinerne Himmel, in: Annales Aeademiae Kegiae Seientiarum Upsaliensis 4 (1960) 5 — 28; K. Straubergs, l’asaules jüra (Weltmeer), in: Senatne un mäksla 4 (1937) 169 — 174. Derselbe, Zur Jenseitstopographie, in: Arv 13 (1957) 62 — 66; W. Mannhardt, in: ZK (1875) 223—244, 281—284. Dausos. —> Griech. Weltbild. —> Ung. Örfa; Skythien; Tetejetlen nagy fa. Germ. Muspell; Kosmologie; Eschatologie. Kinn. Weltbild. -> Kelt. Jenseits.

Weltmeer

Weltbild.

Werwolf —> Vilkalas; Vilkacis. Wettergottheiten —>Perkons; Perkünas; Veja mäte; Vejopatis. Windgott -> Vejopatis; Veja mäte.

Zaltis. Lctt. Dasselbe wie Zaltys. Ergänzend ist in bezug auf die Lotten auf den Ausspruch S. Hennings etwa um 1589 hinzuweisen: . Schlangen vnt böse Kröten vor jhre Götter gehalten, welche, wie ich zum theil selbst gesehen, gar dick vnd auflfgeblasen ge­ wesen . . (SSRL 2 [1948] 295) und D. Fabricius um 1610: „Pari modo serpentes venerabantur, qvos in domibus alebant, qvi adeo fuere cicures et mansucti, vt neminem in domibus eorum tarn ex hominibus qvam jumentis laederent“ (SSRL 2 [1948] 441). Biezais (1955) 327-333; gmits (1926) 40-41.

Zaltys. Lit. „Ringelnatter“. Es gibt viele glaubwürdige Belege über die Verehrung der Ringelnatter, die als Hausschlange gehalten, mit 29

451

Balten

Zauber

Milch genährt und für Weissagungen über die Zukunft so­ wie für andere abergläubische Handlungen vielfach verwendet wurde ( >Finn. Hausgeist 3; Para 2). Praetorius berichtet ausführ­ lich über diese Zeremonien und über die Weissager, die Zaltones genannt wurden (—>Einl.). Reisende und Missionare waren sehr erstaunt, als sie in Litauen Schlangenverchrcr entdeckten. Ein Volkshed nennt die Ringelnatter „Abgesandte der Götter“. Es scheint, daß die Ringelnatter das einzige Tier war, das die Litauer verehrten. A. Nehring, Die Anbetung der Ringelnatter bei den alten Litauern, Samogiten und Preußen, in: Globus 73 (1898) G5ff.; Balys LTS, 65—76; M. Gimbutas (1958) 32—36. -> Tiergestaltige Götter; Zauber.; Zaltis. -> Griech. Hl. Schlange. -> Kelt. Schlange.

Zauber. Leit. Die Verbreitung des Zaubers bei den alten Letten haben schon Adam v. Bremen (vgl. Adam IV, 16) und andere ältere Quellen (z. B. Henricius, Reimchronik) sehr eindrucksvoll geschil­ dert. Ein umfangreiches Material an Zauberformeln hat sich bis auf unsere Zeit erhalten. Diese Zauberformeln sind wohl größten­ teils von christlichen Vorstellungen und der Kabbala beeinflußt, doch werden unter den in den Formeln angerufenen göttlichen Mächten auch alte lett. heidnische Götter erwähnt (—> Säule; Me­ ness; Perkons). Zum größten Teil sind sie mit der Volksmedizin verknüpft, häufig handelt es sich aber auch um Schutz und Segen für Hab und Gut und fürs Vieh oder um Schädigung anderer (—> Burtnieks). K. Bregzis, Baznlcu vizitäciju protokoli (Visitationsprotokolle der Kirchen) (1931); Edith Kurtz, Heilzauber der Letten in Wort und Tat 1—2 (Riga 1937—38) (Veröff. d. HI. 4, 7); Dieselbe, Ebereschenzauber der Letten, in: MLG 23 (1924) 385—397; K. Straubergs, Formules magiques des Lettons 1-2 (lettisch) (1939-1941) (MAFL A 5, 10).

Zauber, Kultmagie —>Einl. Lit.; Kultische Gebote; Medis; Menülis; Perkünas; Rugiü böba; Sefmenys; Slogüte; Vaidilas; Vilktakas; Zaltys; Zemyna; Meness; Perkons; Säule; Vadätäjs; Vilkacis.

-> AS1. Zauber. -> Kelt. Magie. Zauber. -> Griech. Zauber.

Finn. Zauber. -> Ung. Zauber. -> Germ.

Zemepatis. Lit. Wörtlich „der Herr der Erde“, zuerst von Mosvid 1547 als Gott des Viehs erwähnt. Nach Praetorius war er Zemynas Bruder und wirkte als Beschützer des Hofes, während Zemyna über die Felder waltete. —>Erdgottheiten; Feldgottheiten; Fruchtbar­ keitsgötter; Haushaltgötter; Zemes mäte.

-> Kelt. Erde. -> Finn. Erdgeist. 452

Germ. Erde.

Balten

Zcm^na

Zcmcs mäte. Leit. „Erdmutter“. Neben -> Dievs ist sie ursprünglich diejenige Göttin gewesen, die über das Wohlergehen der Menschen im Lehen und über die Fruchtbarkeit des Ackers zu bestimmen hatte. Es besteht die begründete Neigung, sie mit der von Tacitus erwähnten Göttin deum matrem veneratur zu identifizieren, doch fehlen in den Quellen Angaben über ihre Zusammenarbeit mit anderen Göttern oder deren Abhängigkeit von ihr. Das ist offenbar aus dem Charakter der uns zugänglichen Quellen zu erklären. Ihr Muttercharakter ist mit den Mutterfunktionen der späteren christ­ lichen Hl. Maria verschmolzen, diese hat denn auch die Züge der Z. m. aufgesogen und ihre Funktionen übernommen. Das Wesen der Z. m., wie cs das zugängliche Material der Folklore zeigt, hat sie zu einer typischen chthonischen Göttin gemacht, der die Unter­ welt und ihre Bewohner unterstehen. Sie ist eigentlich die Herr­ scherin der Toten geworden, wie ein sehr typischer Text aussagt: „Fahr wohl, Vater, Mütterchen; guten Abend, Zemes mäte, be­ wahre meine Gestalt (dim.)“ (27521). Zum Teil als synonyme Be­ nennungen, zum Teil als Resultate einer weiteren Differenzierung ihrer Funktionen sind folgende mythologische Gestalten anzuspre­ chen: Smilsu mäte, „Sandmutter“, Kapu mäte, „Grabesmutter“, —>VeJu mäte, „Mutter der Toten“. Andererseits teilt sie, wenn auch nur in seltenen Fällen, die Funktionen der Schicksalsgöttin -> Laima, besonders, wenn es gilt, über den Tod des Menschen zu bestimmen. In vielen Fällen haben sich auch verschiedene kultische Gebräuche mit Trankopfern erhalten, die für andere Götter be­ stimmt sind, wie z. B. für —>Usins; Jumis u. a., in Wirklichkeit aber ursprünglich Opfer an die Z. m. darstellen. Biczais (1955) 325-342; fimits (1926) 17-19; Straubcrgs (1949) 28-31. Mäte; Einl. B. b, 3; Zemyna. Gricch. Erdgottheiten. Kelt. Erde; Muttergottheiten. -> Germ. Erde. -> Finn. Erdgeist.

*Zemininkas. Lit. Eine —> Erdgott, erwähnt von Stryjkowski (1582) und Lasicki(1580) in der Form Ziemiennik bzw. Ziemienik, aber es sollte wahrscheinlich, wie A. Salys vermutet, *Zeminike heißen, d.i. die Diminutivform der ndlit. Mundart für -^-Zemyna. -> Kelt. Erde. -> Finn. Erdgeist -> Germ. Erde.

Zcmlikas -> Hl. Feste, a; Sermenys. Zemyna, Zemynele. Lit. Die Erdgöttin (-> Erdgottheiten), von Lasieki 1580 und von Dauksa in seinem Katechismus von 1595 erwähnt. Der Name lebt im Volke weiter und wird vielfach als Zemynele (Dimin.) gebraucht, so z. B. in einer Heilungsformel gegen Schlangenbiß. Ein Volkslied nennt sie Zemynele ziedeklele, d. h. „Blütenspenderin“. In Gebeten, überliefert bei Praetorius und Bro29*

453

Ziedu máte

Kalten

dowski, heißt es Zemyne, zicdkdeja bzw. Zemynele, zicdkda, d. h. „die Erheberin der Blüte“. So ist 2. als Personifikation des Erd­ bodens bekannt; sie ist die Matter der Pflanzen, sie fördert ihre Blüte und ist damit die Ernährerin der , Menschen und Tiere. (—> Fruchtbarkeitsgötter). Praetorius hat viele. 2.-Zeremonien beschrieben und Gebete überliefert. Das Ausgießen von etwas Bier auf die Erde vor dem ersten Trunk wurde zemyneliauli genannt. Bis heute sind Gebete an die Erde bekannt. Nach dem gewöhn­ lichen Abendgebet soll man noch die Eide küssen und sagen: „Meine liebe Erde, mein Mütterlcin, trage mich, sättige mich“ (Kirchspiel Birzai). Oder: „Lieber Gott, von der Erde bin ich ge­ kommen, in die Erde werde ich zurückgehen“ (Kirchspiel Salantai). Der Erde wird geopfert: ein Stück Brot wird in die erste Furche eingegraben, oder nach dem letzten Schnitt der Roggen­ ernte wird Brot und Salz in die Erde gegraben mit den Worten: „Liebe Erde, du hast mir gegeben, so gebe ich dir auch“ (Kirch­ spiel Tvereeius). Rostowski, gestützt auf einen Jesuitenbericht von 1583, schreibt: „Ein Ferkel wurde der Erde geopfert.“ Der Grund dieser Verehrung ist unschwer einzusehen: ein Bauernvolk betrachtet die Erde als „Mutter“ und „Ernährerin“. -> Feldgottheiten; Opfer; Zauber; Zemes mäte. > AS1. Nvantevit. -> Kelt. Erde; Muttergottheiten. -> Finn. Erdgeist. -> Germ. Erde. -> Grieeh. Erdgottheiten.

Ziedu mäte —> Mäte. Zllnieks. Le.tt. „Wahrsager“, auch bekannt unter den Namen Zhnlemis, „Zcichendeuter“. Die Z. „waren der heidnischen Letten Pro­ pheten, die aus dem Geschrey der Vögel, und aus anderen Zeichen, Glück und Unglück, Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit etc. vor­ hersagten“ (G. Stender, Lettische Grammatik [1783] 269). Ihre seherischen Funktionen waren in Wirklichkeit also nur eine aktive Auslegung verschiedener -> Orakel, in vielen Fällen die gleichen wie die der ->Burtnieki, Zauberpriester. Sie werden bereits in den ersten schriftlichen Dokumenten zu Beginn des 13. Jahrhs. erwähnt. K. Straubergs, Lettische Volksgebriiuehe 1 (lettisch) (1944) (MAFL A lP 404 1 OG, 546—547. —> Burtnieks.

Zukunftsdeutung -> Einl. C: 1; Orakel; Zilnieks; Burtnioks.

*Zverine. Lit. In Malalas’ Chronik wird Zevonma als „die Hündin" bezeichnet, ist aber wohl als eine Göttin verstanden. Sic kann eine Göttin der Waldtiero gewesen sein (von zveris „das Wild“). Tiergestaltigc Götter; Waldgottheiten. -> AS1. Waldgeist. -> Kelt. Hund. -> Finn. Waldgeist.

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Bullen

Tafel I

W» f' // "Ä* //

Tafel II

Hallen

DIE MYTHOLOGIE DER ALBANER VON

MAXIMILIAN LAMBERTZ BEARBEITET VON KLAUS-HENNING SCHROEDER

A. Geschichtlicher Überblick Zu den Vorfahren der Albaner gehören die Illyrier. Die Illyrier siedelten im Altertum an der Ostküste der Adria und, unter dem Namen Messapier, in Süditalien. Die Illyrier an der Ostküste der Adria lebten nach Stämmen getrennt; wir kennen hier die Japoden, Liburner, Dalmater, Penesten, Pleraeer, Desidiaten, Autariaten, Ardianer, Dokleatcn, Labeaten, Pirusten, Dardaner, Parthiner, Taulanter, Albaner, Kandaver, Lynkesten, Paioner, Dasareten, Enkelejer, Atintanen, Elimioten, Molosser, Bylinen, Amanter, Kaonen, Thesproter. Zu Beginn des 4. Jahrhs. v.Chr. bildeten die Enkelejer mit anderen Stämmen unter dem König Bardhyl ein Reich, kämpften anfangs mit Erfolg gegen Makedonien, dann unglücklich gegen den großen Philipp von Makedonien, an den sie die Landstriche am Ohridsee abtreten mußten. Später gründeten die Taulanter einen Staat, der von Lissos (Lesh) bis Avlona (Vlore) reichte. Glauku, der Taulanterkönig, kämpfte erfolgreich gegen den Diadochen Kassander und setzte in Epiros Pyrrhos auf den Thron. Nach den Taulantern kamen im Norden die Ardianer (Ardiäer), im Süden der Molosserbund zur Bedeutung. Im 3. Jahrh. war Pyrrhos von Epiros (f 272) die hervor­ ragende Persönlichkeit. Ein neuer illyrischer Staat, der der Ardianer, reichte unter König Agron (250—231) von der Narenta bis zur Vojussa. Seine Witwe und Nachfolgerin war die berühmte Teuta. Unter ihr begannen die Kriege der Illyrier mit Rom (229/228; 219/218). Während der Kämpfe Roms mit Philipp von Makedonien (bis 197) herrschten im Ardianerstaat Pleurati und Gentius. Gentius heißt in den antiken Quellen rex Illyricorum, deren Hauptstadt Scodra (Skutari) war. Er schloß mit Perseus (170) in Medeon (Podgorica) den antirömischen Bund, in dessen Folge es zum drittenillyrisch-römischen Krieg kam (168). Gentius wurde bei Scodra, Perseus bei Pydna ge­ schlagen. 167 wurde Gentius in Rom im Triumphzug des Aemilius Paulus aufgeführt. Aus der Mythologie der alten Illyrier kennen wir nur Götternamen; über die Funktion dieser Götter wissen wir nicht viel. In Dyrrhachion (Durazzo) und Apollonia wird der höchste Stammesgott der Parthiner dem Jupiter gleichgesetzt; er heißt auf Inschriften Jupiter Parthinus. Weiter sind uns folgende Namen überliefert: Andini, Bindi, Boria, 3(1*

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Einleitung

Albaner

Eia, Fonto, Frombone, Grabovius, Ika, Iria, Iutossica, Laburo, Latra, Medaurus, Melesoco, Nebres, Sentona, Uridua, Verzobius*. Es folgten der Krieg Roms gegen die Dalmater (156), die Aufstände der Ardianer und Pleraeer (135), die Aufstände zur Zeit des Caesar und Pompeius, dann der große illyrische Aufstand (6—9 n.Chr.), der mit der vollständigen Niederlage der Illyrier endete (Tiberius). Die drei Provinzen Dalmatia, Pannonia, Epirus wurden als kaiserliche, Macedonia als senatorische Provinz errichtet. Im Imperium spielten die Illyrier eine große Rolle: Decius, Claudius II, Aurehanus, Diocletianus, Konstantinus waren illyrische Kaiser. Nach Diokletian war Ulyricum geteilt in die Provincia Praevalitana, Epirus Nova und Epirus Vetus. Nach der Teilung des Reiches gehörten die illyrischen Lande zu Byzanz. Beim Goteneinfall unter Alarich (398) wurde Alarich magister militum in Illyrien. Nach ihm kamen 441 die Hunnen, dann 459 die Ostgoten unter Theoderich. 499 besiegten die Bulgaren ein großes Illyrerheer und begannen auf dem Balkan zu siedeln. 570—580 erfolgten neue Slaven-Invasionen. Etwa 610 muß Süd­ albanien von den Slaven besetzt worden sein. Die Durchdringung dauerte bis ins 8.Jahrh. Durch mehrere Jahrhunderte herrschte in Albanien, Kosovo, Dukagjin eine slavisch-illyrische Symbiose. Die Reste der Illyrier schlossen sich, vor allem im unzugänglichen Berg­ land, zu Stämmen Ifise.t) zusammen; zwischen Dyrrhachion (Durazzo, Dürres) und Dibra wird der Stamm der Albani erwähnt. Sprachlich und kulturell wirkten Thraker, Römer, Griechen, Slaven, Byzantiner auf die Illyrier ein und bewirkten die Weiterentwicklung zu den mittelalterlichen Albanern. Im 9.Jahrh. wird das albanische Land zum byzantinischen Thema von Dürres. Von 851 —1018 gehört das albanische Gebiet zum Bulgarenreich. Im ll.Jahrh. setzen die Wanderungen der Albaner ein. Die Trennung der Kirchen 1054 bringt Albanien zur Ostkirche; Dürres und Ohrida werden byzantinische Episkopate. Aber nach der Gründung des Erzbistums Tivari durch Papst Gregor VII. erfolgt von dort aus die Katholisierung Nord­ albaniens. Ein erster Normannenangriff gegen Dürres (10S1 —1085) unter Robert Guiskard und Boemund endet mit dem Abzug der Normannen. Während des 1. Kreuzzuges, 1096, hat Albanien unter dem Durchzug der Kreuzfahrer zu leiden. 1204 wird anläßlich des 4. Kreuzzuges das Despotat von Epirus gegründet. Dukata e Durresit (Dyrrhachion, Durazzo) gehört zu Venedig, der Shteti i Arberise hat Kruja zur Hauptstadt, nördlich davon hegt die Mbreteria Serbe mit Shkodra (Skutari) als Hauptstadt, während Ragusa ebenfalls venezianisch ist. In der 2. Hälfte des 13. Jahrh., nach Wiedererrich* Vgl. G. Valentini, Appunti di Storia Culturale Albanese, Palermo 1956, 41 ff.

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Albaner

Einleitung

tung des byzantinischen Reiches, werden neben einem Kapitan i Arberit (Andrea Urani 1266) folgende Adelsgeschlechter genannt: Arianiten, Muzaket, Thopia, Dukagjin, Blenishti, Skuraj, Jonimet. Karl von Anjou wird für ein Jahrzehnt (1272—1286) mbret Arberise (mbret „König“). 1343 erobert der Serbenkönig Stefan Dusan (1331 — 1355) Kruja, 1347 Berat und Vlore (Valona) samt Janina; damit endet die byzan­ tinische Herrschaft über Albanien, die neuneinhalb Jahrhunderte ge­ dauert hat. Stefan gründet ein autonomes serbisches Patriarchat der Kirche mit Sitz in Pec. Hauptstädte des serbischen Reiches sind Prizren und Shkupi. Im 14.Jahrh. herrschten in Albanien die ein­ heimischen Adelsgeschlechter der Muzaka, Thopia, Tanushi, Balsha; sie führen die Titel despot, kont, princ, duke. Im selben Jahrhundert wandern die Albaner nach Süden (Thessalien, Ätolien, Morea, Attika usw., teilweise bis auf die Ägäischen Inseln). Zwischen 1388 und 1430 erobern die Türken Albanien nach der siegreichen Schlacht von Kosovo und kämpfen gegen die Balsha von Shkodra, die Thopia von Muzeqö sowie gegen Gjin Bua Shpata von Arta. Nach dem Tode von Gjergj Thopia (1392) geht Dürres abermals in den Besitz Venedigs über, wenig später auch Shkodra. Infolge der Niederlage der Türken 1402 bei Ankara gegen Timurlenk werden die kleinen albanischen Adelsherrschaften freier: die Dukagjin, Zahariai, Jonimet, Spanet, Dushmanet, Balshet. Die Balsha gewinnen 1403 Shkodra von den Venezianern zurück. Doch dann setzen die Türken ihre Eroberung fort. Unter den Geiseln, die sie sich stellen lassen, ist auch Gjergj Kastrioti (Skanderbeg), die große Heldengestalt der Albaner (1437 bis 1468). Das Vordringen der Türken veranlaßt eine albanische Fluchtbewegung nach Süditalien. Die Siege Skanderbegs haben keinen Dauererfolg: Albanien ist nach Skanderbegs Tod verwüstet, verödet, machtlos. Es folgen 500 Jahre Türkenherrschaft, in deren Verlauf der größte Teil der Bevölkerung zum Islam Übertritt (im Süden und Süd­ osten kann sich daneben die griechisch-orthodoxe, im Norden vor­ wiegend die katholische Konfession halten). Albanische „Renegaten“ gewinnen Einfluß in Konstantinopel, albanische Söldner werden als „Arnauten“ bekannt. Vom 17.Jahrh. an folgen weitere Siedlungsbewegungen, vor allem auf serbisches und westmazedonisches Gebiet. 1912 hißt Qemal Bej Vlora die Unabhängigkeitsfahne. Nur kurze Zeit dauert 1914 die Herrschaft des Prinzen zu Wied. Im Norden Albaniens leitet von 1916 bis 1918 die österreichisch-ungarische Monarchie die Angelegenheiten. Generalkonsul August Ritter von Kral ist Zivillandeskommissär, gründet Schulen und die Albanische-Literarische Kommission unter der Leitung von Luigji Gurakuqi, die für Schulbücher, Lehrerkurse

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Einleitung

Albaner

und eine einheitliche Rechtschreibung sorgt und sich damit große, andauernde Verdienste erwirbt. Nach dem ersten Weltkrieg wird Albanien Republik, eine Zeitlang unter dem Bischof Fan Noli als Kryetar (Präsident), dann unter Ahmed Zogu, der schließlich die Königswürde erlangt, bis ihn 1939 die Italiener absetzen und das Land zum Teil des faschistischen Impero machen. Nach Mussolini besetzen die deutschen Truppen Albanien, die sich 1944 zurückziehen müssen. Die Partisanen unter Enver Hoxha übernehmen das Regi­ ment. Am 11. 1. 1946 ruft eine Nationalversammlung die Demokra­ tische Republik aus.

Auch heute ist das Albanische weit über das Staatsgebiet hinaus verbreitet. In Jugoslavien leben (nach jugoslavischen Angaben) 750000 bis 800000 Albaner, doch wird Albanisch auch gegenwärtig noch in Griechenland (sowohl in Epirus als auch im Innern des Landes1), Süditalien1 2, Bulgarien und der Ukraine3 gesprochen.

B. Zeittafel 229-168 v.Chr. 6—9n.Chr.

Illyrisch-römische Kriege. Tiberius schlägt den illyrischen Aufstand nieder. Beginn des byzantinischen Reiches. 395 6./7. Jahrh. Slavische Landnahme. Bulgarische Herrschaft. 951-1018 Beginn der albanischen Wanderungen. 11. Jahrh. Ende der byzantinischen Herrschaft. um 1350 Serbisches Reich unter Dusan (1331 —1355). 14. Jahrh. AlbanischeSiedlungsbewegung(Griechenland). Ende 14. Jahrh.- -1912 Türkische Herrschaft. Gjergj Kastrioti (Skanderbcg). 1437-1468 Albanische Fluchtbewegung nach Süditalien. 15. Jahrh. Weitere albanische Siedlung (Serbien, West­ 17./19. Jahrh. mazedonien). Unabhängigkeitserklärung in Vlore. 1912

1 G. Petrotta, La questione etnico-linguistica greco-albancse, Palermo 1950. R. Petrotta, Ineontri con gli „Arvaniti“ della Grecia, in: Shejzat 7 (1903), 246—254. A. Ermenji, La Tchameria (L’Epire du Sud), in: Europa Ethnica 21 (1964), 2 — 8. C. Haebler, Grammatik der albanischen Mundart von Salamis. Wiesbaden 1965. 2 E. Qabej, Albaner und Slaven in Süditalien, in: RIEB III (1937/38), 555—566. K.-H. Schroeder, Die Albaner in Italien, in: ÖOH 7 (1965), 118-121. 3 A. V. Desnickaja, Albanskij jazyk i ego dialekty, Leningrad 1968, Kap. V.

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Albaner

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1915-1918 2. 8. 1919

Juni—Dez. 1924 Jan.1925 1. 9. 1928 8. 4. 1939 10. 9.43-29. 11.44 11. 1. 1946

4. 7. 1950

Besetzung durch kriegführende Mächte. Vertrag von Tirana: Albanien wieder selb­ ständig (Republik). Pan Noli Präsident. Ahmed Zogu Präsident. Zogu I. König der Albaner. Italienische Besetzung. Deutsche Besetzung. Nationalversammlung ruft Demokratische Republik aus. Neue Verfassung.

C. Zur albanischen Mythologie

Der alb. Volksglaube ist reichhaltig, von alter Tradition und, vor allem im nordalb. Bergland, bis in die neueste Zeit außergewöhnlich lebendig. Da die christliche und die mohammedanische Religion die alb. Kultur nicht entscheidend beeinflußten, haben sie heidnische Vor­ stellungen nicht verdrängen und wenig umdeuten können. Aus diesem Grunde läßt sich die alb. Mythologie zwar nach Landschaften, aber kaum nach Konfessionen (Islam, Röm.-Kath., Griech.-Orth.) trennen. (In Nordalbanien konnte zwischen Katholiken und Mohammedanern sogar Blutsbrüderschaft geschlossen werden.) Nur in den alb. Sied­ lungen in Süditalien waren christliche Ideen von größerer Bedeutung, haben aber auch dort den alten Glauben nicht überwunden. Übereinstimmungen mit der Mythologie anderer Volksgruppen stammen zum Teil aus alter Zeit, gehen aber auch auf eine spätere gegenseitige Beeinflussung mit Griechen, Slaven und Türken zurück. Am deutlichsten sind die Parallelen zum Volksglauben der Aromunen, der rumänisch sprechenden Hirten, Händler, Handwerker usw. auf der Balkanhalbinsel. D. Zur Sprache und Orthographie

Das Albanische repräsentiert einen eigenen Zweig der SatemGruppe der idg. Sprachen. Es gilt als Nachfahre des ehemals an der Adriaküste gesprochenen Illyrischen, das Verbindung zum Messapischen in Süditalien hatte, doch ist neben dem Illyrischen auch das Thrakische als Grundlage nicht auszuschließen. Man unterscheidet zwei Hauptdialekte: das Gegische, im Norden, das Toskische im Süden des Landes, beide getrennt durch den Shkumbi-Pluß; zum Toskischen gehören die Mundarten in Griechenland und Süditalien. Die ältesten 461

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Albaner

Belege der alb. Sprache stammen aus dem 15./16. Jahrh., aber erst im 17. Jahrh. setzt das alb. Schrifttum in größerem Umfange ein.

Der Artikel wird im Albanischen an die Substantive angehängt, so daß man von „unbestimmten“ Formen (ohne Art.) und „be­ stimmten“ Formen (mit Art.) spricht.

Das heutige Alphabet zeigt folgenden Bestand: abctjddheef ggj hij klllmnnj op qrrrssh tthu v x xhy z zh. Zur Aussprache ist zu bemerken:

ä, e, i, 6, ü, y sind die im Gegischen vorkommenden Nasalvokale, deren Nasalierung noch stärker ist als bei den französischen Nasalen,

c wie dt. ts (Zahn), p wie dt. tsch.

dh stimmhaftes interdentaler Spirant wde ngriech. Eid beim Stein. Bisht e eger. Neunköpfiger, Jungfrauen fressender Drache. ->Ljubia.

Bolla. Ein schlangenartiges Wesen in Prishtina. Die ersten zwölf Jahre nach ihrer Geburt heißt die Schlange bolla, dann wird sie zur -> Kulshedra. Etymol. gehört bolle. — so die unbestimmte Form von bolla — zu griech. Kulsheder. (Lambertz, Märchen, tOff.) In Südalbanien gilt der bullar als große, dicke Schlange mit dauernd geschlossenen Augen. Bloß am Sankt-Georgstag (Shen Gjergji) öffnen sie sich, und wenn der bullar dann einen Menschen sieht, frißt er ihn auf. Hätte er die Augen immer geöffnet, würde er immerfort Menschen verzehren. Daß er die Augen gerade am Sankt-Georgstag öffnet, hat folgenden Grund: Als Shen Gjergji (Sankt Georg) einst auf die Jagd ging, trat ihm die Schlange ent­ gegen und wollte ihn verschlingen. Da verfluchte er die Schlange mit den Worten: „Mögest du immerfort blind leben und deine Augen nur an meinem Tage öffnen!“

Böser Blick, syni i keq, tosk. syri i keq, richtet Schaden an. Man ver­ meide es, Rinder, Tiere oder Wertobjekte zu loben, da diesen sonst Unheil zustößt. Als Amulett gegen den bösen Blick hängt man dem Tier einen Holzlöffel um den Hals; den Kindern klebt man kleine Münzen auf die Stirn oder beschmiert ihnen Stirn oder Nasenspitze mit Ruß. Auch Knoblauch soll gegen den bösen Blick helfen. Mit bösem Blick ausgestattete Menschen werden gemieden. Fishta, Lahuta, 56.

Brezi i Zois Prenne. „Der Gürtel der Frau Prenne“, d. i. der Regen­ bogen —> Prenne; Zoizi.

Lambertz, Märchen, 48. 467

Bukura e dheut

Albaner

Bukura e dheut auch Bukuria e dheut und Bukura oder Bukuria e

dyrnjäs, ebenso mit vorgesetztem Artikel E bukura usw. „Die Schöne der Erde“, „Schönheit der Erde“ oder „der Welt“. Eine der be­ liebtesten Figuren des alb. Volksglaubens und des alb. Märchens. Dieselbe Gestalt kommt bei den heutigen Griechen (?) 1levTafioQqnj, „die fünfmalschöne“), bei Türken, Kurden, Aromunen, Syrern und im it. Märchen (la Bella del mondo) vor (vgl. Kretschmer, Xf.). Die Schöne der Erde ist in den alb. Märchen oft nur die mächtige, hilfreiche Fee (vgl. Aarne, Märchentypen, 460A, das Märchen von den drei Glücken; Typus: Wanderung des Armen in den Himmel, wo ihm drei Glücke verheißen werden, die er unterwegs finden soll). Die Schöne der Erde hat also im alb. Märchen die Funktion, die in anderssprachigen Varianten Gott oder ein Engel haben. Ebenso ist sie im „Brüdermärchen“ die liebevolle Warnerin des abenteuer­ lustigen Bruders, den sie zum Gatten erwählt hat. In Mitkos Märchen aus Korija (bei Meyer, Grammatik, 61) treten „die Schönen der Erde“ als drei Schwestern auf. Eine ist schöner als die andere. Sie werden von der Lamia bewacht, die dann der Grind­ kopf (—> Qerozi) tötet. Alle drei verloben sich mit ihm und geben ihm wunderbare Geschenke. Der Grindkopf erlebt dann mit ihnen die üblichen Abenteuer der Märchen vom Typus „Der beste Jüngste1 und „Höllenfahrt“ (Hahn, Märchen I, Formel 16 u. 40). Auch in den alb. Märchen von den „neidischen Schwestern“ (vgl. Dozon, Märchen 2, „Les soeurs jalouses“) bilden sic und ihre wunderbaren Besitztümer das Ziel, nach dem die bösen Schwestern den aus­ gesetzten, aber wiedergekehrten Sohn der Schwester ausziehen lassen, damit er in sein Verderben stürze; aber die Bukura e dheut ist hier ein gütiger Dämon, der alles zum Guten wendet, Mutter und Sohn in ihre Rechte einsetzt und die bösen Schwestern be­ straft. Tritt in diesem Fall das Moment der Schönheit in den Hinter­ grund, so ist die Bukura e dheut sonst im Volksglauben und im Märchen der Inbegriff alles Schönen, Ziel der abenteuerlichen Fahrten kühner Jünglinge, und zwar sowohl als Einzelfigur wie als Jüngste von vierzig Schwestern, wie auch in der Mehrzahl „die drei Schönen der Erde“. In der letztgenannten Funktion ist ihr Charakter oft böse und tückisch. Schon der Weg zu ihrem in weltenferner Einsamkeit gelegenen Palast ist nur unter vielen Gefahren für Leib und Leben zu erreichen. Ihr Schloß selbst wird vielfach durch Wundertiere und eine Unmenge von Wächtern behütet, die nur durch Zauber­ mittel besänftigt werden können. Ist der Held endlich bis zu ihr vorgedrungen, so stellt sie ihm erst noch eine Reihe schwerer Auf­ gaben oder prellt ihn in seiner Verliebtheit um seinen Besitz (Mitkos

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Albaner

Bukura e dheut

Märchen „Die Schöne der Erde“, übers, von G. Meyer, ALG 12, 111, 7). Hat er sie aber endlich zur Gattin gewonnen, dann ist sie seine getreue Gefährtin und Helferin, bleibt jedoch eine zauberkräftige „Lorin“. Ihre Kraft beruht in einem Kleide (Dozon, Märchen 16, „La Lioubia et La Belle de la Terre“). Solange sie das Kleid nicht trägt, bleibt sie der irdischen Ehe treu, sobald sie es anhat, ist sie wieder die alte Bukura e dheut, die den irdischen Fesseln entflieht und ihrem Gatten die im Märchen dieses Typus beliebten Bedingung stellt, er müsse auf der Suche nach ihr die Sohlen von drei Paar Eisenstiefeln durchlaufen. Er erfüllt die Be­ dingung, findet die Gattin mit ihren zwölf Gespielinnen, dem Reigen der Bukura, beim Bade, nimmt der Badenden das Kleid weg und bindet sie dadurch dauernd an sich. Die Schöne der Erde hat auch Beziehungen zur Unterwelt. Sie haust dort (Hahn, Märchen, 97 = Studien, 3), bewacht von einem drei­ köpfigen Hunde, der weder bei Tag noch bei Nacht schläft. Sie hat goldene Haare, und wer eines davon in die Hand nimmt, glänzt wie die Sonne. Aber um in den Besitz eines Haares zu gelangen, muß man zuerst an dem Hund vorbei, was nur gelingt, wenn man sich durch Wunderwasser unsichtbar macht. Dann aber muß man der Schönen, wenn sie schläft, etwas baljte te se vdekuret, „Toten­ erde“, ins Ohr stecken, damit sie nicht aufwacht, wenn man ihr ein Goldhaar ausreißt. Sie ist auch die Helferin ihres Gatten bei der Lösung der schwierigen Aufgaben, die der König ihm stellt (Pedersens Märchen „Karte per n’airet“, „Briefe nach der Toten­ welt“): Sie schreibt ihm die Antworten der Verstorbenen aus der Unterwelt und legt ihm ein Wunderkraut in den Mund, das ihn zum Herrn über den Tod macht. Auch ihr konnte der Tod infolge des Krautes nichts anhaben. Vor ihrer Verheiratung hing sie zehn Jahre hindurch in der Gestalt von vier Vierteln Fleisch tagsüber im Wipfel eines Baumes im Walde, wohin des Nachts immer ein Xhinn Arap, ein Schwarzelfe (-> Xhind-i) kam, sie durch seine Berührung belebte, und die Nacht mit ihr verbrachte; am Morgen zerschnitt er sie wieder in vier Stücke und hängte sie im Baum­ wipfel auf. Dabei hat sie immer das Kraut im Munde, das ihren Tod verhindert. Anderswo (Pedersens Märchen „Harap Uzengi“, „Neger Uzengi“) hat die Bukura eine schwarze Haut an, die ihre Schönheit verdeckt. Sie tritt in der schwarzen Haut als Harap Uzengi „Neger Steigbügel“ auf und ist böse und kampflustig (->Harap-i). Zieht sie ihre Haut aus, so ist sie die freundliche Schöne der Erde. Dieser Zug gibt ihr eine Doppelnatur, wie sie der Mutter Erde auch in den Mythen anderer Völker eignet. Sie ist die Göttin der Unterwelt und die des Wachstums der Erde im Frühling. 31

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Buzmi

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Es ergeben sich also drei Seiten der B. Erstens ist sie Inbegriff der Schönheit, zweitens Unterweltsgöttin, drittens ist ihr Charakter zum Typus der mächtigen Fee, der schönen Lorin oder Prinzessin verschwommen. Pendants zur B. sind der Bukuri i qiellit „der Schöne des Himmels“ und die Bukura e detit „die Schöne des Meeres“. Bukuri i qiellit „der Himmelsschöne“, ist heute eine christlich-kirchliche Bezeich­ nung für Gott. Aber der Name geht auf eine altillyrisch-thrakische Gottesbezeichnung zurück. Die Illyrothraker hatten mit der griech. Theogonie die Dreiteilung des Weltregiments in Himmel, Meer, Unterwelt gemein, und in denselben Funktionen wie die Griechen Zeus, Poseidon, Hades, verehrten sie den Schönen des Himmels, die Schöne des Meeres, die Schöne der Erde. Der Bukuri i qiellit lebt als Gott der Christen weiter, die Schöne der Erde und die Meeresschöne als Gestalten des alb. Volksglaubens und Märchens. Die Meeresschöne ist die Schwester der Bukura e dheut. Beide spielen in der Sage vom Baba -> Tomor(r) und seinem Kampf mit Shpiraku eine Rolle.

Buzmi. „Der Weihnachtsklotz“, „Julblock“, ein dicker Baumstumpf, der am Weihnachtsabend ins Feuer gelegt wird, weshalb der Weihnachtsabend (nata e Kershendellave) auch nata e buzmit ge­ nannt wird (Fjalor i gjuhes Shqipe, 53). Buzmi bujar, „edler Buzmi“, sind die Worte, mit denen man am Weihnachtsabend den Weih­ nachtsklotz begrüßt. In Nordalbanien wird der Weihnachtsklotz auch von der mohammedanischen Bevölkerung auf dem Lande gefeiert; es ist ein altes, vorchristliches Fest, in dem mit Flur­ umgang, Feldriten, Lustration der Dreschtenne, des Hausviehs, der Obstbäume und der Ackergeräte das Zunehmen des Tages gefeiert wird. Dem B. werden hohe Ehren erwiesen, und das Feuer muß während der ganzen Nacht brennen.

Carazit —> Dreqezit. Christliche Einflüsse —> Bolla; Bukura e dheut; Buzmi; Djall; En; Ferlik-u; Judi; Kyklop; Perendi; Shtojzavalet; Shtrige; Stein; Wolf; Xhind-i; Zoizi. Bardhamoskadelc. Bei Fishta redender Name einer —> Ora, „Birne mit Muskatduft“. In einer känge djepi „Wiegenlied, Ninnenanne“ (hrsg. E. Varanese, in: Shejzat 2, 5—6 [1958] 164) aus Ururi, einer alb. Kolonie in der Provincia di Campobasso (Mittelitalien) wird ein kleiner Knabe besungen: ,,Q’ isht i bukur kibir / isht i bukur ki gjalet / ... ti ishe darth’ muskarele / e dardha brutabone.“ 470

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Oielli

„Wie schön ist dieser Knabe / ... du warst wie eine Muskateller­ birne ...“

Deli Marku. Sagengestalt Mittelalbaniens. Von ihm wird in Kruja, in Mati und in Tirana erzählt. Auf der Höhe des Krrabepasses zeigt man eine Fußspur von ihm. Er ist ein Riese und hat einmal einen Riesenschritt von der Höhe hinter Kruja bis zum Rrrabepaß ge­ macht, der von Elbasan nach Berat führt. Hahn vermutete Ver­ wandtschaft mit Kraljevic Marko. (Deli, türk. Adj., eigentlich „verrückt“, dann „feurig, tapfer“, Vor- und Zuname großer Per­ sönlichkeiten, z. B. Deliterkuz Bajraktari.)

Lambertz, Märchen, 50.

Demni -> Dhampir. Dhampir. In Tirana (Qabcj, Ms. 32) Sohn des Wiedergängers —>Lugät; er tötet seinen Vater (vgl. Vampiri, bei -> Vurvolak). Ein kollek­ tiver Plural zu all den Wiedergänger- oder Revenant-Wesen sind die demni, die Schadenbringer, zu lat. damnum, oder „die Ver­ dammten“.

Dhamsute. Eine Stute, wörtl. „die Hirschkuhzahnige“, deren Reiter in der Mirdita (mittleres Nordalbanien) dheveshtrues „der zur Erde Blickende“ heißt. Cordignano, Dizionario, danach C'abej, Ms. 32.

Dielli „Sonne“. Ein Lied (Buch 3, Canto 4) des italoalb. Dichters de Rada (Rapsodie 71) enthält einen Rest des im Mutterlande weiterlebenden -»Kulshedra —> Drangue-Glaubens, der sonst in den alb. Kolonien Habens nicht mehr anzutreffen ist. Dem Helden steht die Sonnentochter als schützende -> Ora in seinem Kampf mit der Kulshedra, hier kleshedra genannt, zur Seite. Die Vorstellung des Drangue als Kulshedratöters ist in den Kolonien erstorben, daher muß dem menschbchen Helden eine übernatürliche Schützerin bei­ gegeben werden. Das Lied erzählt: Die Contessa sagt zu ihrem Sohn, dem Conto: „Auf alle Berge kannst du jagen gehen, nur auf den Berg der Kleshedra gehe nicht, sonst frißt sie dich auf!“ Seine Schöne rät ihm aber gerade das Gegenteil. Er folgt ihr, die Kle­ shedra tritt ihm entgegen, er bittet: „Kleshedra, Überkleshedra (klesheder e straklesheder), laß mich, bevor du mich verschbngst, noch einmal zu meiner Mutter gehen, um deren Segen zu emp­ fangen!“ Er muß der Kleshedra das Versprechen geben, wieder­ zukommen, dann läßt sie ihn fort. Seine Mutter gibt ihm den Ab­ schiedssegen, seine Schöne erklärt, mit ihm reiten zu wollen. Wie 31*

471

Dif

Albaner

die Kleshedra die beiden kommen sieht, ruft sie vergnügt: „Ich glückliche Kleshedra! Ich hatte einen, ;tzt sind es zwei!“ Die Schöne sagt: „Arme Kleshedra, du hattest einen, jetzt hast du nicht einmal einen!“ Sie nähert sich der Kleshedra, diese erstarrt und fragt die Schöne, welches Stammes sie sei. „Ich bin die Tochter der Hena (des Mondes, im Alb. weibl.), zum Vater habe ich den Dielli (die Sonne), ich selbst bin der Tropfen vom Himmel (pikka e kielvet). Vom Himmel falle ich auf Berge und Täler, auf Hoch­ mut und Schlechtigkeit!“ Da wünscht die Kleshedra der vaiz mbi vashazit e dheut „dem Mädchen über den Mädchen der Erde“ viel Glück mit ihrem Helden.

Lambertz, Märchen, 77.

Dif, tosk. auch De/, ursprünglich türk. Wort. Riesen mit übermensch­ lichen Körperkräften, verzehren gern Menschenfleisch, lassen sich mit ihrem Opfer im Wettkämpfe ein, sind dumm und tölpelhaft, werden durch Schlauheit eines klugen Menschen besiegt, haben riesenlange Schnurrbärte, auf ihren Körpern Läuse von fabel­ haften Dimensionen, die nogdai ihrer Gedärme erschüttern gleich Detonationen das Haus. Sie veranstalten Wettessen, jeder ver­ schlingt einen ganzen Kessel voll Fleisch auf einmal. Sie rauben Mädchen, halten sie an entlegenen Orten gefangen. Man kann ihnen nichts anhaben. Nur wenn der Mensch, der einem D. einen Schwert­ hieb versetzt hat, auf die Aufforderung des D.s, noch einmal zu­ zuschlagen, das Zauberwort ausspricht: „Nur einmal hat’s der Mann!“, muß der D. zerplatzen.

Köhler, 414, 469; Lambertz, Märchen, 45.

Djall „Teufel“. Einer seiner vielen alb. Namen, von lat. diabolus; außerdem heißt er dreqi von lat. draco; shejtdni von hebr.-christl. satanas; i mallku(e) mi, tosk. mallkuari „der Verfluchte“; Luciferi; djemen von lat.-griech. daemon; Qoftlargu „Er sei fern von uns!“; Larg Ketej „Fern von hier“ (vgl. das ngriech. ’ Etfanohof „Heraus von hier“); i pa-udhi „der Weglose“ in Gjirokastra; in den alb.

Kolonien Siziliens (Palazzo Adriano, Entellina Piaña degli Albanesi) Mungibiéll, eigentlich der Ätna, dann der Teufel, entstanden aus kalabresisch mun = monte und arabisch dzebel „Berg“, d. h. der feuerspeiende Berg xccr’ fifo/z/r, bei dem italoalb. Dichter Variboda des lß.Jahrh. auch Bezeichnung für den Kaiser Diokletian als Christenverfolger, als Teufel; -> Shpirti i keq „der böse Geist“. Lambertz, Märchen, 10, 19; Bei Vlora, 132; Hahn, Märchen II, 145; de Rada, Zarezit e dreqezit Rapsodie, 21; Hahn, Studien, 2, 165; Qabej, Ms. 32. 472

Albaner

Drangue

Donnergott -> Drangue; Perendi; Shurdi; Verbti. Drangue. Der Lebenszweck eines D. ist es, die —> Kulshedra zu be­ kämpfen. Sowohl Menschen wie Tiere können als D. auf die Welt kommen. Etym. stammt der Name von lat. draco(nem), it. dragone (Meyer, Wörterbuch, 73). In Shkodra wird auch die Form dragu, plur. dragona gebraucht. Die menschlichen D. kommen mit einem Hemd angetan zur Welt (Glückshaut, pileus naturalis bei Lampridius Diadumenus 4, 3; mhd. hüetelin, batwät, kindbälgel, westerhuot; vgl. Bolte-Polivka, Anmerkungen I, 288f.; Grimm, DM, 728; Wuttke, Volksaberglaube § 305, 579). Auf dem Haupt haben sie eine kleine Filzmütze, unter den Achseln zwei, nach anderer Version auch vier Flügel. Wer ein D. ist, ist nur der Mutter des D. bekannt. Später, wenn der D. seine Kampftätigkeit gegen die Kulshedra anfgenommen hat, wissen auch die D. untereinander, wer ein D. ist; aber sonst darf es niemand wissen, andernfalls stirbt der betreffende D. sofort. Trotzdem gibt es im Gebirge alte Hirten und alte Frauen, die sagen können, wer ein D. ist. Nach seinem Tode kann man einen D., wenn man seinen Körper aufschneidet, daran erkennen, daß sein Herz aus Gold ist und in seiner Mitte einen Edelstein birgt. Auch bei Tier-D. gilt das für erwiesen, wie ein D.-Widder in der Zadrima bekundet, bei deren Schlachtung sein Herrn dieses Naturphänomen entdeckte. Zum D. darf man nicht sagen: Tu thafshin kräht! „Mögen deine Arme verdorren!“ Dieser in Albanien alltägliche Fluch führt den sofortigen Tod des D. herbei, denn in seinen Armen und seinen Flügeln (beides heißt alb. kräht} liegt seine übernatürliche Stärke. Wenn der D. zur Welt kommt, verbirgt seine Mutter das Hemd, in dem er geboren wurde, und bewahrt es sorgfältig auf. Erst nach seinem Tode darf es ver­ nichtet werden. Schon in der Wiege erweist er seine außergewöhn­ liche Bestimmung. Sobald es blitzt und donnert, begibt er sich mit­ samt seiner Wiege auf den Versammlungsplatz der D. Viel Kunst verwenden die D. darauf, durch Sprünge und Wendungen der Hauptwaffe der Kulshedra, dem Urin, zu entgehen. Wen ein Tröpf­ chen davon trifft, der ist verloren. Schließlich gehen sie zum An­ griff über, jeder mit der ihm eigenen Waffe: der Widder stürzt mit den Hörnern auf sie los, der Hahn hackt ihr die Augen aus, die Wiegenkinder stürmen mit ihren Wiegen vor, die erwachsenen menschlichen D. kämpfen mit Meteorsteinen oder Schwertern, deren Zucken als Blitz erscheint. Den Hauptschlag führen sie, in­ dem sie Bäume, Felsen, ja Häuser aus dem Boden reißen und über die Kulshedra türmen, um sie zu betäuben. Die imposantesten Kämpfe zwischen Kulshedra und D. finden im nordalb. Hoch-

473

Dreiteilung

Albaner

gebirge am Drinknie bei der Ura Vezirit in der Räna e hjedhme „dem angeschwemmten Sand“, statt. Die dort liegenden riesigen Felsklötze sind die Zeugen dieser Kämpfe zwischen den Gewitter­ dämonen. Denn sowohl die Kulshedra wie die D. sind Gewitter­ dämonen, wobei die D. als Abwehrer der Gewitterschäden zum Nutzen der Menschen auftreten. Verwandt sind die D. mit den ngriech. Jpdxoi, die auf die alten schlangenfüßigen Giganten zurückgehen (vgl. Kretschmer, Mär­ chen, S. VIII; Politis, MsAerrj I, 155ff.). Auch die D. türmen wie die Giganten Berge aufeinander. Der Kampf der D. mit der Kul­ shedra ist Reminiszenz an die alte Gigantomachie. Die Verwandt­ schaft mit den Schlangen haben die D. an die Kulshedra abgegeben, die aus Schlangenbrut hervorgeht und Schlangenkinder gebiert. Wie in der byzantinischen Heldenpoesie Helden den Beinamen Jpdxo? erhalten, so wird im alb. Heldenlied dem Tapferen das Beiwort trim drangue „Held wie ein Drangue“ verliehen. Alb. Wiegenkinder (djelm djepsor) sind die tapfersten D., nach ngriech. Anschauung wird jedes neugeborene, ungetaufte Kind ein heid­ nischer dpdxoj genannt. Der D. hat Züge vom germ. Werwolf und dem nord. Berserker an sich (—> Germ. Berserker): Wenn der 1). die Kulshedra nahen hört, befällt ihn die fiavia, und das Ent­ weichen der Seele aus seinem Körper vollzieht sich ähnlich wie bei den Werwölfen und Berserkern, wenn sie in den Kampf ziehen. Lambertz, Märchen, 11; Fishta, Gesang IV Anfang, und Gesang XV!; Frasheri, 68.

Dreiteilung des Weltregiments —> Bukura e dheut. Dreqezit und zarazit (oder carazit). Zarazit oder carazit ist eine PluralKollektivbildung zu care fern. „Hexe“, herzuleiten von asl. (arr, Cara „Zauber“, serb. Carati „zaubern“; dreqezit ist fern. Kollektiv­ bildung zu dreq „Teufel“ (—> djall). Zarazen und Dreqezen sind Hexen und Teufel, Mythen wesen des Volksglaubens in den alb. Kolonien Unteritaliens und Siziliens, im Wesen den —> Oren und —> Shtojzavalen des Mutterlandes ähnlich. Sie greifen geheimnis­ voll in das Leben der Menschen ein. Auf einem Hügel erhebt sich ein Nußbaum, dort tanzen Zarazen und Dreqezen ihre Reigen­ tänze. Sie treiben Schabernack und halten ein Mädchen, das auf die Anhöhe kommt, zwei Jahre gefangen, ebenso einen Jüngling. Wenn die beiden wieder freigelassen werden, fühlen sie sich durch geheime Bande aneinander gefesselt, als hätten sie sich schon in einem früheren Leben getroffen. Am Fluß küßt der Jüngling das Mädchen; sie wäscht sich, das Wasser wird purpurrot, die Wäsche

474

Albaner

En

der Dorffrauen, die dort waschen, färbt sich purpurn, die Gärten, die man mit dem Wasser begießt, treiben purpurne Blätter, und die Vögel, die von dem Wasser trinken, verlieren ihren Gesang. De Rada, 20; Seura, 156.

Dsch-

Xh-,

Eid beim Stein, beja mbe Gur. Der Eidsehwur beim „Stein“ ist dem

Albaner besonders heilig. Das alte Gesetzbuch Kanuni i Leke Dukagjinit § 533—537 sagt darüber: „Der Eid der Berge Albaniens ist zwiefach: a) Der Eid beim Stein, nach dem Kanu, b) der Eid beim Kreuz und beim Evangelium. § 534: Der Eid beim Stein nach dem Kanu gehört zu den schwersten und furchtbarsten Eiden, die der Albaner der Berge kennt. § 535: Es ist Kanu, daß, wenn der Leugner sich von einer Anschuldigung reinwaschen will, er den Eid schwören wird entweder beim Stein oder beim Kreuze und Evan­ gelium. § 537: Die Eide beim Stein werden geschworen, a) um sich von einer Anschuldigung reinzuwaschen, b) um sich in treuem Bund zu vereinen gegen Nachstellungen und Verrat des Ortes, c) um sich zu rüsten, die Stirne zu bieten Drohungen und gemein­ samen Gefahren.“ Was bedeutet der „Stein“ ? Der Kanun selbst bringt dazu (§ 533 Anm. 3) die Interpretation: „Der Eid beim Stein ist gebheben seit altersher. Als ,Stein“ wird hier verstanden jener dreieckige Stein mit drei Löchern, der eine Waage hielt, auf der sie das Wachs der Kerzen abwogen, das sie in die Kirche zu senden beabsichtigten. Somit war es dasselbe, den Eid beim Steine zu schwören, wie wenn sie bei einer heiligen und gerechten Sache ge­ schworen hätten.“ Diese Erklärung steht ersichtlich unter christl.kirchlichem Einfluß. Wahrscheinlich ist der guri ursprünglich der Stein des Grabes, unter dem der Schwörende einmal Ruhe finden will, sie aber nicht finden wird, wenn er bei diesem Stein falsch geschworen hat. Er muß dann nach dem Tode unter seinem „Stein“ wieder hervorkommen und als -> Lugat oder -> Dhampir umgehen, eine ganz fürchterliche Vorstellung für den Albaner. Darum stellt Ab Pascha von Gusi (Fishta, Lahuta VIII, 57) in seinem Schwur, daß für seine Heimat Albanien kein Opfer zu hoch sei, seinen Grabstein in eine Linie mit dem Shalasattel und mit den Felsen auf dem heihgen Götterberg -> Tomor. Elfen —> Bardha; Jashteshme; Ora; Shtojzavalet; Xhind-i.

En. „Dämon, Schatten, Gott.“ Auch Hen (es gibt alb. Mundarten, die altes anlautendes h erhalten haben, andere, die es verberen, z. B. hyll „Stern“, neben yll, ill)-, Hen findet sich ebenso im Sub475

En

Albaner

stantiv Ae, hie,, hija. Es liegt ein aill. Gottesname vor, nach dem der „Donnerstag“ e éjte, tosk. e enjté, im alten Lexikon des Bardhi Heneté heißt. Der Stamm des Gottesnamens En findet sich auf dem ganzen ill. Sprachgebiet in PN, so in Mess, in Unteritalien Ennius; auch der römische Dichter dieses Namens stammte aus Rudiae in Kalabrien und war Messapier. Ennius ist ein sogen, theophorer Name, wie ’AmMáviot;, ’AtpQodiaioQ, Aiovvcdog,, Avj/i'ijrQioi;, ’Agre/niaioQ, also „der dem En Geweihte“. Dazu mit -A-Suffix Enica, Enicus, Enicenius, mit -w-Suffix Eninna, Ennenia, Kurz­ formen Enna und Enno (in einer ven. Inschrift C. Ennius C. F. Enno, CIL V, 1924; vgl. Krähe, PN). Komposita zum Gottesnamen En sind Enoclia, „die Abi-berühmte“ (vgl. r//pu^Aíyf, 'HqcmXeío), und Malennius {mal alb. „Berg“, also „der dem ÄVi-vom-Berge Geweihte“. Die alb. Form enjété, enjté für den Donnerstag ist von Haus aus ein bestimmter plur. mit dem im Alb. für diese Sub­ stantivform bezeichenenden angehängten (postpositivem) Artikel -té. Der Plural des Gottesnamens ist in monotheistisch-christl. Zeit neu­ gebildet worden als Kollektivum für die Dämonen der Vorzeit (Parallele: hebr. Elohim). Später nicht mehr in seiner gramma­ tischen Funktion erkannt, wird das Femininum e enjété, enjté, éjté (ergänze dita „der Tag“) gebildet für den „Donnerstag“. Der aill. Gott hatte offenbar ähnliche Funktionen wie lupiter, daher wurde ihm der dies Iovis, giovedi, geweiht. Der alb. Sprachmeister Kon­ stantin Kristoforidhis übersetzt in seiner 1879 im Auftrage der Brit. und ausl. Bibelgesellschaft in Konstantinopel erschienenen griech.-alb. Übersetzung des NT Apostelgeschichte 14, 12 „Und sie nannten den Barnabas Zeus, den Paulos aber Hermes“ das griech. Aia des Originals mit "Evere,, und das 'Eo¡m¡v des Originals mit Meqxovq. Es ist nicht anzunehmen, daß der im Süden des alb. Sprachgebietes vielgereiste Kristoforidhis den Gottesnamen "Evere etwa aus der in der Gegend zwischen Janina und Dodona im Volks­ mund ererbten Bezeichnung eines aill. Dämons aufgezeichnet hat; er hat den Gottesnamen vielmehr aus der Bezeichnung für den Donnerstag erschlossen, ebenso wie er für den Hermes nach dem alb. Mittwochsnamen témérkurre den „Merkur“ wählt; sonst hätte er, der des Griech. durchaus kundig war, sicher den 'EQ/AjQ des Originals beibehalten. Die Deutung des alb. Dichters Ndre Mjeda (in: Leka 4, 351), der Name des Donnerstags enjté gehöre zu agriech. évr¡ oder évr¡, ist angesichts der ganz verschiedenen Be­ deutung der beiden Worte absolut nicht einleuchtend. Agrioch. £V7] oder errj bedeutet „alt“, in der häufigen Redewendung évr¡ xai véa, der „alte“, d. h. letzte Tag des Monats vor der véa i]f¿é.Qa, „dem Monatsersten“. Außerdem kommt evr¡ auch im Sinne „dritter

476

Albaner

Fatmiren

Tag (von heute ab)“, also „übermorgen“ vor. Der Donnerstag kann weder von irgendeinem Gesichtspunkt aus als „dritter Tag“, noch als „übermorgen“, noch als „Ultimo“ erklärt werden. Dagegen ist es durchaus einleuchtend, daß der Donnerstag wie alle anderen Wochentage im Alb. nach einem Gott bezeichnet ist: e diellë „dies

Solis“, e hërië „dies Lunae“, e marte „dies Martis“, e enjtë „dies Enni“ (d. i. Iovis), e premte „dies Prendae“ —>( Prenne), e shtuné „dies Saturni“; nur mit dem Unterschied, daß Donnerstag und Freitag nicht nach lat. Gottheiten benannt oder rückübersetzt sind, sondern nach aill. Gottheiten, die im Volksbewußtsein fort­ leben. Das hat seine Parallelen im dt. „Dienstag“, d. h. „Tiustag“ (-> Germ. Tyr) und im bayrischen „Ertag“, d. h. Arestag, für „Dienstag“.

Errshaj, rrshaj -> Bolla.

Fat-i mask., aus lat. fatum. Im Südalb. das personifizierte Geschick, entspricht der nordalb. ->Ora. Aber auch im Norden heißt der Glückliche faibardhi oder fatmiri, der Unglückliche fatziu oder fatkeqi. Der F. arbeitet für den fleißigen Menschen in Gestalt eines Tagelöhners bei Tag und bei Nacht, der Faule und Spieler findet seinen F. in Gesellschaft von Nichtstuern und Spielern. Lambertz, Märchen, 36.

Fati fern., bestimmte Form fatija. Fee, südalb. Schicksalsdämonin. Die fatit (plur.) tragen auch den Namen Miren oder Fatmiren. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Geburt des Menschen (ent­ sprechend der nordalb. -s>-Ora). Am dritten Tag nach der Geburt eines Kindes erscheinen drei alte Frauen, die Fatijen, an der Wiege, për të miraninë djaljinë „um dem Knaben sein Schicksal zu be­ stimmen“. Kështu e shkruane fatit „so haben es die F. geschrieben“ (auf die Stirn ihres Schützlings) : das ist der fatalistische Trost des Südalbaners bei jedem Ereignis. In dieser dritten Nacht hält man die Hunde vom Hof entfernt, die Tür mit einem Spalt offen (Hahn, Studien, 162), deckt den Tisch mit Silbergeschirr und stellt einen Becher Honig mit drei Mandeln und drei Schnitten Brot darauf. Außer meshrkue, me rnirdn und me lidh fdtin „dasGeschick knüpfen“ ist im Tosk. auch die Wendung üblich: me pre rojën oder ymerin „das Leben abschneiden“ oder „die Länge des Lebensfadens im voraus bestimmen“. —> Lurnezt. Sotirios, 93; Weigand, Gramm. 143; Dozon, Contes, 20.

Fatmiren -> Fat-i; Fati; Miren. 477

Feen

Albaner

Feen -> Bukura e dheut; Fati; Hie; Mauthi; Peri; Zäna.

Feqi. Ein böser Geist in Nderfanda in der Mirdita (nach dem Dichter Bernardin Palaj, bei Qabej, Ms. 33).

Ferlik-u. Der Festtagsbraten, der am Fest des hl. Nikolaus geschmaust wird. Das Fest des hl. Nikolaus (nata e Shen Kolit) am 6. Dezember ist an die Stelle eines alten vorchristl. Seelenfestes getreten, bei dem die Wiederkehr der Seelen Verstorbener gefeiert wurde. Noch heute trägt es in den Zeremonien den Charakter des Seelenfestes. Jedes Haus, das christliche wie das mohammedanische, brät am Tage des hl. Nikolaus den Hammel am Spieß und zündet ihm eine rote Kerze aus Wachs an. Das rote Wachs wird an einem langen Faden aufgezogen und in eine runde Form nach Art eines Kuchens gebracht, weshalb es qirikulef „Kerzenkuchen“ heißt. Bevor die Kerze angezündet wird, werden Türen und Fenster geöffnet, damit die shpirtnat „Geister“ herbeikommen können. Alle Hausgenossen erheben sich, der Hausherr zündet die Kerze an, alle knien nieder und beten. Dann beginnt man Schnaps zu trinken und Lieder zu singen, setzt sich um den Tisch und ißt den Hammelbraten. Jeder spricht, bevor er ißt, den Segenswunsch über die nate te bardhe „die glückliche Festnacht“. Noch etwa drei Stunden sitzt man fröhlich beeinander; bevor man schlafen geht, werden die Fenster und Türen geschlossen, nur die Kerze läßt man brennen und hält abwechselnd die ganze Nacht über bei ihr Wache. Die Albaner haben auch die Sitte, mit Steinen an Wegkreuzen, Baumzweigen, Wiesengattern und Zäunen den Weg von einsamen Gräbern bis zur ehemaligen Behausung des Toten zu bezeichnen, damit seine Seele in der Nikolausnacht den Weg vom Grabe nach Hause finde. Dabei werden gelegentlich Umwege über Plätze gemacht, an denen der Verstorbene bei Lebzeiten besonders gern oder in Ehren ver­ weilte, wie über die Versammlungsstätte des Rates der Alten (pleqni) eines Stammes, wo dann auch auf den Sitz des Toten ein Steinhäufchen gelegt wird. Harapi, 41; Lambertz, Märchen, 23.

Fljame. Weibl. Dämon der Fallsucht, an den man in Elbasan glaubt. In Shkodra bedeutet fljame die Krankheit „Influenza“, Grippe“, und den Dämon, der sie erzeugt (Hahn, Studien, 162). In Tirana ist flame „Erkältung und Schnupfen“, „Rotzkrankheit der Tiere“, für das üblichere rrufa (G. Weigand, Wörterbuch). Kristoforidhis (/lefixdr) verzeichnet für Tirana fljame, -a als Tier­ krankheit (Rotz), und dazu das Verb aus Shkodra fljamosem „ich bin verschnupft“, „habe einen Katarrh“. Dort flucht man 478

Albaner

Ganic

auch: Te rrachte fljama! ,,Mög’ dich die Pljama schlagen!“ Offen­ bar von der Fallsucht, die dem Verfluchten angewünscht wird. Zu fljame „Schnupfen“, „Fallsucht“, „weiblicher Dämon, der sie erzeugt“ gehört das Partizip jljamosure „besessen“ (Meyer, Wörter­ buch, 107), aus it. flemma, ngriech.' ß/.i/Mia von (p/.eytiu „Schleim“.

Floijka. Wassernixe, heißt auch Flokez, Flokshe, Flokqe, Flokze,

Kshetez, Kshete, Nuse e ujerave „Braut der Gewässer“. Ihr Name F. stammt von floke „Haar“; sie ist „die Langhaarige“. Kshetez kommt von keshete, wörtl. „die Zopffrau“ (zu gershet „Haarflechte von Frauen“, „Zopf“, gershetoj „Zöpfe flechten“). Fishta (Lahuta, XXVI) lädt seine ->Zäna zu einem Ausflug nach Lesh ein und erklärt ihr: „Denn du [die Zäna] bist ein Sonnenstrählchen, / Schwer Gewicht ist’s wahrlich nicht, / Das an dir die Möwe trägt! / Und auf dieser Möwe reitend, / Ruderst du, des Drini Strömung / Ab­ wärts, bis du kommst ans Meer. / Nun am Meere angekommen, / Wirst du an dem Strande dort / Flotschken sehn und Kschetzen, die dort / Liegen in dem sonn’gen Sand, / Gegenseitig suchen sie / Läuse sich auf ihren Häuptern, / Kämmen sich des Hauptes Haare, / Neckend jagen sie einander / Durch den Sand dort am Gestade, / Den die Woge angespült. / Aufgelöst die reichen Haare, / Tücher um den Kopf gewunden, / Ihre Hemden aufgerafft / Mit kunstvoll gedrehten Bändern; / Meeresfrauen sind sie ja. / Wie Blutegel, Meerschildkröten / Lebten stets im Wasser sie, / Und auch auf der trock’nen Erde. / Sprachen, gleich als ob sie krächzten, / Krächzend gleichsam und dabei / Schnitten komisch sie Grimassen. / Aber fing sie wer lebendig, / Nahm nach Haus sie, nährt sie da, / Lernten sie gar gut Albanisch, / Sprachen Shqip aufs beste bald. / War da ’mal ein junger Bursche, / Bursche aus dem Stamm Kelmendi [im NO von Shkodra, Nordalbanien], / Tücht’ger Schütze, guter Redner, / -- Das bezeugen alle Leute, / Die in jener Gegend wohnen, — / Fing sich eine von den Flotschken, / Nahm sie bald darauf zum Weibe, / Trug mit ihr den Hochzeitskranz. / Und sie ward’ne gute Hausfrau, / Zog ihm Kinder auf und hielt sich / Wie ’ne vornehm-edle Dame. / Züchtig trug sie der Xhubleta / Glockenförm’gen Frauenrock, / Die Garnwinde war ihr Werkzeug, / Wie bei allen ander’n Frauen, / Dort in jenem Bergbajrak. / Trotzdem konnte ihre Herkunft / Leichtlich jedermann erkennen: / Denn geschlitzt sind ihre Augen, / Und sie sprechen pausenlos, / Gleich wie wenn sie Steine rollten / Irgendwo im Bergland in den / Höhlen im alban’schem Hoch­ land.“ — Fishta hat seine Schilderung aus dem Mund der Berg­ bewohner, die noch fest an diese Dinge glauben. Ganec „Hexenführer“, aus skr. gonec (->Shtrige).

479

Garabob?

Albaner

Garabob? -> Grabof?.

Geburtsfeen -> Fati; Miren; Ora. Geister —> Avullushe; Feqi; Harap-i; Hie; Hy-u; Jashteshme; Judi; Kolivilori; Kore; Kukuth; Lugat; Mittagsgeister; Peri; Shpirtni i keq; Shpirtnat.

Gjergj Elez Alija. Sagenheld, der gegen den —> Mohren kämpft. Über Varianten der Sage vgl. Fishta-Übersetzung von Lambertz, Anm.94.

Gog, Gogol, Sanagog. Riesen. Gog bezeichnet im Alb. einen plumpen, ungeschickten Menschen, ist auch Spitzname für die aromunisch sprechenden Wlachen Mittel- und Südalbaniens; ursprünglich laut­ malende Bezeichnung für den, der eine fremde Sprache spricht. An vielen Orten Albaniens gibt es Vorra Gogs „Gräber des Gog“, unseren Hühnengräbern entsprechend (Nopcsa, 22). Sanagog ist ein weibl., sehr häßliches Ungeheuer. Der erste Bestandteil des Namens ist slv. Herkunft und bezeichnet drachenartige Berg­ geister (Meyer, Wörterbuch, 378; Hahn, Reise durch das Gebiet des Drin und Wardar, 69; Pitre, 380, 383). Der Gogol ist eine Figur des sizilianisch-alb. Volksglaubens (Pitrö, 429). Pitre übersetzt seinen Namen mit Orco. Es gibt einen Vater Gogol und einen Sohn: Gogol i math und Gogol. Sie hausen auf einem fernen Schloß. Dort­ hin entführt der Gogolsohn als Wirbelwind die Gattin des Prinzen, der aber durch wunderbare Hilfe ins Gogolenschloß gelangt, eine Taube fängt, sie so fest und so lange drückt, bis zwei Eier aus ihrem Körper kommen. Eines der Eier wirft er dem alten Gogol im Zwei­ kampf an den Kopf, worauf dieser stirbt, während der junge Gogol krank wird. An dessen Kopf zerschlägt der Held das zweite Tauben­ ei; darauf stirbt auch der junge Gogol. —> Dif; Katallä.

Grabof?, grab oh?, garabob?. Zweiköpfige Schlange in der Malcija e Madhe, dem großen Bergland nördlich von Shkodra, wird manch­ mal wie ein Krokodil beschrieben: stehende Redewendung im Volle: me kja me lote grabofci „Krokodilstränen weinen“. Nachfahre der aill. Gottheit Grabovius (Krähe, PN, 55).

Grat —> Te tri grat. Grindkopf -> Qerozi.

Harap-i. „Der Mohr“, wie bei den anderen Balkanvölkern auch in Albanien Verkörperung des bösen Prinzips. Die Figur stammt aus dem Türk. (Kretschmer, IX). Im Norden lautet die Namensform aspiriert Haräp, im Süden Albaniens Aräp. Der H. besitzt kein

480

Albaner

Hyjrija e detit

Zeugungsglied, und seine Seele wohnt außerhalb seiner Person in £inima$in. Der Mohr hetzt die Frauen zu bösen Taten auf. Oft ist er aber auch ein dienstbarer und nutzbringender Geist. Während der Jüngling schläft, vertauscht er den diesem todbringenden Uriasbrief des Paschas mit einem andern, in dem die Paschafrau angewiesen wird, den Überbringer des Briefes schleunigst mit ihrer Tochter zu vermählen (Dozon, Contes 20). In der Mehrzahl begegnen die Harape (Treimer, Märchen aus Dürres). Auch weibl. Harape gibt es (Dozon, Contes 10), ebenso eine Mohrenkönigin und eine goldreiche Mohrenstadt. Harap Uzengi („Neger Steigbügel“) bei Pedersen (Märchen Nr. 4) ist in Wirklichkeit die „Schöne der Erde“ (—> Bukura e dheut). Wenn sie ihre schwarze Haut abzieht, sieht man ihre Schönheit. Der Xhinn Arap, ein „Schwarzelfe“, kommt immer des Nachts zur Schönen der Erde (Pedersen; Lambertz, Märchen, 44; 65f.).

Hen -> En. Hena. „Der Mond.“ -> Dielli; Lugat.

De I’ada, 71; Lambcrtz, Märchen, 77. Herr-i. „Zwerg“, —> Xhuxhimaxhuxh; Thopg.

Hexen

Dreqezit ; Mamadraga; Mgjillca; Rollca-plaka; Shtrige; Syqenesa.

Hie. Gespenstisches Wesen, eigentlich „Schatten“, eine mehr all­ gemeine Bezeichnung, aber im Tomorgebiet vorgestellt als alp­ artiges Gespenst, Alpdruck: Me plakosi nje hije „ein Alp hat mich gedrückt“. Sie ist eine Fee mit edelsteingeschmückter Goldhaube. Kann der von ihr Gedrückte die Haube berühren, so wird er der reichste und mächtigste Mann (Bei Vlora, 132). Eine andere Be­ zeichnung ist Hie e Ijige „böser Schatten“ (Hahn, Studien, 162). Schon der älteste uns bekannte alb. Schriftsteller, Gjon Buzuku (1555), erwähnt die H. als den Geist der toten Seelen (Qabej, Ms.33). Zur Etymologie >Hyu.

Himmclschöner (Bukuri i qiellit) —> Bukura e dheut.

Hyjrija e detit. „Die Meernixe“, der —> FloQka verwandt. Etym. aus türk. Hurija stammend, dem Namen der schönen Huris im Para­ diese. Das Märchen erzählt: Es war einmal ein König, der nur einen einzigen Sohn hatte. Als dieser erwachsen war, sagte der Vater: „Suche dir selbst eine Frau; schieß eine Kanone ab, und wo sie hintrifft, dort hol dir deine Frau.“ Der Sohn tat so. Die Kugel

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Hy-u. hyj-ni, hyjnesha

Albaner

schlug an der Meeresküste ein. Dort fand der Königssohn eine Schildkröte, die er mit nach Hause nahm. Eines Tages ertappte er sie dabei, wie sie sein Zimmer aufräumte; da verwandelte sie sich in eine schöne Frau und heiratete ihn. Der Vater, eifersüchtig und neidisch, gab dem Sohn drei unlösbar scheinende Aufgaben, die er mit Hilfe seiner Frau und deren Mutter Gjelle alle löste, bis schließ­ lich der wunderbare Schwager „Dreispannenhoch und Sieben­ spannenbreit“, der Bruder der Meeresnixe, auf des Königs Befehl vom Königssohn gerufen, den alten König erschlägt, worauf alle ihre Ruhe haben.

Lambertz, Geflügelte Schwester, 113; Albanien erzählt, 30.

Hy-u, hyj-ni, hyjnesha, von N. Jokl etym. zusammengestellt mit -> hie, zu sl. (montenegrinisch) sjen, der Bezeichnung für die Haus­ geister.

Jashteshme, auch perjashteshme, bestimmte Form jashteshmeja. Name elfenartiger Wesen in Südalbanien; der Name bedeutet nach griech. Vorbild „die außerhalb der christlichen Weltordnung Befindlichen“. Im Ngriech. heißen sie efcoTtxoit oder rä etjwTixä. Es sind Geister, die in Bergwäldern leben. Dem Menschen schaden sie nur, wenn sie gereizt werden. Sie entführen Knaben und Mädchen, die dann in den Bergen herumirren, des Nachts mit den Waldgeistern tanzen und an Auszehrung sterben. Die —> Miren oder Fatijen, die eben­ falls die Bezeichnung „Auswärtige“ führen, gehören nicht in diese Elfengruppe. -> Nuset c maljit.

Hahn, Märchen I, 39; Hahn, Studien, 161; Kristoforidhis, /lrftxöv s. v. jashteshme und xieya.

Jelim. „Riese“, in Sasaj bei Saranda in Südalbanien gefürchtet, eigentlich Elin „der Grieche“ (Qabej, Ms. 33).

Jenseitsvorstellungen. In den Jenseitsvorstellungen der Albaner hat sich viel heidnisches Gut bewahrt. Es gibt noch den Brauch, den Toten (wie in der Antike für den Fährmann Charon) eine Münze in den Mund oder in die Hand zu legen, sowie ihnen Früchte als Nahrung für den Weg ins Jenseits mitzugeben. Unverheirateten Toten steckt man (z. B. in Elbasan) einen Verlobungsring an, sind es Frauen oder Mädchen, so färbt man ihre Finger mit Henna, wie es bei Bräuten üblich ist. Mohammedanische und christl. Gräber werden mit Vögeln geschmückt: den „Totenvögeln“ oder „Seelen­ vögeln“, meistens durch den Kuckuck (qyqa) dargestellt. Der Unsterblichkeitsglaube ist heidnisch geprägt: Tote, die keine Ruhe finden können, kehren als Geist auf die Erde zurück (über solche 482

Albaner

Judi, Xhuli

Wiedergänger -» Dhampir; Ferlik-u, Hie; Kukuth; Lugat; Shpirtnat; Stein; Vurvolak). Die Seele eines Toten, vor allem des Haus­ herrn, bleibt auch als Schutzgeist im Hause ihrer Angehörigen, manchmal in der Gestalt eines Haustieres. Und die Geister der Ver­ storbenen künden den Lebenden den nahen Tod an; diese Auf­ gabe kann auch ein Vogel übernehmen.

Pedersen, Texte, 91; Jokl, 60ff.; Qabej, Sitten; Stadtmüller, 160.

Judi, Xhuli. Gehört in die Reihe der bösen Geister, die den Menschen schaden wollen. Das Volk in Tirana fürchtet den J. Ein Tiranas erzählte: „Ich war bei einem Freund zu Besuch. Kurz nach Mitter­ nacht nahm ich den Leuchter und machte mich auf den Heimweg. Ich mußte durch einen Hohlweg, der zu beiden Seiten eingezäunt war; über den Zaun streckte sich mir der Kopf eines wundersamen Wesens mit einem sehr schönen Gesicht entgegen. Ich ging weiter, aber auch jenes Wesen blieb immer neben mir. Sah ich es an, so tat es desgleichen. Mich befiel ein Zittern; denn ich sah, wie es den Kopf neigte und im Zaun ein Loch suchte. Wie ich an eine Stelle kam, wo eine Brücke war, fand es ein Loch und zwängte sich durch. Ich stellte den Leuchter auf die Erde, zog Revolver und Dolch und sagte: ,So wahr ich Gott schaun will, geh nicht dort heraus! Entweder erschieße ich dich oder zerreiße dir den Bauch mit dem Messer!“ Wie ich es anblicko, was sah ich? Seine Finger waren so groß! Sein Auge wie eine Schale! Sein Haar rabenschwarz! Ich lief davon, kam nach Hause, meine plalca fragte, was mir passiert sei, ich antwortete: ,Mir ist der Judi begegnet, vallahi!' Ich fiel neben dem Herde nieder und wußte von nichts mehr!“ (Lambertz, Märchen, 124). In Dukaxhin kennt man diesen Geist unter der Namensform Xhuli, bestimmte Form Xhulija. Dort hat das Volk vor ihm große Scheu, mehr als vor den gewaltigen Wesen der Vorzeit (Nopcsa, 22), Er entspricht in der Volksphantasie etwa unseren Hünen. Die alb. Geistlichkeit allerdings gebraucht das Wort synonym mit „He­ bräer“. Etym. hängt es mit it. giudeo zusammen (Meyer, Wörter­ buch, 82, xhudhi, xhulli, letzteres die Dialektform einiger nordalb. Mundarten, die dh durch ll wiedergeben). Meyer zitiert Rossis Wörterbuch für die Bedeutung „Jude“; Rossi bringt (Vocabolario, 488) giudii, -ia, giui, -ia und erklärt kryzues als „crocifissore, chi crocifigge, colui che crocifisse Cristo“; diese Bedeutung hat er aus einem katholischen Text, in dem die Juden als Kreuziger Christi erwähnt werden. Doch ist diese Wortbedeutung nur kirchlich. Der volkstümliche Ausdruck für „Jude“ ist fi/wi oder jahudi, beides türk. Wörter, in Nordalbanien auch Ewrei. Judi ist Namensform 483

Karkanxhöl, Karkanxholji, Karkan^ual

Albaner

für Judas, den Verräter. Daß man sich ihn, den Selbstmörder, als umgehenden Geist denkt, ist ganz glaubhaft. Es liegt auch ein Residuum der Vorstellung vom ewigen Juden vor. Unweit Ibalja in Nordalbanien gibt es einen verrufenen Ort Guri Xhulia „der Stein der Xhuli“, und in Nerlymza zünden die Leute aus Scheu vor dem Xhulija an gewissen Tagen eine Kerze an (Lambertz, Märchen, 26). Karkanxhöl, Karkanxholji, Karkan^ual (unbestimmte Form) _> Ku-

kuth. Katallä, bestimmte Form Katalld-ni, plur. katalldjt. Eine Abart der -» Difa, Synonyma sind Giganten, Viganen. Ihre Einäugigkeit läßt

sie als Nachfolger der Kyklopen (—> Kyklop, Polyphem) erscheinen. Der Name stammt von den berüchtigten Angehörigen der großen Katalanenkompanie, die 1302 von Kaiser Andronikos gegen die Türken zu Hilfe gerufen wurde. Die 6500 Mann kämpften zunächst unter ihrem Führer Roger de Flor im Sold des Kaisers mit Erfolg gegen die Türken in Kleinasien (1305—1307); dann zogen sie auf eigene Faust sengend und brennend durch Thrakien, Makedonien, Thessalien und Attika. In der Schlacht bei Skripu am Kephissos (1311) besiegten sie die Streitkräfte der fränkischen Herren. In der Folgezeit trieben sie, bis tief ins 15. Jahrh. hinein, an den Gestaden und auf den Inseln Griechenlands ihr Unwesen. Seit damals ist K. eine Schreckgestalt des Volksglaubens, ein menschenverzehrender Unhold (Hertzberg, Geschichte Griechenlands, II u. III, Index; Geltzers Abriß der byz. Geschichte, in Krumbachers Literatur­ geschichte, 1055; Stadtmüller, 216). In einem Dokument aus Ragusa vom 15. April 1390 begegnen Catellani als Seeräuber, die bei Valona gefangen genommen wurden (Thalloczy, Acta et diplomata II, 109): „De piratis a Comnena, domina Aulonae captis, prima pars est de mittendo ad dominam Avalone, super facto brighentini Catellanorum.“ Auch ins Ngriech. (katilo) und ins Türk, (katil „Henker“) ist das Wort als Bezeichnung für einen grausamen Wüterich eingedrungen. — Im heutigen Alb. sagt man, ein Held brülle wie der Katalläni, er sei so blitzschnell wie ein Katallä, er habe wie dieser blutumränderte Augen. Kleshedra -> Kulshedra.

Kolivilori. Ein bei den Albanern Athens in den zwölf Nächten des Winters umgehender Dämon, ein unzüchtiger und schmutziger

Geselle, der besonders den Weibern viel zu schaffen macht. Er liebt es, den Herd zu verunreinigen, und fürchtet sich vor dem Feuer (ngriech. KcoXoßeAövaiQ „Werwolf“). Schmidt, Volksleben; Cabej, Ms. 33.

484

Albaner

Kukuth

Kore. Böser weibl. Geist in Kelmendi (Qabej, Ms. 33; Hahn, Märchen, I, 160); frißt Kinder; wird z. B. in den Ortschaften SeleeundVukl am Karsamstag im Packelzug verbrannt.

Sokoli, X66.

Kshetez, Kshete -> Flo$ka.

Ku$edra —> Kulshedra. Kuckuck, alb. qyqa. Der Unglücksvogel (zog i zi) und der Trauervogel (—>Jenseitsvorstellungen). Sein Ruf gilt als Trauerruf. Kuku! Kuku! oder Qyqa! Qyqa! ist die Schmerzinterjektion der Trauerklage, qyqa ist Bezeichnung für eine trauernde Mutter oder Schwester. Fishta, Lahnta III, schreibt: „Hört, wer weiß mir das zu deuten ? / Warum klagt denn heut’ der Kuckuck ? / Warum klagt der Unheilsvogel ? / Warum klagt er mehr als jemals? / Nie noch klang sein klagend ,Kuku‘, / Wie es heut’ tönt in Vranina er weint ob einer Schwester, die heut’ einsam / Blieb am Herd, ein Kuckucksweib­ chen, / Der das Hausdach heut’ einstürzte. / Er beklagt des Avdi Schwester!“ Dann singt die Schwester ihrem erschlagenen Bruder die Totenklage (vajet), die mit den Worten schließt: „Bin ein gram­ voll Kuckucksweibchen, / Ich, des Avdi Schwester, weh!“ In der Volkssage klagt der K. um den verlorenen Bruder oder die verlorene Schwester: Einst lebte ein Geschwisterpaar; er hieß Gjokoi, sie Qyqa. Als er einer Blutrache zum Opfer fiel, suchte sie ihn und rief klagend seinen Namen Gjoks! Gjoks! Gütige -> Oren gaben dem Toten das Leben zurück und verwandelten ihn in den Gjon, qokth „das Käuzchen“, und die unglückliche suchende Schwester in einen Kuckuck; jetzt suchen die beiden einander in alle Ewigkeit, sich bei Namen rufend.

Lambertz, Volkspoesie, 20. Kukuth, bestimmte Form kukudhi. Etym. zu ngriech. xovxovSov „Kern“, xovxovdi „Beule, Pestbeule, Pest“ gehörend (Meyer, Wörterbuch, 210). Der K. vereint zwei Funktionen in sich. Er ist erstens ein Wiedergänger: Die arme Seele eines bösen Geizhalses muß nach dessen Tode umgehen und nachts immer in das Haus des Geizhalses zurückkehren. Das Haus eines Geizhalses galt daher als verrufen, und niemand wagte, darin zu nächtigen, denn der K. bringt jeden Bewohner des Hauses um. Nur der tapfere Junge, der keine Furcht kennt, nimmt es mit dem Gespenst auf, bezwingt es und wird von ihm, da es nun seine Grabesruhe findet, zum Erben eingesetzt (Lambertz, Märchen, 25). Aus der Tomorgegend wird berichtet, daß ein —>Lugat, den man nicht rechtzeitig verbrennt, 32

485

Kulshedra

Albaner

zum K. wird (Bei Vlora, 46). In einigen Gegenden denkt man sich den K. als sehr untersetzten, kurzbeinigen Mann mit einem Ziegen schwänz. Er gilt als unverwundbar und kann nur mit einer Rebenschbnge erwürgt werden. Da der K. Unheil bringt, sagt man von einem bösen Menschen, er sei ein wahrer K.

K. und Karkanxholji, (Karkanqoli, verwandt mit dem ngriech. xatäixdvraaQoi;) begegnen auch als Bezeichnungen für Zigeuner­ leichen, die im Januar, mit Ketten beladen, umgehen und deren Hauch tödlich ist (vgl. Schmidt, 144). Etym.: türk, kara-kondjolos „Werwolf“, in alle Balkansprachen gewandert, kommt als Gestalt auch bei den Albanern Kalabriens vor (f.'abej, Ms. 33); von kam „schwarz“ und koncolos „Blutaussauger, Werwolf“, Karakoncolos „Vampyr“. Nach anderer Version ist der Karkan Difs. Vor ihrem zwölften Lebensjahr ist die K. eine -> Bolla. Sie wächst in Berghöhlen auf, und zwar zu solcher Länge, daß sie sich nur mit Mühe umdrehen kann. Will sie sich aus ihrer Höhle herauszwängen, schürft sie sich die Haut ab und verliert viel Blut. Oft läßt sie den Menschen das Wasser ver­ siegen, und der Wassermangel hört nicht auf, bis man ihr Menschen zum Opfer darbringt, die sie lebendig verschlingt. Hier hat sich das Andromeda-Perseus-Motiv mit dem alb. K.-Glauben vermengt. Der Sphinx ähnlich sitzt die K. auf dem Kamm von Nenschati in Nordalbanien und orakelt den Umwohnern. Der K. sind nur die Drangue gewachsen. Einen Kampf der Drangue mit der K. schildert Fishta im 16. Gesang seines Epos: Sie kann weder durch Kanonen noch Gewehre fallen, ihr Rachen wird verglichen mit der Kanonenmündung, und riesig sind ihre Pranken; auch zwei häßliche Slawinnen werden mit Kulshedren verglichen.

Lambertz, Märchen, 10.

Lamia; Llcshi i Zi.

Kyklop, Polyphem. Das Märchen vom Kyklop Polyphem liegt in zwei alb. Fassungen vor, aus Shala in Nordalbanien (Nopcsa, Vor­ geschichte und Ethnologie Nordalbaniens, 226 ff.) und aus Piana dei Greci (heute P. degli Albanesi) in Sizilien (Comparetti, 308, Nr. 70 ,,i ciclopi“). Ich kenne eine alb. Version aus Shlaku am Drin, die sich mit der von Nopcsa berichteten deckt. In der nordalb. Fassung verirren sich drei Ordensgeistliche im Wald, in der siz.alb. Version einfach zwei Wanderer. Die drei Verirrten (Shala) finden eine Haselnuß, teilen sie in drei Teile und werden so vom Hungertod gerettet. Bei Comparetti fehlt dieses Motiv. In seiner Version bricht ein großes Gewitter aus, sie gehen einem Licht nach und kommen in eine Grotte voll Vieh, in der zwei Kyklopen hausen mit je zwei Augen vorn und hinten. In der Shala-Fassung kom­ men sie in die Wohnung des einäugigen Katalan (-> Katallä). In beiden Fällen werden sie freundlich aufgenommen, beide Male beschließt der Wirt — bzw. die Wirte — die Gäste sofort zu schlachten. In der Erzählung aus Shala wird gleich in der ersten Nacht ein Gast verzehrt, in Piana werden die Gäste zunächst zwei Tage reichlich gemästet. In der Shala-Version ist das Berauschungs­ motiv nur rudimentär erhalten, der Katalan fällt durstig in den Schlaf, und die übriggebliebenen zwei Gäste stechen ihm mit einer glühenden Eisenstange sein eines Auge aus. In Piana erhitzen die 32*

487

Lamia

Albaner

zwei Wanderer die in der Grotte umherliegenden Bratspieße, und zwar vier Stück, versehen sich mit Widderfellen, blenden die Riesen und entfliehen in lustigster Stimmung. Die Polyphemtexte sind Varianten des bei Bolte-Polivka (III, 375ff., Nr. 191a) genannten Typus „Der Räuber und seine Söhne“. Es fehlt das auf Finnland und die russ. Ostseeprovinzen beschränkte „Niemandmotiv“, ebenso das Schlußmotiv: der Riese sucht sich durch das Geschenk eines Zauberringes, Beiles oder Säbels derjenigen wieder zu be­ mächtigen, die ihn geblendet haben (C-Motiv bei Bolte-Polivka).

Lamia. Spezifisch griech. Dämon, begegnet nur in alb. Gegenden des griech. Kulturkreises, so in Valona und Kor^a. Die L. ist ein schlangenähnlicher Unhold, der im Bauch der Königstochter sitzt, in der Hochzeitsnacht aus dem Munde der Prinzessin herauskriecht und den Gatten tötet. Sie begegnet auch als Brunnen- oder Wasserkulshedra; sie frißt alljährlich die drei Quitten des Königsgartens, wird vom Grindkopf (-> Qerozi) verwundet, in ihre Höhle verfolgt, wo sie die Schönen der Erde (-> Bukura e dheut) gefangen hält, und wird dort getötet. Sie vereinigt in sich die Funktionen der —> Kuishedra mit den Funktionen der die geraubten Jungfrauen hütenden —> Mittagsgeister.

Lambertz, Märchen, 25

Laura, unbestimmte Form laure. Figur des alb. Volksglaubens, be­ sonders in Tirana, in Form eines kleinen Tieres vorgestellt, das im Wasser lebt, nachts an das Ufer eines Flusses oder den Rand eines Tümpels kommt, mit heiserer Stimme schreit und dann wieder im Wasser verschwindet. Fjalor i gjuhes Shqipe, 161; Qabcj, Ms. 33.

Ljabig -> Lugat. Ljubi, bestimmte Form Ljubia. Weibl. Dämon. Die L. steht mit ihren Funktionen zwischen der —>Kulshedra und den —> Lugaten. Sie bewacht (Dozon, Contes, 16) einen herrlichen Gemüsegarten. Der Prinz hat vom König den Auftrag, von dem wunderbaren Gemüse zu holen. Er gibt der L. ein süßes Gericht von Zucker und Honig zu essen und erwirbt sich so ihre Freundschaft. In Permeti (Hahn, Studien, 163) wird sie als geschwänztes Wesen gedacht, das besonders Fleisch kleiner Kinder liebt (wodurch sie sich der Kategorie der Hexen nähert). Andererseits figuriert sie (Hahn, Märchen, 98) als das Ungeheuer, das alle Wasser im Land ver­ siegen läßt und nur unter der Bedingung, daß ihr eine Jungfrau geopfert wird (Märchen vom Perseus- und Andromedatypus), das 488

Albaner

Lugat

Wasser wieder fließen lassen will. Hierin ist sie mit der —>Kulshedra oder dem neunköpfigen bisht e eger verwandt, das in Alba­ nien als der Jungfrauen fressende Drache begegnet. Ljuvgat -> Lugat.

Llarnja -> Lamia. Lleshi i Zi, „der schwarze LIesh“. Sagenheld, Bekämpfer der -> Kulshedra. Der Dichter Fishta (Lahuta, XXVI) empfiehlt seiner -^Zäna einen Frühlingsausflug nach Vel: „Wenn nach Vel ihr hin­ kommt, werdet / Ihr auf eine Höhle treffen, / Aus dem Eingang fließt ein Born, / Darfst nicht von dem Wasser trinken! / Denn in jener Höhle hat einst / Der berühmte schwarze LIesh, / Lleshi i Zi, vom Haus Gjomarkaj / Kapitän — sein Schnurrbart reichte / Von dem einen Ohr zum andern —, / Der hat einst in einer Sturm­ nacht, / Als es donnerte und blitzte, / ... angegriffen / Eine grausige Kulshedra, / Hat den Hals ihr eingezwickt / In ’ne Zange lang und schwer; / Unterm Kragen der Kulshedra / Preßt er arg die schwere Zange, / Daß sie’s nicht vermocht’, lebendig / Der Verklammrung zu entkommen. / Und er wälzte sie herunter / In der Höhle tiefes Wasser ...“

-> Shtrigc. Lugat, bestimmte Form lugati, plur. lüget, lugeten, lugeter, auch luvgat, synonym mit —> va(m)pir, —> vurvollalc und ljuvgät. Etym. (Meyer, Wörterbuch, 250) verwandt mit ljuvgi „Orkan“ und Ljubi „weib­ licher Luftgeist“ (^-ljubi) oder auch (Dozon) mit sl. ljubiti, lat. lube.0-, Hahn denkt an alb. lup „ich verschlinge“; diese Etym. würde die L. als blutsaugende und Eingeweide fressende Vampire zu den ngriech. xaTa/arwdig (Schmidt, 162ff.), „den Verschlingern“, stellen. Mit dem L. identisch ist der Ijabif, ebenfalls sl. Herkunft. Der Glaube an den L. ist über ganz Albanien verbreitet. Der L. ist ein Wiedergänger. Im Tomoricagebiet glaubt man, daß böse Menschen jede Nacht außer samstags ihre Gräber verlassen, die Häuser ihrer Verwandten und Bekannten heimsuchen und Unfug treiben. Man stellt sie sich hier in Gestalt eines weichen, mit Öl gefüllten Ziegenschlauches vor (Bei Vlora, 46). Wenn man den L. jedoch sieht und nach ihm greifen will, verschwindet er augen­ blicklich wie ein körperloses Schemen. Um dem Spuk ein Ende zu machen, vereinigen sich die Betroffenen zu gemeinsamem Vor­ gehen. Sie erwirken vom Mufti eine Fetfa (geistliche Erlaubnis), das Grab zu öffnen. Zunächst läßt man einen weißen Hengst über das Grab springen; weigert er sich, so weiß man, daß es sich in der Tat

489

Lumezt

Albaner

um das Grab des L. handelt. Man füllt es mit Reisig, gießt Petro­ leum darüber und zündet es an. Dadurch wird der L. umgebracht. Verbrennt man ihn nicht rechtzeitig, so wird er zum -> kukuth und nimmt als solcher Menschengestalt an. In der Ri?a dagegen stellt man sich den L. als Gespenst mit un­ geheuer langen Nägeln vor. Nach dortigem Glauben sind es die Leichen von Türken, die, in ihre Sterbetücher gehüllt, umgehen, Menschen überfallen und erwürgen (Hahn, Studien, 163). Nach dem Glauben der Zadrima (im SO von Shkodra) gibt es sowohl christl. wie türk. L., doch sind die türk, zahlreicher. Niemand geht daher in der Nacht zu den türk. Gräbern, denn es kann einem leicht widerfahren, daß man von den aus den Gräbern auferstehenden türk. L. durch Steinwürfe getötet wird. Besonders in kalten Winter­ nächten kommen sie aus ihren Gräbern, riesengroß, weiß gekleidet und von fürchterlichem Wesen. Begegnet der L. Menschen, beginnt er Zwiegespräche, die er in eine Prügelei ausarten läßt, bei der der Mensch immer den kürzeren zieht. Der L. ist nämlich unverwund­ bar. Nur mit dem Wolf kann er sich nicht messen, der beißt ihm ein Bein ab; darauf zieht sich der L. in sein Grab zurück und be­ schließt, von jetzt ruhig zu bleiben. Christi, und türk. Ls. sind ein­ ander spinnefeind und verprügeln sich, wo immer sie einander be­ gegnen. Voll Bosheit zertrümmern sie Fenster menschlicher Be­ hausungen. Der L. ist auch buhlerisch und verführt menschliche Frauen (Nopcsa, 22); der Sohn eines L. hat die Macht, seinen Vater zu töten. In Dibra ist der L. ein Alpwesen. In Selita südl. der Mirdita gab es einen L., der als Lokalorakel galt und gegen gute Fütterung wie eine Sphinx Rat erteilte.

Marash Uci, der alte alb. Senne, erzählte der ihm lauschenden Jugend „Wenn der Vollmond sich verfinstert, — Dran ist immer der Lugat schuld.“ Der L. schluckt auch einen Teil des Mondes (Fishta, Lahuta XII). Mit dem Geschrei der Lugeten wird die laute Kommandostimme des Feldherrn Mark Milani (Fishta, Lahuta XXII) verglichen:

„Und mit lauter Feldherrnstimme, Laut, wie die Lugeten schreien, Diese grausen Nachtgespenster, Treibt das Heer er gegen Nokshiq.“

Lumezt, eigentlich Lumet e nates „Die Seligen der Nacht“. Name der —> Miren oder —> Fatijen in den italoalb. Kolonien.

Makthi -> Ankthi.

490

Albaner

Miren

Mamadraga, auch memedregje. Hexengestalt, unter südit. Einfluß; wörtlich bedeutet ihr Name „Drachenmutter“. In Piana degli Albanesi in Sizilien, der alten alb. Kolonie, befiehlt sie die Gehor­ samsprobe, hat die Funktion des Ritters Blaubart und des Dämons Ohime der zum Blaubarttypus gehörenden Märchen. Ein Mann will in seinem Garten einen großen Krautkopf und einen Pilz ab­ schneiden; der Pilz aber ist das Ohr der M. Diese will ihn ver­ schlingen, begnadigt ihn jedoch unter der Bedingung, daß er ihr seine Tochter ausliefert. Als die erste Tochter zur M. kommt, er­ hält sie den Befehl, während deren Abwesenheit einen Holzlöffel zu essen. Das Mädchen ist ratlos und wirft den Löffel auf den Mist. Der Löffel erstattet der heimkehrenden M. Bericht, und die M. ver­ schlingt das Mädchen. Die zweite Tochter ist schlauer; sie röstet den Holzlöffel, zerstößt ihn, löst den Staub in Wasser auf und trinkt es aus. Als die M. heimkehrt, meldet sich der Löffel aus dem Bauch des Mädchens, das nun zur Herrin über das Haus gesetzt wird. Eines Tages erschlägt das Mädchen die M., während es sie laust, worauf ein schöner Prinz aus der M. springt usw. Eine andere M. hat in ihrer Brust eine narenze (Pomeranze), deren Saft den verwundeten Prinzen heilt.

Pitre, 10.

Marku -> Deli Marku. Mauthi. In Elbasan verehrte Fee. Sie ist in Gold gekleidet und trägt auf dem Haupt einen edelsteinbesetzten Fes. Wer ihr den Fes rauben kann, der ist sein Leben lang glücklich (Hahn, Studien,162). Stammt etym. aus agriech. ’A/iaMdeia (Thumb, 16). Auch mytho­ logisch ist die Fee M. ein agriech. Rest im alb. Volksglauben: sie ist die albanisierte Nymphe Amaltheia, die Zeusernährerin und Be­ sitzerin des segenspendenden Füllhorns, die besonders in dem dem alb. Sprachgebiet nahen Dodona verehrt wurde.

Mee(re)smohr —> Baloz; Harapi; Mohr.

Meeresschöne

Bukura e dhout; Flo§ka; Hyrija e detit.

Memedregje -> Mamadraga. Mgjillca. Hexen in Shala (nach dem Dichter Bernardin Palaj; E.Qabej, Ms. 33).

Miren. Ein anderer Name der Fatijen (-> Fati) im tosk. Gebiet. Ent­ sprechen den griech. Moiren (Parzen), ein Name, der um so eher ins Alb. übernommen werden konnte, als mire im Alb. „gut“ be­ deutet. Sie heißen auch Zonja te jashteme „die auswärtigen Damen“ 491

Mittagsgeister

Albaner

und te trigrat „die drei Frauen“. Die dreiM. bestimmen den Lebens­ weg Neugeborener, über die sie ihre Segenswünsche aussprechen. Oft hebt jeweils der Spruch der folgenden den der vorhergehenden auf, so daß in Erfüllung gehen muß, was die Jüngste sagt, und zwar allen Hemmnissen zum Trotz, die wie in der agriech. Tragödie die Erfüllung des Schicksalsspruches befördern. Die M. werden auch auf Schmetterlingen reitend gedacht und treten in die Traum­ bilder Schlafender ein, erfahren dabei die Sorgen der Schlafenden und helfen beim Vollbringen unmöglich scheinender Aufgaben. Mira ist als „die Gute“ bei Fishta (Lahuta XXVI) auch der Name der -> Zäna und der —> Ora Albaniens (Lahuta VIII). Die Fatmiren sind mit den Fatijen und M. identisch, ihr Name ist aus den beiden Einzelnamen zusammengesetzt.

Sotirios, 93; Hahn, Studien, 161/162; Lambertz, Märchen, 38; Kristoforidhis, Ae^ixAv, 457. -> Lumezt.

Mittagsgeister. Zwergenhafte Gestalten, deren versehentliche Be­ rührung tödlich sein kann (Sonnenstich!). Die M. hüten auch ge­ raubte Jungfrauen.

->Dif; Gogol; Lamia; Shtojzavalet; Xhind-i; Xhuxhimaxhuxh. Mohr. Der Alb. Domodokos Kafcli singt (Fishta, Lahuta V) dem Oso Kuka und seinen Helden zur Laute das Lied (typische Rhapsodie, Kurzepos): „War ein Mohr ans Land gestiegen, / War ein Held, ein Trauerbringer, / Drückte arg mit schwerer Steuer, / Je drei Brote, Weizenbrote, / Habe jedes Haus zu liefern, / Sieben Maße Wein alltäglich / Sei’n zu stell’n zu seinem Trünke, / Je ein Stier als Fleisch zum Kochen, / Und für jedes Mittagessen, / Je ein Wid­ der, ihn zu braten, / Je ein Bock zum Abendbrote, / Ihn zu schlachten, ihn zu häuten, / Hundert Mann hat er getötet, / Hundert Hürden ganz geleeret, / Hundert Häuser hat verbrannt er. / Als die Reih’ kam an Albanien, / Sandte er ein brüskes Schreiben / Dort an Gjergj Elez Alija: / ,Hör’ Du, Gjergj Elez Alija! / Vierzehn Tage nach dem Zeitpunkt, / An dem du empfingst dies Schreiben, / Sollst du mir genübertreten / Zu dem Zweikampf auf der Wal­ statt! / Sonst verseng’ ich deine Kullen, / Sonst zerstampf’ ich deine Almen, / Melk’ dir deine Schafe, Ziegen, / Nehm’ dein Weib mit mir als Dienstmagd! / Dieser Brief ward überreichet / In des Gjergj Elez Alija / Hände; Gjergj darob erboset. . . / Und er nahm zur Hand die Keule, / Stieg auf seines Rosses Rücken, / Als der Tag am Morgen graute, / Kam er vor des Mohren Pforte: / ,Guten Morgen! schwarzer Mohr du / Hast nicht Zeit heut’ lang zu sitzen, / Sondern auf! Komm auf die Walstatt!’ / Als der Meermohr an der

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Albaner

Xuset e maljit

Pforte / Gjergj Elez Alija schaute, / Hüllt er’s Roß in Rinderhäute. / Davor scheute Gjergjis Schlachtroß. / Doch zu seinem Roß sprach Gjergji: / .Furcht dich nicht, mein liebes Rößlein, / Das sind doch nur Rinderhäute!“ / Anstürmt jetzt der schwarze Meermohr, / Zielt nach Gjergj mit seiner Keule. / Aber Gjergj sein Haupt schnell duckte, / Dann fuhr auf den Meeresmohren / Flugs los Gjergj Elez Alija, / Zielt nach ihm mit seiner Keule / Traf ihn ins Genick, wo beide / Schultern aneinanderstoßen, / Schleudert ihn drei Klafter weit weg. / Tot der Mohr lag auf der Erde. / Und der Heldenjüng­ ling schnitt ihm ab sein schwarzes Haupt. / Wahrlich! War ein Ungeheuer, / Was der Herrgott da geschaffen, / Drei Handspannen breit sein Mund war, / Ohren hatt’ er, lang und groß wie / Eines Manns schafwoll’ne Joppe; / In ein einz’ges Ohr des Mohren / konnten hüllen sich zwei Männer.“ —> Harapi ; Baloz.

Nân’ e vôtres „Herdmutter“. Hausdämon in Gestalteines alten Weibes, verehrt in Tirana. Çabej, Ms. 34.

Vitore.

Me u ndeshë „begegnen“ (Çabej, Ms. 32), d. h. unter dem Einfluß von

Geistern leiden. Im ngriech. Volksglauben der Pamaßgegend gleichbedeutend ävrrj/ia „Begegnung“. Çabej, Ms. 32. -> U shkal.

Nixen —> Floçka; Hyrija e detit.

Njk-u. Der „Wolf“. Hahn (Studien, 165) erzählt die Wolfsmythe, zu der das Wort gehört Haje, uk, e pljase, shë Mhill! „Friß ihn, Wolf, und mach’ ihn bersten, hl. Michael!“ Als Gott das erste Menschenpaar schuf, war der Teufel zugegen und meinte, daß dies kein Kunststück sei. Gott gab ihm die Erlaubnis, seine Kunst zu probieren. Der Teufel knetete aus Teig eine Wolfsgestalt, wollte ihr

auch mit seinem Atem Leben einblasen, aber vergebens. Da schlug Gott mit einer Gerte dem Wolfsmodell in die Seite, darum ist der Wolf in der Mitte wie eingeknickt. Gott sprach: „Geschöpf, friß Deinen Schöpfer!“ Da wurde der Wolf von Leben erfüllt und ver­ schlang den Teufel. Die Sage ist rudimentär und schlecht erzählt. Nuse e ujërave -> Floçka. Nuset e maljit (auch malit). „Die Bergbräute.“ Berg- und Waldgenien im tosk. Albanien. Nuset, sing, nuse, bestimmte Form nusja, be­

zeichnet „die Braut“ oder „junge Frau“. Das alb. nuse ist mit dem 493

Nymphen

Albaner

griech. vviifpr/ synonym, und die n. e m. sind identisch mit den griech. Bergnymphen oder Oreaden, den ngriech. Nsqcliôsç,

Kov/jhaui, KoQdaia rov ßovvov. Lambertz, Märchen, 30; Hahn, Studien, 162, 161; Kristoforidhis, Asfjxov, 281; Schmidt, 101; Çabej, Ms. 34. Nymphen -> Mauthi ; Nuset ; Ora. Oëthë ÇOrpdri). Dieser Artikel ist ein negativer, d. h. nur aufgenom­ men, damit man nicht vermute, er sei übersehen worden. In Wirk­ lichkeit ist die alte balkan-ill. Göttin Orpthj ein Gebilde gelehrter Spekulation. Wir besitzen keine alte balkan-ill. Inschrift. Die These, die auch namhafte deutsche Gelehrte vertreten hatten, die Ringinschriften von Komani seien aill., ist falsch. In der Nekropole Kalaja Dalmaces bei Komani in Puka in Nordalbanien fand sich auf dem Ringkasten eines Bronzeblechrings die dreizeilige Aufschrift ara/ orpfh) l Kjëq (oder loeß); sie wurde übersetzt: der erhabenen Göttin ’Orp&rj heilig. Auch fanden sich drei weitere Ringe mit der­ selben Aufschrift. Die alb. Gelehrten Hasan Ceka und Eqrem Çabej haben evident erwiesen, daß diese Inschriften Segensformeln sind, durch des Griech. unkundige alb. Arbeiter von Münzlegenden byzan­ tinischer Zeit übernommen (nachgezeichnet), aus der 2.Hälfte des 11. Jahrh.s stammend, somit christl. und griech. Zu lesen ist ’Avaßorp&si ’Irjcrov Kvqis „Hilf uns, Herr Jesus!“ Damit fällt die ver­ meinte ill. Göttin ’Orpthj und das Vorhandensein einer alten balkanill. Inschrift.

J. Sabatier, Description générale des monnaies byzantines frappées sous les empereurs d’Orient (Paris 1862), II, 166 passim, 177; L. Ugolini, Albania antica I, Rom/Mailand 1927, 50, 57ff., 62ff., Tafel XXIV oben; Krähe, IF 46 (1928), 1831F. ; ders., Sprache der Illyrer; Lambertz, SOF 18 (1959), 402: ders., SOF 20 (1961), 353f.; H. Ceka; Çabej, Ringinschriften.

Ora. Weibl. Genius, vor allem in Nordalbanien, lenkt das Geschick des Menschen. Entspricht den Fatijen (~>Fat-i; Fati) oder —>Miren im Süden. Jeder Mensch hat seine eigene O. Sie ist ihm von Geburt an als Schutzgeist beigegeben. Der tapfere Mensch hat eine weiße, der feige eine schwarze O., faqebardhe „weißgesichtig“ die eine, faqezezë „schwarzgesichtig“ die andere. Eine häufige Verwünschung lautet: paç faqen e zez „mögest du ein schwarzes Gesicht haben“, d. h., „möge es dir schlecht gehen!“; der entsprechende Segens­ wunsch lautet paç faqen e bardhe oder daljç faqebardh „mögest du glücklich sein!“. Von diesen mit dem weißen und schwarzen Ge­ sicht der 0. zusammenhängenden Redensarten stammt die Be-

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Albaner

Ora

deutung von i zi „der Schwarze“, d. h. „der Unglückliche“ (fern, e zeza). Die O. des Trägen nimmt auch die Gestalt einer wider­ wärtigen schwarzen Blase an, die O. des Tätigen die Gestalt eines feurigen Pferdes. Als der Held Muji im nordalb. Kurzepos schwer verwundet daliegt, sitzen zwei Oren zu seinen Häupten und pflegen ihn; sie lassen Schlangen seine Wunden bedecken und haben wilde Tiere zu Füßen des Lagers aufgestellt, damit seine Seele nicht ins Jenseits entweichen kann. Als Halili im Kampf von Feinden um­ ringt wird, tritt Halilis O. zu Muji und treibt ihn an, dem Bruder zu helfen. Zur Bestimmung des Schicksals der Neugeborenen versammeln sich die 0. des Nachts in großer Zahl und verteilen ihre Gaben. Eine Oberora von großer Schönheit, mit Augen wie Edelsteinen, führt auf der Höhe eines Felsens den Vorsitz der aus dreihundert 0. be­ stehenden Versammlung am nächtlichen Feuer. Je nach dem Grad des Glücks, das sie dem neugeborenen Kind zuerkennt, ändert sich ihr Antlitz. Grollen die 0. einem Menschen, so durchschneiden sie seinen Glücks- oder Lebensfaden, er heißt dann or-prem „der von den O. Geschnittene“. In Mittelalbanien glaubt man, daß die 0. beständig im Lande herumgehen, auf die Segnungen und Ver­ wünschungen der Menschen achten und sie sofort erfüllen. Daher schlossen Bettler in Mittelalbanien ihr Bettellied und ihre Dank­ sagung mit den Worten: Te shkojt or’ e te qoft! „Möge die 0. an dir vorübergehen und dir Glück zuteil werden!“ Oder: Shkojt ora e ndegjofi! „Möge die O. vorübergehen und es hören!“ (vgl. Hahn, Studien, 162). Eine fluchabwehrende Formel in Tirana lautet: Mos! se shkon ora e ndegjon! „Sprich nicht so, denn die 0. geht vorbei und hört deinen Fluch!“ Lobt man in Tirana jemanden, weil er eine Aufgabe schnell erfüllt hat, so antwortet er bescheiden: E prune Oret! „Die 0. haben es so gefügt!“ Se zen Ora „Die O. hält es nicht auf“ sagt man in Tirana von Dingen, die ihrem Ende zuneigen, oder Moste zente Ora „Möge die 0. dich nicht aufhalten!“ von Menschen, denen man einen frühen Tod wünscht (vgl. Kristoforidhis, As^ixov, 288). Vat Losha aus Thethi im Shalatal erzählte (vgl. Nopcsa, Nr. 19): Er verunglückte auf einer Gemsenjagd. Als er aus seiner Ohnmacht erwachte, sah er sich von einem Kreis schöner Frauen umgeben. Auf die Frage, wer sie seien, gaben sie sich ihm als O. zu erkennen, und als er im Schmerz über seine Fuß­ wunde aufstöhnte, stöhnte wie ein Echo auch seine 0. In dem Epos von Fishta (III), sagt Oso Kuka zu den zwei Kämpfern: „Offenbar war’s nicht Bestimmung, / Nicht geschrieben von den Oren, / Daß der eine von euch beiden / Sollt’ den andern tot hier lassen ... /“ Auch jedes Land hat seine 0.: „Wach ist stets die gute Ora, / Die

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Orakel

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den Stamm derHoti schirmet“ (Fishta, XII), „denn sie schläft und schlummert niemals, / Sie, die Ora von Albanien!“ (Fishta, XXV). Montenegros Klippen-O. (Fishta, XXV) wird abstoßend beschrie­ ben, während Albaniens O. blauäugig und schön sind. Die Namen von 43 Oren schöpft Fishta (XXIV) aus dem Volksglauben und aus dichterischer Phantasie. Das ganze Visitorgebirge im Norden Albaniens ist belebt von 0. In diesem von Fishta verarbeiteten Volksglauben tritt reinster Animismus zutage. Die O., die auf den Ruf der Oberzäna herbeieilen, um die tote Tringa zu betrauern, heißen: Jere, Lere, Tere, Gere, Culine, Daline, Tile, Gile, Tale, Gale, Done, Berdone, Beke, C'eke, Cerrleke, Syne, Lore, Loshe, Bjeshke, Bore, Laie, Lice, Like, Dike, Care, Nare, Dare, Fatale, Naze, Raze, —> Dardhamoskadele, Ballehäna, Shtatzaräna, Shtrumore, Vathnore, Mine, Mile, Meie, Groshe, Thrake, Dake, Vace, Grace. Die Namen sind der feinen Natur dieser Wald- und Berg­ elfen angepaßt. Einige sind ohne weiteres durchsichtig, so Bjeshke „Alm“, Bore „Schnee“, Dardhamoskadele „Birne mit Muskatduft“, Ballehäna „Mit der Stirn wie der Sichelmond“, Shtatzaräna „Schlank wie ein Schilfrohr“; Thrake, Dake weisen auf die alb. Urzeit, die thrak.-dakischen Ahnen; Lere „Kar“, Tere „Almboden“, Gere „Eichhörnchen“, Culine „Nymphe des Flötenspiels“, Daline (aus Dlline) „Wacholderstaude“, Tale „Hochland“, Gale „Göttin der schwarzen Schafe“, Ceke „Bergbach“, Cerrleke „Quellwasser“, Loshe „Viehfutter“, Lore „Häher“, Dike „Sehnsucht“, Fatale „Schicksal“, Naze „Schwarze Ziege“, Raze „Bergfuß“, Vathnore „Viehhürde“, Meie „Buchweizen“, Groshe „Fisole“, Grace „Zarte Spitze“. In Lahuta XVI bewirten die 0. die —>Drangues nach deren bestandenem Kampf mit der —> Kulshedra und singen ihnen zur Freude das Lied von Kira Frosini; dann fliegen sie wie Stäubchen und Lichtpünktchen zu ihren Heimstätten. Qabej, Ms. 33.

Orakel —> Kulshedra; Lugat.

Pelhure. Wörtl. „Tuch, Segel“, in Tirana weibl. Gestalt des Volks­ glaubens, vorgestellt als hohe Weißpappel, die nachts den Wande­ rern den Weg versperrt. Sie ist gegen Kugeln gefeit.

Fjalor i gjuhes Shqipe; Qabej, Ms. 34.

Perendi, auch Perendi, Perenni, geg., urspr. fern. Abstraktum „Him­ mel“, dann „Gott“. P. hat nichts mit lat. imperare „herrschen“, imperantem „der Herrschende“ zu tun, sondern gehört zu der Sippe der idg. Donnergottnamen: ai. Parjanyas, lit. Perkunas, galt Cer496

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Prenne

cunnos, abug. Perurcb, griech. Kegawos „Blitz“, dazu lat. quercus „Eiche“, silva Hercynia, hd. Föhre, mdal. Ortsname Forchtenstein, agerm. Fjörgyn. Der aill. Gottesname Perendi ist von der christl. Mission und Kirche in die Liturgie übernommen worden und heute die im Gebet usw. übliche Bezeichnung für den monotheistischen Gott der Kirche. Die Liebesgöttin Prende (-> Prenne) ist das weibl. Seitenstück zum aill. Donnergott Perendi (Parallele: Frigg, die Gattin Thors). H. Güntert, Über Reimwortbildungen im Arischen und Agriech., Heidel­ berg 1914, 220ff.; Loewenthal, ANF, 99ff.; Lambertz, SOP 14, 508ff. Germ. Fjörgyn. -> Kelt. Cercunnos. -> Asl. Perun. -> Balt. Perkons; Perkünas.

Peri, plur. perit, Berggeister. Der Name stammt aus dem Türk., be­ zeichnet dort „Fee, weibl. Genius, Frau von wunderbarer Schön­ heit“. Man denkt sich die P. von der Größe zwölfjähriger Kinder, mit duftigen weißen Kleidern angetan (Hahn, Studien, 161). In Liebesliedern heißt es oft: Je mä bukur nga perite! „Du bist schöner als die Peris!“ Die P. können aber auch bösartig werden und machen im Verein mit den —> Zänas und -> Xhins Menschen, die mit dem Brot nicht sorgsam umgehen und leichtfertig Brotkrumen verstreuen, bucklig und krumm. Darum droht man Kindern, wenn sie mit dem Brot unachtsam sind, mit der Strafe der P. Me bä garravag und me shitue sind die stehenden Ausdrücke für diese Strafen: Garravaq oder Garavagj (kruspull, kruspulluar, kuspull, galamsh) bezeichnet den, der von Muskelkrampf, Lähmung, Schlag­ anfall befallen ist (auch paralizue, äsht paralytik); shitue ist gleich­ bedeutend mit me bä garravaq, me u shupljak, me u nderkreh, me u ndesh und bezeichnet das böswillige Versehren oder Versehrtwerden.

Perjashteshme —> Jasbteshme.

Polyphem -> Kyklop. Prenne, auch Shna Prenne, tosk. (südalb.) Prende, auch Zoja Prenne „Frau Prenne“, und im Volksmunde Zoja e bukuris „Herrin der Schönheit“ genannt, ist heute eine katholisch-kirchliche Heilige. Sie hat ihren kirchlichen Fest- und Kalendertag im katholischen Nordalbanien am „Annatag“, d. h. am 26. Juli. Darum heißt es bei Fishta (Lahuta, XXV) „Ganz hoch oben . . . dorten, wo noch keimt die Fichte / Auf dem urgewachs’nen Felsen . . . / Nicht ’mal an der heil’gen Prenne / Festestag im Monat Juli / Schmilzt der Schnee in jenen Höhen.“

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Qerozi

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Die Normalform des Namens ist Prende, assimiliert nach nordalb. Sprachbrauch Prenne, der Name des Freitags e prendeja, e prenneja, e prennja ist sekundär und bedeutet „Tag der P.“, „dies Veneris“. Das tosk. (südalb.) e premteja ist Reimwortbildung zu e kremteja „der Feiertag“, umgebildet im Mund der Mohammedaner, denen der Freitag der Feiertag ist. P. ist von Haus aus eine weibl. Kurzform eines ill. Götternamens, der in der (urspr. fern.) Abstrakt­ bildung perendi, perendi „Himmel“, -> Perendi, im Geg. (Nordalb.) Perenni „Gott“ enthalten ist. Nach P. heißt eine Reihe von Orten in allen Teilen Albaniens Shna Prenne oder Prende, auch Premte. In Nordalbanien ist Prenne ein beliebter Frauenname. Sie wird als Herrin der Schönheit von den Frauen verehrt, und zwar von allen, nicht nur von denen, die Prenne heißen. An ihrem Tag schmücken und schminken sich die Frauen, jede holt einen Mörser hervor und stellt ihn mit einem Stößel darin auf. Diese Momente weisen auf eine erotische Seite im Wesen der hl. P. Daher ist ihr der auch bei anderen Völkern der Liebesgöttin geweihte Freitag heilig. Der Zoja Prenne ist der Regenbogen heilig, er heißt daher brezi oder shoka i(e) Zois Prenn „der Gürtel der Frau P.“ Man erinnert sich an den Anmutsgürtel der Aphrodite. Wem es gelingt, über den Regenbogen zu springen, der verändert sein Geschlecht. Sicher sind also im Wesen der hl. P. Reste einer alten Liebesgöttin erhalten. Ursp. ist Shna P. eine alte ill., vorchristl. Göttin, die — wie öfters — von der christl. Mission und Kirche aus dem alten Volksglauben in den ehristl.-kirchlichen Heiligenkalender übernommen wurde. Eine alt-traditionelle Re­ miniszenz an Wesensverwandtschaft der hl. P. mit der vorchristl. Liebesgöttin liegt vor, wenn die katholische Kirche die Shna P. zwar mit der hl. Anna identifiziert, aber ihren Namen mit Vene­ randa übersetzt. Zu den Gottesnamen bzw. dem Frauennamen P. sind maskuline Namen entstanden, so Prendí oder Prenni, dazu ein Deminutiv mit -¿-Suffix Prenk, best. Prenkv, oder Prék, Préku, mit -Z-Suffix Prél, Préla, außerdem Erweiterungen mit den Suffixen -ash und -ush, so Prelashi, Prénashi, Prenushi, Prennushi, Prendushi, mit -ot Prelot.

-> Zoizi.

Qerozi, qerozi, qirosi, girosi u. a. (aus lat. caries, cariosus), der Grind­ kopf, entspricht dem amivÓQ (der „Bartlose“) des ngriech. Märchens. Der Grindkopf ist der Bösewicht und Betrüger der alb. Sagen, der „Gezeichnete“. Durch seine Schlauheit besiegt er die Teufel, Difs, -> Kulshedras. Lambertz, Märchen, 50ff. > Bukura e dheut; Lamina; Xhind-i. 498

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Shpirti i keq

Rollca-plaka. Böse Hexen, die alles mögliche anstellen; auch alte Weiber. In Nordalbanien bekannt. Überliefert bei Bernardin Palaj; Çabej, Ms. 34. Rrshaj -> Bolla.

Sanagog -> Gog. Schicksalsgöttinnen ->Fat-i; Fatí; Miren; Ora; Shtojzavalet. Schlange —> Bolla; Grabohç; Kulshedra; Lamia; Shpirti i keq; Shprihë; Vitore.

Schulterknochen. Alb. Weissagemittel. Der S. des Hammels heißt shpatulle, shpatlla. Die Spitze des S.s ist die maja, die Seitenstücke heißen penda, aus ihnen weissagt der alb. Eingeweideschauer und -deuter. Oso Kuka, der Held vom Pulverturm in Vranina (Fishta, LahutaV), fragt seinen Seher: „,Hier, sieh’ an den Schulterknochen,/ Soko Tona, und erklär’ uns, / Ob er gibt ein deutend Zeichen, / Denn auf meine Seele wirkte / In der Nacht ein schweres Traumbild1! / Aber weh! Der Schulterknochen / Deutet leider schlimme Zukunft / An des Schulterknochens Spitze, / Stand das Zeichen, das ver­ kündet, / Daß ein Krieg sehr nah’ bevorsteh’. / Aber auf den Seiten­ stücken / Sah man Zeichen, die auf Gräber, / Die auf manche Gräber wiesen, / Und auf Rauch und Blut in Höfen. / Soko auf die Seite tretend, / Ward ob dieses Anblicks düster, / Als er sich den Schulterknochen / Ohn’ ein Wort bei Licht beschaute. / Schließlich hub er an zu reden: / ,Kann sein, daß gar nichts bedeutet, / Was da zeigt der Schulterknochen. / Andernfalls hat’s sehr den An­ schein, / Als ob Krieg wir haben würden. / Viele Menschen werden sterben, / Viele Gräber muß ich schauen1.“ Shen Koli. Hl. Nikolaus,

Ferliku (Lambertz, Märchen, 23).

Shkal -> U shkal. Shligen —> Kulshedra.

Shna Prenne, Prende, Premte —> Prenne.

Shpatulle, shpatlla —> Schulterknochen.

S(h)piragri -> Tomor(r).

Shpiraku -> Tomor(r). Shpirti i keq. Der „böse Geist“ schlechthin, kommt im Volksglauben neben dem

Teufel vor, z. B. in Braka bei Tirana. Er ist lang von

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Shpirtnat

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Gestalt, in Leintücher gekleidet (-> Pelhure). Wenn man ihm nachstellt, verwandelt er sich in eine -> Schlange. Hundegeheul bricht aus, wenn er des Nachts umgeht.

Lambertz, Märchen, 21 und 125. Shpirtnat. „Die Geister.“ Allgemeine Bezeichnung für Geister, be­ sonders aber für die Seelen der Verstorbenen, die in der Nacht des hl. Nikolaus in ihr altes Haus kommen, um am Pest teilzuhaben.

Lambertz, Märchen, 23f.; Hahn, Studien, 152. -> Ferlik-u.

Shtojzavalet, Shtojzovalet, die Shtojzovalen oder Shtozovalen. Ihr Name bedeutet: „Vermehre, Gott, ihre Reigentänze!“ [shto-i-(u-)zo(t)-valet]. Dies ist eine apotropäisch-euphemistische Bezeichnung für den in Vergessenheit geratenen alten Tabu-Namen. In der Zadrima (im SO von Shkodra) und in den nordalb. Bergen spielen die Sh. eine große Rolle im Glauben des Volkes. Sie sind Elfen, die Berg, Wald und Wiese beleben und durch die Luft schweben. Denn als im All unter St. Michaels und Lucifers Führung der Kampf zwischen den guten und bösen Engeln entbrannt war, war ein Teil der Engel neutral geblieben. Diese Neutralen mußten in der Mitte schweben bleiben, und das tun sie bis heute. Sie weinen Tränen der Reue über ihr Geschick. Wenn eine der Tränen auf einen Menschen fällt, muß dieser sterben; der Albaner sagt dann: i Jca ra pika „der Tropfen ist auf ihn gefallen“, d. h., der Schlag hat ihn getroffen (vgl. auch bei Kulshedra Urintropfen). Dem menschlichen Auge sind die Sh. unsichtbar; selten gelingt es einem Auserwählten sie zu sehen, aber nur wenn die Sh. selbst ihm den Vorhang vor dem Auge wegziehen. Es gibt männl. und weibl. Sh. Sie sind klein, die weibl. wunderschön. Ehen zwischen Menschen und Sh.-Mädchen kommen vor; die Elfin muß aus dem Kreise ihrer Genossinnen ent­ führt werden, indem der Mensch ihr seine Kleider borgt. Wenn Menschen sich ein Haus auf einem Grundstück bauen, das früher den Sh. gehört hat, ohne daß sie von diesem alten Eigentumsrecht Kenntnis haben, dann finden sie keine Ruhe; denn um Mitternacht gehen die Sh. um und lärmen schaurig mit Eisenketten. Falls ein Mensch versehentlich die Sh., während sie auf dem Waldesboden tanzen, beim Wasserlassen benäßt, so wird er verzehrt. Der Albaner warnt davor, im zheg „der Mittagssonnenglut“ spazierenzugehen, denn leicht tritt man auf eine Sh. und wird dann verzehrt. Die Sh. spinnen nachts die Lebensfäden der Menschen. Auch christl. Elemente werden in das Wesen der Sh. hineingetragen.

Vgl. Nr. 34 der Gedichtsammlung Juvenilia von Ndre Mjeda.

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ShtrigS

Shtrige, bestimmte Form shtriga, plur. shtrigat „Hexe“. Der Hexen­ glaube nimmt in den superstitiösen Vorstellungen des alb. Volkes einen breiten Raum ein (-> Mamadraga). Sowohl alte wie auch junge Weiber können Hexen sein. Sie leben, daran zweifelt kein Bergbewohner, auch heute noch in den alb. Bergen, man kennt sie und weiß sie zu nennen. Der Name shtriga stammt durch sl. Ver­ mittlung aus lat. striga. Es gibt auch männl. Hexeriche, shtrigue., bestimmte Form shtrigoni, auch shtrigä, shtrigäni und shtrig, be­ stimmte Form shtrigu. Der Hexenführer heißt auch —> gan6c-i und —> tenöc-i. Die Hexe frißt Menschen. Sie hat einen buhlerischen Wesenszug. Hauptsächlich bemächtigt sich der Blutdurst der Hexen schöner Jünglinge. Bei Nacht fliegen sie aus, die Hexenseele verläßt als frym „Hauch“ oder als Feuerflamme den schlafenden Körper, der leblos im Bett bleibt. Oder sie schmiert sich nachts, wenn alle schlafen, den Körper mit einer Salbe ein, die sie unter dem Herdstein in einem Topf verborgen hält, spricht ein Zauber­ wort, worauf ihr ein Feuerbock als Reittier zur Verfügung steht, auf dem sie zur HexenVersammlung reitet. Die Hexen eines Dorfes haben sich untereinander verpflichtet, gegenseitig ihre Söhne zu verzehren. Besonders in der Nacht vom Faschingsdienstag auf Aschermittwoch gehen die Hexen um, dringen durch den Rauch­ fang in das Haus ihres Opfers, zapfen ihm das Herzblut ab und trinken es aus einer Schale, worauf der Jüngling stirbt. Oder sie schneiden ihm das Herz heraus, braten und verzehren es. Dann kehren die Hexenseelen wieder durch den Mund in ihre Leiber zurück; hat man aber ihren Körper während ihrer Abwesenheit umgedreht, dann findet die Seele nicht den richtigen Weg in ihr Gehäuse und richtet arge Wirrnisse an. Manchmal benutzen die Hexen Menschen als Reittiere auf ihren nächtlichen Fahrten. Wessen Herzblut sie getrunken haben, der siecht dahin; darum nennt man einen ganz abgemagerten, siechen Menschen bim shtrigash „Hexen­ pflanze“. Es gibt Mittel, sich der Hexen zu erwehren: hängt man z. B. in der Fastnacht einen Ziegenschlauch oder einen Sack unter che Rauchfangöffnung, so fahren sie in den Sack; dann müssen sie Lösegeld zahlen, durch das schon mancher reich geworden ist. Hebt man sich am Faschingsabend ein Stückchen Schweinefleisch auf und bestreicht damit am Ostersonntag während der Messe die Kreuze der Kirchentür, so hat man alle in der Kirche befindlichen Hexen gefangen; keine kann mehr zur Kirchentür hinaus (J.Pisko, 560). Kinder, auf deren mushknit „Eingeweide“ die Hexen es auch abgesehen haben, schützt man durch Amulette um den Hals, kleine Lederläppchen, in die die Christen kirchlich geweihte Papier­ zettelchen mit Sprüchen des Evangeliums, die Mohammedaner dem 33

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ShtrigS

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Kropf geschlachteter Hühner entnommene unverdaute Körner einwi ekeln; außerdem macht man den Kindern mit schwarzer Farbe Punkte auf die Stirn und läßt sie am Faschingsabend Knoblauch essen. An diesem Abend soll sich auch kein Ei im Hause befinden. In Fishtas Epos sagt die Gattin des Knaz Nikola von Montenegro, besorgt um ihre Kinder, die vor dem Schlafengehen ein Gespenst gesehen haben (XI): „Von Gespenstern weiß ich’s nicht, / Hab’ selbst nie sowas geseh’n! / Hab’ die Leut’ bloß reden hören! / Doch, was anbetrifft die Hexen, / Laß ich mir von dir nichts sagen. / Kenn’ ich doch mehr als ein Weibsbild, / Das hier drin, ja, in Cetinje — / Uns’re Base ist’s vielleicht gar — / Nächtens wie ein Funke ausfliegt, / Eindringt in der Häuser Inn’res, / Von dem Dach durch den Kamin, / Preßt den Leuten aus den Atem, / Die dann wohl zu sagen pflegen, / Daß im Schlaf der Alp sie drückte, / Doch in Wirklichkeit sind’s Hexen, / Gar nichts and’res als die Hexen, / Die den Armen Böses bringen, / Wenn sie nächtens um und umgeh’n.“ Auch von einer Hexenversammlung und von der Tätigkeit der Hexen erzählt Fishta (Lahuta XXVI). Er beschwört seine —>Zäna, nicht in die Höhle von Vel zu gehen: „Doch auch in die Höhle selbst / Darfst du keinesfalls mir geh’n! / Denn dort drinnen geben heut’ noch, / In der Höhle inner’n Räumen, / Stelldichein sich Kthellas Hexen / Mit den Hexen der Mirdita, / Von Selita und von Zhuha, / Allweil wenn den Wunsch sie hegen, / Wied’rum mal sich zu versammeln, / Wolfes Sehne sich zu braten, / lrgendwen damit zu sehren, / Zu verkrüppeln, oder wenn sie / Wollen eine Speise räuchern, / Um mit ihr ein Haus zu salben, / Mit dom Mehl­ papp, den im Rauche / Sie gekocht. Dem Hause, das sie / Mit dem Brei bestreichen, wollen / Schaden sie und großes Sterben / Lassen als ihr Angebinde, / Für die Menschen, wie für’s Vieh. / Kinder nicht gedeih’n zu lassen, / Ist auch Zweck von der Versammlung: / Essen ihnen Herz und Lungen. / Keinesfalls darfst du hineingeh’n, / Sie verschlängen dich lebendig!“ Nach dem Volksglauben ist es nützlich, eine Knolle trocknen Knob­ lauchs aufzuhängen oder unter den Kopf zu legen. Bei Fishta (Lahuta, XXV) reiten zwei Hexen namens Sut und Pasut auf Schildkröten: „Haut und Knochen und ganz bucklig, / Wie zwei Sicheln krumm, die an den / Balken aufgehängt sind. Aber / Unheil­ schwanger, giftig sind sie, / Und kein Mittel ist zu finden, / Keine Rettung vor dem Gift: / In den sieb’n Bajraks von Puka / Hatten sie nicht heilen lassen / Wunden, vom Gewehr verursacht, / Trotz des Knoblauchs, Scher’ und Faden, / Die in Schwebe aufgehängt war’n / Über des Versehrten Leib; / . . . Hexten Frau’n die Gelb­ sucht an. / Wie der Eidechs ging’s den Armen — / Sieben Klafter

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Syqenesa

Arbeit schafft sie / Überirdisch; aber sieben / Klafter Arbeit hat gleichzeitig / Sie verloren; sie versinken / Unter’n Erdengrund: so ist ja / — Gott behüt’ uns — Hexenarbeit!“

Shurdhi. „Der Taube“, ein Gegenstück zum blinden -> Verbti. Er ist wie jener ein Gewittergott, der mit Gewehrschüssen begrüßt wird, und zieht in hagelgrollenden Wolken einher. Nach ihm sind (Nopcsa, Vorgeschichte d. Ethnologie Nordalbaniens, 229) die Stadt Shurda, die Maja Shurdh in Klementi (Nordalbanien) und mi Shurdh, eine Gegend in Merdita, benannt. Nopcsa vermutete im zweiten Teil des Namens des thrak. Gewittergottes Zibelthiurdos den Namen des alb. Sh. Dann wäre Sh. urspr. nicht mit dem Appellativum shurdhi „der Taube“ identisch. Denn das Adjektiv ist verhältnismäßig spät aus dem lat. surdus „taub“ entlehnt (wegen des u statt des sonst aus lat. u entstandenen Ü). Der alte thrak., von den Illyriern übernommene Gottesname Zibelthiurdos ist durch volksetym. Anlehnung an sh. und Gegenüberstellung zum blinden Verbti als „der Taube“ aufgefaßt worden. Sonnentochter -> Dielli (Lambertz, Märchen, 77). Sprihe, bestimmte Form Spriha, auch Spria. Gestalt des Volks­ glaubens in Südalbanien, der —> Kulshedra ähnlich. Sie ist ein böses Weib, das Schlangen aus dem Munde speit. In der tosk. Um­ gangssprache wird ein böses, schwatzhaftes Weib mit den Worten charakterisiert: „Uh, diese Sprie! diese böse Natter! Sie ist falsch wie eine Sprie!“

Fjalor i gjuhös Shqipe, 503; Frasheri, 68.

Stein —> Eid beim Stein. Stihi, bestimmte Eorm stihija. Weibl. Dämon, in Südalbanien ge­ fürchtet; etym. zu ngriech. orot/Sid „Gespenst“ gehörend, auch in Piana degli Albanesi in Sizilien im Volksglauben lebend. Ge­ flügelter, feuerspeiender Drache, der Schätze hütet. Ins Geg. über­ nommen und volksetym. umgestaltet zu stuhi, stuhija „der Sturm.“

Fjalor i gjuhes Shqipe; Qabej, Ms. 34.

Syni i keq, syri i keq —> Böser Blick.

Syqenesa, Syqeneza, aus sy „Auge“ und qen „Hund“. Hexe „mit Augen wie eine Hündin“, vorgestellt mit vier Augen, zwei vorn und zwei hinten am Kopfe; letztere verhüllt sie mit dem Kopftuch. Sie lockt junge Frauen an sich, um sie bei sich zu Hause im Back­ ofen zu braten und zu essen. Sie hat eine ihr wesensverwandte 33*

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Albaner

Talas-i

Tochter (Hahn, Studien; Lambertz, Märchen, 25). Risto Dine (Valet, 856) erwähnt ebenfalls Wesen des alb. Volksglaubens mit zwei Augen vorn und zwei am Hinterkopfe, freilich ohne Näheres über sie zu berichten.

Fjalor i gjuhes Shqipe, 513.

Talas-i. In Nordalbanien als Gott des Meerwindes verehrt. Der Be­ griff wird volksetym. mit dem aus dem Türk, stammenden taljazi „Meereswoge“ in Zusammenhang gebracht, läßt aber auch an agriech. ■duAactaa „Meer“ denken. Lambertz, Märchen, 49 und 146 ff.

Tenec-i „Hexenführer“

Ganöc; Shtrige.

Te tri grat „die drei Frauen“ -> Miren (Lambertz, Märchen, 38; Dozon, Contes, 20).

Teufel —>Djall; Dreqezit; Kulshedra (Lambertz, Märchen, 19ff.). Thopv, plur. thopr.il, auch thoperqit, thoperk, thoprk. Kobolde von zwergenhafter Statur. In Dukagjin (Nordalbanien) flucht man:

te hängut ihoprku! „Möge der Th. dich fressen!“ -> Xhuxhimaxhuxh-i.

Tomor(r). Berg bei Berat in Südalbanien, nach alb. Volksglauben der Sitz der Götter. Als Baba Tomor(r) ist er der Vater der Götter und Menschen, ein großer Gott. Bei seinem Namen schwören die Bauern der Gegenden rund um den T. die heiligsten Schwüre. Per baba Tomor! sagen sie oft. Er ist der größte Gott der alten Illyrier. Weiß wallt ihm der Bart bis zum Gürtel. Vier langschnäblige Adler­ weibchen umkreisen ihn oder sitzen ihm zu beiden Seiten. Die -+■ Bukura e dheut ist seine Geliebte. Tagsüber weilt sie bei ihrer Schwester, der schilfbekränzten Bukura e detit, der „Meeres­ schönen“. Am Abend jedoch tragen die Winde, Tomors Diener, sie empor zum Lager ihres Gebebten. Berat ist Baba Tomorrs Lieblingsstadt. Über ihren Besitz wacht er eifersüchtig, ihretwegen focht er den Kampf mit Shpiraku (oder S(h)piragri), der dem Vater T. den Besitz von Berat streitig machen wollte. Shpiraku ist der weithin sichtbare Höhenzug westlich von Berat, dessen Hänge vom Kamm bis zum Fuße von zahlreichen Rinnen durchfurcht sind. Sein Name ist griech. Herkunft, und er gilt dem nationalen Albaner als der Grieche, der hier Vordringen und in Berat Fuß fassen will. Darum benutzte Shpiraku einmal, als der Bergkönig T. mit seiner Bukura e dheut auf dem Lager der Liebe ruhte, die Gelegenheit und rückte näher an Berat heran, um sich der Stadt

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Albaner

Verbti, Verbi

zu bemächtigen. Da riß das Geschrei der vier Adler Baba T. aus seinen Träumen und brachte ihm Kunde von dem hinterh'stigen Treiben Shpirakus. T. erste Sorge galt Bukura; auf sein Wort trug der Ostwind sie zum Hause ihrer Schwester, der Meeresschönen, wo sie herzliche Aufnahme fand. Jetzt rüstete T. sich zum Kampfe. Mit seiner Sense bewaffnet, bestieg er sein Maultier und traf auf Shpiraku, der mit einer Keule losschlug. Der Vater T. brachte dem Feind mit der Sense die Wunden bei, die heute noch als Furchen am Berghang zu sehen sind. T. selbst aber ist heute noch verbeult, und noch heute kann man beim Bade Sinja am Hang des Shpiraku die Spur des Maultierhufs erkennen. Shpiraku floh, T. war Sieger (Sage aus Berat, Lambertz, Märchen, 41; in Verse gebracht von dem Elbasaner Dichter Lip Papajanni).

Totenglauben —> Jenseitsvorstellungen.

Unterwelt —> Bukura e dheut; Jenseitsvorstellungen.

U shkal „er wurde bestiegen, geritten“, ngriech.

So sagt man von einem, der unter dem Druck böser Geister zu leiden hat. Shyplakur, shupljakur bezeichnet die Versehrung. Shupljake, shuplak, shplak, in Dibra shepule „die Ohrfeige“, eig. „die hohle Hand“, sl. Herkunft. Heilung solcher Versehrungen ist durch Ge­ heimwaschungen möglich. Bei Vlora, 190; Hahn, Studien, 159; Schmidt, 98; Lambertz, Märchen. 28f.; Laistner. Peri; Xhind-i.

Va(m)pir —>Dhampir; Lugat; Vurvolak. Verbti, Verbi. „Der Blinde“ (die übliche Form des Adj. „blind“ ist verber). Seine Blindheit wird wettgemacht durch scharfes Gehör; seine Anbeter werden ebenfalls blind. V. ist der in den alb. Bergen gefürchtete Gott des Feuers und des Nordwindes, der das Feuer entfacht. Der Gott hat auch Macht über das Wasser. Er ist der Feind der Unreinlichkeit, der Gegner der Zote. Dem Verfasser er­ zählte vor fünfzig Jahren der junge christl. Lazer Nreca aus der Zadrima: „Nur ein einziges Mal habe ich von dem V. gehört, und zwar aus dem Munde der (^>) Prenne, der Frau des Nrec Pre^i, die meine Mutter ist. Der V. war blind, noch blinder als der Hafis (ein Bettler in Shkodra). Aber er hörte sehr scharf. Die Menschen fürchteten ihn. Wenn ein Haus abbrannte, gingen sie hin und sagten: ,Der V. hat unsere Narreteien und unsere Unanständig­ keiten gehört, beten wir zu ihm!‘ Aber alle, die dort beteten, wurden blind. ,Das ist in Wahrheit ein Gott!“ pflegten die Leute von einst zu sagen. Er war ein Götze, aber das Fabeln der Leute, wenn sie des Abends plaudern, formte sich diesen Gott. Einmal war ein 505

Vitore

Albaner

Knabe daran, zu ertrinken, die Leute wollten ihn retten. Umsonst! Da beteten sie zum V. Da bäumte der Nordwind das Wasser auf und schleuderte den Knaben lebend ans Land. Ein andermal rauften zwei Burschen miteinander, Bein gegen Bein gestemmt. Der eine betete zum V., der andere zum wahren Gott. Aber der wahre Gott fügte es so, daß der, der zum V. gebeten hatte, den, der zum wahren Gott gebeten hatte, umbrachte. So setzten damals alle Menschen ihre Hoffnung auf den V., denn sie hingen Götzen an.“

Vitore, bestimmte Form vitoreja, ßnogeia (Hahn, Studien, 162). Der Name bedeutet die „Alte“ und gehört zum Stamme vit, vjet „Jahr“, agriech. eroQ „Jahr“, lat. vitulus „[einjähriges] Kalb“. Ein Unglücklicher heißt auch vitorezi, fern, vitorezeze, wie fatzi, fatzeze. Ein in Südalbanien verehrter, glückbringender Hausgeist in Schlangengestalt (man denkt an die Penatenschlange). Tn Permeti (Dozon, Manuel, Glossar 100) wird sie als Vogel gedacht; sie bringt Glück, wenn sie in ein Haus einzieht. Nach dem Glauben der Rifa­ dörfer (Hahn, Studien, 162) wohnt sie als kleine, dicke Schlange mit bunter Haut in der Hausmauer und wird von den Hausgenossen mit großer Ehrfurcht begrüßt. Durch schwaches Pfeifen kündigt sie freudige oder traurige Ereignisse im Hause an. Daher sagen die Frauen bei jedem kleinen Geräusch: „Das ist die V.!“ Stirbt in einem Hause der Mannesstamm aus, so verläßt die V. es für immer. Angesehene alte Frauen erhalten nach ihrem Tode das Lob: „Sie war die V. des Hauses!“ In Elbasan bezeichnet man mit V. eine kinderreiche Frau. Die Italoalbaner verehren ebenfalls noch che Schlange, die das Haus bewacht.

Vurvoläk. Im tosk. Gebiete heißen die Wiedergänger (-> Lugat) unter griech. Einfluß vurvoläk, bestimmte Form vurvolaku, ngriech.

ßovQßoÄaxag, ßovoÖov/.ny.uQ, ßQvxoÄaxaQ. Im Alb. gibt es die Nebenform vurkollak, vurkollaku, plur. vurkolleq (Fjalor i gjuhes Shqipe, 621). Nach Jokl, 69, aus dem sl. vurkodlek entlehnt, d. i. „Werwolf“. Man glaubt (Hahn, Studien, 163), daß jede Leiche, über die eine Katze oder ein anderes Tier gesprungen ist, zum V. wird. Eine solche Leiche verwest nicht. Über ihrem Grabe zeigt sich allnächtlich ein Lichtschimmer; nach vierzig Tagen erhebt sie sich, geht um und stellt allerlei Unheil an. Solche Leichen wurden ausgegraben und verbrannt, und zwar in der Nacht von Freitag auf Samstag. In Perlepe lebten Familien, die Va(m)piri hießen, Abkömmlinge von V.s, von allen gemieden, kundig, schwärmende V.s zur Ruhe zu bringen. Sie halten diese Kunst sehr geheim; man holt sie zu ihrer Ausübung auch nach anderen Städten. Die heutigen Griechen glauben dasselbe noch von ßovQxoÄaxai; (Schmidt, 162). 506

Albaner

Weissagung

Weissagung —>Fati; Miren; Schulterknochen. Werwolf —>Drangue; Kukuth; Vurvolak.

Windgott -> Talas-i; Verbti.

Wolf -» Njk-u. Xhind-i, geg. xhinn-i, weibl. xhinde,. In Tirana auch mit it. Namens­ form xheni. Figur des Volksglaubens und der Volksmärchen, orientalischen Ursprungs, Name türk. Elfenhafte Geister, die ihre eigenen Königreiche mit Elfenkönigen und schönen Elfentöchtern bewohnen (daher xhin(d)e als Metapher für „schönes Mädchen“). Des Nachts bevölkern die Xh. die verwunschene Mühle des Mär­ chens und lassen sich von der braven Maro, dem alb. Aschenbrödel (Pedersen, 12), der Maro Perhitura, die von der bösen Stiefmutter in die Mühle geschickt worden ist, um darin umzukommen, die lafet e lirit „dos Flachses Qual“ erzählen; sie werden von dem klugen Mädchen hingehalten, bis der Hahn kräht, und lassen es mit Gold beladen zurück. Der schlimmen Lilo dagegen drehen sie in der nächsten Nacht die Gliedmaßen um. In einem Märchen aus dem Tomorgebiet (Bei Vlora, Märchen 3) hausen zwölf Xh. mit ihrer Mutter im Brunnen; sie werden vom Grindkopf (-> Qerozi) getötet, der in den Brunnen hinabsteigt und dort die zwölf Mädchen findet, die sich in der Gewalt der Xh. befunden hatten. Helfende Zauber­ geister sind die Xh. im Märchen aus Dürres (Treimer, 380). In der Tomoricalandschaft glaubt man, daß die Xh. zwischen Mensch und Geist stehen. Es gibt männl. und weibl., gute und böse sowie konfessionell verschiedene (mohammedanische, christl., jüdische). Sie heiraten, haben Kinder und feiern Feste, besonders das Fest des Synnet, der „Beschneidung“. Ihr Nahen gibt sich durchKrachen der Türen und Flackern der Lichter kund. Von gewöhnlichen Sterblichen vermögen sie nicht gesehen zu werden; besonders heilige Männer aber können sogar nach ihnen rufen. Es gibt Häuser, die sie ganz besetzt halten; dort kann niemand wohnen. Die Xh. nehmen auch von Menschen Besitz; ein solcher Mensch heißt Shyplakur oder Shkalur. Sie nehmen es sehr übel, in ihren unsicht­ baren Gelagen gestört zu werden; wirft man ihnen Schüsseln und Flaschen um, streift man sie, tritt man auf ihre Kinder, gießt man heißes Wasser aus, wo sie sind, dann wird der Täter versehrt (shupljaket oder shitohet). Sie sind auch drückende Alpgeister. - - Harapi. Xhuli -> Judi.

Xhuxhimaxhuxh-i, auch kurz Xhuxh. Als zwergenhafter Greis mit langem Bart vorgestellt, wohnt unter der Erde. Er heißt auch

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Xhysaxhel-i

Albaner

—>Thop9 oder Herr-i; der Name Xh. ist türk. Herkunft. Die Xh.s sind Bergleute und spielen die Rolle der Zwerge in der alb. Version des Schneewittchenmärcliens. Mit langem, wallendem Bart tritt der Xh. als —> Mittagsgeist auf, stößt den Fleischkessel der kochenden Brüder um, entführt Mädchen und bewacht sie nach Art der —>Difs, der —> Gogols, des Ritter Blaubart usw.

Xhysaxhel-i, xhymsaxhel, xhimsaxhel. Halbhahn, Halbhähnchen. Hinkelhahn, Schnapphahn (griech. KovTdonerxot;); es ist der ein­ beinige Hahn, der auf Reisen geht (Hahn, Märchen, 85), auf seinem Schwanz ermüdete Weggefährten mitnimmt, die ihm dann in der Not helfen (Bremer Stadtmusikanten, Grimms KHM 27).

Lambcrtz, Märchen, 66 und 252.

Zfina. Die Fee und Muse der alb. Berge, tosk. Ztira, rum. zinä, eine vorrömische Balkangottheit. Ihr Name wurde Diana gleichgesetzt, was aber trotz der lautlichen Übereinstimmung und der Wesens­ verwandtschaft (die Schutztiere der Z. sind drei goldgehörnte Ziegen) unbeweisbar ist. Auch mit alb. zä, zäni, tosk. zeri „Stimme“ hat man den Namen verbunden; aber auch das leuchtet nicht ein. Sie haust in den Schründen der nordalb. Alpen; es gibt viele Zänen, jeder Berg hat die seine: daher Z. vom Miliskau, vom Tomorr, vom Shargebirge, von der Haramija, vom Visitor. Sie ist ein gött­ liches Wesen, voll Mut und Wildheit. Größter Ruhm für einen Helden ist es, im Volkslied trim si Zäna „Held wie die Z.“ genannt zu werden oder ein Gewehr zu haben, dem man nachsagt, es töte wie die Z. Es gibt eine Oberzäna. Die Z. sind sehr schön, weshalb schöne Mädchen mit der Z. verglichen werden („Tringa, schön wie Z. auf den Almen“, Fishta, Lahuta, XVII); „gewachsen wie die Z.“ ist ein Mädchenruhm (Fishta, Lahuta, ebd.). Die Z. singen nachts an den Quellen, sie tanzen und spielen, sammeln Blumen, locken die Ziegen, baden nackt im Quell, werden dabei von Helden be­ lauscht (Volksepen von Gjeto Basho Mujiund vom Tod des Destar Osman Aga). Eine lange Dezembernacht dauert den Lauschern kaum eine Minute. Die Großzäna führt ein anmutiges Gespräch mit dem Mond, bittet ihn, er möge noch nicht untergehen. Der Mond gehorcht den Z., faßt auf einem Gebirgsvorsprung Posten und wartet. Die Z. sieht dem Kampf der Albaner gegen die Feinde vom Berge aus zu, wie bei Homer die Gottheiten vom Berg Ida. Ist einer ihrer Schützlinge gefallen, so stimmt die Z. die Totenklage um ihn an. Sie inspiriert den Sänger, sie ist die Mowm des Epikers, daher von ihm angerufen im Prooimion und im Teilprooimion des Epos (Fishta). Sie reitet auf der Möwe, sic ist die Schlankgewachsene,

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Zyklop

Albaner

die genährt wurde mit dem süßen Saft des Honigs. Der Terminus des Volksliedes und Volksglaubens für ihr Singen ist pingron Zäna „die Z. zwitschert“. Bei Fishta sind die Z. Lehrerinnen des alb. Volkes, ihre Vorfahrinnen waren die Z. vom Berge Helikon, von der Quelle Kastalia; sie sind als Nachfahrinnen der Musen nach Norden gezogen und haben sich in Albanien niedergelassen (Lahuta, XXVI). Aber sie können auch tückisch und schadenbringend sein: „Möge die Zäna dich versehren!“ (me shitue) ist ein alb. Fluch.

Zarazit —>Dreqezit (de Rada, 20; Lambertz, Märchen, 78). Zoizi. Ein Dorf in der Zadrima, einer Landschaft im SO von Shkodra. In dem Dorf und seiner Umgebung spielt ein Dämon gleichen Namens im Glauben und in den Verwünschungen des Volkes eine große Rolle. Dem Einfluß der Schule und gelehrter Priester ist es zuzuschreiben, daß sich an den Namen des Dämons im Volks­ glauben Vorstellungen und Sagen knüpfen, die dem agriech. Zsvq angehören. Identität der beiden Gestalten verbietet die Lautform des Namens Z. Vielmehr ist der Name des Dämons sekundär aus dem Ortsnamen Z. entstanden, der herzuleiten ist aus dem Namen der Zoja „Unserer lieben Frau“, und zwar entweder aus dem Genetiv Zojes oder Zois oder aus der Deminutivform Zojeze. Die bestimmte Maskulinform Zoizi des Ortsnamens ist nach Analogie vieler anderer Ortsnamen wie Prifti „der Priester“, Domgjoni „Monsignore Gjon“, Barbalushi, Haimeli, Nenshati, Kalmeti, Kukli u. a. zu einer Zeit entstanden, als man sich der Femininbedeutung des Namens nicht mehr bewußt war. Die Zoja ist ursprünglich nicht die „Mutter Gottes, unsere hebe Frau“ der katholischen Kirche, sondern Shna -> Prenne, die altalb. Heilige, die Patronin des Ortes, die im Volks­ munde als Zoja- Prenne „Frau Prenne“ bezeichnet wird. Sie wird auch hylli i Drites Aferdita „Der Morgenstern Venus“ genannt. Schwalben ziehen sie in ihrem Wagen über den Himmel. Die Schwalben heißen Pulat c Zojes „Die Vögel der Frau“, sie sind mit dem Wagen durch den Regenbogen (Ylberi) verbunden, den das Volk auch Brezi oder Shoka („der Gürtel“) e Zojes nennt.

Gurakuqi, G2f.; Lambertz, Märchen, 47 und 49.

Zoja e bukuris „Herrin der Schönheit“ -> Prenne.

Zoja Prenne —> Prenne. Zonja te jashteme „die auswärtigen Frauen“ -> Jashteshme; Miren.

Zwerge -> Mittagsgeister; Thopr;; Xhind-i; Xhuxhimaxhuxh. Zyklop

Kyklop. 509

DIE BASKISCHE MYTHOLOGIE VON

JOSÉ MIGUEL DE BARANDIARÁN

A. Einleitung

Das Baskenland, das die Basken selbst Euskalerri oder Eskualherri nennen, liegt in den Westpyrenäen zwischen dem Pie d’Anie, der Sierra Salvada und den Flüssen Ebro und Adour (Abb.2). In diesem Gebiet senkt sich die Gipfelkette der Pyrenäen wesentlich; Berge und Täler bilden ein unregelmäßiges, labyrinthisches Relief. Trotz ihrer Unregelmäßigkeit und Verschiedenheit weisen die Berge und Täler jedoch eine gewisse Einheitlichkeit und gemeinsame Züge auf: mäßige Höhen, viel niedriger als in den Ostpyrenäen; bequeme Pässe zwischen den Tälern und Hügeln; mildes Klima mit teils ozeanischen, teils mediterranen und kontinentalen Einflüssen; überwiegend Kreide­ formationen mit zahlreichen Höhlen; Feuchtigkeit und Frische; günstige Voraussetzungen für Wiesen- uud Waldwuchs. Außerdem der Ozean und die Küste, die über 200 Kilometer lang ist, eine felsige, zwischen Biarritz und Fuenterrabia ziemlich niedrige, im Westen dagegen hohe Küste; an den Flußmündungen ein sanft abfallender Strand; zwanzig natürliche Häfen zwischen dem Adour und der Ria von Bilbao. In diesem Rahmen spielt sich das Leben der heutigen Basken ab. Ihre traditionelle Lebensweise entspricht den geogra­ phischen Gegebenheiten des Landes: es finden sich Weidewirtschaft mit Almauftrieb, Landwirtschaft, Fischfang und bäuerliches Hand­ werk und Gewerbe. Sprache, Recht, Religion und Mythologie der Basken erscheinen wie Elemente, die diesen Aspekten Sinn und Zu­ sammenhang verleihen. Aber all das ist heute im Aussterben begriffen oder wandelt sich unter dem Einfluß des Maschinenzeitalters und der technischen Revolution. Das baskische Brauchtum reichte einst weit über die heutigen Grenzen des baskischen Gebiets hinaus; es umfaßte die Pyrenäen fast in ihrer ganzen Ausdehnung samt den angrenzenden Gebieten ein­ schließlich Aquitaniens und eines Teils von Kastilien, was den Gedanken an einen Zusammenhang des baskischen Brauchtums mit anderen, früheren kulturellen Erscheinungen dieses Gebiets nahe­ legt. Auf den Karten (Abb.l —8) sind die Marksteine dieser Ent­ wicklung deutlich abzulesen. Das Gebiet des Almauftriebs in historischer Zeit (Abb. 5) und die Gegenden mit baskischer oder baskoider Toponymie sowie der Aus­ dehnungsbereich der pyrenäischen Gottheiten in römischer Zeit 513

Einleitung

Basken

(Abb.í) sind zugleich auch die Gegenden, in denen sich die eisenzeit­ lichen pyrenäischen Cromlechs befinden. Sie fallen größtenteils mit dem Bereich des baskischen Dolmenzentrums aus der Bronzezeit und der sogen. „Pyrenäenkultur“ der gleichen Zeit zusammen. Die Überreste von Menschen, die man in den bronzezeitlichen Dolmen und in den neolithischen Schichten des Baskenlandes entdeckte, weisen die be­ sonderen Merkmale des baskischen Menschentyps auf: gewölbter Schädel, starke Schläfen, vorderer Rand des Hinterhauptlochs sehr eng und tief, schmaler Unterkiefer, hervorspringendes Kinn, ziemlich große und spitze Nase. Diese Tatsachen veranlaßten Hugo Obermaier, den bekannten Prähistoriker, zu dem Urteil: „Die Indogermanisierung Europas muß in der Tat während der jüngeren Steinzeit statt­ gefunden haben, aber es ist ungewiß, aus welcher Richtung sie kam oder in welchen Teilen unseres Kontinents sie zuerst einsetzte (zen­ trales Rußland?). Von den vielgestalteten vorarischen Elementen, über welche sie hinwegflutete, kennen wir nur eines mit positivem Namen: es sind dies die Basken, deren unmittelbare Vorfahren, laut anthropologischer Befunde und sprachlicher Rückschlüsse, schon zur Zeit des geschliffenen Steines im großen Dolmenzentrum der Pyrenäen seßhaft waren.“ (Urgeschichte der Menschheit, in: Geschichte der führenden Völker, Freiburg 1931, S. 294.) Die osteologischen Funde von Urtiaga (Icíar, Guipúzcoa) stammen aus dem Mesolithikum. In den Schichten des Azilien und des Magda­ lénien wurden menschliche Schädel gefunden. Der älteste von ihnen trägt Züge des Cromagnon-Menschen, aber auch baskenähnliche Merk­ male. Der jüngste, der dem Azilien angehört, weist Züge des sogen, westpyrenäischen oder neolithisch-baskischen Typs auf. Man schließt daraus, daß der baskische Typ das Ergebnis der lokalen Weiter­ entwicklung des Cromagnon-Menschen ist und daß sich diese Ent­ wicklung schon im Mesolithikum anbahnte, als das Klima, die Ernährungs- und die Lebensweise in ganz Europa eine tiefe Wandlung erfuhren (Barandiarán, Antropología de la población vasca, IKVSKA. Sara 1947). In der langen Zeit zwischen dem Mesolithikum und unseren Tagen stand das Baskenland mit verschiedenen ethnischen und kulturellen Gruppen in Verbindung, die in der Lebensweise der Bevölkerung ihre Spuren hinterließen. Die mikrolithischen Handwerke aus dem Süden wie auch die makrolithischen aus dem Campignien und dem Asturien wirkten auf den alten paläolithischen Kulturgrund im baskischen Land ein. Die gleiche Erscheinung trat später bei der Einwanderung indoeuropäischer Völker auf, die in der Ausbreitung der Kelten und in den Eroberungen durch die Römer gipfelte. Diesen Kontakten

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Basken

Einleitung

verdankten die Basken nicht nur neue Materialien und Handfertig­ keiten, sondern auch neue Kulte, neue Religionen, Mythen und Spracherscheinungen, die mit der alten Sprache und dem alten Glauben und Brauchtum des Landes verschmolzen.

In der Mythologie stellen wir fest, daß der Grundstock der Religion und der Mythen des baskischen Volkes von Geistern oder Gottheiten in verschiedener Tiergestalt beherrscht wird: von Pferden, Stieren, Ebern, Ziegen, Schlangen und Geiern, die nach allgemeiner Annahme im Innern bestimmter Höhlen leben. Daneben gibt es eine menschen­ ähnliche Gottheit weiblichen Geschlechts namens Mari, die eben­ falls eine Höhle bewohnt und gelegentlich die Gestalt oder auch nur die Glieder von bestimmten Tieren annimmt, wie Bocksfüße, Geierkrallen usw. Die künstlerisch-religiösen Gestalten, die bei dem kantabrisch-aquitanischen Volk im Paläolithikum vorhanden waren, sind die gleichen, die auch die baskische Mythologie beleben. In beiden Fällen tritt dieselbe Bilderwelt an denselben Kult- oder Wohnstätten auf. Die baskischen Mythen handeln von Geistern und Gestalten, die denen der paläolithischen Jäger zum Verwechseln ähnlich sind, so daß die Frage sich aufdrängt, ob es sich hier nicht tatsächlich um eine Übernahme handelt (Abb.9, 10 und 11).

Die Mythen um Sonne, Mond und Erde sowie der Glaube, der sich um den blauen Himmel, die Wolken, die Quellen und Flüsse rankt, scheinen — unter dem Einfluß der indoeuropäischen Urkultur — schon seit dem Neolithikum Bestandteil der baskischen Mythologie zu sein. Auch das religiöse Gut der Römer übte auf die Basken einen Ein­ fluß aus. Die Gottheiten der Basken bekamen in vielen Fällen Namen aus der römischen Mythologie. Die lokalen Gottheiten und die Be­ stattungsriten weisen gelegentlich Züge der heidnisch-lateinischen Zeit auf. Später hat das Christentum viele der alten Mythen auf mannigfacher Weise beeinflußt und umgeformt. Im folgenden sollen die heute noch lebendigen Mythen in der Form wiedergegeben werden, in der wir sie im Laufe vieler Jahre aus Er­ zählungen erfahren und festgehalten haben. Das Material wurde in den Teilen des Baskenlandes gesammelt, in denen die Bevölkerung am treuesten an der Tradition festhält. In vielen Fällen wird es möglich sein, auch auf Vorläujer oder Parallelbeispiele in den Monu­ menten und den alten Mythen hinzuweisen. Ebenso sind die epigra­ phischen Namen derjenigen Gottheiten mit aufgenommen, die während der Römerzeit in den Pyrenäen, vor allem im Gebiet des

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Basken

Literaturangaben

heutigen Baskenlandes und Aquitaniens, verehrt wurden — zum größten Teil baskoide Namen, wenn wir auch die Funktionen und Attribute der entsprechenden Gottheiten nicht kennen.

B. Allgemeine Literaturangaben

R. M. de Azkue, Euskalerriaren Yakintza, 2 Bde. — Ders., Dic­ cionario vasco-español-francés (Bilbao 1965). — F. de Baraibar, Pa­ labras alavesas (Vitoria 1907). — Ders., Museo Incipiente (Madrid 1912). — J. M. de Barandiarán, La religion des anciens Basques, in: Compte rendu analytique de la Me session de la Semaine d’Ethnologie religieuse (Enghien 1923). — Ders., Contribución al estudio de la mitología vasca, in: Homenaje a Fritz Krüger I (Mendoza 1952). — Ders., El Hombre prehistórico en el País vasco (1953). — Ders., Mitología vasca (Madrid 1960). — Ders., El Mundo en la mente popular vasca, 4 Bde. (San Sebastian-Zarauz 1960—1966). — Ders., Verschiedene Aufsätze in: Eusko-Folklore (1921 ff.). — J. Caro Ba­ raja, Notas de Folklore vasco, in: Revista de Dialectología y Tradi­ ciones populares 2 (1946). — Ders., Sobre la Religión antigua y el calendario del pueblo vasco, in: Trabajos del Instituto Bernardino de Sahagún 6 (Madrid 1948). — Ders., Las brujas y su mondo (1961).— A. Beltrán, Hispania Antiqua Epigraphica (1950—1952). — M. Cerquand, Légendes et récits populaires du Pays Basque, in: Bulletin de la Société des Sc. L. et A. de Pau (1874—1875). — J. B. Daranatz, Curiosités du Pays Basque (1927). — P. Lafitte, Atlantika-Pireneetako sinheste zaharrak (Gure-Herria, Bayonne 1965). — R. Lafon, Noms aquitains de divinités et de personnes dans les inscriptions latines du Gers, in: Bulletin de la Société Archéologique du Gers (1959). — L. Michelena, De onomástica aquitana, in: Pirineos 33/34 (Zaragoza 1954) (In diesem Werk werden die Götternamen und die anderen Namen analysiert, die auf aquitanischen Steininschriften der römischen Zeit genannt sind.) — J. Romeu Figueras, Mitos tradi­ cionales pirenaicos, in: Pirineos 15/16. — J. Sacaze, Inscriptions antiques des Pyrénées (Toulouse 1892). — J. M. Satrustegui, Voca­ bulario popular, in: Euskera 8/9 (Bilbao 1963/1964). — B. Taracena und L. Vázquez de Parga, Excavaciones en Navarra (1947). — J. Vinson, Le Folklore du Pays Basque (1883). — W. Webster, Basque Legendes (1879).

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Basken

Abbildungsverzeichnis

C. Abbildungsverzeichnis (Die Abbildungen befinden sich hinter Seite 552)

Abb. 1. Verbreitung der Gottheiten mit baskoidem Namen in römischer Zeit. Abb. 2. Das heutige Baskenland.

Abb. 3. Gebiet der baskischen oder baskoiden Toponymie. Abb. 4. Geltungsbereich des baskischen Rechtes in den Pyrenäen.

Abb. 5. Bereich und Richtungen des Almauftriebs in den Pyrenäen. Abb. 6. Verbreitungsgebiet der eisenzeitlichen Cromlechs in den

Pyrenäen. Abb. 7. Verbreitungsgebiet der megalithischen Kultur (Dolmen) in den Pyrenäen. Abb. 8. Hauptzentren der kantabrisch-aquitanischen Kunst des oberen Paläolithikums. Abb. 9. Santimamine, Felszeichnungen. Abb. 10. Altxerri, Felszeichnungen.

Abb. 11. Bär und Hirschkopf von Santimamine. Abb. 12. Grabhöhle Solacueva de Jäcano, eisenzeitliche Skizzen.

Abb. 13. Goikolau, schematische Gravierungen aus der Eisenzeit. Abb. 14. Baeserte-Altar, daneben ein Eber.

Abb. 15. Idol von Mikeldi (Archäologisches Museum von Vizeaya).

34

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Aari

Basken

Aari, „Widder“. Ein ->Mari untergeordneter Geist in Widdergestalt. Barandiarán, Mitología.

Aatxe, „Jungstier“, Aratxegorri, „roter Jungstier“ (Synonyme:

Txadlgorri „roter Jungstier“, Zezemgorri „roter Stier“, Beigorri „rote Kuh“). Von besonderer Bedeutung sind in der bask. Mytho­ logie verschiedene Geister, die in Gestalt von Tieren auftreten, vor allem als Pferd, Stier, Kuh, Ziegenbock, Ziege, Schaf, Schwein und Hund. Im allgemeinen wohnen sie in Höhlen. Sie strafen un­ gehorsame Kinder und erfüllen die Verwünschungen der Eltern; wer seine religiösen Pflichten nicht erfüllt, den entführen sie in ihre Höhlen; außerdem sorgen sie dafür, daß niemand ihre Höhlen ent­ weiht oder unbefugt betritt. Der Geist in Stier- oder Kuhgestalt, der in Leze (Höhle von Sara) wohnt und der Hüter dieser weit­ räumigen Grotte ist, nimmt zuweilen Menschengestalt an. Wohl deshalb wird er in der Umgegend auch Etsai genannt, was zugleich „Feind“ und „Teufel“ bedeutet. Etsai unterrichtet in seiner Wohn­ stätte Leze den, der danach verlangt, in seinen Künsten und Wissenschaften. Manchmal verläßt A. seine Höhle, vor allem in stürmischen Nächten, und zwingt die Menschen, sich in ihre Häuser zurück­ zuziehen. In römischer Zeit muß die Mythologie von den unterirdischen Geistern im Baskenland sehr verbreitet und mächtig gewesen sein: In den Höhlen von Istúriz, Goikolau, Santimamifie, Sagastigorri, Covairada und Solacueva hat man römische Münzen gefunden, die, wie es damals Brauch war, in die Höhlen geworfen worden waren, um den Schutz der Höhlengeister zu erlangen. Der A. und die anderen Höhlengottheiten, die die Gestalt der ge­ nannten Tiere annehmen, wohnen gewöhnlich in solchen Höhlen (Laminazilo bei Istüritz, Leze bei Sara, Akelar bei Zugarramurdi, Aitzbitarte bei Rentería, Bolinkoba bei Abadiano, Santimamifie bei Cortézubi und Bálzola bei Dima), in denen man auch paläolithische Gravierungen und Malereien von Stieren, Bisons, Pferden, Hirschen, Ziegen, Ebern usw. gefunden hat oder deren Schutt archäologische Reste aus jener Zeit enthält. Die Gestalten, die die baskische Mythologie in die Höhlen versetzt, wurden also von den Menschen des Magdalénien oder späterer Zeiten in verschiedenen Höhlen des Baskenlandes auf Wände und Gegenstände gemalt oder eingeritzt. J. M. de Barandiarán, Die prähistorischen Höhlen in der baskischen Mytho­ logie, in: Paideuma (1941, Juli); ders., in: Eusko-Folklore, 2. Serie (1947-1949).

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Basken

Aiharra-haio

Abelio. Pyrenäische Gottheit in römischer Zeit. Sacaze, Inscriptions, 278.

Aberri. Männl. pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Der letzte Teil des Wortes, -berri-, bedeutet im heutigen Bask. „neu“. Nach Lizop. Michelena, Onomástica, 409.

Adur. Kraft im Dienste der Magie, welche die Zaubermacht der Magier auch auf Entfernungen wirksam macht. Aereda. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Vielleicht mit -»Aide in Beziehung zu setzen. Sagace, Inscriptions, 333.

Affe -» Kixmi.

Ageio. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Attribute und Punk­ tionen unbekannt. Sacaze, Inscriptions, 519.

Aherbelste. Pyrenäische Gottheit, —» Akerbeltz verwandt. Sacaze, Inscriptions, 348.

Aiar. Bösartiger Geist, Teufel. Azkue, Diccionario.

Aide, Aideko. Gottheit oder übernatürliche Kraft, die je nachdem die Taten der Menschen fördert oder hemmt. Nur mit Gebeten oder Zauberformeln kann man auf sie einwirken. Vielleicht mit —»Aereda in Beziehung zu setzen. Barandiarán, Mitología; Sacaze, Inscriptions.

Aidetikako -» Galtxagorri.

Aiharra-haio. Pamiliengeister, Teufelchen. Ein weiterer Name ist -»Etxajaunak „Hausherren“. Man bedient sich ihrer, um be­ sondere Ziele zu erreichen. Es gelingt, sie sich dienstbar zu machen, wenn man am Vorabend des Johannistages (23./24. Juni) eine Nadelbüchse oder eine ähnliche Dose an einem Brombeerbusch befestigt. Dann schlüpfen vier Kobolde oder Teufelchen in den Behälter (mehr haben nicht Platz). —»Galtxagorri. Azkue, Diccionario; Barandiarán, in: Eusko-Folklore (Dezember 1922). 34*

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Akerbeltz

Basken

Akerbeltz, „schwarzer Ziegenbock“. Stellvertreter der Gottheit ->Mari. Er wird, seinem Namen entsprechend, als schwarzer Ziegenbock dargestellt. Außer seinen allgemeinen, Mari gleichen Zügen besitzt er Heilkraft und günstigen Einfluß auf die Tiere, die seiner Hut und seinem Schutz anvertraut sind. Diesen Einfluß übt er durch sein sterbliches Symbol, den jungen Ziegenbock, aus. In vielen Häusern wird deshalb zum Schutz der Herde vor Seuchen ein Ziegenbock im Stall gehalten; er muß schwarz sein, wenn sein günstiger Einfluß tatsächlich wirksam werden soll. Die Hexerei, die im 16. und 17.Jahrh. im Baskenland weit ver­ breitet war, maß den alten Darstellungen des Gottes A. besondere Bedeutung bei. Sein Abbild werde, so glaubte man damals, in Akelarre Montag, Mittwoch und Freitag nachts von Zauberern und Hexen verehrt. Die Hexenversammlung tanzte und brachte dem Gott Brot, Eier und Geld als Opfer dar. Nach der Beschreibung solcher Versammlungen zu urteilen, stellten sie einen Geheimkult dar, Ausdruck des Widerstandes gegen den christlichen Glauben, vielleicht auch gegen die herrschenden oder offiziell anerkannten sozialen Zustände im Lande. Mehr als fünfzehn solcher Kultstätten kennt man im Baskenland; ihre Namen lauten, je nach Gegend, Ake­ larre, Akerlanda, Petralanda oder Eperlanda. Akelarre bei Zugarramurdi ist ein ebener Platz vor einem Höhleneingang. Nach der Über­ lieferung und nach Dokumenten aus dem 17. Jahrh. sollen sich auf diesem Platz und in dieser Höhle die Zauberer versammelt haben. Im Höhlenvorraum befindet sich in der Wand, knapp über dem Fußboden, eine fensterartige Öffnung. Auf diesem Podest empfing der alte Geist die Zauberer und Hexen. An der Ostseite hat die Höhle noch einen zweiten, geräumigeren Eingang, wo die Alten des Dorfes jedes Jahr am vierten Tag des Festes des Dorfheiligen (15.August) eine traditionelle Feier abhalten. Zwei alte Leute kaufen am Morgen einen oder mehrere junge Ziegenböcke, schlach­ ten sie in der Höhle und braten sie dort über einem offenen Feuer. Um die Mittagszeit versammeln sich alle Alten des Dorfes, ver­ teilen das gebratene Fleisch unter sich und essen es mit Brot und Wein. Dann fassen sie sich an den Händen oder bilden mit Hilfe von Tüchern eine lange Kette und verlassen die Höhle; sie ziehen so bis vor das Pfarrhaus, dort tanzen sie, dann gehen sie auf den Marktplatz und tanzen den „Sokadantza“. Barandiarán, Mitología, 107 — 110; Sacaze, Inscriptions, 431.

Alar. Pyrenäische Gottheit. Vielleicht mit -> Alarabi in Beziehung zu setzen. Sacaze, Inscriptions, 353.

520

Basken

Argui

Alarabi. In Marquina (Vizcaya) wird ein Berggeist dieser Gegend mit diesem Namen bezeichnet. Er erscheint in menschlicher Gestalt, besitzt jedoch nur ein Auge mitten auf der Stirn und ein einziges Bein, dessen Fuß eine runde Sohle hat. Synonyme für A. sind -> Torto und Anxo; an diese Namen knüpfen sich Schreckens­ erzählungen, ähnlich wie an Polyphem. Cerquand, Légendes; Vinson, Folklore; Barandiarán, Mitología, 76.

Alardos -> Alarabi( ?) ; Alar.

Älardosto. Pyrenäische Gottheit. -> Alardos; Alar; Alarabi( ?). Sacaze, Inscriptions, 355.

Alp -> Inguma.

Amilamia. Weibl. Gottheit der Gegend von Salvatierra; sie lebt in der Höhle von Lezao, einem Ort in der Sierra Entzia. Sie ist rot wie Gold und von freundlicher, mildtätiger Wesensart. Verschiedene nützliche und wunderbare Geheimnisse werden von ihr gehütet, z. B. die Kunst, Mehl aus einem leeren Sieb zu schütteln. Ihre Gunst gilt vor allem den Armen. Manchmal überrascht man sie dabei, wie sie sich das Haar mit einem goldenen Kamm ordnet. Der Teich, an dessen Ufer sie sitzt, dient ihr dabei als Spiegel. Baráibar, Palabras; Barandiarán, in: Eusko-Folklore (1956), 64.

Ande. Pyrenäische Gottheit weibl. Geschlechts. Ihre Attribute und Funktionen sind unbekannt; vielleicht ist sie mit der weibl. Gott­ heit Adre —> Mari verwandt. Sacaze, Inscriptions.

Andere Mayi, Andre Mari

Mari.

Anderexo. Pyrenäische Gottheit. Vielleicht verwandt mit Ande oder Andere Mayi. Sacaze, Inscriptions, 464.

Andoss-Ilun

Ilun.

Anxo -> Alarabi; Basajaun; Torto. Arardo. Pyrenäische Gottheit. Vielleicht verwandt mit Alardos. Sacaze, Inscriptions, 344.

Argui. „Licht“. Nachtgeist in den Ausläufern des Bergs Ernio. Wahr­ scheinlich ist er mit den Seelen der Abgeschiedenen in Verbindung zu bringen oder mit den Manen wie Izuargui oder Izugarri (Be521

Basken

Arguizagul

Zeichnung für den Toten, der entschwindet) aus der Gegend von Atáun oder Iruztargui von Marquina, der wiederum Ieltxu nahe­ kommt. Azti ; Ilazki. Barandiarán, Mitología.

Arguizagui

Ilazki.

Arhe (Lesung unsicher). Aquitanische Gottheit der römischen Zeit. Lafon, Noms aquitains.

Arito. Gottheit der römischen Zeit aus Gastiain. Verwandt mit

—> Aari( Í). Beltrán, Hispania Antiqua.

Arix. Pyrenäische Gottheit, die möglicherweise Aretx, —> Aari oder aritz „Eiche“ entspricht. Sacaze, Inscriptions.

Arixo. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Nach Sacaze mög­ licherweise dem Gott Mars ähnlich. Arix. Sacaze, Inscriptions, 485 f.

Armarreztu, Arriskrittu, „gravierte Felsen“, kommen an verschie­ denen mit Mythen verknüpften Orten vor. Es handelt sich um eingeritzte, manchmal gemalte Felszeichnungen, nur selten an freien Felswänden, sondern fast immer in Höhlen ; sie stellen Tier­

gestalten und stilisierte Menschenfiguren dar. Die Felszeichnungen, vor allem die in den Höhlen, sind prähistorischen Ursprungs; sie stammen teils aus dem Paläolithikum, teils aus dem Neolithikum und der Eisenzeit. Fast alle Höhlen mit Felszeichnungen stehen in engem Zusammenhang mit historischen Kultstätten. Die Höhle von Santimamiñe (mit Malereien und Gravierungen aus dem Magdalénien) liegt in der Nähe einer Einsiedelei, die Höhle von Laminazilo oder Istúritz (mit paläolithischen Gravierungen und Skulpturen) steht der Sage nach mit dem Herd von Otxozelaya in Verbindung, einer heiligen Stätte, zu der dem Volksmund nach auch die Höhle von Haristoy (mit Zeichnungen und Gravierungen aus dem Magdalénien) Verbindung hat. Die Höhle von Urtiaga (mit Gravierungen von Gegenständen aus dem Magdalénien) liegt unter der Einsiedelei von Salbatore, die Höhle von Goikolau (mit Gra­ vierungen aus dem Magdalénien( ? ) und aus der Eisenzeit) diente in römischer Zeit als Friedhof, dasselbe trifft für Solacueva zu, wo sich stilisierte Gravierungen aus der Eisenzeit finden. Die Kon522

Basken

Averan

tinuität der Kultübungen an diesen Stätten scheint unzweifelhaft. Die Tierfiguren, von der Mythologie ins Dunkel der Höhlen ver­ bannt, stellen Geister dar: —> Aatxegorri, -> Akerbeltz, —>■ Herensugue, Zaldixuri, Aari u. a. Die stilisierten Zeichnungen von menschlichen Figuren sind jüngeren Datums; sie stammen aus der Eisenzeit (Vgl. Abb.9—13.) Barandiarän, Hombre.

Ärpeko-saindu, „Höhlenheilige“. Ein junges, von —> Mari geraubtes Mädchen oder die versteinerte Mari selbst wohnt in der Tiefe einer Höhle von Bidarray. Viele Leute aus der Gegend ziehen dorthin, um Heilung, vor allem von Hautkrankheiten, zu erflehen. Sie beten vor einem Stalagmiten, den sie für die versteinerte Heilige halten. Eines Nachts sah man die flammende Gestalt Maris in die Höhle eintreten, und am anderen Morgen befand sich dort der Stalagmit. Die Hilfesuchenden legen die Kleider des Kranken und einige Geld­ stücke nieder, nachdem sie die kranken Glieder mit dem Wasser, das über die Heiligenfigur rinnt, eingerieben und vor der steinernen Figur eine Kerze entzündet haben. Barandiarän, in: Eusko-Folklore (1955).

Arpenninus. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Sacaze, Inscriptions.

Arriskrittu -> Armarreztu. Artahe, Arthe. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Der Name bedeutet bask. „Steineiche“. Sacaze, Inscriptions.

Asto-Ilun, Ast-Ilunn. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Sacaze, Inscriptions, 363 f.

Atarrabi, Atarrabio, Ondarrabio. Mit diesen Namen wird der gute Sohn -> Maris oder der gute Schüler -> Etsais bezeichnet. Er durch­ kreuzt oder verhindert die Anschläge seines Bruders -> Mikelats, der die Menschen zu verderben trachtet. A. besitzt keinen Schatten, denn dieser wurde ihm von Etsai geraubt. Am Ende seines irdischen Daseins jedoch erlangt er ihn wieder und wird gerettet. Barandiarän, in: Eusko-Folklore (1957).

Averan, Averanus. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Sacaze, Inscriptions.

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Axo

Basken

Axo. Aquitanische Gottheit( ?) der römischen Zeit. Lafon, Noms aquitains.

Azti, Aztru, Aztua, „Zauberer“, „Wahrsager“. Bezeichnung der Personen, die die Wahrsagekunst und Zauberei ausüben. Sie be­ haupten, auf die Dinge mittels deren Abbildungen, seien dies ding­ liche Gegenstände, einfache Bilder, Gebärden, Symbole oder Namen, einwirken zu können. Die Zauberei (bask. aztikeri) ist im Baskenland in verschiedenen Formen bekannt und üblich. Einige Einzelfälle aus der Vielzahl der möglichen Beispiele sollen das verdeutlichen. —>Argui „Licht“, gilt an vielen Orten des Baskenlandes als einer der Namen und eines der Symbole für die Menschenseele. Die Seele eines Verstorbenen erscheint nach einem noch ziemlich weit ver­ breiteten Glauben als Licht, und man kann es mit einem Wachs­ licht (bask. arguizai „Hüter der Seelen[ ?]“), das sie darstellen soll, beeinflussen oder erleuchten; so glaubt und tut man es in den Häusern und Kirchen noch heutzutage. Das Wachslicht, Symbol der Seele und des Lebens, das mit magi­ scher Kraft bewirkt, daß die Seelen der Abgeschiedenen an ihrem Aufenthaltsort im Jenseits Licht haben, wird auch benützt, um das Leben einer Person auszulöschen. Ein typisches Beispiel: In einem Haus in Leiza versuchten die Bewohner, einen Dieb aus der Nachbarschaft zu stellen und zu bestrafen, der ihnen ihrer Meinung

nach einen barquillo (Silberteller) gestohlen hatte. Sie zündeten eine Wachskerze an, die für sie den Dieb verkörperte, und nahmen an, das Leben des Bösewichts werde erlöschen, wenn sich die Kerze verzehre. In diesem Fall starb niemand, denn es hatte gar kein Diebstahl stattgefunden; aber im Obstgarten des Besitzers des bar­ quillo verdorrte ein Apfelbaum, an dessen Fuß die kostbare Schale verloren worden war. Um eine Beleidigung zu rächen, dreht man eine Kerze und ent­ zündet sie, in der Hoffnung, der Beleidiger werde danach eben­ falls gekrümmt und sterbe. Zuweilen verkörpert bei den Zauberhandlungen eine Münze die Person, die der Zauberer bestrafen will. Er verdreht oder verbiegt eine Münze und wirft sie ins Feuer oder in den Opferstock einer Kirche, um so zu bewirken, daß die verhaßte Person leidet und schließlich stirbt. Um Herzkrankheiten zu heilen, opfert der Zauberer einen Hahn und vergräbt dessen Herz, damit es unter der Erde verwest. Man glaubt, dadurch werde das Herz des Kranken geheilt. Um Quet­ schungen, Verrenkungen usw. zu heilen, legt der Zauberer ein 524

Basken

Azti

Kleidungsstück — einen Strumpf oder eine Socke, wenn ein Bein verletzt ist — auf das verwundete Glied und tut, als nähe er beides mit Nadel und Faden zusammen. Dabei erwartet er, daß die ver­ zerrten Muskeln ebenso zusammengenäbt oder verbunden werden. Bei den Sonnwendfeuern im Sommer und im Winter (->Ekhi) werden Kräuter, Felle oder Puppen verbrannt, die das alte Jahr oder Wächter der Vergangenheit verkörpern. Mit ihrem Verbrennen sollen die bösen Geister vernichtet werden, die der Ernte schaden oder dem Vieh Krankheiten bringen. Eine andere Art der Zauberei befaßt sich damit, künstlich Regen zu erzeugen: man besprengt eine Heiligenfigur mit Wasser, um so natürlichen Regen für die Felder herbeizuführen. Um eine Gewitter­ wolke zu bannen, von der Hagelschlag droht, weist ihr der Zauberer mit der Pflanze uztaibedar „Regenbogenkraut“ (Rumex crispus) die Richtung, in die sie sich wenden soll (—>Mari). Um zu verhindern, daß der Blitz in ein Haus schlägt, oder um zu bewirken, daß er nach oben statt nach unten fährt, stellt man eine Axt — das Symbol des Blitzes — mit der Schneide nach oben auf die Hausschwelle. Nicht nur Ähnlichkeit, sondern auch andere Umstände und Eigen­ schaften verleihen den Dingen magische Bedeutung. Für den Zauberer verkörpert auch ein einzelner Teil eines Gegenstandes oder einfach etwas, das mit dem Gegenstand in Berührung war oder zu ihm gehörte, den Gegenstand selbst. Was also der Zaube­ rer — mit Absicht — dem Teil antut, das wird auch mit dem be­ treffenden Gegenstand, sei es Person, Tier oder Sache, geschehen. Leidet eine Kuh an Flechte, so berührt man sie mit grünen Stech­ palmen- und Waeholderzweigen; die Kuh wird gesund, sobald die Zweige verdorren. In einer Höhle am Iuskadi oder Iduskimendi (Sonnenberg) be­ findet sich ein Stalagmit, der als versteinerte Heilige gilt. Wer an Ekzemen leidet, berührt mit einem Taschentuch erst diesen Sta­ lagmiten und danach die kranke Körperstelle. Danach läßt er das Taschentuch auf den Felsen in der Höhle liegen und geht weg: Mit dem Taschentuch soll er die Krankheit hinter sich gelassen haben. Auch Infarkte und Warzen heilt man mittels Verkörperung und auf dem Wege der Berührung. Wer an einem Infarkt leidet, nimmt ein gewöhnliches Salzkorn in die Hand und fährt damit kreuzweise über den erkrankten Körperteil, wobei er folgenden Spruch sagt: „Gainguillak dira -f- bederatzi; bederatziak + zortzi; zortziak + zazpi; zazpiak + sei; seiak + bost; bostak + lau; lauak + iro; iruak + bi; biak + bat; gainguillak egin dezala zirt-zart“ („Der 525

Azti

Basken

Infarkte sind: neun; die neun: acht; die acht: sieben; die sieben: sechs; die sechs: fünf; die fünf: vier; die vier: drei; die drei: zwei; die zwei: einer; der Infarkt mache zirt-zart, er platze“). Bei den letzten Worten wirft man das Salzkom ins Feuer — es platzt so­ gleich und macht zirt-zart. Dieselbe Handlung nimmt man mit weiteren Salzkörnem vor, bis das neunte Korn im Feuer zerplatzt ist. So verfahrt man an neun aufeinanderfolgenden Tagen mit je­ weils neun Salzkömern. Dann sollen nach Ansicht des Zauberers der Infarkt oder die Warzen verschwunden sein. Statt der Salzkörner werden auch Weizenkörner, Wacholderbeeren, Binsen usw. benützt; diese werden jedoch nicht ins Feuer geworfen, sondern vergraben. Man glaubt, wenn diese Dinge vermodern, werde auch die Krankheit verschwinden. Der Name einer Sache gilt als Verkörperung des Dinges, als eng mit ihm verbunden nach dem Sprichwort: „Izena duen guztia omen da; izengaberik ez omen“ („Alles, was einen Namen hat, existiert, nichts existiert ohne Namen“). Deshalb zaubert der Magier mit dem Namen; er kann sich das mit Namen Genannte verschaffen, wo immer es sich auch befindet. Dies gilt insbesondere für den birao, den „Fluch“ oder „bösen Geist“ (->Irao); eine Ver­ wünschungsformel wird mit einem Namen verbunden und ruft auf die bezeichnete Person oder Sache ein Unglück, eine Krankheit oder einen Teufel herab. Ist der Name der Person, auf die ein birao geschleudert werden soll, nicht bekannt, so kann der Zauberer trotzdem dafür sorgen, daß seine Verwünschung den Richtigen trifft, wenn er einen ganzen Tag lang unaufhörlich die Fluchformel ausstößt; denn es gibt einen Augenblick des Tages, in dem der birao unfehlbar sein Objekt trifft. Ein Fluch lautet: „Etsaiak artuko al au“ („Der Teufel soll dich holen“). Der Teufel oder böse Geist, der durch den birao in eine Person fährt, wird auch Gaixto, Mamu oder —> Galtxagorri genannt. In den gleichen Vorstellungskreis gehören die Verwünschungen, die sich häufig in Dokumenten aus dem Mittelalter finden. So steht in der Urkunde, mit der König Sancho der Weise von Navarra im Jahre 1165 dem Ort Laguardia das Stadtrecht verlieh, zu lesen: „Wer diesen Vertrag und diese Rechte und Sitten bricht oder Über­ tritt, sei verflucht und von Gott geschieden, der der Vater, der Sohn und der Heilige Geist ist, und von der Heiligen Maria und von unserem Herrn Jesus Christus, und er stehe im Fluche der Engel, der Erzengel, der Patriarchen, der Propheten, der Apostel, der Evangelisten, der Märtyrer, der Bekenner und der Jungfrauen und aller Auserwählten Gottes, und er sei verdammt wie Judas, der Verräter, in die tiefste Hölle und verderbe, wie Sodom und Go526

Basken

Basajaun

morra verdarben, seiner Tage seien wenige, sein Weib werde ver­ lassen und seine Waisen seien getilgt aus dem Buch derer, die ein gutes Leben führen, und sein Gedächtnis erlösche von nun an bis in Ewigkeit, Amen, und auf diesen Fluch legt der König dem Herrn zehntausend Maravedis.“ Landazuri, Suplemento a los cuatro tomos de Historia de Alava, Vitoria 1928, 301; Barandiarán, Mundo, Bd. 4, 93; ders., Mitología, 29—49.

Baelisto. Gottheit der römischen Zeit aus der Gegend von Angostina (Alava). Baraibar, Museo.

Baeserte. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit aus der Gegend von Commingues. Auf einem dieser Gottheit geweihten Altar ist auf einer Seite ein Eber (bask. basurde,) eingraviert (Abb.14), mög­ licherweise das Symbol dieser Gottheit. -> Mikeldi. Sacaze, Inscriptions, 259.

Bäume -> Arix; Artahe; Fagus; Mari. Baicorrix, Baigorisco, Baigorix, Buaiorix. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Möglicherweise verwandt mit -> Beigorri, einem unterirdischen Geist, oder mit Baigorri „rotbrauner Fluß“. Sacaze, Inscriptions, 424—426.

Baios. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Sacaze, Inscriptions.

Balbe —> Erio.

Basajaun, „Herr des Waldes“. Ein Geist, der im tiefen Wald oder in hochgelegenen Höhlen lebt. Er hat einen großen menschlichen Körper mit dichtem Haarkleid. Das Haar fallt ihm vorn bis zu den Knien herab und bedeckt Gesicht, Brust und Bauch. Er ist der Schutzgeist der Herden. Wenn ein Unwetter aufzieht, warnt er die Berghirten durch Schreie, damit sie ihre Herden in Sicherheit bringen können. Hält er sich in einem Pferch oder in dessen Nähe auf, so wagt sich kein Wolf heran. Die Schafe melden seine Gegen­ wart durch ein allgemeines Schütteln ihrer Glöckchen. Dann können sich die Hirten beruhigt zum Schlaf legen, denn sie wissen, daß in dieser Nacht oder an diesem Tag der Wolf, der große Feind der Herden, sie nicht heimsuchen wird. Manchmal wird B. auch als schreckliches und böses Wesen von Riesenkräften und außergewöhnlicher Behendigkeit dargestellt. Auch erscheint er in der Volksüberlieferung als der erste Bauer, 527

Basce-Andoss

Basken

von dem die Menschen den Getreideanbau lernten, und als der erste Schmied und der erste Müller, dem die Menschen das Geheimnis der Sägen- und Mühlradherstellung und des Metallschmelzens ent­ rissen haben. Vinson, Folklore, 43; Barandiarán, in: Eusko-Folklore (1922); ders., Mito­ logía, 75f.

Basce-Andoss. Gottheit, die der Gegend von Bassiés in den Zentral­ pyrenäen ihren Namen gab; römische Zeit. Sacaze, Inscriptions, 349.

Beguizko, „Behexung“, „Bannen mit dem Blick“. Auf sechs Arten kann ein Mensch die äußere Welt beeinflussen oder auf sie ein­ wirken: durch ihre eigenen Kräfte, durch bestimmte Techniken, durch Gebet mit Hilfe von Genien oder Geistern, durch Zauberei

und durch Behexung. Die letzte Verfahrensweise beherrschen nur sehr wenige Menschen. Mit ihrem Blick verfügen sie über magische Kraft und üben ihre Wirkung auf größere Entfernungen aus, ohne Vermittlung von Bildern, Darstellungen, Formeln oder Gebärden wie bei der Zauberei (—> Azti), ohne offensichtliche Anstrengungen, ohne besondere Techniken und ohne Mithilfe Gottes oder der Geister wie bei den anderen Verfahrensweisen. Ist jemand in Schwermut oder ständiger Niedergeschlagenheit be­ fangen, ist er dauernd müde, leidet er unter Übelkeit und Appetit­ losigkeit, findet er keinen Gefallen an Festen und Lustbarkeiten, wird er grundlos schwächer und magert ab oder leidet er lange an einer imbekannten inneren Krankheit, so sagt man, irgend jemand habe ihm b. angetan. Auch wenn ein Gegenstand zerbricht, ohne daß eine natürliche Ursache dafür zu erkennen ist, nimmt man an, daß B. im Spiel ist. Um sich vor den Wirkungen der Behexung zu schützen, verwendet man Amulette, deren Wirksamkeit hauptsächlich auf Magie beruht. Amulette können aus einem oder mehreren der folgenden Bestand­ teile zusammengesetzt sein: pflanzliche Kohle, Herdasche, Wein­ ranke, Sellerie, Lorbeerblatt, Wermut, Olive, Rosmarin, Aster, Fingerhut, Kochsalz, Blutkraut, ein Stück Papier mit den ersten Worten des Johannesevangeliums, Nabelschnur, geweihtes Brot, geweihte Kerze, Hühnermist, Centimomünze usw. Als Amulette werden auch feigenförmige Händchen aus Knochen benützt sowie Hundeschädel (in Ackerbaugebieten), spiralenförmig gedrehte, um den Hals des Viehs gelegte Seile, Glöckchen, Dachsfelle und Stachel zum Schutz der Kühe, Schafe und anderer Haustiere. Behexung -> Beguizko; Hexenkult; Zauber.

528

Basken

£delate

Beigorri -> Aatxe.

Belaguile -> Sorguin. Belaile -> Sorguin.

Belisama. Pyrenäische Gottheit von Saint-Lizier in Aquitanien, der Göttin Minerva ähnlich. Sacaze, Inscriptions, 118—120.

Berggeist, -gottheit -> Alarabi; Gar; Yonagorri.

Bildurraize, „schreckliche Luft“. Böser Geist, der den Menschen

schlimme Träume verursacht. -> Inguma. Birao, birau -> Azti; Irao.

Boceo Harauso. Gottheit der römischen Zeit aus Boucou (Comminges). Sacaze, Inscriptions, 254 f.

Borienno. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit aus dem Barousse-

Tal. Sacaze, Inscriptions, 471.

Brunnen -> Mariturri. Buaiorix -> Baicorrix. Buche —> Fagus.

Christus -> Kixmi.

Culebro -> Sugaar.

Daho. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Nach Sacaze dem Gott Mars ähnlich. Sacaze, Inscriptions, 260.

Eate, auch Egata genannt. Gott des Sturmes und des Feuers. Seine dumpfe, schreckliche Stimme ist zu vernehmen, wenn Hagel oder ein verheerender Brand (erraate, erreeta) im Anzug ist. Mari. Barandiarán, Mitología.

Eber —> Baeserte; Lur; Mikeldi. Edelate. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit aus der Gegend von

Comminges. Sacaze, Inscriptions, 167.

529

Egata

Basken

Egata -> Eate. Egu -> Ekhi. Eguzki, „Sonne“ -> Ekhi. Ekhi, „Sonne“, Eguzki, „Sonne“, „Sonnenlicht“. In manchen Ge­ genden wird das Sonnenlicht Eguzki und das Gestirn selbst Eguzkibegui „Auge der Sonne“ oder Jainkoaren-begui „Auge Gottes“

genannt. An manchen Orten grüßt man E„ wenn er untergeht, mit agur „auf Wiedersehen“, oder man sagt: Eguzki amandrea badoia bere amangana („Die Großmutter Sonne geht zu ihrer Mutter“, d. h„ sie kehrt in den Schoß der Erde zurück). Die Sonne gilt also als die Tochter der Erde (->Lur; Mikeldi). Mancherorts nennt man sie auch „gebenedeit“ und „heilig“: Eguzki santu bedeinkatue zoaz zeure amagana („Heilige, gebendeite Sonne, geh zu deiner Mutter“) ruft man ihr bei Sonnenuntergang zu. Außer ihren Natureigenschaften besitzt die Sonne die Macht, die bösen Geister in die Flucht zu schlagen, die nachts auf der Erde ihr Unwesen treiben. Zauberer werden gelähmt, wenn die Sonne sie überrascht, ehe sie die Attribute ihres Amtes abgelegt haben. Auch manche Arten von Geistern verlieren ihre Gewalt über den Menschen, sobald sie ein Sonnenstrahl trifft. Der Sonnengott nimmt seit dem Neolithikum einen wichtigen Platz in der bask. Mythologie ein. Er ist in neolithischen Gravierungen schon ebenso wie später in Gravierungen der Eisenzeit, ja noch im 15. Jahrh. auf den Scheibenstelen der Friedhöfe dargestellt. Sonnwendglaube und -riten. Bei der Heiligkeit, die die Basken der Sonne zuerkennen, ist es nicht verwunderlich, daß viele Sonnen­ riten der indoeuropäischen Kultur auch in der bask. Mythologie erscheinen. Bestimmte Sonnwendgebräuche tragen daher im Baskenland den Charakter eines Sonnenkultes. Man sagt, die Sonne gehe am Morgen des Johannistages (24. Juni) tanzend auf, Bäder und Besprengungen in der Frühe dieses Tages schützten das ganze Jahr vor Krankheiten. Des weiteren glaubt man, daß die an Türen und Fenstern aufgesteckten Zweige von Weißdorn, Esche, Johannis­ kraut, blühendem Farnkraut usw. und die Margeriten, Lilien und Fenchelblüten, die an diesem Tag wie ein Teppich in jedem Haus auf der Schwelle des Haupteingangs hegen, das Haus gegen Blitz schützen, daß die am Johannistag gepflückten Blumen als Kräutertee zur Heilung bestimmter Krankheiten dienen können usw. Zur gleichen Gruppe gehören noch verschiedene andere Bräuche. So zündet man in der dem Johannistag vorangehenden

530

Basken

Ekhi

Nacht vor den Häusern und an Wegkreuzungen Feuer an und springt darüber, um gegen Hautkrankheiten gefeit zu sein; alle Familienglieder gehen betend um das Feuer herum, das dabei immer zur Linken liegen muß; man zündet am Feuer Kräuter­ büschel an und trägt sie über die Felder, damit böse Geister ver­ trieben werden und die Ernte von Schaden verschont bleibt; man errichtet auf dem Marktplatz den sogen. Johannisbaum, den der Eigentümer nicht zurückfordem darf, auch wenn er ihm gegen seinen Willen genommen wurde; auf dem Weg zu bestimmten Johannis-Einsiedeleien setzen sich die Pilger Kränze von Immor­ tellen und anderen Kräutern auf; Bruchleidende gehen dreimal an einer in eine Eiche geschnittenen Kerbe vorüber, damit ihr Leiden Heilung finde usw. Zur Wintersonnenwende gehören andere Riten, die noch heute im bask. Volk lebendig sind, so z. B. das Jahresendfeuer, das man in manchen Dörfern entzündet, der Gabonzuzi, der „Weihnachts­ klotz“, der zur Weihnachtszeit im Herd glüht, die Reinigung der Haustiere, die man über den Weihnachtsklotz oder Weihnachts­ stamm steigen läßt, die rituelle Segnung des Weihnachtsbrotes durch den Familienvater, das Auffangen des ersten Regens, der in der Neujahrsnacht nach Mitternacht fällt. Kreise, Swastiken, Distelblüte und andere Sonnensymbole. Auf den Monumenten der bask. Volkskunst finden sich häufig Zeichen, die vermutlich die Sonne darstellen und wahrscheinlich ihren Ursprung im Sonnenkult haben: ein einfacher Kreis, konzentrische Kreise, Räder mit geraden oder gebogenen Speichen, fünfzackige Sterne, Swastiken, ovale Figuren, Rosetten usw. Heute haben diese Zeichen im allgemeinen nur noch dekorativen Wert; doch die Tatsache, daß sie an manchen Orten und unter gewissen Umständen „heilige Sonne“ genannt werden, weist deutlich auf ihre einstige Bedeutung hin. Auch die Walddistel (Carlina acaulis) begegnet gelegentlich in diesem Zusammenhang. Im Volksmund heißt sie Eguzkilore „Blüte der Sonne“ und sie stellt nach Meinung derer, die sich ihrer bedienen, ein Sonnensymbol mit mystischen Eigenschaften dar. Sie wird an den Haustüren angebracht, wo sie böse Geister sowie bestimmte Zauberer und Ungeheuer vertreibt und ihnen wie auch den Geistern des Sturms und des Blitzes den Eintritt ins Haus verwehrt. In der Sonnenmythologie verwurzelte Anschauungen spielten wohl auch beim Entstehen der heute noch gepflegten Sitte mit, die Ge­ bäude so zu errichten, daß die Hauptfassade nach Osten blickt. Reste dieser Sitte findet man noch heute bei den alten Häusern von Sara, Atäun und anderen Gegenden. Auch die Hütten der Hirten sind auf vielen Weiden so ausgerichtet; in Atäun sagt man, 531

Ele

Basken

das bringe den Hirten Glück. In den mittelalterlichen Grabstätten ist die Ost-West-Lage des Leichnams üblich (das Haupt nach Westen, die Füße nach Osten), eine Sitte, die man auch bei den bronzezeitlichen Dolmen findet und deren Entstehung hier wie in anderen Ländern mit dem Sonnenglauben und den Sonnenmythen in Verbindung stehen muß. Barandiarán, Mitología.

Ele. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Sacaze, Inscriptions, 350.

Elaaso, „feiner Schnee mit Wind“, „Schneegestöber“. Geist des Schneegestöbers, der in der Arleze-Höhle (Sierra de Andia) wohnt. Erde, Erdgeist -> Höhlengottheiten; Lur Erdit(s). Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit aus Tolosa. Sacaze, Inscriptions, 66 f.

Erge. Pyrenäische Gottheit aus dem Neste-Tal. Sacaze, Inscriptions, 500—512.

Erio. Geist, der den Menschen das Leben nimmt, der Tod. Erraate, Erreeta —> „Eate des Brandes“.

Etsai. Hausgeist, Hüter von Leze, einer Höhle in Sara, und Meister der Künste und Wissenschaften. Nachts kommt er aus seiner unter­ irdischen Wohnung hervor und erscheint in verschiedenen Tier­ gestalten, als Stier, Pferd, Schwein und Ziege. —> Atarrabi. Martin del Rio, Disquisitionum magicarum libri sex (Moguntiae 1612) ; Cerquand, Légendes ; M. Menéndez y Pelayo, Historia de los Heterodoxos españoles, Bd. 3 (Madrid 1918), 336—345; Barandiarán, in: Eusko-Folklore (1957), 97f.

Etxajaunak, „Hausherren“. Familiengeister. —> Aiharra-haio; Galtxagorri. Lafitte, Atlantika-Pireneetako sinheste zaharrak.

Etxe -> Itxe.

Fagas. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit aus der Gegend von Comminges. Es handelt sich um die göttlich verehrte Buche, wie man aus den Buchengravierungen auf den Altären dieser Gottheit schließen kann. 532

Basken

Galtxagorri

Mit dem alten Baumkult, insbesondere dem Buchenkult, soll auch der Name Pago-bakoüza Zusammenhängen. So heißt ein Ort im Wiesenland von Urbia (Sierra Aizkorri), wo sich ein Dolmen be­ findet. Obwohl heute kein Baum zu sehen ist, stand dort einst sicher ein pago, eine „Buche“, der dem Ort den Namen gab. Pagöbeäeinkatu „gesegnete Buche“, heißt eine Anhöhe in der Sierra Placencia, wo sich ebenfalls ein Dolmen befindet. Nicht sehr weit davon ent­ fernt, in Vergara, steht eine Buche desselben Namens. Jedes Jahr findet eine Pilgerfahrt dorthin statt; am Stamm der Buche wird ein Prozessionskreuz befestigt. Pagomari heißt eine Buche in der Sierra Aralar, um die sich Liebeslegenden ranken. Pagozarreta, Bagomultxu, Bagargui, Bagazäbälaga, alles Zusammensetzungen mit pago-, sind ebenfalls Namen bask. Orte, an denen sich Dolmen befinden. Sacaze Inscriptions, 188 — 192 und 341; Barandiarän, Hombre.

Familiengeister -> Aiharra-haio; Etxajaunak; Galtxagerri.

Feen —> Amilamia. Feindliche Brüder -> Atarrabi; Mikelats.

Felszeichnungen —> Aatxe; Armarreztu.

Feuer(gott) —>Eate; Erraate; Herensugue; Idittu; Mari; Sugaar. Flüche-> Azti, Irao; Zauber.

Flüsse -> Baicorrix.

Gabonzuzi

Ekhi.

Gaixto ->Azti.

Gaizkin. Böser, Krankheiten verursachender Geist. Er gewinnt in den Federn im Kissen des Kranken Gestalt, die er so lange umwühlt, bis sich ein Hahnenkopf daraus formt. Nur wenn man diese Figur verbrennt, kann der Kranke genesen. Romeu Figueras, Mitos.

Galtxagorri. Winziger hilfreicher Geist in Menschengestalt, nach Meinung anderer in Insektengestalt. Vier solcher Geister passen in eine Nadelbüchse; ihre Wohnung ist die Nadelbüchse ihres Schütz­ lings oder Dienstherren. Von Menschen, die Wunder oder Helden­ taten vollbringen wie die ->azti „Wahrsager“, die —> sorguin „Zauberer“ und gewisse Heilkünstler und Magier, sagt man, sie hätten G.s Gunst gewonnen und trügen ihn in ihrer Nadelbüchse 35 A

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Basken

Gar

mit sich herum. Andere Namen dieses Geistes sind Mamarro, Mozorro, Aidetikako, Prakagorri. Barandiarán, in: Eusko-Folklore (1921); ders., Mundo, Bd. 1, 105 —108.

Gar. Gottheit, die dem Berg und Gebirgszug Gar in den Pyrenäen den Namen gab. In römischer Zeit wurden ihr zwei Altäre geweiht. Sacaze, Inscriptions, 336, 355.

Gauargui -> Argui.

Gaueko, „der der Nacht“. Der Geist der Nacht und Herr der Finster­ nis. Er läßt nicht zu, daß die Menschen nachts außerhalb des Hauses gewisse Arbeiten verrichten. Vor allem straft er diejenigen, die sich in der Dunkelheit als Helden aufspielen und damit prahlen, keine Angst vor der alles verdeckenden Schwärze, der Einsamkeit und Stille jener Stunden zu haben. In manchen Berichten taucht er als Teufel auf, in anderen wiederum als freundlicher Geist oder auch als heidnische Gottheit. Zuweilen zeigt er sich in Kuhgestalt, dann wieder als Ungeheuer. Gelegentlich erscheint er als Wind­ stoß, wobei er sagt: „Gaua Gauekoarentzat, eguna egunezkoarentzat“ („Die Nacht dem der Nacht [dem Gaueko], der Tag dem des Tages [dem Menschen]“). Barandiarán, Mitología, 68 f.

Geier -> Mari.

Gorritxiki. Geist in der Gegend von Aya, den Lamien ähnlich. —> Lamifi.

Guerixeti. Die Seele des Verstorbenen. Der Bestandteil gueriza „Schatten“ deutet auf Einfluß der römischen Auffassung von der Seele der Abgeschiedenen hin. Im Gegensatz dazu ist in den Ost­ gebieten des Baskenlandes zur Bezeichnung der Seele des Ab­ geschiedenen der Name argui „Licht“ gebräuchlich. —> Argui. Barandiarán, Mitología, 63.

Guizotso. Geist in Menschengestalt mit Tierfell und rundsohhgen Füßen. Satrustegui, Vocabulario, 266.

Hauptgottheit -> Mari. Haus -> Itxe.

Hausgeist

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Etsai; Famihengeister.

Basken

Horolate

Heilgottheiten —> Akerbeltz ; Arpeko-saindu; Azti; Ekhi; Lahe.

Herauscorritsehe. Gottheit der römischen Zeit aus der Gegend von Tardets. Daranatz, Curiosités, 80.

Hercules -> Ilun. Herdengottheit -> Akerbeltz; Basajaun; Lur.

Herdîeuer -> Itxe.

Herensugue. Teuflischer Geist, der in Schlangengestalt erscheint, wie der zweite Bestandteil seines Namens, sugue „Schlange“, andeutet. In manchen Berichten wird er siebenköpfig dargestellt, in anderen hat er nur einen Kopf. Seine bekanntesten Wohnstätten sind die Höhle von Ertzagania (Sierra Ahuski), die Schlucht von San Miguel (Sierra Aralar), das Gebirge von Mondragón, Peña de Orduña und andere Orte. Mit seinem Atem hat er die Tiere der Sierra Ahuski und der benachbarten Berge an sich gelockt, um sie aufzufressen. Als er in der Sierra Aralar, in Mondragón und in Peña de Orduña lebte, nährte er sich von Menschenfleisch. Als ihm der siebente Kopf wuchs, so erzählt man sich in Ezpeleta, verwandelte er sich in Flammen und flog mit ungeheurer Geschwindigkeit in das Ge­ biet von Itxasgorrieta oder zu dem roten Gewässer im Westen, wo er versank. Eine andere Sage berichtet, er sei von einem Helden aus Alzay vergiftet worden ; darauf habe er sich in Flammen ge­ hüllt und sei zum Ozean geflogen; bei diesem rasenden Flug habe er ein fürchterliches Getöse verursacht und mit seinem Schwanz die Gipfel der Buchen im Wald von Itze (Arbailles) abgeschlagen. Einem Helden oder Engel gelang es schließlich, H. und seiner Macht ein Ende zu bereiten. Agustin Chaho, Biarritz entre les Pyrénées et l’Océan I, 176; W. Webster, Legends, 20—41; Azkue, Buskalerriaren Yakintza I, 360; II, 131 — 135; Barandiarán, in: Eusko-Folklore (1949); Caro Baroja, Notas.

Hexen, Hexerei

Behexung ; Zauber.

Himmelsgott -> Ortzi.

Höhlengottheiten -> Aatxe; Akerbeltz; Amilamia; Armarretztu; Arpeko-saindu; Azti; Baicorrix; Basajaun; Eluaso; Etsai; Heren­ sugue; Idittu; Ilumbeta’ko Mari; Lamiñ; Lur; Sugaar; Torto. Horolate. Eponyme Gottheit von Ore (Comminges) ; römische Zeit. Saeaze, Inscriptions, 336. 35

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Idiatte

Basken

Idiatte. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit. Sacaze, Inscriptions, 226—228.

Idittu, Iditxu, Ieltxu. In der Gegend von Guernica trägt ein Nacht­ geist diese Namen. Er tritt manchmal in Menschengestalt auf, dann wieder als feuerspeiender Vogel. Im allgemeinen kündigt ihn in der Dunkelheit der Nacht eine Feuerflamme an. Er taucht unerwartet auf und verbreitet Schrecken. Er ist zwar nicht bösartig, aber wer ihm aus Neugier folgt, den führt er gern durch Felsenklüfte, Ab­

gründe und andere gefährliche Orte. Im allgemeinen lebt der Geist in Schluchten, Höhlen und Brunnen. Barandiarän, in: Eusko-Folklore (1922).

Ieltxu -> Idittu. Ilazki, Illargui, Iretargui, Irargui. Namen für den Mond. Der Mond ist wie die Sonne weibl. und wird auch „Großmutter“ genannt. Wenn er über den Bergen im Osten aufgeht, redet man ihn an: „Illargui amandrea, zeruan ze berri?“ („Großmutter Mond, was gibt es Neues im Himmel ?“). Die Mutter des Mondes ist die Erde (—>Lur; Mikeldi). In manchen Dörfern lehrt man die Künder, der Mond sei das Gesicht Gottes; in anderen betet man ein Salve, wenn er aufgeht. In Cerain begrüßt man den Mond mit den Worten: „Illargui amandre santue, Jainkok bedeinkautzala; nere begui ederrak gaitzik ez deiola; ikusten duen guzik ala esan deiola“ („Heilige Großmutter Mond, Gott segne Euch; mein blendendes Auge bringe Euch kein Unheil; alle, die Euch sehen, mögen in gleicher Weise mit Euch reden“). Der Freitag war dem Mond geweiht oder geheiligt. Sein Name ostiral (mit der Wurzel irargui „Mond“) korrespondiert mit ostegun „Tag des Himmels“, dem Donnerstag. Der Name Illargui bedeutet nach allgemeiner Auffassung „Licht der Toten“ (von il „Toter“ und argui „Licht“), was mit dem Glauben übereinstimmt, I. leuchte den Seelen der Verstorbenen. Man glaubt auch, daß das auf einem Grab brennende Wachslicht, dessen Name arguizagui gleichzeitig eine Bezeichnung für den Mond ist, den Verstorbenen leuchtet, deren Körper im Grab ruhen. Daß das Schicksal der abgeschiedenen Seelen mit I. in Verbindung steht, scheint auch aus der Überzeugung hervorzugehen, daß es ein gutes Vorzeichen für das Weiterleben der Seele ist, wenn ein Mensch bei zunehmendem Mond stirbt. Man glaubt auch, daß Menschen und Tiere, deren Empfängnis in die Zeit des zunehmen­ den Mondes fällt, männlichen Geschlechts sind, während die bei ab­ nehmendem Mond Empfangenen weiblich sind.

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Basken

Ihm

In manchen Dörfern herrschte die Sitte, bei Mondlicht das Abend­ essen, eine Milchsuppe mit Hirse, im Freien einzunehmen. Es gibt viele Vorstellungen und Gebräuche die den günstigen oder verderblichen Einfluß der Mondphasen auf Aussaat, Ernte, das Fällen von Bäumen, das Schlachten von Tieren usw. betreffen. Auch der Freitag, so glaubt man, hat entsprechende Einflüsse, und zwar das einemal die des zunehmenden, ein anderesmal die des ab­ nehmenden Mondes. Der Freitag ist auch der von den Zauberern bevorzugte Versamm­ lungstag. An diesem Tag muß man bei Mondlicht an einer Weg­ kreuzung die Zaubergegenstände verbrennen, die verzauberten Personen gehört haben. Auch gewisse Beschäftigungen soll man freitags wie an Festtagen meiden; dazu gehört z. B.: eine wichtige Arbeit beginnen, das Vieh von den Bergen treiben, Bienenhonig schleudern, Knechte oder Dienstleute einstellen und ins Haus bringen, heiraten, sich die Nägel schneiden, die Zeremonie der „post partum“-Reinigung abhalten. In römischer Zeit wurden der Mond und die Sonne im Pyrenäen­ gebiet verehrt. Dies beweisen die diesen Gestirnen geweihten Altäre in Lunax (Comminges) und in Santacara (Navarra). Auch auf epi­ graphischen Denkmälern jüngeren Datums (seit dem lö.Jahrh.) sind Sonnen- und Mondabbildungen vertreten (—>Ekhi), ins­ besondere auf den Scheibenstelen der Friedhöfe. Baroja, Religión, 47; Sacaze, Inscriptions, 293; Barandiarán, Contribución, 131.

Ilix, Ilixon, Ilixor. Eponyme Gottheiten von Luchon; römische Zeit. Sacaze, Inscriptions, 391.

Illargui -> Ilazki. Ilumber. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit aus Saint-Béat. —> Ilurberrixo. Sacaze, Inscriptions, 342.

Ilumbeta’ko Mari, -> „Mari von Ilumbeta“. Lebt in der Gegend von Burunda in der Höhle Ilumbeta. Ilun. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit aus der Gegend von Comminges. Andoss-Ilun (in Narbonne) hat Ähnlichkeit mit Her­ kules. In Burgalais (Comminges) wurde eine Gottheit mit Namen —> Asto Ilun verehrt. Sacaze, Inscriptions, 5—8, 356, 363. 35»

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Hurberrix

Basken

Hurberrix. Pyrenäischer Gott oder Geist aus Escuña (Aran-Tal); der Name I. bedeutet vielleicht „Neustadt“. —>lluro. Sacaze, Inscriptions, 463 f.

Huro. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit aus Mondilhan (Comminges). —> Hurberrix Sacaze, Inscriptions, 292.

Inguma. Unheilbringender Geist, der nachts, wenn die Bewohner schlafen, in den Häusern auftaucht. Er drückt ihnen die Kehle zu und macht ihnen das Atmen schwer, so daß sie entsetzliche Angst be­ kommen. Um seine Bosheit abzuwehren, spricht man vor dem Zu­ bettgehen Gebete und Zauberformeln. -> Bildurraize. Barandiarán, Mitología, 69 f.

Insekten -> Galtxagorri.

Irao, Birao. Der personifizierte Fluch, eine böse Kraft, die von dem Verwünschenden ausgeht und in den Verwünschten eindringt. Dieser erkrankt sofort und kann nur von dem geheilt werden, der den Fluch oder birao auf ihn geworfen hat. —> Azti. Barandiarán, Mitología, 46 f.

Irargui -> Ilazki. Iraunsugue -> Herensugue.

Iretargui -> Ilazki.

Iscitt, Iscitto. Eine Gottheit von Garin (Arboust-Tal); aus römischer Zeit. Der Name hat Ähnlichkeit mit dem heutigen bask. Wort Itxeto oder Etxeto „Häuschen“ (—>Itxe). Sacaze, Inscriptions, 446 f.

Itxe, Etxe, „Haus“. Ein wichtiger Aspekt des bask. Hauses ist sein Charakter als etwas Heiliges. Viele alte Häuser hält man für die Verlängerung bestimmter Höhlen, deren Geister oft durch unter­ irdische Gänge zu Besuch am Herd erscheinen. Die Häuser ihrer­ seits haben ihre Fortsetzung im Chorstuhl und in der Grabstätte ihrer Bewohner in der Pfarrkirche. I. bedeutet auch Tempel, heiliger Ort mit übernatürlichen Eigen­ schaften; er ist geschützt durch das Herdfeuer, das Symbol eines Geistes namens Andra -> Mari. Das Haus wird durch verschiedene Pflanzen geheiligt: Lorbeer im Garten oder am Herd, verschiedene Weißdornzweige, Esche und Blumen, die an der Sonnenwende 538

Basken

Itxe, Etxe

Türen und Fenster schmücken, die Distelblüte [Symbol der Sonne (->Ekhi)]; außerdem durch das Dachstroh und die Sichel, die mystische Kräfte besitzen. Ferner ist das Haus geheiligt als Woh­ nung der Geister der Abgeschiedenen oder als Ort, den diese be­ suchen; durch das stets brennende Opferlicht, das man für die Seelen entzündet; durch das Herdfeuer, das man gemäß einer rituellen Vorschrift unterhält, um „den Toten zu leuchten, wenig­ stens mit einem Strohhalm“; durch die Sitte, außen auf die Fenster­ simse Speiseopfer für die Toten des Hauses zu legen; durch den alten Brauch, die Häuser so zu bauen, daß der Haupteingang der aufgehenden Sonne zu gelegen ist (->Ekhi). Jedes Haus hatte oder hat als eine Art Verlängerung eine Grab­ stätte neben oder in der Pfarrkirche. Vor der Ausbreitung des Christentums diente wohl das Haus selbst als Familiengrab. Im Haus wurden den Toten Opfer dargebracht. Reste dieser Bräuche haben sich, wie gesagt, erhalten. Vor allem ist es heute noch Sitte, ungetauft gestorbene Kinder unter dem Dachvorsprung oder im baratz, dem „Garten“, beim Haus zu begraben. Nach allgemeiner Ansicht müssen Personen, die ein unchristliches Leben führen, nach ihrem Tod unter dem Dachvorsprung ihres eigenen Hauses bestattet werden. Es ist Sitte, für die Toten des Hauses Kerzen anzuzünden und an den Fenstern, also über dem Garten, den man für den häuslichen Friedhof hält, Opfergaben (Nahrungsmittel oder Geld) niederzulegen. Man glaubt, diese Lichter wachen über die Toten und leuchten ihnen in ihrem unterirdischen Leben, und die Seelen nehmen die Opfergaben, oder jedenfalls die in ihnen woh­ nende nährende Kraft, auf. Ferner heißt es, man dürfe nicht drei­ mal hintereinander um das Haus gehen; dasselbe sagt man auch über die Pfarrkirche und den Friedhof. I. ist also deutlich noch in vielen Fällen ein Verbindungsglied zwischen der Höhle, dem primitiven Tempel und der christlichen Kirche, der Anbetungsstätte unserer Tage; mit beiden ist es durch heilige Wege verbunden. Obwohl der Geist des Herdfeuers Andre Mari, „Herrin Mari“, heißt und man annimmt, daß er andere Teile des Hauses bewohnt — vor allem beherrscht er das Dach —, bezieht sich der Hauskult ins­ besondere auf die unterirdischen Seelen der Verstorbenen. Sie er­ scheinen als Licht, als Sturmwind, als Wolke und an manchen Orten als Schatten. Normalerweise halten sie sich unter der Erde auf, wie die älteste Volksüberheferung berichtet. Häufig kehren sie jedoch nachts an die Erdoberfläche zurück, am liebsten in ihr ehemaliges Haus, um sich dort zu vergnügen, ihren noch lebenden Angehörigen beizustehen, deren Opfergaben zu verzehren oder um 539

Ivilia

Basken

zu veranlassen, daß Angelegenheiten, die bei ihrem Tode noch nicht geregelt waren, ins reine gebracht werden. Die oberste Dienerin des Hauskultes ist die etxekoandre, „Herrin des Hauses“. Sie führt viele kultische Handlungen aus. Sie opfert den Toten des Hauses Lichter und Nahrungsmittel, spendet einmal im Jahr den Familiengliedern ihren Segen, vertritt das Haus im Chor­ stuhl und in der Grabstätte, die ihm in der Pfarrkirche zugehören, leitet die heiligen Handlungen und Zeremonien, die dort bei ver­ schiedenen Gelegenheiten abgehalten werden usw. I. ist also Herd und Haus, allgemein eine Institution wirtschaft­ lichen, sozialen und religiösen Charakters; es gehört zu einer Familie, die die lebenden Bewohner und die Seelen der Abgeschie­ denen umfaßt. Es ist Traditionsträger mit festen religiösen Funk­ tionen. So muß ein Fremder, der durch Heirat in die Hausgemein­ schaft eintritt, das Familiengrab aufsuchen und dort Opfer dar­ bringen. An manchen Orten muß ein neu eintretender Dienstbotc dreimal um den Herd seines neuen Heims schreiten. In all dem liegt die Erklärung dafür, daß nach traditionellem pyrenäischem Recht das Haus als unverletzlich und als Asyl galt, daß es unveräußerlich war und als Ganzes ungeteilt innerhalb der Familie vererbt werden mußte.

Barandiarán, Religion; A. Fougères, Les droits de famille et des successions au Pays Basque et en Béarn d’après les anciens textes, Bergerac 1938; Anuario de Eusko-Folklore 3, 4 und 5 ; B. de Echegaray, Significación de algunos ritos funerarios del país vasco, in: Revista Internacional de los Estudios Vascos, 16; P. Luis Chalbaud, La familia como forma típica y transcendental de la constitución social vasca, in: Libro del Congreso de Estudios Vascos de Oñate; Barandiarán, in: Eusko-Folklore (1921; 1924; 1926); ders., Mitología, 55—66.

Ivilia. Gottheit der römischen Zeit aus Forua (Vizcaya). Beltrán, Hispania Antiqua, 16.

Izuargui, Izugarri -> Argui. Jamkoaren-begui -> Ekhi.

Kixmi. Mit diesem Namen bezeichneten nach einer im Lande weit­ verbreiteten Legende die bask. Heiden im 1. Jahrtausend Christus. Es heißt, K. bedeute in der Sprache jener Zeit „Affe“, dessen heutiger bask. Name tximu und tximino ist. Die Legende lautet wie folgt: Die Heiden vergnügten sich beim Tanz auf dem Hügel Againtxabaleta (Sierra Aralar). Plötzlich sahen sie vom Osten eine leuchtende Wolke auf sich zukommen. Sie wunderten sich sehr und riefen einen alten Weisen herbei und zeigten ihm die Wolke. Da sprach

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Lamiñ

Basken

der alte Heide zu ihnen: „Meine Kinder, K. ist geboren, unsere Rasse erlischt. Ich will nun nicht länger leben, stoßt mich also von der Felsenklippe dort hinunter.“ Das taten sie. Die Wolke kam rasch näher. Die erschreckten Heiden rannten nach Westen, bis sie in das kleine Tal Arraztarán kamen, wo sie sieh eilig in einen großen Dolmen flüchteten. So endete das Heidentum. Barandiarán, Mitología, 147 f.

Kobolde -> Aiharra-haio; Galtxagorri. Krankheitsdämon

Gaixkiñ.

Kriegsgott -> Arixo; Daho^.

Kuh ->Aatxe; Gaueko. Kulturbringer ->Basajaun; Etsai; Maide.

Künste und Wissenschaften, Gottheit der -> Etsai.

Lacubegi. Gottheit der römischen Zeit aus Ujué (Navarra). Taracena-Vázquez de Parga, Excavaciones, 147.

Lahe. Weibl. Gottheit aus der Gegend von Comminges. Wie aus epi­ graphischen Monumenten der römischen Zeit hervorgeht, wurde sie bei Krankheiten angerufen. Sacaze, Inscriptions, 287—301.

Lamiñ. Nach den meisten Versionen der diesbezüglichen Mythen ein Geist in weibl. Gestalt mit Hühnerfüßen. Der Name L. bezeichnet selten einen einzelnen Geist, meist taucht er als Sammelname auf für alle Geister eines bestimmten Typs mit gemeinsamen Merk­ malen wie z. B. Aufenthalt in Höhlen, Brunnen, alten, verlassenen Burgen ü. ä. Man sieht die L. angeblich häufig beim Waschen und Kämmen. Verschiedene Sagen erzählen, wie eine L. mit Drohungen den Kämm zurückfordert, der ihr gestohlen wurde, oder eine Strafe verhängte, weil man ihn ihr nicht zurückgegeben hat. Die L. verlangen Opfer. Legt ein Bauer ihnen am Rande des Hofes etwas Eßbares nieder, so verzehren sie es bei Nacht und bearbeiten zum Dank das Land oder führen eine begonnene Arbeit zu Ende. So erzählt man wenigstens; gesehen hat es niemand. Berühmt ist die Sage von der Liebe einer L. von Kobaundi (Mondragón) zu einem jungen Bauer der Umgegend, von der List, die er anwandte, um das Alter der verliebten Gottheit zu erfahren, von seinem Schmerz, seiner Krankheit und seinem Tod, als er erfuhr, daß

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Larrasso

Basken

seine Geliebte kein menschliches Wesen war, von der Trauer der L. usw. Der Grund für das Verschwinden der L. ist nach manchen Be­ richten die Einführung des von Ochsen gezogenen Pfluges gewesen, nach anderen die Errichtung von Einsiedeleien im Baskenland. -> Gorritxiki; Maide. Barandiarán, Mitología, 72f.

Larrasso. Gottheit der römischen Zeit aus Narbonne. Sacaze, Inscriptions, 10—12.

Latsari, „Wäscherin“. Geist oder Geister, die nachts ihre Kleider in den Bächen waschen, wobei sie ein charakteristisches Geräusch verursachen. In manchen Gegenden wird diese Tätigkeit den —>Lamiñ und den —>Sorguin zugeschrieben. Satrustegui, Vocabulario, 272.

Leherenn. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit, Mars ähnlich. Sacaze, Inscriptions, 237—251.

Losa. Gottheit in dem Ort Lerate (Navarra); römische Zeit. Taracena-Vázquez de Parga, Excavaciones, 138.

Loxa. Gottheit der römischen Zeit aus Arguiñariz (Navarra). Taracena-Vázquez de Parga, Excavaciones, 126.

Luftgeist -> Bildurraize.

Lur, „Erde“. Die Erde gilt als Mutter der Sonne (—>Ekhi) und des Mondes (->Ilazki). Sie wird auch als riesiges Gefäß vorgestellt. Gewöhnlich ist sie der Aufenthaltsort der Seelen, der meisten Gott­ heiten und anderer mythischer Personen, die zum Teil in Gestalt von Stier, Pferd, Eber und Ziege erscheinen. Die Erde besitzt die Lebens­ kraft des Pflanzenreichs. Sie erfüllt auch den menschlichen Organis­ mus durch bestimmte Zauberformeln und -gesten mit Kraft; sie erhält die Herde, wenn man ihr einige Stück Vieh weiht oder opfert. Außerdem birgt L. Schätze. Man zeigt sich die Berge und Höhlen, in denen eine goldgefüllte Ochsenhaut verwahrt wird, aber die genaue Lage des Schatzes wird nie bekannt. Nähert sich einmal jemand dem Schatz, so vertreibt ihn der Geist der L., wie es in den Bergen von Irukutzeta und Auza und auf den Feldern von Arranzelai (Echalar) geschah. An den Erdgeist richteten sich zweifellos die Bitten vieler Betender, die einst ihre Gaben (hauptsächlich Geldstücke) in den Höhlen

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Basken

Mari

darbrachten, um die Gunst des Geistes zu gewinnen. Auf diesen Kult geht wohl ursprünglich auch die Errichtung von Einsiedeleien in manchen Höhlen zurück sowie die Sitte, am Eingang bestimmter Höhlen (z. B. am Heiligtum von Aralar) Gebete zu sprechen. —> Lurgorr; Mikeldi. Barandiarán, Mitología, 81—83; ders. in: Eusko-Folklore (1949, 6 und 7); Lafitte, Atlantika-Pireneetako sinheste zaharrak.

Lurgorr. Pyrenäische Gottheit der römischen Zeit im Gebiet der Ausci, laut Lizop. Von —„Erde“ und gorr „rot“( ?), ähnlich

—> Baicorrix; Baigorri; Galtxagorri; Yonagorri usw. Magie -> Zauber. Maide. Ein Geist männl. Geschlechts, der nachts in die Häuser kommt und in der Küche die Opfergaben an sich nimmt, die die Bewohner vor dem Schlafengehen dort niedergelegt haben. In Mendive wird er Saindi-Maindi „Heiliger Maide“ genannt, in anderen Gebieten Mairi. Im allgemeinen erscheint der Name im Plural als Sammel­ bezeichnung für eine bestimmte Art von Geistern. Hie M. hält man für die Erbauer der Dolmen, der Cromlechs und

mancher alter Burgen im Land. Der Dolmen in Benavarre wird Mairi-etxe genannt. M. benützt den ausgetrockneten Arm eines ungetauft gestorbenen Kindes als Talisman und als Leuchte bei Nacht. Die M. entsprechende weibl. Gottheit ist -> Lamiñ. G. G. Reicher und. R. Lafon, Des personnages mal connus du folklore basque: les Mairiak, in: Revue de l’Histoire des Religions (1940), 67—84; Baran­ diarán, Mitología, 71 f.

Main -> Maide.

Maju -> Sugaar. Mamarro —> Galtxagorri.

Mamu -> Azti. Manen -> Totengeister.

Mari. Eine Gottheit weibl. Geschlechts, wie die meisten Götter der bask. Mythologie. Sie vereinigt viele Funktionen in sich, die in anderen Ländern auf verschiedene Gottheiten verteilt sind. Sie gilt als oberste Gottheit. Der Name M. bedeutet in manchen Verbindungen einfach Herrin; meist ist der Name des Berges oder der Höhle, in der der Geist gewöhnlich lebt oder erscheint, beigefügt. Ein weiterer Name, May oder Maya, scheint mit dem Namen ihres Gatten Maju in Ver­ bindung zu stehen. Dieser Geist muß den ihm beigelegten Funk-

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Mari

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tionen nach derselbe sein, der von Lope Garcia de Salazar im lö.Jahrh. Culebro „große Schlange“ (Vater des Jaun Zuria, der Herrscher von Vizeaya) genannt wird und der in Atäun noch heute —>Sugaar „große Schlange“, und in Dima Sugoi „große Schlange“ genannt wird. Der Name M. kann auch mit Namen anderer mythi­ scher Gestalten wie —>Mairi, Maide und Maindi in Verbindung stehen.

M.s Erscheinungsformen. M. erscheint oft in Gestalt einer reich­ geschmückten Dame, manchmal mit einem roten Rock bekleidet. Man sieht sie auf einem von vier Pferden gezogenen Wagen sitzen und durch die Lüfte fahren, gelegentlich auch als Frau, die flammen­ sprühend durch die Luft fliegt, dann wieder auf einem Widder reitend. Manchmal zeigt sie sich als Frau, deren Haupt vom Voll­ mond eingerahmt ist, als Frau mit Vogelfüßen oder Ziegenfüßen, als Ziegenbock, Pferd, Färse, Rabe, Geier, als brennender Baum, der durch die Lüfte fliegt, als Windstoß, als weiße Wolke, als Regenbogen, als Feuerkugel, als flammende Sichel. In der Höhle Zelharburu (Bidarray) ist sie in einem Stalagmiten verkörpert, der einem menschlichen Körper ähnelt.

Geister in Gestalt von Stier, Widder, Ziegenbock, Pferd, Schlange, Geier usw. gehören in den Umkreis der Mythen aus der unter­ irdischen Welt; in diesen Gestalten scheinen sich M. und ihre Diener zu verkörpern als Erscheinungsformen von Erdgeistern oder -kräften, auf die das Volk die Naturerscheinungen zurückführt.

M.s Wohnstätten. Der gewöhnliche Wohnort M.s ist das Erdinnere; er steht mit der Erdoberfläche durch verschiedene Gänge, Höhlen und Schluchten in Verbindung. Daher erscheint M. in Höhlen, Schluchten u. dgl. häufiger als anderswo. Schon vielmals hat sie sich gezeigt in Balzola (Dima), Supelaur (Orozco), Amboto, Atxorrotx (Escoriaza), Zaldiaran (in den Bergen bei Vitoria), Aketegui (Cegama), Agamunda (Atäun), Murumendi (Beasain), Marizulo (Amözqueta), Odebe (Alsasua), Obantzun (Berästegui), Arrobibeltz (Ascain), Akelarre (Zugarramurdi), Leze (Sara), Zelharburu (Bidar­ ray), Otsibarre (Camou), Ori (Larrau), am Pic d’Anie und in Txabola de la hechicera (El Villar). Man glaubt, die Wohnungen M.s seien reich ausgestattet, mit goldenen Betten, goldenem Haspel, goldener Stierfigur oder -statue, goldenen Sesseln und Kämmen. Oft wechselt M. ihren Aufenthaltsort: Sieben Jahre bringt sie in Amboto zu, sieben in Oiz, sieben in Mugarra, eine gewisse Zeit in Aralar, in Aketegui, in Murumendi usw.

M.s Familie. M. gilt als Haupt oder Königin aller Geister der Welt. Sie hat einen Gemahl, Maju, der in ähnlicher Gestalt wie M. oder

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Basken

Mari

auch als Schlange erscheint. Begegnen M. und Maju einander, so bricht in der Umgegend ein fürchterliches Unwetter mit Regen und Hagel los. Diese Zusammenkunft findet angeblich jeden Freitag um zwei Uhr nachmittags statt. Mehrere Sagen berichten von der Heirat M.s mit einem Sterblichen und von sieben Kindern. Andere erwähnen zwei Töchter, wieder andere eine Tochter, die bei ihrer Mutter lebt; schließlich wird von zwei Söhnen, —> Atarrabi und -> Mikelats, erzählt, von denen einer gut, der andere böse ist. Schon im lö.Jahrh. hielt man M. und Maju für die Ahnen der politischen Herren und Machthaber von Vizeaya. Die zahlreichen Wohnstätten M.s führten zweifellos dazu, daß manche Berichte von den Schwestern M. (im Plural) sprechen, also nicht nur von einer, sondern von verschiedenen M.s. Neben ihrer zahllosen Dienerschaft von Geistern besitzt M. zu­ weilen eine Gefangene, und zwar ein junges Mädchen, das sie ge­ raubt hat oder das von seiner Mutter als Buße für einen Fehler oder als Lohn für eine von M. empfangene Gunst an M. ausgeliefert wurde. M.s Attribute und Funktionen. M. wurde in ihrer Höhle gesehen, wie sie beim Feuer saß und ihr Haar ordnete, wie sie auf der Schwelle ihrer Wohnung saß und sich kämmte, wie sie spann, wie sie den Faden abwickelte, wie sie Goldfadenknäuel aufwickelte, wobei sie einen Widder, der das Knäuel auf seinen Hörnern hielt, als Haspel benützte, wie sie mittwochs Wäsche wusch und freitags Brot buk. Ein Wölkchen am Höhleneingang verrät, daß sie mit diesen Arbeiten beschäftigt ist. M. verursacht Unwetter. Als Orte, von denen sie die Stürme aus­ schickt, werden angegeben: Pic d’Anie, die Schlucht von Muguiro, Trinidademendi, Aralar, Murumendi, Txindoki, Aketegui, die Brücke von Mai-mur (Leiza), die Schlucht von Okina, der ArreoSee, der Brunnen Urbiän usw. Während des Unwetters kann man manchmal sehen, wie sie von ihrem mit Pferden bespannten Wagen aus die Wolken lenkt. Einigen Sagen zufolge regnet es besonders viel, wenn sich M. in Amboto aufhält; ist sie in Alona (Onate), so herrscht langanhaltende Dürre, befindet sie sich in Supelaur (Orozco), so fällt die Ernte reichlich aus. Die Treue derer, die an sie glauben, wird von M. belohnt. Sie führt und leitet die Wanderer, die ihr vertrauen; ruft man sie nachts dreimal hintereinander, so erscheint sie; erbittet man ihren Rat, so läßt sie Orakelsprüche hören, die sich als wahr und günstig heraussteilen. Im 14.Jahrh. ließen, wie der Livro dos Linhagens des Conde Don Pedro de Barcellos berichtet, die baskischen Edlen, 545

Mari

Basken

als ihr Fürst von den Mauren gefangen weggeführt worden war, M. um Rat fragen; sie verriet ihnen, auf welche Weise sie ihn wieder befreien konnten.

Der M.-Kult. Wer M. Geschenke bringt, wird keinen Hagel auf seine Felder fallen sehen. Die Hirten veranstalteten früher eine Prozession zur Höhle der M. in Amboto, um für ihre Herden gutes Gedeihen zu erwirken; das beste Geschenk war ein Widder, den man in ihre Wohnstätte brachte. Die Einwohner von Muguiro zogen in einer Prozession zur Schlucht der M. und ließen am Ein­ gang eine Messe lesen. Wenn M. sich an diesem Tag (3. Mai) dort aufhielt, fiel ein ganzes Jahr lang kein Hagel in der Gegend. Die Sage berichtet auch, der Pfarrer von Isasondo sei alle sieben Jahre einmal zum Eingang der Marischlucht von Murumendi hinauf­ gestiegen, um dort die Messe zu lesen. Jedes Jahr findet am Dreifaltigkeitsfest eine Wallfahrt zur Höhle Arpeko Saindua statt. Die dort in Form eines Stalagmiten stehende Frauen- oder Marigestalt wird in Krankheitsfällen angerufen (—> Arpeko-saindu). Im 14. Jahrh. legten die Herren von Vizeaya als Opfergabe für ihre Ahnherrin Mari die Eingeweide einer Kuh auf einem Felsen in Busturia nieder, wie der Conde Don Pedro de Barcellos in seinem Livro dos Linhagens versichert. Bei einem Besuch M.s sind folgende Vorschriften zu beachten: Man muß sie im Gespräch duzen, muß ihre Höhle so verlassen, wie man eingetreten ist (hat man sie beim Eintreten angebückt, so muß man sie auch beim Hinausgehen ansehen), man darf sich an dem ihr geweihten Ort nicht setzen.

M.s Gebote und Strafen. Die Göttin verdammt die Lüge, den Dieb­ stahl, den Stolz und die Prahlsucht, den Wortbruch, die Respekt­ losigkeit den Mitmenschen und der Gemeinschaft gegenüber. Die Missetäter werden mit der Entziehung oder dem Verlust des Gegenstands der Lüge, des Raubes, des Stolzes, usw. bestraft. Man hört häufig, M. fülle ihre Vorratskammern auf Kosten derer auf, die etwas verleugnen, was besteht, oder etwas behaupten, was nicht existiert: „Ezagaz eta baiagaz“ („mit Verleugnung und mit Be­ hauptung“). Fragt man einen Hirten mit einer hundertköpfigen Schafherde: „Wieviele Schafe hast du?“ und antwortet er: „Hun­ dertzehn“, so nimmt ihm M. die zehn zuviel angegebenen weg (Behauptung); antwortet er, er habe neunzig Schafe, so verüert er davon die zehn, die er nicht angegeben hat (Verleugnung). Betritt jemand unbefugt die Höhlen M.s, eignet er sich einen Gegenstand, der ihr gehört, unrechtmäßig an oder wirft er Steine 546

Basken

Mikeldi

ins Höhleninnere, so wird er bestraft. Einmal hat eine Frau einen goldenen Kamm aus der Höhle von Otsibarre (Camou) gestohlen, wo sich M. aufhielt; noch in derselben Nacht fiel ein Steinregen auf eines ihrer Felder und bedeckte es vollständig. Oft bestraft M. Übeltäter damit, daß sie ihnen innere Unruhe be­ reitet. Manchmal nimmt sie auch irgendein Besitztum der Schul­ digen an sich. Handelt es sich um Hirten, so entführt sie ihnen einen Widder. Die geräuschvollste Bestrafung ist das Hagelwetter. Es heißt, M. oder ihr Sohn Mikelats würfen die Gewitterwolken aus der Unterwelt herauf. Sie selbst oder ein ihr untergeordneter Geist wie Odei oder —> Eate führt die Wolken von Tal zu Tal und von Berg zu Berg. Um dem Hagel zu entgehen, muß man sich an die christliche Religion oder an die Magie halten. Der Zauberer zer­ reibt in seiner linken Hand ein Kraut mit dem Namen uztai-bedar „Regenbogenkraut“ (Rumex crispus), mit der Rechten weist er dem Sturm den Weg, den er einschlagen soll. Gegen Blitzschlag kann man sich schützen, indem man vor dem Haus eine Sichel — M.s Symbol — auf einem Pfahl aufstellt. Aus all dem ergibt sich, daß sich in M. viele mythische Motive ver­ schiedener Herkunft kristallisiert haben. Sie sind teils indoeuro­ päischen, teils noch früheren Ursprungs. Das Gemeinsame in der Vielfalt der Erscheinungsweisen, Aufenthaltsorte und Funktionen M.s ist offensichtlich ihr Charakter als Symbol oder sogar als Ver­ körperung der Erde. Barandiarán, Contribución, 110—124; ders., Mitología, 83—107.

Mariturri, „Maris Brunnen“. Dieser Brunnen liegt zwischen den Dörfern Arbulo und Orenin (Alava). Man glaubt, daß sich dort nachts die Zauberer versammeln. Die Wanderer, die das Gras beim Brunnen zertreten, verlieren den Richtungssinn und finden den Weg zum Ziel ihrer Wanderschaft nicht mehr. —> Quellenkult. Barandiarán, in: Eusko-Folklore (1925), 47.

Mars —> Arixo; Daho; Leherenn. Mauma -> Inguma.

May(a) ->Mari.

Mikelats. Einer der Söhne —> Maris. Er verursacht das Unwetter und den Hagel, der die Herden schlägt und die Ernte vernichtet. —> Atarrabi. Mikeldi. Ein Ort bei Durango, wo das gleichnamige Idol stand, das sich heute im archäologischen Museum von Vizcaya befindet. Es handelt sich um die große Steinstatue eines Ebers oder Stiers, der 547

Minerva

Basken

eine große Scheibe zwischen den Vorderfüßen hält. Die beiden Seiten der Scheibe stellen vielleicht die Sonne (—>Ekhi) und den Mond (—> Ilazki) dar. Wenn das der Fall ist, hat in diesem Monu­ ment der Mythos von der Mutter Erde (—>Lur) Gestalt gewonnen. Die Erde ist als Erdgeist in Stier- oder Ebergestalt dargestellt, der täglich seine beiden Himmelstöchter in seinen Schoß aufnimmt, wenn sie im Westen untergehen (Abb. 15).

Minerva->Belisama. Mischwesen —>Guizotso; Lamiñ; Mari.

Mond —> Ilazki; Mari; Mikeldi.

Mozorro -> Galtxagorri. Nachtgeister -> Argui; Gaueko; Idittu; Inguma; Lamiñ; Latsari; Maide; Sorguin.

Odei. Geist der Gewitterwolke, der Blitz undDonner schleudert. —>Mari.

Ondarrabio

Atarrabi.

Ortzi, Urtzi, Ostri, Ostiri, „Firmament“, „Helle des Himmels“. Der Begriff begegnet in Wortkompositionen an der Stelle, an der in entsprechenden indoeuropäischen Wörtern der Name einer Gott­ heit, und zwar einer Personifikation des Tages- oder Nachthimmels wie Blitz, Donner usw., steht. Wenn diese Wortbestandteile bei den indoeuropäischen Namen eine Gottheit bedeuten, so ist anzu­ nehmen, daß die Basken bei der Übernahme die mythologische Bedeutung beibehalten haben. So haben die Basken wie die Indoeuropäer den Donnerstag dem Himmel geweiht (ostegun „Tag des Himmels“); rührt dies bei den Indoeuropäern daher, daß für sie der Himmel eine Gottheit darstellte, so handelten die Basken wahrscheinlich aus den gleichen Motiven heraus. Der Mythos vom Hammer des germ. Thor und von den Pfeilen des Jupiter findet seine Parallele in bestimmten bask. Bezeich­ nungen für den Blitz wie oneztarri, ozkarri „Blitzstein“ und in dem Glauben, daß dieser vom Himmel gefallene Stein siebenmal sieben Fuß tief in die Erde eindringt und Jahr für Jahr um sieben Fuß nach oben steigt, bis er im siebten Jahr die Erdoberfläche wieder erreicht. Wahrscheinlich ist also Urtzi einst die Himmelsgottheit der Basken gewesen. Das wird durch Aymeric Picaud bestätigt, der im 12.Jahrh. von den Basken sagt: „Deum vocant Urcia“, „Sie nennen Gott Urcia“.

Barandiarán, Religion; ders., Mitología, 120—124; Caro Baroja, Religión, 17-33.

548

Basken

Sorgnin

Pago —> Fagus.

Pferd —>■ Etsai; Lur; Mari. Polyphem -> Alarabi; Torfco.

Prakagorri —> Galtxagorri. Quellenkult. An manchen Orten in den Pyrenäen herrschte einst ein Q. Ein Beweis dafür ist der den Quellen geweihte Altar in Castillon-

l’Arboust. —> Mariturri. Sacaze, Inscriptions, 434.

Rabe -> Mari.

Regenbogen -> Mari. Regenzauber

Azti.

Saindi-Maindi —> Maide.

Sandao ... Vimburo. Gottheit der römischen Zeit aus Arzeniega (Alava). Baraibar, Museo.

Schlange —>Herensugue; Mari; Sugaar.

Schneegeist -> Eluaso. Schwein —> Etsai.

Seele(nglaubc) —>Guerixeti; Totengeister; Totenglaube. Selatse. Gottheit der römischen Zeit aus Barbarin (Navarra). Taracena-Väzquez de Parga, Excavaciones, 128.

Sichel, flammende ->Mari; Sugaar. Sonne -> Ekhi. Sorguin. Einer der Namen für die Zauberer. Andere Bezeichnungen sind Belaguile, sehr gebräuchlich in Soule, und Sorsain „Aufseher der Geburt“, wahrscheinlich weil dieser Geist bei der Geburt der Rinder aufpaßt, um ihnen das Leben zu rauben. Er wacht auch eifer­ süchtig über den Glauben des Volkes an seine Existenz und straft die Ungläubigen schwer. In vielen Dörfern gehören zu dem Mythen­ kreis um S. Themen, die an anderen Orten mit -> Lamin Zusammen­ hängen. Gemeinsame Merkmale beider sind: daß sie nachts wirken; daß sie nachWeisung eines in Gestalt eines Ziegenbocks auftretenden

549

Sorsain

Basken

Geistes handeln; daß diesem ein Kult geweiht ist; daß sie ihre nächtlichen Versammlungen und Tänze freitags und mittwochs in Akelarre abhalten; daß sie sich für ihre Luftreisen mit einer be­ stimmten Salbe einreiben, wobei sie den Zauberspruch aufsagen: „Sasi guztien gainetik eta odai guztien azpitik („Über allen Dorn­ büschen und unter allen Wolken“); daß sie häufig Kindern das Leben nehmen; daß sie oft die Ernte vernichten; daß sie oft Schiffe versenken; daß sie von ihren Anhängern verlangen, Christus zu verleugnen usw. In manchen Fällen überträgt das Volk diese Merk­ male auch auf unbeliebte oder ihm verdächtige Personen —- dann wird der Mythos zur Wirklichkeit. So geschah es im Baskenland vor allem im 16. und 17.Jahrh. (wie in anderen europäischen Ländern schon früher), als viele Menschen der Hexerei angeklagt und unerbittlich verfolgt wurden. Das Verschwinden der S. führt man heute nicht darauf zurück, daß sie verfolgt und ausgerottet wurden, sondern entweder auf den Bau der christlichen Einsiedeleien oder auf die Feuerwaffen. Caro Baroja, Brujas; Barandiarán, in: Eusko-Folklore (1922); ders., Mundo, Bd. 1.

Sorsain —> Sorguin. Stier —> Aatxe; Etsai; Lur; Mikeldi.

Sturmgott -> Eate. Sugaar, „männliche Schlange“. Dieser Geist überquert häufig in Ge­ stalt einer Feuersichel den Himmel. Sein Auftreten verkündet Sturm. Er lebt unter der Erde und gelangt durch Schluchten und Höhlen an die Oberfläche, z. B. durch die Höhlen von Agamunda

(Atáun) und Baizola (Dima). In der Gegend von Azcoi tia nennt man den Geist Maju und hält ihn für —> Maris Gemahl. Er ist auch der Culebro, die „große Schlange“, von der Lope García de Salazar in seiner „Crónica de siete casas de Vizcaya y Castilla“ (1454) spricht; er berichtet, in Vizcaya lebe ein Culebro genannter Teufel, Herr des Hauses, aus dessen Verbindung mit einer Prinzessin von Mundaca der erste Herrscher von Vizcaya, Jaun Zuria, hervorging. Barandiarán, Mitología, 77f.

Sugoi, „große Schlange“. —> Sugaar. Tartalo -> Torto.

Teufel —> Aatxe; Aiar; Aiharra-haio; Graneko; Herensugue; Sugaar; Tusuri.

550

Basken

Uséis

Tod —> Erio; Totengeister.'

Torto. Bösartiger Geist mit einem einzigen Auge mitten auf der Stirn. Im allgemeinen wohnt er in Höhlen. Um ihn ranken sich die schreckenerregendsten Erzählungen der Basken. T., in der Gegend von Cegama auch Tartalo genannt, entführt Jünglinge oder nimmt Menschen gefangen, die in seinem Haus vor einem Unwetter Schutz suchten. Er zerteilt sie, brät sie am Feuer und verzehrt sie. Es gibt jedoch Fälle, in denen es einem Gefangenen gelungen ist, dem Zyklopen das Auge auszuschlagen oder ihn zu überlisten und aus seinem Machtbereich zu entfliehen. Das Thema selbst wie die Einzelheiten der Darstellung und auch der Name Tartalo legen den Vergleich mit Polyphem nahe, von

dem Homer in der Odyssee berichtet. Der Mythos von T. findet sich in verschiedenen Gegenden des Baskenlandes. In Atáun z. B. wird die Höhle Muskia als der Ort be­ zeichnet, wo der Zyklop seine Grausamkeiten verübt. Ein weiterer in der Sage erwähnter Ort ist Tartaloetxe, „Haus des Tartalo“, ein Dolmen am Berg Saadar (Cegama), vermutlich ebenfalls Wohn­ stätte des schrecklichen Geistes. Barandiarán, in: Eusko-Kolklore (1921); ders., Mundo I.

Argui; Guerixeti; Totenglaube.

Totengeister

Totenglaube —>Azti; Guerixeti; Ilazki; Itxe; Maides; Totengeister.

Tulonium. Gottheit der römischen Zeit aus der Gegend von Alegría de Dulanci. Baráibar, Museo.

Tusuri. Name des Teufels in der Gegend von Soule.

Txaalgorri

Aatxe.

Ulbelteso. Nach einer Steininschrift von Anderregui oder Andrearriaga Gottheit der römischen Zeit aus der Gegend von Oyarzun.

Ungeheuer -> Gaueko.

Unterirdische Geister -> Höhlengottheiten.

Urtzi

Ortzi.

Uséis (dat. plur.) Gottheiten der römischen Zeit aus der Gegend von Laguardia (Alava). Baráibar, Museo. 551

Uvarna

Basken

Uvarna. Gottheit der römischen Zeit aus der Gegend von Cahriana (Alava). Baräibar, Museo.

Vimburo -> Sandao Vogel -> Idittu.

Wahrsagerei -> Zauber. Waldgeist —>Basajaun. Wäscherin ->Lamin; Latsari.

Weihnachtsklotz -> Ekhi.

Wettergottheiten ->Eate; Eluaso; Mari; Mikelats; Odei; Ortzi;

Sugaar. Widder —> Ari. Wind -> Gaueko; Mari

Wolke

Mari.

Xuban. Gottheit der römischen Zeit aus der Gegend von Arbas (Com-

minges). Saeaze, Inscriptions, 315.

Yonagorri. Geist vom Pic d’Anie; zeigt Ähnlichkeit mit -> Mari.

Zauber -> Adur; Aide; Akerbeltz; Azti; Beguizko; Galtxagorri; Ilazki; Inguma; Irao; Lur; Mariturri; Sorguin.

Zezengorri -> Aatxegorri; Aatxe. Ziege(nbock) —> Akerbeltz; Etsai; Lur; Mari.

Zyklop —>Alarabi; Torto.

552

Basken

BILBAO,,,^

ZÄT?7

Sandao..Vimburo

PAMPLONA

Abb. 1. Verbreitung der Gott­ heiten mit baskoidem Namen in römischer Zeit.

Erge Baios Ageion Leherenn Ahprri / Baigorix Anrtp Fagusllurbe Edelat ADerrl Skt ArborAnöe Borleno Aereda Arte d,|han Belisama x, Alardost Alarx-Abelllo Horoiar ^wAsto-llun Qarr Eie lrti,r? ? Ibro Aherbeiste ¡^''^A' BasceiAndoss , , >l|i;Arix Iscitto A1™ Averari ,[ ^Ml/z, N O' llurberri?-N,Aver?n $ O Anderix —

, Herausc°rr¡tsehe

BABCELO/VA

Basken

Tafel II

Abb. 2. Das heutige Baskenland (punktiertes Gebiet).

Abb. 3. Gebiet der baskischen oder baskoiden Toponymie (punktiert).

Basken

Tafel 111

Abb. 5. Bereich und Richtungen (Pfeile) des Almauftriebs in den Pyrenäen.

Tafel IV

Basken

Abb. 6. Verbreitungsgebiet der eisenzeitlichen Cromlechs in den Pyrenäen (punktiert).

Basken

Tafel V

Abi). 8. Hauptzentren der kantabriscli-aquitanischen Kunst des oberen Paläolithikums.

Abb. 9. Santi man) ine, Kelszeichnungen.

Tafel VI

Basken

Abb. 12. Grabhöhle Solacueva de Jöcano, eisenzeitliehe Skizzen.

Basken

Tafel VII

Abb. 13. Goikolau, schematische Gravierungen aus der Eisenzeit.

Abb. 14. Baeserte-Altar, daneben ein Eber.

Basken

VIII

Abb. 15. Idol von Mikcldi.

DIE MYTHOLOGIE DER BERBER VON

WERNER VYCICHL

A. Vorbemerkung Die Berber nehmen unter allen Völkern des Mittelmeergebietes in­ sofern eine besondere Stellung ein, als sie seit Menschengedenken in ihren heutigen Wohnsitzen leben und ihre alte Sprache, wenn auch mit manchen Veränderungen, bis auf den heutigen Tag bewahrt haben. Man darf sie als eines der ältesten Völker im Mittelmeerraum bezeichnen. Sie waren schon Zeitgenossen der alten Ägypter, mit denen sie bereits in frühgeschichtlicher Zeit (ca. 3000 v. Chr.) in blutige Fehden verwickelt waren, und saßen schon Jahrhunderte in Nordafrika, ehe die Vorfahren der Griechen, Punier, Etrusker und Römer in ihre historischen Wohnsitze einwanderten. Es ist nicht bekannt, welche Sprachen in Griechenland, Süditalien und Südspanien im dritten und vierten Jahrtausend vor Christus gesprochen wurden; doch von Nord­ afrika wissen wir, daß dieses Gebiet dauernd berbersprachig war. Als das Ägyptische in seiner jüngsten Form, dem Koptischen, etwa im

17. Jahrh. als lebende Sprache erlosch, gab es noch immer Berber, die an ihrem Idiom festhielten.

Eine, terminologische Frage Oric Bates unterscheidet in seinem Buche „The Eastern Libyans“1 zwischen den „Libyern“ des Altertums im Osten der Berberei als Nachbarn Ägyptens und den „Berbern“ in arabisch-islamischer Zeit; in beiden Fällen ist jedoch ein und dasselbe Volk gemeint. Es er­ scheint nicht ratsam, diese terminologische Praxis für die hier vor­ gelegte Arbeit zu übernehmen, in welcher nicht nur die Libyer, son­ dern auch andere antike Stämme wie die Garamanten, Numidier und Gaetuler berücksichtigt werden. Sie alle „Libyer“ zu nennen, wäre ebenso unrichtig, wie wenn man Bajuwaren, Chatten und Sueben zu­ sammen als Saxonen bezeichnete. Von verschiedenen Autoren wurde versucht, die Berber unter einer einheimischen Bezeichnung als „Mazigh-Völker“ zusammenzufassen. Es ist aber keineswegs erwiesen, daß alle Berber zu diesen gehören. So bezeichnen sich die Kabylen Algeriens niemals als Imazigen, und das gleiche gilt von anderen berbersprachigen Bevölkerungen. Es sind zwischen den Imazigen und den übrigen Berbern soziologische Unterschiede im Spiel, deren

1 Siehe Literaturverzeichnis S. 589. 36*

555

Berber

Vorbemerkung

Herausarbeitung sich lohnen würde; so gilt — um ein Beispiel an­ zuführen — der Schmied, der bei den Imazigen etwas verachtet und gemieden wird, bei den Kabylen als durchaus angesehenes Mitglied der Gesellschaft. Es wird daher im folgenden immer die Bezeichnung „Berber“ ver­ wendet, wenn von der berberspraehigen Bevölkerung Nordwest­ afrikas die Rede ist, und zwar gleichermaßen für das Altertum wie für die spätere Zeit. Gewiß ist diese Bezeichnung fremder Herkunft, doch umfaßt sie genau das, was wir uns unter den Berbervölkern vorstellen.

Zur Anlage der Arbeit Die „Berberische Mythologie“, wie sie hier vorgelegt wird, bietet ein etwas buntscheckiges Bild, in welchem Material aus fünf Jahr­ tausenden und zum allergrößten Teil aus fremden, d. h. nichtberberischen Quellen zusammengestellt wurde. Für die Auswahl gab der Anlageplan dieses „Wörterbuchs der Mythologie“ gewisse Richtlinien; im einzelnen war dem Verfasser ein ziemlich weiter Spielraum ge­ lassen. Dabei wurde nun in der Weise verfahren, daß von den Götter­ namen die weniger bedeutenden, zumal wenn sie verstümmelt, un­ sicher oder sonst irgendwie strittig waren, beiseite gelassen wurden. Wegen des fragmentarischen Charakters unserer Quellen wurde von dem Versuch abgesehen, ein „Pantheon“ oder ein „Weltbild“ der alten Berber zu rekonstruieren; beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse könnte ein solches Unternehmen nur mit einem Mißerfolg enden. Dagegen wurden die verschiedenen Angaben der antiken Autoren ziemlich vollständig aufgenommen. Zitate aus dem Corpus Inscriptionum Latinarum sind in Auswahl gegeben. Von den ara­ bischen Autoren ist Idrisi zu erwähnen, Ibn Chaldün und besonders El-Bekri, der als einziger „Europäer“ — er kam ja aus Spanien einen offenen Blick für die Religion der Berber hatte. Beim volkskundlichen Material lag die Versuchung nahe, ein Vielfaches des Gebotenen vorzulegen, da es die Religionshistoriker sicher­ lich interessiert hätte; die Beschränkung auf die „Mythologie“ zog hier aber gewisse Grenzen. Sicher kann keine Auswahl allen Wünschen gerecht werden. Deshalb ist die beigegebene Bibliographie so umfangreich gehalten, daß der Benutzer auch für das ihn speziell interessierende Gebiet die nötigen Hinweise findet. Es wurde also, um das Material, das zu einem großen Teil aus Götternamen ohne jeden Zusatz besteht, etwas zu ergänzen, auch die Volkskunde der modernen Berber zum Vergleich herangezogen. Man kann sich allerdings fragen, ob die Einbeziehung dieses Materials sach­ lich gerechtfertigt ist, da zwischen den Angaben eines lateinischen 556

Berber

Vorbemerkung

Autors, wie etwa Plinius, und den heutigen Berbern doch immerhin eine Lücke von 2000 Jahren klafft. Es läßt sich jedoch aus einer Reihe von sicheren Parallelen nachweisen, daß die Berber ein ungewöhnlich konservativer Volksstamm sind und zahlreiche Gebräuche und Vor­ stellungen aus vorchristlicher und vorislamischer Zeit bewahrt haben. Einige von ihnen seien im folgenden erwähnt. So findet sich der Brauch der alten Nasamonen, am Grabe ihrer Ahnen zu übernachten, um hier im Traume Eingebungen zu erhalten, auch bei den modernen Tuareg und anderen Berbern. Das „Baden und Taufen“ zur Zeit der Sonnenwende war bereits zur Zeit des Hl. Augustin üblich, der sich gegen die Teilnahme von Christen an dieser heidnischen Sitte wendet. Daß man bei der Bitte um Erfüllung eines Wunsches Stoffstücke an einen Baum knüpft, um einen Geist zu „binden“, wird schon von Arnobius erwähnt. Die „Nacht des Irr­ tums“, in der sich Paare in der Dunkelheit, wie sie sich gerade treffen, vereinigen und die einen Fruchtbarkeitsritus darstellt, wird schon von Nikolaus von Damaskus, einem Zeitgenossen des Kaisers Augustus erwähnt. Hier sei jedoch bemerkt, daß viele moderne Berber diesen Brauch energisch abstreiten. Daß die symbolische Säugung eines Erwachsenen die Aufnahme in eine Familie oder einen Stamm bedeutet, sehen wir aus einem Mythos des Alten Ägypten: dort wurde der König von einer Göttin genährt, um nach dem Tode auch selbst in die Gemeinschaft der Götter einzugehen. Dieser Brauch findet sich aber nicht nur in kabylischen Märchen, wo der in ein Menschenfresser­ haus geratene Meqidesch oder ein anderes Kind sein Leben dadurch rettet, daß es an der Brust der Hexe saugt, sondern er gehörte noch vor nicht allzulanger Zeit zu den berberischen Rechtsvorstellungen; noch kurz vor der französischen Besetzung Marokkos griff dort der Stamm der Ait Na'man zu den Waffen, um das Leben eines Flücht­ lings zu verteidigen, der auf diese Weise seine „Staatsbürgerschaft“ erlangt hatte. An diesem Beispiel wird der konservative Charakter des Berbertums besonders deutlich. Im Alten Ägypten der 5.Dynastie, also vor etwa 4500 Jahren, gehörte dieses Brauchtum bereits der Mythologie an, bei den Berbern der Gegenwart aber war es noch vor wenigen Jahrzehnten lebendig. Diesen Sitten, die auf religiösen Vorstellungen beruhen, stehen solche profaner Natur gegenüber. In Tripolitanien gibt es eine Bevöl­ kerungsgruppe, die noch wie zur Zeit der „Schneckenhügel“ des Capsiens vorwiegend von Mollusken stehender Gewässer lebt (arab. pl. dawwädin „Wurm-Esser“ von düd „Würmer“). Die Berber vom Stamme der Matmäta in Süd-Tunesien leben noch heute in einer Art Höhlen wie ihre Vorfahren in prähistorischer Zeit. Durch einen schrägen Gang gelangt man in einen Hof, ein Viereck, das senkrecht in die Erde ein­ 557

Zur Ethnologie und Geschichte

Berber

gelassen ist und in dem sich das Leben abspielt. Ställe, Speicher und Wohnräume sind durch Öffnungen in den Wänden zugänglich. Durch „Stiegen“ gelangt man auch in höhergelegene Gemächer. Die Öffnung ist oben oft durch Dornhecken geschützt, so daß Menschen und Tiere nicht in den Hof fallen. Endlich gibt es bei den Berbern noch echte „Jäger“, wie die Dag öäli im Hoggar, in denen die Isebeten auf­ gegangen sind, die das Hoggar-Massiv in der Sahara vor Ankunft der heutigen Tuareg bewohnten, ferner die Nimadi in Marokko. Es soll damit nicht behauptet werden, daß in Nordafrika die Jagd dem Bodenbau vorausging, sondern darauf hingewiesen werden, daß sich hier noch eine Bevölkerung erhalten hat, die hauptsächlich von der Jagd lebt und deren Vorfahren vermutlich die Künstler waren, von denen die Darstellungen von Jagdwild auf Pelszeichnungen stammen. Zum Schluß sei noch eine punische Sitte erwähnt: Im Lustspiel „Poenulus“ von Plautus zeigt ein Punier eine „Scherbe des Gast­ rechtes“ vor, um sich zu legitimieren; die Tuäreg kennen die tamatart; es ist dies ein Wort, eine Geste oder ein Objekt — etwa zwei genau zueinanderpassende Bruchstücke einer Scherbe —, die als Erkennungs­ zeichen zwischen guten Freunden bzw. als Legitimation für einen Abgesandten dienen. Aus solchen Parallelen, die man noch beliebig vermehren könnte, sieht man, mit welcher Zähigkeit sich bei den Berbern altes Brauchtum erhalten hat. Im übrigen wird man so ziem­ lich jede Sitte und jede Vorstellung für „alt“ halten dürfen, die nicht christlich-römisch oder mohammedanisch-arabisch ist.

B. Zur Ethnologie und Geschichte

Die Bevölkerung Nordafrikas1

Die folgende Einteilung gründet sich in der Hauptsache auf die Arbeiten von Bertholon und Chantre auf französischer und von Biasutti auf italienischer Seite12. 1. Negroide Elemente sind schon für die ältesten Zeiten in Nord­ afrika nachweisbar; L. Balout3 weist sie in den „Schneckenhügeln“ des Capsien nach. Dieser Typ überlebt in der Kroumirei (Ost-Algerien) sowie in Oasen wie z. B. Tamerna (Tunesien). Kleinwüchsig, feingliedrig, mesoplatyrrhin, mit kurzem Gesicht, zeigt er einen gemäßigten Prognathismus. Diese Bevölkerung heißt in den Oasen der Sahara auf 1 Die häufiger vorkommenden Orts- und Stammesbezeichnungen sind in der Aufstellung S. 595—597 erklärt. 2 Siehe Lit.-Verz. S. 590. 3 Siehe Lit.-Verz. S. 589 (dort S. 432L).

558

Berber

Zur Ethnologie und Geschichte

berberisch Izeggwägen, die „Roten“, und auf arabisch Harätin, „Pflü­ ger“ (sg. Härtäni). Manche Autoren haben die Existenz autochthoner Negroiden in den Oasen bestritten, weil es an vielen Orten nur Ab­ kömmlinge von aus dem Sudan importierten Sklaven gibt. Diese letzteren Negroiden sind der „äthiopischen“ Fauna, wie sie uns in der ersten Gruppe der Felsbilder entgegentritt (s. S. 584), zuzuordnen. 2. Ein dolichokephaler, mesorrhiner Typ, mittelgroß, olivbraun, mit schwarzem Haar und dunklen Augen: Biasutti unterscheidet hier zwei Spielarten, den grobknochigen berberischen Typ in den Bergen und den grazilen Typ an der Küste, den er kurz mediterran nennt. Diese Berber erscheinen in den ältesten Darstellungen der Ägypter als die „Fürsten von Libyen“ und unterscheiden sich somatisch über­ haupt nicht von den Ägyptern des Niltals. Sie sind die Träger der „hamitischen“ Komponente des Berberischen, die nicht nur einen Teil des Vokabulars, sondern auch die gesamte Morphologie der Sprache bestimmt, wie die Femininbildung, die äußeren und inneren Plurale, die Pronominalelemente, die Stammesbildung des Nomens und des Verbums sowie die Konjugation. 3. Ein brachykephaler Typ, mittelgroß, mit kurzem Gesicht und kurzer Nase: besonders häufig bei den Beni Mzab in den sieben Wüsten­ städten (Süd-Algerien), auf der Insel Djerba und im Djebel Nefüsa (Tripolitanien. In Europa gibt es brachykephale Bevölkerungsgruppen unter anderem in Frankreich (Dordogne) und auf dem Balkan; sie kommen dann wieder in Vorderasien als armenoide Rasse vor. Die Annahme einer spontanen Entwicklung der Kurzköpfigkeit ließe die übrigen Charakteristika dieses Typs unerklärt. Auf jeden Fall sieht man im Augenblick noch nicht, wie die nordafrikanischen Brachykephalen mit den anderen Zusammenhängen. Es ist wohl Zufall, wenn die drei Gebiete, in denen die kurzköpfigen Berber dominieren, der nicht-orthodoxen Sekte der Ibaditen angehören, die den Arabern keinen Vorrang im Islam einräumen. Das Berberische des Mzab, von Djerba und des Djebel Nefüsa zeigt eine Reihe von Gemeinsamkeiten (yengu „er hat getötet“ gegenüber yenga in anderen Gebieten), die aber erst jüngeren Datums sind und als „zenätisch“ bezeichnet werden können. Ob auch das Vokabular Elemente enthält, die für die brachykephalen Berber typisch sind, wird erst festgestellt werden können, wenn einmal umfangreicheres Material vorliegt. 4. Die dolichokephalen, leptorhinen, hochgewachsenen Berber, die blond und helläugig sind, treten uns schon auf ägyptischen Denk­ mälern der 19. Dynastie entgegen. Es handelt sich, wie überein­ stimmend festgestellt wird, um den afrikanischen Zweig der nordischen Rasse, der wohl während einer Eiszeit von Europa über die Straße von Gibraltar nach Afrika gekommen ist. In Nordafrika findet man diesen 559

Zur Ethnologie und Geschichte

Berber

Typ ziemlich häufig im Rif, in der Kabylei, bei den Matmäta in SüdTunesien und im Djebel Nefüsa. Er fehlt anscheinend völlig bei den Schilh in Südwest-Marokko und ist bei den Tuareg zum min­ desten sehr selten. Dagegen möchte ich von den modernen Ägyptern die hellen, rotblonden Bewohner des Fayyüms hierherstellen, wie ich sie aus Tobhär und anderen Orten kenne. Schon im alten Ägypten tritt uns ein Vertreter dieser Temehu (pl.) im Grabe Sethos I. ent­ gegen. Die Sprache dieser Blonden kann vonAnfang an nicht hamitisch gewesen sein, und man wird nicht fehlgehen, wenn man in jenem berberischen lexikalischen Material, das sich nicht hamitisch oder semitisch ethymologisieren läßt, die Reste der Sprache dieser Blonden vermutet. Allerdings wird man damit rechnen müssen, daß auch die negroide und die brachykephale Bevölkerung Nordafrikas dem Berberischen Material geliefert hat. J. Hubschmid hat darauf aufmerksam gemacht, daß eine Reihe berberischer Nomina, vor allem Pflanzennamen, in vorromanischen Ausdrücken des Spanischen, Sardischen, Italienischen und Sizilianischen sowie auch im Baskischen Parallelen besitzen. 5. Daß die vorzeitliche Rasse von Mechta el-Arbi (Mesta l-’Arbi), deren Fortleben bis in die Römerzeit bekannt war, noch heute bei den Kabylen und Schäwis vorkommt, hat P.A.Vassal erwiesen (Per­ sistance du Type de Mechta el-Arbi en Afrique du Nord. Actes du TV0 Congrès international des sciences anthropologiques et ethnolo­ giques. Wien, 1954, Tome I, S. 240—256). Neben den genannten Gruppen wird man aber auch mit an­ deren Elementen zu rechnen haben, wie den Puniem, die wohl als Nation, nicht aber biologisch untergegangen sind. Reste der grie­ chischen Kolonisten werden sich in der Kyrenaika und anderswo er­ halten haben. In beschränkter Anzahl gab es in den ägyptischen Oasen sicherlich auch Kopten, ebenso in Städten der libyschen Küste; auch waren die Erbauer der ersten arabischen Flotte Tunesiens Kopten. Dazu kamen noch die Römer mit dem Völkergemisch ihrer Legio­ näre. Auch die Vandalen werden in der Bevölkerung Spuren hinter­ lassen haben, obschon sie als Nation verschwunden sind. Bei den Arabern sind zwei „Wellen“ zu unterscheiden: die erste, zahlenmäßig sehr schwache im 7. Jahrh. und eine zweite etwas be­ deutendere im 11. Jahrh., als die Stämme der Beni Hiläl und Solaüm Nordafrika überfluteten. Nicht zu vergessen sind die Juden, die schon vor der Zerstörung des Tempels in Jerusalem (70n.Chr.) in Nordafrika Kolonien ge­ gründet hatten. Diese ältere Schicht, die heute arabisch redet, heißt Plischtim (pl.), d. h. „Philister“. Viele von ihnen ließen sich in der 560

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Kyrenaika nieder, wo sie sich 215 n.Chr. gegen die Römer empörten und nach Niederwerfung der Revolte weiter nach Westen zogen. Die jüngere Schicht besteht aus den spanisch redenden Foresteros, die 1492 aus Spanien vertrieben wurden und sich in Nordafrika sowie in den Ländern des osmanischen Reiches, besonders in Kleinasien und am Balkan ausbreiteten. Auch bei den Negern hat man mit Verschiebungen zu rechnen. Wenn im Capsien ein Großteil der Bevölkerung Nordafrikas negroid war, so gilt das nicht mehr für die Antike. Diese Zurückdrängung geht sicherlich auf das Ein strömen von nordischen Berbern aus Europa und von mediterranen und orientalischen Typen aus Asien zurück. Erst mit dem arabischen Sklavenhandel breiteten sich die Neger wieder in größeren Mengen in Nordafrika aus. Zur Geschichte der Berber Schon in der ägyptischen Vorgeschichte, d. h. in der Zeit, die der Gründung eines geeinten Königreiches von Ober- und Unterägypten vorausging, war es zu Kämpfen zwischen Ägyptern und Libyern ge­ kommen. Wie G. Möller, H. Hölscher und vor allem S. Schott gesehen haben, handelte es sich bei den damaligen Libyern nicht um zahlen­ mäßig schwache Oasenbewohner, sondern um ein großes und zahl­ reiches Volk, das in Ägypten selbst wohnte, und zwar in der Seeland­ schaft Fayyüm sowie im westlichen Delta. Dort war auch die Göttin Neith zu Hause, die gleicherweise von Ägyptern und Libyern ver­ ehrt wurde. Die ersten Libyer, die uns auf ägyptischen Abbildungen entgegen­ treten, waren die sogen. „Fürsten von Libyen“ (ägyptisch: hSt-j-w cn-w Thnw), die sich somatisch überhaupt nicht von den Ägyptern unterscheiden. Ein Unterschied besteht aber in der Tracht: die „Fürsten“ trugen einen Bart, während die Ägypter rasiert waren, ferner hatten sie eine Stirnlocke und Federn im Haar, eine PenisTasche, die Erwachsenen trugen einen Gürtel mit Tierschwanz. Es ist G. Möller gewesen, der darauf aufmerksam gemacht hat, daß alle diese Elemente auch in Ägypten bekannt sind. Der König trägt als einziger Ägypter einen Bart (und zwar einen falschen, wie wir aus späterer Zeit wissen). Die Stirnlocke findet sich bei den jungen Prinzen. Die Hieroglyphe des „Kriegers“ zeigt einen bogenbewalfneten Mann mit einer Feder im Haar, so daß die Feder das Symbol des Kämpfers gewesen sein muß. Ägyptische Darstellungen von Männern mit Penis-Taschen sind zwar selten, doch kommen sie vor. Beachtens­ wert ist, daß bei den Libyern auch die Frauen Nachahmungen dieser Futterale tragen, was eine Parallele bei manchen sudanesischen

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Stämmen hat. Der Gürtel, den nur die Erwachsenen tragen, findet sich auch bei den Ägyptern, wo er gleichfalls den Erwachsenen Vor­ behalten ist. Auch im modernen Algerien wird der Knabe durch das Anlegen des Gürtels zum Mann. Die libysche Tracht zeigt gegenüber der ägyptischen noch archaische Züge. Im Niltal haben sich einzelne Elemente im Königsornat und in der Kleidung der Krieger erhalten. Darstellungen besiegter Libyer finden sich im Totentempel von König Sahure (etwa 2320 v.Chr.) und eine Nachbildung davon ist im Toten­ tempel von König Pepi II. erhalten. Um etwa 2150 v.Chr. unternimmt der Gaufürst von Elephantine namens Harchuf eine Sudanexpedition, wobei er nicht nilaufwärts zieht, sondern den Oasenweg benützt. Er findet den Fürsten des Landes Jam (in Nubien) abwesend, weil dieser ausgezogen war, um die Libyer vom Stamme der Temehu „in die westliche Ecke des Himmels zu schlagen“. Das ist die erste Erwähnung dieses Volkes, das sich von den mediterranen „Fürsten von Libyen“ grundlegend unterscheidet. Es sind dies die später aus Darstellungen bekannten hellen und blonden Berber, die Locken und Bärte tragen, tatauiert und in lange buntbemalte Ledermäntel gehüllt sind, also ganz anders als die „Fürsten“. Es ist richtig, daß Harchufs Bericht von keinen Zeichnungen begleitet ist, doch kann kein Zweifel daran sein, daß damals schon die blonden Berber den Ägyptern bekannt waren. Es ist bemerkenswert, daß im 2. vorchristlichen Jahrtausend die braunen mediterranen und die hellen nordischen Berber offenbar noch getrennt als verschiedene Stämme nebeneinander lebten. Man wird annehmen dürfen, daß sie vielleicht auch verschiedene Sprachen ge­ sprochen haben. Die mediterranen Berber, die den Ägyptern gleichen, werden die Träger der „hamitischen“ Komponente des Berberischen sein, des grammatischen Rüstzeugs wie der Pronominalelemente, der Elemente des Maskulinums, Femininums, Plurals, der meisten Zahl­ wörter, der Formen des Verbums und eines bestimmten Anteils des Vokabulars, kurz aller Elemente, die das Berberische mit dem Ägyptischen oder den semitischen Sprachen teilt. Nun ist aber der größere Teil des berberischen Lexikons nicht als hamitisch zu er­ klären, und man wird annehmen, daß er zu der anderen Komponente der berberischen Ethnie gehört. König Merneptah (etwa 1225—1215 v.Chr.) wehrt einen Ansturm der Libyer ab, die sich mit den sogen. „Seevölkern“ verbündet hatten. Hier treten zum erstenmal die R-b-w („Libyer“) auf, was etwa Libü gesprochen wurde (griech. Libues pl. und berb. Ilawaten, von einem Ahnherrn Lawa). Ihre Verbündeten waren die Sarden (S-r-d-n), Sikuler (S-k-r-s), Achäer (’-q-j-w-s, d. i. Aqaiwas oder ähnlich) sowie die Lykier (R-q-w). Auch die Tyrrhenier oder Etrusker werden hier

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genannt (T-r-.s). Die Einzelheiten von Merneptahs großem Sieg sind in einer Inschrift im Tempel von Karnak festgehalten. Es scheint sich nicht um einen bloßen Raubzug der Libyer gehandelt zu haben, sondern um die Suche nach einer neuen Heimat. Der Fürst (M-r-y) hatte seine Frauen und Kinder mitgebracht, ebenso Vieh, Waffen und andere Geräte, die alle in die Hand der Ägypter fielen. Über 6000 Libyer wurden getötet, ebenso eine große Zahl ihrer Verbün­ deten, die Zahl der Gefangenen überstieg 9000. Die entscheidende Schlacht, die sechs Stunden dauerte, fand anscheinend im West-Delta statt. Einzelheiten erfahren wir aus einem Text in einem Grabtempel im Westen Thebens. Es heißt da, daß der „elende Fürst“ der Libyer unter dem Schutze der Nacht fliehen mußte, ohne Feder am Kopf, ohne Sandalen, nachdem seine Weiber vor seinen eigenen Augen ge­ fangengenommen worden waren; nicht einmal einen Wasserschlauch konnte er mitnehmen. Seine Brüder zürnten ihm und waren willens, ihn zu töten. Die einzelnen Führer der Libyer bekämpften nun ein­ ander, und das Lager der Eindringlinge ging in Flammen auf. Unter Ramses III. (etwa 1182—1151 v.Chr.) kam es wiederum zu Kämpfen mit den Berbern, einmal in seinem 5. Regierungsjahr gegen die drei Stämme der Libü, der Seped und der Meschwesch. Die Libü sind uns bereits begegnet. Die Seped erscheinen nur hier, und es ist zu vermuten, daß es sich um die nachher zu erwähnenden Esebetu handelt. Die Meschwesch werden in der Literatur sicherlich zu Un­ recht mit den Maxyes der Griechen identifiziert, die ich lieber mit M-z-q (heute Amazig, pl. Imazigen „Berber“) gleichsetzen möchte. Auch diese Berber brachten ihre Frauen und Kinder in Ochsenkarren mit. Etwa in die gleiche Zeit fällt der Einfall der NordVölker, wie der Sarden (S-r-d-n), der Sikuler (S-k-r-s), der Danaer (D-n-w) und anderer. Die Berber, die im 11. Jahre einfielen, standen unter der Führung der Meschwesch. Es waren dies wiederum die Libü, dazu die Esebetu, Qaiqasch, Schayten, Has und Baqan (wohl Baqal zu lesen, bei Herodot Bakales). Die Esebetu (pl.) entsprechen den Isebeten (sg. Esebet), die einer Sage nach vor den heutigen Tuareg im Hoggar-Massiv wohnten. Ramses III. richtete unter ihnen ein großes Blutbad an, nahm ihre Weiber und Kinder „zu Zehntausenden“ gefangen und ihr Vieh „zu Hunderttausenden“. Berbern, die nicht in den Kämpfen umgekommen waren, wurde der Name des Königs eingebrannt, sie wurden damit zu Sklaven. Das Vieh wurde dem Tempel des Am­ mon übergeben. Zwei große Inschriften im Palast von Medinet Habu erzählen von diesem Kampf. Meschescher, der Führer der Meschwesch, wurde gefangengenommen, und sein Vater flehte ver­ gebens für ihn um Gnade. 563

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Damit fanden wohl die verheerenden Kriegszüge der Libyer ein Ende, aber nicht deren Infiltration. Viele Berber dienten im ägyp­ tischen Heer. Etwa 945 besteigt dann ein Berber namens Scheschonq (griech. Sesonchis, griech. Schischag) den ägyptischen Thron und begründet die XXII. Dynastie, die libysch ist (945—730 v.Chr.). Es handelt sich insgesamt um 9 Könige, die meist Scheschonq, Osorkon oder Takelothis heißen; sie erscheinen völlig als Ägypter und unterscheiden sich in nichts von anderen Pharaonen.

Die griechische Kolonisation. Im 7. vorchristl. Jahrh. begann die Kolonisation der kyrenäischen Küste durch die Griechen. Die wich­ tigste Kolonie war Kyrene, deren erster König Battos hieß, angeblich ein libysches Wort (Herodot IV, 155: „König“). Der Sage nach wurde die Nymphe Kyrene in Afrika von Aphrodite und Libya gastlich aufgenommen (Pauly-Wissowa, RE, 23. Halbband. Stuttgart 1924, S. 151). In späterer Zeit gehörte das griechische Küstengebiet zum ptolemäischen Ägypten. Das griechische Element wurde hier durch den Ansturm der Araber ausgelöscht, und nur Ruinen künden noch von der kyrenischen Vergangenheit dieses Teiles von Libyen. Die Weltmacht Karthago. Schon gegen Ende des 2. vorchristl. Jahr­ tausends begannen sich die Phönizier im westlichen Mittelmeer­ gebiet auszubreiten. In Nordafrika selbst reichte ihre Einflußsphäre etwa von Leptis Magna in Tripolitanien über das gesamte Küsten­ gebiet bis jenseits der Säulen des Herkulus. Daneben gab es Kolonien in Sardinien, auf den Balearen und Pityusen, in Spanien sowie in Sizilien, wo sich viele griechische Niederlassungen befanden. Im 5. Jahrh. v. Chr. übernahm Karthago die Führung und ent­ wickelte sich rasch zu einer Weltmacht. Die punische Zivilisation wirkte auf die Berber befruchtend. Das zeigen zahlreiche Lehn­ wörter für Kulturgüter in den heutigen Berbersprachen. Das alte numidische Alphabet wurde dem punischen nachgebildet und die Bezeichnung Tifinag bei den Tuareg für ihre einheimische Schrift geht auf eine Form wie (litterae) punicae (fern, pl.) zurück. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluß der punischen Religion auf die Berber, doch läßt sich in bestimmten Fällen auch umgekehrt eine Beein­ flussung der punischen Vorstellungen durch einheimische Kulte nachweisen. Gottheiten wie Ba'al, Melqart, Eschmun und Astarte wurden sicherlich auch von Berbern verehrt, und bei Thinit ist es nicht sicher, ob sich nicht hier eine berberische Göttin in das punische Pantheon verirrt hat. Das Gründungsdatum Karthagos (814 v.Chr.) ist einer der seltenen Fixpunkte der afrikanischen Geschichte. G. Charles-Picard hat hier­ 564

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für die folgenden Argumente zusammengestellt (Les religions, S. 30): 1. Nach Timaios von Tauromenion wurde Karthago 38 Jahre vor dem Beginn der Olympischen Spiele gegründet (776 v.Chr. +38=814 v. Chr.). 2. Nach mehrfachen Berichten wird als Dauer Karthagos die Zeit von 668 Jahren angegeben (146 v.Chr. als Datum der Zerstörung + 668 = 814 v.Chr.). 3. Außerdem wird das Gründungsdatum von Karthago (814 v.Chr.) nach der varronischen Ära mit dem Datum der Grün­ dung Roms in Verbindung gebracht. Im allgemeinen wird man Gründungsdaten von Städten im Alter­ tum für sicher halten dürfen, weil man, wie es in Rom der Pall war, nach der Gründung die Jahre zählte. Karthago war übrigens nicht die erste phönizische Niederlassung auf diesem Gebiet, denn P. Cintas datiert Funde aus einem Heiligtum in das 10. vorchristl. Jahrh. (Un sanctuaire précarthaginois sur la grève de Salammbô. Revue Tuni­ sienne 1948).

Die Geschichte von der Gründung Karthagos, wie sie uns von Timaios von Tauromenion erzählt wird (Müller, Fragm. Hist. Graec., I, S. 197), enthält wohl sagenhafte Züge. Theiosso, die in der Sprache der Phönizier Elissa hieß, war die Schwester Pygmalions, des Königs von Tyrus. Ihr Gatte wurde von Pygmalion ermordet. Da floh sie mit ihrer Habe und wenigen Getreuen nach Libyen, wo sie von den Bewohnern des Landes wegen ihrer weiten Fahrt Dido genannt wurde. Sie erhielt dort so viel Land, als eine Kuhhaut umspannen konnte. Listig zerschnitt sie die Kuhhaut in ein langes Band, welches das Land umfaßte, in dem sich später die Stadt Karthago erhob. — Hiarbas, König der Libyer, wollte später Dido freien, und das Volk von Kar­ thago drängte sie, diesen Antrag anzunehmen. Da sie ihrem toten Gemahl durch einen Treuschwur verpflichtet war, gab sie vor, ein Opfer vorzubereiten, um sich von ihrem Versprechen zu entbinden. Sie stürzte sich jedoch in die Flammen des Scheiterhaufens, um die Werbung Hiarbas’ nicht annehmen zu müssen. Das Volk von Kar­ thago verehrte sie als Göttin.

V. Pâques weist auf eine Parallele mit der Anlage des Gartens in Süd-Tunesien hin, der durch eine Dornhecke eingefriedet ist. Diese entspricht der Haut des ersten „geopferten“ Fellähen, die in vier Streifen geschnitten das erste Feld umgab. Die politische und militärische Entwicklung des Zusammenstoßes der beiden Weltmächte Karthago und Rom darf als allgemein be­ kannt vorausgesetzt werden. Als historisches Datum sei hier nur das Jahr 146 v.Chr. mit der Zerstörung Karthagos festgehalten, welches das Ende des politischen, nicht aber des kulturellen und religiösen Einflusses des Puniertums in Nordafrika bedeutet.

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Das Ende Karthagos (146 v.Chr.) bedeutete weder das Ende der punisehen Religion noch das der punischen Sprache. Es gab in Nordafrika (und in Sizilien) zahlreiche punische Gemeinschaften, welche den Fall Karthagos überlebten. Einige erfreuten sich sogar unter der römischen Herrschaft einer gewissen Unabhängigkeit, wie die septem civitates liberae (Utica, Theudalis, Hadrumentum, Leptis, Thapsus, Acholla, Usula), wo noch in römischer Zeit die punischen Priester (köhanim, pl.) amtierten. Noch zur Zeit des heiligen Augu­ stinus wurde punisch gesprochen, und William M. Green hat nicht weniger als 22 Stellen in den Schriften des großen Kirchenlehrers untersucht, die auf das Punische Bezug haben. (Augustine’s Use of Punic. Semitic and Oriental Studies. A Volume prescnted to William Popper. Berkeley and Los Angeles 1951, S. 179 — 190).

Numidien. Masinissa, König von Numidien und Verbündeter der Römer (188—148 v.Chr.) organisierte seinen Staat, indem er den Ackerbau förderte und ein stehendes Heer von etwa 50000 Mann unter Waffen hielt. Nach Diodor Siculus hinterließ er jedem seiner 44 Söhne 10000 Plethren Ackerland, das sind 874 Hektar, mit all den landwirtschaftlichen Geräten, die dazu notwendig waren. Die Städte blühten empor, vor allem Cirta (Constantine) mit vielleicht 150 000 Ein­ wohnern, Iol (Cherchell) und Saldae (Bougie). Er war König und Gott und trug nach dem Vorbild der griechischen Könige des Orients das Diadem. Er besaß eine Flotte und prägte seine Münzen. Seine Söhne ließ er griechisch erziehen. Zehn Jahre nach seinem Tode wurde ihm ein Mausoleum in Thugga (Dougga in Tunesien) errichtet, das eine numidisch-punische Bilingue auf der Vorderseite trägt, die O. Rößler übersetzt und kommentiert hat. Es handelt sich um die älteste datierte Inschrift in numidischer Schrift. Allem Anschein nach ist das numidische Alphabet unter Masinissa (numidisch M-s-n-s-n ge­ schrieben) nach dem Vorbild des punischen erfunden worden und die Schriftzeichen heißen heute noch bei den Tuareg „die punischen“ (tifinag, pl. f. vom sg. tafineq, „littera punica“), womit übrigens die römische Bevölkerung der späteren Zeit wohl jede nicht lateinische oder griechische Schrift bezeichnet haben wird. Der Übergang von alt ü zu modern i ist regelmäßig, vgl. den Ortsnamen Qlibija in Tunesien (Kelibia) für das alte Clüpea, kabylisch ukjil „wilde Zwiebel“ gegenüber lat. caepüla. Nach dem Tode Masinissas wurde dessen Sohn Micipsa (numidisch M-k-w-s-n) König (148—118 v.Chr.), der wie sein Vater die Freund­ schaft mit Rom pflegte. Als nach seinem Tode Thron Streitigkeiten zwischen seinen beiden Söhnen und deren Vetter Jugurtha entstanden, griff der römische Senat ein und ordnete die Teilung des Reiches an.

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Als hierauf Jugurtha seine Vettern Adherbal und Hiempsal ermorden ließ und die Einheit des numidischen Reiches wieder herstellte, kam es zum „Jugurthinischen Krieg“, dessen nähere Umstände als be­ kannt vorausgesetzt werden dürfen. Jugurtha mußte vor den sieg­ reichen Legionen des Marius fliehen und wurde von seinem Schwieger­ vater Bocchus, dem König von Mauretanien, im Jahre 106 an die Römer ausgeliefert, die ihn erdrosselten. Bocchus erhielt nun zum Lohne den westlichen Teil Numidiens, während Gauda, ein anderer Vetter Masinissas, den östlichen Teil bekam. Das mittlere Drittel fiel als Pufferstaat an Mastanesosus. Bocchus’ Nachfolger setzten die Freundschaftspolitik mit Rom fort. Schließlich wurde Mauretanien zwischen den beiden Enkeln Bocchus’ geteilt, indem Bogud II. den Westen (Marokko) und Bocchus II. den Osten (Algerien) erhielt. Sie halfen Caesar, König Juba von Numidien, der ein Freund des Pompeius war, zu vernichten. Jubas Reich wurde dann die römische Provinz Numidien (48 v.Chr.). Nach Caesars Ermordung (44 v.Chr.) nahm Bogud Partei für Antonius und wurde im Laufe der Kämpfe in Griechenland getötet (31 n.Chr.). BocchusII. erhielt von Oktavian das Reich seines Bruders, so daß nun Maure­ tanien wieder vereinigt war. Als der König 33 v. Chr. kinderlos starb, ließ Oktavian das Reich durch Präfekten verwalten, stellte aber 25 v.Chr. das Königtum Mauretanien unter Juba II. wieder her, der Rom ergeben war. Dieser war der Sohn Juba des I., der nach der Niederlage von Thapsus durch Selbstmord geendet hatte, um nicht in Caesars Hände zu fallen. Der fünfjährige Juba wurde in Rom zuerst in Caesars, dann in Augustus’ Familie als Geisel auf­ gezogen, wo er die gleiche Erziehung wie andere junge adelige Römer erhielt; Augustus vermählte ihn mit Cleopatra Selene, der Tochter von Antonius und Kleopatra. Unter Jubas II. Herrschaft blühten seine beiden Hauptstädte Caesarea Iol (Cherchell) und Volubilis (in Marokko) auf. Mit seiner Gattin hielten ägyptische Götter Einzug nach Nordafrika. Er schmückte seinen Palast mit Statuen und sammelte Manuskripte für seine Bibliothek. Er interessierte sich für Geographie und Natur­ geschichte und entsandte eine Expedition nach den Kanarischen Inseln. Eine Pflanze mit Milchsaft heißt noch heute bei den Kabylen Ijerbiun „Euphorbium“, nach dem Namen seines Leibarztes. Er ver­ faßte ein Werk in griechischer Sprache über seine Forschungen, dessen Original verlorengegangen ist, das aber von Plinius in seiner Natur­ geschichte benützt wurde. Unter seiner Herrschaft war Mauretanien ein reicher und mächtiger Staat. Nach dem Tode Juba II. (25 v.Chr. bis 23. n.Chr.) bestieg dessen Sohn Ptolemaios den Thron. Er half den Römern, die Revolte des 567

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Numiders Tacferinas niederzuschlagen. Dieser, ein Deserteur der römischen Armee, hatte sich als ausgezeichneter Organisator er­ wiesen und seit 17 n.Chr. die römischen Streitkräfte von Tripolitanien bis Marokko im Schach gehalten. Übrigens wurde Juba II. für seine Hilfe übel belohnt. Bei einem Besuch in Lyon ließ ihn Caligula er­ morden, um sein Reich zu annektieren. Später (46 n.Chr.) teilte Kaiser Claudius (41 -54n.Chr.) das Gebiet in zwei römische Provinzen, im Osten Mauretania Caesarea mit der Hauptstadt Caesarea Iol (Cherchell) und westlich des Flusses Moulouya Mauretania Tingitana, deren wichtigste Städte Tingi (Tanger) und Volubilis (arab. Welili) waren. Das Christentum.Das. Christentum erschien in Nordafrika im l.Jahrh. und breitete sich rasch unter den städtischen Bevölkerungen aus. Die Kirchensprache war lateinisch, und diesem Umstand wird es zuzu­ schreiben sein, daß es in den Sitten und Gebräuchen der Berber so wenig Spuren hinterlassen hat. Erwähnenswert ist jedoch, daß die Zeugnisse christlicher Autoren wie des heiligen Augustinus (348 bis 440 n.Chr) oftmals für die Kenntnis der religiösen Gebräuche der Be­ völkerung aufschlußreich sind. Die Vandalenherrschaft. Zum äußeren Ablauf der nordafrikanischen Geschichte, von dem auch die berberische Bevölkerung betroffen war, gehört die hundertjährige Vandalenherrschaft. Die Vandalen waren in Germanien dem Druck der Hunnen ausgewichen und hatten Ende 406 den Rhein überschritten. Sie durchzogen Gallien und fielen im Herbst 409 in Spanien ein. Dort zogen sie später unter dem Druck der West­ goten südwärts, und im Mai 429 setzte ihr König Geiserich mit 80000 Vandalen, unter denen sich 15000 Krieger befanden, von Julia Traducta nach Tanger über. Nach dem Aufenthalt der Vandalen in Spanien hieß dieses Land später bei den Arabern biläd al-Andalus „Land der Vandalen“. Wie ich ausgeführt habe, hegt dieser Bezeichnung eine berberische Form wie rifisch thamurth w-Wandalus „Land der Vandalen“ zugrunde (Al-Andalus. Sobre la historia de un nombre. Zeitschrift Al-Andalus, Madrid y Granada 1952, Vol. XVII, S. 449—450), wo aus dem Genitiv w-Wandalus ein Nominativ Andalus rückgebildet wurde (wie w-wass „des Tages“ von ass „Tag“). Im Jahre 439 fiel Karthago in Geiserichs Hand, und hier organisierte er seinen Staat. Er eroberte Sizilien, Sardinien und Korsika und plün­ derte 455 Rom. Nach seinem Tode 477 gab es wachsende Schwierig­ keiten. Die katholische Stadtbevölkerung war den arianischen Vandalen immer feindlich gewesen, und die Berber des Aures zer­ störten Theveste, Thamugadi und Lambaesis. Kaiser Justinian ent­ 568

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sandte dann seinen Feldherrn Beiisar, der 534 das vandalische Reich vernichtete. Der letzte König Gelimer, der zu befreundeten Berbern auf den Berg Pappua geflüchtet war, mußte sich ergeben und zierte Beiisars Triumphzug; er beschloß seine Tage auf einem Gute in Galatien, das ihm der Kaiser großmütig zugewiesen hatte. Von der vandalischen Bevölkerung als solcher blieb in Nordafrika nichts erhal­ ten ; sie ging unter den Alteingesessenen auf oder wurde deportiert. Die Byzantinerherrschaft. Auch in der folgenden Zeit der byzanti­ nischen Herrschaft erfahren wir von den wirklichen Zuständen des berberischen Landes nur wenig. Justinian ordnete die Verwaltung neu. Die sieben afrikanischen Provinzen, mit Gouverneuren an der Spitze, wurden einem direkt von Byzanz eingesetzten Exarchen unterstellt. Ein Limes sicherte dieses römische Gebiet gegen die Berber; die Verteidigungslinie bestand aus einer doppelten Reihe von Festungen und Garnisonstädten, die tags durch Rauch- und nachts durch Feuersignale miteinander in Verbindung standen. Nach dem Unter­ gang der arianischen Vandalen erlangte die katholische Kirche ihre beherrschende Stellung in Nordafrika wieder. Es scheint jedoch, daß das Christentum auch fernerhin nur innerhalb der römischen Städte fest eingewurzelt war. Die Berber, die in der Zwischenzeit Kamelnomaden geworden waren, machten den Byzantinern überall zu schaffen. Corippus, der letzte afrikanische Dichter klassischer Tradition, besingt in seiner Ioannis die Taten des byzantinischen Generals Iohannes Troglita im Kampfe gegen die aufständischen Berber und teilt uns in seinem Werke eine Reihe bemerkenswerter Einzelheiten über diese mit. Iohannes Troglitas Sieg bei den „Feldern des Cato“ im Jahre 548 beendete einen langen Krieg; der byzantinische Feldherr tötete mit eigener Hand den berberischen Fürsten Carcasan, auch weitere siebzehn berberische Führer fanden in dieser Schlacht den Tod. In dieser Zeit herrschten christliche Fürsten im Inneren des Landes; davon zeugen dreizehn Grabbauten in Pyramidenform südwestlich von Tiaret aus dem 6. und 7. Jahrh., bei deren Bau italische oder byzantinische Arbeiter mitgewirkt haben müssen. Das höchste dieser Monumente erreicht nicht weniger als 45 Meter. Spuren von Wand­ malereien zeigen, daß es sich um christliche Denkmäler handelt. Vermutlich wurden sie von der Dynastie der Massonas errichtet, die der Byzantiner Prokop nennt und mit der ein Prinz namens Masuna zusammenhängt, der in einer Inschrift von Altava figuriert; diese Dynastie ist anscheinend von den Arabern hinweggefegt worden. Die arabische Eroberung beschließt die heidnische Vergangenheit Nordafrikas. Das Christentum war, wie erwähnt, im allgemeinen auf 37

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die römischen Städte beschränkt geblieben und scheint nur vereinzelt tiefer in das Inneredes Landes gedrungen zu sein. Dem Islam dagegen gelang es, in der gesamten Berberei Fuß zu fassen, auch wenn sich unter einer oft nur äußerlich islamisierten Schicht noch Spuren der alten berberischen Religion erhalten haben. Nach dem Tode Mohämmeds (632n.Chr.) und der Eroberung Ägyptens durch die Araber (641 n.Chr.) begannen diese auch in die Berberei einzudringen. Noch im Jahre 642 fielen Barka und die Pentapolis in die Hände der Araber, die sofort weiter bis Zwila im Fezzan und an der Küste bis Tripoli vorstießen. Dann unternahm der Statt­ halter Ägyptens 'Abdallah Ben Sa'd im Jahre 645 (oder 646) einen weiteren Zug nach dem Westen und schlug 647 den byzantinischen Statthalter bei Sufetula (dem heutigen Sbeitla in Tunesien), was praktisch den Verlust Nordafrikas für das oströmische Reich bedeu­ tete, wenn auch einzelne Gebiete noch einige Zeit von den Byzanti­ nern besetzt blieben. Byzanz versuchte wohl, das Land wiederzuge­ winnen, und entsandte 664 eine Armee nach Nordafrika, die bei Hadrumetum (Sousse in Tunesien) landete, aber von Mo'äwija Hodeidj besiegt wurde. Definitiv wurde die arabische Besetzung freilich erst unter 'Oqba Ibn NäfT (in europäischen Werken: Okba Ibn Nafi), der 670 in einer weiten Ebene der Byzacene die Stadt Qairawän (Kairouan) als Waffen­ platz der Mohammedaner gründete. Er unternahm einen Zug bis Tanger und stieß bis Süd-Marokko vor, nach dem Wäd Süs, wo er unter den Ungläubigen ein Gemetzel anrichtete; mit reicher Beute, u. a. auch mit vielen schönen Mädchen, die er geraubt hatte, trat er den Rückzug an. Da aber regte sich der berberische Widerstand. Ein Führer namens Kusaila (so die arabische Form, geschrieben ohne Vokale) bemächtigte sich vorübergehend Kairouans und tötete im Jahre 683 Okba in der Nähe von Tehouda. Noch immer gab es im Lande Städte und Festungen, die von den Byzantinern oder von unabhängigen Berbern gegen die Araber gehal­ ten wurden. Eine neue Form gewann der berberische Widerstand unter der Führung der Kähina, der Herrscherin des berberischen Kamel­ nomadenstammes der Djeräwa, dem arabische Autoren — sicherlich mit Unrecht — jüdischen Glauben zuschreiben. Wie die Fürstin tat­ sächlich hieß, ist unbekannt; Die Manuskripte zeigen die Konsonanten D-m-j-(t) und D-h-j-(t), doch allgemein bekannt ist die arabische Bezeichnung „Kähina“, was soviel wie „Prophetin“ bedeutet. Nach dem Tode Kusailas (668 oder 689 — das Datum ist nur nach der mohammedanischen Zeitrechnung bekannt, deren Jahre sich nicht mit denen der christlichen decken —) schlug die Kähina ein arabisches Heer bei Meskiana zwischen Ain Bei'da und Töbessa in Tunesien und 570

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ging dann dazu über, das Land selbst zu verwüsten, um mit dieser Strategie der „verbrannten Erde“ den Arabern jede Lust zu nehmen, Nordafrika wiederzuerobem. Dadurch aber entfremdete sie sich jene Berber, die nicht Nomaden waren. So wurde sie schließlich von einem arabischen Heer geschlagen und mußte mit ihren Getreuen fliehen. Sie fand im Aures-Gebirge den Tod, und ihr Kopf wurde dem Chalifen als Trophäe übersandt. Von ihren Stammesgeistern über ihre drohende Niederlage unterrichtet, hatte sie noch vor ihrem Ende ihren beiden Söhnen geraten, zu den Arabern überzugehen, damit die Herrschaft in ihrer Familie bliebe. Der Ort, wo sie getötet wurde, hieß Bir dKähina, der „Brunnen der Prophetin“.

Die arabische Kolonisation. Nach dem Tode der Kähina stand der Ausbreitung des Islams in Nordafrika nichts mehr im Wege. In den Städten schmolzen die christlichen Gemeinschaften rasch zusammen, und die noch heidnisch gebliebenen Stämme des Südens wurden nach und nach zum Islam bekehrt. Eine Reaktion gegen den Vorrang, welchen die Araber in der neuen Religion einnahmen, bedeutete die Bewegung der Abäditen (arab. Abädija), deren Ideal eine reine Theo­ kratie war. Ihr gehören die puritanischen Beni Mzab mit ihren sieben Oasenstädten im Süden der algerischen Sähara an sowie die Berber des Djebel Nefüsa und der Insel Djerba. Diese halten sich von den ortho­ doxen Berbern streng gesondert; allen irdischen Freuden abhold, ist ihr ganzes Sinnen und Trachten auf Gebet und Gelderwerb gerichtet. Um 1050 war Nordafrika der Schauplatz einer zweiten arabischen Invasion. Die Stämme der Beni Hiläl und Sulaim „drangen wie ein Heuschreckenschwarm ein, der auf seinem Durchzug alles vernichtet“, wie Ibn Chaldün, ein arabischer Geschichtsschreiber des 15. Jahrh., berichtet. Trotz dieser Invasion blieb der Blutanteil der Araber an der Gesamtbevölkerung gering. Während zahlreiche moderne Autoren der Auffassung sind, daß im ganzen nicht mehr als 200 000 Araber nach Nordafrika gekommen seien, erreichen andere Schätzungen (die sicherlich übertrieben sind), zwei Millionen. Diesen hegt die Meinung zugrunde, daß alle Stämme, die sich selbst von einem arabischen Vorfahren herleiten, auch tatsächlich arabischen Ursprungs seien. Tatsächlich ist aber Nordafrika das Land der falschen Genealogien. Auch täuscht die Ausbreitung der arabischen Sprache über das wirk­ liche Verhältnis der Berber und Araber hinweg. Während in Tripolitanien noch reines Arabisch gesprochen wird, herrscht in Tunesien, Algerien und Marokko das Maghrebinisch-Arabische, dessen berberisches Substrat in Phonetik, Formenlehre, Wortlaut und Syntax deutlich hervortritt. 37*

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Die Verteilung der Berber bzw. des Berberischen Heute ist ein großer Teil des ehemals berberischen Sprachgebietes arabisch geworden. In der östlichen Berberei haben wir nur winzige Sprachinseln: die Oasen Siwa, Augila, El-Fögaha. In Sokna ist das Berberische erst in der letzten Generation ausgestorben. Dagegen bat sich ein alter Dialekt in der Oasenstadt Ghadämes erhalten. Das erste zusammenhängende Sprachgebiet findet sich in Tripolitanien, im Djebel Nefüsa. In Ägypten wird die Zahl der berberisch sprechenden

Bevölkerung etwa 4000 Menschen betragen, in Libyen schätzungs­ weise 80000. In Tunesien redet man noch in einigen Dörfern im Süden berberisch, so bei den Matmäta, die in Höhlen wohnen, in Tamazratt in Qafet es-Sened sowie an einigen Orten der Insel Djerba; auch hier wird die Zahl der berberisch sprechenden Bevölkerung einige Tausende nicht übersteigen. Es soll nun nicht unbedingt gesagt sein, daß das gesamte Gebiet, das sprachlich arabisch geworden ist, nun auch wirklich von Arabern bewohnt wird. Araber sitzen in der Westwüste Ägyptens und in Libyen; das geht aus ihrem somatischen Befund, ihren Sitten und Gebräuchen sowie ihrer Sprache hervor. In Ägypten und Libyen werden arabische Dialekte gesprochen, deren neuarabische Pho­ netik intakt ist; bei ihnen heißt es beispielsweise her „Reichtum“ und lön „Farbe, Befinden“, während es in Tunesien, Algerien und Marokko nach berberischer Phonetik hir und lün heißt. Die Grenze zwischen dem wirklichen Arabischen (d.h. das von Arabern gespro­ chen wird) und dem „Berberischen mit arabischen Wörtern“ fällt ungefähr mit der libysch-tunesischen Grenze zusammen. Östlich da­ von gibt es eine arabische Bevölkerung, im Westen ist dagegen die Bevölkerung berberisch, und ihrer Sprache merkt man es auf Schritt und Tritt an, daß sie aus dem Berberischen „übersetzt“. Nicht nur die Phonetik, sondern auch die Grammatik und der Wortschatz sind mehr oder weniger stark vom Berberischen beeinflußt.

Algerien ist das Gebiet der Kabylen oder Zwäwa (sg. Zwäwi), die sich selbst berberisch Agawaw, pl. Igawawen nennen. Es ist dies eine sehr tatkräftige Bevölkerung, die sich den Arabern gegenüber behaup­ tet. Es gibt Araber, die Kabylisch lernen müssen, weil es die „stärkere“ Sprache ist. Mit der Einführung des arabischen Schulunterrichtes hat sich jedoch das Bild geändert. Kabylische Intellektuelle wünschen eine gewisse sprachliche Autonomie. Der Ausdruck „Kabyle“ bedeutet nach südarabischem Sprachgebrauch den „Landbewohner“ im Gegen­ satz zum Städter und zum Nomaden. Kabylisch lautet die Bezeich­ nung Aqbaili, pl. Iqbailiyen, coli. Elqbayel. Gewiß hängt das Wort mit arabisch qabila „Stamm“ zusammen, aber die wörtliche Deutung geht 572

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an der Tatsache vorüber, daß auch Städter zum Teil und Nomaden zur Gänze zu „Stämmen“ gehören, östlich von der Großen und der Kleinen Kabylei dehnt sich in den Bergen das Gebiet der Schawiya aus (arab. Säwi „Schafhirt“, pl. Säwiya), die sich selbst Amazig, pl. Imazigen nennen. Die Kroumirs im Gebiet an der tunesischen Grenze haben ihr Idiom schon gegen das Arabische vertauscht. Von den weiteren berberischen Sprachinseln in Algerien seien im Westen die Berber von Vieil-Arzew genannt, die im vorigen Jahrhundert aus dem Rif gekommen sind, die Beni-Snous, die Beni Menaser (französisch Beni Menacer), die eine Art Kabylisch reden, die Schenua, dann im Süden von Oran die sogen. Qsür oder Oasendörfer mit einer stark negroiden Bevölkerung, die sieben Oasenstädte der Beni Mzab, die als Zufluchtsstätte für die verfolgte ibaditische Lehre nach dem Pall des Rostemidenreiches gebaut wurden, die Oase Wargla und die Bevöl­ kerung des Wäd Righ, alles in allem etwa vier Millionen Menschen. In Marokko spricht noch die Hälfte der Bevölkerung berberisch, etwa 5 von insgesamt 10 Milhonen. Man unterscheidet drei Gebiete: Rifisch im Norden mit vielen lautlich stark differenzierten Dialekten, im Zentrum Braberisch und im Südwesten Schilhisch. Die Schilh schreiben das Berberische mit dem arabischen Alphabet. Alle drei Bezeichnungen sind arabisch: JRifi kommt von arab. rif „Frucht­ land“, Bräberi kommt vom Singular Berberi „Berber“ und silh ist der „Baumast“ oder der „Rüpel“. In Marokko ist bei der arabisch sprechenden Bevölkerung der herberische Einfluß besonders deutlich. So gelten berberische Nomina mit dem Artikel auch im Arabischen als determiniert; ein Wort wie atay kann daher den arabischen Artikel nicht annehmen, da es schon an sich „der Thee“ bedeutet. Man findet Bildungen wie tanezzart „Tischlerei“, tabennayt „Maurerei“ nach berberischem Muster. In manchen Gebieten verwendet man die berberische Genitivpartikel n „von“. Das Verbum bildet die berbe­ rische Dauerform: ka yemset „er kämmt“ gegenüber ka ymesset „er kämmt dauernd“. Die Tuareg in der Sahara stellen mit ihrem Gesichtsschleier, dem Schild und dem Schwert einen Anachronismus in der modernen Welt dar. Sie sind die einzigen Berber, die sich noch ihrer nationalen Schrift, der Tifinagh (berb. tafineq, pl. tifinag, wörtlich das „punische“ Schriftzeichen, littera punica) bedienen. Es ist äußerst schwer, ihre Zahl abzuschätzen. A. Basset nannte die Zahl von 500000. Diese sind aber nicht alle wirkliche Tuäreg, sondern zum größeren Teil Abkömmlinge von Negersklaven aus dem Sudan, die sich in ihrer Sprache deutlich von den adeligen Tuäreg unterscheiden. Von den Stämmen seien im Norden die Ihaggaren (sg. Ahaggar) genannt, im Süden der volkreiche Stamm der Iulemmeden (sg. Aulemmed).

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Auf den Kanarischen Inseln ist das Berberische in den ersten Jahr­ hunderten nach der Eroberung durch die Spanier ausgestorben. Ein stark abweichender Dialekt des Berberisehen wird am Senegal von etwa 13000 Berbern (bei insgesamt 29000 Zenaga) gesprochen. Sie nennen sich (und übrigens auch die Araber) als hellfarbige Agadig, pl. Igudagen, worin sich lautgesetzlich die Benennung der alten Gaetuler (lat. Gaetuli) verbirgt. Auch in Nubien wurde in früherer Zeit zum mindesten am west­ lichen Nilufer berberisch gesprochen. In griechischer Zeit heißt dieses Gebiet noch Libyen, und berberische Lehnwörter im modernen Nubischen beweisen, daß vor den Nubiern hier Berber saßen ; hierher gehört aman „Wasser“, bille „Zwiebel“ und kurum „Rücken“.

Die Berber Nordafrikas Im allgemeinen ist die politische Einheit der nordafrikanischen Berber das Dorf, dessen „Regierung“ in der Hand des „Rates“ der Eamilienältesten (kabylisch : legmä'a) unter dem Vorsitz eines Bürger­ meisters (kabyliseh : lamin) liegt. Jedes Dorf hat sein eigenes Recht (kabylisch: elqanun, marokkanisch azref), in dem die Bußen für die einzelnen Übertretungen festgesetzt sind. Die Stellung der Frau ist wesentlich freier als im Islam, doch ist sie durch die mohammedani­ schen Gesetze immer mehr eingeschränkt worden; so ist es bekannt, daß die Frau bei den Kabylen früher voll erbberechtigt war. Im einzelnen variieren jedoch die Verhältnisse stark von Ort zu Ort. Bei den Ait Ndir in Zentralmarokko existiert beispielsweise die Dienstehe, wobei der stammfremde Gatte dem Vater des Mädchens sechs Jahre dient. (P. Bisson, Leçons de berbère tamazight. Rabat 1940, S. 174.) Bei den Ait 'Atta, ebenfalls in Marokko, sind es die Mädchen, welche den Bräutigam wählen (De Segonzac, Les populations du Maroc. Revue d’éthnographie et de sociologie, III. Paris 1912, S. 92). Das Zentrum der Familie ist die Mutter; deshalb kommt auch dem Mutterbruder eine gewisse Autorität über die Kinder zu. Eine Er­ innerung an ein früheres Ehesystem hat sich in der Bezeichnung der Familienmitglieder erhalten. Im Schilhischen (und ähnlich auch in den übrigen Berbersprachen) heißt gu-ma „Sohn meiner Mutter“ soviel wie „mein Bruder“ undwii-ma „Tochter meiner Mutter“ bedeutet „meine Schwester“. Das heißt, daß es ein einfaches Wort für „Bruder“ und „Schwester“ nicht gibt und die Filiation in diesen Ausdrücken im­ mer auf die Mutter bezogen wird. Es kommt auch noch vor, daß Personen nicht nach dem Vater, sondern nach der Mutter benannt sind; auf einer lateinischen Inschrift aus Mactar figurieren vier Per­ sonen, die wohl ihre Mutter, aber nicht ihren Vater nennen (St. Gsell, Histoire ancienne de l’Afrique du Nord, vol. V, S. 35—38).

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Innerhalb der einzelnen Dörfer existieren zwei einander entgegen­ gesetzte Verbände (eZfe// oder ersoff). Man kennt das Asylrecht, Eides­ helfer, Gemeinschaftsarbeit (etwa für den Bau eines Hauses für Neu­ vermählte), Blutrache. Im einzelnen sind die Institutionen aber weit­ gehend verschieden. Es erscheint nicht angängig, aus den heute exi­ stierenden Formen eine „urberberische Gesellschaftsordnung“ zu erschließen, weil sich die berberische Nation selbst aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen gebildet hat. Zum Schutze gegen räuberische Überfälle errichtet man Burgen, befestigte Getreidespeicher und sogar umwallte Städte, doch sind städtische Berber, wie heute in Ghadämes, eine Seltenheit. Die ein­ zelnen Dörfer gehören zu Stämmen, die sich wieder in Abteilungen gliedern; die Macht der Stammesführer scheint im allgemeinen aber nur in Kriegszeiten stark zu sein. Nomadisierende Berber sind heute mit Ausnahme der Tuareg selten. Eine besondere Bedeutung kommt den „heiligen Männern“ zu, die mit besonderer „Gnade“ (arabisch: baraka} begabt, Krankheiten heilen und die Zukunft künden. Sie heißen Marabouts (arab. muräbit, in Marokko mräbet, berberisch agurram, pl. igurramen), welche die Tradition berberischer Heiliger fortsetzen, wie die Schlangenbändigenden 'Aisäwa die moderne Form der alten Psyllen darstellen. In alter Zeit hat es auch berberische Königreiche gegeben, am spätesten noch auf den Kanarischen Inseln. Welche Bedeutung dem Stamm als Zentrum des politischen und sozialen Lebens zukam, geht aus einer Gesetzessammlung des Ortes Azarif im Anti-Atlas (Marokko) hervor. Nach einer Bestimmung aus dem Jahre 1405 konnte ein Mord auf zweierlei Weise gesühnt werden. Ein­ mal geschah dies durch die Zahlung eines Blutpreises (arabisch diya) und dann durch eine Art von Ersatzleistung {hamei). Der Blutpreis betrug nach einer Bestimmung des Jahres 1563 damals 50 Goldstücke {dinar), wovon nur die Hälfte der Familie des Opfers gezahlt wurde, die andere Hälfte aber dem Verwalter des Stammesspeichers. Die Ersatzleistung bestand darin, daß der Mörder, der zuerst aus seinem Stamme verbannt wurde, seine Frau, Schwester, Tochter oder ein anderes Familienmitglied dem Stamme des Ermordeten zur Verfügung stellte, so daß der nächste Verwandte des Opfers mit ihr einen Sohn zeugen konnte ; auf diese Weise wurde der Kampfwert des Stammes, der durch den Verlust eines Kriegers gelitten hatte, mit Hilfe der Familie des Mörders wieder hergestellt (Mme Jacques Meunié, Le prix de sang chez les Berbères de l’Anti-Atlas. Archives de l’agadir Ajarif. Comptes-rendus de l’Académie des Inscriptions et BellesLettres, 1960. Paris 1961, S. 323—326). Diese Regeln galten bis 1934, als die französische Besetzung begann. 575

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Die Uläd Nâïl. Die Mädchen der Uläd Nâïl (Ouled Nai'l), einer arabisch-sprechenden Konföderation in Süd-Algerien im Gebiete der nach ihr benannten Berge1, gehen vor ihrer Verehelichung in die Städte, um sich dort als Prostituierte ihre Mitgift zu verdienen. In der Ein­ geborenenstadt dürfen sie nicht wohnen, weshalb sie sich außerhalb, etwa im Negerviertel, ein Zimmer nehmen. Oft werden sie von ihren Müttern begleitet, doch nie „beschützt“ sie ein Mann. Sie gehen frei herum, unverschleiert, in leuchtende, meist rosa Seidengewänder gehüllt, geschminkt, tatauiert und in reichem Goldschmuck12. Daher kommt es freilich auch vor, daß ein solches Mädchen getötet und be­ raubt wird. Kehren die Mädchen am Ende der heißen Jahreszeit in ihre Heimat zurück, dann lastet kein Makel auf ihnen ; sie heiraten, wenn sie genügend Geld besitzen, und sind dann, wie man versichert, tugendhafte Gattinnen. Diese Praxis wurde verschiedentlich mit antiken Gebräuchen ver­ glichen, etwa dem Demeterkult und der sakralen Prostitution, die z.B. bei den Phöniziern von jedem Mädchen verlangte, daß es sich vor der Eheschließung einem Fremden hingab, wofür es seinen Lohn erhielt. Davon kann jedoch im Falle der Uläd Nâïl keine Rede sein; hier hat die Prostitution keine sakrale, sondern eine wirtschaftliche Bedeutung und dient einzig und allein dazu, der künftigen Ehefrau eine Mit­ gift und damit eine geachtete Stellung in ihrem Haushalt zu ver­ schaffen.

Die Tuareg. Die Tuareg in der Säharä erscheinen in mehrfacher Hinsicht als Kuriosum. Obschon Mohammedaner, leben sie in Einehe. Die Frau ist geachtet und erfreut sich großer Freiheit. Sie geht unver­ schleiert, während ihr Mann den Gesichtsschleier (tagelmust) trägt, den er nicht einmal beim Essen und schon gar nicht vor seiner Frau abnimmt. Mit Indigo getränkte Stoffe färben die Haut blau. Der Tärgi (sg.) trägt neben Flinte, Lanze und Schild ein Schwert (takubn, von griech. xoniç, xonid-oç, mit Artikel ta-). Bekannt ist der Ahal, die Abendunterhaltung mit Musik und Gesang, die sich tief in die Nacht ausdehnt, bis sich die Gesellschaft im Dunkel in einzelne Liebespaare auflöst. Die Frauen sind es vor allem, welche die alte Konsonanten­ schrift kennen (sg.Tafineq, pl.Tifinag) ; sie sind es auch, welche die Nacht auf den Gräbern der vorgeschichtlichen Riesen (izabbären pl.) verbringen, um im Traume Eingebungen zu erhalten, wie es schon die alten Nasamonen zur Zeit Herodots taten. Die Kinder gehören der 1 Les Guides bleus. Algérie, Tunisie. Paris 1938, S. 77. 2 R. Verneau, L’homme. Races et coutumes. Paris 1931, S. 279 sowie S. 279, Abbildung eines Mädchens aus dem Stamme der Ulad Naïl. V. Pâques, L’arbre cosmique, S. 621.

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Familie der Mutter an. Der König (amenökal) besitzt nur wenig tat­ sächliche Gewalt. Ihm folgt nicht sein Sohn, sondern sein ¡Bruder, be­ ziehungsweise der Sohn seiner Schwester. Wir sind hier also im vollen Matriarchat. Die Erbfolge muß allerdings von den Adeligen bestätigt werden. Ähnlich den Indern, kennen auch die Berber Kasten, die bei den Tuareg besonders deutlich sind. Es gibt Adelige (Amäheg, pl. Imühag), sogen. Vasallen (amgid, pl. imgad), meist Hirten, Sklaven (akli, pl. iklän), wozu dann noch niedrigere Stämme kommen (Isaqqamären, Ibugelliten, etc.) und Handwerker (ened, pl. ineden), vor allem die verachteten Schmiede. Durch Jahrhunderte waren die Tuareg ge­ fürchtete Räuber, deren Hauptbeschäftigung Razzien waren, auf denen sie die Karawanen ausplünderten. Eine Ahnfrau der Tuareg war nach Ibn Chaldün die „hinkende“ Tiski. Eine moderne Tradition nennt Lemtüna, mit deren Namen die Stammesbezeichnungen der Ilemtiyen, Ilemteyen und Iulemmeden Zusammenhängen. Wenn Ibn Chaldün auch einen Ahn Lernt nennt, so ist das sicherlich unberberisch, da sich die Berber, soweit ersichtlich, nach einer Ahnin und nicht nach einem Ahn benennen. Auch eine Fürstin Tin Hinan wird als Stammutter der Tuareg genannt; sie war in einem kastellartigen Grabbau beigesetzt, worauf wohl ihr Name „Die mit den Zimmern“ hindeutet, da der Bau aus vielen Kammern bestand; ein Goldplättchen mit dem Abdruck einer Münze Konstantins des Großen datiert dieses Grab in die Zeit nach Kon­ stantin. Die Zivilisation der Tuareg ist rezent, auch wenn sich hier viel alte Elemente erhalten haben. Das Kamel wird vielleicht gegen 200 v.Chr. über Ägypten in die Berberei gekommen sein, das Schwert kommt von den Griechen der Kyrenaika, der Schleier trägt einen indogermanischen Namen (auf -os, zu griech. xalvnreiv „verbergen“). Vor Ausgang des Mittelalters finden wir bei arabischen Autoren keine Spur von den „Verschleierten“ (mulattamin). Die Eigenbezeichnungen (Hoggar: Amäheg, pl. Imühag-, Iulemmeden-. Amäseg, pl. Imüsag, daneben viele Varianten) hängen mit dem Namen der alten Mazices zusammen. Die Sprache heißt Tamüheq (Tamäseq, Tamäieq etc.) als Femininum. Eine arabische Bezeichnung ist Tärgi f. Tärgiya, pl. Twäreg (Tuäreg), das bedeutet „einer vom (übrigens obskuren) Stamme des Täriq“ (klas­ sisch Täriq-i), etwa so wie die Hellenen nach der Bezeichnung eines unbedeutenden Stammes in die Geschichte eingegangen sind.

Die Harätin. Die dunklen Oasenbauern, mit breiter, aber gerader Nase, die von manchen als Mischtyp angesehen werden (Ch.-A. Julien, Histoire de l’Afrique du Nord, Paris 1931, S. 51), sind deutlich von den 577

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eigentlichen Negern unterschieden. Es handelt sich um eine berberisch redende Bevölkerung, die in den Oasen der Sahara den Boden behaut. Unter dem offiziellen Islam leben bei ihr zahlreiche Vorstel­ lungen weiter, die man als Reste einer eigenen Religion betrachten wird. Die Sterne haben ihre besondere Bedeutung, das bewässerte Feld gilt als Abbild des ersten Schmiedes, der den Ackerbau erfand und dessen Schulterblätter die ersten Erdhacken waren oder ihnen zum Vorbild dienten. Das Wasser, das sich in den Rinnsalen fort­ bewegt, entspricht dem Hammer, und wenn die Foggära, der wasser­ spendende Brunnen, wie ein Mensch „stirbt“, wird er unter Tänzen und Trommelmusik naehgegraben und zu neuem Leben erweckt. Der Foggära wird am 27. Ramadan ein Hahnenopfer dargebracht, wobei in bewußter Abkehrung vom islamischen Brauch beim Schlachten die Formel „bismillah“ („in Gottes Namen“) nicht ausgesprochen werden darf. Zwischen diesen Harätin und den eigentlichen Negern wird übrigens in bemerkenswerter Weise unterschieden. Die Scherifen (Nachkom­ men Mohämmeds) tragen in ihren Schulterblättern sieben Körner (Korn, Gerste, Sorgho . . .), die „weißen“ Araber sechs, die Neger fünf, die Harätin vier und deren Frauen sogar nur drei; damit stehen sie auf der untersten Stufenleiter der menschlichen Gesellschaft (V. Paques, L’arbre cosmique, S. 77 und S. 88).

Die, Kanarischen Inseln. Auf den Kanarischen Inseln erhielt sich das Berbertum länger in seiner ursprünglichen Form, weil es hier von den Wellen der arabischen Invasion — von wenigen Raubzügen abge­ sehen — verschont geblieben war. Spanische und normannische See­ fahrer, die im ausgehenden Mittelalter oder zu Beginn der Neuzeit hier landeten, fanden eine hochentwickelte steinzeitliche Kultur vor: Königreiche, Städte, Tempel, Götterbilder, daneben den Glauben an einen einzigen Gott, Priester und Priesterinnen mit allerlei Gebräu­ chen, die in früherer Zeit auch in Nordafrika existiert haben mußten. Viele dieser Berber waren blond und blauäugig, und dieser Umstand hat mehrfach zu unhaltbaren Kombinationen geführt, als ob es sich um hierher verschlagene Indogermanen oder um die späteren Van­ dalen gehandelt hätte. Der berberische Charakter der Sprache der alten Kanarier ist von Abercromby (1917) nachgewiesen worden. Ich konnte diese Angaben dahin präzisieren, daß es sich um ein verhältnismäßig spätes Berberisch handelte, das erst in nachchristlicher Zeit auf die Inseln gekom­ men sein konnte. Plinius kennt die Inseln noch als unbewohnt und das Vorkommen der typischen römischen Mühlsteine erlaubt eine analoge Datierung. Es handelt sich nicht um eine „Hochkultur der Steinzeit“,

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wie dies mehrfach behauptet worden ist, sondern um einen Rückfall in die Steinzeit, der durch den Mangel an Metallen auf den Inseln bedingt war. Nach der Eroberung der Inseln durch die Spanier nah­ men die Einwohner das Christentum und die spanische Sprache an. Auf der Insel Gran Canaria heirateten die Männer nur eine Frau. War diese unfruchtbar, so konnte die Ehe geschieden werden. Die Töchter der Edlen wurden bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr in einem Kloster erzogen, worauf sie heirateten. Magere Mädchen waren nicht geschätzt; daher sperrte man sie 30 Tage lang ein und mästete sie mit Milch, Fleisch und dem Nationalgericht Gofio. Vor der Hoch­ zeit wurden die Jungfrauen dem Faycan („Priester“) und einer ande­ ren Persönlichkeit, die das erste Recht auf sie hatten, vorgestellt; das scheint allerdings nicht für die Töchter der Vornehmen gegolten zu haben. Auf der Insel Tenerife waren die Frauen besonders geachtet; wer einer Frau begegnete, mußte sie Vorbeigehen lassen, ohne sie anzureden. Auch hier hatte jeder Mann nur eine Frau, doch war auch hier die Scheidung möglich. Ehebruch wurde mit Begraben bei lebendigem Leibe bestraft. Wer ein Mädchen verführte, wurde so lange ins Gefäng­ nis geworfen, bis er sich bereit erklärte, es zu ehelichen. Beziehungen zu anderen Völkern

Mögliche Beziehungen zu Europa. Es ist bekannt, daß die hellen, blonden und oft blauäugigen Berber zur nordischen Bevölkerung Euro­ pas in Beziehung gesetzt werden. Es bestünde die Möglichkeit, auch manche Sitten und Gebräuche der Berber auf diese Weise zu erklären. Man könnte neben den körperlichen Merkmalen (Tacitus, Germania, 1) auch auf die geringen Machtbefugnisse der Könige verweisen (Germania, 7), die wir besonders bei den Tuäreg festgestellt haben. Den Frauen schrieben die Germanen eine gewisse Heiligkeit und sehe­ rische Gabe zu (Germania, 8), was an die Prophetinnen der alten Ber­ ber denken läßt. Tacitus hebt hervor, daß die Germanen die einzigen Barbaren waren, die sich, außer in besonderen Fällen, mit einer einzi­ gen Frau begnügten (Germania, 18), genau wie die heutigen Tuäreg. Auch die Germanen rechneten nicht nach Tagen, sondern nach Näch­ ten (Germania, 11), woran noch der englische Ausdruck fortnight „vierzehn Nächte“ für „zwei Wochen“ erinnert, wie heute noch die Schilh (ayyur w-wadan „ein Monat von Nächten“).

Die Märchenwelt. Wer sich in die Märchenwelt der Berber vertieft, findet hier zahlreiche Erzählungen wieder, die ihm aus den Märchen der Gebrüder Grimm oder ähnlichen Sammlungen vertraut sind. Einen guten Überblick geben H. Stumme’s „Märchen der Schluh von Tazer579

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walt“ (Leizpig 1895), wo in einem Anhang auch die europäischen Parallelen angegeben sind. Hier werden Kindheitserinnerungen wieder lebendig: Aschenputtel, Schneewittchen, Hänsel und Gretel, Tisch­ lein deck’ dich (das ich übrigens auch arabisch auf der Oase Charga auf­ genommen habe), der Däumling, der Jüngling, der die Königstochter vom Drachen befreit und diesem die sieben Zungen herausschneidet, die Bremer Stadtmusikanten und die geteilte Ernte (zwischen Hase und Schakal, letzterer in der Rolle des Teufels). Es wimmelt geradezu von Hexen und Menschenfressern. Gut in die mutterrechtliche Gesell­ schaft der Berber paßt das Motiv des tapferen Jünglings, der den Dra­ chen tötet und die Königstochter rettet, worauf er nach dem Tode des alten Königs selbst den Thron besteigt. Die Übereinstimmungen der berberischen und europäischen Mär­ chen sind mehrfach, nicht nur von Stumme zusammengestellt worden. Es ist aber bisher nicht möglich gewesen, aus dem Material genauere Einsichten in den Zusammenhang zwischen den beiden Märchenwelten diesseits und jenseits des Mittelmeeres zu gewinnen. Es scheint jedoch, als seien die berberischen Märchen „alt“; das soll zunächst einmal heißen, daß sie nicht im Laufe der letzten Jahrhunderte (etwa seit Erfindung der Buchdruckerkunst) durch neuere europäische Literatur nach Nordafrika gekommen sind. Aber auch ein „Import“ im Mittelalter, etwa durch von Seeräubern geraubte Europäerinnen, wie man das für marokkanische Handarbeiten nachweisen konnte, scheint nicht in Betracht zu kommen; in diesem Falle müssen sich nämlich in der Originalfassung der Märchen Spuren der europäischen Herkunft nachweisen lassen, sei es in Eigennamen, in sprachlichen Wendungen oder in Beziehung auf Sitten und Gebräuche; das ist aber nicht der Fall. Vielleicht stammen die Märchen von den Vandalinnen, die nach Belisars Sieg als Sklavinnen im Lande geblieben waren. Es ist aber auch möglich, daß die Zusammenhänge in die Prähistorie weisen. Ein Eingehen auf die Märchenwelt schien deshalb geboten, weil sich hier oftmals Vorstellungen erhalten haben, die eine andere, ältere Weltanschauung der Religion widerspiegeln. Auch soziologische Zu­ stände spielen hier mit hinein. So ist der Löwe bei den Berbern wohl das stärkste Tier, aber im allgemeinen nicht der König und absolute Herrscher der Tiere, wohl deshalb, weil bei den Berbern diese Herr­ schaftsform nur ganz selten vorkam. Weitere Beziehungen. Wenn wir von den großen Kulturnationen des Altertums absehen, den Ägyptern, Puniern, Griechen und Römern, so lassen sich wenige sichere Beziehungen zu anderen Völkern ir. historischer Zeit nachweisen. Am engsten scheinen die Kontakte mit den Nubiern gewesen zu sein, die sich im Altertum ihrer gegenwärtigen 580

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Sitze im Süden von Ägypten bemächtigten und hier zum mindesten auf dem westlichen Nilufer die Berber verdrängten. Die Märchen dieses Volkes, wie wir sie durch M. de Rochemonteix (Quelques contes nubiens. Le Caire 1888) und G. von Massenbach (Volkssagen aus dem Gebiet der Kunüzi-Nubier. Mitt. des Sem. für Orient. Sprachen. Vol. XXXIV. Berlin 1931, S. 197—208, sowie: Nubische Texte im Dialekt der Kunüzi und der Dongoläwi. Abh. für die Kunde des Morgenlandes XXXIV, 4. Wiesbaden 1962, 244 S.) kennenlernten, passen so gut in die Geistes weit der Berber, daß man hier Beziehungen an nehmen möchte, die über das gemeinsame arabisch-islamische Element hinausgehen. Es sind besonders die Hexen und Menschen­ fresser, die das Bild beherrschen, und der Dogir oder Nilgeist, der im Wasser haust und Menschen Böses tut. Für die Aufdeckung der eigentlichen nubischen Elemente unter der islamischen Tünche fehlen noch die Vorarbeiten, und es ist im Augen­ blick nicht immer zu sagen, welcher Kulturschicht eine Sitte oder Vor­ stellung zuzuweisen ist. So kann das Anknüpfen von Tüchern oder Lappen an Bäume, um von einem Heiligen die Erfüllung eines Wunsches zu erlangen, sowohl berberisch wie arabisch sein. Das gleiche gilt von der Heiligenverehrung, dem Bau „leerer“ Gräber im Gebiet von Aswän, wo die wichtigsten islamischen Heiligen ihr Kenotaph besitzen, oder vom Schlafen an Gräbern, um Eingebungen zu empfangen. Weit weniger Kontakte scheinen zwischen Berbern und Ful (sg.

Pulo, pl. Ful’be) vorzuliegen. Es ist richtig, daß eine Reihe von Kul­ turwörtern im Ful berberischen Ursprungs sind, wie temede-re „100“, djäli „beten“ (arab. salli), usw. Beim Ausdruck für „beten“ muß die fulische Form durch berberisch zalli vermittelt worden sein, denn sonst wäre der stimmhafte Anlaut nicht zu erklären. Auch die Namen der Monate des julianischen Jahres, wie es in der orthodoxen Kirche nach dem Konzil von Nicäa vorlag, wurden von den Berbern an die Ful weitergegeben. (H. Labouret, La langue des Peuls ou Foulbe. Dakar 1952, S. 106.)

Dagegen besitzen wir reiches Material über die Verflechtung berberischer und negerischer Vorstellungen und Riten (V. Paques, L’arbre cosmique. Paris 1964). Es handelt sich hier aber, wie vorausgeschickt werden muß, nicht etwa um die alte negroide Bevölkerung der Oasen, sondern um die in historischer Zeit angesiedelten Neger und deren Ab­ kömmlinge in nordafrikanischen Oasen und Städten. Hier sei nur eine Auswahl der Themen, die behandelt werden, angeführt: das Widder­ opfer, der Mythos des Schmiedes, des Fruchtlandes, des Welten­ baumes, die Bruderschaften der Neger in der Berberei und vor allem

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die Besessenheit und der Exorzismus, der ja zu den Eigentümlich­ keiten der Neger gehört. Wenig erforscht sind die Beziehungen zwischen den Berbern des Südens und den sudanesischen Völkern. Daß hier in vorislamischer Zeit kulturelle Beziehungen bestanden haben, ist unter anderem durch Lehnwörter erwiesen; so stammen die Bezeichnungen für „lesen“ und „schreiben“ im Kanuri aus dem Berberischen und nicht aus dem Arabischen. Es scheint jedoch, daß hier die Sudanesen eher die Gebenden und nicht die Nehmenden gewesen sind; das ergibt sich aus der Rolle der Neger bei den „Beschwörungen“ in ganz Nord­ afrika, aus ihrer künstlerischen Begabung bei der Anfertigung ge­ schnitzter Götterbilder sowie aus ihrer Kenntnis der Metallbearbei­ tung für die Herstellung von Schmuck und Amuletten. Auch die Beziehungen Nordafrikas zu Spanien sind noch lange nicht zufriedenstellend geklärt. An ihrer Existenz ist jedoch nicht zu zweifeln. Hier muß vor allem auf die blonde Bevölkerung hin­ gewiesen werden, die sich zu beiden Seiten der Meerenge von Gibraltar findet. Die Sprache dieser Menschen war sicherlich nicht indogermanisch, wie aus den Forschungen J. Pokorny’s und J. Hubschmid’s hervorgeht, und auch ihre Religion wird es nicht gewesen sein. Mit allem Vorbehalt sei die Vermutung ausgesprochen, daß die Vorstellung des Riesen im Rif-Gebirge (griech. Antäos, heute 'Enaq) möglicherweise mit ähnlichen Vorstellungen in Europa zusammen­ hängt. Die glockenförmigen Röcke der Frauen auf Felszeichnungen in Spanien und in Nordafrika könnten ebenfalls auf eine Gemeinsam­ keit hinweisen. Ganz unzweifelhaft sind die prähistorisch erfaßbaren Beziehungen, von denen hier die beiden Einfallstore europäischer Einflüsse im Neolithikum, nämlich über die Straße von Gibraltar und von der Gegend von Almeria aus über das Mittelmeer hinweg bis in das Gebiet von Oran (Algerien), genannt seien. (Lionel Balout, Préhistoire de l’Afrique du Nord. Paris 1955, S. 470 : Capsien-Industrie; S. 427: Karte.) Diese Beziehungen sind unter anderem durch Töpfereiwaren gesichert. Man wird nicht fehlgehen, wenn man auch ein Einströmen religiöser und sprachlicher Beziehungen auf dem­ selben Wege annimmt. C. Zur Mythologie

Bedenkt man die einzigartige Stellung im Kreise der Mittelmeer­ völker, die den Berbern dank ihrem hohen Alter, ihrer enormen geo­ graphischen Ausbreitung, ihrer jahrtausendelangen Seßhaftigkeit und der Tradition ihrer Sprache zukommt, so liegt es nahe, daß auch die 582

Berber

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Mythologie der Berber von besonderem Interesse ist. Allerdings wird man nicht eine ähnliche Ausbeute erwarten dürfen wie bei den großen Kulturvölkern des Altertums, und zwar deshalb, weil wir hier nahezu keine einheimischen Quellen besitzen und unser Bild sich zum größten Teil aus gelegentlichen Bemerkungen meist griechischer und römischer, später auch einzelner arabischer und spanischer Autoren sowie aus archäologischen und sprachlichen Überresten zusammensetzen muß. Die. Quellen Unsere Kenntnis der berberischen Mythologie beruht nicht, wie es etwa bei den religiösen Vorstellungen der Griechen und Römer der Fall ist, auf einer großen Anzahl zusammenhängender Beschrei­ bungen und archäologischer Denkmäler, sondern auf einer sehr be­ scheidenen Zahl von Einzelnotizen und Zeugnissen aus den ver­ schiedensten Gebieten und Perioden: 1. Ägyptische archäologische und historische Quellen, von der prädynastischen Zeit (vor 3000 v.Chr.) bis in die griechisch-römische Zeit; 2. Berichte griech. und lat. Schriftsteller, von Herodot (5. Jahrh. v.Chr.) bis Corippus und Prokop (zweite Hälfte des 6. Jahrh.n.Chr.), also während eines Jahrtausends; 3. gelegentüche Bemerkungen arab. Schriftsteller, die sich übrigens mehr mit genealogischen, politischen und geographischen Aspekten des Berbertums befassen; 4. Nachrichten meist spanischer Autoren über die berberischen Be­ wohner der Kanarischen Inseln zu Beginn der Neuzeit; 5. archäologische Denkmäler, meist Grabbauten und Felszeichnun­ gen, wobei die letzteren schwer zu deuten und chronologisch ein­ zuordnen sind; 6. reiches volkskundliches Material aus dem modernen Nordafrika, wo sich in den Vorstellungen und Bräuchen des Volkes viele Er­ innerungen aus heidnischer Zeit erhalten haben. Diese Aufzählung könnte den Eindruck erwecken, als besäßen wir zur Bestimmung der berberischen Mythologie ein überreichliches Material. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Der einzige antike Autor, der uns einigermaßen orientiert, der Grieche Herodot (um 450 v.Chr.), hat nie einen Nachfolger bekommen. Arabische Autoren, die reiches Material über die Geschichte der Berber überliefert haben — ich er­ innere nur an Ibn Chaldün (15. Jahrh.), — versagen, wenn es sich um die Religion der Berber handelt. Einen Lichtblick bedeuten die Aufzeichnungen, meist spanischer und italienischer Autoren, über die alten Kanarier zur Zeit der Conquista, die uns zeigen, wie eine weder vom Christentum noch vom 583

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Berber

Islam beeinflußte berberische Gesellschaft lebte; hier war nicht allzu lange vorher noch die offizielle Religion der Götterdienst, an dem die Könige der verschiedenen Reiche mit ihren Kriegern teilnahmen. Aus den meisten dieser Quellen spricht Achtung und Objektivität, und wenn in manchen Fällen ein Gott als diablo oder demonio ange­ sprochen wird, so erscheint dies in einem Zeitalter, das noch keine ethnologische Wissenschaft kannte, als verständlich.

Bei den meisten archäologischen Denkmälern läßt uns die Chrono­ logie im Stich. Was die Sekundärliteratur betrifft, so ist die vielfach unwissenschaftliche Bezeichnung mancher Typen, wie etwa der „Mars­ menschen“ (martiens), nicht dazu angetan, die Arbeit zu erleichtern. Die ergiebigste Quelle ist das volkskundliche Material; hier besitzen wir, vor allem für Algerien und Marokko, ausgezeichnete Material­ sammlungen, von denen hier Westermarck’s „Ritual and Relief in Morocco“ sowie Laoust’s „Mots et Choses Berbères“ besonders ge­ nannt seien.

Felsbilder. In einem Gebiet wie Nordafrika, wo die schriftlichen Aufzeichnungen selten sind und für die ältere Zeit überhaupt fehlen, kommt den Felszeichnungen als Reflex religiöser Vorstellungen er­ höhte Bedeutung zu. Man unterscheidet in zeitlicher Abfolge fünf verschiedene Gruppen : 1. Felsbilder mit „äthiopischer“ oder „sudanesischer“ Fauna, wie Elefanten, Giraffen, Nilpferden, Krokodilen. Sie stammen aus einer Zeit, in der die Austrocknung Nordafrikas noch nicht so weit fort­ geschritten war wie heute. Die Menschen, meist unbekleidet, sind schlank und hochgewachsen; sie tragen Wurfhölzer und vielleicht auch Lanzen. Die schönsten Darstellungen dieser Gruppe finden sich im Fezzän (Libyen), in der Tassili sowie im Süden des Départements Oran (Algerien). 2. Felsbilder und Malereien der Rinderhirten. Während die Groß­ wilddarstellungen meist nur ein Tier oder wenige Exemplare neben­ einander zeigen, tritt bei den Rindern die Menge der Tiere in Er­ scheinung. Am bekanntesten sind die Felsmalereien vom Oberen Mertoutek, in der Tassili, seltener in der westlichen Sahara (in Dagouber, Zemmour). In dieser Zeit erscheinen auch religiöse Dar­ stellungen, wie die des Widders mit der Sonnenscheibe auf dem Haupt ; sie finden sich in der Sahara (Hoggar-Massiv, Gebiet der Ifoghas, Tibesti), in Mauretanien, in Nubien, selbst in der ägyptischen Ost­ wüste zwischen Nil und Rotem Meer. Die Hirten tragen die PenisTasche, zum Teil einen Schurz, und sind meist mit Bogen bewaffnet. Hier stehen wir am Ende des eigentlichen Neolithikums.

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3. Pferdedarstellungen gehören einer jüngeren Periode an, die gut datierbar ist. Wir wissen, daß das Pferd in Ägypten vor Ende der Hyksosperiode aus Vorderasien eingeführt wurde. In der Berberei wird man mit R. Mauny seit 1200 v.Chr. mit Pferden rechnen dürfen. Die Menschen dieser Periode werden gerne im „Keilstil“ oder „sanduhrartig“ dargestellt; Schild und Lanze sind ihre wichtigsten Attribute. Es finden sich auch Darstellungen von Streitwagen, jedoch handelt es sich ausnahmslos um friedliche Wagenrennen, was unter anderem daraus hervorgeht, daß die Männer auf den Wagen unbewaffnet sind. 4. Die Darstellung von punischen Schiffen im Fezzän zeigt, daß auch die punisehe Kolonisation von den libyschen Einwohnern be­ wußt miterlebt wurde. 5. Die „berberische“ Gruppe (etwa 200 v.Chr. bis zum Eindringen der Araber) zeigt Menschen mit Schild, Lanze und am Arm hängen­ dem Messer. In dieser Zeit verbreitet sich das Kamel in der Sahara, sicherlich von Ägypten aus, und das Pferd tritt zurück. Der „saharische“ Typ der Tifinagh-Schrift erscheint in kurzen Texten, meist Namen und kurzen Grabinschriften. Auch auf den Kanarischen Inseln findet sich ein dem westnumidischen Alphabet nahestehendes Schriftsystem. 6. Mit dem Eindringen der Araber in der zweiten Hälfte des 7. Jahrh. und ganz besonders mit der Invasion der beiden Stämme Hiläl und Soleim im 11. und 12. Jahrh. ändert sich die Physiognomie Nord­ afrikas grundlegend. iDer Islam breitet sich aus und damit die arabische Sprache. Dabei ist der blutmäßige Anteil der Eroberer mini­ mal und fällt nach Ansicht führender Anthropologen praktisch nicht ins Gewicht. Jetzt finden wir kunstlose Darstellungen von Kamelen, Reitern, Männern, Jagden auf Strauße und Oryxantilopen, viele Stammeszeichen, mit denen man die Kamele kennzeichnet, auch arabische Inschriften, meist Namen und gelegentlich religiöse Sprüche in ungelenkem Duktus. Die schönen Kamelreiter in Ennedi stammen sicherlich von den Teda und nicht von Berbern. Bei der Interpretation von Felsbildern stoßen wir auf Schwierig­ keiten ; in vielen Fällen wissen wir nämlich nicht, von wem sie stammen. So gehen die schönsten Rindermalereien sicherlich auf Neger zurück, worüber die daneben dargestellten Männer und Frauen keinen Zweifel zulassen; man hat sie ihres eigenartigen haubenförmigen Kopfputzes wegen mit den Ful identifiziert. Auch die reichgeschmückten „Zau­ berer“, wie man sie nennt, gehören hierher und scheiden infolgedessen für die Behandlung der berberischen Mythologie aus. Eine andere Frage ist es aber, ob die anderen Rinderdarstellungen von Berbern stammen, und damit wird auch das Problem des Ursprungs der ersten Felsbildergruppe mit der „äthiopischen“ Fauna aufgerollt. Wir wissen, 38

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daß es Elefanten bis in die Römerzeit gegeben hat und daß noch heute in einzelnen Wadis der Sahara Zwergkrokodile leben. Bei dieser Gruppe ist die Darstellung des menschlichen Körpers aber so rudi­ mentär, daß es nicht zu entscheiden ist, ob die Bilder von Negern oder von Berbern stammen. So betreten wir erst ziemlich spät, nämlich mit der dritten Gruppe, sicheren Boden, also erst in historischer Zeit. Es sind in den meisten Fällen plumpe und ungefüge Gebilde, die gegen den Schwung und die Lebensnähe früherer Perioden kontrastieren.

Gottheiten Berberische und punische Gottheiten mit fremden Namen. Griechische und lateinische Autoren fanden in den Gottheiten fremder Völker ihre eigenen wieder. So belegt Herodot die ägyptischen Götter mit griechischen und Tacitus die germanischen mit lateinischen Namen. Das gleiche gilt für Nordafrika, wo sich unter Neptun, Saturn und Caelestis vielfach einheimische Gottheiten verbergen. Wir kennen den Text der Abmachungen, die Hannibal kurz nach der Schlacht bei Cannae mit König Philipp V. von Mazedonien traf. Dabei werden die Götter genannt, bei denen sich die Karthager ver­ pflichten, die Vereinbarungen einzuhalten; es wird ein ganzes Pan­ theon zitiert: Zeus, Hera, Apollo, der Daimon der Karthager, Herakles und Iolaos, Ares, Triton und Poseidon, die Götter „die mit uns (d. h. den Karthagern) kämpfen“, ferner Sonne, Mond und Erde, die Flüsse, Seen und Gewässer, dann zusammenfassend „alle Götter, welche Karthago besitzen sowie alle Götter, welche Mazedonien und das übrige Griechenland besitzen“, sowie alle Götter „die an der Expedi­ tion (gegen die Römer) teilnehmen“. Hier zeigt schon die Auswahl und die Reihenfolge, in der die Gottheiten genannt sind, daß es sich unmöglich um die griechischen gehandelt haben kann. Nach Dussaud scheint es, als ob in den ersten drei Namen die große Triade von Karthago enthalten wäre, nämlich Baal Hammon, Thinit und (wahr­ scheinlich) Rescheph. Der „Daimon der Karthager“ war offenbar Astarte, und Herakles steht für den „Stadtkönig“ Melqart. Iolaos ist der griechische Name Eschmuns. Des weiteren wird Ares mit Hadad identifiziert, Triton mit Kusor und Poseidon mit dem Meeresgott Jamm. Nun ist es gewiß richtig, daß Baal Hammon sonst mit Kronos gleichgesetzt wird und nicht mit Zeus, doch läßt sich hier ein Schwan­ ken zwischen Juppiter und Saturn beobachten, und eine Inschrift aus Tebessa ist geradezu dem Saturnus-Juppiter gewidmet, womit zweifellos der punische Gott gemeint ist. Bei Neptun handelt es sich

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um einen berberischen Gott, der von den Puniern als einer der ihren aufgenommen wurde1. So sehen wir, daß die griechisch-lateinische Nomenklatur des nordafrikanischen Pantheons nicht immer bedeutet, daß es sich um griechische und römische Götter gehandelt haben muß. Viel schwieriger ist die Präge zu entscheiden, welche Götter in bestimm­ ten Fällen berberisch und welche punisch waren. Es darf nämlich als sicher gelten, daß Gottheiten im einen wie im anderen Falle „ent­ lehnt“ bzw. mit eigenen Gottheiten „verschmolzen“ wurden. Schon im Altertum wird es nicht immer einfach gewesen sein, die einzelnen Züge, die einem Gotte eigneten, einem bestimmten Volke oder Stamme zuzuweisen, weil zahlreiche Auffassungen allen gemeinsam waren. Wenn also im folgenden nicht der Versuch unternommen wird, in jedem Falle die Herkunft der Gottheiten sowie ihrer Züge fest­ zulegen, so waren hierfür die eben auseinandergesetzten Gründe maß­ gebend sowie auch das Argument, daß der Ursprung einer Gottheit nicht alles besagt. Was in unserem Falle entscheidet, ist der Kreis der Verehrer, der in der Antike aus Berbern, Puniern, Griechen und Römern bestehen konnte. Einheimische Gottheiten. Im ganzen Küstengebiet von Kap Spartei bis Leptis Magna gibt es keinen größeren Ort, an dem nicht die Ver­ ehrung einheimischer Gottheiten bezeugt wäre. Diese tragen zum größten Teil fremde Namen oder sind (für uns) überhaupt anonym. Am Kap Spartei haben wir die Grotte der Idole. In Leptis Magna, Sabratha, Zita, Hadrumetum wurde Caelestis verehrt, ebenso im römischen Karthago. Ungenannte Gottheiten sind in Utica, Hippo Regius und Portus Magnus belegt. Dazu kommt Pluto Variccala in Thabraca, ein Drachengott in Tipasa sowie Saturn in einer Reihe größerer und kleinerer Orte. Die zahlreichen Caereres, maurischen Götter, Genien und Numina aufzuzählen, würde mehrere Seiten füllen. Aber auch im Landesinneren wurden einheimische Götter verehrt, so in Thysdrus (Caelestis), Uppena (Saturn), Siagu (Saturn und Caelestis), Pupput („Domnae“, als „Herrinnen“), Carpis (Caelestis) Neferis (Saturn und Adon), Utliina (Saturn), Tupusuctu (numidische Könige), Tasaccora (Lokalgott des Flusses), wozu dann noch die vielen berberischen Götter kommen, von denen wir nicht mehr als den Namen kennen.

Die Persönlichkeit berberischer Gottheiten. Von den vielen Gottheiten, welche die Berge, Gewässer und Höhlen Nordafrikas im Altertum bevölkerten, sagt Picard: „Diese Verschiedenheit weist nicht darauf 1 R. Dussaud, Comptes-rendus de l’Académie des Inscriptions et BellesLettres, Année 1947, S. 218. 38*

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hin, daß die Persönlichkeit dieser unzähligen Götter sehr stark ge­ wesen ist. Man hat den Eindruck, daß es sich in vielen Fällen nicht einmal um eigentliche Namen handelt, sondern um Bezeichnungen eines Gottes nach einem bestimmten Berg, einer Quelle oder Höhle, d. h. um den Genius loci, die kaum ausgebildete Personifikation der heiligen Kraft des betreffenden Ortes“ (Picard, Les Religions, S. 24). Diese Auffassung scheint jedoch nur unseren rudimentären Kenntnissen zu entspringen. Besäßen wir nämlich z. B. von den modernen ->Mara bouts nichts anderes als ihre Namen und das nahezu immer inschriftlose Grabmal, so würden wir zu ähnlichen Schlußfolgerungen kommen. Tatsächlich besitzt aber jeder dieser Heiligen eine Art eigener Mythologie: sein Leben, seine Wundertaten, die Bitten, die er besonders gern erhört — solche um Kindersegen oder um Heilung von Krankheiten — seine Art, sich zu offenbaren, die Opfer, die man ihm darbringt, und sein jährliches Fest. Genauso wird man sich die alten Gottheiten vorstellen dürfen, die sicherüch mehr „Persönlich­ keit“ besessen haben werden als es die erhaltenen Spuren erkennen lassen. Griechische Mythologie. Zahlreiche Begebenheiten der griechischen Mythologie haben Nordafrika zum Schauplatz. Obwohl sie also streng genommen unter den Abschnitt „Griechenland“ gehören, seien die bekanntesten auch hier erwähnt. Es besteht nämlich die Möglich­ keit, daß bei der Fixierung der einzelnen Sagen lokale Tradi­ tionen mitbeteiligt waren, und andererseits darf es als sicher gelten, daß diese Mythen in römischer Zeit die religiösen Vorstellungen des ganzen Reiches beeinflußt haben. Antaios war ein Riese, ein Sohn Poseidons und der Gaia. Er tötete alle Wanderer in der Wüste Libyens, um aus ihren Schädeln seinem Vater einen Tempel zu bauen. Herakles kämpfte mit ihm und warf ihn dreimal zur Erde. Antaios erhob sich aber jedesmal mit frischen Kräften, die ihm seine Mutter Gaia, die Erde, verliehen hatte. Da hob ihn Herakles auf in die Luft und erdrosselte ihn. Sein Grab­ mal wurde in römischer Zeit bei Lixos gezeigt. Atlas, ein Titan, Sohn des Iapetos und der Klymene, nahm am Kriege der Titanen gegen den Olymp teil und wurde besiegt. Zeus verurteilte ihn, den Himmel auf seinen Schultern zu tragen. Nach einer anderen Tradition soll ihn Perseus in einen Berg verwandelt haben, indem er ihm das Haupt der Gorgone Medusa zeigte. Herakles erscheint mehrfach in Nordafrika. Er erstickte, wie eben erwähnt wurde, den Riesen Antaios in seinen Armen. Er nahm auch dem Atlas für eine Zeit seine Last ab. Mit seiner Keule trennte er Spanien von Afrika und schuf so eine Verbindung zwischen dem 588

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äußeren Weltmeer und dem Mittelmeer. Er pflückte die goldenen Äpfel der Hesperiden im fernen Westen und tötete den Drachen Ladon, der tausend Köpfe besaß. Die Hesperiden hüteten den Garten, in welchem die goldenen Äpfel reiften, die Gaia der Hera bei ihrer Hochzeit mit Zeus geschenkt hatte. Die Hesperiden galten als Töchter des Riesen Atlas und wurden ihrerseits vom Drachen Ladon beschützt. Hesperus, der Abendstern, war nach einer Tradition ein Sohn des Titanen Atlas. Odysseus weilte sieben Jahre bei der Nymphe Kalypso, die eben­ falls eine Tochter des Atlas war, in einer Grotte bei Tingi (Tanger). Im einzelnen existieren bei den einzelnen Personen noch andere Versionen, die hier nicht genannt sind. So gilt beispielsweise Kalypso auch als Tochter des Okeanos und der Thetys, was die Nymphe schon etwas aus ihrem nordafrikanischen Kontext löst.

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Ibn Khaldoun

Julien Laoust Lhote Paques

Picard Toutain, J.

Vycichl

Westermarck

Berber

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P. Zur Transkription

Vokale. Kurze Vokale sind a, e, i, o, u, lange Vokale ä, e, i, 5, ü. Ein besonders kurzes und flüchtiges e, entsprechend dem französischen e muet wird durch e wiedergegeben. Konsonanten. Nur die folgenden Zeichen bedürfen einer besonderen Erläuterung. Emphatische Konsonanten sind d, t, z, s: es handelt sich um eine besondere Aussprache mit Verdickung der Zungenwurzel, die den benachbarten Vokalen einen dumpferen Klang verleiht. Das Zeichen s ist immer „scharfes“ s (stimmlos), während z stets „weich“ (stimmhaft) klingt. Kesselraumbildung zeigen z, S, g, c: z wie in französisch jardin, eng­ lisch azure, s wie deutsch sch, g etwa wie dsch (italienisch giardino) und c etwa wie tsch (italienisch citta). Die Laute b, d, t sind frikativ: b klingt fast wie v (genauer wie in spanisch hablar), d wie in englisch that, t wie in englisch think. w und y sind unsilbisches u und i, wie in englisch wet und yes. ’ ist der semitische Laut Aleph, entsprechend norddeutsch The?ater. rist ein stimmhafter Dauerlaut, semitisch 'Ayin, wie im Namen 'Abdallah.

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Zur Karte des berberischen Sprachgebietes

Berber

H ist die stimmlose Entsprechung dazu, arabisch Ha. H ist der deutsche Laut in „Bach“, h im Ägyptischen entspricht dem deutschen Laut in „Sicht“. Anmerkung. Ägyptische Wörter, deren Konsonanten wir nicht kennen, werden mit Abteilungsstrichen wiedergegeben: J-m-n-w „Gott Ammon“. G. Zur Karte über die Ausdehnung des berberischen Sprachgebiets in Nordafrika und im Sudan

Bei der Betrachtung der Karte sei daran erinnert, daß der Großteil Nordafrikas aus Wüste besteht. Eine dichtere Besiedlung zeigen die Gebiete an der Küste und die fruchtbaren Täler Tunesiens, Algeriens und Marokkos. Große Gebiete der arabischen und berberischen Zone sind praktisch menschenleer. Arabische Dialekte werden im Osten gesprochen (Libyen, ägyptische Oasen). Im Westen sind im maghrebinisch-arabischen Sprachgebiet zahlreiche Dialekte mit mehr oder weniger starkem berberischem Substrat zu verzeichnen. Es ist dies ein Arabisch, das aus dem Berberischen „übersetzt“ ist. Während es im Osten nur vereinzelte Sprachinseln gibt, die rasch ihrem Unter­ gang entgegengehen, finden sich in Algerien und Marokko noch größere Gebiete, in denen berberisch gesprochen wird. Das gleiche gilt von der Sahara, wo neben arabischen Stämmen auch die berberischen Tuareg leben. Berberisch reden auch die Städter der Beni Mzab, von Ghat und Ghadämes sowie die Oasenbauern im Süden von Oran, in der Tafilalt usw. Einen stark abweichenden und zum Teil alter­ tümlichen Dialekt sprechen die Zenäga am Senegal. In früheren Zeiten bedeckte das berberische Sprachgebiet ganz Nordafrika. In den ägyptischen Oasen wurde berberisch gesprochen, ebenso in Nubien (wenigstens am westlichen Nil-Ufer) sowie auf den Kana­ rischen Inseln. Häufiger vorkommende Orts- und Stammesbezeichnungen sind in der nachstehenden Aufstellung zusammengefaßt:

Ait Na'man Ammonium Atlas

Augila Auseer

berberischer Stamm in Zentral-Marokko (Beraber). lat. Bezeichnung der Oase Siwa. griech. Bezeichnung eines Berges und Gebirges in Nord-Afrika, berb. Deren (griech. Dyrin). Hat nichts mit berb. adrar „Berg“ zu tun. griech. Name einer Oase Libyens, arab. Özila. Siehe unter „Nasamonen“. berb. Stamm zur Zeit Herodots am Triton-See. 595

Zur Karte des berberischen Sprachgebietes

Berber

heute Aumale, Algerien. Ort in Nord-Tunesien, lat. Vaga, arab. Bäza. berb. Stamm in sieben Oasenstädten der algerischen Sähara. Beni Uryagel berb. Stamm im Rif (Nord-Marokko). Beni Snous berb. Stamm, West-Algerien. Cherchell Stadt in Algerien, lat. Caesarea Iol, arab. Ser&al (aus *Kesre-jol). Djebel Nefusa Gebirge in Tripolitanien, in dem heute noch berberisch gesprochen wird. Djerawa berb. Stamm des zentralen Maghrebs im Mittelalter, Fuerteventura eine der Kanarischen Inseln. Gaetuler berb. Stamm Süd-Marokkos im Altertum. Name er­ halten in der Bezeichnung Agadig „Maure“, pl. igudagen (Zenaga-Dialekt). Ghomara Berber in Nordmarokko. Sprachinsel, umgeben von arab. Sprachgebiet. Gomera eine der Kanarischen Inseln. Name wohl identisch mit Ghomara. Gran Canaria größte Insel der Kanaren. Hierro eine der Kanarischen Inseln. Ida Ukensus berb. Stamm, Anti-Atlas, Marokko. Isebeten Stamm, der das Hoggar-Massiv vor Ankunft der heutigen Tuareg bewohnte. Name mit dem jener Isebeten identisch, die Ramses II. besiegte. Nach­ kommen leben unter den Dag Gäli weiter, die Jagd­ rechte im Hoggar besitzen. Kabylen berb. Stamm in Algerien. Man unterscheidet die Große Kabylei, berb. el Qebayel Meqquren, und die Kleine Kabylei, el Qebayel Mezziyen. Berb. Agawaw pl. Igawawen. Karthago lat. Carthada aus Qart hädast „neue Stadt“ (im Gen. griech. carthadas), griech. Karchedön (für pun. *lcark hädös „neue Festung“). Karthago enthält ebenfalls qart „Stadt“. Libyer Name der westlichen Nachbarn der Ägypter, griech. Libyes, ägyptisch R-b-w geschrieben (d. i. L-b-w). Stamm der Lewäta in arab. Zeit, bei Corippus (6. Jahrh.n.Chr.) Laguantan, Ilaguantan usw. (für Lawaten, Ilawaten usw.) Matmäta Ort Süd-Tunesiens, berühmt durch Höhlenwohnun­ gen. Von Berbern bewohnt.

Auzia B6ja Beni Mzab

596

Berber

Mauren

Mzab

Nasamonen Ntifa Nubien

Numider

Rif Tanger Tuareg

Zenäga

Zenata Zuwära Zwäwa

Verzeichnis der Abbildungen

lat. Mauri, griech. Maurusioi, berb. Stamm in NordMarokko und West-Algerien, davon unsere Bezeich­ nung „Mohr“ im Sinne von Mohammedaner (aus Nordafrika), span. Moro. siehe Beni Mzab. berb. Stamm in Libyen, die zur Dattelernte zur Oase Augila zogen. Bei Herodot bezeugt, berb. Stamm Zentral-Marokkos, dessen Sprache zwischen dem Braberischen und Schilhischen steht. Landschaft südlich von Aswan bis Dongola. Zum mindesten das westliche Nilufer war im Altertum berberisch, wovon heute noch Fremdwörter in Fiyadicca-Dialekt Kunde geben. berb. Stamm im Osten Algeriens; Hauptstadt Cirta. Unter König Masinissa wurde die berb. Schrift wohl nach pun. Vorbild geschaffen. Gebirgslandschaft Nordmarokkos. Stadt Nordmarokkos, lat. Tingi oder Tingis, arab. Tanza. berb. Nomaden der Sahara. Arab. Tärgi, pl. Twäreg. Eigene Bezeichnung: Amäheg, pl. Imuhag (und Varianten). nom. loc. in der westlichen Sahara, dann auch berb. Stamm am Senegal mit stark abweichendem Dialekt, berb. Stamm im Mittelalter, Kamelnomaden, sprechen einen besonderen Dialekt („zenatisch“). auch Zuara, Ort an der Küste Tripolitaniens. arab. coli. Kabylen (sg. Zw&wi), davon deutsch Zuave. Verzeichnis der Abbildungen

Abb. 1. Akeru. Doppelwesen auf Felszeichnungen, die der Gestalt eines ägyptischen Wesens, dem Akeru, zu entsprechen scheinen. Abb. 2. Opferszene (Ausschnitt). Ausschnitt aus einer Szene (H. Lhote, A la recherche des fresques du Tassili, No 26, S. 83), die ägyptischen Einfluß zu verraten scheint: Gesicht im Profil, Schultern und Hüften in Vorderansicht, Beine wieder im Profil. Ägyptisch scheint auch der uräus-schlangenartige Fortsatz an der Stirne zu sein. Es sind aber alle Personen bärtig dargestellt, während es in Ägypten außer manchen Göttern nur der Pharao ist. Vor dieser Szene stehen noch ein Mann und eine Barke. 597

Verzeichnis der Abbildungen

Berber

Abb. 3. Heiliger Widder. Heiliger Widder (nach L. Probenius und H. Obermaier, bei M.Ebert, Reallexikon der Vorgeschichte, Tafel 171, wo die Zeichnung trotz der abwärts gekrümmten Hörner ins Paleolithikum datiert ist). Es handelt sich um ein gezähmtes Tier, wie aus dem geflochtenen Halsband hervorgeht. Die Scheibe auf dem Kopfe zeigt zwei seitliche Ornamente, die bestimmt keine Schlangen dar­ stellen. Diese Felsgravierung aus dem Atlas der Sahara scheint auf die ägyptischen Vorstellungen vom Sonnenwidder zurückzugehen.

Abb. 4. Religiöse Szene. Ein Mann, anscheinend in anbetender Hal­ tung, steht vor einem Widder mit Scheibe und Halsband. Aus der Scheibe ragen Linien heraus, die einen Dekor darstellen. Dahinter steht ein kleinerer Widder ohne Scheibe, darunter ein anderer Widder, ebenfalls kleiner, doch mit Scheibe und Dekor. Rechts davon zwei Tiere, die einander den Rücken zukehren und deren Schwänze eine Art Einfassung um sie herum bilden. Vom Djebel Besseba, SaharaAtlas, bei Ebert, Reallexikon der Vorgeschichte, Tafel 172 und L.Frobenius, Kulturgeschichte Afrikas, Tafel 19. Abb. 5. Die berberischen Götter von Béja, Nord-Tunesien. Sehr undeutliches Original. Die Gesichtszüge der einzelnen Götter sind nicht mehr erkennbar. Besprochen bei Gilbert Charles-Picard, Reli­ gions, S. 22 bis 24.

Abb. 6. Megalithgrab mit Steinkreis. In Nord-Afrika sind die Mega­ lithbauten später anzusetzen als in Europa, und einzelne Gräber reichen bis in die Römerzeit hinein. Zeichnung nach H. Alimen, Préhistoire de l’Afrique, Vol. 2, Paris 1955, S. 129. Abb. 7. Tiergestaltige Personen mit Antilope (L. Frobenius, Kultur­ geschichte Afrikas, Tafel 24). Es handelt sich wohl nicht um Götter, wie Frobenius annimmt, sondern um Personen mit Jagdmasken. Solche Darstellungen werden der Vorstellung von den —> hunds­ köpfigen Menschen im Inneren Afrikas zugrunde liegen. Es dürfte sich bei den maskierten Männern um einen Jagdzauber handeln, nicht aber um eine Maskierung, die das Anschleichen der Jäger erleichtern sollte. Abb. 8. Tierköpfige Männer mit Nashorn. Hier handelt es sich offenkundig um Jäger. Auch hier kommt den Masken eine magische Bedeutung zu. Bei L. Frobenius, Kulturgeschichte Afrikas, Tafel 25. Das Nashorn ist (trotz des offenen Auges) wohl getötet; ein Strick ist um ein Bein gebunden, zum Transport.

598

Karte des berberischen Sprachgebietes in Nordafrika und im Sudan

Cr CO CO

...... berb' Gcbietc; Ghat = berb. Sprachinseln; Gh. = Ghomara; Kab. = Kabylei; Sch. = Schani; Tu. = Tuggurt; Ta. = Tamazratt.

Abbadir

Berber

Abbadir (o. ä.). Gottheit, genannt in einer Inschrift von Miliana. CIL VIII 21 481: Abbadiri Sancto.

Abora. Gott, höchstes Wesen, von den Kanariern der Insel Palma verehrt. Ahora thronte im Himmel und setzte die Gestirne in Be­ wegung. Ihm zu Ehren errichteten die Eingeborenen Pyramiden aus Stein, um die sie sich zu verschiedenen Zeiten des Jahres ver­ sammelten, um Feste zu feiern. Diese Feste wurden mit Liedern und Wettkämpfen beendet. Barker-Webb et S. Berthelot, I, 1, S. 171.

Acoran. Name des höchsten Wesens bei den Einwohnern Gran Canarias. Ihm hatten sie Tempel (oratorios) auf Berggipfeln errichtet, die schwer zugänglich waren. Die Priester (faycan, mit Varianten) leiteten die Zeremonien, und die jungen Mädchen, die -> Harimaguadas, die in den Zellen des Höhlenklosters lebten, nahmen daran teil. Sie trugen Kleider aus weißem Leder, die weiter waren als die der anderen Frauen. Ihre hauptsächlichste Funktion bestand im

Darbringen der täglichen Milchopfer. Der Tempel selbst war ein unverletzliches -> Asyl. Barker-Webb et S. Berthelot, a.a.O., I, 1, S. 168—169. — Zur Etym. vgl. schilhisch agurram „Marabut“.

Allen. Agathokles (4. Jahrh. v.Chr.) unternahm eine Expedition in das Innere Afrikas. Er kam in eine Gegend, in welcher eine Menge A. lebten. Es gab dort drei Städte, die nach diesen Tieren griech. Pithckoussai genannt wurden. Die A. lebten in den Wohnungen der Menschen, welche sie als Götter betrachteten. Sie verzehrten die Speisen der Menschen. Kinder erhielten Namen, die sich auf A. bezogen. Einen A. zu töten, galt als das größte Verbrechen und wurde mit dem Tode bestraft. Diodorus Siculus, Bibliotheca, XX, 58. — Die Städte sind nicht lokalisier­ bar; die Darstellung erscheint zum mindesten übertrieben.

Africa. Göttin in röm. Zeit, als Personifikation der Provinz Africa. Ein Marmorkopf der A. wurde im Theater von Caesarea (Cherchell) geborgen. Die sorgfältige Arbeit weist auf die Herkunft aus einem berühmten Atelier, vielleicht des Polyklet (1. Jh. v. Chr.). Die Göttin, die griech. Gesichtszüge trägt, hat ihren Kopf mit einer Elefanten­ haut bedeckt. Zum Einsetzen des Rüssels und der beiden Stoß­ zähne waren drei Löcher oberhalb der Stirn vorgesehen1. Wo man in anderen Ländern vor Beginn eines Vorhabens die Götter um ihren Beistand bat, unternahm in Afrika niemand etwas, ohne vorher den Namen ,,A.“ auszusprechen2. In arab. Zeit berichtet

600

Amen

Berber

El-Bekri (ll.Jahrh.), daß der Name A.s, arabisch Ifrïqiya, soviel wie die „Herrin des Himmels“ (ßähibat es samä’} bedeute, worin sieh eine Erinnerung an Iuno Caelestis erhalten haben wird, die als Schutzgöttin des römischen Karthagos Caelestis Afrorum hieß3. 1 Julien, Histoire, S. 210: Caelestis als Schutzgöttin Karthagos. Pig. 1 : Kopf der Göttin Africa aus Cherchell mit Kommentar. 2 Plinius, Hist. nat. 88, 5, 2. 3 El-Bekri, Kitäb el-Maghrib (trad. de Slane), Paris 1955. S. 48.

Agodal. Der berb. Ausdruck für „Asyl“, heute das Asyl in Mo­ scheen. Bei den Kanariern galten die Tempel des Gottes -> Acoran als unverletzliches Asyl. E. Laoust, Cours de langue berbère. Tachelhit du Sous. 2° éd. Paris 1936. S. 224.

Aissawa. Die A. (sg. 'Isäwi, pl. 'Isäwa) bilden eine religiöse Bruder­ schaft, deren Gründer Sich Mhammed Ben 'Isa Gewalt über alle giftigen Tiere hat. Mit giftigen Schlangen, wie der Naja (Naja haje, arab. bu-sekka} oder Bitis arietans (arab. laf'a) gehen sie ungestört um, spielen mit ihnen, schlingen sie um ihren Leib, ja sie verzehren sie sogar lebendig ! Auf dem Platze ¿ma,' el-Fna in Marrakesch kann man ihre Kunststücke bewundern. Sie heilen jedoch auch Schlangenund Skorpionbisse, indem sie um die Wunde Schnitte anbringen, um sie ausbluten zu lassen, und saugen das Gift heraus, wobei die Zähne gegebenenfalls vorher mit Honig eingerieben werden. Es sind dies die modernen Vertreter der —> Psyllen in mohammed. Aufmachung. Westermarck, Ritual and Belief, II, S. 353—356.

Akephaloi. „Menschen ohne Kopf“, die ihre Augen auf der Brust tragen, sollen „zum mindesten, was die Libyer von ihnen sagen“ im Westen Libyens mit den „wilden Männern“, den „wilden Weibern“, den „hundsköpfigen Menschen“ und anderen Fabel­ wesen leben1. Es wurde versucht, in den A. die ersten Berber mit dem Gesichtsschleier zu sehen, wie ihn die Tuareg tragen2, doch ist diese Tracht erst im Mittelalter bezeugt3. Auch spricht die Ver­ bindung mit anderen Fabelwesen gegen eine rationalistische Deu­ tung. Als unwirkliche Erscheinungen gehören sie in das Reich der

Mythologie. 1 Herodot IV, 191. Vol. I, S. 191.

2 Lhote, S. 266.

3 Ibn Khaldoun, Histoire,

Amen. In der Rede des Athanasius gegen die Heiden (§ 14) wird das Schaf Amen genannt. Es wurde von den Berbern als Gottheit ver39 A

601

Amenti

Berber

ehrt. — Es fragt sich, ob nicht -> Ammon als Widdergott von der Oase Siwa gemeint ist. Amenti. Ägypt. Göttin (Jmn.t-j.t), Personifikation des (libyschen) Westens. Auf den Reliefs im Totentempel des Königs Sahure' (5. Dynastie) ist A. dargestellt, wie sie dem König die „Fürsten der Libyer“ als Gefangene übergibt1. Der Name Jmn.t-j.t ist ägypt. und bedeutet „die Westliche“ und ist etym. mit der Bezeichnung des Westens als Reich der Toten identisch. Kopt. heißt dann A. die „Unterwelt2“. Sonst spielt die Göttin in der ägypt. Religion anscheinend keine Rolle, doch verbirgt sich hinter ihr möglicher­ weise eine libysche Göttin. Als Göttin der Nekropole im Gefolge des Totengottes Osiris3 stellt sie nicht das westl. Land (Libyen),

sondern das Totenreich dar. 1 L. Borchardt, Das Grabdenkmal des Königs Sa’hu-Re', II, London 1901, Tafel 21—23. 2 Kopt. Amenti, bei Plutarch „Amenthes“, De Iside et de Osiride, s. Th. Hopfner, Plutarch über Isis und Osiris. Monographien des Archiv Orientälni. Band IX, Prag 1941, S. 15. 3 Literatur bei Bonnet, Reallexikon der ägypt. Religion. Berlin 1952, S. 22 und 23.

Ammon. Ägypt. Gott, verehrt in der Oase Siwa, wo der berühmte Orakeltempel steht, den Alexander d. Gr. i.J. 331v.Chr. besuchte. Dieser Tempel war schon vor Alexander in der griech. Welt be­ kannt gewesen1. A. von Siwa ist mit dem thebanischen Gott Amon (mit einem m) identisch, der erst im Neuen Reich hervortritt. Die Form mit Gemination (Ammon) ist sicherlich die ältere, zum min­ desten typologisch älter als die keilschriftlichen Transkriptionen des Neuen Reiches2. A. wird durch einen -> Widder dargestellt, er heißt „widdergesichtig“, „widderköpfig“, „widderhörnig“, „hörnertragend“ und „krummhörnig“3. In Ägypten wurde er mit dem Sonnengott Re gleichgesetzt. Er trägt als Reichsgott die Son­ nenscheibe und die königliche Uraeusschlange auf dem Haupte. Er wird „König der Götter“ genannt, ägypt. Amonrasonther4. Es wurde die späte Hieroglyphe der eingerahmten Wasserlinie6 zur Schreibung von „Amon“ als Wortspiel mit libysch aman „Wasser“ gedeutet. Im Tempel des A. von Siwa befand sich ein Kultobjekt in Form eines Nabels, das mit Edelsteinen besetzt war. Es handelt sich um eine Art Fetisch, wie in Theben und Napata, aber nicht um einen Meteoriten6. Ammon — also mit der theba­ nischen Namensform — wurde in röm. Zeit in Nordafrika an vielen Orten verehrt. Ein Ort Ammonos („des Ammons“) lag an der syrtischen Küste7. Ad Ammonen wird auf einem röm. Itinerar genannt8. Ein „Heiligtum des Ammons“ gab es nahe bei Antipyrus in der Marmarica9. Heute heißt ein Hügel südlich von Ben602

Berber

Antaios

ghazi Teil Amun, was wohl nichts anderes als „Amonshügel“ be­ deutet 10. Der Orakeltempel, in dem Alexander d. Gr. als Sohn des Gottes begrüßt wurde, ist ein großes Bauwerk nichtägypt. Kon­ struktion, das heute Aghurmi heißt (berb. „Burg“). Die Antworten des Gottes wurden nicht gesprochen, sondern durch Nicken und Zeichen gegeben; ein Prophet deutete sie. Das Götterbild wurde in einer vergoldeten Barke von 80 Priestern auf den Schultern ge­ tragen und lenkte selbst durch Nicken die Prozession, wobei ihm eine Schar von Mädchen und Frauen folgte11. Der Kult des A. war also zweifellos ägyptisch. Die Verschmelzung der beiden Götter, des Widder- und des Sonnengottes, spiegelt einen historischen Pro­ zeß der ägypt. Geschichte wider, den Aufstieg Thebens (mit dem lokalen Widdergott) zur Reichsherrschaft (mit dem Sonnengott) und kann nur im Niltal entstanden sein. Felszeichnungen mit dem sonnenscheibentragenden Widder in der Berberei und in der Ost­ wüste, zwischen Nil und Rotem Meer, sind daher als Ausstrahlungen des A.-Kultes zu betrachten. 1 C. J. Classen, The Libyan God Ammon in Greece before 331 B. C. Historia VIII. Wiesbaden 1959, S. 349—355. 2 H. Ranke, Keilschriftliches Material zur ägypt. Vokalisation. Preuß. Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse 1910, S. 7. ilu A-ma-na (3X), ilu A-ma-a-nu (5x) ilu A-ma-nu (IX) usw. aus mittelbabylonischer Zeit (Tell-el-Amarna-Briefe, etwa von 1411 — 1358 v.Chr., sowie Akten aus den Archiven von Boghazköi, etwa 1292—1225 v.Chr.). 3 RE, 1. Halbband, Stuttgart 1896, Sp. 1854 bis 1858. 4 Zs. f. ägypt. Sprache und Altertumswissenschaft. Leipzig 1883, XXI, S. 4 und 113. 6 Georg Möller, Ägyptisch-Libysches, Orien­ talist. Literaturzeitung. Leipzig 1921, XXIV, Sp. 193 —197. 6 G. A. Wainwright, Amun’s Meteorite and Omphaloi. Zs. f. ägypt. Sprache und Altertumskunde. Leipzig 1935, LXXI, S. 41—44. 7 Ptol. IV, 3, 11. 8 Tab. Peut. Segm. VII. 9 Stadiasmus Maris Magni § 82—83. 10 bei Oric Bates, The Eastern Libyans, S. 198, dort auch genaue Literatur­ angaben für die vorangehenden Zitate. 11 G. Steindorff, Journal of Egyptian Archaeology. London 1938, XXIV, S. 147 —150 und Tafel VII; J. Cerny, Egyptian Oracles. In: R. A. Parker, Prom a Saitic Oracle Papyrus in the Brooklyn Museum, Rhode Island, S. 35—48.

'Ansara. Arab. Name des berb. Sonnwendfestes im Sommer. Wird mit -> Sonnwendfeuern und Baden im Meere gefeiert. Der Name, der in Ägypten den kopt. Pfingstsonntag bezeichnet, gehört zu

hebr. 'asärä, „Festversammlung“ oder einer ähnlichen Form. Der berb. Charakter des Festes ist durch den hl. Augustinus bezeugt. Westermarck, Ritual and Belief, II, S. 205.

Antaios. Gigant, Sohn des Poseidon und der Erde (Gaia), der nach der griech. Sage alle Reisenden in Libyen tötete, um aus ihren Schädeln einen Tempel für seinen Vater Poseidon zu bauen. Herakles kämpfte 39

603

Aphrodite

Berber

mit ihm und warf ihn dreimal zur Erde. Seine Mutter, die Erde, flößte ihm aber jedesmal neue Kräfte ein, sobald er sie berührte. Da hob ihn Herakles auf und erdrosselte ihn. — Diese Sage gehört in die griech. Mythologie, doch scheinen nordafrik. Elemente mithineinzuspielen. So gilt A. als Gründer von Tingi (heute Tanger)1 und bei Lixos (Marokko, an der Mündung des Oued Loukkos) soll er begraben worden sein2, nachdem er gegen Herakles unterlag. Sein Grabmal war 60 Ellen lang. Vielleicht ist es kein Zufall, daß sich die Berber im Rif noch eines -> Riesen erinnern, der hier gelebt haben soll und der drei Berge benützte, um seinen Kochtopf auf­ zustellen. 1 Ausführl. Bibliograph, bei Jérôme Carcopino, Le Maroc antique. Paris 1943, S. 68—69. 2 Literatur ebd..: Plinius, Hist. nat. V, 2: Tingi quondam ab Antaeo conditum, Strabo XVII, 3, 8, usw. mit Diskussion des Problems.

Aphrodite. Eine Insel namens Aphrodisias lag an der libyschen Küste, westl. von Platea. Bis hierher reichte das Gebiet der Giligamen, eines libyschen Stammes, und westl. davon begann das Gebiet der griech. Kyrenäer1. Hier wurde offenbar die Göttin A. verehrt. Nach PseudoSkylax2 und den Anweisungen für Schiffer, dem sogen. Stadiasmos3 gab es auch eine Insel dieses Namens östl. von Derna in Libyen. Eine weitere Insel namens Aphrodisias lag in der Nähe der Stadt Apollonia, eines Hafens von Kyrene4. Nach alledem scheint es, als seien diese Inseln nach der griech. Göttin genannt, die ja dem Schaume des Meeres entstiegen war. Dafür spricht auch das Fehlen von Ortsbezeichnungen im Inneren des Landes. 1 Herodot IV, 169. Siehe auch St. Gsell, Hérodote. Alger-Paris 1916, S. 84 bis 85. 2 Pseudo-Skylax, § 108. 3 § 49. 4 Ptol. IV, 4, 8.

Apollo. Eine berb. Gottheit dieses Namens scheint sich hinter dem „fünften A.“ zu verbergen, von dem Ampelius spricht und der in

Libyen geboren worden sein soll. Ampelius, Liber memorialis, 10.

Aranîaibo. Heiliges Schwein, das auf der Insel Hierro in der Höhle Astheyta im Gebiet Tacuitunte gefüttert wurde. Es war dies ein Schwein kleiner Rasse, das bei den Göttern vermittelte. Wenn bei den Kanariern die Bitten um Regen zu Eranoranhan und Moneiba keinen Erfolg hatten, führte ein Greis, der wegen seiner Weisheit und Frömmigkeit verehrt wurde, das Volk zur Höhle, ging hinein und trug das Schwein unter seinem Mantel heraus. Das Volk be­ grüßte es freudig. Dann ließ man das Schwein so lange auf den

604

Berber

'Aschüra

Feldern herumlaufen, bis es regnete. Sobald der Regen kam, führte man es im Triumph in die Höhle zurück. Barker-Webb et S. Barthelot, Histoire, I, 1, S. 159—160 und 168.

Asch. Ägypt. Gott und „Herr von Libyen“. Darstellungen aus der 2. Dynastie zeigen ihn mit der oberägypt. Krone oder einer Feder geschmückt, entweder völlig menschengestaltig oder mit einem Tierhaupt1. Auf den Reliefs des Totentempels des Königs Sah u-Re' (5. Dynastie) übergibt A., der „Herr von Libyen“ (nb Thnw) dem König „alle Güter der Fremdländer“, in diesem Falle der Gebiete der besiegten Libyer2. Er wurde außerdem in den Oasen der libyschen Wüste verehrt, wo er dem ägypt. Seth ähnelt3. Die Etym. des Namens ist unbekannt. Wir kennen davon nur 2 Kon­ sonanten (’s), was herkömmlicherweise „Asch“ gesprochen wird; die tatsächliche Lautform ist unbekannt. 1 Flinders Petrie, Royal Tombs of the Earliest Dynasties. Vol. II, London 1901, Tafel 21—23. L. Borchard, Das Grabdenkmal des Sa hu-Re'. I. Leipzig 1913, S. 17. 3 Literatur bei A. Erman, Die Religion der Ägypter. Berlin und Leipzig 1934, S. 350.

’Aschüra. Name eines mohammed. Festes am 10. Tag des Monats Moharram, das in manchen Orten mit heidnisch-berb. Bräuchen gefeiert wird. In Taliza (Gebiet der Ait Isaffen, Marokko) wird auf einer Tenne, die mit dem Blut des Opfertieres, einer Kuh, getränkt ist? Mädchen und Frauen holen vom Berge Holz und (trockenes) Gras, woraus die Männer den Scheiterhaufen bauen. Knaben sam­ meln Schneckenhäuser und stellen daraus Halsketten her. Sie ver­ zieren Stäbe aus Oleanderholz, die baino heißen, mit roter und grüner Farbe. Sie durchziehen damit die Straßen, klopfen an die Türen und singen: „Bennayo, Bennayo, wer mir nicht meinen Fleischkloß und seinen Knochen gibt, der soll seine Hündin melken und in einem Packsattel buttern, Bennayo, Bennayo!“ Die Männer nehmen ihre gemeinsame Mahlzeit in der Moschee ein. Dann be­ decken sie Schenkel und Hüften mit Ziegenfellen und begeben sich zu einem gewissen Dawud U Brahim, der das Vorrecht hat, alljährlich den Scheiterhaufen zu entzünden. Dieser erscheint, halb­ nackt, mit einem brennenden Stab aus Ölbaum-Holz, während die Menge zotige Lieder singt und einige Grasbüschel des Scheiter­ haufens entzündet. Dann überspringen die „ersten Frauen“ des Dorfes, die einen Sohn namens Mohammed haben, das Feuer. Wiederum erscheint der „Priester“, diesmal aber dezent und in reiche Gewänder gekleidet und holt aus einem kleinen Gebäude zwei hölzerne Idole, die dort das ganze Jahr hindurch verwahrt werden. Eines davon heißt Akschud Um'aschür ,,'A.-Holz“ oder Taschem'it 39*

605

Asyl

Berber

Unfaschür ,/A.-Kerze“ und ist männlich. Es ist dies ein zylin­ drisches Stück Feigenholz, etwa 80 cm lang. Sterile Frauen stecken ihren Ring darauf, um Kindersegen zu erlangen, und nehmen ihn dann wieder zu sich. Dieses Phallus-Symbol wird mit grüner Gerste abgerieben und zum Scheiterhaufen getragen, den der „Priester“ nun entzündet. Dabei spricht er dreimal: „Es gibt keinen Gott außer Allah!“ Männer und Frauen begrüßen die erste Flamme und fragen: „Zeig uns, Rauch, wohin du dich wenden willst!“ Zieht der Rauch nach Osten, dann steht ein gutes Jahr bevor, zieht er aber nach Norden oder Westen, dann wird es schlecht. Alt und Jung läuft nun im Uhrzeigersinn um die Flammen. Wenn das Feuer niedergebrannt ist, wirft jedermann einige der Schneckenhäuser, welche die Knaben gesammelt haben, ins Feuer und ruft ihnen zu: Miinatdelbas-ennunl („Geht fort mit eurem Übel!“) Das Idol hat dabei die ganze Zeit mit einem brennenden Lämpchen auf einem Steinhaufen vor dem Scheiterhaufen gestanden. Nun kehrt das Volk ins Dorf zurück, ernst und gedankenvoll, in sonderbarem Gegensatz zur vorherigen Festesfreude und den ausgelassenen Liedern. Am nächsten Tag geht das Fest weiter. Die jungen Leute gehen gruppenweise baden und besprengen einander mit Wasser. Eine Frau holt das zweite Idol, das weiblich ist und Taslit „Braut“ heißt, aus dem „Tempel“ (wie Laoust das kleine Gebäude nennt) und wäscht es im Fluß, wo die jungen Leute gebadet haben. Die Taslit ist ein etwa ellenlanger Stock aus Mandelholz, dessen eines Ende sich in zwei Äste gabelt, die „Beine“ der Taslit. Dann wird die Taslit reich gekleidet und zum Hauptplatz des Ortes geführt, wo sich alle Frauen eingefunden haben. Da wohnt nun das Idol den Tänzen und Gesängen bei. Dann kehrt es in seine Nische im „Tempel“ zurück, wo es bis zum nächsten Jahr verbleibt. Damit ist das Fest zu Ende. Die Knaben behalten ihre „Bainos“ noch bis zum Ende des Monats Moharram. Dann werfen sie die Stäbe bei Sonnenaufgang in den Wald und rufen: Mun d elbas-ennek, a Bain-inu\ („Geh fort mit deinem Übel, o mein Baino!“) Laoust, Mots et Choses, S. 217—224.

Asyl. Bei den alten Kanariern war derjenige, der durch die Tür in ein Haus eintrat, unverletzlich, selbst wenn er vorher jemanden verletzt oder gar getötet hatte. Das Haus galt also als A. Drang er aber auf andere Weise ein, etwa indem er über die Mauer sprang oder im Dach ein Loch machte, so wurde er dafür mit dem Tode bestraft1. Verbrecher, die auf den Kanarischen Inseln zu den Magadas (-> Harimaguadas) flohen, waren vor den Nachstellungen

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Berber

Atlas

der Justiz gesichert2. Bei den Beni Uryaghel im Rif herrschte der Brauch, daß ein Mörder, welcher in ein Haus eindrang und dort die Handmühle anfaßte, unter dem Schutze der Herrin des Hauses und damit der gesamten Familie stand. Die Insassen des Hauses mußten ihn mit Waffengewalt verteidigen. In diesem Falle war das A.-Recht durch den —> „Zwang“ ausgelöst worden, der durch das Ergreifen der Handmühle erfolgte3. 1 Barker-Webb et S. Berthelot, I, 1. lies Canaries S. 106. 2 Abreu de Galindo, in Pinkerton, Collection of Voyages and Travels, XVI, London 1814: The History of the Discovery and Conquest of the Canary Islands, S. 819. Die Maguadas oder Magadas waren heilige Frauen, die in Häusern (oder Klöstern) miteinander lebten. 3 Westermarck, Ritual and Belief, I, S. 552. —> Agodal.

Athene. Jungfräuliche Kriegsgöttin der Libyer, von den Ägyptern mit Neith identifiziert. Ihr wirklicher Name ist unbekannt. Herodot berichtet, daß Machlyer und Auseer, die rings um den Triton-See wohnten, der A. alljährlich ein Fest bereiteten. Dabei teilten sie die Jungfrauen in zwei Scharen, die einander mit Steinen und Knütteln bekämpften, „nach ihrer Väter Brauch und zu Ehren der Göttin“. Diejenigen, die ihren Wunden erlagen, nannten sie „falsche Jung­ frauen“. Nach dem Kampfe schmückten sie diejenige Jungfrau, die sich nach einstimmigem Urteil am besten gehalten hatte, mit einem korinthischen Helm und einer griech. Rüstung. Sie wurde auf einem Wagen um den See herumgefahren. A. galt als Tochter des Poseidon und der Tritonis; sie habe sich mit ihrem Vater entzweit und sei zu Zeus übergegangen1. A. besaß ein Heiligtum am TritonSee2. A. war also eine Kriegsgöttin, wie Neith. Herodot meint, vor An­ kunft der Griechen wäre die tapferste Jungfrau mit ägypt. Waffen geschmückt worden. Anscheinend erfreute sich die Jungfrauen­ schaft bei den Machlyern und Auseern großer Wertschätzung, was mit den sonstigen Sitten dieser Völker kontrastiert. Sie hatten keine eigenen Frauen und „begatteten sich wie das Vieh“. Wenn eines Weibes Kind heranwuchs und mannbar wurde, erklärten es die Männer in einer Versammlung, die drei Monate darauf stattfand, als Sohn dessen, dem es ähnlich sah3. 1 Herodot, IV, L80. O. Bates, The Eastem Libyans, S. 203—205. St. Gsell, Herodote. Alger—Paris 1916, S. 187 — 190. 2 Cicero, De natura deorum, II, 29, 59; Clemens Alexandrinus, Protrept. II, 28,2. 3 Herodot IV, 180.

Atlas. Berge, Höhlen, seltsam geformte Steine, Quellen und Wasser­ läufe galten den Berbern als Sitz geheimer Mächte. So war im Westen der Berg Atlas, die „Säule des Himmels“, wie ihn Herodot

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Berber

Aulisua

nennt1, Gegenstand ihrer Verehrung: „Inmitten der Sandgebiete erhebt sich der Berg Atlas steil und nackt gegen den Himmel, an der Seite des Ozeans, dem er den Namen gegeben hat, voll schat­ tiger Wälder und von Quellen benetzt, die auf der nach Afrika gerichteten Seite entspringen, reich an Früchten aller Art, die hier wild wachsen und jedes Gelüst stillen können. Tagsüber sieht man dort keinen Einwohner: alles hält dort tiefe Stille, ähnlich der furchtbaren Stille der Wüste. Eine religiöse Furcht ergreift die Herzen, wenn man sich ihm naht, vor allem angesichts dieses Gipfels, der sich über die Wolken erhebt und der Laufbahn des Mondes benachbart erscheint2.“ Diese Darstellung des älteren Plinius wird durch Maximus von Tyrus ergänzt und bestätigt: „Die westlichen Libyer bewohnen einen schmalen, länglichen, vom Meer umsäumten Landstrich. Am Ende dieser Erdzunge verdeckt sie der Ozean mit gewaltigen Fluten und Strömungen. Das ist für sie das Heiligtum und das Bild des Atlas. Der Atlas ist aber ein innen hohler, ziemlich hoher Berg, der sich nach dem Meer zu öffnet wie ein Theater nach der (freien) Seite der Luft zu. Der Raum, der sich inmitten des Berges ausdehnt, ist ein enges Tal, fruchtbar und von Bäumen bedeckt, auf denen man Früchte sieht. Betrachtet man den Gipfel, so ist es, als ob man in die Tiefe eines Brunnens bückte. Es ist nicht mögüch, dorthin zu steigen, wegen der Steile des Abhangs; übrigens ist das auch nicht gestattet. Was es an diesem Ort zu bewundern gibt, ist der Ozean, der zur Flutzeit das Ufer bedeckt und sich über die Felder ergießt. Und man sieht, wie sich das Wasser gegen ihn wie eine Mauer erhebt, ohne jedoch in den hohlen Teil zu fließen oder das Land zu berühren. Aber zwischen dem Berg und dem Wasser gibt es viel Luft (wohl: weiten Raum) und einen Wald mit einer Höhlung. Er ist für die Libyer sowohl ein Tempel wie ein Gott, der Gegenstand, bei dem sie schwören, und eine Statue3.“ 1 Herodot, IV, 184. 2 Plinius, H. N. I, 1, 6. (Dissertationes, VIII, 7).

3 Maximus von Tyrus

Aulisua. Berb. Gottheit, verehrt in der Gegend von Tlemcen. Wir haben zwei Inschriften von Agadir1 und eine von Ain Khial, welche diesen Namen nennen2. 1 CIL VIII 9906 und 9907.

2 CIL VIII 21704.

Auzius. Berb. Gott, erwähnt in einer Inschrift von Bordj Hamza. CIL VIII 9014: Auzio Deo Oenio.

Azabbar. Name der heidnischen Riesen der Urzeit, die in prähisto­ rischen Gräbern des Hoggar-Massivs bestattet sind. Diese Gräber

608

Berber

Baden im Meer

(ëdebni, pl. idebnän) sind gewöhnlich mit Steinkreisen umhegt. Zum Zwecke der -> Traumdeutung, verbringt man gerne die Nacht auf diesen Gräbern, weil man hier (von den Toten) Eingebungen erhält. Die Bezeichnung Adjabbar (tuareg azabbär, pl. izzabären, azabbar, pl. izabbären) ist allerdings arabisch und entspricht he­ bräischem gibbör „Held“. Die Idjabbären (pl.) werden auch als Ungeheuer geschildert. De Poucauld, Dictionnaire, S. 709.

Bacax. Name eines Gottes, der in einer Höhle nahe Thibilis (heute Announa) wohnen sollte. Die Grotte war in eine Reihe von Räumen gegliedert, die jedoch nicht horizontal nebeneinander, sondern meist übereinander angeordnet waren. Man gelangte durch natür­ liche Steintreppen, manchmal auch durch wirkliche Schächte von einem Raum in den anderen. Der Höhenunterschied zwischen dem Eingang der Höhle und deren hinterstem Teil dürfte etwa 300 bis 400 m betragen1. Der Name des Gottes findet sich auf einer Reihe latein. Inschriften2. Die Opfer wurden anscheinend vor dem Höhleneingang dargebracht. 1 Monceaux, La grotte du dieu Bacax au Djebel Taia. Paris 1887 ; G. Mercier, Les divinités libyques. Constantine (ohne Datum), S. 6—7. 2 Zum Bei­ spiel CIL VIII 5504 (18828), 5505 (18829), 5517 (18847) usw.

Baden im Meer. St. Augustin (um 400 n.Chr.) erwähnt eine heidnische Sitte, die auch bei Christen Brauch war. Am Tage des hl.Johannes, dem Sonnwendtag, gingen die Leute ans Meer, badeten und ,,tauften“ einander1. Die gleiche Sitte beschreibt U. Paradisi aus dem heutigen Tripolitanien2. In den drei Tagen des „Awussu“ erscheint die „Waage“ (Sternbild) am Himmel : am ersten Tage der erste Stern, am zweiten Tage der zweite und am dritten Tage der letzte Stern. Das Sternbild ist am 57. Tage nach Beginn des Sommers sichtbar. An diesen drei Tagen begeben sich die Berber der Ait Willul des Ortes Zuara (Tripoli­ tanien) ans Meer, um dort zu baden. Das tut man etwa um vier Uhr morgens. Jede Familie badet für sich. Die Männer baden in ihren Kleidern oder im Hemd, die Frauen nur im Hemd. Sie bleiben etwa anderthalb Stunden im Wasser. Manche tauchen siebenmal unter. Alle besprengen einander mit Wasser. Auch Esel, Pferde und Kamele werden mitgebracht, damit sie am Bad teilnehmen. Dann kehrt man nach Hause zurück und ißt uicu d udi „Mehlbrei mit Öl“. Zu Mittag gibt es dann Kuskus oder Makkaroni. Die Araber behaupten, es handle sich um die berüchtigte „Nacht des Irrtums“, was von den Berbern energisch zurückgewiesen wird. Es 609

Baldir, Baliddir

Berber

badet nämlich, jede Familie für sich. Sie gehen zum Meer, weil der Körper durch das Bad verjüngt und gekräftigt wird. Obwohl das Fest vom 25. bis 27. Juli (gregorianisch) oder vom 12. bis 14. Juli (julianisch) stattfindet, heißt „Awussu“ nichts anderes als „August“3. 1 St. Augustinus, Sermo CXCVI, 4 (in: Migne, Patrologiae cursus 38—39, Paris 1845, col. 1021). Natali Joannis ... de solemnitate superstitiosa pagann, Ghristiani ad mare veniebant et ibi se baptizabant.“ 2 U. Paradisi, I tre giorni di Awussu a Zuara. Annali deli’Istituto Universitario Orientale di Napoli, Napoli 1964 (nach dem Manuskript, das mir der Autor freundlicher­ weise zur Verfügung stellte). 3 Dozy, Supplément aux dictionnaires arabes. Leiden 1881. S. 22—24.

Baldir, Baliddir. Gottheit, die das Element Bal (= pun. „Herr“) und berb. Iddir (moderner Personenname) zu enthalten scheint. B. trägt die Bezeichnung eines „Gottes des Vaterlandes“ in Inschriften von Guela’at Bou Sba (zwischen Böne und Guelma)1 und von Sigus2. 1 CIL VIII 5279. 2 CIL VIII, 19121, 19122, 19123. G. Mercier übersetzt „der lebende Gott“ (Les divinités libyques, S. 8—12).

Baumkult. Bei den Tuareg gilt ein Baum, der Agar (Maerua crassifolia) als Sitz böser Geister. Wer unter seinem Schatten lagern will,

vertreibt die Geister zuerst mit Steinwürfen. Geschiedene Frauen, welche die übliche Wartezeit nicht einhalten wollen, um in den Zustand der Sittenfreiheit zu gelangen, bitten den A^ar-Baum, die unliebsame Wartezeit auf sich zu nehmen1. In einem Scherzlied der Kabylen des Jurjura heißt es: „Sei gegrüßt Weißdorn (idmim) ! / Die Menschen haben dich Weißdorn genannt./ Ich nenne dich Qaid, der befiehlt, / Verwandle meinen Gatten in einen Esel, / Dem ich Stroh bringen lassen werde!“ Hier scheint eine Erinnerung an die übernatürlichen Fähigkeiten des Baumes durchzuschimmern. Es werden noch andere Bäume genannt, wie die Zwergpalme (tagunsa), der wilde Brustbeerbaum (tazuggart), die Zapfen von Nadelbäumen (azinba) wie Kiefer, Zeder und Tanne sowie die Zerr-Eiche (akerrus)2. Westermarck erzählt von einem großen Argan-Baum von beson­ derer Gestalt in Lagzua (Gebiet der IIaha, Marokko), der Argan Isisei (berb.) oder Sidi d-Dhäjbi (arab.) genannt wurde. Bei ihm standen irdene Gefäße mit Dung und drei Kornähren drinnen sowie drei Muschelschalen. Der Kuhdung, in dem die Ähren staken, sollte die gewünschte Fruchtbarkeit des Feldes symbolisieren. Schädel von Schafen, die am „Großen Fest“ geschlachtet worden waren, sollten das Vieh vor Krankheit bewahren3. Wunderwirkend, ohne mit einem Heiligen in Verbindung zu stehen, ist auch ein großer Feigenbaum, Karma Murscta, im Distrikt der Iläd Räfa 610

Berber

Barghwata

(Dukkâla, Marokko). Wer Furunkeln hat, reibt eine Münze daran und schlägt diese in die Rinde des Baumes, worauf sie verschwinden. Wirft ein anderer Feigenbaum die unreifen Früchte vorzeitig ab, so holt sich der Eigentümer vor Sonnenaufgang einige Feigen von Karma MursSta und hängt sie auf seinen Baum, worauf die Feigen hängenbleiben, bis sie reif sind4. 1 H. Lhote, S. 308. 2 Hanoteau, Poésies populaires de la Kabylie du Jurjura. Paris 1867, S. 308—312. 3 Westermarck, Ritual and Belief, I, S. 77. 4 Ebendort, S. 77.

Barghwata. Berb. Stammesverband in Marokko, bei dem im Mittelalter eine häretische Form des Islams herrschte, die zum Teil mohammed. Institutionen kopierte, zum Teil aber auch Elemente der berb. Religion enthielt. Ein Fürst der B. namens Yünus lehrte eine neue Religion, die an­ geblich schon von seinem Großvater Säleh Ben Tarif her stammte. Gefastet wurde im Monat Radjab, nicht im Ramadan. An Stelle der fünf täglichen Gebete traten fünf Gebete am Tage und fünf in der Nacht. Das Opferfest wurde am 11. Tag des Monats Moharram gefeiert. Gebete und Waschungen unterschieden sich von den islamischen. A bism en Jakusch hieß „Im Namen Gottes“ und Moqqur Jakusch „Groß ist Gott“. Ur d am Jakusch bedeutete „Es gibt nichts wie Gott“. Der Tag des Gebetes war der Donnerstag, nicht der Freitag. Jeder konnte so viele Frauen heiraten, als ihm seine Mittel erlaubten. Es war aber verboten, Kusinen bis zum dritten Grad zu ehelichen. Diebe, die ihre Untat eingestanden hatten oder durch Zeugen über­ führt waren, erhielten die Todesstrafe. Unzucht wurde mit Steini­ gung bestraft. Verleumder wurden des Landes verwiesen. Auf Mord stand ein Blutgeld von 100 Stück Vieh. Es war verboten, Köpfe von Tieren zu essen, ebenso Fische, soweit sie nicht rituell ge­ schlachtet waren, sowie Eier. Der Genuß von Hühnern wurde ge­ tadelt. Der Genuß von Hahnenfleisch war verboten, weil dieses Tier zum Gebet rief. Die B. fingen den Speichel ihres Propheten in ihren Händen auf und verschluckten ihn, um sich göttlichen Segen zu sichern. Auch Kranken brachten sie ihn als unfehlbare Arznei. Sälih Ben Tärif verfaßte einen „Koran“ in berb. Sprache mit 80 „Suren“ gegenüber den 144 des mohammed. Korans. Einige Suren waren nach Propheten benannt, nach Adam, Hiob (Ayyüb), Jonas {Yünus). Es gab auch Suren Pharaos {Fir'auri), Nimrods {Namrüd), Gogs und Magogs (Yäzüz wa Mäzüz), des Goldenen Kalbes und des Antchrists (ad-Dazzäl). Andere Suren waren nach Tieren benannt, so nach dem Hahn, dem Rebhuhn, der Heu­ 611

Böja

Berber

schrecke, der Kamelstute, der achtbeinigen Schlange und nach den Weltwundern. Es ist nicht anzunehmen, daß das Wesen der barghwat. Religion von den mohammed. Autoren objektiv und in allen Einzelheiten richtig dargestellt worden ist. Immerhin scheint aus den Be­ schreibungen — nach El-Bekri — der übermächtige geistige Ein­ fluß des Islams hervorzugehen, der nur geringfügige Veränderungen am System, aber keine neue Konzeption erlaubte. Außerdem scheint es sich um eine höchst puritanische Richtung gehandelt zu haben, die auf die Dauer ziemlich unbequem gewesen sein muß. Auch berb. Elemente scheinen eine Rolle gespielt zu haben: Speisegebote (Eier, Hähne), Hochschätzung des Speichels als Arznei (wie bei alger. Marabuts), die Rolle von Frauen (der Tante des Stifters), usw. Die genaue Lautform der Bezeichnung Barghwata ist nicht bekannt. Es wird angenommen, daß sich in der Form Barghwata der Name des Stammes der Baquates aus der Römerzeit erhalten hat. Das ist nicht ausgeschlossen, weil r im Rif im Silbenauslaut „vokalisiert“ als a gesprochen werden kann, so daß *Ba(r)quata anzusetzen ist. Enzyklopädie des Islams, 2. Auflage, Band I, sub.: Barghwata.

Beja. Eine Stele aus Böja (lat. Vaga, arab. Bäza) in Nord-Tunesien zeigt sieben berb. Gottheiten, fünf männliche und zwei weibliche, die namentlich angeführt sind1. Aus der zweizeiligen latein. In­ schrift geht hervor, daß die Stele von zwei röm. Bürgern, M. Aemilius Ianuarius und Q. Aelius Felix, errichtet wurde. Man wird als Abfassungszeit etwa 250n.Chr. ansetzen dürfen. Die Namen von fünf Göttern enden auf -m, was wohl die lat. Akkusativendung sein wird. Die Götter und Göttinnen befinden sich vor einem von Lanzen festgehaltenen Gewebe, hinter dem Kronen von Dattelpalmen und vielleicht auch anderen Bäumen sichtbar sind. Nur schlecht sicht­ bar ist der Oberkörper eines Mannes, der wohl auf einen Baum geklettert ist. Ganz außen, rechts und links, sieht man Magvrtam und Ivnam stehend, jeder hinter einem gesattelten Pferd, wobei Magvrtam einen nicht genau kenntlichen Gegenstand, vielleicht einen Schild, in der Hand hält. Der zweite Gott von links, Macvrgvm, sitzt und hält in einer Hand einen Stab, um den sich eine Schlange ringelt, ähnlich dem Äskulapstab. Ihm entspricht auf der anderen Seite Matilam, vor dem ein Hammel geschlachtet wird. 612

Berber

Beschwörung

Den Ehrenplatz in der Mitte nimmt Bonchor ein, der anscheinend einen kurzen Stock (oder ein Schwert ?) trägt. Es handelt sich wohl um den „luppiter“ der Göttergemeinde. Rechts und links von Bonchor sieht man zwei Göttinnen : Vihinam mit einem Kultobjekt in den Händen, das man oft auf Stelen sieht, in Form eines Halbmondes, dessen Enden sich miteinander ver­ einen, und Varissisima, ohne sichtbares Attribut. Die Gesichtszüge der Gottheiten sind nicht erkennbar. Es ist durch­ aus möglich, daß der Name Bonchor mit dem der Buccures identisch ist, die Arnobius als -> „maurische Götter“ nennt. Andererseits ist Bonchor eine Kurzform des bekannten pun. Namens Bodmelqart „Diener des Melqart“. Die beiden Reitergottheiten Matilam und Ivnam erinnern möglicherweise an die Dioskuren, die auf Votiv­ stelen in Nordafrika mit -> Saturn dargestellt werden. Macvrgvm könnte der numid. Name des pun. Äskulap sein, der Eschmun

heißt2.

1A. Merlin, Divinités indigènes sur un bas-relief romain de la Tunesie; Comptes-rendus de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, Paris 1947, S. 335—371. G. Camps, L’inscription de Béja et le problème des Dii Mauri; Revue africaine 98, No. 440—441, Alger 1954, S. 233—260. 2 Picard, Reli­ gions, S. 22—24. Beschwörung. In Nordafrika herrscht der Glaube, daß Geister in Menschen fahren und diese mit Krankheit schlagen. Die Spezia­ listen, die sich mit der B. von Geistern befassen, sind die Neger. Wir besitzen keine alten Texte, welche diese Praktiken erwähnen, doch wird man annehmen dürfen, daß solche Feiern stattgefunden haben, wo immer Neger lebten. In Ägypten heißen solche Krank­ heitsgeister zirän (sg. zär) ; sie sollen aus Abessinien kommen. Bei den Hausa heißt der Tanz der Verzückten böri. Ganz Nordafrika ist von einem System religiöser Bruderschaften besetzt, die sich mit Geisterbeschwörung befassen. Obgleich die Veranstaltungen islamisch getarnt sind, handelt es sich um eine spezielle Religion, mit Priestern, einem ganzen Pantheon, Opfern, Zeremonien und einem genau geregelten Ritual. Die Feiern werden von den Negern organisiert, doch werden sie auch von der weißen Bevölkerung (vor allem von den Frauen) besucht. Es gibt eine Unzahl von Geistern, darunter weiße, die gut sind, schwarze, die böse sind (sic), und die roten als Anführer. Dann gibt es vier verschiedene Klassen, in jeder männliche und weibliche. Jeder Geist hat seine besondere Farbe oder ein sonstiges Symbol, seine Kleidung, seinen Schmuck, sein Element und seine Zeremo­ nien. Da sind einmal die Wassergeister, deren Schutzherr Sidi Biläl ist, ein Zeitgenosse des Propheten, der erste Neger, der Muslim 40

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Beschwörung

Berber

wurde. Für die Wassergeister trägt man beim Tanzen grüne oder blaue Schleier, die symbolisch das Wasser andeuten sollen. Ihnen werden Hühner geopfert sowie Bohnen und Erbsen gekocht. In Algier wird auch ein Reis-Tanz aufgeführt. Die zweite Kategorie, die Feuergeister, werden von Sidi Hammu angeführt, mit Zangari Mama. Die Tänzer tragen symbolisch rote Kleider und zwei Messer. Die dritte Kategorie bilden die Erdgeister mit Baba Merzüg, Sidi 'Ali und Mozo. Diese Geister zeigen Beziehungen zum Geld. Ihre Farbe ist schwarz, doch tanzt man in Algier auch in einer weißen Ghandüra. Aus dem Gebiet der Tuareg stammen die Geister aus Air, welche die vierte Kategorie bilden. Es sind das die Migzäwa (pl.). Sie haben keine bestimmte Farbe, wohl aber Federn als Attribut: alle Tänzer sind mit Federn geschmückt. Ein solcher Geist ist der Mikiri. Ihre Richtung ist der Westen, also gerade ent­ gegengesetzt der Gebetsrichtung der Mohammedaner. „Sie ver­ richten das Gebet verkehrt.“ Zur Waschung vor dem Gebet nehmen sie nicht Wasser, sondern Asche. Getrunken werden alkoholische Getränke (wenn auch mit Widerstreben, weil es gegen den Islam verstößt), es wird rohes Fleisch gegessen. Dieser Kategorie wird eine besondere Beziehung zur Jagd zugeschrieben. Um einen Begriff von der Vielfalt der Geister zu geben, seien hier nur einige aus Gabes (Tunesien) genannt: Sidi Merzüg, Sidi Gnäwa, Sidi Sa'd Susan, Sidi Faraz (alle schwarz gekleidet), dann Bu Hazba (genannt der „Friseur“, rot gekleidet), Sidi Mes'üd twil el-'üd (mit dem langen Holzpfahl), Sidi Sälah Farz Allah, Sidi Qäder, Sidi 'Abd-es-Släm (alle grün gekleidet), Sidi Mansür (gelb gekleidet), Sidi Ahmed, Sidi Ben 'Isa, Sidi Ben 'Ali (weiß gekleidet). Außerdem gibt es Yarima Kidi Yasini, Sidi Zatu, Rezgi Babori. Müsa Bahari ahmt im Tanz einen Schwimmer nach (ohne bestimmte Farbe). Die Mikiri sind mit Federn und Kauri-Muscheln geschmückt; Zingeri Baba hat viele Farben. Lalla Mariama liebt Süßigkeiten und ist schwarz, blau und gelb gekleidet. Sidi Zälu M'allem Serki und Baku tragen einen mohammed. Rosenkranz, rauchen Pfeife und lieben Alkohol. Im einzelnen gehen die Namen in die Hunderte. Viele Geister haben Brüder, Schwestern und bilden ganze Familien. Sie wohnen in Bergen, Felsen, Quellen, Bäumen, Flüssen, doch nie in Moscheen oder auf dem Markt. Sie haben ganze „Städte“ wie z. B. im Gebirge bei Ghat (Sahara), wo das „Geisterschloß“ (qsar el-znün) liegt, und wo sie mit ihren Familien und Herden leben. Auch wohnen sie in einer Art Unterwelt, unter den Menschen. Bei den Feiern spielt ein Orchester. Die eisernen Kastagnetten (qräqe.b) sind von Sidi Biläl erfunden worden. Eine Gitarre ist der girnbri, tabl ist eine Trommel, wozu noch die ganga, „große Trom-

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Berber

Ceres

mel“, kommen kann. Kubru ist eine längliche Gitarre, diarka eine zylindrische Violine. Wie das Blut des Opfertieres (Stier, Widder, Hahn usw.) von den Geistern aufgeleckt wird, werden sieben Arten Parfums verbrannt, außerdem Mischungen von Räucherwerk. Es werden große Kerzen entzündet. Jeder Geist hat seine Lieder und Melodien, auf die er „reagiert“. Der Tanz ist aufregend und anstrengend; von Zeit zu Zeit werden Pausen eingeschaltet, wo man plaudert, raucht und Tee trinkt. Es gibt unzählige Zeremonien, Die Besessenen tragen bestimmte Kleider und Schmuckstücke, wodurch der Geist befriedigt wird1. In Ägypten spricht der Geist bei Verzückten auch mit fremder Stimme (z. B. bei einem jungen Mädchen mit tiefer Männerstimme) und verlangt Kleider, Ringe, Schmuck. Oft muß die Frau einmal in der Woche allein, d. h. ohne ihren Mann schlafen, damit der Geist sie besucht. Da er jedoch keinen Körper besitzt, besteht kein Grund zur Eifersucht. Dafür macht die Frau besonders sorgfältig Toilette. Lehnte die Frau den Incubus ab, so würde sie erkranken und sterben2. Die Symbiose zwischen Berbern und Negern läßt sich bis in die Prähistorie zurückverfolgen, und es erscheint daher berechtigt, die Rolle der Neger bei solchen Festen schon in diese frühe Zeit zu ver­ legen. Für die Antike ist allerdings nicht mit der gleichen Ver­ teilung der Bevölkerung zu rechnen wie heute; die Grenze zwischen Weiß und Schwarz war damals schärfer gezogen und im Norden scheint es damals keine Neger gegeben zu haben. -> Gnäwi.

1 V. Paques, L’arbre cosmique. Paris 1964. S. 548—611. nahmen des Verfassers aus Ägypten.

2 Eigene Auf­

Besessenheit -> Beschwörung. Bestattung. Die Nasamonen sollen ihre Toten (auch) dem Meer übergeben haben1. —>■ Gräber; Grabstelen; Seele; Toten -

1 Silius Italicus, XIII, 480 (De bello punico. Ed. Ruperti et Lemaire, Paris 1823). Brunnen —> Einleitung S. 571, 578 oben; Quellen, heilige; Wasser­ geister.

Ceres. Neben der Erntegöttin C., die unzweifelhaft römischen Ur­ sprungs ist, stehen in Nordafrika auch die Cereres (pl.). Ihr Kult wird in Ajrica vetus nur selten genannt; es gibt hier etwa ein halbes Dutzend Kultstätten. Dagegen blüht ihr Kult in Africa nova, dem alten Reich Masinissas. Es gibt verschiedene Arten dieser Göt­ tinnen. Inschriften aus Vaga und Cuicul nennen die Ceres graeca 40*

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Christliche Einflüsse

Berber

oder Cereres graecae; eine Ceres africana wird bei Tertullian erwähnt; es scheint sieh hier um einheimische Göttinnen zu handeln, die unter fremdem Namen ans Tageslicht kommen. Eine Grabinschrift in Mactar nennt die Priesterin der Cereres punicae und eine andere aus der Umgebung Tebessas ruft die Ceres maurusia, also die „maurische“ C. an. Häufig stehen zwei Cereres neben Pluto als „Früchtebringer“ (Frugifer); vielleicht hat der ungedeutete Bei­ name Variccala etwas mit dieser Erscheinungsform zu tun. Bei Kasserine erscheint C. mit Jupiter (Cereri et lovi omnipotenti). In Bulla Regia war C. neben -> Apollo und Äskulap eine der drei Stadtgötter, die dei Augusti hießen; möglicherweise handelt es sich hier um die alte punische Triade Baal -> Hammon, Thinit und Eschmun. -> Einleitung S. 586 ff.

Picard, Religions, S. 87 — 88.

Christliche Einflüsse. Es ist erstaunlich, wie wenig Spuren das Christen­ tum in Nordafrika hinterlassen hat. Die meisten Zeichen und Symbole, denen christlicher Ursprung zugeschrieben wurde, haben damit überhaupt nichts zu tun (z. B. das Kreuz vorne am Sattel der Tuareg, der Fisch als glückbringendes Zeichen, tatauierte Kreuze usw.). Unzweifelhaft christlich ist jedoch der Ausdruck tafaska, der ursprünglich das Osterfest bezeichnete (herb. Artikel ta + lat. pascha, gesprochen paska) und heute allgemein „Fest“ oder „Opfer­ tier“ (als Erinnerung an das Osterlamm) bedeutet, sowie tuäreg abekkad „Sünde“ (aus lat. peccatum, mit dem maskulinen Artikel a und *pekkat). Tuäreg angelus „Engel“, übertragen „Jüngling“ kommt von lat. angelus. Christlich ist auch der Name des Marienkäfers bei den Schilh in Marokko; er heißt JUrim yigran „Maria von den Feldern“ und ent­ spricht unserer Bezeichnung „Marienkäfer“. Es ist kaum denkbar, daß das Tier erst in mohammedanischer Zeit nach Maria (arab. AJaryam) benannt worden ist. So erscheint Mrim yigran als Über­ setzung einer älteren (wohl lat.) Form1. -> Vater. 1 Emile Destaing, Dietionnaire franjais-tachelhit. Paris 1938. Sub: coceinelle.

Dämonen. Bei den Tuäreg ist im Hoggar alhin „der böse Geist, der bei den Menschen in irdischen Dingen Schaden stiftet, aber nie jemanden in Versuchung führt“. Es ist dies nichts anderes als die lautgesetzliche Entsprechung des arab. al-zinn „der Djinn“. Damit werden Geister bezeichnet, die vorzugsweise nachts erscheinen und die Menschen schrecken. Sie haben glühende Augen und wachsen

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Berber

Drache

schnell empor, bis sie die Größe einer Palme erreicht haben, um dann wieder kleiner zu werden. Sie verfolgen den Wanderer in der Nacht, der sich ihrer entledigen kann, wenn er ein Stück Eisen ergreift oder einen frommen Spruch ausstößt. Auch werden unter­ irdische Schätze von solchen Geistern bewacht. Andere Bezeich­ nungen für D. sind bei den Tuareg amdun (ein einheimisches Wort), agg asuf „Sohn der Einöde“, agg ämädal „Erdsohn“, agg ehöd „Nachtsohn“, u teuere „Sohn der Wüstenebene“. Ihnen steht der islamische Teufel (iblis oder essitän) als der „Versucher“ gegenüber. ->Beschwörung; Geister; Hagüza; Hirguan; Höhlen; Kandischa; Wind; Zauber und Zauberer. C. de Foucauld, S. 68, 518, 1010, 1162. 1444.

Dii Mauri -> Maurische Götter. Dii (s)uperi inferique. Auf einer Inschrift werden die „oberen und unteren (d.i. wohl unterirdischen) Götter“ genannt. —> Gottesnamen (a. E.); Unterirdische Götter. CIL VIII 12505 bis.

Dionysius (Herakles). Eine berberische Göttersage könnte sich in der Geschichte von D. erhalten haben, der die Wüste durchquert und, von Durst gequält, seinen Vater Zeus-Ammon anruft. Dieser sendet einen Widder, der ein Wasserloch im Sande gräbt und D. errettet1. -> Herakles.

1 Scrvius. Comment. ad Vergilb Aen. IV, 196.

Doppelwesen. In Felszeichnungen finden sich zuweilen Darstellungen von Wesen, die spiegelbildartig aus zwei Tierhälften gebildet sind. So kennen wir zwei Rindervorderteile, stehend und zusammen­ gewachsen, von Sefar (Tassili n Azger); zwei unidentifizierte Tiere, vielleicht Giraffen von Tin Tasarift (ebenfalls Tassili n Azger); ferner ein Doppelrind von Bedjudj im Fezzän1. Es liegt hier eine religiöse Vorstellung vor, die sich bei den Ägyptern wiederfindet; dort wird der Erdgott oder die Erde selbst (Akeru, konsonantisch ’krw) in der Schrift mit einem Wesen determiniert, das aus zwei Löwenvorder­ teilen gebildet ist2. 1 U. Paradisi, La doppia protome di toro nell’arte rupestre sahariana e nella tavolozza predinastica egiziana della caccia al Ieone. Aegyptus, Milano 1964. Paul Huard, Recherehes sur les traits culturcls des Chasseurs anciens du Sahara centre-oriental et du Nil. Revue d’Ägyptologie 17, 1965, S. 21 — 80. 2 R. 0. Faulkner, Concise Dictionary of Middle Egyptian. Oxford 1962, S. 6.

Drache. Es ist nicht sicher, was man sich unter dem „erhabenen Drachen“ vorstellen soll, der auf Inschriften aus Henchir el-Matria

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Drogen

Berber

und Ain Goulea (Draconi Augusto) genannt wird1. In Tipasa ver­ ehrten die Heiden auf dem Tempelhügel eine Schlange aus Bronze mit vergoldetem Kopf. St. Salsa warf sie im 5. Jh. ins Meer, wofür sie den Märtyrertod erlitt2. -> Siebenköpfiger Drache.

1 CIL VIII 15247 und CIL VIII 15378. 2 Gsell, Reeherches archaeologiques, S. 1-3.

Drogen und magisch wirkende Substanzen. Bei den Berbern spielen diese eine ebenso bedeutende Rolle wie bei den Arabern. Parfüme, Harze, Drogen, Räucherwerk und andere Zaubcrmittel dienen gleicherweise dazu, Geister anzulocken oder sie zu vertreiben, den bösen Blick unschädlich zu machen, als Vorbeugungsmittel sowie als Arznei. Es ist aber heute nicht immer zu entscheiden, ob die Verwendung der einen oder anderen Substanz ursprünglich berb. war oder ob ägypt., pun., griech.-röm., jüdische oder arab. Ein­ flüsse vorliegen. Die zum Großteil arab. Nomenklatur kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Verwendung mancher Drogen älter ist als die arab. Invasion. Die folgenden Drogen sind bei den Tuäreg in Gebrauch1. Zawi „Benzoe“ (frz. benjoin), eig. Harz aus „Java“, wird in Tamanrasset in schwärzlichen, weißgefleckten Blöcken gekauft; der Kranke trinkt den gestoßenen ¿äwi, in Wasser aufgelöst, gegen Kopf­ schmerzen, Lungen- und Leberleiden sowie gegen böse Geister. „Sudanesisches“ oder „schwarzes Räucherwerk“ (bahür akhel, bahür es-Südän), ein teerartiger, schwarzer Teig, dient als Arznei besonders gegen Schlaflosigkeit und böse Geister. „Bdellium“ oder Gummi des Balsamodendron africanum, tuäreg t6gangert (Hoggar) oder tugelbas (Air), entspricht unserem Geigenharz oder Kolopho­ nium. Es wird zur Besänftigung nach Streitigkeiten oder Zornes­ ausbrüchen sowie zum Schutz gegen böse Geister gekaut. Muskat­ nuß (arab. tamret tib), oft mit Rosen- und Pelargonienblättern ge­ mischt, ist ein Reinigungsmittel; sie verjagt böse Geister und nimmt den gewaschenen Kleidern den „Wassergeruch“; man ver­ brennt sie auch nach einem Todesfall, montags und freitags beim Totenbesuch auf dem Friedhof, und Tänzerinnen ziehen ihren wohlriechenden Rauch genußvoll ein. Als weitere Mittel seien ge­ nannt Gewürznelken, die wohlriechende Wurzel der Corrigiola telephiifolia Pourr. (sergina), Mastix, Safran, Moschus sowie indische Narde. —>Zauber; Toten-. Marceau Gast, Usages des encens et parfums en Ahaggar. Libyca XVI, Alger 1968, S. 181-184.

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Berber

Ernte

Eid. Die -» Nasamonen schworen bei jenen Verstorbenen, die ihnen als die gerechtesten und besten galten, indem sie deren Gräber be­

rührten1. Die Kanarier von Teneriffa schwuren bei Echeyde (der -»„Hölle“), was wahrscheinlich das gleiche Wort wie die Bezeichnung des Vulkans Pico de Teyde ist (Wechsel ch, phon. c mit t). In der „Hölle“2 wohnt der „Geist des Bösen“, Guayota. (-»Königskult.) Die Bewohner von Gran Canaria schwuren bei den Bergen Tirma und Umiaya3; diese Eide galten als unverbrüchlich. Mit dem Einzug des Islams hat eine wahre Flut arabischer Beteuerungs- und Schwurformeln Einzug gehalten. Bei den nichtigsten Anlässen wird Allah, der Prophet und andere Heilige angerufen. Daneben steht aber auch, rein berberisch, der -» Schwur bei anderen Dingen, vor allem bei Nahrungsmitteln. -» Atlas. 1 Herodot IV, 172. 2 Barker-Webb et S. Berthelot, lies Canaries, 1,1, S. 173. 3 Ebendort, S. 169.

Eingeweideschau. Ein Erbe aus dem Altertum ist die Eingeweide­ schau bei den Schilh von Aglu und Amanuz mit den Därmen des Opfertieres, das zum Großen Fest — also einer Feier des moham­ medanischen Mondjahres — am 10. Dü-l-Hizza geschlachtet wird. Ist nur der vordere Teil der Därme voll, so regnet es in der Pflugzeit, doch die Ernte fällt schlecht aus. Ist dagegen der rückwärtige Teil voll, dann regnet es im Frühling und es gibt ein gutes Jahr. Sind die Därme jedoch zur Gänze voll, so verheißt dies reichen Überfluß. E. Westermarck, Ritual and Relief, II, S. 127 — 128.

Eranoranhan. Bei den Kanariern der Insel Hierro Schutzherr der Männer, dem die Göttin —»Moneiba (auch Moreiba) als Schutz­ herrin der Frauen gegenüberstand. Beide hatten ihren Sitz in zwei Felsen, die heute Santillos de los Antiguos heißen. Bei Trockenheit versammelten sich Männer und Frauen um ihre Schutzgottheiten; sie beteten um Regen und Glück und stießen dabei laute Schreie der Verzweiflung aus. Kam am dritten Tage kein Regen, so be­ diente man sich der Vermittlung des heiligen Schweines -» Aranfaibo. Aranfaibo; Regenzauber. Barker-Webb et S. Berthelot, Histoire I, 1, S. 168.

Ernte. Bei den Mtugga (Marokko) werden die Schnitter vom Besitzer des Feldes angeführt, vom „König“ (agellid). Neben ihm steht sein Sohn, der „Nachfolger“ (Ihlifa). Der König hat das Privileg, die

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Erschaffung des Menschen

Berber

erste Garbe zu schneiden, die sogleich nach Hause getragen wird. Er weist dann den anderen Schnittern ihren Teil am Felde zu. Wenn das Feld fast vollständig abgemäht ist und nur noch Getreide für eine einzige Garbe steht, nähert sich der König und macht eine Bewegung, als ob er es schneiden wollte. In diesem Augenblick werfen sich die Schnitter auf ihn, binden ihn mit einem Turban und schleppen ihn zur Moschee, wo ihn eine Menschenmenge er­ wartet. Alles schweigt. Die Schnitter verlassen die Moschee, während der König mit dem Talib („Vorbeter“, eigentlich „Student“) mit leiser Stimme die Bedingungen aushandelt, unter denen er frei­ gelassen wird. Er muß den Schnittern ein Festmahl geben, einige Töpfe Honig, Butter und einige Hammel.

Laoust interpretiert diese Sitte wie folgt: Der Geist des Feldes und die „Gnade“ befinden sich in der letzten Garbe (tagottit yiger „Schopf des Feldes“). Weil der König Anstalten machte, diese zu berühren, muß er sich loskaufen. Vielleicht wurde er in alter Zeit tatsächlich getötet, weil dies notwendig schien, damit das Feld auch im kommenden Jahr Frucht bringe. Es ist auch möglich, daß man die Tötung nur mimte. Auf jeden Fall mußte der König mit dem Hüter des Heiligtums (heute: der Moschee) um sein Lösegeld verhandeln. Die Halme des „Schopfes des Feldes“ gelten als heilig (tigurramin). Deshalb werden sie auch feierlich geschnitten. Der Nachfolger er­ scheint um drei Uhr nachmittags im Zustande körperlicher Rein­ heit. Seine Frau besprengt die Halme mit Henna. Er schneidet die Halme, indem er das Glaubensbekenntnis rezitiert („Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet“), wie man es auch beim Leichenzug tut. Der Nachfolger ißt nun sieben Tage lang eine Speise, die aus den Körnern der letzten Garbe zubereitet ist (tummit oder akerko); das Stroh wird in die Silos zuunterst geworfen, damit sich das Getreide darinnen bis zum nächsten Jahre wohl bewahre1. ->Mäta.

1 Laoust, Mots et choses, S. 371 — 374. Westermarck: Ritual and Belief. l'arüsa de Ifeddän, Ait Ubahti: taslit n yiyer). Bei den Ait Yusi (Marokko) singt eine Gruppe Schnitter: müt, müt ya jeddän müt „Stirb, stirb, o Feld stirb!“ Das ist der „Tod des Feldes“.

Erschaffung des Menschen. Ein spanischer Autor, A. Bernaldcz, be­ richtet Ende des 15. Jh„ Greise von Gran Canaria hätten auf Befra­ gung ihm erklärt: „Unsere Vorfahren haben uns berichtet, daß uns Gott auf diese Insel gesetzt hat. Hier hat er uns vergessen. Aber von Osten her wird das Licht kommen, das uns erleuchten soll.“ Nach einer anderen altkanarischen Tradition, die P. Espinosa mitteilt, hatte Gott zu Anbeginn mehrere Männer und Frauen aus Erde

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Berber

Esel

und Wasser geschaffen. Demnach stammten die Menschen also nicht von einem einzigen Paar ab1. Moderne Kabylen erzählen, daß die ersten Menschen nicht auf, sondern unter der Erde gelebt hätten. Es gab anfangs nur einen Mann und eine Frau. Diese hatten nach und nach 50 Söhne und 50 Töchter. Die Eltern wußten mit ihnen nichts anzufangen und sandten sie fort. Die Mädchen zogen nach Norden, bis sie an einen Ort kamen, der licht war: dort hatte die Erde ein Loch und man sah unten von der Höhle aus den Himmel. Die Burschen waren nach Osten gezogen und auch sie kamen zu einer solchen Stelle, an der das Licht des Himmels sichtbar war. Nun stiegen sowohl die Mädchen als auch die jungen Männer zur Erdoberfläche hinauf. Die Mädchen fragten die Bäume, Kräuter und Steine, die damals alle sprachbegabt waren, wer sie geschaffen hätte, und diese ant­ worteten, daß die Erde sie gemacht habe. Die Mädchen fragten auch den Mond und die Sterne, doch die waren so weit entfernt, daß sie das Rufen und Schreien nicht hörten. Eines Tages trafen die Mädchen und die Jünglinge zusammen, doch war zwischen ihnen ein breiter Fluß. Sie gingen nun alle flußaufwärts, bis sie ein­ ander trafen. Die Burschen bauten Häuser oder Höhlenwohnungen und jeder von ihnen nahm ein Mädchen zur Frau. Nur ein Jüng­ ling und ein Mädchen wollten nicht gesittet in einer Wohnung leben, sondern zogen in die Wildnis. Er wurde ein Menschen­ fresser — ein Izem — und sie eine Hexe — eine Teriel —, welche Menschen raubten, um sie zu verschlingen2. —> Izerzer. 1 Barker-Webb et S. Berthelot I, 1, S. 177f. 2 Leo Frobenius, Volksmärchen der Kabylen, I. Band: Weisheit, Stuttgart 1921, S. 55—60. Frobenius über­ setzt izem richtig mit „Löwe“ und Teriel mit „Hexe“. Ich habe mir erlaubt, für Izem „Menschenfresser“ einzusetzen, was bei einem Unhold in mensch­ licher Gestalt besser zu passen scheint.

Esel. Den charidschitischen (puritanischen) Berbern von Wargla (Süd­ algerien) wird von ihren sunnitischen (orthodoxen) Glaubens­ brüdern der Brauch zugeschrieben, einmal im Jahr Eselsfleisch zu essen. Der Esel, der am Geburtstag ihres Stammvaters geschlachtet wird, bekommt ein Jahr lang nur Getreide zu fressen und darf keine Arbeit leisten, damit er fett wird. Jeder der Anwesenden bekommt ein Stückchen Eselsfleisch, ja man schickt ein solches auch Abwesenden, selbst wenn sie in Frankreich leben. Die Ver­ teilung findet in Sedrata auf einem bestimmten Platz statt; dabei werden Flintenschüsse abgefeuert. M. Jardon, Ouargla I. Fichier de documentation berbère. Fort National 1970, S. 155-156.

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Esequenes

Berber

Esequenes. Ñames eines —>■ Tempels auf der Insel Fuerteventura (Ka­ naren), in dem ein -> Götterbild in Menschengestalt verehrt wurde. Daneben kommt auch die Schreibung fquenes (fehlerhaft) vor1. Das Wort gehört zu kabylisch tazeqqa „steinernes Haus“, pl. tizegwin2, tuareg tahaqqa „kleines Vorratshaus“, pl. tihegwm2, bzw. einer maskulinen Form izegwän (pl.).

1 Barker-Webb et S. Berthelot, Les Iles Canaries 1,1, S. 167. Wölfel, Torriani, S. 186. Vycichl, Introducción, S. 182. 2 S. A. Boulifa, Méthode de langue kabyle. Cours de deuxième année. Alger 1913. S. 530. 3 de Foucauld, Dictionnaire abrégé touareg-français. Alger 1918, Vol. I, S. 451.

Fabelwesen -^-Dämonen; Nacht; Tiere. Feigenbaum. In alter Zeit war der F. (tamessit, f.) ein Richter. Eines Tages bedroht ihn ein Mann, der von ihm verurteilt worden war, mit einer Hacke. Da sprach der Baum : „Die Stunde des Schweigens ist gekommen. Wer die Wahrheit sagt, wird umkommen.“ Seit diesem Tage ist der Feigenbaum stumm1. Es ist möglich, daß hier die Erinnerung an einen alten Baumgott zugrunde liegt.

Baumkult. 1 A. Moulieras, Les Beni Isguen, Oran 1895, S. 46—47.

Felfel. Ein anonymer arabischer Autor des 12. Jh. berichtet von einem Berge namens Felfel in der Sahara, auf dem sich zahlreiche ver­ lassene Städte befanden. Die Einwohner sollen sie der —> „Geister“ wegen verlassen haben. Nachts sah man deren Feuer und hörte ihr Pfeifen und ihren Gesang1. Der Berg konnte nicht identifiziert werden.

1 Bei A. Basset, Religion, S. 4. A. de Kremer, Description de l’Afrique. Vienne 1852, S. 69.

Felsbilder —> Einleitung S. 584ff.; Ammon; Jagdzauber; Schakal; Widder.

Feste —> Abora ; 'Aschüra ; Athene ; Eingeweideschau ; Ernte ; Gnäwi ; Hagüza; Heirat und Hochzeit; Kämpfe; Karneval; Katzenopfer; Königskult; Nacht des Irrtums; Schemharüdsch; Unzüchtige Lieder; Wasser; Widder.

Fisch. Heute gilt der F. in Nordafrika als glückbringend. Sein Zeichen schützt vor dem bösen Blick. In Tunis wird häufig ein F. zwischen zwei Händen — das Zeichen heißt yidd Fatma, mit eng anliegen­ den Fingern — auf die Vorderseite von Wagen gemalt. Der F. ist auch ein Symbol der Fruchtbarkeit. Als Glückszeichen ist er schon in römischer Zeit bekannt und wurde in christlicher Zeit (IX0YZ, die griech. Anfangsbuchstaben von „Jesus Christus, Gottes Sohn, 622

Berber

Genius

Retter“) wohl nur im neuen Sinne umgedeutet. -> Christliche Ein­ flüsse. Picard, Religions, S. 12.

Frau. Daß die F. der eigentliche Mittelpunkt der berb. Familie ist, spiegelt sich auch in der Sprache. „Mein Bruder“ heißt im Schilhischen (Südwest-Marokko) gu-ma, wörtlich „Sohn meiner Mutter“ und „meine Schwester“ heißt ult-ma „Tochter meiner Mutter“. Alle Berbersprachen kennen diese Ausdrucksweise, zum Teil auch mit anderen Wörtern für „Sohn“ und „Tochter“. Hier hat sich augenscheinlich ein älterer Zustand erhalten als derjenige bei den vaterrechtlich orientierten Semiten. -> Moneiba; Neith; Fruchtbarkeitsriten; Nasamonen; Prophetin­ nen ; Ulad Näjil; Witwe; Zukunftsdeutung.

FruchtbarkeitsritenAschüra; Baumkult; Fisch; Nacht des Glücks; Nacht des Irrtums; Quellen, heilige; Steine, heilige. Garoe. Heiliger Baum auf der Insel Hierro (Kanaren). Dieser Baum wurde von den alten Kanariern verehrt. Es handelt sich um eine Oreodaphne foetens Nees, spanisch til, was aber nicht mit tilia

„Linde“ wiederzugeben ist. -> Baumkult. Max Steffen, Rivista de Historia X, 1944, S. 39—45 und XI, 1945. S. 134 bis 140. Auch Vycichl, Introducción, S. 150.

Geister -> Beschwörung; Einleitung S. 587f.; Dämonen; Drogen; Felfel; Höhlen; Nachmittag; Quellen; Rabe; Regenzauber; Schätze, vergrabene; Tiere; Träume,; Wechselbalg; Wind; Windsbraut; Zauber. Genius oder „Geist“. In zahlreichen Inschriften der Römerzeit wird

der Genius oder das -> Numen eines Ortes, eines Gewässers oder Stammes genannt. In den allermeisten Fällen wird man sich dar­ unter einheimische Lokalgötter der verschiedensten Art vorzu­ stellen haben. Im folgenden seien einige dieser Genien genannt:

a) Genien von bestimmten Orten: Genius der civitas Celtianensium, bei den Beni Oulbän (CIL VIII 19688); G. von Gadimefala (sonst unbekannt) (CIL VIII, 18752); G. der Kolonie Julia Veneria Chirtae novae bei Henchir Djezza (CIL VIII 16367); G. von Lambaesis, heute Lámbese (CIL VIII 2528, 2596, 2599); G. des oppidum Lamsortense (CIL VIII 18596); G. von Mactar (CIL VIII 6352); G. von Phua (CIL VIII 6267); G. von Rusicade {Genio coloniae Veneriae Rusicadae Augustae), heute Skikda (CIL VIII 7959, 7960); G. von Subzavar 623

Gerza

Berber (CIL VIII 6001); G. von Thibar bei Henchir Amamet (CIL VIII 15345).

In manchen Fällen ist einfach der „Gau“ oder der „Weiler“ genannt: Genius des Gaues (Genio pagi Augusto) bei Sour Djouab (CIL VIII 9196); G. des Weilers (Genio vici Augusto) bei Marcouna (CIL VIII 424).

b) Genien von Flüssen oder Gewässern : Genius des alexandrinischen Wassers Alexandriana (CIL VIII 2662); G. des Amsaga (Name eines Flusses) (CIL VIII 5884); G. der Quelle (Genio fontis) (CIL VIII 4291); G. des Flusses (Genio fluminis) am Flusse Sig (CIL VIII 9749). c) Genien von Stämmen: Genius des Volkes von Cuicul (Genius populi Cuiculitani) beim heutigen Ort Djemila (CIL VIII 20144); G . des Volkes von Cuicul, bei Ain Zana (CIL VIII 4575).

d) In anderen Fällen tragen die Genien Beinamen: der „unbesiegte“ Genius von Ksar Gourai nahe Tebessa (CIL VIII 1843); Genius Auzius (Genio Auzio) in einer Inschrift von Bordj Hamza (CIL VIII 9014); Genius arcae frumentariae bei Uzeli (CIL VIII 6639). Es kommt auch vor, daß der G. eine bestimmte röm. (oder pun.) Gottheit ist. So wird Saturn im 3. Jh. Genius saltus Sorothensis, G. des sorothischen Waldes, genannt (Gsell, Chronique archaeologique africaine, Rome 1899, S. 40) und der G. „des Getreidekastens“ von Uzeli ist kein anderer als Iuppiter. —> Götternamen.

R. Basset, Religion S. 9—11; Picard, Religions.

Gerza. El-Bekri, ein arabischer Geograph aus dem 11. Jh., berichtet von einem Idol namens G. halbwegs zwischen Qasr Ibn Maimün und Weddän in Tripolitanien. Es war dies ein Steinbild, das sich auf einem Hügel erhob. Die Berber brachten ihm noch zu ElBekri’s Zeiten Opfer dar und beteten zu ihm, um Heilung von ihren Krankheiten zu erlangen. Außerdem schrieben sie ihm die Fähig­ keit zu, ihre Reichtümer zu vermehren1. —> Götterbilder; Beja.

1 El-Bekri, 32 — 33. In der Ausgabe von Slane findet sich die Angabe, daß Gerza (französisch: Guerza) auf den heutigen Karten zwischen Tripolis und Weddan liege. Der britische Kapitän W. H. Smyth erwähnt, daß er 1818 dort einige antike Gräber in grober Arbeit gesehen habe. Die Säulen, ohne

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Berber

Gott des Himmels

Proportion, trugen höchst schwere (wohl: überladene) Kapitale. Die Figuren stellten Krieger, Jäger, Kamele, Pferde und andere Tiere dar. Bei manchen Figuren war der Mangel an Schamgefühl bemerkenswert. Vom Götterbild selbst erzählt Smyth nichts. Es wird damals schon von den Mohammedanern vernichtet worden sein. Daß Gerza mit dem von Corippus überlieferten berberischen Gott —> Gurzil zusammenhängt, erscheint philologisch nicht möglich. Gnäwi, pl. Gnäwa. Dieser Ausdruck bezeichnet im marokkanischen Arabisch einen Neger, vermutlich ursprünglich einen Bewohner von Guinea, und zwar einen Exorzisten, der nicht nur Be­ schwörungen von Geistern vornimmt, sondern diese tatsächlich an­ betet und ihnen Opfer darbringt; dies alles, obwohl die Gnäwa Muslims sind1. In Tetuän findet an einem mohammedanischen Feiertag in der Mitte des Monats Scha'bän ein derartiges Opferfest statt. Es werden dort ein schwarzer Stier und andere Tiere ge­ schlachtet; dabei trinkt der Opfernde das warme Blut direkt aus der Wunde an der Kehle, was zu den Satzungen des Islams in Widerspruch steht.

1 Westermarck, I, S. 379—380: not only exorcists, they are actual jennworshippers. Gott. Höchstes Wesen. Auf der Insel Teneriffa verehrten die Guanchen Gott unter dem Namen Achaman. Er wurde auch Achguayaxiraxi „Erhalter der Welt“, Achahuraran der „Große“, Achicanac der „Höchste“, Achguarergenan „der alles hält“, Arguaychafunataman „der den Himmel und die Erde hält“ genannt. Wie auf Gran Canaria hieß er auch ~>Acoran und trug den Titel Mencey „König“1.

1 Barker-Webb et S. Berthelot, I, 1, lies Canaries, S. 172—173. Diese Namen erscheinen in mehreren graphischen Varianten. Die Übersetzung ist durch zeitgenössische spanische Autoren gegeben. Achaman wird man in Atguaychafunataman erkennen, weil ch und i hier wechseln. Der letztere Ausdruck wird wohl heißen *ad wa yttafen ataman „der den Himmel hält“. Gott des Himmels. Eine punische Bezeichnung des -> Himmelsgottes findet sich bei El-Bekri in einem Ausspruch Hannibals (Anbil oder ähnlich): Als dieser bei der Belagerung Roms erfuhr, daß Schibiyün (Scipio) nach Afrika übergesetzt sei und Karthago bedrohe, erklärte er, er habe gehofft, mit der Belagerung Roms selbst den Namen der Römer von dieser Welt verschwinden zu lassen, doch nun glaube er, daß „der Gott des Himmels“ (Iläh es-sama) dies nicht erlauben werde1. Der Übersetzer de Slane fragt sich, ob El-Bekri Kenntnis von der Stelle bei Augustinus gehabt habe, der den punischen Aus­ druck Bahamern mit „Herr des Himmels“ übersetzt2. 1 Abou-Obeid El-Bekri: Description de l’Afrique Septentrionale. Trad. par Mac Guckin de Slane. Paris 1965, S. 92. 2 Ebendort, Fußnote 2: „Baal

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Götterbilder, Götzendienst

Berber

punice videtur dicere Dominum, unde Balsamen quod Dominum eoeli (Quest. in lib. Jud.).“

Götterbilder, Götzendienst. In den Augen der Christen und Mohamme­ daner war die Verehrung von Göttern natürlich „Götzendienst“. Daß die Berber „Götzen“, d. h. Götterbilder besaßen, darf als sicher gelten, obwohl kein einziges davon auf uns gekommen ist. Portugiesische Seefahrer sandten 1341 ein Götterbild der alten Kanarier nach Lissabon, das einen nackten Mann mit einer Kugel in der Hand darstellte. Nach der Eroberung von Gran Canaria wurde eine Anzahl Kanarier nach Sevilla gebracht, die noch im Exil Götzendienst trieben. Der König von Spanien richtete 1485 eine Botschaft an den Alcalde mayor, in welcher dieser aufgefordert wurde zu verhindern, daß die Kanarier weiterhin ihren heidnischen Sitten anhingen1. Duveyrier berichtet von einem Orte namens AlAsnäm („die Götzenbilder“) in der Nähe von Ghadames, wo die Frauen der Tuareg die Nacht in ihren schönsten Kleidern ver­ brachten, um von den dort begrabenen vorzeitlichen Izabbären zu­ kunftsdeutende —>Träume zu empfangen2. Es ist aber nicht sicher, ob asnäm hier menschen- oder tiergestaltige Götter bezeichnete oder ob nur Säulen oder Stelen Gegenstand besonderer Verehrung waren. Auf der Insel Masfehän (Kanarische Inseln) stand, nach Al-Idrisi3, ein „rotes Götzenbild“ (sanam asfar), errichtet von As'ad Abu Qärib el-Himyari, um Seefahrern anzuzeigen, daß es „dort“ (d.h. weiter im Westen) kein Land mehr gab. Der gleiche Autor AlIdrisi berichtet, daß ein Tobba'4 namens Dul-Merätid auf der Insel Lägüs (wohl Gran Canaria) einen Tempel „aus Marmor und buntem Glas“ errichtet hatte, in dem er dann begraben wurde.

Von „sieben Götterbildern in Menschengestalt“ (sab'at asnäm 'alä ’ämtäl al- ädamiyin), die auf den sieben Kanarischen Inseln verehrt

wurden, berichtet Al-Maqqari6. In byzantinischer Zeit gab es (in Tripolis) Götterbilder aus Holz oder Metall, die den Gott ->Gurzil als Stier zeigten. —> Ammon; Beja; Esequenes; Grabstelen; Himmelsgott; Idol von Lägüs; Juno Caelestis; Labyrinth; Magifa.

1 Barker-Webb et S. Berthelot, lies Canaries, I, 1, S. 17. 2 Duveyrier, S. 415. 3 As-Sarif Al-Idrisi: Sifat al-Magrib. In Kitäb Nuzhat al-Mustäq. Leyden 1864, S. 28. 4 „König“ bei den Südarabem. So ziemlich alle alten Tra­ ditionen Nordafrikas werden in arabischer Zeit auf südarabische Könige zu­ rückgeführt. 6 AI-Maqqari, Analecta. Leyden 1885, 8. 104.

Götternamen. Eine Reihe von Schriften nennt Dii Mauri, —> „Mau­ rische Götter“; es sind Weihinschriften aus römischer Zeit. Tertullian nennt eine Varsutina dea Maurorum1. Bei Henchir Mektides

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Berber

Gottesnamen

nahe Tébessa werden fünf einheimische Götter genannt: Masiden, Thililua, Suggan, Iesdan und Masiddica. Des weiteren finden wir Mathamon bei El Kef, Monna bei Ain Tounga, Iocolon bei Sidi Youssef, Chalimax, Damion und Lillieus bei Madaurus, Cillenus und Montius bei Timgad, Motmanius bei Lambèse. In Tlemcen wird —>Aulisua genannt, —>Bacax in der Gegend von Guelma, Ifru im Osten von Constantine. Wir kennen von all diesen Gottheiten nur die Namen und erfahren nirgends etwas über ihre Natur. Und bei der Deutung der Namen lassen uns die modernen Berbersprachen im Stich. Man könnte z. B. vermuten, daß im Wortelement Mas- von Masiden und Masiddica das messi- „Herr“ des modernen Tuareg steckt. Lillieus könnte mit libysch „Wasser“ (bei Hesych) Zu­ sammenhängen, heute ilil (Qalaät es-Sened, Tunesien). Der Name Bonchor, der nach Février die Kurzform des punischen Namens BodMelqart „Diener des Melqart“ darstellt, könnte mit den Buccures, anderen maurischen Göttern, in Verbindung gebracht werden1. —^Béja; Himmelsgott; Magifa; Maurische Gottheiten; Punische Gottheiten; Römische Gottheiten. 1 Picard, Religions, S. 22—24.

Gottesnamen. Die Tuareg kennen eine Reihe von Bezeichnungen für „Gott“, die den 99 „schönen Namen“ Allahs ähneln, aber alle rein berberisch sind:

Amägdah „der sich selbst Genügende“, Amätkal „der Träger“, Amanai „der Sehende“, Amärag’ „der Spender“, Ameglul „der Ewige“, Amekkar „der Große“, Amekkered „der Allgewaltige“, Amezzeider „der Geduldige“, Amüder „der Lebendige“, Amüsen „der Allwissende“, Anähmar „der Geduldige“, Aneddabu „der Starke“, Asenneflai „der Geber“, Asennekelwa „der Spender“, Émeli „Besitzer“, Émeli-hin „mein Herr“, Émeli-neneg „unser Herr“, Émeli n man „Seelenherr“, Émeli n tanat „Herr des Rat­ schlusses“, Émeli n tnadin „Herr der Ratschlüsse“, Émeli n terna „Herr der Kraft“, Émeli n tgorad „Herr der Stärke“, Émeli n tigaut „Herr der Tat“, Émeli n unfas „Herr des Atmens“, Émerni „der Siegreiche“, Messi „mein Herr“, Messineg „unser Herr“1. Bei den Berbern von QaFat es-Sened (Tunesien) heißt Gott auch Ugunnez „der Obere“ im Gegensatz zu Ugedai „dem Teufel“ als dem „Unteren“. Im Djebel Nefusa gibt es einen Ausdruck Agellid Amekkran „großer König“ für „Gott“2. ->Dii (s)uperi inferique; Vater. 1 de Foucauld. 2 Dr. Provotelle, Étude sur la Tamazir’t ou Zenatia de Qalaät es-Sened. Paris 1911, S. 13.

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Gottesurteil

Berber

Gottesurteil. Wird ein Tuareg der Lüge bezichtigt, so kann er seine Unschuld durch ein Gottesurteil beweisen. Eine Axt (täzeft) wird ins Feuer gelegt, bis sie glüht. Dann muß der Beschuldigte daran lecken; verbrennt er sich, dann hat er gelogen, verbrennt er sich nicht, hat er die Wahrheit gesprochen1.

1 Le P. de Poucauld et A. de Calassanti-Motylinski: Textes Touareg en prose. Alger 1922. S. 128.

Grabmal, Gräber. Die altberb. Bestattungen zeigen zahlreiche For­ men. Es gibt in Fels gehauene G., vor allem in Tunesien an der N-Küste und beiChaouach naheMedjez el-Bab. Andere G. bestehen aus riesigen, vierkantigen Steinblöcken und erinnern an die euro­ päischen Dolmen; der Unterschied liegt darin, daß die berberischen Bauten jünger sind und sich zumindest in einigen Fällen in die Römerzeit datieren lassen. Eine derartige megalithische Grab­ anlage ist bei Mactar von Dr. Pauphilet freigelegt worden. Es handelt sich um eine Reihe von Zellen mit Vorräumen, die sich auf einen gepflasterten freien Platz öffneten, zu dem man auf Stufen hinaufstieg. Steinbänke in den Zellen und auf dem freien Platz dienten zur Aufnahme von Opfergaben in Tongefäßen, von Knochen, Lämpchen und roter Farbe. Die Anlage kann wegen des Vorkom­ mens von Töpfereien im Stile von Arezzo (Terra sigillata) in die Zeit von Tiberius oder Caligula datiert werden. Daneben gibt es runde, turmartige Bauten (süSa, pl. süsät) und pyramidenförmige Hügel, die über dem eigentlichen Grab errichtet wurden (arab. bazina). Während die megalithischen Bauten nur im Norden Vorkommen, findet man die turmartigen und pyramiden­ förmigen G. bis in die Sahara. Es handelt sich wohl um die Ur­ formen, aus denen sich die Djeddär im Süden von Oran entwickelt haben. Das Grab der Tin Hinan, das von Reygasse in Abalessa im Hoggar untersucht wurde, ist eine Art Festung mit zahlreichen Steinkammern, in dem das Skelett einer Königin inmitten reicher Beigaben ruhte. Tin Hinan bedeutet auch „die mit den Kammern“. Es soll sich um die Ahnfrau der heutigen Tuäreg handeln. Die An­ lage ist durch eine Münze aus der Zeit Konstantins datierbar1.

Das Mausoleum von Dougga und ähnliche Bauten der historischen Zeit sind sichtlich von punischen und griechischen Vorbildern in­ spiriert. Nach Herodot begruben die Libyer ihre Toten „wie die Griechen“, mit Ausnahme der Nasamonen2. Diese achteten darauf, daß der Sterbende sitzend seinen Geist aufgab, indem sie ihn auf­ recht hielten und nicht auf dem Rücken liegend sterben ließen. Die Toten scheinen auch in ihrem Grab nicht liegend, sondern sitzend

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Berber

Ha

bestattet worden zu sein, mit angezogenen Fersen, wie die heutigen Orientalen zu sitzen pflegen 3. Tatsächlich war es ein gemeinsamer Zug der altberberischen Be­ stattungen weit und breit, den Körper des Toten in Hockstellung — sitzend oder hegend — zu begraben4. Außerdem wurden die Knochen mit Ocker gefärbt und ein Vorrat von Ocker in Schnecken­ häusern ins Grab mitgegeben. Es scheint, als hätte man damit dem Toten ein Mittel mitgeben wollen, das wie das rote Blut ein belebendes Element darstellt5. Die Garamanten bestatteten ihre Toten angeblich nackt6. Auf der Insel Gran Canaria gab es drei Arten von Bestattungen. Neben der -> Mumifizierung wurden Edle auch in Gräbern bei­ gesetzt, über denen man eine Steinpyramide errichtete. Daneben gab es auch die Beisetzung in einem Sarg aus Fichtenholz, wobei der Kopf nach Norden zu liegen kam7. —> Einleitung S. 557 oben, 569 unten, 576 unten, 577 Mitte, 581 Mitte; Azabbar; Bestattung; Mumien; Rabe; Pyramiden; Seele; Tibarädin; Träume; Unsterblichkeit. 1 Picard, Les religions, S. 14—16. 2 Herodot IV, 190. 3 Rohlfs, Kufra, S. 269; Voinot, Bulletin de la Société de géographie d’Oran, 1908, S. 334 und 361. 4 G.-Ch. Picard, Les religions, S. 14—16. 8 G.-Ch. Picard, Eben­ dort, S. 18. 6 Silius Italicus, De bello púnico, XIII, 479. (Ed. Ruperti et Lemaire, Paris 1823.) ’ Wölfel, Torriani, S. 98—159. Vycichl, Introducción, S. 186.

Grabstelen. In der Gegend von Cherchell finden sich Grabstelen aus Holz, die an rohe Nachbildungen des menschlichen Körpers er­ innern. Der obere Teil, der dem menschlichen Kopf entspricht, ist oft mit geometrischen Motiven verziert. —-> Götterbilder ; Gräber.

M. Janon, Stèles funéraires en bois sculpté du Cherchel; Libyca XV, Alger 1967, S. 343—355. J.-P. Savary, Cimetières à stèles en bois taillé du Douar Sahel (sud-ouest de Marengo); Libyca XV, Alger 1967, S. 307—342.

Gurzil. Gott in Gestalt eines Stieres, von den Lawäta (Laguantan) in Tripolitanien verehrt, der nach Corippus (6. Jh.) von Ammon mit einer Kuh gezeugt war1. Im Kampfe wurde der Stier auf die Feinde losgelassen2. Es gab Stierbilder des G. aus Holz und Metall3. Als Priester des G. wird lerna genannt4. 1 Corippus, Ioannis II, 110—111. 2 Ebendort V, 22. 3 Ebendort IV, 666-673; V, 22-29; II, 404-406; V, 495-502. 4 Ebendort VI, 116. Siehe auch Henri Basset, S. 13.

Ha. Ägypt. Gott des 7. Gaues von Unterägypten im äußersten Westen des Deltas sowie libyscher Gott des anschließenden Gebietes. 41

629

Haguanran

Berber

Sein Name wird mit dem Bilde des Wüstengebirges geschrieben1, zuweilen auch zusätzlich mit der Feder als Zeichen des Westens und Libyens2. Er ist der „Herr des Westens“ und der „Herr der Libyer“; im Totenkult hält er den Hunger fern3. Diese letztere Funktion hat er wohl erlangt, weil den Ägyptern der Westen als das Totenreich galt. — Phonetisch HS. Wohl ein libyscher Gott, der von den Ägyptern übernommen wurde. Im ägyptischen Pan­ theon hat er keine „Verwandten“ und keine besondere Rolle. 1 Pyr. 1013. 2 K. Sethe, Urgeschichte und älteste Religion der Ägypter (Abh. für die Kunde des Morgenlandes, XVIII. Band, Nr. 4), Leipzig 1930, § 20. 3 Literatur bei H. Bonnet, Reallexikon der ägyptischen Religion, Berlin 1952, S. 267.

Haguanran. „Teufel in Gestalt eines Hundes“, der von den Be­ wohnern der Insel Palma angebetet wurde. Er lebte im Himmel. Wölfel, Torriani, S. 196—217. Vycichl, Introducción, S. 189. Ein „Teufel“ war Haguanran natürlich nur in christlicher Sicht. Zur Hundegestalt paßte vielleicht eirag (hab. ireqqa) „hurler à la mort (chien, chacal)“, also „heulen, um anzuzeigen, daß jemand gestorben ist“ sowie bei den Beni Iznacen eben­ falls irrag als herb. Bezeichnung des Todesengels (ange de la mort), die mit diesem Verbum zusammenzuhängen scheint. (Renisio, Etude sur les dialectes berbères des Beni Iznacen, du Rif et des Senhaja de Sraïr. Paris 1932, S. 333.)

Hagüza. Bei marokkanischen Berbern Vorabend des Neujahrstages nach dem julianischen Kalender, in Fez auch Neujahrstag und der folgende Tag. H. erscheint, wie man erzählt, als altes und häßliches Weib, wohl um das alte Jahr zu symbolisieren, wie auch ihr Name von arab. ’agüza „alte Frau“ abgeleitet ist1. Die Ntifa glauben, daß in der Neujahrsnacht ein weiblicher Geist als alte Frau alle Häuser und Zelte besucht2. Überall wird ein Festmahl mit tradi­ tionellen Speisen aufgetischt3. Es handelt sich um eine Erinnerung aus römisch-heidnischer Zeit, auch wenn der Kalender selbst in der Form übernommen wurde, wie er beim Konzil von Nikäa fest­ gesetzt wurde. —> Dämonen. 1 Westermark, II, S. 160—162. Übergang ':h phonetisch ungeklärt, wohl auf Anklang mit einem anderen Wort beruhend. 2 Laoust, S. 314. 3 Wester­ mark, II, S. 162-174.

Hämlm El-Muftari. Hämlm Ben Mann-Alläh Ben Hariz Ben 'Anir Ben Uzefül Ben Uzerwal, von seinen Feinden arabisch ElMuftari „der Fälscher“ oder „Neuerer“ genannt, verkündete im 10. Jh. bei den Mazäksa im Lande der Ghomara (Nord-Marokko)

einen neuen „berberischen“ Islam, der in mancher Hinsicht dem 630

Berber

Hammon

der -> Barghwäta glich und Spuren berberischen Volksglaubens enthielt. Zur Zeit El-Bekris gab es in dieser Gegend noch einen Berg, der seinen Namen trug. Anstatt der fünf täglichen Gebete gab es nur noch zwei. Das Gebet fand bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang statt, dabei mußte die Erde mit den Handflächen berührt werden. H. verfaßte für seine Anhänger einen Koran, von dem einige Teile ins Arabische übersetzt wurden. Nach der Formel über die Einheit Gottes hieß es: „Erlöse mich von meinen Sünden, o Du, der dem Blick gestattet, das All zu betrachten! Erlöse mich von meinen Sünden, o Du, der Du Moses aus dem Fluß gerettet hast ! Ich glaube an Hämim und an Abü Hälif (d.i. H.sVater). Ich glaube mit meinem Kopfe und meinem Verstände, mit dem, was meine Brust birgt, und mit dem, was mein Fleisch und Blut umgibt. Ich glaube an Tänqit!“ Tänqit oder Tängit war -^-Prophetin und -> Zauberin (kähina sähira) der neuen Religion. Sie war H.s Tante, Mann-Alläh’s Schwester. Auch H.s Schwester Dezzü war Magierin und Prophetin (sähira kähina} ; sie war sehr schön. Sie wurde im Kriege und bei anderen Gelegenheiten angerufen und anerkanntermaßen stets mit Erfolg. Gefastet wurde jeden Donnerstag den ganzen Tag sowie Mittwoch bis nach Mittag. Wer sich dagegen verging, hatte H. fünf Rinder zu zahlen. Im Monat Ramadan wurde nur drei Tage gefastet, nicht den ganzen Monat. Der Zehnt für alle Dinge war vorgeschrieben. Die Pilgerfahrt nach Mekka, die Reinigung und die Waschungen fielen fort. Der Genuß von Schweinefleisch war er­ laubt, mit Ausnahme des Gliedes, „und das steht in Mohammeds Koran“. Verboten waren ferner Fische, es sei denn, daß sie rituell geschlachtet waren, sowie Eier von allen Vögeln. H. wurde im Jahre 927/8 bei den Masmüda an der Küste bei Tanger getötet1. Berberischer Einfluß zeigt sich in der Stellung der Frau (Tänqit und Dezzü}, dem Verbot, Eier (wie bei den Tuäreg heute) und Fische zu essen, sowie der Erlaubtheit von Schweinefleisch. 1 El-Bekri, S. 197 — 199. Encyclopédie de lTslam2, Leyde — Paris 1968, II, 1075f. (R. Le Tourneau): Barghawäta.

Hammon. Die untergehende Sonne wurde von den Libyern als Hammon verehrt. Dieser Gott trug Widderhörner, in denen seine hauptsächliche Kraft lag, wie die der Sonne in ihren Strahlen1. Hier spielt deutlich der Widdergott Ammon von Siwa herein, was durch die Namensähnlichkeit (Hammon und Ammon, als Name des ägyptischen Gottes) bedingt ist. — Der pun. Gott Baal Hammon ist dagegen phönizischen Ursprungs. Er wird bereits auf einer Weih­ inschrift aus dem 11. Jh. v. Chr. in Sendjirli, nördlich des Golfes von Alexandrette, genannt. Es scheint, als ob hammon soviel wie 41»

631

Hammu

Berber

„Weihrauchaltar“ (griech. Thymiaterion) hieße, was für Baal Hammon eine Bedeutung als „Herr des Weihrauchaltars“ ergibt2. Seine Gattin oder Partnerin ist -» Thinith. 1 Macrobius, Saturnales I, 21. 2 Picard, Religions, S. 56—60.

Hammu Qayyu. Wassergeist, lebt im Wäd Sbu in Marokko. -> Wasser­

geister. Hand der Fätma. Amulett gegen den bösen Blick, heute in Nordafrika

von Berbern, Arabern und Juden getragen. Es handelt sich um eine stilisierte Hand, die den bösen Blick abwehren soll. Die Bezeichnung yedd Fätma, „die Hand Fätmas“, sollte zweifellos das ursprünglich heidnische Symbol legitimieren, denn Fätma ist die Tochter des Propheten Mohammed. Das Zeichen findet sich schon auf punischen Stelen. G. Contenau, La civilisation phénicienne. Paris 1939, 2° édition: S. 136 (stèle carthaginoise).

Harimaguadas, Maguadas, Magadas. Bezeichnung für die Jungfrauen, die in einem -> Kloster auf der Insel Gran Canaria lebten. -^►Acoran; Asyl; Heirat; Priesterinnen. Barker-Webb et S. Berthelot, Iles Canaries, I, 1, S. 219. Das Wort gehört zu tuäreg amäwad, f. tamäwat „Jüngling, Jungfrau“ bzw. einer Form ohne Artikel (*mäwat). Hari ist sicherlich eine Verschreibung und gehört zu einem anderen Wort. Der Plural auf -as ist spanisch.

Heilige —> Einleitung S. 575 ; Schemharüdsch; Schwarze Farbe ; Steine, heilige; Stoffstücke; Wunder; s. a.—> Schlangenbeschwörer.

Heirat und Hochzeit. Über die Sitten der alten Libyer bei der Hochzeit

berichtet Herodot. Die Adyrmachiden an der ägyptischen Grenze stellten die Jung­ frauen, die sich zu verheiraten gedachten, dem König vor; er wählte sich davon diejenige aus, die ihm am besten gefiel, und ent­ jungferte sie1. Die Nasamonen, die an der Küste lebten und im Sommer nach der Oase Augila zur Dattelernte zogen, besaßen viele Weiber und schliefen bei ihnen „nach der Art der Massageten“ (in Südrußland), d. h. sie steckten vor das Zelt der Frau einen Stab in die Erde (was bedeutete, daß man im Zelt nicht gestört werden wollte.) Wenn ein Nasamone die erste Frau nahm, war es Sitte, daß sich die Braut den Gästen in der ersten Nacht hingab. Jeder gab ihr hierauf ein Geschenk, das er von zuhause mitgebracht hatte2. Die Gindaner, die weiter westlich lebten, gewährten ihren Frauen große Freiheiten. Dort war es, wiederum nach Herodot, Sitte, daß 632

Berber

Herakles

sich die Weiber sooft ein Band um den Knöchel banden, als sie von einem Manne heschlafen wurden. Die Frau, welche die meisten Bänder hatte, galt für das beste Weib, weil sie von den meisten Männern gebebt worden war3. Die Auseer am See Tritonis feierten alljährlich ein Fest zu Ehren der Göttin, die bei den Griechen —> Athene genannt wurde. Bei diesem Fest kämpften in zwei Parteien geteilte Jungfrauen mit­ einander. Diejenigen, die an ihren Wunden starben, wurden „falsche Jungfrauen“ genannt. Die Jungfrau aber, die sich nach einstimmigem Urteil am tapfersten gehalten hatte, führten die Auseer mit einem korinthischen Helm und einer vollständigen griechischen Rüstung bekleidet im Umzug um den See herum. Mit ihren Weibern begatteten sich die Auseer aber insgesamt „wie das Vieh“; sie hatten keine eigenen Ehefrauen. Wurde ein Kind geboren, so versammelten sich die Männer im dritten Monat und entschieden, wem es glich; dieser Mann galt dann als sein Vater4. Auf der Insel Gran Canaria heirateten die Männer nur eine Frau. War sie unfruchtbar, so konnte sie verstoßen werden. Die Töchter der Edlen wurden bis zu ihrem zwanzigsten Lebesjahr im Kloster erzogen; dann heirateten sie. Magere Mädchen waren nicht beliebt, daher wurden sie 30 Tage eingesperrt und mit Milch, Gofio (Art Grütze) und Fleisch gemästet. Vor der Heirat wurden die Mädchen dem Faycan (Priester) und anderen Persönlichkeiten vorgestellt, die das Erstrecht auf sie hatten. Auf der Insel Teneriffa waren die Frauen geachtet. Wer eine Frau traf, mußte sie Vorbeigehen lassen, ohne sie anzureden. Auch dort hatte jeder Mann nur eine Frau; doch kamen Scheidungen vor. Ehebrecher wurden lebend begraben. Wer ein junges Mädchen ver­ führte, wurde solange ins Gefängnis geworfen, bis er sich bereit erklärte, es zu heiraten6. —> Einleitung S. 579.

1 Herodot IV, 168. 2 Herodot IV, 172. 3 Herodot IV, 176 f. 4 Herodot IV. 180. 5 Barker-Webb et S. Berthelot, Histoire I, 1: Gran Canaria S. 162—163, Tenerife S. 125.

Herakles. Der griechische Halbgott wurde mit dem punischen Gott —> Melqart gleichgesetzt. Dieser besaß zwei Heiligtümer, eines in Gades (Spanien, heute Cadiz) und eines in Lixos (Marokko, an der Mündung des Oued Loukkos). Wenn die Meerenge von Gibraltar die „Säulen des Herakles“ hießen, so geht diese Bezeichnung wohl auf eine ältere punische, „Säulen des Melqart“, zurück1. Auch wenn

Pindar (gegen 476 v.Chr.) erzählt, Herakles habe mit seiner Keule zwischen dem äußeren Weltmeer und dem Mittelmeer eine Bresche 633

Hermes

Berber

geschlagen, so dürfte diese Sage auf eine ältere punische oder berberische Erzählung zurückgehen2. —> Dionysius. —> Dionysius.

1 Diskussion der Frage: Jérôme Carcopino, Le Maroc antique. Paris 1948, S. 64—67. 2 Pindar, Nem. III, 38.

Hermes. Eine Statue des Hermes aus schwarzem Kalkstein (Mitte des 2. Jh. n. Chr.), in den Thermen des Antoninus entdeckt, stellt einen Berber dar. Dieser ist kahlgeschoren, trägt jedoch eine Locke in derselben Art, wie sie die Libyer auf ägyptischen Darstellungen zeigen. An der Locke hängt ein Amulett in Form eines Halb­ mondes, vielleicht ein Symbol der Caelestis. Diese Locke hatte bei den Berbern sicher religiöse Bedeutung.

Picard, Religions, S. 14. Siehe auch Einleitung S. 561, unten.

Hiempsal. Die berb. Form dieses Namens Iemsal wird als Gott ge­ nannt1. Altberb. lautet die Form J-m-s-l. Historisch kennen wir Hiempsal als Sohn des Königs Micipsa von Numidien, sowie Hiempsal, den Sohn des Gauda als König von Ost-Numidien.

1 CIL VIII 8834.

Himmelsgott. In der Vorstellung der alten Berber bestand der Himmel aus einer soliden Decke über der Erde. Die Libyer, welche griech. Kolonisten von Aziris nach Kyrene brachten, priesen diesen Ort als geeignet zum Wohnen, weil hier „der Himmel leckte“1. Die Gottheit des Himmels war männlich, entsprechend der berberischen Bezeichnung (tuäreg agënna, schilhisch agënna, kabylisch igënni). Auf antiken Stelen erscheint der H. als Saturnus, oft mit Sonnen­ scheiben, Monden, Sternen und anderen Himmelssymbolen2. Er wird häufig zusammen mit Helios oder Sol und mit Selene oder Luna dargestellt3. Es gibt römische Tempel in Afrika, welche drei Zellen besitzen: in der Mitte für den Himmelsgott, rechts und links für ->Sonne und ->Mond. Saturnus war der Gott „des ganzen Himmels und des himmlischen Lichtes4“. Seine weibliche Entsprechung war eine Erdgöttin, die uns in den Gestalten der Rhea, Kybele und —>Ops begegnet5. Sein universaler Charakter wird durch Bei­ namen deutlich, wie „erhaben“, „Herr“, „heilig“, „heiliger Gott“, „großer Gott“, „unbesiegter Gott“ und durch Bezeichnungen nach Orten, wo er verehrt wurde6. In der Widmung Iomsas wird er Jupiter gleichgesetzt7. Als Himmelsgott ist er auch der Gott der Ernte, „Gott der Früchte“ und „Fruchtbringender8“. Ihm wurden Erstlingsfrüchte dargebracht; Weintrauben, Datteln, öl, Wein und Fichtenzapfen, aber auch Rinder und Schafe9. Ihm zu Ehren

634

Berber

Höhlen

wurden im Frühjahr bei der Feldbestellung und im Herbst bei der Ernte Zeremonien und Feste veranstaltet. Die Beinamen, mit denen er bedacht wurde, erinnern an die Bezeichnungen des einzigen Gottes bei den Tuareg und den alten Kanariern, wo er -> Orahan hieß. -> Götternamen; Gottesnamen.

1 Herodot IV, 158. 2 J. Toutain, De Satumi dei in Africa Bomana cultu, S. 22-31. 8 Ebendort, S. 96. 4 Ebendort, S. 35. 5 CIL VIII 2670: Lambaesia. 8 Satvrno Avgvsto, Satvmo Domino, Satvmo Sancto, Deo Saneto, Deo Magno, Deo Invicto, siehe J. Toutain, De Saturni dei in Africa Romana cultu, S. 32, ebenso nach Orten benannt als Sobarensis, ebendort S. 32, oder Satvmus Balcamensis. 7 Iovi Optimo Maximo Satvmo Avgvsto Sacrvm, siehe CIL VIII, 10.624. 8 J. Toutain, De Saturni dei in Africa Romana cultu, S. 30. 9 Ebendort 100 und S. 106. Hirguan. Die Kanarier der Insel Gomera verehrten einen Dämon in Gestalt eines haarigen Mannes, der Hirguan hieß1. Es handelte sieh um das gleiche Wesen, das bei anderen Autoren Yrueñe genannt wird 2. Dämon ; Märchen ; Orahan ; Teufel.

1 Wölfel, Torriani, S. 176—182: demonio in figura d’uomo lanudo. 2 BarkerWebb et Berthelot, Iles Canaries, I, 1, S. 184. Wohl ein berberischer Plural. Im Dialekt der Schenua heißt argou, pl. ireggouan „Teufel, böser Geist“ (É. Laoust, Étude sur le dialecte chenoua. Paris 1912, S. 132). Der Plural mit Gemination (ireggouan) erscheint nicht motiviert. Man möchte annehmen, daß einfach *irgwan vorliegt, was dann zu (H)irguan paßte. In berberischen Märchen erscheinen nämlich die „Menschenfresser“ gerne in Familien oder Gruppen (Vycichl, Introducción, S. 184—185). Oder handelt es sich um eine Ableitung von r-g-w „laut schreien“? (J. M. Dallet, Le Verbe kabyle. Fort National 1958, S. 258). Höhlen. Schon im Altertum galten Höhlen als Sitz von Gottheiten1. —»Herakles hatte eine Höhle bei Tanger. Bekannt ist die Höhle des Gottes —> Bacax bei Thibilis. Eine Höhle bei Demnat, Imi n Ifri soll einen —> siebenköpfigen Drachen beherbergt haben. Aus moderner Zeit wird die „Judenhöhle“ bei Sefrou (Marokko) genannt (Kelif el-Ihüd), wo Juden und Mohammedaner Kerzen anzünden und Weihrauch verbrennen. Es soll dort der Prophet Daniel begraben sein oder vier Priester (kwähna, sg. kähen = hebr. kohên „Priester“). Auch ein islamischer Heiliger soll dort ruhen2. Die Höhle Imi n Taqqandut im Gebiet der Haha ist von Geistern bevölkert, bei denen Sidi Mhammed U Sliman Vorbeter (fqi, eigent­ lich „Gesetzeskundiger“) ist und Sidi Hamad U Mhammad Ben Basar Fürst. Der Ort heißt auch Lalla Taqqandut, als ob es sich um eine Heilige („Dame Taqqandut“) handle3.

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Höhlen

Berber

In Ägypten gelten die Marokkaner (Magrabi, pl. Magärba) als -» Zauberer. Sie verstehen die Kunst, -»Schätze zu heben. Das lernen sie in ihrem Lande in einem Berg. Drei Jahre lang bleiben sie dort in einer Höhle und dürfen das Sonnenlicht nicht schauen. Speise und Trank wird ihnen von der Oberwelt hinuntergebracht4. Die Schilh in Marokko kennen die Höhle des Qau. Wer Sänger werden will, schlachtet ein schwarzes Rind, das keinen weißen Fleck haben darf. Dann legt er das Fleisch neben sich und schläft drei Nächte vor dem Eingang der Höhle. In der vierten Nacht sieht er die Mutter des Qau (also offenbar des Höhlengeistes). Sie heißt ihn, ihr zu folgen. Er betritt die Höhle und sieht viele Geister vor Schüsseln voll Kuskus sitzen. Alle laden ihn ein mitzuessen. Er ißt, soviel er kann, denn aus jedem Körnchen, das er ißt, wird ein Lied5. Diese Höhle heißt berberisch Ifri n Qau. Im Gebiet der Ait Mizän (Marokko) befindet sich die Höhle mit dem Schrein des Sidi SemharüS, des Geisterkönigs (sult&n ez-znün). Jedes Jahr, berichtet Westermarck, opfern die Stämme der Um­ gebung hier schwarzes Vieh. Die Geister ('afärit, pl. arab.) kommen dann aus der Höhle und trinken das Blut des Opfertieres. Danach tanzen sie und sagen über das nächste Jahr voraus6. Am Fuße des höchsten Berges der Beni Warain im Rif gibt es eine Höhle, die Wigzen heißt, das ist auch der Name des Geistes7. Dieser Ort wird von kinderlosen Männern und Frauen besucht, auch von solchen, deren Kinder bald nach der Geburt gestorben sind. Die Männer lassen ihr Schwert oder Gewehr vor der Höhle, die Frauen ihren Gürtel. Wenn sie aus der Höhle herauskommen, sehen sie, daß der 'afrit sie geholt hat. Innerhalb der Höhle gibt es drei schmale Öffnungen im Felsen, gerade weit genug, um eine Person durchzulassen. Dahinter fließt ein Fluß, es gibt Weinstöcke und Feigenbäume, Bienen und Honig. So weitläufig ist diese Höhle, daß man Hunderte von Kerzen verbrennen könnte, um den Weg zurückzufinden. -»Aranfaibo; Bacax; Dämonen; Erschaffung des Menschen; Izerzer; Kloster; Mithras; Mumien; Nacht des Irrtums; Priesterinnen; Schemharüdsch; Siebenköpfiger Drache; Zauber.

Vgl. auch Baskische Mythologie S. 535 -»-Höhlengottheiten und passim, und Althisp. Mythologie S. 735, 738, 756, 759, 784, 813. 1 Henri Basset, Le culte des grottes au Maroc, Alger 1920. 2 Westermarck, Ritual and Belief, I, S. 72. 3 Ebendort, I, S. 285—289. 4 Eigene Auf­ nahme aus Luxor. 5 H. Stumme, Dichtkunst. Leipzig 1895, S. 7. 6 Wester­ marck, Ritual and Belief, I, S. 283—284. 7 Das Wort gehört zu kabylisch wagzeniw „Unhold, Menschenfresser“ und schilhisch taguzant „Hexe“. Bei Westermarck, I, S. 283.

636

Berber

Hundsköpflge Menschen

Hölle. Die Vorstellung einer H. existierte auf der Insel Teneriffa, wo im Vulkan Pico de Teyde der Teufel Guayota wohnte1. Guayota entspricht möglicherweise einer schilhischen Bezeichnung des Teufels als des „Anderen“, den man nicht beim Namen nennen

will2. -> Eid. 1 Wölfel, Torriani, S. 158—Í77. 2 E. Destaing, Vooabulaire, S. 27 wayyid, gayd yadnin „der Andere“; siehe auch Vyeichl, Introducción, S. 191 — 192.

Horus von Libyen. Ein ägyptischer Gott, kämpferisch in Falken­ gestalt, wahrscheinlich aus dem dritten unterägyptischen Gau stammend. Seinem Namen nach zu schließen, dürfte er auch von den benachbarten Libyern verehrt worden sein1. Bonnet, Religion S. 312.

Hundeopfer. In Süd-Tunesien gehört das (vom Islam verbotene) H. in den Kreis der Symbolik des ersten, einbeinigen -> Schmiedes, des Erfinders des Ackerbaues und des bewässerten Feldes. Dem Hund wird die Schnauze zugebunden und drei Beine werden ge­ fesselt. Das vierte Bein bleibt frei, um an den einbeinigen Schmied zu erinnern. Bei der Schlachtung wird ein Messer benützt, mit dem man die Palmen zur Gewinnung des Lebgi’s (Palmweins) an­ schneidet. Bei der Schlachtung ist die Kehle dem Süden zugekehrt, der Leib des Tieres dem Osten. Das geschlachtete Tier wird ge­ pfählt und die Haare werden abgesengt. Dann wird es nach einem bestimmten System zerteilt; fettes Fleisch bedeutet viel Geld. Die Stücke werden in siedendes Wasser geworfen, damit „das Fett schmilzt“. Das Fleisch wird gesalzen, mit öl, Paprikaschoten, Bohnen und Kichererbsen zubereitet, und dazu muß Alkohol ge­ trunken werden, den der Islam gleichfalls verbietet. In Gabes wird auch bei Hochzeiten ein Hund geschlachtet, und am Vorabend tanzen die Frauen den „Hundetanz“, mit einer Hundekeule in der Hand. Diese Bräuche sind sicherlich vorislamisch. V. Paques, L’arbre cosmique, S. 405—409. Siehe auch Bibliographie zu —> Katzenopfer.

Hundsköpfige Menschen. Bei antiken Autoren werden hundsköpfige Menschen im Inneren Afrikas genannt1. Es kann sich nicht um eine Verwechslung mit den Hundskopfaffen handeln, die griech. gleichfalls Kynokephalen heißen, weil die letzteren nur in den Län­ dern am Roten Meere Vorkommen. Vielleicht handelt es sich um eine irrige Deutung der Männer mit Schakalsmasken (—> Jagdzauber).

—> Akephaloi. 1 Plinius, H. N. VI, 195 und V, 46; Pomponius Mola I, 48; Herodot IV, 191.

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Idafe

Berber

Idafe —> Weltsäule. Idol von Läghüs. Al-Idrisi (12. Jh.), von dem wir eine Weltkarte besitzen, erwähnt ein I.1 auf der Insel Laghus (Lägüs) unter den Kanaren. Ein Tobba', d. h. ein König aus Jemen, namens DhulMerätidh soll seinen Grabtempel aus Marmor und buntem Glas (haikal mubannä mina l-marmar wa z-zugag al-mulawwan) an einer unzugänglichen Stelle der Insel errichtet haben. Bei Läghüs

handelt es sich möglicherweise um Gran Canaria2. —> Götterbilder; Idole. 1 Al-Idrisi. Kit&b Nuzhat el-Musht&q. Leyden 1864, S. 28. Auch hier nicht sicher, was wir uns unter dem Idol vorstellen sollen. Daß ein Tobba' (aus Südarahien) auf den Kanaren einen Tempel erbaut haben soll, gehört natür­ lich in das Reich der Kabel und soll wohl nur auf das Alter des Gebäudes deuten. 2 W. Vycichl, Introducción, S. 175.

Idole. Sieben menschengestaltige I. sollen sich auf den sieben Kana­ rischen Inseln befunden haben. Sie zeigten Seefahrern an, daß kein weiterer Weg nach Westen führe1. Das war zumindest die Vor­ stellung, die im MA bei den Arabern des Festlandes herrschte.

—> Béja; Götterbilder; Widder. 1 El-Maqqari, Analecta, Leyden 1855, S. 104. Siehe auch Vycichl, Introduc­ ción, S. 176.

Iemsal -> Hiempsal.

Ifru. Berb. Gott, verehrt östl. von Constantine (Algerien). Picard, Religions, S. 24.

Igai. Auf einer Stele des Mittleren Reiches wird ein Gott I. (her­ kömmliche Umschrift für igSj) als „Herr der Oase“ genannt (H.G. Fisher, A God and a General of the Oasis on a Stela ofthe Late Middle Kingdom, Journal of Near Eastern Studies, 16, 1957, S. 223—235). Sie wurde im Auftrag von Inu, dem „Aufseher der Armee der

Oase“, angefertigt. Nach den Ausführungen H. G. Fishers handelt es sich wohl nicht um einen Lokalgott, sondern, wie bei —-Ha, dem Gott der westlichen Wüste, und bei Hpwj, dem Gott der DeltaMarschen, um eine Gottheit, welcher verschiedene Gebiete gleichen Charakters unterstanden. Igurramen -> Einleitung S. 575; Marabout; Wundergeschichten.

Interpretatio graeca-> Einleitung S. 564, 586f.; Antaios; Atlas;

Apollo; Athene; Ceres; Herakles; Hermes; Libya; Melqart; Neith; Poseidon; Wassergeister.

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Izerzer

Berber

Interpretatio punica ->Einleitung S. 586f.; Punische Gottheiten;

Thinit. Interpretatio romana _> Einleitung S. 586f.; Genius; Himmelsgott;

Iuno Caelestis; Neptun; Numen; Ops; Römische Gottheiten; Saturn; Wassergeister. Iorchobol. Als Gottheit auf einer Inschrift genannt. CIL VIII 17721.

Isis. Die ägyptische Göttin I., Gattin des Osiris und Mutter des Horus, erscheint in der Spätzeit auch in Nordafrika, doch nicht etwa auf dem Wege einer direkten Ausstrahlung von Ägypten,

sondern im Gefolge von Kleopatra Selene, der Tochter der großen Kleopatra, die mit Juba II. (25 v.Chr. bis 23 oder 24 n.Chr.), dem Sohne Jubas I. und König von Mauretanien verheiratet war. Isis wird in Jubas II. Hauptstadt Caesarea (Cherchell) genannt1 und auch in Volubilis (Marokko) erwähnt2. 1 Plinius V, 51. 2 CIL VIII 21822.

Iuno Caelestis. Schutzgöttin des römischen Karthagos, in der sich die alte —> Thinit, die Schutzgöttin des punischen Karthagos verkör­ pert. Herodian (3. Jh.n.Chr.) berichtet, daß Kaiser Heliogabal die Statue der I.C. nach Rom bringen ließ, um sie mit dem Baal von Emesa, dessen Priester er war, zu verheiraten. Diese Statue wurde von den Karthagern und den übrigen Libyern verehrt. Sie soll von der Gründerin Karthagos, der Phönizierin Dido, geweiht worden sein. Die Libyer nannten sie Caelestis (Urania), die Phönizier Astroarche. Die letzteren sahen in ihr den Mond; Astroarche, „Herrin der Sterne“, entspricht der punischen Bezeichnung Rb.t kwlcbni1. Juno wurde auch als „Luft“, d. h. als Schutzgöttin der Luft angerufen2. —>Africa; Punische Gottheiten. 1 Picard, Religions, S. 165—166.

2 CIL VIII 4635.

Iusch. Name des einen Gottes bei den berber. Charidjiten1. Geschrie­ ben J-w-S, genaue Lesung unbekannt. Gewiß besteht keine Be­ ziehung zum ägypt. Gottesnamen —> Asch, oder zu berber. us „geben“, wie Motylinski meinte, doch vergleiche man -> Jakusch. 1 A. de Calassanti-Motylinski, Le nom de Dieu chez les Abadhites. Revue Africaine. Paris 1905, S. 141.

Izerzer. Der „Urbüffel“. Ein kabylisches Märchen erzählt, daß zu Anbeginn I. und eine Kalbin unter der Erde lebten. Über die

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Jagdzauber

Berber

Felsen eines Flusses gelangten sie hinauf an die Oberwelt. Von diesen beiden stammen alle anderen Tiere außer dem Löwen1 ab. In den Felsregionen des Djurdjura-Gebirges, wo im Winter der Schnee liegen bleibt, wird heute noch der wilde Büffel als anthropomorphes Wesen verehrt. Er heißt hier'Ali Izerzer Meskin2. „Das ist eine felsige Landschaft mit mehreren eingemeißelten Bildern aus ganz, ganz alter Zeit. . . Dort sieht man die Spuren des anthropomorphen Büffels in dem Felsen. Im Felsen ist hier ein Steinhaus mit einer Tür und einem Fenster, wohl eine Höhle. Nur Menschen mit reinem Herzen vermögen hineinzukommen . . . anderen ist das Haus verschlossen. Dort opfern die Menschen, die in Not und Sorge sind; Frauen, die steril sind und Mütter werden wollen, opfern um Kinder, zumal um Söhne; es wird da geopfert, wenn der Regen ausbleibt; es wird um gute Ernte gebetet. Es ist ein hochheiliger Platz, und die Kabylen gehen in allen großen Nöten dorthin. Im Winter ist die Stelle verschneit. In den Felsen bei Häthar irrt Izerzer umher.“ Aus dem Samen Izerzer’s entstanden sieben Paar Tiere, nur der Löwe nicht. Dieser ging aus einem wilden, menschenfressenden Manne und einer Teriel (Hexe) hervor, und die Katze ist des Löwen Kind3. —> Erschaffung der Menschen. 1 Verwechslung von izem „Löwe“ in der ursprünglichen Bedeutung mit der Bedeutung als „Menschenfresser“. Leo Frobenius, Volksmärchen der Ka­ bylen, Band I, Weisheit, S. 64—69. 2 „Itherther“ ist richtig izerzer „cerf“ (P. Huyghe, Kamus kbaili-rumi. Paris 1901, S. 194), wohl in Wirklichkeit eine Gazelle. Frobenius: Urbüffel. 3 Hier ist izem wirklich als „Löwe“ ge­ meint.

Jagdzauber, Jagdgebräuche. Im Altertum nahm bei den Libyern die Jagd einen bedeutenden Platz ein. Als Jagdzauber dürfen wir sicherlich zahlreiche Darstellungen wilder Tiere auf Felswänden deuten, die der Jäger „bannte“, um sie dann erlegen zu können. Anders steht es mit einer prähistorischen Felszeichnung, die eine Bubalus-Antilope zwischen zwei Männern zeigt. Der eine trägt eine Maske, nämlich das Haupt einer Gazelle mit Hörnern, einen Bogen mit eingelegtem Pfeil und ein Gewand (wohl aus Leder) mit einem Tierschwanz. Auch der andere trägt eine Gazellenmaske sowie Gürtel und Bogen1. Heute ist die Bedeutung der Jagd zurückgegangen. Im Hoggar be­ sitzen noch die Dase Ghali, in welchen die alten Bewohner des Ge­ birgslandes, die Isebeten aufgegangen sind, ausgedehnte Jagdrechte 2. In Andjra (Nord-Marokko) wird vor der Jagd um Erfolg gebetet. Der Anführer der Jagd muß ein besonders guter und ehrenhafter Mann sein. Kein „Unglücksbringer“ flsa) soll teilnehmen dürfen. 640

Berber

Karneval

Wer unziemlich spricht, wird als Usa nach Hause geschickt. Wenn sich bei den Uläd Bü eAzIz (Nord-Marokko) ein Jäger schlecht be­ nimmt, ziehen die anderen um ihn den „Jägerkreis“ (gärt er-rmä), den er solange nicht verlassen darf, als bis er eine ihm auferlegte Buße bezahlt hat. Wer kein richtiger Jäger ist, bringt der Jagd­ gesellschaft Unglück und muß gegebenenfalls den anderen ein Schaf oder eine Ziege schlachten3. 1 H. Barth, Reisen und Entdeckungen, I, Gotha 1859, S. 210, dort als ägyptisch beeinflußt oder Darstellung eines „garamantischen Apollos“ ge­ deutet. Kritik und Kommentar bei 0. Bates, Eastem Libyans, S. 94. 2 H. Lohte, Les Touaregs du Hoggar, Paris 1944, S. 240. 8 Westermarek, II, S. 365-367.

Jaküsch. Name des einen Gottes bei den —>Barghwäta. Genaue

Lesung unbekannt, geschrieben wird J-k-w-S (etwa Jaküs). Mög­ licherweise Nebenform zu -> Iusch, als Gottesnamen der Abäditen.

Kähina. Fürstin des berb. Stammes der Djeräwa. —> Einleitung S. 570f.; Prophetinnen; Säugung; Wahrsagen; s. a. -> Hämim El-Mufteri. Kämpfe, Wettkämpfe. Bei den religiösen Zeremonien der alten Berber spielten Kämpfe eine große Rolle. Herodot1 erzählt von den Kämpfen der Mädchen beim Feste der Göttin -> Athene. Augusti­ nus berichtet von einem Fest in Caesarea (heute Cherchell), das mehrere Tage dauerte, bei dem sich die Einwohner, in zwei Parteien geteilt, mit Steinen bekämpften. Augustinus setzte es durch, daß sie diese Sitte aufgaben2. Galindo beschreibt Wettkämpfe der alten Kanarier: Zwei Männer hielten eine lange Lanze an den Enden über ihren Köpfen und ihre Genossen versuchten darüber hinweg­ zuspringen3. 1 Herodot IV, 186. 2 De doctrina christiana, IV, ,24, 53. et S. Berthelot, Histoire I, 1, S. 105—106.

3 Barker-Webb

Karneval. Es ist schwer zu entscheiden, ob die Karnevalsbräuche, die in allen Gebieten der Berberei zu beobachten sind, bodenständig oder ein Erbe aus römischer Zeit sind. Selbst wenn das letztere zutreffen sollte, verdienen sie als heidnische Überlebsel Beachtung, weil sich hinter den Possen religiöse Vorstellungen verbergen, die allerdings heute nicht mehr deutlich zum Vorschein kommen. Bei den Ntifa (Zentral-Marokko) werden im K. Freudenfeuer entfacht, über die man springt. In jedem Dorf gibt es einen Mann, der sich verkleidet und den anderen Späße vorführt. Es trägt ein Kleid aus Ziegen-, Schaf- oder Rinderfell; von seinem Gürtel hängen 641

Katzenopfer

Berber

Muscheln herab, und er zieht Fetzen hinter sich her. Über seinem Kopf trägt er einen ausgehöhlten Kürbis, der völlig ausgetrocknet ist, mit einer steifen Locke, mit Hörnern, Ohren, Augen, einer Nase und einem Bart. Mit seinen Genossen macht er Musik und sammelt ein, was ihm gespendet wird: Geld, Eier, Butter, Feigen, Mais, Hühner. Sieben Tage treibt der „Kürbislöwe“ (izem n uhsay) sein Wesen, dann wird das eingesammelte Gut verkauft und aus dem Erlös ein Festmahl veranstaltet. Alle Leute des Dorfes nehmen daran teil ; sie essen und rufen dann den Segen des Himmels herab: „0 Gott, gib uns Frieden! Gib uns Gesundheit, gib uns ein (gutes) Sehvermögen ! Gib uns Reichtum und beschütze uns vor Krankheit! Gib uns ein Jahr mit reicher Ernte (wörtlich „ein gutes Jahr“)! ... Behüte uns vor den Bösen und Teufeln! Erbarme dich, o Gott unserer abgeschiedenen Eltern wa-saläm\ E. Laoust, Étude sur le dialecte berbère des Ntifa. Paris 1918, S. 329—330.

Katzenopfer. V. Paques beschreibt ein rituelles Katzenopfer in In Salah. Es soll an den ersten Mord erinnern : Ein weißer Mann kam aus dem Süden der Sáhara mit seiner Frau und einem Neger, der sein Diener war. Die Frau und der Neger vereinigten sich, da ent­ hauptete ihn der Weiße. Das Erinnerungsfest findet an den sieben Tagen im Frühling statt, wenn ein starker Wind geht. Die Katze

wird von den Frauen heimlich besorgt und ein verachteter Mann unternimmt es, sie gegen einen ganz außerordentlich hohen Preis (1957 : bis 3.500 Fr.) zu schlachten. Das Fleisch wird mit Kuskus gegessen. Der Genuß von Katzenfleisch soll die Frauen dick und fruchtbar machen. Der Islam verbietet den Genuß von Katzen­ fleisch. V. Paques, L’arbre cosmique, S. 49—51. Katzen werden auch aus anderen Gründen als Heilmittel gegessen: M. Lesour, Mangeuses de chats à In Salah. Bulletin de liaison saharienne, Paris 1954, Vol. V, S. 85—86. Colonel Thiriet, La cynophagie à Ouargla. Ebendort, Vol. V, S. 11 — 14. Lt. Roger Bureau, Manger du chien? Et du chat? Ebendort, Vol. V, S. 15—16.

Kloster. Auf den Kanarischen Inseln gab es ein Kloster der Jung­ frauen, in welchem die Mädchen der vornehmen Kanarier bis zum Alter von 20 Jahren erzogen wurden, um dann zu heiraten. Sie lebten, wie es Viera ausdrückt, in diesem Convento (Kloster) wie vírgenes vestales (vestalische Jungfrauen). Die Höhle lag in den Felsen des Valeron-Tales auf Gran Canaria.

Durch einen großen Torbogen betrat man einen Saal, in dem zahl­ reiche kleine Zellen angebracht waren, jede mit einem Fenster nach

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Berber

Königskult

außen hin, so daß man das Tal sehen konnte. Vorn standen zwei große Türme, die auf inneren Treppen zu besteigen waren. —>Harimaguadas; Heirat; Priesterinnen. Barker-Webb et S. Berthelot, lies Canaries, I, 1, S. 160: J. de Viera y Clavijo (ib.) schrieb eine Geschichte der Kanarischen Inseln (4 Bde, Madrid 1773).

Königskult. Die Könige Mauretaniens besaßen in den Augen ihrer

Untertanen göttliche Eigenschaften und wurden selbst als Götter verehrt1, ähnlich wie dem Sultan Marokkos noch heute die Baraka oder göttliche Gnade zukommt. Man wird kaum fehlgehen, wenn man annimmt, daß die göttliche Kraft der maurischen Könige sich in derselben Weise äußerte wie die Baraka der marokkanischen Sultane, nämlich in guten Ernten, reichem Fischfang, in Kindersegen und in der Blüte des Landes2. Verliert der Sultan seine Baraka, so leidet das Land unter Mißernten, Hungersnot und Krieg. Muley 'AbdeTaziz* verlor 1844 seinen Thron, weil diese göttliche Gnade von ihm genommen wurde. Die göttliche Verehrung der Könige ist erst in römischer Zeit belegt. Es handelt sich jedoch sicherlich um einen uralten Brauch. So schwuren die Nasamonen bei den gerechtesten und besten Männern (-> Eid) und die Tuareg nennen noch die Namen von Männern der Vorzeit, die sie anrufen. So wurden die folgenden Könige verehrt:

Juba II.: „und Juba ist, wie die Mauren wollen, ein Gott3“ (et Juba, Mauris volentibus, deus est). Eine lateinische Inschrift von Tessammert ist Juba und der Gottheit Vanisnensis (wohl von einem Orts­ namen abgeleitet) gewidmet4. Die Mauren zollten Juba höchste Ver­ ehrung (wie die Ägypter der Isis), wie Laktanz berichtet5. —> Hiempsal: Inschrift aus Thubursicum Numidarum, heute Khamissa, mit dem Beschluß, Hiemsal, den Sohn des Gauda, als Gott­ heit anzuerkennen8. Gulussa, König von Numidien, Sohn Masinissas, in zwei In­ schriften7. Masinissa und Micipsa, Könige von Numidien8. Ptolemaeus, Sohn Jubas, König von Numidien9. Septimius Severus, selbst afrikanischer Herkunft, römischer Kaiser10. Wenn bei den Kanariern von Teneriffa ein neuer König eingesetzt werden sollte, fand die Zeremonie am Orte der Ratsversammlung (Tagoror, Varianten Tahoro, Taoro) statt. Palmzweige und belaubte Äste schmückten den Platz, der Boden war mit Blumen bestreut. Der neue Mencey (König) nahm auf einem mit Fellen bedeckten 643

Eosmogonie

Berber

steinernen Stuhl Platz, von den Untertanen freudig begrüßt. Seine nächsten Verwandten überreichten ihm den „königlichen Schulter­ knochen“, eine Reliquie, die als Szepter diente und in einem Leder­ etui aufbewahrt wurde. Der König küßte die Reliquie mit Respekt, hob sie über sein Haupt und sprach: „Ich schwöre beim Knochen dessen, der die Krone getragen hat, seinem Beispiel zu folgen und das Glück meiner Untertanen zu erwirken.“ Hierauf nahmen die Fürsten die Reliquie aus den Händen des Königs, legten sie der Reihe nach auf ihre Schultern und antworteten: „Wir schwören beim Tage deiner Krönung, dich und die (Angehörigen) deines Volkes zu verteidigen11.“ Dann wurde der ->Eid auf den Schädel eines früheren Fürsten geleistet. Nach dieser Zeremonie lud der Fürst, geschmückt mit einem Kranz aus Lorbeerzweigen und Blumen, die Anwesenden ein, am Feste teilzunehmen. -> Opfertod. 1 Tertullian, Apologeticus, cap. 24 (Migne, Patrologiae cursus, I, col. 419, Paris 1844): Unicuique etiam provinciae et civitati suus deus est ... ut Mauritaniae reguli sui. St. Cyprian, Liber de idolorum vanitate, cap. 2 (ibidem, IV, col. 568, Paris 1844) : Mauri vero manifeste reges colunt, nee ullo velamento hoc normen abtexunt. Lactantius, Divinae institutiones, I, 15 (ibidem VI, col. 194, Paris 1844) : Romani Caesares suos consecraverunt et Mauri reges suos. Ebenso CIL VIII 8834, 9342, 9342, 17159, 18752, 20627, 20731. Toutain, Cultes païens dans l’Empire romain, vol. III, Paris 1920, S. 39. 2 Westermarck I, S. 39. 3 Minucius Felix, Octaváis, cap. XXIII. 1 CIL VIII17159. 6 Summa veneratione coluerunt, s. Migne, Patrología latina, VI, col. 194. 6 CIL VIII 7° 17159. 7 Masqueray, Les additamenta ad Corporis volumen de M. Schmidt, Bulletin de correspondance africaine, Alger 1885, S. 161 — 163. 8 Picard, Religions, S. 17. » CIL VIII 9127 aus Bougie, CIL VIII 9257 aus Alger, CIL VIII 9342 aus Cherchell, dem Genius des Königs Ptolemaeus gewidmet. 10 Historia Augusti. Vita Sept. Severi, cap. XIII. 11 Barker-Webb et S. Berthelot, Iles Canaries, I, 1, S. 121 — 122.

Kosmogonie —> Himmelsgott; Schmied; Weltenbaum; Weltsäule. (Siehe auch —r Erschaffung des Menschen.) Labyrinth. Auf der Insel Lanzarote gab es einen Tempel, in dem ein

Götterbild von menschlicher Gestalt verehrt wurde. Der Tempel war kreisrund, von zwei Mauern umgeben, zwischen denen ein schmaler Gang freiblieb. Es gab zwei Türen, die eine außen und die andere „in der Mitte“, d. h. wohl auf der gegenüberliegenden Seite. Man trat wie in ein „Labyrinth“ ein, um Milch und Butter zu opfern. Wölfel, Torriani, S. 74—89. Vycichl, Introducción, S. 188.

Lebensbaum. Im Himmel steht ein Baum, der für jeden Menschen ein Blatt trägt. Ist das Blatt grün, so hat dieser Glück, ist es welk, so ist er unglücklich. Fällt das Blatt vom Baum, so stirbt

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Berber

Mastiman

der Mensch1. Zu diesem modernen Volksglauben vergleiche man die ägyptische Vorstellung vom Lebensbaum, auf dessen Blätter die Göttin Seschat den Namen des Königs schreibt2. 1 E. Laoust, Béni Snous, I, S. 298. 2 Helck-Otto, Kleines Wörterbuch der Ägyptologie, Wiesbaden 1956, S. 38.

Libya. Nach einer Sage wurde die griechische Nymphe Kyrene, welche in Afrika die gleichnamige Stadt gründete, von -> Aphrodite und Libya gastlich aufgenommen. Das war der Beginn der griechischen Kolonisation in Libyen1. Es liegt nahe, in Aphrodite die berberische Göttin zu sehen, von der Herodot spricht und die in der ägypt. —> Neith ihre Entsprechung hat, während Libya die Personifikation des Landes Libyen, bzw. eine andere dort verehrte Göttin, sein wird. ->Aphrodite; Athene. 1 Pauly-Wissowa, RE, 23. Halbband, Stuttgart 1924, Sp. 151.

Luft. Die Einwohner Afrikas (Afri) hielten die Luft für der —> Juno oder der jungfräulichen Venus (wohl —> Athene) geweiht. Wind. Firmicus Maternus, De errore profan, relig. 3.

Magie(r) —>Baumkult; Beschwörung; Hâmïm El-Muftari; Mond; Säugung; Seth; Steine, heilige; Stoffstücke; Zauber; Zukunfts­ deutung.

Magifa. Ort in Numidien, an dem eine Bauinschrift aus römischer Zeit gefunden wurde, die fünf berberische Götter nennt: Madisi­ denis (gen.), Thililua, Sugganis (gen.), Iesdanis (gen.) Masidce, denen Q. T. Politicus einen Tempel nebst Götterbildern weihte. Die eigentliche Weihinschrift lautet: Diis Magifae Augustis Q. T. Politicus simulacra deorum numéro V Madisidenis et Thililuae et Sugganis et Iesdanis et Masidce et templum a fundamentis ex sua pecunia fecit1. Da es sich um die Summe von 8000 Sesterzen handelte, muß es sich um eine bescheidenere Kapelle gehandelt haben. Die Namen sind nicht erklärt. Thililua (Präfix thi und Endung -a) war offenbar eine Göttin. -> Götterbilder ; Götternamen. 1 CIL VIII 16749. St. Gsell, Inscriptions latines de l’Algérie.

Maguadas. Magadas

Harimaguadas.

Marabouts —>Einl. S. 575, 588; Wunder; Zekkära; s. a.

Heilige.

Mastiman. Berber. Gott, beiCorippus1dem7itppiier Taenarius gleich­ gesetzt, also wohl Kriegs- und Unterweltsgott. Der Name kann zusammengesetzt sein: das Element -timan findet sich möglicher42

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Mâta

Berber

weise im Namen des Gottes Autiman, der dem Merkur gleich­ gesetzt wird (in einer lateinischen Inschrift)2. 1 Corippus, Johannis IV, 682 und VII, 307—309: Maurorum hoc nomine gentes Taenarium dixere Iovem, cui sanguine multo humani generis mactatur victima pesti. Das Beiwort Taenarius (aus Taenarum in Lakonien) findet sich hei Virgil in der Verbindung Taenariae fauces „Schluchten von Taenarum“ als „Eingang zur Unterwelt“ und bei Ovid in Taenaria vallis „Tal von Taenarum“ in der Bedeutung „Unterwelt“. 2 CIL VIII, 2G50. Bates, Eastern Libyans, 185: certainly connected with, and may be the équivalent of, that of a divinity called Autiman.

Mäta. Im Frühjahr, wenn es Zeit ist, das Getreide zu jäten, begeben sich die Frauen, denen diese Arbeit obhegt, im Zustande absoluter Reinheit und mit ihren schönsten Kleidern angetan, auf das Feld. Sie bekleiden ein Rohr wie eine Puppe und schmücken sie wie eine Braut. Die Puppe heißt Mäta. Sie tragen Mäta in einer Prozession um das Feld herum und trillern dazu. Dann sprengen Reiter herbei. Die Puppe wird von Hand zu Hand gereicht und ein Reiter jagt den anderen, um ihm die Puppe abzunehmen. Ein Reiter aus einem anderen Dorf bemächtigt sich der Puppe und sucht das Weite. Die anderen jagen ihm nach. Wenn sie ihm die Puppe nicht ab­ nehmen können, müssen sie ein Lösegeld zahlen. — Dieser Brauch soll eine gute Ernte sichern. Die Mäta ist nämlich die „Braut des Getreides1“, das seiner schönen Braut wegen auf dem Felde und bei den Leuten des Dorfes bleiben soll. Deshalb darf die „Braut“ das Dorf nicht verlassen und muß nötigenfalls mit einem Lösegeld zurückgekauft werden. 1 J. Bourilly, Éléments d’éthnographie marocaine. Paris 1932, S. 122. Aus­ führliche Beschreibung mit Bibliographie bei Westermarck, Ritual and Belief, II, S. 221—225. Bei den At Dar Felläq, einem Bergstamm des Zbcl Hbib wird die Puppe von einem Schreiner in Tetuan hergestellt. Laoust, Mots et Choses, S. 330-333.

Mathamodis. Name eines Gottes (gen.). CIL VIII 15779.

Maurische Götter (Dii Mauri). In zahlreichen Inschriften Nordafrikas werden „maurische Götter“ erwähnt, so in Cherchell1, beim Oued

Marcouna2, beim Oued Tezzoulet3, in Lamoricière4, in Henchir Remdane in Tunesien5 und in 'Aïn Kebïra8 die „rettenden mau­ rischen Götter“ mit dem -> Genius von Satafis. Im ganzen sind nun 23 lateinische Inschriften bekannt, in denen die M.G. Vorkommen. Davon nennen 12 die Dii Mauri, 3 die Dii Maurici, 1 eine Dea Maura, 1 eine Gens Maura, 1 den Genius Gentis Numidiae, 1 die „Götter der Getuler“ {DU Getulorum). Nur eine Inschrift, die von Henchir Remdane, gibt drei Namen dieser Gottheiten. 646

Berber

Melqart

In 10 Fällen sind römische Bürger mit ihren drei Namen genannt, in 6 Fällen kennen wir zwei Namen der Stifter. Was die Funktionen der Verehrer der M.G. angeht, handelt es sich in 9 Fällen um Militärs, 4mal um kaiserliche Funktionäre, wie etwa bei Aelius Aelianus, dem Gouverneur der Provinz Mauretania Caesarensis, um 3 Priester und 1 Gemeindeverwaltung. In 2 Fällen wird um das Heil des Kaisers gebeten, in 5 Fällen werden Kämpfe gegen rebel­ lische Stämme erwähnt, wie die Bavares, die Bavares Mesegneitses oder die Quinquegentanei. Keine einzige Inschrift stammt aus Mauretania Tingitana (im Westen), dagegen 12 aus Mauretania Caesarensis, 5 aus Numidien, und zwar alle aus Lambaesis ; 4 wurden in der Provinz Africa gefunden. Datierbar sind 9 Inschriften aus dem 3.Jh.n.Chr. Vielleicht stammt eine aus dem 4.Jh. und eine geht in das 2. Jh. zurück.

In allen Fällen außer der Inschrift von Henchir Remdane treten die M.G. anonym auf. Es handelt sich also nicht um „große" Gott­ heiten. Das geht auch daraus hervor, daß auf diesen Stelen nicht die Symbole der „großen“ Gottheiten erscheinen. So fehlen hier z.B. stets die Symbole des -^Saturn.

Bezeichnet werden die Götter als „heilbringend“ (salutares), „un­ sterblich" (immortales), „erhaben“ (augusti), „barbarisch“ oder „fremd“ (barbari), „heilig“ (sancti), „bewahrend“ (conservatores), „günstig“ (prosperi), „gastfreundlich“ (hospites) und „einheimisch“

(patrii). Nach der scharfsinnigen Analyse G. Camps7 handelt es sich um einheimische Gottheiten der weniger romanisierten Mauren. Der Umstand, daß alle Inschriften lateinisch abgefaßt sind und von Römern oder röm. Soldaten stammen, darf nicht dazu verleiten, in den M.G. nur Götter dieser letzteren zu sehen. Es waren vor allem berb. Götter, die auch Tempel besaßen und in erster Linie von der einheimischen Bevölkerung verehrt wurden. —>Béja; Genius; Götternamen; Numen. 1 CIL VIII 9327. 2 CIL VIII 2639. 3 CIL VIII 2640. 4 CIL VIII 21720. 5 CIL VIII 1442. 6 CIL VIII 20251. 7 G. Camps, L’inscription de Béja et le problème des Dii Mauri. Revue africaine 98, N° 440—441, Alger 1954, S. 233 — 260. M. Le Glay, La vie religieuse à Lambèse d’après de nouveaux documents. Antiquités africaines, 5, 1971, S. 125 — 153, besonders 138—139.

Melqart. Punischer Gott, geschrieben Mlqrt für *Malikqart, „König der Stadt“, dem —> Herakles gleichgesetzt. In der griechischen Mythologie hat Herakles zahlreiche Beziehungen zum Fernen Westen, so besiegt er den Riesen —> Antaios und holt die goldenen Äpfel der Hesperiden. Es ist nicht immer zu sehen, wo der punische 42*

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Meteoreisen

Berber

Gott mit hineinspielt, doch geht der Kampf des Herakles mit —> Antaios sowie die Spaltung der Landverbindung zwischen Spanien und Marokko wahrscheinlich auf berberische Sagen zu­ rück. -> Béja. Meteoreisen. Im Qsar (hier etwa : Dorf) von Tamentit, auf den Oasen von Touat, liegt ein Meteorstein, der allgemeine Verehrung genoß1. Die Sage berichtet, daß er ursprünglich ganz aus Gold war, als er bei Noum en-Nas vom Himmel fiel. Gott aber verwandelte ihn zuerst in Silber und schließlich in Eisen, damit die Menschen bei seinem Anblick nicht habgierig würden2. 1 G. Rohlfs, Reise durch Marokko, Bremen 1862, S. 145. 2 Laquière, Les reconnaissances du général Servière, Paris (ohne Datum), S. 21—22, mit einer Photographie des Aeroliths. R. P. Gauthier, Le Sahara algérien, Paris 1908, vol. I, S. 253.

Mithras. Der ursprünglich persische Mithraskult war in Nordafrika in der römischen Kaiserzeit verbreitet, doch wohl nur in römischen Bevölkerungsschichten. Aus Karthago besitzen wir eine Statue des Mithras tauroctonus. In Rusicade wurde gleichfalls Mithras ver­ ehrt. Unsicher ist es, ob die Höhle bei Tiddis, deren Inschrift IM (= Invicto Mithraei.) lautet, ein Mithraeum war. Der Kult hat wohl mit den römischen Legionen Eingang gefunden. Im In­ neren des Landes sind keine Spuren des Mithraskultes nachzu­

weisen. Picard, Religions, S. 222—223.

Mond. Wurde von den Berbern göttlich verehrt. Ihm und der Sonne wurden nach Herodot1 von allen Libyern —> Opfer gebracht. Der M. galt wohl als männliche Gottheit, weil das gemeinberberische Wort männlich ist (schilhisch ayyur, kabylisch aggur, tuareg êyôr, Béni Mzab yur, Djebel Nefusa uyer, usw.). Daneben gibt es aller­ dings noch eine feminine Form (kabylisch tiziri, usw.), die jedoch genauer den Mondschein oder das Mondlicht bezeichnet.

Zur Zeit der 3. Dynastie2 erhoben sich, wieManetho berichtet, die Libyer gegen den ägyptischen König Necherophes (Nefer-ka-re)3, legten jedoch angesichts einer „unheilverkündenden Vergrößerung des Mondes4“ die Waffen nieder. Die Libyer schrieben den Rubinen göttlichen Ursprung zu und suchten diese bei Vollmond, wiePlinius berichtet5. Auch glaubten sie, daß das Salz in der Ammons-Oase mit dem Monde zu- und abnehme.

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Berber

Mond

Der Gottesname Ieru, der auf einer Inschrift aus der Gegend von Constantine erscheint, wurde aus lautlichen Gründen als „Mond“ gedeutet6, was sprachlich kaum berechtigt erscheint. Stelen mit dem Mondsymbol finden sich z. B. in Althiburos (Medeina) und Mactar. E. Westermarck berichtet über den Volksglauben der Marokkaner beim Erscheinen des neuen Mondes7 und anderen Gelegenheiten, wobei aber die berberischen und die arabischen Bräuche nicht scharf geschieden sind. Die Tuareg beten jedesmal, wenn der neue Mond erscheint, und sprechen mit geöffneten Händen den Wunsch aus, am Leben zu sein, wenn sich der neue Mond das nächste Mal zeigt8. In Mogador sucht die Frau, die ihrem Gatten kein Kind gebären kann und deshalb seine Zuneigung verloren hat, diese wiederum mit Hilfe des Mondes zurückzugewinnen. In einer mondhellen Nacht geht sie in den Mittelhof des Hauses, nachdem sie ihre Schamhaare entfernt, ihre Zähne mit Nußbaumrinde eingerieben und ihre Augen mit Kohol geschminkt hat. Sie löst ihr Haar, entledigt sich ihrer Kleider und setzt sich auf sie neben einen vollen Wassertrog. Dann spricht sie zum Mond: „0 Mond, wenn du verliebt bist und ich dir gefalle, komm zu mir!“ Damit hofft sie, daß der Mond — oder sein Spiegelbild — ins Wasser steigt und ihr etwas von seiner magischen Kraft mitteilt. Sie gießt dann etwas von dem Wasser über das Handtuch, das ihr Gatte nach Beendigung der ehelichen Vereinigung benützt, tut wirksame Substanzen hinein — sieben Stück Harmal (Peganumharmal), vier Klumpen Alaun, Stücke von Schwefel und Steinsalz — und versteckt das Ganze drei Nächte unter dem Kissen ihres Gatten. Dann wird der Inhalt gemahlen und in den Brotteig gemischt. Ein Teil des Brotes wird unter dem Kopf des Gatten im Bett verborgen, der andere Teil unter seinen Füßen. Dann wird das Brot zur Bereitung eines Breies verwendet, den der Mann ißt. So gewinnt sie die Zuneigung ihres Gatten wieder 9.

Nach Ibn Chaldün (15. Jh.)10 wurde der Mond von den Berbern des Westens verehrt. 1 Herodot IV, 188. 2 Etwa 2700 v. Chr., siehe A. Gardiner, Egypt of the Pharaos, Oxford 1961, S. 433. 3 R. F. Fruin, De Manethone Sebennyta ab eo scriptorum reliquiis. Leyden 1848, S. 22—23. 4 Hof um den Mond? 5 Plinius, Hist. Nat. XXVII, 7. 6 G. Mercier, Les divinités libyques. Paris 1900 (Reçueil des notices de la Société archéologiquede Constantine, vol. XXXIV, S. 177). 7 Besonders I, S. 124-128, II, S. 553. 8 Ben Hazera, Six mois chez les Touareg du Ahaggar. Alger 1908, S. 59. 9 Westermarck, I, S. 126. 10 Ibn Khaldoun, vol. I, S. 177. 649

Monciba

Berber

Moneiba. Von den ->Frauen verehrte Göttin der Kanarier auf der Insel Ferro. Die Männer dieser Insel verehrten ein männliches Götter­ bild, den -> Eranoranhan.

Wölfel, Torriani, S. 186—197.

Motmanius. Berberischer Gott, der zusammen mit Mercurius ge­ nannt wird; genannt in Lambaesis, Provincia Numidia.

CIL VIII 2650. Eigentümlich gestaltetes N: nn, ni, nt? Picard, Religions, S. 24. Motmanius.

Mumien. Die alten Kanarier verstanden die Kunst des Einbalsamierens und bedienten sich dabei ähnlicher Methoden wie die alten Ägypter. Auf der Insel Teneriffa existierte nach den Angaben Espinosa’s eine besondere Klasse von Männern und Frauen, die sich mit der Herstellung von M. befaßte. Sie lebte abseits von der übrigen Bevölkerung, war verachtet und als unrein gemieden. Die Leute aber, die den Körper des Verstorbenen für die Mumifizierung vorbereiteten, genossen die Achtung ihrer Mitbürger. Der Körper wurde auf eine steinerne Bank gelegt und ausgeweidet. Dann wurde er täglich zweimal mit Salzwasser gewaschen, wobei besonders darauf geachtet wurde, daß die Ohren, Nasenlöcher, Finger und Zehen sowie auch die Schamteile gut befeuchtet wurden. Hierauf wurde er mit einer Salbe behandelt, die aus Ziegenbutter, aromatischen Kräutern, gestoßener Fichtenrinde, Harz, einem Pulver aus Heidekraut und Bimsstein sowie zusammenziehenden und aus­ trocknenden Mitteln bestand. Der Körper wurde zwei Wochen lang der Sonne ausgesetzt. Der ausgetrocknete Körper war nun ganz leicht. Während dieser ganzen Zeit sangen die Verwandten des Toten sein Lob und betrauerten ihn. Der ausgetrocknete Körper wurde in rohe oder gegerbte Schaf- oder Ziegenfelle gewickelt, je nach seinem Rang, und die M. bekam ein Zeichen, damit sie wiedererkannt werden könne. Danach wurde sie in eine der Grabhöhlen getragen, die sich an fast unzugänglichen Stellen der Insel befanden. Die M. wurden aufrecht an die Wände der Höhle gestellt oder neben­ einander auf Gestelle aus Zweigen von Wacholder, Mocan oder anderen unverderblichen Hölzern gelegt. In manchen Fällen ruhten die M. auf einfachen Lagen kleiner Scheite oder in Nischen in den Wänden der Grabhöhlen. Viana, der den Vorgang der Einbalsamierung nach den Angaben Espinosa’s beschreibt1, vermutet, daß die aromatische und zu­ sammenziehende Mischung nicht nur zur Salbung des Körpers, sondern auch zur Behandlung des Körperinneren diente. In seiner Beschreibung fehlt aber die Benetzung mit Salzwasser, die eine Analogie zum ägyptischen Mumifizierungsprozeß (Herodot, II,

650

Berber

Nachmittag

86—88) darstellt. Die Eingeweide wurden durch einen Einschnitt, der mit einem Messer aus Obsidian (kanarisch tabona) ausgeführt wurde, an der Seite des Körpers herausgenommen. Auch die Ägypter öffneten die Leichen an der Seite mit einem „äthiopischen Stein“. Die M. hielten sich durch Jahrhunderte in tadellosem Zustand. Die Gesichtszüge blieben deutlich erkennbar. Haare, Bart, Augenbrauen und Augenlider sind erhalten. Manche M. waren in mehrere Felle gewickelt, bis zu sechs, andere nur in ein Fell. Die gegerbten Felle scheinen in feuchtem Zustand verwendet worden zu sein, da sie sich genau den Körperformen anschmiegen. Manche Häute, wohl von reichen Personen, waren fein gegerbt und weich. Ihre Farbe ist rotbraun. An den Binden ist am Ende oft ein Haken aus Knochen oder Ziegenhorn angebracht. Das Geschlecht der M. ist aus der Haltung der Arme erkenntlich: die der Männer sind bis an die Schenkel ausgestreckt, die der Frauen jedoch auf dem Leib ge­ kreuzt. Die M. einer alten Frau in der Grotte von Tacoronte wurde in Hockstellung in der Art der peruanischen M. aufgefunden. Viera2 beschreibt die Grabhöhle des Barranco de Herque, die 1770 entdeckt und erforscht wurde. Durch einen engen Eingang gelangte man in einen weiten Saal, in dem sich über tausend M. befanden. Manche waren in Nischen untergebracht, die man in die Wände der Grabhöhle gehauen hatte. Der Historiker faßt seinen Ein­ druck in den folgenden Worten zusammen: „Das Schauspiel dieser Katakomben hatte nichts Unangenehmes an sich. Ich war von Bewunderung ergriffen und mit dem Gefühl tiefer Hochachtung berührte ich die wertvollen Überreste eines Volkes, welches der Pietät wert war“. Die Eingänge zu den Grotten waren oft vermauert und wurden von den Eingeborenen vor den Spaniern geheimgehalten. —>■ Höhlen. 1 Barker-Webb et S. Berthelot, I, 1, 141 f.: A. Viana (ib.), Antiguedades, Sevilla 1604; A. de Bspinosa (ib.), Del origen y milagros de la Santa Imagen (...), Sevilla 1594. 2 J. de Vieray Clavijo, Notieias (Madrid 1773), über die 1770 erforschte Grotte auf Teneriffa bei Barker-Webb et S. Berthelot, S. 143.

Nachmittag. In den ersten Nachmittagsstunden1 finden die Versamm­ lungen der -H-Geister (arab. el-ginn, pl. l-egnün) statt. Wer das Unglück hat, in eine solche Versammlung zu geraten, dem spielen sie übel mit. Entweder fällt der Unvorsichtige in einen Zustand des Deliriums und stirbt innerhalb von drei Tagen oder er wird von ihnen so verprügelt, daß er sieben Tage zwischen Leben und Tod schwebt. Er magert rasch ab, wird unruhig und von Furcht ge651

Nacht

Berber

peinigt, dann beginnt die Agonie. Wenn er aber bis zum siebenten Tag nicht gestorben ist, kann er noch genesen. Nachmittags werden Säuglinge weder ausgewickelt noch gewaschen; auch baden er­ wachsene Personen nicht ; Kranke sollen nachmittags nicht schlafen. Das Fieber, das nachmittags einsetzt, ist das „Fieber der Ne­ gerin“ (tawla n taklit). Das Fieber aber, das am Morgen einsetzt und den Kranken am N. verläßt, ist das „Fieber der weißen Frau“ (tawla n etherrit). Das ist kabylischer Glauben. Auch bei den Beni Mzab2 ist der N. die Zeit, wo Geister erscheinen. Man nennt sie dann taswimt (arab. pl.), womit man auch die Menschenfresser bezeichnet.

1 H. Genevois, Superstition. Recours des femmes kabyles. I, Fichier de do­ cumentation berbère. Fort National 1968, S. 64—67. 2 A.-M. Goichon, La vie féminine au Mzab. Paris 1927. S. 187.

Nacht. Gott hat die N. geschaffen, damit die Menschen schlafen. Des­ halb ist es gut, zuhause zu bleiben. Wer nachts reist, tut etwas Un­ rechtes. Die N. ist die Zeit des Schreckens, der Gefahren, der ge­ heimnisvollen Geräusche. Unheimliche -»Tiere gehen um wie der fabelhafte Mzizzel, der Amasan, die Feen (tiwkilm) und Hexen (teryel, pl. teryulat). Wer nachts draußen herumgeht, bekommt Gänsehaut. Frauen sehen die „Folgerin“ (ettab'a), die Kinder ver­ schlingt, sie sehen ihre Verwandten dahinsiechen oder sie ver­ armen. Es erscheinen -* Geister. Oft ist es ein junges Mädchen, das man höflich grüßt. Es kann auch der „Hüter“ des eigenen Hauses sein, der in Löwengestalt erscheint, als Widder oder als Student mit Turban und Stab. Zuweilen sieht man kleine Finger aus der Erde kommen: sie gehören den unterirdischen Zwergen. Dagegen sind die Irrlichter ein günstiges Vorzeichen. Nie gießt man schmut­ ziges Wasser dorthin, wo sie erscheinen. Bei religiösen Festen steckt man ihnen Lichter an. —> Dämonen.

H. Genevois, Superstitition, a.a.O., S. 66—75.

Nacht des Glücks. Eine grausame Sitte bei den Ida Ukensus im marokkanischen Anti-Atlas, die dem Stamme Wohlstand und Emtesegen sichern sollte, beschreibt E. Laoust. Im Dorfe Duzru wurde ein Mädchen bräutlich geschmückt und ganz weiß gekleidet. Sie ritt auf einer weißen Eselin und trug eine weiße Henne auf ihrer Hand. Das war die „Braut des Wohlstandes“ (taslit l-lhi.r), der ein „Bräutigam des Wohlstandes“ (asli l-lh ir) zur Seite trat. Auch dieser war weiß gekleidet, ritt auf einem weißen Esel und hielt einen weißen Hahn auf seiner Hand. (Im folgenden seien die reichlich kom­ plizierten Etappen der Zeremonie etwas gekürzt wiedergegeben.)

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Berber

Nacht des Irrtums

Zuerst, außerhalb des Dorfes, befreit die „Braut“ den „Bräutigam“ von den Fesseln, die ihm seine Genossen angelegt haben. Dann kehren die beiden im Triumph ins Dorf zurück, wo sie sieh zu einem Heiligtum begeben, dem „Grabmal unseres Herrn 2ebril“ (rrott n Seyyidna ¿ebril). Dort schlachtet der Bräutigam den Hahn und die Braut die Henne und sie genießen die gebratenen Lebern der Tiere. Dann vereinigt sich der Bräutigam mit der Braut im Heilig­ tum ; von diesem Teil des Ritus hängt die Fruchtbarkeit des kom­ menden Jahres ab. Bei Einbruch der Nacht trennen sie sich. Der Bräutigam tritt durch eine besondere Tür aus dem Heiligtum und überspringt ein Feuer aus aufgeschichtetem Heu. Die Braut verläßt das Heiligtum durch eine andere Tür und stirbt in einem anderen Feuer, das ihre Genossinnen für sie angezündet haben. Das ist die „Nacht des Glücks“. Fruchtbarkeitsriten.

E. Laoust, S. 191 — 193.

Nacht des Irrtums. Unter dieser Bezeichnung (arabisch Ult el-galta) versteht man in Nordwestafrika ein Fest oder einen Fruchtbarkeits­ ritus, der allein den Berbern zugeschrieben wird. Einer meiner Ge­ währsmänner aus Blida (Algerien) beschreibt, dieses Fest wie folgt: An einem bestimmten Tage begeben sich die Leute, Männer und Frauen, zu einer Höhle, um dort ein Fest zu feiern. Auf dem Wege werden zotige und gotteslästerliche Reden geführt (läzem yekjeru), was mit zur Zeremonie gehört; vermutlich will man sich dadurch vom Islam distanzieren und die eigenen Naturkräfte anrufen. In der Höhle wird nun ein großer Schmaus veranstaltet, nach dessen Be­ endigung ein Mann, der den Vorsitz führt, Befehl gibt, die Lampen auszulöschen. Nun bilden sich in der Finsternis Paare, die sich be­ gatten. Davon hängt anscheinend die Fruchtbarkeit des kommen­ den Jahres ab. Damit niemand in Versuchung kommt, nicht mit­ zutun, wird ein Seil in halber Manneshöhe durch die ganze Höhle gezogen, so daß nun volle Gewißheit herrscht, daß alle Paare auf der Erde liegen. Es handelt sich um einen Brauch aus vorislamiseher Zeit. — Eigentümlicherweise wird von allen Berbern die Teilnahme an solchen Festen energisch abgestritten, ebenso wie von den Ait Willul in Tripolitanien das —> Baden im Meer. Nach Nikolaus von Damaskus, der zur Zeit des Kaisers Augustus lebte, fand dieses Fest schon in römischer Zeit „an einem bestimmten Tag, der dem Untergang der Pleiaden folgte“ statt1. Die Zekkära, denen Moulieras zu Beginn des 20. Jh. anti-islamische Tendenzen zuschrieb, sollen die „Nacht des Irrtums“ gefeiert haben, was sie selbst freilich leugneten. Dagegen sollen die Beni Mhacen — angeblich — diesen

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Nasamoncn

Berber

Brauch damals noch tatsächlich beobachtet haben2. Auf südlichen Oasen soll die Zeremonie am Geburtstag des Propheten auf den bewässerten Feldern erfolgen, ebenfalls unter dem Schutze der Dunkelheit3. Eine ausführliche Bibliographie über die „Nacht des Irrtums“ bei E. Dermenghem. Er beschreibt namentlich die Gebräuche der Anhänger des Sidi Hämed Ben Yüsef in Miliana und gibt dabei seinem Erstaunen Ausdruck, daß in einer Gesellschaft, welche die Frauen von der Außenwelt hermetisch abschließt und den Ehe­ bruch mit der strengsten Strafe belegt, dieser Brauch geduldet wird. In Miliana wird nach Dermeghem die „Nacht des Irrtums“ am islamischen Fest Muled en-Nebi („Geburtstag des Propheten“) ge­ feiert. V. Paques kennt diese Feier bei den Uläd Nün der Oase Aoulef (Tidikelt) und bemerkt, daß diese heute nur im geheimen fortbestehe, weil sie sich nur schlecht mit dem reformatorischen Geist des zeitgenössischen Islams vertrage. Zusammenfassend wird man festhalten können, daß die „Nacht des Irrtums“ in der Berberei uralt ist. Weder das Christentum, noch der Islam haben es vermocht, sie zu beseitigen. Die Sitte ist zweifellos in weiten Gebieten verschwunden und wird in anderen nur mehr oder weniger geheim geübt, die Erinnerung daran hat sich jedoch an vielen Orten erhalten, und der Brauch wird heute oft zu Unrecht berberischen Bevölkerungsgruppen zugeschrieben, bei denen er freilich in früherer Zeit existiert haben mag. Auf keinen Fall kann bewiesen oder auch nur behauptet werden, daß im Altertum die „Nacht des Irrtums“ bei allen Berberstämmen bekannt gewesen sei. —> Fruchtbarkeitsriten; Höhlen. 1 Beim Stamme der Dapsolibyer, deren Wohnsitze unbekannt sind (Nicolaus von Damascus, Fragm. hist, graec. No. 135). 2 A. Moulieras, Une tribue zenete anti-musulmane du Maroc. S. 100—102. 3 Nach E. Dermenghem, Le culte des saints dans l’Islam moghrebin, Paris 1954, sowie bei Viviana Pa­ ques, L’arbre cosmique, Paris 1964, S. 65. Zur ganzen Frage vgl. Picard, S. 11.

Nasamonen. Ein bei Herodot bezeugter berb. Stamm in Libyen. -»Einleitung S. 557, 576, 597; Bestattung; Eid; Gräber; Heirat und Hochzeit; Königskult; Traumdeutung. Herodot II, 32; IV, 172.

Neger. Die Berber von Matmäta erzählen, daß die Neger aus der Ver­ bindung des -> „Raben“ (als myth. Tier) und einer Bergfee namens Treyya Zergä („Blaue Plejade“) hervorgegangen seien. Die weißen Menschen stammten vom toten Raben und einer anderen, schlangen­ artigen Bergfee namens Treyya Hamra („Rote Plejade“).

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Berber

Neptun

Die Weißen, insbesondere die A/abnöta-Berber selbst, betrachten sich als Nachkommen des „geopferten Mannes“, während die N. der Kaste der Opferer und Metzger angehören. Vor der „Um­ kehrung“ der Welt, die mit dem Morde eintrat, waren die N. die Herren. ->Einleitung S. 561, 578, 581; Beschwörung; Nachmittag; Schakal. V. Paques, L’arbre cosmique, S. 417.

Neith. Ägypt. Kriegsgöttin, von den Griechen der -> Athene gleich­ gesetzt1. Verehrt im 6. unterägypt. Gau, wo sie in Sais ein Heilig­ tum besaß, trug sie die unterägypt. Krone, einen altertümlichen Schild und zwei gekreuzte Pfeile besonderer Art. Schild, Pfeile oder zwei Bogen staken in einem Futteral. Das Symbol der N. (Schild und Pfeile) findet sich im Neuen Reiche zur Zeit Sethos I. als Tatauierung bei Libyern2. Auf dem Schrein der N. stand die In­ schrift: „Ich bin alles, was gewesen ist, was ist und was sein wird. Kein Sterblicher hat je meinen Schleier gelüftet3.“ Es scheint, als wäre N. in sehr alter Zeit den Ägyptern und Libyern gemeinsam gewesen und möglicherweise ist die libysche —> Athene am Triton­ see die gleiche Gottheit. Bei den Ägyptern wird N. auch als Kuh dargestellt, welche die Sonne gebiert4. Ihr Name dient in alter Zeit zur Bildung von Königinnennamen (Mrj-N.t, N.t-htp, N.t jkr.t = Nitokris) und sie wurden besonders von —> Frauen verehrt6. Dieser Charakter als Gottheit der Frauen würde zu ihrem libyschen Ur­ sprung passen. In Sais gab es ein „Haus der Biene“, das mit ihr in Verbindung gebracht wird. Unbeschadet anderer theologischer Lehren galt sie als älteste der Götter, als „die Große, die Götter­ mutter“, die zuerst geboren habe, als noch nichts da war. Sie soll den Sonnengott als —>Suchos (Krokodilsgott) geboren haben6. Dabei ist zu bedenken, daß Suchos (Sobek) als Gott der Seelandschaft Fayyüm ursprünglich wohl ein libyscher Gott war. 1 Herodot II, 28. Namensform ägyptisch N.t und alt auch Nr.t. 2 A. Gar­ diner, Egyptian Grammar, 3rd Edition, London 1957, S. 503 (N24 und N25). O. Bates, The Eastern Lihyans, S. 205, Note. 3 Plutarch, De Iside et de Osiride, 10. 4 Jh.t ms R': D. Mailet, Le culte de Neith ä Sais. Paris 1888, S. 94. 6 Helck-Otto: Kleines Wörterbuch der Ägyptologie. Wiesbaden 1956, S. 242 und 243. 6 Neith als Mutter des Sobek: Pyr. 510.

Neptun. In den sogen. Nymphäen der Römerzeit wurden Neptun und die Nymphen verehrt. Eine solche Anlage ist von Picard in Castellum Dimmidi freigelegt worden (—> Wassergeister). Es handelt sich um herb. Wassergottheiten, die hier als griech.-röm. Götter ver­ ehrt wurden. In ursprünglicher Form wird sich der Kult dieser Gottheiten in einfachen, ländlichen Heiligtümern abgespielt haben,

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Numen

Berber

von denen jedoch keine Spur auf uns gekommen ist. Es handelt sich um den gleichen Gott, dem Herodot als -> Poseidon libyschen Ursprung zuschreibt.

Picard, S. 10. Numen. Bezeichnung berberischer Gottheiten in römischer Zeit. Zwei Inschriften nennen die „Gottheiten Mauretaniens“. Eine Inschrift von Bougie ist der „Gottheit Mauretaniens und dem Geiste der warmen Quellen“ gewidmet (CIL VIII 8926) und die andere, von 'Ain Kebira, der „erhabenen Gottheit Mauretaniens“ (CIL VII2052). Numen entspricht hier etwa der Bezeichnung Genius. -> Maurische Götter.

Nymphaeum —> Poseidon; Wasser, Wassergeister.

Opfer. Im Altertum opferten die libyschen Hirtenvölker ihren Göttern, indem sie zuerst ein Stück vom Ohr des Opfertieres als Erstling abschnitten und über das Haus warfen; dann drehten sie dem Opfertier den Hals um. Sie opferten aber nur der Sonne und dem -> Mond, mit Ausnahme der Libyer um den Triton-See, die auch der Athene, der Tritonis und dem ->Poseidon Opfer dar­ brachten1. In Nordafrika ist das wichtigste Opfertier von jeher der ->Widder gewesen. Über die Opfer, welche die alten Kanarier ihren Göttern dar­ brachten, —>Labyrinth, —>Priesterinnen, —>Tirma, ->Weltsäule. Welche Opfergaben die einzelnen Götter in römischer Zeit erhielten, zeigen zwei Aufstellungen aus Koudiat es-Souda und Sidi 'Aziz Ben Tellis2. Im Koudiat es-Souda erhielt Jupiter einen Widder, Saturn ein Lamm, Silvanus ein Böcklein, Pluto einen Hahn, Caelestis und Minerva bekamen zwei Ziegen und Venus eine Henne. Im Sidi 'Aziz Ben Tellis wurde Jupiter ebenfalls ein Widder ge­ opfert, Saturn ein Lamm und ein Stier, Merkur erhielt ein Böcklein, Testimonium bekam einen Widder, Venus ein Schäfchen, Herkules einen Kapaun oder ein Lamm, Nutrix ein Schaf und ebenso Tellus. —> Einleitung S. 578; Gnäwi; Höhlen; Hundeopfer; Himmelsgott; Izerzer; Katzenopfer; Priesterinnen; Quellen; Tempel; Wasser­ geister; Weltsäule; Widder.

1 Herodot IV, 188. Der Bericht Herodots, daß von den meisten Berbern nur der Sonne und dem Mond geopfert wurde, muß mit Reserve aufgenommen werden. 2 Picard, S. 129. Opferstätte. Eine alte Opferstätte der Berber war sicherlich der Hadjar Gäid in der Nähe von Guertoufa, zwischen Tiaret und Relizane. Dort tritt an einer Stelle die abschüssige Felswand neben der 656

Poseidon

Berber

Straße etwas zurück und man erblickt auf einem freien Platz einen unregelmäßigen Felsblock, dessen obere Fläche (6 X 10 m) eine Plattform mit einer Neigung von etwa 30° bildet. Dieser Block ist sicherlich von der Felswand herabgestürzt und wird von anderen Steinen festgehalten. Auf der Plattform sieht man deutlich drei Aushöhlungen im Stein, eine über der anderen kaskadenartig angeordnet. Hier wurden offenbar Milch, öl, Blut und andere Flüssigkeiten geopfert. Zwei runde Löcher befinden sich auf der einen und zwei kleine viereckige Löcher auf der anderen Seite des Steines, stets im Abstand von 10 bis 15 cm. Der Oberpriester stand hier auf dem Felsen etwa 8 bis 10 m über der Menschenmenge und war im Tale weithin sichtbar. La Blachère, Voyage d’étude dans une partie de la Maurétanie Césarienne. Paris 1883, S. 42-43.

Opfertod. Von einer barbarischen Sitte bei den alten Kanariern der Insel Palma berichtet Cadamosto. Bestieg dort ein neuer Fürst den Thron, so kam es vor, daß sich einer der Untertanen zu seinen Ehren opferte. Dazu stürzte er sich von einem hohen Felsen hin­ unter, während das Volk im Tal mit bestimmten Zeremonien be­ schäftigt war. Der Fürst pflegte dann die Familie des Opfers zu belohnen. —> Königskult. Barker-Webb et S. Berthelot, Les Iles Canaries, I, 1, S. 63.

Ops. Römische Göttin, oft zusammen mit -> Saturnus genannt. Eine Stele aus Henchir Gounifida zeigt Saturnus zwischen zwei Widdern thronend, in der Rechten eine Sichel haltend, mit den Göttinnen 0. und Caelestis. O. trägt ein Diadem, einen Schleier, in der Rechten einen Opferbecher und in der Linken eine Blume. Auch sie ist zwischen zwei Tieren dargestellt. O. war wohl eine Erntegöttin, hinter der sich eine nordafrikanische einheimische Gottheit ver­ bergen kann. -> Himmelsgott ; Iuno Caelestis. St. Gsell, Musée de Tébessa, pl. I, 2.

Orahan. Name des einzigen Gottes bei den Einwohnern der Insel Gomera. Ein Seher hatte die Kanarier von Gomera gelehrt, daß es nur einen Gott im Himmel gäbe, nämlich den O. und daß der wollhaarige -> Hirguan nicht der wahre Gott, sondern dessen Feind sei. Wölfel, Torriani, S. 176—182. Vycichl, S. 183. Zum Namen vgl. -> Eranoranhan.

Plejaden

Neger; Rabe; Schmied; Sterne; Widder.

Poseidon. Hinter dieser griech. Bezeichnung verbirgt sich ein berb. Gott des -> Wassers und der -> Quellen, dem im wüstenreichen

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Priesterinnen

Berber

Nordafrika besondere Bedeutung zugekommen ist. Wenn Herodot behauptet, daß die Hellenen den P. erst durch die Libyer kennen­ gelernt hätten „denn im Anbeginn kannten den Namen des P. nur die Libyer und die hatten diesen Gott von jeher verehrt1“, so trifft seine Angabe sicherüch nicht zu, doch darf man daraus auf die Bedeutung des P.-Kultes in Nordafrika schließen. P.s Gattin war Tritonis. Ihrer beider Tochter war -> Athene, die von denMachlyern und Auseern am Triton-See verehrt wurde. Athene habe aber ihrem Vater gezürnt und sich dem Zeus übergeben, der sie zu seiner eignen Tochter gemacht habe2. P. wird außerdem mehrfach als pun. Gott genannt3. In röm. In­ schriften entspricht er dem -> Neptun als Schutzherrn der Quellen4. Ein Heiligtum des Neptun befand sich in Zaghouan. Es handelt sich um eine Anlage mit Quelle und Bassin, einem halbkreisförmigen Hof mit einer Cella dahinter. Verehrt wurden dort Neptun und die Nymphen, wohl alte berberische Gottheiten. Solche Anlagen wurden -> „Nymphäen“ genannt. Häufiger waren wohl einfachere Kult­ stätten, von denen heute keine Spuren mehr vorhanden sind5. 1 Herodot II, 50. 2 Herodot IV, 180. 3 Picard, Religions, S. 83 f. ; Hanno, Periplus 4; Sclyax, Periplus 112. 4 Toutain, Les cultes païens dans l’Em­ pire romain, I, S. 373. 6 Picard, S. 10.

Priesterinnen. Auf Gran Canaria gab es P., die spanisch maguadas oder —> harimaguadas genannt wurden1. Es waren Jungfrauen, vír­ genes vestales2, die in einem -> Kloster lebten. Es bestand aus einer Höhle, deren Eingang sich auf zerklüfteten Felsen des ValeronTales befand. Durch ein großes Portal betrat man einen geräumigen Saal, an dessen Wänden beiderseitig kleine Zellen für die Priesterin­

nen übereinander angeordnet waren; jede Zelle besaß ein Fenster nach dem Tal zu. Vor der Höhle standen zwei Türme, jeder mit, einer Stiege im Innern. In solchen Klöstern wurden die Töchter der Edlen bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr erzogen, worauf sie verheiratet wurden. Die Maguadas wurden zu Neugeborenen ge­ rufen, um diesen den Kopf zu waschen. Es handelt sich dabei keines­ falls um eine Erinnerung an die christliche Taufe; ein spanischer Autor betont dies sogar nachdrücklich : A quella ceremonia acostumbravan, con intención de simple lavatorio, y no de sacramento de bautismo2. Die P. (harimaguadas oder bautizadores) traten mit der Familie des Neugeborenen in eine Art von Verwandtschaftsverhältnis4. Auch beim Kult des Höchsten Wesens auf Gran Canaria, des -> Acoran, waren die P. zugegen. Bei langdauernder Trockenheit oder in Not ordnete der Priester oder Faycan eine Prozession zum Felsen von

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Berber

Punische Gottheiten

Tirma oder von Umiaya an. Von überall strömte das Volk zu­ sammen, mit Baumzweigen und Palmästen in den Händen. Die Harimaguadas eröffneten den Zug und zerbrachen, oben am Felsen angelangt, unter bestimmten Zeremonien die mit Milch und Butter gefüllten Gefäße. Dann wurde der kanarische Tanz, el bayle canario, getanzt oder, je nach den Umständen, eine Klage angestimmt. Danach bewegte sich der Zug zum Ufer des Meeres, wo unter lautem Schreien und Wehklagen des Volkes die Wogen mit den Zweigen und Ästen geschlagen wurden6. Die Harimaguadas lebten von Almosen. Sie trugen Kleider aus weißen Fellen, die weiter als jene der anderen Frauen waren. Ihre hauptsächlichsten Funktionen bestanden in den täglichen Milchlibationen im Tempel der Gott­ heit, der als heiliges Asyl galt und von niemandem ungestraft ent­ weiht werden durfte. —> Opfer; Taufe. 1 Auch harymaguadas, Nunez déla Peña, bei Barker-Webb, I, 1, 164. 2 Don Pedro del Castillo, cap.20 = Barker-Webb, 1,1,160. 3 Ibid. S. 163. 4 Nunez de la Pena, bei Barker-Webb, I, 1, 164. 5 Ibid. S. 169.

Prophetinnen. Die Berber schrieben häufig Frauen die Gabe der Prophetie zu. Als während der Expedition Beiisars gegen die Van­ dalen die Mauren für ihre Zukunft fürchteten, wandten sie sich an Frauen, die ihnen nach einigen Zeremonien das Bevorstehende weissagten1. Auch die ->Kähina, eine berb. Fürstin aus dem Stamme der Djeräwa, die den Widerstand der Berber gegen die Araber organisierte, wurde von ihren Stammes- —> Geistern vom bevor­ stehenden Sieg der Araber in Kenntnis gesetzt. Sie selbst sandte, ehe sie die letzte Schlacht lieferte, in der sie den Tod fand, ihre beiden Söhne zu den Arabern, damit sie sich diesen ansohlössen, um die Herrschaft in ihrer Familie zu erhalten.2 —> Zukunftsdeutung.

1 Procopius, De bello Vandálico, II, 8. 1936, sub Kähina.

2 Enzyklopädie des Islams, Leiden

Psyllen —>Einl. S. 575; Aisawa; Schlangen; Schlangenbeschwörer. Punische Gottheiten. Über tausend Jahre wurden in Nordafrika p.G. verehrt und unter ihren Verehrern befanden sich neben den Puniern sicherlich auch viele Berber. Es ist nicht möglich, bei jeder Gott­ heit die Zusammensetzung der Anhängerschaft zu diskutieren, doch scheinen —> Hammön, —> Thinit, -> Melqart, -> Astarte, ferner Eschmün (der griech. Asklepios) und ein Meergott (griech. Poseidon, lat. Neptun) besonders verehrt worden zu sein. Dabei wurde Bacal Hammön dem -> Saturn gleichgesetzt, Melqart, der „Stadtkönig“, dem —> Herakles. Thinit, die Schutzgöttin von 659

Pyramiden

Berber

Karthago, lebt in röm. Zeit als -^-Iuno Caelestis weiter; sie scheint berb. Herkunft zu sein. Dafür spricht der Umstand, daß sie in Phönizien selbst nicht nachzuweisen ist und daß ihr Name wenig­ stens äußerlich (mit den beiden „femininen“ i) berberisch aussieht. Punischer Einfluß wird vielleicht bei den zuckerhutförmigen Steinen vorliegen, die man Betyle nennt (bet „Wohnung, Haus“, yl „Gott“, also „Sitz der Gottheit“). —> Einleitung S. 586. Pyramiden. Grabbauten einer christl. Dynastie, deren Anlage ent­ fernt an die Stufenpyramiden des Djoser in Ägypten erinnert, finden sich in Algerien zwischen Frenda und Tiaret. Es handelt sich um drei Bauten auf dem Djebel Lakhdar (arab. el-Zebel l-ahdar „der grüne Berg“) und zehn weitere, in einer Entfernung von 6 km in Ternaten. Diese Djeddär (arab. geddär) haben im Inneren Gänge und mehrere Kammern. In einem finden sich Spuren von Malerei (Heiliger mit Stab). Sie wurden im 6. und 7. Jh. von anscheinend unabhängigen Berberkönigen errichtet, die sich zum christlichen Glauben bekannten1. Eine der P. erreicht eine Höhe von 45 m. Das Innere eines solchen Baues wird folgendermaßen beschrieben: „Wenn man beim Eingang gerade hineintritt, findet man drei Räume, die voneinander durch einen Gang von mehreren Metern getrennt sind. Vom ersten Raum gehen rechts und links zwei andere Gänge gleicher Art weiter, die ein zweites System von 5 Räumen bilden, welches das erste (von drei Räumen) umgibt. Das zweite System wird aber wiederum von einem dritten umgeben, dessen Gänge vom Eintrittsgang zugänglich sind und acht Räume um­ fassen, außerdem vier kleine Kammern an den Ecken. Auch hier sind alle Räume und Kammern durch Gänge verbunden.“2 Es handelt sich hier um die Weiterbildung einheimischer Grabbauten. —> Gräber. 1 Algérie, Tunisie. Les Guides bleus. Paris 1938, S. 131. Julien, Histoire, S. 311. 2 Beschreibung von La Blanchère bei Julien, ebendort. Siehe auch St. Gsell, Les monuments antiques de l’Algérie, II, S. 423 und Tafel CVI.

Qandisa. 'Ai&a Qandisa, einen weiblichen Dämon, kennt die arab. sprechende Bevölkerung Nord-Marokkos. Sie wohnt in Quellen und Flüssen, wo sie Badenden auflauert, um sie zu töten. Vor allem aber stellt sie jungen Männern nach, um sie zu verführen; wer sich aber von ihr betören läßt, dem raubt sie den Verstand. Ihr Gesicht ist von außergewöhnlicher Schönheit, doch hat sie Ziegen- oder Eselsbeine. Sie wird auch als schöngesichtiges Weib mit Eselskörper, langen Hängebrüsten und menschlichen Beinen oder überhaupt als altes Weib geschildert. Die Beni Ahsen erzählen,

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Berber

Quellen, heilige

sie wohne mit ihrem Manne Hammu Qayyu im Flusse Sebou. Dort werden ihr am Sonnwendtag Opfer gebracht : wer im Flusse baden will, wirft ihr zuerst brennendes Stroh und etwas Kuskus ins Wasser — das ist deutlich ein Opfer. Ihr Name 'Aisa ist arab.; die Lieblingsfrau des Propheten Mohammeds hieß so. Sie ist jedoch in keinem anderen Lande arab. Zunge bekannt. Qandisa klingt an die Bezeichnung Qedësa an, wie im alten Kanaan die Tempel­ prostituierten genannt wurden. Westermarck möchte in ''Aisa Qandisa die phönikische Astarte sehen, die Göttin der Liebe, die auch mit Quellen und Flüssen zu tun hat. Diese wurde in Karthago verehrt und sicherlich auch in karthagischen Niederlassungen Marokkos, wie in Thymiaterion (wahrscheinlich das heutige Mehdiya), in dessen Nähe die Beni Ahsen leben, die Q. und ihrem Gatten Hammu Qayyu Opfer darbringen. ^Wasser, Wassergeister; Dämonen.

Westermarck, I, S. 289—296; II, S. 197. S. Biamay, Notes d’éthnographie et de linguistique nord-africaines. Paris 1924, S. 59 (§59: ogres et ogresses). Es scheint hebräisch qaddis „heilig“ vorzuliegen, mit der (auch berberisch bekannten) Dissimilierung der Gemination (qandisa für qaddiia). Arabisch kann die Form nicht sein, weil hier q-d-s vorliegt. Daß es sich um ein pun. Wort handelt, ist unwahrscheinlich, weil pun. q im modernen Berber, (außer in tunes. Eigennamen) als g erscheint (schilh. aganim „Rohr“ aus pl. qanim).

Quellen. Zahlreiche Qu. gelten noch heute als wunderkräftig. Im Ge­ biete der Igedmiwen, im Großen Atlas, gibt es eine wunderbare Quelle Imi n tala, die von Geistern (arab. znün) bewohnt ist. Ihr Wasser heilt Krankheiten. Haben die Bergbewohner mit den Leuten aus der Ebene Streit, so werfen sie einen Stein in diese Quelle, worauf sich ein heftiger Sturm erhebt. Nur das Opfer einer Schüssel salzlosen Breies, wie ihn die Geister gerne essen, kann die Geister versöhnen. Bläst der Sturmwind mehrere Tage, so wird ein —> schwarzer —> Stier geschlachtet. —> Opfer; Wasser, Wassergeister; Witwe.

J. B. Andrews, Les fontaines des génies, Paris 1903.

Quellen, heilige. Reste berberischen Heidentums leben im Volks­ glauben um die h. Q. und —> Brunnen fort. Bei den Kabylen be­ schützt ein Engel (elmelk, pl. elmelayekkat) das Quellwasser (aman el-le' wanser), ein wundertätiger —> Heiliger (ahernuk), eine weiße, d.i. edle Frau (taherrit), eine Negerin (taklit), ein Löwe (izem), eine Katze (amsis), ein —> Schakal (uSsen) oder ein sonstiger —> Geist (a'eqqar). Nur wenn man einen Wunsch hat, etwa um Kindersegen oder Genesung von einer Krankheit, naht man sich dem heiligen Wasser, badet darin oder gießt es über den Körper. Dabei bringt man den Hütern der Quelle (a'essas, pl. i'essasen) ein Opfer dar, 43

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Babe

Berber

um sie günstig zu stimmen. Sie verabscheuen es, wenn man nach­ lässig gekleidet ist oder unziemliche Reden führt. Dezente Kleidung und würdiges Betragen allein gefallen den -^Geistern (aruhani, pl. iruhaniyen). -^-Poseidon; Wasser, Wassergeister. H. Genevois, Superstition II. Fichier de documentation berbère. Fort National 1968, p. 3—8.

Rabe. Bei den Berbern von Matmäta in Süd-Tunesien wird der R. mit Sicherheit als myth. Tier aufgefaßt. Möglicherweise steht er auch nur für einen anderen myth. Vogel, einen Geier oder Adler. Er ist es, der das Fleisch des —> Schakals an die Mitglieder seiner Familie verteilt und aus dessen Blut den (natürlichen roten) Wein

herstellt1. Auch die erste Kleidung wurde aus dem Fell des Schakals verfertigt. Bei einem Kampf zwischen zwei Raben wurde einer von ihnen ge­ tötet; ihm wurde das erste Grabmal errichtet. Das war das erste Feld. Nach dem Totenopfer stieg der getötete Rabe auf die Erde hinab, während der andere in den Himmel flog. Es wird nicht gesagt, wie es kam, doch die beiden trafen sich schließlich und ver­ söhnten sich wieder. Beide Raben überflogen nun den Berg der Threyyä Zergä (die „blaue Plejade“). Dieser Berg entspricht einem weibl. Geist, der sich mit dem lebendigen Raben vereinigen wollte. Als dieser sich weigerte, blies sie ihn an und verwandelte ihn in einen „schwarzen Mann“. Aber auch in dieser Gestalt beharrte er bei seiner Weigerung; da verwandelte sie ihn wieder in einen Vogel. Dieser flog nun zur Schwester der Bergfee, die Threyyä Hamrä (die „rote Plejade“) hieß, und bat sie um Beistand. Diese ver­ wandelte den Vogel wieder in einen „schwarzen Mann“, der sich nun mit Threyyä Zergä vereinte. Aus dieser Verbindung entstanden die —> Neger. Als der Rabe starb, vereinte er sich nochmals (wie der tote Osiris) mit Threyyä Hamrä, die einer Schlange glich, und aus dieser zweiten Vereinigung entsprangen die Weißen. Die Weißen sind bei den Matmäta-Berbern die Nachkommen des „geopferten Mannes“ (hier durch den R. symbolisiert), während die —> Neger ursprünglich zur Kaste der Opferer und Metzger gehören. Erst nach der „Umkehrung“, die in der Welt nach dem ersten Morde erfolgte, wurden die Weißen die Herren und die Neger die Sklaven. Vorher herrschten die Neger2. Plejaden. 1 Weil der Schakal ein wildes Tier ist, macht der Genuß seines Blutes auch den Menschen wild. 2 Viviana Pâques, L’arbre cosmique, S. 415—417.

Regen(bogen). Bei den Schilh in Südwest-Marokko heißt der R. taslit nwaman „Wasserbraut“ oder taslit w wënzar „Regenbraut“.1 Im

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Berber

Regenzauber

Dialekt der Ntifa heißt der R. taggwst n ignwan „Himmelsgürtel“ und die gesamte Naturerscheinung des R. mit feinem Regen bei sonnenklarem Himmel tamgra nuSsën „Hochzeit des Schakals“.2 Die Tuareg der Stadt Ghat gebrauchen den Ausdruck tagëddalt n Engi „Schwiegertochter des Regenwassers“.3 Ähnliche Ausdrücke finden sich bei den Ischkern im Rif (tislit w wunzar „Regenbraut“), Ait Warain (taslit wunzar „Regenbraut“) und Ait Isaffen (taslit w waman „Wasserbraut“)4. Der Regen (berb. anzar, auf der Oase Wargla und stellenweise im Rif amzar) wird also als männl. Prinzip aufgefaßt. Arab. wurde dieser Ausdruck als 'arsët ëd-dïb „Hochzeit des Schakals“ übernommen®. Der Sinn ist, daß der Schakal als Gott­ heit bei seiner Hochzeit von der Natur gefeiert wird. Dabei ist das Verhältnis von Schakal und Regen oder Regengott nicht ganz klar6. 1 Destaing, Vocabulaire français-berbère. Étude sur la tachelhit du Sous. Paris 1938, S. 20. 2 Laoust, S. 189: taokst n ignuan, tamgra r ussën. 3 Nehlil, Étude sur le dialecte de Ghat. Paris 1909, S. 128: tadjedalt n endji. 4 Siehe Anm. 2. 5 R. Basset, Noms de l’arc-en-ciel chez différents peuples de l’Afrique. Mélusine II. Paris 1884 1885, S. 70. 6 Matti Kuusi, Regen bei Sonnenschein. Zur Weltgeschichte einer Redensart. PP Communications, Vol. LXIX, No. 171. Helsinki 1957, mit systematischer Untersuchung von Redenarten wie „le diable bat sa femme et marie sa fille“ (Frankreich) oder „the devil is beating his grandmother“ (England).

Regenzauber. Auf heidnische Vorstellungen gehen die in der ganzen Berberei verbreiteten Gebräuche zurück, bei anhaltender Trocken­ heit den Regen mit Hilfe einer Puppe, der „Braut des Regens“, hervorgerufen. Ein großer, hölzerner Kochlöffel, wie man ihn zum Umrühren verwendet, wird wie eine Puppe gekleidet — wobei ein anderer Löffel oder ein Rohr, quer darübergebunden, die Arme dar­ stellt — und unter Absingen bestimmter Gesänge mehr oder weniger feierlich von Frauen und Kindern in den Straßen des Dorfes ge­ schmückt umhergetragen. Dabei wird die „Braut des Regens“ be­ sprengt ; in anderen Gegenden wird sie auch gebadet. Im einzelnen variieren die Gebräuche und Lieder ziemlich stark1. Die Namen der Puppe sind Tdgonza, Tlgonza, Bdgonza, Tango, Umm Tango, Tonbu, Tatambo, Taslit Unzar („Braut des Regens“)2. Der Name Tdgonza (mit zahlreichen Nebenformen) ist am weitesten ver­ breitet und gehört zu Wörtern wie kabylisch agariza „großer Löffel“ (m.) und tagenzaut „Löffel“ (f.). Diese Ausdrücke sind spätlat. Ur­ sprungs3. Der Kochlöffel stellt die rohe Nachbildung einer mensch­ lichen Figur dar, wobei der ovale Teil dem Kopf entspricht. In Marrakesch wird dieser Teil mit schwarzer Farbe wie ein mensch­ liches Gesicht bemalt (Augen, Nase, Mund), und die Wangen werden rot geschminkt. Die beteiligten Frauen selbst sind in neue Braut43*

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Kegenzauber

Berber

bleider gehüllt. Zwei oder drei von ihnen tragen Körbe für die ein­ zusammelnden Gaben. Bei einbrechender Nacht besuchen sie die wichtigsten Heiligen der Stadt und singen (arab.): Tagonza, hellat räs-ha, ja-rbbi bell heräs-ha! Tagonza, ja umm rza, ja-rbbi zib 5-sta! Tagonza hat ihr Haupt entblößt, o Herr, benetze ihr Ohrgehänge! Tagonza, du Hoffnungsreiche, o Herr, gib Regen!4. Im Gebiet von Tafilalt (Marokko) sprechen die Frauen die Fätha, die erste Sura des Korans, und beginnen miteinander ein Handgemenge, das mit der Zerstörung der Puppe endet. Es heißt, wenn die Puppe nicht zerstört wird, werde es niemals regnen5. Bei den Ait Schitaschen bei Demnat (Marokko) singt man: A Tlgonza, g-aneg-dd anzar, a Tlgonza, awi-dd anzar! Attnekker tuga g igallen, ad-ilin izamaren! 0 Tlgonza, mach uns Regen, o Tlgonza bring uns Regen! Damit Gras auf den Hügel sprießt, damit es Widder gibt! Das ist berberisch6. Die Puppe als „Braut des Regens“ (taslit wunzar, tislit wunzar, im Rif auch tasrit wunzar) soll, bräutlich geschmückt, ihren Verlobten, den Regen (anzar), herbeilocken, der wohl einen alten Gott der Berber verkörpert. Dieser zieht übrigens in manchen Gegenden, ebenfalls als Puppe gekleidet, in der Prozession mit. Es soll zu seiner Fertigung ein Löffel und ein Stößel, wohl als Symbol seiner Männlichkeit, verwendet werden. Seine Kleidung besteht aus schwarzen Lumpen, dunkel wie die regenverheißenden Gewitter­ wolken, so in Tasemsit bei den Injedwak (Marokko), wo die beiden Puppen von einer alten Frau gefertigt werden8. In Tunis führen bei Trockenheit die Kinder eine wirkliche Kinderpuppe oder auch einen als Puppe geschmückten Löffel durch die Straßen und singen: Ummek Tango, ja nsä, tabbet Rabbi 'aS-sta, Ummek Tango bi-shajibha, talbet Rabbi la jhajib-ha Ummik Tango, o Frauen, bat Gott um Regen, Ummik Tango, mit ihrem Halsband bat Gott, er möge sie nicht abweisen! Der Reim ist arabischB. Im Rif und im Mittleren Atlas kennt man auch 'Ali Bu-Tgelmust, d. h. „Ali mit der Kapuze“, eine Puppe, die sich vor dem Platz­ regen fürchtet und ihn dadurch herbeilocken soll10. Auch eine Fahne, ein Rohr mit darangeknüpftem weißem Tuch, wird von Haus zu Haus getragen. In Iksebt n Müläy Serif (Tafilalt) bittet man dabei um Regen11. Die Fahne spielt auch bei anderen Gelegenheiten eine Rolle, so z. B. bei Heiraten, Beschneidungen und Erntezeremonien.

Eine römische Armee unter Hosidius Geta war bei der Verfolgung des Rebellenführers Subulus nahe daran, in der Sandwüste vor Durst umzukommen. Ein Einheimischer bat den General, sich an 664

Berber

Saturn

Beschwörer zu wenden, um auf diese Weise Wasser zu erhalten. Der Zauber gelang12. -> Aranfaibo; Eranorahan; Widder.

1 Picard, S. 10. 2 Laoust, S. 207—228. 8 Lat. concha „Muschel“ (aus dem Griech.) hat hier das Wort für „Löffel“ geliefert, wie coehlea, der echt lat. Ausdruck, in dem roman. Sprachen Ausdrücke wie cuiller, cucchiaio usw. ergeben hat. 4 Laoust, S. 207. 5 Ebd., S. 208. 6 Ebd., S. 210. 7 Ebd„ S. 213. 8 Ebd., S. 215. 9 Eigene Aufnahme, auch bei Laoust, S. 225 (phonetisch anders). 10 Ebd., S. 211. 11 Ebd., S. 231. Eine ausgezeichnete Zusammenstellung der Regenzeremonien, bei Westermarck, Ceremonies and Beliefs connected with Agriculture. Helsingfors 1913. 12 Dion Cassius, Hist, rom. IX, 9. Riesen. Im Rif erzählen die Berber von einem Riesen namens 'Iwag, dem Sohn des 'Enaq. Er lebte in der Vorzeit im Gebiet der Beni Chalid. Drei Berge waren die Herdsteine für seinen Kochtopf. Sein Teller war eine Ebene, die deshalb tziwa (Teller) genannt wurde. Mit der einen Hand reichte er bis zum Ras Fughai, um Brennholz zu holen, und mit der anderen holte er Fische aus dem Meer. Ein Stamm wollte ihm einmal einen Burnus weben; nachdem ein Jahr lang daran gearbeitet war, reichte er ihm doch nur bis ans Knie. - > Einleitung S. 582; Antaios.

1 Renisio, Dialectes du Rif, S. 156.

Römische Gottheiten. Zur Zeit der Römerherrschaft übersiedelte das gesamte röm. Pantheon nach Nordafrika. Wenn dort manche Götter mehr Einfluß gewannen, als ihnen in Italien zukam, so wird dieser Umstand darauf zurückzuführen sein, daß sie ihren Namen einer bedeutenden einheimischen (berb. oder pun.) Gottheit geliehen haben. Hierher gehört vor allem -> Saturn, -> Neptun, -> Iuno (Caelestis), die —> Cerercs, -> Genii, -> Numina, die berb. Naturgott­ heiten darstellen, ferner —> Africa als dea Patria, dann - >()ps, Nutrix, Virtus und andere. -> Göttern amen; Interpretatio romana; Maurische Götter; Weih­ inschriften.

Saturn. Der afrik. S. entspricht seinem Wesen nach nicht seinem röm. Namensvetter, sondern dem pun. Bacal. Die Häufigkeit seines Vor­ kommens läßt mit Sicherheit darauf schließen, daß er auch den Berbern bekannt war, und dieser Umstand rechtfertigt seine Be­ handlung am Rande der berb. Mythologie. Er erscheint dargestellt als bärtiger Greis, zuweilen mit einer Sichel, einem Löwen, einer Honigwabe oder einem Fichtenzapfen. Neben ihm stehen die Büsten von Sol und Luna, auch Castor und Pollux, die vielleicht den berb. Reitergottheiten Iunam und Magurtam auf dem Steine von —->Böja

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Saugung

Berber

entsprechen. Er ist —> Himmelsgott, Herr der Zeit und des Acker­ baues. Ihm stehen die Göttinnen der landwirtschaftl. Fruchtbarkeit nahe, wie Ceres oder die -> Cereres, Ops1 und Nutrix. Er ist der „Heilige“ (sanctus), der „heilige Gott“ (deus sanctus), der „heilige Herr“ (dominus sanctus), der „heilige Herr und Gott“ (dominus deus sanctus), das „heilige Wesen“ (numen sanctum), der „große Gott“ (deus magnus), der „unbesiegte Gott1 (deus invictus), der „Fruchtbare“ (frugifer), der „Gott der Früchte“ (deus frugum) und daneben wird er noch nach den Orten benannt, an denen er eine Kultstätte besaß: Neapolitanus, Balcaranensis, Sobarensis, Privatensis, Palmensis, Aquensis, Umbubalius, Sorothensis und „Genius des Haines“ (genius saltus).2 1 CIL VIII 2670. Saturnus dominus et Ops regina. 2 J. Toutain, De Saturni dei in Afriea cultu: Paris 1904. Ders., Les cultes païens dans l’Empire ro­ main. III, S. 18—19. Ders., Le sanctuaire de Saturne Balcaranensis au Djebel Kournein. Mélanges de l’École Française de Rome, XII, 1892, p. 1. Picard, S. 118—124.

Saugung. In berb. Märchen ist oft davon die Rede, daß ein Kind in das Haus einer Hexe gerät und in Gefahr ist, aufgefressen zu werden. Doch gelingt es ihm, an der Brust der Hexe zu saugen, womit es als Mitglied der Familie gilt; niemand tut ihm jetzt etwas zu­ leide. Einmal kam ein Mädchen in ein Menschenfresserhaus, aß dort von sieben Tellern Kuskus und trank aus sieben Krügen Wasser. Der Sohn des Ungeheuers riet ihm, an der mit Henna gefärbten Brustzitze seines Vaters(!) zu saugen. Das Mädchen folgte seinem Rat und blieb verschont, ja, das Ungeheuer heiratete es sogar1.

Es hegt nahe, hierin einen Nachhall alter Göttersagen zu sehen, in denen von Göttinnen berichtet wird, die auserwählten Menschen die Brust reichten, um sie in die Gemeinschaft der Götter aufzu­ nehmen. Parallelen lassen sich aus dem alten Ägypten anführen, wo mehrere Darstellungen bekannt sind, auf denen Göttinnen den (bereits erwachsenen) König in vollem Ornat säugen. So reicht die Göttin Mut in Abydos König Sethos I. (ca. 1300 v.Chr.) die Brust.2 Von einem heiligen Baum, der als weibliche Gottheit anzusehen ist, wird König Thutmosis III. in Theben gesäugt. Dieser Baum besitzt an „menschlichen“ Zügen nur eine weibliche Brust, an welcher der König saugt, und einen Arm, der aus dem Geäst heraus­ ragt.3 Daß diese Milch dem König göttliche Eigenschaften ver­ mittelt — er ist ja nicht mehr der „große Gott“ wie in der Pyra­ midenzeit, sondern nur noch der „Sohn des Sonnengottes“ — darf als sicher gelten. Eine andere Frage ist es, ob die Göttermilch zu dieser Zeit noch wie in der Pyramidenzeit ein magischer Trank

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Berber

Schaf

war, der die Aufnahme anderer Speisen und Getränke unnötig machte.

Von der Fürstin des Berberstammes der Djeräwa, der sogen. —> Kähina, wird erzählt, daß sie nach der erfolgreichen Schlacht von Miskiana einen arab. Gefangenen namens Chälid adoptierte. Sie sprach: „Du bist der schönste Mann, den ich je gesehen habe. Ich will dir meine Milch geben, auf daß du der Bruder meiner beiden Söhne werdest. Bei uns Berbern verleiht nämlich die Milchbruder­ schaft wechselseitig das Erbrecht.“ Sie nahm hierauf Gerstenmehl und öl, knetete daraus einen Teig und legte diesen auf ihre Brüste. Hierauf rief sie ihre beiden Söhne und ließ diese zusammen mit Chälid den Brei von ihrer Brust essen. Sie sprach: „Ihr seid Brüder geworden“4. Einleitung S. 557. Vgl. auch Wörterbuch d. Mythologie I, Stutt­ gart 1965: Syrien, Abb.2; Ägypten, Abb.4. 1 E. Laoust, Étude sur le dialecte berbère du Chenoua. Paris 1912, S. 150. 2 Walther Wolf, Le Monde des Égyptiens, Paris 1958, pl. 92. 3 J. Leelant, Le rôle du lait et de l’allaitement, d’après les textes des pyramides. Actes du XXI° Congrès international des Orientalistes, Paris 1959, S. 62. W. Vycichl, L’allaitement divin du pharaon expliqué par une coutume africaine. Acta Africana. Genève-Afrique V, 1966,247—252. 4 J. Bourilly, Éléments d’éthnographie marocaine. Publiés par E. Laoust. Paris 1932. S. 71—72. Arab. Literaturangaben in der Enzyklopädie des Islams, l.Aufl., II (1927), S. 667.

Säule des Himmels. So nennt Herodot1 den Berg —> Atlas. Schon für Homer war er das westliche Ende der Welt, von Nebel bedeckt und es ragten dort die „hohen Säulen“ des Himmels auf2. Die Vor­ stellung, daß der Berg „den Himmel trage“ ist dadurch entstanden, daß sein oberer Teil oft von Wolken bedeckt war3. In der griech. Sage ist es dann der Riese Atlas, der den Himmel trägt und hier ist es möglich, daß sich berb. und griech. Vorstellungen gemischt haben. Vergleiche auch —> Weltsäule. 1 Herodot IV, 184. 2 Odyssee I, 53—54. 3 Auch bei den Babyloniern findet sich diese Vorstellung. Ausführliche Diskussion bei Gsell, Hérodote, S. 108-109.

Schädelreliquie. Die nach Nikolaus von Damaskus libyschen Paneber schnitten ihren verstorbenen Königen die Köpfe ab, vergoldeten sie und verwahrten sie in einem Heiligtum. —> Königskult.

Nikolaus von Damaskus, Fragm. hist, graec. III, S. 463. Der Stamm der nävrjßoi ist nicht lokalisierbar. O. Bates zweifelt sogar, ob es wirklich Libyer waren (Eastern Libyans, S. 182, Note 2).

Schaf -> Amen. 667

Schakal

Berber

Schakal. Der Sch. gilt bei den Berbern als unheimliches Tier. In einem Volksmärchen vertritt er geradezu den Teufel: es ist die aus der Sammlung der Gebrüder Grimm bekannte Geschichte, in welcher ein Bauer mit dem Teufel zweimal die Ernte eines Feldes teilt und ihn dabei überlistet. Bei den Berbern ist es der Hase und der Sch., hier geht natürlich der Sch. leer aus.1 Am Ende der Märchen rezitieren die Kabylen gerne eine Formel, in welcher der Sch. ver­ flucht wird.2 Der -> Regenbogen heißt schilhisch tamgra n ussen „Schakalshochzeit“. Giftige oder ungenießbare Früchte oder Pflanzen werden durch den Zusatz n wusSen charakterisiert, etwa adil w wussen „Tollkirsche“, wörtlich „Schakalstraube“, bei den Mtugga in Marokko3. Auf —> Felsbildern sind Jäger und vermutlich Priester mit Schakalsmasken abgebildet. In Ägypten ist der Sch. das Tier des Totengottes Anubis, das sich bei den Gräbern am Wüstenrande herumtreibt. Berb. ussen „Schakal“, auch ehensi bei den Tuäreg, hängt etymologisch mit ägypt. w-n-s, kopt. wönes „Wolf, Schakal“, zusammen. Bei den Matmäta, den berb. Höhlenbewohnern im Süden Tunesiens, spielt der Sch. im Volksglauben eine große Rolle. Er ist das Tier der Trockenheit und des Winters. Wie der Mensch, ist er aus Ton geschaffen und sein Fell ist erdfarben. Früher gab es auch weiße Sch. Bei den Matmäta gibt es die „roten“ Sch. Die „schwarzen“ Sch. greifen Menschen an. Der erste Jäger, der einen Sch. tötete, warf den Kopf, die Beine, den Schwanz und die Eingeweide fort. Der Rest wurde gebraten in 48 Teile geteilt. So wird der Sch. noch heute geteilt, wenn man ihn ißt. Nachdem der Sch. ein Stück des Mondes gestohlen hatte, stieg er unter die Erde hinab und heiratete dort eine Fee. Die Kinder der beiden sind die Beni Yamyarn, menschenfressende - >Neger im Lande Waqwäq (im Inneren Afrikas), sowie die Beni Klab4. Dann stieg der Sch. wieder auf die Erde herauf und heiratete seine eigene Mutter. Aus dieser Vereinigung entstanden die Tiere. Die Matmäta wissen auch, wie der —> Regenbogen zustande kommt. Die Mitglieder einer Negerbruderschaft, die Bu Sadya durchziehen bettelnd das Land. Sie tragen einen Schakalschwanz und verteilen an die Frauen kleine Stücke von Schakalsfell (von den Pfoten). Die Frauen wickeln Räucherwerk (gäivi'} hinein, und verfertigen ein Amulett aus Gazellenleder (filäli), das sie an ihrem rechten Arm oder an ihrem Kopf befestigen. Das ist gut für Kindersegen. Der Gegenspieler des Sch. ist der —> Rabe, der den Sch. nach dem Raub des Mondteilchens schlachtete und in 48 Stücke zerteilte. Die Knochen^warf er in die Berge, wo sie als Dünger dienen. Aus manchen Knochen entstanden jedoch kleine Sch. und andere 668

Berber

Schamärich

Knochen vermischten sich mit der Erde des Feldes, das von Adam und Eva bestellt worden war. Auch die erste Kleidung wurde aus dem Fell des Schakals hergestellt5. Hier erweist sich der Sch. deutlich als mythologische Figur. Daß der rote Wein aus seinem Blute hergestellt wurde, geht sicherlich darauf zurück, daß Alkohol die Menschen so wild macht wie Schakale. -> Tierbruderschaften. Vgl. auch Wörterbuch der Mythologie I, Stuttgart 1965: Ägypten ->Anubis. 1 Laoust, Étude sur le dialecte berbère des Chenoua, S. 158—159. 2 Auguste Mouliéras, Les Contes merveilleux de la Kabylie, passim: „Den Schakal hat Gott verflucht, uns segne er!“ 3 E. Laoust, S. 502: Pflanzennamen mit uääen gebildet. 4 Pâques, die von diesen Vorstellungen berichtet, gibt hierüber keine Aufklärung, doch kenne ich diesen Stamm aus dem ägypti­ schen Volksglauben: es sind dies Negerinnen, deren Gatten Hunde sind. 5 Pâques, S. 413—417.

Schamärich. Die Beni Ursifan, ein Berberstamm, zog nie in den Krieg, ohne vorher den Samärih (pl.) eine schwarze Kuh geopfert zu haben. Sie sagten dann: „Hier ist ein Opfer für die Samärih!“ In derselben Nacht entfernten sie die Deckel aller Gefäße, die Nahrungsmittel und Viehfutter enthielten, und ließen alles offen. Sie sagten: „Das sind Lebensmittel für die Samärih!“ Wenn der

Tag des Kampfes herannahte, hielten sie vom Morgengrauen an Ausschau, ob sie nicht einen Staubwirbel sahen. Wenn sie ihn er­ blickten, riefen sie: „Da sind eure (sic) Freunde, die Samärih, die euch zu Hilfe kommen !“ Dann stürzten sie auf die Feinde, mit dem sicheren Gefühl, den Sieg davonzutragen. Sie behaupten, daß dieses Mittel nie seine Wirkung verfehlt habe, und suchen ihren Glauben daran keineswegs zu verbergen. Wenn sie einen Gast empfangen, lassen sie stets einen Teil ihrer Mahlzeit für die Samärih übrig, die nach ihren Angaben immer kommen, um ihn zu verzehren. Bei allen diesen Dingen vermeiden sie es sorgfältig, den Namen Allahs auszusprechen1. Wir kennen nur die Pluralform Samärih. Das ist ein „gebrochener“ Plural des Arabischen, dessen Singular (*Samräh, *samrüh o. ä.) nicht feststeht. Die bekannten Bedeutungen („Palmzweig, Gipfel, Spitze, Blesse eines Pferdes, Pferd mit Blesse“ bei De BibersteinKazimirski, Dictionnaire arabe-français, Paris 1860, Vol.I, S. 1268, sowie Samrüh „Skorpion“, von mir in Luxor gehört) passen nicht hierher. Das Wort scheint die Übersetzung einer berberischen Be­ zeichnung zu sein, einmal wegen des Lautes h, der im Berberischen sehr selten ist, dann wegen der arabischen Pluralform. 1 El-Bekri, S. 351 — 352 (Arab. Text S. 189 der Pariser Ausgabe von 1965).

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Schätze, vergrabene

Berber

Schätze, vergrabene. Der Glaube an verborgene Schätze ist in Nord­ afrika weit verbreitet. Mit dem Schatzsuchen beschäftigen sich vor allem Tolba (wörtlich „Schüler“, sg. Tälib, d. h. Schriftkundige) aus dem Wäd Süs in Südmarokko. Diese schlachten nicht nur Ziegen, um den schatzhütenden Geist zu besänftigen, sondern an­ geblich auch Kinder1, deren Blut der „Hüter“ des Schatzes trinkt. Der „Hüter“ erscheint in der Gestalt eines riesigen Negers mit Schwert, einer Schlange oder eines anderen Tieres (Stier, Hund). Es ist nicht immer leicht festzustellen, was bei diesen Vorstellungen berb., pun. oder mohammed. ist. Der Glaube an verborgene Schätze ist bei den Berbern so stark verankert, daß die Einwohner von Amzrou am Wäd Drä (Marokko) sogar Wächter gegen Diebe auf­ stellten, weil sie von der Existenz von Schätzen in den Höhlen ihrer Nachbarschaft fest überzeugt waren1 2.

Tacitus berichtet, ein Afrikaner namens Cesellius Basus habe Kaiser Nero angeboten, die vergrabenen Sch. der Dido, der ersten Königin Karthagos, aufzufinden, welche diese in einer Höhle vor larbas versteckt haben sollte. Cesellius wollte im Traum eine Offen­ barung darüber erhalten haben. Er fand jedoch die Sch. nicht und endete durch Selbstmord, um dem Zorn des Kaisers zu entgehen3. 1 R. Brasset, Religion, S. 38. 2 Ch. de Foucauld, Reconnaissance du Maroc, S. 51. 3 Tacitus, Annales XVI, 1—3.

Schemharüdsch (Semharüz). Sidi Schemharudsch ist ein marokka­ nischer Heiliger, der in einer Höhle zwischen drei Bergen, dem ¿bei Agundez, ¿bei Azzaden und ¿bei Azgruz, seinen Sitz hat. Vor der Höhle befindet sich ein natürliches Wasserbecken mit algen­ grünem Wasser und einem Ig'g'i-Baum. In der Höhle wohnt der Geist. Der Name ähnelt dem des Schamhürisch in arab. Zauberbüchern und ist augenscheinlich eine Verballhornung des hebr. Sehern hammephöräsch1. Die Berber feiern seinen „Musern“, sein Jahresfest, als ob es sich um einen mohammed. Heiligen handelte. Die Feier findet im Sommer statt. Man schlachtet Hühner, Hammel, oft auch einen schwarzen Stier. Sidi Schemharüdsch hört die Bitten seiner Besucher an und schafft Abhilfe für ihre Leiden. Besonders gut bekannt ist er als Vertreiber des Fiebers, das im Wäd Nfis sehr häufig auftritt. Die mohammed. Gelehrten sind gegen ihn ein­ genommen, da er einem orthodoxen Heiligen, Muläy Ibrahim, Konkurrenz macht2. 1 Eigene Deutung. Henry Basset, Grottes, S. 109: le nom n’est pas arabe. 2 Doutte, En tribu, S. 90—91.

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Berber

Schlangenbeschwörer

Schläfer. El-Bekri berichtet von den sogen. „Schläfern“ bei den Berbern Nordmarokkos, bei den Beni Sarid, den Beni Qetiten, den Ghomära und den Beni Yerüten am Flusse Läw (Laou). Diese ver­ fallen zwei bis drei Tage in einen lethargischen Zustand, während dessen sie unbeweglich daliegen. Selbst wenn man ihnen die heftig­ sten Schmerzen bereitete oder wenn man sie in Stücke schnitte, würden sie sich nicht rühren. Bei ihrem Erwachen bieten sie den Eindruck von Betrunkenen und verbringen den ersten Tag, ohne Notiz von dem zu nehmen, was sie umgibt. Am nächsten Tage künden sie dann, was im gleichen Jahre kommen wird: reiche Ernte, Hungersnot, Kriege und andere bemerkenswerte Begeben­ heiten1. —> Zukunftsdeutung. 1 El-Bekri, S. 200-201.

Schlangen. Die Psyllen, ein libyscher Stamm, hatten ein Bündnis mit den Sch. geschlossen und waren gegen deren Biß gefeit. Wenn ein Psylle Verdacht hegte, sein Kind wäre die Frucht eines Ehebruchs, dann füllte er ein Gefäß mit Hornvipern und legte den Neu­ geborenen hinein. Wenn sich die Sch., die sich zuerst bedrohlich gebärdeten, beruhigten, sobald sie das Kind berührt hatten, galt dieses als Beweis, daß das Kind der Ehe entstammte1.

Die Psyllen waren als Sch.bändiger berühmt und konnten Sch.bisse heilen. Diese Kunst übten sie auch außerhalb ihres eigenen Landes aus2. Sch.bändiger gibt es heute in allen Städten. Am berühmtesten sind die, welche auf dem Platze Zmar el-Fna in Marräkesch ihre Künste zeigen3. ->Aissawa; Drache; Tiere; Tiergottheiten; Wassergeister. 1 Gsell, Histoire I, S. 247 nach Älian, Nat. anim., I, 57. 2 Gsell, Histoire I, S. 133 und Plinius, Hist. nat. 13, 89; Sueton, Aug. 17; Dio Cassius 51,4, Arnobius 2, 32. 3 Maroc. Les Guides Bleus. Paris 1936, S. 126.

Schlangenbeschwörer. Die -> Aisäwa sind als Sch. bekannt. Der Grün­ der dieses mohammedanischen Ordens, Sidi Mhammed Ben 'Isa reiste einmal mit vierzig seiner Schüler durch die Wüste. Als sie von Hunger geplagt waren, hieß er sie „Gift“ essen. Da verzehrten sie Schlangen und Skorpione, ohne daß ihnen ein Leid geschah. Weil sie so gehorsam waren, verlieh ihnen der —»-Heilige die Gabe, gegen Schlangen- und Skorpionbisse gefeit zu sein. Die Sch. heißen in Marokko hnäyfsiya (sg. hnäysi). Es sind dies vor allem —> Aisäwa (isäwa), aber auch Siläla und rhähla. Aber meist machen die ¿iläla nur Musik zu den Schaustellungen und die Rhahla produzieren sich, indem sie siedendes Wasser trinken und

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Schmied

Berber

lebende Schlangen verspeisen. Die Schlangen fängt man in Adrrn'n, in der berb. Landschaft Sus (Südmarokko). Dort werden vier­ eckige Gruben ausgehoben, wo man mit frischen Eiern, Butter und Milch die Schlangen anlockt. Diese gleiten in die Gruben hinein und fressen die Nahrungsmittel, können aber nicht mehr heraus­ kriechen. Die hnäysiya lassen sie nun dort 21 Tage fasten. Dann werden sie in ziegenhautumspannte Rohrkörbe verpackt und mit milchgetränktem Brot gefüttert. Nie bekommen sie Fleisch. Sie dürfen auch das belebende Wasser des Februarregens nicht trinken, das ihnen neuen Giftstoff verleihen soll. Es heißt außerdem, daß die lynäysiya den Schlangen die Giftzähne ausbrechen oder die Gift­ blasen öffnen. Auf jeden Fall läßt man sie in ein Tuch beißen, damit sie da ihr letztes Gift verspritzen. Bei den Schaustellungen lassen sich die Schlangenbeschwörer von den Tieren beißen. Oft wird die Schlange auch getötet und roh verspeist, allerdings ohne Kopf und Schwanzspitze. Es sollen jedoch auch Fälle Vorkommen, wo das ganze Tier lebendig verschlungen wird. Die hnâysïya stehen auch im Ruf, Schlangenbisse heilen zu können, wie die —>Psyllen im Altertum. Die Wunde wird aufgeschnitten und ausgesaugt. Im Süden, bei den Gerwän, werden auch zer­ drückte Skorpione und Knoblauchzehen auf die Wunde gelegt. Die Sch. verscheuchen auch die Tiere aus Wohnungen durch Be­ schwörungen und Talismane, die Staub aus getrockneten Schlangen und Skorpionen enthalten. Während aber die rhahla, die Schlangen ohne weiteres töten und verschlingen, tun es die -> Aisäwa nur in Ausnahmefällen. Zwischen ihnen und den Schlangen besteht näm­ lich ein „Pakt“ faAd), beide sind „Brüder“, weil sie am Busen des Ordensgründers genährt worden sind. Deshalb tun die Schlangen auch den Aisäwa nichts zuleide und die letzteren beschützen sie. Nur wenn eine Schlange die Absicht verrät, den „Pakt“ zu brechen, darf sie der Aisäwi töten. Das gleiche gilt von den Skorpionen. Es ist nicht zu sagen, wieviel von dieser Schlangenbruderschaft auf die Rechnung der arab. und der berb. Komponente Nordwest­ afrikas zu setzen ist, doch ist es wahrscheinlich, daß die Kunst der antiken —>Psyllen irgendwie bei den modernen Aisäwa weiterlebt. René Brunei, Essai sur la Confrérie religieuse des 'Aîssâoûa au Maroc. Paris 1926, S. 144—155. E. Dotté. En tribu. Paris. Paris 1914, S. 267: Au sujet des serpents des 'Aîssâoûa. Arabisch: sg. ’Isâwi, pl. ’Isüwa mit einem s.

Schmied. Der Sch. (schilhisch amzil, vonuzzal,,Eisen“) gilt bei den berb. redenden Bewohnern der Oasen von Touat (in der alg. Sähara) als Schöpfer der Zivilisation und des Ackerbaues. Der Körper des ersten Sch. bildet das Weltall. Dabei stehen zwei Auffassungen

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Berber

Schwarze Farbe

nebeneinander. Nach der einen bildet der „Kopf“ die eigentliche Welt, der Leib — oder genauer als „Bauch“ definiert — den Schatten der Welt als Sphäre der (-> unterirdischen) Geister. Beide Elemente werden durch den „Hals“ verbunden, welcher entweder als —> „Weltenbaum“ mit 17 Ästen aufgefaßt wird oder als drei­ fache —> Schlange. Nach der anderen Auffassung liegt der Körper des Sch. ausgestreckt in unserer Welt. Der „Kopf“ liegt im Süden, was der Lage des Toten im Grabe entspricht, und sein Zeichen ist der -> Stern Kanopus (arab. Suhail), der als eigentlicher Stern des Südens und der —> Neger gilt. Der Leib oder „Bauch“ ent­ spricht dem Polarstern (hier Bilädi genannt) und der Nacken den —>Plejaden (Threyya). Im einzelnen sind die Erklärungen voller Widersprüche, doch tritt in jedem Falle die Gesamtkonzeption zutage. Alle Oasen, Gebirge und Gegenden werden als Teile des Urschmiedes interpretiert1. Der Schmied scheint bei den Berbern vor der Ankunft der Punier als Neger bekanntgeworden zu sein, was erklärt, daß er außerhalb der geachteten Gesellschaft steht. Auch der Ruß, der an ihm haftet, die Beschäftigung mit dem Feuer und abergläubische Vorstellungen, lassen ihn als eine Art —> Zauberer erscheinen. Nur die Kabylen in Algerien erkennen ihn als geachtetes Glied der menschlichen Gesellschaft an2. —> Einleitung S. 578. 1 Pâques, S. 52—59. 2 S. A. Boulifa, Méthode de langue kabyle, Alger 1913, S. 225 (nur kabyliseher Text).

Schwarze Farbe. Während die Aisäwa das ganze Jahr schw. Kleidung tragen können, ist ihnen dieses während der Festzeit ihres -^Heili­ gen Ibn (el-müsem) verboten1. Wer gegen dieses Gebot verstößt, muß sich durch ein Sühneopfer reinigen und ein Abendessen für alle in der Gegend wohnhaften Führer des Ordens veranstalten. Aber auch andere Ordensbrüder wie die Shäim, die Shül usw. ertragen in dieser Zeit den Anblick schw. Kleider nicht. Wenn sie sch.gekleidete Berber, Juden oder Araber sehen, dann stürzen sie mit lautem Geschrei auf diese zu und zerreißen mit ihren Fingern die schw. Kleidungsstücke. Die außerordentliche Kraft ihrer Finger ist bekannt, mit der sie auch die festesten Gewebe zerfetzen; selbst schw. WasserSchläuche aus Ziegenleder werden von ihnen zerrissen. Die Stadtverwaltung von Meknès empfahl Ende des vorigen Jh. dort weilenden Europäern, sich während des Festes nicht in schw. Kleidern zu zeigen1. Die Gerwän, Berber in der Gegend von Meknès, vermeiden es, schw. Tiere zu kaufen. Schw. Pferde werden nur dann erworben,

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Schwur

Berber

wenn sie wenigstens einen weißen Fleck aufweisen; in diesem Fall muß aber ein Lammopfer dargebracht werden, um den bösen Ein­ fluß zunichte zu machen. Bei Hochzeiten darf niemand schw. Kleider tragen. Bei den Mezzät. führen Kinder unter Absingen berb. Beschwörungen eine schw. Kuh herum, um den bösen Blick ab­ zuwenden 3. Das berb. Wort asettaf „schwarz“ bezeichnet im jüdisch-arabischen Dialekt von Sousse in Südtunesien einen Menschen, „der keine Verwandten besitzt“4. 1 R. Brunei, Essai sur la confrérie religieuse des 'Aissâoûa au Maroc. Paris 1926, p. 130—138. 2 M. Quedenfeldt, Aberglauben und halbreligiöse Bruder­ schaften der Marokkaner. Zeitschrift für Ethnologie, 18, 1886, S. 671—672. 3 R. Brunei, op. cit. S. 135. 4 Persönliche Mitteilung von Frau Dr. L. Saada, Paris.

Schwur. Wie alle mohammedanischen Völker lieben es die Berber, alle ihre Äußerungen durch Schwüre zu bekräftigen. Dabei bedienen sie sich der traditionellen arab. Formeln „Wallähil“, d. i. „bei Gott“, wahyat ennebi „beim Leben des Propheten“ usw. Daneben gibt es aber auch Bekräftigungen, die berb. Ursprungs zu sein scheinen. Bei den Beni Snous schwört man bei der Gerste, beim Weizen, bei der Hirse, beim Mais, bei den Kichererbsen, den Bohnen, den Linsen, dem Mehl, Brot, Kuskus, Fleisch, Honig, öl und bei der Butter. Spricht man von der Milch, so schwört man „bei dieser weißen Sache“. Der Schwur beim Wasser lautet: „Beim Wasser, mit dem ich mich wasche wie ein Toter!“ Man schwört auch beim Weg, auf dem Heilige und Scherifen gegangen sind. Die Schwüre bei Alläh, beim Propheten, sowie bei den Heiligen, wie Sidi 'Affän, Sïdi Mohand, Müla 'Abdelqäder, Sïdi Yqhya usw. sind islamisch. —> Beschwörung ; Eid; Atlas (a.E.). E. Destaing, Étude sur le dialecte des Beni Snous, Paris 1911, vol. II, S. 349-350.

Seele. Heute sind die Vorstellungen der Berber über die S. vom Islam geprägt. Nur gelegentlich offenbart sich daneben der alte Volks­ glaube. So umgibt bei den Tuäreg vom Stamme der Azger die S. den Körper wie ein feiner Nebel, der unsichtbar ist, aber von wenigen Eingeweihten dennoch wahrgenommen werden kann1. Das Wort iman „Seele“ ist ein grammatischer Plural. Es bedeutete ursprünglich wohl „Atem“ oder „Hauch“ und wurde als „Fluidum“ (wie aman „Wasser“, idammen „Blut“ usw.) pluralisch konstruiert. Die Bestattungssitten (Mitgabe des roten, lebenbedeutenden Ockers), die Rolle der Toten als Eingeber von —> Träumen deuten darauf 674

Berber

Seherinnen

hin, daß die Seele nach dem Tode weiterlebte. Die Dreiteilung der menschlichen Person nach dem Tode in den „Körper“ (Ikerkereth), die „Seele“ (rroh) und den „Schatten“ (ssuret), wörtlich „Gestalt“, auf franz. als „ombre“ wiedergegeben2, entspricht ungefähr der ägypt. Auffassung, nach welcher der Mensch aus „Körper“ (chet), der vogelgestaltigen, also fliegenden „Seele“ (Ba) und dem „Doppel­ gänger“ (Ka) besteht8. ->Tod, Totenkult, Totenreich; Unsterblichkeit. 1 A. Mordini, La stregoneria presso i Tuareg Azgher. R. Istituto Orientale di Napoli. Annali, Vol. VII, 1935, S. 44—49. 2 E. Destaing, Etüde sur le dialeete des Beni Snous. Paris 1907, Vol. I, S. 298—300. 3 H. Bonnet, Reallexikon d. ägypt. Religionsgeschichte, Berlin 1952, S. 74: Ba, S. 375: Ka. Wörterbuch d. Mythologie I, Stuttgart 1965, Ägypten—> Ba; Ka.

Segen. Mit dem islam.-arab. Ausdruck baraka „Segen“ wird in Nord­ afrika die übernatürliche Kraft bezeichnet, die es ermöglicht, -> Wunder zu wirken1. Es sind Heilige, Scherifen und der Sultan (—»-Könige), welche den S. besitzen. Mit seiner Hilfe kann man aber nicht nur Gutes, sondern auch Böses tun. Hier erscheint deutlich ein nicht-islam. Zug, der herb. ist. Auch -> Steine können den S. besitzen, z. B. ein aufrechtstehender Fels beim Dorf Dar Fellaq2, der ein Loch hat, durch welches man ein krankes Kind dreimal von Westen nach Osten durchsteckt, damit es genese. In der Nähe von Demnat liegt ein Stein in der Form eines Kamel­ rückens und Halses; darunter ist eine Öffnung, gerade groß ge­ nug, um durchschlüpfen zu können. Kranke so wie Frauen, die Kindersegen begehren, rutschen dreimal von Westen nach Osten durch das Loch3. Hier ist der S. nicht an einen Heiligen gebunden und sicherlich berb. Ursprungs. -> Einleitung S. 575. 1 Westermarck, I, S. 1—261: reiches Material, doch vor allem islam. Natur. 2 Westermarck, S. 69. 3 Ebendort.

Seher -> Wahrsager.

Seherinnen. Auf Gran Canaria lebte eine Frau namens Andamana, die ebenso mutig wie listenreich war und behauptete, vom Himmel inspiriert zu sein. Das Volk kam, um ihre Weissagungen zu hören. Andamana erlangte solchen Einfluß, daß sie es war, die über Krieg und Frieden entschied. Alle Urteile wurden ihr zur Begutachtung vorgelegt. Einige Führer neideten ihr jedoch ihre Stellung und versuchten zuerst, sie lächerlich zu machen, dann widersetzten sie sich offen ihren Plänen. Aber Andamana ließ ihnen keine Zeit; sie heiratete den tapferen und angesehenen Gumidafe von Galdar, der bald darauf die ganze Insel unterwarf1.

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Serapis

Berber

Zwei Seherinnen waren auch Tamonante und Tibiabin, welche die Zukunft kündeten, Streitigkeiten schlichteten und religiöse Zere­ monien leiteten1. —>Kähina, Prophetinnen; Zukunftsdeutung. 1 Barker-Webb et Berthelot, I, 1, 145 nach Galindo 2, 8. 2 Ebendort, I, 1, 167 mit der Variante Tibabrin. Letztere Eorm ist nach der berb. Grammatik ein Plural. Villeicht *tibabin „Herrinnen“, siehe Vycichl, S. 196.

Serapis. Römischer Gott, besaß ein Heiligtum, das Serapeum, über dem Forum von Sabratha. Picard, Religions, S. 225.

Seth. Ägyptischer Gott, Bruder und Mörder des Osiris, Königs von Ägypten. S. geht jedoch des Erbes verlustig, weil die Götter­ gemeinschaft die Königsherrschaft über Ägypten dem Horus zu­ spricht, den der tote Osiris auf magische Weise mit seiner Schwester­ frau Isis gezeugt hatte, indem sich diese als Falkenweibchen auf seine Leiche setzte. Obwohl S. in früherer Zeit in Ägypten Kult­ stätten besaß, z. B. in Ombos, galt er später als verfemt und figurierte nur als Gott der Wüsten und Fremdländer1. Sein Kult bestand aber auf der von Libyern bewohnten Oase Dachla weiter. Hier ist S. möglicherweise an die Stelle des libyschen Gottes—>Asch getreten, bzw. an die Stelle eines berb. Himmels- und Sturmgottes. Unter der 22. Dynastie erfahren wir von Streitigkeiten um Wasser auf Dachla. S. wurde vom Gouverneur Wajheset, einem Libyer, um eine Entscheidung gebeten und beantwortete sie in für ihn günstiger Weise2. Die Berber der Oase Charga, an deren Volkszugehörigkeit wegen ihrer Namen und Titel kein Zweifel sein kann3, verehrten S. als ihren Gott. Er besaß dort einen Tempel in Hibis, dem heutigen El-Hibe, der von Darius erbaut worden und in dem S. als Falke dargestellt war, wie er den Drachen Apophis, den Feind des Sonnen­ gottes bekämpft4. Nun besteht nicht der geringste Zweifel darüber, daß die OsirisSage, wie wir sie aus der Darstellung Plutarchs kennen8, ganz ein­ deutig die Version der Parteigänger des Horus widerspiegelt. Wir kennen die Version nicht, wie sie von den Anhängern des S. er­ zählt wird, doch ist sie nicht schwer zu rekonstruieren: Osiris, der König Ägyptens, verging sich mit Nephthys, der Gattin seines Bruders S., die ihm den Anubis gebar. Diese Tatsache wird von Plutarch erwähnt, aber nicht mit dem Morde des S. in Verbindung gebracht. Nun aber erscheint die Tat des S. als Rächer seiner Ehre durchaus legitim. Ein satirischer Text aus dem Neuen Reich schildert den Prozeß vor der Götterversammlung, der achtzig Jahre 676

Sonne

Berber

dauert. Läßt man alle spöttischen Züge beiseite, welche diesen Text zu einem interessanten Zeitdokument machen, dann ergibt sich die erstaunliche Tatsache, daß eine demokratische Versamm­ lung der Götter — wie eine kabylische legmä'a — den Fall anhört und, gewiß mit dem Sonnengott als Vorsitzenden, entscheidet, was im absolutistischen Ägypten einen einzigartigen Fall darstellt. Die hier erstmalig vorgetragene Auffassung operiert nur mit Tatsachen, die natürlich zu erklären sind: der Ehebruch des Osiris mit Nephthys, die Rache des S., der Erbanspruch des Bruders und die illegitime Geburt des Horus. Bei der offiziellen Version müssen magische Elemente herhalten: die posthume Zeugung des Horus durch den toten Osiris und die Verwandlung der Isis in ein Falken­ weibchen. Die Sage selbst soll in einer Zeit „vor Menes“ gespielt haben, als der Unterschied zwischen Libyern und Ägyptern noch weniger stark in Erscheinung trat. 1 Wörterbuch d. Mythologie I, Stuttgart 1965, Ägypten -> Seth. HelckOtto, Kleines Wörterbuch der Ägyptologie, Wiesbaden 1956, S. 332—333. 2 A. Gardiner, The Dakhla Stela (Ashmolean Museum, Oxford 1894/107). Journal of Egyptian Archaeology 19 (1933), S. 19—30. 3 Journal of Egyptian Archaeology, XIX, London, S. 19. 4 Davies, The Temple of Hibis, III, Egyptian Exploration Publications, Vol. XVII, 1955, Tafel 42. 6 Theodor Hopfner, Plutarch über Isis und Osiris. Prag 1940, 2 Bände.

Siebenköpfiger Drache. In der Höhle Imi n Ifri bei Demnat (wörtlich „Eingang der Höhle“) hauste vor Jahren ein s. D. Er erlaubte den Einwohnern, aus seiner Quelle Wasser zu schöpfen und erhielt dafür alljährlich ein junges Mädchen. Als die Reihe an die Sultans tochter kam, ausgeliefert zu werden, erschien ein Held, der dem D. einen Kopf abschlug. Er befreite die sieben Mädchen, die dem D. übergeben worden waren und tötete ihn mit seinem scharfen Schwert. Sonst hätte sich jener selbst verbrannt und wäre aus seiner Asche (wie der Phönix) wieder auferstanden. Aus dem Körper des D. kamen Hunderte von Würmern, aus denen die zahl­ reichen Vögel der Gegend von Demnat entstanden. E. Douttö, En Tribu, S. 217—219. Es handelt sich um das Motiv von Perseus und Andromeda, das auch in den Grimm’schen Märchen wiederkehrt. Die sieben Köpfe sollten wohl einzeln abgeschlagen werden. Der Held wird Malek Sif genannt (wohl Mälek ea-Sif „Schwertbesitzer“).

Sinilere. Bei Corippus1 als Gott der östlichen Berber genannt, wahr­ scheinlich ein Kriegsgott, möglicherweise aber auch ein Stammes­ gott, der sowohl im Krieg als auch im Frieden half2. 1 Corippus, Johannis, IV, 681.

2 Bates, Eastem Libyans, 184.

Sonne. Im Berb. trägt die S. zwei Namen: einmal fern, tafukt (und Varianten) in nahezu allen Dialekten, dann masc. ittiz im Kaby44

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Sonnenquelle

Berber

lischen1. Im Altertum sollen alle Berber der S. und dem ->Mond Opfer dargebracht haben2. Ibn Chaldün berichtet in arab. Zeit, daß die Berber früher die S. verehrt hatten3. Dagegen fluchten die Ataranten in der Sahara der S., deren unmäßige Hitze ihr Land austrocknete4, und zwar soll ihr beim Aufgang und beim Unter­ gang geflucht worden sein6 (->Hammon). Zahlreiche Weih­ inschriften sind an die Sonne gerichtet. In Zarai heißt es Soli deo augusto „der Sonne, dem erhabenen Gott“6 und der „Sonne und dem Mond“ bei Sidi 'Ali bei Qasem in Tunesien7. Ein koptischer Heiliger, Samuel von Kalamön, wurde von einem Berber gefangen und dieser wollte ihn bewegen, die S. anzubeten8. Auszuscheiden sind hier alle Fälle, wo mit dem Einfluß des Mithras-Kultes zu rechnen ist, wie in El Gan9 und Ain Toukria10. Auf der Ammonsoase gab es die berühmte -> Sonnenquelle, nahe beim Tempel des Ammon, innerhalb der Akropolis11, wie Herodot berichtet12. Eine bekannte Felszeichnung von Bou Alem im Süden der Oranei (Algerien) zeigt einen -> Widder mit S.scheibe auf dem Haupt und zwei Auswüchsen auf beiden Seiten, die wie stilisierte Uraeus-Schlangen aussehen13. Die Einwohner der Insel Palma ver­ ehrten die S. unter dem Namen Jiagec14. —> Himmelsgott. 1 B. Laoust, S. 189, Fußnote 3. 2 Herodot IV, 188. 3 Ibn Chaldün, Kitäb el-'Ibar, VI, S. 89. 4 Herodot IV, 184. 6 Pomponius Mêla I, 43: solem exseerantur et dum oritur et dum occidit. Weitere Beispiele bei St. Gsell, Hérodote, S. 185, Note 2. 8 CIL VIII 4513. ’ CIL VIII 14688 und 14689. 8 R. Basset, Synaxaire arabe-jacobite, Paris s. d., S. 331. F. M. Esteves Pereira, Vida de Abba Samuel, Lisboa 1894, S. 22, 99, 154. 9 CIL VIII 18025. 10 CIL VIII21523. 11 Herodot IV, 181. Diodor Sieulus XVII, 50. 12IV, 181. 13 O. Bates, Eastem Libyens, fig. 84, S. 196. 14 Barker-Webb et S. Ber­ thelot, Les Iles Canaries I, 1, S. 204.

Sonnenquelle. Herodot nennt eine heilige Quelle in der Ammonsoase1. Das Wasser dieser Quelle ist morgens lau, wenn der Markt voll ist, kühler und zu Mittag sehr kalt ; dann bewässert man mit ihm die Gärten. Mit zunehmendem Tage läßt die Temperatur nach, und wenn die Sonne untergeht, ist das Wasser wieder lau. Darauf wird es weiterhin wärmer, und um Mitternacht wallt und sprudelt es. Hierauf kühlt es sich bis gegen Morgen wieder ab. Diese Quelle heißt die S. Sie lag beim Tempel des Ammon, außerhalb der Akropolis2. Heute heißt die Quelle "Ain el-hammäm oder „Badequelle“. Es ist ein kleiner elliptischer Teich mit klarem Wasser. Die Temperatur ist Tag und Nacht unverändert 29°; doch erscheint sie im Verhältnis zur Lufttemperatur mittags kalt und nachts heiß. Aus der Quelle steigen Blasen auf3. 1 Herodot IV, 181. 2 Diodor Sieulus, XVII, 50. 3 Gsell, Hérodote, S. 105—107.

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Berber

Sterne und Sternbilder

Speisegebote und -verböte, rituelle -> Ernte ; Hamim El-Mufteri ; Hundeopfer; Katzenopfer; Nacht des Glücks; Tierbrudersehaften; Widder. Steine, heilige. Runde, aufrechtstehende oder sonst seltsam geformte St. genossen hei den Libyern Verehrung1. Noch heute werden heilige St., gewöhnlich in Kugelgestalt (küra), in einer mzarra aufbewahrt. Sie liegen auf einer steinernen Bank, die oft als das Grab eines —> Heiligen gilt, zusammen mit Lampen, Räuchergefäßen und Stangen, auf denen —> Stoffstücke (wie schon zur Zeit von Arnobius im 4. Jh.) angebracht sind. Dasselbe Bild bietet sich beim Megalith von Mactar in Tunesien, wo die steinerne Bank, die heiligen St. und die Töpferei für Opferzwecke erhalten sind. Auch in pun. Heiligtümern findet man solche St., so im Topheth von Karthago. Die St. zeigen oft seltsame Formen, etwa die eines menschlichen Gesichtes oder auch die eines schmalen Kegels, was wohl als phallisches Symbol gedeutet wurde. Die letzteren Typen bezeichnet man mit einem pun. Ausdruck als Betyle (Betyl = „Haus Gottes“). Die Betyle finden sich auch in

Phönizien und Palästina (Gezer), wo sie als Götterbilder verehrt wurden. Astarte wurde noch in römischer Zeit als Betyl verehrt. Diese Steine zeigen die Form eines etwas abgerundeten Zucker­ hutes oder eines Körpers, wie er durch die Rotation einer Ellipse um ihre Längsachse entsteht. Manche Steine zeigen diese Gestalt natürlich, bei anderen hat man etwas nachgeholfen2. Steinen wird auch magische Kraft zugeschrieben, ohne daß ein Heiliger mit ihnen in Beziehung steht. So gab es schon im Altertum auf der Ammonsoase einen Stein, bei dessen Berührung sich ein —>Wind erhob (Auster, Südwind). In Marokko sind zahlreiche St. dieser Art nachgewiesen. Westermarck erzählt von einem schweren Stein auf dem Wege zwischen Aglu und Mogador ; er heißt takürt n ddnüb, die „Kugel der Sünden“. Wer ihn über seinen Kopf heben kann, gehört zu den Guten, wer es aber nicht vermag, zu den Bösen. In Aglu gibt es einen Durchgang durch einen Felsen; wer dreimal hindurchgeht, ist von der Malaria geheilt. Selbst gewöhnliche St. werden wie Personen behandelt; wer bei den Uläd Bü 'Aziz mit dem Fuß gegen einen Stein stößt, sagt : samhi liya „Verzeih mir !a“. -> Segen. 1 Dr. Gobert, Essai sur la litholâtrie, Revue africaine 89, 1948, S. 24—110. 2 G. Contenau, La civilisation phénicienne. Paris 1939 (2° édition), S. 125 bis 127. 3 Westermarck, I, S. 78—79.

Sterne und Sternbilder. Hier sind die modernen Bezeichnungen und Vorstellungen unsere einzige Quelle für die Rolle, welche die Ge44.

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Sterne und Sternbilder

Berber

stirne in der Vorstellungswelt der alten Libyer spielten. Von den Planeten hat Venus bei den Tuareg eigene Namen. Bei den Ihaggaren heißt sie gewöhnlich tatrit „heller Stern“. Mit diesem Aus­ druck werden jedoch auch andere helle St. belegt. Das Neben­ einander von m. atri „Stern“ und f. tatrit1 „Sternin“ hat seine Parallele im talmudischen Sprachgebrauch, wo neben m. kökab „Stern“ eine Ableitung f. kökibet (das regelmäßige Femininum) „Sternin“ soviel wie „Venus“ bedeutet. Hier dürfte pun. Vermitt­ lung vorliegen2. Eine genauere Bezeichnung ist tatrit ta n tufat „Morgenstern“. Bei den Iullemeden heißt sie als „Abendstern“ amawen n ehad oder amawen asimmeles (beides m.). Die Identität des Morgen- und Abendsternes scheint den alten Libyern ebenso­ wenig zu Bewußtsein gekommen zu sein wie den alten Babyloniern. Der Sirius oder „Hundsstern“ heißt eidi „Hund“3. Polarstern, Großer und Kleiner Bär werden durch eine Geschichte miteinander in Verbindung gebracht. Der Polarstern heißt Len­ kesem und wird als eine Negerin betrachtet, die den Kleinen Bären, das aura, das junge Kamel, am Strick festhält, damit seine Mutter, der Große Bär, tälemt, die Kamelstute, gemolken werden kann (—> Waran). Die Versammlung der Sterne Lambda, Mi, Ni, Psi und Xi4 berät, ob man die Negerin Lenkesem töten soll, und diese wagt vor Furcht keinen Schritt zu tun. (Die Bezeichnungen tälemt = Kamelstute; rür-is „ihr Kind“ bzw. aura = Kamelfüllen können nicht alt sein, weil das Kamel erst in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten in der Berberei Eingang fand.6) Von den Sternbildern haben die folgenden im Tuäreg eigene Namen: Aldebaran: Kukayod. Das ist ein Mann, der den -> Pie jaden, die als Mädchen gedacht sind, vergeblich nacheilt. In der Sprache be­ deutet das „Erreichen“ oder „Ankommen des Kukayod“ soviel wie ein aussichtsloses Beginnen6. Die Sterne Epsilon, Delta und Eta des Großen Hundes werden Iferakraken genannt, „die ein brausendes Geräusch verursachen“ (etwa wie der Flug eines Vogels, die Bewegung eines Fächers). Sie tragen diesen Namen, weil sich bei ihrem Aufgehen rauschende Winde erheben. Beta ist ein Gazellenjunges7. Der Hase wird als „Gazellen“ (ihenkad) angesehen8. Die Milchstraße heißt Mahellau oder auch Mahellawen9. Bei den Kabylen von Bougie wird sie auch azgu n tignau „Balken des Himmels“ gennant. Der Orion heißt Amanär. Nach einer Deutung entsteigt er einem schlammigen Brunnen, und Rigel (= arab. „Fuß“) ist der letzte Fuß, der aus dem Schlamm kommt, d. h. der letzte Stern des Stern-

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Berber

Strauß

bildes, wenn er im Osten aufgeht. Nach einer anderen Auffassung ist Amanär ein Jäger, mit einem Gürtel (tagbest en Amanär), der von seinem Hund, dem Sirius (eidi) begleitet wird und vor dem die Gazellen (ihenkad) des „Hasen“ fliehen10. Die —> Piejaden werden sSt ahod genannt, die „Töchter der Nacht“11. Sie heißen: Materegreg und Erregdwet, Mateseksek und Essekawet, Matelegleg und ETlegawet. Der siebente Stern ist ein Knabe, der zum Himmel aufgeflogen ist. Der Skorpion heißt tazzait „Dattelpalme“ oder, was wohl arabisch beeinflußt ist, tagerdamt (Iullemeden) „Skorpion“. Ein Jüngling namens Amrot (Antares) will auf den Baum steigen. Auf halber Höhe angekommen, sieht er zwei junge Mädchen, die tibarädin, mit roten Umschlagtüchern, die aus dem Sumpf kommen. Er hält nun ein und blickt sie an12. Im Sternbild des Schiffes heißen die Sterne Delta und Omikron tenafelet „Reichtum“ und tozzert „Armut“.13 1 de Foucauld, Dictionnaire, S. 1912. 2 Vyciehl, JNES X, 1952, S. 203 („Punischer Spracheinfluß im Berberischen“). 3 de Foucauld, S. 695. 4 Ebendort, S. 1092. 5 Duveyrier, S. 424—426. 6 Benhazera, Six mois chez les Touaregs, S. 60—61. 7 Ebendort. 8 Duveyrier, S. 424. Eigentlich Plural. ’ de Foucauld, S. 1175. 10 Duveyrier, S. 424. 11 Ebendort. 12 Ebendort, S. 425. 13 Ebendort.

Stier. Häufig auf Felszeichnungen dargestellt. Der Stierkult ist für die Berber Tripolitaniens durch Corippus bezeugt. —> Gurzil; Schemharüdsch. Picard, S. 11. Corippus, Joh. IV 666—673, V 22—29.

Stoffstücke, geknotete. Arnobius, der um 300n.Chr. lebte, kennt schon die herb. Sitte, Stoffstücke an Bäume zu knoten1. Dieser Brauch ist heute in ganz Nordafrika verbreitet. In Marokko bindet man Stoffstücke auch an Gegenstände, die einem —> Heiligen ge­ hören, oder man macht einen Knoten in die Blätter einer Zwerg­ palme, die bei seinem Heiligtum steht. Dabei wird erklärt, man werde den Heiligen solange nicht losbinden, bis er seinen Beistand in einer bestimmten Angelegenheit gewährt habe. Dieser Brauch ist auch in Ägypten und in Vorderasien bekannt2. Aus dem alten Ägypten kennen wir jedoch keine Darstellungen dieser Art. —> Einleitung S. 581; Steine, heilige. 1 Arnobius, Disputationes adversus gentes, I, 39 (Migne, Patrologiae cursus, V, col. 767, Paris 1844. 2 E. Westermarck, I, S. 26—27 sowie 555.

Strauß —> Vogel Strauß.

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Suchos

Berber

Suchos. Ägypt. Gott in Krokodilgestalt, verehrt in der Seelandschaft Fayyüm und in Ombos. Namensform S-b-k (Sobek)1, genannt „Herr

des großen Sees“ (Möris-See, Fayyum) und „Herr des Sees der Libyer2“. Er gilt auch als Sohn der —>Neith, die gleichfalls Göttin der Libyer war. Es dürfte sich um einen ursprünglich libyschen Gott handeln, zum mindesten im Fayyüm, weil diese Landschaft vor der XII. Dynastie noch außerhalb des Machtbereiches des ägyp­ tischen Staates lag. Titel: Sbk nb mr wr und Sbk nb mr Thnw „Souchos, Herr des großen Sees“ und „Souchos, Herr des Sees der Tehenu-Libyer“. 1 Griech. 2ov%os d. i. phon. *8owkh-os. Vienne 1895, S. 59-60, 74, 86.

2 J. de Morgan, Kom Ombos, I,

Tamogante en Acoran. Wörtlich etwa „Haus des (Gottes) —> Acoran“, als Name einer Art von -> Klöstern auf Gran Canaria, in denen Jungfrauen lebten. Wölfel, Torriani, S. 98 — 159. Vycichl, Introducción, S. 185—186.

Tanit -> Thinit. Taufe. Auf der Insel Teneriffa gab es eine Art Taufe. Eine ehrwürdige Frau taufte das Kind und trat damit in ein Verwandtschafts­ verhältnis mit der ganzen Familie. Nach der Art, wie diese Sitte beschrieben wird, handelt es sich bestimmt nicht um ein Derivat der christlichen Taufe. —> Priesterinnen.

Wölfel, Torriani, S. 158-177. Vycichl, S. 190-191.

Thasunus. Als Gott genannt. CIL VIII 21567: Mauretania Caesarensis, bei Géryville.

Tellus. Erdgöttin, oft Genetrix genannt1, auch mit -> Ceres zusammen erwähnt2 . 1 CIL VIII 8309.

2 CIL VIII 12332.

Tempel. Die Eingeborenen von Fuerteventura besaßen große Gebäude aus Stein, die dem Gottesdienst dienten. Diese T. hießen spanisch -^■esequenes (pl.), worin man einen berberischen Plural izegwän, etwa „Gebäude“ erkennt1. Sie waren kreisrund und bestanden aus zwei konzentrischen Mauern, deren Haupteingang nicht größer war als die Tür gewöhnlicher Häuser. Diese T. standen häufig auf Berg­ gipfeln. Hier brachte man Butter und Ziegenmilch als Libationsopfer dar. Gebetet wurde, indem man die Hände zum Himmel er­ hob2. 1 Vycichl, 182.

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2 Barker-Webb et S. Berthelot I, 1, S. 166f.

Berber

Tierbruderschaften

Thinit. Pun. Göttin, die auf Hunderten von —> Weihinschriften zusam­ men mit Baal -> Hammon genannt wird. Th. war auch die Göttin des -^Mondes1. Ihr Name erscheint rein konsonant, geschrieben (Tnt, in der Gegend von Constantine auch Tjnf). Man las ihn so lange Zeit konventionell Tanit, bis die richtige Aussprache durch griech. Transkriptionen gefunden wurde2. Man hat sie vielfach als libysche

Göttin angesehen, die die Punier übernommen hatten. Pür diese Annahme spricht auch der Umstand, daß sie in der phöniz. Heimat der Punier nicht bekannt ist, und außerdem die Namensform, die an berb. Femininbildung denken läßt (z. B. kabylisch m. aqSiä „Knabe“, f. taqsist „Mädchen“, also mit t. . . i)3. 1 Picard, chap. 3: Tanit et Baal Hammon, S. 56—79. 2 Joh. Friedrich, Punische Studien, ZDMG 107, 1957, S. 282-298, bes. S. 283, No. 1, wo @ivLT avE Bai (Tnt Pn B'l) in Inschrift No. 1 bei A. Berthier und R. Charlier, Les sanctuaires puniques d’El-Hofna ä Constantine, Paris 1955 genannt ist; außerdem findet sich die Namensform (jevvEi& Tinnit.

Thoeris. Ägypt. Nilpferdgöttin. Eine Statue, die wohl aus der Zeit Ptolemaeus III. stammt, wurde in der Kyrenaika gefunden. A. Rowe, A History of Ancient Cyrenaica. New Light on Egypto-Cyrenean Relations; CASAE, Le Caire 1948.

Tibarädin (pl.f.). „Der Kult der Tibarädin zeigt sicherlich Reste vor­ islamischer Vorstellungen, vielleicht auch neolithischer, die im Laufe der Jahrhunderte entartet sein werden.“1 Ein altes Grab bei Tazerouk, das von Capitaine Nieger entdeckt wurde, wurde bis vor wenigen Jahren von den Tuäreg verehrt. Es gab dort auf dem Grabe mehrere Steinfiguren, neolithische Beile und andere prähistorische Objekte, aber auch rezente Gaben, wie -> Stoffstücke und Perlen, die von den Tuäreg dort niedergelegt waren. Die Statuen stellten zwei „Mädchen“ (tuäreg tabarat, pl. tibarädin) dar, eine Dame hoher Abkunft und ihre Dienerin. Diese waren bei einer Razzia auf ihre eignen Bitten von Gott in Stein verwandelt worden, um den Feinden zu entgehen, und blieben auch nachher trotz ihrer Bitten als Stein­ figuren hegen. Um die beiden wieder zum Leben zu erwecken, legten die Tuäreg dort Opfergaben nieder. -> Gräber. 1 H. Lhote, S. 307-308.

Tierbruderschaften. Unerklärter, aber sicherlich nicht arab.-islam.

Herkunft sind die T. mancher religiöser Bruderschaften oder Orden, wie der —>Aisäwa oder der Hamadscha. Bei der Aufnahme wird der Neueintretende einem bestimmten Tier zugewiesen, das er nun 683

Tierbruderschaften

Berber

genauestens nachzuahmen hat. Untereinander gelten die dem­ selben Tier Zugeordneten als Brüder, die einander jederzeit bei­ stehen und ihr Tier bei jeder Gelegenheit beschützen. Es gibt Araber als Mitglieder, Berber und Neger, sowohl Männer als auch Frauen. Am häufigsten sind die „Löwen“ (sbua) bzw. die „Löwinnen“ (Ibiyät). Sie besitzen keine besondere Tracht. Aber wie wirkliche Löwen veranstalten sie ein Mahl, bei dem ein Hammel roh ver­ speist wird. Bei dieser blutigen Mahlzeit wird der Unterleib des Tieres mit den Fingern aufgerissen. Eine solche Mahlzeit heißt jrisa. Der —> Schakal (dib, von Frauen täleb Yüsef genannt, berberisch us&en) hat ebenfalls Anhänger. Die „Schakale“ (dyäb pl.) stürzen sich wie wirkliche Tiere auf das Opfertier. Daneben sind sie Spaß­ macher und Diebe, die aber das gestohlene Gut am nächsten Tag öffentlich ausrufen und gegen bescheidenes Entgelt dem Eigen­ tümer zurückerstatten. Die „Panther“ (nmer, pl. nmüra) sind meistens Berber, von den Stämmen der Mezzat, Gerwän und Beni Mtir (Ait Ndir). Auch sie veranstalten blutige Mahlzeiten, wobei sie die Panther in allen Einzelheiten nachahmen. Von einem Nmer wird erzählt, er habe auf eine Herausforderung hin sein eigenes Kind lebendig zer­ rissen. Die „Schweine“ (hlälef, sg. hallüf) und „Hunde" (kelb, pl. kläb) ver­ anstalten miteinander Scheinkämpfe. Die „Schweine“ wälzen sich auch in Wasserpfützen; die weiblichen Mitglieder ihrer Genossen­ schaft sind die „Säue“ (hellüfät). Die „Katzen“ (qtüt) miauen und stehlen nachts Milch, Brot, Butter und Fleisch. Sie klettern behend auf Bäumen und Hausdächern herum. Auch die „Hyänen“ (dbua) ahmen ihr Tier in seinen Be­ wegungen nach. Es soll sich hier meist um Leute aus dem marokk. Rif handeln. Auch sie veranstalten blutige Mahlzeiten, wie die „Brüder“ der anderen Raubtiere. Sie sollen Tierfelle tragen. Das Kamel (zrnel, pl. zrnäl) wird besonders von der Bruderschaft der Hamadscha nachgeahmt. In diesem Falle gibt es keine frisa (s.o.), sondern die Nahrung ist rein pflanzlicher Natur. Es werden Weizenkörner gekaut und verspeist, wilde Artischocken und Kaktus­ blätter trotz der Stacheln. Die „Kamele“ verzehren auch salzloses Brot und trinken Milch aus Krügen. Sie gelten als starke Esser und auch sie ahmen in ihren Bewegungen das Kamel genau nach. Die einzige menschliche Gestalt ist der „Krämer“ ('attär), der mit seinem langen Stock als Spaßmacher auftritt und seine Drogen an­ preist, wobei er seine Zuhörerschaft zum Lachen reizt. 684

Berber

Träume, Traumdeutung

Obwohl die Bruderschaften islamisch und die Bezeichnungen arabisch sind, liegen hier einheimische afrikanische Elemente vor. Es ist wahrscheinlich, daß es —> Neger waren, welche die T. zuerst nach Marokko gebracht haben. G. Herber, Étude sur les Hamadeha et les Dgoughîyn; Hesperis 1923, 2e trimestre, S. 232. R. Brunei, Essai sur la conférie religieuse des 'Aîssâoûa

au Maroc. Paris 1926, S. 168—220.

Tiere, Die Kabylen erzählen von drei phantastischen Tieren. Der Mzizzel ist so groß wie ein Maultier, hat einen langen Hals mit

mehreren Reihen von Glöckchen, die alle läuten, wenn er blitz­ schnell daherkommt. Er überfällt unterwegs Wanderer auf un­ bebauten Feldern oder Friedhöfen und frißt sie auf. Manchmal gleitet er lautlos unter einen Mann, hebt ihn hoch, wächst riesengroß empor, und entführt ihn. In solchen Fällen ist es das beste Mittel, sich mit den Händen an den Ästen eines Baumes festzuhalten ; der Mzizzel läuft dann weiter und merkt gar nicht, daß er den Reiter verloren hat. Ein Mann wurde so durch einen Eichenast gerettet, ein anderer durch einen brennenden Ast. Der Amasan sieht wie ein weißer oder gelblicher Turban aus. Nie­ mand vermag ihn anzurühren, denn er wirbelt mit Windeseile auf der Erde oder in der Luft davon. Er frißt niemanden ; doch kommt es vor, daß Leute vor Schreck sterben, wenn sie ihn sehen. Er flieht, wenn man Gott anruft. Der Ayeddid gleicht, wie sein Name sagt, einem Lederschlauch. Er wälzt sich wie ein formloser Körper am Boden hin. Er macht dabei ein Geräusch wie eine Flüssigkeit, die hin- und hergeschüttelt wird, denn er ist voll Eiter. Auch er frißt keine Menschen; doch verliert man bei seinem Anblick vor Schreck den Verstand. Man findet ihn vorzugsweise an Orten, wo es Geister gibt, deren Er­ scheinen beim Menschen Fieber hervorruft. J.M. Dallet: Zoologie populaire kabyle. Fichier berbère (Fort National, Algérie). Reédition 1960, S. 55—57.

Tiergottheiten -> Affen; Ammon; Aranfaibo; Drache; Esel; Quellen, heilige; Schaf; Schlangen; Siebenköpfiger Drache; Suchos; Thoëris;

Vogel Strauß; Weltsäule; Widder. Tod, Totenkult, Totenreich —> Amenti; Bestattung; Drogen; Gräber; Ha; Haguaran; Mumien; Rabe; Schakal; Seele; Unsterblichkeit;

Vacaragué; Weltuntergang; Zauber. Träume, Traumdeutung. Nach Herodot erkundeten die lib. —>Nasamonen die Zukunft, indem sie auf den —> Gräbern der Ahnen beteten und einschliefen. Was ihnen dann im Traum geofienbart wurde, da-

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Trias

Berber

nach handelten sie1. Bei den Tuareg übernachten die Frauen auf vor­ geschichtlichen Gräbern (édebni, pl. idebnän), um Nachricht über ihre abwesenden Männer zu erhalten. Es erscheint ihnen dann der Geist des Grabes und teilt ihnen mit, was sie zu wissen wünschen2. Die prähistorischen Gräber werden einem Volk zugeschrieben, das in der Frühzeit in der Sahara lebte. Sie heißen Azabbar, pl. Izab­ bären oder Azabbar, pl. Izabbären3. Motylinski hat bei den Tuareg Deutungen von Träumen gesammelt4. Demnach bedeutet das Aus­ fallen eines Zahnes den Tod eines Menschen oder Tieres6. Etwas Weißes bedeutet Milch oder eine Herde. Eine alte Frau bedeutet nichts Gutes. Der Biß einer Schlange bedeutet den bösen Blick. In ein Zelt eintreten heißt, in ein fremdes Land reisen. Wer träumt, er wäre gestorben, wird lange leben. Auch Westermarck verzeichnet zahlreiche Traumdeutungen bei Berbern und Arabern in Marokko*. -> Zukunftsdeutung. 1 Herodot IV, 172. 2 Duveyrier, S. 415. Ben Hazera, Bulletin de la Société géographique d’Alger, IV, S. 319. Doutté, Magie et religion dans l’Afrique du Nord. Alger 1909, S. 412. 3 de Foucauld, S. 709. Arabisch: „Riese, ge­ walttätiger Mensch“, entspricht hebr. gibbör „Riese“. 4 de Foucauld et A. de Calassanti-Motylinski: Textes touareg en prose. Alger 1922, S. 97. 6 So schon ägypt. : A. Volten, Demotische Traumdeutung, Kopenhagen 1942. S. 75. Ebenso im griech. Traumbuch des Artemidor und im arab. des 'Abderrahmän. 6 Westermarck, S. 46—57.

Trias, Göttertrias -> Ceres.

Ulad Näjil. Bekannt sind die Sitten des Stammes der U. N. in Algerien, dessen Mädchen als Prostituierte in die Städte gehen, um sich dort ihre Mitgift zu verdienen. Man hat in diesen Sitten einen Rest antiker Kulte sehen wollen ; doch handelt es sich sicherlich nur um ein rein sozialökonomisches Prinzip, nämlich der Frau durch eine namhafte Mitgift eine geachtete Stellung im Haushalt zu sichern. Man findet diese „Prostituierten“ in Algier, Constantine, Batna, Saida, Tlemcen und anderswo. Sie kommen im Mai dorthin und kehren im Oktober zu ihrem Stamm zurück. In der „heißen Zeit“ der Plejaden bleiben sie in der Stadt. Sie mieten sich ein Zimmer im Negerviertel, weil sie in der Eingeborenenstadt nicht wohnen dürfen. Manchmal sind sie in Begleitung ihrer Mütter, doch werden sie nie von einem Manne „beschützt“. Sie gehen in leuchtende, meist rosa Seidengewänder gehüllt frei im Viertel einher. Das Gesicht ist unverschleiert, geschminkt und tatauiert. Viele tragen ein Hals­ band mit goldenen Münzen. Es kommt vor, daß solche Mädchen getötet und beraubt werden. — Wenn sie aber am Ende der „Saison“ in den Schoß ihrer Familie zurüokkehren, ruht kein Makel auf ihnen. Wenn sie genug Geld gespart haben, heiraten sie und sind, 686

Berber

Unsterblichkeit der Seele

wie man erzählt, ebenso tugendhafte Gattinnen wie andere Ehe­ frauen. V. Pâques. L’arbre cosmique.

Unsterblichkeit der Seele. Aus einer Reihe von Anzeichen darf ge­ schlossen werden, daß die alten Berber an das Fortlehen der Seele nach dem Tode glaubten. Dies geht auch aus der Sorgfalt hervor, mit welcher die Toten bestattet wurden, aus den Grabbeigaben und aus der Rolle der Toten als Eingeber von Träumen, worüber Herodot von den Nasamonen berichtet. Heute ist der Gedanke an den Tod bei den Berbern von islamischen Vorstellungen beherrscht. Man findet jedoch neben dem islamischen Gedankengut auch Vorstellungen, die auf die alte Religion zurück­ gehen. Bei den Tuareg des Stammes der Azger ist es üblich, daß ein Zauberer (émekkelew, pl. imekkelewen) am Grabe wacht. Wenn die Seele wieder in den Körper fährt, heult der Tote auf wegen der Schrecknisse der Reise nach dem Totenreich. Der Zauberer tröstet ihn und berät ihn, was er zu tun hat, damit seine Reise wohl vonstatten gehe. Nun verläßt der Tote bzw. seine Seele die Erde, wo sie sonst eine Gefahr für die Überlebenden darstellen würde. Im Grab bleibt jedoch ein Rest von ihr zurück, eine Art Schutzgeist, der besonders bei Vollmond wirksam ist. Dann kommen die Frauen nachts zum Grab, um im Traume Eingebungen über ferne Ver­ wandte und Freunde zu erlangen1. Bei den Beni Snous (West-Algerien) wartet der Tote drei Wochen im Grabe auf den Besuch seiner Verwandten. Diese bringen Brot mit, das sie an die Anwesenden verteilen. Der Tote sieht sie, doch sie können ihn nicht sehen. Zwischen ihnen und ihm liegt ein dünner Schleier, wie Papier oder eine Zwiebelschale. Die Seele eines Toten gelangt zum Himmel, wo sie in einer Art Wabe ein­ geschlossen wird, wie es die Bienenwaben sind. Seine Leiche bleibt auf der Erde zurück. Wird ein Mensch aber auf einem Weg getötet, so bleibt sein Schatten (ssüret-ennes) zurück. Geht dann jemand nachts am Orte des Verbrechens vorbei, so eilt der Schatten weinend herbei. Furchtsame fallen vor Schreck nieder, Mutige gehen ruhig weiter. Der Schatten bleibt aber da, bis jemand auf den Ort, wo er sich befindet, einen Schuß abgibt. Schmuggler hörten nachts auf dem Wege von El Kef nach Oujda (Uzda) Stimmen, die weinten, Freudenschreie ausstießen, lachten und seufzten2. Dort waren anscheinend Menschen ermordet worden. -> Lebensbaum ; Seele ; Traumdeutung ; Weltuntergang. 1 A. Mondini, La stregoneria presso i Tuäreg Azgher. R. Istituto di Napoli. Annali, Vol. VII, 1935, S. 44—49. 2 E. Destaing, Étude sur le dialecte des 687

Unterirdische Gottheiten

Berber

Beni Snous, Paris 1907, vol. I, S. 298 bis 300. Die Dreiteilung Körper (lkerkeret), Seele (rroh) und Schatten (ssuret, wörtlich „Gestalt“, französisch als „ombre“ wiedergegeben) entspricht ungefähr der ägyptischen Auffassung, nach welcher der Mensch aus dem Körper, der vogelgestaltigen, also fliegenden Seele und dem sogen. Ka besteht, der in der Nähe des Grabes verbleibt.

Unterirdische (Unterwelt-) Gottheiten. Lateinisch „Inferi“, wurden allein von den Augiles (Bewohnern der Oase Augila) verehrt. —>Amenti; Dii superi inferique; Mastiman; Schmied; s. a. —»-Be­ schwörung; Höhlen. Plinius; Hist. nat. V, 8.

Unzüchtige Lieder und Gespräche. Manche der herb. Praktiken sind notwendigerweise mit gotteslästerlichen und unzüchtigen Liedern und Gesprächen verbunden. Das gilt von den Leuten, die im Be­ griffe sind, die -> „Nacht des Irrtums“ zu feiern, wie es mir ein Gewährsmann aus Blida bestätigte. Das gleiche ist beim —/AschüraPest der Pall, wo im Dorfe Tdliza (Marokko) der „Priester“ halb­ nackt erscheint und mit Geschrei und Gejohle empfangen wird. Bei der Prozession zum Scheiterhaufen werden unzüchtige Lieder gesungen. Dieses Gebaren kontrastiert in seltsamer Weise zu der würdigen und ruhigen Haltung der Pestteilnehmer auf dem Heim­ weg. Laoust, S. 217—224.

Vacaragüé. Mit diesem Worte, das etwa „ich will sterben“ bedeutet, kündeten alte Leute der Insel Palma ihren Verwandten den Ent­ schluß an, aus dem Leben zu scheiden. Man führte sie dann in eine Grabhöhle, wo sie auf feine Felle gelagert, mit einem Krug

Milch und vielleicht noch anderen Lebensmitteln versehen den Tod erwarteten, nachdem der Eingang der Höhle mit Steinen ver­ schlossen worden war. Wölfel, Torriani, S. 196—217. Vycichl, S. 189. Neben vacaragué steht auch eine Variante vacagnaré, sowie yacaguaré.

Vater (als Bezeichnung Gottes). Im schilhischen Südwest-Marokkos wird Gott gewöhnlich Baba Rébbi genannt, wörtlich „mein Vater und mein Herr“. Die Gottesanbeterin (Mantis religiosa) heißt taramt n Baba Bebbi „Kamelstute Gottes“. Es liegt nahe, hier einen Einfluß des Christentums zu sehen, wo Gott als Vater aller Menschen angesprochen wird (Pater noster . . .), im Gegensatz zum Islam, der in dieser Hinsicht logisch-konsequent ist (Sure 112, 3: lam yalid wa lam yülad „er hat nicht gezeugt und ist nicht gezeugt worden“). Hier bedeutet also Baba nicht „mein Vater“, was mit der islamischen Doktrin im Widerspruch stände, sondern „mein Herr“ und gehört

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Vogel Strauß

Berber

zu bdb „Herr“. Es handelt sich wohl sicher um fremden Einfluß, wenn der „Vater“ als „Herr“ bezeichnet wird. Wir wissen nicht, wie die Punier ihre Väter angeredet haben, aber in Ugarit steht ’dn „Herr“ femininem ’umm „Mutter“ gegenüber und ist somit als „Vater“ zu übersetzen (’adän, entsprechend hebr. ’adön „Herr“), siehe Cyrus H. Gordon, Ugaritic Grammar, Rom 1940; auch malte­ sisch messier „mein Herr“ bedeutet „Vater“ und „Meister“, siehe J. Aquilina, Teach yourself Maltese, London 1965, S. 236 und 207. Nach freundlicher Mitteilung von Herrn Prof. J. Hubschmid (Bern) hieß auch griech. hvqioq „Herr“ soviel wie „Vater“ und danach wurde normannisch sire = „padre“ gebildet, wie es noch im Süden Apuliens vorkommt. Baba „mein Herr“ steht also nicht im Gegensatz zum Islam und entspricht etwa tuäreg Messineg „unser Herr“ als Gottesbezeichnung. Das alte Wort für Vater ist ti, wie in schilhisch ti-ma „mein Großvater (mütterlicherseits)“ und tuäreg ti „mein Vater“, pl. tej „meine Väter“. —> Gottesnamen. W. Vycichl, Berberisch taramt n baba Rebbi „Mantis relisiosa“, Le Museon 74, 1971, S. 525-545.

Verwünschungen. Plinius zitiert Isigonus und Nymphodorus, nach

denen es in Afrika gewisse Zauberer-Familien (familias quasdam effascinantium) gab, die durch „Lobsprüche“ (laudatione) erreichten daß Vieh zugrundeging, Bäume eingingen und Kinder starben1. Es handelt sich hier um Verwünschungen durch Lob, durch be­ wußtes „Verschreien“. Nach Aulus Gellius lebten in Afrika Familien, deren Reden eine besondere Kraft besaß. Wenn sie schöne Bäume, reiche Felder, liebliche Kinder, treffliche Pferde, fettes und wohl­ genährtes Vieh überschwenglich priesen, dann ging alles dieses nur durch dieses Lob und aus keiner anderen Ursache zugrunde2. —> Beschwörung; Zauber. 1 Literatur bei O. Bates, Eastem Libyans, S. 180. Atticae, IX, 4.

2 Aulus Gellius, Noctes

Virtus. Römische Göttin, in Nordafrika zur Kaiserzeit verehrt, der kappadokischen Göttin Ma und der Belona gleichgesetzt. Sie war wohl eine Göttin der römischen Soldaten und besaß eine eigene, hierarchisch gestufte Priesterschaft1. 1 P. Cumont, siehe C.R.A.I.B.L. 1918, S. 313 und 1919, S. 156.

Vogel Strauß. Die Berber von Siwa glauben, daß der St. die mensch­ liche Sprache versteht. Deshalb darf man von ihm nur Gutes sagen, andernfalls würde er sich rächen1. Das Fortbestehen dieses Glaubens ist um so auffälliger, als der St. in der Gegend von Siwa seit langem

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Wahrsager, Seher

Berber

ausgestorben ist2. Man kennt die berb. Bezeichnung (tuäreg anhsl) nicht mehr und spricht von ihm als dem Vogel, „der so schnell läuft wie eine Gazelle“. 1 W. Seymour Walker, The Siwi Language. London 1921, S. 85. 2 Henriette Camps-Fabrier, La disparition de l’autruche en Afrique du Nord. Alger 1963. Travaux du Centre de recherches anthropologiques, préhistoriques et éthnographiques.

Wahrsager, Seher. Bei den alten Mauren besaßen die Frauen die Gabe, die Zukunft zu verkünden (-> Traumdeutung)1. Männliche Pro­ pheten werden den Libyern sicherlich durch andere Völker (Ägypter, Punier, Griechen und Börner) bekannt geworden sein. Die Fürstin, welche den Widerstand der Berber gegen die Araber leitete, hieß arab. ->-Kähina (Priesterin, Wahrsagerin), was sicherlich die Wieder­ gabe einer einheimischen Bezeichnung ist2. Auch bei den alten Kanariern gab esPriesterinnen undSeherinnen. Bei den Schilh tragen die männlichen Wahrsager die Bezeichnung inqqifi, pl. inqqajan (von qaja „erraten“). Eine andere Benennung ist agezzan und aqeddaS, welch letzteres an hebr. qädöS „heilig“ anklingt. Das Verbum qeddei heißt „wahrsagen“ im Schilhischen3. Auch bei den modernen Berbern gibt es berühmte Wahrsager. Hier ist vor allem Sidi Bu-Bker vom Stamme der Zaian zu nennen, dessen Prophezeiungen Loubignac aufgezeichnet hat4. Es handelt sich um zahlreiche Aussagen über verschiedene Ereignisse, so die Schlacht gegen die Franzosen bei Khénifra, den Kriegszug des Sultans Moulay Hasan, die Prophezeiung von Unheil für die Töchter

des Sidi ’Ali sowie die Ankündigung seines eigenen Todes. Bei den Beni Seddad im Lande der Ghomära (Nord-Marokko) gab es nach El-Bekri einen Mann, der stets einen Sack mit sich trug, in dem sich Köpfe und Zähne von Land- und Meerestieren auf einer Schnur aufgefädelt befanden. Wenn jemand zu ihm kam, um ihn über ein künftiges oder auch bereits stattgefundenes Ereignis zu befragen, dann hängte er die Schnur wie ein Koller um den Hals des Frage­ stellers, schüttelte sie und riß sie gewaltsam wieder herunter. Dann beroch er die einzelnen Stücke, bis er bei einem einhielt. Er ver­ kündete dann dem Befragenden, was ihn erwarte : Krankheit, Tod, Gewinn, Verlust, Wohlstand, Mißgeschick, Kummer u. a. Er sah beinahe alles voraus und irrte fast niemals6. —>Zauber; Zukunftsdeutung.

1 Procopius, De bello Vandalico, 2, 8. 2 Julien, S. 70. 3 Destaing, Voca­ bulaire, S. 95. 4 Loubignac, Étude sur le dialecte berbère des Zaian et Ait Sgougou. Paris 1924, vol. II, S. 438—447. 6 El-Bekri, S. 200.

Waran. Nach einer Legende, die zum Teil arab. Einfluß verrät, wurde die Kamelstute des Propheten Mohammed von sieben Edlen ge-

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Berber

Wasser, Wassergeister

tötet, darunter einem Targi. Dieser wurde zur Strafe in einen W. verwandelt {agäta), die anderen in einen Schakal, ein Chamäleon und in andere Tiere. Die Kamelstute (tälemt) wurde an den Himmel versetzt, als Sternbild des Großen Bären. Der Targi als Waran wird von den Tuäreg als ihr „Onkel mütterlicherseits“ angesehen. Sie essen deshalb sein Fleisch nicht. —> Sterne und Sternbilder; Tiere. Benhazera, Six mois parmi les Touaregs, S. 60—61.

Wasser, Wassergeister. Den alten Libyern galt das Wasser als heilig, was in einem so trockenen Lande besonders verständlich ist. Wir kennen aus dem Altertum wie aus der Neuzeit zahlreiche heilige -> Brunnen. Die Grabungen beim Casteilum Dimmidi 1939 bis 1940 haben einen kleinen Tempel mit gewölbtem Keller zutage­ gefördert. Dort befand sich auf der einen Seite ein Brunnen mit Apsis. Eine gekrümmte Mauer trennte diesen Teil des Kellers ab, was bezeugt, daß der Brunnen heilig war. Es wurden Stelen ge­

funden, auf denen —> Apollo, Äskulap (der Gott der Wasser­ kuren, hier wohl der libysche Gott) undHygieia genannt waren1. — In der röm. Festung von Timgad wurde ein dreifacher Tempel festgestellt, den eine Inschrift in die Zeit Caracallas (etwa 213n.Chr.) datiert. Die dortige Quelle hieß Aqua Septimania. Fragmente von Statuen des Serapis oder Äskulap, bzw. der Dea Patria (= Africa) wurden am Kultort gefunden. Ein solches Quellenheiligtum hieß in römischer Zeit Nymphaeum. Picard beschreibt zwei solcher Anlagen bei Zaghouan und Ain Tebornok. Die Bassins waren reich ge­ schmückt; —> Neptun und die Nymphen wurden dort verehrt3. Es handelt sich um ursprünglich lib. Kulte in griech.-röm. Form.

Wassergeister sind in der ganzen Berberei bekannt. Unter dem Islam haben sie ihren göttlichen Charakter verloren, ohne aber ihren Ein­ fluß auf die Menschen einzubüßen. In Marokko, im Wäd Sebu (Oud Sebou) hausen Härün und Härüna (Härün = Aaron). Sie locken Einheimische und Fremde herbei, um sie zu erwürgen; Härüna erwürgt auch Pferde, die ihr gefallen. Wenn das 'AnsaraFest herannaht, sind die beiden Wassergeister noch gefährlicher als sonst. Im Orte Sidi Slämi verbieten die Eltern ihren Kindern, sich dem Fluß zu nähern. Es ist auch schon vorgekommen, daß sich Leute vor den beiden retten konnten, doch waren sie dann meist vor Schreck gelähmt. Das einzige Gegenmittel ist dann, den Wassergeistern ein Opfer zu bringen. Wer am Ufer des Flusses entlanggeht, spricht die Namen Härün und Härüna nicht aus. Eine eigentümliche Tatsache ist die, daß 691

Wasserflnder

Berber

Leute aus dem Stamme der Uläd Chalïfa den Ruf gemeßen, die beiden zu erschrecken. Sie nennen die zwei Wassergeister Hammu Qayyu und 'Aisa Qandïsa. Sonst nennt man sie mwälm el-mä, die „Herren des Wassers“, besonders Härüna ist mülät el-wäd, die „Herrin des Flusses“. Von ihren Namen bildet man den Plural mit Hwären (m.) und Härünät (f.). Sie nehmen oft die Gestalt von Schlangen an; deshalb hütet man sich, Schlangen am Flußufer zu töten. Um sie günstig zu stimmen, wirft man, wenn man am Ufer Brot oder Kuskus ißt, etwas davon ins Wasser und spricht „Nimm deinen Anteil, Herrin des Wassers!“ Härüna erscheint oft am Ufer sitzend, wobei sie ihr Haar kämmt ; tritt man aber näher, so ist sie spurlos verschwunden. Manche behaupten, Härün und Härüna wohnten gar nicht im Wasser, sondern in den Bergen, wo sie das Echo hervorrufen. Die Hamadscha singen nach dem Dikr, der mohammed. Anrufung Allahs: 'Aisa Qandïsa hat sich mit Henna gefärbt und Hammu Qayyu hält ihr das Licht!“ Biarnay schrieb 1924, daß der Glaube an diese Geister zu schwin­ den beginne. Seit einer Generation soll man sie nicht mehr gesehen haben4. Interessant ist, daß Härün und Härüna jüd. Namen sind. Es gibt jedoch auch bei den Mohammedanern Träger dieser Namen. Möglicherweise hängt der Name Qandïsa mit hebr. qaddïs, „heilig“ zusammen oder einer entsprechenden pun. Form. -> Beschwörung ; Hammu Qayyu ; Qandiäa ; Siebenköpfiger Drache. 1 G. Ch. Picard, Casteilum Dimmidi. 2 L. Leschi, Comptes-rendus de l’Aca­ démie des Inscriptions et Belles-Lettres, 1947, S. 87,6,99 (Timgad). 3 Picard, Religions, S. 7. 4 S. Biarnay, Notes d’éthnographie et de linguistique. Paris 1924, S. 59-61.

Wasserflnder. El-Bekri berichtet von einem Mann, den er im Hafen von Badïs getroffen hatte, der sich großer Achtung erfreute, weil, er die Fähigkeit besaß, Wasser aus der Erde entspringen zu lassen, und zwar selbst dort, wo es nie eine Quelle oder einen Brunnen gegeben hatte. Er brauchte nur die Luft eines Ortes zu riechen um sagen zu könen, wie nahe oder wie weit das Was­ ser war. El-Bekri, S. 201. Diese Fähigkeit wird als „Gabe“, jedoch nicht als „über­ natürliche Gabe“ dargestellt. Badïs liegt an der Nordküste Marokkos, zwischen Ceuta und Melilla.

Wechselbalg. Daß —> Geister kleine Kinder, meist ehe diese 40 Tage alt sind, stehlen und einen W. (arab. mbäddal') dafür hinlegen, wird in Algerien häufig geglaubt. 692

Berber

Welteänle

Weihinschriften. Es ist nicht immer mit Sicherheit zu entscheiden, ob die auf lat. Weihinschriften genannten Götter tatsächlich röm. Götter oder deren pun. bzw. berb. Entsprechungen oder auch Göttergestalten sind, in welchen verschiedene Elemente aus zwei oder drei Mythologien zusammengeflossen sind. In manchen Fällen ist es auch nicht sicher, welchem Volk der Weihende angehörte. Häufig wird man aber bei -» Ceres (oder pl. Cereres), Pluto, ->Saturnus, —> Iuno, -> Ops usw. an berb. oder doch berb. beeinflußte Gottheiten denken müssen. —>Maurische Götter; Römische Gottheiten.

Weltenbaum. Die Vorstellung von einem riesigen Baum, dessen Stamm den Himmel mit der Erde und der Unterwelt verbindet, findet sich in weiten Gebieten Westafrikas und reicht bis nach dem Fezzän und zu manchen Oasen der Sähara, ja bis zu den Berbern SüdTunesiens. Im einzelnen werden die Teile dieses Baumes ver­ schieden interpretiert (Tidikelt: Weinstock als Baum des Himmels, Granatapfelbaum als Baum der Erde und Feigenbaum als Baum der Unterwelt), aber im Prinzip existiert das Weltbild des Baumes in allen diesen Gebieten. -> Schmied. V. Paques, L’arbre cosmique.

Weltsäule. Auf der Insel Palma, im Tale von Acero, wo sich der Stamm der Tanausü niedergelassen hatte, stand wie ein riesiger Obelisk ein aufragender Fels. Nach Galindo handelte es sich um einen sehr schmalen Felsen von mehr als 100 Klafter Höhe1. Die Kanarier nannten ihn Idaje.i und bezeugten ihm große Verehrung. Nur zitternd wagten sie ihm zu nahen und zu seinen Füßen ihre Opfergaben niederzulegen, nämlich Herz, Leber und Lunge der Tiere, die ihnen zur Nahrung dienten. Es waren immer zwei Per­ sonen, die das Opfer darbrachten; die erste ging voraus und sang in kanarischer Sprache: Yguida yguan Idafe*. („Wirst du fallen, Idafe?“), worauf die andere antwortete: Yguida gueryerte yguen taru\ („Gib ihm, und er wird nicht fallen!“). Manchmal wurden ihm auch ganze Tiere geopfert, die man von hohen, zerklüfteten Felsen ins Tal stürzte. Es war dies aber kein beliebiger Fels, der zufällig hätte Umstürzen und Menschen vernichten können, sondern ein „Unterpfand für das Bestehen der Welt“, die W., wie sie uns im Glauben vieler Völker begegnet; sein Einsturz hätte das Ende der Welt bedeutet. Um dieser Gefahr vorzubeugen, wurden dem Felsen Leber-Opfer dargebracht, wobei die Raubvögel wohl als Er­ scheinungsformen des Gottes galten. Nach J. Viera de Clavijo 45

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Weltuntergang

Berber

fürchteten die Kanarier, daß er bei seinem Falle den Einsturz der ganzen Insel bewirken würde (Noticias I, lib. II, cap. 15). J. B. G. M. Bory de Vincent, der um 1800 auf den Kanaren weilte, berichtet in seinem Essai sur les îles Fortunées (Paris 1803), daß nach Auf­ fassung der Eingeborenen die Existenz der ganzen Insel von diesem Felsen abhänge3. Man vergleiche hierzu, was Herodot vom Berg —> Atlas sagt, den er die „Säule des Himmels“ nennt4. Auch der Gottes­ name Atguychafenataman6 dürfte mit der Vorstellung der W. Zusammenhängen. 1 Barker-Webb et S. Berthelot, Histoire, I, 1, S. 172; Fray Juan de Abreu Galindo (ib.) schrieb um 1632. 2 Von ettef „halten“. 3 Otto Rössler, Die Weltsäule im Glauben der alten Kanarier. Arch. f. Religionswissenschaft. Freiburg 1941, Bd. 37, S. 356—363. Hier wird auch Idafe als itafe erklärt, vom Verbum „halten“ (ettef). 4 Herodot, IV, 184. 6 Wörtlich „Der den Himmel hält“ nach der Deutung von John Abercromby, A Study of the Ancient Speech of the Canary Islands. Harward African Studies I, Cam­ bridge, Massachusetts, USA, 1917, S. 95 — 129, besonders S. 1O7.[

Weltuntergang. Die Kabylen1 erzählen, daß am Ende der Welt große Trockenheit herrschen wird. Die Früchte werden vertrocknen, Kühe, Schafe und Ziegen keine Milch geben. Umsonst wird man nach Blumen Ausschau halten. Auch die Frauen werden nicht mehr ge­ bären. Die Quellen werden versiegen und kein Same wird keimen. Die Sonne wird ihre Kraft verlieren und dann herrscht überall Finsternis, so daß man seine Nachbarn nicht mehr sieht. Die Tage und die Nächte werden sichtlich kürzer. Die Erde wird aus dem Gleichgewicht kommen und Zwerge kommen aus ihrem Inneren heraus. Sieben von ihnen haben in einem Getreidemaß Platz. Sie sind so klein, weil auch die Erde so klein geworden ist. Trotz allem vermehren sie sich, um die Erde zu erfüllen. Die Auferstehung2 des Menschen kommt mit Hilfe seines Steiß­ beins (kabyl. taqesrit, frz. occyx) zustande. Dieses hat Gott im Himmel aufbewahrt, damit der Mensch nicht völlig sterbe. Er hält diesen Knochen am Leben. Die übrigen Knochen bleiben als Rest des Menschen im Grab. Die Menschen gehen nun über die Brücke es-Sirat (arab.), schmal wie die Schneide eines Schwertes. Die Er­ wählten überqueren sie „wie ein Blitz“, die Verdammten stürzen in die Hölle, el-Zihennema (arab.). Die Auserwählten gehen aber in das Paradies (arab. elgennet) ein. Es gibt dort Blumen, Äpfel und andere Früchte und stets weht eine angenehme Brise, die den Auferstan­ denen nährt so wie die Nahrung früher auf Erden. Aber die Men­ schen sind im Himmel „wie Bilder“ und die Freuden des Paradieses gleichen nicht den irdischen. Wer unverheiratet gestorben ist, der bekommt einen Gatten oder eine Gattin. Doch gibt es im Himmel

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Berber

Widder

keine Nachkommenschaft mehr. Verheiratete haben einander über alle auf Erden begangenen Fehltritte Rechenschaft zu geben. 1 H. Genevois, Vues sur l’au-delà. Fichier de documentation berbère. FortNational 1965, S. 96—99. 2 Die folgenden Passagen sind zum Teil von islamischen Vorstellungen gefärbt (in liegender Schrift).

Widder. Daß der W. oder eine Gottheit in W.-Gestalt bei den alten Berbern verehrt wurde, darüber besteht kein Zweifel. Das Idol von Vieil-Arzeu (West-Algerien), das 1851 gefunden wurde, zeigt einen rohgeformten Kopf mit schwach angedeuteter Nase, kleinen, runden Löchern, welche die Augen darstellen, dem Mund als vertiefter Linie, Ohrlöchern und nach unten gekrümmten W.hörnem; die vorderen Gliedmaßen liegen eng am Körper an ; der untere Teil des Körpers ist umwickelt oder verhüllt1. Eine ähnliche Gestalt wurde in Touat gefunden und gilt als „gätulisches Idol“2. El-Bekri kennt aus Tripolitanien ein Steinidol3 namens ->Gerza. Der hl. Athanasius berichtet, daß das Schaf bei den Libyern -tarnen hieß und als Gott­ heit verehrt wurde4. Sehr häufig findet man auf Felsen die Darstellung eines W. mit einem Kreis oder scheibenförmigen Ornament zwischen den Hörnern. (Über die Felszeichnungen siehe Einleitung S. 584ff.) Man hat diese Darstellungen mit denen des ägypt. Sonnenwidders verglichen, der dem Gott Ammun-Rê (-> Ammon) entspricht. In der Literatur herrscht jedoch über diese Frage keine Einhelligkeit; so bestreitet G. Germain, daß die berb. Darstellungen mit dem Ammonskult Zusammenhängen6. Ein wichtiges Kriterium für die Herkunft und Datierung des auf Felsbildern dargestellten Tieres ist dessen Rasse. Während die älteren W.götter (wie Chnum von Elephantine, der W.gott von Mendes) dem älteren Typ des Haar­ schafes zugehören (Ovis longipes pmlaeoaegyptiacus), mit langen, horizontal gestreckten und gedrehten Hörnern und hängenden Ohren, zeigt der W. des Amun-Rë das erst in der 12. Dynastie (ca. 2000 v.Chr.) eingeführte Fettschwanzschaf (Ovis platyurus aegyptiacus), mit nach rückwärts eingerollten Hörnern6. Was den thebanischen Gott Amon (kopt. Amün)und den Gott -Ammon auf der Oase Siwa betrifft, so geht ihre Identität einwandfrei aus den Darstellungen und Beischriften hervor. Daß die Namensform Am­ mon (mit zwei m geschrieben, also mit Gemination) auch in Ägypten selbst Vorgelegen hat, geht aus dem Eigennamen Ammenemes (Jmn m h’j.t „Ammon ist voran“) als Namen dreier Herrscher der XII. Dynastie nach Manetho hervor. Daß im Ägypt. die Gemina­ tion in späterer Zeit aufgegeben wurde, ist durch westsemit. Lehn­ wörter erwiesen (hebr. maSsör „Säge“ ; kopt. basür, also wie Ammon 45*

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Widder

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und kopt. Amün). Nun ist es allerdings richtig, daß die Sonnen­ widder der Felszeichnungen nicht in allen Einzelheiten dem ägypt. Sonnenwidder entsprechen: Nie sind sie thronend dargestellt, mit Szepter und Lebenszeichen in der Hand, von anderen Göttern respektvoll umgeben, nie erscheinen sie in menschlicher Gestalt mit Tierkopf, und selbst als Tiere tragen sie niemals das kostbare Pektoral, das den ägypt. Sonnenwidder ziert. Am Scheitel des altberb. W. fehlt ständig die Uräusschlange; nur zwei seitliche Orna­ mente erscheinen in einigen Fällen, deren Sinn uns verborgen ist7. In Ägypten erscheint Amun (Jmn) erst in der XI. Dynastie in Theben. Dann gewinnt er in der XII. Dynastie mehr Ansehen, und der Falkengott Month tritt hinter ihm zurück. Als wirklicher Reichs­ gott tritt er aber im Neuen Reich hervor, wo er mit dem Sonnen­ gott Re verschmilzt und zum ,,Amon-Re, dem König der Götter“ wird (Amonrasonther). Das Fettschwanzschaf wird wohl über Ägypten nach Nordafrika gekommen sein, und der Kult AmonRes kann sich erst im Neuen Reich nach der Berberei verbreitet haben. Auf jeden Fall zeigen die Sonnenwidder der Felszeichnungen gekrümmte Hörner wie die ägypt. Darstellungen. Die Beziehungen des W.gottes von Theben zu dem von Siwa hat Lepsius behandelt8. Von den W.darstellungen auf Felsbildern sei der Sonnenwidder von Zenäga (West-Sähara) genannt. Er trägt eine Scheibe auf dem Kopf und beiderseitig davon zwei Ornamente, vielleicht Federn. Er steht auf einem hohen Felsen mit Ausblick auf die Palmen der Oase9. Ein ähnliches Bild ist besonders sorgfältig ausgeführt: der W. von Bou 'Alem in Algerien10. Er trägt ein Halsband (wie der von Zenaga), eine Scheibe auf dem Haupt, rechts und links davon anscheinend zwei Straußfedern. Eine besondere Gruppe stellen die Zeichnungen dar, welche den Sonnenwidder mit einem Manne zeigen, der die Hände zum Gebet erhoben hat. Hier erscheint das Tier tatsächlich als göttl. Wesen. Als -> Regenzauber werden die Bilder gedeutet, auf denen der W. harnt. Es kommt auch vor, daß die begleitende Person harnend dargestellt wird11. Es soll jedoch nicht behauptet werden, daß jede Verehrung von W. oder w.gestaltigen Gottheiten auf den Kult des Amun-Re des ägypt. Neuen Reiches zurückgehen müsse. Schon in der ägypt. Vorgeschichte wurden W. in Tücher eingehüllt bestattet und auch in der alten Berberei muß man, wie gesagt, mit der Verehrung dieses Tieres rechnen. Daß der W. hier das ideale Opfertier ist, wird man nicht islam. Einflüssen zuschreiben dürfen. So wird der W. im Fezzän bei allen Gelegenheiten geopfert, bei Geburten, Hochzeiten, Begräbnissen, bei Festen heidnischen Ursprungs, die durch das

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Berber

Wind

Sonnenjahr bestimmt sind, wie im Frühjahr beim Aufgang der Plejaden oder Ende des Sommers beim Aufgang des Kanopus, außerdem auch an islam. Festen12. In jedem Falle wird der W. nach einem bestimmten Ritual geschlachtet. Der älteste Mann — oder der würdigste — schlachtet das Tier, das in nord-südl. Rich­ tung auf der Erde liegt, mit der Kehle nach Westen hin. Es wird dann der Kopf mit den vier Gliedmaßen abgeschnitten. Der Körper wird zunächst in vier Viertel geteilt. Jedes Viertel wird dann hal­ biert, und jedes Achtel in sechs Teile geteilt, so daß 48 Teile ent­ stehen. Jeder Arme, der einen verstorbenen Verwandten des Opferers darstellt, erhält einen Teil. Der Rest wird in einzelnen Oasen verschieden geteilt. So erhält etwa die Dienerin, eine Negerin den Kopf; der Hals oder die Geschlechtsteile werden in sechs Teile geteilt und dem Zokay oder Spaßmacher gegeben (oder an einer bestimmten Stelle des Gartens vergraben) ; die Leber wird in kleine Stücke geteilt und den Familienoberhäuptern gegeben und die in Streifen geschnittene Haut wird gebraten und von allen gegessen. Der W.kult wird noch im 6. Jh. n. Chr. in Tripolitanien bezeugt13. Für die Verehrung dieses Tieres besitzen wir mehrere Zeugnisse antiker Autoren14. El-Bekri schreibt, daß noch zu seiner Zeit, also im 11. Jh. heidnische Berber im Atlas einen W. verehrten und des­ halb nicht wagten, die Märkte ihrer mohammed. Nachbarn zu besuchen, es sei denn in Verkleidung18. 1 Berbrugger, Bibliothèque. Musée d’Alger. Alger 1861. S. 29—30. 2 E. E. Gautier, Le Sahara algérien. Paris 1908. S. 253. 3 El-Bekri, S. 355. 4 Contra gentiles § 14. 5 G. Germain, Le culte du bélier en Afrique du Nord. Hespéris XXXV, Rabat 1948 (1-2), S. 93-124. 8 Helck-Otto: Kl. Wörterb. d. Ägyptol., Wiesbaden 1956, S. 314, sub „Schaf“. 7 Paul Huard, Les figurations d’animaux à disques frontaux et attributs rituels au Sahara oriental. Bulletin de l’Institut Français au Sahara oriental, XXIII (3—4), 1961, S. 476—517. 8 Richard Lepsius, Über die w.-köpfigen Götter Ammon und Chnum in Beziehung auf die Ammons-Oase und die gehörnten Köpfe auf griech. Münzen. Z. f. ägypt. Sprache u. Altertumskunde I, Leipzig 1877, S. 8—22. 9 E. F. Gautier, a.a.O. S. 93, Fig. 14. 19 Oric Bates, Eastern Libyans, S. 196, Fig. 83, auch in Ebert’s Reallex. d. Vorgesch., Tafel 171, sub : Nördliches Afrika, Paläolithikum. 11 G. Germain, a. a. 0. 12 V. Pâques, Le bélier cosmique. Journal de la Société des Africanistes, XXVI (1—2), Paris 1956, S. 211—253. 13 Picard, S. 11. 14 Juvenal, Satirae, VI, 554. Claudian, Panegyricus de quarto consulat» Honorii Augusti, 143 .Ausonius, Epigrammata, 95. Prooopius, De aedificiis, VI, 2. 15 El-Bekri, S. 355.

Wind. Der W. scheint bei den Berbern als göttl. Macht gegolten zu haben. In Ammonium, der heutigen Oase Siwa, gab es einen Stein, der dem Südwind heilig (Au-stro sacer) war. Berührte man ihn, so erhob sich sofort ein Sandsturm1. Im letzten Jh. wurde

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Windsbraut

Berber

auf der Oase Siwa der Kampf zwischen zwei feindlichen Fami­ lien eingestellt, weil sich der Südwind erhob, der als untrüg­ liches Zeichen von Unheil galt2. Die Bewohner von Siwa stellen sich die Atmosphäre voll -> Geister (ginn) vor, die wohl „gut“, aber doch reizbar und unberechenbar sind3. Die Psyllen, ein liby­ scher Stamm, zogen sogar gegen den Südwind zu Felde, weil er ihr Land austrocknete. Sie wurden von einem Sandsturm ver­ nichtet4.

Nach Firminus Maternus räumten die Assyrer und ein Teil der Einwohner Afrikas der -> Luft einen gewissen Vorrang vor den anderen Elementen ein6. Sie wurde unter dem Namen der —> Juno oder der jungfräulichen Venus verehrt. Tatsächlich wird auf einer Inschrift in Naraggara (Am Mtirchou) die Luft unter dem Namen der Juno angerufen6. Hier wird es sich wohl um pun. Einfluß handeln. Daß aber der Wirbelwind von den alten Berbern als der Sitz eines -> Dämons angesehen wurde, darf aus der Etymologie seiner Bezeichnung tamziwit geschlossen werden, die vom Namen des „Ungeheuers“ oder „Packers“ (amziw, von amz „packen“) ab­ geleitet ist7. 1 Pomponius Mêla, I, 8. 2 J. Hamilton, Wanderings in North Africa, London 1856, S. 253. 3 O. Bâtes, Eastem Libyans, S. 175. 4 Herodot, IV, 173. 6 Firminus Maternus, Error rel. prof. III. 6 CIL VIII4635. 7 W. Vycichl, Der Teufel in der Staubwolke, Le Muséon LXIX, 1956, S. 341 bis 346.

Windsbraut. Die Vorstellung einer W. existiert bei den Tuäreg, wo der Ausdruck tahak en Kël Asuf, wörtl. „Karawane der Geister“, einen Zyklon bezeichnet. Die Tuäreg glauben, daß es sich um den Hochzeitszug der Geister handelt, die eine Braut mit sich führen. —> Geister. Cid Kaoui: Dictionnaire français-touareg, Alger 1948, S. 251 sub „cyclone“. Vycichl, Der Teufel in der Staubwolke. Le Muséon, Louvain, LXIX, 1956, S. 345.

Witwe. Bei den Berbern von Siwa gilt die W. als unheilbringend. Nach dem Begräbnis ihres Gatten wird sie von Frauen an der Quelle Tamusni gewaschen, in Trauerkleidcr gesteckt und in eine finstere Kammer verbracht, wo sie vier Monate und zehn Tage bleibt. Sie darf keinen Schmuck tragen und ihr Kleid nicht wechseln. Nur eine alte Frau sieht von Zeit zu Zeit nach ihr und bringt ihr Speise und Trank. Wenn ihre Wartezeit um ist, wird sie wieder zur Quelle Tamusni zu Reinigung geführt. Dabei werden ihr die Augen ver­ bunden. Die Nachbarn werden gewarnt : die Frauen verstecken sich

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Berber

Zauber und Zauberer

in den Zimmern, die Männer sind in den Gärten. Nach der Reinigung legt sie zu Hause ihre Trauerkleider ab und ihre Verwandten be­ suchen sie. Es haftet aber dennoch ein Fluch an ihr. Um sich davon zu befreien, wirft sie am nächsten Tag bei Morgengrauen vom Haus­ dach einen Palmzweig auf die erste Person, die des Weges kommt. Diese hat nun einen unglücklichen Tag, während sie selbst „geheilt“ ist und kein Unglück mehr bringt. Ahmed Fakhri. Siwa Oasis. Cairo 1944, S. 18.

Wunder, Wundergeschichten. Obwohl die —>Marabouts islam. Heilige sind, darf man sie zum Teil auch als Nachkommen der wunder­ tätigen Männer betrachten, die es vor Christentum und Islam bei den Berbern gab. Es sei nicht unbedingt behauptet, daß die folgende Erzählung aus dem herb. Heidentum stammt, doch paßt sie ausgezeichnet in die Geisteswelt der Berber. So oder wenigstens so ähnlich wird man sich die Persönlichkeit der alten Igurramen vorstellen dürfen, die in vorislam. Zeit verehrt wurden1. Sidi 'Abbas von Tanneghmelt war ein berühmter Heiliger. Eines Tages kam zu ihm Sidi 'Ali Ben Brahim, der ihn verdächtigte, nicht die richtige „Baraka“ (-> Segen) zu besitzen. Als nach dem Mahle Sidi 'Ali Waschungen und Gebet verrichtete, hängte Sidi 'Abbas den Rosenkranz (ttsbïh) seines Gastes an den Mond. Als dieser sein Gebet beendet hatte, suchte er seinen Rosenkranz, bis ihn Sidi 'Abbas aufmerksam machte, daß dieser oben am Monde hing. „Wie soll ich ihn denn herunternehmen?“ fragte Sidi 'Ah. Da antwortete Sidi 'Abbas: „Du hast geglaubt, daß ich den Teufel anbete, aber wer den anbetet, kann nicht vollbringen, was ich getan habe.“ Da bat ihn Sidi 'Ali um Vergebung und Sidi 'Abbas hieß seine Negerin den Rosenkranz herunterzunehmen, was sie auch sofort tat2. —> Einleitung S. 575 ; Heilige ; Baumkult. 1 Agurram, pl. igurramen. Das Wort wird etwa „Heiliger“ oder „Reiner“ be­

deutet haben, denn es erscheint in span. Lautform auf den Kanaren als -> Acoran, Name des einen Gottes. 2 Laoust, Étude sur le dialecte berbère des Ntifa. Paris 1918, S. 342-343.

Zauber und Zauberer. Nicht als berberisch, sondern als dem spät­ antiken Synkretismus zugehörig sind die sogen, „defixionum tabellae“ zu betrachten, von denen man etwa hundert in Karthago und in Sousse gefunden hat1. Es handelt sich um Bleifolien mit magischen Beschwörungen aller Art, z. B. um eine Geliebte zu erobern, einen Nebenbuhler auszuschalten, beim Pferderennen zu gewinnen u. a. m. Es ist anzunehmen, daß sich die Berber ebenfalls 699

Zekkâra

Berber

dieser „Täfelchen“ bedient haben, so wie sie heute arah. geschrie­ bene Amulette tragen. Ein Liebeszauber beginnt mit den Worten : „Alimbeu, columbeu, petalimbeu, mach Victoria, die Tochter der Suavulua nach mir liebestoll, so daß sie keinen Schlaf findet, ehe sie nicht zu mir kommt. Doch Ballineus soll nicht zu ihr kommen.“ Ein Mädchen wünscht : „Sextilius, der Sohn der Dionysia, soll nicht schlafen, er soll brennen, wüten, so daß er weder liegen, noch sitzen oder reden kann ; er soll nur mich im Sinne haben, mich, Septima, die Tochter der Amoena 2‘“ Man beachte, daß stets der Name der Mutter genannt wird, nicht der des Vaters. Eine Beschwörung, die den Sieg beim Pferderennen erwirken soll, ist an einen Toten­ geist gerichtet: „Ich beschwöre dich, vorzeitig dahingeschiedener Dämon, wer du auch sein magst, bei den mächtigen Namen Salbal, bathbal, Authierotabal, Basutatheo, Aleo, Samabethor, binde die Pferde, deren Namen ich vor dich lege, und die Bilder dieser Tafel !“ Es folgen nun die Namen der Pferde der „Konkurrenz“ nach Renn­ ställen geordnet, und es heißt weiter: „Lähme sie auf ihrem Weg, brich ihre Kraft, ihre Seele, ihren Mut, ihren Elan!“ Die Dämonen sind Osiris, Iao, Sahaoth, aber auch Nochtiriph, Bibirixi und Ricurith, der „schnellste Dämon Ägyptens“. Dargestellt werden die Geister mit Schlangenkopf, Klauenfüßen, zwei Lanzen, immer in furchterregender Weise. Einmal erscheint auch ein bärtiger Dämon mit Hahnenkamm, dabei ein Schiff, eine Lanze und ein Gefäß.

Die Existenz von Z. in Nordafrika ist schon für die Antike bezeugt. Die Z. konnten durch die Kraft magischer Worte „Herden um­ kommen, Bäume verdorren und Kinder sterben lassen“ 2. Die latein. Bezeichnung war jascinatores. El-Bekri berichtet von einem Z., der im Gebiete der Mazäksa im Rif lebte, mit Namen Ibn Kusajja „Sohn des kleinen Gewandes“. Niemand wagte es, sich ihm zu widersetzen, denn seine Gegner und deren Vieh wurden von Krankheiten befallen, wenn er sein Gewand umdrehte. Unter seinem Gewände soll ein Blitz geglänzt haben. Seine Kinder und Kindeskinder erbten seine Macht3. Noch um 1850 galt Bou-Beghla, ein Führer der aufständischen Kabylen, als kugelsicher, bis erin einem Kampf von den Aii 'Abbäs getötet wurde4. -> Beschwörung ; Drogen; Höhlen; Magie; Schmied; Verwün­ schungen. 1 A. Audollent, Defixionum tabellae. Paris 1904. 2 Isidor und Nymphodor, bei Plinius, Hist. nat. 7, 2. 3 El-Bekri, S. 201. 4 Hanoteau, Poésies popu­ laires kabyles, S. 445.

Zekkâra. Berberstamm in Marokko, der seinen Sitz zwischen den Ge­ bieten der Beni Iznacen, Beni Bou Zeggou und Beni YaTa hat und

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Berber

Zukunftsdeutung

dessen Glaube angeblich vom berühmten —> Marabout Sidi Ahmed Ben Yousef in Milyana stammt. Nach A. Mouliéras zeichneten sich die Z. durch völlige Indifferenz gegenüber jeder Art geofFenbarter Religion aus. Sie — zumindest die Gewährsleute dieses Autors — waren auf jeden Fall keine. Mohammedaner und befolgten die Ge­ bote des Islams nur gezwungen und äußerlich. Es dürfte sich hier um einen Rest berb. Heidentums handeln. Später sind diese Be­ hauptungen von der Islamfeindlichkeit der Zekkära bestritten worden, was sicherlich auf den übermächtigen Druck der Moham­ medaner zurückzuführen ist. A. Mouliéras, Une tribu zénète anti-musulmane au Maroc. Paris 1905.

Zopf. Die Mitglieder des mohammedanischen Ordens der —>Aisäwa tragen einen langen Z. am Vertex, der nie abgeschnitten wird, „selbst wenn er auf die Knöchel herabfällt“. Am siebenten Tage nach der Geburt wird das Knäblein geschoren und nur die Haare, die den Z. bilden sollen, werden übriggelassen. Der Z. wird stets sorgfältig geflochten, mit Olivenöl, Henna und gestoßenen Gewürznelken be­ handelt und öffentlich gekämmt. Zahlreiche Berberstämme tragen ähnliche Z„ wie z.B. die Beni Seghruschen und die Beni Uryaghel. Bei den letzteren gilt der Z. jedoch als Kriegerfrisur. Vielleicht hängt damit der Z. der Libyer auf ägyptischen Darstellungen zusammen. René Brunei. Essai sur la Confrérie religieuse des 'Aîssâoûa au Maroc. Paris 1926. S. 122-130.

Zukunftsdeutung. Die Frauen der Tuäreg beschaffen sich auf ge­ heimnisvolle Weise Nachricht von fernen Bekannten. Sie sammeln Getreidekörner aus Ameisenhaufen, mahlen daraus Mehl und ver­ mengen dieses mit feingestoßenen Tierknochen. Aus diesem „Mehl“ werden kleine „Kuchen“ gebacken, so groß, daß man sie in der Hand halten kann. Bei Sonnenuntergang legen die Frauen ihre Talismane ab, nehmen etwas Milch in den Mund, jedoch ohne sie zu trinken. Dann verlassen sie unter Mitnahme der „Kuchen“ das Lager und begeben sich an einen verlassenen Ort. Jede wirft ihren „Kuchen“ auf die Erde und spuckt die Milch aus. Dann hocken sie sich nieder und halten ihre Ohren an die Erde. Oft hören sie die Stimmen derjenigen Personen, von denen sie Nachricht zu erhalten wünschen. Das dauert aber nur ganz kurze Zeit. Diese Art der Wahrsagung heißt tïbêllëgïn (pl. f.). Man hört jedoch nicht immer Stimmen, und es kommt auch vor, daß die Nachrichten nicht den Tatsachen entsprechen. Andererseits wird von Fällen berichtet, in denen das Gehörte genau mit den Worten übereinstimmte, welche die Abwesenden miteinander gesprochen hatten1.

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Zukunftsdeutung

Berber

Eine andere Art der Zukunftsdeutung, nämlich mit Hilfe eines Spiegels, heißt elékén. In einer gewissen Entfernung des Lagers wird ein kostbares Tuch ausgebreitet. Darauf wird Schmuck aller Art gelegt, möglichst wertvolle Stücke. Einige werden auch an Zweige gehängt, die um das Tuch herum in die Erde gesteckt werden. Rund herum werden etwa einen Meter hohe Stöcke eingerammt, und darüber legt man mehrere Decken, so daß ein „Zelt“ entsteht. Mehrere junge und schöne Frauen ohne Talismane, jedoch festlich gekleidet, begehen sich in das Zelt. Jede hat einen Spiegel. Draußen wird nun gesungen, Musik gemacht und getrillert. Die Frauen, die während der ganzen Zeremonie den Namen Gottes nicht aus­ sprechen dürfen, betrachten in der Finsternis des Zeltes ihre Spiegel. Oft erhellt sich ein solcher und man erblickt den Ort mit den Per­ sonen, die man zu sehen wünscht. Auch hier ist das Geschaute nicht absolut sicher. Doch sah Ummajen ult Ehi im Jahre 1877, als gerade die Schlacht von Ugmidén tobte, daß einem Targi namens Badi die Hand von einer Kugel zerschossen wurde, was sich in der Folge bewahrheitete; sie konnte sogar die Art der Ver­ wundung genau beschreiben2. Im MA berichtet El-Bekri von einem Griechen, der in einem Spiegel das Gesicht eines berb. Diakons sah, welcher der Geliebte seiner Frau war3. Die Frauen der Tuareg schlafen auch auf prähistorischen Gräbern (édebni) um Nachrichten zu erhalten. Ihnen erscheint der Geist des Grabes, der ihnen Kunde gibt; auch bei dieser Gelegenheit sind die Frauen reich geschmückt. Diese Art von Zukunftsdeutung war schon im Altertum bekannt4. Timékelkélin (pl. f.) ist die Bezeichnung für Wahrsagung mit Hilfe einer Eidechse (temékélkélt). Ein junges Mädchen oder eine junge, Frau putzt eine Eidechse wie eine schöne Dame: ihre Augen werden mit schwarzer Kohle (tazult) geschminkt, dann bekommt sie blaue Tupfen mit Indigo auf Wangen, Stirn und Nase und erhält eine Art von Kopfschleier aus einem winzigen Stückchen Stoff, ihre Pfoten werden parfümiert. Dann legt sie die Eidechse in ein Etui aus Leder, welches die Form eines Straußeneies hat und auf dessen Boden ein „Bett“ aus Sand bereitet ist, auf welchem eine mit Seide bestickte Decke liegt. Am Abend verläßt die Frau in ihren schönsten Kleidern und reich geschmückt das Lager und verbringt die Nacht außerhalb. Ehe sie einschläft, spricht sie zur Eidechse: „Du bist schön, ich bin schön, du bist parfümiert, ich bin parfümiert, du bist geschminkt, ich bin geschminkt, die Männer lieben dich, die Männer lieben mich, du gefällst allen, ich gefalle allen, wenn du mir Nachricht gibst, dann wird man dich lieber haben, gibst du mir aber keine, so wird man mich vorziehen.“ Dann fügt sie mit

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Berber

Zwang

einschmeichelnder Stimme folgende Zauberworte hinzu, die nie­ mand mehr zu deuten weiß: Ti n tkantawin, awa, kanto, kanto. Diese Worte sagt sie dreimal. Dann setzt sie die Schachtel mit der Eidechse neben ihrem Kopf nieder, und oft genug verkündet ihr das Tier in der Nacht, was sie zu wissen wünscht. Auf diese Weise erfuhr 1880 Tabbu ult Awenzeg von der großen Niederlage des Heeres der Kel-Azzer. Nur wenige konnten entfliehen, die meisten fielen in die Hand des Gegners. Erst einen Monat später wurde die Richtigkeit der Timekelelin bestätigt5. Tanbelaku ist der Name einer Frau aus alter Zeit, die mit ihren Fingern Punkte in den Sand machte und daraus ersah, wie es den Kriegern erging. Diese Art der Wahrsagerei heißt igehän (pl. m.); sie wird noch heute geübt8. Von Negern und Arabern wird die Wahrsage­ kunst auch mit Hilfe von Muscheln (tikrukeräwin pl. f.)7 praktiziert. —>Höhlen; Kahina; Prophetinnen; Schläfer; Seherinnen; Traum­ deutung; Wahrsagen. 1 de Foucauld, S. 795-796. 2 Ebd. S. 794-795. 3 El-Bekri, S. 200. 4 de Foucauld, S. 794. 8 Ebd., S. 793-794. 3 Ebd., S. 1289. 7 Ebd., S. 796. Arab. efarft el-wada', von fahrenden Leuten in Ägypten und anderswo geübt.

Zwang. Ein berb. Brauch, eine Hilfeleistung von einer Person zu erzwingen, heißt arabisch 'är. Dieses Wort, das ursprünglich „Schande“ bedeutet, hat hier einen anderen Sinn: hä Tär 'alik heißt etwa: „Wenn du mir das und das nicht tust, dann soll dich ein großes Unheil treffen!“ Ein Flüchtling erhält so den Schutz der Hausherrin, wenn er an ihrer Brust saugt, weil er durch diese —>Saugung in gewissem Sinne zu ihrem Sohn wird1. Diese Sitte wird von den Hyäyna, Ait Ndir, den Igliwa berichtet und kommt auch in Aglu vor (Marokko). Man zwingt z. B. Höhergestellte durch verschiedene Akte, indem man einen Sattel verkehrt vor jemandes Tor oder vor eine Moschee stellt, indem man vor der Schwelle eines Hauses ein Opfertier schlachtet und das Blut fließen läßt. Will der Mann, der gebeten wird, der Bitte nicht willfahren, dann läßt er durch Diener das Tier forträumen und das Blut sorgfältig aufwaschen. Ein Stamm, der militärische Hilfe erbittet, sendet einem anderen mehrere Mädchen, in ihren schönsten Kleidern, bräutlich geschmückt, auf Maultieren reitend, unter Gewehrsalven, wie bei einer wirklichen Hochzeit2. Auch die Sehnen der Hinter­ beine eines Schafes werden durchschnitten3. Ist ein Mörder zu arm, um das Blutgeld aufzubringen, so „zwingt“ er seine Be­ kannten, ihm zu helfen.

Asyl. 1 Westermarck, I, S. 518—522.

2 Ebendort, I, S. 523—330.

3 Ebd., I, S. 531. 703

Addenda et corrigenda

In dem vorstehenden Beitrag „Die Mythologie der Berber“ sind leider auf den Seiten 555—612 wegen Ausfalls eines Korrekturgangs einige Verbesserungen unterblieben. Wir geben im folgenden nur die wichtigsten Ergänzungen und Korrekturen: Nachträge zur Bibliographie (S. 693):

6. Camps, Aux origines de la Berbérie. Monuments et rites funéraires proto­ historiques, Paris 1961. — Ders., Aux origines de la Berbérie. Massinissa ou les débuts de l’histoire, Alger 1963. — M. Jardon et J. Delheure, Ouargla I et II, Eort National 1970. — D. J. Wölferl, Monumenta Linguae Canariae. Die Kanarischen Sprechdenkmäler, Graz 1965. Druckfehler-Berichtigungen :

Seite 564, 19. Zeile v. u. statt Herkulus: Herkules. Seite 587, 14. Zeile v. u. statt Caereres: Cereres.

Seite 592, 4. Zeile v. u. statt Relief: Belief. Seite 598, Abb. 5 : Gilbert-Charles Picard, Les religions de l’Afrique antique. Seite 599, Karte: statt Julemmeden: Iulemmeden. Seite 601, 13. Zeile statt Aissawa: Aisäwa.

Seite 610, 15. Zeile statt Böne: Böne. Seite 611, 6. Zeile v. u. statt 144: 114 Suren.

Zu den folgenden Abbildungen vergleiche die beschreibenden Texte im Ver­ zeichnis der Abbildungen S. 597/598. 704

Berber

Tafel I

Abb.l

Tafel II

Berber

Abb. 4

M/VEMKiVS/ANVAklVS-FTCtA.rUYSrrUXPES/0-FECEKYNTpEpic

Berber Tafel HI

Abb.5

Tafel IV

Berber

Abb. 6°

Abb. 6»

Berber

Tafel V

Abb. 7

Abb. 8

46

DIE MYTHOLOGIE DER ALTHISPANIER VON

JOSE-MARIA BLAZQUEZ

Â. Zur Geschichte, Ethnologie und Religion Althispaniens

Seit Anfang des 1. Jt. v. Chr. drangen Indoeuropäer in mehreren aufeinanderfolgenden Schüben in die Iberische Halbinsel ein. Sie breiteten sich dort aus und vermischten sich auch mit den schon im 2. Jt. v.Chr. dort ansässigen Völkern wie den Basken am Golf von Bis­ kaya, den Tartessiern oder Turdetanern im S der Halbinsel, den die Römer später Baetica nannten, und mit den Iberern an der Mittel­ meerküste. Eine erste indoeurop. Einwanderung, beginnend um 1000 v. Chr., brachte einen vollständigen Wandel der Rasse, der Kultur und der Riten und wurde um 850 sehr verstärkt, mit weiteren ethnischen und kulturellen Differenzierungen im Gefolge. Bei den Einwanderern handelte es sich um ethnisch sehr gemischte Gruppen, die von den Illyrern aus ihren Sitzen verdrängt worden waren und sich mit den Bewohnern des Westens vermengt hatten. Die Ein­ wanderungswelle von 850 brachte die sogen. Grabhügelkultur mit einzelnen Spuren der Urnenfelderkultur. Die Einwanderer über­ querten die Pässe der westlichen und mittleren Pyrenäen, gelangten ans Mittelmeer bei Alicante, über die heutige Provinz Sevilla an den Atlantik, an den Tajo und den Duero sowie in das Kantabrische Ge­ birge und bildeten starke Gruppen in der Meseta. Es waren vor­ keltische Völker. Diese erhielten wenig später Verstärkung durch neue, ebenfalls vorkeltische Elemente, nämlich illyrische und vielleicht ligurische. Diese zweite Einwanderungswelle war nun die der Urnenfelderleute, die über die östl. Pyrenäenpässe kamen. Sie brachten, in Katalonien gut belegt, den Ritus der Feuerbestattung auf die Halbinsel und standen in enger Beziehung und Abhängigkeit zu Gallien, Britannien, Irland und im weiteren auch zu den germanischen Gebieten. — Im 7. Jh. v. Chr. war die Halbinsel von der allgemeinen europ. Ent­ wicklung abgeschnitten und lebte in ihrem eigenen Herkommen — eine deutliche Parallele zu Britannien und Irland. Um 650 v.Chr. begann im Zentrum der Meseta die Eisenzeit. Es erscheinen eine Reihe neuer Elemente, wie z. B. die Hufeisendolche, zeitlich zusammenfallend mit der Ankunft der Kelten, die im 6. Jh. v. Chr. über die westl. Pyrenäenpässe eindrangen und sich in der Meseta und an der Atlantikküste im Gebiet der Grabhügelleute niederließen. Sie sind von eindeutig keltisch-gälischer Abstammung,

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waren die Schöpfer der galicischen Burgenkultur im Nordwesten der Halbinsel und knüpften nun die Verbindung über See mit Irland und der britischen Insel sowie mit dem französischen Küstengebiet wieder an.

Die Orts-, Gewässer- und Eigennamen bestätigen diese aufeinander­ folgenden, aufgrund des archäologischen Materials bekannten indoeurop. Einwanderungswellen. So sind Belege für eine vorkeltische indoeurop. Sprache erhalten bei den Asturiern und Kantahriern am Kantabrischen Meer, ebenso im zentralen Bergland bei den Stämmen der Vettonen, Carpetaner und Pelendonen, die zu den ältesten indo­ europ. Einwanderern gehört haben dürften. Ebenfalls ein indoeurop. Volk sind die Lusitanier, die Bewohner der ganzen Atlantikküste vom Duero bis in den Süden, d.h. des römerzeitlichen Lusitaniens und heutigen Portugals. Die Analyse der lusitan. Namen beweist, daß es sich um Kelten handelt. Herodot (2, 33) berichtet, daß jenseits der Säulen des Herkules Kelten wohnten; Strabon (Iber. 3,2,2) er­ wähnt die Keltoi in seiner Beschreibung der lusitan. Region südl. des Tajo. In seinem Werk Ora Maritima, das auch den vor 575 v.Chr. entstandenen Periplus benutzt, der die ältesten phöniz. Quellen über die Halbinsel zusammenfaßt, erwähnt (216—221) der Dichter Avienus im 4. Jh. die Kelten zwar nicht ausdrücklich, nennt aber ein Volk, dessen Namen keltisch ist, nämlich die Beribraker, die an der Mündung des Guadiana und am Ostrand der Meseta, nördl. des Turiaflusses ansässig waren; dies Volk ist auch im südl. Gallien nachzuweisen. Aus derselben Dichtung sind die Namen von fünf Völkern im W be­ kannt, nämlich Cempsi, Saefes, Lusi, Draganes und Berybraces, welche, mit Ausnahme der drittgenannten (der Lusitanier) in späteren Quellen nicht mehr erscheinen. Die Art des —> Wahrsagens bei den Lusitaniern, wie Strabon sie beschreibt (3, 3, 6), weist eine eindrucks­ volle Parallele zu der der Gallier auf, wie wir sie aus Diodor (5, 31) kennen. Aufgrund der lusitan. Inschrift von Cabego das Fraguas, die auf die 2. Hälfte des 2. Jh. v. Chr. datiert wird, kommen drei Hypo­ thesen über den Ursprung des lusitan. Volkes in Betracht: diese Sprache und folglich die Lusitanier gehören zu einem archaischen indoeurop. Zweig mit eigenständiger Entwicklung während fast eines ganzen Jahrtausends; oder die Inschriften können keltisch in archa­ ischen Schriftzeichen sein; oder aber es könnte sich um einen Dialekt handeln, der vom Keltischen abgeleitet, aber verschieden von ihm ist. Der alte Name „Ligurer“ könnte auf eine spezielle sprach­ liche Beziehung der lusitan. Dokumente zu Völkern der alpinen Regionen hinweisen, wie es auch die Toponomie zeigt. Die Region nördl. des Tajo wurde tiefgehend europäisiert. Für dieses ganze

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Gebiet kann behauptet werden, daß sich in der Sprache wie in der Familien- und Gesellschaftsstruktur der indoeurop. Typ durchgesetzt hat, und dies, obgleich dort ohne allen Zweifel die alte Bevölkerung, d.h. die Abkömmlinge der Eingesessenen des 2. Jts., überlebte. Auch Plinius erwähnt kelt. Stämme, und zwar südl. des Tajos, wie z.B. die historischen celtici (NH, 3,10) an beiden Ufern des Guadiana, wo sich Ortsnamen eindeutig kelt. Herkunft finden. Von der Mitte Lusitaniens ab, links des Tajos, und erst recht südl. von Merida, der Hauptstadt des römerzeitlichen Lusitaniens, verringern sich allerdings Dichte und Kohärenz der herrschenden indoeurop. Schicht. In den Randgebieten der Meseta vermischten die Kelten sich mit den Iberern der Levante und begründeten so das sogen. Volk der Keltiberer, das aus vier Stämmen bestand: Beli, Titi, Lusones und Arevaci, die im mittleren Duero-Tal ansässig waren. Aus verschie­ denen antiken Quellen geht hervor, daß man eine enge Verwandt­ schaft der Keltiberer mit den Galliern der Gallia Transalpina annahm, und die linguistischen Untersuchungen bestätigen diese Annahme. Im äußersten Osten der Meseta und in den Gebirgen der jetzigen Provinz Teruel, d.h. im Gebiet der Stämme der Beronen, Keltiberer und Olcaden, finden sich Spuren einer keltischen Sprache gälischen Typs. Die in griech. und röm. Quellen erwähnten Namen von Heer­ führern der Keltiberer und Lusitanier, der beiden Völker, die im 2. Jh. v. Chr. am meisten gegen die Römer ins Feld zogen, sind keltisch, wie Avaros, Karos, Ambo, Leuko, Viriathus und Rhetogenes Karaunios, wobei der Terminus „keltisch“ hier jedoch stets, im Unter­ schied zu dem, was man außerhalb der Halbinsel darunter versteht, eine etwas weiter gefaßte Bedeutung erhalten muß; denn hier hat es keine La-Töne-Zeit gegeben; was man als kelt. Einwanderung und kelt. Völker auf der Halbinsel bezeichnet hat, umfaßt vielmehr eine Reihe sehr komplexer ethnischer Elemente und verschiedene Ein­ wanderungswellen von Indoeuropäern, die mehr oder weniger mit anderen, älteren West-Völkern vermischt waren. Zahlreiche Be­ ziehungen verbinden die kelt. Völker der Halbinsel mit denen Galliens, Westgermaniens, Helvetiens, des Donautales und Britanniens. So hinterließ das bei Avienus erwähnte Volk der Saefes seine Spur in Saefulae, im Nordosten Galliens. Die Draganes, ebenfalls bei Avienus erwähnt, sind in Westgermanien belegt, wo sich ein vicus Dragini oder Dragani findet. Die Helleni im Norden Lusitaniens ent­ sprechen den Heleni von Carnuntum und scheinen, wie die Lu­ sones oder Lusitani im nachmaligen Helvetien ihren Ursprung zu haben.

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Es bleiben als nicht-indoeurop. Völker auf der Iberischen Halbinsel zunächst einmal die am Golf von Biskaya ansässigen Basken, Nach­ kommen der Bevölkerung des 3. und des 2.vorchristl. Jahrtausends pyrenäischer Kultur; sodann die Tartessier oder Turdetaner, die den Süden der Halbinsel bewohnten, d. h. das Gebiet, das das Tal des Guadalquivir und die Region zwischen der südl. Sierra Morena und der Atlantikküste umfaßt. Seit Anfang des 1. Jts. v. Chr. waren diese Tartessier dem kulturellen Ansturm der kolonisierenden Völker, zu­ nächst der Phönizier und später, vom 7. Jh. ab, der Griechen, aus­ gesetzt und entwickelten vom 8. bis 5. Jh. v. Chr. eine Kultur mit orientalischem Einschlag, nicht unähnlich der etruskischen und der griechisch-archaischen. Unbedeutende Stämme, deren Eigenständig­ keit sich nach und nach verlor, bis zur völligen Auslöschung beim Erscheinen der Römer, waren in Turdetanien die Olbisii von Huelva, die Ileatae nördl. des Guadalquivir zwischen Sevilla und Cordoba, die Etmanii am Mittellauf des Guadalquivir, die Oretani am östl. Guadalquivir und die Gilbiceni in der Umgebung von Cadiz. Die tartessischen Gruppen hatten im 6. Jh. v. Chr. einen großen Bund geschlossen, der auch noch einen anderen, kleineren Bund der an der Südostküste der Halbinsel ansässigen iberischen Stämme umfaßte. In diesem letzteren hatten sich die Bastetani (Almería und Granada) und die Deitani (Murcia und Alicante) mit den JUastieni (Cartagena), die die Führung übernahmen, vereinigt. Es handelt sich hier wie gesagt um iber. Völker, die sich vom Südosten aus über die Mittel­ meerküste bis zur Rhone, am Ebro hinauf bis Saragossa und bis in den Süden von Galicien ausdehnten. Andere in den Quellen erwähnte iber. Stämme sind die Contestani (Valencia und Alicante) und die Edetani (Valencia und Castellón). Die Iberer des I. Jts. sind die Nachfahren der Küstenvölker des 2. Jts.v.Chr., die die genannten Gebiete be­ wohnten bzw. besiedelt hatten. Seit dem 5. Jh. v.Chr. schufen sie unter dem Einfluß der Phönizier und Griechen eine Kultur, deren Wurzeln griech.-phöniz. sind. Phönizier und Griechen hatten, um mit den Ein­ heimischen Handel zu treiben, eine Reihe von Niederlassungen ge­ gründet, die Herde der kulturellen und religiösen Ausbreitung wurden. Die phöniz. Gründungen liegen an der Südküste, nämlich Gades (Cadiz), Malaca (Malaga), Sexsi und Abdera, dazu im Mittelmeer Kolonien auf den Balearischen Inseln; griech. Gründungen, und zwar ab 600 v.Chr., waren Emporioi (Ampurias, Rhodai) und Hemeroskopeion bei Alicante an der Mittelmeerküste sowie Mainake in der Nähe der Meerenge von Gibraltar. Die Turdetaner wie die Iberer hatten also Niederlassungen indoeurop. Stämme bei sich aufgenommen, was durch kelt. Ortsnamen in der röm. Provinz Baetica und auch durch dortige Münzfunde belegt

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ist; bei den Iberern finden sich als gleichfalls indoeurop. Elemente be­ stimmte Grabtypen und außerdem verschiedene Namen in litera­ rischen Quellen aus der Anfangszeit der röm. Eroberung. Die Stämme südl. von Lusitanien besaßen etwa seit 700 v. Chr. eine Schrift, die auf einem semitischen Alphabet beruht — von M. Gómez Moreno im Jahre 1962 entziffert — und ebenso wie die etruskische, die griech. Ursprungs und ins ß.Jh.v.Chr. zu datieren ist, zwar gelesen werden kann, aber inhaltlich unverständlich bleibt. Daneben kennt Althispanien aber auch eine Schrift, die auf der Grundlage eines griech. Alphabets entwickelt wurde; für sie gilt das gleiche wie für die etrusk. Schriftdenkmäler. Die iber. Schrift erlischt in der Zeit des Tiberius; die iber. Inschriften reichen bis zum Ende der Republik bzw. dem Anfang der Kaiserzeit. Relativ gut verständlich ist dagegen der Inhalt der lusitan. Inschriften (Arroyo del Puerco, Lamas de Moledo und Cabero das Fraguas), die bis zur 2. Hälfte des 2. Jh. Vorkommen, so­ wie der Inhalt der kelt-iberischen (Peñalba de Villastar), die in latein. Buchstaben geschrieben sind. Die Untersuchungen über Personennamen auf der Halbinsel ergeben eine große Mehrheit von Namen indoeurop. Ursprungs — allerdings nicht im Süden und an der Levante—, weshalb man für das 1. Jts. dank der indoeurop. Einwanderungen von einer gewissen sprachlichen und ethnischen Einheit sprechen kann. Beim Erscheinen der Römer, im Jahre 218 v. Chr., war bei den indoeurop. Gruppen eine Einigungs­ bewegung im Gange mit den zwei Polen der Lusitanier und Keltiberer, die ihrerseits sieh über die Turdetanier und die Iberer bzw. über deren Gebiete hermachten. Beide letztgenannten Völker suchten nach einem Ausgleich für ihre schlechte Wirtschaftslage, in die sie gelangt waren, weil sich der gesamte Vieh- und Landbesitz in den Händen einiger weniger befand, und so ließen sich viele während des Zweiten Punischen Krieges und sogar schon früher während des gesamten 5. Jh. v. Chr. in Sizilien für die Heere der Karthager und später für die der Römer anwerben.

Die frühe und gründliche Romanisierung Turdetaniens und der Mittelmeerküste hat zu Beginn der Kaiserzeit die vorrömische Kultur vernichtet. Erhalten ist nur ein -> Mythos der tartessischen Völker, der Habis-Mythos, überliefert bei Justinus, der ihn bei Trogus Pompeius fand, einem Schriftsteller aus der Zeit des Augustus. Die Dar­ stellung auf einer Münze in Cástulo (Jaén) könnte auf einen zweiten tartessischen Mythos hinweisen, der dem vom Raub der Europa ähneln würde.

Die Begegnung der einheimischen Religionen mit denen der Koloni­ satoren führte häufig zum Synkretismus, der sich in besonderem 711

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Maße im Zuge der Romanisierung hinsichtlich der röm. Gottheiten vollzog (—> Interpretatio romana).

Auf der Halbinsel sind etwa 220 Namen einheimischer Gottheiten bekannt, von denen die meisten nur einmal auftauchen. Gottheiten, deren Kult weit verbreitet war, sind ^Endouellicus mit 70 Inschriften, —> Iuppiter Solutorius Eaecus mit t6,—>Ataecina mit 13und Nabia mit 9. Wenn man die geographische Streuung der Namen betrachtet, er­ scheinen 70 nördlich des Duero, im Gebiet der Lusitanier und Galicier, und 25 bei den Kantabriern und Asturiern, das macht zusammen bei­ nahe 100, fast die Hälfte aller Götternamen. In den übrigen Gebieten ist die Zahl der Götter gering. Südlich des Tajo sind nur 3 Götter belegt Endouellicus, —^Ataecina und Runesocesius) und 4 in der Provinz Baetica (Louci Iuteri, Poecosuoivus, Matres und ->Matres Aufaniae). Einige Gottheiten der Halbinsel sind auch in Gallien belegt, wie z. B. Bormanicus, der viele Male im mittleren und südl. Gallien erscheint. Die Göttin Coventina von Galicien findet sich auch in Procolitia in der Bretagne. Die —>Lugones von Galicien und Keltiberien sind die gleichen wie in Avenches in der Schweiz, Lugus von Penalba de Villastar ent­ spricht dem Gott Lug in den Niederlanden. Den Matrea Aufaniae sind am Rhein viele Inschriften gewidmet. Der -^-Epona sind auf der Halb­ insel drei Inschriften — nämlich in Segontia, Lara de los Infantes (Burgos) und Loncejares (Santander) — und eine Darstellung in Marquinez (Alava) gewidmet. Ein Bildnis des —> Gernunnos befindet sich auf einem Gefäß von Numantia. Andere hispan. Gottheiten haben kelt. Namen, wie Bodus, Karos, Erudinus, Matres Brigeaecae, Matres Gallaicae, Tutela Bolgensis (—> Götter, einheim.). Keine Spur haben die großen Gottheiten Galliens hinterlassen, weder Esus, Taranis, Teutates noch Belenus, Rosmerta, Damona oder Grannos. Es finden sich ferner keine Spuren von gall. Götterpaaren, wie Sucellus und Nantosuelta, Bormanus und Damona, Apollo Grannos und Sirona.

In der Folklore des heutigen Spanien sind Spuren vorrömischer ein­ heimischer Kulte erhalten, aber man ist mit den Untersuchungen auf diesem Gebiet noch sehr in Rückstand. Es wird vielfach angenommen, die Stierkämpfe seien eine noch erhaltene, sehr weit entwickelte Form alter Stierriten (—> Stierkult). In der Literatur des Mittelalters und der Neuzeit sind die Spuren vieler Stiermythen erhalten. Eindeutiger scheint festzustehen, daß die Veranstaltungen der Johannisnacht (-> Sonnenkult) in Verbindung gebracht werden müssen mit nächt­ lichen Feiern kelt. Ursprungs, in denen das Feuer eine wichtige Rolle spielte. Die Tänze in den Vollmondnächten, die im Nordwesten Spa­ niens bis zum 19. Jh. aufgeführt wurden, scheinen genau die von Strabon beschriebenen Tänze zu Ehren der Luna (—> Mondkult) zu sein. 712

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In Galicien haben sich bis ins 20. Jh. hinein viele magische Bräuche gehalten, die um Bäume, Steine (-> Bergheiligtümer), Quellen (—> Ameucni...; Nymphaeum...; Salus...) und Wege (—>Wegegottheiten) kreisen und auf Glauben und Praktiken der vorromanischen Völker dieser Region zurückzugehen scheinen. Die Erforschung der frühen Religionen der Halbinsel begann Anfang des 20. Jh. Eine erste, lediglich auf Lusitanien begrenzte Studie stammt von Leite de Vasconcelos, der seine in philologischer, archäologischer und historischer Hinsicht ausgezeichnete Arbeit in drei umfangreichen Bänden von 1892 bis 1913 veröffentlichte. Erst 1920 legte J. Toutain im 3. Band seines Werkes über die heidnischen Kulte im Imperium Romanum einen Gesamtüberblick über die ein­ heimischen Religionen der Halbinsel vor. In den letzten Jahren ist intensiv über das Thema gearbeitet worden. A. Tovar und J. de Navascués taten 1950 mit der Veröffentlichung einer Liste aller ein­ heimischen Gottheiten einen sehr wichtigen ersten Schritt. Diese Liste ergänzte J. Maluquer 1954 mit neuen Belegen. Danach sind viele grundlegende Arbeiten erschienen. J. M. Bläzquez und U. Schmoll veröffentlichten in den Jahren 1957, 1960 und 1962 bzw. 1959 und 1964 Arbeiten zur philologischen Analyse der Götternamen, die z.T. von A. Tovar zuvor schon untersucht worden waren. S.Lambrino und J. M. Bläzquez haben sich in den Jahren 1965 bzw. 1969 und 1970 der Frage des Synkretismus von einheimischer Religion und phöniz. und röm. Kulten zugewandt. E. Kukahn untersuchte die religiöse Symbolik der Großen Mutter in der iber. Keramik. Im Jahre 1965 veröffentlichte F. Almeida eine Arbeit über Götternamen mit der Wurzelsilbe band-. Die Religion der Iberer ist ebenfalls Gegenstand der Untersuchung gewesen. Einen ersten Schritt tat A. García y Bellido 1964, als er beim Studium der iber. Kunst auch die iber. -»-Heiligtümer und die verschiedenen Skulpturen mit kultischem und mythischem Charakter wie Sphinxe, Greife usw. einbeziehen mußte. Schließlich veröffentlichte G. Nicolini in den Jahren 1966, 1967 und 1969 drei grundlegende Arbeiten über die Bronzen der iber. Heiligtümer, des­ gleichen E. Kukahn eine im Jahre 1967. Diese Arbeiten haben einen erheblichen Fortschritt für die Kenntnis der iber. Religion und der damit zusammenhängenden Probleme gebracht. B. Literaturverzeichnis Vorbemerkung des Herausgebers. Für alle keltischen oder keltisch bestimmten oder beeinflußten Mythologeme sei grundsätzlich auf die Darstellung R. Lantier’s in diesem Band („Die keltische Mythologie“, S. 99—162) verwiesen; ent-

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sprechend für die nordafrikanischen Elemente auf den Beitrag von W.Vycichl („Die Mythologie der Berber, S. 553—704) und für die baskischen Affinitäten auf Barandiarán’s „Die baskische Mythologie“ (S. 511—552). Spezielle Verweise wurden bei den einzelnen Stichwörtern im allgemeinen nicht gegeben; übrigens finden sich diese ausnahmslos im Kegister am Ende des Bandes.

M. Almagro/A. García y Bellido, Historia de España, 1, 2 (1952). F. de Almeida, Revista daFaculdade de Letras de Lisboa 3,1965, 3 ff. A. García y Bellido, Historia Mundi (1954), 328ff. ; El arte de las tribus célticas (Ars Hispaniae, I, Madrid 1947, S. 301—338) ; Hispania Graeca I—III. Barcelona 1948. F. Benoit, La statuaire d’Entremont, Recherches sur les sources de la mythologie celto-ligure (Revue d’Études ligures, 1948 und 1949). J. M. Blázquez, AEA 30, 1957, 15ff. ; Emérita 26, 1958, 79; Religiones primitivas de Hispania, I. Fuentes literarias y epigráficas (1962); Primer Symposium de Pre­ historia de la Península Ibérica (1960), 347ff. ; Hispania 29, 1969, 245 ff. ; Beiträge zur Alten Geschichte und deren Nachleben (1969), 48ff. ; Legio VII Gemina (1970), 65ff. P. Bosch, Etnología de la península ibérica (Barcelona 1932) ; Two Celtic Waves in Spain (Lon­ don 1941); El poblamiento y la formación de los pueblos de España (México 1945); Les mouvements celtiques (Études celtiques V—VI, Paris 1950-53). P. Bosch-Gimpera, ÉC 5, 1950-51, 352ff ; 6, 1952, 71ff, 328ff. M. Gómez Moreno, RABM 169, 1962, 879ff. E. Kukahn, Caesaraugusta 19-20, 1962, 79ff.;MM8, 1967, 159ff. S. Lambrino, BEP 19, 1957, 5ff. ; 21, 1959, 83ff.; Euphrosyne 1, 1957, 135ff ; Les empereurs romains d’Espagne (1965), 223ff. R. Lantier, Celtas e Iberos, Contribución al estudio de la relación de sus culturas (Archivo español de arqueología, No. 42, 1941); Recherches archéologiques en Gaule (Gallia, 1942ff). Leite de Vasconcelos, Religiöes da Lusitania (1892 bis 1913). J. Maluquer, Historia de España, 1, 2 (1954), 189ff. ; Epigrafía prelatina de la Península Ibérica (1968). J. Martínez Santa-Olalla, Esquema paletnológico de la Península Ibérica (1946), 65ff. G. Nicolini, MM 7, 1966, 116ff. ; Oretania 9, 1967, 51 ff. ; Les bronzes figurés de sanctuaires ibériques (1969). J. Pokorny, Zur Urgeschichte der Kelten u. Illyrier (Zeitschr. f. celtische Philologie 20, 1936, und 21, 1940). U. Schmoll, Die Sprachen der vorkeltischen Indogermanen Hispaniens und das Keltiberische (1959), passim; Germania 42, 1964, 323ff. W. Schüle, Die Mesetakulturen der Iberischen Halbinsel (1969). A. Schulten, Numantial (München 1914). Nachhallstättische Archäo­ logie: Bosch, Art. „Pyrenäische Halbinsel“ in RLV. J. Toutain, Les cultes païens dans l’Empire Romain, 3 (1920), 121 ff. A. Tovar/J. de Navascués, Miscelánea, Adolfo Coelho 2 (1950), 178ff. A. Tovar, Ampurias 17-18, 1955-56, 159ff.; EC 11,1966-1967, 237ff.; ET,H (1960), 101 ff.

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C. Verzeichnis der Abbildungen (Die Abbildungen befinden sich hinter Seite 828)

Abb. 1. Diadem mit Darstellung einer Prozession. Ribadeo, Asturias. Nationalmuseum von Madrid. Negativ-Nr. 6291. Material: Gold. Wahrscheinlich 3. Jh. v. Chr. Vermutlich eine Prozession mit Reitern, die gehörnte Helme und in den Händen Dolche tragen, und mit Männern, die je zwei große Gefäße halten. Zwischen diesen Figuren Vögel oder Delphine. (Vgl. S. 771.)

Abb. 2. Iberische Interpretation der Göttin Tanit. Terrakotta. Alcudia de Elche, Alicante. 3. Jh. v. Chr. (Vgl. S. 811.) Die iberische Göttin auf einem Terrakottagefäß ist eine Nach­ ahmung punischer Terrakotten mit Darstellungen der Göttin Tanit.

Abb. 3. Eckstein mit Fragment einer iber. Prozession. Osuna, Sevilla. Nationalmuseum von Madrid. Negativ.-Nr. 8691. Material: Stein. 3. Jh. v. Chr. Eine Frau trägt einen Kelch, eine andere, mit lang über Schulter und Arm herabhängendem Kopftuch, eine Fackel. Vermutlich handelt es sich um eine Prozession. Der Kelch weist auf einen Prototyp hin, den die Phönizier aus dem Orient mitbrachten. Den gleichen Kelch tragen die opfernden Frauen vonCerro de losSantos (-> Heiligtümer, iber.). Auf einem anderen Relief des gleichen Heiligtums von Osuna (viel­ leicht ein iber. Heroentempel) erscheint eine Frau, die eine Doppel­ flöte spielt. Abb. 4. Heiliger Vogel einer iber. Göttin, zypr. Einfluß. Terrakotta. Alcudia de Elche. Privatsammlung. 3. Jh. v. Chr. In der Keramik von Elche erscheinen viele Symbole der Mutter­ göttin. Vielleicht ist der Vogel eine Taube, was auf Astarte hinweisen würde. Abb. 6. Iberische Interpretation der pun. Göttin Tanit. Terrakotta. Alcudia de Elche, Alicante. Privatsammlung. 3.Jh.v.Chr. (Vgl. S. 811.)

Abb. 6. Lusitanische Göttin, Bandua Araugelensis. Privatsammlung, Badajoz. Antoninische Zeit. Auf einem Silberteller ist die Göttin wie eine klassische TycheFortuna dargestellt. Sie steht zwischen zwei Bäumen, vier Altäre zu ihrer Rechten. In der Linken hält sie ein aufrechtes Füllhorn mit Früchten, in der ausgestreckten Rechten einen runden Teller; auf dem Kopf trägt sie eine Turmkrone.

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Abb. 7. Iberische. Interpretation einer semit. Göttin (Tanit). Alcudia de Elche, Alicante. Privatsammlung in Elche. 3. Jh. v. Chr. Malerei in Nachahmung von Darstellungen der Göttin Tanit auf pun. Terrakotten. Abb. 8. Teller mit kelt. Mythos. Jaén. Nationalmuseum von Madrid. Negativ-Nr. 7017. Material: Silber. 3. Jh. v. Chr. Der Teller zeigt im äußeren Reliefband weibl. Zentauren mit Musikinstrumenten (Harfe, Flöte, Schellen). In der Mitte des Tellers Kopf eines löwenähnlichen Ungeheuers, das einen bärtigen Menschen verschlingt. Enge Beziehung zur kelt. Darstellung gleichen Inhalts aus dem unteren Rhönetal (vgl. auch S.107, Abb. 4; 783). Der Teller vereinigt kelt. und griech. Elemente.

Abb. 9. Griff eines Votivdolches (Stierkult). Meseta. Nationalmuseum von Madrid. Negativ-Nr. 2338. Material: Bronze. 4. Jh. v. Chr. Auf dem Dolchgriff ein Stier zwischen zwei Schlangen in Angriffs­ stellung. Am Griffende ein Stierkopf. (Vgl. S. 798, Nr. 4.) Abb. 10. Kopf eines heiligen Stieres. Costig, Balearen. National­ museum von Madrid. Negativ-Nr. 3544. Material: Bronze. 3.-2. Jh. v. Chr. Der Kopf entstammt einem Heiligtum aus heilenist. Zeit, das ver­ mutlich dem Stierkult diente. (Vgl. S. 798, Nr. 5.) Abb. 11. Schaufel als Votivgerät (Hirschkult). Nationalmuseum von Madrid. Negativ-Nr. 7732. Herkunft unbekannt. 4.-3. Jh. v. Chr. Auf den seitlichen Schaufelbacken sind je zwei Hirsche dargestellt und auf der griffartigen Verlängerung, zur Befestigung des Stieles, steht ein fünfter Hirsch. Die Schaufel wurde zur Bedienung des heiligen Feuers benutzt. (Vgl. S. 763f.) Abb. 12. Votivgabe (Sonnenkult). Calaceite, Teruel. Nationalmuseum von Madrid. Negativ.-Nr. 3843. 4.-3. Jh. v. Chr. Ein auf einem Rad stehendes Pferd, das mit einer säulenartig ge­ stalteten Achse ein zweites Rad auf seinem Rücken trägt. Die gleiche Darstellung finden wir in Dänemark und Frankreich aus der gleichen Zeit. (Vgl. S. 797, oben.)

Abb. 13. Votiv-Skulptur von Cerro de los Santos. Albacete. National­ museum von Madrid, Negativ-Nr. 3977. 4. Jh. v. Chr. Stehende Priesterin mit mehreren Gewändern und prunkvollen Ketten, einem Diadem mit Quasten und Rosetten, in den gedrehten Haarflechten Rundscheiben mit Kerbornamenten. Sie trägt ein Ge-

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faß. Die Figur war bemalt und zeigt zypr. Einfluß. Zur Dama de Elche bestehen keine Beziehungen. (Vgl. S. 757.) Ahb. 14. Iberischer Acheloos. Balazote, Alicante. Nationalmuseum von Madrid. Negativ-Nr. 10115. Material: Stein. 4. Jh. v. Chr. Ein liegender Stier mit einem bärtigen Männerkopf, der Horn­ ansätze zeigt. Die gleiche Darstellung eines Flußgottes findet sich auf Münzen von Gela, Sizilien. Die Skulptur weist mehrere Parallelen zu verschiedenen Darstellungen des höchsten griech. Flußgottes, Ache­ loos, auf. (Vgl. S. 800, 811.) Abb. 15. Bronze- Votiv-Figuren aus iber. Heiligtümern. National­ museum von Madrid. Negativ-Nr. 1004. 5.-6. Jh. v. Chr. Zu den iber. Heiligtümern gehörten auch Votiv-Figuren aus Bronze. Ihr Gestus — teils erhobene, teils ausgestreckte Hände — scheint der der Anbetung zu sein. Manche Figuren bieten Tauben oder Früchte des Feldes als Opfer dar. Es gibt keinen verbindlichen Hinweis, daß diese Figuren Priester darstellen. (Vgl. S. 758.)

Abb. 16. Hispanischer Kriegsgott aus den Pyrenäen. National­ museum von Madrid. Negativ-Nr. 1177. Material: Bronze. 1. Jh. v. Chr. Vermutlich stellt die Figur den Gott Mars als Stiergott dar, ent­ sprechend der Figur vom Kapitolinischen Hügel, die aus dem MarsUltor-Tempel stammt. Er trägt einen Helm mit drei Hörnern und einen Panzer mit Stierbild. (Vgl. S. 802, 823.)

Abb. 17. Löwe aus einer iber. Nekropole. Baena, Cordoba. National­ museum von Madrid. Negativ-Nr. 4430. Material: Stein. 4. Jh.v.Chr. Solche Löwen gehören in der iber. wie in der etrusk., griech. und phöniz. Welt zum Grabkult. Diese Figur ist dem phöniz. Prototyp zuzuordnen. (Vgl. S. 740.) Abb. 18. Lebensbaum mit Tieren auf einer Keramik aus Azaila. Teruel. Nationalmuseum von Madrid. Negativ-Nr. 383. 2. Jh.v.Chr. Die Keramik zeigt vermutlich eine Darstellung von Lebensbäumen, zwischen Tieren und Vögeln. Sie wurde von den Phöniziern aus dem Orient mitgebracht. (Vgl. S. 732.)

Abb. 19. Heiliger Stier aus einem iber. Tempel in Azaila. Teruel. Nationalmuseum von Madrid. Material: Bronze. 1.Hälfte 1. Jh.v.Chr. Votivbronze (Stierkult). Sie stammt aus einem Heiligtum, das ver­ mutlich den örtlichen Heroen geweiht war. Der Stier trägt auf der Stirn Astralsymbole, wie sie sich häufig bei Stierdarstellungen auf iber. Münzen finden. (Vgl. S. 801.)

717

Fundortkarte von der iberischen Halbinsel

Iberische, keltische und keltiberische Fundorte nach Nummern auf der Karte

1 Coaña 2 Ribadeo

3 Santa Tecla (La Guardia) 4 Briteiros (bei Guimaräes) 5 Sabroso (bei Guimaräes) 6 Santa Olalla (bei Figueira) 7 0 Crasto (bei Figueira) 8 Chäo de Lamas 9 Alcacer do Sal (ägypt. Skarabäus, keltische Nekropole) 10 Aliseda (La) 11 Mérida 12 Solana de Cabañas 13 Almorchón 14 Guisando 15 Villa (La) (Solosancho) 16 Osera (La) (Nekropole) und Mesa de Miranda (La) (Ansiedlung) bei Chamartin de la Sierra 17 Cogotas (Las) (bei Cardeñosa) 18 Alar del Rey 19 Burgos (Provinz) (Fundorte der) 20 Valdeavellano de Tera (Prov. Soria) („castro“) 21 Castilfrío (Prov. Soria) („castro“) 22 Castillejo de Fuensauco (Prov. Soria) („castro“) 23 Numantia 24 Osma 25 Gormaz 26 Termantia 27 Cerro Pozo (bei Atienza) 28 Areneros (Madrid) 29 Aguilar de Anguita 30 Luzaga 31 Arcóbriga 32 Huelva (korinth. Helm) 33 Cádiz 34 Portus Menestheus (Puerto de Santa Maria) 35 Guadalete (Fl.) (konrinth. Helm) 36 Jerez de laFrontera (korinth. Helm) 37 Herakleia (Algeciras) 38 Málaga 39 Mainake (bei Torre del Mar) 40 Sexi (Almuñécar) 41 Abdera (Adra) 42 Carmona 43 Osuna 44 Baena 45 Almedinilla 46 Alcalá la Real 47 Granada (Prov.) 48 Despeñaperros 49 Castellar de Santisteban 50 Pero Tito 51 Villacarillo 52 Mogón

53 Toya 54 Galera 55 Castel de Ibros 56 Villaricos 57 Cartagena 58 Molar (El) 59 Luz (La) 60 Verdolay 61 Cigarralejo (El) (Mula) 62 Archena 63 Balazote 64 Salobral 65 Cerro de los Santos 65 Meca 67 Bastida (La) (Mogente) 68 Bocairente (Löwe) 69 Serreta (La) (Alcoy) 70 Agost 71 Elche 72 Alicante 73 Leuké akra (La Albufereta) 74 Alonis (Benidorm) 75 Hemeroskopeion (Ifach) 76 Jávea 77 Artemision (Denia) 78 Oliva 79 Cheste 80 Liria (San Miguel de) 81 Foyos (Los) (Lucena del Cid) 82 Tivissa 83 Gessera (La) (bei Caseras) 84 Calaceite (San Antonio, Tossal Redó, Eis Castellana) 85 Cretas (Mas de Madalenes) 86 Mazaleón (Escodines, San Cristó­ bal, Piuró del Barranc Fondo) 87 Palermo (bei Caspe) 88 Chiprana 89 Azaila 90 Valletes (Les) (bei Sena) 91 Tossal de les Tenalles (bei Sidamunt) 92 Fontscalde8 (bei Valls) 93 Tarragona 94 Olérdola 95 Puig Castellar 96 Emporion 97 Rhode (Rosas) 98 Aigueta (L’) 99 Montlaurés (Narbonne) 100 Ensérune 101 Toulouse (Saint Roch) (keltische Nekropole, iberische Keramik) 102 Baoux Roux 103 Massilia 104 Establiments (Mallorca) 105 Son Gelabert (Mallorca) 106 Oran

Aus: Handbuch der Archäologie, C. H. Becksche Verlagshandlung München

® Phönlzische und karthagische Kolonien © Phönlzische Fundorte

© Griechische Kolonien

O Griechische Fundoe ▲ Keltische oder kelterische Fundorte • Iberische Fundorte

Phokäische Schiffahrtswege im VI. Jahrhundert

II

Grenzen der griechischen Einflußzonen

Einleitung Althispanier

719 Die althispanischen Völkerschaften

Aberglauben____________________________________________

Althispanier

Aberglauben. Von einem Fluß in Galicien, dem heutigen Limia in Orense, der zur römischen Zeit Oblivius (lat. Übers, des griech. Lethe) hieß, ging die Sage, daß sein Gedächtnis verliere, wer ihn

überquere. Decimus Iunius Brutus war der erste, der im Jahre 137 v.Chr. mit seinem Heer beim Feldzug gegen die Galicier den Fluß überquerte (Liv.Per. 55; Plut. Q. R. 34; Pap. Oxyrh. 137 v. Chr.; Flor. 1. 33, 12). Florus berichtet, als der Feldherr bemerkt habe, daß die Sonne ins Meer sank und ihre Glut im Wasser erlosch, habe er zu zittern begonnen und geglaubt, er habe ein Sakrileg begangen. Das Sakrileg bezog sich auf die Flußüberquerung. (Plin. NH 4, 115; Sil. It. 1, 235-236; 16, 476-477; Sali. Hist. 3, 4.) Der 75. Beschluß des 2. Konzils von Braga (572) erwähnt einen Aber­ glauben der Frauen, der sich auf ihre Kleidung bezog (J. Vives, Concilios visigóticos e hispano-romanos, 104). S. Isidorus (Etym. 16, 13, 5) schreibt, eine an den lusitanischen Küsten vorkommende Steinart habe zum Schutz vor Blitzen gedient. Solinus (23, 9) spricht von diesen Steinen mit fast denselben Worten wie S. Isido­ rus. Ähnliche abergläubische Anschauungen erhielten sich im Nordwesten Hispaniens bis in die Gegenwart (-> Berge..., heilige). H.Balmori 33, 261 ff.; J.M.Blázquez 25, 38f.; Leite, Reí. II, 107.

Abna. Lusitan. Gottheit. Fundort Santo Tirso (Portugal). J. M. Blázquez, 219.

Acpulsoius. Fundort Lagunilla (Salamanca). J. M. Blázquez, 205.

Aegiamunniaegus. Der Göttername weist auf einen Ortsnamen. Fundort Viana del Bollo (Orense). J. M. Blázquez, 71.

Aelmanius. Fundort Cabeza del Griego (Cuenca). J. M. Blázquez, 218.

Aerbin... Fundort Castillejo (Salamanca). J. M. Blázquez, 205.

Aernus. Lusitan. Gottheit; Fundort Castro de Avellán (Portugal). J. M. Blázquez, 65 ff.

Aioragatus. Fundort Peñalba de Castro (Burgos). J. M. Blázquez, 205f.

720

Althigpanier

Amulette

Airo. Fundort Fuente Redonda (Cuenca). J. M. Blázquez, 167f.

Aituneus. Fundort Ciraunza (Alava). M. Albertos, EAA 4, 1970, 156. J. C. Elorza, CAN 11, 1970, 816ff.

Albocelus. Der Göttername entspricht einem Ortsnamen; Fundort Villar de Macada (Zamora). J. M. Blázquez, 71 f.

Ameipicer. Lusitan. Gottheit; Fundort Braga. J. M. Blázquez, 169.

Ameucni Nymphae fontis. Ein den Quellnymphen geweihter Altar, dessen Inschrift aus dem l.Jh.n.Chr. stammt, wurde in León gefunden. -> Nymphaeum; Salus U. J. M. Blázquez, 169; CIL II 5084.

Amma. Inschrift auf einem Altar in Segóbriga (Cuenca) aus dem 2. Jh. n. Chr. Der Ursprung des Namens ist am(m)a, ami, Mutter, in ganz Europa nachgewiesen und in Gewässer- und Ortsnamen dokumentiert: Amma illyr. in Dalmatien; Amma, Ama in Belgien (CIL VIII 3620, 4059, 4144, 4176); in Germania Superior (CIL XIII 7120) und Inferior (CIL XIII 8152) usw. und in Hispanien (M. Albertos, Onomástica, 21). H. Losada-R. Donoso, Excavaciones en Segóbriga, 1965, 10, 55, Tafel IX.

Amulette. Auf der iberischen Halbinsel wurde eine verhältnismäßig große Anzahl von A. gefunden. Fast alle sind phönizisch oder aber Nachahmungen phöniz. A. Die gefundenen Stücke sind verschieden­ artig. A. aus La Aliseda (Cáceres): Unter den Beigaben in einem Grab, wahrscheinlich dem einer Frau, das auf ungefähr 600 v.Chr. datiert wird, befand sich eine Sammlung von Metall-A. phönizischen Ur­ sprungs. Die dazugehörenden Ketten fehlen. Fast die ganze Viel­ falt von A. und Behältern, wie sie uns aus den phönizischen Ko­ lonien Malta und Sardinien, in Nordafrika und in Spanien bekannt ist, ist in diesem Grab vertreten. Die herzförmigen A. (19 in La Aliseda) gehören zu derselben Art wie jene, die später an Terra­ kotten an Steinskulpturen und an der Dama de Elche belegt sind; es genügt, an eine der iber. Bronzefiguren im Museo Arqueo­ lógico Nacional zu erinnern, um deren Hals eine Kette mit herz­ förmigen A. liegt. Eine andere dieser Figuren im gleichen Museum 47*

721

Amulette

Altbispanier

trägt nur ein A., desgleichen zwei weibl. Steinskulpturen aus Cerro de los Santos und eine weibl. Büste aus dem gleichen Heiligtum (—> Heiligtümer, iberische). Drei von den in dem iber. Heiligtum Collado de los Jardines gefundenen weibl. Weihbildern aus Bronze tragen Halsketten mit Herz-A., deren zwei sich gleichen. Ähnliche Stücke tauchten in der röm. Provinz Baetica und in einem Grab in Galera auf, hier mit einem Limonitstein. Die gleichen A. phöniz. Stils, wie sie der Brustschmuck der Dama de Elche zeigt, trägt auch eine auf einem Thronsessel sitzende Frauengestalt aus der 1. Hälfte des 4. Jh.v.Chr., die in einem Grab in Baza bei Granada gefunden wurde. Dieser Gruppe von herzförmigen A. sind drei weitere Stücke hinzu­ zuzählen. Ein Anhänger im Instituto de Valencia de Don Juan, Madrid, hat die Form eines Züngleins und ist fein verziert mit fünf kleinen Hohlbögen und einer Blume mit drei Blütenblättern, die wahrscheinlich mit Silber ausgelegt waren. Außerdem erscheinen Palmetten auf verhältnismäßig großen, gedrängten Voluten und vier falsche Rosetten, alles fein granuliert. Dieses Stück wird auf das 6. Jh. v. Chr. datiert. Das zweite Stück befindet sich im Museo Arqueológico von Linares (Jaén); am oberen Ende hat es eine aus Zöpfen gewundene Spule. Im Innern befinden sich zwei gegen­ läufige Spiralen; das ganze Stück ist granuliert, der Rand mit Kugeln zwischen der Granulierung. Das dritte Exemplar ist ein halbrunder Behälter mit drei hohlen Ringen. Die Vorbilder für diese A. finden sich im Orient (achämenidisches Grab in Susa usw.). Von Dosen mit Deckeln in Form eines mit der Sonnenscheibe ge­ krönten Falken, die von ihrem Ursprungsort Syrien über Zypern und Ephesus nach Rom gelangten, sind in Hispanien außer denen von La Aliseda sechs bekannt, zwei in Ibiza (eine davon mit einer Rolle aus oxydiertem Metall) und vier in Cádiz.

Auch die vom Halbmond umfaßte Scheibe (zwei Exemplare in La Aliseda) ist orientalischen Ursprungs; in Hispanien ist sie durch pun. Terrakotten von den Balearen und an einem Exemplar aus Herrerías (Almería) belegt. Die granulierten und mit Türkisen geschmückten Kugelanhänger (vier Stücke in La Aliseda) könnten Granatäpfel ägyptischen Stils darstellen. Ein solches Exemplar aus einer Kupferlegierung wurde in Villaricos (Almería) gefunden. A. in Schlangenform wie z. B. in Tiryns, Ithaka, Kaniale Tekke sind in Hispanien selten. Zwei wurden in La Aliseda gefunden. Dort wurden auch zwei Dosen mit halbrundem Unterteil und napf-

722

Althispanier

Amulette

artigen Deckeln, zwei sechseckige Dosen mit flachem Deckel, sowie eine zylindrische Dose geborgen. Ein sechseckiges A. wurde in der Nekropole von Almufiecar (Granada) entdeckt; dieses ist auf un­ gefähr 700v.Chr. zu datieren. In La Aliseda wurden insgesamt 83 A. gefunden. A.Charakter haben wahrscheinlich auch die Rollsiegel aus La Aliseda. Das schönste trägt in der Mitte einen Amethyst; über einem Lebensbaum zwischen zwei aufgerichteten Greifen erhebt sich eine Palmette; neben dem Baum stehen zwei Gottheiten und ein Horus-Falke. Diese Zusammenstellung hat verschiedene Par­ allelen in der semit. Kunst (Elfenbeinplastiken aus Kalach, Kar­ thago usw.). Zwei andere drehen sich an zwei Griffen; eines zeigt eine zweigesichtige Gottheit mit vier Flügeln, das andere einen Betenden. Vorbilder finden sich auf Zypern und in Syrien.

Auch das goldene Medaillon von Malaga ist ein A. phöniz. Ur­ sprungs. Auf der einen Seite ist ein Lebensbaum zwischen auf­ gerichteten Ziegen dargestellt, ein Thema, das im Orient eine ebenso lange Tradition hatte wie die Darstellung auf der anderen Seite des A., nämlich der siegreiche Pharao, der im Begriff ist, den gefallenen Feind zu erschlagen (Entsprechungen an Gefäßen aus Praenesteund Salerno). Das Medaillon stammt aus dem 7. Jh.v.Chr. Ein anderes Medaillon aus Malaga zeigt zwei Falken über zwei Uräusschlangen rechts und links neben einem Hügel, über dem Sonne und Mond stehen, darüber eine Strahlenscheibe; Mitte des 7. Jh.v.Chr. A. Blanco, AEArq. 29, 19ff., 42ff., 47f. Abb. 65, 1, 44, Abb. 5; CEG 12, 22; Museo del Prado, Catálogo de la Escultura, 1957, 130ff.; Oretania 4, 1960, 166ff.; A. García y Bellido, Historia de España 1, 3, 328 Abb. 228; 456 Abb. 382; 1, 2, Abb. 355-356, 409, 489, 490, 492-493; M. Pellicer, Excava­ ciones en la necrópolis púnica „Laurita“ del Cerro de San Cristóbal (Almuñecar, Granada), 1962, 20 Tafel XIX 3. H. Schubart, Arbor 280, 1969, 427 Abb. 3.

Zum goldenen Schmuck von El Carambolo gehört ein Halsschmuck, bestehend aus doppelter Kette, kleinem Ring und Spange. An Kettchen hängen acht Rollsiegel, ein neuntes ist verloren. Die Kapsel enthält Kugeln, wie die Enden von Glockenklöppeln geformt. Das Stück gehört zu einer in Zypern nachgewiesenen Art von Hals­ schmuck und ist auf ungefähr 500 v. Chr. zu datieren. A. Blanco, AEArq. 32, 40, 44 ff. Abb. 9—10.

Vielleicht sind auch die zwei Brustschmuckstücke aus diesem Schatz als A. zu betrachten. Drei ähnlich geformte, aber sehr viel kleinere 723

Amulette

Althispanier

Anhänger sind gewiß A.; einer ist unbekannter Herkunft und be­ findet sich im Instituto de Valencia de Don Juan, die beiden anderen aus Palencia im Museo Arqueológico Nacional. In dem zuerst ge­ nannten Museum werden drei weitere, etwas größere Stücke auf­ bewahrt, von denen zwei aus Asturien stammen; wie diese A. sehen Vergrößerungen der Brustschmuckstücke aus El Carambolo aus; sie finden sich nur im östlichen Gebiet der Kastelle und auf keltiber. Boden. Im Westen finden sich häufig kleine Beile, von denen man nicht genau weiß, ob sie Amulette, Weihgaben oder kleine Werk­ zeuge des täglichen Gebrauchs sind. A. Blanco, GEG 12, 20ff.; AEArq. 32, 41 ff.; M. Cardozo, Homenaje a Mélida 3, 1935, 293 ff.

Die Halskette von Elviña (La Coruña) besteht aus 13 Kugeln, die aus fein getriebenem Silberblech gefügt sind, mit einem Anhänger und einer Glasperle. Der Anhänger enthält den magischen Stein; das ist der eigentliche Träger des Schutzzaubers. Der Prototyp dieser Kette ist phöniz. und findet sich auf Zypern bei einer Skulptur und bei einer Kette aus Arsos, die auf ungefähr 550 v. Chr. datiert werden. Das Stück ist jedoch in Spanien hergestellt, es weist sehr enge Analogien zu den portugiesischen Halsketten aus Kastell Lanhoso und zu einer Gürtelschließe aus Miraveche (Burgos) auf. Es wird auf das 6. Jh. v. Chr. datiert. J. M. Luengo, NAH 3—4, 1956, 100f.; L. Monteagudo, AEArq. 27, 1954, 236 ff.

Die in Hispanien gefundenen Skarabäen sind ebenfalls A. Drei wur­ den in der semit. Totenstadt von Almuñecar gefunden, einer in der Nekropole von Cruz del Negro (Carmona), 15 in der Nekropole von Can Cayis (Tarragona); außerdem einige Bruchstücke, eines davon in Alcacer do Sal (Portugal) mit dem Namen des Pharao Psammetich I. Die Skarabäen aus Almuñecar stammen ungefähr aus dem Jahr 700 v.Chr., die aus Can Cayis und Alcacer do Sol aus der Zeit Psammetichs I. (ca. 650 v.Chr.). Drei wurden in der Nekropole von Molar (Alicante) gefunden. M. Almagro, Historia de España, 1, 2, 223, 232; A. Blanco, AEArq. 29, 45 Abb. 60-61; M. Peilicer, o.c. 18, Abb. 9-5; Tafel XIX, 1, 24, Abb. 24-3 Tafel XIX 2, 40, Abb. 34-4 Tafel XVIII 1; J. J. Senent, JSEA 107, 1930, 15 Tafel XVII; S. Vilaseca-J. M. Solé-R. Mañá, La necrópolis de Can Cayis (Banyeres, prov. de Tarragona), 1963, 51ff. Tafeln XXVIII—XXXXI.

A. sind wohl auch einer der Ringe aus Tivisa mit einem semit. —^thymiatarium, der Berrueco-Ring mit einem Pferd aus hellenist. Zeit, desgleichen die Gürtelschließen von den Kastellen von San-

724

Althispanier

Amulette

chorreja (Avila) aus dem 6. Jh. v. Chr., die einen Greif auf einer Palmette zeigen, und die aus Azougada (Portugal) mit zwei gleichen Hirschen. Bei Pferd, Greif und Hirsch handelt es sich um Tiere, an die sich religiöse Vorstellungen knüpften, beim Thymiaterium um einen Kultgegenstand. A. García y Bellido, AEArq. 33, 57 Abb. 25—27; J. Maluquer, El Castro de los Castillejos de Sanchorreja, 1958, 80 ff.; Zephyrus 8, 257 ff.; Arqueología e Historia 8, 77 ff.

In Cádiz wurden zwei A. gefunden, zwei gleiche Ketten aus vier­ zehn Goldkugeln und sechzehn Karneolkugeln von einer in Cádiz häufigen Art. Dazu gehören drei Anhänger, eine Medaille mit Rosette, ein einfacher Ring und eine A.kapsel. Die Rosette ist eine oriental. Arbeit aus dem 4. Jh. v. Chr.; das deutet darauf hin, daß auch das orientalisch beeinflußte Schmuckstück aus Jándula (Jaén), ein Löwenhaupt mit Aufhängering und Rosette, ein A.träger ist. Es lehnt sich an Vorbilder aus Zypern, Ephesus, Rhodos usw. an und stammt ungefähr aus dem Jahre 600 v. Chr. A. Blanco, AEArq. 30, 198f. Abb. 8-9; 32, 113ff.; C. Blanco, MMAP 4, 1944, 77 Tafel X; A. García y Bellido, Historia de España, 1—2, Abb. 249.

Punischer Herkunft ist ein bei Cádiz gefundenes A. mit Darstel­ lungen von Melqart, Astarte, Bes, einer Biene und der Sonnen­ scheibe. Dort wurde auch ein Goldring gefunden mit der phöniz. Inschrift „Dem Moloch und der Astarte von Agadir“ aus dem 3. Jh. v. Chr. P. Quintero, JSEA 17, 1932, 17 f. Tafel III.

Aus hellenist. Zeit stammen die fünf Dosen mit einer Darstellung des Bes von Cortijo de Evora (Huelva). C. Blanco, AEArq. 32, 52; J. Maluquer, Zephyrus 9, 1958, 208 ff. A. Blanco, Homenaje a Ramón Otero Pedrayo, 310; J. M. Solá Solé, Zefarad 21, 1961, 251 ff.

Aus heilenist. Zeit kennen wir mehrere bronzene und silberne kelt. Armbänder in Valle de la Caridad (Salamanca), Los Eilipenses (Palencia) und Serra de l’Espasa (Tarragona), die in Schlangenköpfe auslaufen und vermutlich A.Charakter hatten (vgl. S. 121). M. Almagro, MMAP 16—18, 1960, 32ff.; J. M. Bläzquez, Zephyrus 11, 256ff., S. Vilaseca, Homenaje a Julio Martinez Santa-Olalla 3, 1946, 196ff. Tafel XXVIII.

725

Anderon

Althispanier

A. sind wohl auch die keltiber. und vetonischen Fibeln von der Zentralmeseta, die Stiere, Pferde oder Eber darstellen. Sonnen­ amulette —> Sonnenkult. J. Maluquer, Historia do España, 1, 3, 115 Abb. 63—64.

Anderon (Iuppiter). Fundort Galicien. J. M. Blázquez, 97.

Antiscreus. Lusitan. Gottheit; Fundort Monte-Redondo (Portugal). J. M. Blázquez, 220.

Aphrodite. In Carpetania ist für das Jahr 146 n.Chr. ein mit Oliven bepflanzter Hügel bezeugt; diese Olivenbäume waren der A. geweiht (App. Ib 64; Front. 3, 10, 6; 11, 4; 4, 5, 22). Es handelt sich bei dem Ort wohl um die Sierra de San Vicente bei Talavera de la Reina (Toledo). Es ist hier jedoch nicht die griech. A. gemeint, sondern wahrscheinlich eine einheimische Gottheit, die wie ihre Namensschwester in Italien eine Schutzgöttin der Olivenhaine war, also eine Interpretatio graeca einer iber. Göttin (CIL IV 2776; Fest. 265; Plaut, fr. inc. 25; Plin. NH 19, 50; Sol. 2, 14; Varr. ling. 6, 20). J. M. Blázquez, 10; A. Schulten, PHA 4, 111.

Aquae Eleteses. Fundort Retortillo (Salamanca). J. M. Blázquez, 175.

Arco. Fundort Siguenza (Guadalajara). J. M. Blázquez, 103 f.

Arentia, Arentius Amrunaecus. Lusitan. Götter; Fundort Coria (Cá-

ceres). J. Rodríguez, Zephyrus 17, 1966, 121 ff.

Arentius. Lusitan. Gottheit; Fundorte Idanha-a-Nova und Fundäo

(Portugal). J. M. Blázquez, 72ff.

Aricona. Fundort Talavera de la Reina (Toledo). J. M. Blázquez, 74.

Arus. Ein dem Mars gleichender Gott. Auf dem bei Castro Daire (Por­

tugal) gefundenen Altar befindet sich unter der ersten Inschriftzeile 726

Althispanier

Astarte

ein Tier, wohl ein Eber. Rechts steht ein Krieger mit Lanze, ver­ mutlich die Darstellung des Gottes selbst. J. M. Bläzquez, 115; CIL II, 5247; Leite, Rel. II, 314.

Asitrita. Fundort Navaconcejo (Cäceres). J. M. Bläzquez, 206 ff.

Assaecus (Iuppiter). Fundort Lissabon. J. M. Bläzquez, 171.

Astarte. Die große syrische Göttin ist durch die Phönizier und Punier auf die iber. Halbinsel gelangt. Es gab vier große Heiligtümer: Ampurias (Str. 3, 4, 8), Saguntum (Plin. NH 16, 216; A. Garcia y Beilido, MM 4, 1963, 87ff.), Hemeroskopeion (Str. 3, 4, 6) und Rhodai. Daneben weisen Bronzen und Vasenmalereien in großer Zahl auf ihre Verehrung hin. So ist z. B. die gesamte Keramik von Elche voll von Symbolen dieser Göttin. Bronzefiguren von Berrueco. Im Kastell Berrueco (Salamanca) wurden drei gleiche Bronzefiguren aus dem 7.—6. Jh. v. Chr. ge­ borgen. Sie stellen je eine weibliche Gestalt mit vier Paar Flügeln dar. Die Göttin trägt die Haartracht der ägypt. Hathor; mitten auf ihrem Leib befindet sich eine Strahlenscheibe, geschmückt mit einer doppelten Lotosblüte; eine weitere Strahlenscheibe ruht auf ihrem Haupt. Die Göttinnen sind iber. Analogien zu dem Bild auf einer Elfenbeinplatte aus dem Palast Salmanassars III. in Kalach, die aus der 2. Hälfte des 8. Jh. v. Chr. stammt. Auch dort trägt die Göttin die Haartracht der Hathor, eine Strahlenscheibe auf dem Leib und die Lotosblüten in den Händen. Unter den unteren Flügeln der Bronzefiguren aus Berrueco befindet sich jeweils ein dreieckiger Ansatz, der vielleicht zu stilisierten frühen Melissa-Bildern in Beziehung steht. Auf einer schwarz­ figurigen etrusk. Vase, die auf 520—510 v. Chr. datiert wird, ist eine weibliche Gestalt mit vier Flügeln und einer Scheibe auf dem Leib abgebildet. Die Göttin der Bronzefiguren aus Berrueco ist die gleiche Gottheit, die später, zwischen 425 und 385 v. Chr., auch auf den Münzen von Byblos und Mallos erscheint; dort fliegt die Göttin und trägt eine Strahlenscheibe mitten auf dem Leib. Diese Figur ist, ebenso wie die Bronzegestalten von Berrueco, verwandt mit einer Skulptur aus Karatepe aus dem 8.Jh.v.Chr., die den Sonnengott mit vier Flügeln und Greifenhaupt darstellt, der eine ge­ flügelte Scheibe emporhält. Auch ein etrusk. Skarabäus zeigt eine Gestalt mit vier Flügeln und einer Scheibe auf dem Leib. Par­ allelen zu den Bronzefiguren aus Berrueco finden sich auch auf 727

Astarte

Althispanler

Schalenmuscheln von verschiedenen semit. Fundorten, die hei Stucchi (BA, 1959, 158fF.) publiziert sind. Dort tragen die weib­ lichen Gestalten eine Strahlenscheibe mit sechs oder acht Strahlen, die spitz zulaufen, zuweilen auch Blütenblätter oder Lotosblüten; sie zeigen Züge der Göttin Ischtar, Astarte. Die auf den Stücken aus Berrueco dargestellte Göttin ist eine ein­ heimische Version der Kadesch-Astarte-Anat aus dem 7.-6. Jh. v. Chr., die zu dieser Zeit zum ersten Male im Okzident nachweisbar ist. Während des ganzen 2.Jt. wurde eine entsprechende Frucht­ barkeitsgöttin verehrt, die auf Zylindern und Platten abgebildet ist (A. Blanco, MM 3, 1962, 11 ff.; M. Almagro, El Ídolo de Chillaron y la tipología de los Ídolos del Bronce hispánico, 1966), sowie auf dem zylindrischen Siegel ausVelez-Malaga, 13. Jh.v. Chr. (A. Blanco, Zephyrus 11, 1960, 151 ff.), und deren Kult die Phönizier nach Spanien gebracht haben. Diese semit. Gottheit wurde von den Althispaniern in Bildern verehrt, die sie selbst anfertigten, wie eine vierte zu den Göttinnen aus Berrueco passende Bronzefigur beweist, die in einer Mine in Hoyo de los Calzadizos de Castrofrio (Avila) gefunden wurde. Sie lehnten sich dabei eng an die Orient. Vor­ lagen an. A. Blanco, Zephyrus 11, 154ff.; J. Maluquer, Excavaciones arqueológicas en el cerro del Berrueco, 1958, lllff.; A. García y Bellido, Inv. Progr. 6, 1932, 17 ff.

„Carriazo-Bronze“. Hier handelt es sich um eine in der Baetica gefundene Trense aus Bronze in Form einer weiblichen Büste mit erhobenen Armen; ihr Brustschmuck könnten stilisierte Lotos­ blüten sein, was zu der Haartracht stimmt, die derjenigen der ägypt. Hathor entspricht. Wie bei einer Elfenbeinskulptur aus dem Palast Salmanassars III. ruht ein Diadem auf ihrer Stirn. Die Göttin wird von zwei in entgegengesetzter Richtung fliegenden Enten ge­ tragen, an denen sieben Ringe für Schellen oder Glöckchen an­ gebracht sind. Als entfernte Vorbilder hierfür sind Figuren der semit. Göttin A. anzusehen, die in Phönizien schon vom Jahre 1300 v. Chr. an auftauchen. Bei einer Bronzeskulptur des 8. Jh. aus El Carambolo (Sevilla; A. Blanco, Oretania 19, 1965, 7 ff.) stehen auf dem Sockel der Name des Weihenden und möglicher­ weise der Name der Göttin A. mit den rituellen Anrufungen. Außerdem kennen wir eine sitzende Göttin aus Alabaster, die in Galera gefunden wurde und aus dem Ende des 7. Jh.v.Chr. stammt. Sie thront zwischen zwei Sphinxen und hält ein Gefäß auf den Knien. Sie ist innen hohl, ihre Brüste haben kleine Öffnungen, aus denen die hineingegebene Opfermilch fließen konnte (A. Blanco, MM 1, 1960,

728

Althispanier

Astarte

101 Tafel 17a; J.P.Rüs, CHP 5,1950,113ff.; AA27,1956,23 Abb.3). Hier ist, wie bei der Carriazo-Bronze, eine Herrin der Tiere dar­ gestellt, eine potnia theron, die schon in der frühgriech. Kunst mit Wasservögeln verbunden wurde. Beispiele: böotische Amphore 700 v. Chr., rhodischer Teller vom Anfang des 6. Jh., Göttin aus Arkades auf Kreta und eine weitere aus dem Heiligtum der Artemis Orthia in Sparta. —> Heiligtümer, iberische S. 756f. A. Blanco, Zephyrus 11, 154ff.; J. M. Blázquez, Tartessos y los origenes de la colonización fenicia en Occidente, 1968, 93 ff, Tafel XV; Tartessos, llOff, 187ff., Tafeln XXXIV, LXXV-LXXVI A; J. Maluquer, Zephyrus 8, 1957, 157 ff.

Bronzefiguren aus Cástulo (Jaén). Zum Oberflächenschmuck eines Schöpfeimers, der zu den Beigaben eines Kriegergrabes in Cástulo zählt, gehören drei Bronzefiguren, die die Göttin zusammen mit Pferden wiederum mit der Haartracht der ägypt. Hathor zeigen. Sie ist mit einer kurzärmeligen Tunika bekleidet, hält mit der Rechten eine Lotosblüte vor der Brust und ist von einer gleichen Blüte bekrönt. Wie Hathor hat sie spitze Kuhohren. Die drei Figuren stammen aus dem 6. Jh. v. Chr. Die Vorbilder sind auf zypriotischen Kapitellen, mit dem Zentrum in Kition, von wo sich gegen Ende des 6. Jh. v. Chr. der Hathor-Kult auf die übrigen phöniz. Heiligtümer auf Zypern ausbreitete, zu suchen; sie wiederum folgen ägypt. Vorbildern wie z. B. dem Hathorhaupt im Grab­ tempel der Hatschepsut in Deir-el-Bahari. Die Pferde scheinen deutlich darauf hinzuweisen, daß die dargestellte Göttin A. ist (J. Lechant, Syria 37, 1960, 1PF.). Plinius (NH 4, 120) nennt die Namen, die die Alten dieser Göttin beilegten: ab Ephoro et Philistide Erythea, a Timaeo et Sileno Aphrodisias, ab indigenis Iunonis; Avienus schreibt (Ora Mar. 315fl-.): Veneri marinae consecrata est ínsula I templumque in illa Veneris et penetral cavum oraculumque. Es handelt sich um die gleiche Göttin, die in Elche, ebenfalls zwischen Pferden, abgebildet ist. Ein Bronzekopf aus Cástulo im archäol. Museum von Granada zeigt die gleiche Göttin, wiederum mit Haartracht und Kuhohren der ägypt. Hathor. Auf einer Bronze­ schale (7. Jh.v.Chr.) des archäol. Museums in Huelva ist die gleiche Göttin mehrfach dargestellt. J. M. Blanco, AEArq. 36, 1963, 40ff.; Oretania 19, 39ff.; J. M. Blázquez, Tartessos, 113 Abb. XXXV.

Göttin von Santiago de la Espada (Jaén). Am oberen Teil mancher goldener Ohrgehänge befinden sich geflügelte weibliche Gestalten mit einer Taube in der Hand; sie tragen eine knöchellange Tunika. 729

Astarte

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Vielleicht handelt es sich dabei um eine Interpretatio ibérica der Artemis von Ephesus, beeinflußt von griech. Goldschmiedekunst. Diese Göttin ist die gleiche wie die im Bilde von Baza dargestellte. A. Blanco, CEG 21,1957, 270ff. Tafel XVa—b; G. Becatti, Oreficerie antiche, 1955, Tafel CXXX; J. Cabré, AEArq. 16, 1943, 367 ff. Abb. 20-14.

Bronzefigur aus Galera. Eine kleine Bronzefigur aus Galera zeigt eine nackte Frau, ihre Brust mit den Händen haltend; das ist ein Prototyp der aus dem Orient stammenden Göttin Astarte. E. Kukahn, M. M. 8, 1967, 161. Tafel XXa-b.

Geflügelte Göttinnen von Ilici. Fünf geflügelte weibliche Gestalten sind als Vasenmalereien aus Elche erhalten. Die wichtigste ist eine frontal dargestellte Göttin mit ausgebreiteten Flügeln, die zwei auf­ gerichtete, geflügelte Pferde am Zügel hält. Auf einer zweiten Vase ist nur die Büste der Göttin dargestellt, das Antlitz im Profil, mit ausgebreiteten Flügeln und mit Palmzweigen in den Händen. Auf einer dritten Vase sind zwei Göttinnen in Begleitung von Tieren, Kaninchen, Schlangen, Tauben und Flamingos, abgebildet. Die Göttin auf einer vierten Vase steht allein, mit ausgebreiteten Flügeln. Auf einem fünften Fragment ist sie von Vögeln, Fischen und Kaninchen umgeben. Die Symbole weisen darauf hin, daß die Figuren A. darstellen, die Tanith der Punier. Der Gedanke liegt nahe, daß Tanith mit einer einheimischen Göttin identifiziert wurde, die später dem Einfluß der ephesischen Artemis unterlag. Aus Massilia übernahmen die Iberer nämlich den Kult der Artemis von Ephesus, die auch die griech. Siedler in Ampurias und Rhodai verehrten (Strab. 3, 4, 8). Aus augusteischer Zeit ist bekannt, daß der Göttin ein Tempel in Elche geweiht und sie die Schutzgöttin der Stadt war. Obwohl auch in der griech. Welt Göttinnen zusammen mit Pferden dar­ gestellt wurden — es genügt, an das Vasenfragment aus dem Tempel B von Prinias vom Ende des 7. Jh. v. Chr. oder an die Bilder der Athene auf einer Vase von 470 v. Chr. (N. Yalouris, MH 7, 1950, 19ff.) zu erinnern —, besteht kein Zweifel, daß es sich im Fall von Elche bei der dargestellten Göttin um Tanith handelt. Sie ist wie auf den Terrakotten aus Ibiza geflügelt, mit glockigem Rock und Symbolen auf der Brust dargestellt (A. García y Bellido, Historia de España, 1, 2, 439ff. Abb. 350—353; J. Maná, MMAP 7, 1946, 46ff. Tafeln IX-X). Die Symbole der Göttin sind die Lotosblume, die Rosette, die Rosette mit Flügeln, die genannten Tiere und ihre eigene Maske. Sie sind auch in der ostgriech. Kunst belegt. So ist auf einem

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Schmuckstück aus Tralles aus dem 7. Jh. v. Chr. die Göttin von Rosetten und Tieren umgeben. Auf einer kleinen Tonstatue, die der Aphaia von Aegina geweiht ist, trägt die Göttin eine große Rosette, wie sie auch auf einer Stele aus der geometrischen Zeit in der Nekropole Kymissala in Rhodai auftaucht. Auch in der Orient. Kunst zeigt sich die geflügelte Rosette, z. B. auf dem syr. Relief von Saktsche Gösii, das die göttliche und menschliche Macht verkörpert, auf einer Goldkrone der zypriot.-phöniz. Kunst und auf einer Alabasterfigur aus dem Polledrara-Grab in Vulci aus der Mitte des 6. Jh. v. Chr. Auf einem Kalathos von Elche erscheint dieses Symbol zusammen mit der Taube der Göttin, eine Art der Darstellung, von der viele iber. Varianten bekannt sind, z. B. auf einem Schöpfeimer aus Elche oder auf einem großen Krug aus Alicante. Als vereinfachtes Symbol findet es sich auch allein, z. B. unter einem Gefäßgriff und heim Bild der geflügelten Göttin mit der Rosette an der Seite. Auf Zypern erscheinen die Lotosblüte oder die Palmette auf Keramikmalereien des 6. —5. Jh. v. Chr. zwischen Kopf und Flügel der Taube oder die Taube mit den Pflanzensymbolen (Lotos, Ro­ setten und Palmetten). Auf einem Fragment aus Elche ist der Vogel, wie auch gelegentlich auf Zypern, mit einem Granatapfel­ zweig dargestellt. Auf anderen zypriot. Vasen erscheint das Ro­ settensymbol zwischen zwei Flamingos. Mit Flamingos erscheint die Rosette auch bei der Keramik aus Elche und Alicante. Hier ist die Göttin durch ihr Symbol vertreten. Auf einem zypriot. Krug stehen die Rosetten neben den Flamingos, ebenso auf dem Kult­ teller von Elche zusammen mit einem Phallus. Ein Fragment aus Alicante zeigt die Rosette neben dem Kopf einer Gestalt mit er­ hobenen Händen, wohl einer Tänzerin bei einem —>Kulttanz. Bei einem Haupt, das unter den Griff- eines Gefäßes gemalt ist (ein für solche Darstellungen typischer Ort, der auf einer langen Tradition beruht), das in Olite (Navarra) gefunden wurde und ins 2. Jh. v.Chr. zu datieren ist, befindet sich keine Rosette, obwohl sie in Elche bereits mit den ältesten Tanith-Darstellungen auftritt. In der iber. Kunst kommen auch einzelne Flügel in einer aus Zypern bekannten Form vor. An einem Kalathos aus Alicante steht eine Blüte zwischen großen Flügeln mit Rosetten für die Göttin. In Zypern finden sich andere Vereinfachungen: die Göttin ist durch ihre Maske vertreten. Dies gilt z. B. für die beiden gleichen Hathorhäupter, Bilder auf einer zypriot. Vase, mit Kreisen auf den Wangen, ebenso für ähnliche zypriot. Darstellungen. Das Thema wird von der iber. Kunst aufgenommen: ein Vasenhals aus Alicante zeigt zwei Friese, einen Vogelfries und einen anderen mit wilden 731

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Tieren. Zwischen ihnen ist ein Kopf dargestellt, der dem Haupt auf einem ähnlichen Fries einer kret. Bronzemünze aus dem 7. Jh. v. Chr. gleicht. An einem Kalathos aus Elche befindet sich je eine Maske unter beiden Griffen; Kreise sind auf ihre Wangen gemalt wie in Zypern (Golgoi-Kapitell). Auf einem zweiten Fragment aus Elche tritt das Bild ebenfalls auf; es entspricht fast genau einem zypriot. Vorbild. Auch auf einem dritten Fragment aus Elche hat die Göttin bemalte Wangen. Das Gesicht der Göttin auf einem weiteren Relieffragment aus Elche entspricht den Masken der Buccheros-Kannen (grauschwarze Reliefgefäße). Vorbild der geflügelten Göttin mit Palmzweigen in den Händen könnte die sogen. Göttin von Arkades (Kreta) sein. Zum Vergleich mit der „Göttin“ zwischen Vögeln, Fischen und Kaninchen (wahrscheinlich handelt es sich nicht um die Göttin, sondern um Tänzerinnen, da zwei Figuren mit erhobenen Händen dargestellt sind) wäre die Darstellung der potnia theron aus Böotien heranzuziehen, die um 700 v.Chr. entstand. Die griech. Siedler lehrten die Iberer die Riten, mit denen im Mutterland die Artemis von Ephesus verehrt wurde (Strab. 4,1,5). Wenn Strabon schreibt, der Kult der Artemis von Ephesus werde mit demselben Ritual wie im Mutterland gefeiert, spielt er wahr­ scheinlich auf Tänze an, die großenteils obszön waren. Solche Tänze fanden in allen Heiligtümern der Fruchtbarkeitsgöttin statt. Es ist daher nicht überraschend, daß auf einigen iber. Darstellungen Tänze festgehalten sind, die der Fruchtbarkeitsgöttin galten, und daß diese selbst auf der iber. Keramik abgebildet wurde. Es steht zweifels­ frei fest, daß in Elche ein starker Einfluß der phöniz. Religion und Kunst Zyperns herrschte. A. Blanco, Homenaje a Ramón Otero Pedrayo, 1958, 305 ff.; MM 1, 113 Ta­ feln 34—39b; E. Kukahn, Caesaraugusta 19—20, 1962, 79ff.; A. Ramos, NAH 2, 107ff. Tafeln LVIII-XCV; CAN 7, 1964, 359. Tafel III; CAN 9, 1966, 299ff.; AEArq. 16, 1943, 328ff.; Atti VI. Congr. Intern. Sc. Pr. Prot. 3, 1966, 402.

Der Einfluß von Kunst und Religion der Orientalen, insbesondere der Semiten, tritt nicht nur in der iber. Kunst der Ostküste zutage. Bei der Keramik von Azaila finden wir Darstellungen des Lebens­ baums, die in ihrer Stilisierung dem semit. Stil sehr ähnlich sind. Auf anderen Vasen befinden sich bei dem Baum Hirsche, Vögel und Astralsymbole, bei sehr vollständigen Darstellungen außerdem Fische, Wölfe, Nattern und Frösche. Dieses Thema hat nahe Par­ allelen in Mesopotamien, wo der Baum von Ziegen umgeben ist (in Azaila von Hirschen), dazu von Gestirnen, Vögeln oder Schlan-

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Ataecina

gen, d.h. von Tieren, die auch in Azaila bei dem heiligen Baum stehen. In Mesopotamien erscheinen hei dem heiligen Baum zuweilen Menschen in Fischmasken, in Azaila sind es Fische und Frösche. Genau wie in Mesopotamien sind bei den Bäumen in Azaila Ge­ stirne abgebildet, die auf die kosmologische Bedeutung der Bäume hinweisen könnten. Im Orient sind Falken der Großen Göttin zu­ gehörig ; sie finden sich auch auf der Keramik von Azaila. Der Lebensbaum zwischen aufgerichteten Löwen ist in der iber. Keramik aus Elche dokumentiert. Auf einem Quaderstein in Osuna (Sevilla) erscheint eine fast architektonisch stilisierte Darstel­ lung des Lebensbaumes: Es ist das Relief einer jonischen Säule, aus deren kanelliertem Schaft seitlich zweigartige Voluten sprießen, zwischen diesen befindet sich jeweils eine Blume, in den oberen Ecken je ein Blatt. Am Fuße des Schaftes sprießen zwei Schößlinge, die in Spiralen auslaufen. Ähnliche Quadersteine wurden in Osuna noch mehrfach gefunden: Ein Fries oder ein Türpfosten aus Cästulo ist mit einem Rautennetz, das mit einem Band eingefaßt ist, über­ zogen. Diese Schmuckformen lehnen sich an phöniz. Motive an, wie sie durch ein Elfenbeinstück aus Meggido belegt sind, das Vorbild für das Stück aus Cästulo wie auch für ein architektonisches Element mit Leierschmuck aus Osuna sein könnte. A. Blanco, Rev. Guimaräes 68, 1958, 24ff.; MM 1, 113 Tafel 35b; J. M. Bläzquez, AEArq. 30, 19f.; CVH Azaila Abb. 31-43,47-48, 55-57,60-65.

Ataecina. Die Göttin wird mit Proserpina identifiziert und besonders im Gebiet zwischen Tajo und Guadalquivir hoch verehrt. Ihr Unter­ weltcharakter ist nicht nur durch die -> Interpretatio romana als Proserpina deutlich, sondern sowohl durch etymologische als auch epigraphische Beweise gesichert. Der Zypressenzweig auf einer Stele, deren Inschrift Grabmalcharakter hat, weist auf Proserpina. Leite de Vasconcelos (Rel. II 161 f. und 174f.) hält diesen Zweig für den Beweis, daß A. bäuerlichen Charakter hat; das ist nicht erwiesen (H. Balmori, Emerita 3, 1935, 214ff.), während der Unterwelt­ charakter in den Inschriften klar hervortritt.

Der Name tritt in folgenden Formen auf: Atecina turibrigensis Proserpina, Ataecina turobrigensis, turibrigensis Adaegina und Dea Sancta Turibrigensis oder Turubrigensis. D’Arbois (RC XIV, 389} vertrat die Etymologie Ate-gena-, das wäre ein kelt. Wort, zu­ sammengesetzt aus der Vorsilbe ate- mit der Bedeutung re, Herum und gena, Bestandteil vieler, in Hispanien nachgewiesener kelt. Wörter: Aiio-genus, Dadu-enus, Deo-cena, Isgenus, Mäl-geinus, 733

Ataecina

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Madu-cena, Maidu-ceni, Matu-ceni, Madu-cenus, Madu-gena, Medug, Ori-genus, Origena (M. Albertos, Onomástica, 279f. Wegen der Verteilung der mit genos zusammengesetzten Personennamen in Hispanien vgl. J. Untermann, Atlas antroponimico, 194ff.). Da sich auf der iber. Halbinsel stimmlose Laute in stimmhafte umwandeln und nicht umgekehrt, ist das c in A. nicht erklärt. Indessen scheint es bei den hispan. Kelten zum Stimmloswerden des g gekommen zu sein; das Phänomen, daß in Namen mit t auch c vorkommt und umgekehrt, unterliegt anscheinend einer beiden Phänomenen gemeinsamen Schwankung. Der Diphthong ae tritt in Hispanien häufig als e auf. Die Schreibweise e ist in Hispanien nicht bezeugt, dagegen ist ate- in hispan. Beispielen mit e ge­ schrieben. Für Ategua (Str. 3, 2, 2) und Atellius (CIL II 3405, 3449, 3450, 3451, 3603, 5834) tritt nirgends die Schreibung Atae- auf. H. Balmori nimmt diese Tatsache als Beweis dafür, daß es sich um einen alten kelt. Diphthong handelt. A. ist auf einer Inschrift aus dem frühen 1. Jh. v. Chr. in Noricum (CIL III 11650) mit e ge­ schrieben. Steuding vertritt eine andere Etymologie. Danach steht der Name A. mit dem irischen Wort adaig, Nacht, in Verbindung; A. wäre also die Nachtgöttin und daher kam es zu ihrer Identi­ fizierung mit Proserpina und zu der Bitte auf der Inschrift von Mérida, die Göttin möge den Bösewicht strafen. In der indoeuropäischen Sprachfamilie besitzt eine Wortgruppe den Stamm ät, Feuer: im Awesta atars, im Altind. atharvan, im Armen, airem, im Latein, äter, schwarz, im Altirischen äith, im Gälischen odyn, Ofen usw. Der Entstehungstyp ist eine Ableitung mit -k-, erweitert durch die zweitrangige Nachsilbe -no- mit der Bedeutung bräunlich, schwarz. Die Form Adaegina mit d und g läßt eine Schwankung in der Schreibweise erkennen. Nach Bal­ mori ist Adaegina die ältere, Ataecina die jüngere Form. A. Tovar (Prim. Leng. Hisp. 140) behauptet genau das Gegenteil. U. Schmoll (Germania, 326) neigt dazu, den Namen der Göttin nicht wie A. Tovar (VII Congr. Ling. Rom., 1955, 396) und M. Albertos (Onomástica, 38) mit dem in einer Inschrift von Ampurias (CIL II 4627; M. Almagro, Inscripciones ampuritanas, 1952, 27) auf­ tretenden Namen Atacina in Verbindung zu bringen; für A. Tovar und M. Albertos ist Atacina eine unverfälschte Form. L. Michelana (Zephyrus 12, 202) weist seinerseits darauf hin, daß das altirische adaig d voraussetzt (vielleicht die Vorsilbe ad- und k oder q).

Verbreitungsgebiet des Kultes. Neben dem Namen der Göttin steht ein geograph. Beiwort, wie es bei den Landesgottheiten Hispaniens häufig der Fall ist. A. war wohl ursprünglich die Göttin von Turo734

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Aturro

briga, das nach Plinius (NH 3, 14) zu Beturia Céltica gehörte (U. Schmoll, SH 73, 78). Dreizehn Altarinschriften und Bronze­ figuren dieser Göttin sind erhalten, davon stammen drei aus Mérida, eine aus Medellin, zwei aus Cáceres, eine aus Cárdenas, zwei aus Ibahernando, eine aus Quintos, eine aus dem Bezirk Beja, eine aus Segobriga und eine aus Cagliari. Leite, Reí. 154L; A. García y Bellido, Esculturas romanas de España y Por­ tugal, 1949, Tafeln 126, 155-157, 142, 172-173.

Es gibt Bronzefiguren, die die Göttin mit Ziegen darstellen, die ihr möglicherweise heilig waren oder aber Opfertiere sind. Das Museum von Evora (Portugal) sowie Cáceres und andere span, und portug. Städte besitzen Sammlungen derartiger Weihebilder, die möglicherweise dem A.-Kult angehören. J. M. Blázquez, AEArq. 35,1962, 128 ff. ; 0. da Veiga/J. Camarato, Rev. Guimaräes 64, 1954, 290ff.

Es wird allgemein angenommen, daß sich einige Verse aus dem Ora Maritima des Avienus (241—243) auf diese Göttin beziehen; sie bezeichnen ein Heiligtum, einen Tempel und eine Grotte einer Unterweltgöttin in der Gegend der Meerenge von Gibraltar : Iugum inde rursus, et sacrum infernae deae / diisque fanum, penetral abstrusi cavi / aditum caecum. Möglicherweise ist auf einem terra sigillata-Fragment aus auguste­ ischer Zeit, das in Cástulo gefunden wurde, A. dargestellt. Es sind dort zwei Göttinnen abgebildet; im oberen Teil des Fragments befindet sich eine weibliche Büste, eine Göttin mit verhülltem Haupt und entblößter Brust, die eine Frucht oder einen Kelch in der Rechten hält, während die Linke ein Füllhorn umfaßt ; darunter sehen wir zwei Zweige, rechts eine Ziege und links vermutlich einen Knaben. Weiter unten ist Tellus oder Proserpina dargestellt. Die letztere Göttin sowie die Ziege und der Zweig lassen erkennen, daß das obere Bild wahrscheinlich eine -^-Interpretatio romana von A. ist (A. Blanco, Oretania 8—9, 1961, 93ff.). J. Alvarez, AEArq. 30, 1957, 245ff.; H. Balmori, Emérita 33, 1965, 254f.; J. M. Blázquez, 140ff.; M. Diaz, Antología del latín vulgar, 1950, 39f.; CIL II, 101,462,605,5877,5999; P. Pita, BRAH 6, 1885, 431f.; 7, 1885, 45 f.; 36, 1900, 448; Leite, Reí. II, 146ff., 151 f.; A. Ferrer, AEArq. 21, 288ff.; R. Molida, Catálogo Monumental de España. Provincia de Badajoz, 1926, 177f„ 201,369; M. Monsalud, BRAH 40, 1902, 541ff.; J. Mallín/T. Marin, Las inscriptiones publicadas por el Marqués de Monsalud, 1897 — 1908, Estudio crítico, 1951, 9f., 91 f., 98; A. Schulten, PHA 1, 97f.

Aturro. Ein Wassergott, dessen Name auf einer Grabinschrift bei Campos (Portugal) erscheint; die Inschrift läßt auf einen chthon. 735

Auíaniae

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Charakter dieser Gottheit schließen. Bei Ausonius (Mos. 468) wird der aquitanische Fluß Adour Aturrus genannt; bei Lucanus heißt er Aturis (Phars. 1420); ’Atovqioq bei Ptolemäus (2, 7, 1). Aturia in Nordhispanien (Mel. 3, 15). Der Name ist in Aquitanien weit verbreitet: Vicus Atora (Greg. Tours. In glor. eonf. 51) und aturenses (Not. Gail. 14,9). Als Personenname erscheint er am Rhein: Atturrus (CIL XIII, 6114); in Lusitanien sind Formen wie Aturranus belegt (CIL II 365), in Gallien auch Aturia (CIL XII, 2826) und Aturenus (CIL XII 2920). Wegen der Verbreitung des Per­ sonennamens Aturo in Hispanien vgl. J. Unterman, Atlas antroponimico, 194; M. Albertos, Onomástica, 42. J. M. Blázquez, 170; S. Lambrino, Arq. Port. 1, 1951, 43ff.

Aufaniae (Matres). Kelt. Gottheiten, die z.B. auch auf keltischen Weihinschriften aus dem Rheinland Vorkommen. In Hispanien wurden verschiedene Weihinschriften gefunden, die den Matronen (Mutter-, Erd- und Fruchtbarkeitsgöttinnen) gewidmet sind z. B. in Duratón (Segovia; CIL II 2764), in Porcuna (Jaén; CIL II 2128), in Muro (Soria; CIL II 2848). Altar aus Carmona (Sevilla). J. M. Blázquez, 130; CIL II 5413.

Auge. Griechische Gottheit; Fundort Fontes (Portugal). J. M. Blázquez, 105 ff.

Augus. Fundort Villablino (Jaén). J. M. Blázquez, 106.

Avisa. Fundort Trujillo (Cäceres). J. M. Blázquez, 219ff.

Baelistus. Fundort Angosta (Alava). M. Albertos, EAA4, 157 ff.

Bana. Fundort Paredes (Zamora). J. M. Blázquez, 207 ff.

Barciaecus. Fundort Naraval (Asturias). J. M. Blázquez, 75.

Bcantuanecus. Fundort Ciudad Rodrigo (Salamanca). J. M. Blázquez, 208.

Berge, Bäume, Haine, Steine, Quellen, heilige. Justinus (Epit. Hist. Phil. 44, 3, 6) gibt einen Auszug aus dem Werk des Pompeius Trogus, 736

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Berge, Bäume, Haine, Steine, Quellen, heilige

eines Schriftstellers der augusteischen Zeit. Dort wird von einem heiligen Berg in Galicien gesprochen: quem ferro violari nefas habetur, sed si quando fulgere terra proscissa est, quod in his locis adsidua res est, detectum aurum velut dei munus collegere permittitur. Aus diesem Bericht ist dreierlei zu entnehmen: 1. handelt es sich hier um einen genius loci oder numen loci, um eine Himmelsgottheit, die mit Blitz und Sturm auf den Bergen haust. Die Inschriften erhärten vollauf die Hypothese, daß das nur Jupiter sein kann, dessen Beinamen häufig auf Berge als Kultorte hinweisen; 2. wird deutlich, daß das Eisen als unreines Metall galt, und so war es frevelhaft, Gold mittels Eisen zu schürfen; 3. wurde Gold als ein Geschenk des Got­ tes erachtet. In derselben Gegend wurden auch Bäume, Steine und Quellen kultisch verehrt; S.Martinus v.Bracara (De correct. rust., 16) ver­ bietet, in der Nähe von Felsstücken, Bäumen oder Quellen Lichter anzuzünden, ebenso an Wegkreuzungen: Nam ad petras et ad arbores et ad fontes et per trivia cereölos incendere, quid est aliud nisi cultura diabolil... Vulcanalia et Kalendas observare, mensas ornare, et laudes ponere, et pedem observare, et fundere in foco super truncum frugem et vinum, et panem in fontem mittere, quid est aliud nisi cultura diaboli! . . . Incantare herbas ad maleficia et invocare nomina daemonum incantando, quid est aliud nisi cultura diaboli'! Et alia multa quae longum dicere.

Im 73. Beschluß des zweiten Konzils von Braga 572 wurde ver­ urteilt, wer die Häuser mit Lorbeer oder Bäumen bedeckt, im darauffolgenden Beschluß, wer für abergläubische Bräuche oder Beschwörungen Kräuter sammelt (J. Vives, o.c., 703). Im 11. Beschluß des 12. Konzils von Toledo (J. Vives, o.c., 399) und im 2. Beschluß des 16. Konzils von Toledo (J. Vives, o.c., 498) wird verurteilt, wer Steine anbetet, wer Fackeln dort entzündet und Quellen und Bäume verehrt.

Heilige Haine sind für die alte Zeit hinreichend erwiesen. Auf einem Stein mit den Namen der einheimischen Gottheiten Cosunea und Fiduenea finden sich auch die BuchstabenM undD eingemeißelt. Sie werden als Nimid gedeutet mit der gleichen Bedeutung wie das irische nemed, lucus, ein Wort, das im Namen des bracarensischen Stammes der Nemetati enthalten ist (Pt. 2,6,40) und in Nemetobriga, der Hauptstadt der Tiburer (Geogr. Rav. 320,7; Pt. 4,28,6), er­ scheint, möglicherweise auch in den Namen einiger Festungen wie Nenemenzo, Nemina und Nemeno. Die Städtenamen Lucus Augusti (CIL II 2638; Itin. Ant. 424, 7; 430,8; Pt. 2, 6, 23) und Lucus 48*

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Bestattungsriten

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Asturum (Geogr. Rav. 321 ; Pt. 2, 6, 28) lassen auf die Existenz heiliger Haine schließen.

In der galicischen Folklore sind die Spuren der Pflanzenverehrung nicht so deutlich zu erkennen. Der Volksglaube, der vielleicht auf das Altertum zurückgeht, schrieb den Eichen und anderen Bäumen, hauptsächlich den im Vorhof der Kirche gepflanzten, heilende Eigenschaften zu. Vom Baumkult leiten sich auch die Prozessions­ zweige her, wie man sie im mittleren Teil Galiciens findet, d. h. in den Provinzen Orense, Pontevedra, im Süden der Provinz Lugo und an wenigen Orten der Provinz La Coruña. Sie sind auch über den Norden Portugals, Asturien, León, Estremadura, Kastilien und Katalonien verbreitet. Der Brauch, bei Prozessionen Zweige zu tragen, die mit Bändern, Blumen, zuweilen mit Brot, Wein und Fleisch geschmückt sind und manchmal im Mittelpunkt von Tänzen junger Leute stehen, stellt in seiner fast bis in unsere Tage erhaltenen Form schon einen christianisierten Ritus dar.

Bis vor wenigen Jahren hat sich in Galicien der Glaube an wunder­ tätige Steine erhalten. Ein Fels in Finisterre und einer in Monte Pinolo sollten die Heilung der Frauen von Unfruchtbarkeit bewir­ ken. Bei Carballo setzten sie sich bei schwierigen Geburten auf einem Felsen dem Mondlicht aus. Ein fünf Kilometer von Orense ent­ fernt gelegener Fels heilte rachitische Kinder; drei Frauen, die Maria heißen mußten, trugen die Kinder durch eine Höhle unten an dem Felsen. Andere Felsen wiederum übten schädliche Wir­ kungen aus, wie der in Serra de Capebada, S. Martin de Teixido, der für die Felder unheilvolle Winde schickte. Auch Reste des Kultes heiliger Berge erhielten sich im Nord­ westen Hispaniens bis ins 20. Jh. Der Pico Sagro, La Coruña, ist, wie sein Name sagt, ein solcher heiliger Berg. In Pestzeiten wall­ fahrteten die Kranken dorthin und richteten ihre Bitten um Ge­ sundung an den Berg. Der Jakobslegende zufolge gehörte dieser Berg der Königin Lupa; ein Drache hauste dort, aber die Jünger Jakobs erschlugen ihn durch das Kreuzeszeichen und reinigten den Berg mit dem Wasser und Salz der Taufe. -> Candamius; Dercetius; Religion, iber. ; Zephyrkult. J. Femández-Oxea, RDTP 17, 1961, 93ff.; Marqués de Castellanos, RDTP 9, 1953, 329ff. ; J. Valverde, RDTP 20, 1964, 109ff.

Bestattungsriten. Silius Italicus (3,341—343) berichtet von den Keltiberern, daß sie ihre Toten unter freiem Himmel aussetzen, damit die Geier sie in Stücke reißen. His pugna cecidisse decus, cor738

Althlspanier

Bestattungsriten

pusque cremari / tale nefas. Cáelo credunt superisque referri / im­ pastas carpat si membra iacentia vultur. Daraus geht hervor, daß für diese Volksstämme der Himmel der Aufenthaltsort der Toten war und daß ihre oberste Gottheit in der Höhe wohnte. Aelian (De nat. an. 10, 22) nennt diesen Bestattungsritus auch für die Vaccäer, die Verbündeten der Numantiner. Beide Schriftsteller weisen jedoch darauf hin, daß nur Krieger den Geiern überlassen wurden. Aelian fügt hinzu, diese Tiere seien heilig. Dieser keltiber. Ritus weist Par­ allelen zu den Riten der Perser, Meder (Her. 1,140; 1; 3, 16, 2) und anderer asiat. und afrik. Völker mit Hirtencharakter auf (Diod. 5, 34; Liv. 21, 43, 3), wie es die Numantiner waren. Auf der anderen Seite befremdet es, daß die Vaccäer, ein ausgesprochen bäuerliches Volk (Diod. 5, 34, 3), einen den Hirtenvölkern eigentümlichen Ritus vollzogen. Vielleicht ist er auf numantinischen Einfluß zu­ rückzuführen. Dieser Ritus der Keltiberer und Vaccäer ist jeden­ falls völlig abseits von der Vorstellung einer Seelenreise, wie sie die Quellen von den Kelten außerhalb Hispaniens berichten (Caes. BG 4, 14, 5; Diod. 5, 28, 6; Luc. Phars. 1, 454—458). Die Archäologie hat den Beweis für die Richtigkeit der literarischen Quellen hin­ sichtlich Hispaniens erbracht. Auf zwei bemalten Keramik­ fragmenten aus Numantia sind zwei gefallene Krieger und zwei auf sie zufliegende Geier dargestellt (A. Schulten, Numantia II, Tafel 22). Auf einer Stele aus Lara de los Infantes (Burgos) und auf einer Stele von Zurita sehen wir eine gleiche Szene (A. García y Bellido, Esculturas romanas, 367ÍF. und 361). Die letztere weist darauf hin, daß dieselbe Sitte auch bei den Kantabriern herrschte.

Sowohl für die Iberer als auch für die indoeurop. Völkerschaften der iber. Halbinsel war die Verbrennung der ihnen eigentümliche Bestattungsritus. Den Kriegern wurden ihre Waffen beigegeben [Nekropole von Cigarralejo (Murcia), Cabecico del Tesoro, Verdolay, Aguilar de Agüita (Guadalajara), Arcobriga (Soria), Las Cogotas und La Osera (Avila) usw.]; das ergibt sich auch aus zahl­ reichen Texten, die von einer —> magischen Verbindung der Iberer mit ihren Waffen sprechen. Die Ureinwohner mögen geglaubt haben, diese Gegenstände seien Eigentum der Abgeschiedenen, die sie vielleicht im Jenseits brauchten. In anderen Fällen sind Waffen und Wagen auf Stelen und Grabplatten dargestellt, z. B. in Jaén bei Haza del Trillo, in Sevilla bei Haza de Billaos, in Badajoz bei Almendralejo, Cabeza del Buey und Magacela, in Cáceres bei Brozas, Ibahernando, Robedillo de Trujillo, Santa Ana de Trujillo, Solana de Cabañas, und Torrejón el Rubio, in Portugal bei Castello Branco und Figueira. 739

Bestattunggriten

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Neben diesen Stelen vom Ende der Bronzezeit sind in Südportugal weitere 13 Stelen mit Waffen des Typs der El Argar-Kultur zu nennen (1550—1250 v.Chr.). M. Almagro, BAEO 1, 1965, 73ff.; Ampurias 19-20, 202 Abb. 7-9; A. Arribas, The Iberians, 137 ff.; J. Ramón y Fernández Oxea, AEArq. 23, 1950, 293ff.; 28, 1955, 266ff.

In den Grabstätten der Tartessos-Kultur oder der direkt von ihr beeinflußten Kulturen wurden Trankopfer dargebracht; dort ist das Verbrennungsritual unbekannt. Es wurden Krüge gefunden [La Aliseda (Cáceres), Cruz del Negro (Carmona, Sevilla), Coca (Segovia), Niebla (Huelva), Krug in der Calzadilla-Sammlung (Badajoz), im Metropolitan Museum (New York), im Museo Lázaro Galdeano (Madrid), im Museum von Mérida] und rituelle Gefäße zur Verbrennung von Duftstoffen in La Aliseda, Carmona, Huelva, Granada; von hier griff die phöniz. Sitte auf die levantin.-iber. Welt über (Arjona, Galera, Despeñaperros, La Luz, Cigarralejo, El Molar, Albufera, La Bastida, Azaila, La Osera und Tivisa). Man entdeckte auch eine Anzahl von Keramiktellern in den Gräbern. Der Ritus, auf den die Gefäße hinweisen, ist semit. Ursprungs; es handelt sich um einen Kühlungsritus, der für den semit. Bestattungs­ kult bezeichnend ist. Der Gebrauch dieser Gefäße beim Beisetzungs­ ritual ist orientalischer Herkunft, er ist aber auch im Mittelmeer­ gebiet belegt (Zypern, Etrurien, Karthago usw.). A. Blanco, AEArq. 29, 1956, 3ff; AEArq. 26, 1953, 235ff.; J. M. Blázquez, Tartessos 106ff. Tafeln XXVIII-XXXI; E. Cuadrado, AEArq. 29, 32ff.; Repertorio de los recipientes metálicos con „asas de manos“ de la Península Ibérica, 1966; A. García y Bellido, AEArq. 29, 85ff.; 33, 1960, 44ff.; J. P. Garrido, Excavaciones en la necrópolis de ,,La Joya“, 1970, 28ff. Tafeln XVI-XVII.

Wahrscheinlich glaubten die Bewohner von Tartessos und die Iberer, daß bestimmte Tiere, teils phantastische wie Sphinxe und Greife, teils wirkliche wie Stiere, Hirsche und Löwen, die Hüter der Gräber seien und die Kraft besäßen, böse Geister abzuwehren. Von vielen ist zwar ihre eigentliche Bedeutung innerhalb der My­ thologie der iber. Halbinsel unbekannt, ihr Grabkultcharakter aber sicher. Deutlich ist, daß sie von griech. oder oriental. Vorbildern abstammen. Da einige in Gräbern gefunden wurden, ist anzunehmen, daß die Bedeutung als Grabwächter allen zuzuschreiben ist. Von einigen Hirsch- und Stierdarstellungen mit Bedeutung für den Be­ stattungsritus ist beim -> Hirsch- und -> Stierkult die Rede. Das Haupt aus Redován (Alicante) ist die älteste bekannte iber. Ge­ staltung des griech. Greifen; es ist ein Meisterwerk der iber. Kunst

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Bestattungsriten

und erinnert an die Greife von Delphi; es beweist den frühen Ein­ fluß der griech. Kunst und Glaubenswelt auf die iber. Kultur. An einer Urne aus Galera (Granada) sind Reste von Malereien er­ halten, darunter ein Greif, nach dem Vorbild auf einer Vase aus Kertsch aus der 1. Hälfte des 4. Jh. v. Chr. Auf dem Urnendeekel sieht man die Füße eines zweiten Greifen. Damit ist die GrabkultBedeutung dieser Wesen erwiesen. Sphinxe kennen wir aus Agost (Alicante), Santo Tomé (Jaén), Llano de la Consolación (Albacete), Bogarra und Salobral (Albacete). Vom gleichen Typ ist ein Frag­ ment einer Statue aus Elche (Alicante) und das einer Statue aus der Provinz Jaén; über diese liegt keine Veröffentlichung vor, sie ist in das 4. Jh. v. Chr. zu datieren. In den levantinischen und baetischen Nekropolen fanden sich zahl­ reiche liegende Löwen. Ein Löwe stammt aus der murcianischen Nekropole Cabecico del Tesoro (Verdolay). Ein Exemplar befindet sich auf einem Urnendeckel aus Galera aus der 2. Hälfte des 4. Jh. v. Chr. Ein Löwe stammt aus der Nekropole von Cádiz, mehrere aus der Nekropole von Guardia (Jaén); wahrscheinlich stammen auch die drei Löwinnen vom Munigua-Hügel (Jaén), die liegende Löwin aus Obulco und die drei zwischen Cartagena und Montilla (Córdoba) gefundenen Exemplare aus Nekropolen. Eine weitere Löwin tauchte in Cartagena auf. Der Löwe von „El Molinillo“ (Córdoba) und die Wölfin oder Löwin vom Cerro de los Molinillos (Baena, Córdoba, die auf das 3.-2. Jh. n. Chr. datiert wird) sowie „La Bicha“ von Balazote und der liegende Stier von Osuna ge­ hörten zu Grabtüren. Die meisten dieser Tiere liegen wie der Löwe aus Bocairente (Valencia) auf einer Säulenplatte. A. Blanco, BIEG 9, 1959, 118 ff.; AEArq. 33, 40ff.; A. García y Bellido, Historia de España, 1, 3, 580ff.; AEArq. 33, 168ff.; Abb. 6—9; W. SchüleM. Pellicer, MM 4, 40, Tafeln 212, 3.

In den Burgen des NordWestens findet sich häufig eine höchst interessante Art von Bauwerk, die mutmaßlich Grabarchitektur ist. Einige dieser Denkmäler waren schon von alters her bekannt, so die sogen. Pedra Formosa aus dem Kastell von Briteiros (Por­ tugal), anscheinend eine prächtig geschmückte Hausfassade. In demselben Kastell wurde 1930 eine zweite Pedra Formosa mit ähn­ lichem, aber einfacherem Schmuck und dem dazugehörigen Bau­ werk entdeckt. Dieses liegt teilweise unter der Erde und besteht aus drei hintereinanderliegenden Gemächern, die in einen kleinen halbkreisförmigen Raum münden, der einen wirklichen Ofen dar­ stellt. Der erste Raum ist rechteckig, mit ungleichen Platten aus­ gelegt; man betritt ihn über eine Seitentreppe. Links befindet sich

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Bormanicus

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ein Wasserbehälter. Von diesem Atrium gelangt man in ein eben­ falls rechteckiges Vorzimmer, an dessen Rückwand die Pedra Formosa eingebaut ist, durch diese betritt man eine Kammer mit zweifach geneigtem Dach, die zu einem halbkreisförmigen Raum mit falscher Kuppel führt. Allen solchen Bauwerken sind der Ofen am äußersten Ende mit der falschen Kuppel, die Kammer, das Vorzimmer und der Wasser­ kanal oder -behälter gemeinsam. Wahrscheinlich wurden hier die Leichen verbrannt; das Wasser diente zum Waschen der Leichen. Ein weiteres, sehr ähnliches Bauwerk befand sich in Briteiros, zwei andere gibt es in den asturischen Kastellen Coaña und Pendia. Daß die Bauwerke als heilig galten, geht aus der sorgfältigen künstlerischen Ausgestaltung der Innenwände mit Astralsymbolen hervor. Im Kastell Monte de Saia in Barcelos fanden sich die Ruinen eines Raumes mit falscher Kuppel und Wassertrog. Zwei Steine mit eingemeißelten Opferszenen wurden dort entdeckt. Ähn­ liche Monumente sind in Monte Crosto in Sardoura bekannt sowie in den Kastellen Ribela (La Estrada), Santa Tecla, Borneiro, Franca, Sanfino, Castelo de Vermo, Famali§äo, Meimon, Carballiño usw. Einige Monumente wurden christianisiert, so das in Aguas Santas, Orense, über dem im 13. Jh. eine Auferstehungskirche erbaut wurde. Das heidnische Bauwerk wurde in die christl. Kirche eingegliedert. Erhalten sind ein Raum, in den man über eine Treppe hinunter­ steigt, ein Vorzimmer mit einer Tür, die der Pedra Formosa gleicht, aber mit erweitertem Durchlaß, und ein Vorzimmer mit falschem Gewölbe. J. Maluquer, Historia de España 1, 3, 60ff.; 159ff.; A. García y Bellido, AEArq. 41, 1968, 16ff.; J. Uria, Rev. Univ. Oviedo, 1941, 3ff.

In manchen iber. Ortschaften, z. B. dem laietanischen Dorf Turó de Can Oliver de Cerdanyola (Barcelona) und in Serreta de Alcoy, ist der Ritus der Kinderbestattung im Innern der Wohnstätten belegt. M. Tarradell, Pyrenae 1, 1965, 174f. -> Totenkult, Totenreich.

Bormanicus. Kelt. Gottheit. Fundort Caldas de Vizela (Portugal). -> Einleitung S. 712. J. M. Blázquez, 171 ff.

Brigeaecae (Matres). Kelt. Göttinnen. Fundort Peñalba de Castro (Burgos). —> Einleitung S. 712; Aufaniae; Duillae. J. M. Blázquez, 129 ff.

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Caparenses

Brigus. Kelt. Gottheit; Fundort S. Miguel-o-Anjo (Portugal). J. M. Blázquez, 75 ff.

Burado (Mons). Fundort Bilbilis (Marc. 4, 55, 23) -> Berge, heilige. J. M. Blázquez, 9.

Cabardiacensis (Minerva). Fundort Viseu (Portugal). J. M. Blázquez, 208 f.

Cabuniaeginus. Fundort Aguilar de Campoo (Palencia). J. M. Blázquez, 109ff.

Caepol. Fundort Tuy (Pontevedra). J. M. Blázquez, 67.

Caepus. Lusitan. Vegetationsgottheit; Fundort Sabugal (Portugal). J. M. Blázquez, 66f.

Candamius (Iuppiter). Ein Altar mit dieser Inschrift wurde auf der Grenze zwischen den Provinzen León und Asturien gefunden. Der Göttername ist enthalten in Ortsnamen wie Candiano (Laredo), Candenora (Reinosa, Asturien); im Nordwesten Hispaniens findet man Candanal, Candamo, Candán, Candanedo, Candas, Gandarillas (S. Vicente de la Barquera, Santander), Gandarias in Vizcaya und die zahllosen Gándara und Gandarela in Galicien (A. Tovar, Can­ tabria Preromana, 1955, 18). Canda bedeutet steiniger Ort und Steinbruch (R. Menéndez Pidal, o.c. 170). Candamius ist wohl der Gott des Berges Candanedo. Die Verbindung Jupiters mit derartigen einheimischen Gottheiten entsteht aus Jupiters Himmelsgott­ charakter, wohnt er doch auf den Bergen und herrscht über Donner und Sturm. Berge, Bäume . . . S. 737, oben. J. M. Blázquez, 87; CIL II, 2695; J. González, Boletín del Instituto de estudios asturianos 29, 1956, 370ff. ; Leite, Opúsculos 5, 148; J. Toutain, o.c. 143.

Candiedo (Iuppiter). Fundort Galicien. —> Candamius ; Interpretatio romana. J. M. Blázquez, 87 f.

Caparenses (Nymphae). Fundort Baños de Montemayor (Cáceres). —>Nymphaeum; Salus U. ; Silonianae. J. M. Blázquez, 199ff.

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Caraeclquaelicqus

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Caraeciquaelicqus. Fundort Candeleda (Avila). J. M. Blázquez, 209.

Caraedudius. Fundort Astorga (León). J. M. Blázquez, 76.

Cari... beílacis ->Cariociecus. Fundort S. Juan de Baños (Palencia). J. M. Blázquez, 76.

Cariociecus. Ein Kriegsgott, der mit Mars identifiziert wurde. Der Name erscheint auf einem Altar aus Tuy (Pontevedra), die In­ schrift weist auf das 2. Jh. n. Chr. Das Beiwort hat die Nachsilbe -iako; die Variante Cariaco, ist als Name einer galicischen Zenturie belegt (U. Schmoll, SH 56). Der erste Teil, der höchstwahrscheinlich in Cari... beflacis enthalten ist, besteht aus dem Ausdruck cario, das zur Bildung vieler Ortsnamen dient. Zu diesen gehört Carioca, mit einer in Hispanien sehr ge­ bräuchlichen Nachsilbe; Sambroca, Elicroca, Carioca sind als Namen für Gebiete schon für die Jahre 956, 974, 992 n. Chr. belegt. Der Ortsname Carcioca lebt heute noch in Namen wie Queiriga in Viseu fort. Der Göttername scheint einer Familie zuzugehören, deren Namensgeber eine Person namens Carius ist. Caroqum heißt ein Stamm von Peñalba de Villastar. Der Name der Carioci ist in dem modernen Queiroga erhalten; es soll übrigens eine villa Carioca, eine civitas Carioca oder eine familia carioca gegeben haben, deren Schutzherr der mit dem römischen Mars identifizierte C. war. F. Bouza-Brey, Rev. Guimaräes 63, 1953, 140ff.; J. M. Blázquez, 115f.; CIL II 5612; R. Menéndez Pidal, o.c. 263ff.; Boletín de Filología 13, 1951, 255ff.; J. Untermann, AEArq. 12f.

Carus. Kelt. Gottheit. Fundort Arcos de Val-de-Vez (Portugal). J. M. Blázquez, 209.

Castaecae. Der Göttername entspricht einem Ortsnamen; Fundort Santa Eulalia de Barrosa (Portugal). J. M. Blázquez, 173.

Celiborca. Quellengöttin; Fundort Villasbuenas (Salamanca). J. M. Blázquez, 174.

Cernunnos. Ein kelt. Gott, der auf einer Vase in Numantia in der im ganzen kelt. Bereich vorkommenden Art dargestellt ist: ein Hirsch­ geweih auf dem Haupt, die Arme erhoben. Die Darstellung von Nu­ mantia, etwa aus dem Jahre 133 v. Chr., gleicht unter allen C.-

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Cosus calaeunius

Bildern am meisten der ältesten bekannten Darstellung der Gott­ heit auf der Felszeichnung in Val Camonica in den lombardischen Alpen, die aus der Zeit um 400 v. Chr. stammt (siehe S. 99ff., Mythol. der Kelten, Abb. 1). J. M. Blázquez, 5 CAN, 1959, 189ff.; Rev. St. Lig. 23, 1957, 295ff.; REA 67, 1961, 421 f. Tafel XXXVII.

Cohvetene. Identisch mit Cohvetena berralocegu aus Santa Cruz de Loyo (Lugo) und mit Caepol Convetina aus Santa Eufemia de Tuy (Pontevedra). Fundort Parga (Lugo). J. M. Blázquez, 190ff.

Coronus. Kriegerische Gottheit; Fundort Crastro (Portugal). J. M. Blázquez, 116f.

Coru... aba. Fundort Citänia (Portugal). J. M. Blázquez, 117.

Cosío vus ascannus. Fundort Laeiana (Asturias). J. M. Blázquez, 118f.

Cosotheinaecus. Kriegsgott; Fundort Torres de Nogueira (Orense). J. M. Blázquez, 119f.

Cosoudaviniagus. Kriegsgott; Fundort S. Martin de Meiräs (La Co­

ruña). J. M. Blázquez, 120.

Cossuenidoiedius. Fundort Noceda del Bierzo (Léon). A. García y Bellido, AEA 39, 1966, 138ff.

Cossuesegidiaecus. Fundort Arlanza (León). A. García y Bellido, AEA 39, 1966, 138ff.

Cosunea. Kriegsgöttin; Fundort Eiríz (Portugal). J. M. Blázquez, 120.

Cosus (Mars). Fundort Brandomil (La Coruña). J. M. Blázquez, 117f.

Cosus calaeunius. Kriegsgott ; Fundort Santa María de Serantes(Lugo). J. M. Blázquez, 118.

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Cosug oenaecus

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Cosus oenaecus. Kriegsgott; Fundort San Mamed de Soavia (La Co­ ruña). J. M. Blázquez, 118.

Crougintoudadigus. Fundort Santa Maria de Ribera (Portugal). J. M. Blázquez, 77.

Cusuneneoecus. Kriegsgott; Fundort Santo Tirso (Portugal). J. M. Blázquez, 130.

Deabefa. Fundort Louredo (Orense). J. M. Blázquez, 210.

Deganta. Fundort Cacabelos del Bierzo (León). J. M. Blázquez, 77 ff.

Dercetius. Heiliger Berg (S. Braul. Vita S. Emil. 4), wahrscheinlich in Galicien, denn dort wurde ein dem D. geweihter Altar gefunden (Monte Castello). Der Name des Gottes erklärt sich aus dem indoeurop. derk-mirar, das auch im Kelt. hinreichend vertreten ist (U. Schmoll, SH 76; J. Pokorny, Ind. Etym. Wort. 219). Zur Bil­ dung vgl. Leucetius, Loucetius, Beiwörter für Mars, und Tasgetios neben -tasgus, und zur gleichen Wortfamilie wie D. gehörend das altindische dargatá, sichtbar, schön, und das griechische dusdérketos und den Eigennamen Dérketos. Der Stamm derk-, schauen, ist in den westlichen indoeurop. Sprachen häufig vertreten (M. Albertos, Onomástica, 24f.; L. Michelena, o.c. 201). J. M. Blázquez, 88; CIL II 5809; F. Fita, BRAH 50, 1907, 308f.; U. Schmoll, SH 76.

Devotio ibérica —>■ Magie; Menschenopfer.

Dialcus. Herkunft unbekannt. J. M. Blázquez, 77 ff.

Dii deae Cauleeisaeci. Fundort Castro Caldelas (Orense). J. Lorenzo/F. Bouza-Brey, CEG 20, 1965, 164ff.

Dii deae Pinioneses. Fundort Cáceres. C. Callejo, BRAH 157, 1965, 40ff.

Dii deaeque Conimbrigensium. Fundort Portugal. J. M. Blázquez, 129.

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Eaecus

Duillac. Auf diese Göttinnen weisen 2 Inschriften aus dem 1. Jh. n. Ch. in Palencia hin. U. Schmoll meint, daß zwei weibliche Gestalten, die auf einem am selben Ort gefundenen Altar dargestellt sind, Bildnisse der D. seien, die vielleicht Göttinnen in der Art der kelt. Matronen (->Aufaniae) waren. Wenn man kelt. Wörter untersucht, ergibt sich der Hinweis auf Naturgottheiten, Schutzherrinnen der Vegetation. Irisch duille, duillen, Laub, -dula, Blatt, das indoeurop. dhal, dhel, wieder grünen, sprießen, blühen, das bretonische pemp-deylen, fünf Blätter usw. (Holder, ASI 1363; J. Pokorny, Ind. Etym. Wort. 243). Dazu kommt die Tatsache, daß die Kelten Heilige Haine oder luci sowie Naturgottheiten verehrten (vgl. S. 113 „Baum“, S. 120 „Naturismus“) und der Druidenkult im Kern ein Pflanzenkult war; das zeigt auch der in Gallien und Irland weit­ verbreitete Baumkult (CIL XIII, 33, 223-225; 132, 175; 129). In Gallien wurde Arduinna verehrt, die Göttin der Ardennen (CIL VI 46; XIV 436), ebenso wohltätige Göttinnen, wenn man an dw/dwe (dueatus, beatus; dueños, bonus) denkt; U.Schmoll (SH47) verwirft jedoch diese Etymologie und denkt an du-, zwei, als Hin­ weis auf eine Doppelgottheit. M. Albertos, Zephyrus, 54 ff.; J. M. Blázquez, 65 f. EE IX, n. 296; HAEpigr. 1—3, n. 400; P. Fita, BRAH 36, 1900, 508ff.

Dulovius. Kelt. Gottheit; Fundort Cäceres. J. M. Blázquez, 97 ff.

Durbedicus. Wassergott. Der Name erscheint auf einem Altar aus Guimaräes (Portugal) aus dem 2. Jh. n. Chr. Er endet auf die Nach­ silbe -¿cm, die bei Stammesnamen weit verbreitet ist: calacoricos, oilauwicoä, araticoS, areicoraticoS, arecoraticuboS, ilacabicos, arcailicos, arbicom, ca(r)bica usw., ebenso bei Ableitungen von Personen­ namen und bei Namen einheimischer Götter wie Angeficus,~^>-Endouellicus, Ladicus, Bormanicus, Toudadigoe (U. Schmoll, SH 52f.). Durb- hängt mit dem altirischen druckt, Sprühregen, oder mit derb, klar, kristallin, zusammen und weist auf den Charakter als Wasser­ gott hin, -ed ist eine Nachsilbe, die bei vielen kelt. Wörtern auftritt. J. M. Blázquez, 174; M. Cardozo, Catálogo, 18; Correspondencia, 56f.; 96 n. 6; CIL II 5563; Reí. II 329ff.

Durus. Flußgottheit (-> Genius) des Duero. Fundort Oporto (Por­ tugal). J. M. Blázquez, 174ff.

Eaecus (Iuppiter). Einheimischer Gott. Auf der Inschrift von Poza de la Sal (Burgos), aus der der eigentliche Charakter dieser hispan.

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Edovius

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Gottheit hervorgeht, mit Iuppiter Solutorius gleichgestellt. Außer­ halb Hispaniens steht E. nicht als Beiwort bei Iuppiter (RE X, 1, 1142ff.); doch ist Iuppiter häufig mit Adjektiven versehen, die auf dieselbe Eigenschaften als depulsor hinweisen. Der ursprüngliche E.-Kult wurde später zu einem Kult für Iuppiter Solutorius Eaecus, schließlich fiel der einheimische Name weg, übrig blieb Iuppiter Solutorius. Vierzehn Inschriften in dieser Form sind bekannt; sie stammen aus Villamejía (Cáceres, CIL II, 661), Santa Cruz de la Sierra (Cáceres, CIL II, 675), San Vicente de Alcántara (Cáceres, CIL II, 728), Brozas (zwei Inschriften, Cáceres, CIL II 744—745), Oropesa (Toledo, CIL II, 944), La Moraleja (zwei Inschriften, Cáceres, CIL II, 5305), Fuente de Apio (Toledo, CIL II, 5339), zwischen Montánchez und Torremocha (Zwei Inschriften, Cáceres, CIL II, 5289; EE III, 4), Badajoz (J. Alvarez, MMAP 4, 1943, 42), Gallegós de Argañán (Salamanca, C. Morán, Reseña historicoartística, 23) und Pozuelo (HAEpigr. 4—5, n. 775). Außer der Inschrift in Poza de la Sal (Burgos) wurde in Coria (Cáceres) eine zweite auf Eaecus lautende gefunden. —> Einleitung S. 712. J. M. Blázquez, llOff.; CIL II 742, 763; L. Fernández Fuster, AEArq. 28, 1955, 318f.; F. Fita, BRAH 67, 1915, 490f.; J. Martínez Santa-Olalla, APM 2-3, 1931-32, 155.

Edovius. Wassergott. Fundort Caldas de Reis (Pontevedra). J. M. Blázquez, 175; I. Millán, AEA 36, 1964, öOff.

Eg...su. Fundort Cáceres. C. Callejo, 74 ff.

Endouellicus. Gott des südlichen Lusitanien mit chthonisehem Cha­ rakter. Sein Heiligtum befand sich auf der Höhe von San Miguel de Mota (Alentejo), ungefähr 50 km von Evora, dem antiken Liberalitas lidia, und 100 km von Beja (Pax Iulia, Hauptstadt des conventus pacensis) entfernt. Leite de Vasconcelos (Reí. II, 130f., 142 f.) vertritt die Ansicht, E. sei ein Gott der Heilkunst, eine Art lusitan. Äskulap. Er erteilt den Kranken Orakelsprüche; sie ver­ bringen eine Nacht im Tempel, der Gott erscheint ihnen im Traum und erklärt ihnen die geeignete Behandlungsweise. Es liegt eine wirkliche incUbatio (Tempelschlaf) vor wie im Äskulap-Tempel zu Epidauros. Es sollen Schweine geopfert worden sein; an manchen Altären sind Schweine dargestellt. Nach Leite liegt der schlüssige Beweis für den Charakter eines Gottes der Heilkunst in einem Relief, das einen Gelähmten darstellen soll. Diese Hypothese hin748

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Endouellicus

sichtlich des Charakters des E. ist jedoch nicht gesichert, da in Lusitanien auch der Äskulap bekannt war (Leite, Reí. III 262ff.) und in den südlichen Teilen Lusitaniens Weihinschriften dieses Gottes gefunden wurden (CIL II 21, 173—175), und zwar ohne Äskulaps symbolische Tiere, die Schlange, den Hahn oder den Hund (J. Toutain o.c. III, 129ff.). Wenn Leite (Opúsculos 5, 138ff.) meint, E. sei ein numen loci, so ist das eine nicht akzeptable Hypothese. Die bildlichen Darstellungen auf den gefundenen Altären weisen deutlich auf den chthonischen Charakter der Gottheit hin. Der Eber ist in Hispanien ein Tier des Totenkults, wie aus der TivisaSchale eindeutig hervorgeht. Da es sich bei der Inschrift eines Altares, der Eber, Palme und Lorbeerkrone aufweist, nicht um eine Grabschrift handelt, beweisen diese Symbole den Unterwelt­ charakter des Gottes. Die Palme erscheint auch auf den Seiten­ wänden eines anderen Altars und auf -> Ataecina-Altären; der Unterweltcharakter dieser Göttin steht fest. Auf den Seiten eines anderen Altares findet sich ein Pinienzweig und eine Palme, auf einem weiteren sind zwei geflügelte Genien eingemeißelt, von denen einer eine Fackel schwingt. In seiner Eigenschaft als Gott der Unter­ welt sprach E. Orakel aus. Die Art der Inschriften läßt deutlich auf eine incubatio schließen: pro salute (CIL II134), pro salutem (CIL II 5207), ex visu (CIL II4201; L. Fernández Fuster, AEArq. 23, 1950, 279f.), ex responsu (CIL II 130, 6265), iussu ipsius (CIL II5202), ex i(ussu) numin(is) (CIL II129), ex religione iussu numinis (CIL II138), ex imperato Averno (Leite, Reí. II, 130f.) -> Unterweltgötter.

Fast alle der ungefähr siebzig Inschriften bringen die Form Endouelli­ cus oder Endouelicus', die letztere allerdings nur zweimal (Leite, Reí. II, 128f., 133), eine bedeutungslose Variante. Dreimal ist die Schreibweise Indouellicus vertreten (Inventarium b. 7741; CIL II 5204; 6269 b). Zweimal erscheint der Name des Gottes in der Form Endouollicus (CIL II 5208, 6269), fünfmal Endouolicus (CIL II 6267—6268, 139; Leite, Reí. II 133ff.) und einmal Enobdlicus (CIL II 142). Eine Inschrift ist in der geläufigen Form gehalten (CIL II 5202), aber der Weihende trägt den Namen Antubellicus. Hinsichtlich Antubellicus ist A.Tovar (Prim. Leng. Hisp. 164 n. 2) der Ansicht, der Name des Weihenden sei vielleicht eine Variante von E. oder doch stark von dem Götternamen beeinflußt. Vielleicht muß man genau genommen für den Namen des Opfernden eine Entstellung des Götternamens vermuten (A. Tovar, Prim. Leng. Hisp. 163f.; Homenaje a D. J. de Urquijo e Ibarra, 1949, 116L).

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Endouelllcus

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Aus Hispanien ist ein mit der lusitan. Gottheit eng zusammen­ hängender Name erhalten. Der Heerführer der Ilergeten im zweiten punischen Krieg heißt nach Polybius (10, 18, 7) ’AvöoßaXrjz, nach Diodorus, (26, 22) ’Ivdißehet;, ein Name, den Livius (22, 21, 26, 49ff.) mit Indebilis und Indibilis und Dio Cassius (57, 43) mit ’Ivöißo/M; wiedergibt. Die Schwankung zwischen In- und An- in der ersten Silbe entspricht der Transkription eines Nasallautes, den die Griechen und Römer auf verschiedene Weise fixierten. Der Name zerfällt in die Teile -nde-beles (oder -bels). Der zweite Teil ist offensichtlich iberisch; das ergibt sich aus dem Vergleich mit den Namen Benna-bels, Senibelser, Beles Vmar-beles, Esto-peles (M. Gómez Moreno, Homenaje a Menéndez Pidal III, 1928, 488), Aeni-beli (CIL II 3621), Bilistages (Liv. 34, 11, 2), Corbeli (CIL II 2740), Neitin-beles (CIL II6144). Diesen Namen transkribierten die Römer mit Indibilis, die Griechen auf den Münzen von Ampurias mit ’Arftoßdlrfi; in dem Wort Atabels oder Ada-bels. Auf lat. Inschriften findet sich die Form Indibilis nicht, sie ist aber belegt mit Antubell-icus (CIL II 5202) und Antubelus (CIL II, 756). Der zweite Bestandteil des Götternamens gleicht dem heutigen bask. Wort afrikan. Ursprungs geltz, schwarz. Endo- könnte ein indoeurop. nde vertreten, eine Superlativvorsilbe, die sich bei kelt. Wörtern findet : anderoudus, sehr rot, andecani, sehr stark ; -uellicus könnte ein von wellos, gut, abgeleitetes Adjektiv sein. Berück­ sichtigt man aber die Formen mit b, so ist es wohl eher mit Antu­ belus, ’Avöoßakrjs Indibilis in Verbindung zu setzen. Setzt man die Etymologie von wellos als gültig, so ist E. eine euphemistische Entstellung von Endobellicus, ein von Endobeles (Indibilis), sehr schwarz, Unterweltgottheit, abgeleitetes Adjektiv. In dem Wort Endouellicus steht das e statt i für -ndhi (U. Schmoll, SH 32, 60, 76f. ; M. Albertos, Onomástica, 124—271, 298; M. Palomar, Ene. Ling. Hisp. 372 n. 54; 376 n. 71). Als ^.-Darstellungen sind wahrscheinlich drei Marmorhäupter zu betrachten, die zu lebensgroßen Skulpturen gehörten und wie die Altäre auf das 1. Jh. v. Chr. datierbar sind (A. García y Bellido, Esculturas romanas de España y Portugal, 1949, 26 Tafeln 98). Ein Relief, das eine nackte Gestalt darstellt, könnte nach S. Lambrino ebenfalls ein Bild des Gottes sein. An die Stelle des Tempels bei Evora trat in christl. Zeit eine dem Hl. Michael geweihte Kapelle, in die Teile der alten Altäre mit ihren Inschriften vermauert wurden. Eine der Inschriften besagt, der Weihende habe ein aedeolum geweiht, wohin das eine nackte Gestalt darstellende Relief verbracht worden war. Aus zwei In-

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Älthispanier

Endouellicus

Schriften (CIL II 128, 141) ist bekannt, daß die Gläubigen Statuen darbrachten und in solchen kleinen Kapellen aufbewahrten. Es sind mehr als dreißig verschiedene Skulpturen erhalten, des weiteren Podeste mit Weihinschriften, auf denen Marmor- oder Steinbüsten gestanden hatten, anepigraphische Sockel und Inschriften, die Statuen erwähnen. Daraus ist zu schließen, daß das Heiligtum aus einem Tempel, in dem das Hauptbild des Gottes stand, und aus aedeola bestand, in denen die dreißig Skulpturen und die siebzig Altäre Platz fanden. Das Heiligtum war also kein einfacher Tempel, sondern auch ein thesauros, Schatzhaus, wo die Gläubigen Opfer darbrachten und ein Priester den Kult pflegte und Orakel deutete. Ohne Priester wäre nicht erklärt, daß ein Gläubiger eine Silber­ skulptur darbrachte. In röm. Zeit war das Heiligtum anscheinend ohne Bedeutung.

Das Volk, das E. verehrte, setzte sich, wie schon aus den Namens­ varianten des Gottes hervorgeht, aus mehreren Völkerschaften zu­ sammen. Unter seinen Gläubigen befanden sich Hispanier wie Antubellus Priscus (CIL II5202), röm. Bürger Orient. Herkunft wie L. Calpurnius Andronicus (CIL II 6265 a), Bürger mit geläufigen Namen wie P. Sempronius Celer (CIL II 134), M. Pompeius Satur­ ninas (CIL II6268), C. Iulius Nouatus (CIL II134), manche scheinen aus Etrurien zu stammen wie Q. Vesidius Fuscus (CIL II 5203), bei anderen ist ihre Eigenschaft als ingenui klar erwiesen, so Annia, Q. f. Mariana (CIL II6265) und Q. Seruius Q. f. Pap. Firmanus (CIL II 1391). Manche Altäre sind von Sklaven gestiftet, z. B. Trebia (CIL II 6267 a) und Hermes (CIL II133). Ein Stifter ließ sich als eques romanus verewigen (CIL II131). Auf einer Statue trägt ein Jüngling toga praetexta und bulla; auf Skulpturenfragmenten stehen röm. Namen einer bestimmten sozialen Klasse wie M. Vibius Bassus (CIL II 5208). Der Stifter der Inschrift Iulia Anus (Reí. II, 134f.) erklärt, er habe den Altar relictum a maioribus geweiht. Leite de Vascon­ celos zufolge besagt dieser Satz, daß der Weihende ein von seinen Eltern testamentarisch festgesetztes Gelübde erfüllte. Nach S. Lambrino handelt es sich um eine von einer Generation an die nächste weitergegebene Botschaft. Die zweite Deutung wird durch den Satz einer anderen Inschrift erhärtet (CIL II 129): ad relicticium ex i(ussu) numin(is). Beide Sätze scheinen daraufhinzuweisen, daß der U.-Kult von einer Generation auf die nächste überging. Auf einem Berg bei Huelva mit Namen Andebalo soll ein Andobelus oder Fndebelus geweihter Tempel gestanden haben. Die Verbreitung des Kultes geht auch aus folgenden Versen aus dem 3. Jh. v. Chr. hervor: (f}ama per gentes (di)cant et flum(i)na (CIL II, 6633; Leite, 49

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Eniraces

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Reí. II, 135). Der Kult hat sich mindestens drei Jahrhunderte lang gehalten. J. M. Blázquez, 147ff.; M. Cardozo, Cartas, 114ff.; CIL II 127—142, 5201, 5209a—b, 6265a, 6269a, 6331; S. Lambrino, Bulletin des études portugaises et de l’Institut Français au Portugal 14, 1951, 97 ff.; O. Arq. Port. 53 ff.

Eniraces. Fundort Nuestra Señora de Tebas (Cáeeres). J. M. Blázquez, 211.

Epona. Die im ganzen kelt. Gebiet verbreitete Pferdegöttin. In Lara de los Infantes (Burgos) und in Sigüenza (Guadalajara) in der Form Epona, in Loncejares Epana. In Sigüenza befindet sich die In­ schrift bei einem Relief, das die Göttin zu Pferde, das Pferd von der Seite, die Göttin frontal darstellt (U. Schmoll, SH 76, 79, 94). Der Name Epana weist einen nicht keltischen Wechsel auf. CIL II, 5788; L. Fernández Fuster, 4 CAN, 1957, 219ff. ; A. Fernández Avilés, EArq. 15, 1942, 203 f. ; A. Tovar, Ancient Languages, 99.

Ermes devorus. Kelt. Gottheit; Fundort Outeiro Sêcco (Portugal). J. M. Blázquez, 133ff.

Erudinus. Kelt. Gottheit; Fundort Ongayo (Santander). J. M. Blázquez, 211 ff.

Fidueneae. Fundort Eiriz (Portugal). J. M. Blázquez, 120.

Frovida. Flußnymphe; Fundort Braga (Portugal). J. M. Blázquez, 176.

Fruchtbarkeitsgötter, Fruchtbarkeitskult s. Nachtrag S. 828.

Gallaicae (Matres)

Aufaniae; Fundort Coruña del Conde (Burgos).

J. M. Blázquez, 130.

Genius fontis agineesis. Fundort Bonar (León). J. M. Blázquez, 168 fl.

Genius laquiniensis. Fundort S. Miguel de Vizella (Portugal). J. M. Blázquez, 135.

Genius tiauranceaicus. Fundort Estarnos (Portugal). J. M. Blázquez, 135.

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Älthlspanier

Götter, einheimische

Genius tongobricensium. German. Gottheit; Fundort Freixo (Por­

tugal). J. M. Bläzquez, 135 ff.

Götter, einheimische. Die literarischen Quellen. Diese erwähnen sehr selten einheimische G., abgesehen von Aphrodite, Artemis, Zephyr, Luna, Mars, Saturn, Vulkan, von denen unter den in Betracht kommenden Stichwörtern die Rede ist. Immerhin vermitteln die wenigen Textstellen — die im folgenden aufgeführt werden — einige Hinweise auf Götter- und Glaubensvorstellungen der Iberer.

Wie die Germanen (Tae. Germ. 21) waren auch die Völkerschaften in Zentralhispanien äußerst gastfrei; wenn in Friedenszeiten ein Fremdling an ihre Tür kam, empfingen sie ihn wie ein G.geschenk. Die Textstelle bei Diod. 5, 34, 1 bestätigt die in Keltiberien geübte Gastfreundschaft; sie war nicht konventionell, sondern von den Göttern und der Sitte des Stammes anbefohlen, ein hospitium zugleich religiöser und sozialer Art und Herkunft (J. Ramos y Loscertales, Emerita 10, 1942, 309f., 318, 332). Diese Stämme glaubten auch, die G. schickten bestimmten Personen Gegenstände, Tiere usw. So versammelte 170 v. Chr. Olindicus, eine silberne Lanze schwingend, die er als vom Himmel gesandt bezeichnete, viele Keltiberer um sich. Er nahm die Stellung eines Propheten ein und verkündigte Vorhersagen, zweifellos über einen den Keltiberern günstigen Verlauf des Krieges; hatten doch die G. ihrem Anführer eine silberne Lanze zum Geschenk gemacht (Flor. 1,33, 14). Wahrscheinlich glaubten manche lusitan. und keltiber. Stämme, die G. vermöchten auf der Erde zu wandeln. Plutarch gibt einen solchen Glauben als den Lusitaniern eigentümlich an, hauptsächlich seit nach dem Jahre 74—73 v.Chr. gewissen Heerführern in Cordoba, Hispanien, von den Römern selbst göttliche Ehren zuteil wurden (Plut. Sert. 22; Sal. Hist. 2, 70; Val. Max. 9, 1, 5). Dasselbe läßt sich aus dem Bericht Strabons entnehmen (3,3,7), wonach die Völker im Norden Hispaniens wie die Assyrer (Her. 1,197) die Kran­ ken an den Wegen aussetzten in der Hoffnung, daß sie von einem Vorbeireisenden gepflegt würden; dies involviert den Glauben, daß die G. auf der Erde wandelten. Strabons Bemerkung (3,4,16), die Galicier hätten keine G., ist nicht in dem Sinn auszulegen, daß der Nordwesten keine G. kannte — denn es finden sich dort sehr viele, den einheimischen Gottheiten geweihte Altäre —, sondern in dem Sinn, daß sie entweder wie bei den Germanen (Tac. Germ. 9) nicht dargestellt wurden, oder daß ihre Namen tabu waren, wie es bei den Iren üblich ist mit dem 49»

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Götter, einheimische

Althispanier

Gott Teutates und in Gallien mit den Gottheiten des Hains von Mar­ seille (Luc.Phars.3,417); im Baskischen trifft es für den Namen des Mondes zu, obgleich bei den Basken viele Spuren des Mondkultes zu finden sind (J. Caro Baroja, Los pueblos del Norte de la Penín­ sula Ibérica, 1942, 198ff.; Los vascos, 1958, 407f.). Hinsichtlich des Glaubens an —> Unterweltgötter und der Rolle, die ihnen die hispan. Mentalität zuwies, ist ein Text von Livius (28, 22, 9) besonders wichtig. Er erzählt, wie Scipio im Jahr 206 v.Chr. die mit den Karthagern verbündete Stadt Astapa in der Baetica ein­ nahm und die Bewohner fürchterliche Verwünschungen gegen die Verräter ausstießen: illos se per déos superos injerosque orare . . . his adhortationibus exsecratio dira adiecta, si quem a proposito spes mollitiave animi flexisset. Ein Absatz bei Appianus (Hisp. 33) ist weniger deutlich. Die -^-Verwünschungen bestanden darin, daß man mit den Strafen drohte, die die Unterweltgötter über Verräter verhängen. In Livius’ Text sind zwei Arten von G. unterschieden, die einen haben Unterweltcharakter, die andern nicht. Die Unterweltg. überwachen Verträge und Bündnisse zwischen Staaten, Städ­ ten, Stämmen und Einzelpersonen und strafen Vertragsbrecher; so verlieh die Religion den Bündnissen ihre verpflichtende Kraft (J. Ramos y Loscertales, AHDE 1, 1924, 16f.; F. Rodríguez Adra­ dos, Emérita 14, 1946, 138, 189; A. Tovar, QIICS, 1943, 11, 13). In dieser Hinsicht ist der Text des Livius eindeutig. Aus den Aus­ drücken der Einwohner von Astapa ergibt sich übrigens die religiöse Vorstellung der Verunreinigung beim Zusammenstoß mit dem Feind. Die Ansicht, daß es den G. obliegt, Verräter zu bestrafen, tritt häufig klar zutage; Livius erzählt (27, 17, 13), Indibilis und Mandonius hätten sich einmal, als die Karthager das in sie gesetzte Vertrauen mißbrauchten, an Scipio gewandt, und Indibilis habe ge­ sagt: ad déos quoque confuyere supplices qui nequeant hominum vim atque iniurias pati. Als Servius Sulpicius Galba im Jahre 150 v. Chr. die Lusitanier hinterging und viele ermordete, riefen sie die G. und das gegebene Wort an (App. Hisp. 60). Ähnliches ereignete sich im Jahr 151 v.Chr., als Lucullus Cauca plünderte (App. Hisp. 52). -> Magie.

Die ikonographischen Quellen. In Hispanien wurden verschiedene Darstellungen kelt. G. gefunden; ihre Namen sind unbekannt. In Candelario (Salamanca) wurde ein zweigesichtiges Steinhaupt mit kleinen Hörnern entdeckt. Es entspricht dem Typ des janus­ köpfigen Hermes von Roquepertuse. J. Maluquer, Carta Arqueológica de España, Salamanca, 55; J. Muñoz, Zephyrus 4, 1953, 69 ff.

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Althispanter

Heiligtümer, iberische

In Riotinto (Huelva) wurden zwei Steinreliefs gefunden, wahr­ scheinlich GötterdarStellungen. Das erste weist ein rundes Gesicht, mandelförmige Augen und eine römische Nase auf, die Ohren sind schlingenförmig gebildet, auf dem Haupt befinden sich zwei Aus­ wüchse wie Hörner, wahrscheinlich Kronenblätter, ein Merkmal der kelt. G. Das zweite Relief zeigt ein ovales Gesicht, runde Augen, aufgeworfene Lippen, eine breite Nase und tiefe Nasenrinnen. An den Seiten der Stirn stehen zwei große Gebilde ab wie Ohren oder Hörner oder Blätter, dazwischen ruht eine Krone oder ein Diadem. Die Stücke gleichen anderen Kopfreliefs, z. B. dem aus Armea (Orense), vor allem aber dem Gott mit zwei Hörnern aus Lourizän, der in den Inschriften als —>Vestiws Aloniecus bezeichnet wird. Die beiden Reliefs bestätigen die Richtigkeit von Plinius’ Bericht NH 3, 10. Die Céltica war von Keltiberern aus Lusitanien bewohnt, wie sieh aus der Religion, der Sprache und den Städtenamen schließen läßt. Andere Häupter stellen wohl auch Götter dar, z.B. der Kopf aus Plasencia (Cäceres), die beiden Häupter aus dem Kastell Yecla (Salamanca), im Nordwesten in Narla, zwei in Barán, in Cortes, in Oeastro, zwei in Armea und die Menhir-Stele ebendort. Wegen des Gottes Mars in den Pyrenäen —> Stierkult. —> Unterweltgötter, S. 816 unten. A. Blanco, Zephyrus 13, 39ff. Tafel II Abb.10—11; CEG 11, 1956, 159ff.; J. M. Blázquez, Strenae, 1962, lff.; M. Sayans, CAN 7, 1964, 267 ff. Abb. 5.

In Cortes de Navarra wurden in den Wohnhäusern der Ortschaft 16 Götterdarstellungen aus Ton gefunden, teils Bruchstücke, teils ganze Figuren. Sie sind ins 6. Jh. v. Chr. datierbar. Die Augen sind als Punkte gegeben, waagrechte und senkrechte Furchen und Linien bedecken den Körper. Die Grundform ist höchst primitiv, sie beruht auf einem einfachen Zylinder. Diese Darstellungen haben Gegenstücke in Jugoslawien. Sie sind wohl Hausgötter, da sie alle in Wohnstätten gefunden wurden. Man könnte hier an die Haus­ kobolde der osteurop. Myth. denken. J. Maluquer, El yacimiento hallstático de Cortes de Navarra, 1954, 127ff.; La Edad del Hierro en la cuenca del Ebro y en la Meseta central española, 1954, Tafel VII; Zephyrus 5, 1954, 11 Abb. 6.

Grabkult —> Bestattungsriten; Heroenverehrung; Jenseitsglaube;

Unterweltgötter. Heiligtümer, iberische. Sie gleichen den griech. thesauroi in ihrer Funk­ tion einer zeitweiligen Lagerstätte für Weihbilder. Sie scheinen keine Opferstätten gewesen zu sein.

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Heiligtümer, iberische

Aithispanier

Drei H. (Cigarralejo, Cerro de los Santos und Serreta de Alcoy) befinden sich, an hochgelegenen Orten, drei weitere (Castellar de Santisteban, Collado de los Jardines und Eremitorio de Ntra. Señora de la Luz) bei Höhlen, Quellen oder an Steilhängen. Bezüg­ lich der Topographie der iber. H. lassen sich dieselben Tendenzen erkennen wie im berber. und sardischen Kulturkreis: ihre Anlage richtet sich nach den für die Manifestation des Heiligen besonders günstigen natürlichen Gegebenheiten. Die Ausgrabungen haben allerdings nicht so sehr Einblick in die Architektur vermittelt als vielmehr eine Fülle von Weihbildern ans Licht gebracht, die die Art der iber. Frömmigkeit und —> Religion verdeutlichen. Das Heiligtum Cigarralejo (Mula, Murcia), das — nachweislich vom 4. bis 2. Jh. in Benutzung — einer -> Pferdegottheit geweiht war, ist als einziges mit modernen archäol. Methoden ausge­ graben worden. Man stieß auf das eigentliche H., eine Ortschaft und ungefähr 250 Gräber einer Nekropole. Das H. ist von Anhöhen umschlossen. Oben befand sich ein Komplex rechteckiger Wohn­ stätten, im äußersten Norden ein Mittelgang mit seitlichen Ab­ zweigungen und zwei unsymmetrische Wohnblöcke. Möglicherweise ist vom ursprünglichen H. nur eine Mauer erhalten. Unter den aus­ gegrabenen Weihbildern sind die, die keine Pferde darstellen, in der Minderheit. Es gibt drei Arten von Weihbildern: Menschen­ gestalten, menschliche Glieder und Pferde. Während in allen übrigen iber. H. Menschengestalten überwiegen und Tierbilder nur selten Vorkommen, ist es in Cigarralejo umgekehrt. Von dort sind über 200 Pferdedarstellungen bekannt, aber nur 17 Menschen­ gestalten, alle stehend, 5 Krieger in Mäntel gehüllt, 6 Frauen stehend in Opferhaltung mit den Händen auf der Brust, aber ohne Libationsgefäße. Während in den anderen iber. H. Weihbilder von Stieren, Widdern, Vögeln, Pferden und Bären gefunden wurden, handelt es sich im H. Cigarralejo ausschließlich um Pferde, teils mit, teils ohne Geschirr. Bei beiden Gruppen sind Einzelpferde und Pferdegruppen (Gespanne, Hengst und Stute und Stute mit Fohlen) zu unterscheiden. Die Weihbilder sind von geringer Größe und aus Kalkstein gefertigt. Seiner Entstehungszeit nach kann das H. nicht der -> Epona geweiht gewesen sein. Es gleicht auch nicht dem H. Asche-Kalkoven, dagegen könnte es mit dem H. von Medna in Beziehungen stehen, in dem ungefähr 50 Pferde­ terrakotten und 101 Pferdeköpfe geborgen wurden. Dieses war der Demeter oder Kore geweiht. Das einzige H. mit Pferdeweihbil­ dern, das älter ist als Cigarralejo, ist das der Artemis Orthia in Sparta, 7.-6. Jh. v. Chr. 756

Althispanler

Heiligtümer, iberische

Die Göttin von Cigarralejo war eine Fruchtbarkeitsgöttin, die als eine Schutzgottheit der Pferde verstanden wurde, so daß die für sie typischen Opfergaben Pferdeweihbilder waren. In Hispanien fanden sich Darstellungen von zwei solchen Gottheiten, nämlich der deajcórrjQ hmcov und der -> Astarte als Herrin der Pferde. Das H. von Cigarralejo ist einer von diesen beiden Gottheiten zuzuordnen, wahr­ scheinlich der letzteren. Die Errichtung des H. erklärt sich viel­ leicht aus dem großen Pferdereichtum Hispaniens (Strab.3,4,15) und aus dessen Bedeutung für die Wirtschaft und den Krieg. Tempel. A. Blanco, MM 1, 121 Tafeln 31—32a; J. M. Blázquez, AEArq. 30, 66; Ogam 11, 1959, 369ff.; E. Cuadrado, AMSEAEP 21, 1946, 186ff.; CHP 2, 1947, 108ff.; CASE 4, 1948, 267ff.; Excavaciones en el santuario ibérico del Cigarralejo, Muía (Murcia), 1950; Atti Congr. Intern. Pr. Prot. Med., 1952, 455f.; APL 3, 1952, 117ff.; NAH 2, 1953, 80ff.; Homenaje al C. de la Vega del Sella, 1956, 277ff.; Zephyrus 11, 1960, 229ff.; J. Maluquer, Historia de España 1, 3, 328 ff.

Die Heiligtümer Cerro de los Santos und Llano de Nuestra Señora de la Consolación. Die beiden H. befinden sich in Montealegre (Murcia) in ungefähr 5 km Entfernung voneinander. Ihre Bedeu­ tung für uns liegt nicht wie bei einigen anderen in zahllosen Bronze­ weihbildern, sondern in den vielen Skulpturen. Aus beiden H. wurden insgesamt ungefähr 300 Skulpturen geborgen, die wert­ vollste Sammlung für die Erforschung der frühen iber. Bildhauer­ kunst. Das erste H. befindet sich auf einer kleinen Anhöhe, auf der ein Tempel mit rechteckigem Grundriß in östl. Ausrichtung stand, rechts und links der Tür führten zwei Freitreppen hinauf. Das H. wurde vom ö.J.v.Chr. bis in die Zeit Konstantins besucht. —> Tempel. Unter den unversehrt oder in Bruchstücken erhaltenen Skulpturen herrschen die weibl. vor. Die männl. sind fast alle nur Einzelköpfe; Darstellungen der ganzen Figur und stehende sind sehr selten. Unter den weibl. überwiegt eine für Cerro de los Santos charak­ teristische Gruppe von 16 stehenden Figuren in Opferhaltung mit weiten Gewändern, ein Gefäß in beiden Händen haltend; eine zweite Gruppe bilden sitzende weibl. Figuren. Alle sind von geringer Größe. (Daß Libationen — Trankopfer — zur iber. Religion ge­ hörten, beweisen nicht nur diese Skulpturen, sondern auch ein Quaderstein, wahrscheinlich Fragment eines Throns, der in den Mauern von Osuna verbaut war, mit der Darstellung zweier Frauen, die eine mit einem großen, kelchförmigen Gefäß, die andere mit einer Fackel; das Gefäß entspricht einem in der iber. Keramik hin-

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Heiligtümer, iberische

Althispanier

reichend (Huelva, Castellones de Ceal, Carmona u. a.) nachgewiese­ nen Typus; -»Einleitung S.715, Abb.3.) Die Gruppe der sitzenden Frauen umfaßt 10 Skulpturen, dazu kommt eine weitere Figur aus dem H. Llano de la Consolación und eine aus der Nekropole von Verdolay. Die beiden letzteren sind größer und von reinerem Stil. In den übrigen H. fanden sich keine sitzenden Figuren. Von allen erwähnten Skulpturen, wie auch von denen in den übrigen iber. H., ist keine einzige als Gottheit gekennzeichnet. Bei den männl. Skulpturen unterscheidet man — abgesehen von den Einzelköpfen — zwei Gruppen, nämlich die eine der Opfernden und die andere der ohne Libationsgefäße aufrecht Stehenden. Außerdem finden sich in den übrigen iber. H. zahlreiche Weihbilder von Kriegern (in Cerro de los Santos nur eines). Für alle iber. H. sind die großen Steinbilder der Opfernden in der besonderen Haltung beim Trankopfer typisch. (Die Opfer bestanden wohl aus Milch, Wein, Met u. drgl.) Sehr naheliegende Parallelen bieten die Weihbilder aus Sardinien, wo ebenfalls männl. und weibl. Figuren Gefäße für das Trankopfer halten. J. M. Blázquez, AEArq. 30, 69ff.; A. García y Bellido, Historia de España 1, 3, 484ff.; A. Fernández de Avilés, 4, 1943, 195ff.; AEArq. 16, 361ff.; 21, 1948, 360ff.; Cerro de los Santos, 1966; PSHAA, 1962, 62ff.; E. Cuadrado, PSHAA, 52 ff.

Das Heiligtum La Serreta de Alcoy (Alicante) liegt in der Nähe von Hice und den H. Cerro de los Santos und Luz auf einem steilen Berg. Auf dem Gipfel sind Grundmauerreste eines rechteckigen Gebäudes erhalten, das wahrscheinlich ein Tempel war. Die nach­ weisbare Epoche des H. reicht vom 4. vor- bis zum 4. nachchristl. Jh. Alle Weihefiguren wurden durcheinandergeworfen in einer Abfall­ grube gefunden. Ungefähr 300 Bruchstücke von Tonfiguren wurden geborgen; sie sind klein und hohl und stellen Männer und Frauen, einzelnen oder in Gruppen dar. Die meisten Figuren zeigen starken phöniz. Einfluß: einen Stil, der in den übrigen iber. H. nicht ver­ treten ist (außer bei einer Skulpturengruppe aus Cerro de los Santos und einer aus Castellar). Es handelt sich dabei um Gruppen von zwei oder drei Personen. Die Besonderheit dieses H. wird in zwei Punkten deutlich, nämlich in dem verwendeten Material und in der erwähnten Gruppierung von zwei oder drei Figuren. Diese Art Weihbilder ist aus Zypern bekannt, wo mit Gewißheit der Proto­ typ zu suchen ist, also bei den Semiten. Der semit. Einfluß ist in diesem H. sowohl in dem verwendeten Material, nämlich Ton, als auch im Stil der Figuren, in der Anlehnung an die punischen Terra758

AUhispanier

Heiligtümer, Iberische

kotten von den Balearen und an Tonfiguren aus der Nekropole von Verdolay sehr deutlich. -> Tempel. J. M. Blázquez, AEArq. 30, 72f.; A. García y Bellido, AEArq. 16, 292ff.; C. Visedo, JSEA, 1922.

Die. Heiligtümer Collado de los Jardines, Castellar de Santisteban und Eremitorio de Nuestra Señora de la Luz. Die beiden ersten liegen in der Provinz Jaén, das dritte in Murcia. Die Ausgrabungen bei dem H. Collado de los Jardines ergaben über 2500 Weihbilder, bei dem H. Castellar über 2000, beim dritten eine geringere Anzahl. Die Schmelztechnik dieser Bronzen ist die der verlorenen Form wie bei dem Votivdolch im Instituto de Va­ lencia de Don Juan. Die Weihbilder sind in die Zeit 5. bis einschl. 2. Jh.v.Chr. zu datieren. Das H. Collado de los Jardines hegt in einer der steilsten Gegenden der Sierra Morena an der Grenze von Santa Elena (Jaén). Die Schlucht, in der sich das H. befand, wird von riesigen Felsblöcken begrenzt, in der Mitte sprudelt eine Quelle. In den östl. Felsen befinden sich verschiedene Höhlen; eine mit einer Ausdehnung von 15 m bildet die eigentliche Begrenzung dieses H. Sie war wohl der Vorraum einer tiefen Höhle, von der Spuren erhalten sind. Ruinen von zwei Tempeln sind zu sehen; der ältere wurde wahrscheinlich in den Hannibal-Kriegen oder in einem der Feldzüge der ersten röm. Eroberung zerstört. Die Bau­ elemente dieses ursprünglichen H. wurden größtenteils für das zweite wieder verwendet, das an der gleichen Stelle größer auf­ gebaut wurde. Es erhob sich auf einer teilweise künstlich auf­ geschütteten Plattform mit zwei Stützmauern. Der erste Tempel stand 28 m vom Innern der heutigen Höhle entfernt. —> Tempel. Auch das Heiligtum Castellar de Santisteban liegt in einer Gruppe von natürlichen Höhlen. Obwohl die Gegend wasserarm ist, be­ finden sich doch zwei Quellen in der Nähe der fünf Höhlen von Castellar. Das H. lag in der dritten Höhle; Weihbilder und Ton­ figürchen sowie Gegenstände aller Art wurden vor dieser dritten Höhle gefunden.

Das Heiligtum Ntra. Señora de la Luz liegt zwischen Schluchten. Die Weihbilder, Bronzen und Terrakotten, wurden auf dem ebenen Gelände gefunden, auf dem das H. stand. Es bestand aus fünf Gebäuden, von denen vermutlich vier Wohnstätten für die Tempel­ diener waren. Zu dem H. gehören wie bei Collado de los Jardines Höhlen am Berghang der Sierra. Auch hier war wohl eine Quelle in der Nähe. Die Weihbilder dieses H. sind wegen ihrer Haltungen 759

Heiligtümer, iberische

Althispanier

wichtig. Die Frauengestalten, nehmen Opfer- oder Gebetshaltung ein, andere sind unbestimmbar. Wieder andere Frauen reichen auf kreuzweise ausgestreckten Armen ein längliches, zylinderförmiges Objekt dar. Eine unbekleidete Frau bringt ein Doppelopfer, Taube und Frucht. Auf einer Vase aus S. Miguel de Liria (Valencia; CVH Liria, Tafel LUI Abb. 51 ; E. Ballesteros, AEArq. 16, 66ff. Abb. 1) reicht eine weibliche Gestalt in Begleitung anderer einem Krieger eine Taube dar, wahrscheinlich als Opfer für das ithyphallische numen, das sich hinter ihnen befindet. Vermutlich ist es ein FruchtbarkeitswMWien von der Art, wie in Minateda (Albacete) sowie in Cueva de los Letreros (Málaga), Cogul (Teruel) und Barranco del Pajarero, Albarracín (Teruel) dargestellt. (M. Almagro, El covacho con pintura ruprestre de Cogul (Lérida), 1952; Prehistoria, 1960, 360 Abb. 417 ; H. Breuil, Les peintures rupestres schématiques de la Péninsule Ibérique IV, 1935, llf. Abb. 3 Tafeln IX, XIII 1, 5; 48f. Abb. 17—18; J. Caro Baroja, Los pueblos de España, 1946, 48ff. Abb. 3—4; J. M. Gómez-Tabanera, RIE 39, 1952, 67ff.) Speziell in Cogul und Barranco del Pajarero sind phallische Tänze nach Art derer auf der Keramik von Liria dargestellt. -> Tempel.

Wie in den H. von Sardinien wurden wohl Brotkuchen geopfert ; eine Frau bietet nämlich in ihrer Rechten eine Art Kuchen dar. Auch Trankopfer wurden dargebracht ; auf manchem Weihbild hebt ein Krieger ein Libationsgefäß. Die meisten Weihbilder aus Collado de los Jardines und den beiden anderen H. Murcias sind kunstlos. Andere Arten von Weihbildern, Beine, Arme, Hände, Augen, Ge­ bisse, Brüste, Geschlechtsorgane, Füße usw., weisen deutlich auf die Funktion der Geister dieser Stätte hin, nämlich heilend wohl­ tätig zu sein, und auf den wahren Charakter der iber. —> Religion, ihren praktischen Sinn und die Art der Verehrung, die fast aus­ schließlich darauf abzielte, mit den Geistern in Berührung zu kommen, um greifbare Gunsterweise zu erlangen. Keine Bronzefigur stellt eine Opferung dar ; vielleicht fanden Opfe­ rungen, abgesehen von Taubenopfern, nicht statt. Den Geistern wurden alle möglichen Dinge dargebracht, z.B. Sicheln, Nägel, Nadeln, Stücke von kleinen Truhen, Zangen, Ringe, Anhänger, Ketten, Schilde, Rädchen. Durch die Weihgaben sucht der Spender seinem Besitz mit der Hilfe des Numen Dauer zu verleihen. D. Ahrens, OJh 45, 1960, 179ff. ; F. Alvarez-Ossorio, AEArq. 14, 1940—41, 397ff.; A. Arribas, Homenaje al C. de la Vega del Sella, 255ff.; F. AlvarezOssorio, Catálogo de los exvotos de bronce ibéricos, 1947 ; J. M. Blázquez, AEArq. 30, 73ff. ; Arqueología e Historia 8, 1957, 85ff. ; Oretania 2, 1959, 83 ff. ; P. Casañas-R. del Nido, BEG 6, 109 ff. ; A. García y Bellido, Historia

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Helassa

de España, 1, 3, 443 ff.; R. Lantier-J. Cabré, El santuario ibérico de Castellar de Santisteban, 1917; J. Maluquer, Historia de España 1, 3, 327 ff.

Die H. waren der Sorge von Priestern (—> Priesterschaft) anvertraut. Den Priestern oblag es, die Tempel zu reinigen und von Zeit zu Zeit die Weihbilder in Erdspalten niederzulegen. Unter den Weih­ bildern befinden sich manche Figuren mit Tonsur und einer Art Schärpe, vielleicht den äußeren Zeichen des Priesterstandes unter dem semit. Einfluß der Priester von Gades (Cádiz) (Sil. Ital. 3, 26 bis 28). Möglicherweise stellt der Goldschmuck von El Carambolo (Sevilla) aus der Zeit um 550 v. Chr. priesterlichen Schmuck dar. Es handelt sich um zwei verschieden große Brustgehänge, zwei Armreifen gleichen Stils und mit denselben Verzierungen, eine Halskette mit acht Anhängern und 16 Platten, in zwei gleichen Gruppen ange­ ordnet. Die Formen dieses Brustsehmucks finden sich als Ornament­ motive auch auf Vasen aus Mykene, auf Elfenbeinplatten aus Megiddo, auf Gemälden in assyr. Palästen in Chorsabad, usw.; aber sie vermitteln dennoch den Eindruck ausgeprägt hispan. Charakters. Die Armreifen folgen der hispan. Tradition (Armreifen aus Estremoz und Portalegre). Parallelen zur Halskette finden sich auf Zypern, auch die zwei Gruppen von Platten legen den Gedanken an Kronen phöniz.-zypriot. Einflusses nahe (K. Kukahn-A. Blanco, AEArq. 33, 38ff.).

Die Gläubigen traten ohne Vermittlung der Priester mit den Geistern in Verbindung. In keinem H. wurden Spuren von Opfe­ rungen, Altären oder Lagerplätzen oder Überreste von Opfern gefunden. Unter den iber. Bronzefiguren sind keine Götterdarstel­ lungen. Wahrscheinlich fanden in den iber. H. Tänze (-> Kulttänze) statt wie in denen von Sardinien, begleitet von Liedern und Flöten­ spiel. Vielleicht stellen viele der gemalten Szenen auf der Kera­ mik von Liria Pilgerfahrten oder Prozessionen zu den H. dar. In Cerro de los Santos und im Tempel von Serri in Sardinien standen die Votivstatuen auf Bänken an den Wänden. Solche Bänke erwähnt Strabon (3,3,7); sie wurden auch bei Ausgrabungen in Cortes de Na­ varra gefunden und in berber.H. Drei iber. H. befanden sich in der Nähe von Quellen; daraus läßt sich schließen, daß die Gewässer in der iber. Religion, wie in der der Sarden und der Berber, eine wichtige Rolle spielten. Vielleicht war das Wasser in der iber. Religion wie in Sardinien und bei den Berbern ein therapeutisches und zugleich magisches Mittel. -> Priesterschaft; Religion, iber.; Tempel. Helassa. Griech. Göttin; Fundort Miñano Mayor (Alava). M. Albertos, EAA 4, 158.

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Heroenverehrung

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Heroenverehrung. Aus Polybius ist uns bekannt, daß einem Hispanier namens Aletes göttliche Ehren zuteil wurden; er war der Ent­ decker der Silberminen von Cartagena (Polyb. 10,10,11). Im Süden wurden auch griech. Heroen kultisch verehrt, so Menestheus (Strab. 3, 140; Marc. 2, 9; Ptol. 2, 2, 4). Sarpedon und Glaukos (A. García y Bellido, Hispania Graeca 1, 15ff.; A. Tovar, Homenaje al profesor Cayetano de Mergelina, 816 f.). Dies scheint darauf hinzuweisen,

daß die einheimischen Stämme, vielleicht unter griech. Einfluß, hervorragende Menschen vergöttlichten. Über Sertorius schreibt Plutarch (Sert. 12, 1), daß die Einheimischen glaubten, nicht von einem Menschen, sondern von einem Gott in den Krieg geführt zu werden. Einige archäologische Eunde können wohl als Heroisierung Ver­ storbener gedeutet werden, z. B. gewisse Stelenreliefs, die Reiter darstellen. Die Funde belegen eine enge Beziehung zwischen Heros und Reitpferd; manchmal erscheint das Pferd allein, als Symbol des Heros. Zwei Stelen wurden in Aguilar de Anguita gefunden, sie stammen aus dem 4. Jh.v.Chr.; zwei in S. Antonio, Calaceite (Teruel) und eine in Palermo (Zaragoza), aus dem 1.Jh.v.Chr. Es sind mehrere Reihen von Lanzen abgebildet, was Aristoteles in Política 1324 dahingehend erklärt, daß die Lanzen die Zahl der im Kampf getöteten Feinde bedeuten. Eine Variante ist wohl die iber. Stele aus La Tallada (Zaragoza), auf der ein Pferd mit Wagen abgebildet ist. Vier Rundstelen aus Clunia stellen je einen Reiter mit Rund­ schild und Lanze dar; sie werden in die augusteische Zeit datiert. Die Stele des Lougestericus aus Clunia, 1. Jh. n. Chr., stellt ebenfalls einen Reiter dar mit zwei Rundschilden, einem über der Kruppe und einem über dem Reiter. Die Stele erinnert an vier weitere aus Lara de los Infantes, gleichfalls mit Reitern und Schilden, zweifellos Hinweisen auf die getöteten Feinde. Auf vier weiteren Stelen aus Lara de los Infantes erscheint das Reitermotiv über Bögen; das bestätigt die Zugehörigkeit zum Totenkult. Auf einer Stele aus Iruña (Alava) ist ein Reiter mit einer Lanze abgebildet, ein solcher ohne Lanze auf der Stele von Oyarzun (Guipúzcoa). Jedoch die wichtigsten Denkmäler der Heroisierung durch Pferdedarstellungen sind die 15 vadiniensischen Stelen mit ihren besonderen Merkmalen. Die Inschriften befinden sich auf großen Steinen, die im Flußgeröll rundgeschliffen waren. Überall sind Reitpferde dargestellt; zuweilen erscheint der Name des Verstorbenen auf dem Pferdekörper selbst, auch finden sich über der Kruppe Symbole mit Astralcharakter, wie z. B. das Kreuz. Hier ist das Pferd wahrscheinlich entsprechend seiner Funktion im Totenkult der hispan. Völker das Symbol für den Verstorbenen. Auf einer der vadiniensischen Stelen erscheint

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Althtspanler___________________________________________ Hirschkult

ein Pferd zusammen mit einem Hirsch, was seine Bedeutung für den Totenkult bestätigt. Die Stelen stammen aus dem 3.Jh.n.Chr. (Ptol. 2, 6, 50). Weitere Funde dieser Art sind eine Stele des Lucius Rusticus im Museum in Beja (Portugal) mit einem galoppierenden Pferd, eine Stele des Lucius Bellicus aus dem 1. Jh. n. Chr. im Museum von Córdoba, ebenfalls mit einem Pferd. Das Pferd spielt im Zusammen­ hang mit der Heroisierung also eine sakrale Rolle. In der Spät­ antike setzt sich in Hispanien diese Art der Darstellung fort; er­ wähnt seien eine Stele aus Träz-os-Montes (Portugal) mit einem Pferd unter der Inschrift, die beiden Stelen aus Monte-Cildad (Por­ tugal) mit einem Reiter, ebenso die Stele von Carquere (Portugal) und die von Alcubilla (Soria). Hispanien erbrachte zwei wichtige Zeugnisse für die Annäherung der im Pferdebild verherrlichten Verstorbenen an Helios. Das erste stammt aus Sa (Portugal), es stellt ein Pferdehaupt und dahinter eine menschliche Büste mit einem Strahlennimbus ums Haupt dar. Das zweite, aus dem 3. Jh. n. Chr., stammt aus Ciudadela (La Coruña); ein Mann mit einem Stern über dem Haupt hält in Opfer­ geste ein Pferd auf seinen Armen. In beiden Fällen könnte es sich um Helios handeln. J. M. Bläzquez, Ampurias 21, 1959, 281 ff.; Celticum 6, 1963, 405 ff.

Hirschkult. Rituelle Bronzefiguren, Darstellungen auf der Keramik von Liria und die bei Appianus (Hisp. 100), Frontinus (1, 11, 13), Aulus Gellius (15, 22), Plutarch (Sert. 11, 2) und Valerius Maximus (1, 2, 4) belegte Geschichte von dem Lusitanier, der dem Sertorius eine Hirschkuh schenkte, weisen darauf hin, daß a) der Hirsch den Lusitaniern als heiliges Tier galt; b) seine Verehrung ein speziell lusit. Kult war; c) die lusit. Hirschgottheit der Artemis/ Diana gleichgesetzt wurde; d) der Kult Orakel-, zuweilen auch Traumdeutungscharakter trug. Es handelt sich um folgende Funde: 1. Lusitanischer Ritualkrug in der Calzadilla-Sammlung in Badajoz, ein bimenförmiger Bronzekrug, der oben in einem Hirschkopf mit geöffnetem Geäse endigt. Ein Geweih krönt den Kopf. Der Henkel endet in zwei Pal­ metten phöniz. Art. 6. Jh. v. Chr. Der Krug wurde beim Begräbnisritual benützt und im Grab niedergelegt. 2. Hispanische Hirschkuh im Britischen Museum, eine laufende Hirschfigur mit hochgestellten Lauschern, 7. Jh. v. Chr. 3. Hirsch von Cadosera (Badajoz). Auf einem zylindrischen Sockel mit zehn dreieckigen Löchern ruht eine Hirschkuh mit ausladendem Geweih. 4. Bronzefigur aus der Calzadilla-Sammlung (Badajoz). Ruhender Hirsch mit geöffnetem Geäse. 5. Bronzefigur aus Coruche (Portugal). Auf einer Doppelplatte mit Aufhängeringen an einer Seite steht eine Hirschkuh, mit nach hinten gewendetem Kopf, heraushängender Zunge und starkem Ge­ weih. 6. Bronzeschaufel, wahrscheinlich lusitan. Ursprungs. Zwei Hirsche,

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Hirschkult

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die einander den Rücken zukehren, bilden die seitliche Begrenzung der Schaufel, unter ihnen sind sieben Dreiecke eingekerbt, der Stiel endet in einer Hirschfigur. Das Vorbild dieses Kultgegenstandes ist in Luristan zu suchen. 7. Bronzehirschkuh aus der Nekropole von Valtierra (Navarra), in die Eisenzeit datiert. 8. Bronzefigur aus Jaén, ein stehender Hirsch, auf dem der Mittelteil eines Thymiateriums ruht. 9. Aus Sierra de Vilches (Jaén) Hirsch auf einem Gestell, aus dem zwei Hirschkalbköpfchen hervorragen. 10. Der Kernos von Merida weicht von der üblichen Form dieser Gefäße ab, da hier statt des Kranzes kleiner Schälchen, die um ein Rundgefäß an­ geordnet sind, nur zwei Schalen an einem Keramikring befestigt sind. Auf dem Ring befindet sich ein Hirschhaupt. Diese Darstellung lehnt sich an Vorbilder aus dem 6. Jh. v. Chr. aus Samos an. 11. Lusitanischer Grabstein, eine Doppelstele aus dem 3. Jh. n. Chr. Unter den Inschriften ist eine Hirsch­ kuh mit ihrem Kalb abgebildet. 12. Stele aus Rabanales (Zamora). Unter der Inschrift steht auf zwei Bogen ein Hirsch. 13. Ruhende Hirschkuh aus Caudete (Albacete). Auf einer Säulenplatte steht eine monumentale Hirsch­ kuh. In derselben iber. Nekropole wurde ein zweites ähnliches Stück ge­ funden, 4.—3. Jh. v. Chr. 14. Hirschkuh ohne Kopf, auf einer Säulenplatte liegend, aus der iber. Nekropole Toya (Jaén). 15. Stele aus Ponga (Asturien). Unter der Grabinschrift befindet sich ein Hirsch neben einem Pferd. 3. Jh. n. Chr. 16. Auf einer Stele im Museum von León ist der Hirsch in Ver­ bindung mit dem Eber dargestellt; damit wird seine Zugehörigkeit zum Grab­ kult bekräftigt. Zu Nr. 6 vgl. Abb. 11!

Die zuletzt genannten fünf Stücke und der lusit. Ritualkrug aus der Calzadilla-Sammlung weisen deutlich daraufhin, daß der Hirsch insbesondere bei den Iberern, Lusitaniern und Vadiniern Toten­ kultcharakter hatte. Dasselbe läßt sich aus zwei Hirschjagdszenen auf Sarkophagen entnehmen: ein Sarkophag aus Hacienda del Castillo (heute im Museum von Cordoba) stellt Hispanier bei der Hirschjagd dar, der Sarkophag im Museum von Jerez de la Fron­ tera (Cadiz) ist wahrscheinlich frühchristlich. Auch auf iber. Stelen aus Lara de los Infantes sind Hirschjagden dargestellt.

Der Hirsch besaß in Hispanien auch eine erotische Bedeutung, für das 4. Jh. n. Chr. belegt bei S. Pacianus (360 bis ca. 390 Bischof von Barcelona). In seinem verlorengegangenen Buch mit dem Titel Cervus behandelt er die alte hispan. Sitte, sich in Hirschfellen ver­ kleidet sittenwidrigem Tun hinzugeben: Hoc, enim, puto, proxime cervulus Ule projecit, ut eo diligentius fierit, quo impressius notabatur. Et tota illa reprehensio dedecoris expressi ac saepe repetiti non comprensisse videatur, sed erudisse luxuriam. Me miserum! Quid ego facinoris admisi! Puto, nescierant cervulum facere, nisi illis reprehendendo monstrassem (Paraenesis 1). Solche Vermummungen fanden in der Diözese Barcelona am Neujahrstag statt. Es war Brauch, sich als wilde Tiere oder auch als Haustiere zu verkleiden, als Hirsch,

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Hirschkult

Lamm oder junger Stier, auf dem Kopf Hirschgeweihe oder Hörner zu tragen oder sich in Felle zu hüllen. In einer alten hispan. Homiliensammlung (Britisches Museum ms. Add. 30845) steht zu lesen: Quis enim sapiens credere poterit inveniri aliquos sapientes qui cervulum facientes in ferarum se velint habitum commutare ? Alii vestiuntur pellibus pecudum, alii adsumunt capita bestiarum. Solche Bräuche gab es nicht nur in Hispanien, sie sind auch in Gallien und in allen Regionen des Röm. Reiches be­ legt (Conc. Autiosiodorense, zwischen 573—603, Kanon 1; Epist. Kanon um 500, 891 A-B; Ps. Aug. Serm. 129, 2; 130, 2; 265, 5; Dicta abbat. Primin. um 700, 22, usw. Weitere Dokumente bei J. Caro Baroja, RDTP 19, 1963, 255ff.; El carnaval, 1965, 251ff.). Die Verkleidung als Hirsch, als anderes Tier oder als Frau wurde in Hispanien jedoch zu einer Art Volksfest, wie bei S. Isidoras von Sevilla zu erkennen ist. Er faßt beinahe alle Angaben zu diesem Gegenstand zusammen, die sich in den Schriften der heiligen Väter verstreut finden (De eccl. off. 1, 41). Diese Texte finden ihre archäo­ logische Bestätigung im plastischen Schmuck mancher hispan. Ton­ vasen aus Bronchales (Teruel), die in die 2. Hälfte des l.Jh.v.Chr. und in das folgende Jh. datiert werden. Dort ist eine Gestalt mit Hirschkopf dargestellt, die mit einer kurzen Tunika und Schuhen bekleidet ist, dazu eine kurze Lanze und einen Schild trägt. Die Gestalt ist von Hunden umgeben.

Eine Reihe von winterlichen Maskenfesten in Spanien, die fast bis in unsere Zeit hineinreichen, scheinen unmittelbar von dieser im 4. Jh. belegten hispan. Sitte abzustammen. Das Problem ist, ob diese Maskenfeste aus der griech.-röm. oder der ursprünglichen hispan. Welt stammen; bei manchen ist offensichtlich das letztere der Fall; auf einer Vase aus Numantia z. B. sieht man zwei Männer mit Geweihen zwischen den Armen. Eine bewahrte Form der von 5. Pacianus beschriebenen Maskenfeste könnten sehr wohl die Feste sein, bei denen Männer als Rinder verkleidet mit weibl. Namen umherziehen, wie es beim Mummenschanz in dem Dorf Los Molinos (Madrid) im Januar und in anderen kastilischen Dörfern an manchen Feiertagen, zu Neujahr oder am Ende des Karnevals üblich ist. Die Sitte, sich als Rinder zu verkleiden, ist auch in anderen Dörfern der Sierra Guadarrama belegt, z. B. in Abejar (Soria), Atienza (Guada­ lajara), Rebollar und Baña (León), in mehreren Ortschaften der Provinz Palencia, in Andalusien und Estremadura. Auch in Kata­ lonien verkleideten sich die Männer bei manchen Karnevalsumzügen als Rinder. Diese Sitte nahmen die Spanier nach Amerika mit, nach Quito, La Paz usw. Von anderen Arten des Mummenschanzes ist 765

Ianus paralionecus

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mit Sicherheit anzunehmen, daß sie vorrömischen Urspungs sind. Auf manchen Vasenbruchstücken aus Numantia finden sich Ver­ mummungen dargestellt, an denen zwei Wesen teilnahmen. Eines trägt offensichtlich ein um die Taille befestigtes Maskengestell, dessen Kopf und vorderer Teil verloren sind. Auf anderen Vasen erscheinen Wesen, die solche Maskengestelle mit Kopf und Schwanz eines Pferdes oder mit Pferdekopf und Vogelkörper über Menschen­ beinen tragen. Das Fortleben dieser Verkleidungen mit Pferde­ gestellen ist in dem Dorf Lanz (Navarra) erwiesen. Eine ähnliche Vermummung, zu der ein Pferd und auf ihm ein Äffchen gehört, ist in Salcedo (Alava) belegt. Solche Menschen mit Pferdegestell sind schon in einer Kopie des „Privilegio de la Unión“ aus dem 15. Jh., auf einem Torrelief an der Kapelle S. Francisco Javier an der Kathedrale von Pamplona dargestellt, und Masken dieser Art gehen heute noch am Fronleichnamsfest in der Hauptstadt von Navarra umher. Auch in Estelia (Navarra) sind sie belegt, und zwar noch 1722. In Pola de Allande (Asturien) verkleidete man sich bei einem Fest als Maultier oder anderes Tier, in Viana del Bollo (Orense) verkleideten sich zwei Männer als Maultier. Vgl. oben die „Mythologie der Kelten“, S. 131, 136, 145f„ 156f. F. Benoit, PSHAA, 37ff.; A. Blanco, Rev. Guimaräes 74, 339, Abb. 6; MM 1, 106, Tafeln 17 b, 19 a; J. M. Blázquez, Religiones 17 ff.; Atti VI Congr. Intern. Sc. Pr. Prot. 3, 49ff. Tafel CIX; J. Caro Baroja, RDTP 19, 177ff.; El Car­ naval, 243ff.; A. García y Bellido, AEArq. 30, 1957, 121 ff.; 31, 1958, 153ff.; J. Maluquer, Zephyrus 4, 488; A. Schulten, Numantia II, Tafeln 21, 26.

Ianus paralionecus. Fundort Lugo. J. M. Blázquez, 139ff.

Iberos. Name des Wassergottes des Flusses Ebro, auf einem Altar aus San Martín de Trevejo (Cäceres). Auch als cognomen belegt (CIL II 2080, 2388, 3491, 4097). Baskischer Ursprung, wahrscheinlich ibai Fluß, ibar Flußmündung (A.Tovar, Cantabria Preromana, 14). J. M. Blázquez, 175; HAEpigr. 6—7, n. 1061; J. Rubio, Zephyrus 6,1955,299.

Ilurbeda. Iberische Gottheit; Fundorte Sierra de Lousa und Covas dos Ladröes (Portugal), Segoyuela de los Cornejos (Salamanca). J. M. Blázquez, 78f.

Iluberrixus anderexus. Baskische Gottheit, Fundort Escugnau (Lérida). J. M. Blázquez, 68 ff.

Interpretatio romana. Besonders mit röm. religiösen Vorstellungen entwickelte sich ein umfassender Synkretismus. Vom 2. Jh. ab wird 766

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Ivilia

eine fortschreitende Romanisierung der einheimischen Kulte sicht­ bar. Viele einheimische Götter sind mit einem Gott des röm. Pantheon verbunden worden, dem sie nach Auffassung der Römer entsprachen. Es sind dies -.Genius Laquiniensis,GeniusTiauranceaicus, Genius Tongobricensium, Genius Fontis Agineesis, Iuppiter Canda­ mius, Iuppiter Candiedo, Iuppiter Ladicus, Iuppiter Maximus deus Teta, Iuppiter Anderem, Iuppiter Solutorius Eaecus, Lares Cairieses, Lares Tarmucenbaci Ceceaci, Lares Ceceaigi, Lares Cerenaeci, Lares Cunicelenses, Lares Eredici, Lares Turolici, Lares Findenetici, Larisefius, Borus Mars, Cosus Mars, Mars Semnus Cosus, Mars Tilenus, Matres Brigeaecae, Matres Gallaicae, Matres Aufaniae, Ermaes Devori (Mercurius), Nymphae Fontis Ameucni, Nymphae Caparensium, Nymphae Castaecae, Nymphae Varcilenae, Nymphae Lupianae, Dea Ataecina Turibrigensis Proserpina, Salus Bidiensis, Salus Umeritana, Vulcanus. Insgesamt werden 37 Namen einheimischer Götter mit denen von röm. Göttern verbunden. Verschiedene Fälle zeigen stärker einheimisches als römisches Gepräge und weisen auf den Prozeß der Romanisierung der Einheimischen in religiöser Beziehung hin sowie auf die verschiedenen Stadien bei der Ablösung einer einheimischen Gottheit durch eine römische. Ein erster Schritt der Verschmelzung zeigt sich in Inschriften wie Iuppiter Solutorius Eaecus, dea Ataecina Turibrigensis Proserpina, Cosus Mars usw., wo die beiden Gottheiten nebeneinander stehen, der zweite in An­ rufungen wie deus Iuppiter, deus Mars, deus Mercurius usw., die sich auf eine einheimische Gottheit beziehen, denn die Anrede „deus“ erübrigt sich bei einer röm. Gottheit. Ein dritter Schritt besteht darin, daß der Name einer griech.-röm. Gottheit, der zunächst mit dem einer einheimischen Gottheit zusammen aufgetreten war, am gleichen Ort oder in der gleichen Gegend, jedoch ohne den Namen des einheimischen Gottes und ohne Zusatz „deus“ auftaucht, wie z. B. Iuppiter Solutorius. Iuno ueamuaearum tarboumanenunarum. Fundort Freixo de Numäo. CIL II, 430.

Iuno meirurnarum. Fundort Filgueira (Portugal). CIL II, 2409.

Iuppiter Solutorius —> Einleitung S. 712; Candamius; Eaecus; Interpretatio romana.

Ivilia. Fundort Forua (Vizeaya). J. M. Bläzquez, 198. 50

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Jenseitsglaube

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Jenseitsglaube. Die Symbolik der Stelen weist auf astrale Auffassung vom Jenseits. Zweierlei Symbole erscheinen: Strahlenscheibe und liegende Mondsichel. Daß diese Symbole Himmelskörper darstellen und daß sie mit Astralbegriffen eschatologischer Art verbunden sind, ist offensichtlich. Auf vielen Stelen sind Strahlenseheibe und liegende Sichel zusammen abgebildet, wohl als Darstellung von Sonne und Mond, z. B. auf zwei Stelen aus Lara de los Infantes und Clunia (Burgos). Zuweilen könnte man auch vermuten, daß es Planeten seien; manchmal erscheinen vier Strahlenscheiben, eine größere oben, darunter drei kleinere, z. B. auf einer Stele aus Hontoria de la Cantera (Burgos). Auf einer Stele aus Gastiain (Navarra) findet sich ein Kranz von strahlenförmig angeordneten Blättern und in den oberen Ecken zwei kleinere Kreise mit wel­ ligen Strahlen, der obere Teil zeigt zwei Räder mit sechs Speichen. Auf einer in Pamplona gefundenen Stele sieht man eine Mondsichel zwischen drei aus sechs Blättern gebildeten Kreisen und zwischen den Mondhörnern einen vierten Kreis. Eine Stele aus León zeigt sechs Strahlenkreise zwischen den sechs lanzenförmigen Blättern eines großen Strahlenkreises. Eine weitere Stele aus León weist auf Sockeln drei Kreise mit welligen Strahlen auf. Bei der Stele aus Pamplona könnten die drei Kreise die Sonne, den Mond und die Venus bedeuten oder aber die Sonne im Aufgang, Zenit und Untergang. Auf einer Stele aus Zamora ist anscheinend die Sonne mit den fünf Planeten dargestellt. In anderen Fällen, z. B. auf je einer Stele aus Vigo und Caparra, ist einfach ein Kreis mit einem Kreuz in der Mitte eingeschnitten. Die Mondsichel bezeichnet den Mond als Aufenthaltsort der Ab­ geschiedenen. Bei den Stelen aus Lara de los Infantes ruht die Mondsichel auf einem dreibeinigen Tisch, an dem der Verstorbene sein Totenmahl verzehrt, eine Vorstellung, die im ganzen röm. Reich verbreitet war. Auf der Stele aus Carcastillo (Navarra) ist die Mond­ sichel viermal abgebildet; einmal oberhalb der Inschrift zwischen zwei Strahlenscheiben mit einer größeren darüber, dreimal unter­ halb. Manchmal ruht der Halbmond auf einer Art Gestell wie bei der Stele aus Clunia, wo er zweimal unter der großen Strahlenscheibe dargestellt ist. Dieses Bild tritt auch bei den Stelen aus Vegadéo (Asturien), bei den hausartigen Gegenständen aus Poza de la Sal, bei verschiedenen aus León usw. wieder auf. Vielleicht handelt es sich bei dem Gestell um einen Kultgegenstand. Auch in Gallien, Rom, Pannonien und Kleinasien gibt es diese Darstellungsformen. In Hispanien sind jedoch die Grabmäler mit dem Halbmond auf einem Gestell zahlreicher vertreten als im übrigen röm. Reich. Bei den Stelen aus Vigo ist im allgemeinen unter dem Halbmond eine 768

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Jenseitsglaube

große Strahlenscheibe, darunter zwei kleine Kreise dargestellt. Gelegentlich ist die Mondsichel abgebildet.

Die Stelen mit Astralsymbolen, die zweifellos keltischer Herkunft sind, fehlen in der ganzen Baetica südlich des Guadiana, in Portugal südlich des Tejo, in der ganzen iberischen Levante und an der kantabrischen Küste, nicht aber in Navarra und in den Pyrenäen. Die Astralauffassung vom Jenseits spiegelt sich auch deutlich bei den Urnen aus Las Cogotas und Chamartin de la Sierra (Avila), die mit Astralsymbolen bedeckt sind. In Lorcas Dichtung findet man Spuren einer Reihe von archaischen Mondauffassungen, z. B. die Gleichstellung und Verbindung von Mond und Tod. Eines seiner Gedichte ist überschrieben: „La Luna y la muerte“ (Der Mond und der Tod); darin wird diese Gleich­ stellung durch eine Folge von farbigen und pflanzlichen Bildern ausgedrückt. In „Bodas de sangre“ (Bluthochzeit) (3. Akt l.Aufz.) ist der personifizierte Mond der Todbringer für die Hauptpersonen. Überhaupt figuriert in Lorcas Dichtung der Mond-Tod-Mythos ganz entsprechend der archaischen Mentalität, gilt doch der Mond als der ursprüngliche Tod, der Herr des Todes, aber auch als Land der Toten. Für den archaischen Menschen ist der Mond des­ halb so besonders bedeutsam, weil er das einzige göttliche Wesen ist, das wie der Mensch dem Gesetz des Werdens und Vergehens unterliegt, und weil er mit seiner Auferstehung die Hoffnung jedes Menschen auf irgendeine Art der Unsterblichkeit nährt. Auch Lorcas Gestalten kennen diesen Trost; der tote Freund kehrt mit dem Mond zurück.

Als Arbeitshypothese kann angenommen werden, daß in der Mytho­ logie der im kelt. Gebiet ansässigen Völkerschaften die Vorstellung herrschte, die Wohnstatt der Toten sei durch eine oder mehrere Türen zugänglich. Diese Pforten wurden zuweilen als hufeisenförmige Bogen auf Säulen abgebildet. Manchmal sind die Astralsymbole, der Strahlenkreis und die Mondsichel, innerhalb eines riesigen Bogens dargestellt, z. B. auf einer Stele aus León. Dann wieder finden sich am unteren Teil zwei Bogen, z. B. an Stelen aus San Pedro de Lizarra (Navarra) und an verschiedenen Stelen aus Vigo, an einer aus Rabanales und aus S.Vitero (Zamora), an einer aus León, die Campilius Paternus geweiht war, an den beiden aus Picote (Portugal); in anderen Fällen erkennt man drei Bogen, z. B. an der bereits erwähnten Stele aus Carcastillo, an der aus Pinta (Burgos), an einer aus Lara de los Infantes und an einer aus Poza de la Sal, ebenso an einer Stele aus Bragamja (Portugal). Gelegentlich finden 50*

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Jenseitsglaube

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sich innerhalb der drei Bogen pflanzliche Motive, so an einer Stele aus Lara de los Infantes, oder eine Jagdszene, wie an einer Stele aus Villatuerta (Navarra). Eine Stele aus Lara de los Infantes weist an ihrem unteren Teil vier Bogen auf, eine Stele aus Poza de la Sal fünf und eine aus Pontevedra zweimal drei Bogen übereinander. Bei einer Stele aus León ist der mittlere Bogen größer. Auf anderen Stelen sind nicht Bogen, sondern Architrave dargestellt, so auf einer Stele aus Astorga (León) und auf einer aus Braga, bei der zwei Säulen einen dreieckigen Giebel tragen.

Bei den Stelen aus der Mitte und dem Nordwesten Hispaniens finden sich dreieckige Giebel und Dreiecke, z. B. an zwei Stelen im Museum von Vigo. Der Sinn weist auf die Pythagoräer und ist wahr­ scheinlich auch hier mystisch, symbolisch, zumal die Stelen auch in verschiedenen anderen Einzelheiten klassische Einflüsse zeigen. Vielleicht liegt bei einer Stele aus Vigo dionysischer Einfluß vor; dort trägt ein junges Mädchen einen Korb auf dem Kopf und eine große Traube in der Hand. Im Gebiet der Autrigonen finden sich Stelen in Form von Häusern mit Astralsymbolen und manchmal auch Bogen; sie scheinen an­ zudeuten, daß das Grab die Wohnstätte der Toten ist. Die Darstellungen auf manchen Stelen geben Anlaß zu der Ver­ mutung, daß sich die keltisierten hispan. Völkerschaften das Leben im Jenseits so vorstellten, als würden dort dieselben Tätigkeiten ausgeübt wie hier. Es ist dies die am ehesten einleuchtende Er­ klärung für die Jagdszenen auf den Stelen aus Lara de los Infantes und auf der erwähnten aus Villatuerta, unabhängig vom Totenkult­ charakter der Motive. Auch auf der Opferschale von Tivisa, auf der mit Sicherheit eine Unterweltgottheit dargestellt ist, finden sich Darstellungen von Jagdszenen. Genauso könnten die Arbeitsszenen gedeutet werden; sie finden sich auf den Stelen aus Lara de los Infantes (ein Fuhrmann, der mit seinem Maultier oder Esel eine Last transportiert, ein Hofbesitzer mit seinen Knechten beim Um­ füllen von Flüssigkeiten oder eine Frau am Webstuhl) und aus Hontorio de la Cantera (ein Ochsen treibender Hirt). Die meisten dieser Stelen stammen aus dem 3. Jh. v. Chr.

J. M. Alvarez-F. Bouza-Brey, CEG 16, 1961, llff.; A. Blanco, Rev. Guimaräes 74, 337f.; J. Cabré, JSEA HO, 1930, 51 ff. Tafeln XXXI-XXXVII; AEArq. 15, 1942, 339ff.; J. Cabré-E. Cabré-A. Molinero, El castro y necró­ polis del Hierro Céltico de Chamartín de la Sierra (Avila), 1952, 108 ff. Tafeln LXXXIII; A. García y Bellido, Esculturas, 321 ff.; Hommages i Albert Grenier, 1962, 728ff.; NAH 5, 1962, 227ff.; J. Maluquer, Historia de España, 1, 3, 159ff.; J. Martínez Santa-Olalla, Homenagem a Martins Sar-

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Kulttänze

mentó, 226 ff.; Inv. Prog. 6, 1932, 148 ff.; B. Osaba, Simbolismo en la orna­ mentación de las estelas hispano-romanas del Museo Arqueológico de Burgos, 1958. -> Totenkult, Totenreich.

Kulttänze. Sowohl beiStrabon, als auch bei Appianus und Diodor, wird von Tänzen berichtet, die wahrscheinlich kultischen Charakter hatten. Der Text Strabon 3, 3, 7 gibt höchstwahrscheinlich die Be­ schreibung eines religiösen Festes, da sie unmittelbar auf die Schilderung von Opfern folgt. K. werden im Zusammenhang mit dem -> Mondkult erwähnt und in Nordhispanien galten sie wohl (—>Arus) Mars. Bei den Lusitaniern sind K. von Kriegern bekannt. Um solche handelte es sich wohl auch bei der Leichenfeier für Viriathus, von der Appianus berichtet (—»-Totenehrung). Kultisch war wohl auch der Tanz der Bastetaner, von dem Strabon berichtet und der auf einer Vase aus dem Liria-Fund dargestellt ist. Auf dem Diadem von Ribadeo (Lugo) ist wahrscheinlich ein kelt. Ritualtanz abgebildet. Zwei Reiter tragen Helme mit Hörnern, Schilde und Dolche; zwischen ihnen stehen Männer mit rituellen Schöpfeimern, ähnlich wie bei manchen etrusk. Ritualdarstellungen (A. Blanco, CEG 12, 1957, 1391T. Tafel IX—X; J. Maluquer, Historia de España 1,3,81 Abb. 38; F. López Cuevillas, CEG 6, 1951, 23ff.). Bei den Reit­ pferden befinden sich Vögel, Schildkröten, Fische und Affen (?), vielleicht auch fleischfressende Pferde (->Abb. 1 nach S. 828). Dieser Tanz erinnert an die Abbildungen auf dem Kessel von Gundestrup*. Zwei Dokumente deuten auf Kulttänze in der iber. Levante hin. Das erste ist ein Weihbild aus Collado de los Jardines; darauf be­ ginnt ein Krieger einen Kriegstanz, auf den auch literarische Quellen anspielcn. Das zweite ist eine Szene aus Liria mit einem ithyphallischen numen, vor dem sich Frauen, die sich an den Händen halten, umherbewegen. Diese Szene gibt Anlaß zu der Vermutung, daß es sich um Kulttänze handelt, weil die Malerei aus Liria tanzende Männer und Frauen zeigt, die sich beim Klang der Musik an den Händen halten. Solche Tänze sind für die Baste­ taner typisch (Strab.3,3,7; CVH Liria, Tafeln XXXIII, LXIII bis LXIV Abb. 20—44: I. Ballesteros, o. c. 70ff., Abb. 2; J. Malu­ quer, Historia de España 1, 3, 333 Abb. Í86, 203—204; A. García y Bellido, La Península Ibérica, 609ff.). Ein Kriegstanz religiösen Charakters ist wahrscheinlich auch auf einer anderen Vase aus Liria dargestellt. Man erkennt darauf eine Reihe von Reitern, die die Lanze schwingen (CVH Liria, Tafel LXIV).

* Vgl. S. 106; Teilabbildung hinter S. 162. 771

Lacipaea

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Lacipaea. Der Göttername entspricht einem Ortsnamen; Fundort Merida (Badajoz).

J. M. Bläzquez, 79.

Lacubegus. Baskische Gottheit; Fundort Ujue (Navarra). J. M. Bläzquez, 176ff.

Ladicus (Iuppiter). Fundort Codes de Larouco (Portugal). J. M. Bläzquez, 88 ff.

Laebo. Lusit. Gottheit; Fundort Cabe?o das Fraguas (Portugal). A. Tovar, EC 11, 1966-67, 275fF.

Lapitearum (Numina). Altar, der zu einem Felsheiligtum in Panoias (Portugal) gehört, den Inschriften nach in das 3. Jh. v. Chr. zu datieren. (Der Genitiv bezieht sich wahrscheinlich auf die Haupt­ stadt der Galaeci Lucenses — Ptol. 2,6,4.). Der obere Teil ist behauen und enthält 30 Nischen verschiedener Größe; mehr als die Hälfte davon sind weniger als einen Meter lang. In einen Felsblock sind zehn Nischen von 2—3 m Länge und fünf Nischen von 0,88 bis 2,64 m eingeschnitten. Eine durch eine Rampe zweigeteilte Staffel führt zur obersten Plattform, auf der ein Kanal verläuft. Die In­ schriften sind auf senkrechten Wänden angebracht, insgesamt wurden fünf entdeckt, bei einigen waren die Buchstaben ausgemalt; drei Inschriften sind auf einem Felsen nebeneinander angeordnet. Die Nischen heißen teils quadrata, teils lacus, auch aeternus lacus oder laciculus. Das Wort lacus bedeutet Gefäß, in dem die Ein­ geweide der Opfer verbrannt wurden: hostiae quae cadunt hic immo­

lantur, exta intra quadrata contra cremantur; in quo hostiae voto cremantur; sanguis laciculis iuxta super funditur. Die Gefäße wurden in einem gesonderten Bauwerk untergebracht. Es wird als cum hoc templo; in hoc templo; Diis cum hoc (ternplo) bezeichnet. Eine In­ schrift besagt, daß die Opfer im oberen Teil des Gebäudes dar­ gebracht wurden, hic immolantur, während das Blut zur Seite ab­ floß in die laciculis und die Eingeweide der Opfer in den quadrata verbrannt wurden, die sich davor befanden. Die Opferhandlung umfaßte drei Phasen, die jeweils an verschiedener Stelle stattfanden. Seit Leite wird angenommen, daß der auf einer Inschrift genannte Sarapis die hier verehrte Gottheit war. Das Heiligtum wäre also ein Serapaeum, manche Gefäße wären als die lavacra für die rituellen Waschungen zu erklären. Gleichzeitig wurde die Gesamtheit der Götter verehrt: diis deabusque aeternum lacum omnibusque numinibus et Lapitearum cum hoc templo; der Weihende führte ein örtliches 772

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Larocus

Element ein: (numina) Lapitearum. Diesen Gottheiten wurde ein aeternus lacus in quo hostiae cremantur geweiht. Die numina Lapitearum sind Nymphen oder Matronen, die wie die Matres gallaicae von einem bezeichnenden Adjektiv begleitet sind. Das Bauwerk befindet sich, wie erwähnt, in Panoias (Portugal) mit Inschriften aus dem 3.Jh.v.Chr. Das Monument ist äußerst wichtig, weil man daraus die eigentliche Bedeutung der Becken erkennt, die in Galicien und Lusitanien in so großer Zahl gefunden wurden. Ihrer ursprünglichen Bestimmung nach sind sie also wohl Gefäße für das Blut oder das Fleisch der Opfertiere (M. Cardozo, Homenaje a Julio Martínez Santa-Olalla, 1947, 134ff.; J. Figueira, Museo de Pontevedra 12, Tafel XXXV; F. López Cuevillas, OEG 9, 1954, 181 ff.; F. López CuevillasJ. Fernández, CEG 8, 1952, 5ff.). Ein prähistorisches, sehr ähnliches Heiligtum mit Gefäßen und Stufen befindet sich in der antiken Altstadt von Ulaca (Avila), die jetzt den Stadtkern bildet (A. Molinero, o.c., 57, Tafel IX 1). J. M. Bläzquez, 180ff.; CIL II 2395; M. Cardozo, Cartas, 121 f.; A. García y Bellido, BRAH 139, 1956, 327 ff.; S. Lambrino, Bulletin Etudes Portugaises 17, 1953, 106ff.; Leite, II, 187f.; III, 468; P. Rüssel Cortez, Anais do Instituto de Vinho do Porto, 1947.

Lares cairiesis. Fundort Granginha (Portugal). J. M. Bläzquez, 130.

Lares cerenaeci. Fundort S. Salvador de Trias (Portugal). J. M. Bläzquez, 131.

Lares iindenetici. Fundort Celleiros (Portugal). J. M. Bläzquez, 132.

Lares tarmucenbaci Ceceaegi. Fundort Granginha (Portugal). J. M. Bläzquez, 130.

Lares turolici. Fundort Freixo de Numäo (Portugal). J. M. Bläzquez, 132.

Larisefius. Fundort Adaufe (Portugal). J. M. Bläzquez, 133.

Larocus. Fundort Curral de Vacas (Portugal). J. M. Bläzquez, 79.

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Leiossa

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Leiossa. Fundort Cabeza del Griego (Cuenca). J. M. Blázquez, 213.

Losa. Fundort Pamplona (Navarra). J. M. Blázquez, 80.

Louci Iuteri. Kelt. Gottheit; Fundort Pozoblanco (Córdoba). J. M. Blázquez, 89 ff.

Lougestericus. Kelt. Gottheit. Fundort Muro de Agreda (Soria). —> Heroenverehrung.

J. M. Blázquez, 90.

Lucoubu arquienus. Fundorte Sinoga und S. Martín de Liñarán (Lugo). J. M. Blázquez, 90.

Lug -> Lugones, Lugui. Lugones. Lug scheint der kelt. Gott zu sein, den Cäsar (BG 6, 17) und Tacitus (Germ. 9) mit Merkur identifizieren; Lucanus (Phars. I, 445) nennt ihn ebenfalls, aber mit dem Namen Tadates. Der Name ist echt kelt. und häufig in Ortsnamen enthalten: Lug(u)-beus, Luqu-adicus, Lugu-uallium, Lugu-dex, Lugu-dius, Luguselua, Lugu-dunum. In Irland ist ein Gott Lug oder Lugh bekannt. Lugu steht mit dem indoeurop. lug, schwarz, in Zusammenhang

(J. Pokorny, 2 CPh 20, 114ff.; M. Albertos, Onomástica, 138; J. Untermann, Atlas antroponimico, 123f.) und bedeutet wohl Rabe, den Vogel mit dem schwarzen Gefieder. Die Iren fügen dem Gott Lug das Beiwort Sambildanach, geschickt in vielen Künsten, bei; das erklärt den Charakter, den Cäsar Merkur zuschreibt, den er auch in Hispanien besaß, wie daraus zu erkennen ist, daß ihm die Schuhmacherzunft von Uxama, Osma (Soria) den Altar stiftete. Inschrift aus dem 2. Jh. v. Chr.

J. M. Blázquez, 91; CIL II 2818.

Lugui. Die Inschrift auf einem Felsen bei Peñalba de Villastar (Teruel) aus dem 1. Jh. v. Chr. nennt zweimal den Gott, dessen Name auf demselben Stamm beruht wie _> Lugones. [Der Göttername ist auf einem Dativ auf uwei eines Stammes auf -u aufgebaut (A. Tovar, Prim. Leng. Hisp. 41, 124, 201).] Unter der Inschrift befindet sich ein gemalter Rabe. Dieses Tier ist auch auf einem Wappen aus Lugudunum vom Jahre 44 v. Chr. dargestellt. Der betr. Altar steht an wichtiger Stelle in der Stadtsage. Lug könnte ein Lichtgott sein,

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Magie

wie Apollo, der als Rabe auftritt (RE IA 20). Auch Mithras, der Sonnengott, ist von einem Raben begleitet. M. Albertos, Zephyrus 3, 57 ff.; J. M. Blázquez, Religiones, 91 ff.; J. Cabré, BRAH 56, 1910, 241 ff.; M. Gómez Moreno, Boletín del Seminario de Estudios de Arte y Arqueología 8, 1942, 13ff.; Misceláneas I, 1942, 208, 326; M. Lejeune, Celtibérica, 1955, 7ff.; A. Tovar, Ampurias 17—18, 1955—56, 159ff.; Emérita 27, 1959, 353f.; ELH lllf.; Ancient Languages, 86.

Lumiae. Fundort Cabeza del Griego (Cuenca). J. M. Blázquez, 213.

Lupianae (Nymphae). Fundort Guimaräes (Portugal). —> Nymphaeum S. E.; Salus U.; Silonianae. J. M. Blázquez, 177 ff.

Luruni. Fundort Viseu (Portugal). J. Untermann, AEA 38, 19ff.

Macarius. Kelt. Gottheit; Fundort Lisouros (Portugal). J. M. Blázquez, 70.

Magie. Magischen Charakter tragen der Riesenphallus am südl. Tor der Zyklopenmauer aus dem 3. Jh. v. Chr. in Ampurias, der dop­

pelte Phallus mit Halbmond und Ei an der Eingangsmauer zum Forum von Caparra, 1. Jh., der dreifache Phallus am Forum von Clunia, über den keine Veröffentlichungen vorliegen. Die beiden letzten Stücke stammen aus röm. Zeit. Zwei phallische Rhytone mit obszönen Szenen stammen aus einem Grab in Ampurias zwischen 200 und 49 v. Chr.; eine Bronzefigur aus Sasamön (Burgos), eine Frau, die auf einem Phallus reitet, gehört dem 1. Jh. an. M. Almagro, Las necrópolis de Ampurias 1, 1953, 300f. Tafel XVI; J. M. Blázquez, Caparra, 34 f. Tafel X, 3; J. Martínez Santa-Olalla, APM 4—6, 1936, 218ff.

Die zwei Häupter am Turm von S. Magín (Tarragona), 200 v. Chr., entsprechen der in Volterra, Santa Maria de Falleri und Perugia belegten etrusk. Sitte, an den Stadttoren Menschenhäupter apotropäischen Charakters, zur Abwehr von Übeln, anzubringen. J. M. Blázquez, Latomus, 34f.; Problemas de la Prehistoria y de la Arqueo­ logía Catalanas, 1963, 125f.

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Magie

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Magischen Charakter besitzen wohl auch die Tierdarstellungen, auf denen die Losungen der Gastfreundschaft aufgeschrieben wurden :

Das Stierhaupt im Museo Arqueológico Nacional in Madrid und Sasamón (Burgos), der Stier oder Eber in der Sammlung des Marqués de Cerralbo, der Stier in derselben Sammlung, das Pferd in der Real Academia de la Historia, die Eberhaut ebendort, der Eber in Herrera de Pisuerga aus dem Jahr 14. n. Chr., die iber. Losungen, der Delphin in Cáeeres und der Fisch in der Cerralbo-Sammlung.

J. M. Blázquez, Primer symposium de Prehistoria de la Península Ibérica, 1960, 338f. ; M. Gómez Moreno, Misceláneas, 205ff. ; 310ff. ; M. Lejeune, Celtibérica, 1955, 65ff. ; A. Tovar, Emérita 16, 1948, 75ff. ; Prim. Leng. Hisp. 170ff. ; A. D-Ors, Epigrafía jurídica de la España romana, 1953, 367ff.; A. García y Bellido, BRAH 159, 1966, 149ff. Magischen Charakters sind auch die Darstellungen des Lebenshaumes auf drei Ringen aus La Aliseda und einigen Gürteln aus Carmona (die Technik dieser Bronzestücke ist etruskisch, aber die Verzierung entspricht dem Schmuck auf den Bildnisgefäßen, die gegen Ende des 9. Jh. v. Chr. in Nordsyrien hergestellt wurden).

J. Cabré, MMAP 5, 1945, 130 Tafeln XXXVI-XXXIX. Eine Stelle bei Livius (28,22,9; cf. App. Hisp. 33), die die fürchter­ lichen Verwünschungen der Einwohner von Astapa gegen die auf Befehl der Götter ergriffenen Verräter erwähnt, gibt zweifellos ma­ gische Formeln (—> Götter, einh.), und zwar die einer bedingten devotio, die sofort in Kraft tritt, wenn der Wächter seine Pflicht ver­ säumt. Die iber. —> Unterweltgötter wurden wie die Nemesis und die numina nur durch bestimmte Formeln zum Eingreifen be­ wogen und rächten wie diese die Pflichtversäumnis. Eine weitere magische Formel für das Eingreifen der Unteren Mächte findet sich in einem anderen Text bei Livius (27,17 ; cf. Polyb. 10,37), wo er berichtet, wie Indibil die Götter anruft, damit sie den General der Karthager bestrafen, der sie verraten hatte (—> Götter, einh.). Dies ist ein Fall einer Straf-dewfio. Zwei weitere Fälle sind, wenn auch nicht ausführlich, bekannt. Im Jahr 151 v. Chr. veranstaltete Lucullus heimtückisch ein Blutbad unter den Einwohnern von Cauca. Diese „riefen die Verträge und die sie bezeugenden Götter an“ (App.Hisp.52). Dasselbe taten im gleichen Jahr die Lusitanier bei Galbas Verrat (App.Hisp.60). (—> Götter, einh.).

Magische Formeln, die jemanden lebenslang mit einer Person ver­ banden, liegen zweifellos im Falle der devoti oder soldurii vor ; diese Gefolgsleute töteten sich selbst, wenn ihr Herr in der Schlacht fiel (Caes. BG3, 22; Dio Cass. 53, 20, 2; Strab. 3, 4, 18; Plut. Sert. 14;

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Magie

Val. Max. 2, 6, 11; Serv., Ad Georg. 4, 218). In der devotio ibérica ist ein religiöses Element enthalten; man gibt das eigene Leben hin, um die Rettung eines anderen zu erreichen. So war es bei Sextus Pacuvius Taurus, der sich für Augustus aufopferte und anderen riet, in Nachahmung der Iberer dasselbe zu tun (Dio. Cass. 53, 20, 2). Dies unterscheidet die soldurii von anderen Abhängigen. Die Auffassung setzt den Glauben an eine Todesgottheit voraus, deren Eingreifen den Tod des Gefolgsherrn verhindern kann. Durch magische Elemente konnten die Unteren Götter gezwungen werden, das Leben des Soldurius statt des Lehens seines Anführers an­ zunehmen. Das Ritual des Vertragsschlusses zwischen dem Menschen und den Unterweltgöttern ist unbekannt. Das religiöse Element unterscheidet die iberische devotio von anderen Formen der Waffen­ brüderschaft. Die devotio brachte die Verbindung zwischen einem Menschen und den Göttern der Unterwelt zugunsten einer dritten Person zum Ausdruck. J. M. Blázquez, Primer Symposium de Prehistoria de la Península Ibérica, 319 ff.; J. Ramos y Loscertales, AHDE 1, 7 ff.; F. Rodríguez Adrados, Emérita, 183 ff.

Eine magische Verbindung mit ihren Waffen scheint bei manchen hispanischen Stämmen bestanden zu haben. Dies ergibt sich daraus, daß die Hispanier im allgemeinen nicht einwilligten, ihre Waffen auszuliefern. So stellten sich die Keltiberer im Jahr 206 v. Chr. zwar dem Vertreter Roms zur Verfügung, gaben aber ihre Waffen nicht ab. Sie wurden ihnen belassen (App.Hisp.31), und wenig später zwang Scipio auch die Ilergeten nicht, ihre Waffen zu übergeben (Liv. 28, 34). Im Jahr 195 v. Chr. nahmen sich viele Einwohner nördlich des Ebro das Leben, um nicht von Cato entwaffnet zu werden (Liv. 34, 17). Im Jahr 140 v. Chr. (Diodor 33, 16) kam kein Friedensschluß zwischen Römern und Keltiberern zustande, weil diese ihre Waffen nicht abgeben wollten; im Jahr 139 v. Chr. unter­ zeichnete Viriathus den Friedensvertrag nicht, weil die Iberer ihre Waffen behielten (Dio Cass. fr. 75). Durch diese Texte ist erwiesen, daß die Menschen eine wahrscheinlich magische Bindung an ihre Waffen besaßen, deren Bruch zum Verlust ihres Lebens führte. Bei anderen Gelegenheiten verübten sie Selbstmord, um nicht in die Hand des Feindes zu fallen, z. B. im Jahr 141 v. Chr. Tanginos Anhänger, um nicht Pompeius ausgeliefert zu werden (App.Hisp.77). In den Jahren 138—136 v.Chr. brachten die Mütter der Bracarer ihre Söhne um, damit sie nicht in Gefangenschaft fielen (App.Hisp. 72). Ein Sohn gab auf Befehl seines Vaters der ganzen Familie den

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Mandiea

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Tod (Strab.3,4,18). Auf Anweisung ihres Führers ging im numantinischen Krieg die Anhängerschaft des Rhetogenes Karaunius in den Tod (Val.Max. 3,2,7). Sogar von einer ganzen Stadt wie Astapa wird am Anfang der röm. Eroberung dasselbe berichtet (Liv. 28,22). All diese Vorkommnisse können auf dem Gedanken beruhen, daß man sich bei der Berührung mit dem Feind verunreinigt. Magischen Charakter besaßen auch die Maskenfeste mit dem Hirsch als Hauptdarsteller, die Tänze, Mythen und Riten des —> Stier­ kultes und das Trinken von Pferdeblut bei den Concanos; (^-Hirsch­ kuh; Opfer). Magisch ist auch der -> Kulttanz vor einem ithyphallischen Numen in Liria sowie der von Plinius (NH 8, 130) für das antike Hispanien genannte Brauch, das Hirn der in den Amphitheatern geopferten Tiere zu verzehren. Der Jagdmagie sind die zahlreichen Hirsch- oder Pferdedarstel­ lungen auf den galicischen Petroglyphen aus der Bronzezeit und späteren Epochen zuzuschreiben, z. B. in Campo Lameiro, Paredes, As Fragas, Fentans, Lornibo de Costa, San Jorge de Sacos, Santa Maria de Sacos, Lugar de Costa, Pazos de Borbeu, Montecelo.

A. Blanco-C. Paratcha, CEG 19, 1964, 129ff.; R. Sobrino, Corpus petroglyphorum Gallaeciae, 1935, Abb. 15, 21 — 24, 38, 47—48, 51, 54—55, 58—59, 61, 64-65, 69-73, 94-95, 120-125, 133-134. —>Menschenopfer; Opfer; Verwünschungsmagie.

Mandiea. Fundort Ponferrada (Leon). J. M. Bläzquez, 61 f.

Mandiceus. Fundort Sintra (Portugal). J. M. Bläzquez, 62.

Menschenopfer. Die Lusitanier brachten häufig M. dar. P. Crassus, im Jahre 95/94 v.Chr. Prokonsul der Provinz Hispania Ulterior, hatte erfahren, daß die Bletonier (unweit Salamanca) ihren Göttern Menschen opferten. Er wollte die Anführer bestrafen; aber sie brachten vor, sie wüßten von keinen Gesetzen, die solche Opfer verböten, und Crassus entließ sie (Plut., Quaest. rom. 83). Bei Strabon (3,3,6) sind M. bestätigt. Bei den Lusitaniern erforderte die Wahrsagung M. Auch zur Besiegelung von Verträgen wurden M. dargebracht (Liv. Perioch. 49). Die Stämme im N. Hispaniens opferten einem mit Mars gleichgesetzten einheimischen Gott (—> Cariociecus) Gefangene (Strab. 3, 3, 7). Ebenso erwähnt S.Martinus v. Bracara (De correct. rust. 8) M. bei diesen Stämmen. Die M.

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Menschenopfer

hatten in Hispanien wohl den gleichen Charakter wie in Gallien. Cäsar (BG 6, 16) erfaßte diesen sehr gut: qui sunt adfecti gravioribus morbis quique in proeliis periculisque versantur aut pro victimis homines immolant aut se immolaturos vovent . . . quod pro vita hominis nisi hominis vita reddatur, non posse aliter deorum immortalium numen placari arbitrantur. Den gleichen Gedanken bringt auch Cicero zum Ausdruck (Pro Font. 10, 21). Er ist grundlegend für die Deutung der religiösen Wurzeln der -> devotio ibérica. Bei den Kelten (->Mythol. der Kelten S. 153ff.) waren die M. vorwiegend Erlösungsriten, wie sich eindeutig bei verschiedenen klassischen Autoren erkennen läßt (Lac. Plac. Com. St. Th. 10, 793; Serv. ad Aen. 3,57), ebenso bei den Sueven (Tac. Germ. 34). M. bei der Grundsteinlegung von Bauwerken sind wahrscheinlich bei einem Haus der iber. Stadt Archena (Murcia) belegt. Bei vier in der iber.-phöniz. Nekropole El Acebuchal (Carmona, Sevilla) gefundenen Gräbern liegen alle Anzeichen dafür vor, daß die darin bestatteten vier Menschen rituelle Opfer waren. Auf allen Skeletten lagen große Steine, vor allem auf den Köpfen. Die Schädel waren zertrümmert, die Skelette gekrümmt, die Hände lagen auf den Gesichtern. Es handelt sich nicht um Gefangene oder Ver­ brecher, denn die rechteckigen Gruben sind sorgfältig aus Steinen und Ton gemauert, es fanden sich reiche Grabbeigaben von Käm­ men und Elfenbeintäfelchen, die die Datierung der Gräber ins 7. bis 6. Jh. v. Chr. ermöglichen. In der Nekropole von Baelo (Bolonia, Cádiz) fanden sich 16 Kinder­ skelette, teils mit Flachziegeln bedeckt, teils in Amphoren. Außer­ dem wurden 15 Skelette von Erwachsenen entdeckt, die, nach der Lage zu schließen, eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Es scheint, als seien sie kopfüber in die Grube geworfen oder zu Boden gestürzt worden. Manche saßen fast, andere hatten die Beine an­ gezogen und die Hände auf den Bauch oder den Mund gelegt. Gegenstände des persönlichen Gebrauchs befanden sich nicht bei ihnen; an einem Schädel war das Stirnbein eingeschlagen. Sie scheinen aus dem 3. Jh. v. Chr. zu stammen. Bei diesen letzteren M. ist es im Hinblick auf die Entstehungszeit der Nekropole nicht sicher, ob es sich um rituelle Opfer handelt. Es ließe sich auch an Gefangene oder Verbrecher denken. Bei den M. von Carmona sowie von Baelo scheint ein Einfluß der phöniz. Religion vorzuliegen, denn im phöniz. Cádiz wurden bis in Cäsars Zeit M. dargebracht, wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Kult des Baal Hammon. Dies läßt sich aus einer Stelle bei Cicero schließen (Pro Balbo 43); er sagt von dem zukünftigen Diktator während dessen 779

Mentiviacus

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Amtszeit, im Jahr 61 inveteram quamdam barbariem ex Gaditanorum moribus disciplinaque delerit. Opfer; Semnocosus; Wahrsagen. J. M. Blázquez, 19ff.; Latomus 17, 1958, 27ff.; G. Bonsor, RA 2, 1899, 126 ff.; A. García y Bellido, Sefarad 24, 1964, 38 ff.; P. Paris, Fouilles de Bello 2, 1923, 91 ff.

Mentiviacus. Wohl eine -> Wegegottheit; mit diesem Namen sind zwei Altäre mit Inschrift aus dem 3. Jh. bekannt; einer stammt aus Villacampo (Zamora), der andere aus Zamora. Vielleicht hat

der erste Bestandteil des Namens eine Entsprechung in dem gall. -mantalon, Weg (J. Pokorny, Ind. Etym. Wort. 720). Der Stamm ment-, eine Variante von mant, ist belegt in der hisp. Namenskunde der Provinz Salamanca, in Familiennamen der Provinz Avila und erscheint in einem Stammesnamen aus der Gallia Cisalpina wieder: Mentovini (CIL V 7749; M. Albertos, Onomástica, 156). Er könnte auch mit dem indo-europ. men-, denken, in Verbindung stehen. Der Name endet auf die Nachsilbe iako-. J. M. Blázquez, 107 f.; CIL II 2628, 5649; EE VIII, 407; M. Gómez Moreno, Catálogo Monumental de España. Provincia de Zamora, 1927, 42; F. Santos, Instituto de Estudios Asturianos 23, 1954, 8f.

Mercurius Colualis. Der Adjektivstamm ist das indoeurop. kuel, drehen, das in hispan. Personennamen belegt ist (M. Albertos, Onomástica, 93). Goluali, das man logischerweise mit colus, Spinn­ rocken, in Verbindung setzen könnte, ist eine bis jetzt unbekannte Form. Zwei Inschriften aus Germanien (CIL XIII 7276—7) nennen Merkur den Häuslichen; dies scheint auf eine ähnliche Auffassung hinzuweisen, wie sie in der hispanischen Inschrift deutlich wird, daß nämlich Merkur ein Schutzgott der häuslichen Arbeiten ist. Der Altar stammt aus Salvatierra de Santiago (Cáceres), datiert

ins 3.Jh.v.Chr. M. Roso de Luna, BRAH 44, 1909, 121; M. Albertos, Zephyrus, 59f.

Mercurius Thorialis. Die Inschrift aus dem 2. Jh. auf einem Altar aus Lissabon weist auf eine Beziehung zu thorus = Ehe hin, eine in der röm. Welt jedoch nicht belegte Form. Dagegen gibt es in Griechenland Beiwörter für Hermes, die in die gleiche Richtung eines Gottes der Fruchtbarkeit, z. B. av^í0r¡p,o