Goethe: Der mythische Urgrund seiner Weltschau [Reprint 2018 ed.] 9783110840469, 9783110053401

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Goethe: Der mythische Urgrund seiner Weltschau [Reprint 2018 ed.]
 9783110840469, 9783110053401

Table of contents :
INHALTSÜBERSICHT
EINLEITUNG
ERSTES BUCH: DIE PSYCHISCHE SPHÄRE
ZWEITES BUCH: MENSCH UND KULTUR
DRITTES BUCH: WISSENSCHAFT UND KUNST
VIERTES BUCH: DIE KOSMISCHE SPHÄRE
ANHANG
ABKÜRZUNGEN
ANMERKUNGEN
NAMENVERZEICHNIS

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DANCKERT: G O E T H E / DER MYTHISCHE URGRUND SEINER WELTSCHAU

WERNER

DANCKERT

GOETHE DER

MYTHISCHE

SEINER

URGRUND

WELTSCHAU

BERLIN 1951 WALTER D E G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG • J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG • GEORG REIMER • KARL J. TRÜBNER • VEIT & COMP.

Archiv-Nr. 45 59 51 Satz und Druck: Meisenbach Riffarth & Co. AG., Berlin-Schöneberg

I

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EINLEITUNG

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1

3 1. T h e m a t i k • Begrenztheit historischer Deutungsversuche. 3 / Unzulänglichkeit der historischgenetischen Motivinterpretation. Erlebnisse sind nur Anlässe der Gestaltung. Vorstoß ins Unbekannte und Rückspiegelung uralter Bilderwelt. 3 / Überindividuelle Urerlebnisse, Antizipationen, symbolgestaltige Elementargefühle. 4 / Das Höhlenerlebnis: ein Archaismus. C. G. Jungs Archetypen. 4 / Goethes Symbolnetz und sein verborgenes Gravitationszentrum. 5 / Der Bezirk des Chthonismus. 5 / Urzeitliche Bewußtseinslage metamorphosiert. Goethe als Pelasger und Abendländer. 5 / Der sphärische Typus. Das Weltalter der Erdmutterreligion. 6 / Der Typus als Wurzelboden der Individualität. 6 / Goethe spricht als erster Abendländer die Metaphysik eines versunkenen Weltalters frei aus. 7 / Konflikte mit der Umwelt. 7 / Th. Mann über das Fragwürdige in Goethes Naturkindschaft. 7 / Innere Vereinsamung. 8 / Goethe steht gegen die Zeit. 8 / Fremdheitsgefühl. 9 / Hindeutungen auf die urtümliche Mutterschicht in Goethes Dichtung, Forschung und Lebensverfassung: Schiller, R. A. Schröder, G. Simmel, C. G. Carus, V. Hehn, A. Meyer. 9 / Drang zum Urständ. Goethe und Bachofen. 10/ Th. Mann, H.Vogel, K. Kerenyi,L. Klages, W. Deubel, C. A. Bernoulli über tellurische Züge in Goethe. 10 / Das Problem der Metamorphosierung „früher" Individual-Bewußtseins-Stufen auf „später" Kollektiv-Stufe. 11 / Polyphone Deutung. Das „tellurische" Grundthema und das „klassische" Gegenthema. 12 2. D a s G e g e n t h e m a : K l a s s i k 12 Klassik als immer neu gestellte Aufgabe. 12 / Daseinsgefühl des vorklassischen Menschen „heteronom": vorgeprägte Gehäuse und Sicherungen. 13 / Goethe erkennt die Ungesichertheit der menschlichen Existenz. Relativismus, Ironie, Standortwechsel, Schaukelsystem. Der klassische Indifferenzpunkt. 13 / Reinheit. 13 / Lieblingswort der Pietisten und Mystiker: PythagoräischeEinflüsse ? 14 / Durchbruch des klassischen Selbst- und Weltgefühls. Absetzung der Monas vom Kollektivum. 15 / Mikrokosmischer Selbststand. 16 / Die Gefahr der Verselbstung. 16 / Der Reinheitsgedanke ist nicht spezifisch klassisch. 16 / Pindars Wagenlenker: Symbol klassischer Zügelung und Meisterschaft. Dreingreifen, Zupacken. 16 / Der Bildhauer als Sinnbild plastischen Selbstschöpfertums. 17 / Klassik als Gleichgewichtslage. 18 / Trieb zur Selbstsetzung, Verdichtung, Verewigung. 18 / Mit sich selbst abrechnen. Der Wille zum Fertigsein. 19 / Meisterschaft. Besonnenheit. Vernunft zwischen Schicksal und Zufall sich fest behauptend. 20 / Das Klassische als bloßer Meisterschaftstitel (gut, tüchtig, gesund). 20 / Kehrseite des Willens zur Begrenzung: Verzicht auf Lebensfülle. 20 / Die Pyramide des Daseins emporspitzen. Von innen heraus leben. 21 /

V

Die besondere Lagerung der Goetheschen (und der deutschen) Klassik: Verzicht als Einsicht in die Schidcsalsstunde der abendländischen Kultur. 21 / Erfüllungen höchsten Ranges nicht mehr möglich. 22 / Klassik kulturmorphologisch gesehen: „Sündenfall der Individuation". Die späte Stunde der deutschen Klassik. 22 / Betonte Arbeitsgesinnung der deutschen Klassik. „Metaphysischer Voluntarismus". 22 / Goethes Aufrufe zur tätigen Weltgestaltung. 23 / Gefahren unbedingter Tätigkeit. 24 / Tätigsein als selbstverordnetes Heil- und Linderungsmittel. 24 / Das Tatbekenntnis des alten Goethe doppelsinnig. 24 ! Tat: Setzung eines totalen Anfangs. 25 / Die Konfliktzone zwischen Tellurismus und Klassik. 25 / Blumen- und Fruchtmotiv. 25 / Kunst und Natur. 26 / Kunst und Gesellschaft. 27 / Spätkonzeption des Klassischen. Überwindung des Apollinischen. 27 ERSTES BUCH : DIE P S Y C H I S C H E SPHÄRE

. . .

29

1. D a s Unbewußte 31 „Nachtwandlerisches" Schaffen. 31 / Das Fertigsein des Einfalls. 32 / Vertrauliche Zwiesprache mit dem Unbewußten. 32 / Das Unbewußte und das Dämonische. 33 / Die Rolle des Bewußtseins im Schaffensprozeß. 34 / Die exponierte Lage des Bewußtseins. 34 / Schiller und Goethe über den Anteil des Unbewußten an der Dichtung. 34 / Übernormale Bewußtseinshelle der letzten Schaffenstage. 35 / Goethes letzter Brief. 35 / Das Gleichnis vom brennenden Kohlenmeiler. „Tätiges Vergeisten". 37 / Organische Bildekraft und Geistesflamme. 37 / Weberei als Gleichnis des schöpferischen Vorgangs. 37 / Lieder - Weben, Lieder - Spinnen. 38 / Fülle und Polyphonie des BildDenkens. 38 / Die unbewußte Webekraft des Lebens. 39 / Der Erdgeist als mächtiger planetarischer Webe-Dämon. 39 / Das Dämonische und die moralische Weltordnung als webende Gegenspieler. Zettel und Einschlag. 40 / Leben und Tod im kosmischen Gewebe. 40 / Die Natur als große Weberin. 40 / Das Wirken der Idee im Webegleichnis. 40 / Spinnende und webende Naturmütter und Schicksalsfrauen im Mythos. 41 / Goethe traf intuitiv „das alte Wahre". 41 / Die Todesseite des Spinn-Symbols. 42 / In den pftänzerischen Primitivkulturen werden fast alle Artefakte „gewebt". 42 2. S t i l l e 42 Die Sphäre des inneren Wachstums. 42 / Stille: Leitwort des Klassizismus? 43 / Sich vor der Welt verschließen. Die Lebenskrise der siebziger und achtziger Jahre. Erhöhte Introversion. 44 / Stille: die unumgängliche Voraussetzung organischen Reifenlassens. Das Zuständliche der Dichtung. 44 / Briefstellen 1775-88. 45 / Heroische Idyllik. 46 / Der Mensch als Pflanze. 46 / Welt - Erleiden. 48 3. P r o t e u s 48 „Lunarischer" Gestaltwandel. Held und Komödiant. 48 / Lust an der Verkleidung. 49 / Reisen in Geheimnis gehüllt. 49 / Verkleidung, Mummenschanz. Maskentreiben in Goethes Dichtertum. 49 / Verstellung als Handwerk. Maske und Schein. 49 / „Die Welt der Phantasien, Ahnungen, Erscheinungen, Zufälle und Schicksale". 50 I Goethe bekennt seinen „realistischen Tic". 50 / Der innere menschliche Gehalt soll rein wirken. 51 / Jugend- und Verjüngungskräfte. Proteus ein Wasserwesen. 51 / Proteus: Symbol der Natur. 51 / Leben, Werden, Metamorphose. 52 / Der proteische Trieb. 52 VI

4. S p i e l

52

Der Gedanke des Spiels bei Schiller: ein Letzt errungenes. 52 / Für Goethe ist die spielende Haltung Voraussetzung des Schöpfertums. Die leichthändige Art des jungen Goethe. 52 / Das Improvisatorische seines Dichtens. 53 / Der Charakter der Leichtigkeit. Vollendete Kunst muß wie improvisiert erscheinen. 53 / Wissenschaftliche Spiele. Widerwillen gegen das Nur-Professionelle. 53 / Spielende Arbeit. 54 l Vorrang der Blüte vor der Frucht in Goethes Kunstlehre. 55 / Die spielend schaffende Natur. Ablehnung der Teleologie. 56 / Liebesspiel der Schöpfung. 57 / Toblers Prosahymnus „Die Natur". „Spiel, dem es bitterer Ernst ist". 57 / Vertritt Goethes Spielgesinnung den tellurischen Typus? 58 / Ältere tellurische „Spiel"-Formen. 58 / Das Improvisatorische und die psychische Gelöstheit, Weltoffenheit. 58

5.

„Weibliche" Züge

59

Der saugende Weltblick. 59 / animula vagula. 59 / Empfängnisbereitschaft: Panoramic ability. Rezeptive Einbildungskraft. 59 / Das weibliche Element: reizbares Wirklichkeitsgefühl. 60 / Der Schaffensrhythmus des chthonischen Typus: Empfängnis und Ausgebären. 60

6. D a s G ö t t l i c h e

Kind

61

Wechselbezüge zwischen dem Weiblichen und dem Kindhaften. 61 / Der biologische Zusammenhang. 61 / Goethes Gefühl der Schutzbedürftigkeit. 62 / Werdelust und Fertigsein. 62 / Kindlichkeit. Erzwungene Verhärtung 63 / Die Kategorie des Kindhaften in Goethes Forschung und Dichtung. 64 / Genius als keimträchtige Werdekraft. 64 / Vorrang des Werdens in der Natur. 64 ! Werdende Farben. 64 / Natur: das ewige Werden. 65 / Der Genius als Kind. 65 / Die Kinderszenen im „Werther". 65 / Die „Novelle". 66 / Kindheit bedeutet Ursprungsnähe, Reinheit, Urständ. Fausts Letheschlaf. 60 / Knabe Lenker, Euphorion, Mignon, Homunkulus, der kindliche Genius in der Zauberflöte II. Teil. 66 / Knospenhafte, ideelle Frühformen. Das Absolute als Kind. 67 / Die unmündigen Knaben im Faustschluß. 68 / Ein Urgedanke aus Eleusis? Bachofen über das antike Bildmotiv der Urnengeburt. 68 / Ursprungsnähe. Das Ideelle des Jugendhaften. 69 / Das Göttliche Kind: geoffenbarter Sinn des Lebens. 70

7. F o l g e

70

Bedeutungsfülle des Worts. 70 / Kontinuität. 70 / Das empirische, reine und wissenschaftliche Phänomen. Ihre Klimax: gesteigerte Kontinuität. 72 / Atmosphäre und Wolken als Sinnbilder des „Übergänglichen". 72 / Das Folgerechte, Willkürlose, Notwendige. 73 / Organische Entwicklung. 73 / System: Gegenbegriff zu Folge. Es gibt nur relative Absonderung vom Lebensganzen. 74 / Der Grundsatz der Stetigkeit. 75 / Folge (Eingliederung in Gesamtschau) als Bürgschaft der Wahrheit. 75 / Geniales Wirken hat Folge. 76 I Folge im Handeln. Stilles Tun. 76 / Abneigung gegen das Gewaltsame, Sprunghafte. 77 / Neptunismus. 77 / Gewalt und Folge. 78 / Folge als Konsequenz, ruhige Ausdauer, beharrliches Tun. 79 / Folgerichtigkeit, fruchtbare Strahlkraft. 79 / Das Lebensganze als Folge. 80 / Folge als fortzeugende Überlieferung. 81 / Der Mensch als vorsorgendes Wesen. 81 / Folge als verewigte Gegenwart. 81 / Ausblick in die Transzendenz. 82 / Ursprung von Goethes Folge-Begriff. Anreger: Leibnizens lex continui, Infinitesimalrechnung.

VII

Gedankenwelt der Theosophen und Alchemisten. Encheiresis naturae. Aurea Catena Homeri. 82 / Harmonie universelle. 83 / Kein Bildungs-, sondern UrErlebnis. Sphäre, Sfumato im alten Chthonismus. duranki der Sumerer. 84 / Das Weltgefühl der Kontinuität im abendländischen Italien und bei Jakob Böhme. 85 / Das andersgeartete Weltkontinuum des Transzendentalismus. 85

8. Z u g a n g z u m ü b e r s i n n l i c h e n

85

Tragen Goethes „übersinnliche" Erlebnisse Signatur seines Weltbegegnens? 85 / Vorurteilslosigkeit. 85 / Goethes Stellung zur romantischen „Nachtseite". 86 / 87 / Zwei TodesDie beiden bekanntesten Fälle Goetheschen .Jlellfühlens". vorahnungen. 87 / Bleiben Goethes „okkulte" Erlebnisse innerhalb der Grenzen des Irdischen und Menschlichen? 87 / Das Erlebnis vollendeter Entpersönlichung vom Jahre 1801. 88 / Die große Diastole. 88 / Übersinnliche Erlebnisarten und ihr Zusammenhang mit dem Grundaufbau der Personalität. 88

ZWEITES

BUCH:

1. A n t h r o p o l o g i e

MENSCH

UND

KULTUR.

.

.

89 91

Stellung des Menschen im Kosmos. 91 / Der Mensch als Erdwesen. 91 / Das Tier als ein Mittleres zwischen Mensch und Gott. 91 / Mensch und Tier. Goethe als Begründer der vergleichenden Morphologie. 91 / Aufrechter Gang kein Zufallsergebnis des Milieus. 92 / Die „kleine Menschenwelt" in der Tierfabel. 93 / Armseligkeit des Menschen. 93 / Verstrickung, Verworrenheit. 95 / Gegen Kants moralische und intellektuelle Unmündigkeitserklärung des Menschen. 94 / Das Beharrende im Menschen. 94 / Die schöpferische Seite der Prometheus, Symbol des Selbstschöpfertums. 94 / Prometheus in Kultur. „Pandora". Das hälftenhafte, unvollkommen polarisierte Wesen. 95 / Leidende Vernunft. 96 / ,yDas Angeborene". Weltoffenheit. 96 / Kulturelles Schöpfertum wurzelt im Glauben. Der Mensch als das göttergewahrende Wesen. 96 / Die Möglichkeit der Selbstvergottung. 97 / Preisgegebenheit, Vergänglichkeit. 98 / Tätige Selbstvollendung der Monade. Der Mensch als Wurf nach einem höheren Ziel. 98 / Herder über die Erde als Schule. 99 / Problematik des Menschentums. Verfremdung im Kreislauf des „Immergleichen". 99 f Dasein ist Pflicht. 100

2. R a u m

101

Goethe über den Blutkreislauf: Bedeutung der Peripherie gegenüber dem Zentrum. Symbolisches Selbst - Erleben. Umfaßtheit. 101 / Die Lehre der neueren Kreislaufforschung vom peripherischen Herzen. 101 / Die um sich selbst kreisende Monade. 102 / Ichgefühl und Weltgefühl. 102 / Raum-Erleben. 103 / Der sphärisch gebaute Raum. 103 / Ablehnung der Stufen-Lehren und Emanationssysteme. 104 / „Schweben". 104 / Sich zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen hin- und herwiegen. 105 / Sphärische Raumvisionen. Gewölbe. 105 / Das mikrokosmische Symbol der Höhle. 106 t Die Felsenhöhle als Symbol der Urgeschichte. Galateas Bewahrung in der Höhle. 106 / Das sphärische Welterlebnis vorzeitlich. Symbol der weiblichen Kulturlinie. 106 / Das morgenländische Symbol der Welthöhle (Spengler, Frobenius) ist mit dem sphärischen Geborgenheitserlebnis nicht zu verwechseln. 107 i Haus, Zimmer, Schrein, Kasten: Bilder der weiblichen Aufnahmefähigkeit und des mütterlich Bergenden. 107 / Das Kästchensymbol in Goethes Dichtung. 108

VIII

3. Z e i t l i c h k e i t

109

Erfüllung des Augenblicks. Genuß der werdenden Zeit. 109 / Die Forderung des Tages. Ewige Gegenwart. 110 / Der verderbliche Vorgriff in die Zukunft. 111 / Das Leben in ewiger Gegenwart: klassische Forderung. 112 / Das Zeiterlebnis des Hier und Jetzt im Römertum. 112 / Heiligsprechung des Augenblicks in Goethes „pindarischer" Lyrik. 113 / Rückschau in die Vergangenheit. 113 / Ineins-Empfindung von Vergangenheit,und Gegenwart. 114 / Vergangenheitsbetonung. 114 / Überwältigung des epimetheischen Urelements. 115 / Das Hades-Problem. Totenbeschwörung. Rückspiegelung. Der Mythos der Lebenserneuerung. 116 / Die Zeit als Puls und Kreislauf. 116 / Das Gerundete, Kreisende in Goethes Dichtersprache. 116 / Kreislauf im Alltagsgeschehen. Der Tageskreis. 117 / Der Fünf-Tage-Zyklus. 117 / Die großen fünf Tage des Lebens. Wiederemportauchen kindhafter Bewußtseinslagen im Greisentum. 118 / Die Jugend muß immer wieder von vorn anfangen. 119 / Zyklischer Ablauf der Geschichte. 119 / Denkzwang? Goethe und Vico. Kreislauf und Steigerung. 119 / Zyklisches Schema der Wissenschaftsgeschichte. 120 / Phantasiebegabung der Frühzeit. Die Aufklärung als Tiefpunkt. 121 / Sind die vier Phasen des Wissenschaftskreises Weltalter? 121 / Goethes esoterische Weltalterlehre. 122 / Zyklische Elemente in allem Werden und Wiedervergehen. 123

4. K r e i s l a u f - S y m b o l i k ( K r e i s - D e n k e n )

123

Kreisdenken als existentielles Problem. 123 / Der Kreislaufgedanke als heuristisches Prinzip. 123 / Kreislauf im Wachstum der Pflanze. 123 / Farbenkreis. 124 / Die Farbenlehre als Spinnennetz. 124 / Temperamenten-Rose. Gespräch als Gedankenkreis. 124 / Der Gedankenkreis als Sinnbild der Ganzheit. 124

5. E r z i e h u n g u n d B i l d u n g

125

Selbststeigerung und Selbstvollendung. 125 / Bildung ist ein Errungenes, das seinen Preis (an Vitalität) fordert. Naturaustreibende Erziehung macht philiströs. Bildung als „Gefängnis". Entsagung. 126 / Goethe als Erzieher und Bildner. 126 / Alle Fähigkeiten sind angeboren. 127 / Uniform verdeckt den Charakter. Die Utopie der Allgemeinbildung. Universalismus in der Beschränkung. 128 / Stellungnahme gegen Pestalozzi. Gegen die einseitige Ausbildung der analytischen Verstandeskräfte. 128 / Kult leerer Zahlen und Formen. 129 / Keine fertigen Ergebnisse vorweisen. 129 / Bild-Empfänglichkeit. Pflege der Phantasiekräfte. 130 / Verbote sind fragwürdig. Positive Erziehungsreize. 130 / Privatisierung des Erziehungswesens. 130 / Bildung als Wachstum. 131 / Die gemeinschaftsbildende Sphäre. 131

6. S i t t l i c h e s ,

Moral

132

Rationalismus und Moralismus des 18. Jahrhunderts. Das Moralische: der letzte verbleibende Zugang zum Göttlichen. 132 / Die weltverengende Ansicht, die Ideelles nur unter der moralischen Form erblickt (Lavater, Jacobi). 132 / Verselbständigung des Moralischen bei den Transzendentalist en. Das „moralische Organ" des Hemsterhuis. 132 / Willensfreiheit und Selbstvergottung. 133 / Goethe leugnet das Böse als metaphysisches Absolutum. 133 / Sittliches Empfinden eine natürliche Mitgift, dem Schönheitssinn verwandt. 135 / Moral als ,,Friedensversuch". 136 / Sittlichkeit und Sinnlichkeit.

IX

Das Sittliche dem Ästhetischen verwandt. Sinn für Ganzheit. 137 / Abgespaltene Moralität ist kulturlos. Das Sittliche übergreift das Sinnliche und wohnt ihm inne. 137 / Das Sittliche, umfassender als das Moralische: dem chinesischen tao verwandt. Ethoslehre. 138 / „Jedes reine Bemühen ist Zwedc sein selbst." 138 / Das moralische und das extravagante (aber nicht unsittliche) Genie. 138 / Das Gehörige des Augenblicks. 139 / Positives Tun. IndividualEthik. 139 / Tätige Selbstgestaltung ist zugleich Mitarbeit an der Verwirklichung des Weltsinns. 140 / Goethes Ethos zweischichtig aufgebaut. 140 / Klassischer Rigorismus, Entsagung. 140

7. K o n s t e l l a t i o n ( F r e i h e i t u n d S c h i c k s a l )

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.

. 141

Goethes Stellung zum Problem der Freiheit in der Beleuchtung des transzendentalen Idealismus. 141 / Goethes Freiheitserlebnis: Freiheit des SichBildens. 141 / Menschliche Bildungs-Freiheit und das kosmische Prinzip der „Steigerung". 142 / Die Schicksalsergebenheit des Heidentums. 142 / Freiheit des Willens tief fragwürdig. 142 / Das heilige, dämonische, mütterlich leitende Schicksal. 143 / Das Wollen ist der Gott der neuen Zeit. 144 / Nur der Entsagende hat Freiheit. 144 / Wahlfreiheit im Alltäglichen. 145 / Die „ungeheure Bewegung der Zeit". 145 / Urfrevel: Hinausdringen über die Grenze der Individualität. 145 / Moralischer Ausgleich: Selbstbestrafung, Nemesis; Eingreifen des ,,Dämonischen". 145 / Schicksalsergebenheit und Gottergebenheit. 146 / Charlotte v. Stein als Inkarnation des Schicksals. 147 / Goethe und der Islam. 147 / Das Schicksalsgefühl des Islam entspringt aus uralten Erlebnissen der Gestirnabhängigkeit. 147 / Konstellation und Konstitution. 148 / Der magische Rausch als Doppelbeziehung zu Firmament und Totenreich. 148 / Der „Stern der1 Stunde". 149 / Makarie, das gestirnverwandte Wesen. 149 / Goethe lehnt die handwerklich betriebene Astrologie als Tagewählerei und Vorschau ab. 150 / Das „dunkle Gefühl eines ungeheuren Weltganzen". 150 / Kosmische Hypothesen im Gespräch mit Falk. Symbolbeziehung des Uranus zum Menschenhirn. Werdende und abgestorbene Gestirne. Die Erde als ein von der Sonne abgefallenes Gestirn. 150 / Die gesellschaftlichpolitischen Mächte als Vollstrecker von Kollektiv-Schicksalen. 151 / Ich-entspannter Fatalismus. Pelasgisches Schicksalserleben. 151 / Der römische FatumGedanke. 152 / Schicksalsgefühl und siderischer Weltaspekt. 152

8. D a s T r a g i s c h e

153

Vorwaltende Auffassung des Tragischen im Abendlande: transzendental. 153 ! Shakespeares Akosmismus: götterlose Natur, gnadenloses Aufsichselbstgestelltsein des Menschen. 153 / Das Tragische: injustum und praemiturum. 154 I Bedingungsloses Ausgeliefertsein. 154 / Goethe lehnt den „rein tragischen Fall" ab. Konzilianz. 155 / Milderungen und versöhnliche Zusätze. 155 / Individual - Tragik akosmistisch: Leugnung des Weltsinns. 155 / Ausweglosigkeit im Irdischen, Rettung im Überirdisch-Visionären. 155 / Ausbleiben der Tragödie in Italien. 156

9. W i e d e r g e b u r t

157

Verjüngung, „wiederholte Pubertät", „radikale Wiedergeburt". 157 / Verjüngte Sprache und Dichtung. 157 / Das Wiedergeburtserlebnis der italienischen Reise. 158 / Die Eindrücke auslöschen. 158 / Lethe- und Verjüngungsmotive in Goethes Dichtung. „Selige Sehnsucht", Faust. 158 / Lethemotiv im Werther, Wilhelm Meister, Egmont. 160 / Wiedereinkörperung (Palingenesie). Triviale

X

Unsterblichkeits-Betrachtungen abgelehnt. 160 / Unzerstörbarkeit des AllLebens. Der Tod vom Leben verschlungen. 160 / Das Dionysische. Memento vivere. „So überwältigt Fülle den Tod". 161 / Dionysische und orphische Vorstellungen. Das Grab der Tänzerin. Tragödienbruchstück „Prometheus". Sterben als vollendender Gamos. Wiederaufleben. 162 / Der Kreislauf des Wassers als Sinnbild der Wiedergeburt. Erdleben und jenseitiges Dasein als Systole-Diastole der Monas. 162 / Der Bund mit Charlotte v. Stein als gemeinsames Wiederaufleben erloschener Lebensfunken gedeutet. 163 / Erlebnisse des déjà vu auf italienischem Boden. 163 / Seelenlicht. 163 / Die innere Sonne. 164 / Die entelechische Monade. Ihre innere Einheit und Weltständigkeit. 164 / Goethes Monadenbegriff; Einflüsse von Leibniz, G. Bruno, Schelling, Aristoteles. 165 I Leibnizens in sich gekehrte, weltlose Monaden. 165 / Goethes Monas ist nicht „fensterlos". 165 / Rastlose Tätigkeit der Monaden. 166 / Monaden sind rangverschieden. Macht und Subordination. Übergreifen und Übergriffenwerden: eine Erfahrung aus der Welt des Organischen. 166 / Untergeordnete und höhere Monaden. Das Geheimnis zukünftiger Bestimmung. 167 / Wiedergeburt nach Verdienst und Rang. Standhaftigkeit und Treue im gegenwärtigen Zustand erwirkt die höhere Stufe des folgenden. 167 / Goethes „Dämonologie". Zur individuellen Unsterblichkeit sich hindurcharbeiten. Das Schicksal des „Monadenpacks". 167 / Die Frage nach der Fortdauer des Individualbewußtseins. Anamnesis: dunkle Erinnerung eines abgelaufenen Zustandes möglich. 168 / Leben auf anderen Planeten. Die Monaden: selig mitschaffende Kräfte. 169 / War der Reinkamations-Gedanke für Goethe eine angebildete Lehre? Burdachs Annahme. 169 / Die Seele als Stern: Piatons Timaios. 169 / Plotin als Anreger? 170 / Empfing Goethe die Astraltheorie durch Vermittlung der magisch-theosophischen Überlieferung? 170 / Der Palingenesie-Gedanke in der Aufklärung. 170 / Giordano Bruno lehrt die Metempsychose der Monaden. 171 / Reinkarnation: religiöser Urbesitz der Menschheit. Lunar-Mythologie. Phönix-Mythos. Sterbende und wiedererstehende Götter. Eleusis. 171 / Ei-Symbolik, Eiförmige Skeletturnen und Ovalgrabanlagen des Mittelmeerkreises. Vaginalform der Grabstätte. Höhle. 171 / Hockerbestattung: Embryonalläge. Hausbestattung. Ahnenkult und Ahnennische. 172 / Völkerkundliche Parallelen. 172 / Ablösung der dithonischen Wiederkunftslehren durch uranische ]enseitsvorstellungen. Wandelloses Sein. Erlösungsreligionen. 172 / Wiederentdeckung des Rades der Geburten im nachvedischen Indien und durch abendländische Transzendentalis t en. 172 / Goethe fand seinen eigenen Zugang. 173 1 0. G e s c h i c h t e 173 Zwiespältige Gefühle. Geschichte das undankbarste und gefährlichste Fach. Ihre „düsteren Regionen". 173 / Nicht Aufzählung des Geschehenen, sondern Darstellung seiner Entwicklung. Kein rechter Ansatzpunkt für morphologisches Verstehen. 173 / Unsicherheit der Quellenlage. Ein Märchen im Anfang. Das Inkalkulable und Inkommensurable. 174 / Trümmerhaftigkeit. 175 / Sinnloser, gleichgültiger Stoff, Schutt der Überlieferung. Absurdität. Torheiten und Schlechtigkeiten. 175 / Die politische Geschichte als die große Folterkammer des Menschlichen. 176 / Fausts Vision vom „freien Volk auf freiem Grunde": symbiotische Urgesellschaft vor der Geschichte. 178 / Gefahren des Historismus. Tote, verwesende Vergangenheitsbürde. 179 / Gewöhnliche und mythische Überlieferung. 180 / Alexandrinertum, Vergreisung. 180 / Die französische Revolution als schicksalhaftes Verhängnis und Vorzeichen künftiger Kulturkrisen. 181 / Das 19. Jahrhundert: Anfang einer neuen Ära. 182 / Vorschau

XI

des großen Kataklysma. 182 / Plutonische Urgeschichte. Symbolik des Goldes. 182 / „Apprehension": Todes- und Verwesungsaspekt der Geschichte. 183 / Das Neu-Sehen. Das Urständig-Produktive, Schöpferische der gläubigen Zeitalter. 183 / Schöpferische Quellflüsse entspringen im zeitlosen Naturreich. 184 / Urgeschichte in der Geschichte. 184 / Die Mutterschicht der Geschichte. 184 / Antike, Mittelalter, Orient als „zweite Natur". Arkadien. 185 / Urgemeinschaften lebend in der Hut offener Naturlandschaften. Das geschlossene Leben der zivilisatorischen Wirkwelt. 186 / Das Goldene Zeitalter in italienischer' Dichtung und Musik seit dem 15. Jahrhundert. 187 / Der geschichtliche Prozeß verjüngt und erneuert sich aus dem Muttergrund des Urzeitlichen, Zeitlos-Natürlichen. 187 / Das Urständig-Produktive. Zivilisatorische Verkünstelung. 187 / Typen der urwüchsigen Menschheit: Althellas, Etrusker, Araber und Perser. „In Zelten leben". 188 / Der „reine Osten" als Verjüngungsquell. 189 / Die Geschichte: Sackgasse. 189 / Goethe neben Vico als Begründer der morphologischen (zyklischen) Geschichtsauffassung. Das Aufblühen und Wiederabwelken der Kulturorganismen. 190 / Begabung und Fähigkeit zum Historiker. Tendenz zum Genetischen. Sinn fürs Geschichtliche. Die „Materialien zur Geschichte der Farbenlehre": eine Wissenschaftsund Kulturgeschichte. 190 / Der fugenhafte Einsatz der abendländischen Nationen in der Wissenschaftsgeschichte. Kindheit und Alter der Nationen. 191 / Diagnose der zivilisatorischen Spätzeit. 192 / Der Bericht „Geistes-Epochen". Vier Hauptepochen im Geschichtsablauf, dazu Ur- und Endzeit. 192 / Urzeit. 193 / 1. Hauptepoche: Einbildungskraft. Volksglaube und Poesie. 193 / 2. Epoche: wache Religiosität (Theologie, Vernunft). 193 / 3. Epoche: Aufklärung, Verstandeskult, Utilitarismus, Moralismus. Auflösung der Kollektivbindungen. 193 / 4. Epoche: Zeitalter der „Prosa", der „gemeinen Sinnlichkeit". Zerstörung des Mythischen. 193 / Die Endzeit: Glaubensmischung, Auflösung. 194 / Das Schema des Gesamtablaufs. 194 / Vico und Goethe. Spenglers Übernahmen. 195 I Kulturen als Meta-Organismen. GruppenEntelechien auch in der Geschichte am Werk. Die Heroen eines Volkes als ihre bevorzugten Organe. 195

11. K r i t i k d e s T r a n s z e n d e n t a l i s m u s

195

„Gestaltlosigkeit" der modernen Kunst. Sogar die Idee des Naiven geht verloren. 195 / Kritik des nordabendländischen Transzendentalismus. 196 I Spielarten des transzendentalen Typus. 196 / Entformung. 197 / Goethe wittert in Kleist das Todessüchtige, den Trieb zum Entwerden. 197 / Das „Veloziferische". Alles transzendiert. 198 / Rückblick auf das Bündnis mit Schiller. Die Gefahr des „Veloziferischen", durch Vorgriff Unausgereiften. 198 / Schillers Plan einer idealen Idylle. Sentimentale Poesie kann nicht ohne naiven Grund bestehen. 198 / Das „Bodenlose" einer durchaus entsinnlichten Dichtung. 199 1 Die weltlose Philosophensprache. 199 / Transzendieren in den Wissenschaften. Atomistik und Mechanistik als Folgeerscheinungen. 200 / Weltaufspaltung und -Entwertung in Kants Philosophie. Das Leben als böse Krankheit. 200 / Goethes Kant-Assimilation der Jahre 1796—98. 200 / Ausbildung des Subjekts als Ergänzung und Berichtigung eines ,steifen Realism". Goethe polarisiert Kants Dualismus. 201 / Überwertigsein des Subjekts. Kants „gewaltsame Vorstellungsart". Sein Lehrgebäude eine „Zwingfeste". Subjektivismus und protestantischer Fiduzialglaube. 202 / Auf-sich-selbst-Gestelltsein der Götter in der nordischen Mythe. 202 / Das Land ohne Götter. Das götterlose Nibelungenlied. 203 / Zurückgeworfensein der Individualität auf das eigene Innere. 203 / Vereinzelung. Deutscher Individualismus. 203 / „Jeder fängt

XII

von vorn an". 204 / Gemeingeist in höheren Dingen fehlt. 204 / Steigerung des Subjektivismus in jüngster Zeit. 204 / Metaphysik der Freiheit in der deutschen Geschichte wirksam. 205 / Kants Freiheitslehre beruht auf Degradierung des natürlichen Menschen zum tierhaften. 205 / Freiheitsmetaphysik bei Fichte. Der Bakkalaureus. 205 / Das Abspaltende in Fichtes Art. 206 / Metamorphosen des Freiheitsgedankens bei Schiller. 206 / Flucht ins Gehäuse der Konvention: Gegengriff zum Überbreitungstrieb. Gefahr der Trivialisierung. Das Philiströse. 207 / Das Sentimentalische. 208 / „Sensuelle Exaltation". 208 / Der transzendentale Typus. 209 / Phorkyas: Symbol der nordisch-transzendentalen Welt. 209 / Die Transzendentalwelt als „zweite Natur". 209 / Erstes Auftreten des transzendentalen Typus im Westgermanentum und (zuvor) in Vorderindien. 210 / Goethes Stellungnahme zur indischen Philosophie. 210 I Widerwille gegen indische Plastik und hinduistische Götter. 210 / Goethes Abneigung wurzelt tiefer als in bloß klassizistischer Geschmacksbefangenheit. 211 / Das Formlose, Entformende, Expansive indischen Wesens. 211 / Eine Weltalter-Lehre als „Metahistorie". Goethe, Schelling, Bachofen, Frobenius, Spengler, Orfega y Gasset, Leopold Ziegler. Künftige Aufgaben. 212

D R I T T E S B U C H : W I S S E N S C H A F T U N D K U N S T 215 1. W i s s e n s c h a f t s l e h r e 217 Selbst-Erkenntnis . . 217 Die unnatürliche Blickrichtung auf die Denkakte. Vermeintliche Selbstgewißheit der Innenschau: ein Vorurteil des Rationalismus (seit Descartes). 217 1 Mißtrauen gegen den Spruch: ,¿Erkenne dich selbst 1" 217 / „Keine psychologischen Quälereien". 217 / Selbst-Erkenntnis nur durch Welt-Erkenntnis möglich. 218 / Der Mensch ein dunkles Wesen. 218 t Das Ich: der hohle Fleck im Gehirn. 218 / Selbsterkenntnis durch Handeln. 219 / Selbstbewußtsein: ein Mangelzustand. 219 / Heautognosie krankhaft. 219 / Schleier und Maske gehören zur Persona. Die Lehre von der Entindividualisierung. 220 / F.ntselbstende Wirkung der Kunst. 220 / Abneigung gegen Profilierung des inneren Schwerpunkts. Doppelstruktur des Ich. 221 I Sentimentalisten wie Schiller, Kleist, Novalis, R. A. Schröder1 über Goethes „naive" Bewußtseinslage. R. Steiner spricht Goethe die Selbstwahrnehmung ab. 221 / Das transzendentale Selbst: Gegentypus zu Goethes Ichform. 222 / Das Vorgreifende transzendentalischer Erkenntnislehre. Goethes fast „ichlose" Objektivität. 222 Subjekt — Objekt 222 Keine Vertiefung oder Verewigung der Kluft. 222 / Goethes „angeborener Realismus". 222 / Reine Schau. 223 / Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst. 223 / Das Erkenntnis-Vermögen ist kein Erkenntnis-Objekt. 224 / Mensch und Welt sind aufeinander abgestimmt. Aufschließen neuer Organe vom Gegenstand her. Auge und Licht. 225 / Das innere Licht. 225 / Antizipation. 226 / Gestirnverwandtschaft des Auges. Manilius, Plotin, Jakob Böhme. 227 / Gleiches wird nur von Gleichem erkannt. 227 / Antizipation als Anamnesis. 227 / Die antizipierte Welt. 228 / Das Schaukelsystem zwischen Idee und Erfahrung. 228 / Antizipation: Wünschelrute des Denkens. 228 / Eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung. 229 I Enthusiastische Reflexion. 229 / Die Wissenschaft „zwischen XIII

Natur und Subjekt". Objektive und subjektive Forschungsrichtung. Abneigung gegen künstliche Hilfsorgane. 229 / Keine Absonderung der Experimente vom Menschen. Die Sinne selbst Prüfer und Bewahrer der Phänomene. 230 / Bildhaftigkeit ist nicht bloßer Schein, sondern Erscheinung des Wesens. 230 / Was der Mensch von den Dingen aussagt, erschöpft nicht ihre ganze Natur. 230 / Das Inkommensurable in Natur und Mensch. 231 Perspektivismus 232 Das vitale Apriori. Standortgebundenheit. 232 / Lebensabhängigkeit der Wissenschaft. Standorte begrenzen nicht nur, sondern ermöglichen Erkenntnis. 232 / Sie begründen auch die Ranghöhe des Erkennens. 233 / Unterschiede der Denkweisen. 233 / Elementenhaftes und ganzheitliches Denken. 235 / Element und Gestalt. Empirie sucht das Zentrum. Goethes Wieg geht vom Zentrum zur Peripherie. Analytisches und synthetisches Wechselwirken. 236 / „Zarfe Empirie". 237 / Der Streit zwischen Cuvier und Geoffroy St. Hilaire. Sondern und Verknüpfen. 237 / Dynamisches und atomistisches Denken. 238 / Goethe erhofft Verdrängung der atomischen Vorstellungsart durch die chemisch-dynamische. 238 / Nur sämtliche Menschen erkennen die Natur (,.Pan-Perspektivismus"). 239 Grenzen der E r k e n n t n i s 240 Urphänomene sind Wissensgrenze. 240 / Die Grenze ist weder scharf noch endgültig zu ziehen. 241 / Das Unerforschliche. Eigenmächtige Grenzsetzung abgelehnt. 242 / Kant entmächtigt den schauenden Menschen, um den Selbststand des moralischen zu sichern. 242 / Sichbescheiden vor dem Unfaßlichen. 242 / Das Unerforschliche in die Enge treiben. 243. E r k e n n t n i s und Eros 243 Letzte Triebfedern des Erkennenwollens. 243 / Impulse der Herrschaft und Machtausbreitung in der abendländischen Naturforschung. 243 / Reinheit der Schau. Eros zur Welterscheinung. 243 / Abneigung gegen das naturvergewaltigende Experiment. 244 / Geschenke von oben. Aperçus. 245 Organe des V o r s t e l l e n s Vier Hauptkräfte unseres Vorstellungsvermögens. 246

246

Verstand 246 Die sondernde, teilende, trennende Weltkraft, der Maßgeist (ratio). 246 / Ein klassifikatorisches, nicht strukturbildendes Organ (gegen Kant). 247 / Organ des Gewordenen, Toten, Erstarrten. 247 / Unschöpferische Scheidekraft gegenpolar zur Phantasie wirkend. 248 / Der Verstand im Schema der idealen Wissenschaftsgeschichte: dogmatischer Rationalismus. 248 / Ratio und Sexus. Verstand am regsamsten bei eintretender Pubertät. 248 / Mephisto: erosfeindliches Sexuswesen. 249 / Die Weltkraft der Vereisung, Erstarrung, der Scheidung und des Hasses. Mephistos Vielschichtigkeit. 249 Vernunft 250 Organ des Werdenden, Lebendigen; Tendenz zum Göttlichen. 250 / Göttliche und menschliche Vernunft. 250 / Frühes Welt-Vernehmen des Kindes und Alters-Weisheit. 250 / Starrer Gegenspieler der proieusartigen Natur. 251

XIV

Geist 251 Das Vorwaltende des oberen Leitenden. Geist gehört dem Alter. 251 / Geist und Licht. Nus und Pneuma. 252 / Die kosmische Diastole, Prinzip der Expansion. Prinzip der Steigerung in der Materie. 252 / Geist und Natur. 253 / Geist als wirkende Macht in der Geschichte. 253 / Keine Geistfeindschaft, aber auch keine Weltabgeschiedenheit des Geistes. 253 / Spuren einer anderen Auffassung. 254 Sinnlichkeit 254 Für Kant ist Sinnlichkeit chaotische Reizmasse. 254 / Goethe weiß nur von gestalteter Sinnlichkeit. 255 / Sinn im Sinnlichen. 255 / Kritik der Sinne. 255 / Eine Theorie des Anschauens? 256 Phantasie Ihr Verhältnis zu den drei übrigen Vorstellungskräften. 256 / synthetische, alles durchdringende Funktion. „Der schaffende Spiegel". Drei Unterarten: nachbildende, produktive, umsichtige Einbildungkraft. Opposition zum Verstand. 258 / Goethes Lehre von der schöpferischen tasie bei Vico und Muratori vorgebildet. 258

256 Eine 257 i 257 ' Phan-

Anschauende Urteilskraft 259 Scientia intuitiva. 259 / Wesensschaw. 259 / Anschauende Kenntnis. 260 / Die Zeitgenossen mißverstehen Goethes sinnliche Anschauungsfülle als „niederen Realismus". Huber, Schiller, Böttiger. 260 / Körner und Schiller über Goethes bildgezeugtes Schaffen. 261 / Pendelspiel zwischen Bild und Gedanken, Kreisprozeß. 261 / Gegenständliches Denken. 262. / Das Reich der Bilder. 263 / Gewöhnliches Sehen und reines Anschauen. 263 / Bilder sind Essenz der Welt. Erscheinungsforschung und Kausalerkenntnis. 264 I Das Schauvermögen und die Einheit aller Sinne. 265 / Der intellectus archetypus. 265 / Intuition, Aperçus, Geistesaugen. 266 / Wissenschaft als Kunst. 266 Urphänomene • 267 Umschließende Grunderscheinung. 267 / In der Erscheinungswelt liegt nichts über ihnen. Für den Physiker ein Letztes. 267 / Das Symbolische der Urphänomene. 267 / Grenzphänomene: Offenbarung der Gottheit. 268 / Schauder und Angst: Zugang zur Transzendenz. 268 Idee 269 Urphänomene als werdende, sich manifestierende Idee. 269 / Die Idee bei Goethe und Plato. Gemeinsamkeit: kosmische Prinzipien, die in die Erscheinung eingehen. 269 / Piatos Ideen gehören der Sphäre wandellosen Seins an. Ihr Anteil an Maß und Zahl. 269 / Goethe sind alle Präformationslehren zuwider. 270 / In der Erscheinung erfüllt sich die Idee. Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende. 270 / Gleichsetzung von Idee und Entelechie in G. Fr. Daumers Eidolologie. 272 / Umdeutung der platonischen Ideenlehre ins Biologische. Goethes Ideen und Klages' unentbundene Bilder. 272 / Die gestaltlose, rein regulative Idee der Transzendentalphilosophen. 272 / Goethes Urpflanze. 273 / Bewegliche Urbilder. Goethe als Eidetiker vom IiTypus. 274 / Eidetisches Vermögen. Urbegabung des weltverbundenen Früh-

XV

menschen. 275 / Die „ewige Mobilität" aller Naturformen. 275 / Wirkende Weltmächte. 276 / Höchste Wirklichkeit. 276 / Idee und Erfahrung. Goethe und der Empirismus. 276 / Grauen vor der ,.empirischen Weltbreite". Alle Erfahrung wird produziert, erschaffen. Symbolschau ermöglicht höhere Erfahrung. 277 / Schillers aufspaltende Lehre von der Erfahrung: „rationale Empirie". 277 / Schiller unterscheidet: 1. gemeinen Empirism, 2. Rationalism, 5. rationellen Empirism. 278 / Goethes „zarte Empirie": Anschauen eines Werdenden, Aussprechen der Idee zuletzt. 278 / Empirisches, wissenschaftliches und reines Phänomen in Goethes Auffassung. Sein Leitgedanke: gesteigerte Kontinuität („Folge"). 279 / „Erfahrungsmist". 280 / Die verderbliche Induktion. 280 / Der Versuch als Vermittler. 281 / Idee und Erfahrung. Der frühe Immanenz-Standpunkt. 281 / Später: Kluft zwischen Idee und Erfahrung. 281 / Ein „fremder Gast". „Die Idee ist ewig und einzig". 283 ! Die Idee in der Erfahrung aufsuchen. 283 / Idee und Erfahrung verbinden sich in Leben, Kunst und Tat. 284 / Idee als heuristisches Prinzip. 284 / Polarisiertes Wechselspiel zwischen Idee und Erfahrung. 285 / Empiristen leugnen die Ideen, Philosophen verflüchtigen sie. 286 W i s s e n und L e b e n 286 Wahrheit als Fruchtbarkeit. 286 / War Goethe Pragmatist? Ablehnung der Lehre vom bloßen Nutzwert der Wissenschaft. 287 / Fruchtbar wofürf Goethes , Pragmatismus". 287 / Fruchtbarkeit und Ganzheitlichkeit. 287 I Förderung des Lebensganzen. 287 / Bloßer Wissensbesitz und höhere Erkenntnis (Weisheit). 288 / Wissenschaft als Kunst (Mikrokosmos). 289 2. D a s O r g a n i s c h e 289 Das Organische als Schlüsselgebiet des Erkennens. 289 / Auch Anorganisches ist beseelt. 290 / Kristallisation und Vegetation. 290 / Organisches und Anorganisches. 291 / Organische und anorganische Welt haben „verschiedene Tendenzen". 291 / Alles organisch Lebendige bedarf der Hülle. 292 / Gestaltung von innen nach außen. 292 / Jedes Geschöpf ist „Zweck sein selbst". 293 / Teleologie: eine „triviale", „fromme" Vorstellungsart. Zweckmäßigkeit ist nicht völlig zu leugnen. 293 / Gegenwirkung von innen. 294 / Der Weg der Erkenntnis: Anschauung des Äußeren — Einsicht in das Innere. 294 / Das Ganze und die Teile. 294 / Die Teile oder Organe werden von höheren Ganzheiten übergriffen. 295 / Übergreifen und Übergriffenwerden. 297 / Goethes Monadenlehre im Unterschied zu der Leibnizschen eine „Organologie". Die Stellung des Individuums zum übergreifenden Ganzen. 297 / Der Organismus-Gedanke ein Welt-Symbol, eine kosmologisthe Kategorie. 297 / Die Lehre von der sukzessiven Schöpfung. 298 / Goethes panorganizistische Forscherneigung und der Hang der alten tellurischen Welt zum Vegetativen. 298 3. M a t h e m a t i k u n d P h y s i k 299 Scheu vor dem Zahlenwesen. 299 / Eine „Endlichkeit". Kehrseite gesteigerter Bildempfänglichkeit. 300 / Gibt es etwa keine mathematisch begabten Künstler? 300 / Wie begründet Goethe seine Abneigung? 300 / „Trennen und Zählen". Das Zahlenreich: ein Diskontinuum. 3Ol / Mathematik: Form ohne Gehalt. Vergleich mit Dialektik und Redekunst. „Organ des inneren Sinnes." 301 / Sie „vermag nichts von allem Sittlichen". Jenseits der Maßwelt wirken „Idee und Liebe". 302 / Goethe übersieht die anschauliche Seite der

XVI

Mathematik (Weltharmonik, kosmische Mathematik). 303 / „Alle Zahlensymbolik etwas Gestaltloses und Untröstliches". 303 / Goethe huldigt dennodx der Vierzahl. 304 / Starres Zahlenwesen und fließende Lebensfälle. Das Leben entzieht sich der Gleichung. Mathematik „unzulänglich gegen das AU". 304 / Meßbarkeit steht gegen die eigentlich menschliche Bildwirklichkeit. 305 / „Totes und Tötendes". Das „Unleben". „Hohle Chiffern". 305 / Angewandte Mathematik, mathematische Physik. 306 / Technische Brauchbarkeit der metrischen Physik ist keine absolute Bürgschaft ihrer Wahrheit. Die Maß-Physik entqualifiziert. 306 / Aussprüche gegen Mechanistik und Entqualifizierung. 307 / „Der mathematisch-physikalische Leviathan". 308 / Goethe fordert eine Gestalt- und Qualitäts-Physik ohne Mathematik. 308 / Keine Absonderung der Experimente vom Menschen. Physik: Teil einer Lehre vom All-Leben. 308 / Zuordnungsmöglichkeit besagt nichts über Ursächlichkeit. 309 / Goethes Forderung nach einer anschaulichen Physik ist tief im Weltanschaulichen verwurzelt. 309 / Physik und Meta-Physik Goethes entsprechen einander. 310 / Das Physische: die Mittelwelt der natürlichen Sinneswahrnehmung zwischen Makrokosmos und der Welt kleinster Wahrnehmbarkeit. 311 4.

Kunst lehre

311

Vorrang des Kunstgenießers im Barock. Der Schaffende disponiert planvoll wie ein Baumeister. 311 / Ablehnung der Zwecke. 311 / Kunst als Selbstoffenbarung des Genies. 312 / Seligkeit des Blühens. 312 / Das Kunstwerk als in sich Ruhendes. Existenz und Effekt. 313 / Goethes Stellung zum Naturalismus. 314 / Organische Bildekräfte. Zeugung und Empfängnis. 314 / Das Straßburger Münster als „Baum Gottes". 314 / Keine compositio, sondern Naturwachstum. 315 / Naturgrund und Überlieferung im Kunstwerk. 316 / Das Kunstwerk zwischen Natur und Übernatur (Idee). Das „geistig Organische". 316 / Die „innere Welt". „Aufschwellendes Gefühl". 316 / Die innere Form. 317 I Künstlichkeit des Kunstwerks. Die „gläserne Mauer". 317 / Sonderstellung der Dichtung als Medium des Genius. Die übrigen Künste praktische Wissenschaften. 318 / Die Kulturseite des Schaffens. 318 / Auseinandersetzung mit dem Stoff. Die „sinnlich-sittliche Wirkung". 319 / Goethe kein „Realist", kein „deskriptiver Dichter". Vorrang der Atmosphäre vor der Umrißschärfe. 319 / Der „Erlebnisdichter". Das Speciale ins Allgemeine emporgehoben. 320 / Erlebnisse wirken auslösend. Echte Dichtung hat Weltgehalt. 320 I Goethes Symbolbegriff. 320 / Symbol als Gleichnis, Abglanz, Widerschein. 320 / Das Vorläufige, Unzulängliche des Symbols gegenüber der Transzendenz. Seine Bedeutungsfülle im Hinblick auf das Besondere. Erscheinung, Idee und Bild. Symbol und Allegorie. 321 / Symbole werden intuitiv geschaffen und verstanden. 322 / Vieldeutigkeit der Symbole. Bachofens berühmte Definition des Symbols klingt bei Goethe voraus. 322 / Steigerung des dichterischen Symbolgehalts durch „Spiegelung". 323 / Symbolischer und sakramentalischer Sinn. Symbole wirken magisch. 323 / Goethe schildert Symbol-Erlebnisse. 324 / Trennung von K. Ph. Moritzens idealistischem Symbolbegriff. Grenzfälle: „eine Art Symbolik". 324 / Ins Enge ziehen. Stummheit der Symbole. Offenbares Geheimnis. 325 / Emrichs Forschungen. Das System der Symbole. Ihr Werden und Reifen. Die lebensgesetzliche Mitte. 325 / Das Gravitationszentrum von Goethes Symbolnetz: der „wachträumende" Bewußtseinszustand des Telluriers. 326 / Symbol und Urphänomen als Grenzkategorien. Der klassische Standort ermöglicht Goethes Einsicht in das Wesen des Symbols. 326 / Goethe als Initiator des 2

Danckert,

Goethe.

XVII

uns geläufigen Symbolbegriffs. Nachwirkungen seiner Entdeckung. 327 I Goethes Symbollehre und die bildenden Künste. 327 / Höchstes Wirkungsziel der Künste: Entselbstung. 327 / Kunst und Religion. 328

5. M u s i k

328

Die Frage nach der Stellung der Musik in Goethes Weltbild. 328 / Goethes Musikanschauung im Zusammenhang mit seiner Kunstlehre, Symbolwelt und Metaphysik betrachtet. 329 / Liebhabertum. „Musik kann ich nicht beurteilen." 329 / Heiteres, munteres Tönespiel. 330 / Musik als Mittel zur Ümstimmung der Seele. 330 / Musikerfüllte Zeiten, sang- und klanglose Tage. 330 / Hochschätzung der alten, Abneigung gegen neueste Musik. 331 / Vorklassisch orientierter Musikgeschmack. 331 / Haydn. Zwei Typen des Musikgenusses. 331 / Goethes Mozartverehrung. 332 / Fragwürdigkeit der selbständigen Instrumentalmusik. 333 / Verstandesmäßiger Anhalt beim Musikgenuß. ,£upponierte" Bilder. 333 / Architektur eine verstummte Tonkunst. 333 / Goethe und Beethoven. 334 / Musik etwas durch und durch Elementarisches. 334 / Äußerungen über Musik: Symbolik der drei beweglichen Elemente: Wasser, Feuer, Luft. 335 / Der Liedkomponist als „Spielmann" des Dichters. 335 / Musik als elementare Stufe der Erziehung. 336 / Die Musiker in sich selbst gekehrt. 337 / Heilige oder profane Musik. 337 / Musik als Element, Tiefstes und Höchstes zugleich. Ihre entselbstigende Wirkung. 337 / Das Dämonische der Klangkunst. 338 / Musik schwingt ira außermenschlichen Raum. Faust II als „Oper" 338 / Die Oper zwischen 339 / Elementares und Göttliches gestellt. Lethe, Element der Verklärung. Schlaf- und Lethe-Motiv. Vision, Lichterscheinung, Apotheose. 340 / Sinnbildliche Theorie der Oper im nBerliner Theaterprolog" 1821. 340 / Goethe uls 341 / Er führt Regie „wie ein Kapell„verdrängter Opernkomponist". meister". 341 / Die Sonderstellung der „Euphorion-Oper". Neuzeitliche harmonische Musik entsteht als Gegengriff dämonischer Innerung. 342

6. J e n s e i t s

des D i c h t e r t u m s

343

Das Jasagen zu den Alltagspflichten. Ethos der Lebensmeisterung. 343 / Liebhabertum. Kunst als Lebensschmuck. 343 / Goethes Forschungstrieb: kosmische Physiognomik. 345 / Zusammenfassung: drei Gegenmächte reinen Dichtertums. 345 / Die falschen Tendenzen. 345 / Der dämonische Knäuel der Wirk-Triebe. 347 / Das Ritardando der Lebens-Realisierung. 347 / Deutsche Initial-Dynamik. 347 / Werdelust des Deutschen. 348

VIERTES BUCH: D I E K O S M I S C H E S P H Ä R E 1. M e t a p h y s i k

. .

.

.349 351

Überragender Anteil des „Vorgebildeten". 351 / Rationalistische Wort-Metaphysik. 351 / Kryptound Pseudo-Mßtaphysik der französischen Materialisten. 352 / Bildloses Begriffs-Denken. 352 / Dogmatische TranszendenzMetaphysik. 353 / Echter metaphysischer Trieb. 354 / Das Ideelle im Reellen. 355 / Die eingeborene Methodik. 355 / W. v. Humboldt über Goethes philosophierende Natur. Der dialektische Schiller. Goethe vom stummen Pathos der Dinge ergriffen. 355 / Herkömmliche Überschätzung der System-Philosophie. 356 / Dichtertum im höchsten Sinne schließt philosophischen Gehalt in sich. 356 / Begrifflich formulierte,

XVIII

symbolisch ausgesprochene, verborgene (latente) Metaphysik. 357 / Das Symbolnetz. Bildsichtigkeit. 357 / Goethes Natursymbole: unbewußt-gesetzmäßige Gestaltung kosmischer Elementargefühle. Ein elementares Kultursymbol: der Tempel. 358 / Begriffe der Schulphilosophie können Goethes Dichtung nur selten aufhellen. 358 / Echte Symbole sind mehr als kostümierte Begriffe. 359 / Deutung der immanenten Symbol-Metaphysik ist oberstes Anliegen. Die wurzelverwandten Systeme Schellings und Hegels. 359 / Goethes relative Aufgeschlossenheit gegenüber Schelling und Hegel. Die Philosophie als Bundesgenossin gegen die ansteigende Hochflut des „Gemeinen" (Trivialen). 359 / Goethe und Schelling gehören dem gleichen Naturpsychischen Grundtypus (I) an. 360 / Goethes Bündnis mit Schelling. philosophie. Weltseele. 360 / Die Weltalter-Lehre. 361 / Weltanschauliche Übereinstimmungen. 361 / Vitale Gemeinschaft. 362 / Trennungslinie: Goethes Anschaulichkeit, Schellings Neigung zum Abstrakt-Spekulativen. 362 / Goethe lehnt Schellings spekulative Methode ab. 362 / Religionsphilosophische Neigungen des späten Schelling. Kulturpolitisches Mißtrauen Goethes gegen die Kabiren-Schrift. 363 / Goethe und Hegel. 364 / Hegels Begabung und Neigung zum Abstrakten, rein Gedanklichen erwächst auf der Grundlage eines elementaren Psychismus. 365 / Goethe über sein Verhältnis zu Hegels Philosophie. 365 / Gedankliche Übereinstimmungen zwischen Goethe und Hegel. 365 / Übereinstimmung der Grundgedanken und Gesinnungen (im Gespräch). 366 / „Die Richtung auf das Großartig-Normale". 366

2. M o n i s m u s . . . .

367

„Unsere ursprüngliche Empfindung, als seien wir mit der Natur Eins". 367 / Erlebnis des Umfaßtseins. 367 / Kein abstrakter Monismus. Vielheit und Einheit. 367 / Drang zu den Urgestalten. Urpflanze. 367 / Wirbeltheorie des Schädels. „Folge" und Einheit in der organischen Natur. 368 / Die Frage nach der Urform des Lebendigen, nach dem „Lebenspunkt". 368 / Monismus als Postulat. 369 / All-Einheits-Schau des Alters. 369 / Einheit als Rückschau zum Ursprunghaften. Das elementare Weltgefühl der Kontinuität. 369 / Gundolfs Deutungsversuch: vom Körpergefühl her. 370

3. P o l a r i t ä t

371

Polarität, ein Urgedanke der Menschheit. 371 / Antagonismus ist noch nicht Polarität. 372 / Zur Vorgeschichte des Polaritäts-Begriffs. 372 / Einheit in der Zweiheit. 374 / Polarität als Weltgesetz. 374 / Das Hin- und Widerschwanken. 375 / Allgemeines Schema von Polaritäten. 375 / Weltschau des Polaritätsprinzips. 376 / Systole—Diastole als kosmische Prinzipien. Herzschlag und Atem. 377 / Leibnizens développement und enveloppement. 377 / SpanVornung und Lösung in der Rhythmik des Typus I. 378 / Abendländische läufer und Anreger. 378 / Goethes Polaritätsgedanke und die romantischen Naturphilosophen. 378 / Systole und Diastole des Weltgeistes. Luziferische Verselbstung. 379 / Mutter Nacht. Das hereinbrechende Licht. 379 / Die Lehre vom Engelsturz. Entstehung der Materie. Abfall oder Opfer? 380 ) Individuation als Werkzeug kosmischer Steigerung; Gefahr der Verselbstung. 380 / Kosmogonie und Farbenlehre. 381 / Entstehung der Farben aus Licht und Finsternis. 381 / Das weiße Licht kein Zusammengesetztes. 381 I Taten und Leiden des Lichts. 382 / Vergleich der Farben mit den Chladnischen Klangfiguren.- 382 / Naturphilosophische Spekulation über Farbe, Magnetismus, Elektrizität, Chemismus. 382 / Das aktive, vordringende Licht-

2'

XIX

Element. 383 / Gelb und Blau: die Farbenpole. 383 / Sireben des Auges nach Ganzheit und Einheit. 383 / Licht und Schwere. 384 / Geist und Materie 384 / Pulsierende Schwerkraft, Wasserbejahung und Wasserverneinung, Anziehungskraft und Erwärmungskraft. 384 / Dur und Moll. Die Tonmonade dehnt sich aus und zieht sich zusammen. 385 / Goethes Dur-Moll-Lehre ist phänomenologisch wertvoll. 386 / Nicht am Einzelton entfaltet sich Polarität, sondern als Tonverwandtschaft. 386 / Ton und Farbe. 387 / Schema der polaristischen Naturwirkungen. 387 / Magnetismus. Einheit in der Zweiheit. 387 / Der Magnetismus und die übrigen Polaritäten der physisch-chemischen Natur. 388 / Bipolarität der elektrischen Erscheinungen entspringt dem Indifferenzpunkt. 388 / Pflanze und Tier. 388 / Vertikal- und spiralstrebendes System in der Pflanze. 388 / Metamorphose der Pflanze, vis centrifuga und vis centripeta. 389 / Blatt und Knoten. 389 / Polarität in der Natur des Menschen. Der Mensch an der Spitze der Tierheit. 390 / Vegetabile und animale Geister. 390 / Männliches und weibliches Wesen. 391 I Das mann-weibliche Doppelwesen des Menschen. Gingo biloba. 391 / Doppelgeschlechtigkeit der halbtranszendenten Kindwesen. Das Androgyne: Symbol der Erfüllung. 392 / Geschlechtspolarität im Himmel des Faustschlusses. 392 / Der Gegenlauf seelischer Regungen (Enantiodromia). 392 / Gegenstrebigkeit in Wissenschaft und Philosophie. 393 / Polarität als Prinzip stilgeschichtlicher Schwankungen. 393 / Atomistische und dynamische Vorstellungsweise. 394 / „Die Frage von zwei Seiten in die Mitte fassen". Ironie. 394 / Den Indifferenzpunkt gewinnen. Antinomien. Oxymoron. 394 / Ironie und Aberglaube. 395 / Künstler und Forscher. 395 / Betrachtung und Tat. 395 / Haften und Schweifen. Zirkuläres Gefühlsleben. 395 / Sammlung und Zerstreuung, Weltzuwendung und Innenschau. 396 / Lyrische Verwandlungskraft und Weltkennerschaft im Zweiten Faust. 396 / Andere seelische Polaritäten. 397 / Polarität als ethische Richtschnur und religiöse Maxime. Verselbstung und Entselbstung? vita activa und vita contemplativa. 397 / Goethes Männerpaare. 398 / Faust und Goethe als Zweiseelenwesen. Gott und Satan. 399 4. D r e i s c h r i t t 400 Goethes Dreischritt ist Vorform von Hegels dialektischer Kette. 400 / Polarität und Steigerung. 401 / Alte Dreistufenlehren. 401 / Goethe als Anreger. 402 / Der Jugendmythos: die drei Elohim. 402 / Luzifer, die gefallenen und die zum Ursprung sich wendenden Engel. 403 / Materie, Licht (Geist), Mensch im Urständ. Drei Stufen des Menschentums. 403 / Die Rolle der drei Elohim. 404 / Uranfänge, Einheit, Verfremdung, Wiederherstellung. 404 / Triadisches Schema der großen Religionstypen. 404 / Drei Stufen künstlerischer Stilbildung: Naturnachahmung, Manier, Stil. Drei Erkenntnisstufen: empirisches, wissenschaftliches, reines Phänomen. 405 / Dreischritt der idealen Musikgeschichte. 405 1 Drei Epochen des Lebens. 406 / Dreierlei Arten Übersetzung. 406 / Der triadische Rhythmus. 407 / Goethe mißtraut Hegels verselbständigtet dialektischer Methode. 407 / Drei Typen triadischen Denkens. 408 5. R e l i g i o n 409 Goethes Stellungnahme zum Problemkreis der Religion allgemein und zu den historischen Religionen. 409 / Der junge Pietist in den Langer-Briefen. 409 / Gewahrwerden der inneren Göttlichkeit. 409 / Gott-Natur. Gnosis. 409 /

XX

Schauende Gotterkenntnis nur andeutend, ahnend. 410 / Zwischen Theismus und Pantheismus. 411 / Gnosis und Glaube. 411 / Religiöse und kultureile Schöpferkraft. 411 / Glaube. 412 / Religiöser Pragmatismus. Ehrfurcht. Pietät. 412 ! Aberglaube. 413 / Natürlidie Religion (Deismus). 413 / Die geschichtlichen Religionen und ihr religiöser Kern. 414 / Individualreligion. Der innere Gottesfunke. Weltfrömmigkeit. 415 / Missionierende Religionen. Trübung des Göttlichen. 415 / Esoterik. 415 / Geheime Kästchen. 416 / Perspektivismus des Gotterkennens. Gegen allzu große Vertraulichkeit. 416 / Goethe als „Hypsistarier". 417 / Seine Stellung zu Christus. 417 / Christus als Mensch. 418 / Das Bild vom Paradiesvogel. 418 / Die von Gott eingesetzte Aristokratie der begnadeten Menschen. 419 / Christentum: das paulinische „System". 419 / Christus und das Christentum. 419 / Verwerfung der dogmatischen Christologie. 420 / An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. 420 / Was ihn vom Kirchenglauben trennt. Verwerfung des Trinitätsdogmas. 421 / Die Lehre von der nur provisorischen Welt. Erbsünde. „Alleinreich Christi". 421 / Gegen den Gleichrang aller Seelen. 422 / Auferstehung des Fleisches. 422 / Massive Jenseits-Vorstellungen. 422 / Heide und „Urchrist". 422 / Göttliche Tiefe des Leidens. 423 l Humanistisch umgebildetes Christentum? 423 / Christus als „das Urphänomen des leidenden Menschen". 423 / Die leidenden Heiligen und Helden als Stellvertreter kosmischen Leidens. 424 / Tellurische Züge im Urchristentum. Gotteskindschaft. Der leidende und sterbende Gott. 424 / Liebes-Metaphysik des Christentums. Gefahren des LiebesGebots. Gegenlauf der Regungen. 425 / Liebe und Eros. 426 / Begriffe und Vorstellungen des Christentums, die Goethe seinem Fühlen anverwandelt. 426 / Zusammenfassung. 427 / Der Aufblick zum Himmel. 427 / Goethe und die christlichen Konfessionen. 428 / Kritik des Katholizismus. 428 / Positive Momente im Katholizismus: Brauchtum und Sakramente. 428 / Kritik des Protestantismus. Predigt verdrängt die Sakramente. 429 / Luthers starke Betonung des Teuflischen, Widergöttlichen. 429 ! Die Rechtfertigung allein aus dem Glauben. 429 / Sentimentalität. Das Einzelwesen hat zuviel zu tragen. 430 t Zu wenig Fülle und Konsequenz. Nur ein Sakrament. Moralismus. Mythischer Gehalt dürftig. 430 / Goethe verteidigt den Protestantismus aus kulturpolitischen Erwägungen. Freiheit, Vernunft, neue Weltständigkeit. 431 / Vorsaal der Goetheschen Religiosität. Ausblick in esoterische Bezirke. 432 6. H e i d e n t u m 433 Synkretismus. 433 / Gibt es eine (heidnische) „Religion der Goethezeit" ? 433 / Korffs Geschichtskonstruktion. 433 / Die Aufklärung wirkt rein emanzipatorisch. Sie führt keinen positiven Gehalt mit sich. 433 / Heidnisches wird durch die klassische Situation gelegentlich gefördert. 434 f anima naturaliter religiosa. 434 / Der pagane Unterbau im Katholizismus. 434 / „Scheinbilder". Sympathie für das sterbende Heidentum. 434 / Das christliche Grunderlebnis der Gebrochenheit ist Goethe fremd. 435 / Bildhafte Götter. 435 / Bekenntnisse zum Heidentum. 436 / Heidnische „Tugenden". 436 / Christliche Gegenbegriffe. 437 / Ein ungelöstes, z. T. verschüttetes Problem. 438 / Vision einer mythischen Vorwelt. 438 7. G o t t - N a t u r 438 Der Opfer-Altar des Knaben. 438 / „Urfaust" und „Werther" verkörpern den Durchbruch des Gott-Natur-Gedankens. Säkularisierung christlicher Vor-

XXI

Stellungen im „Werther". Goethe und der Pietismus. 439 / Ist Goethes Pantheismus ein wurzelhaft religiöses Phänomen oder nur Reflex seiner „künstlerischen Lebensstimmung"? 440 / Die neue Lyrik. 441 / Essenzhaftigkeit alles Erscheinenden. 441 / Vorgoethesche „Pantheismen" (seit Plotin). 442 / War Goethe Neuplatoniker? 442 / Ist die Gott-Natur-Lehre Bildungs-Religion des 18. Jahrhunderts oder die Religion der deutschen Klassik schlechthin? 442 / Deutscher Pantheismus: eine abstrakte Formel. 443 / Verschiedene Typen des Hen kai pan- 443 — Die transzendentale Gruppe: Shaftesbury, Lessing Herder, Fichte usw. 443 I Dilthey, Walzel und Korff konstruieren eine einheitliche pantheistische Entwicklungslinie von Shaftesbury über Herder zu Goethe. 444 / Shaftesbury: Zugang zur Welt über die Harmonie des inneren Selbstes. Der transzendentale Formkreis. 444 / Herders Urerlebnis der Kraft. Expansivdynamisches Ich-Welt-Gefühl. 445 / Zugang zum Allgott über das innere Selbst. 445 / Der chthonische oder sphärische Pantheismus. Goethes und Schellings Umfaßtsein. 446 / Goethe und Herder: fast übereinstimmende Ergebnisse, ursprungsverschiedene Voraussetzungen. 446 / Aller Pantheismus ist spätzeitlich. Vorformen. 447 / Nachklänge uralten Pandamonismus bei Goethe. 447 / Kein vorzeitlicher Natursymboliker ist Pantheist. Persönlichkeitserlebnis als Voraussetzung zur Schau des Allgotts. 447 / Goethes neue Sicht der Natur: Natur als Nährmutter, Naturkindschaft. Göttlichkeit und Dämonie der Natur. 447 / Vorformen: Pantheisten der italienischen Renaissance und und Vorrenaissance. Franziskus v. Assisi, Lionardo da Vinci. 448 / Giordano Bruno lehrt die Allbeseeltheit der Materie (göttlicher Mutterschoß). 449 1 Goethes Beschäftigung mit Brunos Schriften. 449 / Übereinstimmungen zwischen Goethe und Bruno. 450 / Schellings Formel von der Weltseele. 450 / Allgegenwärtigkeit Gottes. 450 / Das Göttliche im Menschen: prometheisch.es Gottgefühl. 451 / Der AUgott als spielender Dämon (]ugendstufe). 452 / Der Greis steht zwischen Theismus und Pantheismus. 452. / Vordeutungen dieser polaristischen Sicht. 453 / Überbleibsel verdrängten Kirchenglaubens? 453 / Doppelaspekt von Goethes Frömmigkeit. 453 8. G o e t h e u n d S p i n o z a 455 Spinoza und seine Umdeutet. 454 / Goethe beschäftigt sich zunächst mit Spinozas Persönlichkeit. 455 / Spinoza-Lektüre als Quietiv. Entsagung. Erkenntnis Gottes aus den rebus singularibus. 455 / Dämpfung des entfesselten Selbst-All-Erlebens. 455 / Amor Dei intellectualis. 455 / cognitio intuitiva. Spinozas Erkenntnislehre ein Stufenbau. 456 / Spinozas Ethik: das „alte Asyl". 456 / Abendländisch-barocker Verstandeskult und mathematisch-spekulativer Formelgeist von Talmud und Kabbala. 456 / Gott als Substanz. „Eleatismus". 457 / Psychophysischer Parallelismus. 457 / Selbstbehauptung. Macht. Verdichtete Personation. 458 / In Deo esse. 458 / Goethe sucht in Spinoza den Gegentypus. 459 9. D a s D ä m o n i s c h e 459 Das Erlebnis des Dämonischen in eigentümlichen Mischgefühlen vorgedeutet. 459 / Eine der letzten Grenzkategorien. 460 / Flucht hinter ein Bild. „Egmont" als stellvertretendes Opfer. 460 / Goethe entdeckt das Dämonische zur Zeit, da sein Heidentum ausreift. 460 / Das Dämonische manifestiert sich in Widersprüchen. 460 / Es durchkreuzt die moralische Weltordnung. 461 / Seine Manifestationen in einzelnen Menschen. 461 / Die

XXII

großen dämonischen Täternaturen agieren als anonyme Röhren. 462 / „Besessenheit". 463 / Homunkulus als Essenz des Dämonischen. 463 / Das Dämonische in Kunst, Poesie, Musik. 463 / Dämonisch wirkende Künstler: Raffael, „Ungrund". Mozart, Byron, Paganini. 463 / Das Dämonische und Schellings Die „Besessenheit" des jungen Goethe. 464 / Das Dämonische wirkt elementar-kosmisch. Mit dem Individual-Daimon der „Urworte Orphisch" darf es nicht verwechselt werden. 464 / Es sprengt Goethes „Monismus". 464 / Das heidnische Pandämonium. „Animismus" und „Manismus". Die voruranische Schicht. 465

1 0. M a g i

466

Magische Stoffe in Goethes Dichtung. Naturmagie. 466 / Magie als allgemein Magie. 467 / Magie des Künstlers. 467 der Dichtung. 468 / Zivilisatorische gespinste. 468

1 1. M u t t e r

Erde

466 / Der magische Weltaspekt. 466 / menschliche Möglichkeit. 467 / Heilige / Macht-Magie und freispielende Magie „Magie": Vorgriff, Sorge, Traum-

469

Der Mythos „Mutter Erde". 469 / Die Romantik entdeckt die chthonische Religion. 469 / Dem jungen Goethe erschließt sich die tellurische Welt aus ursprünglicher Schau. 470 / Das Walten der Erdkräfte im „Werther". 470 / Goethes Erdgefühl und• die Konzeption des Erdgeistes. Anregung durch Naturphilosophie, Magie, Geisterlehre. 471 / Burdachs „Moses"-Hypothese. Dippels Erdgeistlehre. 471 / Swedenborg. 472 / Brockes, F. ]. de Pierre de Bernis. 472 / Basilius Valentinus, Paracelsus, Giordano Bruno. 472 / Neuplatonismus, Jamblichos. Ununterbrochener Überlieferungsstrom. 472 / Goethes Erdgeist eine Janusfigur: Welt- und Tatengenius. 473 / Der Erdgeist als Symbol der unbewußten Webekraft des Lebens, als Doppelwesen von Geburt und Grab. 473 / Mythologische Verdichtung des pantheistischen Gottgefühls? 473 / Der Erdgeist wirkt innen und außen. Seine Bühnendarstellung. 474 / Männlicher Tatengenius und webende Tellus Mater. 474 / Erdgefühl. Kind der Erde, Erdkulin. 475 / Auch Carl August ist Tellurier. 475 / Erdgeruch, Erdfreundin. 476 / Erdbeben von Messina. Überempfindlichkeit gegen Witterungsschwankungen. 476 / Gruben und Bergwerke. 476 / Mystik der Höhle. 477 / Ringen um die gestaltbildenden Gesetze des Mineralreiths. 478 / Geologische Interessen. Vorblick auf die stratigraphische Methode. Mineralien sind Ausdruck des „Erdlebens". Uranfänge der „Wassererde". 479 / Granit: tellurisches Urgestein. 480 / Tellurismus und Uranismus polarisch miteinander verspannt. 480 / Die uranische Sphäre stets Glied der Polspannung Erde—Himmel. Vergleich mit Shelley. Antitellurische Momente. 482 / Die Mittelsphäre: Wolken, Schleier, Regenbogen. 482 / Die Erde als bergende Tellus Mater, als Kraftspenderin und Verjüngungsquell. 483 / Antäisches Forschen. 484 / Fausts Letheschlaf und Lebenserneuerung entspringen tellurischen Quellkräften. Das Liebesgefühl als Schwerkraft empfunden. 484 / Hypothese von der pulsierenden Erdschwere. 485 / Ablehnung siderischer Einflüsse auf die Witterungsbildung. 485 / Im Hintergrund die Metaphysik des Tellurismus. 486 / Vier Motive in Goethes meteorologischem Tellurismus. 487 / Die Lehre von den zwei Atmosphären. 487 / Tellurismus in Goethes Geschichtsbild. 487 / Vorgeschichte, Gold und das plutonische Reich. 488 / Spuren des Tellurischen in Goethes Kunstmeta-

XXIII

physik. 489 / Das Ungeheure als Mutterschoß des Schönen. 489 / Erdgefühl in Goethes Religiosität. Die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist. 489 / Altheidnisches Erdgefühl; sanctum und sacrum. 490 / Altere Vorformen zum Schema von den drei Ehrfurchten. 491 / Zwei Bedeutungsschichten. 491 / Dritte Bedeutungsschicht: uranisch-dithonisdi. 491 / Die „Erbtugend": Pietät. Ihre Wurzel: Ehrfurcht vor Tellus Mater. Der Mensch als Erdgeborener. Prometheus. Tellurismus in Goethes Erziehungslehre. 492 / Die Erde Mutterschoß des Werdens, aber nicht Endziel der Schöpfung. Der Mensch zwischen Erde und Himmel. Jarno-Montanus und Makarie. 493 / Die Weisheit des gealterten Eaust. Allegorik und Symbolik des „Märchens". 494 / Elementarsymbole. Symbol und Allegorie. 494 / Fluß, Fährmann, Irrlichter, Gold, Schlange. 495 / Lilie, Rose, Tempel. 496 / Der „Alte". 496 / Seine Frau. 497 / Die vier Könige und anderes. 497 / Der Mensch als Mittelwesen zwischen den Weltpolen. 497 / Der mythische Hintergrund der Iphigenie". 498 / Tantalus' Geschlecht: eine gestürzte Götterdynastie der Vorzeit. Versöhnung des titanischen Triebs mit olympischem Geiste. 498

12. N a c h t , D ä m m e r u n g ,

Dumpfheit

499

Apollinisch-solare Züge. 499 / Licht und Finsternis sind Pole der Lebensganzheit. 499 / Uranfängliche Ungeschiedenheit. Das Helldunkel als Sinnbild. 499 / Tag und Nacht: Dur und Moll. Die Nacht mächtiger als der Tag. Kulturpolitische Bevorzugung der Tagseite. 500 / „Ausgeburt des Schattens und der Kühle". „Fruchtbare Dunkelheit". 50L / Dumpfheit: hüllende, lebensfördernde Keimkraft. 501 / Dumpfheit negativ empfunden. 502 / Nachklang eines urtümlichen Bewußtseinszustandes. 502 / Nachtstimmung. 502 / Dämmerung. 503 / Das Nächtliche der Poesie. 505 / Nachtgedichte. 505 / „Pandora": dichterische Krönung des Nachtgedankens. 506 / Das Erhabene stammt aus Nacht und Dämmerung. Die „dunklen Jahrhunderte". 506 / Licht und Finsternis als kosmische Potenzen. 506 / Das Positive des „Abgrunds". Begegnung mit Jakob Böhme. 507 / „Aus dem Dunklen ins Helle streben". Werdendes Licht. 508 / Urmutter Nacht: ein Gedanke der Urmythologie. 508 / Goethe und der Nachtgedanke. 509 / Das Mittelreich des „farbigen Abglanzes". 509

13. N e b e l s c h l e i e r ,

Wolken

510

Liebe zum Nebel. Sfumato, das Hüllende. 510 / Italienisches Sfumato. 510 / Der verhüllende und offenbarende Schleier. 511 / Das Fächer-Gleichnis. 511 / Euphorions Kleid, Mantel und Lyra. Helenas Schleier. 511 / Helenas Wolke. 512 / Hoffnung: Schleier- und Wolkenwesen. 512

14. V i e r E l e m e n t e

513

Eine esoterische Schicht. 513 / Elemente als psychische Grundmächte. 513 / Das Wasser: Element des Hegenden, des Wachstums, der Wiedergeburt, Lösung, Befreiung. 514 / Der Sprung ins Wasser in Goethes Dichtungen. 514 / Der Wassersturz im antiken Mythos. 515 / Wasser und Feuer als Gegensymbole. 515 / Feuer, Gold, plutonische Unterwelt, St latsieben. 517 / Luftreich, Ätherwelt: Symbolik der Transzendenz. 517 / Zurücktreten des „Erdigen" in Goethes Elementen-Symbolik. 518 / Das Luftig-Ätherische, ein Grenzmotiv. Das „späteste", zuletzt „entdeckte" Element. 518 / Ätherwelt und Transzendentalismus. 519

XXIV

15.

519

Eros

Die Geburt des Eros aus dem Chaos. 519 ! Der schenkerid-überströmende Zustand. Briefe der siebziger Jahre. 520 / Egmonts „attrattiva" : unbegrenzte Liebesfähigkeit und Liebenswürdigkeit. Goethes Egmontnatur. 520 / Hinschwindende Weltaufgeschlossenheit. „Fortifikationslinien unseres besonderen Daseins". 520 / Verhältnis zu Frauen. Entsagung. 521 / Furcht des Künstlers vor dem Philisterium der Ehe. 521 / Treue gegen das innere Lebensgesetz. 522 / Fragwürdigkeit der Ehe als Institution. Die treulosen Männergestalten. 522 / Das usurpierte Recht auf Treulosigkeit. 523 / Fernando als ursprünglich primitive Eros-Natur. 523 / Eros und Ehesatzung in den „Wahlverwandtschaften". Die Ehe als Anangke in den „Urworten Orphisch". 523 / Urberührbarkeit des Schönen. Eros der Ferne. Verzicht auf Nähe und Dauerbesitz. 524 / Der Zustand des Eros: die Idee aller Ideen. Kosmischer Eros. 525 1 Eros als Selbstpreisgabe, Verwandlung, Entselbstung. 526 / Ist Goethes Liebes-Metaphysik Paraphrase oder Fortbildung des christlichen Liebesgedankens? 526 / Verschmelzung christlichen und griechisch-neuplatonischen Gedankenguts? 527 / Italienische Künder des Erosgedankens: Dante, Marsiglio Ficino, Pico von Mirandola. 527 16.

Das

Ewig-Weibliche

528

Essenz aus der Urreligion der Großen Mutter. 528 / Vorformen der Konzeption. 528 / Deutung des Ewig-Weiblichen seit Carus. Rickert. 528 / Abstrakt gedankliche Deutungen K. Hildebrandt, Ricarda Huch, H. A. Korff. 529 / Ist der Faustschluß christlich? Konfessionell gebundene und ratlose Deuter. 530 / Die liebende Welt- und Himmelsmutter : Gestalt der Urreligion. 531 / Die Mater gloriosa: Prinzip der schaffenden und umschaffenden Urliebe. 531 / Rosen-Symbolik. 532 / Begnadende Liebe von oben und innerer Eros-Kern in Faust. 532 / Fausts Erlösung. 533 / Vorgeschichte des Madonnenmotivs in Goethes Schaffen. Goethes römisches „Madonnenbild". 533 / Hatte die Madonna in früheren Jahren Goethes keinen religiösen Gehalt? 534 / Der religiöse Bedeutungshintergrund der Madonnenfigur. 535 / Der Muttergedanke in Goethes frühen Madonnenerlebnissen. 535 / Der Frankfurter Faustplan (Beutler). 536 / Die Idee des Ewig-W eiblichen in Goethes Gesamtschaffen. 536 / Ottiliens Heiligung: Gegenstück zum Faustschluß. 537 / Goethe konzipiert das Heilige unter der Form des Weiblichen. Verknüpfung des Erotischen mit dem Religiösen. 537 / Verklärungen der Geliebten in der Lyrik. 538 / Verklärte Frauengestalten in der epischen und dramatischen Dichtung. 538 / Wolkenvisionen als sakrale Symbole. 539 / Verklärung der Frau im „Werther". 539 / Unzulänglichkeit der Sublimierungstheorien. 540 / Eros der Ferne. Goethes erotische Mystik kein Knabenerlebnis. 541 / Ein rein männliches Erlebnis? Das Ewig-Weibliche ist nicht bloß Steigerung des naturhaft Weiblichen. 541 / Frauen ¡als schiebende Sterne, Engel, Heilige. 542 / Das Ideelle unter der Form des Weibes. 542 / Goethes Frauen: still und sicher in sich ruhend, Trägerinnen des Lebenstaktes. 543 / Goethes „angeborene" Idee von den Frauen. 544 / Empirisch-zufälliges Wesen alltäglicher Weiblichkeit. 544 / Weibliche Stoffverhaftetheit. Einbildungskraft. 545 / Goethes Frauen- und Männergestalten. 546 / Das Männliche. 546 / Zwei Aspekte des Ewig-W eiblichen: Aphrodite-Galatee und Mater gloriosa. 547 / Kore. 548 / Die Große Mutter. 548 / Der Mutterinstinkt im Tierreich. Myrons Kuh. 549 / „Übermütterliche Leitung". 549 / Die weiße und die schwarze Mutter. 549 / Klassische Walpurgisnacht: „gestalt-

XXV

gewordene Mütterwelt". Die Rolle des Mondes. 550 / Fausts Gang zu den Müttern. 550 / Die Mütter: platonische Ideen? 551 / Die Hypothese von W. Hertz. Mütter als Gruppen-Entelechien der drei Natur-Reiche. 552 / Die Mütterszene ein Lehrgedicht? 552 / Die Mütter: das innere Selbst? 552 / Mütterreich: die Sphäre künstlerischer Konzeption? 555 / Die Mütter: die lebenwebenden Schicksalsmächte, der metaphysische Ort von Tod und Geburt. 553 / Die Schemen: Bilder aller Kreatur. 554 / Urbilder, Bilder des Gewesenen. 555 / Klages und Bernoulli über Helena-Beschwörung und Mütterszene. 556 / Symbolik des Schlüssels. 556 / Allegorisch-„idealistische" Deutungen. 557 / Schlüssel und Dreifuß. 557 / Das Ewig-Weibliche: ein Urgedanke Goethes des Telluriers. Carus' Deutung. 558 / Daumer. 558 / Ein Ausspruch Goethes zur Metaphysik der Geschlechter. 558 / Die Madonna im Sternenmantel: Gegenpol der Tellus mater. 559

Anhang:

Typologische

Übersicht

561

Typen-Erkundung muß vom elementar-psychischen Bestand ausgehen. 561 / Die Rutzschen Typen. 561 / Unterarten. 562 / Typenproben. 562 / Evidenzerlebnis, Fehlerquellen. Untersuchung von Strukturverhältnissen. 563 / Brückenschlag zwischen psychischen und Weltanschauungstypen. 563 / Ursprüngliche Arten der Personation. 564 / Knüpfungsmöglichkeiten. 564 / Der Typus ist etwas ganz Elementares. 564 / Monographische und typologische Sicht. 565 / Typen-Tabelle. 566

Abkürzungen

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Anmerkungen

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Namenverzeichnis

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XXVI

EINLEITUNG

1.

THEMATIK

Je tiefer die Goethe-Philologie und Goethe-Hermeneutik in das Werk des „Olympiers" eindrangen, um so klarer stellte sich das Vorläufige, Bruchstückhafte, im tieferen und weiteren Sinne Unzulängliche aller synoptischen Deutungsversuche heraus. Ein aussichtsloses Unternehmen wäre es etwa, das Phänomen Goethe von der Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts her erklären zu wollen. So bedeutsam dieser zeitgeschichtliche Hintergrund in mancher Hinsicht sein mag — er bleibt Hintergrund, nicht mehr. Schon Ernst Cassirer1 gestand, daß alle Maßstäbe, die wir diesem Kreise entnehmen, unzureichend bleiben, daß wir mit ihnen die Weite und die Tiefe von Goethes Werk nicht ausmessen können. Nicht minder bruchstückhaft wirken indessen auch Deutungen aus weiterer Sicht, so aufschlußreich sie als Teilperspektiven sein mögen. Hierher rechne ich vor allem die beiden Themen: ,Goethe und die deutsche Klassik' und ,Goethe als abendländischer Mensch'. Ebensowenig endlich erklärt sich Goethe „durch sich selbst", d. h. als ein schlechthin singuläres, rein individuelles Phänomen. Wenn er einmal seine Werke „Lebens-Spuren" nennt2, so ist das ein großartiger Ausdruck seines Gefühls vom All-Leben, durchaus aber keine Ermunterung, sein Opus als bloßen Niederschlag privatpersönlichen Erlebens zu deuten. Schon Simmel3, gewiß ein Psychologe von Rang, beikannte resignierend, die Forderung, Goethes Weltbild auszulegen, könne auf psychologischem Wege immer nur zur Hälfte gedeckt werden. Die historisch-genetische Motivinterpretation z. B. hält sich, wie man weiß, an die bekannte „Erlebnisnähe" Goethescher Dichtung und unternimmt es daher, seine dichterischen Schöpfungen aus der persönlichen Gelegenheits- und Erlebniswurzel zu verstehen. Was hier als momentaner Ursprung angesehen wird, ist jedoch in der Regel nur A n l a ß oder notwendiger Lebensreiz der Gestaltung, keineswegs letzte und maßgebende Quelle4. Daß in die Gestaltenwelt zumal des jungen Goethe von allen Seiten menschliche Erfahrungen einfließen, ist nicht zu bezweifeln. „Aber der Strom, der sie aufnimmt und trägt, sind die Grundthemen des Goetheschen Lebensgefühls"5. Es ist fraglos wichtig und gutes Recht der Goethe-Philologie, nach Quellen und Vorlagen zu fragen, Einflüsse, Anregungen, Ubernahmen zu erkunden. Nur darf sie sich nicht einbilden, damit die letzthin schöpferischen Quellpunkte bloßgelegt, die treibenden Wachstumskräfte aufgespürt zu haben. Nicht das Motiv als solches entscheidet, sondern seine Gestaltung. Diese aber ist, wie Wilhelm Emrich6 sagt, selbst ein geschichtsbildender, geschichtszeugender Vorgang, in dem 3

das Gesamtverhältnis des Dichters zu Leben und Geschichte immer völlig neu aufgerollt und als Problem gestellt wird. Emrich7 hat fraglos recht, wenn er, die Ergebnisse seiner Faustdeutung zusammenfassend, sagt, daß Dichtung nicht wesentlich Wiedergabe von Erlebnissen oder ausformender Ausdruck begrifflich formulierbarer Weltbilder ißt, sondern stets „neu" in ein „Unbekanntes" vorstößt und damit selbst zur geschichtsbildenden Macht sich erhebt. Aber dieser Vorstoß ins Unbedingte, Spontan-Schöpferische ist durchaus nicht bloß pionierhaftes Vordringen ins Neuland des Künftigen. Mindestens ebenso tief bleibt gerade Goethes Dichtertum dem „alten Wahren" verpflichtet: als erneuerndes, verjüngendes Wiederher aufbeschwören einer alten, wie sich noch zeigen wird, oft urältesten Bilderwelt, als Rückspiegelung von Ursymbolen und Mythen der Vorzeit. Und hier setzen jene rätselhaften, gänzlich unindividuellen, überindividuellen Urerlebnisse ein, die Goethe selbst „Antizipationen" nennt: plötzliches Aufblitzen von elementaren Lebensmächten, das sich anscheinend jeder rationalen, insonderheit biographisch-genetischen Deutung entzieht. „Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt", heißt es in den Maximen (562). Wie eine Urerinnerung (Anamnesis) leuchtet das echte Symbol in seiner ahnungsschweren Sinnfülle auf, kein bloßes Zeichen, sondern stumm-beredte Ursprache des weltoffenen, kosmischen Sinnes. Oft handelt es sich auch um eigenartig dumpfe Elementargefühle, so etwa in dem berühmten Aufsatz vom Granit; oder gar um ein (kosmisches, subjektentfremdetes) „Gefühl ohne Gefühl", so im Höhlenerlebnis des Dichters. Es ist bezeichnend, daß diese elementaren Regungen niemals als bloße Stimmungen oder Gefühlslaunen des Erlebenden auftreten, sondern stets gegenständlich oder bildhaft gebunden, symbolhaft ge~ staltet. Sie sind welthaltig. Echte dichterische Symbole werden nicht ersonnen oder gar erklügelt, sie bieten sich zwingend, besitzergreifend dar. Aber woher stammen sie? Keinesfalls aus Individualbesitz. Mag auch jenes seltsame, fast unbeschreibliche Höhlenerlebnis Goethe erstmalig in der Höhle am Hermannstein bei Ilmenau überkommen haben: das Hier und Jetzt hat offenbar nur auslösende, nicht quellhafte Bedeutsamkeit. Es handelt sich, wenn man näher zusieht und die ganze Typik dieses Motivs in Goethes Leben und Schaffen überschaut, um etwas durchaus Archaisches. Unwillkürlich erinnert man sich der Lehre des Psychiaters C. G. Jung von den „Archetypen": vorzeitliche Mythenmotive und religiöse Symbolgestalten schlum4

mern in dumpfer Latenz im Kellergewölbe des „kollektiven Unbewußten". Sie sind nicht (Mitogenetisch ableitbar, sondern Erbgedächtnis. Schöpft der Dichter, der Künstler überhaupt, aus diesem Bilderarchiv der Menschheitsvorzeit? Fast möchte es so scheinen8. Durchforscht man freilich genauer Goethes „Symbolnetz", wie es vor allem die wegbahnende Arbeit von Emrich vor unseren Blicken ausgebreitet hat, so stellt sich heraus, daß fast all diese Symbole planetengleich, bildlich gesprochen, um ein verborgenes G r a v i t a t i o n s z e n t r u m kreisen. Sie verweisen auf eine „lebensgesetzliche Mitte", auf eine „innere Nötigung" Goethes, so und nicht anders zu gestalten. Sie tauchen nicht, wie etwa in den Träumen der von Jung beschriebenen Psychotiker, trümmerhaft als letzte pièce de résistance eines Abbaus der zivilisierten Bewußtseins-Oberwelt, als letzte Station einer Flucht und Regression ins Infantil-Unbewußt-Kollektive auf, sondern sie bilden ein wohlgeordnetes Sternsystem, einen wahrhaft gestalteten Kosmos jenseitsi des Tagesbewußtseins. Mit Jungs Archetypen teilen allerdings auch Goethes Ursymbole — wie z. B. Granit (Stein), Erde, Höhle, Wassersturz, Schleier usw. — die Eigentümlichkeit, uralten Mythenstoff und die ihm zugrundeliegenden „Natursymbole" Wiederaufleben zu lassen. Aber es ist keine bunt durcheinander gewürfelte Allerweltsmythologie, die hier aufscheint. Vielmehr handelt es sich um eine genauer abgegrenzte Sphäre von Bildern. Zum weitaus überwiegenden Teil gehören sie nämlich dem Bezirke des vorweltlichen Chthonismus oder T e l l u r i s m u s an, den Bachofen als eine eigene Welt vor dem Anbruch der tagwachen „Geschichte" erkannte und in seiner dumpfen lebensträchtigen Fülle, in der pflanzenhaft wuchernden Organik seines Natur- und Schicksalsgefühls beschrieb. Nicht daß die „uranische" Gegensphäre, der Lichthimmel, die Tag- und Sonnenwelt fehlte; stets aber bleibt das obere Reich unabgeschieden und aufs innigste verbunden mit dem Chthonisch-Tellurischen. Niemals verfestigt es sich zur präexistenten Ober- oder Jenseitswelt wandellos beharrenden Seins. Vorzeitliche, urreligiöse Bewußtseinszustände sind es also, die in Goethes Symbolnetz Gestalt annehmen und darüber hinaus auch in den Bezirk „philosophisch" formulierbarer Weltanschauung vordringen. Das tragende Gerüst, der letzthin konstitutive Untergrund und Unterbau von Goethes Weltbild ragt aus jener tellurischen Schicht ins hellere Bewußtseinsfeld der spätabendländischen Geschichtswelt hinein, ein Archaismus von noch kaum erblickten Ausmaßen. Ein wundervolles, märchenhaftes Relikt, wenn man will; aber man muß hinzufügen: ein eigenartig metamorphosiertes Überbleibsel zugleich, in gewisserWeise der Lebensverfassung unserer 5

späten" Geschichtswelt doch wieder angeglichen. (Im anderen Falle wäre n u r ein atavistisch wirkender Instinktkünstler, ein sozusagen mediales Talent entsprungen.) Daß Goethe zugleich neuzeitlicher Abendländer und wiedererstandener „Pelasger" 9 sein könnte, ist eine fast unausdenkliche Paradoxie, eine starke Zumutung f ü r unser rationales Begreifenwollen; und doch müssen wir uns wohl mit dem seltsamen Faktum abzufinden suchen und die bequeme, aber unzulängliche Vorstellung vom „einstöckigen" Bau der Psyche preisgeben. Übrigens darf man nicht glauben, daß Goethe mit dieser „Doppelstruktur" ganz allein stünde. Er eröffnet vielmehr die Reihe der deutschen (bzw. deutschschweizerischen) „Spätpelasger": Schelling, Carus, Rückert, Bachofen, Daumer, Fechner, C. F. Meyer, G. Keller, Klages. Im Bereiche deutscher Geistesgeschichte hat er nur einen Vorläufer, den Theosophen und Mystiker Jakob Böhme. Nur die deutsche M u s i k hat seelisch verwandte Schöpfergeister in Händel, Haydn, Mozart 10 , Schubert, Bruckner zu verzeichnen. Sie alle schaffen „naiv", wie Schiller sagen würde, naturhaft; mit unzerschnittenen Fühlfäden zum Kosmos. Sie gehören allesamt jenem Grundtypus geborgenen Weltfühlens an, den die Rutz-Beckingsche Typenlehre 11 als „sphärisch" oder „enthusiastisch" (Typus I) bezeichnet, und dessen Urgeschichte — soweit aufhellbar — vermutlich vorzugsweise im altmittelländischen Raum sich abgespielt haben dürfte. Nur in metamorphosierter Gestalt vermochte dieser Typus offenbar die Hochund Spätzeit der Geschichte zu überleben, als (numerisch) geringfügige Minorität. Wir dürfen ihn wohl, anknüpfend an Bachofen, als den Hauptträger eines uralten symbiotischen Weltgefühls, eines „Weltalters" der Erdmutter-Religion vorstellen. Die Angehörigen dieses Menschheits-Typus haben offenbar die Möglichkeit, k r a f t „Antizipation" bestimmte ursymbolische Vermächtnisse ihres Kreises darzustellen und auszusprechen; obzwar natürlich in Selektion, deren Ausmaß gewiß von individuellen, namentlich aber auch zeitbedingten, wohl auch nationalen Voraussetzungen abhängen dürfte. Der Typus (das Weltalter also) ist etwas überaus Gruppenhaftes, sagt also nichts aus über die individuelle Ranghöhe, Blickweite, Gestaltungs- und Schöpferkraft. Er ist n u r ein Fundament, worauf die Pyramide des individuellen Daseins sich aufbaut. Aber von diesem Grundgelände oder, besser, organischer ausgedrückt, Wurzelboden, ziehen sich doch vorbestimmte Strukturverhältnisse weiter „nach oben". Der Urtypus verfließt und verwischt sich nicht etwa in der hochgezüchteten Individualität, sondern steigert und profiliert sich zugleich in und mit ihr! 6

Nur so ist es zu verstehen, daß ein so ausgesprochenes Individualgenie wie Goethe, der erste große Erlebnisdichter des Abendlandes, zugleich der erste Abendländer überhaupt ist, der die religiöse Ursituation, die eigentümliche M e t a p h y s i k s e i n e s T y p u s (oder Weltalters) in einer Fülle von spontan „wiederemportauchenden" Sinnbildern, aber z. T. auch in philosophischer Begriffsklarheit ausspricht. Zwar gibt es, wie angedeutet, einzelne schätzenswerte Vorläufer und Vordeuter, in Deutschland Jakob Böhme, in Italien Persönlichkeiten wie Franziskus v. Assisi, Lionardo, Giordano Bruno, Giambattista Vico; aber der tellurisch(-pelasgische) Wurzelgrund schimmert in ihren Werken nur hindurch, ohne sich recht eigentlich strukturell entfalten zu können. Erst in Goethe wird er aus der Latenz, aus mehrtausendj ähriger Pseudomorphose erlöst und darf sich frei zu seiner heidnischen Mutterschicht bekennen. Nun darf man allerdings nicht glauben, daß solch ein versunkener Seelenkontinent ganz ohne Erschütterungen und Flutwellen aus dem Gewässer wiederemportaucht. Das unzulängliche Trugbild vom apollinischen Goethe täuscht uns darüber hinweg, welches Unmaß von Kämpfen und Reibungen dieses Dasein heraufbeschwor. Von natürlicher Eingefügtheit und Angepaßtheit der großen „Monade" in ihre kulturelle Umwelt kann nicht die Rede sein. Der Lebens- und Liebesüberschwang der Jugend täuschte oft Bündnisse mit Freunden und Weggenossen vor, die in Wahrheit nur vermeintliche Partner oder verkappte Gegner waren. Der alternde Goethe vereinsamte: immer mehr kam es ihm zum Bewußtsein, daß er die Kelter allein trete und sich in einen schier hoffnungslosen Kampf mit einer ewig opponierenden, von ganz anderen Impulsen fortgetriebenen Umwelt eingelassen habe. In seiner Rede zum 100. Todestag Goethes12 hebt Thomas Mann einen Wesenszug des Dichters und Weltweisen scharf ans Licht, der selten beachtet wird: „eine eigentümliche Kälte, Bosheit, Médisance, eine Blocksberglaune und naturelbische Unberechenbarkeit"; „Züge eines tiefen Grams und Mißmuts, einer stockenden Unfreude, die ohne jeden Zweifel mit seiner ideellen Ungläubigkeit, seiner naturkindlichen Indifferenz, mit dem, was er sein Liebhabertum, seinen moralischen Dilettantismus nennt, tief und unheimlich zusammenhängt". Thomas Mann deutet das Elementare, Dunkle, Zwiespältige, Widerspruchsvolle, ja Mephistophelische in Goethes menschlicher Art als Ausdruck seiner Naturkindschaft. „Die Natur", sagt er, „gibt nicht Frieden, Einfachheit, Eindeutigkeit, sie ist ein Element der Fragwürdigkeit, des Widerspruchs, der Verneinung, des umfassenden Zweifels. Sie verleiht nicht Güte, denn sie ist selbst nicht 3 D a n c k e r t , Goethe.

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gut. Sie erlaubt kein scheidendes Urteil, denn sie ist n e u t r a l Sie v e r leiht ihren Kindern eine Indifferenz und Problematik, die mit Qual und Bösartigkeit m e h r zu t u n h a t als mit Glück u n d Heiterkeit." Diese Auslegung ist geistreich, aber sie greift doch fehl, sie deutet Natur und Naturkindschaft, wie m a n sogleich sieht, aus goetheferner, transzendenter Sicht, also aufspaltend (wie Schiller). Das „Elementare", das Thomas M a n n hier wie auch in einem anderen GoetheAufsatz 1 3 als Mutter-Schicht der Goethe-Psyche erspürt, deutet er sogleich Im Sinne weltzerklüftender „Protestantik" einspurig v/ertend als „das Dunkle, das Boshaft-Verwirrende, das NegierendTeuflische". Wäre es nicht viel naheliegender, i n alledem den Ausdruck von Goethes „Unangepaßtheit" an seine kulturelle Mit- und Umwelt zu erblicken? Eine Folgeerscheinung also jener inneren Vereinsamung, von der Aussprüche wie die folgenden K u n d e geben: 14 „Ich mochte mich stellen wie ich wollte, so w a r ich allein." „Ich w a r d gleich anfangs auf mich selbst zurückgewiesen, und noch bis auf den heutigen Tag lebe ich in einer Welt, aus der ich wenigen etwas mitteilen kann." „So entschieden w u r d e damals v e r k a n n t , w a s m a n wollte und wünschte; denn es lag ganz außer dem Gesichtskreise der Zeit." „Meine ganze Zeit wich von mir ab; denn sie w a r ganz in subjektiver Richtung begriffen, w ä h r e n d ich in meinem objektiven Bestreben i m Nachteile und völlig allein stand." Endlich der resignierte Trost: „So verstehe ich wenigstens mich selbst, und Gott wird mich wohl auch verstehen." Entschließt m a n sich zu solcher Deutung, so begreift m a n viele Reibungen, Widrigkeiten und Paradoxien in Goethes L e b e n s f ü h r u n g besser; vor allem lernt m a n seine i m m e r erneuten Klagen ü b e r Unverständnis, Mißwollen, „ewige Opposition", „ewiges Nichta n e r k e n n e n " und den Ausspruch, daß keiner seine Prämissen v e r stehe, besser würdigen. „Es ist die größte Qual, nicht verstanden zu werden, wenn man nach großer Bemühung und Anstrengung sich endlich selbst und die Sache zu verstehn glaubt; es treibt zum Wahnsinn, den Irrtum immer wiederholen zu hören, aus dem man sich mit Not gerettet hat, und peinlicher kann uns nichts begegnen, als wenn das, was uns mit unterrichteten, einsichtigen Männern verbinden sollte, Anlaß gibt, einer nicht zu vermittlenden Trennung." (Nachträge und Zusätze zum Versuch über die Metamorphose der Pflanzen. Schicksal der Druckschrift.) „Ewige Opposition, ewiges Nichtanerkennen dessen, was mühsam erforscht ist; jede Anschauung will man sogleich töten und in bloße Begriffe auflösen. Ach die Menschen sind gar zu albern, niederträchtig und methodisch absurd; man muß so lange leben als ich, um sie ganz verachten zu lernen." (Zu F. v. Müller, Biedermann 2008.) „Ich kann eigentlich mit niemandem mehr über die mir wichtigsten Angelegenheiten sprechen, denn niemand kennt und versteht meine Prämissen." (Zu F. v. Müller, 5. April 1830.) 8

Goethe war darauf gefaßt, bis auf weiteres „ein Zwischenfall ohne Folgen" zu bleiben, wie Nietzsche bitter-sarkaistisch gesagt hat. Er spricht es bereits 1798 in einem Briefe an Schiller (21. Juli) aus: ..Sein Jahrhundert kann man nicht verändern, aber man kann sich dagegen stellen und glückliche Wirkungen vorbereiten." Dreißig Jahre später zu Eckermann: „Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind"15. Goethe steht gegen die Zeit; er sucht sich viel mehr von den Wirkungen der Zeit zu befreien als auf die Zeit selbst zu wirken. (Im Gegensatz zu Schiller, den schon Wilhelm v. Humboldt den modernsten unter den modernen Dichtern nannte.) Aus all diesen und vielen ähnlichen Aussprüchen klingt das Gefühl, die Ahnung hervor, aus einem anderen, jugendlichen, ursprungsnahen Aeon in diese so ganz anders geartete, herbstlich-späte, absterbende Welt der abendländischen Zivilisation auf unbegreifliche Weise verschlagen zu sein. „Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder weniger allen herzlich schlecht; unsere Zustände sind viel zu künstlich und kompliziert..." (Zu Eckermann, 12. März 1828.) In solchen Augenblicken steigert sich das Fremdheitsgefühl zum tiefen Zweifel an dem Weg der Kultur, und die letzte skeptische Frage kann nicht ausbleiben, ob der neuzeitliche Mensch sich nicht in eine ausweglose Sackgasse verrannt habe, die ihn immer tiefer von seiner eigentlichen und wesentlichen Bestimmung abbringt. Der Dichter und Seher fühlt das unaufhaltsame Herannahen des großen Kataklysma, das einer verjüngten Schöpfung Raum schaffen wird. Die urtümliche Grund- und Mutterschicht in Goethes seelischer Struktur ist schon oft gespürt und geahnt worden; als ein typologisches und zugleich kulturmorphologisches Pröblem hat man sie bislang, soviel ich sehe, noch nicht erblickt. Zu den Ahnenden gehört bereits Schiller, der den Typus des „naiven Dichters" halb nach antiken Mustern, zum überwiegenden Teile aber doch wohl nach dem Modell Goethescher Dichtungsart entwirft. Bald gilt ihm das Naive als zeitlos-überzeitliche Manier, bald sieht er in ihm einen Bewußtseinszustand der Menschheitsfrühe. Die zweite Deutungsmöglichkeit vertritt in unseren Tagen mit Entschiedenheit Rudolf Alexander Schröder16. Er schildert den „Naiven" als jenes „dämonische Wesen, das aus der unmündigen Dämmerung seines Individualzustandes aufsteigt wie die Melusine aus dem Brunnen". Auch Simmel17 spürt Ähnliches in Goethes metaphysischem Einheitsgefühl, das bei allem gesteigerten Bewußtsein und trotz vertiefter 3*

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Begründung doch zuletzt „auf dem Boden undifferenzierter Einheitlichkeit" steht; gegenüber Kants aufgespaltener Zweiweltenlehre erscheint ihm Goethes einheitliches Welterlebnis als ein sozusagen „paradiesischer Zustand". Das Archaische in Goethes Stil der Naturforschung hat man wieder und wieder empfunden. Carus spricht von ihrer „griechischen Einfachheit". Auf einem nachgelassenen Zettel, der im nicht zustandegebrachten zweiten Band seiner „Gedanken über Goethe" verarbeitet werden sollte, schreibt Viktor Hehn: „Goethes Farbenlehre. Sie macht den Eindruck einer wissenschaftlichen Schrift des Altertums. Sie ist wie ein gelehrtes Werk in Athen geschrieben... Der ganze Mensch steht hier der Natur gegenüber: ein sinnlich-.sittliches Totalbild" 18 . Fast gleichlautend urteilt Adolf Meyer19: 0,Goethes Naturforschung ist ihrem Wesen nach antike Naturforschung. Piaton oder Aristoteles hätten in genau demselben Sinne Naturforschung getrieben wie er, wenn sie an seiner Stelle in der Geistesgeschichte gestanden hätten." Ist aber die Antike wirklich der Heimat- oder Quellbezirk Goethischer Rückschau? Zielen die letzten, tiefsten Impulse nicht geradezu ins U r t ü m l i c h e schlechthin? Sehr treffend deutet Leopold Ziegler20 Goethes unablässiges Ringen um eine poetische Einkörperung so frühweltlicher Gestalten wie Prometheus, Moses, Mahomet, seine eindringliche Beschäftigung mit Bibel und Koran, aber auch mit Homer und Ossian, seinen Hang zu den Geheimwissenschaften, zu Gnosis und Neuplatonismus, zu Alchemie, Kabbala, Hermetistik aus solchen Zusammenhängen. „Von den Kinderjähren bis ins höchste Alter läßt ihn der bemerkenswerte Drang nimmer ruhen, den Ur-Stand der Menschheit, wortwörtlich ihren U r - S p r u n g . . . zu ermitteln und derart sowohl stammes- wie einzelgeschichtlich in der seelischen Tiefenschicht zu schürfen, aus welcher... alle poetischen, alle mythischen und so freilich auch religiösen Schöpferkräfte keimen." Dieses Bemühen rückt ihn in die Nähe Bachofens; beide leben aus unmittelbarer, vitaler Verbundenheit mit der Müttersphäre; womit natürlich die sonstigen handgreiflichen Unterschiede der Begabung, Neigung und vor allem auch der zeitgeschichtlichen Lagerung nicht hinwegdisputiert werden sollen. Wenn Thomas Mann in seinen Goethe-Essays (besonders in dem Aufsatze „Goethe und Tolstoi", Berlin 1932) das Tellurische, Antaioshafte und die Naturkindschaft Goethes (in einem übrigens nicht eben glücklichen Vergleich mit Tolstoi) in hellere Beleuchtung rückt, so zielen seine Aussagen in letzter Instanz auf die urtümliche Schicht. Als Gegentypus setzt er dem Naturgeborgenen die „Geisteskinder" entgegen: eine sehr weitläufig umrissene Gruppe, der z. B. 10

Schiller wie auch Dostojewski angehören sollen. Daß Goethes Symbolik sich mit alten mythischen Gestalten berührt, hat man gelegentlich wohl schon gesehen. Einen ihrer Gravitationspunkte nennen Hedwig Vogel21 und Karl Kerenyi, die in der Klassischen Walpurgisnacht eine „gestaltgewordene Mütterwelt" erblicken. Am nächsten kommen unserer Themenstellung die Arbeiten von Ludwig Klages22, Werner Deubel23 und Carl Albrecht Bernoulli24. In seinem großen Bachofenbuch deutet Bernoulli die Mütterszene des Zweiten Faust als intuitive Vorwegnahme von Bachofens Grundthema. (Vgl. S. 556.) Klages und sein Schüler Deubel arbeiten die biozentrische, lebensabhängige, psychistische Seite (und damit letztlich die „pelasgische" Grundlage) in Goethes Art heraus, wobei es ihnen hauptsächlich auf die scharfe Absonderung „logozentrischer" Gegenstrebungen ankommt. Diese „zweistöckige" Goethe-Psychologie ist natürlich gegenüber den bekannten harmonistischen Goethe-Klischees ein bedeutsamer, nicht mehr zu missender Erkenntnisgewinn. Freilich neigt sie zu überscharfer Konturierung und Aufspaltung. An das Denkschema Bios—Logos (bzw. Seele—Geist) gebunden, übersieht sie vor allem, daß die Gegensphäre, von der sich Goethe „durch mehr als einen Erddiameter geschieden" wußte, n i c h t eigentlich (oder doch nur in zweiter Instanz) die uranische Sphäre des spaltenden Geistes bedeutet, sondern die weitaus rätselhaftere, in ihrer metaphysischen Struktur noch kaum ergründete Macht des „Transzendierens", die letztlich auf ein „Jenseits des Geistigen" hinzielt25. Wie es darum steht, wird an späterer Stelle (S. 195 ff.) ausführlicher zu erörtern sein. An ahnenden Hindeutungen auf Goethes Urtümlichkeit, auf das Chthonisch-Pelasgische seiner seelischen Grundverfassung ist also kein Mangel. Noch fehlte es aber bislang an Handhaben, Begriffen und Methoden, diese psychische Provinz näherhin zu umreißen und ihr Spezifisches von den mannigfachen historischen Umlagerungen abzusondern. Darzulegen, wie jenes Urtümliche auch in gänzlich fremder Umwelt, eingelagert in eine wesentlich „spätere" Lebensphase des Menschheitsrhythmus, sich zu behaupten vermag: so stellt sich unser Grundproblem dar. Es ist, allgemeiner gesprochen, das Problem der M e t a m o r p h o s i e r u n g „ f r ü h e r " I n d i v i d u a l - B e w u ß t s e i n s s t u f e n auf „später" K o l l e k t i v S t u f e . Ohne Metamorphosierung, d. h. relative Umwelt-Anpassung, wäre ein Fortbestand „früher" Bewußtseinslagen gar nicht möglich. Man erwarte hier keine Endlösung in gedrängten Formeln. Vielleicht ist das tiefste Geheimnis der Metamorphosen für uns undurchschaubar, und wir dürfen zufrieden sein, wenn es 11

uns gelingt, die Möglichkeit und Tatsächlichkeit solcher Erneuerung uralter Lebensspuren überhaupt aufgewiesen zu haben. Wenn wir fortab bewußt die großen Cantus firmi der Goetheschen Lebens- und Schaffens-Sinfonie abhören, um sie auf ihren urtümlichen Gehalt zu befragen, so bedeutet das in keinem Falle den Versuch, alles von einem Punkte her zu deuten (oder vielmehr zurechtzubiegen). Von vornherein ist klar, daß ein so bewunderungswürdig polyphones Instrument des Weltgeistes wie Goethe auch polyphoner Deutungen bedarf. Als tragende „Grundstimme" freilich — wenn wir das Gleichnis noch ein wenig fortspinnen — dürfte sich jedoch das tellurische Thema erweisen. Von den mannigfachen „Kontrapunkten" (den im engeren Sinn geschichtlichen Bedingtheiten) der Goetheschen Existenz greifen wir lediglich das Thema „Klassik" heraus. Im folgenden Kapitel wird es sich darum handeln, die klassische Situation als morphologische Stufe eines (nationalen) Geschichtsablaufes zu skizzieren. Dieses Kapitel steht also als ein vom Hauptthema abgesondertes voraus; es widmet sich ausdrücklich dem „Gegenthema" der Goetheschen Existenz, befaßt sich mit all jenen Zügen und Gestalten Goethescher Dichtung und Lebensverfassung, die dem Sonnen-, Tag- und Bewußtseinspol, dem Tatgeiste, dem Trieb zur Vollendung und Herausprofilierung des durchgeformten Selbstes angehören. Alle nachfolgenden Erörterungen hingegen umkreisen die Sphäre urtümlicher Bilder, aus denen das vielmaschige Symbolnetz der Goetheschen Dichtung gewoben ist.

2. D A S G E G E N T H E M A :

KLASSIK

Wenn man von Goethes Klassikertum spricht, so muß man sich von vornherein darüber klar sein, daß es sich um keine starre „Konstante" seines Wesens handeln kann. Als Schicksalsbestimmung, als metaphysische Idee, als immer neu gestellte Aufgabe ist das klassische Motiv — so möchte man sagen — stets und überall in Goethes Schaffen fühlbar. Klassik ist — anders ausgedrückt — innere Form, ein Stil der persönlichen Entscheidungen, unaufhörlich erneute Forderung, kein fertiges, vorgegebenes Gehäuse, in dem man bequem wohnen und sich einrichten kann. Weil Klassik solch eine unwiederholbare Haltung und nichts Tradierbares ist, darum gibt es auch keine klassischen „Kleinmeister", keine Kunsthandwerker dieses Stils (ebensowenig in klassischer Musik). Von einem Zeitalter der Klassik, einem „Geist der Goethezeit" (Korff) kann 12

nicht die Rede sein; nur im Werk weniger, führender Persönlichkeiten nimmt das wahrhaft Klassische als einmalige Leistung Gestalt an1. Wie ein ewiger, teils beständig fortklingender, dann wieder nur leise angedeuteter Orgelpunkt durchzieht das Klassische die Symphonie von Goethes Leben und Schaffen. Titanismus, Sturm und Drang, Romantik, Nazarenertum, selbst Vorklänge von „Impressionismus": all das spielt zuzeiten herein, ohne jedoch jemals zur Vorherrschaft zu gelangen. Selbst der schmerzlich hingegebene, rückschauende, dionysisch bewegte Goethe der „Pandora" gibt sein geheimes Gravitationszentrum nicht preis. In keinem Augenblick wird er zum Romantiker, so aufgeschlossen er sich zuzeiten dem romantischen Wesen zeigen mochte. Stets bleibt er dem Gesetz, wonach er angetreten, treu. Das Daseinsgefühl des vorklassischen Menschen ist „heteronom" bestimmt: man lebt in einem Gehäuse vorgeprägter Sicherungen. Aber die hochragenden Burgen des überlieferten Glaubens und der spekulativen Metaphysik verwandeln sich später in kleine, bürgerliche Raststätten. Die Glaubensgewißheit der Jacobi, Lavater, Claudius entspringt dem Bedürfnis „nach Ruhe und Seelenfrieden"2. Nicht anders steht es um Herders Weltgenuß: hybride Kraftüberbreitung des Stürmers und Drängers und „bourgeoises" Sicherungsbedürfnis. fordern auch hier einander. Goethe hingegen erkennt und durchschaut die Ungesichertheit der menschlichen Existenz, verzichtet auf bergende Gehäuse und lebt aus dem neuen Selbstverantwortlichkeitsgefühl des klassischen Gestaltertums. Daher sein „Relativismus", sein Durchprobieren fremder „Denkarten", seine tiefe Ironie, sein häufiger Standortwechsel, das „Schaukelsystem" zwischen entgegengesetzten Hypothesen, seine Einsicht in die unauflöslichen metaphysischen Antinomien. Der neue Standort, der autonomes Gestalten ermöglicht, ist also ein Indifferenzpunkt, ein einigermaßen labiles Gleichgewichtszentrum. Ihn zu erringen, bedeutet zunächst ein Sich-Freimachen und Loslösen von überlieferten Sicherungen. Jede Klassik beruht auf vorangehender Purifikation, Kritik der dogmatischen Gehäuse; aber das ist keine bloße Verstandesleistung, wie sie die Aufklärung forderte, sondern ein neues kraftvolles Ethos der Selbstverwirklichung. Ein Leitgedanke der deutschen Klassik ist das „Reine", die „Reinheit". Auch bei Schiller und Kant tritt er bedeutsam hervor; man denke nur an die „Kritik der reinen Vernunft"3. Für Goethes Weltgefühl gewinnt das „Reine" namentlich im ersten Weimarer Jahrfünft zentrale Bedeutung. Die Briefe und Tagebücher bis zur Italienischen Reise sind von Variationen über dieses Lieblingswort erfüllt. 13

„War den ganzen Tag in gleicher Reinheit" (Tagebuch, 30. November 1777). „Diese Woche viel auf dem Eis, in immer gleicher fast zu reiner Stimmung . . . Bestimmteres Gefühl von Einschränkung, und dadurch der wahren Ausbreitung" (Tgb., Februar 1778). „Conseil./: fortdauernde reine Entfremdung von den Menschen. Stille und Bestimmtheit in Leben und Handeln" (Tgb., 12. Februar 1778). „Unerwartet schön anhaltend Wetter in wenig Tagen viel grün, bloß vegetiert, still und rein" (Tgb., April 1778). „Schönes Wetter still und rein mit den meinigen verlebt" (Tgb., 23. April 1778). „Iphigenie gespielt, gar gute Wirkung davon besonders auf reine Menschen" (Tgb., 6. April 1779). „Gleichmut und Reinheit erhalten mir die Götter aufs schönste" (An Charlotte v. Stein, 17. Mai 1778). „Gar schön ist der Feldbau weil alles so rein antwortet wenn ich was dumm oder gut mache, und Glück und Unglück die primas vias der Menschheit trifft" (Tgb., 2. August 1779). „Merkwürdig! früh rein aufgestanden" (Tgb., 2. August 1779). „Vom 3. zum 6. anhaltend in stiller innrer Arbeit, und schöne reine Blicke" (Tgb., 6. August 1779). „Möge die Idee des Reinen die sich bis auf den Bissen erstreckt den ich in Mund nehme, immer lichter in mir werden" (Tgb., 7. August 1779). „Der Besuch der schönen Götter dauert noch immer fort, auch das reine Wetter" (Tgb., 4. September 1779). „Da ich jetzt so rein und still bin wie die Luft so ist mir der Atem guter und stiller Menschen sehr willkommen" (An Charlotte v. Stein, 28. September 1779). „Ich will nicht ruhen bis ich rein von dem hinterbliebenen Zeug, neues gibts immer" (Tgb., 18. Januar 1780). „Sehr reine und kalte Tage" (Tgb., 24. Februar 1780). „Eine schöne Seele [Gräfin v. Werthern], wie in einer reinen Luft, wie an einem heitern Tag ist man neben ihr" (Tgb., 6. März 1780). „Geht das Alltägliche ruhig und rein" (Tgb., 13. Mai 1780). „Ich war in Gotha und hatte reine Verhältnisse mit allen" (Tgb., Juni 1780). „Die stille, reine, immer wiederkehrende, leidenlose Vegetation tröstet mich oft über der Menschen Not, ihre moralischen noch mehr physischen Übel" (An Lavater, 9. April 1781). „Zu Mittage komme ich. Empfange mich mit deiner Liebe und hilf mir auch über den dürren Boden der Klarheit, da du mich durch das Land der Nebel begleitet hast" (An Charlotte v. Stein, 3. Mai 1781). „Ja lieber Bruder d u könntest mich schon von manchem fliegenden Fieber des Grimms reinigen, was könnte die L i e b e d e s A l l s wenn es lieben k a n n wie w i r lieben". „In mir reinigt sichs unendlich..." (An Lavater, 7. Mai 1781). Kanntest jeden Zug in meinem Wesen, Spähtest, wie die reinste Nerve klingt . . . (Warum gabst du uns die tiefen Blicke, 1776) Nach K. Burdach 4 hätte der junge Goethe die Vorliebe für die Worte „rein" und „Reinheit" aus der Sprache der Pietisten und Mystiker übernommen. Aber dieser philologische Herkunftsnachweis kann schwerlich die Eigenbedeutung des Begriffs für Goethes künstlerische und menschliche Individualentwicklung völlig erklären. Die Idee des Reinen ist ja doch ganz offenbar in diesen Jahren „ein Leitstern der Selbstformung Goethes und ein gestalt14

bildender Kern des frühklassischen Persönlichkeitsideals, die Selbstbesinnung ein Weg zu dessen Verwirklichung". So die treffende Formel Adolf Becks5. Mit beiden, Reinheit und Selbstbesinnung, habe sich Goethe P y t h a g o r ä i s c h e s anverwandelt. Dieser Deutung Becks möchte ich nur sehr bedingtermaßen zustimmen. Man darf die „heteronomen" Einwirkungen, die von außen eindringenden „Bildungs-Erlebnisse" nicht überschätzen. Die pythagoräische Metaphysik zielt auf eine schärfere („uranische") Absetzung des Logoshaften von der als unrein empfundenen Hyle hin als Goethes Weltschau. Auch die Begegnung mit Spinoza, auf die Franz Koch6 Gewicht legt, kann Goethes Streben nach Reinigung zwar gefördert aber nicht erweckt haben, denn schon vor aller Spinoza-Lektüre taucht das Motiv auf. Wenn der junge Goethe in den Briefen an Auguste v. Stolberg von der „heiligen Liebe" spricht, so ist es der „Geist der Reinheit", der „nach und nach das Fremde ab- und ausstößt und so endlich lauter werden wird wie gesponnen Gold"7. Oft verbinden sich, zumal in der ersten Weimarer Zeit, die Begriffe „Reinheit" und „Stille" (vgl. S. 42 ff.). Aber noch in späten Jahren wird esi heißen: Halte dich nur im Stillen rein... Als Goethe nach Weimar kam, war das Wort „unendlich" überall wiederkehrendes Stichwort. Ende der neunziger Jahre heißt das Lieblingswort: Klarheit. (Darüber Wieland nach Böttigers Tagebuch, 15. Juli 1798, Bode S. 630 f.) Die auffällige Häufung und Betonung des Reinen in Goethes frühklassischer Zeit fordert allerdings Erklärung. Hier bietet sich Georg Simmeis8 Deutung ungezwungen dar, die allerdings der Weiterführung und Ergänzung durch morphologisches Geschichtsdenken bedarf. Reinheit wird in diesen Jahren zum Ausdruck hochgesteigerter Selbsteinkehr (Introversion). Der Durchbruch des klassischen Welt- und Selbstgefühls, der sich jetzt vollzieht, bringt eine (relative) „Absetzung" der Monas von der Umwelt mit sich. Daß die errungene Klarheit schließlich zum „dürren Boden" wird: dieser Gefahr der Lebensverdünnung wird sich Goethe als geborener „Biozentriker" mindestens seit Anfang der achtziger Jahre bewußt, wie sein Brief an Charlotte v. Stein vom 3. Mai 1781 zeigt9. Jede Klassik bedingt eine Schärfung, Zuspitzung des Individualbewußtseins, ein SichAbsetzen vom Kollektivum, vom Umgangsmäßigen. Die neuerrungene Bewußtseinsstufe b l e i b t daher auch; das Autonomie-Bewußtsein mag zeitweilig stärker, in anderen Lebensphasen schwächer betont sein; die Grundstufe ist fortab gesicherter Bestand. In Goethes letztem Lebensjahrzehnt verbindet sich die Idee des Reinen oft mit 15

Ausblicken in die Transzendenz. Die Marienbader Elegie spricht vom „Höhern, Reinen, Unbekannten". Doctor Marianus lebt „in der höchsten, r e i n l i c h s t e n Zelle". Aber daneben ist die ältere Bedeutung des Selbststandes keineswegs geschwunden. Als die Natur sich in sich selbst gegründet, Da hat sie r e i n den Erdball abgeründet , . . (Faust II, 4. Akt, Hochgebirg, V. 10097—98)

Dieser Ausspruch Fausts zielt auf die Autonomie der „edel-stummen" Gebirgsmasse, die hier als wuchtiges Sinnbild des in sich Geschlossenen, zeitlos Verharrenden erscheint. Die Lieblingswendung „reine Tätigkeit" ist doppelsinnig; zunächst wird man an ein Tätigsein ohne Fehl, ein sittliches Tim denken; die Hauptbetonung liegt jedoch auf dem „Tim an sich": Tätigkeit par excellence, sich selbst genügendes, seiner inneren Erfülltheit sicheres Wirken ist gemeint10. Im Leitgedanken der Reinheit, so dürfen wir zusammenfassen, verdichtet sich das klassische Erlebnis des besonnenen von innen heraus Wirkens, der (relativen!) In-Sich-Abgeschlossenheit, des mikrokosmischen (nicht absoluten) Selbststands. Der klassische Mensch „war in sich abgeschlossen und doch allgemein gültig, allein und doch all-ein, denn er schloß den Kosmos in sich" n . Daß in der Absonderung durch Reinheit die Gefahr der „Verselbstung" verborgen liegt, verhehlt sich Goethe keineswegs. In „Wilhelm Meisters theatralischer Sendung" (4. Buch, 16. Kap.) schildert er, wie Wilhelms Streben nach unbedingter Existenz, höchster Freiheit ihn fortwährend in unvorhergesehene, schwer durchschaubare, zweideutige Abhängigkeiten verstrickt. „Der Geist beschäftigt sich, arbeitet immer, wie er zu einem freien, ganzen, r e i n e n Zustande gelangen könne, und der Augenblick nötigt ihn immer in der Enge halb, vielleicht gar scharf zu handeln, ein Übel für das andere zu ergreifen und, wenn das gleich groß ist, aus dem Regen in die Traufe zu schwanken . . . ." Zusammenfassend läßt sich sagen: der Reinheitsgedanke gehört zwar zum klassischen Inventar, ohne jedoch das Spezifische der Klassik zu erschöpfen. Auch Klassik-Epigonen (z. B. in der Malerei der Goethe-Zeit), Aufklärer (z. B. Pestalozzi) oder das heimliche Übermenschentum und verkleidete Rokoko der Jenaer Romantik haben teil an dieser Gedankensphäre. Näher in die Wesensmitte des Klassischen zielt der Gedanke der S e l b s t b e m e i s t e r u n g , der Zügelung. Auch der Goethe des Sturm und Drang, der bald empfindsam Hinschmelzende, sich Ergießende, dann wieder Kraftbrocken um sich Werfende, unterscheidet 16

sich doch, wenn man genauer zusieht, vom auflodernden Strohfeuer der eigentlichen Stürmer und Dränger durch einen Hintergrund von geheimer Besonnenheit. Bloßes Hinwühlen ist nicht seine Sache. Dicht neben dem Ausfahrenden, Ausbruchhaften zeigt sich keimhaft schon das Gezügelte, die klassische Mission. Eine Rezension des Jahres 1772 stellt dem ungeheuerlichen Bilde einer „kraftverschlingenden", durch und durch vergänglichen Natur bezeichnenderweise die Kunst als Paradigma menschlicher Selbstbewahrung entgegen: „Was wir von Natur sehen, ist Kraft, die Kraft verschlingt, nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertreten, jeden Augenblick geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend. Und die Kunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten"12. Schon in der Wetzlarer Zeit (1772) leuchtet ihm in Pindars W a g e n l e n k e r das Sinnbild klassischer Kräftezügelung und wahrer Meisterschaft auf. Nun versteht er, was Herder in Straßburg meinte, als er über Goethes „spechtisches Wesen" spottete. „Wenn ich nun aber überall herumspaziert bin, überall nur drein geguckt habe. Nirgend zugegriffen. Dreingreifen, packen ist das Wesen jeder Meisterschaft. Ihr habt das der Bildhauerei vindiziert, und ich finde daß jeder Künstler so lang seine Hände nicht plastisch arbeiten nichts ist. Es ist alles so Blick bei Euch, sagtet Ihr mir oft. Jetzt versteh ich's tue die Augen zu und tappe [taste, fasse]. Es muß gehn oder brechen. Seht was ist das für ein Musikus, der [beim Fingern] auf sein Instrument sieht." (An Herder, Wetzlar, Mitte Juli 1772.) Neben Pindars rossebändigenden Wagenlenker tritt schon in diesem berühmten Jugendbrief, von Herder erstmalig aufgerufen obwohl nicht dargelebt, die Symbolgestalt des B i l d h a u e r s 1 3 . Im nächsten Jahr (1773) findet sie dichterischen Niederschlag in Goethes „Prometheus" (Dramenfragment und Ode). Diese beiden Dichtungen, namentlich die Ode, werden herkömmlicherweise etwas einseitig und ausschließlich unter den Blickpunkt des Göttertrotzes und der titanischen Selbstvergottung (der Geniezeit) betrachtet. Oder man stellt sie in den Mittelpunkt des von Jacobi entfesselten „Pantheismusstreites" (anknüpfend an Lessings Aufnahme der PrometheusOde). Aber der Dichter selbst rückt (im 15. Buch von „Dichtung und Wahrheit") den neuerrungenen S e l b s t s t a n d , die produktive Bildnerkraft des autonom gestaltenden Künstlers, durchaus in den Vordergrund seiner Selbstdeutung. Die alte mythologische Figur des Prometheus verwandelte sich ihm in ein Bild: Prometheus ist ihm 17

der plastisch Schaffende, der seine Geschöpfe aus dem Ton herausknetet, „der, abgesondert von den Göttern, von seiner Werkstätte aus eine Welt bevölkerte. Ich fühlte recht gut, daß sich etwas Bedeutendes nur produzieren lasse, wenn man sich isoliere . . . ." Noch der Siebenundsiebzigjährige bekennt im Gespräch mit dem jungen Boisseree: „Ich bin ein Plastiker", auf die Büste der Juno Ludovisi zeigend, „habe gesucht, mir die Welt und die Natur klar zu machen"133. Was sagen all jene Symbole aus vom Wesen klassischen Gestaltertums? Das Bild des rossebändigenden Wagenlenkers beschwört zunächst den antiken Agon herauf. Das Glühende, Brausende des Wagenkampfs, aber auch die zügelnde Besonnenheit und beharrende Stärke des Lenkers. Meisterschaft zügelt wohl, aber unterdrückt nicht die organisch-vitalen Kräfte. Die dionysische Quelle wird gefaßt, ihr ungebärdiger Strom eingedämmt, aber nicht gedrosselt. Rein apollinisches Wesen, bloße Geistkunst wäre leblos; ungezügeltes Rasen des Dionysischen formsprengend. Klassische Meisterung heißt daher: Bewahrung einer (wesentlich labilen!) G l e i c h g e w i c h t s l a g e zwischen Trieb und Geist, Strömung und Eindämmung, Entfesselung und Bindung, Hingabe und Herrschaft, Diastole und Systole, Unendlichkeitsdrang und Selbstbegrenzung14. Mit der antiken Klassik (aber auch z. B. mit der italienischen Hochrenaissance) hat Goethes Klassikertum das Ringen um die Bewahrung der Gleichgewichtslage, der „M i 11 e" gemeinsam. Weniger wichtig ist ihm das „ M a ß " in seinem ursprünglichen Sinn als Maßnorm, Metron, zumal in Verbindimg mit einem Kanon geheiligter Zahlen. Dieser logozentrische Einschlag fehlt ihm, dem großen Organiker, der von sich sagen durfte: „ . . . niemand kann zahlenscheuer sein als ich"15. Im Bilde des tonknetenden Prometheus, in der neuerwachten Lust am Dreingreifen, Zupacken, an der plastischen Ausformung verrät sich der Wille zum Begrenzten, Festumrissenen, körperhaft Verdichteten und Greifbaren. Die Tastwelt, Gegenreich der fließenden Bildwirklichkeit, drängt sich vor, und mit ihr der „luziferisch"-systallische Trieb der Selbstsetzimg, Selbstbehauptung, Verdichtung, der in letzter Instanz zur Abschnürung des Einzelwesens vom kosmischen Strome führen müßte. Es ist ein Drang ins Raumhafte, der aber auch im Verhältnis des Klassikers zur Zeitlichkeit zum Ausdruck gelangt. Hier spüren wir ihn gelegentlich in Goethes unermüdlicher „Zeitverwertung", fast grotesk zugespitzt im mahnenden Viertelstundenschlag der Uhren, wie sie die pädagogische Provinz der „Wanderjahre" fordert. Dieselbe Erlebnisform spricht aus Goethes Lieblingsworten Verewigung, ewige Gegenwart. Zum mindesten 18

e i n e Bedeutungsseite des Wortes zielt auf das Verdichten, Verfestigen des flüchtigen Augenblicks in Werk und Tat16. In ewiger Gegenwartsschau wird dem Epimenides die Welt durchsichtig „wie ein Kristallgefäß mit seinem Inhalt". Die Granitzeit erscheint als „klassische Höhe des Erdaltertums", weil sie, genau wie die Kunst der Antike, beharrend sich behauptet im Gefälle der Zeit. Als Phorkyas verkleidet ist Mephisto die schlechthin gegenklassische Figur des Zweiten Faust, Abgesandter nicht nur des urweltlichen Chaos, sondern auch Anwalt der Romantik, überhaupt modernen „Transzendierens." „Romantik, Christentum, Historismus, Moralismus, modische Prüderie, alle diese für Goethes Spätdenken auf einer Linie stehenden Elemente versammeln sich in der Mephistofigur", bemerkt Emrich17. Goethes klassischer Lebensstil zeigt sich in seinem nie rastenden Bestreben, mit sich selbst abzurechnen, sich, wie Serlo, Rechenschaft zu geben von allem Tun. Dahin gehören die „Autodafés" der Jugendwerke, ebenso aber das „Schematisieren" seiner Forschungsergebnisse, die breitangelegten Sammlungen, das unermüdliche Beschreiben von Kunstwerken, die ausführliche Analyse des „Wunderhorns", die immer neu geordneten Gesamtausgaben der eigenen Werke, das Zusammenfassen der Tagebücher zu „Annalen". Simmel18 spricht von „Objektivierung des Subjekts", die sich schließlich zur „dämonischen Objektivität" des Alters steigert. Aber es sind keineswegs bloße Regungen des Greisentums, die sich in alledem bekunden; der Wille zum Fertigsem, zum Hinter-sich-bringen ist tief im klassischen Lebensgefühl verwurzelt. Dahin gehört auch die eigentümlich vorbehaltlose Allgemeinheit, die radikale Unbedingtheit der „Maximen", die geflissentliche Bevorzugung der kategorischen gegenüber der hypothetischen Urteilsform, das Verschweigen der jeweiligen Bedingungsebene, auf die sich die Aussage sinnvollerweise einzig beziehen kann. Auch diese Unbedingtheit der Généralisation, dieser Wille zur plastischen, rein positiv gehaltenen Sentenz entspricht genau der „Verewigung" des Gegenwärtigen. Daher erwidert der Greis, auf Selbstwidersprüche — die ja notwendige Folge sein müssen — aufmerksam gemacht, er sei nicht achtzig Jahre alt geworden, um an jedem Tag dasselbe zu sagen wie am andern. Auch hier entscheidet also die „Forderung des Tages". Gewiß sind die Selbstwidersprüche (um die Goethe genau Bescheid weiß) von wechselnden Stimmungen getragen, darum aber keineswegs bloße „St.mmungssache!" In der Regel handelt es sich um unterschiedliche Sichtweisen, Perspektiven, in denen daher auch sachverschiedene Wirklichkeitsausschnitte zum Vorschein kommen. 19

Meisterschaft ist das klassische Thema von Goethes großem Roman, Meisterung der Kunst wie des Lebens19. „Alles was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich", heißt es in den Maximen (504). Aus dem klassischen Motiv der Selbstbegrenzung entspringt (unter anderem) die Zurückhaltung Kants wie Goethes gegenüber jedem unmittelbaren Vorstoß des Denkens ins Metaphysische, ihre Ablehnung „direkter Metaphysik". „In ihrem Denken gibt der Mensch sich selbst nicht aus der Hand" 20 . Wenn Goethe in seinem Spinoza-Aufsatz sagt, das Unendliche oder die vollständige Existenz könne von uns nicht gedacht werden, so bedeutet das (noch vor Kant!) eine Absage an alle spekulative Metaphysik. Die Hybris der barocken Vernunft-Anbetung ist dahingeschwunden. „Wir können nur Dinge denken, die entweder beschränkt sind oder die sich unsere Seele beschränkt." Gegenüber dem (von Goethe durchaus tief empfundenen) Walten des Schicksals, der „Konstellation" und seines „dämonischen" Gegenspielers, des Zufalls, weiß sich die klassische Besonnenheit als ein Mittleres zu behaupten. Zwar ist das Gewebe dieser Welt aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; aber die V e r n u n f t des Menschen, so heißt es in den „Lehrjahren", stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen; „sie behandelt das Notwendige als den Grund ihres Daseins; das Zufällige weiß sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur indem sie fest und unerschütterlich steht, verdient der Mensch ein Gott der Erde genannt zu werden". Dem mittleren und namentlich dem späten Goethe verwandelt sich der Begriff des Klassischen oftmals zum bloßen Meisterschaftstitel, wobei der spezifisch historische Gehalt in den Hintergrund tritt. Alles was vortrefflich sei, sei eo ipso klassisch, soll Goethe am 26. Januar 1804 zu Johann Heinrich Voss gesagt haben. „Es kommt darauf an, daß ein Werk durch und durch gut und tüchtig sei, und es wird auch wohl klassisch sein." „Klassisch ist das Gesunde, romantisch ist das Kranke." (Zu Eckermann, 17. Oktober 1827 und 2. April 1829, sowie Max. u. Refl. 1031, aus dem Nachlaß: Über Literatur und Leben.) Es wäre ungerecht, das „Ahistorische" solcher Formeln Goethe zum Vorwurf zu machen, denn historische „Selbsteinsargving" ist keinem Schaffenden gegeben. Die Klassik als geschichtsmorphologisches Phänomen zu erblicken, war der Goethezeit selbst gewiß noch nicht möglich. Immer wieder hat Goethe auch die schmerzliche, entsagungsvolle Kehrseite des Willens zur Begrenzung empfunden. Keine abendländische Klassik zuvor hat je das harte Pflichtgebot der Selbstbeschränkung, den Verzicht auf die Fülle unmittelbar gelebten 20

Lebens eindringlicher ausgesprochen als Goethes ungezählte Bekenntnisse der Resignation. Immer neue Verzichtleistungen fordert das innere Gesetz von ihm, sogar langdauernden Verzicht auf das Schaffensglück des unmittelbaren Dichtertums. So übermächtig ist der Trieb der Selbstgestaltung, daß die Frage nach dem Was und Wie des Schaffens zeitweilig ganz zurücktritt hinter bloßem Tätigkeitsdrang; in letzter Instanz ist es gleichgültig, ob man „Töpfe oder Schüsseln" formt. Spricht aus alledem nur die heilige, höhere Selbstsucht des Selbstgestalters, der — innerweltlich gedeutet — sein Dasein bewußt zum Gesamtkunstwerk formt, der — vom Überweltlichen gesehen — nichts anderes im Sinn hat, als den kosmischen Reifungsprozeß seiner Monade unablässig voranzutreiben, die „Pyramide seines Daseins so hoch als möglich in die Luft zu spitzen"? 21 Man könnte versucht sein, sich mit dieser Deutung zu begnügen, wenn man etwa einen Ausspruch aus Goethes letzten Tagen zurate zieht. „Wenn ich aussprechen soll, was ich den Deutschen überhaupt, besonders den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich mich wohl ihren Befreier nennen: denn sie sind an mir gewahr geworden, daß, wie der Mensch v o n i n n e n h e r a u s l e b e n , der Künstler von innen heraus wirken müsse, indem er, gebärde er sidi wie er will, i m m e r n u r s e i n I n d i v i d u u m z u t a g e f ö r d e r n wird." (Noch ein Wort für junge Dichter. Aus den letzten Lebensmonaten.) In diesem Ausspruch dürfen wir wohl die klarste, freilich auch einspurigste Selbstbekundung von Goethes Klassikertum erblicken. Gewiß ist solche Zuspitzung und Freisetzung des Individualgefühls, dieses stolze und freie Erleben des inneren Selbstschöpfertums eminent „klassisch". Aber die besondere Lagerung der Goetheschen Klassik (und damit der deutschen Klassik schlechthin) ist damit keineswegs umschrieben. „Die deutsche Klassik", sagt Fritz Strich22, „ist aus Entsagung entstanden und hat niemals und auch bei Goethe nicht die Spuren dieses dunklen und tragischen Ursprungs verloren." Die immer erneuten, immer eindringlicher ausgesprochenen Verzichterklärungen Goethes sind keineswegs nur Ausdruck der besonderen und einmaligen Lagerung seines klassischen Selbstgefühls, sondern tiefere Einsicht in die S c h i c k s a l s s t u n d e d e r a b e n d l ä n d i s c h e n K u l t u r . Ganz deutlich wird das, wenn er in den „Wanderjähren" (1. Buch, 4. Kapitel) den befremdlich klingenden Verzicht auf vielseitige Bildung als Forderimg der Stunde ausspricht mit der Begründung, es sei jetzt „die Zeit der Einseitigkeiten" angebrochen: „wohl dem, der es begreift, für sich und andre in diesem Sinn w i r k t . . . " „Mach ein Organ aus d i r . . . " „Sich auf 21

ein Handwerk zu beschränken ist das beste..." Ist das unverhülltes Jasagen zum Fachmenschentum, zur hemmungslosen, jede Lebensganzheit tötenden Spezialisierung des 19./20. Jahrhunderts? Wohl kaum. Denn im Handwerk erblickt Goethe noch immer einen, obzwar begrenzten Zugang zur Ganzheit des Lebens. „Für den geringsten Kopf wird es immer ein Handwerk, für den besseren eine Kunst sein, und der beste wenn er Eins tut, tut er alles, oder, um weniger paradox zu sein, in dem Einen, was er recht tut, sieht er das Gleichnis von allem, was recht getan wird." Aus Goethes Verzichtstimmung spricht also zuletzt die schmerzvolle Einsicht, daß Erfüllungen höchsten Ranges und ungebrochener Gestalthaftigkeit in dieser Weltstunde nicht mehr möglich seien. Er sieht die deutsche Klassik, die letzte und späteste des Abendlandes, durchaus „realistischen" Blickes als ein mühsam errungenes, in keiner breiten und sicheren Überlieferung gegründetes, sondern fast inselhaftes Phänomen. Er ahnt noch mehr: daß die Weltkultur als Ganzes einem ungeheuren Kataklysma entgegentreibt, daß ein Menschheits-Äon vor dem Abschluß steht. Als Seher des Mensehheitsgeschehens wächst der Dichter und Weltweise hoch über seine klassische Grundposition hinaus ins Überzeitliche. In der Lebenskurve der Kulturen, erscheint die klassische Erfüllungszeit als Gipfelhöhe und Schicksalswende zugleich. In ihr vollzieht sich ja immer auch eine nicht mehr rückgängig zu machende Freisetzung und Ablösung des schaffenden Einzelwesens vom Gemeingeist, vom Umgangsmäßigen23. Klassik ist, kulturmorphologisch gesehen, stets der erste entscheidende Schritt im „Sündenfall der Individuation", oder, neutraler gesprochen: eine der zahlreichen Ablösungen vom jeweilig voraufgehenden Kollektivum, an denen die Geschichte so reich ist, und die sich auf immer neuer Stufe schicksalhaft wiederholen. Als letzte Nation des Abendlandes gelangt die d e u t s c h e im Ausgang des 18. Jahrhunderts erst, also in später Lebensstunde des übergreifenden Gesamtkulturkreises, zu klassischer Erfüllung. Das gibt dieser Klassik das mühsam Errungene, Herbstliche, Spätgereifte. Deutsche Klassik ist ein eben noch Mögliches, ist Späternte, vom abendländischen Lebensrhythmus her gesehen. Nur so erklärt sich die betonte Arbeitsgesinnung, das fieberhaft Tätige, das Erntenwollen um jeden Preis, das Enzyklopädische im Schaffen unserer klassischen Dichter und Musiker. Wir finden es bei Haydn und Beethoven, bei Goethe und Schiller, selbst in Mozarts dämonisch quellender, aber keineswegs müheloser Produktion. Korff24 spricht vom „metaphysischen Voluntarismus" der Goethezeit. All ihren philosophischen Systemen liege der Glaube zugrunde, daß 22

die Welt nicht etwas einmalig „Gesetztes", ein „Gesetz", sondern etwas ewig „Sichsetzendes", der immer neue Ausdruck schöpferischen Lebens sei. Fausts „Im Anfang w a r die Tat!" ist Ausdruck dieses Lebensgefühls ebenso wie Fichtes „Tathandlung" und gewaltsame (hier durch die Weltzerklüftung des transzendentalen Typus verschärfte) „Setzung" des Nicht-Ich usw. Auch der goethenahe Schelling ist Voluntarist; manche seiner metaphysischen Formeln klingen wie Vorwegnahmen von Schopenhauers „Weltwillen". In Hegels unendlichem dialektischem Prozeß liegt ein rastlos Vordringendes; sein „Weltgeist" schreitet „wie eine gepanzerte, festgeschlossene Phalanx, unwiderstehlich und mit so unmerklicher Bewegung, als die Sonne schreitet, vorwärts, durch dick und dünn". Sein Weltbewußtsein faßt er in die berühmte Formel: „Ich bin der Kampf. Ich bin nicht Einer der im Kampf Begriffenen, sondern ich bin beide Kämpfende und der Kampf selbst." In diesem geistesgeschichtlichen Zusammenhang sind Goethes zahlreiche und immer erneute A u f r u f e und Bekenntnisse zur tätigen Weltgestaltung zu würdigen. Sie sind nicht Ausdruck seines (vorzeitlichen) „Archetypus"; aus ihnen spricht der Zwang, die unerbittlich gefühlte Notwendigkeit der (abendländisch-deutschen) Geschichtslage. J e mehr Goethe an Reife gewinnt, um so verhaßter wird ihm alles, was ihn bloß belehrt, ohne seine Tätigkeit zu vermehren. Daß wir alles, was in und an uns ist, in Tat zu verwandeln suchen: dieses Bemühen erscheint ihm als „das Sicherste". Schon der Straßburger Student bekennt: „Was Tätiges in mir ist, lebt auf, da ich Adel fühle und Zweck kenne." An Knebel, der seine Rastlosigkeit belächelt, schreibt er 1781: „Das Bedürfnis meiner Natur zwingt mich zu einer vermannigfaltigten Tätigkeit, und ich würde in dem geringsten Dorfe Ond auf einer wüsten Insel ebenso betriebsam sein müssen, um n u r zu leben." In der (zuerst im Goethe-Jahrbuch XVI, S. 20, veröffentlichten) „Selbstschilderung" von 1797 heißt es: „Immer tätiger, nach innen und außen fortwirkender poetischer Bildungstrieb macht den Mittelpunkt und die Base seiner [Goethes] Existenz." „Tätig zu sein ist des Menschen erste Bestimmung", lautet die berühmte Formel der Lehrjahre (6. Buch). „Etwas muß getan sein in jedem Moment, und wie wollt es geschehen, achtete man nicht auf das Werk wie auf die Stunde?" heißt es in den „Wanderjähren" (3. Buch, 11. Kapitel). Im Bekenntnis zu Tat und Werk klingt Fausts letzter Erdentag aus. Ein Bekenntnis allerdings, das angesichts des „Aufsehers" Mephisto und der grabschaufelnden, robotenden Lemuren in das Zwielicht hintergründiger Ironie des Dichters rückt. Das Positive, Reine an Fausts letztem Tatwillen ist einzig die Vision 4

Danckert,

Goethe.

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vom freien Volke auf freiem Grunde, die Schau des „offenen Lebens", die Uberwindung der letzten, zivilisatorischen „Magie". (Vgl. S. 468 f.) Wenn Prometheus seinen Leitspruch kündet: „Des echten Mannes wahre Feier ist die Tat!", so spüren wir allerdings deutlich, daß er als „Partei", als Gegenspieler seines besinnlichen, die reine Schau verherrlichenden Bruders spricht. Die Lynkeus-Natur, zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, die bildempfängliche, pathische Seite in Goethes Wesen widerstrebt bald heimlich, bald offen dem Paroxysmus des Tatgeistes. Sie öffnet ihm in erhellten Augenblicken die Augen vor den ungeheuren Gefahren unbedingter Tätigkeit, die, „von welcher Art sie auch sei, zuletzt bankerott macht"25. Goethe der Pathiker ist kein Täter, er verordnet sich nach Deubels zugespitzter Formel das Tätigsein als ein Heil- und Linderungsmittel. So bekennt er in dem höchst aufschlußreichen Spätbriefe an C. D. Rauch26: „Viele Leidende sind vor mir hergegangen; mir aber war die Pflicht auferlegt, auszudauern und eine Folge von Freude und Schmerz zu ertragen, wovon das Einzelne wohl schon hätte tödlich sein können. In solchen Fällen bleibt nichts weiter übrig, als Alles, was mir jedesmal von Tätigkeit übrigblieb, abermals auf das regsamste hervorzurufen, und gleich einem, der in einen verderblichen Krieg verwickelt ist, den Kampf so im Nachteil als im Vorteil kräftig fortzusetzen. Und so habe ich mich bis auf den heutigen Tag durchgeschlagen, wo dem höchsten Glück, das den Menschen über sich selbst erheben möchte, immer so viel Mäßigendes beigemischt ist, welches mich von Stunde zu Stunde mir selbst angehörig zu sein ermahnt und nötigt. Und wenn ich für mich selbst, um gegen das, was man Tücke des Schicksals zu nennen berechtigt ist, im Gleichgewicht zu bleiben, kein anderes Mittel zu finden wußte, so wird es gewiß jedem heilsam werden, der von der Natur zu edler, freischaffender Tätigkeit bestimmt, das widerwärtige Gefühl unvorhergesehener Hemmung durch eine frisch sich erprobende Kraft zu beseitigen und, sofern es dem Menschen gegeben ist, sich wieder herzustellen trachtet." Ein wenig seltsam ist schon die gesteigerte Tatgesinnung des alten Goethe, seine unablässige Forderung, daß gehandelt, gewirkt werden muß, ohne daß er doch immer Wert und Sinn des Tuns angäbe. Offenbar summieren sich hier zwei Motive: einmal das Streben zur Ausformung, Begrenzung, Ordnung des unendlichen Weltstoffs, der Wille zum „Fertigsein", der alle Sehnsucht ab- und ausschließt27; zum anderen ein unergründlich tiefes Vertrauen zur innersten Sinnhaltigkeit des Lebens, zum Lebensstrom, der die jeweils zu lösenden Aufgaben wie auch die Möglichkeit der Erfüllung in sich trägt. „Die 24

vielberufene Tätigkeit", sagt Franz Koch28, „ist für Goethe zunächst mehr organisches, stillgelassenes Wachsen, höchstens Forderung dieses Wachstums, nicht aber zweckbestimmtes Handeln, das irgendeinen Effekt nach außen hervorrufen will, ist keine Tätigkeit an der Welt, sondern eine Tätigkeit an sich selbst!"29 Das eine Motiv ist ein zeitbedingtes, ist k l a s s i s c h durch und durch, das andere ist wohl „übergeschichtlich", im Sinne unserer Deutung: vorgeschichtlich (tellurisch) und führt uns zurück zur Betrachtung des Wurzelbodens der Goetheschen Daseinsform. Mag dies nun auch auf das stillwirkende Kontinuum des Schaffens, auf den unbewußten, pflanzenhaften Untergrund der „Tätigkeit" zutreffen, so ist doch die T a t im eigentlich goethischen Sinne nicht durch bloße Pathik gekennzeichnet. Vielmehr ist sie doch im höchsten Sinne Entscheidung, entschlossenes Sichpreisgeben, Opfer. (Das Selbstopfer der Schlange im „Märchen".) Ganz klar hat das Emrich30 gesehen. Tat im wesentlichen Sinne heißt Schaffung einer erneuerten Daseinsebene, Erneuerung des Grundes, Wirken aus dem Urstande, „Setzung eines totalen Anfangs mitten im Zeitlauf". Im Tatbegriff Goethes vollzieht sich eine eigenartige Synthese zwischen dem pathischen Grunderlebnis, der subjektlosen Weltoffenheit des Telluriers und dem prometheischen Tatwillen des Klassikers. Dies alles ist ein Spätes, Letzterrungenes, das weit absteht von dem titanischen „Im Anfang war die Tat" des I. Faust. Immerhin rücken bereits auf der Wende zur Klassik, etwa zwischen 1779 und 1784, die Phänomene Tat, Jugend und Hoffnung fast identisch, ineinander (Elpenor). Überall dort, wo tellurisches Grundgewölbe und apollinischklassische Tageswelt aneinandergrenzen, liegt die Konfliktzone der Goethischen Existenz. Fast alle Problematik seines Schaffens nimmt hier ihren Ausgang. Als Beispiel mögen die von Emrich31 analysierten Problemkreise „Blumen- und Früchte-Symbolik", „Natur und Kunst", „Kunst und Gesellschaft" herangezogen werden. Schon früh, im Sturm und Drang, entfaltet sich das Blumen- und Früchte-Motiv in Goethes Schaffen zu eigenartiger Doppelbedeutung. Der Tellurier Werther-Goethe vergleicht an seinem Geburtstage (28. August) sein gesamtes Leben mit Blumen und Früchten, die „nur Erscheinungen sind und vorübergehen, ohne eine Spur hinter sich zu lassen": tellurischer Vergänglichkeitsschauer. Daneben erscheint jedoch bereits die Verewigung der Blumen über den Winter hinweg: Vordeutung klassischen Willens zur Dauer; dasselbe Motiv kehrt später, ungemein vertieft, in den „Wahlverwandtschaften" wieder. In den Maskenzügen seit etwa 1781 stehen Blumen (neben anderen Symbolen) im Symbolkreis unschuldiger Natur, während 4'

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„Früchte" einer naturfremden Kunstwelt angehören. Blume und Frucht, Tag und Nacht, Gold und Silber usw. stehen in polarer Ergänzung und zugleich in scharfer Spannung zueinander. Die Frühund Hochklassik (Tasso) setzt zunächst eine „reine", entvitalisierte Schein-Natur (Garten und Park, auch idealisiertes Arkadien). In den Wahlverwandtschaften wird jedoch diese „ästhetisch bodenlose Schwebehaltung" als aufklärerischer Schein, als Entmächtigung der wahren Natur durchschaut. Neben die „künstliche" tritt die reale Natur. Natürliche und künstliche Blumen verkörpern in den Wahlverwandtschaften Vergängliches und Dauerndes in stetem Ineinandergreifen. Das Künstlich-Statische überwiegt allerdings. Erst im Divan beginnt die „Entdämonisierung" des Schmuck- und Blumenmotivs. Kunst und Natur, Früchte und Blumen zeigen sich in heiter-spielender, souverän gestalteter Verknüpfung. Noch in der ersten Mummenschanzszene des Zweiten Faust bezeichnen die künstlichen Blumen Dauer im Zeitenwechsel: „Unsere Blumen, glänzend, künstlich, blühen fort das g a n z e Jahr" (V. 5089). Allgemeiner gesehen, spitzt sich die Spannung zwischen Tellurismus und Klassik zum ästhetisch-kunstgenetischen Problem „Kunst und Natur" zu. Der hochklassische Wille zum Fertigsein, zur Vollendung, bewirkt eine zunehmende Abscheidung des geschaffenen Werks vom Lebensstrom, eine Absetzung der „Kunst" vom „Naturgrund". „Die ewige Lüge von Verbindung der Natur und Kunst macht alle Menschen irre", heißt es in einem Briefe des Jahres 179632. Grenzsetzung, Isolierung, Statuarik, Gemessenheit, auch Farblosigkeit sind die Folge. Aus „Spiel" wird „Ernst", die Leichtigkeit geht verloren. Aber die Ausstoßung des Naturhaften (und Geschichtlichen) wird zugleich als Schuld und Hybris empfunden. Das Schöne erhält Schuldcharakter (Schatz- und Schmuckmotiv, am ausgeprägtesten in der „Natürlichen Tochter"). Eugeniens „Verhängnis" ist letztlich nichts anderes als ihre eigene schutzbedürftige „Kostbar•keit", die schon in sich selbst Todesgefahr birgt (Absturz). Im Statisch-Geschlossenen dieser hochklassischen Problematik erblickt Emrich33 zu Recht den inneren Grund dafür, daß das Drama trotz politisch-aktueller Hintergründigkeit Fragment blieb. Schönheit gehört der Transzendenz, der übersinnlichen Idee, sie wohnt „am anderen Ufer", in Liliens Reich („Das Märchen"), ist letztlich unfruchtbar, todbringend. Der Todesaspekt Apolls und des Apollinischen! Erst die Spätklassik Goethes bringt eine Wiederentdeckung von Natur und Geschichte. Der Naturgrund, die ewige Urzeit vermag inmitten der Geschichte als ein Produktiv-Urständiges zu wirken. 26

Ähnlich entfaltet sich das Problem „Kunst—Gesellschaft" in Goethes Schaffen kreisläufig34. Zu Anfang und am Ende liegt der Schwerpunkt auf dem Biozentrischen, Naturhaften der Kunst; in den mittleren Phasen unternimmt der Dichter unterschiedliche Versuche, das Gesellschaftlich-Konventionelle mit der Kunstsphäre zu versöhnen. Natürlich bedeutet die Endstufe zugleich Synthesis, nicht etwa bloßen Rücklauf zum Naturalismus des Sturm und Drang. Abschließend ist noch jener Spätkonzeption des Klassischen zu gedenken, die sich (nach mancherlei Vorformen) am reinsten in der Symbolwelt der Klassischen Walpurgisnacht widerspiegelt. Bezeichnenderweise nimmt schließlich Goethe Abstand von allen so nahe liegenden Versuchen, die Antike in ihrer historischen Gestalthaftigkeit heraufzubeschwören. An Stelle des Vollendeten tritt das Ursprunghafte, an Stelle „edler Einfalt und stiller Größe" das Große, Bedeutende, ja Ungeheure, Monströse hervor, an Stelle des Gewordenen das Zeugende, an Stelle des Geschichtlichen das Vorweltliche, Naturhafte. Das Klassische ist jetzt das Ursprünglich-Granitene, Kemhafte der Sphinxe, ihm steht das „modisch Absurde", Scheinhafte der Lamien, das Bestandlose, die Verfallenheit des Zeitlichen gegenüber. Nur wer aus dem Ursprung lebt, beharrt. Selbst Mephisto verwandelt sich in dieser mythischen Umwelt zur beharrenden, grandiosen, zeitüberdauernden Phorkyas; aus dem nordischen Phantom der Verneinung wird ein hermaphroditischer, also kosmisch schaffender, ja zeugender Dämon, in dessen Wesen Urältestes und die Problematik der abendländischen Neuzeit einander seltsam überschneiden35. In alledem zeigt sich, daß der greise Goethe die hochklassische Abgrenzung, Abspaltung der Kunst von der Natur, das „brückenlose" Lili&nreich todbringender Schönheit, freischwebender Ästhetik völlig hinter sich gelassen hat. Verlockung und Gefahr des Apollinischen sind überwunden. Die S p ä t konzeption des Klassischen ist „naturphänomenologisch"; sie bedeutet einen Sieg des Tellurisch-Ursprungshaften (wie es sich z. B. im Granitsymbol ausdrückt) über das Eingegrenzt-Kunsthafte. Aus der brausenden, flammenden Hochzeit der nächtlichen Elemente tritt unmittelbar, ohne daß es einer Losbittung Helenas bei Proserpina bedürfte, die Urschöne hervor36.

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ERSTES

BUCH

DIE PSYCHISCHE

SPHÄRE

1. D A S U N B E W U S S T E Die aus der romantischen Naturphilosophie wohlbekannten Symbolgleichungen Tag — Licht — Bewußtseinshelle Nacht — Finsternis — Dunkel des Unbewußten

finden sich schon bei Goethe vorgedeutet. Das Unbewußte ist das Nacht- oder Dämmerreich der Seele, in der Jugend zumal als hüllende, wachstumsträchtige „Dumpfheit" empfunden. Aber noch 1814 bekennt er, er habe den Wilhelm Meister, „so wie meine übrigen Sachen, als Nachtwandler geschrieben"1. Ganz ähnlich äußert er sich im 13. Buch von „Dichtung und Wahrheit"2 über die fast unbewußte Entstehung des Werther. Das „Instinktmäßige", „Traumartige", den „nachtwandlerischen Zustand" des Schaffens heben all die bekannten Selbstzeugnisse hervor. „Muß doch der Dichter, wenn er bescheiden sein will, bekennen, daß sein Zustand durchaus einen Wachschlaf darstelle,, und im Grunde leugne ich nicht, daß mir gar manches traumartig vorkömmt" (an Nees von Esenbeck, 23. Juli 1830). Nur die Balladen, zu deren Niederschrift ihn Schiller antrieb, trug Goethe — so berichtet Eckermann am 14. März 1830 — jahrelang im Kopf, sie beschäftigten seinen Geist als anmutige Bilder, als schöne Träume, die kamen und gingen, und womit die Phantasie ihn spielend beglückte. Die Niederschrift war hier ein fast gewaltsames Abschiednehmen von den ihm „so lange befreundeten glänzenden Erscheinungen". Ganz anders steht es um all jene Gedichte, die mit der Gewalt eines elementaren Naturvorganges aus unbekannten Tiefen hervorbrechen. „Ich hatte davon vorher durchaus keine Eindrücke und keine Ahnung, sondern die Gedichte kamen plötzlich über mich und wollten augenblicklich gemacht sein, so daß ich sie auf der Stelle instinktmäßig und traumartig niederzuschreiben mich getrieben fühlte. In solchem nachtwandlerischen Zustand geschah es oft, daß ich einen ganz schief liegenden Papierbogen vor mir hatte,, und daß ich dieses erst bemerkte, wenn alles geschrieben war oder wenn ich zum Weiterschreiben keinen Platz fand." Die berühmte Schilderung seines „nachtwandlerischen Dichtens" im 16. Buch von „Dichtung und Wahrheit" endlich rückt den Schaffensvorgang geradezu in den Bereich rein vegetativen Naturwaltens. „Ich war dazu gelangt, das mir inwohnende dichterische Talent ganz als Natur zu betrachten, um so mehr, als ich darauf gewiesen war, die äußere Natur als den Gegenstand desselben anzusehen. Die Ausübung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt 31

werden; aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor. Durch Feld und Wald zu schweifen, Mein Liedchen wegzupfeifen, So ging's den ganzen Tag. Auch beim nächtlichen Erwachen trat derselbe Fall ein und ich hatte oft Lust, wie einer meiner Vorgänger, mir ein ledernes Wams machen zu lassen und mich zu gewöhnen, im Finstern durchs Gefühl das, was unvermutet hervorbrach, zu fixieren. Ich war so gewohnt, mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zusammenfinden zu können, daß ich einigemal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm, einen querliegenden Bogen zurechtzurücken, sondern das Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren, in die Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab: denn es war mir einigemal begegnet, daß das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte. Für solche Poesien hatte ich eine besondere Ehrfurcht, weil ich mich doch ungefähr gegen dieselben verhielt wie die Henne gegen die Küchlein, die sie- ausgebrütet, um sich her piepsen sieht." Ein Gespräch mit Boisseree 3 ergänzt und bestätigt all diese Selbstzeugnisse. In ihm liegt der Nachdruck auf der Ganzheitlichkeit, dem Fertigsein des Einfalls. Goethe gesteht dem jungen Freunde, daß ihm die Gedichte auf einmal und ganz in den Sinn kämen, wenn sie recht wären; dann müßte er sie aber gleich aufschreiben, sonst finde er sie nie wieder; darum hüte er sich auf den Spaziergängen etwas auszudenken. Es sei ein Unglück, wenn er es nicht ganz im Gedächtnis behalte, sobald er sich besinnen müßte, würde es nicht wieder gut, auch ändere er selten etwas; ebenso sei es ein Unglück, wenn er Gedichte träume, das sei meist ein verlorenes. Kein abendländischer Künstler vor Goethe kennt diese Unbedingtheit der Hingabe an die bewußtlos strömende Schaffensquelle. Goethe ist der erste Dichter, der mit seinem Unbewußten gleich auf gleich steht, mit ihm förmliche Zwiesprache hält, der sich ihm liebend-verehrungsvoll entgegenbeugt. Gustchen, der fernen, nie geschauten Seelenfreundin, bekennt er kurz vor der Verlobung mit Lili: „Liebe Schwester,, das liebe Ding, das sie Gott heißen, oder wie's heißt, sorgt doch sehr für mich" 4 . Auf der letzten Flucht vor Lili, kurz bevor ihn der Schicksalswagen aus Weimar einholt, schreibt er ins Tagebuch: „Bittet, daß Eure Flucht nicht geschehe im Winter, noch am Sabbath: Ließ mir mein Vater zur Abschiedswarnung auf die Zukunft noch aus dem Bette sagen! — Diesmal, rief ich aus, ist nun ohne mein Bitten Montag morgens sechse, und 32

was das übrige betrifft, s o f r a g t d a s l i e b e u n s i c h t b a r e D i n g , d a s m i c h l e i t e t u n d s c h u l t , n i c h t , ob u n d w a n n i c h mag." In derselben Eintragung heißt es später: „Hier läge denn der Grundstein meines Tagbuchs! und das weitere steht bei dem lieben Ding, das den Plan zu meiner Reise gemacht hat"5. Dieses Vertraulichkeitsverhältnis wird ihn bis in späteste Tage begleiten. So scherzt er in einem Briefe des Jahres 1816 an die Boisserées6, die Künstler kämen ihm vor wie Väter und Mütter, welche recht hübsche Kinder zeugen, ohne zu wissen, wie es zugeht. Ein andermal ruft er Spinoza als Kronzeugen an: Der Philosoph, dem ich so gern vertraue, Lehrt, wo nicht gegen alle, doch die meisten, Daß unbewußt wir stets das Beste leisten; Das glaubt man gern und lebt nun frisch ins Blaue. (Zahme Xenien)

In einem Altersbrief an Zelter7 heißt es: „Je älter ich werde, je mehr vertrau ich auf das Gesetz wornach die Rose und Lilie blüht." Diese Briefstelle umschreibt noch einmal, was der greise Dichter der Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten (1827) bereits in die fast an Laotse gemahnende Formel gebannt hatte: Getrost! das Unvergängliche, Es ist das ewige Gesetz, Wonach die Ros' und Lilie blüht.

Die organische Macht des Unbewußten wirkt „unterirdisch" auch dann fort, wenn sich im Bewußtsein nichts, zu regen scheint. „Es gibt bedeutende Zeiten, deren Wichtigkeit uns nur durch ihre Folgen deutlich wird. Diejenige Zeit, welche der Same unter der Erde zubringt, gehört vorzüglich mit zum Pflanzenleben"8. Die unbedingte Hingabe, die das Unbewußte fordert, teilt es mit dem D ä m o n i s c h e n : „Jede Produktivität h ö c h s t e r Art, jedes bedeutende Aperçu, jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folge hat, steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut, wie es beliebt; und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses" (zu Eckermann, 11. März 1828). Wie verhält sich nun das B e w u ß t s e i n zum Unbewußten, 33

welche Rolle fällt ihm im Schaffensprozeß zu? Darüber sichere Kunde zu erlangen, hält schwer. Es war, wie man weiß, nicht Goethes Art, „über das Denken zu denken", und er bekennt freimütig: „Ich war mir edler großer Zwecke bewußt, konnte aber niemals die Bedingungen ergreifen; unter denen ich wirkte . . . " Damit hängt es zum Beispiel zusammen, wie wenig „Poetik" Goethe, dieser reichste aller Rhythmiker, benötigte, wie wenig Rechenschaft über das Handwerkliche er sich selbst abzulegen pflegte. Die Bewußtseinshelle hat für sein Schaffen offenbar mehr ablösende als gestaltende Funktion; das gilt selbst noch für die verfeinerten, etwa impressionistischen" Techniken, die gelegentlich im „Divan" oder im Zweiten Faust auftauchen. „Das Bewußtsein des Dichters", sagt er einmal, „ist eine schöne Sache, aber die wahre Produktionskrait liegt am Ende doch immer im B e w u ß t l o s e n . " Bewußtloses Geschehen schwingt rhythmisch ungestört; das Bewußtsein setzt Zwecke, Zielstellen und gefährdet dadurch die bruchlose Stetigkeit organischer Entfaltung. Das sagt der berühmte Vierzeiler: All unser redlichstes Bemühn Glückt nur im unbewußten Momente; Wie möchte denn die Rose blühn, Wenn sie der Sonne Herrlichkeit e r k e n n t e ! (Zahme Xenien) Im Bewußtsein erspürt er etwas E x p o n i e r t e s , einen Ausnahmezustand des Lebens, der Gefahren in sich birgt. „Der Mensch kann nicht lange; im bewußten Zustande oder im Bewußtsein verharren; er muß sich wieder ins Unbewußte flüchten, denn darin lebt seine Wurzel" (zu Riemer, 5. August 1810). In einem Brief an Goethe vom 27. März 1801 hatte Schiller dem Unbewußten die Schöpfung einer „ersten dunklen Totalidee" des Dichtwerks zugeschrieben. „Ohne eine solche dunkle, aber mächtige Totalidee, die allem Technischen vorhergeht, kann kein poetisches Werk entstehen und die Poesie, deucht mir, besteht eben darin, jenes Bewußtlose auszusprechen und mitteilen zu können, das heißt es in ein Objekt überzutragen." In seiner Antwort (vom 3. April 1801) räumt Goethe dem Unbewußten noch weit umfassenderen Anteil am Schaffensvorgang ein. Das Bewußtsein kann nur an der Selbstbildung des Genialen mithelfen; Eingriffe in den Gestaltungsvorgang des Werks sind ihm nicht gestattet. „Was die Fragen betrifft, die Ihr letzter Brief enthält, bin ich nicht allein Ihrer Meinung, sondern ich gehe noch weiter. Ich glaube, daß alles, was das Genie, als Genie, tut, unbewußt geschehe. Der Mensch von Genie kann auch verständig handeln nach gepflogener Überlegung aus Überzeugung; 34

das geschieht aber alles nur so nebenher. Kein Werk des Genies kann durch Reflexion und ihre nächsten Folgen verbessert, von seinen Fehlern befreit werden; aber das Genie kann sich durch Reflexion und Tat nach und nach dergestalt hinaufheben, daß es endlich musterhafte Werke hervorbringt. Je mehr das Jahrhundert selbst Genie hat, desto mehr ist das Einzelne gefördert." — »Was die großen Anforderungen betrifft, die man jetzt an den Dichter macht, so glaube ich auch, daß sie nicht leicht einen Dichter hervorbringen werden. Die Dichtkunst verlangt im Subjekt, das sie ausüben soll, eine gewisse gutmütige,, ins Reale verliebte Beschränktheit, hinter welcher das Absolute verborgen liegt. Die Forderungen von oben herein zerstören jenen unschuldigen produktiven Zustand und setzen, für lauter Poesie, an die Stelle der Poesie etwas, das nun ein für allemal nicht Poesie ist, wie wir in unsern Tagen leider gewahr werden; und so verhält es sich mit den verwandten Künsten, ja mit der Kunst im weitesten Sinne." Nur in den allerletzten Tagen seines dichterischen Wirkens, bei der Vollendung des „Hauptgeschäfts" (des Zweiten Faust), scheint ihn ein Grad von Bewußtseinshelle erfüllt zu haben wie nie zuvor. Und doch muß er auch diese Klarheit als etwas Übernormales („eine Art von Wahnsinn" in „prosaischer" Beleuchtung) empfunden haben, wie sein Brief an Wilhelm v. Humboldt vom 1. Dezember 1831 lehrt: „durch eine! psychologische Wendung, welche vielleicht näher studiert zu werden verdiente, glaube ich! mich zu einer Art von Produktion erhoben zu haben, welche bei völligem Bewußtsein dasjenige hervorbrachte, was ich jetzt noch selbst billige, ohne vielleicht jemals in diesem Flusse wieder schwimmen zu können, ja was Aristoteles und andere Prosaisten einer Art von Wahnsinn zuschreiben würden"9. Noch der letzte Brief, den Goethe fünf Tage vor seinem Tode an Wilhelm v. Humboldt richtete, umkreist das Thema: Bewußtsein und Bewußtlosigkeit im künstlerischen Schaffen. „Nach einer langen unwillkürlichen Pause beginne ich folgendermaßen und doch nur aus dem Stegreife. Die Tiere werden durch ihre Organe belehrt, sagten die Alten; ich setze hinzu: die Menschen gleichfalls, sie haben jedoch den Vorzug, ihre Organe dagegen wieder zu belehren. Zu jedem Tun, daher zu jedem Talent, wird ein Angebornes gefordert, das von selbst wirkt und die nötigen Anlagen unbewußt mit sich führt, deswegen auch so geradehin fortwirkt, daß, ob es gleich die Regel in sich hat, es doch zuletzt ziel- und zwecklos ablaufen kann. Je früher der Mensch gewahr wird, daß es ein Handwerk, daß es eine Kunst gibt, die ihm zur geregelten Steigerung seiner natürlichen Anlagen verhelfen, desto glücklicher ist er; was er auch von außen empfange, schadet seiner eingebornen Individualität nichts. Das beste 35

Genie ist das, welches alles in sich aufnimmt, sich alles zuzueignen weiß, ohne daß es der eigentlichen Grundbestimmung, demjenigen was man Charakter nennt, im mindesten Eintrag tue, vielmehr solches noch erst recht erhebe und durchaus nach Möglichkeit befähige. Hier treten nun die mannigfaltigen 'Bezüge ein zwischen dem Bewußten und' Unbewußten; denke man sich ein musikalisches Talent, das eine bedeutende Partitur aufstellen soll; Bewußtsein und Bewußtlosigkeit werden sich verhalten wie Zettel und Einschlag, ein Gleichnis, das ich so gern brauche. Die Organe des Menschen durch Übung, Lehre, Nachdenken, Gelingen, Mißlingen, Fördernis und Widerstand und immer wieder Nachdenken verknüpfen ohne Bewußtsein in einer freien Tätigkeit das Erworbene mit dem Angebornen, so daß es eine Einheit hervorbringt, welche die Welt in Erstaunen setzt. Dieses Allgemeine diene zu schneller Beantwortung der Frage und zur Erläuterung des wieder zurückkehrenden Blättchens. Es sind über sechzig Jahre, daß die Konzeption des Faust bei mir jugendlich von vorne herein klar, die ganze Reihenfolge hin weniger ausführlich vorlag. Nun hab ich die Absicht immer sachte neben mir hergehen lassen, und nur die mir gerade interessantesten Stellen einzeln durchgearbeitet, so daß im zweiten Teil Lücken blieben, durch ein gleichmäßiges Interesse mit dem Übrigen zu verbinden. Hier trat nun freilich die große Schwierigkeit ein, dasjenige durch Vorsatz und Charakter zu erreichen, was eigentlich der freiwillig tätigen Natur allein zukommen sollte. Es wäre aber nicht gut, wenn es nicht auch nach einem so langen, tätig nachdenkenden Leben möglich geworden wäre, und ich lasse mich keine Furcht angehen, man werde das Ältere vom Neueren, das Spätere vom Früheren unterscheiden können, welches wir denn den künftigen Lesern zur geneigten Einsicht übergeben wollen" 10 . Inmitten dieser tiefdringenden Betrachtungen taucht das von jeher geschätzte Gleichnis des W e b e n s auf. Fast könnte es scheinen, als bewerte Goethe jetzt Tag- und Nachtpol als gleichberechtigte Partner („Zettel und Einschlag"). Aber schon im nächsten Satze verlagert sich der Schwerpunkt wieder aufs Unbewußte: nur i n t e r p o l i e r e n d , nachbessernd, auffüllend kann das Bewußtsein mithelfen; die A n g l e i c h u n g und E i n v e r l e i b u n g des Hinzugebrachten obliegt stets dem Unbewußten, das allein auch Ganzheit stiftet. Das „Abwarten" organischer Reifung ist seltsamerweise zugleich „größte Tätigkeit", das „Belehrtwerden durch die Organe" zugleich aktives „Belehren der Organe", ein „Nachdenken, Verknüpfen ohne Bewußtsein, in freier Tätigkeit". „Pflanzengleiches Werden und größte Tätigkeit", so erläutert Emrich 11 diese ungewöhnliche Aussage, „überschneiden sich also derart, daß eine äußerst merkwürdige, dem Material überlegene, sich selber zuschauende und .kommandierende' .freie Tätigkeit' ,ohne Bewußtsein' erscheint " Hier wie in einem anderen Spätbriefe zum Jahreswechsel 1831-32 sieht Goethe „dem Gesamtphänomen des Sichbildens der Webereien, dem Verkohlen 36

und höheren Vergeistigen von einem Abstand aus zu, einer ironischheiteren Ruhe, die ihm seine eigene Bestrebung als .närrische Redensart' und wenige Wochen später seine Faust II-Dichtung als ,sehr ernste Scherze' erscheinen läßt". Das Gleichnis vom brennenden Kohlenmeiler ist schon in den „Wanderjähren" ein Sinnbild „tätigen Vergeistigens". Man gewinnt die Kohle, das Endprodukt, durch einen Prozeß e i n g e d ä m m t e r , v e r l a n g s a m t e r O x y d a t i o n . „Ichhalte mich für einen alten Kohlenkorb tüchtig büchener Kohlen, dabei aber erlaube ich mir die Eigenheit, mich nur um mein selbst willen zu verbrennen, deswegen ich den Leuten gar wunderlich vorkomme", sagt Jarno in den „Wanderjahren". In einem Briefe aus letzter Zeit schreibt Goethe: „Ich habe unzählige Webereien und Strickereien, Bauereien und Pflanzereien unternommen, die mir immerfort, unter der Hand, zur Hand wachsen, daß ich gar keine Zeit habe mich zu verbrennen, vielmehr in größter Tätigkeit abwarte, bis dieser wunderliche Organismus sich in, sich selbst verkohlt, oder wohl durch einen anderen chemischen Prozeß sich umbildet und womöglich tätiger vergeistet"12. Der Sinn der Web- und Kohlenmeiler-Gleichnisse ist klar: das Unbewußte, die organische Bildekraft liefert H y 1 e , das heißt bereits vorgeformten, organischen oder „gewebten" Stoff; das Bewußtsein, die Geistesflamme, wirkt als läuterndes, fixierendes aber auch (leben-)verzehrendes Element. Auch in Zeiten äußerlicher Untätigkeit wirkt und „spinnt" das Unbewußte seine Strähne fort. Drei Monate nach der Rückkehr aus Italien, in jener Zeit, da sich der Bruch mit Charlotte v. Stein schon als Umwölkung des Stimmungshorizonts abzeichnet, schreibt Goethe an Johann Heinrich Meyer13: „Was mich gegenwärtig umgibt, lädt nicht sehr zu Übung und Betrachtung der Kunst ein. Ich spinne den Faden im Stillen fort, in Hoffnung mich dereinst an demselben wieder ins glückliche Land zu finden." Schon früh entwickelt Goethe eine besondere Vorliebe für das Handwerk und die Technik der Weberei. Im Flechten und Weben erblickt er ein unübertreffliches Sinnbild des dichterischen Bildverflechtens und Sinnknüpfens. Ein Gleichnis des schöpferischen Vorgangs schlechthin: Der du an dem Weberstuhle sitzest, Unterrichtet, mit behenden Gliedern Fäden durch die Fäden schlingest, alle Durch den Taktschlag aneinander drängest, Du bist Schöpfer, daß die Gottheit lächeln Deiner Arbeit muß und deinem Fleiße! (Vorspiel zur Eröffnung des Weimarischen Theaters am 19. September 1807) 37

In dem Briefe nach dem Erscheinen des „Werther", worin Goethe den erzürnten Kestner beschwichtigt, der sich durch das „elende Geschöpf von einem Albert" karikiert fühlte, heißt es: „"Werther muß — muß sein! Ihr fühlt i h n nicht, ihr fühlt nur m i c h und e u c h , und was ihr a n g e k l e b t heißt — und trutz euch1 —i und andern — e i n g e w o b e n ist — Wenn ich noch lebe, so bist du's dem ich's danke — bist also nicht Albert —" 14 . Ein Jugendbrief an Herder beginnt im Kraftstil des „Götz": „Lieber Bruder schreib mir manchmal, grimm oder gut, über alles und nichts! — Sieh da die Welt so voll Scheißkerle ist, sollten wir doch miteinander t i s s i r e n [weben, wirken] und scheißen"15. Tasso, der Dichter kat'exochen, vergleicht sich dem spinnenden Seidenwurm. Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll, So ist das Leben mir kein Leben mehr. Verbiete du dem Seidenwurm, zu spinnen, Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt . . . (Tasso V, 2)

In solchen Metaphern erneuert sich mit unbewußter Folgerichtigkeit das uralte „Lieder-Weben", „Lieder-Spinnen" des Volksliedes, zumal des Frauenliedes. Finnische, estnische, süditalienische Lieder z. B. vergleichen das Dichten und Singen häufig mit dem Weben und Spinnen16. Erst in ausgesprochen männlich betonter Kultur, bei den nordischen Wikinger-Skalden, taucht der Lieder-„Schmied" auf. Jene ausführliche Schilderung der Webe-Technik, die uns in den „Wanderjahren" entgegentritt, symbolisiert nicht nur das organische Werden von Dichtung allein, sondern steht in „einer unterirdischen Beziehung zur Technik dieses Kunstwerks (des Romans) selbst, seiner PersonenVerknüpfung, Handlungsverschlingung usw."17. Auch seine Spätdichtung, vor allem den Zweiten Faust, erblickt Goethe als „Webereien und Strickereien, Bauereien und Pflanzereien", d. h. als unendlich verschlungenes Gewebe18, mit kreuz- und querlaufenden Sinnbeziehungen. Auf die geheime Fülle und Polyphonie ursprünglichen Bilddenkens (im Gegensatz zum „eingeschnürten" Denken der Schullogik) zielt Mephistos Wort: Zwar ists mit der Gedanken-Fabrik Wie mit einem Weber-Meisterstück, Wo Ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein herüber hinüber schießen, Die Fäden ungesehen fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. (Faust I, V. 1922—27) 38

Vom syllogistisch fortschreitenden Denken heißt es darauf: Das preisen die Schüler allerorten, Sind aber keine Weber geworden. Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist herauszutreiben, Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt leider! nur das geistige Band. (V. 1934—39)

Hier leuchtet im Symbol des Webens bereits deutlich der Gedanke des organischen Bildens auf. Von allen menschlichen Tätigkeiten kommt die Webe- und Flechttechnik den natürlichen Wachstumsund Reifevorgängen des organischen Lebens am nächsten. Goethe findet den großen Gedanken von der unbewußten Webekraft des Lebens, sagt Ludwig Klages19. Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem andern wirkt und lebt! (Faust I, V. 447—48)

In Faxistens Monolog in Gretchens Zimmer heißt es: Und hier mit heilig reinem Weben Entwirkte sich das Götterbild! (V. 2715—16)

Von dem „großen Gewebe" (offenbar des organischen Lebens) spricht der Schluß eines Jugendbriefes an Lavater, der Hogarths sogenannte „Schönheitslinie" (die Wellenlinie) physiognomisch als „Linie der Liebe" deutet: „Vielleicht kein ganz unreiner Faden aus dem großen Gewebe ausgezogen"20. „Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her": so schildert Werther (I., 18. August) die Lebensseite derselben Natur, die er einen Augenblick später in) ihrem entsetzensvollen Todesaspekt als „ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer" erblicken wird. Dieses Janusbild der schaffend-zerstörenden Urmutter erinnert an das antike Mysterienmotiv von Oknos dem Seilflechter und an die tiefsinnige Deutung, die Bachofen ihm widmen wird. Eigenartigerweise erscheint der Erdgeist im Ersten Faust nicht nur als stürmender Taten-Genius, sondern vor allem auch als mächtiger planetarischer W e b e - D ä m o n 2 1 . (Vgl. S.473.) In Lebensfluten, im Tatensturm Wall ich auf und ab, Webe hin und her! Geburt und Grab, Ein ewiges Meer, Ein wechselnd Weben, Ein glühend Leben! So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid. (V. 501—509) 5

Danckert,

Goethe.

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In der metaphysischen Schau seiner späten Jahre nennt Goethe „das Dämonische", die rätselhaft widersprüchliche Schicksalsmacht, als Gegenspieler der moralischen Weltordnung. Beide zusammen wirken und weben das Leben, „so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen" (Dichtung und Wahrheit, 20. Buch). Mit Zettel und Einschlag vergleicht der Dichter gelegentlich aber auch „die leichte Bewegung eines zierlichen Gestaltenpaars": zwei schwebende Feenmädchen einer von Wilhelm Tischbein gemalten Idylle: Wirket Stunden leichten Webens, Lieblich lieblichen begegnend, Zettel, Einschlag längsten Lebens, Scheidend, kommend, grüßend, segnend. (Wilhelm Tischbeins Idyllen XIV)

In einem Brief des Jahres 1828 (nach dem Ableben Carl Augusts) nennt Goethe die Naturpolarität von Leben und Tod ein kosmisches Gewebe: „Und so muß sich das fortschreitende Leben zwischen das scheidende einschlingen, um das Gewebe des wechselnden Weltwesens der ewigen Notwendigkeit gemäß fortzuwirken"22. Goethe selbst unterstreicht eindringlich die Organik des WebeSymbols, wenn er die berühmten (oben angeführten) Verse Mephistos in ein Lehrgedicht vom Schaffen der Natur ummodelt: So schauet mit bescheidnem Blick Der ewigen Weberin Meisterstück, Wie e i n Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein hinüber herüber schießen, Die Fäden sich begegnend fließen, E i n Schlag tausend Verbindungen schlägt. Das hat sie nicht zusammengebettelt, Sie hat's von Ewigkeit angezettelt, Damit der ewige Meistermann Getrost den Einschlag werfen kann. (Antepirrhema, 1819)

Mit diesem „alten Liedchen" beschließt er den kleinen Aufsatz „Bedenken und Ergebung", Betrachtungen über den Eintritt der (ursprünglich transzendenten) I d e e in die raumzeitliche Erscheinungswelt und über die Schwierigkeiten, die daraus unserem Denkvermögen entspringen, wenn es gilt, eine Naturwirkung „der Idee gemäß als simultan und sukzessiv zugleich" zu denken. Goethe läßt den Widerstreit der Vorstellungsarten, der hier zutage tritt, unaufgelöst bestehen und „flüchtet" sich abschließend in die SymbolAussage des Web-Gleichnisses. Als wirkende Naturpotenz, so will er 40

wohl sagen, wirkt die Idee innerhalb der Stoffwelt, modern ausgedrückt, „vektorengleich" einschießend: „E i n Schlag tausend Verbindungen schlägt . . ." Mit dem sicheren Instinkt des „Pelasgers" ergriff Goethe das uralte Symbol organischen Wachstums, gelegentlich auch den zugeordneten Mythenkreis von s p i n n e n d e n , w e b e n d e n N a t u r m ü t t e r n und Schicksalsfrauen (Parzen, Moiren, Nornen), von Demeter, Arachne, Ariadne, Aphrodite, Pallas, Eileithyia, Penelope, Maja, Dea Syria, Nerthus, und wie sie alle heißen. Den mythischen Hintergrund des Webesymbols erschloß erst Bachofen. „Unter dem Bilde des Spinnens und Webens", sagt er23, „ist die Tätigkeit der bildenden, formenden Naturkraft dargestellt." „Die Durchkreuzung der Fäden, ihr abwechselndes Hervortreten und Verschwinden, schien ein vollkommen entsprechendes Bild der ewig fortgehenden Arbeit des Naturlebens darzubieten." Die Kteis, der weibliche Kamm, gleicht dem Webekamm. Der Kultbaum des Attis war mit Wollbinden geschmückt. Wer in die Eleusinischen Mysterien der Demeter eingeweiht war, trug den heiligen Faden um Hand und Fußgelenk. Bei den Ausgrabungen auf Kreta fanden sich heilige Knoten 24 in keramischen Nachbildungen wie als Hieroglyphe, Vorläufer des späteren „Isisknotens". Der himmlisch-wandellosen Gegensphäre sind die webenden Kräfte fremd. Weder Knoten noch Genesteltes durfte der römische Jupiterpriester tragen; alles „Verstrickende" gehört den zauberischen Mächten der Erdtiefe an25. Goethe traf, wie so oft, rein intuitiv „das alte Wahre". Im Faust ist zweimal von den spinnenden Schicksalsmüttern die Rede, einmal ausführlich (die Parzen: II. Teil, l . A k t , V. 5305—44), das anderemal im Vorspiel: Wenn die Natuc des Fadens ewge Länge Gleichgültig drehend, auf die Spindel zwingt . . . (V. 142/3) Selbst in der Spruch Weisheit, die zu beherzter Tätigkeit aufmuntert, klingt die alte Schicksalsbedeutung des Symbols leise nach: Den rechten Lebensfaden Spinnt einer, der lebt und leben läßt; Er drille su, er zwirne fest, Der liebe Gott wird weifen. (Die Weisen und die Leute. Aristipp) In der kleinen Ballade von der verführten Spinnerin endlich ist der Spinnvorgang gewiß nicht zufällig das stellvertretende Bild der 5*

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Schwangerschaft, des still und verborgen keimenden Lebens. Auch in solch kleinen, scheinbar nebensächlichen Zügen bekundet sich „das alte Wahre" echter Bildempfänglichkeit. Die uralte erotische Bedeutung der Web- und Spinnarbeit erläutert Bachofen26 an mehreren Mythenkreisen der Antike: Arachne, die Spinne, stellt auf ihrem Grabe vorzugsweise der Götter Liebesabenteuer und ihre Mischung mit sterblichen Frauen dar; Hephaistos umstrickt mit seinem Netz Aphroditens Beilager mit Ares, Eileithyia, die gute Weberin und Geburtshelferin, läßt sich durch ein neun Ellen langes Band bewegen, der kreißenden Leto beizustehen; von den delischen Jungfrauen erhält sie vor der Hochzeit Spindeln mit Haarlocken umwunden zum Geschenk. Selten nur klingt die T o d e s s e i t e des Spinnsymbols27 — das Abreißen oder Zerschneiden des Lebensfadens — in Goethes Dichtung an. Als leise Andeutung nur im Parzengesang des Zweiten Faust, vernehmlicher in einem polemischen Spruch: Und ein Gewebe, sollt es ewig sein? Zerstörts die Magd nicht, reißt die Spinn es selber ein. (Erwiderungen)

Übrigens bestätigt sich die tellurische Urbedeutung des Webens ganz handgreiflich — darauf sei abschließend noch hingewiesen — an dem Erfahrungsstoff, den uns die neue Völkerkunde vom materiellen Kulturbestand pflanzerisch-mutterrechtlicher Kreise übermittelt. In diesen Kulturen „webt" und „knüpft" man nicht nur Stoffe, Matten und Gespinste, sondern gewissermaßen auch: Brücken (Seil-Hängebrücke), Windschirme, Häuser, Äxte (Schiingenbeil), Boote (genähtes Plankenboot), Musikinstrumente (Panpfeife mit kunstvollen „Ligaturen", Hängexylophon in Schnüren u. a. m.), Tongefäße (Spiralwulsttöpferei) und so fort. Die Webkünste der1 großen Naturmütter erneuern sich im unbewußt gesteuerten Bildetrieb ihrer Gefolgschaft.

2. S T I L L E „Meine Seele ist jetzt stille, ganz stille", heißt es in einem Briefe des Neunzehnjährigen an Langer1. Ein Pietisten wort, gewiß. Aber noch Jahrzehnte später, als Goethe längst diesem Kreis entwachsen war, liebte er des Jesaias Spruch: „Wenn ihr stille bliebet, würde euch geholfen." Das Beste an Spinoza dünkt ihn die „Friedensluft", die ihn von dorther anweht. Ein „Kind des Friedens" nennt er sich selbst, das Friede halten will für und für mit der ganzen Welt, 42

„da ich ihn einmal mit mir selbst geschlossen habe" (Italienische Reise III, Rom, 12. Oktober 1787, an Herder). Schon 1774, mitten im Sturm und Drang, klingt dieses Motiv gelegentlich auf, so im Brief an Lavater, worin er sagt, der Friede Gottes offenbare sich täglich mehr an ihm2. Einer Tagebucheintragung vom 13. Mai 1780 läßt sich entnehmen, daß Stille die Sphäre, des inneren Wachstums bedeutet. „Was ich trage an mir und andern, sieht kein Mensch. Das Beste ist die tiefe Stille^ in der ich gegen die Welt lebe und wachse., und gewinne was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können." Geduld und Stille sind ihm nicht nur innerer Besitz, er spürt sie auch, —' ganz unpietistisch — als Signaturen der ihn umfangenden Landschaft: „Hätte mich nur das Schicksal in irgend eine große Gegend heißen wohnen, ich wollte mit jedem Morgen Nahrung der Gottheit aus ihr saugen, wie aus meinem lieblichen Tal Geduld und Stille" 2a . Auch regste Geschäftigkeit, rastloses Tun entquillt ihm aus unerschütterter Stille des Inneren. Feinfühlige Beobachter unter den Zeitgenossen haben diese Ruhe des Seelengrundes gespürt und bewundert; sie sahen hierin ein geheimes Kraftreservoir, aus dem sich die unheimliche Arbeitskraft Goethes und die Vielseitigkeit seines Wirkens speiste. Seine Scheu, poetische Pläne zu bereden, bekennt Goethe verschiedentlich. Noch der Greis schildert Eckermann (14. November 1823), wie er alles still mit sich herumtrug: niemand erfuhr in der Regel etwas, als bis es vollendet war. Das lange Vorreifen mancher Werke, worüber er gelegentlich (z. B. auf der Schweizerreise im Oktober 1779 zu Kirchberger) spricht, erklärt sich aus solchen Zusammenhängen. In dem Frankfurter Brief (an Philipp Erasmus Reich) vom 20. Februar 1770, worin Goethe vor der Übersiedlung nach Straßburg ein gewisses Resumé seiner .Leipziger Bildungserlebnisse zieht, sagt er, Oesers Unterricht werde auf sein ganzes Leben Folgen haben. „Er lehrte mich, das Ideal der Schönheit sei Einfalt und Stille, und daraus folgt, daß kein Jüngling Meister werden könne." Ist „Stille" nur ein Leitwort des Klassizismus? Nur Ausdruck jener antikisierenden Regungen also, die etwa mit Winckelmann und Gluck anheben, von denen die Malerei eines Tischbein, Mengs, einer Angelika Kauffmann getragen ist, und die wir von echter Klassik am Ende doch scharf unterscheiden müssen? Fast möchte man es glauben, wenn man an Winckelmanns bekannte Formel von der edlen Einfalt und stillen Größe denkt. In Goethes Gefühlskreis bedeutet „Stille" jedoch unzweifelhaft mehr als bloße Gehaltenheit. Alle jene Klassizisten lebten noch im sicheren Gehäuse des (vorklassischen) Rationalismus; der junge Goethe des Sturm und Drang läßt die hetero43

nomen Sicherungen hinter sich, stellt sich mitten in den Strom des Lebens. Weder bloße Statuarik noch ein bloßes „Sich vor der Welt verschließen" liegt in Goethes Lieblingswort. Obwohl man zugeben darf, daß diese Nebenbedeutungen des Wortes zumal in den Briefen und Tagebüchern vom Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre stärker mitschwingen. Eine sehr bezeichnende Tagebuchiormel (von Dezember 1778) lautet: „War zugefroren gegen alle Menschen." Auch die auffallende Hervorkehrung des „Reinen" in diesen Jahren deutet — wir sahen es bereits. —> auf einen Lebensabschnitt erhöhter Einwärtswendung, auf eine quälende innere Spannung, die sich erst in der großen Diastole der Italienischen Reise (und im Bruch mit Charlotte v. Stein) entlädt. In alledem erblickt G. Simmel3 den Niederschlag einer Goetbeschen Lebensphase, die man vielleicht als die Zeit der noch unvollkommen bewältigten Außenwirklichkeit bezeichnen könnte. Dem Dichter, der die Dinge bisher „durch Antizipation" in sich trug, stellt sich in der ersten Weimarer Zeit die „Realität" entgegen. Eine ganz neue Aneignung wird gefordert; daraufhin geschah es, „daß seine innerste Persönlichkeit, dasjenige was er als Träger der eigentlichen Werte empfand, sich ganz in sich selbst zurückzog". Auch wenn wir Simmeis geistvoller psychologischer Analyse in allem Wesentlichen beistimmen, bleibt doch der tiefere Hintergrund dieses Motivkreises unerhellt. Stille ist für Goethe nicht bloß in diesen kritischen Jahren, sondern im Grunde allezeit die unumgängliche Voraussetzung echten Schaffens, organisch-pflanzenhaften Reifenlassens. Wie oft flüchtete er in die stille Studierstube Knebels nach Jena, wenn es galt, ein neues Werk ans Licht zu bringen! Als völliger Antipode Lessings und seiner auf Bewegung, Bewegtheit, Handlung gestellten Poetik erscheint Goethe, wenn er in einer berühmten Spätformel (zu Eckermann, 11. Juni 1825) die poetische Gabe als „lebendiges Gefühl der Z u s t ä n d e und Fähigkeit es auszudrücken" bestimmt. Aber man erblicke darin keine Sentenz des Altersstils! Schon achtundzwanzig Jahre früher (25. November 1797) findet sich in einem Briefe an Schiller die Bemerkung, die Poesie sei doch eigentlich „auf die Darstellung des empirisch-pathologischen Zustandes des Menschen gegründet". P a t h o l o g i s c h heißt aber in der Sprache Goethes soviel wie: pathisch, erleidend, passiv. Aus Hochschätzung des Zuständlichen förderte Goethe bekanntlich auch jene Volks-, Heimat- und Mundart-Dichter, die sich mit behaglicher Kleinmalerei begnügten (Hiller, Grübel, auch Hebel und Voss). Das Philiströse scheint ihn auf diesem Gebiete kaum geschreckt zu haben. 44

Man vergegenwärtige sich den Grundgehalt des Lieblingswortes an einer Reihe von Briefstellen aus den Jahren 1775—88. Zur Eröffnung diene eine Stelle aus der unruhig schwärmenden Liebesbeichte an „Gustchen" (Auguste Gräfin zu Stolberg). Sie handelt von dem Besuch Lilis in Offenbach bei der Hochzeit des Pfarrers J. E. Ewald mit Rachel Gertrud Dufay: „Heut vor acht Tagen war Lili hier. Und in dieser Stunde war ich in der grausamst feierlichst süßesten Lage meines ganzen Lebens; möcht ich sagen: O Gustchen, warum kann ich nichts davon sagen! Warum! Wie ich durch die glühendsten Tränen der Liebe, Mond und Welt schaute und mich alles seelenvoll umgab. Und in der Ferne die Waldhorn, und der Hochzeitsgäste laute Freuden. Gustchen auch seit dem Wetter bin ich — n i c h t r u h i g a b e r s t i l l — w a s b e i m i r s t i l l h e i ß t , und fürchte nur wieder ein Gewitter das sich immer in den harmlosesten Tagen zusammenzieht, und — Gute Nacht Engel. Einzigstes Einzigstes Mädchen — und ich kenn ihrer viele" (Offenbach, 17. September 1775). Hier bildend nach der reinen stillen Natur, ist ach mein Herz der alten Schmerzen voll Leb ich doch stets um derentwillen Um derentwillen ich nicht leben soll. (29. Juni 1776. Zu einer Zeichnung für Charlotte v. Stein. WA IV, 3, S. 83.) „Ich lebe immer in der tollen Welt, und bin sehr in mich zurückgezogen." (An Merck, 5. Januar 1777.) „Ich lebe ganz glücklich in anhaltendem Reiben und Treiben des Lebens, und bin stiller in mir als je, schreibe niemanden, höre von niemanden, mich kümmert außer meinem Kreis nun gar nichts." (An Lavater, 19. Februar 1777.) „Ich wohne in stiller Traurigkeit über meinen Gefilden. Es ist alles so unendlich hold." (An Charlotte v. Stein, 21. Mai 1777.) „Ich bin sehr still und grade zu." (An Ch. v. St., 12. Mai 1778.) „Stille f ü r mich". (Tgb., 3. Oktober 1778.) „Stille". (Tgb., 4. Oktober 1778.) „Mein Wesen, geht in der Stille fort, wenn Sie wieder kommen wird mein Tal wieder lebendiger werden." (An Ch. v. St., 15. November 1778.) „Vom 3.ten bis zum 6.ten anhaltend in stiller innerer A r b e i t . . . " (Tgb., 6. August 1779.) „Stiller Rückblick aufs Leben, auf die Verworrenheit, Betriebsamkeit, Wißbegierde der Jugend, wie sie überall herumschweift um etwas Befriedigendes zu finden." (Tgb., 7. August 1779.) „Wir streichen wie ein stiller Bach immer weiter gelassen in die Welt hin, haben heute den schönsten Tag, und bisher das erwünschte Glück." (An Ch. v. St., 24. September 1779.) „Da ich jetzt so rein und still bin wie die Luft so ist mir der Atem guter und stiller Menschen sehr willkommen." (Nach einem Besuch in Sesenheim; an Ch. v. St., 28. September 1779.) „Ich will zuhause aushalten, bin still und fleißig." (An Ch. v. St., 5. Februar 1781.) „So still bin ich lang nicht gewesen, und wenn das Auge Licht ist wird der ganze Körper licht sein et vice versa." (An Ch. v. St., 11. März 1781.) „Ich gehe still in meinem Wesen fort." (An Ch. v. St., 22. Februar 1782.) „Heute ist wieder ein Tag der in der Stille bis gegen Abend zugebracht werden muß." (An Ch. v. St., 27. Juli 1782.) „Laß mich diesen Tag wieder in der Stille zubringen um abends dein zu sein." (An Ch. v. St., 18. November 1782.) „Ich bin stille, fleißig und wohne in deiner Liebe." (An Ch. v. St., 16. Juli 1783.) „Ich bin wohl und gehe still meines 45

Pfads." (An Ch. v. St., 2. April 1785.) „Übrigens halt ich mich stille und treibe mein Wesen." (An Ch. v. St., 4. März 1786.) „Wie lesbar mir das Buch der Natur wird, kann ich dir nicht ausdrücken, mein langes Buchstabieren hat mir geholfen, jetzt ruckts auf einmal, und meine stille Freude ist unaussprechlich." (An Ch. v. St., 15. Juni 1786.) „Sie möchten mich auch hier aus meiner Stille und Ordnung bringen und in die Welt ziehen; ich wehre midi, so gut ich kann — verspreche, verzögere, weiche aus, verspreche wieder und spiele den Italiener mit den Italienern." (Italienische Reise III, Rom, 18. August 1787.) „Ich lebe sehr still hin und bin fleißig." (An die Herzogin Amalia, 19. September 1788.) „Wir leben stille, stille fort." (An den Herzog Carl August, [Mitte Mai] 1789.)

Stille ist in Goethes Weltschau der Wachstumsgrund, die ruhende Muttersphäre, welche die Wirk- und Tatwelt aus sich heraussetzt. Gelegentlich deutet er diesen Sachverhalt polaristisch, so in Jarnos bekannter Formel vom Denken und Tun (vgl. S. 395), die er dem Aus- und Einatmen vergleicht. In Prometheus und Epimetheus gestaltet er nicht so sehr den Widerstreit als die Polarität von Tun und Besinnlichkeit. Auf diese Polspannung zielt auch das bekannte Wort: Es bildet ein Talent sich in der Stille, Sich ein Charakter in dem Strom der Welt. (Torquato Tasso I, 2)

Idyll und heroische Preisgabe des Lebens, zeitlos-glückselige Stille und Krieg sind nach Emrichs Erkundungen 4 unlöslich verbundene Glieder in Goethes Dichtung. Das Heroisch-Kriegerische und das Idyllisch-Paradiesische: beide, untrennbar verknüpft, offenbaren das Göttliche im Menschen selbst. Dabei liegt der vorwaltende, der eigentlich gründende Pol auf der Seite der Stille und Besinnlichkeit. „Heroismus und Tat sind, so sonderbar es klingt, beim späten Goethe weniger mit äußeren Kämpfen verbunden, als mit Rettung, Bewahrung und Erkämpfung reiner Natur, ja . . . mit dem Idyll. Heroischdämonische Idyllik ist für Goethe ein Lieblingswort in Wort, Bild und Beschreibung." Halte dich nur im Stillen rein Und laß es um dich wettern; Je mehr du fühlst, ein Mensch zu sein, Desto ähnlicher bist du den Göttern. (Zahme Xenien)

In einer Aussage Goethes über die „Wahlverwandtschaften" findet sich sogar die seltsame Wortknüpfung „stille Leidenschaften". („Man findet sich schon glücklich genug, wenn man in dieser bewegten Zeit in die Tiefe der stillen Leidenschaften flüchten kann"; an Marianne v. Eybenberg, 16. Juni 1809.) Zu den Lieblingswendungen Goethes, die sich auf die Stille unbewußten Schaffens beziehen, gehört die Formel „Bauereien und 46

Pflanzereien", deren wir schon in anderem Zusammenhange gedachten (vgl. S. 38). „Die Anfänge des .Wilhelm Meister' wird man in dieser Epoche auch schon gewahr, obgleich nur k o t y l e d o n e n a r t i g [als Keimblätter]: die fernere Entwicklung zieht sich durch viele Jahre." So bemerkt Goethe in den „Tag- und Jahresheften" über die Jahre 1776—1780. Schon in einem Brief aus Neapel schildert er das Werden des Romans und sein eigenes Wachstum im PflanzenGleichnis: „Möge meine Existenz sich dazu genugsam entwickeln, der Stengel mehr in die Länge rücken und die Blumen reicher und schöner hervorbrechen" 5 . Das Werk reift still im Schöße der Natur seiner Vollendung entgegen, das Bewußtsein kann das Gewachsene, die „Pflanze", nur als sorglicher Gärtner hegen und betreuen. Solche Metaphern sind uns seither so geläufig geworden, daß. wir kaum bedenken, wie Goethe auch hier wiederum bis zur mythischen Ursymbolik der Vorzeit zurückgreift. Es ist immöglich, hier der ungezählten Bilder zu gedenken, die er dem Bereiche des vegetativen Lebens entnimmt. Nur das höchste Gleichnis, das er den Herrn des Himmels selbst aussprechen läßt, sei angeführt: d e r M e n s c h a l s Pflanze. DER HERR. Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient, So werd ich ihn bald in die Klarheit führen. Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt, Daß Blüt und Frucht die künftgen Jahre zieren. (V. 308—11)

Offenbar zielt Goethes Intuition hier auf „das Pflanzenhafte" im Menschen, auf eine kosmische Schicht des Vegetativen, die sich ihrer Urtümlichkeit wegen dem heutigen Bewußtsein nicht eben leicht erschließt. In der Primitivenwelt tritt sie zum Beispiel im Pflanzentotemismus, im „Pflanzertum" der weiblichen Kulturlinie, in Pflanzen-Ornamentik, in der Blumen- und Blattsymbolik des Volksliedes (etwa des italienischen oder rumänischen6), in den handgreiflichen Wachstums-Vorgängen in Dichtung und Musik der Pflanzerkulturen7 und in ihrem Ideal des „stillen Klanges" sprechend zutage. LunarMythologie und Vegetationskulte endlich sprechen mit unüberbietbarer Deutlichkeit aus, worum es hier geht. Aus solcher Sicht betrachtet gewinnt am Ende auch Goethes F o r s c h e r - L e i d e n s c h a f t f ü r d a s P f l a n z e n w e s e n , das ihn „verfolgt", sich ihm „aufzwingt" 8 , einen neuen Sinn und tieferen Hintergrund. Man spürt hier, ähnlich wie in Goethes; geologischen Neigungen oder in seinen Theoremen zur Farbenlehre, eine vitale Regung mitschwingen. „Man erkennt nur was man liebt." 47

Süße Stille, das Aufkeimen der Dichtung aus dem Zuständlichen, Deutung des unbewußten Schöpfertums vom Wachstum der Pflanze her, der Mensch als Pflanzenwesen, Vergleich des Weiblichen mit dem Pflanzlich-Erdverhafteten (siehe S. 390); nicht zuletzt Goethes Forscherleistungen auf dem Gebiet der Botanik, seine Entdeckung der Metamorphose, die schon Geoffroy Saint-Hilaire zu den unsterblichen Gedanken der Menschheit rechnet: all das entspringt demselben Wurzelboden. Hier stoßen wir auf eine der altertümlichsten Schichten seiner Psyche, auf eine Pathik, ein Welt-Erleiden, demgegenüber alles Tätertum, wo nicht als abgeleitetes so doch als seelengeschichtlich „jüngeres" Phänomen erscheint. Goethes „Quietismus" ist Elementargefühl, nicht Bildungsgut. Mag er das Wort, wie Konrad Burdach9 sagt, aus dem Sprachschatze der Mystiker und Pietisten übernommen, mag er das Gefühl stiller Geborgenheit später bei Spinoza wiedergefunden haben: all dies kann nur äußerer Widerklang einer längst vorgebildeten, von innen nach außen sich entwickelnden Urerfahrung gewesen sein. An ungezählten Stellen seines Gesamtwerkes hat Bachofen die Friedensluft der alten tellurischen Welt geschildert. Das Muttertum ist „das Prinzip der Ruhe und friedlicher Gestaltung eines jeglicher roher Mannesgewalt abgeneigten Daseins". Daher wurde der Gottesfriede, der die heilige Elis schützte, weiblich als Ekecheiria personifiziert10. Die Gnosis läßt das metaphysische Prinzip des Muttertums nicht' nur als Sophia (Weisheit, Weltseele) Wiederaufleben, sondern auch als Sige, das ist Urschweigen, das im leeren Abgrund (Bythos) wohnt. Sige und Logos, webende Stille und lauttönendes Wort des Geistes sind Gegenmächte.

3. P R O T E U S Die Proteus-Natur in Goethe hat Wieland wohl als erster in all ihrer Fülle und Lebendigkeit verspürt. Stets „entschlüpfte" er, ein unfaßliches Wesen, und „kam in andrer Gestalt zurück": Und jede der tausendfachen Gestalten So ungezwungen, so völlig sein, Man mußte sie für die wahre halten! „Sie sind immer gleich", schreibt er (am 2. Dezember 1776) an Charlotte v. Stein, „und ich wie der Mond in seinen Veränderungen sich auch gleich." Mit diesen Worten bekennt sich Goethe als Seelentypus des „lunarischen" Gestaltwechsels. Miene und Gebärde, Stimme und Gestalt nach Belieben zu modeln war ihm ein Leichtes. „Und ist überhaupt mit seinen Schriften nur Komödiant: in seinem Leben 48

wilder Mensch und Zeichner und guter Junge"; dieses Alfresco-Bild des Sechsundzwanzig jährigen skizziert Herder (29. Juli 1775 an Hamann). Fünf Jahre später schreibt Knebel: „Die Schönheit, die sich unter der Maske zeigt, reizt ihn noch mehr. Er ist selbst ein wunderbares Gemisch oder eine Doppelnatur von Held und Komödiant; doch prävaliert der Erste" (1. September 1780 an Lavater). Schon von Jugend auf war in, ihm eine Lust sich zu verkleiden. Eine nicht abreißende Kette von Mystifikationen begleitet Goethes Lebensbahn. Als ärmlicher Student der Theologie, dann als Bauernbursch betritt er die Sesenheimer Pfarre. Wie er sich als Dorfgeistlichen verkleidet und zusammen „mit einem namhaften Freunde" einer vornehmen Gesellschaft durch allzu große Höflichkeit zur Last fällt, kann man in Dichtung und Wahrheit (3. Teil, 14. Buch) nachlesen. „Spaziert nicht mehr im Frauenschlepp" heißt es in dem selbstironisierenden Briefgedicht an Johann Georg und Rahel d'Orville1. In Gießen führt er sich bei Professor Höpfner als schüchterner Rechtsbeflissener ein2. Aus Goslar schreibt er (den 6. und 7. Dezember 1777) an Charlotte von Stein: „Mir ist's eine sonderbare Empfindung, unbekannt in der Welt herumzuziehen, es ist mir, als wenn ich mein Verhältnis zu den Menschen und den Sachen weit wahrer fühlte. Ich heiße Weber, bin ein Maler, habe Jura studiert, oder ein Reisender überhaupt . . ." 3 Als Landschaftsmaler aus Gotha besucht er seinen Schützling Plessing auf der Winterreise im Harz. Kurz vor Antritt der Italienischen Reise schreibt Goethe der langjährigen Freundin, er werde noch acht Tage in Karlsbad bleiben, alsdann dunkel und unbekannt eine Weile in Wäldern und Bergen herumziehen4. Fast alle größeren Reisen werden in Geheimnis gehüllt, unvermutet geschieht der Aufbruch. Im Paß des Italienfahrers steht: Philipp Möller, Kaufmann. Auch Vinter den deutschen Künstlern in Rom hält er hartnäckig an der gewählten Verkleidung fest. Verkleidung, Mummenschanz, Maskentreiben; sind auch von Goethes Dichtertum nicht fortzudenken5. Ein literarischer Verkleidungsscherz ist jener Brief, den Goethe 1773 in der Maske eines alten Landpfarrers schreibt. Die meisten Fastnachtsspiele, Satyros und die beiden Jahrmarktsfeste zu Plundersweilern sind Schlüsseldramen. Vom Werther bis zum II. Faust regt sich die Lust an der Maskerade. Die Weimarer Maskenzüge schwelgen in Allegorie und Sinnbilderei. In den Weissagungen des Bakis hat man geheimnisvoll vermummte Gestalten der Geschichtsbühne erblickt. „Verstellung als Handwerk", das Komödiantische also, ist auch Verlockung und Gefahr des Dichters6. Darum ruft der Marktschreier im „Jahrmarktsfest zu Plundersweilern": 49

Man sagt, es könne den Charakter verderben, Wenn man Verstellung als Handwerk treibt, In fremde Seelen spricht und schreibt, Und wenn man das sehr oft getan, Nehme man auch fremde Gemütsart an. Neigung zur Maske, Versteckspielen, eine fremde Natur annehmen: das sind Fragen, die Goethe von frühester Zeit7 bis in späteste Tage bewegen. Darauf zielt Theresens Vorwurf Wilhelm gegenüber. Die „Schöne Seele" darf man, wie Emrich8 betont, durchaus nicht eindeutig auf frühgoethischen Pietismus zurückführen; eine solche vordergründige Auffassung übersieht „das Moment bewußt irreführender Einkleidung". „Maske" und „Schein" gehören zur Phänomenalität des Schönen. Jedes Lebewesen, jedes Ding sogar hat Sphäre um sich; das Kunstwerk vollends west und webt in Bezirken gesteigerter Phänomenalität. Der Versuch, den „Schleier", die „Maske" vorzeitig zu lüften, verkümmert oder tötet zugleich das Wesen. An Wilhelm Meister bemängelt Schiller (8. Juli 1796), daß „die Einbildungskraft zu frei mit dem Ganzen zu spielen scheint". Er rät Goethe, die romantisch geheimnisvollen Episoden tunlichst zu beschneiden (Mignon und der Harfner, der unbekannte Darsteller von Hamlets Vater, die Genossenschaft des Turms). Offenbar handelt es sich um all das, was Goethe selbst (in dem gemeinsam mit Schiller verfaßten Aufsatz „Über epische und dramatische Dichtung" 1797) die dritte Welt nennt, „die Welt der Phantasien, Ahnungen, Erscheinungen, Zufälle und Schicksale". Eine poetische Erzählung vom Rang des „Meister" könne der Hilfe des Wunderbaren und Überraschenden entbehren, meint Schiller. Er befürchtet, daß sich die Aufmerksamkeit sonst mehr auf das Zufällige hefte, daß der Leser, vom Wesentlichen abgelenkt, sich um Auflösung von Rätseln mühe. Diese Beanstandungen zeigen, wie wenig Schiller von dem innersten Schaffensgesetz Goethes ahnte. Gerade diese „Ahnungen, Erscheinungen, Zufälle und Schicksale" sind ja für Goethes Dichtungen die Einfallspforte höheren Sinnes, sie vermitteln die Durchblicke ins kosmisch Weltweite9. Goethes Antwort enthält eine „allgemeine Beichte", gibt Aufschluß über die seelischen Hintergründe seiner komödiantischen Neigungen. Der Fehler, den Schiller gerügt habe, so erwidert er, „kommt aus meiner innersten Natur, aus einem gewissen realistischen Tic, durch den ich meine Existenz, meine Handlungen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken behaglich finde. So werde ich immer gern incognito reisen, das geringere Kleid vor dem besseren wählen, und, in der Unterredung mit Fremden oder Halbbekannten, 50

den unbedeutenderen Gegenstand oder doch den weniger bedeutenden Ausdruck vorziehen, mich leichtsinniger betragen als ich bin und mich so, ich möchte sagen zwischen mich selbst und meine eigene Erscheinung stellen" (9. Juli 1796). Nicht ohne weiteres verständlich ist hier die Wendimg vom „realistischen Tic". „Realistisch" dürfte wohl auf den innersten Beweggrund des Verkleidungswesens zielen: auf Goethes Bedürfnis, sich gelegentlich der Echtheit, Ursprünglichkeit, Essenzhaftigkeit seines Tuns und Wirkens zu versichern, indem er auf alle durch Konvention erworbenen Geltungsansprüche freiwillig verzichtet. Die „Persona"10, die starre Maske, in die jeder als Glied einer bestimmten gesellschaftlichen Umwelt unwillkürlich hineinwächst, legt er spielend ab. Am liebsten vertauscht er sie mit einer geringeren. Nur der menschliche Kern soll wirken. Das Sesenheimer VerkleidungsAbenteuer leitet Goethe mit dem motivierenden Satze ein: „Es ist eine verzeihliche Grille bedeutender Menschen, gelegentlich einmal äußere Vorzüge ins Verborgene zu stellen, um den eignen inneren menschlichen Gehalt desto reiner wirken zu lassen . . . ." („Dichtung und Wahrheit", 10. Buch). Damit hängt es zusammen, daß er oft sich scheut, letzte Formeln auszusprechen; „die letzten bedeutenden Worte" wollen ihm „nicht aus der Brust". Eher noch macht er selbst gleichsam „mutwillig Additionsfehler" (An Schiller, 9. Juli 1796). Wer so handelt, muß unausdenkliche J u g e n d - u n d V e r j ü n g u n g s k r ä f t e in sich pulsen fühlen. Der proteische Trieb zielt ja letztlich durchaus aufs Elementarische, auf die unermessene Weite, Beweglichkeit und schöpferische Freiheit des Elements. Nicht zufällig ist der mythische Proteus ein Wasserwesen. (Vgl. S. 514 f.) Komm geistig mit in feuchte Weite, Da lebst du gleich in Läng und Breite, Beliebig regest du dich hier; (Faust II, V. 8327—29)

Goethe selbst spricht es einmal aus, „Proteus könne für ein Symbol der Natur gelten"11. Er verkörpert die „Versatilität des Typus"12. Hinweg zu Proteus! Fragt den Wundermann: Wie man entstehn und sich verwandeln kann. (Faust II, V. 8152—53)

Die Faustverse 8155, 8157, 8227, 8244 und die zugehörigen szenarischen Bemerkungen ähneln auffällig dem Gedicht „Parabase" (1819 bis 1820), das Goethe als Vorspruch zur „Metamorphose der Pflanzen" wählte13: 51

Und es ist das Ewig eine, Das sich vielfach offenbart: Klein das Große, groß das Kleine, Alles nach der eignen Art; Immer wechselnd, fest sich haltend, Nah und fern und fern und nah, So gestaltend, umgestaltend — Zum Erstaunen bin ich da.

Leben, Werden, Gestaltwandel sind ein Letztes, Elementares in Goethes Weltschau. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung des Organischen steht die M e t a m o r p h o s e . „Soviel getraue ich mir zu behaupten, daß, wenn ein organisches Wesen in die Erscheinung hervortritt, Einheit und Freiheit des Bildungstriebs ohne den Begriff der Metamorphose nicht zu fassen, sei." Wenn Goethe für das „Unschaubare" den geheimnisvollen Ausdruck findet: „das ewig tätige Leben in Ruhe gedacht", so darf man daraus keine eleatische Formel machen. Keinesfalls verhalten sich Transzendenz und Erscheinungswelt zueinander wie Sein und Werden. Die Urbilder selbst, die „Mütter" umschwebend, sind ja nichts anderes als Keimzentren, Werdemächte (vgl. S. 554 ff.). Der proteische Trieb ist mehr als bloßes Masken- und Komödiantenwesen; Goethe selbst legt seine tiefste Wurzel bloß, wenn er bekennt; seine Existenz sei „gleichsam ins Unendliche geteilt". 4. S P I E L Obwohl wir heute den II. Faust gewichtiger, gehaltschwerer sehen als die Generation Gottfried Kellers, so bleibt doch ein Wahrheitskern an. dem Wort des Schweizer Dichters bestehen: „Der Greis spielte nicht wie ein Kind, er spielte wie ein Halbgott, immer noch gewaltig genug" (zu Fr. Th. Vischer). Der Gedanke des frei-gelösten, spielenden Schaffens, des Schaffens als „göttliches Spiel", hat, wie man weiß, für die gesamte deutsche Klassik wesenhafte Bedeutung. In Schillers Kunsttheorie bildet der „Spieltrieb" die überhöhende Vermittlung zwischen Stofftrieb und Formtrieb, zugleich die höchste Manifestation menschlicher Freiheit. Souveränes Spiel künstlerischer Gestaltung ist hier ein Letzterrungenes, ist Überwindung der Weltzerklüftung. Auch in Goethes Kunst- und Naturlehre ist oft von spielender Gestaltung die Rede. Aber der homo ludens ist hier nicht Ziel, sondern Ausgangspunkt, nicht Ideal, sondern selbstverständliche Voraussetzung, vitale Mitgift. „Die Freude am Spiel, Witz und Be52

weglichkeit des Geistes geht durch sein ganzes Leben und Schaffen hindurch", sagt Erich Franz 1 . „Äußerst leicht" erschien Herder2 die Lebenshaltung des Zweiundzwanzigj ährigen. Das I m p r o v i s a t o r i s c h e seines Dichtens erregte hin und wieder die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen. Schon 1789 vermutet Huber3, der gern Genaueres über des Dichters „Macherei" (Schaffensart) wüßte, daß Goethe wenig und allenfalls nachträglich feilt. Er meint, daß ihm die Aneinanderreihung der einzelnen Teile, die das Ganze bilden werden, gewiß geschwinder vonstatten gehe als Schiller. Was Huber als Fernstehender nur ahnen konnte, das bestätigt Schiller als Augenzeuge: „Während wir andern mühselig prüfen und sammeln müssen, um etwas Leidliches langsam hervorzubringen, darf er nur leis an dem Baum schütteln^ um sich die schönsten Früchte, reif und schwer, zufallen zu lassen" (an Heinrich Meyer, 21. September 1797). Solch vegetatives Bilden war Schiller unfaßlich. Immer wieder mahnt er den Freund zu deutlicher Herausmodellierung der „Hauptidee". Aber Goethe kann sich nicht dazu entschließen, am Leitfaden zu arbeiten, er schafft naturhaft: „scheinbar absichtslos und wie im Spiel, bei voller Natürlichkeit der Gestalten, in einer intuitiv einleuchtenden Lebendigkeit ihrer menschlichen Form" 4 . Nach Wielands Bericht5 improvisiert Goethe ein ganzes Drama „Cäsar" vom Anfang bis zum Ende. „Wenn man die Stücke, die er so improvisiert, hätte aufschreiben können, würde die Welt einige erhalten haben, die noch bewunderungswürdiger wären als seine bekannten." Die Xenien macht er nach Karoline Schlegels Zeugnis nicht erst auf dem Papier: sie e n t w i s c h e n ihm6. Die Ausführung von „Hermann und Dorothea" geschieht gleichsam unter Schillers Augen mit einer ihm „unbegreiflichen Leichtigkeit und Schnelligkeit" 7 . Unter den. Selbstzeugnissen steht ein von Riemer überlieferter Ausspruch (aus den Jahren 1803—13) obenan: „Alle Kunst gefällt nur, wenn sie den Charakter der Leichtigkeit hat. Sie muß wie improvisiert erscheinen. Daher legten sich die Alten so sehr auf die Redekunst, und sie mußte aussehen, als wenn sie auf der Stelle entstanden wäre. Unsere jahrelang ausgearbeiteten und gefeilten Reden sind nichts." Noch im höchsten Greisenalter tadelt er ein Dichtwerk mit der Bemerkung, es hätte „keine eigentliche Facilitât: es sieht immer aus wie ein Errungenes" 8 . Der Spielgedanke widerstrebt, wie man weiß, jeder Zweckbetrachtung. Spielend will Goethe wirken, wo es auch sei. Selbst seine Forschertätigkeit ironisiert er einmal als „mancherlei wissenschaftliche Spiele" (im Brief an Schiller vom 22. Dezember 1798). „Mit der 53

Farbenlehre", erklärt er dem Kanzler v. Müller, „ist es wie mit dem Whist-Spiel; man lernt nie aus, muß es aber beständig spielen, um weiter zu kommen. Es läßt sich nur darin tun, nicht überliefern, nicht lehren"9. Alles Nur-Professionelle ist ihm zuwider, es verengt den Blick und versklavt den Schöpfer zum bloßen Werkzeug. „Nur nichts als Profession getrieben! . . . Ich will alles, was ich kann, spielend treiben, was mir eben kommt und solange die Lust daran währt. So hab' ich in meiner Jugend gespielt unbewußt; so will ich's bewußt fortsetzen durch mein übriges Leben. Nützlich — Nutzen, das ist eure Sache. Ihr mögt mich benutzen; aber ich kann mich nicht auf den Kauf oder die Nachfrage einrichten... Zu einem Instrument gebe ich mich nicht her; und jede Profession ist ein Instrument oder, wollt ihr es vornehmer ausgedrückt, in Organ" (zu Riemer, Anfang 1807). Was willst du, daß von deiner Gesinnung Man dir nach ins Ewige sende? Er gehörte zu keiner Innung, Blieb Liebhaber bis ans Ende.

Die Lehrjahre erheben den Spielgedanken zur Lebensmaxime. Hier (im 7. Kap. des 8. Buches) sagt Wilhelm zu seinem Sohn: „Du bist ein wahrer Mensch! . . . Komm', mein Sohn, komm, mein Bruder! laß uns in der Welt zwecklos hinspielen, so gut wir können." Stehen diese bekannten Aussprüche über Liebhabertum und Spiel nicht in grellem Widerspruch zu Goethes bekannter Tat- und WirkGesinnung? „Nichts kann paradoxer sein", sagt Simmel10, „als dieses Sich-Einstellen auf Liebhaberei und Spiel bei dem Menschen, der den Dilettantismus mit leidenschaftlichem Haß verfolgt, und dauernd betont, wie sauer er sich's im Leben habe werden lassen, wie er gearbeitet habe, wo man sonst jedem zu ruhen vergönnt..." Der Schemwiderspruch löst sich, wenn man begreift, daß „Spiel" und „Arbeit" für Goethe keineswegs unversöhnliche, einander ausschließende Gegensätze bedeuten. Im Gegenteil: spielende Arbeit, die Verschmelzung beider, schwebt ihm als höchster Typus des Wirkens und Leistens vor. Inmitten einer Spätzivilisation, die sich anschickt, das „Evangelium der Arbeit", d. h. den Selbstwert des Tätigseins um jeden Preis, zu verkünden, versucht Goethe auf seine Art das freischaffende „Arbeitsspiel" der Menschheitsfrühe zu erneuern. (Sein sinnfälligster Ausdruck sind die ungezählten „Arbeits'-Gesänge der „Naturvölker".) Nachdem er die Leitung der Kriegskommission übernommen, schreibt Goethe zu Beginn des Jahres 1779 ins Tagebuch: „Der Druck der Geschäfte ist sehr schön der Seele. 54

Wenn sie entladen ist, spielt sie freier und genießt des Lebens"11. Arbeitsspiel: das will heißen Gleichgewicht zwischen Trieb und Pflicht, Harmonie zwischen innerer und äußerer Bedingtheit des Tuns. „Ein Mensch, der um anderer willen, ohne daß es sein eigenes Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor" (Werther, 20. Julius 1771). In den Lehrjahren (2. Buch, 2. Kapitel) unterscheidet Goethe den „stillen Fleiß der Pflicht" von dem „heitern Fleiße, der zugleich dem Geschäftigen Belohnung ist, wenn wir dasjenige, wozu wir geboren sind, mit Ordnung und Folge verrichten". Spielend geleistete Arbeit ist das Gegenteil neuzeitlicher Arbeitsfron, bedeutet Zwecksetzung von innen, Ablehnung heteronomer Tätigkeit oder ihre Anverwandlung in eigenständiges Tun; in jedem Falle: Sinnerfüllung. Wobei es nicht einmal durchaus auf objektive, ausgeformte Ergebnisse ankommt: „Nicht insofern der Mensch etwas zurückläßt, sondern insofern er wirkt und genießt und andere zu wirken oder zu genießen anregt, bleibt er von Bedeutung". Mit einem Wort: „Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben an." „Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst"12. Weil „Spiel" und „Ernst", Impuls und Aufgabe in der Regel übereinkommen, darum gelingt es Goethe, ein wahrhaft ungeheures Arbeitspensum „spielend" zu bewältigen. Oder, wie Simmel13, der diesen Zusammenhang wohl als erster aufdeckte, es ausdeutet: „Weil er sich seine Aufgaben in allen Hauptsachen aus seiner inneren Notwendigkeit und Entwicklung heraus stellte, waren auch die Kräfte für sie immer verfügbar, und umgekehrt, er konnte sich für jede verfügbare Kraft eine Aufgabe stellen." Für den freischaffenden Künstler versteht sich „spielendes" Tun fast von selbst. Kunst ist zweckfreies Spiel. Als reine Seligkeit des Blühens hat sie ihre Bestimmung schon in ihrem Werden erfüllt. In diesem l'art pour l'art-Bekenntnis, das sich aufs engste mit der Konzeption des Genius als göttlicher Jugendkraft berührt, gipfelt Goethes Ästhetik: Vorrang der Blüte vor der Frucht. Das Schöne hat seinen höchsten Zweck in seiner Entstehung, in seinem Werden schon erreicht; unser Nachgenuß ist nur eine Folge seines Daseins. Diesen oft angeführten Satz prägt Goethes junger römischer Freund, der Maler und Ästhetiker Karl Philipp Moritz, in seiner Abhandlung „Über die bildende Nachahmung des Schönen", Braunschweig 1788; vgl. Goethes „Italienische Reise" III, nach dem 22. März 1788. Aber schon in dem scherzhaften Briefgedicht, das der Dreiundzwanzigjährige als Begleitgabe seines „alten Götzen" dem Freunde Gotter sendet, ist der Gedanke, daß die Zeugung des Werks bereits Erfüllung genug ist, als witziges Gleichnis ausgesprochen: 6

Danckert,

Goethe.

55

Hab's geschrieben in guter Zeit,. Tags, Abends und Nachts Herrlichkeit, Und find' nicht halb die Freude mehr, Da nun gedruckt ist ein ganzes Heer. Find', daß es wie mit den Kindern ist, Bei denen doch immer die schönste Frist Bleibt, wenn man in der schönen Nacht Sie hat der lieben Frau gemacht; Das andre geht dann seinen Gang Mit Rechnen, Wehen, Tauf und Sang. Mögt Euch nun auch ergötzen dran, So habt Ihr doppelt wohlgetan. (An Friedrich Wilhelm Gotter [Frankfurt, Juni 1773], WA IV, 2, S. 93—94.)

Im „Sammler und die Seinigen"14 (1798/99) heißt es gemäßigter (gegen Ende), daß nur „aus innig verbundenem Ernst und Spiel wahre Kunst entspringen kann". An, Stelle bloßen Spiels tritt die Polspannung von Spiel und Ernst. Das freieste Spiel göttlichen Schöpfertums erblickte Goethe in allem N a t u r walten. Die Urpflanze, die er anfänglich als einzelnes, empirisches Pflanzenexemplar suchte, enthüllt sich später immer mehr als „eigentlicher Proteus", als stetig sich wandelndes Urmodell, „symbolisches Blatt"15. Das Prinzip der Metamorphose war ihm 1787 in Sizilien aufgegangen; aber schon in einem Briefe vom 9.—10. Juli 1786 spricht er vom „Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit der die Natur immer s p i e l t und s p i e l e n d das mannigfaltige Leben hervorbringt"16. Immerfort spielt die Natur „mit der Mannigfaltigkeit der einzelnen Erscheinungen ..., aber es kommt darauf an, sich dadurch nicht irren zu lassen, die allgemeine stetige Regel zu abstrahieren, nach der sie handelt". (Zu F. v. Müller, 26. Februar 1832.) Deshalb bekämpfte er naturforschend jegliches unzeitiges SichVordrängen des Zweckgedankens. Wie spottete er über die Philisterei der Nützlichkeitslehrer, die den Schöpfer preisen, weil er den Korkbaum schuf, damit wir unsere Flaschenstöpsel haben! Zweck sein selbst ist jegliches Tier, vollkommen entspringt es Aus dem Schoß der Natur und zeugt vollkommene Kinder. Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen, Und die seltenste Form bewahrt im geheimen das Urbild. (Erschien 1820 in der Zeitschrift „Zur Naturwissenschaft" usw. Entstehungsjahr nach Düntzers Nachweis 1806.)

Jede Teleologie ist ihm anrüchig, sogar die Frage nach dem Zweck der Organe eines Lebewesens. Man soll also zum Beispiel nicht fragen: wozu hat der Stier Hörner, sondern w i e kann er Hörner 56

haben? An diesem Punkte begegnet Goethe sich mit Kant (Kritik der Urteilskraft). Liegt aber in dieser Forderung nicht eine leise Überspitzung des (klassischen) Autonomie-Gedankens? Immer wieder klingt das uralte „pelasgische" Motiv vom „Liebesspiel der Schöpfung", der im Abendlande zuerst wohl bei Giordano Bruno, dann bei Jakob Böhme emportaucht, in Goethes Naturbetrachtung auf. Im Gespräch mit Falk 17 (1809) schildert der DichterForscher Mutter Natur als die unersättliche Spielerin, wie sie gleichsam vor dem Spieltisch steht und unaufhaltsam au double! ruft. Das bereits Gewonnene setzt sie verdoppelt ein. Sie spielt glücklich, ja bis ins Unendliche sich steigernd. „Stein, Tier und Pflanze, alles wird nach einigen solchen Glückswürfen beständig von neuem wieder aufgesetzt, und wer weiß, ob nicht auch der ganze Mensch wieder nur ein Wurf nach einem höheren Ziele ist." Neun Jahre später kehrt der Gedanke in einem Briefentwurf an Nees v. Esenbeck wieder. An zwei Pflanzenfamilien, den Gentianen und Siliquosen, sieht Goethe abermals mit Augen, wie Art und Geschlecht durch die Systole und Diastole der Metamorphose hervorgebracht werden. Was er da erblickt, das ist „immer ein Schachspiel, das sich bis ins Unendliche vermannigfaltigt. Die Natur spielt mit sich selbst und wir sehen ihr über die Schultern ins Brett" 18 . Gestaltung, Umgestaltung Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung 19 . (Faust II, V. 6287—88)

Auch Toblers Aufsatz „Die Natur", der Ende 1782 oder Anfang 1783 im „Journal von Tiefurt" herauskam, ist anscheinend von Goethes Aperçu des in sich selbst kreisenden Schöpfungsspiels befruchtet. Dem alten Goethe war die Urheberschaft des Bruchstücks längst entfallen. Er nimmt Toblers Sätze als eine Widerspiegelung eigener Jugendgedanken auf und erläutert sie dem Kanzler von Müller mit der zusammenfassenden Formel: „Man sieht die Neigung zu einer Art von Pantheismus, indem den Welterscheinungen ein unerforschliches, unbedingtes, humoristisches, sich selbst widersprechendes Wesen zum Grunde gedacht ist, und mag als Spiel, dem es bitterer Ernst ist, ja wohl gelten." Die paradoxe Schlußwendung läßt erkennen, daß dem reifen Naturphilosophen eine b l o ß spielende Natur nicht mehr völlig genügt. Er vermißt „die Anschauung der zwei großen Triebräder aller Natur", den „Begriff von Polarität und Steigerung . . . " Steigerung aber ist ein Zielgedanke. Das steigernde Prinzip heißt: Geist. Damit eröffnet sich die Sicht auf eine jenseits der Spielsphäre beheimatete Macht im Kosmos. 6'

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Handelt es sich — so wird man abschließend fragen dürfen — bei dieser Spielgesinnung Goethes bloß um eine neue Paraphrase des klassischen Souveränitäts-Gedankens? Ist es nur das Gefühl überlegener Meisterschaft, das Goethe der Gestalter in sein Naturbild hineinprojiziert? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein, wenn man den tieferen weltanschaulichen Hintergrund dieses Komplexes ins Auge faßt. Im Kosmos selbst offenbart sich das große Liebesspiel der Schöpfung; Spiel ist kosmische Funktion von Anbeginn. Die Natur selbst „spielt", und menschlich-profanes, vor allem aber künstlerisches „Spiel" hat etwas Naturhaftes. Es will „nicht die Realität, sondern den Schein"; der aber ist „mit der Idee nahe verwandt" (zu Riemer, 20. Februar 1809). Spielende Gestaltung, improvisatorische Leichtigkeit und Gelöstheit erfüllt weite Bezirke tellurischen Schaffens. Minoische und etruskische Kleinkunst (Malerei, Keramik, Gemmen, Goldschmiedearbeit usw.) sind als vor- und frühgeschichtliche Zeugnisse an erster Stelle zu nennen. Manches davon klingt (metamorphosiert) in italienischer Volks- und Hochkunst, in Dichtung, Malerei und Kunsthandwerk des Südens überraschend nach. Es handelt sich um „jene leichte Lebendigkeit und Sicherheit des ganzen Menschen, jene mit allen Gegenständen spielende Gestaltungskraft in Wort und Form", die wir im Italienertum mindestens seit dem 13. Jahrhundert nach Jacob Burckhardts Zeugnis20 allenthalben gewahren können. Merkwürdigerweise sieht Burckhardt hier nicht das etruskisch-römische Erbe, sondern wirft die Frage nach der Neuentstehung dieses „zweiten, dritten Naturells" auf. Commedia dell' Arte und Opera buffa sind späte und doch ungemein lebendige Pfropfreiser dieses alten Stammes, der mit der etruskischen Atellane anhebt und sich im römischen Mimus fortpflanzt. Kein Zufall übrigens, daß Mozart und Goethe auf deutschem Boden den Epilog dieser „Spiel"-Formen schreiben. Nicht alle „Tellurier" gestalten spielend-leichthändig, immerhin häuft sich das improvisatorische Wesen ganz auffallend in dieser Typengruppe: viele italienische Maler, Dichter und Musiker wären zu nennen; in Deutschland etwa Händel, Haydn, Mozart, Schubert, Rückert, Carus, natürlich auch Goethe. Das improvisatorisch Quellende und die psychische Gelöstheit, Weltoffenheit des Typus sind wohl bis zu einem gewissen Grade Entsprechungen. Befreiung vom Ich, Entselbstung wäre nach Gerhard von Kujawa 21 das wesentliche Kennzeichen für das Spiel. Positiv ausgedrückt: Ungeschiedenheit, Weltverbundenheit. Wenn das zutrifft, so eröffnete sich in der spielenden Weltbegegnung des Telluriers ein Ausblick auf die irgendwie „offene", unverfestigte Form seiner Personalität. 58

5. „ W E I B L I C H E "

Z Ü G E

„Es ist alles so Blick bei Euch": in diesen Worten faßt Herder, der Schwerbesinnliche, der sein Leben als einen „Gang durch gotische Wölbungen" empfand, die ersten Eindrücke zusammen, die er von dem jungen Straßburger Studiosus empfing. „Spatzenmäßig" nennt er auch (im Brief an Karoline Flachsland vom 21. März 1772) nörgelnd diese leicht aufnehmende Art, diesen saugenden Weltblick, der nur ihm Gemäßes freudig annimmt, das Fremde, Unbekömmliche, Schmerzhafte und Widrige aber ebenso leicht von sich abschüttelt oder einfach unbeachtet läßt. (Es liegt darin natürlich auch eine Kritik des Konventionellen, noch Rokokohaften im jungen Goethe.) Goethe selbst nennt es das „Grillenhafte", das „planlose Wesen", das ihm zumal in seiner ersten Lebenshälfte nicht wenig zu schaffen machte. Wie alle „zirkulär" veranlagten Schaffensgeister, so litt auch er unter dem „grundlos'-plötzlichen, nur dem inneren Lebensrhythmus gehorchenden Umschlagen der Stimmungen: meine animula vagula ist wie's Wetterhähnchen drüben auf dem Kirchturm; dreh dich, dreh dich, das geht den ganzen T a g . . . " (An Salzmann, [Sesenheim, den 12. Juli 1771?]). Noch in der ersten Weimarer Zeit (1780) sinnt er nach über den Zirkel von guten und bösen Tagen, der sich in ihm umdreht. Später (27. August 1794) wird er sich bei Schiller über eine Art „Dunkelheit und Zaudern" beklagen; es liegt ein tief „pathisches" Weltverhältnis in seinem Zuwarten und Reifenlassen, im Vermeiden jeglicher Agression beim Schaffensakt. Freimütig bekennt er denn auch, ihm sei der F l e i ß keine angeborene, bestenfalls eine anzustrebende Tugend. „Der Fleiß war ohnehin meine Sache nicht"; „ich erfreute mich vorzüglich deswegen an seinem geregelten Fleiße, weil ich mir von einem Verdienst, dessen ich mich keineswegs rühmen konnte, durch Anschauimg und Hochschätzung wenigstens einen Teil zuzueignen meinte." „Ich brauche Kunst, um fleißig zu sein", schreibt der Sechzehnjährige 1 . Der Greis rät Eckermann (11. März 1828), die unproduktiven Stunden lieber zu verschlafen oder zu vertändeln, als ihnen mit andringendem Bemühen etwas abzuzwingen. Das Empfangende, Empfängnisbereite in Goethes Schaffen — im doppelten Sinne: einmal als innere Aufgeschlossenheit des Unbewußten, andernteils als bereitwilliges Hinnehmen von außen zugebrachten Stoffs — ist von jeher bemerkt worden. Schon Klopstock nennt Goethe (nicht ohne tendenziöse Voreingenommenheit) einen „gewaltigen Nehmer" (an Herder, 27. November 1799). Graf Reinhard rühmt ihn als' „eine vom Geist aller Jahrhunderte beseelte Individualität, anklingend an alle Seiten künftiger Gedanken und 59

Empfindungen" (3. September 1808). Ein englischer Kritiker schreibt ihm „panoramic ability" zu; Goethe nimmt diese Huldigung dankbar an2. Jakob Grimm preist an Goethe3 die Fülle seiner Redemacht, die sich nicht (wie Schiller) mit einem ausgewählten Heer von Worten begnügt, sondern „aus dem Hinterhalte, wie es ihm beliebt", neue Ausdrücke nachrücken läßt. „Der Gang seiner Einbildungskraft", schreibt Wilhelm v. Humboldt an Schiller (Anfang September 1800), „ist von Dem der Ihrigen gänzlich verschieden... A u c h w o e r s e l b s t s c h a f f t , s c h e i n t e r n o c h z u e m p f a n g e n ; er erscheint fast immer mehr um sich schauend und bloß aussprechend, was er sah, als in sich arbeitend und forteilend... Er bleibt mehr innerhalb der Grenzen der bloß empfindenden, leidenden oder genießenden Menschheit stehen . . . Sie wirken stärker auf den selbsttätigen Teil der Menschen, den sie unwiderstehlich bestimmen"; in Goethes Dichtung kann von solcher Aktivierung des Lesers oder Hörers kein© Rede sein, „weil er zuerst und unmittelbar den anschauenden und empfindenden stimmt". Im neueren Schrifttum über Goethe wird solcher Züge oft mit ausgezeichnetem Verständnis gedacht. So preist — um nur einige Stimmen zu nennen — Windelband4 Goethes „mit allem Menschlichen und Göttlichen sich befreundende A n e i g n u n g s f ä h i g k e i t , dieses allseitige Eindringen in Wissenschaft und Kunst, diese Gelehrsamkeit bei diesem Schöpferblick". Das Pathische, „Weibliche", den Doppelrhythmus von Aufnehmen und Wiederausgebären arbeiten Heynacher5 und Chamberlain6 stärker heraus. Der letztere sagt geradezu: „Goethes Wesen beherbergt ein ausgesprochen w e i b l i c h e s Element." Den „weiblichen Wesenszug" bestimmt Ludwig Klages 7 näherhin als „reizbares Wirklichkeitsgefühl"; dieses ließ Goethe zum Phänomenologen werden. Als der Rhythmusforscher Gustav Becking8 die Welthaltung des sogenannten „I. Typus" „a b s o r b i e r e n d " nannte, schwebte ihm sicherlich (etwa neben Händel und Mozart) auch Goethes Schaffensart als Paradigma vor. Gundolf9 rühmt die weltverwandelnde Gewalt Goethes, seine Kraft, fremden Stoff sich anzueignen und zu verdauen, die nicht geringer war als die formende Stärke seines angeborenen Ich, und zieht daraus den Schluß: er erlebte die Welt nicht minder gestaltet als er sein Ich erlebte. Darauf kommt es hier an: darin unterscheidet sich der „attraktive Typus", die weltansaugende Kraft Goethes positiv von der Lust des Naturalisten am bloßen (auch chaotischen) Stoff. So einzigartig und unvergleichlich der wahrhaft weltumspannende U m k r e i s im Wechseltakt von Aufsaugen und Wiedergebären des 60

Goetheschen Schöpfertums anmutet: der lunarische Rhythmus als solcher ist ein überindividuelles, ein typisches Phänomen. Er findet sich bei einer weithin verzweigten Gruppe schöpferischer Geister, von denen etwa Jakob Böhme, Händel, Mozart, Rückert, Gottfried Keller als musterbildlich zu nennen wären. Es ist der Schaffensrhythmus des c h t h o n i s c h e n T y p u s schlechthin. Wenn wir ihn „weiblich" nennen wollen, so geschieht es jedenfalls in einem besonderen, nicht leicht und obenhin zu bestimmenden Sinne. Handelt es sich etwa um ein bloßes Überwertigsein weiblicher Elemente im physiologischen Sinne, wie das etwa die bekannten Theorien von Otto Weininger10 und Wilhelm Fliess11 ansetzen? Wohl kaum. Goethes oder Händeis Männlichkeit im Trivialsinne sei nicht angezweifelt12. Es dürfte sich hier wohl weniger um eine individualseelische als um eine übergreifende Kategorie handeln. Um einen Wesenszug des Archetypus, des überindividuellen Unbewußten. Um etwas Ähnliches also-, wie es sich dem Völkerkunde-Forscher etwa als Paideuma weiblich betonter Kulturen darstellt. Wie ein solches übergreifend Weibliches doch wiederum die Individualseele zu erfüllen vermag, ist ein Geheimnis, das sich dem Zugriff der Schulpsychologie völlig entzieht. Weiblich im höheren Sinne, das heißt aber mütterlich, wäre doch wohl das hegend-umfangende, ganymedische Wesen in Goethes Art zu nennen. Darauf zielen zwei bedeutende Aussprüche Georg Schlossers. Der erste13 schildert nicht nur die Maßlosigkeit des weltoffenen Herzens, sondern zugleich den „umfassenden" Trieb: „Eine wirksame Seele, die zuviel umfaßt, oder nichts zu umfassen hat, muß vergehen. Besser daß sie an einem Ding hängt, es sei leer oder voll, wenn's nur was ist!" Der zweite sagt ohne Umschweife: „Er ist w e i b l i c h . . . wenn er aber in den, nächsten Jahren nicht ganz zerbricht, so werden wir uns nähern."

6. D A S G Ö T T L I C H E

KIND

Zwischen dem Weiblichen und dem Kindhaften bestehen Wechselbezüge, die man von altersher bemerkt hat. Demetrioi hießen im Altertum die Verstorbenen: der Tod begründet neue Kindschaft. Madonna und Bambino, Magna Mater und Göttliches Kind bilden ein unzertrennliches Paar, ein Stück „ewiger" Mythologie. Auch rein biologisch ist dieser Zusammenhang kaum zu übersehen. Die Frau bleibt bartlos wie das Kind, sie rettet die weichen Körperformen, den kindlichen Pfirsichteint, die infantil gebogenen Wimpern, die abstraktionsfeindliche Denkart in das Fortpflanzungsalter 61

hinüber. Ihre Stimmlage bleibt hoch, die Mutation bedeutet für sie weniger einen „Bruch" mit der Jugendsphäre als beim Manne. Psychologisch betrachtet, hat sie reichere Chancen, vom Naturnahen, Ursprünglichen, Jugendhaften des Kindes etwas zu bewahren. „Das Kindliche, das Weibliche, das Primitive", sagt der Parapsycholog Emil Mattiesen1, „ob nun entwicklungsgeschichtlich höher oder nicht, ist jedenfalls das Flüssigere und Bildsamere, insofern es dem treibenden Keimboden von Geist und Natur inniger eingeschmiegt ist; es hat etwas von der größeren Fruchtbarkeit des Chaos gegenüber der gehärteten Form des Fertigen . . Wer sich dem Überich nähert, der nimmt . . den Weg über das dämmerige und gestaltenreiche Gebiet des Unterbewußten, und insofern nähert er sich in einem wesentlichen Betracht dem Typ des Weiblichen, des Kindlichen und Primitiven." Ein klares Gefühl für diesen Zusammenhang der Dinge hat Chamberlain2, wenn er Goethes Verlangen, sich an andere anzulehnen, seine Verzagtheit, wenn er das nicht kann, einen „eigentümlich weiblichen Zug im Wesen Goethes" nennt und fortfährt: „Sich selbst gegenüber besitzt Goethe immer das Gefühl eines schutzbedürftigen Embryos. ,Ich bin immer das neugeborene Kind', gesteht er noch im späten Alter; . . . . er selber ist immer ein Werdender und bedarf daher mütterlicher Fürsorge." Charlotte v. Stein ist sein „lieber Schutzgeist" 3 . „Selbst seinen aus Frankfurt mitgebrachten Amanuensis und Diener Seidel bezeichnet er als ,Schutzgeist'; an Charlotte v. Stein schreibt er, als er sich (1784) auf einer seiner diplomatischen Reisen befindet: ,Ohne Dich kann ich nicht bestehen , . Ich bin kein einzelnes, kein selbständiges Wesen. Alle meine Schwächen habe ich an Dich angelehnt, meine weichen Seiten durch Dich beschützt, meine Lücken durch Dich ausgefüllt'; wie Christiane ihn 1806 gegen die französischen Soldaten beschirmen mußte, ist allbekannt — er selber war fassungslos. Dem großen Manne bleibt eine eigenartige Unbeholfenheit zeitlebens eigen. Noch im kräftigen Alter, wagt er es nicht, die Reise nach Berlin zu unternehmen: ,Schon seit mehreren Jahren habe ich ein gewisses Kleben am Wohnort, das vorzüglich daraus entspringt, weil in mir noch so viel Aufgeregtes und doch Unausgebildetes liegt'." Das „Fertigsein" 4 der anderen empfindet schon der Straßburger Student als ein Verholzen, Erstarren, als Regression ins Anorganische. Der Einundzwanzigjährige prägt die ganz und gar dynamische Lebensformel: „Dabei müssen wir nichts s e i n , sondern alles w e r d e n wollen . . ."5 Neun Jahre später vermerkt das Tagebuch: „Aber auch außer dem Herzog ist niemand im Werden, die andern 62

sind fertig wie Dresselpuppen [Drechselpuppen], wo höchstens der Anstrich fehlt" 6 . Mit seltsamen Gebärden Gibt man sich viele Pein, Kein Mensch will etwas werden, Ein jeder will schon was sein. (Zahme Xenien) Herder, der seiner „gotisch verdorbenen Jugendseele" nicht froh wird, der sich bitter über die vorzeitige „Veraltung" seiner Jugendblüte beklagt, hat Goethes unbändige Werdelust stets neidvoll als Essenz strahlender Jugendlichkeit empfunden. „Goethe spricht über Rom wie ein Kind, und hat auch wie ein Kind, freilich mit aller Eigenheit, hier gelebet; deshalb er's denn auch so sehr preiset. Ich bin nicht Goethe; ich habe auf meinem Lebenswege nie nach seinen Maximen handeln können; also kann ich's auch in Rom nicht" 7 . Goethe nimmt diese — ihm schon seit langem geläufige — Charakterisierung als ein Positivum an: „Herder hat wohl recht zu sagen: daß ich ein großes Kind bin und bleibe, und jetzt ist es mir so wohl, daß ich ohngestraft meinem kindischen Wesen folgen kann." 8 „Aber ich bin wie ein klein Kind, weiß Gott", versichert er Gustchen9. „Nur die Freude die ich habe wie ein Kind sollten Sie im Spiegel sehn können!" ruft der enthusiastische Bewunderer abenteuerlicher Naturformen der Stein 10 zu. Kurz nach seinem 29. Geburtstage schreibt er der Freundin aus Eisenach, nach Tagen höfischer Beanspruchung: „Allerlei Krickeleien (Disappointments) hab ich wieder gehabt, wie Sie wohl denken können, da ich die schöne Hoffnung auf mein 30. J a h r habe, weil ich im 29. noch so ein Kind bin. Oft schüttl ich den Kopf und härte mich wieder, und endlich komm ich mir vor wie jenes Ferkel, dem der Franzos die knupperig gebratene Haut abgefressen hatte und es wieder in die Küche schickte, um ihm die zweite anbraten zu lassen." 11 Diese Sätze bedürfen einiger Erläuterung. Sie gehen aus von den disappointments, den Enttäuschungen (vermutlich des Hoflebens). Dieser Ärger, denkt Goethe, wirkt nun immer noch in aller Heftigkeit auf mich, ich bin ihm schutzlos preisgegeben wie ein Kind, obwohl ich doch bereits 29 Jahre hinter mich gebracht habe. Nun bleibt mir also die Hoffnung auf mein dreißigstes, wo ich, wie alle übrigen Menschen, gegen solche Zudringlichkeiten mich innerlich abzuschließen gedenke. Diesen Verhärtungsvorgang schildert er drastisch genug in der Anekdote vom abgefressenen Ferkel. Verhärtung bedeutet ihm also, innerlich gesehen, etwas Fremdes! Sie ist fast wie ein künstlicher Panzer, den er notgedrungenermaßen anzulegen gedenkt, um das kindhaft weich gebliebene Innere zu schützen. 63

Lange vor Schillers Entdeckung des „naiven" Dichtertums haben manche Persönlichkeiten, die mit Goethe in Berührung standen, die Jugend-Essenz als den besonderen Zauber seines Wesens empfunden. So schreibt Johann Heinrich Merck am 3. November 1777 an Friedrich Nicolai: „Ich hab' ihn (Goethe) neuerlich auf Wartburg besucht, und wir haben zehn Tage zusammen wie die Kinder gelebt" 12 . Beim Umbau des Weimarischen Theaters ist Goethe „wie ein Kind so eifrig dabei gewesen", berichtet Karoline Schlegel13 ihrem Schwager. „Er hat so viel Kindlichkeit und Einfalt in seinem Wesen wie alle erhabenen Geister": so faßt Friederike Brun in ihrem Tagebuch (12. Juli 1795) die Eindrücke ihrer Begegnimg mit Goethe zusammen. Mit diesen biographischen Zeugnissen, denen noch manche ähnliche Worte zeitgenössischer Persönlichkeiten sowie auch der bekannte Ausspruch (zu Eckermann, 11. März 1828) über die wiederholte Pubertät genialer Naturen sich anfügen ließen, dürfen wir uns hier begnügen. Wie spiegelt sich, so möchten wir weiter fragen, die Kategorie des Kindhaften in Goethes F o r s c h u n g und D i c h t u n g ? „Das Vorhandene ahnungsvoll aussprechen, a l s w e n n e s e n t s t ü n d e", so bestimmt Goethe die Uranfänge der Poesie (im Bericht „Geistes-Epochen", 1817). In diesem Neu-Sehen-Können liegt die Möglichkeit, das Ewig-Werdende fühlbar zu machen. Genius ist keimträchtige Werdekraft; das unterscheidet Dichtung höchsten Ranges von wie auch immer geformter Wiedergabe bloßer „Erlebnisse". „Jene göttliche Erleuchtung, wodurch das Außerordentliche entsteht, werden wir immer mit der Jugend und der Produktivität im Bunde finden . . . " (zu Eckermann, 11. März 1828). Naturforschend verkündet Goethe in immer neuen Wendungen den Vorrang des Werdens, der Jugendkräfte, vor dem Gewordenen, Verfestigten, Erstarrten. Seine „Morphologie" bestimmt er ausdrücklich n i c h t als „Gestalten"-Lehre (wobei Gestalt etwas Festes, Unbewegliches, Abgeschlossenes und in seinem Charakter Fixiertes bedeutet), sondern als Erkenntnis des unablässig sich Wandelnden. „Das Gestaltete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele, mit dem sie uns vorgeht" (Bildung und Umbildung organischer Naturen: Einleitendes). So auch in der Farbenlehre. Alle wesenhaften, das heißt prismatischen Farben werden aus dem Lichte entwickelt, nicht bloß „ausgewickelt" 14 . Nur die prismatische, lichtgeborene Farbe, die Farbe in statu nascendi verheißt tiefere Aufschlüsse zur Erforschimg des Farbenwesens, denn „sie i s t nicht, sondern sie w i r d" 1 5 . Die chemi64

sehen Pigmentfarben sind vergleichsweise starr, fertig, leblos. Auch im Auge bilden sich die Farben stets flüchtig, werdend und wieder vergehend. Das Wort Natur bedeutet, wie Carus16 sagt, für Goethe ganz etymologisch sinngetreu das Werdende, nicht das Gewordene, das ewige Werden, und auch der Forschend-Schauende will nicht ein Bleibendes sich aneignen, sondern er fühlt „sich im Werdenden selbst immer mit werden . . . ." Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht.

Ein Spätbrief an Zelter schildert die Natur als Leben, Fülle, unendlichen Wandelfluß. Die unbedingte Gegenstellung Goethes zu allem Eleatismus leuchtet daraus hervor. „Die Natur . . . wirkt ewig lebendig, überflüssig und verschwenderisch, damit das Unendliche immerfort gegenwärtig sei, weil nichts verharren kann" 17 . Nur im Lebendigen, Werdenden wirkt die Gottheit, nicht im Gewordenen und Erstarrten 18 . „Das Wirken ist trefflicher als das Gewirkte." Alles Verkrustende, Sklerotische bezeichnet die Todesmächte, alles Keimhafte, Jugendliche, Quellende ist den göttlichen Ursprüngen näher. Und umzuschaffen das Geschaffne, Damit sich's nicht zum Starren waffne, Wirkt ewiges, lebendiges Tun, Und was nicht war, nun will es werden. Zu reinen Sonnen, farbigen Erden; In keinem Falle darf es ruhn. Es soll sich regen, schaffend handeln, Erst sich gestalten, dann verwandeln; Nur scheinbar steht's Momente still. Das Ewige regt sich fort in allen; Denn alles muß in nichts zerfallen, Wenn es im Sein beharren will (Ejns

u n d Alles_

1821)

In Goethes Dichtung endlich tritt uns eine Gestaltengruppe entgegen, die das Werden, die geniale Schöpferkraft in reinster Essenz verkörpert. Der G e n i u s a l s K i n d : hier spricht Goethe seine reifsten metaphysischen Erfahrungen vom Wesen des Dichterischen, des Kunsthaften aus. Diesen weitverzweigten Symbolkreis hat Wilhelm Emrich19 mit tief eindringendem Verständnis erschlossen. Hier sind nur die Hauptzüge dieser Konzeption kurz zu skizzieren. Als Vorformen zunächst die Kinderszenen im „Werther". Sie bilden den lichten Kontrapunkt zur unablässig sich steigernden Verdüsterung des Todessüchtigen. Bis zuletzt begleiten sie seinen G3

Schicksalsweg, Sinnbilder des überirdisch reinen Urstandes des Menschen20. Werther selbst spricht von der Gotteskindschaft des Menschen: „Guter Gott von deinem Himmel! alte Kinder siehst du und junge Kinder, und nichts weiter; und an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange verkündigt" (29. Junius). Die Anknüpfung an den urchristlichen Gedanken der Gotteskindschaft liegt hier offen zutage. Hier ist der Punkt, wo sich Goethes Weltfühlen mit dem Urchristentum aufs engste berührt. Gemeinsam ist beiden Sphären das unbewußte Erneuern des uralten chthonischen Weltgedankens vom göttlichen Kinde. Als ein spät vollendetes Gegenstück zu dem Kindermotiv im „Werther", dessen Konzeption indessen mit der Welt des jungen Frankfurter Goethe dicht verbunden ist, betrachtet Ernst Beutler21 die „ N o v e l l e". „Auch hier handelt es sich um die Leidenschaft der Liebe. Aber Honorio entsagt. Symbol der Leidenschaft ist der ausgebrochene Löwe, den die Melodie des reinen Kindes überwindet mit seinen Strophen, die von Glaube, Liebe, Hoffnung singen." Die erlösenden Mächte auf Erden bedienen sich des Kindes; in ihm offenbart sich die Weltüberlegenheit des Göttlichen: Und so geht mit guten Kindern Sel'ger Engel gern zu Rat, Böses Wollen zu verhindern, Zu befördern schöne Tat . . .

Handelt es sich, wie Beutler meint, um ein spezifisch christliches Symbol? Zugegeben, daß das alte biblische Motiv: Daniel in der Löwengrube wiederaufklingt. Überblickt man jedoch die ganze Bedeutungsfülle des Symbolkreises vom göttlichen Kind in Goethes Dichtung, so vertieft sich der Zweifel gegenüber allen kasuistischen Ableitungen, allen „Einfluß"- und Modell-Theorien. Wenn Goethe die Göttlichkeit des Kindes erlebt und dichterisch verklärt, so bedeutet das offenbar eine absichtslose Wiederentdeckung urreligiöser Potenzen, wobei der christliche Mythos vermutlich nur sekundäre Mithilfe bot. Kindheit bedeutet — man vergleiche Emil Staigers Analyse der „Novelle" — Ursprungsnähe, Gottnähe, Unschuld des Werdens, Urständ. Fausts Letheschlaf „wiegt das Herz in Kindesruh", gewährt „tiefsten Ruhens Glück". Die nächtliche Sternsphäre der Elfengesänge deutet auf den transzendenten Hintergrund dieser „Verjüngung" hin. Im Bilde der Kindheit offenbart sich „eine über und außer allen Zeiten beheimatete ursprüngliche Reinheit", die Hoffnung auf einen seligen Naturstand22. Als Sohn von Faust-Plutus tritt im II. Faust der K n a b e L e n k e r auf. „Schauder" und „magisches Licht" künden den 66

Genius an. Er bleibt ungenannt, nur Beschreibung, nur Bilder enthüllen sein unergründliches Wesen. Halb Knabe, halb Mädchen wächst er in der Schule der Frauen auf. („Denn das Naturell der Frauen / Ist so nah mit Kunst verwandt.") In seinen Augen, seinen Locken liegt etwas „Nächtliches", „Schwarzes". (Schon in den Maskenzügen betont Goethe das Nächtliche der Poesie.) Goldstreuender Überschwang ist sein Wesen: Bin der Poet, der sich vollendet Wenn er sein eigenst Gut verschwendet. (V. 5574—75)

Seine „Flämmchen" sind Werde-Symbole, Sinnbilder genial-überirdischer Kräfte, genau wie die „Flamme übermächtiger Geisteskraft" (9624) um Euphorions Haupt, wie die Flamme an Fausts magischem Schlüssel (Mütter-Szene) und das von Homunkulus, der „menschenähnlichen Flamme", entfesselte Flammenmeer des kosmischen Eros. Das Doppelgeschlechtliche teilt er mit Euphorion, Mignon, Homunkulus (sowie mit den Engeln, die Fausts Unsterbliches entführen), ebenso das Erdentbundene, der „allzu lästigen Schwere" Entzogene, Schwebende, Hochstrebende. Dazu vergleiche man das „Springen" und „Klettern" Euphorions. Auch der kindliche Genius in der Zauberflöte II. Teil „springt". Raketenhaftes Aufleuchten und Erlöschen bezeichnet die Lebensbahn all dieser Wesen. Goethe selbst setzte bekanntlich23 den Knaben Lenker dem Euphorion gleich. „Stets war für Goethe das ,Knabenhafte' in seiner ahnungsvoll aufbrechenden Geistigkeit und jugendlich unschuldigen, unbewußten Verknüpfung mit dem ,Mädchenhaften' ein Bild reinster, innigster Idealität. . . . Jugendliche Geistes- und Liebeskraft in reinster, höchster Form ist ihm von allem spezifisch Sexuellen ins üb er geschlechtliche Kindesalter entrückt (vgl. Faust Ii-Schluß)... Seine .hermaphroditischen' Wesen sind Frühformen des Geistes, radikal und unbedingt ins Ideelle spielende .Geister'... Nie sind es biologisch vollentwickelte, ihre Geschlechtlichkeit widernatürlich ableugnende Entartungen . . . Die Doppelformen des Geschlechts liegen bei Goethe also primär nicht im Reifezustand des Menschen, sondern im .Knabenhaften', das, wie Goethe einmal sagt, ,noch alles verspricht', während das Mädchen .schon durch das, was sie ist', anzieht... kurz, es sind knospenhaft ideelle Frühformen des Menschen, die Goethe immer wieder in diesen Gestalten hervorlockt... Kindlich im ergreifenden Sinne des Wortes ist ihr Leiden, Sterben und ihre Apotheose. Das Absolute als Kind ist der reifste, erschütterndste Ausdruck, den die deutsche Klassik ihrem ureigensten .Genius' ersann"24. 67

Auch die „unmündigen Knaben", die den reinsten Jugendstand des Faustischen Innern wiederherstellen und seine jenseitige Verjüngung bewirken, führen nach Emrichs25 einleuchtender Deutung die Mignon Euphorion-Linie fort. „Wie im ersten und dritten Akt diese Knaben schon Faust einen Blick in höhere, reinere Regionen gewährt hatten, so befreien sie ihn hier gänzlich vom letzten Staub der lastenden Welt, und zwar auf Grund ihrer reinen Unmündigkeit und ihres frühen Abschieds von der E r d e . . . " Von Swedenborg übernimmt Goethe bekanntlich die Vorstellung von den frühgestorbenen, mitternachtsgeborenen Kindern, die nur durch das Auge eines im Verkehr mit Geistern stehenden Menschen Irdisches zu erblicken vermögen. Das bezeugen Briefe an Frau v. Stein, an die Mutter, an Friedrich August Woli, an d'Alton aus den Jahren 1781, 1785, 1806, 182426. Im Jahre 1776 hatte er sich ein Buch des pietistischen „Magiers" Oetinger über Swedenborg bestellt27. ,, Wenn man nach Art Schwedenborgischer Geister durch fremde Augen sehen will, tut man am besten wenn man Kinder-Augen dazu w ä h l t . . . " (An Katherina Elisabeth Goethe, 3. Oktober 1785.) Doch warum sind es Knaben, warum nicht auch selige Mädchen oder Kinder überhaupt? fragt Wilhelm Böhm28 und antwortet: „Durch sie wäre die Symmetrie gestört; denn Faust und die Knaben wachsen der Mater gloriosa entgegen." Fürs erste erscheint diese Lösung annehmbar. Doch verbirgt sich, wenn man genauer zusieht, hinter dem ästhetischen ein metaphysisches Problem. Nicht bloß im Faustschluß, sondern fast allerwärts in Goethes Schaffen stellt sich das „göttliche Kind" in Knabengestalt dar; selbst Mignon hieß ursprüglich „der Mignon"! Auch die alten Mysterienreligionen gesellen der Magna Mater fast regelmäßig das Kind als Knäblein. Der tiefere Grund dieser Gruppierung ist wohl im Erlebnis der kosmischen Geschlechtspolarität zu erblicken, das den Tellurier mächtig erfüllte (vgl. S. 391 f.). Aus dem kosmischen Urei, dem Sinnbild vollkommenen Gleichgewichts vor der Geschlechterspaltung, tritt die weiblich-männliche Mater als erste Abspaltung hervor; die zweite Ausgeburt ist das hermaphroditische Knäblein29. Mit der Anknüpfung an Swedenborg ist gewiß nur der Anlaß, nicht der tiefere Grund genannt, der Goethe dazu bewog, der „mitternachtsgeborenen", der Pflanzenwelt entsteigenden Schar seliger Knaben Fausts erste Läuterung anzuvertrauen. Sollte nicht auch hier ein Urgedanke aus E1 e u s i s wieder emporgetaucht sein? So fragt schon C. A. Bernoulli30 in seinem Bachofen-Buch. „Derselbe Eros, welcher den Menschen durch den Tod zu neuer Jugendblüte zurückführt, derselbe vollbringt das Werk der Auferweckung in der Götterwelt." 68

Mit diesen Worten deutet Bachofen das Bildmotiv der U r n e n g e b u r t auf antiken Grablampen. „Von dem Kinde, das mit durchstochenen Blumenblättern an Händen und Füßen aus der Aschenurne zur Geburt sich emporarbeitet, bis zu jenen Brustbildern, die in geöffnetem Blumenkelche ruhen, welche Varietät der Formen und Übergänge! Und doch nur ein Gedanke in allen, die Verherrlichung des Grabes durch das Sinnbild der allem Lebenden im Tode verheißenen R e g e n e r a t i o n . . . Liebender Pflege bedarf das Kind, sobald es ans Licht des Tages tritt. Sollte dem W i e d e r g e b o r e n e n gleiche Teilnahme fehlen? . . . Noch ist der Kindesleib aus dem Aschenbehälter nicht ganz hervorgetreten, noch hängen Blütenblätter an Händchen und Füßen, und schon hat der Flügelknabe seine Lenden mit dem Subligaculum (Lendenschürze) gegürtet, die Schulter mit der kostbaren Bürde belastet und den Weg nach dem fernen Bestimmungsorte angetreten. Ernste Ruhe liegt auf seinem Antlitz, ängstliche Sorge widmet er der Sicherung des Gefäßes. Wer ist solcher Hingebung fähig? Das Bild läßt uns darüber nicht in Unklarheit. Zum Träger wählt es einen aus der Schar jener seligen Knaben, die einst selbst Sterbliche,' aber aus der Asche w i e d e r g e b o r e n , fortan der Vermittlung beider Welten, des Diesseits und des Jenseits, ihr Dasein widmen. Eroten nennen die Alten diese himmlischen Heerscharen, Eroten nach Dionysos-Eros, dessen Gefolge sie bilden . . . Aufgerichtet ist die Urne zur Zeit des Geburtsaktes, gestürzt verkündet sie das Ende desselben . . . Ein Sieg ist es, den der Erote feiert, der Sieg des Lebens über den Tod, welchen Dionysos verleiht, die Schar der seligen Knaben begeistert preist." Das Jugendhafte, die Floreszenz ist dem offenen Leben, der „Idee" noch näher, in ihm leuchtet noch die Ursprungsnähe auf. Jugendbildnisse „versetzen uns in eine Zeit, die wir, wie alles Ideelle, in und außer uns zu reproduzieren haben"31. Man vergleiche auch die Tagebuchnotiz des Jahres 1797 zum „Schatzgräber": „Artige Idee, daß ein Kind einem Schatzgräber eine leuchtende Schale bringt" 32 . In einem Referat über Roger Bacons Stellung zur Farbenlehre schreibt Goethe, „daß sich... jede Jugend, jede K r a f t . . . alles, dem man Wesen, ein Dasein zuschreiben kann, ins Unendliche vervielfältigt, und zwar dadurch, daß, immerfort Gleichbilder, Gleichnisse, Abbildungen als zweite Selbstheiten von ihm ausgehen, dergestalt, daß diese Abbilder sich wieder darstellen, wirksam werden und indem sie immerfort und fort reflektieren, diese Welt der Erscheinungen ausmachen"33. Obwohl er hier nur über die alte neuplatonische Emanationslehre referiert, mischt sich doch ein sehr bezeichnender, zutiefst goethischer Gedanke ein: nur als J u g e n d Sphäre 69

vermag Goethe die Ursprungsmächte, die fortzeugenden Ideen, zu denken! Das G ö t t l i c h e K i n d — damit schließt sich, der Kreis unserer Betrachtungen — ist „gegensatzlose und übergeschlechtliche Erfüllung"; ist pelasgischer Sicht „Ausdruck der Vollkommenheit und geoffenbarter Sinn des Lebens"34. Im Tellurismus ist „das erste Werden... zugleich der Zeitpunkt der Vollendung", sind „Werden und Vollendetsein... gleichbedeutend"35. Daher z. B. auch die pelasgische Vorzugsstellung der Jüngstgeburt, die noch im Volksmärchen nachklingt. „Jüngstgeburt" ist nur ein anderer Ausdruck für das Kind schlechthin; in ihm wird die „ewige Wiederbringung des Ursprungs" sichtbar36. Jugendlichkeit ist für das Lebensgefühl des Tellurismus keineswegs bloße Vorstufe, nicht Mittel zum Zweck, sondern selbst schon Erfüllung, Vollendung; sie ist, wie Schuler einmal sagt, die Freude zu leuchten. Im Mythos vom Göttlichen Kind erneuert Goethe mit traumwandlerischer Sicherheit ein Herzstück der Urreligion. In allgemeinster Formel könnte man das Weltgefühl des Hylikers ein kindhaftes, jugendhaftes nennen37.

7. F O L G E Ein Goethe-Begriff von ganz besonderem, einmaligem Klang verbirgt sich hinter dem unscheinbaren, nüchtern anmutenden Wort: F o l g e mit seinen Ableitungen folgerecht, folgereich, folgelos. Folge bedeutet nicht nur das zeitliche Nacheinander, auch nicht bloß soviel wie Kausalität. Die Grundbedeutungen des Lieblingswortes sind etwa: Stetigkeit, Beharrlichkeit, Ausdauer, Kontinuität, Anschluß, Verknüpfung, Vielfalt der Bezüge, lückenloser Fortgang, lebendiges Sichfortbilden, organische Ganzheit, Einheit, fruchtbare Wirkung, Fortzeugung, Ahnenschaft und Kindschaft. „Anständig seh' ich sie in Folge ziehn": so schildert Mephisto den nach Rang abgestuften Einzug der Hofgesellschaft in Faust II (Hellerleuchtete Säle, V. 6369). Eine Nebenbedeutung ist: Folgsamkeit (gegenüber dem Schicksalswalten). Iphigenie darf von sich sagen: „Und folgsam fühlt' ich immer meine Seele am schönsten frei" (5. Aufzug, 3. Auftritt). Für Goethes Naturwissenschaft, Kunst- und Kulturbetrachtung hat „Folge" zunächst die Grundbedeutung von K o n t i n u i t ä t , Zusammenhang. „Alles hängt zusammen, alles hat die schönste Folge" l . Über Byron: „welch ein wüstes Leben mit Hunden, Affen, Pfauen, Pferden: alles ohne Folge und Zusammenhang" 2 . In den „Wahlverwandtschaften" (I. Teil, 1. Kapitel) schildert Charlotte das Weibliche 70

als Träger der Lebenskontinuität: „Die Männer denken mehr auf das Einzelne, auf das Gegenwärtige, und das mit Recht, weil sie zu tun, zu wirken berufen sind; die Weiber hingegen mehr auf das, was im Leben zusammenhängt, und das mit gleichem Rechte, weil ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Familien an diesen Zusammenhang geknüpft ist, und auch gerade dieses Zusammenhängende von ihnen gefordert wird." Nicht ohne Ironie erwidert Eduard: „Da das Zusammenhängende, wie du sagst, eigentlich euer Element ist, so muß man euch freilich nicht in einer Folge reden hören, oder sich entschließen euch recht zu geben..." In „Dichtung und Wahrheit" (2. Teil, 7. Buch) sagt Goethe (bei Erörterung des Protestantismus), daß „die großen Angelegenheiten der kirchlichen Religion mit Folge und Zusammenhang behandelt werden müssen, wenn sie sich fruchtbar, wie man von ihr erwartet, beweisen soll". Über die organische Natur, deren Bilden und Umbilden nachdenkend, entwickelt sich ihm in Rom „eine Folge nach der andern"3. Einen brieflichen Exkurs über die Fähigkeit der bildenden Kunst, uns unmittelbar in die Zustände vergangener Zeitalter zu versetzen, nennt Goethe entschuldigend „nicht ganz zusammenhängend und folgerecht"4. Die „vulkanistischen" Lehren Alexander von Humboldts gehen ihm wider den Strich, doch anerkennt er, wie alles „bei ihm folgerecht zusammenhängt und mit der ungeheuem Masse seiner Kenntnisse in eins greift, wo es denn durch seinen unschätzbaren Charakter zusammengehalten wird"5. Als folgerechte und folgenreiche Schrift anerkennt er Ernst Stiedenroths Psychologie (Zur Naturwissenschaft im allgemeinen), weil sie die seelischen Mächte nicht als Stufensystem, sondern in sphärischer Lagerung um „einen geheimen Mittelpunkt" darzustellen unternimmt. Gegen Shakespeares komisch-possenhafte Intermezzi stellt er den Rigorismus der Weimarer Klassik als „unsere folgerechte, Übereinstimmung liebende Denkart". (Shakespeare und kein Ende. III: Shakespeare als Theaterdirektor.) Einer der letzten Briefe an Zelter schließt mit der lapidaren Formel „Folgerecht"6; in einem anderen an Varnhagen v. Ense raunt es: „Gar vieles im Sinne hegend und bewegend, manchem gar freundlich Zudringenden wirksam entgegengehend und hierüber mir folgerechte Teilnahme vorbehaltend empfehle ich mich"7. Wenn die Altersbriefe an die Freunde so oft mit den Worten schließen „Und so fortan!", so sprechen sie Goethes Lebensgefühl der Kontinuität als Ermunterung und Segensformel aus8. Der zunächst befremdende Satz, „daß keine Kunst mehr folgerecht sei als die des Bildhauers"9, scheint auf die räumliche Einheit der plastischen Wirkung, auf die geschlossen zusammenhängende Körpermasse hinzudeuten. Auf die innere Wachstums7 Danckert,

Goethe.

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einheit des Seelischen zielt der Atisspruch: „Der Mensch lerne sich ohne dauernden äußeren Bezug zu denken, er suche das Folgerechte nicht an den Umständen, sondern in sich selbst; dort wird er's finden, mit Liebe hegen und p f l e g e n . . . " I m Brief a n Herder v o m 13. Dezember 178610 heißt es von Winckelmann: „Außer den Gegenständen der Natur, die in allen ihren Teilen w a h r und konsequent ist, spricht doch nichts so laut als die S p u r eines guten verständigen Mannes." Die Redaktion von 1816 f ü g t hinzu: „als die echte Kunst, die eben so folgerecht ist als jene." Schließlich die Fauststelle: Wen Ihr beschützt, ist nicht verloren, Denn Euer Rat ist folgerecht. (Faust II, 4. Akt, V. 10 671—72, Mephisto zu den Raben) I m „Versuch als V e r m i t t l e r . . . " (1792) geht es darum, die isoliert erscheinenden E r f a h r u n g e n miteinander und mit dem Ganzen zu verbinden; denn: „In der lebendigen N a t u r geschieht nichts, w a s nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe"; die Vereinzelung der F a k t a ist n u r eine scheinbare. Folge, das heißt Einordnung in übergreifende Zusammenhänge, ist f ü r Goethes Wissenschaftslehre (vgl. S. 279) das K r i t e r i u m einer Ordnung der Phänomene nach Dignität oder Essenzhaftigkeit. In dem Aufsatz „ E r f a h r u n g u n d Wissenschaft" 1 1 entwickelt e r die Begriffe des wissenschaftlichen u n d des reinen Phänomens. Auf unterster S t u f e steht 1. das „empirische Phänomen", w i e es sich der Alltags-Erfahrung darbietet; höher schon 2. das „wissenschaftliche Phänomen", das Ergebnis systematischer Versuchsreihen, sich darstellend „in einer m e h r oder weniger glücklichen Folge". A n d e r Spitze 3. das „reine Phänomen", Endergebnis aller E r f a h r u n g e n und Versuche: „Es k a n n niemals isoliert sein, sondern es zeigt sich in einer stetigen Folge der Erscheinungen" 12 . Indem die E r f a h r u n g e n sich nach innerer Zusammengehörigkeit ordnen u n d zusammenschließen, entspringt eine „ E r f a h r u n g höherer A r t " , an deren Spitze das U r p h ä n o m e n steht. In letzter Instanz schöpft Goethe sein Wissen u m das Stetige aus einem tief verwurzelten, ganz elementaren Gefühl von kosmischer Ganzheit. Bildhaft erlebt er die Kontinuität des Weltganzen in den Atmosphärilien, den unscharf verschwimmenden Dunstmassen der Wolken, im „ S f u m a t o " der Maler. So lebhaft er Howards, des englischen Meteorologen, Sonderung der Wolkengestalten begrüßt und sich zu eigen macht: nicht minder eindrucksvoll empfindet er das „Übergängliche" jener schwebenden Formen, das Hüllend-Verbindende. So w e r d e n ihm die „luftigen Welten" zum Sinnbild gefühlter, geschauter Stetigkeit. 72

Und wenn wir unterschieden haben, Dann müssen wir lebendige Gaben Dem Abgesonderten wieder verleihn Und uns eines Folge-Lebens erfreun. So, Mit Des Die

wenn der Maler, der Poet, Howards Sondrung wohlvertraut, Morgens früh, am Abend spät Atmosphäre prüfend schaut,

Da läßt er den Charakter gelten; Doch ihm erteilen luftige Welten Das Übergängliche, das Milde, Daß er es fasse, fühle, bilde.

(Wohl zu merken)

Das Wort „Folge-Leben" betrachtet Weinhandl geradezu als Verdeutschung von „Metamorphose". Folge ist das Gegenteil von Zufall und Willkür. In „Dichtung und Wahrheit" (4. Teil, 20. Buch) heißt es vom Dämonischen, diesem rätselhaften, widerspruchsvollen Wesen: „Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge." Andererseits: „es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang." In einem Spätbriefe an Wilhelm v. Humboldt formelt Goethe die Antithese: „zufällig, ermangelnd eines Zusammenhangs, einer Folge" — „geistige Notwendigkeit..., individuelle charakteristische Verknüpfungen" 13 . In der Verehrung des „Folgerechten, Willkürlosen, Notwendigen" als einer Manifestation des Göttlichen trifft Goethe mit seinem Meister Spinoza zusammen. Als „organische Entwicklung" verstanden, ist „Folge" reicher an Gehalt, ganzheitlicher empfunden als der mechanistische Entwicklungsbegriff des Darwinismus: „Die Natur kann zu allem, was sie machen will, nur in einer Folge gelangen. Sie macht keine Sprünge. Sie könnte z. B. kein Pferd machen, wenn nicht alle übrigen Tiere voraufgingen, auf denen sie wie auf einer Leiter bis zur Struktur des Pferdes her ansteigt." Es folgt eine Begründung aus dem en kai pan, der Alleinheit (zu Riemer, 19. März 1807). Zur Wahrnehmung nebeneinander bestehender Stufen tritt die Zusammenschau „in der Erinnerimg zu einem gewissen Ganzen"; zuletzt aber sieht sich der Morphologe genötigt, sich „die F o l g e einer ununterbrochenen Tätigkeit als ein Ganzes anzuschauen", indem er das Einzelne aufhebt, „ohne den Eindruck zu zerstören" 14 . Immer wieder kehrt Goethe zu seiner „alten Art" des Schauens zurück, die ihn nötigt, alle Naturphänomene (so auch die Atmosphärilien) in einer gewissen Folge der Entwicklung zu betrachten und die Übergänge vor- und rückwärts aufmerksam zu begleiten". (Zur Meteorologie. Wolkengestalt nach Howard. Vorwort.) r

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Der Gegenbegriff zur Folge ist das S y s t e m . Der Pflanzenforscher, dem Gesetz der Metamorphose auf der Spur, bekennt, er finde zwar viel Neues, aber nichts Unerwartetes: „es paßt Alles und schließt sich an, weil ich kein System habe und nichts will als die Wahrheit um ihrer selbst willen" (an Charlotte v. Stein, 15. Juni 1786). Der Systematiker baut aus scharf (oder überscharf) abgesonderten Elementen, denen er nach rationalen Ordnungsprinzipien, Symmetrien, Entsprechungen usw. ihre Stellen anweist. Ihm ist „alles fertig"; er versucht, „viele Gegenstände in ein gewisses faßliches Verhältnis zu bringen, das sie, streng genommen, untereinander nicht haben". Gegen diese Gebilde konstruktiven Denkens setzt Goethe die unendliche Macht des natürlichen Gestaltwandels, die Kontinuität, die „das Ewige im Vorübergehenden" schaut. „Natürlich System: ein widersprechender Ausdruck. Auf Anordnung, auf System auszugehen ist Hindernis der Naturbetrachtung. Die Natur hat kein System; sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu einer nicht erkennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos, man mag ins Einzelnste teilend verfahren oder im Ganzen nach Breite und Höhe die Spur verfolgen"15. Die Natur hat kein System, das will offenbar heißen: die Mannigfaltigkeit ihrer Formen ist nicht von oben, von der Spitze des Gedankens abzuleiten. Eine offenbar spätere Lesart des gleichen Ausspruchs spricht übrigens dem Natur-System doch einige positive Möglichkeiten zu: „Bei Naturforschung auf Anordnung, auf System auszugehen, hinderlich und förderlich"16. Sinnbild von Stetigkeit im zeitlichen Wechsel ist die Wellenform: „Alle Wirkungen, von welcher Art sie seien, die wir in der Erfahrung bemerken, hängen auf die stetigste Weise zusammen, gehen ineinander über; sie undulieren von der ersten bis zur letzten"17. Mögen uns die einzelnen Erfahrungen zunächst abgesondert, als isolierte Fakta erscheinen: tiefere Aufgabe und letztes Ziel des Forschers bleibt doch, die Verbindung der Phänomene zu finden, denn: umgrenzte Gestalt und fließendes Werden, „geprägte Form" und „lebendige Entwicklung" sind für Goethe keineswegs, wie für die Mehrzahl der Denker, unerreichbare Gegensätze18. In der Variantenbildung, der Gestaltähnlichkeit und Formverwandtschaft verrät auch das auskristallisierte, in Einzelformen geronnene Leben den einheitlichen Strom des Werdens. Dynamik und Statik, belebende und bildende Kraft müssen zusammenwirken: Daß dein Leben Gestalt, dein Gedanke Leben gewinne, Laß die belebende Kraft stets auch die bildende sein. (Votivtafeln: Dichtungskraft)

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In allem Organischen wirkt ein Stetiges unmittelbar vor Augen liegend. Von diesen Erfahrungen ausgehend überträgt Goethe nun sein heuristisches Prinzip auf andere Bezirke. An Schiller schreibt er am 30. Juli 1796, der Grundsatz der Stetigkeit habe ihn beim Entdecken wie beim Vortrag (Darstellung) organischer Naturen aufs glücklichste gefördert. Was sich bei Pflanzen und Insekten bewährte, soll sich nun an „elementarischen und geistigen Naturen" eine Zeitlang als Hebel und Handhabe erproben. Elf Tage später: „Ich bin mehr als jemals überzeugt, daß man durch den Begriff der Stetigkeit den organischen Naturen trefflich beikommen kann; ich bin jetzt daran, mir einen Plan zur Beobachtung aufzusetzen, wodurch ich imstande sein werde, jede einzelne Bemerkung an ihre Stelle zu setzen, es mag dazwischen fehlen was will; habe ich das einmal gezwungen, so ist alles was jetzt verwirrt, erfreulich und willkommen" (an Schiller, 10. August 1796). Für Goethes Wissenschaftslehre wird der Begriff der Folge geradezu zur obersten Bürgschaft der Wahrheit. Nur was sich der Gesamtschau widerspruchslos einfügt, was fruchtbar ist, sich an sein übriges Denken anschließt, ist wahr19. „Alles wahre Aperçu kommt aus einer Folge und bringt Folge. Es ist ein Mittelglied einer großen, produktiv aufsteigenden Kette" 20 . Unter Aperçu versteht Goethe ein „Gewahrwerden dessen, was eigentlich den Erscheinungen zum Grunde liegt". Fortzeugend ist es „bis ins Unendliche fruchtbar" 21 . In solchen Zusammenhängen hat das Wort die Nebenbedeutung von Fruchtbarkeit22. Seine naturwissenschaftlichen Arbeiten bewertet Goethe durchaus als gliedhafte Beiträge zu übergreifenden Erkenntnis-Bezirken. So freut er sich über die Einführung seiner Farbenlehre „in die Reihe der übrigen physikalischen Kapitel", dankt für eine interessante Dissertation, die das zu tun sich anschickt, und fährt fort: „Es ist dieses ganz in meinem Sinne und meinem ältesten Wunsch nach bequem; denn die Natur wird allein verständlich, wenn man die verschiedensten isoliert scheinenden Phänomene in m e t h o d i s c h e r F o l g e darzustellen bemüht ist; da man denn wohl begreifen lernt, daß es kein Erstes und Letztes gibt, sondern daß alles, in einen lebendigen Kreis eingeschlossen, anstatt sich zu widersprechen, sich aufklärt und die zartesten Bezüge dem forschenden Geist darlegt" 23 . „Folgelos" nennt Goethe daher solche Naturerscheinungen, die scheinbar zufällig sich darbieten, deren tieferes Gesetz noch nicht enthüllt ist. So spricht er in einem Brief an Zelter von den „äußerst mannigfaltigen und folgelosen Witterungs-Erscheinungen"24, deren Deutung er mit seiner Hypothese von den „zwei Atmosphären" anstrebt. 75

Geniales Wirken und Leisten, der organischen Webekraft des Unbewußten entsprungen, bewährt sich fortzeugend als „Folge", das heißt als stetige Sinnerfüllung und Fruchtbarkeit im Fortgange des Lebensganzen. „Was ist Genie anders, als jene produktive Kraft, wodurch Taten entstehen, die vor Gott und der Natur sich zeigen können, und die eben deswegen Folge haben und von Dauer sind? . . . Alle Werke Mozarts sind dieser Art; es liegt in ihnen eine zeugende Kraft, die von Geschlecht zu Geschlecht fortwirket und so bald nicht erschöpft und verzehrt sein d ü r f t e . . . " Folge hat „jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende Aperçu, jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Furcht bringt . . ." (zu Eckermann, 11. März 1828). Folge nennt Goethe endlich das Prinzip der in sich geschlossenen, beständigen, fruchtbaren, ganzheitlichen Lebensführung, des sinnvollen, instinktsicheren Handelns, das willkürlos aus der Sülle erwächst. Ein Ausspruch aus den „Wahlverwandtschaften" legt das Schwergewicht fast rationalistisch auf Konsequenz, Ernst und Strenge: trenne alles, was eigentlich Geschäft ist, vom Leben. Das Geschäft verlangt Ernst und Strenge, das Leben Willkür; das Geschäft ist die reinste Folge, dem Leben tut Inkonsequenz oft Not, ja sie ist liebenswürdig und erheiternd." (Der Hauptmann in den „Wahlverwandtschaften", 1. Teil, 4. Kap.). In den Lehrjahren (8. Buch, 9. Kap.) schildert der Marchese seinen Vater: „er war streng gegen sich selbst, in allen seinen Plänen fand man eine unbestechliche Folge, an allen seinen Handlungen eine ununterbrochene Schrittmäßigkeit." Den Irrtümern und Verirrungen seines Lebens stellt Wilhelm Theresens Lebensführung entgegen, die „auf einem schönen reinen Wege in einer sicheren Folge" gegangen ist. (Lehrjahre, 7. Buch, 6. Kap.) „Folge" bedeutet hier mehr als bloße „Konsequenz" im Sinne von Planung, Rationalität des Handelns. Ein organisches Moment muß hinzukommen. Den „heiteren Fleiß", die gleichsam spielend, aus innerer Nötigung quellende Tätigkeit verrichten wir „mit Ordnung und Folge", heißt es in den Lehrjahren (2. Buch, 2. Kap.). Über Alltagsarbeit im Hause: „Welche regelmäßige Tätigkeit wird erfordert, um diese innere wiederkehrende Ordnung in einer unverrückten lebendigen Folge durchzuführen!" (Lehrjahre, 7. Buch, 6. Kap.). Solch „folgerechtes" Tun fordert gelegentlich Abschirmung nach außen und innen, gegen fremde wie eigene Wünsche und Triebregungen, sogar gegen Ideen, die sich willkürlich einzumischen drohen. In einem Briefe des Jahres 1784 an den Herzog hält Goethe Rückblick und Vorschau: „Mich heißt das Herz das Ende des Jahres in Sammlung zubringen, ich vollende mancherlei in Tun und Lernen und bereite mir die Folge einer stillen Tätigkeit aufs nächste 76

J a h r vor, und fürchte mich vor neuen Ideen, die außer dem Kreise meiner Bestimmung liegen. Ich habe deren so genug u n d zu viel, der Haushalt ist eng und die Seele ist unersättlich" 2 3 . Als „still wirkende Geduld" und stete Beharrlichkeit etwa stellt sich der Begriff dar, w e n n Goethe dem getreuen Mitarbeiter C. G. Voigt z u r u f t : „ F o l g e ! das einzige, wodurch alles gemacht wird, und ohne das nichts gemacht werden kann, w a r u m läßt sie sich so selten halten! W a r u m so wenig durch sich selbst u n d andere hervorbringen. I h r e Bemühungen, w e r t e r Freund, sind mir daher i m m e r so schätzbar, weil Sie auch ins einzelne eine Verbindung zu bringen und eine lange Reihe von Geschäften mit Geduld auszuführen wissen" 2 6 . In diesem Zusammenhange würdige m a n Goethes schlicht-monumentale Begriffsbestimmung des C h a r a k t e r s : „Charakter im Großen u n d Kleinen ist, daß der Mensch demjenigen eine stete Folge gibt, dessen er sich fähig fühlt" 2 7 . Stetigkeit u n d stilles Wirken sind f ü r Goethe, den „Neptunisten" aus elementarer Neigung, Wesenszüge n a t u r h a f t e n Geschehens. Gern sähe er sie auch im öffentlichen Treiben, in der S t a a t s f ü h r u n g a m Werke. So —• nicht aus der Metternich-Perspektive — ist seine bekannte „konservative" Haltung in politicis zu deuten. Über jede Verbesserung f r e u t er sich, die organisch e r r u n g e n wird. Aber jedes Gewaltsame, S p r u n g h a f t e ist ihm in der Seele zuwider, „denn es ist nicht n a t u r g e m ä ß " (zu Eckermann, 27. April 1825). Das G r u n d g e f ü h l des „Pathikers", das aus diesen und ähnlichen Äußerungen spricht, ist der Tenor seiner zahlreichen Betrachtungen ü b e r Stetigkeit i m Naturgeschehen. „Man f ü h l t tief", schreibt er von der Schweizerreise Herbst 1779 an Charlotte v. Stein, „hier ist nichts Willkürliches, alles langsam bewegendes, ewiges Gesetz" 2 8 . Die Briefe an Schiller nehmen das Thema wieder auf; i m Zweiten Faust verkündet Thaies die Lehre der Neptunisten, jedoch als „organische" Vision, nicht in der Lesart des Geologen Werner, der alles auf die rein mechanischen Wirkungen des Wassers zurückführte: Nie war Natur und ihr lebendiges Fließen Auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen. Sie bildet regelnd jegliche Gestalt Und selbst im großen ist es nicht Gewalt. (V. 7861—64) Der Gedanke, daß die Gebirgsmassen plötzlich-eruptiv aus dem Erdi n n e r n hervorsteigen könnten, ist „seinem Zerebralsytem ganz u n möglich" 2 9 . E r haßt die „vermaledeite P o l t e r k a m m e r " tellurischer Umwälzungen, das „Heben und Schieben, Brennen und Sengen" 3 0 , das „Aufwälzen und Quetschen, Schleudern und Schmeißen", be77

kämpft die Lehre der Vulkanisten (Hutton, Leopold v. Buch, Alexander v. Humboldt u. a.) und setzt sich lebhaft für Lyells geologische Untersuchungen ein, die die langsame stetige Arbeit des Wassers in den Vordergrund rücken. Letztes Motiv dieser Polemik ist, wie schon Simmel31 bemerkt hat, keineswegs (bloß) der Haß seiner „konzilianten Natur" gegen alles Ungeordnete, Gewalttätige, Abrupte. „Nicht die Gewaltsamkeit an und für sich erscheint ihm als Beweis gegen den Vulkanismus, sondern daß sie gleichsam in der Ordnung der Natur vorgesehen ist und ihre [gestaltete] Einheit zerreißt." Er sieht in Seismos' Wirken nur das „Zerrüttende" (Faust II, V. 8361). denn: „Was ist die ganze Heberei der Gebirge zuletzt als ein mechanisches Mittel, ohne dem Verstand irgend eine Möglichkeit, der Einbildungskraft irgend eine Tulichkeit zu verleihen?" 32 Goethe ist Anti-Vulkanist, weil er aus einem eingeborenen Impuls heraus sich zum „ w e i b l i c h e n " W e l t p r i n z i p " d e r K o n t i n u i t ä t , des stillen Webens, bekennen muß. Dem Element des Feuers kann er „beim Bilden der Erdoberfläche... nicht so viel Einfluß zugestehen . . . als gegenwärtig von der ganzen naturforschenden Welt geschieht"; in dieser Lehre vermißt er „die leitende Idee..., die mich durch dieses Labyrinth hindurchzuführen und ein, der höheren Anschauung korrespondierendes Wahre mir zu entwickeln vermocht hätte" (zu Nees v. Esenbeck, 10. Juni 1823). „Wunderliche Bedingtheit des Menschen auf seine Vorstellungsart. So muß es mir mit Gewalt abgenötigt werden, wenn ich etwas für vulkanisch halten soll" (zu Boisseree, 2. August 1815). Seine von einem tiefwirkenden Lebensgefühl getragene Parteilichkeit läßt hier außer acht, daß Rhythmus und Katastrophe im Erdleben polarisch zusammenwirkend gedacht werden können: als Ausdruck übergreifender Rhythmik. Immerhin: ganz verborgen bleibt ihm die „plutonische" Unterwelt tellurischer wie auch geschichtlicher (Französische Revolution, Napoleon!) Katastrophenmächte keineswegs33. Schließlich konnte seinem weltoffenen Blick doch nicht entgehen, daß alle Stetigkeit in Natur wie Menschenwelt doch immer wieder durch plötzlich dreinfahrende strahlige, spaltende, ausbruchshafte Gegenmächte durchkreuzt wird. Natura facit saltum und mehr noch die Geschichte. Der Historie zugewandt, räumt Goethe gelegentlich ein, daß der Weltgrund auch ein Diskontinuum in sich birgt. „Es gibt nur zwei Wege, ein bedeutendes Ziel zu erreichen und Großes zu leisten: G e w a l t u n d F o l g e . Jene wird leicht verhaßt, reizt zur Gegenwirkung auf und ist überhaupt nur wenigen Begünstigten verliehen; Folge aber, beharrliche, strenge, kann auch vom Kleinsten angewendet werden und wird selten ihr Ziel verfehlen, da ihre 78

stille Macht im Laufe der Zeit unaufhaltsam wächst. Wo ich nun nicht mit Folge wirken, fortgesetzt Einfluß üben kann, ist es geratener, gar nicht wirken zu wollen, indem man außerdem nur den natürlichen Entwicklungsgang der Dinge, der in sich selbst Heilmittel führt, stört, ohne für die bessere Richtung Gewähr leisten zu können"34. Das klingt fast schon wie einer der bekanntesten Aussprüche des Laotse: Das Allerweichste besiegt das Allerhärteste. Eine weit verzweigte Gruppe von Aussprüchen bestimmt „Folge" ganz schlicht als Konsequenz, ruhige Ausdauer, beharrliches Tun. Dieser nicht zu übersehenden „bürgerlichen" Seite des Lieblingswortes gedenkt Thomas Mann in seiner Rede zum 100. Todestage Goethes35 mit geistreicher Beredsamkeit. Ein übelwollender aber nicht ganz ohne „Hellsicht" urteilender Rezensent des jungen Goethe sah bereits den „Basso ostinato", die fast verbissene Zähigkeit in Goethes Schaffensart. Er schreibt: „ . . . er kann außer seiner Ordnung nichts machen. Wenn ihm etwas auffällt, so bleibt es in seinem Gemüt und Kopf hangen. Alles, was ihm nur aufstößt, sucht er mit dem Klumpen Ton zu verkneten, den er in der Arbeit hat, und denkt und sinnt auf nichts anderes als dies Objekt"36. An dieser Art von „Folgerichtigkeit" ist ein leiser Nachhall väterlichen Starrsinns („des Lebens ernstes Führen") nicht zu überhören. Treffend bemerkt dazu Thomas Mann: „Er trieb das Prinzip gelegentlich ins Groteske und deutete eine erschreckende Bereitschaft an, sich um der Pflicht willen selbst zum Stumpfsinn zu bekennen. ,Und wäre es meine Aufgabe', ruft er, .diese Streusandbüchse, die oben vor mir steht, immerfort auszuschütten und wieder zu füllen, — ich würde es mit unermüdeter Geduld und genauester Sorgfalt tun' " 3 7 . Von der segensreichen Folgerichtigkeit33 stetig beharrlichen Tuns und seinem Gegenstück, dem „folgenlosen" Sichverzetteln, sprechen zahlreiche Briefstellen und Aussprüche und aus Goethes späteren Jahren, die kaum einer Erläuterung bedürfen. Die Unternehmungen einer wackeren Weimarer Bürgerfrau, der Buchholz, haben „Folge und Glück", berichtet Goethe Carl August (19. Februar 1789). „Durch des Herzogs äußeres Verhältnis [als preußischer General] und durch andere Kombinationen" wird „alles bei uns inkonsistent und folgenlos", klagt er Charlotten (8. Juni 1789). Dazu bemerkt Paul Fischer (Goethes Wortschatz, Leipzig 1929, Art. „Folge"): „Hier sollte man ,folgelos' erwarten, da .folgenlos' in der Regel = .wirkungslos' ist." „Man kann der Gesellschaft alles aufdringen, nur nicht, was eine Folge hat" (Max. u. Reil. 26. Aus den Wahlverwandtschaften, 1809: Ottiliens Tagebuch). „ . . . Taten [des Genies], die vor Gott und den Menschen sich zeigen können und die eben deswegen Folge haben und von Dauer sind" (zu Eckermann 11. März 1828). „ . . . das übrige dem Folgegang und Schicksal zu überlassen" (Wanderjahre). „So vieles geht in der Welt vorüber ohne Folge, so viele Blüten fallen ab ohne Frucht . . ." (an August Claus v. Preen, 3. Oktober 1820). „Wenn nicht

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überhaupt in der Welt so weniges eine gehäufte Folge zeigte . . ." („Dichtung und Wahrheit"). In all diesen Sätzen bedeutet „Folge" nicht nur das Ergebnis, die kausale Wirkung, den unmittelbaren Nutzeffekt das Handelns, sondern zugleich immer auch das stetig fortwirkende „Band", die fruchtbare Strahlkraft „folgerechten" Tuns. Einer der letzten Briefe an Marianne spricht das aufs klarste aus: „Es ist mir sehr viel wert, daß selbst meine Pedanterie jener Zeit Ihnen nicht lästig geworden, sondern Eindrücke zu s p ä t e r f r u c h t D a t e r F o l g e Ihnen zurückgelassen hat" (25. Januar 1831). „Was man mündlich ausspricht, muß der Gegenwart, dem Augenblick gewidmet sein; was man schreibt, widme man der Ferne, der Folge" (Max. u. Refl. 892. Aus dem Nachlaß: Über Literatur und Leben). „Morgen werde ich ordentlich den Kreuzbrunnen wieder trinken und dann bald wieder ein ordentlicher Mensch mit Folge werden" (zum Kanzler F. v. Müller, 24. Februar 1823). „Seine [Boisserees] Darstellungen und Darlegungen haben eine sehr gute Folge, und ich bin überzeugt, daß wenn äußere Umstände dies Unternehmen einigermaßen begünstigen, so muß es Fortgang haben" (an Cotta, 11. Mai 1811). Über die künftige Tätigkeit Eckermanns äußert sich Goethe in einem Briefe vom 25. Januar 1831 an Marianne v. Willemer: „Eckermanns Gegenwart ist mir von großem Wert; er übernimmt eine Arbeit die, ohne entschieden verabredete Folge, nicht denkbar wäre." „O Gott, der Tag ist lang, man kann entsetzlich viel tun, wenn man mit Folge arbeitet und Langeweile flieht" (zum Kanzler F. v. Müller, 28. Juni 1830). Im Alter muß man „in das was man tun und leisten will, immer mehr Folge legen, wenn noch irgendetwas herauskommen soll, was man sonst aus dem Stegreife gar wohl zu produzieren wußte" (an Marianne v. Willemer, 7. Juni 1831). Allerdings muß sich der handelnde Mensch mit der intentio, dem „guten Willen" begnügen. Verwirklichtes Handeln folgt außerdem noch „fremdgesetzlichen" Schicksalsverkettungen und ist daher in seinen letzten Auswirkungen grundsätzlich unüberschaubar. „Alles, was wir tun, hat eine Folge. Aber das Kluge und Rechte bringt nicht immer etwas 'Günstiges, und das Verkehrte nicht immer Ungünstiges hervor, vielmehr wirkt es oftmals ganz im Gegenteil." Dennoch gilt: „Entschiedenheit und Folge ist . . . das Verehrungswürdigste am Menschen!" (Lehrjahre). Aus solcher Sicht erblickt schließlich Goethe das stetig erfüllte, sinnvoll gestaltete L e b e n s g a n z e als eine „Folge". „Hieraus verstehen wir, daß das menschliche Leben nur insofern etwas wert ist, als es eine Folge hat" (Sankt Rochus-Feier in Bingen). Er spricht von der Freude, die man „an einem eigenen verlängerten, folgerechten Leben haben darf" 39 . So, das heißt vom Leitgedanken übergreifender Ganzheit her, ist wohl auch sein Ausspruch zu verstehen: „Viele Leidende sind vor mir hingegangen; mir aber war die Pflicht auferlegt, auszudauern und eine Folge von Freude und Schmerz zu ertragen, wovon das Einzelne wohl schon hätte tödlich sein können" 40 . Der Berliner Aesthetiker Hotho (1802—1873) verstand diese Bedeutungsseite des Goethischen Lieblingsworts, wenn er schrieb, er fände 80

„in diesem gesamten Leben, wi; es in meinen Resultaten vor uns daliegt, solchen inneren Zusammenhang, solche gemäße Folge", daß er sich „keine Epoche (des Goetheschen Lebens) ohne die folgende und vorhergehende vorzustellen und klarzumachen" wüßte 41 . Über den Lebenskreis des Einzelnen hinausgreifend, wirkt Folge als schöpferische, fortzeugende Überlieferung, fruchtbares Entwickeln, „lebendiges Fortschreiten". Ihm steht allerdings das „wunderliche Bestreben der Menschen" entgegen, „immer auf ihre Weise von vorn anfangen zu wollen" 42 . „Es kommt alles auf den Geist an, den man einem öffentlichen Wesen einhaucht, und auf Folge." 43 In einem Altersbriefe an den Grafen v. Brühl gebraucht Goethe sein Lieblingswort doppelsinnig, zunächst ausgehend von der natürlichen Lebensordnung patriarchalischer Zeiten, wo der Tod als letzte reife Lebensfrucht hingenommen wird, „weil derjenige, der in hohen Jahren zu seinen Vätern versammelt wird, ebenso gut seinen Platz einnimmt als der Bräutigam neben der Braut am Hochzeitstage. Dies müssen wir zugeben, weil ja sonst keine Folge der Zustände denkbar wäre." 44 Dann aber wechselt die Bedeutung des Worts vom Natur- und Schicksalhaften hinüber ins Vorbesinnliche. Es erscheint der homo faber. Goethe gibt zu bedenken, wir seien „doch eigentlich nur dadurch Menschen . . ., daß wir unsern Zuständen e i n e g e w i s s e F o l g e z u g e b e n t r a c h t e n ; weil wir sehr elende Kreaturen wären, wenn wir nicht auf Morgen und Übermorgen, aufs nächste Jahr und Jahrzehnt uns, und was sich mit uns vereint hat, zu versorgen und sicher zu stellen trachteten"45. Nur eine Variation dieses Themas ist es, wenn Goethe 1828 an v. Beulwitz schreibt, „die vernünftige Welt sei von Geschlecht zu Geschlecht auf ein f o l g e r e c h t e s T u n angewiesen". In demselben Brief spricht er davon, „wie Vorfahr und Nachfolger einen edlen Besitz gemeinschaftlich festhaltend, pflegend und genießend, sich von Geschlecht zu Geschlecht ein anständig-bequemes Wohlbefinden emsig vorbereitend, eine für alle Zeiten r u h i g e F o l g e b e s t ä t i g t e n D a s e i n s und genießenden Behagens einleiten und sichern"46. Goethe spricht hier eine schlichte Grundwahrheit der essentiellen Anthropologie aus: er bestimmt den Menschen — im Unterschied zum triebabhängigen Tier — als das vorschauende, um sich schauende, man könnte auch sagen weltoffene, nicht bloß umweltgebundene, Überlieferung schaffende und pflegende Wesen. Man darf seine Worte vom „Vorsorgen" nicht als ein Jasagen zum ständig vorgreifenden, die Gegenwart zum bloßen Auftakt imaginärer Zukunftserwartung entwertenden Lebensstil der Jüngstzeit mißverstehen. Mit ausdrüek81

lichem Seitenblick auf Hegels „ewige Gegenwart" sagt er in einem seiner letzten Briefe, „eine Folge von konsequenten Augenblicken" sei „immer eine Art von Ewigkeit selbst" 47 . Auch wer im NurZeitlichen, Bruchstückhaften wirkt, so will er etwa sagen, schafft doch letzlich mit am großen Kontinuum. Denn: „In irdischen Dingen ist alles folgenreich, aber durch Sprünge. Glaubt man, irgend ein Eindruck sei verloren, so tritt die Wirkung da und dort hervor." 48 Aus diesen bedeutungsschweren Aussprüchen aus Goethes letzter Zeit leuchtet das Hintergründige des Folge-Begriffs hervor. Nicht nur als unmittelbare Kausalkette wirkt „Folge", sondern auch wie ein Strom, der lange Zeit unterirdisch fortrinnt, um dann wieder empor zu quellen. Dem späten Goethe spielt der Begriff ins Transzendente hinüber. Folge wird zur Verjüngung aus dem Urständ, zum Wiederaufleuchten scheinbar erloschener, unter der Asche fortglimmender Lebensfunken. (Vgl. S. 166.) Laßt fahren hin das allzu Flüchtige! Ihr sucht bei ihm vergebens Rat; In dem Vergangnen lebt das Tüchtige, Verewigt sich in schöner Tat. Und so gewinnt sich das Lebendige Durch Folg aus Folge neue Kraft; Denn die Gesinnung, die beständige, Sie macht allein den Menschen dauerhaft . So löst sich jene große Frage Nach unserm zweiten Vaterland; Denn das Beständige der irdschen Tage Verbürgt uns ewigen Bestand. (Zur Logenfeier des 3. September 1825, Zwischengesang)

Abschließend wenden wir uns zur Frage nach dem U r s p r u n g des Folge-Begriffs in Goethes Weltbetrachtung. Anregungen mögen von verschiedensten Richtungen her ihm zugeflossen sein: von Herders Natur- und Geschichtsbild etwa, in der das Kontinuum sich vor allem als Entwicklungsgedanke darstellt. Man könnte auch fragen: erneuert Goethes „Folge" nicht die lex continui des Leibniz? An Leibnizens Infinitesimalrechnung erinnert man sich unwillkürlich, wenn man bei Goethe liest,, von den Mathematikern hätten wir das Verfahren zu lernen, nur das Nächste ans Nächste zu reihen; auch dort, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, sei es anwendbar. Es handelt sich um die „Vermannigfaltigung eines jeden einzelnen Versuchs", woraus eine „Erfahrung höherer Art" entspringt 49 . Freilich sind das schon verhältnismäßig späte, offenbar abgeleitete Gedanken; wer nach früheren, bildkräftigeren Anregungen fahndet, 82

wird sich wohl vor allem an die Gedankenwelt der Mystiker, Theosophen, Alchemisten halten müssen, aus welcher der junge Goethe so mancherlei Bedeutsames-aufnahm. Im Ersten Faust (V. 447—53) erscheint das berühmte Bild der Himmel und Erde gemeinsam erfüllenden und zwischen ihnen webenden Kräfte als wundervolle dichterische Veranschaulichimg des „Folge"-Gedankens. Zu seiner Verknüpfung mit dem biblischen Bilde der Jakobsleiter, auf der die Engel auf und niedersteigen, wurde Goethe durch den alten Naturphilosophen F. M. van Helmont (Paradoxal-Discurse oder Ungemeine Meinungen von dem Macrocosmo und Microcosmo, deutsch Hamburg 1691) angeregt 50 . Vordeutung des „Folge"-Gedankens ist auch das „geistige Band", Encheiresis naturae (Vers 1940), von dem Mephisto spricht. Schon der Straßburger Chemieprofessor J. R. Spielmann, dessen Vorlesungen Goethe im Wintersemester 1770/71 besuchte, interpretiert in seinen 1763 erschienenen Institutiones Chemiae S. 8 die Encheiresen (wörtlich: Handgriffe, Kunstgriffe) der Natur als „Band" oder „flüchtigen Geist", der die Stoffverbindungen zusammenhält. Als „geheimnisvolles Band" wird Goethe in späteren Jahren den hintergründigen Naturzusammenhang empfinden, dem wir uns „dynamisch", d. h. ganzheitlich forschend, nicht „atomistisch", nähern 51 . Noch in einem seiner letzten Briefe 52 spricht der Dichter von der „geheimen Encheiresis" der Natur, wodurch sie Leben schafft und fördert. In „Dichtung und Wahrheit" erzählt Goethe, daß ihm die „Aurea Catena Homeri" besonders zugesagt habe, weil die Natur darin, „wenn auch vielleicht auf phantastische Weise, in einer s c h ö n e n V e r k n ü p f u n g dargestellt wird". Die um 1710 entstandene Schrift eines österreichischen Arztes bietet unter dem Sinnbild der neuplatonischen Goldenen Kette eine Art Kosmogonie. Es scheint, daß dieses alte Bild der Kontinuität vor allem Goethes Symbolsinn wahlverwandt ansprach53. Doch schon bei Giordano Bruno gipfelt die Naturverklärung im Bilde der Goldenen Kette des Lebens, die von der Erde zu den Himmlischen emporreicht. Schon hier ist die aurea catena Sinnbild des unendlichen Lebensstroms, aus dem alles Lebendige auftaucht und wieder untergeht 54 . Ein anderer, uralter Bildgedanke des Weltkontinuums war die Vorstellung von der Weltmusik, der musica mundana, die sich als musica humana, (d. h. als harmonisches Zusammenspiel von Leib und Seele) im Menschen, dem Mikrokosmos, fortsetzt oder abspiegelt. Audi diese Lehre trat dem jungen Goethe in der magisch-theosophischen Überlieferung mannigfach — z. B. bei Paracelsus oder Welling — entgegen. Wie er sie seinem Naturdenken anverwandelt, zeigt nicht nur Vers 453 des Faxistmonologs, wo von den auf- und nieder83

steigenden Himmelskräften die Rede ist, die „harmonisch all das All durchklingen". Ebenso aufschlußreich ist ein Satz im Fragment des Briefromans von 177155: „Die ganze Natur ist eine Melodie, in der eine tiefe Harmonie verborgen ist." Dazu als Erläuterung: „Was ist die Harmonie anders als die Regeln, und die Melodie anders als die Ausübung." Um diesen Ausspruch in seinem Zusammenhang mit der alten musica coelestis völlig zu verstehen, bedarf es der Besinnung auf zwei historische Zwischenglieder. Seit dem Barock hatte sich die pythagoräische Weltmusik in die neuzeitliche harmonie universelle (Marin Mersenne, Paris 1636) verwandelt. Das bedeutete, daß an Stelle der antiken rein melodisch empfundenen „Konsonanz" von aufeinanderfolgenden Tonschritten die abendländische Akkordoder Simultan-Harmonie trat. Im 18. Jahrhundert war 1 das Gefühl f ü r die „Einbettung" von Melodien in begleitende oder latente Akkordik („obligates Akkompagnement") so weit entwickelt, daß der französische Komponist und Musiktheoretiker J e a n Philippe Rameau den Satz prägen konnte: La mélodie naît de l'harmonie. (Die Melodie wird aus der Harmonie geboren.) Von der spätbarocken Vorstellung der harmoniegezeugten Melodie und dem nachklingenden Gedanken der harmonie universelle leitet sich Goethes Ausspruch her, der „Harmonie" und „Melodie" der Natur ins Verhältnis von Regel und Ausübung setzt. „Regel" bedeutet hier, wie schon Grete Schaeder 56 treffend bemerkt, „nicht Vorschriften und Vorbilder, die mit dem Verstand erkannt und nachgeahmt werden können", sondern die „erste dunkle Totalidee", das Erlebnis des magisch-hintergründigen Weltzusammenhangs. So lehrreich es f ü r den Biographen und Philologen sein mag, diesen Anregungen nachzuspüren: l e t z t e Aufschlüsse sind hier nicht zu erwarten, denn es handelt sich offenbar nicht um ein Bildungs-, sondern um ein Ur-Erlebnis Goethes. Kontinuität des Kosmos ist sicherlich ein Urgedanke der Menschheit, ein Urgefühl zumal der „weiblichen" Frühkulturen, des Chthonismus. In Symbolik und Mythologie der alten Ägäis klingt es tausendfach nach, in kretischer, etruskischer, noch römischer und italienischer Kunst findet es bildhaften Niederschlag als „Sphäre" und „Sfumato". (Vgl. S. 501, 503 f., 510 ff.) Die sumerische Weltvorstellung nennt duranki, das „Mutterband", das die Erde berührt und mit dem Himmel verknüpft, die kosmische Nabelschnur 57 . Gegenüber der wechselvollen, an scharfen „Umschlägen" reichen Verfassungsgeschichte des athenischen Staats zeichnet sieh die ältere römische Staatsverfassung durch eine tiefwurzeinde Stetigkeit wenigstens der Grundlagen aus. „Wo man zu Änderungen schritt, stellten sie nie einen .Umschlag' dar. Nur 84

zögernd und mit aller Behutsamkeit gestattete man dem Neuen, sich im Rahmen des Vorhandenen zu entfalten... Jedes Streben zielte nicht auf Umsturz, sondern auf Weiterbilden und Ausformen dessen, was bereits gegeben, in der bisherigen Entwicklung angelegt war" 58 . Was Altheim hier zeichnet, ist nichts anderes als der uralte Instinkt des Telluriers für die „Folge", das Kontinuum des Lebens. Hier im Römertum, jenem seltsamen Spätgebilde des tellurischen Weltalters, ist er als politisch-soziale Tugend greifbar. Im Abendlande klingen solche urtümlichen Gefühle nur gelegentlich wieder auf. Als Untergrund wird man das Weltgefühl der Kontinuität vor allem in Kunst, Dichtung und Philosophie Italiens seit der frühen Renaissance verspüren können, dann etwa (noch christlich-dualistisch überlagert) bei Jakob Böhme, dem tellurischen Theosophen. Wieweit chthonische Unterströmungen in der Überlieferung der Rosenkreuzer, Alchemisten usw. wirksam waren, bleibt vorerst 1 eine offene Frage. Sicherlich gibt es noch eine völlig anders geartete Konzeption des Weltkontinuums: die des T r a n s z e n d e n t a l i s m u s . Indische, altdeutsche, niederländische Mystik, die Weltbilder von Leibniz, Shaftesbury, Herder geben einen Begriff von ihren Möglichkeiten und ihrer Spannweite. Ätherhaftes Weitengefühl durchdringt und tönt diesen Erlebriistypus. Was Goethe aus diesem Gegenreiche (vor allem wohl von Herder) zugetragen wurde, bedurfte stillschweigender oder ausdrücklich-bewußter Anverwandlung, denn die Ursymbole der großen Menschheitsgruppen sind im letzten Grunde unvertauschbar.

8. Z U G A N G Z U M

ÜBERSINNLICHEN

Am Schluß dieser Betrachtungsreihe mögen einige Bemerkungen Platz finden über Erlebnisse Goethes, die in den Bereich der Parapsychologie fallen. Dabei handelt es sich für uns lediglich darum, herauszufinden, ob Art und Form dieser Erlebnisse die Signatur Goetheschen Weltbegegnens überhaupt tragen. Wir fragen mit anderen Worten, ob sich in dei Zugangsweise Goethes zum „Übersinnlichen" ein Zusammenhang mit seiner psychischen Grundartung eröffnet. Wie fern Goethe demAufklärungswesen steht, zeigt seine besonnene, allem Verstandeshochmut abgekehrte Stellung zur „Nachtseite". Den 85

apriorischen Bannsprüchen der Schulwissenschaft, die es ja immer gern mit Palmströms Devise hält: Weil, so schließt er messerscharf, Nicht sein kann, was nicht sein darf, setzt der Greis die Überzeugung entgegen, es sei „das schädlichste Vorurteil , daß irgendeine Art Naturuntersuchung mit dem Banne belegt werden könnte"1. Schon 1781 hatte er Lavater geschrieben: „Ich bin geneigter als jemand, noch eine Welt außer der sichtbaren zu glauben und ich habe Dichtungs- und Lebenskraft genug, sogar mein eigenes beschränktes Selbst zu einem Schwedenborgschen Geisteruniversum erweitert zu fühlen."2 [Man weiß, wie er in jungen Jahren, durch Susanne v. Klettenberg angeregt, G. v. Wellings Opus mago-cabbalisticum et theosophicum (1735) sowie die Aurea Catena Homeri (1723) des Rosenkreuzers Joseph Kirchweger von Forchenbronn studiert, wie er sich später die Schriften des nordischen Geistersehers Swedenborg — Arcana coelestia, 1749—1756, De Coelo et Inferno, 1758 — zunutze macht.] Diesem Zugeständnis an den Nachtpol des Seelischen folgt jedoch (im obengenannten Schreiben an Lavater) eine nicht minder entschiedene Absetzung von dem trüben Wust läppischer Bekundungen, wie sie im Treiben der Somnambulen oft mit unterzulaufen pflegen. Den magischen Schwindel Cagliostros ironisiert er im „Großkophta". Wenn er dem Kanzler v. Müller versichert: „Wer keinen Geist hat, glaubt nicht an Geister", so heißt es andererseits an Nees v. Esenbeöc: ,.. . . nur an ihrer treuen Hand könnt ich ein paar Schritte gegen die Nachtseite wagen. Mit meinem besten Willen aber mußt ich bald wieder umkehren: denn ich bin nun einmal dazu nicht berufen. Wo das Auge sich schließt und das Gehirn seine Herrschaft aufgibt, bin ich höchst erquickt, in einen natürlichen Schlaf zu fallen Da wir aber nun, bei hellem Sonnenschein an der Tagseite, so manches Interesse zu teilen wissen, so wollen wir daselbst beharrlich wandeln . . ,"3 Das klingt fast wie das berühmte Diesseits-Bekenntnis des gealterten Faust: Er wandle so den Erdentag entlang; Wenn Geister spuken, geh er seinen Gang (Faust II, 5. Akt, Mitternacht, V. 11 449 f.) Ähnlich äußert sich der Greis im Gespräch mit dem Kanzler v. Müller über „tierischen Magnetism" und die Seherin von Prevorst. „Ich habe mich immer von Jugend auf vor diesen Dingen gehütet, sie nur parallel an mir vorüberlaufen lassen. Zwar zweifle ich nicht, daß diese wundersamen Kräfte in der Natur des Menschen liegen, 86

ja, sie müssen darin liegen, aber man ruft sie auf falsche, oft frevelhafte Weise hervor. Wo ich nicht klar sehen, nicht mit Bestimmtheit wirken kann, da ist ein Kreis, für den ich nicht berufen bin. Ich habe nie eine Somnambule sehen mögen." 4 Goethe der Klassiker bleibt sich wohl bewußt, daß Apollons Tempel über dem Nachtheiligtum überwundener, in die Tiefe gebannter Erddämonen errichtet ward. Daher seine Scheu vor der Entfesselung unterweltlicher Mächte. Aber niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, nach platter Aufklärerweis' die „Nachtseite" abzuleugnen. „Wir wandeln alle in Geheimnissen. Wir sind von einer Atmosphäre umgeben, von der wir noch gar nichts wissen, was sich alles in ihr regt und wie es mit unserm Geiste in Verbindung steht. So viel ist wohl gewiß, daß in besonderen Zuständen die Fühlfäden unserer Seele über ihre körperlichen Grenzen hinausreichen können." Die beiden bekanntesten Fälle Goetheschen „Hellfühlens" (oder wie man es nennen mag) sind seine Fernwahrnehmung des Erdbebens in Messina von 1783 (Brief an Charlotte v. Stein vom 6. April 1783, vgl. auch Eckermann am 13. November 1823); und seine vorschauende Vision nach dem Abschied von Friederike (Dichtung und Wahrheit, 11. Buch), wo er seinen Doppelgänger im hechtgrauen Kleide mit etwas Gold „mit den Augen des Geistes" erblickt. Nach acht Jahren erfüllte sich bekanntlich dieser Fernblick in die Zukunft. Über das Erfühlen des fernen Erdbebens wird an späterer Stelle (S. 476) im Zusammenhang mit Goethes „Tellurismus" noch zu sprechen sein. Soll man es Vorahnen nennen, wenn er 1788 in Rom die Pyramide des Gestius zeichnet und davor einen Grabstein mit dem Namen Goethe?5 Zweiundvierzig Jahre später wurde sein Sohn hier bestattet. Ein deutliches Vorgefühl von Schillers Tod hatte Goethe am Morgen des letzten Neujahrstages, den Schiller erlebte. Ohne es zu wollen, hatte er auf der Glückwunschkarte geschrieben: der letzte Neujahrstag. Beinahe wiederholt sich das böse Omen, als er eine zweite Karte schreibt. Am selben Tage erzählt er Charlotte v. Stein sein Mißgeschick und fügt hinzu, es ahne ihm, daß entweder er oder Schiller in diesem Jahre scheiden werde. An die beiden erstgenannten Erlebnisse anknüpfend, versucht Eberhard Kretschmar6 so etwas wie eine Typologie der okkulten Vorkommnisse in Goethes Leben. Er bemerkt, es handle sich in beiden Fällen entweder um Überbrückung des Raumes oder der Zeit. Das Wesentliche dieser Raum-und Zeitüberwindimg sei jedoch dieses, „daß es sich durchaus innerhalb der Grenzen des Irdischen und des Menschlichen vollzieht". Goethe bleibe auch mit seinem Übernatür8 D a n c k e r t , Goethe.

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liehen stets im Diesseits (während Rilke, der hier als Paradigma eines anderen Erlebnistypus erscheint, ins Jenseits, ins Außermenschliche hinübergeht, auf die „andere Seite der Natur"). Grundlegend andere übersinnliche Erlebnisse habe Goethe nicht gehabt. So bestechend diese Antithese klingt: e i n übernörmales Erlebnis Goethes fügt sich diesem Schema nicht völlig: jenes seltsame Gefühl der „Entpersönlichung", das sich nach der lebensgefährlichen Erkrankung („Blatterrose") im Januar 1801 einstellte. Am Sechsundzwanzigsten besuchte Frau v. Stein mit Charlotte v. Schiller den Genesenden. „Er bat uns aufs neue um unsere Freundschaft, als wenn er wieder in der Welt angekommen wäre. Sonderbar ist, daß er auch nicht um. ein Lot abgenommen. Aber sein Auge ist noch bös, aber mehr die äußere Haut daran als der Augapfel. Fünf Tage wußte er nichts von sich und weiß sich nur eines sonderbaren Gefühles zu erinnern, als wenn er etwas Ganzes gewesen wäre: eine Landschaft, so etwas Allgemeines. Wie er sein Individuum wieder fühlte, war ihm die Empfindung unglücklich"7. Vielleicht ist aber gerade dieses Erlebnis am stärksten „goethisch" zu nennen: Entselbstung, die große Diastole so weit vorgetrieben, daß das Ich sich bereits als ein übergreifend Ganzes, Landschaftsartiges fühlt. Ohne Zweifel wird hier die Sphäre des Menschlichen überschritten, jedoch wohl (so dürfen wir zumindest vermuten) in Richtung eines Umfassend-Einbettenden, nicht (wie anscheinend bei Rilke) hinüberwechselnd auf „die andere Seite der Natur". Mit diesen skizzenhaft vortastenden Bemerkungen müssen wir uns bescheiden8. „Beweisen" läßt sich in diesem dämmerigen Grenzland der Seele kaum etwas. Immerhin wird man vielleicht doch mit der Möglichkeit rechnen dürfen, daß auch gewisse übersinnliche Erlebnisarten mit dem Grundaufbau der Personalität, der Struktur des IchWelt-Verhältnisses irgendwie zusammenhängen.

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ZWEITES MENSCH UND

BUCH KULTUR

1. A N T H R O P O L O G I E Weithin verstreut in Dichtung, Kunstlehre, Naturforschung, in einzelnen Maximen, Briefstellen usw. finden sich Goethes Aussagen vom Wesen des Menschen, von seiner Stellung im Kosmos. Es könnte nicht schwer fallen, diesem zentralen Thema den Raum eines selbständigen Buches zu widmen. Hier müssen wir uns auf die Grundlinien beschränken. Aus tellurischer Sicht, „von unten", sieht Goethe den Menschen zunächst als das erdgeborene, erdgebundene Wesen, als Geschöpf des „Erdgeists". Wie Faust („Wald und Höhle") umfaßt er seine Mitgeschöpfe „im stillen Busch, in Luft und Wasser" als Brüder. Sie alle sind Ausdruck der gleichen Gott-Natur. Seinen geliebten ErdKindern ruft Prometheus zu: Ihr seid nicht ausgeartet, meine Kinder, Seid arbeitsam und faul, Und grausam, mild, Freigebig, geizig, Gleichet all euren Schicksalsbrüdern, Gleichet den Tieren und den Göttern.

Aus der Wesensschau des Dichters und Naturphilosophen erblickt Goethe in den elementaren Formen der T i e r h e i t nicht etwa nur vor- oder untermenschliches Dasein, sondern ein Mittleres zwischen Mensch und Gott. Die Tierformen, so lehrt er, seien geschaffen worden, um „das Zusammentreffen von Göttern und Menschen zu vermitteln"1. Er spricht über den Anteil der Tiere1 an „dem im Menschen wohnenden Gottesgebilde"2. Offenbar erneuert er mit dieser Auffassung die uralte Formel von der Teilhabe des Menschen am Tier-Kreis, die Symbolgleichung vom Mikrokosmos als Gegenbild des astralen Makro-Anthropos. Vom Menschen als M i k r o k o s m o s spricht die gesamte mittelalterliche Theologie seit Eriugena; homo dicitur minor mundus (Thomas von Aquino). Zu Myrons Kuh bemerkt Goethe, es sei gewiß ein löbliches und fruchtbares Bestreben, das Edle im Tiergeschlecht hervorzuheben und im Sinne der höheren Natur darzustellen, wie es die Alten getan. „Auch im Allgemeinen genommen, wie hoch steht nicht die Kuh in der großen Weltordnung, weshalb sie denn auch von den Indiern als übernatürlich, halbgöttlich anerkannt wird"3. Auch dem Naturforscher Goethe geht es, zumal in früherer und mittlerer Zeit, zunächst um den Menschen als Naturwesen. Glaubte die „aufgeklärte" Schulwissenschaft des 18. Jahrhunderts allen Ernstes, der Mensch unterscheide sich vom Tier grundsätzlich und 91

wesentlich durch den Mangel eines kleinen Knochens, des Zwischenkiefers, so setzt ihr Goethe, alsr er das os intermaxillare (1784) entdeckt, die morphologische Grundwahrheit entgegen: „Der Mensch ist aufs nächste mit den Tieren verwandt" 4 . Damit wird er zum Begründer der vergleichenden Morphologie. Obwohl er von der Stufenleiter der Lebewesen spricht und manche Züge der späteren genetischen Entwicklungslehre vorwegnimmt, ist er doch nicht bloßer Vorläufer Darwins. Diese „Leiter" oder „Folge" ist zunächst nichts anderes als metaphysischer Organisationsplan, ein ideales Ordnungsschema der Lebewesen. Die Frage der realen Genese, der tatsächlichen Abstammungsfolge, bleibt demgegenüber im Hintergrund. Die Lehre Darwins, die den Menschen als arriviertes Säugetier, als Zufallsergebnis blind-mechanischer Selektion ansieht, hätte er bestimmt abgelehnt. Aber ebensowenig war er gewillt, dem Menschen eine Sonderstellung im Reich der Organismen auf Grund losgelöster Einzelmerkmale zuzubilligen. Mit Herder teilt er die Überzeugung, „daß man den Unterschied des Menschen in nichts einzelnem finden könne... Die Übereinstimmimg des Ganzen macht ein jedes Geschöpf zu dem was es ist, und der Mensch ist Mensch so gut durch die Gestalt und Natur seiner oberen Kinnlade als durch Gestalt und Natur des letzten Gliedes seiner kleinenZehe Mensch. Und so ist wieder jedeKreatur nur ein Ton, eine Schattierung einer großen Harmonie, die man auch im ganzen und großen studieren muß, sonst ist jedes Einzelne ein toter Buchstabe" 5 . Seine ganzheitliche, auf die „Entelechie", das innere Sinngefüge und Wachstumsprinzip des Menschen gerichtete Fragestellung ist nicht nur unveraltet, sondern noch heute nicht voll begriffen. Am nächsten kommt ihr wohl im gegenwärtigen Schrifttum der geistreiche und tiefdringende, obzwar nicht erschöpfende Deutungsversuch von Arnold Gehlen6. Ihm (und anderen zeitgenössischen Biologen) stellt sich der Mensch, biologisch gesehen, als das nicht spezialisierte Wesen dar, das Wesen ohne spezifische, d. h. einer ganz bestimmten Umwelt angepaßte Organe. Auch dieser ganz moderne Gedanke klingt bei Goethe voraus in seiner Äußerung über die „unverhältnismäßigen'' Organe der Tiere: Hörner, Stoßzähne, Mähnen, lange Schweife usw., wogegen der Mensch alles in die Harmonie seiner Gestalt einbezieht und „alles, was er h a t , auch i s t". Daß der Mensch ein aufrechtgehendes Wesen ist, darin erblickt Goethe durchaus nicht nur ein Zufallsergebnis des Milieus. „Man behauptete zum Beispiel, es hänge nur vom Menschen ab, bequem auf allen vieren zu gehn, und Bären, wenn sie sich eine Zeitlang aufrecht hielten, könnten zu Menschen werden"7. So äußerlich sah er 92

die Natur nicht am Werke; nur Mechanisten sind solcher Ungedanken fähig. Nicht zufällige Auslese stellt den Menschen an die Spitze der Tierheit, sondern das der Natur einwohnende Prinzip der Steigerung. Daher heißt es im Winckelmann-Aufsatz 8 : „Das letzte Produkt der immer sich steigernden Natur ist der schöne Mensch." Dem realistisch gestimmten Psychologen erscheint die „kleine Menschenwelt" als das Reich der Halb-Tiere; aus solcher Sicht erneuert sich ihm die alte Tierfabel (Reineke Fuchs). Im Tiersymbol erblickt auch Mephisto, der stets verneinende Geist, den Menschen: Er nennts Vernunft und brauchts allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein. Er scheint mir, mit Verlaub von Ew. Gnaden, Wie eine der langbeinigen Zikaden, Die immer fliegt und fliegend springt Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt; (Faust, Prolog im Himmel, V. 285—290.)

Aber Goethe weiß auch, daß der Mensch u n t e r sich selbst hinabsteigen kann, so daß die reine Triebhaftigkeit des Tieres neben ihm als h ö h e r e Rangstufe bestehen bleibt: Wollen die Menschen Bestien sein, So bringt nur Tiere zur Stube herein; Das Widerwärtige wird sich mindern, Wir sind eben alle von Adams Kindern.

„Wenn die Affen es dahin bringen könnten, Langeweile zu haben, so könnten sie Menschen werden" 9 . Klingt das nicht fast wie eine parodistische Vorwegnahme der Heideggerschen Existenzphilosophie? „Wenn die Menschen nur nicht so pover innerlich wären, und die reichen so unbehülflich", klagt er im Reisetagebuch10. Ähnlich an Frau v. Stein: „Die Welt ist eng, und nicht jeder Boden trägt jeden Baum, der Menschen Wesen ist kümmerlich, und man ist beschämt wie man vor so vielen tausenden begünstigt ist" 11 . Das unauflöslich Verworrene des Lebensgewebes, die Verstrickung in Schuld und Frevel, die jedem widerfährt, der aus dem reinen Bezirke des behüteten Tempels in die profane Wirklichkeit hinaustritt, spricht Pylades aus: So wunderbar ist dies Geschlecht gebildet, So vielfach ist's verschlungen und verknüpft, Daß keiner in sich selbst noch mit den andern Sich rein und unverworren halten kann. (Iphigenie IV, 4)

Als das Wesen zwischen Licht und Finsternis („Und euch taugt einzig Tag und Nacht") begreift Mephisto den Menschen. Im Faustprolog 93

vernimmt Raphael die Weltmusik der Gestirne, das himmlische Lichtwesen; Michael schildert die Unterwelt entfesselter Naturdämonie; das Zwischenreich, in den Wechsel von Helle und Finsternis gestellt, das Gabriel überschaut, ist die Menschenwelt. So tief verschattet Goethe in manchen Augenblicken die Menschennatur erblickt, nie könnte er sich mit Kant einverstanden erklären, der den Naturgrund des Menschen für unheilbar und wurzelhaft böse hält. Ebensowenig behagt es ihm, wenn Kant in seiner „Anthropologie" bestenfalls den G r e i s für geistig mündig erklärt. „Von diesem Gesichtspunkte sieht sich der Mensch immer im pathologischen Zustande, und da man, wie der alte Herr selbst versichert, vor dem 60sten Jahr nicht vernünftig werden kann, so ist es ein schlechter Spaß, sich die übrige Zeit seines Lebens für einen Narren zu erklären." (An Schiller, 21. Dezember 1798.) Wenn Goethe von der höheren Natur des Menschen, vom Menschen als Kulturträger spricht, so geschieht es unbeeinflußt von dem alttestamentlichen Glaubensbilde, das den Menschen als Erdherren und Nutznießer aller übrigen Schöpfung setzt. Diese Art von „Teleologie" hat Goethe, wie man weiß, zeitlebens bekämpft. Beim Nachdenken übers Beharrende im Menschen, worauf sich die Phänomene der Kultur beziehen lassen, finden sich („bis jetzt": 25. März 1801) vier Grundzustände: „des Genießens, des Strebens, der Resignation, der Gewohnheit." (An Schiller) Das klingt recht hausbacken; doch bedenke man, daß Goethe hier ausdrücklich nur vom „Beharrenden" im Menschen, also doch wohl vom Durchschnittlich-Alltäglichen spricht. Vom Kulturschöpferischen, Genialischen ist hier keine Rede, nur von der Erhaltung des Getriebes. Goethe denkt keineswegs gering vom bürgerlich-handwerklichen Unterbau der Kultur, er ist ihm schon Selbstwert, denn: „Tätig zu sein ist des Menschen erste Bestimmung." Daher auch seine Hochschätzung handwerklicher Grunderziehung in den „Wanderjahren", daher seine Bewunderung von Zelters bürgerlicher Tüchtigkeit, daher die Fülle seiner Aussprüche über den Menschen als das Wesen, das seinen Zuständen „Folge" zu geben trachtet. Wie aber sieht Goethe die s c h ö p f e r i s c h e Seite der Kultur? In der Geniezeit bedingungslos vom götternahen Schaffen inspirierten Künstlertums. Der frühe Prometheus (des Dramenfragments von 1773 und der Ode) ist Bildner, Symbol der auf sich selbst ge~ 94

stellten Schaffenskraft. Es ist „doch immer das Final, das der Mensch auf sich zurückgewiesen w i r d " . . . „Arzt, hilf dir selber!" . . . „Ich t r e t e die Kelter allein" . . . „Ich f ü h l t e recht gut, daß sich etwas Bedeutendes n u r produzieren lasse, wenn m a n sich isoliere": m i t solchen Aussprüchen kommentiert Goethe im 15. Buch von „Dichtung und Wahrheit" die Entstehung seines „Prometheus". Hier liegt der Eigenton auf der Systole, auf dem Selbstwirken d e r schöpferischen Monade. Prometheus f ü h l t in sich das Göttliche, e r weiß: „So bin ich ewig, denn ich bin." Seine innere Welt ist Mikrokosmos, d a r u m r u f t er den olympischen Göttern zu: Unendlich? — Allmächtig? — Was könnt ihr? Könnt ihr den weiten Raum Des Himmels und der Erde Mir ballen in meine Faust? Vermögt ihr zu scheiden Mich von mir selbst? Vermögt ihr mich auszudehnen Zu erweitern zu einer Welt? Wie ganz anders steht neben diesem genialischen Prometheus d e r S t u r m - und Drangzeit der geschäftige Erzschmied, der n ü c h t e r n e Frühaufsteher, der allem Künstlerischen verständnislos gegenüberstehende Täter in „Pandora" (1807)! Dieser zweite Prometheus v e r körpert die nüchterne Tages- und Wirksphäre, die Welt des Nutzens, der Taten, des Krieges. Eigentümlicherweise ist diese prometheische Wirk weit jedoch noch urtümlich roh und vergleichsweise n a t u r gebunden gezeichnet: ihren symbolischen Hintergrund bilden „ n a t ü r liche u n d künstliche Höhlen", allenfalls rohe Kunstbauten, „doch ohne alle Symmetrie", eingefügt in eine Naturlandschaft. Wogegen Epimetheus' Wohnsitz schon einer durchaus künstlich gefügten u n d gehegten Kulturlandschaft angehört. Alle Kunstempfänglichkeit ist denn auch ihm, dem Schwerbedenklichen, Nachsinnenden zugewiesen. N u r er hat Pandora, die höchste Schöne, als Göttergeschenk e m p fangen. Beide titanischen Brüder, der Rückschauende und der Vorgreifende, der Sehnsuchts- und der Wirkmensch, sind h ä l f t e n h a f t , beiden fehlt das Glück der gottgesegneten Stunde. Erst in ihren Kindern, in Phileros (Phil-Eros!) und Epimeleia, scheint sich ein Ausgleich der väterlichen Gegensätze vorzubereiten. J e älter Goethe wird, u m so tiefer befestigt sich die Erkenntnis, daß der Mensch bestenfalls vorübergehend ins (labile) Gleichgewicht zu k o m m e n vermag. Die mittleren, indifferenten Zustände sind n u r dem Tier oder dem Gott gegeben; die extremen: Haß und Liebe, Sieg oder Tod, Herrschaft und Unterwerfung, sind n u r f ü r Menschen (zu 95.

Riemer, September 1809). Der Mensch ist das gespannte, das unvollkommen polarisierte Wesen. Harmonie ist bestenfalls ein Schlummertraum, im Untergrund bleibt das Chaos: „... Wir schlafen sämtlich auf Vulkanen." Nicht in der tätigen, sondern in der „leidenden" Vernunft wird Goethe fortab den Schwerpunkt des Menschlichen erblicken. Welch ein Auffassungswandel gegenüber dem stolzen Autonomie-Gefühl der achtziger Jahre: Nur allein der Mensch Vermag das Unmögliche: Er unterscheidet, Wählet und richtet; Er kann dem Augenblick Dauer verleihen. (Das Göttliche, 1783, Str. 7)

Noch in seinem letzten Brief an Wilhelm v. Humboldt, wenige Tage vor seinem Tode, ringt Goethe um die Grundfrage der (wesensforschenden) Anthropologie. Die Tiere haben nur U m w e l t (wie wir heute zu sagen pflegen); sie werden „durch ihre Organe belehrt, sagten die Alten; ich setze hinzu: die Menschen gleichfalls, sie haben jedoch den Vorzug, ihre Organe dagegen wieder zu bel-ehren". Der Mensch hingegen ist w e l t o f f e n , schöpferisch, organbeherrschend, wie es in einer der nachgelassenen Maximen (1190) heißt, weil er der Welt antizipierend gegenübersteht, weil in ihm der Dämon, der Genius wohnt, das A n g e b o r e n e , „das, von selbst wirkt und die nötigen Anlagen unbewußt mit sich führt, deswegen auch so geradehin fortwirkt, daß, ob es gleich die Regel in sich hat, es doch zuletzt ziel- und zwecklos ablaufen kann"12. Nicht schlechthin triebgesteuert, wie das Tier, „vernimmt" der Mensch die Welt, sondern b i 1 d e m p f ä n g l i c h , symbolträchtig. So darf man wohl den folgenden Spruch deuten: „Anaxagoras lehrt, daß alle Tiere die tätige Vernunft haben, aber nicht die leidende, die gleichsam der Dolmetscher des Verstandes ist"13. Je tiefer Goethe in die Gesetzlichkeiten von Kunst und Geschichte eindringt, um so klarer wird ihm, daß alles Kulturschöpfertum, alle wahre Produktivität des Menschen aus tiefer Gläubigkeit entspringt. Sc* kann er das Thema von Glauben und Unglauben für das wahrhaft entscheidende und grundlegende der Weltgeschichte erklären und damit Schelling, K. O. Müller und Bachofen, den Mythographen der Romantik, das Schlüsselwort liefern. Aus solcher Sicht stellt sich der Mensch dar als das göttergewahrende, g ö t t e r v e r e h r e n d e Wesen. Die griechische Kunst vermenschlicht nicht die 96

Götter, wie die banale Auffassung meint, sondern vergöttlicht den Menschen. Nicht anthropozentrisch' denkt auch Goethe die Götter, sondern im ausgezeichneten Menschen erblickt er, wie Piaton und Plutarch, die Leibwerdung göttlicher Mächte. Ein frivoles Witzwort der französischen Aufklärung: „Alle Tiere sind vernünftig, der Mensch allein ist religiös" 14 nimmt er auf und verleiht ihm aus seiner Sicht des Kulturwachstums neuen, positiven Sinn. In einem Briefe vom Juli 1789 an Herder schreibt er: „Ich habe mich diese zwei Tage mit dem Profil eines Jupiters beschäftigt, und wünsche, daß dir der Bärtige, Gelockte gefallen möge, wenn ich ihn bringe. Bei der Gelegenheit habe ich sehr sonderbare Gedanken über den Anthropomorphismus. gehabt, der allen Religionen zum Grunde liegt, und habe mich des bonmots abermals erfreut: Tous les animaux sont raisonnables, l'homme seul est religieux" 15 . Die Möglichkeit der Selbstvergottung, die ja jeder Klassik, jeder Mittagszeit der Geschichte als Verlockung und Gefahr entgegentritt, findet sich selbst in Goethes hochklassischer Lebenmitte nur in schwacher Ausprägung. So etwa in dem Ausspruch von der Menschengestalt als dem „Non plus ultra allen menschlichen Wissens und Tuns" (Italienische Reise). Daneben halte man aber die Würdigung des Menschenleibs als Abbild der musica coelestis, aus universistischer Schau: „Wie die ganze Gestalt als Grundpfeiler des Gewölbes dasteht, in dem sich' der Himmel bespiegeln soll! Wie unser Schädel sich wölbet, gleich dem Himmel über uns, damit das reine Bild der ewigen Sphären drinnen kreisen könne!" Hybrider klingt ein anderer berühmter Satz aus hochklassischer Zeit, der den Menschen als Ziel und Bewußtwerden des Weltall-Werdens, als Gipfel des aufjauchzenden Kosmos feiert 16 . Ein anthropozentrischer Ausspruch, wird man sagen, vergleichbar jener in den Lehrjahren (1. Buch, 17. Kap.) auftauchenden Formel, die den Menschen (obzwar bedingtermaßen) einen „Gott der Erde" nennt. Immerhin sollte man nicht überhören, daß auch in diesem hochgemuten Satze der Mensch nicht dem Kosmos g e g e n ü b e r steht, sondern e i n g e b e t t e t bleibt ins All. Das Göttlichkeits-Erlebnis knüpft sich an eine Bedingung: „wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen f ü h l t . . . " Auch hier klingt also das Grundgefühl kosmischen Umfaßtseins mit. Was Gundolf über Goethes Vergottung des menschlichen Leibs und Herzens sagt, überbetont das Moment der Fleischwerdung des Gottes im Sinne des George-Wortes: „den Leib vergottet und den Gott verleibet". Solche Hybris restloser Gottverleibung ist eine (z. B. in der hellenischen Antike auftauchende) 97

Möglichkeit des uranischen Menschentums. Gewiß n ä h e r t sich der titanische und der hochklasSische Goethe zeitweilig diesem Selbstund Weltgefühl; dennoch k o m m t es nie zu jener äußersten Verfestigung des Selbst-Erlebens, wie sie George ausspricht. Wieviel andere Aussprüche Goethes stehen indessen solchen Bekenntnissen des Selbststandes entgegen, Atissprüche, die die Abhängigkeit, Pre'isgegebenheit, das Vorübergehend-Vergängliche des Menschenwesens unterstreichen! Was unterscheidet Götter von Menschen? Daß viele Wellen Vor jenen wandeln, Ein ewiger Strom: Uns hebt die Welle, Verschlingt die Welle, Und wir versinken. (Grenzen der Menschheit) Vergänglich, ephemer ist der Mensch als Erscheinungswesen, u n v e r gänglich die Monade, das metaphysische Ke'imzentrum unzähliger Gestaltungen, die schöpferische Entelechie, das innere Selbst. Nur hier, im individuellen Bezirk, im Seinskern, sieht Goethe die entscheidenden Möglichkeiten von Aufstieg und Fall. N u r tätige Selbstvollendung des Einzelnen eröffnet letzte, transzendente Ausblicke. In Ottiliens Tagebuch heißt es: „Alles Vollkommene in seiner A r t m u ß ü b e r seine A r t hinausgehen, es m u ß etwas anderes, unvergleichbares werden. In manchen Tönen ist die Nachtigall noch Vogel; d a n n steigt sie ü b e r ihre Klasse hinüber und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigentlich Singen heiße." 1 7 Wenn hier sogar den Tieren die Möglichkeit des Sich-Selbst-Übersteigens zugebilligt wird, u m wieviel m e h r dem Menschen! Ist es nicht denkbar, daß der Mensch als Gattung ein Versuchswesen der unablässig sich steigernden Natur, ein „Wurf nach einem höheren Ziele" ist? 18 Eine der Maximen definiert denn auch geradezu den Menschen als ein Vorläufiges, ein Zwischenwesen, das seine Erfüllung noch nicht gef u n d e n hat. „Der Mensch w ä r e nicht der Vornehmste auf der Erde, w e n n e r nicht zu vornehm f ü r sie wäre." 1 9 Des Menschen Zielgedanke heißt Plus ultra: indem er „auf den Gipfel der N a t u r gestellt ist, sieht er sich, selbst wieder als eine ganze N a t u r an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat" 2 0 . Gott ist m e h r als bloßer Weltbaumeister, er w i r k t noch immer fort; die Erdenwelt schuf er, u m sich auf dieser materiellen Unterlage „eine Pflanzschule f ü r eine Welt von Geistern zu gründen. So ist er n u n f o r t w ä h r e n d in höheren N a t u r e n wirksam, u m die geringeren heranzuziehen" 98

(zu Eckermann, 11. März 1832). Die Erde ein kosmisches Pädagogium! Heißt das aber nicht den Sinnschwerpunkt menschlicher Existenz in ein Jenseits, eine „Geisterwelt" verlagern? Wird der Greis hier am Ende seiner ureigensten Art der Weltschau untreu? Fast könnte es so scheinen. Aber die Unterhaltungen mit Falk lehren, daß Goethe zunächst an noch andere Möglichkeiten der V e r l e i b l i c h u n g denkt. Den Erden-Menschen nennt er das erste Gespräch, das die Natur mit Gott hält. Aber er zweifelt nicht, „daß dies Gespräch auf anderen Planeten höher, tiefer und verständiger gehalten werden kann" 2 1 . Schon Herder hatte (in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, anknüpfend an Lessing) die Erde als die Schule bezeichnet, in welcher der Mensch durch Freude und Leid zum Mannesalter erzogen wird. Aber als er dieses Gleichnis aussprach, war es ihm nur darum zu tun, das Vorläufige, Hinfällige, Transitorisch-Vergängliche der irdischen Verhältnisse zu betonen. E r ruft dem Menschen zu: „Du hast weiter kein Anrecht auf sie (die Erde); sie hat kein Anrecht auf dich; mit dem Hut der Freiheit gekrönt und mit dem Geist des Himmels gegürtet setze fröhlich deinen Wanderstab weiter." Herder sieht also die Erdsituation des Menschen aus der Sicht des Transzendentalisten, mit dem Scheideblick des spätzeitlichen Menschen. Hier aber unter unserm Blick Verfällt, vergeht, verschwindet alles: Der Erde Pracht, der Erde Glück Droht eine Zeit des Falles. Das ist die Gegenperspektive von Goethes Weltschau. Die ureigenste Problematik des Menschentums tritt in den Gesprächen zwischen Nereus, Thaies, Proteus und Homunkulus in der Klassischen Walpurgisnacht ans Licht. Als Vertreter höheren Menschentums hat Thaies an ihnen Anteil, doch die eigentliche „Kritik" am Menschen ist bezeichnenderweise göttlich-dämonischen Naturwesen — Nereus und Proteus — in den Mund gelegt. Daß man in diesen sentenziösen Wechselreden keineswegs bloß geistreich spielende Aphorismen dichterischen Esprits, sondern tieferwurzelnde, in die Thematik des Walpurgisnacht-Geschehens und seiner heimlichoffenbaren Thematik „Götterwelt, Menschenwerdung und Geschichte" verwobene Aussagen erblicken darf, hat Emrich 22 klargestellt. Am schärfsten urteilt Proteus über die Endlichkeit, die Gefahr akosmischer Abgeschiedenheit, die dem Menschen droht. Er warnt den werdelustigen Retorten-Dämon vor der Menschwerdung wie vor einer Sackgasse der Entwicklung. 99

Nur strebe nicht nach höhern Orden: Denn bist du erst ein Mensch geworden, Dann ist es völlig aus mit dir. (V. 8330—32)

Worauf Thaies erwidert:

. . . 's ist auch wohl fein, Ein wackrer Mann zu seiner Zeit zu sein. (V. 8333—34)

In Thaies selbst sieht Proteus schließlich den „wackern Mann", den Vertreter höheren Menschentums, dem es gelungen ist, im „Dauernden" Fuß zu fassen: So einer wohl von deinem Schlag! Das hält noch eine Weile nach; Denn unter bleichen Geisterscharen Seh ich dich schon seit vielen hundert Jahren. (V. 8335—38)

Ein Dauerndes, wesenhaft Beständiges also vermißt Proteus an jenen „bleichen Geisterscharen", die den alltäglichen, schwankendumgetriebenen, von seiner höheren Bestimmung abgefallenen Durchschnittsmenschen bezeichnen. Fast genau denselben Mangel beklagt der weise Nereus am Menschen: Sind's Menschenstimmen, die mein Ohr vernimmt? Wie es mir gleich im tiefsten Herzen grimmt! Gebilde, strebsam, Götter zu erreichen, Und doch verdammt, sich immer selbst zu gleichen. (V. 8094—97)

Dem Menschen frommt kein Rat; immer wieder wird er seiner höheren, eigentlichen Bestimmung untreu und verstrickt sich in den nichtigen Kreislauf des „Immergleichen", der dämonischen Lüste und Triebe, die ihn in die Verfremdung des (Macht-)Geschichtlichen, ins Selbstische abgleiten lassen: So oft auch Tat sich grimmig selbst gescholten, Bleibt doch das Volk selbstwillig wie zuvor. (V. 8108—09)

(Es folgt die Vision von Trojas Gerichtstag.) Um die volle Bedeutungsschwere dieser Kritik menschlicher Selbstverfremdung zu würdigen, ist es notwendig, in Goethes Sicht des G e s c h i c h t s p r o z e s s e s sich Einblick zu verschaffen. Allem Fragwürdigen zutrotz bejaht Goethe indessen das Menschendasein, weil er aufs tiefste von seiner kosmischen Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit durchdrungen ist. Beiden Parteien, den optimistischen Glücksuchern wie den Pessimisten, die nur vom irdischen 100

Jammertal sprechen, entgegnet er: „Der Mensch ist weder zum Glück noch zum Unglück geschaffen: er ist geschaffen, daß er da sei, die Ordnung der Dinge rief ihn hervor. In dieser Ordnung ist er ausgerüstet zum Glück oder Unglück." Zu diesem erstaunlichen Weisheitswort des Fünfunddreißigjährigen, das uns Knebel23 überliefert, halte man Fausts Mahnung an Helena: Durchgrüble nicht das einzigste Geschick! Dasein ist Pflicht, und wär's ein Augenblick. (V. 9417—18)

2. R A U M Im Gespräch mit Riemer (13. November 1810) erwähnt Goethe seinen Lieblingsheiligen Philipp Neri. Der Pater ecstaticus hatte sich in seiner Jugend ein paar Brustrippen zerbrochen, wodurch das Herz zu viel Spielraum bekommen, weswegen er auch immer an Herzklopfen gelitten. Dazu bemerkt der Dichter — vom Thema Neri urplötzlich ins Gebiet der Physiologie hinüberwechselnd —: es sei ein Wahn, was man von einem großen Herzen behaupte. Die ärgsten Lumpen hätten immer die größten Herzen gehabt. Das eigentliche Leben sei in den Adern, außenhin, und das Herz nur, wie bei den Röhrenfahrten, der Punkt, von wo aus die Richtung bestimmt wird. Wie kam Goethe zu dieser seltsamen Auffassung? Hatte er handfeste Gründe, die Peripherie des Blutkreislaufs für wichtiger zu halten als ihre Zentrale? Wohl kaum. Physiologische Tatsachen dürften hier nicht so sehr mitgesprochen haben als vielmehr psychische Sachverhalte. Wir tun gut, die ganze Aussage symbolisch zu nehmen: als Hinweis auf die elementare Struktur des Ich-Welt-Gefühls bei Goethe. In physiologischer Einkleidung begegnet uns hier eine sehr eigentümliche Form des Selbst-Erlebens: nicht vom Zentrum, sondern von der Peripherie her. Nicht als autonome Mitte erlebt sich das Ich, sondern als Umfaßtheit, Eingebettetsein. Daher auch die vielfach bekundete Abneigung Goethes gegenüber dem delphischen „Erkenne dich selbst!" (Davon wird an anderer Stelle zu sprechen sein.) Allerdings: auch rein physiologisch läßt sich Goethes Aphorismus vertreten. Gegenüber der extrem mechanistischen Auffassimg von der „Pumpstation Herz" spricht die neuere Kreislaufforschung auch vom peripherischen Herzen, von der blutmotorischen Mitwirkung der Gefäße. Besonders die feinsten Haargefäße nehmen an der Förderung des Blutumlaufs Anteil. Diese ganz moderne Einsicht 101

n i m m t Goethe vorweg — aus intuitivem Wissen u m das polare Wechselverhältnis von Z e n t r u m und Peripherie, Mitte und Sphäre. Auch entwicklungsgeschichtlich bestätigt sich sein Aperçu. „Auf eine einfache Formel gebracht, w ü r d e die Geschichte des Kreislaufs . . . lauten: zuerst das Plasma, dann das Blut, hernach die Kapillaren, zuletzt das Herz. Von der Peripherie zum Zentrum, von außen nach innen, vom Indifferenten zum Differenzierten." 1 Sehr bedeutsam sind noch zwei andere Aussprüche. Hier schildert Goethe das Erlebnis seines Selbstes i m Bilde der u m sich kreisenden Monas 2 . Die Goethesche Monas ist kein raumloser, fensterloser transzendentaler P u n k t (wie die Leibnizsche), sondern bewegte, kreisende Sphäre! Wie das Gestirn, Ohne Hast, Aber ohne Rast, Drehe sich jeder Um die eigne Last. (Zahme Xenien) Dazu der K o m m e n t a r in den Maximen: „Das Höchste, was w i r von Gott und der N a t u r erhalten haben, ist das Leben, die rotierende Bewegung der Monas u m sich selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt; der Trieb, das Leben zu hegen u n d zu pflegen, ist einem jeden unverwüstlich eingeboren, die Eigentümlichkeit desselben jedoch bleibt uns und andern ein Geheimnis." 3 Ein Aphorismus in den „ W a n d e r j ä h r e n " (I, 10. Kap.) f ü h r t weiter, enthüllt uns das Goethisch-Ganymedische „ U m f a n g e n d - u m f a n g e n " als das eigentliche Urerlebnis. Inmitten des kreisenden Makrokosmos das kleine Gestirn der Menschen-Monade. „Darfst d u dich in der Mitte dieser lebendigen Ordnung auch n u r denken, so bald sich nicht gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes u m einen reinen Mittelpunkt kreisend hervortut?" Man erblicke in solchen Aussprüchen n u r nicht e t w a unverbindliche Redewendungen! Ein Blick auf die mächtig entfaltete G r u p p e vorzeitlicher Symbole des Umschwungs wie Spirale, Doppelspirale und so fort, auf die sphärische Ornamentik der Muttervölker könnte sehr wohl die V e r m u t u n g nahelegen, daß das Vorbild zu alledem „Rotationen des Innern" (Klages) bildeten, die den Menschen der Vorzeit hinwiederum den Schlüssel zum Wissen um kosmische Rotationen lieferten. (Die bekannten naturalistischen Erklärungsversuche sind unzulänglich.) Kein Ichgefühl ohne s t r u k t u r v e r w a n d t e s Weltgefühl. Hier handelt es sich u m Wechselbegriffe. Wenn H. A. Korff 4 sagt, unser Weltbild sei, psychologisch gesehen, eine Funktion unseres Ichgefühls, so 102

dürfen wir uns dabei unter „Ichgefühl" keinesfalls etwas Ephemeres, Stimmungshaftes vorstellen, sondern eine leidlich feste, übrigens auch Vielgliedrige Struktur, die uns durchaus „vorgegeben" ist. Das letzte, tiefste Apriori unseres Ich- und Welt-Erlebens liegt im Typus, im Weltalter vorgebildet, dem wir angehören. Wohl am einprägsamsten läßt sich das, was wir „Weltgefühl" nennen, am Erlebnis des Raumes und der Zeitlichkeit ablesen. Halten wir uns zunächst an Goethes Art des R a u m - Erlebens. Dieses große Thema verdiente wohl eine eigene, mit aller philologischen Akribie durchzuführende Untersuchung. Wir müssen uns hier auf einige kurze Andeutungen beschränken. Goethes Raum ist durch und durch s p h ä r i s c h gebaut. Denn „alles Lebendige bildet eine Atmosphäre um sich her" 5 . Selbst dem Anorganischen, dem Mineral (Granit) traut er eine geheime innere Neigung zu, in Kugel- und Eiform zu verwittern; man habe daher keineswegs nötig, „die in Norddeutschland häufig gefundenen Blöcke solcher Gestalten wegen im Wasser hin- und hergeschoben und durch Stoßen und Wälzen enteckt und entkantet zu denken"6. Den Welt-Raum empfindet er wie der alte Pelasger das große Weltei. In der Ellipse fühlt er sich geborgen, vor seelischen Katastrophen bewahrt. Dieses Sicheinbetten, dieses Vertraulichkeitsverhältnis zum umfangenden Kosmos bekundet sich ganz elementar in Goethes Lieblingsworten: Behagen, Behaglichkeit. Stets ist die hüllende Sphäre das erste gegenüber dem Innengeschehen. Zentripetal wirkt der umfassende Kosmos auf die Lebenszelle. So deutet Goethe sich seine bekannte Wetterfühligkeit: er glaubt, daß die große Welt seine kleine immer mit ihrer Stimmung durchschauert7. Den Vorrang der umfangenden Sphäre vor dem Zentrum fordert er vom bildenden Künstler als oberstes Gesetz der vollkommen guten Komposition. Gleichviel, ob es sich um eine Schöpfung der Plastik, Malerei oder Baukunst handelt: stets müsse die Mitte leer sein oder unbedeutend, „damit man sich mit den Seiten beschäftige, ohne zu denken, daß ihre Wirksamkeit irgend woher entspringe" 8 . Bewußte Zentrierung lehnt Goethe also ab; sie wäre gleichbedeutend mit Raumausmessung und widerstritte seinem Grunderlebnis des Umfaßtseins! Der Raumschwerpunkt soll in der Schwebe, ohne ausdrückliche Betonung bleiben. Aus dem sphärischen Grundgefühl wendet er sich gegen Haller: Natur hat weder Kern noch Schale... Nur ein Sphäriker konnte die neuentdeckte S p i r a l t e n d e n z im Pflanzenbau als weittragendes Organisationsprinzip des Organischen enthusiastisch begrüßen. 9

Danckeit,

Goethe.

103

Sphärisches Erleben trennt Goethes Weltschau vom Stufenbau und Emanationssystem der Neuplatoniker. Dem Jüngling wie dem Greis erregt „die Lehre von den unteren und oberen Seelenkräften" Unmut, und er entgegnet ihr: „In dem menschlichen Geiste sowie im Universum ist nichts oben noch unten, alles fordert gleiche Rechte an einem gemeinsamen Mittelpunkt, der sein geheimes Dasein eben durch das harmonische Verhältnis aller Teile zu ihm manifestiert."9 In den Stufenlehren erblickt er den Keim der Weltzerklüftung: alle Streitigkeiten der Älteren und Neueren bis zur neuesten Zeit entspringen „aus der Trennung dessen, was Gott in seiner Natur vereint hervorgebracht". Die Natur ist ihm keine Stufenpyramide, sondern schwebende Sphäre, „Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu einer nicht erkennbaren Grenze". (Problem und Erwiderung, 1823.) An Stelle des (uranischen) Vertikalgefühls, wie es Hölderlins „Treppenweise steigt der Himmlische hernieder" zum Ausdruck bringt, findet man in Goethes Raumvorstellung oft das Erlebnis des S c h w e b e n s 1 0 . (Man könnte es. „uterin" oder „eihaft" nennen.) Zwischen oben, zwischen unten Schweb ich hier zu muntrer Schau, Ich ergötze mich am Bunten, Ich erquicke mich im Blau. (Schwebender Genius über der Erdkugel mit der einen Hand nach unten, mit der andern nach oben deutend.) „Und so bleiben Sie mir, wie ich gewiß auch durch alles S c h w e b e n u n d S c h w i r r e n durch unveränderlich bleibe"; so verabschiedet er sich von „Gustchen", der Seelenfreundin11. In einem Briefe an Merck heißt es: „Das Element, in dem ich s c h w e b e , hat alle Ähnlichkeit mit dem Wasser . . ."12 Oder man höre, wie er das Natur-Wirken des Polaritätsprinzips im Bilde leisen Sich-Wiegens, Hin- und Widerschwankens behaglich malt: „Mit leisem Gewicht und Gegengewicht wägt sich die Natur hin und her, und so entsteht ein Hüben und Drüben, ein Oben und Unten, ein Zuvor und Hernach, wodurch alle Erscheinungen bedingt werden, die uns im Raum und in der Zeit entgegentreten" (Vorwort zur Farbenlehre). Zur kosmischen Vision (des Umfaßtseins) weitet sich dieses Raum- und Bewegungsgefühl in dem enthusiastischen Brieffragment des Sechsundzwanzig jährigen an Fritz Stolberg: „Ich fühl einen Drang Bruder dir zu schreiben in diesem Augenblick, daß ich so weit von dir und deinem Cristel entfernt bin, s c h w e b e n d i m h e r r l i c h u n e n d l i c h h e i l i g e n O z e a n u n s e r e s V a t e r s des un 104

e r g r e i f l i c h e n aber des berührlichen!"13 Auch. Werther (10. Mai) fühlt „das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält". In seiner Besprechung von „Wilhelm Tischbeins Idyllen", Kap. XI, rühmt Goethe die antiken Maler, weil sie tanzende Gestalten in der Luft schwebend auf einfachem Grunde darstellten, „wie sie der Einbildungskraft . . . frei und unbedingt vorschweben". Die Tanzenden bedürfen des Bodens nicht, da sie ihn kaum berühren; auf jedes irdische Hilfsmittel, Sprung und Flugwerk ist verzichtet. Noch in dem späten Aufsatz „Die schönsten Ornamente und . . . Gemälde aus Pompeji . . ." (1830) widmet er einen Abschnitt (IV) den graziösen SchwebeFiguren der römischen Malerei. Bezeichnend ist es, wie sich das Schwebe-Erlebnis sogar in der Stellungnahme zu Forschungs-Fragen abzeichnet. Im Schlußabschnitt des Aufsatzes „Kammerbühl"14 schildert Goethe ein geologisches Streitgespräch mit einem Ungenannten. Er legt den Finger auf den wunden Punkt der gegnerischen Erklärungsart, verteidigt seine eigene Hypothese. Aber der Gegner kehrt den Spieß um. Gründe und Gegengründe scheinen einander die Waage zu halten. Sich für das eine oder andere entscheiden, hieße mehr dem inneren Impuls als der sachlichen Nötigung folgen. Aus solcher Einsicht entsteht in Goethe „eine milde, gewissermaßen versatile Stimmung..., welche das angenehme Gefühl gibt, u n s z w i s c h e n z w e i e n t g e g e n g e s e t z t e n M e i n u n g e n h i n - u n d h e r z u w i e g e n und vielleicht bei keiner zu verharren. Dadurch verdoppeln wir unsere Persönlichkeit..." An sphärischen Raumvisionen ist Goethes Dichtung reich. In Versen wie den folgenden klingt das Erlebnis der kosmischen Wölbung auf: Wenn im Unendlichen dasselbe Sich wiederholend ewig fließt, Das tausendfältige Gewölbe Sich kräftig ineinander schließt (Wenn im Unendlichen) Wenn am Tag Zenith und Ferne Blau ins Ungemeßne fließt, Nachts die Überwucht der Sterne Himmlische Gewölbe schließt, So am Grünen, so am Bunten, Kräftigt sich ein reiner Sinn, Und das Oben wie das Unten Bringt dem edlen Geist Gewinn. (Dem teuren Lebensgenossen v. Knebel zum 30. November 1825) 9"

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In einem Brief an Charlotte v. Stein heißt es: „So gern ich Ihnen Knebels Gegenwart zu Ihrer Andacht gönnte, will er doch lieber unter dem hohen Gewölbe des Himmels heute anbeten"15. Dem kosmischen Gewölbe entspricht das mikrokosmische Symbol der H ö h l e . Schon in den ersten Weimarer Jahren hat dieses Motiv nach Emrichs16 Erkundungen eine ganz bestimmte, erlebnismäßig wie dichterisch maßgebende Funktion. „Schon 1776 wird ihm die Höhle unter dem Hermannstein zu einer ,Geisterwelt', in der er ein ,Gefühl ohne Gefühl' (absolutes Gefühl) entwickelt, in die der ,Engel' (Fnau v.Stein) tritt und,Zeichen' in den Sand schreibt, und wo ihm neue Kunst- und Lebensoffenbarungen kommen." Die paradoxe Formel „Gefühl ohne Gefühl" zielt offenbar auf ein kosmisches ichentspanntes Erlebnis, auf ein urtümliches „Naturgefühl", das stets gestaltet oder bildhaft aufzutreten pflegt. Mit elementarer Wucht erlebt er in der Höhle das uralte Sinnbild des bergenden Mutterleibes, der Unterwelt, der Nacht des Unbewußten, der Einwärtswendung. Im Ersten Faust sind „Wald und Höhle" die Sinnbilder für Außen- und Innenwelt. Das umschließende Geborgensein der Höhle ermöglicht die Innenschau. Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust Geheime tiefe Wunder öffnen s i c h . . . .

Auch die „Introversion" des Epimenides geschieht in der Höhle: Versenkten mich in tiefen, langen Schlaf. Zur Höhle führten sie den Sinnenden, Da nahmen sich die Götter meiner an,

In der Mummenschanz des Zweiten Faust bezeichnet der plutonische höhlenhafte Felsengrund „das elementarische Reich des Staatslebens". „Des Epimenides Erwachen" schildert Napoleons dämonisches Wirken als Einbruch des „tempelartigen Wohngebäudes": „doch so, daß die ehernen Pforten jetzt eine Felsenhöhle zu schließen scheinen". Geschichte verwandelt sich in einen elementaren Naturvorgang: der urgeschichtliche Untergrund der Geschichtswelt wird bloßgelegt17. In der Klassischen Walpurgisnacht verkörpert Seismos die „zerrüttende" Katastrophenmacht der Geschichte. Oben auf der Erde tobt wirbelnder Sturm, während die Göttin der Schönheit und Liebe in der Höhle sich birgt, „umweht von ewigen Lüften... unsichtbar dem neuen Geschlecht... wie in den ältesten Tagen". Galateas Bewahrung in der Höhle symbolisiert die urzeitliche Sphäre ewiger Jugendschöne18. Goethes sphärisches Weltgefühl entsteigt ohne Frage tiefsten Erlebnisgründen. Es ist vorzeitlich, letzlich vorantik. Am ehesten 106

könnte man es noch „altmittelländisch" nennen, wenn man an die Kuppelbauten, Höhlengräber, Wölbungstechniken der alten Ägäis (Kreta, Etrurien usw.) denkt und an ihr Fortwirken in römischen und selbst noch italienischen Raumformen. Eine der Urformen altmittelländischen Bauens nennt Franz Altheim19 die Höhle. Aber diese Zuweisung wäre noch zu eng. Das sphärische Welterlebnis ist, wie schon Bachofen ahnte, und wie sich durch Erkundungen der Ethnologie bewahrheitete, schlechthin weltweit verbreitetes Symbol der „weiblichen" Kulturlinie. Es ist gleichgültig, ob man zur Veranschaulichung die Rundhütten Alt-Indonesiens oder die runden Erdhäuser der Pueblos heranzieht, ob melanesische Rund-Ornamentik oder Spiralverzierungen der „Bandkeramiker". Selbst Artefakte, die bloßer Lebensnotdurft dienen (Geräte und Waffen), haben teil am elementaren Bewegungshabitus. Die primitivsten Vorzeitkulturen der weiblichen Linie bevorzugen nach Aussage der Völkerkunde und Vorgeschichtsforschung Schwungwaffen (Keulen, Äxte, Faustkeile). Darin bekundet sich ein elementarer Stil der Bewegtheit. Andererseits erwähnt der Typenforscher Ottmar Rutz verschiedentlich in seinen Schriften die Vorliebe des „Typus I" für gerundete Bewegungsformen, sphärische Gebärden; ja er nennt diesen Typus geradezu den „sphärischen"! Dies alles gilt es einmal zusammenzuschauen. Mit dem Erlebnis der „Welthöhle", das Spengler der morgenländi-, sehen Hochkultur zuschreibt, ist das wurzelhaft erdgebundene Höhlengefühl des Telluriers nicht zu verwechseln. Außerhalb, jenseits der „Welthöhle" west ein transzendenter Gott. Ähnlich wie Spengler schildert Leo Frobenius20 das „Höhlengefühl" des „eigentlichen Orients" als Erlebnis der einengenden Höhle, als Beklommenheit, ewige Angst unter dem Druck der Vorstellung eines Eingeschlossenseins im Räume. Das sphärische Geborgenheits-Erlebnis steht auf einem ganz anderen Blatt, und es ist sicher ein schwerer methodischer Fehler, wenn Frobenius die altmittelländischen Rundund Gewölbebauten in sein Schema — den Antagonismus von „Höhlen"- und „Weiten-Gefühl — miteinzubeziehen sucht. Alle Bauwerkei der tellurischen Welt sind Ausgeburten der Terra Mater: nicht gemeißelt, sondern gewoben, nicht geplant, sondern vegetativ entstanden, fast wie Bienenwaben, wie Zellverbände im organischen Gewebe. In vielen Mythen sind Haus, Zimmer, Schrein, Kasten, Bilder der weiblichen Aufnahmefähigkeit und des mütterlich Bergenden, Umschließenden21. Das deutsche Wort „Frauenzimmer" läßt diese Bedeutung nachklingen. In der etruskischen 107

Nekropole von Caere ist die weibliche Grabstätte durch. Cippen in Hausform bezeichnet. Die männliche durch Säulen (Grabphallen). Zur Frau gehört das Haus: „sie war, wie ihr Grabcippus zeigt, dieses Haus selbst" 22 . Die Demetrische Cista ist Symbol des Mutterleibes selbst und dient daher zur Bergung mystischer Zeichen, namentlich auch des Phallos. „Auf dieselbe Idee", sagt Bachofen 23 , „gründet sich die Fiktion von dem Verschluß Neugeborener in Kästen, so des Erichthonios, des Kypselos, der ganz nach Weiberrecht des Mutterkastens Namen trägt, des Perseus und der Danae, des Tennes und der Hemithea, und so mancher anderer." Das Bergende des Weibwesen,s ist zutiefst kosmisch empfunden; spezialisierte Sexualerklärung der Psychoanalytiker 24 bedeutet demgegenüber Verengimg. Noch in der Lauretanischen Litanei klingt die alte Gefäß-Symbolik aufs deutlichste nach: Mater amabilis Mater admirabalis Mater boni consilii. Speculum justitiae Sedes sapientiae Causa nostrae laetitiae Vas spirituale Vas honorabile Vas insigne devotionis Rosa mystica Turris Davidica Turris eburnea Domus aurea Foederis arca Janua coeli Stella Matutina

Du liebliche Mutter Du wunderbare Mutter Du Mutter des guten Rates Du Spiegel der Gerechtigkeit Du Sitz der Weisheit Du Ursache unserer Freude Du geistliches Gefäß Du ehrwürdiges Gefäß Du vortreffliches Gefäß der Andacht Du geistliche Rose Du Turm Davids Du elfenbeinerner Turm Du goldenes Haus Du Arche des Bundes Du Pforte des Himmels Du Morgenstern (Missale Romanum)

Audi dieses uralte Kultsymbol lebt in Goethes Dichtung wieder auf. Die flammende Truhe im Zweiten Faust, deren glühend-flüssigen Goldinhalt Mephisto zur Phallusgestalt formt, dürfte kaum etwas anderes als Abkömmling der demetrischen Cista sein. (Ob Goethe sich von den phallischen Spaßen des römischen Karnevals anregen ließ, bleibe als nebensächlich außer Betracht.) Immer aufs neue kehren geheimnisvolle Kästen, Truhen, Schatullen, Koffer, Büchsen, Schreine in Goethes Dichtungen wieder. Der Flammenzauber der Goldtruhe im Zweiten Faust hat eine Fülle von Vorformen. In der „Natürlichen Tochter", den „Wahlverwandtschaften", der „Pandora", den „Wanderjahren", sowie in der „Zauberflöte II. Teil" symbolisiert ein geheimnisvoller Kasten oder Schrein schick108

salhafte, ja tragische Entscheidungen. Schon die Gretchentragödie hebt an mit der Öffnung des Schmuckkästchens. Ferner berührt sich das „Kästchensymbol", wie Emrich25 gezeigt hat, vielfach mit Feuer-, Wasser- und überhaupt Elementendarstellungen. Um alle diese Schreine webt ein Geheimnis. Die übereilte, leidenschaftliche Öffnung beschwört Verhängnisse herauf. Zurschaustellung des „Schmucks", des „Goldes", überhaupt des Kästcheninhalts bedeutet offenbar unzeitige Preisgabe des Geheimnisses, Profanierung von Esoterischem. Das höhere Geheimnis der Schreine bleibt verborgen bis zum Schluß. Wer die bergende Hülle, die „Sphäre" gewaltsam durchbräche, fände „plumpe Wahrheit" statt „artigen Scheins". (Der Herold in Faust II, Vers 5733-5734). Das flammende Gold, uraltes Symbol der männlich-solaren Weltkraft, ist gefährlich und schöpferisch zugleich, Katastrophen- und Zeugungsmacht. Es bedarf der bergenden Kypsele. Man vergleiche die folgenden Bemerkungen Goethes über den sakralen Schrein aus dem Schema zu Pandoras Wiederkunft Zweiter Teil: „Prometheus will die Kypsele vergraben und verstürzt wissen. Krieger wollen sie zerschlagen, den Inhalt rauben. Prometheus insistiert auf unbedingtes Beseitigen. Auslegung der Kypsele. Vergangnes in ein Bild verwandeln. Würdiger Inhalt der Kypsele. Kypsele schlägt sich auf. Tempel. Sitzende Dämonen. Wissenschaft, Kunst. Vorhang."

3. Z E I T L I C H K E I T Goethes Erlebnis der Zeitlichkeit ist der genaue Gegensatz jener transzendentalen Existenzphilosophie, die von Langerweile und Sorge, den entleerten Formen des Zeitempfindens, ihren Ausgang nimmt. Ihm steht Erfüllung obenan, Erfüllung des Augenblicks, freudiger Genuß der w e r d e n d e n Zeit. Daß schöne Stunden im Fluge genossen werden müssen, daß Begeisterung keine Heringsware sei, die man einpökelt auf viele Jahre: solche und ähnliche 109

Aussprüche findet man bei ihm in Fülle. Eines seiner Lieblingsworte „Der Mensch ist brevis aevi" weist nach Riemers Auslegung nicht nur auf das Unvollendete, Unzulängliche, Unerreichte im menschlichen Leben, Tun und Treiben hin, sondern zugleich auch auf sein eigenes Streben, nur bald mit etwas fertig zu werden, nicht erst lange Entwürfe auszuspinnen, etwas ohne Aufschub zu genießen 1 . Jedes Scheiden, jeder „kleine Tod", wird ihm zum Memento vivere und läßt ihn bedauern, daß wir viel zu viel Voranstalten machen, um zu leben2. Da ihm, wie Riemer sagt, die Zeit „Etwas" war, „Leben" und „selbst ein Element" 3 , so wußte er nichts höher zu schätzen als die Forderung des Tages, den Wert der Stunde. Der Erziehungsplan der Wanderjahre (3. Buch, 11. Kap.) lehrt Achtung vor der Zeit als vor der höchsten Gabe Gottes. Besonnenheit, worauf die Sittenlehre dringt, wird durch Einteilung der Zeit, durch Aufmerksamkeit auf jede Stunde aufs höchste gefördert. Jeder Zustand, jeder Augenblick, lehrt der Greis, ist von unendlichem Wert, denn er ist „Repräsentant einer ganzen Ewigkeit" (zu Eckermann, 3. November 1823). Kein Zeitabschnitt, kein Moment ist bloßes Sprungbrett künftigen Geschehens, jeder hat seinen Wert in sich selbst. Ein altertümliches Carpe diem klingt uns hier entgegen, das die moderne Lebenshast, die Entwertung der Gegenwart um einer schimärischen Zukunftserwartuiig willen, durchaus verwirft. „Es soll nicht genügen, daß man Schritte tue, die einst zum Ziele führen, sondern jeder Schritt soll Ziel sein und als Schritt gelten." (Zu Eckermann, 18. September 1823.) Denn „eine Folge von konsequenten Augenblicken" ist „immer eine Art von Ewigkeit selbst" 4 . „Im Augenblick die ganze Ewigkeit, im Vorübergehen das Beständige", schreibt Goethe an Zelter. „Bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick gegenwärtig, so leiden wir nicht an der Vergänglichkeit der Zeit": mit dieser überlegenen Formel wehrt der Weltweise den verspäteten Bekehrungsversuch „Gustchens", der alten Jugendfreundin 5 , ab. Die Verherrlichung des verewigten Augenblicks erscheint zunächst als die Formel klassischen Weltgefühls. Überspitzend schildert z. B. Fritz Strich6 den Klassiker als den Menschen, der weder Vergangenheit noch Zukunft kennt. „Nur der gegenwärtige Leben sprühende, Lust durchtränkte, Licht funkelnde Augenblick ist für den Klassiker Z e i t . . . In jedem dieser Augenblicke liegt eine Welt, liegt die Welt mit Vergangenheit und Zukunft wie zu einem Punkt zusammengeballt, aber eben nicht die Zeit gefühlt als unaufhaltsam verrinnender Strom und als anschwellendes Meer. Der klassische Mensch ist streng genommen nicht i n der Zeit, sondern ist schlechthin ihr Herr." Diese ausgezeichnete, 110

auf Goethe gemünzte Formel von Werner Schultz 7 trifft vollgültig das Klassische, die Tagseite; sie bedarf jedoch der Ergänzung. Willst du dir ein hübsch Leben zimmern, Mußt dich ums Vergangne nicht bekümmern; Das Wenigste muß dich verdrießen; Mußt stets die Gegenwart genießen, Besonders keinen Menschen hassen Und die Zukunft Gott überlassen. Von dieser Lebensregel sagt Simmel 8 , sie sei wie die meisten Lebensregeln aus der bitteren E r f a h r u n g des Gegenteils gequollen. Das ist sicher richtig gesehen. Der Wunsch, sich von den „Gespenstern", den „Dämonen" der Vergangenheit zu lösen, ist ein Gegengriff zur N a t u r ordnung der Zeitlichkeit: ein klassischer Impuls. „Erweise dich wie neugeboren", heißt es in einer Variant-Fassung der „Lebensregel". Auf derselben Linie liegt es, w e n n Goethe noch im hohen A l t e r bekennt, er h a b e den Lethestrom, der mit jedem Atemzug unser ganzes Wesen durchdringt, so daß wir uns der Freuden n u r mäßig, d e r Leiden k a u m erinnern, diese hohe Gottesgabe also h a b e er von jeher zu schätzen, zu nutzen und zu steigern gewußt. Gegen die Übermacht von Sehnsucht u n d E r i n n e r u n g setzt er die i m m e r rege Vergegenwärtigung. Vor die Wahl gestellt zwischen Schau der Gegenwart und Vorschau ins Künftige, entscheidet sich Epimenides f ü r ewige Gegenwart. Sogleich Wird ihm; die Welt durchsichtig Wie ein Kristallgefäß mit seinem Inhalt. Den schau ich nun so viele Jahre schon; Was aber künftig ist, bleibt mir verborgen. Verderblich, lebensverzehrend erschien Goethe der V o r g r i f f i n d i e Z u k u n f t , , wo er zum vorwaltenden Daseinsgefühl wird: „ . . . . m a n sagt i m m e r was Dummes, w e n n m a n w a s Allgemeines, oder w a s k ü n f t i g zu Tuendes sagt" schreibt er 1777 an Lavater 9 . In den Wahlverwandtschaften, dem Gipfelwerk hochklassischer E r zählerkunst, spürt m a n eindringlicher als in irgendeinem anderen Werke Goethes das Gedrungene des Augenblicks; m a n begreift, daß jetzt der Bannspruch jedem Menschen ein Wehe zuruft, „der v o r w ä r t s oder rückwärts zu greifen durch Umstände oder durch W a h n veranlaßt wird" 1 0 . Epimetheus der Schwerbedenkliche, Nachsinnende, und Prometheus der vorschauend Planende: beide verfehlen den e r füllten Augenblick, die „gottgewählte Stunde". Aber die Rückschau ist das geringere Übel; mit seelischer Verdüsterung bedroht vor allem der D r a n g ins Künftige, ins Leere. Gegen diese Vergiftung der lebendigen Gegenwart w e h r t sich Egmont, i h r widersteht auch der u n b e k ü m m e r t tätige Faust, als ihm die S o r g e droht: 111

Wen ich einmal mir besitze, Dem ist alle Welt nichts nütze; Ewiges Düstre steigt herunter, Sonne geht nicht auf noch unter, Bei vollkommnen äußern Sinnen Wohnen Finsternisse drinnen Und er weiß von allen Schätzen Sich nicht in Besitz zu setzen. Glück und Unglück wird zur Grille, Er verhungert in der Fülle; Sei es Wonne, sei es Plage, Schiebt ers zu dem andern Tage, Ist der Zukunft nur gewärtig. Und so wird er niemals fertig. (Faust II, 5. Akt, Mitternacht. V. 11 453—66)

Das Leben in „ewiger Gegenwart" erscheint zunächst als eine vorzüglich klassische Forderung. Alles was sich beharrend behauptet im Strom der Zeit, nennt Goethe klassisch: die antike Kunst, aber auch (in der Geologie) die Granitzeit, die „klassischen Höhen des Erdenaltertums". Wer die Geschichte so einer Granitsäule erzählen könnte, die erst in Aegypten zu einem Memphitischen Tempel zugehauen, dann nach Alexandrien geschleppt wurde, ferner die Reise nach Rom machte, dort umgestürzt ward und nach Jahrhunderten wieder aufgerichtet und einem andern Gott zu Ehren zurechte gestellt: der hätte das Beharrende im Zeitenwandel symbolisch erschaut. Aber ihm wäre auch das Vergängliche menschlichen Wirkens entgegengetreten. Darum heißt es im Tagebuch der Italiänischen Reise für Frau v. Stein11 weiter: „O meine liebe, was ist das größte des Menschentuns und -treibens." Doch die Conclusio läßt den Gestalter sich bewähren, nicht als weltlosen Punkt, sondern existentiell verwurzelt. „Mir, da ich ein Künstler bin, ist das Liebste daran, daß alles das dem Künstler Gelegenheit gibt zu zeigen, was in ihm ist und unbekannte Harmonien aus den Tiefen der Existenz an das Tageslicht zu bringen." Das Zeitlichkeits-Erlebnis des Hier und Jetzt, das sich bei Goethe und bei Hegel so vielfältig bekundet, ist jedoch keineswegs bloßer Ausdruck der klassischen Situation. Zugrunde liegt vielmehr eine ganz spezifische, nur typologisch zu begreifende Intensität des erfüllten Augenblicks. Man versuche sich in die von Becking entdeckten „Personalkurven" (spitz-rund) einzuleben, und man wird bei einiger motorischer Begabung herausfühlen, wie hier das Schwellende, der Wachstumsvorgang der Zeitlichkeit Ausdruck findet. Einprägsame, ja 112

geradezu bestürzende Formen solchen Zeitgefühls hat das Römertum entwickelt. Erinnert sei an die Fortuna eines bestimmten Tages (F. huius diei), die Bedeutung von Todestag und Todesstunde in der römischen Geschichtsschreibung, des individuellen Augenblicks überhaupt in der römischen Triumphal- und Historienkunst, des Gründungszeitpunkts für den römischen Tempel. „In einmaligen, entscheidenden Akten", so faßt Franz Altheim12 solche und ähnliche Beobachtungen zusammen, „drängte sich alles zusammen. Die Besonderheit des geschichtlichen Augenblicks wurde nachhaltig empfunden." Es gibt bezeichnenderweise römische Götter, deren ganzes Wesen auf Hervortreten zu einer bestimmten Stunde sich gründet. Das Göttliche enthüllt sich nicht, wie bei den Griechen, als überzeitliches Sein, sondern im einmaligen, zeitlich festgelegten Geschehnis. Damit hängt schließlich auch die eigentümliche „Aktqualität" einer spezifisch römischen Götterklasse, der numina, zusammen: Janus= „dasGehen", Consus = „das Bergen". Dieses Urerlebnis des Telluriers wiederersteht in verjüngter Gestalt im Lebensgefühl des jungen Goethe. Es aktualisiert sich, indem es sich mit dem gärenden Werdegang des deutschen Titanismus verbindet. Ganz goethisch ist schon in den Gedichten, die unter Pindars Einfluß entstanden, wie Wanderers Sturmlied, Der Wandrer, Elysium, Pilgers Morgenlied, die Heiligsprechung des Augenblicks, der Jüngstgeburt der Zeitlichkeit. Aber der Gegenwartsaspekt ist nur e i n Pol in Goethes Zeiterlebnis: der andere heißt Rückschau in die V e r g a n g e n h e i t . Für Werther „leuchtet die Vergangenheit wie ein Blitz über den finstern Abgrund der Zukunft" (Kreislauf!). Goethe der Greis lebt „hauptsächlich in der Vergangenheit"13 und erscheint sich selbst „immer mehr geschichtlich" (aus einem Briefe des Zweiundachtzigjährigen an Humboldt). Daß Goethes Dichtersprache sehr viel mehr „Altertum unserer Sprache und Poesie mit allen jetzt verlorenen Vorzügen" in sich birgt als Schillers Gedichte, die „durchaus den Stil der gebildeten Gegenwart" halten, hat Jakob Grimm (in seiner Rede über Schiller) schon gesehen. Über Goethes Stellung zur Geschichte wird noch zu sprechen sein. Hier sei nur die Fabel vom „ungeschichtlich" denkenden Goethe kurz zurückgewiesen. Nicht ungeschichtlich empfand Goethe, wohl aber säkular. Für die verworren-alltäglichen Händel der politischen Geschichte hatte er allerdings nicht viel übrig. Um so tiefer empfand er den Anhauch fortwirkender, lebendig gebliebener Vergangenheit. Diese bewahrt ein Ewig-Existentielles, wogegen alle bloßen Petrefakte rasch wieder in Trümmer sinken. 113

Laßt fahren hin das allzu Flüchtige! Ihr sucht bei ihm vergebens Rat; In dem Vergangnen lebt das Tüchtige, Verewigt sich zu schöner Tat. (Zur Logenfeier des 3. September 1825, Zwischengesang)

Nur ein „Nachsinnender", eine Dichternatur, in der das epimetheische Element tief gegründet lag, konnte es wagen, Helenen heraufzubeschwören und sie in Fausts mittelalterliche Burg zu versetzen. Welche Unsumme von Vergangenheitsbeschwörung steckt im II. Faust! „Unendliche Herzensbewegung" erregen in Goethe der Anblick des unvollendeten, daher einer Ruine gleichzuachtenden Kölner Doms und der Besuch des Jabach'sehen Hauses. Im 14. Buch von „Dichtung und Wahrheit" heißt es darüber: „Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhand nahm und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der V e r g a n g e n h e i t u n d G e g e n w a r t i n E i n s : eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner größern und kleinern Arbeiten ausgedrückt und wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, jedermann seltsam unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen mußte."14 In den „Wanderjähren" schildert Goethe ein ähnliches Erleben: „Wenn die Anmut einer herrlichen Gegend uns lindernd umgibt, wenn die Milde gefühlvoller Freunde auf uns einwirkt, so kommt etwas Eigenes über Geist und Sinn, das uns Vergangenes, Abwesendes traumartig zurückruft und das G e g e n w ä r t i g e , als w ä r e e s n u r E r s c h e i n u n g , g e i s t e r m ä ß i g entfernt."15 Schon der junge Goethe erlebt solche Augenblicke: „Die Masse tobt und kreischt, meine Freunde sind hier, und Vergangenheit und Zukunft schweben wunderbar in einander."16 Spricht aus solchen Visionen nur die lebhafte „Dichterphantasie", oder handelt es sich um Schauungen, die bereits ins Gebiet der Parapsychologie fallen? Um „seherhafte" Rückblicke also? Kern der Erlebnisse ist jedenfalls das „magische" Hineinragen der Vergangenheit in die Gegenwart: magisch doch wohl darum genannt, weil das Uralte hier eine seltsame Aktualität, ein „gespenstiges" Leben ausstrahlt. Damit stimmt es überein, daß solche Begegnungen regelmäßig dichterische Fülle, ja Überschwang und Verjüngungserlebnisse auslösen17. Für den „Pelasger" wird die Vergangenheitswelt, die Sphäre der Ahnenseelen, zur Brunnenstube aller quellenden Lebensfülle. In alledem ist jedenfalls der rückwärts-gewendete Blick, die eingeborene „Pietas" des Telluriers, die naturhafte Bindung an den 114

Muttergrund der Zeitlichkeit zu verspüren. Im innersten Grunde weiß auch der klassisch Gegenwartsbeseligte, daß wir „alle vom Vergangenen leben". Er spürt, daß bewußtes, willentliches Sichabsetzen von der Vergangenheit die Quellen des Lebens zum Versiegen bringt. Sein metaphysischer Instinkt belehrt ihn darüber, daß unablässig altes, abgelebtes Leben wieder emportaucht, um sich zu verjüngen. Homunkulus weiß um die „Konstellation", um das Gesetz der Wiederkehr. In Italien überkommt Goethe das seltsame Erlebnis des déjà vu (vgl. S. 163). Romantisch-sehnsüchtige Rückschau ins Vergangene ist freilich Goethes Sache nicht. Die Dichterin Friederike Brun ergrimmt über sein „Abschütteln" der Erlebnisse, sein Wegwerfen der Erinnerung, über seine Maxime: „Die Gegenwart ist die einzige Göttin, die ich anbete." (Tagebuchaufzeichnung, 9. Juli 1795, Bode S. 524.) Bloßes Sich-Erinnern „statuiere" er nicht, sagt er einmal, das sei nur eine unbeholfene Art sich auszudrücken. „Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet, muß nicht erst von außen her wieder erinnert, gleichsam erjagt werden, es muß sich vielmehr gleich von Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neues besseres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen. Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neueres Besseres erschaffen." 18 Aber dieser Entschluß des Klassikers zum Leben in ewiger Gegenwart erscheint oft (so auch hier: beim Scheiden Maria Szymanowskas, kurz nach der Marienbader Elegie!) wie ein gewaltsames Sich-Abschnüren von der Vergangenheit, ein entsagendes, heroisches „Über Gräber vorwärts". Eminent klassisch ist es, wenn Goethe, als er nach 51 Jahren die alte Inschrift des Bretterhäuschens auf dem Kickelhahn wieder entziffert, im Brief an Zelter 19 seine Lebensrückschau in die überlegenen Worte kleidet: „Nach so vielen Jahren war denn zu übersehen: das Dauernde, das Verschwundene. Das Gelungene trat vor und erheiterte. Das Mißlungene war vergessen und verschmerzt." Knüpfen diese Worte unfraglich zunächst an den Ilmenauer Bergbau an (die nachfolgenden Sätze zeigen es), so weitet sich ihr Sinn doch sogleich ins Allgemeine. Der Brief verliert sich schließlich in meditatives Raunen, wobei auch das alte Lieblingsmotiv „Granit" wieder emportaucht. Überhaupt bedeuten ja diese letzten Ilmenauer Tage für Goethe ein fortgesetztes Abrechnen mit der Vergangenheit. Darin äußert sich aber auch ein bewußtes Dämpfen und Überwältigen des epimetheischen Ur115

elements. (Die herkömmlichen Klassik-Deutungen übersehen oder unterschätzen es.) Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist, Fliehe mit abegewendetem Blick! Wie er, sie schauend, im Tiefsten entflammt ist, Zieht sie, ach! reißt sie ihn ewig zurück. (Pandora) Im Schema zu „Pandorens Wiederkunft Zweiter Teil" führt die Göttin die Kypsele, den Schrein der Geschenke mit sich, die „Vergangenes in ein Bild (der Kunst!) verwandeln". Diese Formel ist ein wahrer Schlüssel zu Goethes Kunstanschauung. Immer wieder zeigt sich Goethe leidenschaftlich ergriffen von dem Hades-Problem, der Totenbeschwörung. Dieses tief chthonische Problem, das in der abendländischen Dramenwelt erstmalig als Stoffkreis der frühesten italienischen Oper („Euridice", „Orfeo") emportaucht, klingt auf in der Iphigenie, im Tasso, im Aufsatz „Das Grab der Tänzerin", in den „Wahlverwandtschaften", im „Proserpina"Monodram und schließlich in dem lange gehegten Plan einer Losbittungsszene Helenas (Fausts Gang zu Proserpina).' So tief diese acherontische Sphäre Goethes Fühlen bewegt, so tief seine Kunstanschauung auch davon bestimmt sein mag 20 : so wenig zufällig ist es, daß alle Versuche, die Hadeswelt künstlerisch unmittelbar heraufzubeschwören, Fragment oder gar bloßer Vorsatz bleiben. An Stelle der unmittelbaren („magischen") Heranziehung des Vergangenen tritt, wo es angeht, der Mythos der Lebenserneuerung durch naturhafte Verjüngung, die Metamorphose. So auch im Schluß der Klassischen Walpurgisnacht. Dieser Triumph des Lebens, Wirkens, der Natur über die magisch-poetische „Rückspiegelung" und Totenbeschwörung ist der Sieg des klassischen Hier- und Jetzt-Lebensgefühls über die chthonische Welt der Vergangenheits-Seelen. Ein schwer errungener, heroischer Sieg. Und doch bedeutet das Hier und Jetzt nicht, wie im Werk des Uraniers, ein gewaltsames Sichentreißen und Beharren-Wollen gegenüber dem Wandelfluß der Zeitlichkeit, sondern Wiedergeburt, ricorso. Goethe erlebt die Zeit nicht als bloße leere Erstreckung, sondern als Puls oder atmenden Polwechsel und K r e i s l a u f . Im kleinsten wie im größten rundet sich ihm das Geschehen. Schon oft hat man das Gerundete, Kreisende in seiner Dichtersprache bemerkt. Goethes Jambenverse „drängen nicht fürbaß" (wie Schillers Jamben), „man hat nicht das Gefühl des Stoßens nach vorne", meint Vischer. Korff sieht vor allem das Vegetative, aus holder Dumpfheit Erblühende, in Goethes Jugendlyrik, weniger die 116

R u n d u n g der Formen u n d Formglieder. G ü n t h e r Müller 2 1 spricht von „pflanzenhafter R u n d u n g der einzelnen Gebilde v o m Fernenaufstieg zur E r d e zurück", vom „vegetativen Kreisrhythmus". Ähnlich k e n n zeichnete ich Goethes Versbau in „Ursymbole melodischer Gestaltung" 2 2 . Goethe selbst h a t die Ästhetik des ricorso mit unvergleichlicher B i l d k r a f t v e r k ü n d e t : Laß den Anfang mit dem Ende Sich in Eins zusammenziehn! Schneller als die Gegenstände Selber dich vorüberfliehn! (Dauer im Wechsel, Str. 5) Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe; Und was die Mitte bringt, ist offenbar Das, was zu Ende bleibt und anfangs war. (Unbegrenzt. West-Östlicher Di van; Buch Hafis) Wie sich ihm das Alltagsgeschehen zum Kreislauf rundet, das läßt sich an zahlreichen Äußerungen aufs klarste ablesen. Nachdem der März des J a h r e s 1782 ihm drückende Amtsbürden (Kriegskommission bei der Rekrutenaushebung) auferlegt hat, schreibt er der Freundin: „Die liebe süße Ordnung meiner Tage u n d Stunden ist ganz aufgehoben und in den Z i r k e l eines neuen Lebens mit fortgerissen, f ü h l ich mich selbst fremde" 2 3 . Eine Reise nach Leipzig läßt ihn neun Monate später beschließen: „Ich will den Kreis auslaufen, und w e n n das Lied von vorne angeht, empfehle ich mich" 2 4 . Über den „Tageskreis" in Goethes Wirken sagt Riemer 2 5 : „Denn so ging er vom morgendlichen Dichten und Sinnen zu den laufenden Geschäften des l'ages, von diesen zu wissenschaftlichen oder Kunstbetrachtungen, Lektüre oder Gespräch mit Einheimischen und F r e m d e n über; k u r z die Grenzen des Tages umschlossen die mannigfaltigsten, abwechselndsten Beschäftigungen, obchon er nicht immer sich an dieselbe O r d n u n g band, sondern auch wohl von seiner körperlichen oder geistigen Stimmung oder v o n unmittelbaren Veranlassungen seine Richt u n g h e r n a h m . Er n e n n t diesen Kreis seiner Beschäftigungen seinen Zodiac, in s p ä t e m J a h r e n das Quodlibet seines Lebens." Dazu halte m a n Goethes Brief vom 7. März 1798 an Schiller: „Was mich betrifft, so w e r d e ich, w i e Sie wissen, i m m e r in meinem Zodiak h e r u m genötigt, und jedes Zeichen, in das ich trete, gibt mir neue Beschäftigung und Stimmung." Ein höherer Zyklus umspannt etwa Wochenlänge. Eine Wellenk u r v e der Vitalität. I m Tagebuch vom 26. März 1780 heißt es: „Ich m u ß den Zirkel, der sich in mir umdreht, von guten u n d bösen 117

Tagen n ä h e r bemerken, Leidenschaften, Anhänglichkeit, Trieb, dies oder jenes zu tun. Erfindung, A u s f ü h r u n g , Ordnung, alles wechselt u n d hält einen regelmäßigen Kreis, Heiterkeit, Trübe, Stärke, Elastizität, Schwäche, Gelassenheit, Begier ebenso. D a ich sehr diät lebe, w i r d der Gang nicht gestört, u n d ich m u ß noch herauskriegen, in welcher Zeit und Ordnung ich mich u m mich selbst bewege" 2 6 . Fast fünf J a h r z e h n t e später (1827) e r f a h r e n wir Genaueres über die Dauer dieser vitalen Periode. „Sonst hatte ich einen gewissen Zyklus von fünf oder sieben Tagen, worin ich die Beschäftigungen verteilte, da konnte ich unglaublich viel leisten" (zum Kanzler von Müller). Eigenartig b e r ü h r t hier der F ü n f e r - Z y k l u s ; er erinnert an die u r alte Fünftagewoche von Sumer-Babylon und Ostasien, die b e k a n n t lich auch in I r a n noch lange Zeit dem jüngeren Siebenerzyklus widerstand 2 7 . Goethe zitierte übrigens gern das Wort des persischen Gesandten „Der Mensch lebe n u r fünf Tage" 2 8 . Auch diese „großen" fünf Tage, der Gesamtablauf des Individuallebens, sind ein Zyklus. Nach ewigen, ehrnen, Großen Gesetzen Müssen wir alle Unsers Daseins Kreise vollenden. Offenbar denkt Goethe an das seltsame Wiederemportauchen kindh a f t e r Bewußtseinslagen i m organisch entfalteten (also nicht zivilisatorisch verhärteten und verkrüppelten) Greisentum. Darauf deutet der von Riemer überlieferte Ausspruch vom 29. J u n i 1811, wo er den menschlichen Lebenskreis als die Folge: Vernunft, Verstand, Ehrgeiz, Nutzen und abermals V e r n u n f t erblickt. Im Kinde waltet schon Vern u n f t , „auf eine andere Weise"; im harmonischen Greisentum e r neuert sich das Welt-Vernehmen als „Seelenfrühling", aber nichtbei allen Menschen, denn viele bleiben beim Nutzen stehen; Verselbstung, V e r k r u s t u n g ist ihr Lebensabend. Glücklich hingegen preist Goethe den Menschen, der das Ende seines Lebens mit dem A n f a n g in Verbindimg setzen kann 2 9 . Mehr k a n n er nicht wünschen, dies ist erfülltes Leben, glückliche Zeitlichkeit, im Bilde der Schlange faßlich, die sich in einen Reif abschließt 30 . Anderswo (in den Ausf ü h r u n g e n zur Farbenlehre) setzt Goethe an Stelle der fünfstufigen eine n u r dreistufige E n t f a l t u n g des Menschen: Bildung, Streben und Vollendung. „Und so schließt sich der Kreis, oder vielmehr so dreht sich das Rad abermals, u m seine i m m e r erneuerte wunderliche Linie zu b e s c h r e i b e n . . . " 118

Wie eine Vorwegnahme des „biogenetischen Gesetzes" klingt der Satz: „Wenn auch die Welt im ganzen fortschreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorne anfangen und als Individuum die Epochen der Weltkultur durchmachen" (zu Eckermann, 17. Januar 1827). Der Entfaltungsrhythmus des Einzelwesens rekapituliert Abläufe der Geschichte. Von Goethes Stellung zur Geschichte im ganzen ist hier noch nicht zu sprechen. Nur seine historischen KreislaufGedanken verdienen im Zusammenhange unserer Betrachtungen über sein Erlebnis der Zeitlichkeit eine kurze Würdigung. In den folgenden Sätzen spricht Goethe seine Überzeugung vom zyklischen Ablauf der Geschichte aus. „Nichts ist stillstehend. Bei allen scheinbaren Rückschritten müssen Menschheit und Wissenschaft immer vorschreiten, und wenn beide sich zuletzt auch wieder in sich selbst abschließen s o l l t e n . . . Der Kreis, den die Menschheit auszulaufen hat, ist bestimmt genug, und ungeachtet des großen Stillstandes, den die Barbarei machte, hat sie ihre Laufbahn schon mehr als einmal zurückgelegt. Will man ihr auch eine Spiralbewegung zuschreiben, so kehrt sie doch immer wieder in jene Gegend, wo sie schon einmal durchgegangen. Auf diesem Weg wiederholen sich alle wahren Ansichten und alle Irrtümer"31. Hat Goethe mit diesen Sätzen die Geschichte willkürlich um eines vorgefaßten Lieblingsgedankens willen, „zum Kreise gebogen", wie Leisegang 32 meint? Keineswegs. So urteilen, heißt doch wohl voraussetzen, die wahre Weltgeschichte sei nichts anderes als ein geradliniger Evolutionsprozeß. Und wer möchte das gerade noch heute ernstlich behaupten? Daß sich „spätzeitliche" Zustände wieder der „Barbarei" der Anfänge zuneigen, hatte schon der geniale Vico gesehen, und Goethe teilt seine Auffassung. Ob er unter Vicos Einfluß oder unabhängig davon zu seinem zyklischen Geschichtsbild gelangte, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls aber ist hier ein unverlierbarer Grundgedanke jeder ernst zu nehmenden Geschichtsmorphologie klar ausgesprochen. In der Geschichte aller uns bekannten Hochkulturen zeigen sich ohne Frage solche zyklischen Momente. Der ricorso ist eben weit mehr als eine bloße idée fixe, Denkzwang einiger „Mystiker" und „Kreisdenker": er ist zweifellos ein Sachgehalt vieler Wirklichkeitsschichten, darunter auch der Geschichte! Überdies spricht ja Goethe nicht bloß vom Kreislauf, sondern auch von der S p i r a l e ! Sicherlich will er damit sagen, daß außer dem zurückbiegenden Element auch ein vorantreibendes, steigerndes in der Menschheitsgeschichte spürbar sei. Dachte er dabei an die seit Jahrtausenden immer tiefer um sich greifende Individuation? Dergleichen läßt sich nur vermuten. 10 D a n c k e r t , Goethe.

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In seiner Geschichte der Farbenlehre entwirft Goethe das zyklische Schema einer allgemeinen W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t e 3 3 . „Vier Epochen der Wissenschaften" unterscheidet er: Kindliche, Empirische, Didaktische (Dogmatische), Ideelle. Mit je zwei Unterarten sind sie den vier Begriffen Phantasie, Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft folgendermaßen zugeordnet 34 .

Mit Genehmigung des Verlags von Hermann Böhlaus Nadtif. in Weimar abgedruckt aus der Sophien-Ausgabe von Goethes1 Werken, II. Abt. Bd. 13, S. 446

Dazu vergleiche man den Brief vom 20. Januar 1798 an Schiller; „Ich lege einen flüchtigen Entwurf zur Geschichte der Farbenlehre bei. Sie werden dabei auch schöne Bemerkungen über den Gang des menschlichen Geistes machen können; er dreht sich in einem gewissen Kreise herum, bis er ihn ausgelaufen hat." Aus Goethes Zeichnungen im 13. Band der naturwissenschaftlichen Schriften der Weimar-Ausgabe geht hervor, daß in beiden Unterarten jeweils eine positive und eine negative Seite (Plus- und Minuszeichen) die betreffende Wissenschaftsepoche darstellen. So ist also das „Poetische" 120

das Positivum, das „Abergläubische" das negative Gefahrenmoment der „kindlichen" Wissenschafts-Epoche und so fort. Die Zuordnung der „Unterarten" zu den vier seelisch-geistigen Grundkräften läßt ¿ich wie folgt verdeutlichen. Wissenschaftsepoche: Unterarten: Grundkräfte:

kindliche poetische abergläubische Sinnlichkeit Phantasie didaktische dogmatische, pedantische Vernunft, Verstand

empirische forschende, neugierige Verstand Sinnlichkeit ideelle methodische, mystische Vernunft, Phantasie

Genau wie Vico denkt sich auch Goethe die Menschen „früherer" Zeiten mit reicher Phantasie begabt; dazu vgl. S. 256 ff. Der Kreisprozeß beginnt am Scheitelpunkt der Zeichnung mit den „kindlichen" Wissenschaften und bewegt sich im Gegensinn des Uhrzeigers. Am Tiefpunkt des Wissenschafts-Kreises hingegen steht das „didaktische" Zeitalter: d i e A u f k l ä r u n g . Hier begegnet sich Goethes Urteil mit Herder, Fichte, Schelling, Hegel und den meisten Romantikern. Die Vorherrschaft der auflösenden, zerteilenden Verstandeskräfte empfand man als Bedrohung jeglicher Lebensganzheit. Dürfen wir dieses Gefühlsurteil, worin alle Großen der deutschen Klassik wie Romantik übereinstimmten, als bloße Stimmungsangelegenheit beiseite schieben? Wir täten wohl besser, die sichere Intuition zu bewundern, die sich hier bekundet. Vielleicht ist die Aufklärung in der Tat nicht bloß die Zuspitzung einer spätzeitlichemanzipatorischen Lebensverfassung des Abendlandes, sondern eine Weltkrise: Tiefpunkt oder Ausklang eines W e l t a l t e r s vorherrschender (und zunehmender) Rationalität? Heute sehen und fühlen wir ja im Bezirke entfesselter Mechanistik die Früchte rein verstandeshaften, d. h. weltzerspaltenden Bemühens in so greifbarer Gestalt, daß jede nähere Erläuterung überflüssig erscheint. Aus der Perspektive von Weltaltern müssen wir wohl auchGoethes „Wissenschaftskreis" betrachten. Die Folge Phantasie— Sinnlichkeit—Verstand—Vernunft deckt sich nicht sonderlich gut mit dem, was wir vom Werden der Geistes- und Seelenkräfte innerhalbder einzelnen Hochkulturen (also etwa der antiken oder der abendländischen) wissen. Beginnt nicht die älteste hellenische Kunst ganz „geometrisch", das heißt doch wohl „rationalistisch"? Steht es nicht ähnlich um die Ursprungszeit abendländischer Kunst und Geistigkeit? Nicht solche vergleichsweise, kurzfristigen und jungen Entwicklungen kann Goethe im Auge gehabt haben, als er seinen Zyklus entwarf. Offenbar dachte er vor allem an jene (im großen und ganzen betrachtet) ständig zunehmende E n t b i l d e r u n g der Welt,. 10'

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deren letzte, sozusagen „galoppierende" Phase etwa in die Zeit zwischen Protagoras und Voltaire fällt. Nur aus dieser Sicht gewinnt sein Schema lebendige Anschaulichkeit. Das anfängliche Zeitalter vorwaltender Phantasie (Bildempfänglichkeit) gehört sicherlich bereits der U r g e s c h i c h t e an. Ihm, entspricht kaum noch Erfahrung aus erster Hand. Hier spricht offenbar Intuition, oder, platonisch gesprochen: Anamnesis, Urerinnerung (des Telluriers). Nur wenn wir eine solche Möglichkeit ins Auge fassen, gewinnen wir den rechten Zugang zu Goethes esoterischer W e l t a l t e r L e h r e . Emrich35 hat sie aus der Symbolsprache der Maskenzüge, des „Märchens", der „Pandora" wie des II. Faust erschlossen. Schellings geplante „Weltalter" erregten, wie man weiß, Goethes leidenschaftliche Anteilnahme. Noch am 26. Oktober 1827 schreibt er dem Philosophen: „ D i e . . . Weltalter behalte ich sehnsuchtsvoll im Auge." Spricht Goethe hier als Jünger Rousseaus, oder knüpft er an den paradiesischen Urständ der Bibel, an Hesiods Goldene Zeit oder an die gleichlautenden Lehren der italienischen Renaissance-Dichter an? Wir dürfen diese (rein philologisch betrachtet, gewiß interessante) Frage auf sich beruhen lassen, überzeugt, daß hier ein Elementargedanke des chthonischen Typus vorliegt, der immer wieder emportauchen mußte, auch wenn es nie mythische Kunde von der Goldenen Zeit gegeben hätte. Goldene Zeit, Verfremdung (Altern) und Wiederverjüngung: so lautet Goethes geheime Weltkreislauf-Lehre. „Durchgehend hebt sich alles realzeitlich vom Menschen Geschaffene (Kunst, Gesellschaft usw.) von einem paradiesischen, unschuldigen Naturzustand ab, der es von Anfang und Schluß aus kreislaufartig umklammert." Schon 1772 hatte Goethe, damals vielleicht noch von Herders Palingenesie-Gedanken angeregt, von dem „großen Rad" geschrieben, „welches die Menschheit herumdreht und jeher herumgedreht hat". Als Jean Paul 1798 von einer „Weltfortschreitung" (im Sinne von „Fortschritt") sprach, war Goethes Erwiderung: „ U m s c h r e i t u n g müssen wir sagen. A priori folgt's aus der Vorsehung, aber nicht in jedem a posteriori ist der Fortschritt zu zeigen." Noch der Greis erblickt in der Menschheitsgeschichte (oder doch in ihren einzelnen Runden) den ewigen Kreislauf von gottnahem Ursprung, Abfall und Wiederherstellung. Er sieht die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an der Menschheit hat und abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung. (Zu Eckermann, 23. Oktober 1828.) Der tiefe Kulturpessimismus, der aus dieser und ähnlichen Äußerungen hervorklingt, ist schwerlich zu überhören. Kann man ihn entkräften, indem man Goethe als Monomanen des „Kreisdenkens" hinstellt und allen Ernstes meint, er sei 122

bemüht, „die ganze Weltgeschichte in einen Kreis hineinzuzwängen, der der mystischen Denkform entspricht.. ."?36 Das ist sehr zu bezweifeln. Denkformen sind ja nicht immer und überall nur Zwingen und Schrauben, sondern ebenso oft auch vortrefflich passende S c h l ü s s e l (zum Wirklichen). Einem Kultur-Diagnostiker vom Range Goethes darf man schon Einsichten zutrauen, die beträchtlich über die Horizontweite des Durchschnittsverstandes hinausdringen. Es gibt nun einmal zyklische Elemente in allem Werden und Wiedervergehen, in Natur und Geschichte. Goethe sah sie und war darum gegen den wohlfeilen Fortschrittsoptimismus der Aufklärer gefeit. In jeder Größenordnung zeitlichen Geschehens — so etwa dürfen wir zusammenfassend formein — spürt er das zyklische Element als Wiederbringung des Ursprungs, Verjüngung nach vorangehender Verfremdung (Altern). Dieses Erlebnis der kreisenden, sich rhythmisch erneuernden Zeit ist das Gewahrwerden der Naturzeit schlechthin. Die kosmische Zeit, wie sie der vorzeitliche Mensch, der „Pelasger", erlebte, wie sie in mancherlei römisch-italienischen Kunstformen als ricorso, Da capo usw. nachhallte, entspricht aufs genaueste jenem von Goethe so gern berufenen Sinnbild der Schlange, die sich in einen Reif abschließt 37 .

4. K R E I S L A U F - S Y M B O L I K ( K R E I S - DE N KE N ) Daß es kreisende, in sich selbst zurückbiegende Abläufe des Denkens gibt, hat wohl als erster Ludwig Klages an verschiedenen Stellen seiner Schriften ausgesprochen. Musterbeispiele sind viele Gedankenführungen bei Hegel, Carus, Bachofen. Auch Goethe ist „Kreisdenker" par excellence. Leisegang hat Belege dafür zusammengetragen; wie er sich die Genesis solch typischer Denkformen zu erklären sucht, kann kaum befriedigen. Die existentielle und metahistorische Tiefe des Problems bedarf der Besinnimg auf das tragende Weltgefühl und seine Möglichkeiten symbolischer Kundgabe. Einer Reihe von „sphärischen" Momenten haben wir bereits in beiden vorangehenden Kapiteln gedacht. Nun mögen einige ausgewählte Beispiele (nur anhangweise) verdeutlichen, wie der Kreislaufgedanke in Goethes Forschung als heuristisches Prinzip sich erprobte. Zunächst im Wachstum der P f l a n z e . Und hier schließt die Natur den Hing der ewigen Kräfte; Doch ein neuer sogleich fasset den vorigen an, Daß die Kette sich fort durch alle Zeiten verlange, Und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei. 123

Diese naturphilosophischen Verse werden durch das folgende Prosastück erläutert: „Hier wird aber das doppelte Leben der Pflanze deutlich auseinandergesetzt und gezeigt, daß sie einmal sukzessiv von Knoten zu Knoten ihresgleichen hervorbringt und also mit jedem Schritt ihren Kreis vollendet und wieder anfängt, daß sie andernteiLs den größeren Kreis vom Samenkorn bis zur Blüte durch mannigfaltige Veränderungen und Umbildungen ihrer sukzessiv hervorkommenden Einheiten vollendet und alsdann durch die Zeugung auf einmal eine Menge ihresgleichen hervorbringe" Goethe entdeckte bekanntlich den F a r b e n - K r e i s . Das heißt: er bemerkte, daß sich die Farben des Spektralbandes zum Kreise zusammenschließen, wenn man zwischen die äußersten Randfarben des Spektrums — Rot und Violett — noch Purpur stellt. Purpur ist keine Spektralfarbe, er entsteht durch Mischung violetter und roter Farbstoffe. Als phänomenologische Einsicht besteht Goethes Entdeckung ganz unabhängig von den Fragestellungen der Physik, die sich ja bekanntlich mit der qualitativen Wesensseite der Farben nicht befaßt. In einem Briefe an Carl August schildert er das Gesamtgebiet der Farbenlehre im Bilde des kreisförmigen Netzwerks: „Habe ich schon gemeldet, daß ich in diesen einsamen und mitunter schlaflosen Stunden den ganzen Kreis der Farbenlehre glücklich durchlaufen bin, daß ich die Hauptfäden ziehen konnte und nun wie eine Spinne das Werk mit Fleiß zu vollbringen anfange?" 2 Hier verbinden sich Kreislauf und Webe-Symbolik miteinander. Nach Riemers Bericht3, der durch Tagebuch-Aufzeichnungen Goethes vom 22. Januar und 7. Februar 17994 bestätigt wird, entwarf Goethe mit Schiller zusammen eine Temperamenten-Rose. Eine Zeichnung also, welche die Folge der vier Temperamente (Cholerisch-Sanguinisch, Phlegmatisch-Melancholisch) zyklisch ordnet, vielleicht in Verknüpfung mit den zugehörigen vier Elementen? Wahrscheinlich handelt es sich bei dem im Tagebuch vom 3. November 18075 erwähnten „Schema der Gemütskräfte und der daraus zu ziehenden Horoskopen" um nichts anderes als um die Temperamenten-Rose. Wir hören auch von allerlei Variationen des KreislaufSchemas, ernsthaften wie scherzhaften, so von einer „Windrose des deutschen Geschmacks". Selbst das Gespräch formt sich zum Gedankenkreis: „Bald gehen die Meinungen gleichen Schrittes, bald durchkreuzen sie sich, das Gespräch schwankt so lange hin und her, kehrt so lange in sich selbst zurück, bis der Kreis durchlaufen und vollendet ist" 6 . Über die letzten Impulse, die Goethes Denkart immer wieder auf 124

die Kreisbahn hindrängten, wird uns Kunde durch eine späte Briefsteile, die sich ursprünglich auf die Einreihung der Farbenlehre in die allgemeine Physik bezieht. Aus ihr läßt sich entnehmen, daß er den „Gedankenkreds", wenn man so sagen darf, als Sinnbild lebendiger Ganzheit („Folge") empfand. „Die Natur", so heißt es da, „wird allein verständlich, wenn man die verschiedensten isoliert scheinenden Phänomene in methodischer Folge darzustellen bemüht ist; da man denn wohl begreifen lernt, daß es k e i n E r s t e s u n d L e t z t e s gibt, sondern daß alles, i n e i n e n lebendigen K r e i s e i n g e s c h l o s s e n , anstatt sich zu widersprechen, sich aufklärt und die zartesten Bezüge dem forschenden Geist darlegt" 7 . Kein Erstes und kein Letztes: das bedeutet Urfehde gegenüber dem gliedhaften, ableitenden Denken. An seine Stelle tritt die sphärische Ordnung der Erscheinungen, wo „alles sich zum Ganzen webt". Was der Schöpfer des Urfaust noch keimhaft empfand, formt sich dem greisen Dichter im Xenion vom Weltumsegler zum umfassenden Sinnbilde des Lebens und Erkennens. Sei du im Leben wie im Wissen Durchaus der reinen Fahrt beflissen; Wenn Sturm und Strömung stoßen, zerrn, Sie werden doch nicht deine Herrn; Kompaß und Pol-Stern, Zeitenmesser Und Sonn und Mond verstehst du besser, Vollendest so nach deiner Art Mit stillen Freuden deine Fahrt. Besonders wenn dichs nicht verdrießt, Wo sich der Weg im Kreise schließt; Der Weltumsegler freudig trifft Den Hafen, wo er ausgeschifft. (Zahme Xenien)

5. E R Z I E H U N G U N D

BILDUNG

Oft ist es geschildert worden, wie Goethes Lebensführung bis ins höchste Alter hinein ein unablässiges Sich-Bilden war. Schon in jungen Tagen ist es ihm gemäß, „alles als Übung" zu behandeln. Dieser Wendung begegnen wir in einem Briefe an Charlotte v. Stein. 48 Jahre später bekennt der Greis, er habe Natur und Kunst eigentlich immer nur egoistisch studiert, um sich zu unterrichten. Wenn er darüber schrieb, so geschah es nur, um sich weiterzubilden. „Was die Leute daraus machen, ist mir einerlei." Selbststeigerung und Selbstvollendung sind ihm diejenige Form des „Egoismus", die ohne Tadel besteht, weil sie zugleich Mitarbeit am Kosmos, Dienst zum 125

Menschheits- und Weltganzen in sich schließt. Derselbe Dichter, der seine Werke oftmals als bloße Bekenntnisse, als die aufbewahrten Freuden und Leiden seines Lebens (1775), als „Lebensspuren" schildert, empfindet zu anderen Zeiten sein Schaffen als bloßen Ausdruck eines Kollektivwesens, von tausend verschiedenen Individuen genährt, als die Ernte, die andere gesät haben. Nur eine wahrhaft große Entelechie, die sich ganz frei von Lebensneid und falschem Geltungstrieb weiß, ist eines solchen Bekenntnisses fähig. Die Subjekt- und Objektseite des Schaffens erweisen sich in all diesen Aussprüchen als eine prästabilierte Harmonie. Namentlich in höherem Alter erreicht diese Einheit, die zu leben und zu verkünden nach Simmeis Wort den metaphysischen Sinn seiner Existenz ausmacht, ihre höchste und reinste Reife. Aber sie ist ein Errungenes, ein kunstvolles „Gebilde", wie alles Kulturhafte, und man muß den Preis dafür zahlen: im Verlust an Vitalwerten, an Ursprünglichkeit und Ungebrochenheit des Lebens. „Nur die ungebildete Seite an uns ist es, von der her wir glücklich sind. Jeder Mensch hat so eine." So lautet ein von Riemer überlieferter Ausspruch (1. Februar 1808). Im Gespräch mit Eckermann (12. März 1828) rühmt Goethe den Engländern nach, daß sie den Mut haben, das zu tun, wozu die Natur sie gemacht hat. „Es ist an ihnen nichts verbildet und verbogen, es sind an ihnen keine Halbheiten und Schiefheiten, sondern wie sie auch sind, es sind immer durchaus komplette Menschen." Diesen ungebrochenen Lebenstakt vermißt er in Deutschland, ja im landläufigen deutschen Erziehungswesen mit seiner unablässigen Bevormundung erblickt er geradezu ein Instrument der Lebens-Entfremdung: „Es geht bei uns alles dahin, die liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen und alle Natur, alle Originalität und alle Wildheit auszutreiben, so daß am Ende nichts übrig bleibt als der Philister." In einem kühnen Paradoxon vergleicht der Greia die Bildung mit einem Gefängnis, das zugleich Freiheit nimmt und schenkt. Ein Gefängnis, an dessen Mauern der sich Bildende, darin Eingesperrte sich stößt, aber das Ergebnis ist eine wirklich gewonnene Freiheit. Aug diesem Gleichnis klingt uns Goethes Lehre von der Entsagung entgegen: jeder, der eine Bestimmung erfüllt, der mehr als ein bloßes Subjekt-Leben führt, muß entsagen. Jede Form, jedes Gebild bedeutet Verzicht auf ungemessene Lebensfülle. Goethes Erziehertum ist, wie Gundolf sah, von seinem bildnerischen Trieb nicht zu trennen. Schon der Knabe schreibt „Lektionen" für seinen jüngeren Bruder (den frühverstorbenen Jakob), der Jüngling wirkt in seinen Leipziger Studentenbriefen belehrend, 126

bildend auf die Schwester ein. U n d so fort bis zu den höheren, aber immer der Auffassungsgabe und menschlichen Ranghöhe des Zuhörers angepaßten Lektionen, die ein Riemer, ein Eckermann e m p fingen. J e älter und reifer Goethe wird, um so m e h r rückt allerdings der Schwerpunkt vom Lehrhaften, Unterweisenden in die Sphäre stiller Ausstrahlung. A n Stelle der Wissensübermittlung tritt die geheimer wirkende Macht vorbildlicher Haltung, paradigmatischen Seins. Der greise Praeceptor Germaniae n ä h e r t sich damit der gelassenen Weisheit des fernen Ostens. In der alten, i m m e r erneut aufgeworfenen Streitfrage nach dem Werte, der Bedeutung des Angeborenen, Mitgebrachten gegenüber dem Anerzogenen, Erworbenen ergreift Goethe fast stets P a r t e i f ü r die innere Mitgift, das Daimonion. Ein zahmes Xenion spricht das in den Versen aus: Man könnt erzogene Kinder gebären, Wenn die Eltern erzogen wären. „Die Erziehung m u ß sich an die Neigung anschließen", meint der Abt in den L e h r j a h r e n . Über die Erziehung des eigenen Sohnes h a t sich Goethe ganz ähnlich geäußert: seine einzige Sorge sei bloß, „das zu kultivieren, w a s wirklich in ihm liegt" 1 . U n d er f ü g t hinzu: „Unsere gewöhnliche Erziehung jagt die Kinder ohne Not nach so viel Seiten hin und ist schuld an so viel falschen Richtungen die w i r an Erwachsenen bemerken." A n d e r e Aussprüche zielen in dieselbe Bahn. Denn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen; So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben, Sie erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren. Denn der eine hat die, die anderen andere Gaben; Jeder braucht sie, und jeder ist doch nur auf eigene Weise Gut und glücklich. (Hermann und Dorothea: Thalia) „Der Mensch versteht nichts, als was ihm gemäß ist" 2 . „Jede, auch n u r die geringste Fähigkeit w i r d uns angeboren, und es gibt keine unbestimmte Fähigkeit. N u r unsere zweideutige, zerstreute Erziehung macht die Menschen ungewiß, sie erregt Wünsche, statt Triebe zu beleben, und anstatt den wirklichen Anlagen a u f zuhelfen, richtet sie das Streben nach Gegenständen, die so oft mit der Natur, die sich nach ihnen bemüht, nicht übereinstimmen." So heißt es in den Lehrjahren 3 - I m m e r wieder w a r n t Goethe v o r u f e r loser Ausweitung der Bildungsziele: „Indem man die K i n d e r f ü r einen weiteren Kreis zu bilden gedenkt, treibt m a n sie ins Grenzenlose, ohne im Auge zu behalten, was denn eigentlich die innere 127

Natur fordert." 4 Mit diesen Sätzen bezeichnet er die Selbstentfaltung nach innerem Maß, die reine Ausbildung der Individualität als letztes Ziel des Erziehungswesens. Charakterverdeckende Uniform (Wanderjahre, 2. Buch, 2. Kap.) wäre jede abstrakt-nivellierende, natürliche Begabungsunterschiede leugnende „Allgemein"-Bildung. Gegen diese Utopie richtet sich die berühmte Stelle in den Wanderjahren5: „Daß ein Mensch e t w a s ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein andrer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an." Steht die Forderung, daß man „ein Organ aus sich machen" solle, nicht in unauflöslichem Widerspruch zu Goethes „Liebhabertum", zu seinem Leitsatz: „Nur nichts als Profession getrieben"? Es scheint so. Man bedenke aber: dort handelt es sich um eine allgemeine pädagogische Maxime, die sich an vielen und zumal durchschnittlich Begabten bewähren soll, hier hingegen um das individuelle Gesetz eines Quellgeistes. Spezifische Bildung und arbeitsteilige Spezialisierung sind die Norm; spielendes, die Fachschranken mißachtendes Schöpfertum kann nur als seltene Ausnahme gelten. Außerdem bedenke man: wenn der greise Dichter der Wanderjähre Spezialisierung befürwortet, dann nicht als zeitlos verbindliche Regel, sondern als spezifisches Heilmittel gegen die Zeitkrankheit eines verblasenen BildungsIdealismus. Wäre es ihm vergönnt gewesen, noch einige Jahre länger zu leben, so hätte er wohl vor ganz anderen Gefahren gewarnt. Spezialisierung ist ihm jedenfalls nicht Selbstwert, sondern ein Weg zum Ganzen. „Eines recht zu wissen und auszuüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen." 6 „Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt." 7 „Vielseitigkeit bereitet eigentlich nur das Element vor, worin der Einseitige wirken kann. .. Der Beste, wenn er eins tut, tut er alles, oder . . . in dem einen, was er recht tut, sieht er das Gleichnis von allem, was recht getan wird." 8 Also nicht Spezialisierung zum Roboter, sondern Ganzheit auch in der Vereinseitigung, Universalismus in der Beschränkung! Entstand die Pädagogische Provinz, wie manche Ausleger meinen, als Paraphrase oder Fortbildung Pestalozzischer Gedanken? Das hieße wohl die Wirkung des Schweizers überschätzen. Für Pestalozzis Lehrsystem interessierte sich Goethe, aber mit skeptischen Vorbehalten. Zu guter Letzt erblickte er darin nichts weiter als eine neue, rationalistische Abart alter Schulmeisteret Schon in den Jahren 1803 bis 1804 befaßte er sich mit Pestalozzis Lehren. Seine durchaus ablehnende Stellungnahme enthüllt eine Stelle aus einem Briefe Wilhelm v. Humboldts, den er in der Jenaischen Allgemeinen Literatur128

Zeitung abdrucken ließ. Mit Humboldts Kritik stimmte seine eigene Auffassung überein. Eine zweite Beschäftigung mit Pestalozzis Schriften und mit der Unterrichtsweise des Pestalozzi-Schülers Joh. de L'Aspee in den Jahren 1814—1815 endete in verschärfter Gegnerschaft9. Es wird uns berichtet, daß er sich1 „mit lebhaften Bedenken, ja mit Aufregung gegen die einseitige Ausbildung der analytischen Verstandeskräfte" aussprach (Frankfurt, 27. Mai 1815). Form und Zahl hatte Pestalozzi als „die eigentlichen Elementareigenheiten aller Dinge" in den Mittelpunkt seiner Pädagogik (besonders der Sprachlehre) gestellt. Da gab es z. B. endlose Namenreihen, eingeteilt in Fächer, Hauptrubriken und zahlreiche Unterabteilungen, in alphabetischer Folge, nach ihrer Zusammengehörigkeit mit den gleichen Zahlen versehen. Die bedauernswerten Zöglinge hatten diese „Nomenklaturen" als Gedächtnisstoff einzuüben! Schreibunterricht verband sich mit dem Zeichnen und Messen; beim Zeichnen diente ein Quadrat als Maß-Gerüst. „Zählen und Rechnen ist der Grund aller Ordnung im Kopf", lautete ein Leitsatz des Schweizers. Mit dem Buchstabieren war zugleich das Silbenzählen verknüpft usf. Der krasse Rationalismus des Systems wird durch pietistische Züge nur gelegentlich aufgelockert. Man kann sich vorstellen, wie sehr Goethe vom Elementenkram dieser Intellektualpädagogik sich abgestoßen fühlen mußte. Diese Hirnmarter, so mochte er denken, läßt die lebendigen Bildekräfte der Kindesseele verdorren. Erst „bei eintretender Pubertät", so heißt es im Gespräch mit Riemer10, entwickelt sich ja der Verstand zu voller Regsamkeit. In einem Gespräch des Jahres 1815 mit Sulpiz Boisseree und Oberbergrat Cramer11 holt er noch heftiger gegen Pestalozzis System aus, Er sieht einen Kult „leerer Zahlen und Formen", mangelndes Vertrauen in die Überlieferung, „und nun gar der Dünkel, den dieses verfluchte Erziehungswesen errege . . . . Da falle aller Respekt, alles weg, was die Menschen untereinander zu Menschen macht". In Pestalozzis Messen und Zählen sah Goethe zu Recht das Aufklärertum, die Verstandesdünkelei am Werke; im Pietismus des Schulmeisters sah er die „Verrücktheit und Wut, alles auf das einzelne Individuum zu reduzieren". Wenn es in der Italienischen Reise12 heißt: „Welch ein früh wissendes und spät übendes Geschöpf ist doch der Mensch", so bedeutet das keine bloße Feststellung, sondern eine verhüllte Anklage gegen das Erziehungswesen der Aufklärung. Der Vorgriff abgezogenen Wissens vor dem Wirken, des Denkens vor dem Tun stört die Urpolarität menschlicher Existenz, jenen organischen Wechseltakt, den er so gern mit dem Ein- und Ausatmen vergleicht. Zahlreiche Aus129

Sprüche des Alters richten sich, gegen die vorgreifenden Zielsetzungen einer bloßen Verstandes-Erziehung, gegen die unheilvolle Wirkung allgemeiner Begriffe und großen Dünkels13. Wahre Bildung wirkt langsam reifend, sie beglückt uns auf dem Wege selbst. Ein Erzieher, der den Zögling fortwährend auf Ende und Ziel hindrängt, raubt ihm die Unschuld des Werdens, zerstört die Keimkräfte 14 . Falsch ist also jede Erziehung, die fertige Ergebnisse vorweist, anstatt die Wege zur Selbst-Erarbeitung zu eröffnen. Abgezogenes, der tätigen Erprobung vorgreifendes Wissen wirkt lebensspaltend. Man lernt nichts „außerhalb des Elements, welches bezwungen werden soll" 15 . Der Unzulänglichkeit des Kompendien-Wissens setzt Goethe in „Dichtung und Wahrheit" (2. Teil, Anfang des 9. Buches) und in den Tag- und Jahresheften 1805 die stillwirkende Macht der B i l d E m p f ä n g l i c h k e i t entgegen. Nicht bloß der Verstand, alle Seelenkräfte bedürfen gehöriger Kultur, und zwar in den ersten Jahren gleich (die ja — wir ahnen es heute, Goethe aber wußte es schon damals — viel Entscheidenderes zur Wesensformung beitragen, als man gewöhnlich annimmt). Logik und Fremdsprachen können als Bildungsmittel nicht genügen: die Einbildungskraft fordert gleichfalls behutsame Pflege; ihre Nahrung sind edle Bilder aus Natur und Kunst, die Lust am Schönen erwecken. Die bildlos aufgezogene Phantasie neigt zum Fratzenhaften, verfällt dem unwiderstehlichen Trieb zum Absurden. Besser als Verbote sind positive Erziehungsreize. Was dem Zögling Freude macht, soll man ihm nicht verbieten oder verleiden, es sei denn, man hätte ihm sogleich etwas anderes dafür einzusetzen oder unterzuschieben16. Das klingt fast wie Vorwegnahme von Leitsätzen der (Psychiater-)Schule von Nancy (Coue, Baudouin). Bekanntlich lehrt diese, daßi jedes Verbot unwillkürlich die Gegen-Regung, den Widerspruchsgeist heraufbeschwört; sie empfiehlt daher, möglichst alle erzieherischen Suggestionen in positive Formen zu kleiden, damit sie vom Unbewußten aufgesaugt werden. Von staatlich zwangsgelenkter Erziehung hält Goethe nicht viel. Das läßt schon der Bericht in „Dichtung und Wahrheit" über die Roheit des öffentlichen Schulwesens ahnen. Riemer berichtet unterm 10. März 1808: „Mittags Dispute über Goethes paradoxe [!] Maxime, alle öffentlichen Lehranstalten in Deutschland aufzuheben und den Lehrsubjekten freizugeben, Institute, Pensionsanstalten und dergleichen auf ihre Kosten zu errichten." Das bedeutet doch offenbar: Goethe spricht der bürokratischen Wurstmaschine die Befugnis ab, das Erziehungswesen und damit die Grundlage des Kulturlebens zu dirigieren. Er erstrebt daher restlose Privatisierung des Unterrichts. 130

Sein Bildungs-Ideal stellt sich in zusammenfassender Sicht als ein rein w a c h s t ü m l i c h e s heraus. Gern vergleicht er daher den begabten Lehrer mit einem geschickten Gärtner, „der für jede Epoche jeder Pflanze die erforderliche Wartung verstünde"; von der Erkenntnis heißt es zuvor: sie wachse in jedem Menschen nach Graden, die ein Lehrer weder übertreiben soll noch kann17. Unter all den so prägnant geformten, ihres Wirkungsumkreises sicheren Figuren der Theatralischen Sendung steht Wilhelm als der Unfertige, Werdende, Suchende. Er sieht noch kein festes Ziel, er vertraut einzig dem inneren telos, das in und mit ihm erwächst. Nicht daß Goethe Kollektivformen des Erziehungswesens abgelehnt hätte; die Pädagogische Provinz der „Wanderjahre" ist ja im Gegenteil ganz auf Gemeinschaft gestellt. Bildung bedeutet ihm soviel wie Wachstum, Reifen von innen heraus, sich vollziehend in rein symbiotischen, unbürokratischen, nicht reglementierten Formen, getragen und durchwaltet vom Ethos der Ehrfurcht. In alledem schließen sich Goethes Erziehungslehren folgerecht an seine GrundÜberzeugungen vom Wesen des Menschen und seiner Stellung in Natur und Geschichte an. Bildimg ist ihm durchaus mehr als bloßer Wissenserwerb und Wissensbesitz. Sie ist ganzheitliche, organische Lebensverfassung. „Die Bildung", so erklärt er im Gespräch mit Riemer18, „wird zwar von einem Wege (ins Holz) angefangen, aber auf ihm nicht vollendet. Einseitige Bildung ist keine Bildung. Man muß zwar von einem Punkte aus-, aber nach mehreren Stellen hingehen. Es mag gleichviel sein, ob man seine Bildung von der mathematischen oder philologischen oder künstlerischen Seite her hat, wenn man sie nur hat; sie kann aber in diesen Wissenschaften allein nicht bestehen." Die gedrungenste Formel gibt ein Brief an K. E. Schubarth vom Jahre 1818: „Es ist ganz einerlei, in welchem Kreise wir unsere Kultur beginnen, es ist ganz gleichgültig, von wo wir unsere Bildung ins fernere Leben richten, wfenn es nur ein K r e i s , wenn es nur ein W o ist" 19 . Im letzten Grunde ist das, was Goethe unter „Bildung" versteht, nichts anderes als die organische Ganzheit eines gewachsenen Lebensstils. Bildung setzt eine gemeinschaftsstiftende, gemeinschaftsbildende Sphäre voraus, die in keinem Falle durch bloßes Planen und Wollen erzielt werden kann. Das 18. Jahrhundert ist bekanntlich das letzte Säkulum des Abendlandes, das über einen Gemeinschaftsstil des Umgangsmäßigen — ablesbar etwa an Trachten, Geräten, Ornamenten, melodischen Floskeln — noch verfügte. Was band diese letzte „Gesellschaft" im Innersten zusammen? War es „organisierte Erotik", wie einer der berufensten Deuter des Goethe131

sehen Menschentums20 meint? Diese Formel vereinfacht wohl einen weitaus komplizierteren Sachverhalt, aber sie deutet doch treffend auf eine „symbiotische" Kraft hin, die im 19. Jahrhundert, als man den struggle for life entdeckte, endgültig abhanden kam.

6. S I T T L I C H E S ,

MORAL

Kein Jahrhundert hat wohl so viel über die moralischen Phänomene nachgedacht und geschrieben wie das achtzehnte. Ist dieses Wuchern des spekulativen Moralismus lediglich die Kehrseite der Aufklärung? Ein Kulturpsycholog, der bloß vom bekannten Gegenlauf der Regungen ausginge, hätte wohl triftigen Grund, so zu deuten. Ihm wäre jenes Überhandnehmen des moralischen Aspekts bedenkliches Anzeichen einer Disharmonie menschlichen Seins. J e mehr die Welt aus einem göttlich durchwalteten Kosmos in einen bloßen Mechanismus sich verwandelte, um so höher stieg die moralische Provinz im Kurs. Manchem, wie z. B. dem jüngeren Fichte, erschien sie als die letzte und einzig verbliebene Wohnstätte des Göttlichen. Gegen solche Verengung der Weltsicht wendet sich Goethe kurz vor seinem Tode. Er spricht1 von den Leuten, die da meinen, Gott sei nichts als ein abgedankter Demiurg; der Mensch hingegen mündig, ganz auf eigene Füße gestellt, müsse sehen, wie er ohne Gott und sein tägliches unsichtbares Anhauchen zurechtkomme. Wer so denkt, leugnet Gott-Natur, allenfalls gibt er göttliches Einwirken in religiösen und moralischen Dingen zu. Wo sich hingegen Göttliches anschaulich offenbart: in Dingen der Wissenschaften und Künste, da glauben jene Moral-Anbeter, „es sei lauter Irdisches und nichts weiter als ein Produkt rein menschlicher Kräfte". Schon in jüngeren Tagen hatte sich Goethe scharf gegen jede Unbedingt-Setzung des Moralischen ausgesprochen, so wenn er über Lavater urteilt, dieser kenne nichts Ideelles als unter der moralischen Form. Ähnlich über Jacobi: mit dem bisschen Moral allein könne man keine große Weltansicht fassen 2 ; Jacobis Gott müsse sich immer mehr von der Welt absondern, da der Seine sich immer mehr in sie verschlinge (zu Schlichtegroll). An der Absonderung und Verselbständigung des Moralischen sind vor allem die T r a n s z e n d e n t a l i s t e n aufs höchste interessiert. Hemsterhuis (1721—1790) postuliert ein „moralisches Organ", das moralisch bewertende Mitleiden und Mitfühlen, das die Schranke der Individuation durchbricht und Gemeinschaft ermöglicht. Es ist zugleich das aktive Organ, das den Menschen zum handelnden Wesen 132

macht. Mit dieser Lehre sympathisierten u. a. Herder, der junge Humboldt. Goethe steht ihr fern3. Wenn er vom „inneren Sinn" spricht, handelt es sich um lebendige, echte Anschauungen usw. Derselbe Goethe, der das selbständige Gewissen einer inneren Sonne vergleicht, kann noch im höchsten Greisenalter jemandem, der „bemoralisieren" will, zurufen: „Muß man denn grade ein Gewissen haben? Wer fordert es denn?" Ausdrücklich preist er Byrons Kühnheit, Keckheit und Grandiosität als positive Bildungs-Werte jenseits des „entschieden Reinen und Sittlichen" (zu Eckermann, 16. Dezember 1828). Fast alle Transzendentalisten, die das „moralische Organ" als ein selbständiges Vermögen, ja als Wesensmitte des Menschen empfinden, betonen zugleich die F r e i h e i t d e s W i l l e n s . Das Wollen, sagt Goethe in seinem Shakespeare-Aufsatz von 1813, ist der Gott der neuen Zeit. Denn es gaukelt dem einzelnen Scheinfreiheit vor und schmeichelt seinem Geltungstrieb, seinem Ich-Kult. Wer sich also auf den „guten Willen", auf das „moralische Organ" etwas Besonderes zugute tut, der treibt Selbstvergottung. Ja, wenn der „gute Wille" sich unbedingt setzt, so kann es geschehen, daß der Weltkenner die Frage aufwirft, ob damit nicht die Grenze des Menschlichen überschritten wird. „Niemand bedenkt leicht", schreibt er an Zelter, „daß uns Vernunft und ein tapferes Wollen gegeben sind, damit wir uns nicht allein vom Bösen, sondern auch vom Übermaß des Guten zurückhalten."4 Goethe leugnet das Böse als metaphysisches Absolutum; von frühauf widersetzt er sich der Lehre vom Radikal-Bösen. Das Ende des 8. und der Eingang des 15. Buchs seiner Jugendgeschichte gibt davon Zeugnis, ebenso zahlreiche Stellen5 im Schrifttum seiner Jugend: Mephisto, der Verneiner, ist „nur ein Teil von jener1 Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft"; wenn Gott die Weltorgel spielt, so muß ihm der Teufel die Bälge dazu treten. In der Rede „Zum Shakespearestag" sagt Goethe, das was wir bös nennen, sei nur die andere Seite vom Guten, „die so notwendig zu seiner Existenz und in das Ganze gehört, als Zona torrida brennen und Lappland einfrieren muß, daß es einen gemäßigten Himmelsstrich gebe". Freilich ist diese Betrachtungsweise zunächst eine kosmische, göttliche Sichtart; „vom menschlichen Blickpunkt gesehen ist Mephisto der Böse schlechthin" 6. Aber ganz unerreichbar kann der kosmische Blick auch dem Menschen (insofern er „Mikrokosmos" ist) nicht sein, denn sonst wäre es absurd, auch nur darüber zu sprechen. Daß Kant „seinen Mantel mit dem Quark' des radikalen Bösen beschlabbert", verdenkt ihm Goethe aufs schwerste. Sub specie aeterni betrachtet 133

sind Gut und Böse zusammen „das Gute"; ihre Koinzidenz wird von Goethe, als weltschaffend, bejaht. Wer wagte zu behaupten, „daß das, was Gott von uns als gut und böse angesehen haben will, auch vor ihm gut und böse sei, oder ob das, was in zwei Farben für unser Auge gebrochen wird, nicht in e i n e m Lichtstrahl vor ihm zurückfließen könne"7. Namentlich der junge, von glühendem Eros zur Welt erfüllte Dichter spürt die Ambivalenz der Elementargefühle8. Werther wendet sich gegen die moralisierenden Klischees: „Daß ihr Menschen, um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müßt: das ist töricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös! Und was will das alles heißen? Habt ihr deswegen die inneren Verhältnisse einer Handlung erforscht? Wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urteilen sein." (Werther, 12. August 1771.) In einem Briefe des Fünfundzwanzigjährigen an Sophie La Roche steigert sich diese Haltung zum moralischen Titanismus, zum Überund Außermenschlichen; man fühlt sich dabei allerdings weniger an Nietzsches Herrenmens,chentum als an die kosmische Moral des Taoismus erinnert. Der Brief spielt an auf Wielands berühmte, gedämpf t-bewundernde Besprechung des „Götz" im Teutschen Merkur vom Juni 1774. Das leuchtend-wärmende, aber auch verzehrende Feuer wird zum Stichwort, woraus sich das in sich einige Doppelwesen von Gut und Bös entfaltet: „ J a . . . es ist wahr, Feuer das leuchtet und wärmt nennt ihr Segen von . Gott, das verzehrt — nennt ihr Fluch! Segen denn und Fluch! — bin ich euch mehr schuldig als die Natur mir schuldig zu sein glaubte, leuchtets nicht mir, wärmts nicht — und verzehrt auch Nennen Sie mich bös, und lieben sie mich. Un livre crojez moi n'est pas fort dangereux. Das Gute und das Böse, rauscht von den Ohren vorbei die nicht hören. Und ist das Böse nicht gut und das Gute nicht bös? Hass ich Wielanden, lieb ich ihn? — es ist wahrhaftig eins — ich nehm Anteil an ihm ." 9 Zwei Jahre später an Lavater: „Alle deine Ideale sollen mich nicht irre führen wahr zu sein, und gut und böse wie die Natur." 10 Ist dies, so möchte man fragen, bloßer Gefühlsaufruhr des Sturm und Drang, hybrides Selbstgefühl des Titanismus? Oder kommt hier ein Urerlebnis zum Durchbruch, das in tieferen Wesensschichten der Goetheschen Existenz wurzelt? Die Antwort kann nicht schwerfallen, wenn man sich klarmacht, daß auch der spätere Goethe das Moralische als etwas Künstliches, als Zwangsgesetz, Machtspruch des Geistes empfand. Das Moralische ist die S u b o r d i n a t i o n , die Unterwerfung des menschlichen Einzelwesens unter die Spielregeln und Machtsprüche der Gesellschaftsordnung, des Kultur-Daseins. Schon jeder, der aus 134

der Subordination heraustritt, ist insofern unmoralisch: „Wer von seinem Verstände zum Schaden anderer Gebrauch macht oder diese auch nur dadurch einschränkt, ist insofern unmoralisch" (zu Riemer, 3. Februar 1807). Das heißt aber, genau besehen: unmoralisch ist im Grunde jeglicher Machtwille, jede Erhebung des Einzelnen aus dem Gleichrang. Außerordentliche Menschen vollends, wie Napoleon, „treten aus der Moralität heraus. Sie wirken zuletzt wie physische Ursachen, wie Feuer und Wasser". Das Moralische, wovon Goethe spricht, bedeutet in d i e s e m Zusammenhang offenbar das abgelöste Gesetz des Sollens, wie es den „Moralisten" gewöhnlich vorschwebt. „ G o t t nur ist moralisch, kein Mensch ist es vis à vis von sich; man ist es nur gegen andere, denn niemand kann sich selbst subordinieren. Gott erzeigt uns die Ehre, uns für etwas gelten zu lassen, und nur im Fall der höchsten Not sich der Subordinierung zu entziehen, um sich selbst zu erhalten" (zu Riemer, 9. August 1810). Wohlgemerkt: Goethe ist kein „Amoralist". Er leugnet keineswegs die sittliche Weltordnung, nur sieht er sie durchkreuzt von einer nicht minder gewaltigen und schöpfungsnotwendigen Weltkraft: vom „Dämonischen". Auf Eckermanns Frage: wie das Sittliche in die Welt gekommen? antwortet er: „Durch Gott selber, wie alles andere Gute. Es ist mehr oder weniger den Menschen im allgemeinen angeschaffen, im hohen Grade aber einzelnen vorzüglich begabten Gemütern. Diese haben durch große Taten und Lehren ihr göttliches Innere offenbart; welches sodann durch die Schönheit seiner Erscheinung die Liebe der Menschen ergriff und zur Verehrung und Nacheiferung gewaltig fortzog." 11 Sittliches Empfinden ist also mehr oder minder eine natürliche Mitgift des Einzelwesens, eine Begabung, der künstlerischen vergleichbar. Nicht zufällig spricht Goethe von der „Schönheit" der sittlichen Erscheinung oder noch gedrungener vom „SittlichSchönen". Dem Molière rühmt er nach: „Es ist in ihm eine Grazie und ein Takt für das Schickliche und ein Ton des feinen Umgangs, wie es seine angeborene schöne Natur mit täglichem Verkehr mit den vorzüglichsten Menschen seines Jahrhunderts erreichen konnte." 12 Wenn, es in den „Lehrjahren" (8. Buch, 1. Kapitel) heißt: „O der unnötigen Strenge der Moral! . . . da die Natur uns auf ihre liebliche Weise zu allem bildet, was wir wissen sollen", so steht hier „Moral" als abstraktes, von außen oder oben forderndes Sollen dem inneren, naturhaften Ethos (dem „Sittlichen") entgegen. Die berühmten TassoVerse Willst du genau erfahren, was sich ziemt, So frage nur bei edlen Frauen an. (Tasso II, 1; V. 1013—14) 11 D a n c k e r t , Goethe.

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Und wirst du die Geschlechter beide fragen; Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte. (V. 1021—22) verweisen den Frager nicht etwa auf die bloße Konvention. Die „edle Frau" erscheint nur darum als bevorzugte Ratgeberin, weil sie dem stärker „gespaltenen" Mann gegenüber das kosmisch „intaktere" Wesen verkörpert. Sittlichkeit in höchstem Sinn ist aber für Goethe nicht bloß Menschliches,, sondern etwa das, was die Chinesen „tao" (kosmischen Rhythmus) nennen. Getrost! Das Unvergängliche, Es ist das ewige Gesetz, Wonach die Ros' und Lilie blüht. (Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten) Namentlich der greise Dichter steht der östlichen Weltweisheit vom „tatlosen Tun" (wu-wei) ganz nahe. Als letzten Sinn menschlicher Existenz empfindet er, fast wie Laotse, die ruhige, vertrauensvolle Hingabe an das Weltgesetz, das Sich-Einbetten in die umfangende Natur. Wenn Laotse den Heiligen mit dem Wasser vergleicht, das ohne Eigenwillen, nur dem inneren und übergreifenden Gesetz folgend, dahinfließt, so nähert sich Goethe solchen Auffassungen bewußt in den „Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten". Sein Handeln „ist nun nicht mehr persönlich-menschlich, sondern unpersönlichnaturhaft, — die Individualität hat ihre Auflösung im Kosmischen gefunden" 13 . Mit Laotse hätte sich Goethe sogleich verständigt 14 , von Kants Rigorismus trennt ihn eine Welt. Zwar billigt er, daß Kant die Moral als ein letzhin übersinnliches Phänomen „dem schwankenden Kalkül einer bloßen Glückseligkeitstheorie" entgegengestellt habe" 15 : gegenüber der schlaffen Weichlichkeit des Hedonismus bekennt sich Goethe zum strafferen Ethos der Klassik. Aber das, bedeutet kein Einverständnis mit einem „überstrengen", vom menschlichen Lebensganzen abgesonderten Pflichtgebot. Bezeichnenderweise nennt er (in demselben Dornburger Gespräch vom 29. April 1818 mit dem Kanzler von Müller) die Moral einen ewigen Friedensversuch zwischen unseren persönlichen Anforderungen und den Gesetzen des unsichtbaren Reiches! Man beachte: unter Moral versteht Goethe hier nicht das abstrakte Gesetz des Sollens, sondern lediglich denVersuch des Einzelwesens, sich diesem Gesetz allen Hemmnissen des empirischen Daseins zutrotz zu nähern: zur Moral in Goethes Sinne gehört das hic Rhodus hic salta. Moral ist ein „Friedensversuch" im struggle for life, ein zeitweiliger aber immer erneuter Waffenstillstand zwischen Trieb und, Geist, Selbstbehauptung und Selbstbeschränkung. Kampf und 136

Waffenstillstand aber auch mit den eigenen Fehlern und Schwächen. Da aber unsere Fehler die Kehrseite unserer Tugenden sind, so ist unbedingte Korrektur nicht immer ratsam: „gewisse Mängel sind notwendig zum Dasein des Einzelnen", sie ermöglichen geradezu den Persönlichkeitsaufbau. „Es würde uns unangenehm sein, wenn alte Freunde gewisse Eigenheiten ablegten" (Max. 419). Daher ergeht an Zelter die Mahnung: „Legen Sie ja . . . keinen alten Fehler ab; Sie fallen entweder in einen neuen, oder man hält ihre neue Tugend f ü r einen Fehler . . ," 16 Hier spricht der Psychologe der Enantiodromia. S i t t l i c h k e i t ist f ü r Goethe keineswegs gewaltsame Niederhaltung des „Sinnlichen", sondern ein dem ästhetischen verwandtes Bedürfnis, eine Regung des Sinnes f ü r Ganzheit. Das Sittliche ist das Maßhaltende, es steht dem Sinnlichen nicht als schroffes „Du sollst" entgegen, sondern bildend, umbildend, mit ihm verschmelzend. Ein Brief an Carlyle 17 spricht das unzweideutig aus: „Einige haben den Eigennutz als Triebfeder aller sittlichen Handlungen angenommen; andere wollten den Trieb nach Wohlbehagen, nach Glückseligkeit als einzig wirksam finden; wieder andere setzten das apodiktische Pflichtgebot oben an, und keine dieser Voraussetzungen konnte allgemein anerkannt werden, man mußte es zuletzt am geratensten finden, aus dem ganzen Komplex der gesunden menschlichen Natur das Sittliche so wie das Schöne zu entwickeln." Die „Schöne Seele" darf sich unbedenklich ihrem „inneren Führer", ihrem Daimonion anvertrauen. Sie bedarf kaum eines Gebotes, keines Gesetzes. Ein Trieb leitet und f ü h r t sie so unmerklich, daß sie glaubt, mit Freiheit ihren Gesinnungen zu folgen. Sie weiß daher so wenig von Einschränkungen wie von Reue 18 . Abgespaltene, auf sich selbst gestellte Moralität beurteilt Goethe als etwas Kulturloses. Jacobis Vorstellungsart erscheint ihm daher als die Sichtweise eines Einäugigen, dem der volle Weltblick verkümmert ist. Scharf tadelt er in Dichtung und Wahrheit „die Absonderung des Sinnlichen vom Sittlichen, die die liebenden und begehrenden Empfindungen spaltet". Ethos als bloße intentio ist ihm fremd, ein Ungedanke: n u r das Sinnlich-Höchste ist das Element, worin sich das Sittlich-Höchste verkörpern kann. Abstrakter Moralismus ohne Sinnenkultur f ü h r t zum „cant"; irgendwo rächt sich die Aufspaltung und Disharmonie einer solchen Lebensverfassung. Wer sittliche Bildung erstrebt, hat alle Ursache, seine feinere Sinnlichkeit mit auszubilden. Er soll die K r ä f t e seiner Phantasie nicht verdrängen (wie wir heute sagen würden); sie würden sich unterirdisch rächen und ins „Regellose", Chaotische abgleiten. (So belehrt der Oheim ir

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diet „Schöne Seele" in den Lehrjahren; 6. Buch.) Das Sinnliche wird vom Sittlichen umgriffen; in der Farbenlehre steht die „sinnlich-sittliche" Wirkung der Farbe auf einem anderen Blatt als die ästhetische. Das Sittliche ist also für Goethe offenbar nicht gleichbedeutend mit dem Moralischen, sondern umfassender gedacht. Es nähert sich dem chinesischen tao und bedeutet offenbar ein allgemeines Wohlverhalten und „Richtigsein", Einklang mit dem kosmischen Rhythmus. Simmel 19 bestimmt es andeutend als „die im Gefühl, seinem Bleibenden und seinem Wechselnden zum Bewußtsein kommende Z u s t ä n d l i c h k e i t des ganzen inneren Menschen". Jedenfalls fehlt diesem Begriff die Beschränkung auf das nur Praktisch-Moralische, wogegen andererseits das S i n n l i c h e (das Goethe ja stets zugleich als Sinnvolles empfindet) an der übergreifenden Sphäre des „Sittlichen" teilhat. Alles Sinnliche führt „Ethos" mit sich; man kann sich vorstellen, daß Goethe die antike Lehre vom Ethos der Tonarten, wenn er sie gekannt hätte, als eine Selbstverständlichkeit hingenommen hätte. Da nun alle Künste im Bezirk der „höheren Sinnlichkeit" wirken und somit ihr (immanentes) Ethos mit sich führen, so wäre es sozusagen eine grobe Tautologie, „moralische" Sonderwirkungen von ihnen zu erwarten oder zu fordern, „auf Moralität zu wirken". Wenn er vom Eigenwert des Sittlichen spricht, das seinen Lohn, seine Erfüllung in sich selbst trägt, wenn er ethische Zwecklehren ablehnt, so entspringt das demselben Grundgefühl wie seine Verurteilung zweckgerichteter Kunst. Das Sittliche ist eine Blüte des edlen Lebens; nach Früchten zu fragen, wäre ungut. Die beatitudo ist (wie für Spinoza) nicht virtutis praemium, sondern ipsa virtus. „Bei jedem redlichen, ernstlichen Handeln, wenn auch anfangs Zweck und Beruf zweifelhaft scheinen sollten, finden sich beide zuletzt klar und erfüllt. Jedes reine Bemühen ist auch ein Lebendiges, Zweck sein selbst, fördernd ohne Ziel, nützend wie man es nicht voraussehen konnte" (an Zelter). Daß Goethe das Moralische vom Sittlichen unterschieden sehen will, geht u. a. aus seinem Gespräch mit Riemer vom 9. Juli 1809 hervor. Da nennt er das Genie, das im Schönen und Vollkommenen verbleibt, ein m o r a l i s c h e s , „weil es eben das tut, was das moralische Wesen tut, innerhalb der Pflicht oder des moralischen Gesetzes verbleiben". Der andere, extravagante Typus des Genies, der über den Kreis des Schönen hinausgeht „ins Absurde", verfährt zwar insofern „unmoralisch", aber nicht „unsittlich". Er verstößt zwar (so etwa möchte man deuten) gegen die Sinn-Sphäre, den Logos, ohne jedoch gegen das innere, vitale Gesetz zu freveln. 138

Da niemand die Folgen seines Tuns auf weitere Sicht voraussehen kann, so ist der Handelnde „immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende" 20 . Aber dieses Voraussehen-Wollen um jeden Preis wäre ethischer Rationalismus. „Wer tätig sein will und muß, hat nur das Gehörige des Augenblicks zui bedenken, und so kommt er ohne Weitläufigkeit durch, da der Hauptzug des Lebens sich ohnehin von selbst vorschreibt." So schreibt der Hochbetagte an Marianne 21 ; die „Maximen" fügen erläuternd hinzu: „Das ist der Vorteil der Frauen, wenn sie ihn verstehen" 22 . Fast gleichbedeutend heißt es in den Betrachtungen der Wanderjahre: „Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages." 23 In all diesen Sätzen liegt eine nicht zu überhörende Warnung vor den Gefahren übermäßig vorgreifenden, vorausdisponierenden Tuns. Die „Forderung des Tages" kann natürlich nie und nimmer bedeuten, man solle sich wahllos von den Dingen treiben lassen. Vielmehr liegt darin nur die Mahnung, der natürlichen Kontinuität des Lebens zu vertrauen und den lebendigen Augenblick nicht fortwährend durch unnötigen Vorgriff (Sorge, Lebensangst) zu entkernen 24 . Denn der Zweck des Lebens ist das Leben selbst. Das bedeutet gewiß keinen „Vitalismus" im Sinne des 19. Jahrhunderts, sondern das sichere Gefühl, daß erfülltes Leben, Leben im Vollsinne, jeweils sich selbst übersteigt, d. h. seine höheren Ziele und Werte mit sich führt. Ums Aufbauende und Positive geht es Goethe; Kritik und Polemik bringen selten Frucht. Daher sein Rat, wer recht wirken wolle, solle sich um das Verkehrte gar nicht bekümmern, sondern nur immer das Gute tun. (Mit dieser Maxime schließt eine Betrachtung, über Byrons „ewige Opposition"; zu Eckermann, 24. Februar 1825.) Seine Ethik' ist — das versteht sich beinahe von selbst — durchaus Individual-Ethik. Ein jeder kehre vor seiner Tür Und rein ist jedes Stadtquartier. Ein jeder übe sein Lektion, So wird es gut im Rate stöhn. Wer immer dahin trachtet, den Gehalt seiner eigenen Persönlichkeit zu steigern, sich selbst einsichtiger und besser zu machen, der hat damit auch der Mitwelt bereits Genüge getan. Ohne Zweck, aus dem bloßen Sein heraus wirkt er Gutes. Da die empirisch-sittliche Welt, wie Goethe in den Maximen (170) sagt, größtenteils aus bösem Willen und Neid besteht, so ist ihm sittliches Wirken primär nur als Selbstbildung denkbar, sekundär vielleicht noch im kleinsten, persönlichsten Strahlungskreise. Gegen allgemeines Weltbeglücker139

tum verhält er sich jedenfalls ablehnend, wie man im Gespräch vom 20. Oktober 1830 mit Eckermann nachlesen mag. Goethes Ethik, wie sie vor allem aus den Spätwerken — Divan, Wanderjahre — hervorleuchtet, steht jenseits von „Egoismus" und „Altruismus". Wesentliches Tun ist letztlich Selbstvervollkommnung, damit aber zugleich auch Förderung des Ganzen. In diesem Ethos der Selbstgestaltung erblickt H. A. Korff 25 eine späte Metamorphose des überwältigenden Subjektivismus der Jugendwerke. Das darf bezweifelt werden. Gewiß hat der Mensch, der essentielle Mensch, wie ihn Goethe erblickte, zu guter Letzt die Aufgabe, zu sich selbst zu kommen, das „innere Licht" von den Verdüsterungen des Irdischen frei zu halten; aber das geschieht nicht auf bloßem Umwege über die Welt, sondern in weltoffener Hingabe. Auch der Weise wirkt noch, sei's auch durch die bloße Strahlkraft seines Wesens. Von der Möglichkeit solchen stillen, wortlosen Wirkens ist übrigens bereits der jüngere Goethe durchdrungen, wie sein Gespräch mit Anton Kirchberger vom Oktober 1779 bezeugt26. Im ganzen gesehen ist Goethes Ethos zweischichtig aufgebaut. Im Unterstockwerk waltet das „Sittliche", d. h. der dem Ästhetischen verwandte Sinn für Ganzheit (tao), ein naturhaftes, gleichsam vegetatives Ethos, das keiner bewußten Lenkung bedarf. Darüber lagert sich das „Moralische" als Geltungsanspruch des „unsichtbaren Reichs"; es tritt an den Menschen heran, der nun als mittleres und Mittelwesen darauf angewiesen ist, einen „Friedensversuch" (zwischen Kulturgesetz und Naturgebot) zu stiften. Nicht grundlos erblickt Deubel im Moralischen die Einbruchstelle idealistischer Regungen in das „biozentrische" Weltbild Goethes. Namentlich die Weimarer Jahre vor der Flucht nach Italien sind Höhepunkt eines gewissen starren Rigorismus, eines „steinernen Aushaltens", einer Selbstverleugnung in „eherner Geduld" 27 . Hier spricht das deutsch-klassische Ethos heroischer Entsagung, das ihn auch später noch gelegentlich in die Nähe des „kategorischen Imperativs" führt 28 , obwohl er die erosfeindliche Überstrenge und den dahinter verborgenen Gedanken absoluter, idealer Freiheit zu dämpfen bemüht ist. Gewiß nicht zufällig häufen sich Züge jenes „Rigorismus" in den Weimarer Jahren vor der italienischen Reise, in jener Lebensphase also, wo Goethe das klassische Gesetz selbstverantwortlichen Gestaltertums noch mehr als zu lösende Aufgabe denn als verfügbares, frei spielendes Element empfand. Als schlichte Formel für Goethes „zweischichtiges" Ethos bietet sich also der Satz: naturhafte Sittlichkeit als „tellurischer" Untergrund, überbaut vom höheren, Entsagung fordernden Anruf des „unsichtbaren Reichs". 140

7. KONSTELLATION ( F R E I H E I T U N D SCHICKSAL) Nach der Meinung Franz Kochs1 wäre Goethes Stellung zum Problem der Freiheit „ein Spiegelbild seiner schwankenden Stellung zum Idealismus überhaupt". Koch sieht in Goethes Aussprüchen über Freiheit eine Vielfalt wechselnder Äußerungen, die sich zwischen äußerster Skepsis (z. B. im Brief an Schiller vom 31. Juli 1799) und einem fast uneingeschränkten Bekenntnis zur idealistischen Auffassung bewegen. Die eigentliche Ansicht Goethes läge demzufolge auf einer „mittleren Linie", sie käme etwa zu Wort, wenn er dem Menschen die Möglichkeit zugesteht, „unter allen Bedingungen das Vernünftige zu tun" 2 , wenn er ihn zwischen Notwendigkeit und Zufall stellt, um beide durch Vernunft zu beherrschen3, wenn er das Freiheitsgefühl als steten psychologischen Kontrapunkt des Bewußtseins der Bedingtheit (und umgekehrt) empfindet. Diesen unerbittlichen Gegenlauf der Regungen schildert eine der Maximen: „Es darf sich einer nur für frei erklären, so fühlt er sich den Augenblick als bedingt. Wagt er es, sich für bedingt zu erklären, so fühlt er sich, frei" 4 . Mir scheint, daß man nicht gut daran tut, Goethes Aussagen über Freiheit und Bedingtheit von vornherein mit den Maßstäben des transzendentalen Idealismus zu bewerten. Das ergibt eine verzerrte Perspektive; man läuft dabei Gefahr, das eigentliche Kernstück von Goethes Anschauungen zu verfehlen. Das eigentümliche Losgebundensein, das expansive Selbststands- und Freiheits-Erlebnis des transzendentalen Typus war Goethe im Grunde ganz fremd, ja, man darf getrost sagen: unzugänglich. Es ist die Erlebnismöglichkeit einer — menschheitsgeschichtlich betrachtet — sehr viel späteren Bewußtseinslage, eines grundsätzlich anders gearteten Individualgefühls. Goethe kennt und anerkennt nicht ein schlechthin losgebundenes Ich, ein transzendentales Selbst, das dem Kosmos selbstherrlich entscheidend gegenüberstünde. Wenn er im positiven und höheren Sinne von Freiheit spricht, so klingt stets „religio" oder „pietas" mit. Nur das mache uns frei, so erklärt er Eckermann5, daß wir etwas verehren, das über uns ist. Nicht Selbststand, nicht Akosmismus, sondern Teilhabe am Göttlichen verbürgt „Freiheit". „Betrachten wir uns in jeder Lage des Lebens, so finden wir, daß wir äußerlich bedingt sind, vom ersten Atemzuge bis zum letzten; daß uns aber jedoch die höchste Freiheit übriggeblieben ist, uns innerhalb unsrer selbst dergestalt auszubilden, daß wir uns mit der göttlichen Weltordnung in Einklang setzten"6. Als Willkür-Setzung verstanden wäre Freiheit bloß das „alberne Vermögen", entweder 141

„ans Wahl vom Guten abzuweichen" oder „aus Natur gegen die Natur zu handeln" 7 . Höchste Freiheit wirkt sich nicht in Taten aus, sondern in innerer Selbstformung durch Hingabe an den kosmischen Rhythmus. Wenn wir daran festhalten, daß Goethes zentrales und eigentliches Freiheits-Erlebnis gleichbedeutend ist mit dem Gefühl der Teilhabe am Göttlichen, daß er andererseits Freiheit willkürlichen Tuns als Selbsttäuschung betrachtet, so klärt sich das vermeintliche Chaos widersprüchlicher Aussagen. Fehlerhaft w ä r e es übrigens, Goethes Freiheit des Sichbildens mit Kants freier „intelligibler Ursache unseres Wollens" gleichzusetzen. Wahrscheinlich deuten wir goethenäher, wenn wir diese menschliche Bildungs-Freiheit als eine Variante des allkosmischen Geist-Prinzips der „Steigerung" betrachten. Freiheit wäre demnach kein schlechthin menschliches Vermögen; auch in der vor- und außermenschlichen Natur gäbe es „Freiheitsgrade". Dazu halte man den von Riemer 8 überlieferten Ausspruch, „daß die höhern Organisationen weniger Freiheit hätten, sondern viel bedingter und eingeschränkter wären. Die Vernunft lasse die wenigste Freiheit zu und sei despotisch." In dem Aufsatz „Winckelmann und sein Jahrhundert" (1805) preist Goethe als einen vorzüglich heidnischen Zug seines Helden die Ergebenheit in ein übermächtiges Schicksal. Als christlich-abendländisch, insonderheit aber als nordisch-modern-subjektiv und zugleich als tief fragwürdig empfand er die Vergötterung des F r e i h e i t s g e d a n k e n s , die Hybris des Autonomen. Wie steht Goethe zum Problem „Freiheit und Schicksal"? Freiheit des Willens ist ihm fast ein Ungedanke, eine Fiktion. Wenn wir ihn nennen und hochhalten, meint er, so geschieht es, weil „das Wort Freiheit . . . . so< schön . . . . klingt, daß man es nicht entbehren könnte und wenn es einen I r r t u m bezeichnete" 9 . „Wie eingeschränkt ist der Mensch, bald an Verstand, bald an Kraft, bald an Gewalt, bald an Willen", heißt es in einem Briefe an Charlotte v. Stein 10 . „Man gehorcht den Gesetzen der Natur, auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn m a n gegen sie wirken will." Ist das nicht antik (oder gar vorantik) empfunden, klingt das nicht wie eine Paraphrase jenes uralten Schicksalsgefühls, wonach der widerstrebende Täter unausweichlich das herbeiführt, was er zu vermeiden trachtet? Ganz lapidar heißt es schließlich im Tagebuch 11 : „Das Gesetz macht den Menschen, nicht der Mensch das Gesetz." Ein Altersbrief an Zelter 12 enthält die Gegenformel zu Lessings, des Transzendentalisten, Überzeugung, daß kein Mensch müssen müsse. „Wer will, der muß! und ich fahre fort: wer einsieht,. 142

der will. Und so wären wir wieder im Kreise dahin gelangt, wo wir ausgingen: daß man nämlich aus Überzeugung müssen müsse." „Heiliges Schicksal, du hast mir mein Haus gebaut", heißt es im Tagebuch vom November 177713. Der junge Goethe empfindet das Schicksal als eine geheimnisvolle Macht, die unser Leben mit „Mutterhand" leitet 14 . Fast gleichbedeutend ist es mit dem „lieben Ding", dem Göttlich- (oder Dämonisch-) Unbewußten. . . . Wie seltsam uns ein tiefes Schicksal leitet Und, ach ich fühl's, im Stillen werden wir Zu neuen Szenen vorbereitet. Du hast uns lieb, du gabst uns das Gefühl, Daß ohne dich wir nur vergebens sinnen, Durch Ungeduld und glaubenleer Gewühl Voreilig dir niemals was abgewinnen. (Dem Schicksal, 3. August 1776) Dieser liebende Mutteraspekt des Schicksals entspricht der Fühlweise des jungen lebens- und liebesgläubigen Dichters, des geborgenen Telluriers kat'exochen. Daneben taucht jedoch — etwa seit der Konzeption des Egmont — das Erlebnis des Dämonischen auf und mit ihm andere, dissonantere Schicksalserfahrungen. Der Fünfundzwanzigjährige meditiert darüber, was das „eherne Schicksal" künftig noch ihm und den Seinigen zugedacht habe: „ob ich einen Fels fände darauf eine Burg zu bauen, wohin ich im letzten Notfall mich mit meiner Habe flüchtete". „Ein Gott hat jedem seine Bahn vorgezeichnet" 15 . „Weder Irdischen noch Unterirdischen gelingt es,, das auszurichten, was sich das Schicksal allein vorbehalten" I6 . Egmont 17 sagt: „Es glaubt der Mensch sein Leben zu leiten, sich selbst zu führen und sein Innerstes wird unwiderstehlich nach seinem Schicksal gezogen. Laß uns darüber nicht sinnen . . . " 18 Wie wenig mag der besonnene Wille des Wagenlenkers gegenüber den „Sonnenpferden der Zeit", die „wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, mit unsers Schicksals leichtem Wagen" durchgehen. In dieser berühmten Egmont-Stelle wiegt die Schale des Schicksals tausendfach schwerer als die fast ohnmächtige „Freiheit" des Lenkers, dem nichts bleibt „als mutig gefaßt die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken" 19 . In nüchterner Formel heißt es in „Dichtung und Wahrheit" 20 , unser Wollen sei nur ein Vorausverkündigen dessen, was wir unter allen Umständen tun werden. Wir erfahren unsere Bedingtheit, unsere Schicksalsgebundenheit zunächst instinkthaft, später denkend-besonnen. „Jeder Mensch findet sich von den frühesten Momenten seines Lebens an, erst unbewußt, dann halb, endlich ganz bewußt, immer143-

fort bedingt, begrenzt in seiner Stellung. Weil aber niemand Zweck und Ziel seines Daseins kennt, vielmehr das Geheimnis desselben von höchster Hand verborgen wird, so tastet er nur, greift nur zu, läßt fahren, steht stille, bewegt sich, zaudert und übereilt sich, und auf wie mancherlei Weise denn alle Irrtümer entstehen, die uns verwirren" („Wanderjahre", 3. Buch, 13. Kapitel). In allem Freiheitsringen der Transzendentalisten erblickt Goethe etwas Unfertiges, Halbschlächtiges. „Shakespeares Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt, den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat, in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Willens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt." Gundolf (S. 108,111) irrt gewiß, wenn er meint, mit diesem Satze habe der junge Stürmer und Dränger dem großen Briten seinen eigenen Titanismus untergeschoben. An der Schwelle des Greisenaltersf urteilte Goethe indessen nicht sehr viel anders. In „Shakespeare und kein Ende" (1813) schildert er zunächst das „unausweichliche Sollen" der antiken Schicksalstragödie. Ihrem „despotischen" Zwang stellt er die neuzeitliche Schein-Freiheit der Willensentscheidung entgegen, wie sie bei Shakespeare hervortritt und mit dem „Sollen" sich ins Gleichgewicht zu setzen sucht. In der erstrebten Willensfreiheit, die „unserer Schwachheit zu Hilfe kommt", erblickt Goethe durchaus kein unbedingtes Positivum, keinen wahrhaften Kräftezuwachs des Menschen, sondern eher etwas Scheinhaftes, Illusionäres; modern gesprochen: die „Überkompensation" einer vitalen Schwäche. Der Mensch, der sich für „frei" erklärt, gleicht fast dem Fuchs in der Fabel von den sauren Trauben: „genug, ein Wollen, das über die Kräfte eines Individuums hinausgeht, ist modern". Als Resumé seiner Darlegungen formelt Goethe eine Tafel der Werte, worin die zweite Reihe vorwiegend Ergänzungen zu Schillers Kategorie des „Sentimentalischen" darbietet: Antik Naiv Heidnisch Heldenhaft Real Notwendigkeit Sollen

Modern Sentimental Christlich Romantisch Ideal Freiheit Wollen

Die höchste Kategorie transzendentaler Freiheit, die Freiheit des „Nichtanhangens", wie sie der Buddha lehrt, trat ihm im Abendlande nicht entgegen. Wir wissen nicht, ob er sie als metaphysische GrenzMöglichkeit gebilligt hätte. So viel aber ist klar, daß ihm aller w e l t z u g e w a n d t e , tätig weltdurchdringende Freiheits-Idealis144

mus tief fragwürdig (weil in seinen letzten Beweggründen akosmistisch) erschien. Nur der Entsagende entgeht dem Schicksalszwang, der Verstrickung in die Triebsphäre: Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, Befreit der Mensch sich, der sich überwindet. (Die Geheimnisse) Seltsam: nur dem a l l t ä g l i c h e n Tun des Menschen billigt Goethe eine gewisse Wahlfreiheit zu. Alles Höhere, Wesenhafte geschieht schicksalhaft . „Was geschehen soll, / Es wird geschehen! In ganz gemeinen Dingen / Hängt viel von Wahl und Wollen ab; das Höchste, / Was uns begegnet, kommt wer weiß woher" (Die natürliche Tochter, 4. Aufzug, 1. Auftritt). Vor allem im unwiderstehlichen Strom der Z e i t l i c h k e i t erfährt Goethe das überpersönliche Walten des Schicksals. „Wir meinen die ungeheure Bewegung der Zeit zu leiten", sagt Egmont, „und merken es nicht, daß wir selbst von ihr getragen werden." (Nebenbei bemerkt, ein Satz, den später Bachofen als Maxime seines tief historischen Weltgefühls wieder aufnehmen wird21.) Daher auch Goethes nie abreißender Spott über die Prioritätssucht subalterner Gelehrsamkeit. Im sphärischen Kosmos Goethes gibt es nur einen Urfrevel: das Hinausdringen über die Schranken der eigenen Wesenheit. „FehleT der Individualität als solche gäbe die moralische Weltordnung jedem zu und nach; darüber möge jeder mit sich selbst fertig werden und bestrafe sich auch selbst dafür" (inneres Schickal!), „aber wo man über die Grenzen der Individualität hinausgreife, frevelnd, störend, unwahr, da verhänge die Nemesis früh oder spät angemessene Strafe" (Außen-Schicksal!). (Zum Kanzler v. Müller, 28. März 1819.) In diesen Sätzen liegt Goethes „Karma"-Erlebnis, wenn man es so nennen will, beschlossen. Aber der moralische Ausgleich, den Goethe im zwiefachen Aspekt von Selbstbestrafung (Selbsterziehung) und Nemesis durchaus als weltwirkend anerkennt, enthüllt doch nicht das ganze Walten des Schicksals. Es gibt noch andere, überpersönlich-kosmische Schicksalsmächte dämonischer (ja widervernünftiger) Art. Ein vom unergründlichen Schicksal Gemarterter ist der Harfner im „Wilhelm Meister". Auf ihm lastet der Geschlechterfluch der „himmlischen Mächte". Schuldlos-schuldig leidet er, von Dämonen getrieben; auch Wilhelms humaner Rettungswille vermag sein gräßliches Ende nicht abzuwenden. „Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt. Vergebens, daß Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen; es soll etwas geschehen, was 145

ihm recht, ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns gebärden, wie wir wollen" (Charlotte in den „Wahlverwandtschaften", II. Teil, 14. Kapitel). In einer Anwandlung verzweifelnder Skepsis heißt es in einem Briefe vom Sommer 1808: „Es ist manchmal, als wenn das, was wir Schicksal nennen, gerade an guten und verständigen Menschen seine Tücken ausübte, da es so viele Narren und Bösewichter ganz bequem hinschlendern läßt. Fromme Leute mögen das auslegen, wie sie wollen, und darin eine prüfende Weisheit finden; uns andern kann es n u r verdrießlich und ärgerlich sein" 22 . Ähnlich neun J a h r e später an Zelter: „Man fürchtet jeden Tag, daß eine frische Maske der allgemeinen Schicksals-Hydra vor uns aufsteige" 2 3 . All solche Abgründe und Sinnwidrigkeiten bleiben dem Menschen undurchschaubar. Hier waltet das Dämonische, dessen moirenhafte Unerbittlichkeit das Gespräch vom 11. März 1828 sich faßlich zu machen sucht, wo es heißt, der Mensch — und gerade der außerordentliche Mensch — müsse nach Vollbringen seiner irdischen Sendung „wieder ruiniert werden"; daher stellten ihm die Dämonen ein Bein nach dem andern, bis er zuletzt unterliege (Mozart, Raffael, Byron). S c h i c k s a l s e r g e b e n h e i t und G o t t e r g e b e n h e i t sind Wechselbegriffe f ü r Goethe. Sich unterwerfend und anbetend betätigt der einzelne seine Verwandtschaft mit der Gottheit. Schon in jungen Jahren nimmt Goethe mit zahlreichen Aussprüchen die „Islam"-Bekenntnisse des „Divan" vorweg: „Wer nicht, wie Elieser, mit völliger Resignation in seines Gottes überall einfließende Weisheit, das Schicksal einer ganzen zukünftigen Welt dem Tränken der Kamele überlassen kann, der ist freilich übel dran, dem ist nicht zu helfen" (1770). „Mir gehts nach dem Ratschluß der Götter, den ich in tiefer Anbetung ehre" (an Lavater, 10. März 1770). „Ich muß die Welt lassen wie sie ist, und dem heiligen Sebastian gleich, an meinen Baum gebunden, die Pfeile in den Nerven Gott loben und preisen" (an Sophie Laroche, 15. September 1774). „Ich tanze auf dem Drahte Fatum congenitum genannt mein Leben so weg!" (An Herder, etwa 12. März 1775). „So viel kann ich Sie versichern, daß ich mitten im Glück in einem anhaltenden Entsagen lebe, und täglich bei aller Mühe und Arbeit sehe, daß nicht mein Wille, sondern der Wille einer höhern Macht geschieht, deren Gedanken nicht meine Gedanken sind" (an Plessing, 26. Juli 1782). Mußt nicht widerstehn dem Schicksal, Aber mußt es auch nicht fliehen! Wirst du ihm entgegengehen, Wirds dich freundlich nach sich ziehen. 146

(Ein andres)

In den ersten Weimarer Jahren empfindet Goethe das Schicksalswalten vornehmlich als Innengeschehen; es ist „den Menschen ganz verborgen, sie können nichts davon sehen und hören". Später, in den Jahren 1783 und 1784, erscheint Charlotte v. Stein dem Dichter als der „Grund, worauf sein ganzes Schicksal gestickt ist" 24 , als „Inbegriff seines Schickais" 25 ; zeitweilig wird ihm ihre Liebe zum Maßstab für alles Schicksal26. Aber bald löst er sich von solcher anthropozentrisch verengenden Sicht. Den Dichter des „West-östlichen Divan" berührt am Islam nur die Schicksals- und Gottergebenheit als ein wahlverwandtschaftlicher Klang. Doch schon Jahrzehnte früher, bei der Kampagne in Frankreich, hatte sich ihm, sobald die Gefahr groß ward, der „blindeste Fatalismus" zur Hand gestellt. Wenn Islam Gott ergeben heißt, Im Islam leben und sterben wir alle. (West-östlicher Divan, Buch der Sprüche) Hätte Gott mich anders gewollt, So hätt' er mich anders gebaut.

(Zahme Xenien)

Als entscheidenden Vorzug von Mahomets Religion rühmt er das unbedingte Ergeben in den unergründlichen Willen Gottes. Dieser Fatalismus und mancherlei spirituelle Gehalte geben Raum einer Poesie, „wie sie meinen Jahren ziemt". Goethe konnte noch nicht wissen, was die neuere Religionsgeschichte erkundete; daß der Urheber des Korans ein uraltes Schicksalsgefühl bewahrte, das sich ursprünglich an den Umschwung der G e s t i r n e heftete (dahr). Aber gefühlsmäßig erneuert sich in Goethe dieses uralte Erlebnis der G e s t i r n - A b h ä n g i g k e i t unseres triebhaften Wesens ganz spontan, von innen her. (Das spezifisch Mohammedanische dieses Fatalismus, Härtung nach innen, gepaart mit gespannter, ausbruchshafter Aktivität nach außen, kommt natürlich für Goethes Art nicht in Betracht.) Fünf Arten des Schicksalswaltens nennt Goethe in den Orphischen Urworten: das innere Entfaltungsgesetz, „die angeborene Kraft und Eigenheit", Daimon genannt; das Milieuhaft-Zufällige, die uns umgebende Geselligkeitssphäre, die menschliche Umwelt: Tyche; schicksalsträchtige Leidenschaft: Eros: Außenschicksal, das doch tiefer in uns hineinwirkt, besonders unterm Bild der Ehe gedacht: Anangke; hoffender Vorblick auf Künftiges als lösende und beflügelnde Kraft: Elpis. Die erste wie die vierte Stanze spricht von der Macht der Sterne. Nicht nur das Wesens- und Entfaltungsgesetz der Individualität (der Seinskern) erscheint als 147

innere, magische Widerspiegelung der „Konstellation"; auch Anangke ist sterngesandt. Aber die Sterne, deren Macht hier gefühlt wird, kreisen nicht etwa nur in des M e n s c h e n B r u s t , wie Schiller das empfinden mochte. Konstellation und Konstitution sind für Goethe offenbar zwei Aspekte eines einzigen Ursachverhalts; Schicksal ist entfalteter Charakter, realisiertes Daimonion. Daher es im Brief vom 26. April 1797 an Schiller heißen darf: „Im Trauerspiel kann und soll das Schicksal oder, welches einerlei ist, die entschiedene Natur des Menschen, die ihn blind da- oder dorthin führt, walten und; herrschen." Am folgerichtigsten hat der hochklassische Goethe diesen Schicksalsbegriff in den Wahlverwandtschaften entwickelt. Hier waltet das Schicksal, das der vorauswissende Dichter mit unsäglicher Feinheit Schritt für Schritt sich enthüllen läßt, nicht etwa als ein von oben oder außen Verhängtes, sondern durchaus als mythisches Innengeschehen. Die vielen „Vorzeichen", mit denen es sich ankündigt, sind keine bloßen Omina, sondern symbolträchtige Entfaltungszüge, physiognomisch deutbare Runen. Mancherlei vordeutende Winke im herkömmlichen Sinne enthält dagegen „Dichtung und Wahrheit": der ominöse Kuß der eifersüchtigen Tanzmeisterstochter, der Friederikens Schicksal geheimnisvoll vorankündigt, die Doppelgänger-Vision Goethes beim Abschied von Sesenheim. Beide schwerlich rein poetische Erfindungen, jedenfalls aber kompositorische Verdichtungs- und Knüpfungsmittel, künstlerisch gestaltete Hindeutungen auf die Schicksalhaftigkeit dieser Lebensrückschau, die gewiß nicht zufälligerweise mit den Schlüsselworten über das Dämonische abschließt. Für den Symboldichter, den Physiognomiker, den Deuter des pflanzenhaften Innenwachstums im Menschen, handelt es sich begreiflicherweise zunächst fast immer um die „innere Konstellation". Dennoch ist es nicht bloß dichterische Arabeske, wenn Dichtung und Wahrheit mit der „Nativität" anhebt. Goethes Lieblingswort „Konstellation" hat schon durchaus den Vollgehalt des s i d e r i s c h e n Weltaspekts. Nur ist es allerdings keine errechnete, sondern eine durch und durch erfühlte Gestirn-Abhängigkeit. Als Anti-Mathematikus war er ja auch in astronomischer Hinsicht aufs Schauen angewiesen. Im übrigen interessiert ihn „dieses ungeheure Uhrwerk... nur in der dunkelsten Ahnung" 27 . Die tiefe Gefühlsbeziehung, aus der solche Gestirnverehrung erwächst, bezeugen die geheimnisvollen Verse: „Oben die Sterne / Und unten die Gräber" (Symbolum, Str. 3). Spricht sich hier ein Urerlebnis des Tellurismus aus, jene seltsame Sonderform des kosmischen Rausches, die Klages 28 die magische 148

nennt und als Doppelbeziehung zur Ferne des nächtlichen Firmaments und zum Totenreich schildert? Gestirn-Abhängigkeit war ein Urgedanke der Menschheit, sagt Bachofen, und Klages nennt den Grund: „weil die Fernbilder der Gestirne damals mächtige Dämonen waren und die Dämonen hinwieder ,Geister' einer u r a n f ä n g l i c h e n Vorwelt". Dies wäre, in formelhafter Kürze ausgesprochen, die „pandämonistische" Deutung einer tellurisch gebundenen Gestirnverehrung. Welche Bedeutung der „Stern der Stunde" für gewisse Teile von Goethes Dichtung hat, das läßt sich etwa an der Entstehung des Homunkulus oder an der Apotheose der Klassischen Walpurgisnacht (wo „der Mond im Zenith verharrt") ablesen. Aber auch anderswo, so etwa im „Märchen", im Maskenzug „Amor mit Treue verbunden", in der „Pandora", auch in „Dichtung und Wahrheit" erneuert sich die uralte Vorstellung, daß nur zu besonderer Sternstunde, unter bestimmten günstigen Zeichen eine bedeutende Schöpfung gelinge. Wilhelm Emrich29, an dessen verdienstvolle Untersuchung wir hier anknüpfen, meint, daß das höhere Gesetz der Konstellation „bei Goethe weniger einem Aberglauben als einer dichtungsgenetischen Erfahrung entspringt". Er erläutert das am „Neuen Paris", „jenem merkwürdigen, längst nicht genügend gewürdigten Märchen vom Eintritt eines .Lieblings der Götter' (Genius) in das Reich der Kunst, die allegorisch von vier Mädchen, der ,Erhabenen', der .AnmutigHeiteren', der .Rührenden' und der ,Tänzerin' vertreten wird und die nur Zulaß gewährt, wenn eine bestimmte Konstellation an der Mauer, eine genaue Entsprechung zwischen uralten Nußbäumen, einer steinernen Tafel und einem Brunnen hergestellt ist". Aber dieser Märchen-Astrologie in Kleinformat stehen doch mancherlei andersgeartete Gestaltungen gegenüber, wo man ganz deutlich das Kosmisch-Siderische in seiner Eigenbedeutung verspürt. Makarie, das halb-transzendente Wesen der „Wanderjähre", ist es, „die mit den Planeten ein eigenes Leben lebt". In ihren astronomischen Bemühungen liegt „ein ganz eigenes Verhältnis zu den Gestirnen verborgen". Ihr sind die Verhältnisse unseres Sonnensystems von Anbeginn gründlich eingeboren. Nicht nur trägt sie das ganze System in sich, sondern zugleich bewegt sie sich geistig als integrierender Teil darin. Seit ihrer Kindheit wandelt sie um die Sonne, und zwar um eine Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den äußeren Regionen hinkreisend: Systole des Geisteswesens! Sie ist selbst sternhaft, ihr inneres Selbst von leuchtendem Wesen durchdrungen. Oft erblickt sie den inneren Mikrokosmos, eine innere Sonne, einen inneren Mond, sogar noch unent149

deckte Gestirne (die kleinen Planeten) im Tierkreis. Im Sonnensystem hat sie die Bahn des Mars, ja des Jupiter, bereits überschritten, ist im Begriff, dem Saturn .entgegenzustreben. Goethes Traktat schließt mit der Hoffnung, daß die hohe Entelechie der Seherin am Ende ihre diastaltische Bahn beenden und zur Erde sich wieder zurücksehnen werde. (Wanderjahre, 1. Buch, 10. Kap.; 3. Buch, 15. Kap.) Daß Goethe die, handwerklich betriebene Astrologie als Tagewählerei und vor allem als V o r s c h a u ablehnte, kann nicht wundernehmen, wenn man seine abweisende Einstellung kennt zu allem, was Vorblick ins Künftige heißt. „Wer die Sterne frage, was er tun soll, ist gewiß nicht klar, was zu tun ist." Als kosmische Physiognomik, überhaupt als grundsätzliche Möglichkeit hingegen ließ er die Astrologie durchaus gelten. In den Naturwissenschaftlichen Schriften gibt es allerdings n u r an einer einzigen Stelle, im Abschnitt über entoptische Farben, einen „Paradoxen Seitenblick auf die Astrologie" 30 . Daß er sich als Meteorolog gegen alle außertellurischen Einflüsse ausspricht, hat seine besonderen, späterhin (S. 485 ff.) zu würdigenden Gründe. Sein Grundgefühl blieb allezeit der siderischen Welt offen. Obwohl es Augenblicke gab, wo er zweifelnd und mißmutig (vor der Kampagne) schreiben konnte: „Das Übrige geht und mag gehen, wie es in den Sternen geschrieben oder ni;cht geschrieben ist." Im Brief an Schiller vom 8. Dezember 1798 verteidigt er con amore den alten „Aberglauben", der unserer Natur so nahe liegt, der „so leidlich und läßlich ist wie irgendein Glaube", mit diplomatischer Nonchalance, aber doch sichtlich bemüht, in die Mauer der rationalistischen Voreingenommenheit des Freundes eine Bresche zu legen. E r geht aus von Gestirn-Einflüssen auf Witterung, Vegetation usw. und schließt mit der Erörterung höherer Einwirkungen aufs Sittliche, auf Glück und Unglück. Mit dieser Begründung rät Goethe dem Freunde, im Wallenstein das astrologische Motiv beizubehalten. „Der astrologische Aberglaube", so beginnt sein Plaidoyer, „ruht auf dem dunklen Gefühl eines ungeheuren Weltganzen." Damit schließt sich der Kreis unserer Betrachtungen: das s t e r n v e r h a f t e t e S c h i c k s a l s g e f ü h l ist das A und O des „astrologischen Weltaspekts" bei Goethe. Nur in dem exzeptionell „jenseitig" gerichteten Gespräch mit Falk am Begräbnistag Wielands (dem 25. Januar 1813) gestattet sich Goethe kosmische Hypothesen von großartig ausschweifender Kühnheit. Zunächst postuliert er überraschenderweise eine Symbolbeziehung zwischen dem (erst 1781 entdeckten!) Uranus und dem Menschenhirn. Offenbar erblickt er in Uranus einen ausgezeichneten 150

Gestirn-Vertreter der .„uranischen" Welt schlechthin: der aufblitzenden Logos-Intuition. Knüpfte er diese Symbolbeziehung auf Grund des antiken Mythos oder rein intuitiv? Das ist schwer zu sagen. Ein zweites Aperçu handelt von werdenden und bereits abgestorbenen Gestirnen. Es steht im Einklang mit dem Panvitalismus des bekannten Verses „Das Leben wohnt in jedem Sterne". Goethe verteidigt Diderots Ausspruch vom werdenden Gott. Man habe es dem geistreichen Franzosen sehr verdacht, daß er irgendwo gesagt: wenn Gott noch nicht ist, so wird er vielleicht noch. Gar wohl lassen sich aber Planeten denken, aus welchen die höheren Monaden bereits ihren Abzug genommen oder wo ihnen das Wort noch gar nicht vergönnt ist. „Es gehört eine K o n s t e l l a t i o n dazu . . . " Der dritte und dunkelste dieser Gedankenblitze endlich behandelt die E r d e als ein luziferisches, von der Sonne „abgefallenes" Gestirn. Daher die Verdunkelung, das Trümmerhafte unseres Wissens. Als Vollstrecker von Kollektiv-Schicksalen erkennt Goethe in seinen letzten Jahrzehnten immer deutlicher die g e s e l l s c h a f t l i c h - p o l i t i s c h e n Mächte. Schon in der „Natürlichen Tochter" leuchtet dieses Bewußtsein auf, um sich später noch tiefer zu befestigen. Wenige Tage vor seinem Tode entsinnt sich der Greis des Napoleon-Wortes „Die Politik ist das Schicksal" 31 und versagt ihm seine Zustimmung nicht länger (zu Eckermann, März 1832). Der griechische Schicksalsgedanke, der sich an das Einzelwesen oder an die Sippe heftet, erscheint ihm nunmehr veraltet. Keinesfalls will Goethe sagen, das Schicksalswalten sei nun abgeschafft, durch planmäßiges Handeln überwunden. Im Gegenteil: er diagnostiziert lediglich eine neue „Stilart" des Schicksalswaltens: unbedingte, aufs höchste gesteigerte Macht-Dämonie. Halten wir Rückschau! Machen wir uns vor allem klar, was es bedeutet, daß der Meister der deutschen Klassik, in der Tagseite seines Wirkens auf Meisterung, Zügelung, Lenkung bedacht, sich andererseits als ein elementarer Pathiker bekundet, der beides, das äußere wie das innere Geschick, als ein unaushebliches „Müssen" und „Sollen" empfindet. Diese lebensursprüngliche Haltung entspringt fraglos aus dem Grundgefühl des Einverwobenseins, sie setzt eine S t r u k t u r der Selbstheit voraus, die man als sympathetisches Weltfühlen, als Überwertigkeit des E s gegenüber dem Ich bezeichnen darf. „Ichentspannten Fatalismus" nennt C. A. Bernoulli 32 das innerste Herzstück von Baehofens religiösem Erleben, das ihn zum Abstieg in die Mütterwelt befähigte. Ein Gleiches wird man vom Schicksalsgedanken Goethes sagen dürfen. Auch das Leisten ist ein Müssen, auch das Tun wird zum Geschehen. „Der Mensch und sein 12 D a n c k e r t , Goethe.

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Schicksal muten uns wie zwei Seiten einer höheren Einheit an, und die Notwendigkeit des Geschehens scheint uns der Ausdruck eines Wesens zu sein, an dem wir selber und aus uns selber beteiligt sind." Mit diesen Worten kennzeichnet Klages33 das Grundgefühl p e l a s g i s c h e n Schicksalserlebens. In dieser uralten, ohne Frage voruranischen Bewußtseinsstufe müssen wir den eigentlichen Mutterherd des Schicksalsgedankens suchen. Darauf deutet allein schon die Vielzahl der w e i b l i c h e n Schicksalsmächte, der Moiren, Parzen, Hören, Keren, Erinnyen, Tychen, Fortunae, Fatae sowie die Anangke, Ate, Nemesis, Hybris, Themis, Adrasteia, Eileithyia usw. All diese Mächte bleiben unpersönlich, dämonisch, wie die spinnenden und webenden Erdmütter, mit denen sie aufs engste verwandt sind34. „Die Idee eines strengwaltenden, alles Gewordene dem Untergang zuführenden Schicksals", sagt Bachofen, „schließt sich als notwendige Ergänzung an die Mutteridee an und zeigt die lebengebende Naturpotenz auch im Lichte der großen Moira, die in das Gewebe jedes irdischen Daseins den Todesfaden mit einflicht."35 „Die Urreligion wird erfüllt vom Gefühl des Schicksals."36 Franz Altheim37 hat die r e l i g i o , das „Achthaben" auf den übermächtigen Schritt des Fatum, die unverrückbare Bestimmung, mitgeteilt und gesetzt durch den weisunggebenden Spruch, geradezu als die Grundlage der römischen Herrschaft bezeichnet. Man hat das Bewußtsein, Wegbereiter des Fatums zu sein. Tat und Schicksal, Daimon und Tyche fallen zusammen. Daher zeigt sich „ein fast demütiges Verhalten gegenüber dem eigenen Tun und der eigenen Geschichte, insofern man weiß, daß man selbst nur Werkzeug, die Götter aber die Herren sind". In diesem Fatum-Bewußtsein darf man die altertümliche Vorform von Goethes Schicksalsgefühl erblicken. Schicksalsgefühl und siderischer Weltaspekt sind von jeher eng miteinander verschwistert. Der zumal in den älteren Hochkulturen vorherrschende Universismus, dessen bekannteste Ausprägungen sich in Sumer-Babylon und China finden, dürfte schwerlich etwas anderes darstellen als die verhältnismäßig späte — eben hochkulturelle, genauer gesagt: uranische — Festlegung und Rationalisierung weitaus älteren natursichtigen Gestirn-Erlebens, das ursprünglich der pelasgischen Bewußtseinstufe eigen war. Bachofen38 weist darauf hin, daß die Karer — das kleinasiatische Schwestervolk der Kreter — als erste Sternbeobachter und Astromanten galten. Auch Goethe fühlt gestirnverbunden, ohne sich je näher mit den Rechenkünsten der Horoskopsteller einzulassen. Offenbar erneuert sich in ihm jenes uralte Strukturvermächtnis tellurischen Weltfühlens. Zwei Gene152

rationen später wird Bachofen seine Lehre von den Weltaltern ausdrücklich an den Umschwung der großen Himmelskörper knüpfen. Die irdischen Verhältnisse spiegeln kosmische wider. Dem männlichen Sonnenzeitalter geht eine vom Mond beherrschte Mutterwelt voran. Auch Bachofens Geschichtsphilosophie ist siderisch unterbaut, ohne im mindesten von Horoskopie beeindruckt zu sein. Zum Welterlebnis des pelasgischen Telluriers gehört der gestirnte Nachthimmel: das bezeugt eine Unzahl vorzeitlicher Mythen, die Sagenund Märchenwelt der Naturvölker; das zeigt sich in den siderischen Konzeptionen Goethes, Bachofens und selbst noch (nachklingend) in den Nachtgedichten eines Conrad Ferdinand Meyer.

8. D A S T R A G I S C H E Die Kategorie des Tragischen ist allgemeingültig, überhistorisch schwer zu bestimmen. Bei dem Versuch, ihren Gehalt faßlich zu machen, mischt sich unweigerlich die Optik des Betrachters, sein weltanschauliches Apriori ein, und das ist als ein letzthin Vorgegebenes nicht auszuschalten, kaum auch nur versuchsweise „einzuklammern". Wenn man von der Schicksalstragik der hellenischen Antike absieht, die in das abendländische Bewußtsein als ein fremder, zwar bewunderter aber in seiner letzten Tiefe kaum völlig verstehbarer Gehalt hineinragt, so formt sich die vorwaltende Auffassung des Tragischen, in unserem Kreise doch wohl vor allem auf der Leitlinie des t r a n s z e n d e n t a l e n Weltgefühls. Shakespeare, Schiller, Kleist, Hebbel gestalten die Tragödie aus der Perspektive eines späten Weltalters, worin sich die Endlichkeit als ein „Noch" darstellt, das eigentlich überwunden werden soll. Wer schon hinüberschaut in die Transzendenz, muß das Irdische als ein Vorläufiges, Fragwürdiges, durch und durch dem Tode Verfallenes erblicken. Für den Dramatiker dieses Kreises ist der tragische Weltaspekt recht eigentlich die selbstverständliche Voraussetzung. Diesen Todesaspekt, dieses „Noch" und „Noch nicht" hat Goethe, wo er auf ihn stieß, stets als ein ihm Ungemäßes, Krankhaftes, Zerstörendes, „Leeres" abgelehnt. Als mächtig belebende Kraft ließ zwar der junge Goethe die Dramenwelt Shakespeares dankbar auf sich wirken, aber zur Sinndeutung der Welt und als Vorbild eigenen Schaffens konnte sie nach Überwindung des Sturms und Drangs nicht länger dienlich sein. Daher seine Warnung an die jungen Dichter, den großen Briten als Muster zu wählen. Er spürte die götterlose Natur, das gnadenlose auf sich selbst Gestelltsein des Menschen, den Akosmismus. 12*

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Nicht daß Goethe die Idylle um jeden Preis gesucht und die Augen vor dem unfaßlich Hereinbrechenden des zermalmenden Schicksals verschlossen hätte. Die sogenannte „poetische Gerechtigkeit", so sagt er einmal 1 , sei „eine Absurdität". Das Dasein ist keine glatt aufgehende Rechnung, wie manche Moralisten wähnen. Im Gegenteil: ,.das allein Tragische ist das injustum und praematurum". Napoleon, der selbst da9 Fatum spielte, habe das eingesehen. (Napoleon, selbst Verkörperung der dunklen, irrationalen Macht.) Der echt tragische Fall ist also „ungerecht", seine moralische Kausalität (mindestens in diesem einmaligen Leben) nicht durchschaubar, geschweige denn auflösbar. Er ist außerdem „vorzeitig", das heißt wohl so viel wie unausgereift, inkommensurabel, die Stetigkeit durchkreuzend. Tragisch ist f ü r Goethe das Gefühl des bedingungslosen Ausgeliefertseins, das „ungeheure Sollen", das die alte Tragödie groß und stark machte (Shakespeare und kein Ende, 1813). Ohne ein lebhaftes „pathologisches Interesse" — in Goethes Sprachgebrauch heißt pathologisch so viel wie pathisch, hingegeben, passiv — so schreibt er Schiller (9. Dezember 1797), sei es ihm niemals gelungen, irgendeine tragische Situation zu bearbeiten, und er habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. War das „höchste Pathetische" bei den Alten etwa nur ästhetisches S p i e 1, so fragt er sich und Schiller, da doch „bei uns die Naturwahrheit mitwirken muß, um ein solches Werk hervorzubringen?" Und er schließt mit dem vielsagenden, oft angeführten Bekenntnis: „Ich kenne mich zwar nicht selbst genug, um zu wissen, ob ich eine wahre Tragödie schreiben könnte; ich erschrecke aber bloß vor dem Unternehmen und bin beinahe überzeugt, daß ich mich durch den bloßen Versuch zerstören könnt-;." Franz Koch 2 erklärt die von Goethe angedeutete Möglichkeit der Selbstzerstörung durch den Hinweis auf des Dichters „Zweiseelenhaftigkeit". Goethe ist Götz u n d Weislingen, Antonio u n d Tasso, Beaumarchais u n d Clavigo, Faust u n d Mephistopheles. „Zu einer völligen Verurteilung, Vernichtung des einen Teiles konnte es niemals kommen, da dies Selbstaufgabe, Vernichtung und Verurteilung der eigenen Persönlichkeit bedeutet hätte." An der psychologischen Stichhaltigkeit dieser Erklärung ist kaum zu zweifeln. Nur fragt es sich, ob damit alles gesagt ist. So zimperlich w a r ja Goethe gewiß nicht sich selbst gegenüber, daß er es überhaupt nicht gewagt hätte, Spaltpersönlichkeiten seiner Psyche zum Tode zu verurteilen (Werther, Egmont) oder doch existentiell scheitern zu lassen, (Tasso). Werke schaffen heißt ja am Ende doch das Geschaffene vom Ich ablösen; haftende Identifikation, nicht gelungene Ablösung wäre ein psychotisches, aber kein künstlerisches Dilemma. Wenn wir tiefer blicken 154

wollen, müssen wir also das Tragische nicht n u r als Ich-Problem des Dichters, sondern auch als Werk- und Weltproblem sehen lernen. Entschiedener, bewußter als zur Schillerzeit lehnt Goethe im höchsten Alter den „rein tragischen Fall" ab und bekennt: „Ich bin nicht zum tragischen Dichter geboren, da meine Natur konziliant ist; daher kann der rein tragische Fall mich nicht interessieren, welcher eigentlich von Haus aus unversöhnlich sein muß, und in dieser so äußerst platten Welt kommt mir das Unversöhnliche ganz absurd vor." 3 Diesen wichtigen Selbstzeugnissen entsprechen, wie man weiß und wie oft genug im einzelnen gezeigt worden ist 4 , die zahlreichen „Milderungen" und versöhnlichen Zusätze in späteren Fassungen seiner Dramen (Götz, Faust, Stella usw.). Daher die „opernhaften" Verklärungen: Egmont, Faust, Wahlverwandtschaften. Daher Goethes bekanntes Zögern, den 4. Akt des „Egmont" zu vollenden. In alledem glaubte man die A r t des „Anti-Vulkanisten" zu erkennen, der die Katastrophenmacht, das Diskontinuum im Weltlauf zwar nicht leugnet, nach Möglichkeit wohl aber aus seinem Wirkungskreis verbannt. Man könnte versucht sein zu fragen: ist das nicht ein philiströser Zug in Goethes Dichtertum, ein bequemes die Augen-Verschließen vor dem Weltleid? Dieser reichlich naheliegenden Deutung steht entgegen, daß Goethe in seinem Brief an Zelter gerade das „Unversöhnliche" des rein tragischen Falls in die Nachbarschaft des P l a t t A l l t ä g l i c h e n rückt! Er sah die Dinge also ganz anders als all jene subalternen Kritiker, die ihm seine Verklärungs-Schlüsse als billige Flucht ins Opernhafte ankreiden. Die Hauptgefahr des „rein tragischen Falls" (d. h. zugespitzter Individual-Tragik) erblickte er wohl darin, daß der Dichter hier dem kosmischen Sinn selbst untreu werden, daß e r das „Absurde" verewigen und die unerträgliche Plattheit eines toten, amorphen Weltgetriebes, einer wahren Unterwelt also, darstellen könnte. In bloßer Individual-Tragik sah Goethe mit einem Wort das Gespenst des Zufälligen, die Leugnung des Weltsinns, die Überschätzung der äußeren Umstände (wozu er wohl auch den herkömmlichen Mechanismus von Schuld und Sühne gerechnet haben dürfte). Nur von dieser Voraussetzung her wird das seltsam klingende Wort verständlich: „Was sind Tragödien anders als versifizierte Passionen solcher Leute, die sich aus den äußeren Dingen ich weiß nicht was machen?" 5 Goethes Weltoffenheit, sein Jasagen zum Leben bedeutet nicht, daß er diesen Erdenschauplatz f ü r die beste aller Welten erklärt hätte. Die „Konzilianz" des Dichters ist, wie Emrich 6 sagt, gerade Ausdruck schärfster Ausweglosigkeit im Irdischen und einer „Rettung" im Überirdisch-Visionären. Der tragische Fall ist unauflöslich im 155

handlungsmäßig ethischen Bereich; Fausts, Wilhelms, Werthers „Schuld" findet keine reale „Sühne". Tragische „Schuld" ist Verhängnis, wie es die Verse des Harfners aussprechen. Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr laßt den Armen schuldig werden . . . Sie ist, genauer genommen, nicht Hybris gegenüber fremdem Göttergesetz, sondern entweder Verfehlung wider die innere Maßnorm oder frevelhafter Einbruch in einen fremden Lebenskreis (der „Friederike"Komplex in Faust, Weislingen, Clavigo). Eine Möglichkeit, die dem Menschen als Bewußtseinswesen sich eröffnet 7 . Von der Theorie der ausgesprochenen Individualtragik, die, von Aristoteles angeregt, in Lessings Hamburgischer Dramaturgie ihre zugespitzteste Formel fand, die dann in Schillers Dramen sich praktisch auslebte, bleibt Goethe aus Gründen des elementaren Weltgefühls geschieden. Kaum je haben seine Helden eine einmalige moralische Verfehlung zu büßen; solche Individual-Tragik wäre in Goethes Augen unerträgliche Hervorkehrung der vom Kosmos abgesonderten Individualität. Die unerbittliche, aufs Krasseste zugespitzte Individualtragik des Michael Kohlhaas verwirft er8 als hypochondrisches Geltendmachen eines ganz und gar vereinzelten Falles im Weltlaufe. Tragisch ist vielmehr die Grundbefindlichkeit des Daseins. Das tragische Schicksal des Einzelnen spiegelt oder symbolisiert eine kosmische Tragödie9. Mit dieser Auffassung berührt sich aufs engste Goethes Deutung des Kreuz-Symbols als des kosmischen Opfer- und Leidenszeichens schlechthin. Des Dichters tragische Helden stehen stellvertretend ein für das Leiden der Menschheit; jeder einzelne, seit Götz und Werther, trägt „peccata mundi", so wie Goethe selbst namentlich in Briefen der ersten Weimarer Jahre seine Stellung zum Leidensproblem ausspricht. (Vgl. S. 423 ff.) Goethes zutiefst tragische Gestalten sind zugleich seine stillsten, passivsten: Gretchen und Ottilie, mit Abstand: Eugenie. Tragischer, abgründiger noch als der Marterweg des Täters, des Mannes, ist der Opfergang des Weiblichen, denn wir ahnen in ihm eine Spiegelung jener kosmischen Urtragödie, von der manche gnostischen Systeme wie die Pistis Sophia sprechen. (Die weibliche Weltseele, von der „Kraft mit dem Löwengesicht" in die Finsternis der Materie gelockt.) Wenn Goethe Individual-Tragik ablehnt und stattdessen die lyrischen, bukolischen und opernhaften Elemente der Dramengestaltung fördert, so erscheint er als später Vollender einer im Süden anhebenden, ursprünglich mittelländischen Überlieferungsreihe. Es ist gewiß kein Zufall, daß die eigentliche Tragödie in Italien ausbleibt, daß an ihrer Stelle Oper und Commedia dell' Arte ans Licht treten. Jacob 156

Burckhardt10 sah hier ein ungelöstes; Problem der Geistesgeschichte. Schon 130 Jahre vor der Geburt des Dramma per musica schafft Angelo AmbroginiPoliziano seine dichterische Keimform: das lyrische Drama (Orfeo, 1471) ohne eigentliche (Individual-)Tragik, auf Bild, Klang und Gefühl gestellt; Hirtenwelt und Totenreich als tief bezeichnende Hintergründe. Er ist der legitime geistige Ahnherr eines Rinuccini (1564—1621) und Metastasio (1698—1782). Gewiß ist das Musikdrama eine Schöpfung des italienischen Barock, ein Spätling also. Und doch zugleich unbewußte Rückspiegelung urältester Totenfeierspiele und Wiedergeburtsrituale. In diesem Zusammenhang liegt die Antwort auf Jacob Burckhardts Frage beschlossen.

9. W I E D E R G E B U R T Lebenserneuerung durch „Wiedergeburt" ist ein Lieblingsgedanke Goethes, ein Kernstück seiner Weltschau. In mehreren Bedeutungsschichten entfaltet er sich. Zunächst erscheint das Stirb und Werde als schlichter Naturvorgang: Regeneration, Verjüngung ist eine menschliche wie dichterische, eine physische wie seelische, sittliche wie spirituelle Grunderfahrung Goethes. Es ist die „wiederholte Pubertät" genialer Naturen, von der er zu Eckermann (11. März 1828) spricht. Sie wird durch den Zustrom frischer, unverbrauchter Eindrücke gefördert, durch graues Einerlei verkümmert. „Man muß sich immerfort verändern, erneuern, verjüngen, um nicht zu verstocken", lehrt noch der Achtzigjährige1. Schon der Straßburger Student zieht aus Herders schonungsloser Kritik die Lehre, „daß alsdann radikale Wiedergeburt geschehen muß, wenn es zum Leben eingehen soll" 2 . Auch im Leben der Sprache und Dichtung, im Dasein und Fortwirken der Kunstwerke gibt es Wiedergeburt und Verjüngung. Bloße Überlieferung bedeutet allmähliches Absterben, Verholzen; auch das Kunstwerk bedarf der Lebenserneuerung. „Wenn man das diffuse Altertum wieder quintessenziert, so gibt es alsobald einen herzerquickenden Becher, und wenn man die abgestorbenen Redensarten aus eigener Erfahrungslebendigkeit wieder anfrischt, so geht es wie mit jenem getrockneten Fisch, den die jungen Leute in den Quell der Verjüngung tauchten und als er aufquoll, zappelte und davonschwamm, sich höchlich erfreuten das wahre Wasser gefunden zu haben."3 Seine eigenen Gedichte, die ihm in gelungener Übersetzung entgegentreten, vergleicht Goethe mit einem welkenden Wiesenstrauß, der „im frischen Glas" aufs wundersamste neu auflebt. 157

Und allzusammen so gesund Als stünden sie noch auf Muttergrund. (Ein Gleichnis; auch im Brief an Zelter vom 21. Mai 1828, WA IV, 44, S. 102) Die englische Übersetzung von Schillers Wallenstein tritt „auf einmal wie ein frisch gefirnißtes Bild in allen seinen Teilen wieder" vor ihn, und e r k n ü p f t a n dieses Erlebnis längere Betrachtungen über das Auslaugende einer rasch verarbeitenden (also zivilisatorisch gebildeten) Kunstempfänglichkeit sowie ü b e r das frisch Belebende des f r e m d e n Sprachmediums 4 . Kurz vor A n t r i t t der italienischen Reise kündigt sich ihm die langersehnte Wiedergeburt des Leibes und der Seele vorahnend an. In delphischen Wendungen ergeht sich der Brief vom 14. Juli 1786 an Charlotte: ,,So geht ein Tag nach dem andern hin und Geburt stockt mit der Wiedergeburt. Diese Tage sind noch an Begebenheiten schwanger, der Himmel weiß ob es gute Hoffnungen sind." Wiedergeburt ist das Leitwort, das uns aus den Italienbriefen immer aufs neue entgegenklingt. „Ich w e r d e als ein neuer Mensch zurückk o m m e n " (an die Mutter, November 1786). „Ich bin wirklich u m geboren und erneuert und ausgefüllt." „Gewiß, es w ä r e besser, ich k ä m e gar nicht wieder, w e n n ich nicht wiedergeboren zurückkommen k a n n " (Italienische Reise II, Neapel, 22. März 1787). „Ich habe eine Hauptepoche zurückgelegt, rein geendigt u n d bin fast ein anderer Mensch als vorm J a h r " (August 1787). „Heute ist es jährig, daß ich mich aus Karlsbad entfernte. Welch ein J a h r ! Es w a r der Geburtstag meines Fürsten und ein Geburtstag f ü r mich zu einem neuen Leben. Es w a r der J a h r e s t a g meiner Hegire von Karlsbad" (September 1787). „Ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine w a h r e Wiedergeburt von dem Tage, da ich Rom b e t r a t " (an Herders, Italienische Reise, Rom, 3. Dezember 1786). Schon J a h r e vor der Italienfahrt hatte Goethe, wie sein Faust, ein Lethe- und Erneuerungsbad sich gewünscht, sich aus Thüringens Bergen fortgesehnt, denn hier lassen ihm die Geister der alten Zeiten keine frohe Stunde, die unangenehmen Erinnerungen halten alles befleckt. Sein Klagebrief an Charlotte 5 schließt mit dem bezeichnenden Ausrufe: „Wie gut ist's, daß der Mensch sterbe u m n u r die Eindrücke auszulöschen und gebadet wiederzukommen." In Italien erfüllt sich dieser Wunsch. Erschauernd spürt er, wie viel er hier zunächst verlernen, wie weit er in der Schule des Lebens zurückgehen muß, soll die Erneuerung, die „Wiedergeburt, die ihn von innen heraus umarbeitet", fruchten 6 . Unabsehbare Bedeutung haben die Motive: Lethe — V e r j ü n g u n g 158

— Wiedergeburt in Goethes Dichtung. Wiedergeburt durch den Flammentod höheren Lichts ist die Idee der „Seligen Sehnsucht" (nach Hafis). Hier hat das Erlebnis der Entselbstigung erotischen Hochton; der Schlußgedanke führt zur Erde zurück: Und solang du dies nicht hast, Dieses: Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde.

Neugeburt durch „Eros, der alles begonnen" widerfährt dem Homunkulus7, von dem Eckermann am 9. November 18328 schreibt, daß er zu seiner soliden Entstehung in das Urelement des Meeres übergeht". Wie Hertz ausführlich gezeigt hat, ist Homunkulus keineswegs Retortenschöpfung Wagners, sondern ein Elementardämon, den Mephistos List in die Phiole hineinpraktiziert. Eine echte Monade also, begierig nach Verleiblichung. Wenn Faust den Gifttrank an die Lippen setzt, so sucht er den Tod nicht als Vernichtung, sondern als Pforte zu neuen Geburtsmöglichkeiten: „Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag" (V. 701; vgl. auch die folgenden Verse). Schon in der Eröffnung des Urfaust spricht sich der L e t h e - W u n s c h aus: . . . Von all dem Wissensqualm entladen In deinem Tau gesund mich baden. (V. 43—44)

Das Fragment läßt in der „Hexenküche" das Verjüngungsmotiv drastisch gestaltet wiederaufklingen. Schlaf und Lethe, Wiedergeburt und Lebenserneuerung nach scheinbarem Tode bilden die Voraussetzungen für Fausts Fortbestand nach dem Grauen der Kerkerszene. „Wenn man bedenkt", so erläutert Goethe im Gespräch mit Soret, „welche Greuel beim Schluß des ersten Teils auf Gretchen einstürmten und rückwirkend Fausts ganze Seele erschüttern mußten, so könnt ich mir nicht anders helfen, als den Helden, wie ich's getan, völlig zu paralysieren und als vernichtet zu betrachten, und aus solchem scheinbaren Tode ein neues Leben anzuzünden." Abermalige Verjüngung (rein seelischer Art) widerfährt Faust nach dem HelenaErlebnis, beim Eintritt in einen neuen Seinsbezirk, zu Beginn des vierten Aktes9. Die zu Ende gelebtc Helena-Welt, zuerst noch als „göttergleiches Fraungebild" zur Wolkenvision gestaltet, „löst sich ab" (Vers 10 043), entformt sich. Als „jugenderstes, längstentbehrtes höchstes Gut" (Vers 10059) steigt „Aurorens (Gretchens) Liebe" empor, nicht um sich aufzulösen, sondern als Vorschau und visionärer Zug ins Jenseitige. So bildet diese Szene, die gewiß nicht zufällig auf höchstem Urgebirge, dem alten Symbolgelände der Lebens159

erneuerung, sich abspielt, die Vordeutung, den Auftakt zu Faustens letzter „Umartung" und Verjüngving: Sieh wie er jedem Erdenbande Der alten Hülle sich entrafft Und aus ätherischem Gewände Hervortritt erste Jugendkraft!

(y. 120 gg gi)

Welch fundamentale Bedeutung dieser Motivkreis in Goethes dichterischem Gesamtschaffen einnimmt, wie er schon im „Werther" sich andeutet, dann vor allem im „Wilhelm Meister", gleichfalls auf einer Wende zweier Teile (zu Beginn des 2. Buches), nach der Katastrophe, eine „neue Art von Tätigkeit und Genuß" einleitet: das hat Wilhelm Emrich10 aufs schönste dargelegt. Erinnert sei vor allem auch an Egmonts letzten Schlaf, die „Zuflucht in ein untergründiges, bergendes Sein" bedeutet und zugleich ein Vergessen (Lethe); der Held „bricht sein gewesenes Dasein hinter sich ab, um den .höheren M u t ' . . . zur .beispielhaften Tat' des heroischen Endes zu finden". Goethes Lehre von der W i e d e r e i n k ö r p e r u n g (Palingenesie) gehört dem esoterischen Teil seiner Metaphysik an. Der Glaube an eine künftige Fortdauer darf allerdings nicht „Gegenstand täglicher Betrachtung und gedankenzerstörender Spekulation" werden. Unerträglich sind ihm Kaffeekränzchen-Gespräche über Unsterblichkeit, wie Christoph August Tiedges rationalistisches Lehrgedicht „Urania" (1801) sie vielfach zeitigte. „Die Beschäftigung mit Unsterblichkeitsideen", so schließt er seine kritischen Betrachtungen, „ist für vornehme Stände und besonders für Frauenzimmer, die nichts zu tun haben. Ein tüchtiger Mensch aber, der schon hier etwas Ordentliches zu sein gedenkt und der daher täglich zu streben, zu kämpfen und zu wirken hat, läßt die künftige Welt auf sich beruhen und ist tätig und nützlich in dieser. Ferner sind Unsterblichkeitsgedanken für solche, die in Hinsicht auf Glück hier nicht zum besten weggekommen sind, und ich wollte wetten: wenn der gute Tiedge ein besseres Geschick hätte, so hätte er auch bessere Gedanken"11. Wenn Goethe hier die volle Schale seiner Ironie ausgießt auf all die kleinen Geister, deren Unsterblichkeitswünsche nur der Eigensucht, dem Geltungsbedürfnis oder dem Ressentiment entspringen, so darf man nicht glauben, er hätte damit sein letztes Wort überhaupt zu dieser Frage aller Fragen ausgesprochen. Alle unlauteren und unreifen Frager weist er zurück in ihren diesseitigen Aufgabenkreis. Wer aber hören will, dem verweigert er nicht die Aussage über das, was ihm selbst zur inneren Gewißheit wurde. Noch abseits aller individuellen Unsterblichkeitswünsche liegt eine Sphäre von Natur-Meditationen, die um die U n z e r s t ö r b a r k e i t d e s 160

A l l - L e b e n s kreisen. Es ist die gegenpolare Sicht zu Werthers Todesgefühl, das ihm den Schauplatz unendlichen Lebens „in den Abgrund des ewig offenen Grabes" verwandelt und in der Natur nur die verzehrende Kraft, „nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer" erblicken läßt. (Werther I, 18. August.) Goethes eigentliche und wesentliche Sicht zielt genau entgegengesetzt auf den Tod als den „Kunstgriff" der Natur, „viel Leben zu haben" (Toblers Prosahymnus „Die Natur", 1783). Der Tod wird immer aufs neue vom Leben besiegt; er führt, wie Obenauer 12 sagt, als bloße Funktion des Lebens, als Durchgang und Zeichen einer Metamorphose, immer ins Leben zurück. „Man mag so gern das Leben aus dem Tode betrachten, und zwar nicht von der Nachtseite, sondern von der ewigen Tagseite her, wo der Tod immer vom Leben verschlungen wird." So schreibt Goethe dem befreundeten Forscher Nees v. Esenbeck13, von der Beobachtung einer biologischen Sonderfrage (Insekten-„Verstäubung") ausgehend. Er sah hierin die „Aura", den „zusammenhängenden Nimbus", der sich um den entseelten Körper bildet, die energische „Befreiung vom lästigen Stoff". Über die doppelte (stoffliche und geistige) Unsterblichkeit, die sich bei Euphorions Tod im Zurückbleiben von „Kleid, Mantel und Lyra" nach dem kometenhaften Aufflammen und der Himmelfahrt der Aureole ausdrückt, vergleiche man Emrichs14 ausführliche Darlegungen. Unsterblichkeit der ewig sich erneuernden Natur ist das Grundthema des bacchantisch sich auflösenden Schlusses des Helena-Aktes. Mit solchen Betrachtungen nähert sich Goethe dem antiken Gefühlskreis des D i o n y s i s c h e n . Grabinschriften deutet er sich nicht als Memento mori, sondern als Memento vivere: „Eine Grabschrift ist ja eigentlich eine Lebensschrift, indem sie die Grabstätte durch die Erinnerung an das Leben beleben soll. Dient sie also als Gegengewicht des Todes, warum sollte sie nicht auch dem Lebendigen ein Übergewicht geben?" (An die Prinzessin v. Solms, 1812.) Sarkophagen und Urnen verzierte der Heide mit Leben: Faunen tanzen umher, mit der Bacchantinnen Chor Machen sie bunte Reihe; der ziegengefüßete Pausback Zwingt den heiseren Ton wild aus dem schmetternden Horn. Zimbeln, Trommeln erklingen; wir sehen und hören den Marmor. Flatternde Vögel! wie schmeckt herrlich dem Schnabel die Frucht! Euch verscheuchet kein Lärm, noch weniger scheucht er den Amor, Der in dem bunten Gewühl erst sich der Fackel erfreut. So überwältigt Fülle den Tod; und die Asche da drinnen Scheint, im stillen Bezirk, noch sich des Lebens zu freuen. So umgebe denn spät den Sarkophagen des Dichters Diese Rolle, von ihm reichlich mit Leben geschmückt. 161

Dionysische und orphische Vorstellungen b e r ü h r t Goethe in seiner Deutung des „Grabs der Tänzerin" bei Cumä. Die drei F u n e r ä r bilder betrachtet er als Zyklus, als Trilogie auf das Thema: Diesseits — T a r t a r u s — Elysium 15 . In der hochbewunderten GestaltenTrias sieht er „alles enthalten, was der Mensch über seine Gegenwart u n d Z u k u n f t wissen, fühlen, w ä h n e n und glauben kann". Nicht als Ausleger alter Sepulkralkunst, sondern aus glühendem Eigen-Erlebnis schildert der Vierundzwanzigj ährige den Tod als dionysische Erfüllung, als höchsten Augenblick der Wiedereinkehr zum Kosmos. Der Prometheus von 1773 spricht vom Sterben wie ein Myste der Eleusinien: Tod ist vollendender Gamos. Nie w a r Goethe dem Mysteriengedanken des Pelasgertums n ä h e r als hier 16 . Das postmortale Dasein erscheint hier n u r als ein kurzes „Lethe"-Zwischenspiel, dem sogleich die v e r j ü n g e n d e E r n e u e r u n g des Individuallebens folgt: Wenn aus dem innerst tiefsten Grunde Du ganz erschüttert alles fühlst, Was Freud und Schmerzen jemals dir ergossen, Im Sturm dein Herz erschwillt, In Tränen sich erleichtern will Und seine Glut vermehrt, Und alles klingt an dir und bebt und zittert, Und all die Sinne dir vergehn, Und du dir zu vergehen scheinst Und sinkst, Und alles um dich her versinkt in Nacht, Und du, in innereigenem Gefühl, Umfassest eine Welt: Dann stirbt der Mensch. Und nach dem Tod? Wenn alles — Begier und Freud und Schmerz — Im stürmenden Genuß sich aufgelöst, Dann sich erquickt in Wonneschlaf — Dann lebst du auf, aufs jüngste wieder auf, Von neuem zu fürchten, zu hoffen, zu begehren! I m Kreislauf des Wassers zwischen Himmel und E r d e versinnlicht der „Gesang der Geister ü b e r den Wassern" (1779) den unaufhörlichen Wechsel zweier Daseinsstufen: Immanenz und Transzendenz. Hier klingt schon der Gedanke des polaren Wechselspiels zwischen Verselbstung und Entselbstung leise auf, der dann in Versen aus späterer Zeit zum beherrschenden Thema wird; das Erdleben erscheint als Systole, das jenseitige Dasein als Diastole der Monas. 162

Und so kommt wieder zur Erde herab, Dem die Erde den Ursprung gab. Gleicherweise sind auch wir gezüchtigt: Einmal gefestet, einmal verflüchtigt. Man weiß, wie Goethe seinen Bund mit Charlotte v. Stein als Erneuerung einer alten Lebensgemeinschaft deutete. „Ich kann mir die Bedeutsamkeit, die Macht, die diese Frau über mich hat, anders nicht erklären als durch die Seelenwanderung", schreibt er (April 1776?) an Wieland 17 . „Ja, wir waren einst Mann und Weib — Nun wissen wir von uns — verhüllt, in Geisterduft. — Ich habe keinen Namen f ü r uns — die Vergangenheit — die Zukunft — das All." Und in Briefen der J a h r e 1779 und 1781 an die Freundin heißt es: „Wenn ich wieder auf die Erde komme will ich die Götter bitten, daß ich nur einmal liebe, und wenn Sie nicht so feind dieser Welt wären, sollt ich um Sie bitten zu dieser lieben Gefährtin" 1 8 . Fast zum Evidenz-Erlebnis des déjà vu steigert sich der Gefühlsglaube an die Wiederverkörperung auf i t a l i e n i s c h e m B o d e n . Auf der Fahrt von Bozen nach Trient notiert er sich: „Es ist mir als wenn ich hier geboren und erzogen w ä r e und nun von einer Grönlandsfahrt von einem Walfischfang zurückkäme" 1 9 . In Venedig ist ihm zumute, als wenn er die Sachen nicht zum ersten Male sähe, sondern als ob er sie wiedersähe 20 . In Terni bemerkt er: „Die Römische Geschichte wird mir als wenn ich dabei gewesen wäre. Wie will ich sie studieren wenn ich zurückkomme, da ich nun die Städte und Berge und Täler kenne. Unendlich interessant aber werden mir die alten Etrurier" 2 1 . Einen Kommentar zu diesen Sätzen liefert ein Gespräch Goethes mit dem Kunstsammler Boisserée vom J a h r e 1815. Der Dichter erklärt seine Vorliebe f ü r das Römische aus uralter „Wahlverwandtschaft". Er versichert, er habe gewiß schon einmal unter Hadrian gelebt. Alles Römische ziehe ihn unwillkürlich an. Dieser große Verstand, diese Ordnung in allen Dingen sage ihm zu, das griechische Wesen nicht so22. Die Liebe und Neigung dafür habe er sich nur angeeignet. Boisserée sei auch schon einmal dagewesen, im 15. Jahrhundert 2 3 . Im Scherz erörtern Herder und Goethe bereits 1784 die Möglichkeit einer römischen Präexistenz. „Wir haben indeß neulich ausgemacht", schreibt Herder an Knebel 24 , „daß er (Goethe), alten Münzen nach, einmal in Rom dictator perpetuus und imperator unter dem Julius Caesar gewesen, zur Strafe aber nach beinahe achtzehnhundert Jahren zum Geheimrat in Weimar avanciert und promoviert sei". Das Unzerstörliche der Individualität, das was im Tode die Leiblichkeit überdauert, sucht Goethe sich als ein L i c h t a r t i g e s 163

faßlich zu machen. In der Faust-Sorge-Szene wird sich der erblindete Faust des beharrenden „inneren Lichtes" gewiß (V. 11500). „Licht, wie es mit der Finsternis die Farbe wirkt, ist ein schönes Symbol der Seele, welche mit der Materie den Körper bildend b e l e b t . So wie der Purpurglanz der Abendwolke schwindet und das Grau des Stoffes zurückbleibt, so ist das Sterben des Menschen. Es ist ein Entweichen, ein Erblassen des Seelenlichtes, das aus dem Stoffe weicht. Daher sehe ich keinen Toten. Alle meine gestorbenen Freunde sind mir so verblichen und verschwunden, und das Scheinbild von ihnen bleibt mir noch im Auge" (zu Riemer, 3. Dezember 1808). Leuchtende Krone, Strahlenkranz, Nimbus, Aura sind bekanntlich uralte Insignien der Teletä, der erreichten Vollkommenheit25. Goethe erneuert diese alten Sinnbilder, die übrigens auch in parapsychologischen Beobachtungen interessante Gegenstücke finden26. Ein anderes, abermals lichthaftes Symbol für dieses Wesen von „ganz unzerstörbarer Natur", fortwirkend „von Ewigkeit zu Ewigkeit", ist die innere S o n n e , von der Makarie, die Astral-Seherin, zu berichten weiß. „Es ist der Sonne ähnlich", sagt Goethe zu Eckermann (2. Mai 1824), „die bloß unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet". „Die Sonne sank, und Hand in Hand verpflichtet Begrüßten wir den letzten Segensblick, Und Auge sprach, ins Auge klar gerichtet: Von Osten, hoffe nur, sie kommt zurück." (Der Bräutigam, Strophe 3)

Die unzerstörbare Wesensmitte, den schöpferischen Kern jeder Individualität nennt Goethe (im Anschluß an Giordano Bruno und Leibniz) die M o n a d e , auch wohl (nach Aristoteles) E n t e l e c h i e oder entelechische Monade. Ihr gelten die berühmten Verse: Kein Wesen kann zu nichts zerfallen! Das Ewge regt sich fort in allen, Am Sein erhalte dich beglückt! (Vermächtnis)

Goethe sagt lieber „Monade" als „Seele", genau wie Giordano Bruno, weil das Wort „Seele" mit dem entzweienden, spaltenden Vorstellungserbe der Kirchenlehre belastet ist, wogegen „Monade" oder „Entelechie" die innere Einheit und Weltständigkeit des Wesenskerns klar zum Ausdruck bringt. „Jede Entelechie ist ein Stück Ewigkeit"27. „Der Begriff vom Entstehen ist uns ganz und gar versagt"28. Geburt und Tod sind nach Goethes naturphilo164

sophischer Auslegung geradezu selbständige Akte der Zentralmonas. „Der Moment des Todes, der eben darum auch sehr gut eine Auflösung heißt, ist eben der, wo die regierende Hauptmonas alle ihre bisherigen Untergebenen ihres treuen Dienstes entläßt. Wie das Entstehen, so betrachte ich auch das Vergehen als einen selbständigen Akt dieser Hauptmonas"29. Wenn Goethe, nachdem er von der „Hartnäckigkeit des Individuums und daß der Mensch abschüttelt, was ihm nicht gemäß ist" gesprochen, Eckermann darauf hinweist, daß L e i b n i z „ähnliche Gedanken über solche selbständige Wesen gehabt" habe50, so darf man daraus nicht folgern, Goethe sei Leibnizianer gewesen. Wohl mag ihm der Ausdruck „Monade", den er bereits als junger Student in einem Briefe an die Schwester31 scherzend gebraucht, zunächst durch die Wolffsche Popular-Auslegung des Leibnizschen Systems zugetragen worden sein; aber nichts deutet darauf hin, daß er sich je mit den Besonderheiten der Leibnizschen Monadologie einverstanden erklärt hätte. Eher könnte man vermuten, daß er die Monadenlehre des Giordano Bruno, die ihm vermutlich in Straßburg erstmalig entgegentrat, als wahlverwandtschaftlich empfunden hätte. Auch Schelling hatte später an Bruno angeknüpft. Otto Harnack32 nimmt an, Goethe sei in seiner mittleren Zeit durch Schelling aufs neue, und zwar in durchaus veränderter Auffassung auf den Monadenbegriff hingelenkt worden. Durchaus goethisch ist jedoch die Gleichsetzung der Monas mit der Aristotelischen Entelechie33. Nach der Lehre des deutschen Barockphilosophen waren die Monaden individuelle Kraftpunkte von transzendenter Beschaffenheit. Sie leben als in sich geschlossene Wesen „ohne Fenster", in äußerster Vereinsamung. Jede erzeugt ganz in sich gekehrt aus sich selbst ihre Individualwelt, die bloß aus dumpferen oder klareren „Vorstellungen" besteht. Keine Monade kann auf die andere wirken. Daß trotzdem die Vorstellungsabläufe der einzelnen Monaden zusammenstimmen, ist ein Wunder der göttlichen Synchronisation, der „prästabilierten Harmonie". Leibnizens fensterlose Monaden sind Ausdruck seines transzendentalen Akosmismus. Er spricht von einem Gefühl, das ihm „unausweichlich" erschien, und das besagt, daß der Seele „alles aus ihrem eigenen Grunde entspringt, durch eine vollkommene Spontaneität hinsichtlich ihrer selbst und doch mit einer vollkommenen Übereinstimmung mit den Dingen außerhalb" 34 . Von diesem Transzendental-Monadismus Leibnizens unterscheidet sich Goethes Monadologie durchaus. Gemeinsam ist beiden nur der Glaube an die Unzerstörbarkeit der schöpferischen Individualität. 165

„Individuum est ineffabile", aus diesem Wort seines Meisters Spinoza leite er eine Welt ab, schreibt Goethe 1780 an Lavater 35 . Aber Goethes Monade ist nicht fensterlos, kein in sich gekehrtes Vorstellungswesen 36 , sondern weltwirkend, mit tausend Fühlfäden dem Kosmos einverwoben, von nie rastender Bewegung erfüllt, von Geburt zu Geburt forteilend. Leibniz hatte den Tod als eine Zurückziehung der Seele aus dem weiteren Leibe in den engeren, als „Involution", begriffen. Innerstes Wesen der Monas ist nach Goethes Auffassung rastlose Tätigkeit; wird ihr diese rotierende Bewegung um sich selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt, zur andern Natur, so kann es ihr in Ewigkeit nicht an Beschäftigung fehlen 37 . Die Unsterblichkeitsbeweise der Philosophen beiseite schiebend, erklärt Goethe (zu Eckermann, 1. Februar 1829), die Überzeugung unserer Fortdauer entspringe ihm aus dem Begriff der Tätigkeit; „denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag". Sein inneres Evidenzerlebnis ist allein das Kontinuum unablässigen Wirkens, die „Folge", das „Beständige der irdischen Tage", das uns ewigen Bestand verbürgt, wie es im Zwischengesang zur Logenfeier vom 3. September 1825 heißt. (In Fechners „Tatenleib" wird Goethes Konzeption später wieder aufklingen.) Mit der ewigen Seligkeit, sagt er ein anderes Mal, wüßte er nichts anzufangen, wenn sie ihm nicht neue Aufgaben und Schwierigkeiten zu besiegen böte. „Aber dafür ist wohl gesorgt, wir dürfen nur die Planeten und Sonnen anblicken, da wird es auch Nüsse genug zu knacken geben." 38 Mit Leibniz stimmt Goethe scheinbar überein in der Annahme, daß die Monaden r a n g v e r s c h i e d e n sind. Aber diese Stufenordnung, die bei Leibniz n u r durch die größere oder mindere Deutlichkeit und Klarheit der „Perzeptionen" gegeben ist, nimmt in Goethes Kosmos ganz andere, wirkungsgewaltige Form an. Zwar ist jede, auch die niedrigste Monade zunächst ein in sich geschlossener Wirkungskreis. „Das geringste Produkt der Natur hat den Kreis seiner Vollkommenheit in sich"; innerhalb eines kleinen Zirkels ist eine ganze w a h r e Existenz beschlossen 39 . Aber das schließt nicht aus, daß sich Verhältnisse der M a c h t u n d S u b o r d i n a t i o n , des Ü b e r g r e i f e n s u n d Ü b e r g r i f f e n w e r d e n s herausbilden. Indem die Monaden in die Umgebung, die Außenwelt eingreifen, gewahren sie sich als wirkend und begrenzt zugleich. Nicht isolierter Innenschau anheimgegeben wie die Leibnizischen K r a f t punkte sind Goethes Monaden, sondern weltoffen, das All spiegelnd 166

(wie die „Minima" des Giordano Bruno), vor allem aber auf einander einwirkend, ja einander beherrschend oder Dienste leistend. Wenn Goethe und Schelling die Monaden-Lehre Brunos wiederaufnehmen, so bedurften sie der Vermittlung Leibnizens nicht, eine eigentlich Leibnizische Vorstellung verbindet sich mit dem Ausdruck „Monade" nicht, sagt Franz Koch40. Goethes Monaden-Bild ist augenscheinlich aus unmittelbarer A n s c h a u u n g d e r o r g a n i s c h e n W e l t geschöpft. In jedem Lebendigen erblickt er Einheit und Mehrheit zugleich: „selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von lebendigen Wesen"41. (Vgl. S. 295.) Es gibt schwache und untergeordnete, aber auch starke und gewaltige Monaden, deren innere Intention so mächtig ist, daß sie alles, was ihnen naht, in ihren Kreis reißen, um es sich zu ihrer Verleiblichung anzuverwandeln: Pflanzen, Tiere, Sterne. Im Augenblick der Auflösung ihrer Leiblichkeit scheiden sie aus den alten Verhältnissen, um auf der Stelle wieder neue einzugehen, denn sie sind von Natur unverwüstlich, an eine Vernichtung ist gar nicht zu denken. „Jede Monade geht, wo sie hingehört, ins Wasser, in die Luft, in die Erde, ins Feuer, in die Sterne; ja der geheime Zug, der sie dahin führt, enthält sogleich das Geheimnis ihrer zukünftigen Bestimmung" (Daimon!). Die Wiedergeburt vollzieht sich nach Verdienst und Rang. Darum ruft Panthalis nach Helenens Abscheiden den Mägden zu: Wer keinen Namen sich erwarb noch Edles will, Gehört den Elementen an; so fahret hin! Mit meiner Königin zu sein, verlangt mich heiß, Nicht nur Verdienst, auch Treue wahrt uns die Person. (Faust II, 3. Akt, V. 9981—84)

Den gleichen Gedanken spricht Goethe bereits 1781 in einem Brief an Knebel aus: „Ein Artikel meines Glaubens ist es, daß wir durch Standhaftigkeit und Treue in dem gegenwärtigen Zustande ganz allein der höheren Stufe eines folgenden wert und sie zu betreten fähig werden, es sei nun hier zeitlich oder dort ewig"42. Im Gespräch mit Eckermann (am 1. September 1829) klingt dasselbe Motiv an: „Ich zweifle nicht an unserer Fortdauer, denn die Natur kann die Entelechie nicht entbehren; aber wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als eine große Entelechie zu manifestieren muß man auch eine sein." Das „Monadenpack", von dem im großen Gespräch mit Falk die Rede ist, mag wohl den leiblichen Tod überleben, aber „Unsterblichkeit" scheint ihm nicht zugebilligt zu sein. Über diesen Punkt, den esoterischsten der ganzen Lehre, unterrichtet uns C. G. Carus in seinen Lebenserinnerungen: 13 D a n c k e r t , Goethe.

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„Kanzler Müller, der langjährige Freund Goethes, traf [bald nach Goethes Tod] hier auf einige Tage ein; einmal kamen wir hierbei auf Goethes Ansichten über Dämonologie, und zwar im reinsten Sinne, wo Dämon (wie in den Orphischen Urworten) mit Idee — Urbild — Gottesgedanken — zusammenfällt. Da wurde denn erzählt, wie e r sich einmal spät abends darüber ausgesprochen, wie es denn doch so gar verschiedene Dämonen gebe, darunter einige höheren Ranges: Urgeister, welchen die kleinen Dämonen manches in den Weg zu legen suchten, die aber trotz allem doch immer wieder durchdrängen und gewissermaßen schon in ihrem Menschendasein sich von unverwüstlicher Natur zeigten. Dann, wie es gar wohl in der Macht des den göttlichen Funken in sich bewahrenden und erhaltenden Dämons stehe zur eigentlichen individuellen Unsterblichkeit sich hindurchzuarbeiten, während der getrübte und schwache allmählich wie ein Licht verlösche — und dergleichen tiefsinnige Betrachtungen mehr. Endlich aber war er in tiefster Nacht vom Tisch aufgestanden, sagend: ,Es ist unrecht, daß ich mich über diese Dinge hier so ausspreche, darüber spreche ich eigentlich n u r mit Gott!'"« In der Mitte des großen Monaden-Gesprächs w i r f t Falk die Frage nach der Fortdauer des Individualbewußtseins auf: ob Goethe wohl glaube, daß die Übergänge aus diesen Zuständen, f ü r die Monaden selbst im Bewußtsein verbunden wären? Goethes vorsichtig zurückhaltende Erwiderung deutet darauf hin, daß er verschiedene Grade und Arten der Bewußtseinsfortdauer annimmt, die der kosmischen Rangstufe der Monaden entsprechen. Die irdische Existenz des Menschen erscheint ihm (früher wie heute) im ganzen zu unbedeutend und zu mittelmäßig, um in den Augen der Natur eine zweite Erinnerung in extenso zu rechtfertigen. Hier mag ein allgemeiner historischer Überblick, eine summarisch zusammenfassende Auswahl einiger großer historischer Hauptpunkte genügen. Höhere Geister, Weltmonaden werden besser gestellt sein. „Die Intention der Weltmonade k a n n und wird manches aus dem dunkeln Schöße ihrer Erinnerung hervorbringen, das wie Weissagung aussieht und doch im Grunde nur dunkle Erinnerung eines abgelaufenen Zustandes, folglich Gedächtnis ist; völlig wie das menschliche Genie die Gesetztafeln über die Entstehung des Weltalls entdeckte, nicht durch trockene Anstrengung, sondern durch einen ins Dunkel fallenden Blitz der Erinnerung, weil es bei deren Abfassung selbst zugegen war. Es würde vermessen sein, solchen Aufblitzen im Gedächtnis höhrer Geister ein Ziel zu setzen, oder den Grad, in welchem sich diese Erleuchtung halten müßte, zu bestimmen. So im allgemeinen 168

und historisch gefaßt, finde ich in der Fortdauer von Persönlichkeit einer Weltmonas durchaus nichts Undenkbares." Die Metempsychose sieht Goethe nicht als tellurisch begrenztes, sondern als kosmisches Phänomen. Das erste Gespräch der Natur mit Gott (= der Mensch) wird sich auf anderen Planeten „höher, tiefer und verständiger" fortsetzen. Die Bestimmung der Monaden ist es, „daß sie ewig auch ihrerseits an den Freuden der Götter als selig mitschaffende Kräfte teilnehmen. Gerufen oder ungerufen, sie kommen von selbst auf allen Wegen, von allen Bergen, aus allen Meeren, von allen Sternen; wer mag sie aufhalten? Ich bin gewiß, wie Sie mich hier sehen, schon tausendmal dagewesen und hoffe wohl noch tausendmal wiederzukommen."44 War der Gedanke der Wiedergeburt für Goethe eine angebildete Lehre? Nach Burdach45 hätte Goethe Wort und Begriff dem Sprachgut der mystischen Überlieferung entnommen. Sogar über das ganz einmalige Individualerlebnis, das hier auslösend wirkte, glaubt Burdach Auskunft geben zu können. „Der pietistische Hausarzt der Familie, der Freund Cordatens hatte Goethe von schwerer Krankheit hergestellt durch die mystische Universalmedizin. Das hatte den Genesenen, seine Mutter und Susanne im Glauben an die Kraft jener geheimen Künste bestärkt. Er hatte seine r e l i g i ö s e und k ö r p e r l i c h e W i e d e r g e b u r t erlebt. Fortan blieb sein Leben lang bis zu seinem Tode der Begriff der W i e d e r - g e b u r t , dieses uralte Gut der Weltmystik, ihm ein fruchtbarer Besitz, die Quelle seiner späteren Lehre von der Metamorphose." Soweit Burdach46. Kann diese Ableitung aus dem Biographischen, aus Individualerlebnis völlig befriedigen? Gewiß nicht. Der Wiedergeburtsgedanke gehört ja keineswegs zum zufälligen Inventar, zum bloßen Bildungsgut in Goethes Weltbild: er ist vielmehr ein Kern- und Herzgedanke, unabtrennbar vom elementaren Weltgefühl des „Sphärikers". Dergleichen erklärt sich schwerlich durch bloße Rezeption. Niemandem sei es verwehrt, außerdem noch mit B i l d u n g s E i n f l ü s s e n zu rechnen. Freilich wird es schwer halten, ihre Reichweite schärfer abzugrenzen. Das bei Goethe verschiedentlich wiederkehrende Bild der menschlichen Seele als Stern (Wiedergeburt als Sternmonas) verweist nach Grete Schaeder47 auf Piatons Timaios, „in dem wieder orphische Vorstellungen nachwirken". In der Orphik aber1 leben bekanntlich sehr viel ältere Gedanken jener t e l l u r i s c h e n W e l t fort, deren Astralmythologie geradezu gleichbedeutend war mit einem Reich hoher Ahnenseelen, wie wir seit Bachofen und Klages wissen. Davon hatte Goethe gewiß keine Kunde durch Überlieferung, und doch „wußte" er darum, wie die 13'

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geheimnisvollen Verse des „Symbolum" verraten. Im Monadengespräch mit Falk vergleicht er Wielands Monas einem Kometen, ein feinspüriger Hinweis auf das transzendentale Element im Wesen des verstorbenen Dichterfreundes48, das die Möglichkeit eines SichVerlierens in ungemessene Raumestiefen in sich trägt. Auch (Byron-) Euphorion entschwindet kometenhaft; Makarie ist eine KometenMonade. Nur für seinen Kunstfreund Heinrich Meyer erhoffte Goethe seltsamerweise überhaupt keine „Wiederkunft hiesigen Orts", denn er habe der Natur zu tief in die Karten geblickt und sich nicht, wie wir alle, von der Welt doch irgend etwas und von irgend einer Seite weismachen lassen49. Nicht nur Plato, so hat man gesagt, auch P 1 o t i n und mit ihm fast der gesamte Hellenismus 50 versetzt die Seelen der Reinen und der Heroen auf die Gestirne. Plotin lehrt auch die Wiedergeburt nach moralischem Verdienst, wie zuvor schon die Pythagoräer und wiederum früher die Inder. Franz Koch51 leitet daher Goethes Wiederkunftslehre geradenwegs von Plotin her. Bei dieser Assimilation sei ihm allerdings die Aufklärung, gerade unter Berufung auf Platonische Gedanken von der Präexistenz der Seele, vorangegangen. Wäre es aber nicht ebensogut denkbar, daß Goethe die Lehre vom Sternwesen hoher Monaden durch die magisch-theosophische Tradition empfangen hätte? Dort war ja diese uralte Astral-Theorie nie ganz in Vergessenheit geraten. Bei so breit fließenden und weit verzweigten Überlieferungsströmen wird sich die Frage der speziellen Anregung selten eindeutig entscheiden lassen. Wir lassen sie auf sich beruhen und wenden uns zurück zum allgemeinen Problemkreis der Wiederkunftslehre. Es ist keine Frage: zugleich mit der Säkularisierung des Kirchenchristentums durch die A u f k l ä r u n g drang der alte Gedanke der Metempsychose als eine erneuerte Denkmöglichkeit vor. Zur Hypothese der Wiedereinkörperung bekannten sich u. a. Hume, Shaftesbury, der jüngere van Helmont, Voltaire, Bonnet, Lessing, Mendelssohn, Lichtenberg, Hippel, Mylius, Wieland, Herder, Lavater, der junge Schiller, Goethes Schwager Joh. Georg Schlosser52. Die stärksten Anregungen gingen von Charles de Bonnets Schrift „La palingénésie philosophique ou idées sur l'état passé et sur l'état futur des êtres vivants" (1769) aus. Sie wirkt weiter auf Lessing (Erziehung des Menschengeschlechts, 1780), Herder (Gespräche über Seelenwanderung, 1781 entstanden, 1782 veröffentlicht), Lavater (Aussichten in die Ewigkeit, von Goethe 1772 in den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen" besprochen) und Joh. Georg Schlosser (Über die Seelenwanderung, Basel 1781/82). Selbstverständlich war Goethe mit 170

Bonnets Schrift vertraut; seine Lavater-Rezension zeigt es. Schon in Straßburg waren Herders Lieblingsworte: Palingenesie, umpalingenesieren, Wiedergeburt 53 . Gegen Mendelssohns „Phädon" hatte Herder gesagt, eine völlig entkörperte Seele könne er sich nicht vorstellen, immer noch bleibe „ein feines sinnliches Vehiculum u m all das geistige Phantome". Am 28. Dezember 178154 bemerkt Goethe über Herders Seelen wanderungs-Gespräche zu Charlotte v. Stein: „Es sind deine Hoffnungen und Gesinnungen. Einige Stellen sind ganz allerliebst." Half Herder also, wie Franz Koch 55 es ausdrückt, was noch halb verdeckt in Goethe selber schlummerte, zum Erwachen, zum Keimen und Blühen zu bringen? Seine Mittlerschaft mag ihre Wirkung getan haben, ebenso vielleicht Swedenborgs GeisterUniversum. Über all diesen Einfluß-Möglichkeiten vergißt man gewöhnlich, daß bereits Giordano Bruno die Wiedereinkörperung der Monaden gelehrt hatte! Kreislaufgedanke, Wiedergeburt und Monadologie verknüpfen sich ihm zum einheitlichen Bilde. Nimmer vergeht die Seele, vielmehr die frühere Wohnung Tauscht sie mit neuem Sitz und lebt und wirket in diesem. Alles wechselt, doch nichts geht unter56. Wogegen Leibniz die Seelenwanderung ebenso wie die Weltseele des Bruno ausdrücklich ablehnt 5 7 . Bruno, der erosbewegte Sphäriker, kommt als legitimer Ahnherr von Goethes Konzeption der sich verjüngenden Monas in erster Linie in Betracht. Soviel über Palingenesie als Bildungs-Gedanken. Aber mit philologischen Ableitungen ist es nicht getan. Reinkarnation ist religiöser Urbesitz der Menschheit: ein Quellgedanke, der aus ungezählten Überlieferungen, Bräuchen, Mythen fast aller Zeiten und Völker hervorleuchtet. Die eigentliche Heimat dieses Glaubens liegt gewiß in der chthonischen Urreligion. Lunar-Mythologie und Ahnenkult der weiblichen Kulturlinie sind zutiefst mit der Vorstellung des verjüngten Wiederauflebens verknüpft. Der Phönix-Mythos des nahen und fernen Ostens wurzelt in demselben Kulturboden und Vorstellungskreise. Alle die jugendlichen Sohn-Geliebten der Magna Mater wie Adonis-Papas, Iakchos, Eros, Tammuz, Attis, Tages, Endymion usw. waren wiederauflebende Götter. Im phrygischen Attiskult war das Heraufsteigen der Kybele mit Attis aus dem Hades Kernpunkt des Festes. Das Ritual von Eleusis war, wie wir heute ziemlich klar sehen, auf Durchgang durch den Mutterschoß und Wiedergeburt gestellt. Die weltweit verbreitete E i - S y m b o l i k verbindet sich allerwärts mit dem Gedanken der Wiedereinkörperung. Das Ei ist 171

geradezu, wie Bachofen sagt, das „Bild der Palingenesie" 58 . Noch heute kennen australische Primitive das Ei als Grabsymbol. Auf Wiedergeburt deuten nicht nur die eiförmigen Skeletturnen und die verwandten Ovalgrabanlagen des Mittelmeerkreises 59 , sondern auch die zahlreichen vorgeschichtlichen Vaginaiformen der Grabstätte: zunächst die natürliche Felshöhle oder Felsspalte (seit dem Paläolithikum, aber vielfach auch aus neolithischer Zeit bekannt, namentlich im Mittelmeerkreise). Ihnen schließen sich künstlich her,gerichtete Nachahmungen des Naturvorbildes an. Die Urform des Grabes auf der Stufe des Chthonismus ist die Höhle, der Schoß der Mutter Erde (oft mit Rötelpuderung). Die H o c k e r b e s t a t t u n g (Embryonallage!) war höchstwahrscheinlich ursprünglich ein Wiedergeburtsritual. Neue Belege für die Stichhaltigkeit dieser alten Deutung führt K. Beth 60 an, der zu bedenken gibt, daß der uralte „Tierhaut"-Ritus (den übrigens neuerlich Frobenius auf südafrikanischen Felsbildern wiedergefunden hat), eine ausgeprägte Wiederkunftsmagie, mit der embryonalen Haltung verbunden auftritt. Späte Umdeutungen wie Leichenfesselung aus Furcht vor dem Übelwollen der Revenants besagen nichts gegen den ursprünglichen Sinn. Auch die altmittelländische H a u s b e s t a t t u n g , deren letzte Nachklänge sich als Ahnenkult und Ahnennische im etruskisch-römischen Hause darstellen61, scheint auf die Rückkunft der Toten hinzudeuten. Mit diesen wenigen Beispielen — aus einer reichen Fülle von Belegen fast willkürlich herausgegriffen — müssen wir uns hier begnügen. Diese Reihe ließe sich besonders durch völkerkundliche Parallelen fast unabsehbar erweitern. Je mehr das „Delphicum" — Bachofens uranisches Weltalter — vorrückt, um so tiefer treten die alten Wiederkunftslehren in den Schatten. In den Erlösungsreligionen der jüngeren Hochkulturen setzen sich, wie man weiß, die Jenseits-Vorstellungen, die ein „wandelloses Sein" verheißen, allgemein durch. Schon in der Antike war die Wiedergeburtskunde auf die Mysterien und auf einzelne Weisheitslehren beschränkt. In welcher Breite der Glaube an Metempsychose als unterirdischer Überlieferungsstrom im älteren Abendlande fortwirkte, läßt sich schwer abschätzen. Nur vereinzelt treten Rinnsale davon auch oberirdisch ans Licht, z. B. in der Lehre der Albigenser. Erst das transzendentale Menschentum wiederentdeckt das „Rad der Geburten", zuerst im nachvedischen Indien, dann im nördlichen Abendlande nach Abbau der dogmatischen Kirchenlehre. Im 18. Jahrhundert bekennt sich plötzlich eine ganze Gruppe transzendentaler 172

Denker — Lessing, Herder, Lichtenberg, der junge Schiller u. a. m. — zur Palingenesie. Das makromorphologische Problem, das sich hier auftut, wurde noch nicht gesehen. Aber Goethe — soviel ist abschließend noch zu sagen — fand offenbar unabhängig von diesen Umwelt-Einflüssen seinen eigenen Zugang zum Thema Palingenesie: aus „Anamnesis", so hätte er wohl selbst gedeutet. Wir begnügen uns mit der weniger anspruchsvollen Annahme ererbter, vom tellurischen Typus getragener Bahnungen. Wo fände sich im 18. Jahrhundert noch ein zweiter Denker, in dessen Schaffenskreis die Motive Wiedergeburt und Verjüngung so tief einverwoben wären wie bei Goethe?

10. G E S C H I C H T E Mit seltsam zwiespältigen Gefühlen stand Goethe der Geschichte gegenüber. Keineswegs uninteressiert, im einzelnen oft tieflotend, auch in großen Ausblicken überragend; dann wieder skeptisch bis zur Verneinung jeglicher Erkenntnismöglichkeit. Zwei Briefe, deren Entstehung um fast vier Jahrzehnte auseinanderliegt, sind trotzdem fast auf den gleichen Ton des Zweifels und der Abwehr gestimmt. In dem einen 1 nennt er die Geschichte „das undankbarste und gefährlichste Fach"; im anderen2, nach Lektüre von Niebuhrs Römischer Geschichte geschrieben, bekennt er, es sei eigentlich nicht sein Bestreben, in den düsteren Regionen der Geschichte bis auf einen gewissen Grad deutlicher und klarer zu sehen. Die neue „kritische", mythenauflösende Methode interessiert ihn als Verfahren, ohne daß er sie billigen könnte. Nicht gestaltlosen Rohstoff wünscht er zu erblicken, sondern Abläufe des Werdens. Von „wahrer Geschichte" fordert er, daß sie nicht bloß das Geschehene aufzählt, sondern uns darstellt, wie sich das Geschehene auseinander entwickelt. Es gab da keinen rechten Ansatzpunkt zur gestalthaften Aufgliederung. Für irgend eine Art von M o r p h o l o g i e waren die Dinge zunächst noch nicht reif. Und Goethe war nicht der Mann, sich wie Schelling oder Hegel mit einem roh konstruierten Drama der Weltgeschichte in drei oder vier schematischen Akten zu begnügen. Nach Friedrich Meinecke3 entsprang Goethes „Mißvergnügen an der Geschichte" keinem Unvermögen der Urteilskraft, sondern einem Unvermögen seines innersten Wesens, das Goethe außerstand setzte, die Geschichte ebenso morphologisch zu begreifen wie die Natur. Als Geschichtsdenker, so fährt Meinecke fort, verharrte Goethe „in der Denkweise seiner ersten 173

Umweltepoche, der Aufklärung, die er doch sonst so früh überwand". So urteilen, heißt Goethe gründlich mißverstehen. Ist es nicht ein Unding, sich vorzustellen, der gloriose Überwinder der „Verstandesdünkelei" sei der Geschichte gegenüber vorklassischer Rationalist geblieben? Darf man ihn kurzerhand als verspäteten Aufklärer hinstellen, weil er einmal die Händel der Reformationszeit „verworrenen Quark" nannte (an Knebel 1817)? Was auch immer hinter diesem „Unvermögen" sich verbergen mag, wir müssen versuchen, in diesen einigermaßen dunklen Komplex hineinzuleuchten. Tief beunruhigt war Goethe zunächst einmal von der Unsicherheit der Quellenlage der Geschichtsforschung. An Stelle von sicher begründeten objektiven Befunden sah er überall sich vordrängende bloße Meinung, Auslegung, Mutmaßung. Die Gefahr des subjektiven, willkürlichen Hineindeutens erschien ihm riesengroß. Schon im Urfaust heißt es: Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln.

Der größte Teil der Geschichte ¿st ihm „nichts weiter als ein Klatsch". Auch der Patriotismus „verdirbt die Geschichte": durch parteiischen Vortrag (zu Riemer, 14. März 1817). „Die Geschichte ist ein Märchen im Anfang, auf ihm schwimmt ein Faktum, wie auf dem Wasser, bis das Wasser verschwindet." (Zu Riemer, am 2. Juni 1811.) Ein Märchen im Anfang: Goethe sieht den Mythos wohl noch nicht als symbolisch verschlüsselte Urgeschichte, wie es später die Romantiker (und er selbst!) tun werden. Das Faktum „schwimmt" also, es ist u n g r e i f b a r , aber es wird auch vom „Märchen"-Strom g e t r a g e n ! Vielleicht darf man die geistreiche Metapher weiterspinnen: Nachdem das mythische Gewässer abgelaufen, ruht zwar das Faktische auf festerem Grunde. Aber war das Wasser nicht die Lebensfeuchte, die vor dem Verdorren bewahrte? — Immer wieder beklagt Goethe die Unvollständigkeit der GeschichtsErfahrung. „Wie wenig ist, was überhaupt von den einzelnen Personen der Geschichte gewußt wird. Und wie wenig ist das, was in einzelnen Büchern überliefert wird. Die Individualität der Person erscheint nie, sondern ein Abstraktum mit Wunderlichkeiten"4. In den Maximen spricht er von den Geschichtsschreibern wie von der Gilde der Auguren; ironisch rät er ihnen, ihr Zunftgeheimnis doch ja nicht preiszugeben. „Die Pflicht des Historikers ist zwiefach: erst 174

gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bei sich selbst muß er genau prüfen, was wohl geschehen sein könnte, und um des Lesers willen muß er festsetzen, was geschehen sei. Wie er mit sich selbst handelt, mag er mit seinen Kollegen ausmachen; das Publikum muß aber nicht ins Geheimnis hineinsehen, wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden" 5 . „Die meisten Quellen sind längst durchforscht; was sie an reiner Flut enthielten, ist ausgeschöpft, nur trübes Wasser zurückgeblieben"6. Die Weltgeschichte hat etwas Inkalkulables und Inkommensurables, heißt es in der „Geschichte der Farbenlehre" (Dritte Abteilung, Zwischenzeit); „Gesetz und Zufall greifen ineinander". In dem berühmten Gespräch mit Luden stellt Goethe die Mathematik als Inbegriff des Durchsichtig-Berechenbaren dem gänzlich Inkalkulabeln der Geschichte gegenüber: „Um so mehr wundert mich, daß Sie diese erste aller Wissenschaften, in welcher alles Gewißheit und Wahrheit ist, verlassen haben, um sich auf der Bahn der Geschichte zu versuchen, die bei jedem Schritte schwankt, und in einer Arbeit zu verharren, in welcher Sie, selbst mit drei Hebeln, nichts zutage fördern werden, was Ihnen nicht streitig gemacht werden könnte... Was wirklich Geschichte ist, das ist auch wirklich wahr. Aber nicht alles ist wirklich geschehen, was uns als Geschichte dargeboten wird, und was wirklich geschehen, das ist nicht so geschehen, wie es dargeboten wird, und was so geschehen ist, das ist nur ein geringes von dem, was überhaupt geschehen i s t . . . Der Dichter schafft seine Welt frei, nach seiner eigenen Idee, und darum kann er sie vollkommen und vollendet hinstellen; der Historiker ist gebunden, denn er muß seine Welt so aufbauen, daß die sämtlichen Bruchstücke hineinpassen, welche die Geschichte auf uns gebracht hat. Deswegen wird er niemals ein vollkommenes Werk liefern können, sondern immer wird die Mühe des Suchens, des Sammeins, des Flickens und Leimens sichtbar bleiben." Nicht nur ein Konglomerat von „Meinungen" ist die Geschichte. Fast schlimmer noch ist ihre Trümmerhaftigkeit. Überall nur Fetzen, „ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer" (Urfaust). Im „Märchen" verkörpert das Reich des zusammengestückelten Königs augenscheinlich das späte Zeitalter „trümmerhaft sinnloser Geschichte"7, wobei allerdings wohl nicht bloß das Fragmentarische der Überlieferung und Geschichtsschreibung, sondern eher noch die Chaotik des Geschehens selber gemeint ist. Und dann die Sinnlosigkeit von so vielem, was die Überlieferung mitschleppt, das Zufällige, Gleichgültige, bloß Stoffartige, was zu wissen niemanden fördert. 175

Was Kluges, Dummes auch je geschah, Das nennt man Welt-Historia; Und die Herrn Bredows künftger Zeiten Werden daraus Tabellen bereiten, Darin studiert die Jugend mit Fleiß, Was sie nie zu begreifen weiß. (Zahme

Xenien)

Das Ränkespiel der Haupt- und Staatsaktionen: Mit trefflichen pragmatischen Maximen, Wie sie den Puppen wohl im Munde ziemen. (Faust I, V. 584—585)

Die ewig-absurden Parteiungen und Interessenkämpfe, Guelfen und Ghibellinen... Bei dem Gang Fausts in die Unterwelt zur Beschwörung Helenas begegnet ihm ein Gorgonenhaupt, „seit Jahrhunderten immer größer und breiter werdend". Dies ist nach Obenauer und Emrich8 nichts anderes als der seit Jahrhunderten schrecklich anschwellende Wust „sinnlos sich anhäufender und dennoch nichtig sich wiederholender Geschichte". Solcher Geschichts-Schutt ist für Goethe das Ewig-Alltägliche bloßer Meinungen und Interessenkämpfe, „sinnlose Wiederholung des Gleichen und darum dem Kreislauf der Elemente verfallen" (wie der schwankend „bammelnde" Chor der Helena). Zwei Gespräche mit dem Kanzler von Müller sind ganz auf diesen Ton gestimmt. „Ich bin nicht so alt geworden, um mich um die Weltgeschichte zu bekümmern, die das Absurdeste ist, was es gibt. Ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk untergeht, ist mir einerlei, ich wäre ein Tor, mich darum zu kümmern" 9 . „Ja, die Geschichte läßt ganz wundersame Phänomene hervortreten, je nachdem man sie aus einem bestimmten Kreispunkte betrachtet. Und doch kann eigentlich niemand aus der Geschichte etwas lernen, denn sie enthält nur eine Masse von Torheiten und Schlechtigkeiten" (1824). Als Grundgesetz der Geschichte erkennt Goethe den „Symphronismus" 10 , das „Immergleiche", wovon Nereus (Faust II, V. 8097) spricht (vgl. S. 99 f.), das sich immer wiederholende „Vorkommen gleichbedeutender und Gleiches deutender Nachrichten, Handlungen, Begebenheiten unter allen Völkern". Die geschichtlichen Symbole — Töricht wer sie wichtig hält; Immer forschet er ins Hohle Und versäumt die reiche Welt.

In den Haupt- und Staatsaktionen, in der politischen Geschichte erblickt Goethe etwa das, was indische Weisheit das Reich der Fische nennt: Fressen und Gefressenwerden. 176

Soll ich vielleicht in tausend Büchern lesen, Daß überall die Menschen sich gequält, Daß hie und da ein Glücklicher gewesen? (Faust I, V. 661—663) Diese Stimmung klingt fast wortgetreu in dem großen Gespräch mit Luden wider: „Und wenn Sie nun auch alle Quellen zu klären und zu durchforschen vermöchten, was würden Sie finden? Nichts anderes als eine große Wahrheit, die längst entdeckt ist, und deren Bestätigung man nicht weit zu suchen braucht: die Wahrheit nämlich, daß es zu allen Zeiten und in allen Ländern miserabel gewesen ist. Die Menschen haben sich stets geängstigt und g e p l a g t ; . . . sie haben sich und anderen das bißchen Leben sauer gemacht und die Schönheit der Welt und die Süßigkeit des Daseins, welche die schöne Welt ihnen darbietet, weder zu achten noch zu genießen v e r m o c h t . . . " Unter diesem Aspekt gesehen, erscheint namentlich die politische Geschichte als eine große Folterkammer, als unablässige Vergewaltigung des Menschlichen, als Verkünstelung der reinen Naturverhältnisse, als Un- und Widernatur, die sich „wie eine ewge Krankheit" fortschleppt. Politik: „Torheiten ins Große". Als Goethe 1816 in Tennstedt die alten thüringischen Chroniken liest, da ist es ihm „schmerzhaft genug zu sehen, wie das so schöne, über die Maßen frucht- und bewohnbare Land, mehrere Jahrhunderte durch, von Roheit, Unverstand, Unzulänglichkeit und Verirrung auf das schrecklichste leiden mußte. Freilich gibt die übrige Welt in diesen Epochen auch keinen tröstlichen Anblick. — Hier aber ist der eigentlichste klassische Boden grenzenloser Absurditäten jeder Art. Religiöse, revolutionäre, fürstliche, städtische, edelmännische; dahingegen hört man von tüchtigen Menchen nur insofern sie zu Grunde gehen" 11 . Ähnlich die K i r c h e n g e s c h i c h t e ; auch sie ist nur „Mischmasch von Irrtum und Gewalt". Das sind keineswegs bloße Rousseau-Stimmungen. Hier regt sich der unablässige Protest des tellurischurzeitlichen Menschen in Goethe, der eine gewachsene, naturhaftsymbiotische Lebens- und Gesellschaftsordnung als geheimes „Urmaß" ahnt und darum alle Macht-Geschichte, alle „Geschichte" also im eigentlichen Sinne, als eine Kette von Frevel und Gewalt durchschaut. Hier ist Gewalt! entsetzliche Gewalt, Selbst wenn sie klug, selbst wenn sie weise handelt. (Die natürliche Tochter, 4. Aufzug, 1. Auftritt) Was Goethe fühlt und ahnt, wird zwei Generationen später Bachofen aufs klarste ansprechen. Erst mit dem Siege des uranischsolaren Prinzips über die vorweltlichen Erdkulte beginnt die wache 177

Geschichtszeit, beginnen Staatlichkeit und nie abreißende Machtkämpfe. „Das stofflich-weibliche Naturprinzip bildet keinen einheitlichen Staat, nur Völker und Naturganze, keine politischen Körper." „Wo Gynaikokratie sich erhält, wird Dikaiosyne und Sophrosyne gerühmt. Wo sie unterliegt, ist Macht und Gewalt das Ziel des Staatslebens" 12 . In Fausts letzter Vision vom „freien Volk auf freiem Grunde" erblickt Emrich13 durchaus treffend ein Wiederemportauchen von Goethes altem Gedanken einer urzeitlichen, wachstümlichen Gemeinschaft, behütet vor dem Einbruch geschichtlicher Macht-Dämonie. Im Innern hier ein paradiesisch Land, Da rase draußen Flut bis auf zum Rand. (V. 11 569—70) „Schon die Form dieser ,Kolonie' ist bezeichnend: ein .paradiesisch Land' mit den zeitlosen Typen Kind, Mann, Greis mitten in einer brausenden Flut." All jene Visionen einer Urgesellschaft vor oder jenseits der eigentlichen Geschichtswelt, die Goethe seit dem „Werther" entwickelte, sind „Eilande" oder abgemauerte Höhllen, wie ein Tempelheiligtum durch Dämme, Deiche, Palisaden oder Klüfte von der wirklichen Welt abgeschlossen. Emrich spricht von einer „transzendentalen Konzeption aller jener zeitlos typologischen Gemeinschafts- und Urstaatvorstellungen", auch vom „Naturstaat, der auf freiem, nur am Rande der Elemente beheimateten Grund ruht. Das ist vortrefflich gesehen; nur terminologisch würde ich vorziehen, von Urgemeinschaft oder Urgesellschaft zu sprechen, nicht von Staat, denn der symbiotische Verband, der all diesen Visionen zugrunde liegt, ist doch eben zum wesentlichen vorstaatlich, steht im schärfsten Gegensatz zum Staat als dem Machtkomplex der Geschichtszeit, dem „Leviathan", wie ihn schon Hobbes realistisch sah. Mit alledem tut Goethe einen wahrhaft divinatorischen, von höchster Intuition geleiteten Rückblick in ein versunkenes Weltalter vor Anbruch der „eisernen" Geschichtszeit mit ihren sinnlos sich wiederholenden Machtkämpfen. Der ganze Kriegszauber im vierten Faustakt mit Kaiser und Gegenkaiser, mit Raufebold, Habebald und Haltefest, mit „hohlen Waffen aus der Säle Grüften", „ritterlichen Prügeln, wie in der holden alten Zeit", ist ein „Teufelsfest", sinnlosendloser Hader, unfruchtbare Orgie entfesselter Gier, von „scharf satanischen" Klängen angefeuert. Hier sind Staats- und Geschichtswelt als „Urphänomene" menschlicher Wahnverstrickimg, als gespenstig-leeres Hin- und Herwogen gezeichnet. Der Krieg selbst, die ultima ratio staatlicher Existenz, ist „Teufelsspuk", ist „Trug! Zauberblendwerk! Hohler Schein". (V. 10300.) All dies bildet den 178

scharfumrissenen Kontrast zu Fausts letzter Vision einer erneuerten Goldenen Zeit 14 . Aber auch dann, wenn wir von diesem politischen Aspekt absehen, bleibt die Geschichte — auch die sogenannte „Kultur "Geschichte also — Goethe etwas Fragwürdiges. Alles Vergangene ist tot und verwest unaufhaltsam. „Wer bloß mit dem Vergangenen sich beschäftigt, kommt zuletzt in Gefahr, das Entschlafene, für uns mumienhaft Vertrocknete an sein Herz zu schließen" 15 . „Die Geschichte, selbst die beste, hat immer etwas Leichenhaftes, den Geruch der Totengruft" 16 . Goethe ist der erste Abendländer, der die Gefahr des „ H i s t o r i s m u s " spürte: daß Lebendig-Quellfrisches vorzeitig abstirbt und verwelkt unter dem Druck einer überschweren Bürde von mitgeschleppter Überlieferung. In dem Zahmen Xenion „Wenn Kindesblick..." schildert er das Schicksal des Erben, der des Vaters Haus gebaut und auch sonst „eben alles getan" findet, der „auch gern etwas" wäre; aber alles ist schon geschrieben, noch schlimmer: gedruckt. Da steht der junge Mann verduckt, Und endlich, wird ihm offenbar: Er sei nur, was ein andrer war. In Augenblicken, wo die ganze Schwere dieser Einsicht ihn bedrückt, muß sich Goethe eingestehen, daß wir alle vom Vergangenen leben und am Vergangenen zugrunde gehn 17 . Geschichte zu schreiben, erscheint ihm dann nur mehr als ein Abrechnen und Schlußstrichziehen, eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu' schaffen 18 . Der hochgetürmte Schutt abgelebten Daseins erstickt das Leben selber, läßt es „zahm und schwach" werden. Wenn Goethe sagt, das Unzulängliche sei produktiv, so meint er: nur jene Schaffenskraft sei ungebrochen, die frei von historischem Ballast sich regt. Das Abgestorbene, Fertige der Geschichtsüberlieferung ist einer strebenden Jugend „eher lästig als erfreulich", weil das Leben zu neuen. Ufern lockt, weil sie „gern von sich selbst eine neue, ja wohl gar eine Urweltepoche [!] beginnen möchte" (Historischer Teil der Farbenlehre: Einleitung). Auf der Suche nach dem Ursprünglichen, Unbelasteten schweift der Blick des Greises hinüber zu dem neuen Kontinent, wo es weder „unnützes Erinnern" noch „vergeblichen Streit" gibt 19 . Er preist die Nordamerikaner glücklich, keine Basalte zu haben, keine Ahnen und keinen klassischen Boden 20 . Basalt vertritt hier anscheinend das plutonische Element: Aufruhr, Zerrüttung, „vergeblicher Streit". In seiner Untersuchung des Kammerbühl bei Eger hatte Goethe den Basalt ganz richtig als vulkanisches Eruptivgestein angesprochen. Später (1823) widerruft er diese Deu179

tung und neigt zur Theorie der Erdbrände, der unterirdisch brennenden Kohlenflöze: Hilfshypothese der Neptunisten. Es ist jedoch möglich, daß ihm beim Basalt immer wieder plutonistische Gedanken aufstiegen (dazu H. Leitmeir: Art. „Basalt" in Zeitlers GoetheHandbuch). Auch die genannte Hilfshypothese kommt jedenfalls nicht ohne unterirdisches Feuer aus. Als tot, abgestorben empfindet Goethe die „gewöhnliche", das heißt rein stoffliche oder tatsachenmäßige Geschichtsüberlieferung. Hinter oder unter ihr fließt jedoch der ewig lebendige Strom mythischer Überlieferung. Der mythenzerstörenden historischen Kritik Niebuhrs setzt er die Maxime entgegen: „Wenn die Alten groß genug waren dergleichen zu erfinden, so sollten wir groß genug sein, es zu glauben." Wie später Schelling und Bachofen, sieht bereits Goethe im Mythos keineswegs abgeblaßte, sondern wesenhaft verdichtete (Ur-)Geschichte. Davon gibt eine der „Maximen" (535) Kunde: „Die gewöhnliche [Überlieferung] ist historisch zu nennen; eine höhere, der Einbildungskraft verwandte, ist mythisch. Sucht man hinter dieser noch etwas Drittes, irgendeine Bedeutung, so verwandelt sie sich in Mystik." Auf die mythische Überlieferung zielt auch das Wort vom ewigen Kampf des Glaubens mit dem Unglauben als Hintergrund der Geschichte. An Goethe vermutlich anknüpfend, spinnt Schelling den Gedanken der mythischen Urgeschichte weiter aus. Die vorgeschichtliche Zeit erklärt' er als die gleichsam sukzessionslose Zeit, angefüllt mit der Entstehung des Mythos21. Was Schelling programmatisch verkündet, hat schließlich Bachofen — vielleicht ohne von Schellings These unmittelbar Kenntnis genommen zu haben — als Mythenforscher in die Tat umgesetzt. Er steht sogar Goethe näher als Schelling, wenn er das Fortwirken ewiger Urzeit auch innerhalb des eigentlichen Geschichtsprozesses postuliert und, wie der Lykier Glaukos, die Geschichte des Altertums als einen einzigen dicht belaubten Mutterstamm ansieht, „dessen einzelne Blätter nur durch ihre frühere oder spätere Entwicklung von einander sich unterscheiden" 22 . „Die weiten Zwischenräume verschwinden, und als hätten keine Wandelungen der Zeiten und Gedanken stattgefunden, schließen sich späte Geschlechter denen der Urzeit an."23 Genau wie Goethe erblickt Bachofen24 in der mythischen Geschichte die Mutterlauge, aus der die „Ideen" auskristallisieren. Eine Forschung hingegen, die dem rein Faktischen zugewandt ist, richtet sich auf „die ewig hoffnungslose Ermittlung der geschichtlichen Wahrheit". Goethe, Schelling, Bachofen: drei Tellurier entdecken aus innerer Wahlverwandtschaft die „zeitlose Zeit". Daß Goethe das Hauptanliegen von Nietzsches Kritik der Historie 180

vorwegnimmt, kann nicht wundernehmen, wenn m a n sich gegenwärtig hält, daß er in seinen letzten Lebensjahrzehnten das Alexandrinertum, die zivilisatorische Vergreisung, seine bedrohlichen Schatten vorauswerfen sah. „Die jetzige Zeit ist eigentlich enkomiastisch" [lobrednerisch], schreibt er 1829 an Zelter, „sie will etwas vorstellen, indem sie das Vergangene feiert: daher die Monumente, Feste, die säkularen Lobreden und das ewige ergo bibamus, weil es einmal tüchtige Menschen gegeben hat" 2 5 . Goethe sieht eine allgemeine Verselbstung voraus, einen Zustand des „starr-zähen Egoismus", eine „verrückte Zeit" der Verstockung. Sie bedeutet, vital gesehen, Vergreisung, ein Verschütten der Verjüngungs-Quellen. Diesen Sinn hat der nachstehende Spätbrief an Zelter, dessen zunächst „delphisch" anmutende Wendungen nicht allzu schwer zu entschlüsseln sind. „Wegen der jungen Leute, deren Wesen und Treiben man nicht billigen kann und sie doch nicht los wird, lebt man in- und auswendig immerfort im Streite. Oft bedaure ich sie daß sie in eine verrückte Zeit gekommen, wo ein starr-zäher Egoismus auf halbem oder gar falschem Wege sich verstockt und die reine Selbstheit sich auszubilden hindert. In der Folge, wenn ein freier Geist gewahr wird und ausspricht was gar wohl einzusehen und auszusprechen ist, so müssen gar viele gute Menschen in Verzweiflung geraten. Jetzt gängeln sie sich in schlendrianischen Labyrinthen und merken nicht was ihnen unterwegs bevorsteht. Ich werde mich hüten deutlicher zu sein, aber ich weiß am besten was mich im höchsten Alter jung erhält, und zwar im p r a k t i s c h - p r o d u k t i v e n Sinne, worauf denn doch zuletzt alles ankommt." 2 6 Wie ein feiner Seismograph spürte Goethe in der Halsbandgeschichte die Vorankündigung drohender Umwälzungen. Damals schon befielen ihn furchtbare Ahnungen, die ihm „gespensterhaft die greulichsten Folgen vor Augen stellten". Die französische Revolution 27 empfand er als Verhängnis, als abendländische Schicksalswende, die alles mit Untergang bedroht. Aus der Abschiedsrede von Dorotheas Bräutigam klingt diese Stimmung wieder: Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts Lösen in Chaos und Nacht sich auf und neu sich gestalten. Eine ähnliche Vision, n u r großartiger, bildkräftiger geformt, spricht das Wort des Mönches im 5. Aufzug der „Natürlichen Tochter" aus; das Bild des von plutonischen Mächten der Tiefe zerstörten Tempels der Kultur: Da stürmt ein Brausen durch die düstre Luft, Der feste Boden wankt, die Türme schwanken, Gefugte Steine lösen sich herab, Und so zerfällt in ungeformten Schutt 181

Die Prachterscheinung. Wenig Lebendes Durchklimmt bekümmert neuentstandne Hügel, Und jede Trümmer deutet auf ein Grab. Das Element zu bändigen vermag Ein tiefgebeugt, vermindert Volk nicht mehr, Und rastlos wiederkehrend füllt die Flut Mit Sand und Schlamm des Hafens Becken aus. Auch während der Napoleonischen Epoche verbleibt ihm das Bewußtsein, in ein Zeitalter fortwirkender Umwälzungen hineingeboren zu sein. Selbst die bleierne Ruhe der Restaurationszeit kann dieses Gefühl nicht zum Schweigen bringen. Nach dem Bericht des Polen Odyniec rechnete Goethe noch in den letzten Jahren seines Lebens mit einer bevorstehenden Wende der Geschichte. „Goethe meint, daß unser 19. Jahrhundert nicht einfach die Fortsetzung der früheren sei, sondern zum Anfang einer neuen Ära bestimmt scheine. Denn solche großen Begebenheiten, wie sie die Welt in seinen ersten Jahren erschütterten, könnten nicht ohne große, ihnen entsprechende Folgen bleiben, wenngleich diese, wie das Getreide aus der Saat, langsam wachsen und reifen." 28 All solche Betrachtungen münden aus in die Vorschau des großen Kataklysma. Wenn sich der Greis recht tief in das „Elend unserer Zeit" hineindenkt, so kommt es ihm oft vor, als wäre die Welt nach und nach zum Jüngsten Tag reif. Er hat keinen Glauben mehr an diese Welt, hat „verzweifeln gelernt". Mit Niebuhr sieht er eine barbarische Zeit anbrechen, mehr noch: „sie ist schon da, wir sind schon mitten darinne; denn worin besteht die Barbarei anders als darin, daß man das Vortreffliche nicht anerkennt" 29 . Er sieht die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an der Menschheit hat und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung. „Ich bin gewiß, es ist alles danach angelegt und es steht in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde fest, wann diese Verjüngungsepoche eintritt. Aber bis dahin hat es sicher noch eine gute Weile "30 Die konziliante Schlußformel, in der Goethe das Gespräch ausklingen läßt, sollte nicht über die Bedeutungsschwere seiner eschatologischen Prophetie hinwegtäuschen. Galt seine Neigung auch dem organisch still Reifenden: so ausschließlich „Neptunist" war er nicht, daß ihm die chaotisch drängenden Unterweltskräfte der „plutonischen Urgeschichte" verborgen bleiben konnten. Immer wieder, zuletzt noch in der Klassischen Walpurgisnacht, vertritt „Seismos" die Zerrüttungsmächte des absurden Geschichtstreibens. Napoleon ist ein solcher Schicksalsvollstrecker, ein dämonisches Werkzeug des „Plutonischen". In dem so schöpferischen wie gefährlich zerstören182

den Feuerwesen des plutonischen G o l d e s sieht Goethe den metaphysischen Ursprungsherd der Geschichtszeit 31 . Gold symbolisiert hier offenbar, wie in der Alchemie, die solarische Weltkraft, die „Macht" schlechthin. Die Herrschaft des zusammengesetzten Königs im „Märchen" geht zu Ende mit dem Ausschmelzen des Goldes aus seinem Leibe. Aus dem goldglühenden unterirdischen Felsenreich bewegen sich in „Feuersäulen" der „Völker lange Zeilen". (Vision des Kaisers in Faust II, V. 5997—98.) Die Gnomen, in „dunklen G r ü f t e n " wohnend, entdecken die Goldquelle, sie bringen das Gold zutag, Damit man stehlen und kuppeln mag, Nicht Eisen fehle dem stolzen Mann, Der allgemeinen Mord ersann. ( F a u g t n > y 5 8 5 e _ 5 9 ) Dazu vergleiche m a n die genau entsprechende Gold- u n d F e u e r Symbolik in den „Reisen der Söhne Megaprazons" 3 2 , den Streit der Kraniche und P y g m ä e n in Faust II, das Gold- u n d Schmuck-Motiv in der „Natürlichen Tochter". Alles was in N a t u r und Geschichte an Umbrüchen, Wirren, A u f r u h r vor sich geht, entstammt dem plutonischen Gold- und Feuer-Reiche. In diesem Zusammenhange entsinne m a n sich, daß schon im alten Mythos P r o m e t h e u s der F e u e r bringer als Initiator der Geschichtszeit erscheint. Halten wir f ü r einen Augenblick Rückschau. Goethes „Mißvergnügen" an der Geschichte entspringt, so sahen wir, s e h r verschiedenen Beweggründen. Aber das Gefühl der „Apprehension", das ihn angesichts der Geschichte oft befiel, gipfelt im Erlebnis ihres T o d e s - und V e r w e s u n g s a s p e k t s . Alle K u l t u r im geschichtlichen Sinne ist notwendigerweise Gehäusebildung, Fixierung. Stets droht ihr die Gefahr, daßi sie „sich zum S t a r r e n waffne". Niemand weiß diese Bedrohung besser einzuschätzen als der schaffende Künstler (zumal in spätzeitlicher Lagerung). Ihm tritt ja ein nie abreißender Strom von Überliefer u n g als Handwerk, Technik, Schulung entgegen; damit m u ß er sich auseinandersetzen. Wenn er der Versuchung nachgibt, in den S t r o m unterzutauchen, d a n n verfällt er der Übermacht der Konvention, dann spricht e r in vorgeprägten Formeln; sein Werk ers t a r r t in handwerklicher Routine oder in bewußter Stilkopie. Gegen die G e f a h r e n des Akademismus, Manierismus usw. gibt es n u r eine w i r k s a m e A b w e h r : die Dinge neu sehen, quellfrisch, im Naturstande, werdend, unbefleckt von der P a t i n a abgelebter Zeiten. Entzieht euch dem verstorbnen Zeug; Lebendges laßt uns lieben! (Zahme 14 D a n c k e r t , Goethe.

Xenien)

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Aber wie schwer ist solches Neu-Sehen in den späten Zeitaltern autonomen Schaffens! Es kann eigentlich nur gelingen, wenn ein fruchtbarer metaphysischer Aspekt errungen wird, eine Sicht des Numinosen. Denn Glaubenskraft und Kulturschöpfertum sind untrennbar; wo jene abhanden kommt, da werden die Menschen auch in Poesie und Kunst bloß noch „nachahmend und wiederholend" (zu Riemer, Juli 1810). Von solchen zunächst kunstgeschichtlichen Erfahrungen ausgehend, gelangt Goethe zu seinem berühmten Satz, das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Weltgeschichte bleibe der Konflikt des Unglaubens und Glaubens. (Noten und Abhandlungen zum Westöstlichen Divan: Israel in der Wüste.) Das ist eine Vorwegnahme des Bachofenschen Grundgedankens: die Religion sei der einzige mächtige Hebel aller Kultur 33 . Nicht so sehr als Betrachtender, vielmehr als K ü n s t l e r erblickt Goethe das drohende „Gorgonenhaupt" toter, abgestorbener und doch sich forterbender Überlieferung. Er entdeckt als erster völlig autonom Schaffender den Widerstreit zwischen Instinkt und Tradition. Er fühlt, daß es mit der Lebendigkeit und Schöpferkraft des geschichtlichen Menschen in dem Augenblick zu Ende wäre, w o d i e u n t e r i r d i s c h e n Q u t e l l f l ü s s e e i n e s zeitlosen N a t u r r e i c h s j e n s e i t s der G e s c h i c h t e i h r e n Z u f l u ß v e r s a g e n . Immer wieder hat er in dichterische Symbolik zu fassen gesucht, wie sich verfallende Geschichtsdenkmäler ins Zeitlos-Naturhafte zurückverwandeln und dadurch gerade „befestigen". Moos- und grasüberwachsene Ruinen, Mauern, worin sich starke Bäume von altersher angewurzelt hatten, werden zu Sinnbildern unvergänglicher Dauer34. So erblickt Wilhelm im „eingeschlossenen Tal" die Kirchenruine; ähnlich steht es um den „wichtigen Ruinenkörper", das vom Urwald gehegte „Denkmal alter Zeit", in der „Novelle". Hier eröffnet sich nun der andere große Aspekt von Goethes Geschichts-Metaphysik: der Ausblick auf die zeitlos-ewige „Urgeschichte in der Geschichte", die zuletzt das Fortbestehen von Geschichte überhaupt ermöglicht. Mit bewunderungswürdiger Klarheit hat Wilhelm Emrich diesen Gedanken- und Symbolkreis durchleuchtet und erhellt. Es ist nicht zu viel behauptet, wenn er die Formel prägt, daß Goethe „eine fundamentale Entdeckung der Bedingungen der Möglichkeit nicht zwar der Erkenntnis (wie bei Kant), wohl aber des Schaffens und der Geschichte gelang" 35 . Goethe entdeckt die ewig-zeitlose M u t t e r s c h i c h t , die überall (produktive) Geschichte trägt und ermöglicht. Ein Naturreich, eine ewige Kindheit ist im Latenzzustand auch heute noch überall gegen184

wärtig. Schon der Straßburger Student ahnt sie in der Naivität des Volksliedes. Der greise Soziolog betrachtet das Landvolk „als ein Depot. . . , aus dem sich die Kräfte der sinkenden Menschheit immer wieder ergänzen und anfrischen"36. Am lebendigsten spürt Goethe diese Mutterwelt der schaffenden Quellkräfte in der Antike. „Ich für meine Person", schreibt er an Zelter37, „bin in dem Falle, daß mich das Anschauen des Altertums in jedem seiner Reste in den Zustand versetzt, worin ich fühle ein Mensch zu sein". Die Antike ist ein „anmutigst-ideeller Naturzustand", der „noch auf den heutigen Tag die Kraft" hat, „uns wenigstens für Augenblicke von der furchtbaren Last zu befreien, welche die Überlieferung von mehreren tausend Jahren auf uns. gewälzt hat"38. Sonderbarerweise verwandelt sich die von Goethe erschaute Antike aus einer Geschichtslandschaft in unberührtes Naturgelände. Alles was an ihr Überlieferung ist, bleibt zurück; nur der essentielle Kern leuchtet auf, das was in ewiger Jugend unzerstörbar fortwest. Nicht nur in der Antike, auch im Mittelalter, im Osten usw. kann sich dem Blick des Künstlers eine „zweite Natur" enthüllen. Alles was dem Altern widersteht, was fortzeugend junge Schöpferkraft bewahrt, ist urzeitlich-,,wahr", ist „Natur". Jene Antike hingegen, die mit dem Schutt der Vergangenheit, als bloßes Faktum erscheint, verwirft Goethe genau wie jede andere abgestorbene Vergangenheit. Auch andere Geschichtswelten, nicht nur die Antike, vermögen zeitweilig verjüngende, urzeitliche Kräfte wachzurufen. Stets handelt es sich um die Erweckung einer verewigten Zeit (Urzeit) aus der Latenz inmitten der Geschichte. In Elpenor, dessen Name auf die „Hoffnung" hindeutet, verkörpert sich auf der Wende zur Klassik bereits aufs klarste Goethes Grundkonzeption der Goldenen Zeit: ein Urständ, der mitten im Zeitlauf einen neuen Anfang durch weltverjüngende Tat setzt39. Handelt es sich hier, wie bei Rousseau, um ein bloßes Wunschbild, um Flucht aus zivilisatorischer Wirklichkeit in ein idyllisches Traumland? So deuten hieße Goethe zum Romantiker erklären; das wäre Unterschätzung seines wirklichkeitsträchtigen Blickes. Offenbar sah er im Geschichtsprozeß eine gründende, quellende Macht ringen mit Gegenkräften, die abschnürend, „zum Starren sich waffnend" wirken. Im Helena-Akt des Zweiten Faust vollzieht sich der Sprung aus dem geschlossenen, verkrusteten Dasein der (mittelalterlichen) Geschichtswelt ins offene, freie, gelöste Leben ewiger Urzeit in dem Augenblick, da sich der Schauplatz „durchaus verwandelt": an Stelle des „inneren Burghofes, umgeben von reichen phantastischen Gebäuden des Mittelalters", tritt die offene Naturlandschaft Arkadiens mit Hain, Lauben, Felsenhöhlen. 14*

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(Namentlich die Höhle ist hier wie anderswo in Goethes Dichtung unmißverständliches Symbol der tellurischen Vorzeit.) So ist es mir, so ist es dir gelungen; Vergangenheit sei hinter uns getan! O fühle dich vom höchsten Gott entsprungen, Der ersten Welt gehörst du einzig an. Nicht feste Burg soll dich umschreiben! Noch zirkt in ewiger Jugendkraft Für uns, zu wonnevollem Bleiben, Arkadien in Spartas Nachbarschaft. Gelockt, auf sel'gem Grund zu wohnen, Du flüchtetest ins heiterste Geschick! Zur Laube wandeln sich die Thronen, Arkadisch frei sei unser Glück!

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Wie sich regelmäßig tellurische Elementar-Symbole aufbauen, ehe Goethe seine Visionen vom Urständ der Menschheit dichterisch entwickelt, wird (S. 488 f.) noch näher auszuführen sein. Hier ist noch ergänzend darauf hinzuweisen, daß all jene Urgemeinschaften in unmittelbarer Hut ursprünglicher Naturlandschaft, abgeschirmt von chaotischen Geschichtswirren, ein geborgenes „inselhaftes" Dasein führen. So lebt die „heilige Familie" der „Wahlverwandtschaften" im weltabgeschiedenen Gebirgskessel, wo kein Krieg hindringt; so das Philemon- und Baucis-Idyll in der Hut heiliger Linden, so Fausts „paradiesisch Land" am offenen Meer, umgürtet von Deichen und Buhnen. Auch beim kolonisatorischen Vorhaben der „Wanderjähre" handelt es sich um nichts Geringeres als um die Gründung einer neuen Urgesellschaft weit über dem Meer auf jungfräulichem Urwald und Steppenboden. Stets bettet sich das arkadische Idyll in „offene" Urlandschaften ein, wogegen die zivilisatorische Wirkwelt der Kultur sich als „geschlossenes Leben" mit den Sinnbildern von Ziergarten, Schloß, Park, Kanal verknüpft; man vergleiche auch die eigenartige Schuldproblematik, die sich in Goethes Spätdichtungen, den „Wahlverwandtschaften", dem „Mann von fünfzig Jahren", der Novelle „Wer ist der Verräter?", „Pandora", der „Novelle", sowie in Fausts letztem Erdenwirken an diese Kultursymbole heftet40. Die zivilisatorische Planierungstätigkeit der aufgeklärten, vornehmen Menschen in den „Wahlverwandtschaften", das Einebnen der altehrwürdigen Gräber, der Versuch, „den beschwerlichen Felsenpfad in einen bequemen Fußpfad zu verwandeln", die Schaffung des künstlichen Teichs, dem später das Kind zum Opfer fällt: all das steht in linterirdischer Symbolverbindung zur Schürzung des tragischen Knotens. Naturentfremdetes rastloses Tun, „geschlossenes 186

Leben" zieht das Verhängnis heran, verstrickt ins „heimlich Leidenschaftliche". Das Kind, die Frucht einer künstlich verderbten Phantasie-Zeugung, ertrinkt im Kunstteiche, wogegen die zwei wunderlichen Nachbarkinder (der Einlage) im brausenden Flusse (des offenen Lebens!) gerettet werden. Wie Goethe in alledem heilige Urzeit und zivilisatorisches Wirken, unversehrte Natur und mutwilligen Planierungseingriff des Menschen, offenes und geschlossenes Leben einander gegenüberstellt, das erinnert aufs lebhafteste an die Art, wie altchinesische Mythen und Geomantik jede Verletzung der tellurischen Urverhältnisse, jeden Eingriff in den Rhythmus der Landschaft, insonderheit auch die Einebnung der Ahnengräber, als verderblichen Vorwitz, als Urhybris des Menschen schildern. Etwa im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts taucht das uralte Motiv des Goldenen Zeitalters in der italienischen Dichtung wieder empor; in den Stanzen des Poliziano verbinden sich Naturgefühl und Goldene Zeit zur verklärten Natur. Pontano und Sannazaro, Ariosto und Tasso nehmen das Motiv auf und führen es zur Vollendung41. Abermals wird es in der Frühzeit der (florentinischen und venezianischen) Oper sich ankündigen. Dies alles kann nicht Zufall sein, gehört vielmehr dem Rinascimento des Tellurismus an. In einem Punkte dringt jedoch Goethe entscheidend über die bloß rückschauenden Visionen seiner italienischen Vorläufer hinaus: in der klaren Erkenntnis, daß die Goldene Zeit noch im Hier und Jetzt, in allem „Urständig-Produktiven" fortwest. Völlig abgetrennt von den Quellgründen der mythischen Urzeit müßte eine vollendete, das heißt rein zivilisatorische Geschichtswelt verdorren. Lebendige Geschichte ist daher nichts anderes als ein fortwährendes Sichverjüngen und Erneuern aus dem Muttergrund des Urzeitliehen, Zeitlos-Natürlichen. Nur jene „erste Welt", die immer noch, wenngleich in Latenz, fortwest, verbürgt überhaupt die Möglichkeit des Geschichtsprozesses. In Goethes Dichtung erfolgt die Vergegenwärtigung des Urzeitlich-Vergangenen, wie Emrich42 zeigen konnte, stets unter Mitwirkung von „archaischen" Sinnbildern wie Granit, Höhle, Licht, Tempel usw. Es gibt keine andere Form der Verewigung als jene Verjüngung aus der Mütterwelt des Geschichtsprozesses. Nur die mythische, nicht die faktische Geschichte ist das eigentlich Lebendige. Auf jedem Versuch, das Geschaffene in seiner Abgesetztheit, seiner Individual-Verkrustung zu bewahren, ruht der Fluch der Mumifizierung. In aller Geschichte sucht Goethe „das U r s t ä n d i g - P r o d u k t i v e " , jenes Leitmotiv, das er in einem Brief an Zelter mit den Worten erläutert: „il faut croire à la simplicité! zu Deutsch: man 187

muß an die Einfalt, an das Einfache, an das urständig Produktive glauben, wenn man den rechten Weg gewinnen will. Dieses ist aber nicht jedem gegeben; wir werden in einem künstlichen Zustande geboren und es ist durchaus leichter, diesen immer mehr zu bekünsteln als zu dem Einfachen zurückzukehren"43. Beim Abschied von Rom drängt sich ihm die Bemerkung auf, „daß wir viel zu viel Voranstalten machen, um zu leben"44. Ein Altersdiktum (zu Eckermann, 12. März 1828), worin es heißt, unsere Zustände seien viel zu künstlich und kompliziert, hebt an mit den Worten: „Es geht uns alten Europäern mehr oder weniger allen herzlich schlecht." Uns a l t e n Europäern: das bedeutet eine geschichtsmorphologische Diagnose. Der Ausspruch schließt mit dem erstaunlichen Bekenntnis: „Man sollte oft wünschen, auf einer Südsee-Insel als sogenannter Wilder geboren zu Sein, um nur einmal das menschliche Dasein ohne falschen Beigeschmack durchaus zu genießen." Wohl wußte Goethe (und nicht erst der a l t e Goethe) um die Unerfüllbarkeit solcher Wünsche, aber wer konnte es dem unablässig Entsagenden verwehren, mit sehnsüchtig-bewunderndem Blick die Kometenbahn elementar-dämonischer Naturen wie Napoleon oder Byron zu verfolgen! Hier sah er das „Inkommensurable", die Gegenmöglichkeit schlechthin, das unmittelbar gelebte Leben45. Sein Widerwille gegen die zivilisatorische Verkünstelung der Menschenwelt wurzelt tiefer als der Rousseauismus. Hier spricht zu allerletzt der vorzeitliche, vorgeschichtliche Mensch selbst, der die ihm aufgezwungene Formverkleidung der Hochkultur als Zwangsform durchschaut. (Was nicht ausschließt, daß man sich gleichwohl zur K u l t u r als dem Unabänderlich-Vorgegebenen, schicksalhaft zu Tragenden, bekennt.) Als Goethe 1824 seine Jugend-Beiträge für die Frankfurter Gelehrten Anzeigen durchsieht, ist er betroffen über die Möglichkeit, „wie man gehaltlos, roh und ungebildet mehr wert könne gewesen sein, als da man sich gehaltvoll, ausgearbeitet und ausgebildet antrifft!" Auch hier erstaunt er über das Urständig-Produktive, diesesmal: des eigenen Jugendflors. Ganz klar erkennt er, daß der Dichtung gerade in Frühzeiten des Kulturwachstums, wo alles noch frisch und unverbraucht gleichsam in statu nascendi geschaut wird, die reichsten Möglichkeiten offen stehen. „Poesie wirkt am stärksten im Anfang der Zustände, sie seien nun roh, halbkultiviert, oder bei Abänderung einer Kultur, beim Gewahrwerden einer fremden Kultur": kurz überall dort, wo ein Neues, Unverbrauchtes wirkt. (Max. u. Reil. 233. Aus Kunst und Altertum, Fünften Bandes erstes Heft, 1824.) In die Geschichte zurückblickend, sucht und findet er Typen der urwüchsigen Menschheit (wir deuteten es schon an) nicht nur in 188

Althellas. Auf der Italienfahrt entdeckt er „die alten Etrurier". Sie werden ihm „unendlich interessant" 46 . Etruskische Kunst beschäftigt ihn noch später 47 . Dem Divandichter tritt das Morgenland (zeitweilig) weniger als Hochkultur entgegen denn als naturhaftes Hirtentum. Aus Arabien und Persien weht ihn „Patriarchenluft" an, hier scheint, wie R. M. Meyer 48 bemerkt, die „Urpflanze" einer frühen Zivilisationsstufe mit Händen zu greifen. Bei der Dichterfahrt nach Osten treten bezeichnenderweise die völlig ausgelebten Hochkulturvölker wie Chinesen und Inder zurück. Erst in den allerletzten Lebensjahren Goethes knüpft sich ein engeres Band zum fernen Osten, nachdem er auch dort (z. B. in chinesischen Romanen und Gedichten) ein naturreligiöses Erleben entdeckt hatte. (Vgl. etwa: zu Eckermann, 31. Januar 1827.) „Wer inj Zelten leben kann", sagt er einmal, sicherlich aus verwandter Stimmung, zu Eckermann (3. März 1831), „steht sich am besten." Auf seiner „Hegire" gen Osten hält Goethe Ausschau nach der „Mutterschicht" der Kultur, doch bleibt er historisch klarblickend genug, um auch den hochkulturellen, ausgesprochen spirituellen, ja spätgeschichtlichen Oberbau dieser Ostkultur nicht zu übersehen. In der „Novelle" steht, wie Emil Staiger gezeigt hat, die Tierbändigerfamilie als symbolische Repräsentantin des Morgenlandes, der jugendhaft verbliebenen, ursprungsnahen Welt. Das Einleitungsgedicht des Divans besingt den „reinen Osten" als Verjüngungsquell: Dort, im Reinen und im Rechten Will ich menschlichen Geschlechten In des Ursprungs Tiefe dringen . . . In allem Osten sucht Goethe kaum den scharf gewürzten Reiz fremden Lebens, wie später die französischen „Romantiker" und Realisten, erst recht natürlich nicht das verschwimmende „Dschinnistan" der deutschen Romantik. Ihm geht es vielmehr um das offene Leben schlechthin, um Wiederbringung der kosmischen Weite, die stets durch zivilisatorische Verkrustung bedroht ist. Diese „Hegire" ist Flucht aus der „überbildeten, verbildeten, vertrackten Welt": Laßt mich nur auf meinem Sattel gelten! Bleibt in euren Hütten, euren Zelten! Und ich reite froh in alle Ferne, Uber meiner Mütze nur die Sterne.

(Freisinn)

Durch seine Zugehörigkeit zur chthonischen Erstrunde der Menschheit bringt Goethe die vitalen Voraussetzungen mit, die ewige Mutterschicht der Geschichte, die Verjüngungsquelle also, aus der sich die eigentliche Lebendigkeit der Geschichte speist, zu entdecken. 189

Aus derselben Lagerung seines psychischen Urbesitzes ist aber auch seine nie ganz überwundene, immer wieder — aller Kulturbejahung, Kulturerfüllung zutrotz! — hervorbrechende „Apprehension", das „Wehen banger Erdgefühle" 49 , sein tief wurzelndes Mißvergnügen an eben dieser Geschichte zu erklären. Wer vom geheimen Standort ewiger, symbiotisch lebender Urzeit her in die eigentliche, tagwache, von Machtkämpfen und wirren Parteiungen, wüsten Greueln ausgefüllte Geschichte (der Hochkulturen) hineinblickt, wird sich kaum des Gefühls erwehren können, daß die Menschheit hier — trotz aller gegenständlich-monumentalen Leistungen dieser fünf Jahrtausende — in eine qualvolle, zuletzt ausweglose Sackgasse geraten ist. Vom Urmaß des Menschlichen her gesehen stellt sich diese Geschichte trotz all ihrer hochragenden Schöpfungen doch im ganzen als eine furchtbare, einspurige S y s t o l e , eine „Verselbstung" größten Stiles dar. Die Fabel vom „geschichtsfremden" Goethe enthüllt sich, also als einen der größten Irrtümer. Das Gegenteil ist wahr. Erstaunlicherweise sieht er bereits, daß kein Zeitalter seine eigenen Voraussetzungen völlig zu durchschauen vermag. „Innerhalb einer Epoche gibt es keinen Standpunkt, eine Epoche zu betrachten", heißt es in den Maximen aus dem Nachlaß. Gerade weil Goethe als Sohn der Menschheitsfrühe und später Abendländer, als deutscher Klassiker endlich zugleich „vor" und „in" der Geschichte steht, sieht er tiefer hinein in ihren Ablauf als der ganz in sie verstrickte Beobachter. Seine Doppelpostierung verbürgt weitere Übersicht und Möglichkeiten physiognomischer Erhellung, die keinem Abendländer vor ihm — Vico vielleicht ausgenommen — zu Gebote standen. So wird er — grundsätzlich gesehen — zum Begründer und Entdecker der m o r p h o l o g i s c h e n G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g . Als erster sieht er die Polspannung zwischen urzeitlicher Mutterschicht und dem Verfallensein ans Zeitliche, sieht er die z y k l i s c h e S t r u k t u r der Geschichtsabläufe, das o r g a n i s m e n h a f t e A u f b l ü h e n u n d W i e d e r a b w e l k e n d e r K u l t u r e n im kleinen wie im großen. Rein intuitiv ahnt er die Umrisse, den Lebensrhythmus geschichtlicher Gebilde. So wird er zwar nicht zum Historiker, aber zum Geschichtsphilosophen hohen Ranges. Keinesfalls darf man ihm übrigens die grundsätzliche Begabung und Fähigkeit zum Historiker absprechen. Seine früh sich regende Tendenz zum Genetischen zeitigte nicht nur auf dem Gebiete der Naturforschung Ergebnisse, sondern schärfte auch den Instinkt fürs Historische im engeren Sinne. Schon der Straßburger Student hat kein Genügen an fertig zubereiteter Kompendienweisheit, denn er 190

hatte „für nichts Positives einen Sinn, sondern wollte alles, wo nicht verständig, doch historisch erklärt haben" (Dichtung und Wahrheit, 2. Teil, 9. Buch). Der Divandichter prägt das stolze Wort; Wer nicht von dreitausend Jahren Weiß sich Rechenschaft zu geben, Bleib im Dunkeln unerfahren, Mag vom Tag zum Tage leben. (West-östlicher Divan, Buch des Unmuts.) Der Greis und Seher vollends lebt „in Jahrtausenden" 50 und gesteht dem Freunde Wilhelm v. Humboldt, daß in seinen hohen Jahren ihm alles mehr und mehr historisch wird: ob etwas in der vergangenen Zeit, in fernen Reichen oder ihm ganz nah räumlich im Augenblicke vorgeht, ist ganz eins, ja er erscheint sich' selbst immer mehr und mehr geschichtlich51. Wer in der Weltgeschichte lebt, Dem Augenblick sollt' er sich richten? Wer in die Zeiten schaut und strebt, Nur der ist wert, zu sprechen und zu dichten. (Zahme Xenien) Eine großangelegte, hochbedeutsame Wissenschafts- und Kulturgeschichte verbirgt sich hinter den „Materialien zur Geschichte der Farbenlehre", die im 53. und 54. Band der Ausgabe letzter Hand, d. h. im 13. und 14. Bande der nachgelassenen Schriften 1833 erschienen. Von dem zyklischen Grundschema der Wissenschaftsgeschichte hörten wir bereits in anderem Zusammenhange (S. 120 f.). Es geht aus von den vier Kräften des Vorstellungslebens: Phantasie, Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft, die sich in eigenartig gedoppelter Weise mit den vier Epochen der Wissenschaften ( k i n d l i c h -poetischabergläubische, e m p i r i s c h - forschend - neugierige, d o g m a t i s c h - didaktisch - pedantische, i d e e l l - methodisch - mystische) verbinden. Diese wohl halb geschaute, halb konstruierte Betrachtungsweise reift zur vollgültig morphologischen Sicht in einigen Altersbeiträgen Goethes zur Dynamik der Geschichtsabläufe. Schon 1807 hatte er auf das eigenartige Nacheinander im kulturschöpferischen Einsatz der abendländischen Nationen die Aufmerksamkeit hingelenkt. Sein berühmter Ausspruch „Die Geschichte der Wissenschaften ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und' nach zum Vorschein kommen" 52 zielt auf die „mikromorphologische" Struktur der, abendländischen Geschichte, die in der Tat, wie wir heute ganz klar sehen, durch solche „Phasenverschie191

bungen" (etwa im Verhältnis der klassischen Kulminationen zueinander ablesbar) gekennzeichnet ist; die deutsche Nationalkultur kommt als letzte zum Zug. Das zyklische Grundgesetz auch der nationalen Lebenskurven spricht Goethe mit den Worten aus: „Wollte man uns übel nehmen, wenn wir sagen, die Nationen steigen aus der Barbarei in einen hochgebildeten Zustand empor und senken sich später dahin wieder zurück, so wollen wir lieber sagen, sie steigen aus der Kindheit in großer Anstrengimg über die mittleren Jahre hinüber und sehnen sich zuletzt wieder nach der Bequemlichkeit ihrer ersten Tage." 53 Zu diesem erstaunlichen Ausspruch bemerkt Friedrich Meinecke54: „Hier könnte auch eine Reminiszenz an V i c o mitwirken, der . . . in Deutschland durch die Übersetzung Webers 1821 bekannt geworden war." Aber dieser Einfluß bleibt Vermutung, imd es ist ebensogut denkbar, daß Goethes zyklische Geschichtsauffassung im Kern doch eigenes Aperçu darstellt. Fast zur Gewißheit wird uns diese Annahme, wenn wir das Tagebuch vom 5. Oktober 1786 aus Venedig55 zurate ziehen. In diesen ahnungsschweren Sätzen enthüllt sich blitzartig, welche Stunde der abendländischen Kultur geschlagen hat. Goethe schreibt, auf dieser Reise hoffe er, daß sich sein Gemüt über die schönen Künste beruhige; ihr heilig Bild wolle er sich recht in die Seele prägen. „Dann aber mich zu den Handwerkern wenden, und wenn ich zurückkomme, Chymie und Mechanik studieren. Denn die Zeit des Schönen ist vorüber, nur die Not und das strenge Bedürfnis erfordern unsere Tage." Er hat „Vorgedanken und Vorgefühle" über das Wiederaufleben der Künste in Italien seit dem Mittelalter „und wie auch diese Asträa wieder die Erde verließ und wie das alles zusammenhängt. Wie mir die Römische Geschichte entgegensteigt! Schade, schade, meine Geliebte! alles ein wenig spät." Das Ganze: intuitive Erkenntnis, spontane Diagnose der S p ä t z e i t und ihrer im wesentlichen noch z i v i l i s a t o r i s c h e n Möglichkeiten. Der Bericht „Geistes-Epochen" (1817), den Goethe nach Lektüre des Briefwechsels über Homer und Hesiod zwischen Creuzer und Hermann schrieb56, stellt einen Abriß des Kulturschicksals auf, er zeichnet die biomorphe Kurve der Kultur-Organismen in den allgemeinsten, typischen Zügen nach. Ein gewisser Zusammenhang mit dem zyklischen Schema der Wissenschaftsgeschichte ist unverkennbar; auch hier sind die vier Vorstellungs-Kräfte am Werke, aber in abgeänderter, der historischen Wirklichkeit sichtlich näherkommender Folge: Einbildungskraft, Vernunft, Verstand, Sinnlichkeit. Vier Hauptepochen werden unterschieden, dazu Urzeit und Endzeit, Prolog und Epilog des Gesamtablaufs. 192

Die Urzeit ist schöpferisches Chaos: „Betrachtung, Philosophie, Benamsung und Poesie der Natur alles in einem". „Indes die Autochthonen-Menge staunend ängstlich umherblickt, kümmerlich das unentbehrlichste Bedürfnis zu befriedigen, schaut ein begünstigter Geist in die großen Welterscheinungen hinein, bemerkt, was sich ereignet, und spricht das Vorhandene ahndungsvoll aus, als wenn es entstünde." Der Charakter der ersten Hauptepoche ist „freie, tüchtige, ernste, edle Sinnlichkeit, durch Einbildungs-Kraft erhöht". Volksglaube und Poesie blühen. Es sind „die stillen dunklen Zeiten, in denen der Mensch, unbekannt mit sich selbst, aus innerem starken Antrieb tätig war". (Geschichte der Farbenlehre.) Dieser mythenschaffenden Kindheitsphase der Kultur folgt ein Zeitalter wacher Religiosität. „Und wie die Poesie Dryaden und Hamadryaden schafft, über denen höhere Götter ihr Wesen treiben, so erzeugt die [jetzt herrschende] Theologie Dämonen, die sie so lange einander unterordnet, bis sie zuletzt von e i n e m Gotte abhängig gedacht werden. Die Epoche dürfen wir die heilige nennen; sie gehört im höchsten Sinne der Vernunft [dem Organ des Göttlichen] an, kann sich aber nicht lange rein erhalten und muß, weil sie denn doch zu ihrem Behuf den Volksglauben aufstutzt, ohne Poesie zu sein, weil sie das Wunderbare ausspricht und ihm objektive Gültigkeit zuschreibt, endlich dem Verstand verdächtig werden." Das Verstandeszeitalter, die Aufklärung, hält zwar zunächst noch an der mythisch-religiösen Überlieferung fest, unterhöhlt aber allmählich ihre Grundlagen. Die Philosophie löst die Theologie ab. Noch schätzt der Verstand „in seiner größten Energie und Reinheit . . . . das edle Menschenbedürfnis, ein Oberstes anzuerkennen" (Deismus, Vernunftreligion). „Allein der Verständige strebt, alles Denkbare seiner Klarheit anzueignen und selbst die geheimnisvollsten Erscheinungen faßlich aufzulösen" (Rationalismus). „Volks- und Priesterglaube wird daher keineswegs verworfen, aber hinter demselben ein Löbliches, Nützliches angenommen" (Moralismus, Utilitarismus), „die Bedeutung gesucht, das Besondere ins Allgemeine verwandelt und aus allem Nationalen, Provinzialen, ja Individuellen etwas der Menschheit überhaupt Zuständiges herausgeleitet" (Humanität). „D ; eser Epoche kann man ein edles, reines, kluges Bestreben nicht absprechen; sie genügt aber mehr dem einzelnen wohlbegabten Menschen als ganzen Völkern. Also: Individual-Zivilisation, Auflösung der kollektiven Bindungen und des Mythischen durch „aufklärendes Herabziehen". Die Verstandes-Epoche wird abgelöst vom Zeitalter der „Prosa", 193

der „gemeinen Sinnlichkeit". Der Zauber u n d Nimbus der Dinge entschwindet (Versachlichung, Banalisierung), alles S a k r a l e löst sich endlich ins „Alltägliche" auf. Prosaisch n e n n t Goethe diese Epoche, „da sie nicht etwa den Gehalt der f r ü h e r n humanisieren, dem reinen Menschenverstand und Hausgebrauch aneignen möchte, sondern das Älteste in die Gestalt des gemeinen Tages zieht und auf diese Weise Urgefühle, Volks- und Priesterglauben, ja den Glauben des Verstandes, der hinter dem Seltsamen noch löblichen Zusammenhang vermutet, völlig zerstört". „Diese Epoche k a n n nicht lange dauern." Die Endzeit kündigt sich an. „Das Menschenbedürfnis, durch Weltschicksale aufgeregt" (Kriegswirren, Revolution), „überspringt rückwärts die verständige Leitung" (d. h. wohl: liefert sich chaotischen Mächten aus), „vermischt Priester-, Volks- und Urglauben, k l a m m e r t sich bald da, bald dort an Ü b e r lieferungen" (Sektenbildungen, religiöser Synkretismus, Glaubensmischung), „versenkt sich in Geheimnisse" (Mystizismus), „setzt Märchen an die Stelle der Poesie und erhebt sie zu Glaubensartikeln" (Zeitalter der -ismen). „Anstatt verständig zu belehren und r u h i g einzuwirken, streut man willkürlich Samen und U n k r a u t zugleich nach allen Seiten" (Zeitalter der Schlagworte und Schlagzeilen); „kein Mittelpunkt, auf den hingeschaut werde, ist m e h r gegeben" (Zeitalter der Masse), „jeder einzelne tritt als Lehrer u n d F ü h r e r hervor u n d gibt seine vollkommene Torheit f ü r ein vollendetes Ganze" (Zeitalter der Demagogen). „Und so wird denn auch der Wert eines jeden Geheimnisses zerstört, der Volksglaube selbst entweiht; Eigenschaften, die sich vorher n a t u r g e m ä ß auseinander entwickelten, arbeiten wie streitende Elemente gegeneinander, und so ist das Tohuwabohu wieder da: aber nicht das erste, befruchtende, gebärende, sondern ein absterbendes, in Verwesung übergehendes, aus dem der Geist Gottes k a u m selbst eine ihm würdige Welt a b e r mals erschaffen könnte." 5 7 Goethe selbst f a ß t den gesamten Ablauf mit den folgenden Stichworten zusammen:

Poesie Theologie Philosophie Prosa

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„Uranfänge tiefsinnig beschaut schicklich benamst. Einbildungskraft Tüchtig Volksglaube Heilig Vernunft Ideile Erhebung Aufklärendes Klug Verstand Herabziehen Sinnlichkeit Auflösung ins Gemein Alltägliche Vermischung, Widerstreben, Auflösung".

Man sieht auf den ersten Blick: diese Lebensalter der Kulturen (darum handelt es sich doch offenbar) sind nicht konstruiert, sondern geschaut. Goethe entwirft hier, vielleicht angeregt durch Vico und Herder 58 , aber in der Plastik der Durchführung weit über beide hinausgreifend, ein wahrhaft grandioses Bild vom Aufblühen und Wiederabsterben der Kultur-Organismen. Spangler hat, wie man sieht, schon allen Grund, darauf hinzuweisen, daß er von Goethe einiges gelernt habe59. (Wieviel er ihm verdankt, sagt er leider nicht genauer.) Alte Vorformen dieser Sichtweise fände man wohl am ehesten noch in der römischen Auffassung, wonach die Geschichte von selbst in bestimmter Richtung arbeitet 60 , noch ungetrübter vielleicht in der Weltalter-Lehre der Etrusker, die offenbar von einem tiefwurzelnden Fatum-Gefühl getragen war. Daß die Kulturen Wachstums-Einheiten, Meta-Organismen, Lebewesen höheren Ranges sind: auch dieser so modern anmutende Gedanke liegt in Goethes Geschichts-Denken klar vorgebildet. Seine Monadologie rechnet mit übergreifenden Entelechien auch jenseits der Eriicheinungsgrenze des Individuallebens (vgl. S 166 f. und 295 ff.). Nicht nur im Tier- und Pflanzenreiche sondern auch im menschlichen Kulturbezirke sieht er überindividuelle Gestaltungsmächte, also Gruppen-Entelechien61, am Werke. Darauf deutet z. B. sein Gespräch mit Eckermann vom 13. Februar 1829. Da vergleicht er die tierischen „Korporationen" vom Typus des Bienenstocks mit dem Zusammenschluß menschlicher Individuen zu Völkern. „Die Bienen . . . bringen als Gesamtheit etwas hervor, das . . . den Schluß macht und als Kopf des Ganzen anzusehen ist, den Bienenkönig. Wie dieses geschieht, ist geheimnisvoll, schwer auszusprechen, aber ich könnte sagen, daß ich meine Gedanken darüber habe. So bringt ein Volk seine Helden hervor, die gleich Halbgöttern zu Schutz und Heil an der Spitze stehen." Die Heroen faßt Goethe demnach als erwählte Gefäße oder Organe des Gruppen-Dämons auf.

11. K R I T I K D E S

TRANSZENDENTALISMUS

„Sein Jahrhundert kann man nicht verändern, aber man kann sich dagegenstellen und glückliche Wirkungen vorbereiten. Einer meiner nächsten Aufsätze soll den Titel führen: über die Hindernisse, die dem modernen Künstler im Wege stehen, vom Gestaltlosen zur Gestalt zu gelangen." So lautet der Schluß eines Goethebriefes (21. Juli 1798 an Schiller), der zuvor die Frage aufwirft, ob da« GenialischNaive in einem gewissen Sinn durch Schule überliefert werden 195

könne. In unserer Zeit, meint Goethe weiter, sei sogar die Idee davon verlorengegangen. Das Kernstück dieser Zeitkritik richtet sich offenbar gegen das „leidige Transzendieren" der modernen Welt. Goethe ist der erste (und für lange Zeit einzige) unbestechliche Kritiker des nordabendländischen Transzendentalismus. Er faßt diesen Komplex scharf ins Visier, all seinen Verzweigungen und Formverkleidungen spürt er nach. Er sieht die Wechselwirkung zwischen Ich-Aufblähung, Introversion und modischem Idealismus, zwischen Weltlosigkeit (Akosmismus) und Sentimentalität, Freiheits-Metaphysik und Entsinnlichung. Zunächst ein Wort zur Terminologie: transzendental nennt Kant die Fragestellung, die sich auf die Möglichkeit der Erkenntnis a priori richtet. Im Zusammenhang unserer Betrachtungen hat das Wort eine ganz andere Bedeutung: der transzendentale Typus ist eine Form des Welterlebens, deren ätherhaft sich überbreitende Dynamik in ein Jenseits der Erscheinung hinüberstrebt. Das „Hinüberlangen" kann auch die Form tätiger Weltdurchdringung annehmen: eine im nördlichen Abendlande fast typisch zu nennende Unterart. Wenn es sich darum handelt, Goethes Stellung zum Transzendentalismus zu schildern, so wird man begreiflicherweise zunächst von den weltanschaulich markanten Vertretern des TranszendentalTypus ausgehen, mit denen Goethe in Berührung stand. Also etwa von Lessing, Herder, Kant, Fichte, Schiller, Kleist, Beethoven, Novalis. Daß hier die „antipodischen" Züge im ganzen überwiegen, ist klar, bedarf keines besonderen Hinweises. Sehr viel schwerer hält es natürlich, dieses Spannungsmoment zu würdigen, wenn es sich um weltanschaulich weniger ausgeprägte Vertreter des Typus II handelt. Man denke etwa an Merck, Knebel, Charlotte v. Stein und Goethes Vater. Nicht daß die Individual-Problematik dieser Beziehungen durch typologische Betrachtung restlos „aufgelöst" werden könnte: wohl aber scheint es möglich, einen allgemeinen emotionalen Hintergrund wahrzunehmen. Man denke etwa an das Kühl-Temperierte, Umständlich-Pedantische des Johann .Kaspar Goethe, an die puristischen Kunst-Urteile der Frau v. Stein, die — auch nach Abzug privat-persönlicher Ressentiments — ein dem Schillerschen verwandtes Spalt-Weltgefühl erkennen lassen. Am besten vertrug sich Goethe mit jener Spielart des Typus II, die ihre Dynamik im Gehäuse birgt: Zelter, der „Urfreund" Knebel. Aber auch mit den Aktiven, ja Aggressiven, wie Schiller oder Fichte, konnte er ein Stück Weges zusammen gehen. Am entschiedensten trennten sich die 196

Pfade, wo das Morbose,. Todessüchtige ins Spiel trat: Kleist, Novalis, E. Th. A. Hoffmann. In aller Neuzeit — vom Mittelalter bis zur Romantik gerechnet — spürt Goethe das „Zerstückelte", „Künstliche", „Phantastische", „Nebulose", das zugleich „Überfüllte" und „Leere" (Faust II, V. 9121), die Vorherrschaft des Gefühls. Diese A^elt geht (wie Mignon, Euphorion und Homunkulus) aus „tinnatürlicher" Zeugung hervor1. Der Tenor all dieser Klagen und Anklagen heißt mit einem Worte: Entformung. Erblickt Goethe im Transzendentalismus einerseits einen mächtig weit ausgreifenden Komplex der nordabendländischen Lebensverfassung schlechthin, so sieht er andererseits eine krisenhafte Steigerung und Zuspitzung dieser Tendenzen in allerjüngster Zeit. „Es ist nun schon bald zwanzig Jahre, daß die Deutschen sämtlich transzendieren. Wenn sie es einmal gewahr werden, müssen sie sich wunderlich vorkommen" 2 . Nicht aus Unverständnis und „Kälte des Olympiers" stieß er Heinrich von K l e i s t von sich, wie oft behauptet wird, sondern aus dem sicheren Instinkt für den nihilistischen Untergrund dieser Künstlerschaft. Als Anwalt des werdenden Lebens sah er in Kleist mit Grauen eine spätzeitliche Menschenform aufsteigen, die alles Dasein erstlich von der T o d e s s e i t e her anschaut (die „nordische Schärfe des Hypochonders"), die das Werden zernichtet, das ,,Entwerden" als eigentliches Ziel setzt. Man höre nur auf den durchklingenden Grundton im Kleist-Gespräch mit Falk: jeder Satz verneint das fremd-feindliche Lebensgefühl, das ihm hier in exemplarischer Verdichtung und mit besonderer Aggressivität entgegentrat. Und zum Ausklang setzt Goethe dieser dunkel gespürten Todesnähe, Todessüchtigkeit die quellende Jugendschöne, die Werdelust südlicher Novellistik entgegen! „Einst kam das Gespräch auf K l e i s t und dessen Käthchen von Heilbronn. Goethe tadelt an ihm die nordische Schärfe des Hypochonders; es sei einem gereiften Verstände unmöglich, in die Gewaltsamkeit solcher Motive, wie er sich ihrer als Dichter bediene, mit Vergnügen einzugehen. .Auch in seinem Kohlhaas, artig erzählt und geistreich zusammengestellt, wie er sei, komme doch alles gar ungefüg. Es gehöre ein großer Geist des Widerspruchs dazu, um einen so einzelnen Fall mit so durchgeführter, gründlicher Hypochondrie im Weltlaufe geltend zu machen. Es gäbe ein Unschönes in der Natur, ein Beängstigendes, mit dem sich die Dichtkunst bei noch so kunstreicher Behandlung weder befassen, noch aussöhnen könne. Und wieder kam er zurück auf die Heiterkeit, auf die Anmut, auf die fröhlich bedeutsame Lebensbetrachtung 197

italienischer Novellen, mit denen er sich damals, je trüber die Zeit um ihn aussah, desto angelegentlicher beschäftigte" 3 . Eine Weltgefahr, die dieser spätmenschheitliche Typus namentlich in seiner nordabendländischen Aktualisierung heraufbeschwört, ist das „Veloziferisehe": Entwertung der Zeitlichkeit durch immer gesteigerten Vorgriff ins Künftige, wobei die Gegenwart entkernt zurücksinkt. Unter dem Anhauch seiner unablässig vorgreifenden Strebigkeit welkt das Sinnliche vorzeitig dahin. Schon an Herder bemerkt Goethe das Bestreben, daß er „immer schnell am Ziele sein wollte und die Idee ergriff, wo ich kaum noch einigermaßen mit der Anschauung zustande k a m . . . " 4 Im neuen Jahrhundert vollends wird das Veloziferisehe zur Signatur einer „durchaus gemachten Zeit". Allerwärts erblickt der Greis die Anzeichen: im Maschinenwesen, der Lebhaftigkeit des Handels, im „Durchrauschen" des Papiergelds, Anschwellen der Schulden, in Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffen, in den Blättern für sämtliche Tageszeiten. „Reichtum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wonach jeder strebt." Nichts läßt man reifen, verspeist im nächsten Augenblick den vorhergehenden. „Alles... ist jetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun" 5 . Als Goethe im Herbst 1824 seinen Briefwechsel (1794—1805) mit S c h i l l e r durchsieht, erkennt er rückschauend, daß ihm sein Dichter-Bündnis wohl Steigerung der Schaffensintensität brachte, aber auch die Gefahr des „Veloziferischen", durch Vorgriff Unausgereiften. „Zwei Freunde der Art", schreibt er an Zelter, „die sich immer wechselseitig steigern, indem sie sich augenblicklich expectorieren. Mir ist dabei wunderlich zumute, denn ich erfahre was ich einmal war. Doch ist eigentlich das Lehrreichste der Zustand, in welchem zwei Menschen, die ihre Zwecke gleichsam par forcé hetzen, durch innere Übertätigkeit, durch äußere Anregung und Störung ihre Zeit zersplittern; so daß im Grunde nichts der Kräfte, der Anlagen, der Absichten völlig Wertes herauskommt" 6 . An dieser illusionslosen späten Einsicht wird so recht klar, daß der Werk- und Wirkungsbund der beiden Dichter nichts daran zu ändern vermochte, daß beide „durch einen Erddiameter" voneinander geschieden blieben. Nicht nur bei den Romantikern, auch in Schillers Dichtimg spürt Goethe das „Pathologische", Transzendierende. Diese unüberbrückbare Kluft des elementaren Weltfühlens — hier Chthonismus, dort Transzendentalismus — läßt sich mit besonderer Klarheit an den letzten Gestaltungszielen ablesen. Ein alles überbietendes Gipfelwerk transzendentaler Dichtung hatte Schiller geplant: nicht Rückschau ins arkadische Kindheits198

paradies, sondern Vorblick in Elysium sollte die vollendete I d y l l e geben. In dieser Gattung, der höchsten Aufgabe des sentimentalischen Dichters, sei „aller Gegensatz der Wirklichkeit mit dem Ideale... vollkommen aufgehoben". (Über naive und sentimentalische Dichtung.) Genaueres über den Plan einer solchen Idylle erfahren wir durch einen Brief Schillers an Wilhelm von Humboldt. Ihr Vorwurf: die Vermählung des Herkules mit der Hebe: „Der Stoff dieser Idylle ist das Ideal. Denken Sie sich den Genuß, lieber Freund, in einer poetischen Darstellung alles Sterbliche ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freiheit, lauter Vermögen — keinen Schatten, keine Schranke, nichts von dem allem mehr zu sehen... Ich zweifle nicht ganz daran, wenn mein Gemüt nur erst ganz frei und von allem Unrat der Wirklichkeit recht rein gewaschen i s t . . . " Jahrzehnte später erst erfuhr Goethe von diesen Plänen. „Humboldt hat mir Briefe mitgebracht, die Schiller in der unseligen Zeit jener Spekulationen an ihn geschrieben. Man sieht daraus, wie er sich damals mit der Intention plagte, die sentimentale Poesie von der naiven ganz frei zu machen. Aber nun konnte er für jene Dichtart keinen Boden finden, und dies brachte ihn in unsägliche Verwirrung. Und als ob", fügte Goethe lächelnd hinzu, „die sentimentale Poesie ohne einen naiven Grund, aus welchem sie gleichsam hervorwächst, nur irgend bestehen könnte!" (Zu Eckermann, 14. November 1823.) Sehr treffend sieht Goethe hier das „Bodenlose" einer durchaus entsinnlichten Dichtung. Nur in einem Punkte trifft sein Urteil vielleicht nicht völlig zu: wenn er Schillers stoff-feindliche, ätherhafte Kunstträume als eine Verirrung ansieht, die b l o ß durch sein KantStudium, seine „philosophische Richtung" ins Leben getreten wäre. Offenbar trug doch Schiller ein gut Teil des „Kantianismus" s c h o n i n s i c h , bevor er überhaupt an Kants Schriften geriet. Sein Plus Ultra war nichts Angelesenes, sondern die innere Dynamik seines Typus. Wohl mag Goethe recht behalten, wenn er (zu Eckermann, 14. April 1824) bemerkt, Schillers Stil sei am prächtigsten und wirksamsten, sobald er nicht philosophiere. Ganz allgemein beklagt er in diesem Gespräch das unsinnliche, unfaßliche, breite und aufdröselnde Wesen der philosophischen Spekulation. Ihr schiebt er die Hauptschuld an der zunehmenden Entsinnlichung der deutschen Sprache zu. Zweifellos nicht ohne Berechtigung. Der Schul-Jargon der Philosophie seit Kant ist wirklich an „Weltlosigkeit" schwer zu überbieten. Aber ist an alledem nur die Philosopie als M e t i e r schuld? Steht nicht hinter ihr eine viel allgemeinere Entsinnlichung der Lebensverfassung? 15 D a n c k e r t , Goethe.

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Nicht nur in der Philosophie, in den Wissenschaften allgemein erblickt Goethe eine unheilvolle Spaltung zwischen Realität und Idee. Hier „ward eine höhere ideelle Behandlung immer mehr von dem Wirklichen getrennt, durch ein Transzendieren und Mystizieren, wo das Hohle vom Gehaltvollen nicht mehr zu unterscheiden ist, und jedes Urbild, das Gott der menschlichen Seele verliehen hat, sich in Traum und Nebel verschweben muß" 7 . In den Maximen (1240) aus dem Nachlaß spricht er von einer bösen Art, in den Wissenschaften abstrus zu sein: „man entfernt sich vom gemeinen Sinne, ohne einen höhern aufzuschließen, transzendiert, phantasiert, fürchtet lebendiges Anschauen, und wenn man zuletzt ins Praktische will und muß, wird man auf einmal atomistisch und mechanisch". Das Schizoide, Weltaufspaltende des Transzendentalismus tritt Goethe am eindeutigsten, zugespitztesten in K a n t s Philosophie entgegen8. Von der Erkenntnistheorie des Königsbergers nimmt er in jüngeren Jahren kaum Notiz, sie bleibt ihm fremd und gleichgültig: „Kants Kritik der reinen Vernunft war schon längst erschienen; sie lag aber völlig außerhalb meines Kreises" (Einwirkung der neueren Philosophie). Wie hätte er sich auch mit einer Lehre anfreunden können, für die Natur bloße Erscheinung bedeutete, d. h. aber einen gestaltlosen Rohstoff, an dem sich menschliches Erkenntnisvermögen nur mathematisch und mechanistisch „verarbeitend" betätigen konnte. Für den Transzendental-Phänomenalisten ist die Sinnenwelt (indisch gesprochen) „Maja", Erscheinungsdunst, hinter welchem sich ein „Ganz-Anderes" (Kants Ding an sich) verbirgt. Goethe hingegen erblickt im Sinnlichen die zwar bruchstückhafte aber keineswegs gleisnerische Sichtbarwerdung von Weltessenz: „der Gottheit lebendiges Kleid". „Mit der Kantischen Lehre", schreibt er 1793, „wird es gehen wie mit Modefabrikwaren, die ersten werden am teuersten bezahlt, nachher macht man sie überall nach und sie sind leichter zu kaufen" 9 . Später studiert er einige seiner Schriften, vor allem die Anthropologie und die Kritik der Urteilskraft, obschon ihm Schiller widerrät, „und zwar nicht ohne Gewinn"10. Aber auch nicht ohne energischen Einspruch gegen die W e l t - E n t w e r t u n g , gegen das Untröstliche dieser Betrachtungsweise: „von der Vernunfthöhe herunter sieht das ganze Leben wie eine böse Krankheit und die Welt einem Tollhaus gleich", schreibt Goethe nach der Lektüre von Kants „Anthropologie" n . Das Jahr 1798 bedeutet den Höhepunkt von Goethes Kant-Assimilation. Den Auftakt bildet Schillers Briefkommentar vom 19. Januar zu Goethes Aufsatz „Erfahrung und Wissenschaft": Umdeutung der Goetheschen Wissenschaftslehre im Sinn von Kants transzendentaler 200

Schematik (vgl. S. 72, 279). Ohne zum Kantianer zu werden, zieht Goethe vor allem als Forscher doch zeitweilig1 Vorteil aus der Methodik gesteigerter Subjekt-Objekt-Spaltung. „Die Philosophie", so schreibt er am 10. Februar (1798) an Schiller, „wird mir deshalb immer werter, weil sie mich täglich immer mehr lehrt, mich von mir selbst zu scheiden, das ich um so mehr tun kann, da meine Natur, wie getrennte Quecksilberkügelchen, sich so leicht und schnell wieder vereinigt. Ihr [Schillers] Verfahren bot mir darin eine schöne Beihilfe.. ."12 Tatsächlich zeigen Goethes kunsttheoretische Aufsätze der Jahre 1797—99 nach dem Urteil G. Plathows13 „ein zeitweiliges bedenkliches Ausschlagen des Pendels . . . nach dem Subjekt hin". Bedenklich natürlich im Sinne der Integrität der Goethischen Lebensverfassung. Goethe selber mochte diese Gefahr damals gar nicht ins Bewußtsein gekommen sein; er vertraute auf die natürliche Kohäsionskraft seiner „Quecksilberkügelchen". Schärfer sah Carl August das Stilwidrige des „Kantianers" Goethe: „über Goethen habe ich mich wohl zehnmal halb zu Schanden geärgert, der ordentlich kindisch über das alberne kritische Wesen ist und einen solchen Geschmack darin findet, daß er den seinigen sehr darüber verdorben hat"14. Diese Zwischenzeit des Kant-Einflusses, die mit dem Briefe vom 17. Oktober 179615 an F. H. Jacobi anhebt, worin es heißt, daß „es jetzt auf [lies: ergänzende] Ausbildung des Subjekts ankommt, daß es so rein und tief als möglich die Gegenstände ergreife und nicht bei mittleren Vorstellungsarten stehen bleibe, oder wohl gar mit gemeinen sich helfe", betrachtete Goethe wie eine selbstverordnete Kur. Ihm kam es darauf an, den früheren „steifen Realism" und die „stockende Objektivität" zu überwinden16, mit anderen Denkarten bekannt" zu werden, „die ich, ob sie gleich nicht die meinigen werden können, doch als Supplement meiner Einseitigkeit zum praktischen Gebrauch äußerst bedarf". Aber es lag keineswegs in seiner Absicht, sich mit Haut und Haar dem transzendentalen Idealismus zu verschreiben. Daß der Kritizist glaubte, auf der Stufenleiter der Anschauungsarten ganz oben zu stehen, konnte in Goethes Augen nur als unbegründeter Hochmut gelten. Wo es anging, suchte sich Goethe den grundsätzlichen Dualismus des Kantischen Denkens durch „Polarisierung" anzuverwandeln: die schroffe Kluft zwischen Subjekt und Objekt, Verstand und Sinnlichkeit, Ding an sich und Erscheinung, die Kant voraussetzte, wird in Goethes Blickfeld zur Systole-Diastole des menschlichen Geistes, zum atmenden Wechseltakt der Erkenntnis, „niemals getrennt, immer pulsierend". is*

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Klar erkennt er in Kants Weltlosigkeit das Überwertigsein des S u b j e k t s , die „gewaltsame Vorstellungsart" 17 . Sein „ungeheures Lehrgebäude" erscheint ihm als eine Drohburg, eine „Zwingfeste", von woher die „heitern Streifzüge über das Feld der Erfahrung beschränkt werden sollten" 18 . „Kant beschränkt sich mit Vorsatz in einen gewissen Kreis und deutet ironisch immer darüber hinaus" 19 : der Klassiker in Kant setzt Grenzen, der Transzendentalist durchbricht sie. Mit physiognomischem Scharfblick erspäht Goethe den unterirdischen Zusammenhang dieser Subjekt-Erhöhung mit dem protestantischen Fiduzialglauben. Nur aus dem Sektenwesen, aus dem Protestantismus, „wo jeder sich selbst recht gab und dem andern nicht, ohne zu wissen, daß sie alle bloß subjektiv urteilten", konnte der kantische Skeptizismus oder Kritizismus entstehen (zu Riemer, 5. März 1809). Die einspurige Blickwendung der Transzendentalphilosophie auf die E r k e n n t n i s a k t e verwirft er als „Hypochondrie": „Was ist das mit der Philosophie und besonders mit der neuen f ü r eine wunderliche Sache! In sich selbst hineinzugehen, seinen eignen Geist über seinen Operationen zu ertappen, sich ganz in sich zu verschließen, um die Gegenstände desto besser kennen zu lernen: ist das wohl der rechte Weg? Der Hypochondrist, sieht der die Sachen besser an, weil er immer in sich gräbt und sich untergräbt? Gewiß, diese Philosophie scheint mir eine Art von Hypochondrie zu sein, eine falsche Art von Neigung, der man einen prächtigen Namen gegeben hat." In der Maske eines „Alten", eines „praktischen Arztes" spricht der Dichter sein Grundbedenken gegen den transzendentalen Idealismus aus. („Der Sammler und die Seinigen", J 798—99, 2. Brief.) Bei anderen Gelegenheiten erscheint ihm jedoch der Ich-Kult, das Auf-sich-selbst-Gestelltsein des Menschen, als ein allgemeiner locus minoris resistentiae der nordischen Lebensverfassung. Schon in jungen Jahren erregt die innere Chaotik, der „humoristische Zug" der nordischen Mythe sein Befremden: „Sie schien mir die einzige", schreibt er in „Dichtung und Wahrheit" (3. Teil, 12. Buch), „welche durchaus mit sich selbst scherzt, einer wunderlichen Dynastie von Göttern abenteuerliche Riesen, Zauberer und Ungeheuer entgegensetzt, die nur beschäftigt sind, die höchsten Personen während ihres Regiments zu irren, zum besten zu haben und hinterdrein mit einem schmählichen, unvermeidlichen Untergang zu bedrohen." In der „Odinischen Religion" spürt er gleichsam das mythische Urbild der „querelies allemandes"; unaufhörliche Urfehde zwischen bloßen Individualwesen. Gar bedenklich fällt ihm der Zwiespalt auf, den die nordischen Legenden ganz unverhohlen aussprechen: „Götter ver202

ehr,en die sich, untereinander selbst immer zum besten haben, von Zauber und Naturkräften immer verhöhnt werden" 20 . Dem Italienfahrer tritt es schmerzlich ins Bewußtsein, daß Deutschland, ja der ganze abendländische Norden, das L a n d o h n e G ö t t e r ist. Dieses Erlebnis wiederholt sich bei der Lektüre des Nibelungenliedes: „In den Nibelungen ist ein eherner Himmel, keine Spur von Göttern, von Fatum. Es ist bloß der Mensch auf sich gestellt und seine Leidenschaften." „Schon dies ist Goethen ein Hauptbeweis", fügt Riemer hinzu, „daß es eine n o r d i s c h e und heidnische Fabel ist" 21 . Nicht etwa Heidentum schlechthin, sondern „nordisches" Heidentum erblickt Goethe im Nibelungenlied. Nordisch bedeutet hier jenes Zurückgeworfensein der Individualität auf ihr eigenes Innere, das sich schon in manchen frühgeschichtlichen Dichtungen der Deutschen (allgemeiner: der westgermanischen Völker) ankündigt. Als seelische Ausgangssituation nordischer Sentimentalität, nordischen Mystizismus' betrachtet Goethe eine sonderbare Verschärfung der Subjekt-Objekt-Spaltung. Wenn dem Menschen die Objekte genommen oder verkümmert werden, so „feinert und steigert sich" das Ideale, die innere Strebigkeit, bis zur Selbstübertrumpfung. Daher haben die meisten Menschen im Norden viel mehr Ideales in sich, als sie brauchen und verarbeiten können22. Nur zu leicht verlieren sie sich „ins Abstruse, in den Abgrund des Subjekts" 2 3 ; dem Einwärtsgekehrten ist es schwerer, als man denkt, „von dem Inneren zu dem Äußeren überzugehen"24. Dutzende von Aussprüchen Goethes über deutsche Art zielen auf die unheimliche V e r e i n z e l u n g der auf sich selbst gestellten Individualität: also auf einen letztlich überdeutschen, eigentlich nordabendländischen, „transzendentalen" Wesenszug, der freilich in Deutschland (durch Konstellationen, von denen andeutungsweise im Schlußkapitel des III. Buchs zu sprechen sein wird) zu besonders verhängnisvoller Aufspaltung des Gemeinlebens führen mußte. „Jeder will original..unabhängig . . . wo nicht sein doch scheinen . . . Jeder h a t . . . sein eignes Fürsich . . . sucht seine Individualität eifrig zu bewahren . . . So viele Köpfe so viele Sinne, das ist eigentlich die Devise unserer Nation... Es i s t . . . immer das willkürliche Subjekt, das sich gegen Objekt und Gesetz wehrt und sich einbildet, dadurch etwas zu werden und wohin zu gelangen . . . Unbezwingliche Selbigkeitslust der lieben Deutschen... Niemand hat einen Begriff, daß ein Individuum sich resignieren müsse, wenn es zu etwas kommen s o l l . . . Möchten sie, nicht wie bisher, einander ewig widerstrebend, endlich auch gemeinsam wirken, u n d . . . auch den inneren 203

Parteisinn ihrer neidischen Apprehensionen unter einander besiegen, dann würde kein mitlebendes Volk ihnen gleich genannt werden können... Deutsche gehen nicht zugrunde..., weil es Individuen s i n d . . . Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel, und doch bilden sie sich gerade das Umgekehrte e i n . . . " Die Deutschen sind recht gute Leut Sind sie einzeln, sie bringens weit . . . (Zahme Xenien) Übersteigerter Individualismus führt nicht nur zu wechselseitiger Schädigung und unfruchtbarem Lebensneid, sondern vor allem auch zu fortgesetzten Brüchen und Lücken der Überlieferung. Dies sind die Hauptpunkte des großen Lehr- und Bekenntnisbriefes an F. B. v. Buchholtz vom 14. Febuar 1814. Deutschland ist für Goethe das Land, wo „so viel vorzügliche Individuen geboren werden und nebeneinander existieren" wie vielleicht in keiner anderen Nation. Aus Unstetigkeit der Bildungsüberlieferuhg entspringen jedoch, „da der Deutsche nichts Positives anerkennt und in steter Verwandlung begriffen ist ohne jedoch zum Schmetterling zu werden", eine unübersehbare Reihe von Bildungsverschiedenheiten. „Ein Deutscher braucht nicht alt zu werden, und er findet sich von Schülern verlassen, es wachsen ihm keine Geistesgenossen nach; jeder, der sich fühlt, fängt von vorn an, und wer hat nicht das Recht, sich zu fühlen?" . . . Jede Folgezeit sucht „die vorhergehende zu verdrängen und aufzuheben . . . , anstatt ihr für Anregung, Mitteilung und Überlieferung zu danken" 25 . An den französischen, Literaten (von Le Globe) erfreut ihn „der gesellige Ton" . . . : „man sieht, diese Personen denken und sprechen immerfort in großer Gesellschaft, wenn man dem besten Deutschen immer die Einsamkeit abmerkt und jederzeit eine einzelne Stimme vernimmt" 26 . Am bittersten vermißt er den Mangel jeglichen Kollektivgeistes in höheren Dingen. Das Vereinswesen geht auf Wohltätigkeit, Monumente und fromme Stiftungen aus; „aber die höheren Zwecke, wozu Geist und Kraft nötig ist, in den Regionen der Wissenschaft und Kunst muß jeder für sich allein zu erreichen suchen; es kommt selten der Fall, daß er wahrhaft gefördert werde". Möchte es nach all diesen Zeugnissen scheinen, als erblicke Goethe in der „Selbigkeitslust" das hervorstechende Nationalcharakteristikum der Deutschen, so betont er in anderen Aussprüchen mehr die ungeheure Steigerung des Ichwesens in jüngster Zeit. Es ist, als ob der transzendentale Typus aus älteren Latenz-Zuständen erwachte und nun, in Jüngstvergangenheit und Gegenwart, recht eigentlich 204

erst zu voller Herausprofilierung seiner Selbstigkeit gelange. Die Fichteaner z. B. „kauen sämtlich ihren eignen Narren beständig wieder, ruminieren ihr Ich. Das mag denn freilich ihnen und nicht andern genießbar sein" 27 . Die Philosophie des Tages, der Kritizismus und Idealismus, „kommt... nie zum Objekt"28. „Meine ganze Zeit war ganz in subjektiver Richtung begriffen.. ," 2 9 „Überall ist es das Individuum, das sich herrlich zeigen will, und nirgends trifft man auf ein redliches Streben, das dem Ganzen und der Sache zuliebe sein eigenes Selbst zurücksetzte"30. Vielfach kleidet das emanzipierte Selbst seine innere Dynamik, seinen Hang zur Überbreitung, sein (im höchsten, reinsten Falle) ätherhaftes Weitengefühl in die Form einer Metaphysik der F r e i h e i t . Goethe sieht, historisch tiefblickend, den Zusammenhang zwischen Einzelgängerei, Freiheitsringen und dem Umbruchhaften in der deutschen Geschichte. Tief beeindruckt ihn der Satz Guizots: „Die Germanen brachten uns die Idee der persönlichen Freiheit." Er knüpft daran bedeutsame Bemerkungen darüber, daß „diese Idee noch bis auf den heutigen Tag unter uns wirksam" ist. „Die Reformation kam aus dieser Quelle wie die Burschenverschwörung auf der Wartburg, Gescheites wie Dummes. Auch das Buntscheckige unserer Literatur, die Sucht unserer Poeten nach Originalität, und daß jeder glaubt, eine neue Bahn machen zu müssen, sowie die Absonderung und Verisolierung unserer Gelehrten, wo jeder für sich steht und von seinem Punkte aus sein Wesen treibt: alles kommt daher... Die Deutschen... gehen jeder seinem Kopfe nach, jeder sucht sich selber genug zu tun; er fragt nicht nach dem andern, denn in jedem lebt, wie Guizot richtig gefunden hat, die Idee der persönlichen Freiheit, woraus denn, wie gesagt, viel Treffliches hervorgeht, aber auch viel Absurdes"31. Für die Lebenspraxis gefahrvoll wird dieses Freiheitsstreben gerade durch seine transzendentale Unbedingtheit, durch sein Überfliegen der konkreten Möglichkeiten. In K a n t s Lehre entdeckt Goethe die Abspaltung, Degradierung des natürlichen Menschen zum Tier haften; um so höher erhebt sich dann das intellegible, autonome Freiheitssubjekt. Wenn man sich einen natürlichen Menschen konstruiert, der bloßes Triebwesen, reines Animal ist, dann ist dann freilich der freie Wille „eine vornehme Person, die sich anmaßt, aus Natur gegen die Natur zu handeln". (An Schiller, 31. Juli 1799.) Zur höchsten Souveränität gelangt das Freiheits-Erlebnis des transzendentalen Idealismus, wie man weiß, in der Lehre F i c h t e s. Die anmaßliche Sprache der Fichteaner spricht der Bakkalaureus im. Zweiten Faust (2. Akt): 205

Die Welt, sie war nicht, eh ich. sie erschuf; Ich aber frei, wie mirs im Geiste spricht, Verfolge froh mein innerliches Licht . . .

(V. 6794—6804)

Eckermanns Frage, ob hier nicht „eine gewisse Klasse ideeller Philosophen gemeint" sei, erscheint nicht so abwegig (6. Dezember 1829). Z w a r w i r d m a n den Bakkalaureus nicht bloß, v/ie es f r ü h e r oft geschah, als bloße K a r i k a t u r Fichtes oder der Fichteaner ansprechen, sondern als allgemeinen Typus jugendlicher Anmaßlichkeit, wie Goethe selbst ihn (zu Eckermann) auslegt. A b e r es ist keine Frage, daß Fichtes Ich-Kult bei dieser Konzeption zum mindesten P a t e gestanden hat 3 2 . In Fichtes A r t zu philosophieren sieht Goethe das Schizoide, A b spaltende. So schildert er in einem Brief an Sömmering, wie die neuere Philosophie ihr Handwerk „abgeschnitten, streng u n d u n erbittlich" forttreibe und die G e m ü t s k r ä f t e kritisiere, „mit denen wir die Gegenstände zu ergreifen genötigt sind". Über die NichtIchs, „die m a n doch gesetzt hat", und die doch unhöflich genug sind, „durch die Scheiben zu fliegen", ü b e r die große Verlegenheit des „absoluten Ichs" spottet er im Brief an C. G. Voigt vom 10. April 179 533. Man darf nicht glauben, Goethe hätte in laienhafter A r t Fichtes Ich-Lehre mißverstanden. Sehr wohl w u ß t e er, daß der Philosoph u n t e r dem „Ich" nicht die Privatperson, sondern das Welt-Ich verstand; aber er spürte andererseits sehr klar in Fichtes A u f t r e t e n jenes gesteigerte Selbstgefühl, das seine Ich-Lehre oft zweideutig schillern läßt. „Er w a r eine der tüchtigsten Persönlichkeiten, die m a n je gesehen, u n d an seinen Gesinnungen in höherem Betracht nichts auszusetzen; aber w i e h ä t t e er mit der Welt, die er als seinen erschaffenen Besitz betrachtete, gleichen Schritt halten sollen?" 34 Die klassische Lust a m Handeln u n d Ausformen verbindet Fichtes A r t mit Goethes Denkweise. A b e r in tieferen Schichten, im G r u n d typus des Ich-Welt-Verhältnisses zeigt sich die Trennungslinie. Was nicht Ich ist, sagst du, ist nur ein Nicht-Ich. Getroffen, Freund! So dachte die Welt längst, und so handelte sie. (Fichtes Wissenschaftslehre) Unleidlich, überheblich mußte ihm der Geltungsanspruch jenes t r a n s zendentalen Ich auf Absolutheit erscheinen, der sich doch bloß aufs Moralische gründet: „Kommt n u r nicht absolut nach Haus" (Faust II,. V. 6736). Eine ganze Stufenleiter von Metamorphosen des Freiheitsgedankens t r a t Goethe i m Schaffen S c h i l l e r s entgegen. Zu Zeiten konnte er Schillers souveräne große A r t (bis zur Selbstpreisgabe d e r 206

eigenen Position) rühmen und sagen: „So sollte man auch sein .. ." 3 5 Aber dem stehen andere Aussagen gegenüber, die das Fragwürdige des idealistischen Freiheitsringens um so stärker fühlbar machen. Dem Kult der physischen Freiheit, die Schiller in seiner Jugend so viel zu schaffen machte, setzt Goethe seinen ganz anderen Freiheitsbegriff entgegen: Verehrung des Höheren, das wir ja selber (keimhaft) in uns tragen. Kaum weniger problematisch erscheint ihm die Verherrlichung der ideellen Freiheit in Schillers späterem Wirken: „ich möchte fast sagen, daß diese Idee ihn getötet hat; denn er machte dadurch Anforderungen an seine physische Natur, die für seine Kräfte zu gewaltsam waren" 36 . Man spürt: hier stoßen nicht zwei Meinungen, sondern zwei wurzeltief geschiedene W e l t g e f ü h 1 e aneinander. ' Schillers Freiheitsdrang geht letztlich aus der ganz und gar dynamisch-expansiven Bauart seines Ich- und Welterlebens hervor, aus Hoch- und Weitendrang (Eckeharts „ufkriegende Kraft"!). Wenn höhere Naturen wie Schiller oder Fichte von der inneren Dynamik des transzendentalen Selbstes zu höchster Idealität sich zu steigern vermögen, so kann der gleiche Drang zur Überbreitung im Durchschnittsmenschen oft gerade eine geheime Furcht und Angst vor dem „inneren Chaos" auslösen, die ihrerseits wieder zur Flucht ins sichere Gehäuse irgendeiner Konvention führt. (Vgl. Spenglers „Weltangst", Heideggers Setzung der Angst als Grundbefindlichkeit des Menschen.) Dieses unterschwellige Gegenspiel der Kräfte mochte Goethe wohl oft an den Gesinnungen und Handlungen seiner menschlichen Umwelt verspürt haben. Eine Reihe seiner Aussprüche zielt jedenfalls deutlich auf den Gegentyp des idealistischen Geistesdeutschen, auf die Gefahr der Banalisierung, auf das Triviale, das jeder Gehäusebildung anhaftet, die ja immer nur eine von außen gestützte, notdürftige Form der Lebensfristung bedeuten kann. Einige Briefstellen und Aussprüche mögen diesen Punkt verdeutlichen. „Es ist sonderbar, daß die Deutschen mit mancherlei Kräften und Talenten so wenig Gefühl vom G e h ö r i g e n in den Künsten haben" 37 . Als Grundgebrechen unseres Theaterwesens, unserer Romane bezeichnet er die Neigung zum Bourgeoisen, zur „wohlsoutenierten Mittelmäßigkeit, aus der man nur allenfalls abwärts ins Platte, aufwärts, in den Unsinn einige Schritte wagt" 38 . Und doch sagt er einundvierzig Jahre später gerade vom T h e a t e r , es sei „das einzige eigentlich Lebendige im bürgerlichen, Leben" 39 . Daher auch seine Warnung vor einem Erziehungswesen, das nur noch auf Domestikation und Philisterei hinarbeitet40. Gegenüber dem älteren französischen Edelmanntyp erscheinen ihm altdeutsdie Ritter207

gestalten wie Götz, Frundsberg usw. „immer als Bürger und Philister" (zu Riemer, 5. März 1809). Am aufschlußreichsten ist vielleicht eine Stelle im 19. Buch von Dichtung und Wahrheit, wo er den Adlerflug der neueren deutschen Philosophie als wirksames Heilmittel und Gegengift bei der Bekämpfimg des überhandnehmenden T r i v i a l e n (er nennt es im alten Sprachgebrauch: das Gemeine) preist. So hat er am Ende auch seine eigene nationale Mission verstanden, die er in dem berühmten Vierzeiler tinzweideutig ausspricht.

^ könnt mir immer ungescheut, Wie Blüchern, Denkmal setzen; Von Franzen hat er euch befreit, Ich von Philister-Netzen.

(Zahme Xenien)

Neben dem kühn Vorgreifenden sah und beschrieb bereits Schiller noch eine andere Ausdrucksmöglichkeit seines Typus aufs klarste: das S e n t i m e n t a l i s c h e . Er deutete es rousseauisch als Empfindung der Trauer über die „verlorene Natur". Und das ist auch richtig, wenn man dabei nicht bloß an äußere Nötigungen der Zivilisation denkt, sondern zunächst an die verlorene innere Nahrhaftigkeit, die hingeschwundene Elementarverbundenheit mit dem Kosmos. Diese auf fortwährende Selbstbespiegelung („Reflexion" sagt Schiller) gegründete Empfindsamkeit hat Goethe bekämpft und als lebensgefährdend abgelehnt, wo sie ihm auch entgegentrat. Er erkennt auch, daß Trivialisierung und Empfindsamkeit nur zu häufig Bundesgenossen sind; in beiden regt sich der Gegenlauf der seelischen Weitenimpulse. „Bei den Deutschen wird das Ideelle gleich sentimental, zumal bei dem Troß der ordinären Autoren und Autorinnen"41. In Ifflands Leben entdeckt er ein wunderliches Durcheinanderwirken von Kunst und Sentimentalität und fügt erläuternd hinzu: „Mir kommt vor, weil wir in unsern Tagen meist nur Halbkünste ausüben, daß man noch irgend ein Supplement nötig hat. damit die Produktion als etwas Ganzes erscheine"42. Eines der unverhülltesten Altersbekenntnisse Goethes gilt dem „Sentimentalischen" im deutschen Kulturleben. Goethe bestimmt sein Wesen näherhin als sinnliche Überspanntheit, sich abscheidend vom Lebensstrome. „Es waltet in dem deutschen Volke ein Geist sensueller Exaltation, der mich fremdartig anweht: Kunst und Philosophie stehen abgerissen vom Leben in abstraktem Charakter, fern von den Naturquellen, welche sie ernähren sollen. Ich liebe das echt volkseigene Ideenleben der Deutschen und ergehe mich gern in seinen Irrgängen, aber in steter Begleitung des Lebendig-Natürlichen. Ich achte das Leben höher als die Kunst, die es nur verschönt"43. 208

In diesem Bekenntnisgespräch, in welchem Dinge zur Sprache kamen, die Goethe sonst kaum anrührte, kennzeichnet er mit unübertrefflicher Genauigkeit die arbeitende Dynamik, die geheimen Unterströmungen, das expansive, strömende aber doch naturfremde, in ein Anderssein hinüberlangende Grundwesen transzendentaler Geistigkeit irnd Kunst. Es handelt sich, genauer betrachtet, um keine Nationalkonstante, sondern um ein allgemeineres, übergreifendes Wesen. Es ist der t r a n s z e n d e n t a l e T y p u s , der sich — welthistorisch gesehen — zuerst in Indien von den Upanishaden bis zu den Dschainas philosophisch ausspricht, der dann im nördlichen Ab,endlande zuerst im stürmenden „Wodanismus" der Westgermanen mythische Gestalt gewinnt, später in Eckehart, Tauler, Luther, Shakespeare, Scheffler, Herder, Fichte, Schiller, Beethoven, Kleist, Novalis, Troxler, Byron, Shelley zur Weltwirkung gelangt. So vielstimmig all diese kritischen Belichtungen der nordabendländischen Transzendentalwelt sein mögen: an bloßer Kritik konnte sich Goethes weltoffener Sinn niemals Genüge lassen. Wohl der großartigste Versuch, das Problem des „Nordischen" künstlerischweltanschaulich zu bewältigen, ist in der Schöpfung der PhorkyasGestalt des Zweiten Faust zu erblicken, deren abgründigen Hintersinn erst Emrichs Forschungen aufgedeckt haben. Phorkyas ist Janusfigur: einmal Ausgeburt des urnächtlichen Chaos, zum anderen Vertreterin und Fürsprecherin der abendländischen Neuzeit, des Nordischen, Transzendierenden, der sentimentalischen Dichtung und Musik, der weltentfremdeten Innerlichkeit. Soweit Emrichs Deutungsbefund, angesichts dessen sich nun die Frage erhebt: wie diese Doppelheit auf eine tragende, gründende Einheit zurückzuführen sei? Die Antwort kann nur geschichtsmorphologisch begründet werden. Auch als „hermaphroditischer" (also keineswegs bloß negativer) Dämon bleibt Phorkyas-Mephisto dem zeugenden und wieder in sich zurückschlingenden Urchaos verbunden. Phorkyas symbolisiert mit anderen Worten zugleich Uranfängliches und Spätestes, die Scheidekraft der frühesten Schöpfung wie die vereinsamte Abgeschiedenheit der nordischen Seelenmystik, der Leibnizischen Monade. In diesem Symbol versammelt sich Goethes intuitives Wissen um die weltgeschichtliche Spätlage des transzendentalen Seelentums. Mindestens seit Schillers Versuch, das Wesen des „Sentimentalischen" zu ergründen, mußte Goethe sich darüber im klaren sein, daß auch sein Schaffen, wenn auch nicht im tiefsten Sinn ursprunghaft, so doch gewiß im Sinne der „zweiten Natur", der Konvention und Überlieferung, jener Transzendentalwelt tief verpflichtet war44. Mochte er sich z. B. später auch von der deutschen Gotik, von Shake209

speare usw. distanzieren, das Gefühl der geistigen Ahnenschaft blieb untilgbar. Freilich gehört Goethes Bejahung dieser Welt der Sphäre von Anangke und Tyche an; darüber hinaus schwingt Elpis, die Hoffnung auf den „Brückenschlag" zwischen den Ufern. Der transzendentale Typus ist offenbar — menschheitsgeschichtlich betrachtet — ein ganz junges Gebilde. Im nördlichen Europa tritt er vermutlich erst wenige Jahrhunderte vor und stärker noch in der Völkerwanderungszeit selbst in Erscheinung: im W e s t g e r m a n e n t u m (Deutsche, Niederländer, Flamen, Angelsachsen) sowie in Schweden. Die deutsche Wodansreligion ist eine seiner religiösen Frühsignaturen 45 . Aber schon fast um ein Jahrtausend früher — nur ganz grobe Schätzungen sind möglich — regen sich i n V o r d e r i n d i e n transzendentale Kräfte. Etwa seit der Upanishaden-Zeit sind sie religionsgeschichtlich faßbar. Noch im heutigen Indertum tritt uns der transzendentale Typus (II), wie schon Rutz erkundete, als seelische Dominante entgegen. Es ist nun ganz erstaunlich zu beobachten, mit welcher Spontaneität Goethe auf i n d i s c h e s W e s e n ansprach, als es ihm in Religion, Dichtung, Plastik und Baukunst vor Augen lag. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurden — zunächst durch Englands Vermittlung — die literarischen Hauptwerke Indiens in Europa bekannt. An der rasch aufblühenden Indologie nahm Goethe lebhaften Anteil. Das Spezifische der indischen Philosophie, die er in den Noten und Abhandlungen zum „Divan" (Geschichte) „abstrus" nennt, scheint ihm allerdings durch Vermittlung von Colebrookes „Essays on the Philosophy of the Hindus" (1823) nicht aufgegangen zu sein, denn er erblickt in ihrem geschichtlichen Entwicklungsgang eine Spiegelung der Epochen „die wir selber durchmachen": Sensualismus, Idealismus, Skepsis, Quietismus; vier Altersstufen 40 . Aber fast überall, w o ihm indisches Wesen g e s t a l t h a f t entgegentritt, regt sich scharfe Ablehnung. Besonderer Widerwille ergreift Goethe angesichts der indischen Plastik und des hinduistischen Götterpantheons. Nicht jeder kann alles ertragen; Der weicht diesem, der jenem aus; Warum soll ich nicht sagen: Die indischen Götzen, die sind mir ein Graus? Und so will ich, ein- f ü r allemal, Keine Bestien in dem Göttersaal! Die leidigen Elefantenrüssel, Das umgeschlungene Schlangengenüssel, 210

Tief Urschildkröt' im Weltensumpf, Viel Königsköpf' auf einem Rumpf, Die müssen uns zur Verzweiflung bringen, Wird sie nicht reiner Ost verschlingen. (Zahme Xenien) Im „Divan" rügt Goethe am Indertum „die Mängel einer seltsamen Verfassung und unglücklichen Religion"; er bewundert persische Art, weil „die fatale Nähe des indischen Götzendienstes nicht auf sie wirkte". „Verrückt-monströs" nennt er die Hindu-Religion. „Die indische Lehre taugte von Hause aus nichts, so wie denn gegenwärtig ihre vielen tausend Götter, und zwar nicht etwa untergeordnete, sondern alle gleich unbedingt mächtige Götter die Zufälligkeiten des Lebens nur noch mehr verwirren, den Unsinn jeder Leidenschaft fördern und die Verrücktheit des Lasters, als die höchste Stufe der Heiligkeit und Seligkeit, begünstigen." (Noten und Abhandlungen zum Westöstlichen Divan: Mahmud von Gasna.) Diese Abneigung ist ohne Frage tiefer verwurzelt als in Goethes „klassizistischem" Kunstgeschmack. Solcher Erklärungsversuch wäre unzulänglich. Denn Goethe war, wie Erich Jenisch 47 betont, durchaus nicht in dem Sinne orthodox griechisch, als hätte es für ihn außerhalb der Antike kein Heil gegeben. Man müsse daher den Grund, warum Goethe die Religion und religiöse Plastik Indiens verwarf, in tieferen, wesentlicheren Schichten seiner Persönlichkeit suchen, als in einer oberflächlichen, einseitig klassizistischen Geschmacksrichtung. Goethe selbst deutet auf den tieferen Grund seines Widerwillens, wenn er im Gespräch mit Wilhelm v. Humboldt das F o r m l o s e , E n t f o r m e n d e , E x p a n s i v e indischen Wesens betont. „Abgeneigt bin ich dem Indischen keineswegs, aber ich fürchte mich davor, denn es zieht meine Einbildungskraft ins Formlose und Difforme, wovor ich mich mehr als jemals zu hüten habe." Rein ästhetische Qualitäten mochte Goethe durchaus als wirksam empfunden haben. Was ihn zutiefst abstieß, war ohne Frage das transzendentale Lebensgefühl, das Ungemessene, Vage, Entformende, sich grenzenlos Überbreitende der transzendentalen Dynamik. Nehme sie niemand zum Exempel, Die Klefanten- und Fratzentempel! Mit heiligen Grillen treiben sie Spott, Man fühlt weder Natur noch Gott. Sondern ein wucherndes Vorstellungsleben, eine Phantasie, die das Maß des Organischen überschreitet. Über das „Ramayana" schreibt 211

er an Windischgraetz: „Lassen Sie mich gestehen, daß wir andern, die wir Homer als Brevier lesen, die wir uns der griechischen Plastik als der dem Menschen gemäßesten Verkörperung der Gottheit, mit Leib und Seele hingeben, daß wir, sag ich, nur mit einer Art von Bangigkeit in jene grenzenlosen Räume treten, wo sich uns Mißgestalten aufdrängen, und Ungestalten verschweben und verschwinden." Diese „unförmigen und überförmlichen Ungeheuer" entzogen sich, ebenso wie die Gestalten nordischer Götter und Helden, „doch ganz dem sinnlichen Anschauen", schreibt er in „Dichtung und Wahrheit" über die Fabelwesen des „Ramayana". Der vergleichende Hinweis auf die Nord-Mythologie unterstreicht das, was Goethe intuitiv als gemeinsamen Untergrund beider Mythenwelten herausspürte: das t r a n s z e n d e n t a l e L e b e n s g e f ü h l . Nicht zufällig sind übrigens Goethes „indische" Balladen dem Erlösungsmotiv gewidmet; sie bieten, wie Gundolf 48 bemerkt, kosmische Deutung menschlicher Unzulänglichkeit. Das stimmt zum Grundgepräge indischer „Erlösungskultur"; Goethe spürt ein Wesenhaftes, das er nun freilich nicht in seiner fremden Essenzhaftigkeit, wohl aber als Funktion eigener Bedürfnisse sich anverwandelte. Wo auch immer transzendentales Wesen ihm entgegentritt: Goethe spürt es auf, enthüllt seine Physiognomie, wertet es kulturmorphologisch als einen Spätstand des Lebens. Zwar spricht er nicht von einem Weltalter des Transzendentalismus, aber seine brennende Anteilnahme an Schellings „Weltaltern" und die Weltalter-Symbolik der vier Könige im „Märchen" könnten darauf hindeuten, daß er das Problem des Transzendentalismus in dieser Größenordnung bereits erblickte. Später hat dann Bachofen aus der Sicht des Mythendeuters und Archäologen seine Lehre von den beiden Weltaltern des Tellurismus und des Uranismus entwickelt. Das dritte symbolarme Weltalter des Transzendentalismus blieb dem streng rückschauenden Blick des bildempfänglichen Mythographen verschlossen. Er meinte, mit dem uranischen System der Paternität und der Himmelskulte habe die Menschheitsgeschichte ihr höheres Ziel, der Geschichtsprozeß seinen Abschluß erreicht49. Auch Frobenius' völkerkundlich unterbaute „Kulturkreislehre" drang nur bis zum „Zeitalter des Sonnengottes" vor. Spengler, dem der Instinkt für das Vorzeitliche abging, sah nur noch eine schmale Gruppe rein hochkultureller „Lichtreligionen", bzw. „hoher Kulturen", die er im übrigen als streng gesonderte, isoliert aufwachsende Gebilde verstand. Solcher künstlichen Problemverengung gegenüber sieht Ortega y Gasset mindestens theoretisch-abstrakt das Problem der geschichtlichen Groß-Rhythmen, der Makromorphologie, und fordert eine ihr zu wid212

mende neue Disziplin, die „Metahistorie". Einen tastenden Vorstoß in dieser Richtung unternimmt schließlich Leopold Ziegler50, der an Bachofens Lehre bewußt wiederanknüpft, jedoch mit dem ahnenden Hinweis, daß das „Delphicum" — Bachofens uranisches Weltalter — offenbar seinem Ende entgegengeht und von einem jüngeren, noch nicht zu benennenden Gebilde langsam abgelöst wird, dessen Umrisse sich noch nicht deutlich abzeichnen. Wie man sieht, kündigt sich' hier ein menschheitsgeschichtliches Problem von höchster Tragweite an. Zu seiner endgültigen Aufhellung sind alle Zweige der Kulturphysiognomik aufgerufen, im Bunde mit der Typenlehre. Mit diesen Ausblicken müssen wir uns hier begnügen.

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DRITTES

BUCH

WISSENSCHAFT UND

KUNST

1. W I S S E N S C H A F T S L E H R E SELBST-ERKENNTNIS Mindestens seit Descartes gilt die erste Frage vieler ErkenntnisTheoretiker dem D e n k s u b j e k t . Jahrhundertelang war es die Kardinalfrage abendländischer Philosophie, das Schlüsselproblem der Erkenntnislehre. Das Cogito ergo sum und ähnliche Formeln bedeuten, daß man Selbstbeobachtung, Innenschau für ertragreicher hält als Weltschau. Es ist die Methode des Rationalismus, der sich um jeden Preis zunächst einen unverrückbar festen Ausgangspunkt für alle weiteren Erwägungen spekulativer Art sichern will. In dieser Blickrichtung auf den „Träger" des Denkens und die Denkakte liegt etwas Unnatürliches. Als erster. Fachphilosoph sprach das wohl Hegel aus, der das krampfhafte Bemühen der Subjekt-Denker um den festen Avisgangspunkt mit dem grotesken Zappeln eines Menschen vergleicht, der schwimmen lernen will, ohne sich ins Wasser zu wagen. Lange Zeit vor Hegel sieht jedoch bereits Goethe mit unbeirrbar sicherem Instinkt die Widernatur des weltlosen „Denkens zum Denken" 1 . Er spürt das Schizoide, Sich-Abspaltende yorwaltender Introversion. Objektfremdes, freischwebendes, auf sich selbst zurückgebeugtes Denken ist akosmistisch, von der Welt losgerissen, darum von Unfruchtbarkeit bedroht. Ist schon die Blickrichtung auf die Denkakte einigermaßen künstlich, so erscheint das Bemühen der neueren Philosophen, das abgelöste I c h isolierend in den Mittelpunkt des Erkennens zu rücken, erst recht problematisch. Goethe ahnt, daß dieses Ich keineswegs ein scharf umrissenes, gleichsam punktuelles Gebilde ist, sondern ein höchst zusammengesetztes, unsäglich vielschichtiges Wesen. Dem berühmten Leitspruch „Erkenne dich selbst!" des delphischen Gottes mißtraut er. Der Mensch, so lehrt Goethe, kann sich nie selbst kennen lernen. Die Möglichkeit, sich rein als Objekt zu betrachten, ist ihm nicht gegeben. Nur seine Bezüge zur Außenwelt kann er kennen und richtig würdigen lernen. „Mit allem Streben nach Selbstkenntnis, das die Priester, das die Moral uns predigen, kommen wir nicht weiter im Leben, gelangen wir weder zu Resultaten noch zu wahrer innerer Besserung." 2 Oder er biegt der delphischen Forderung die Spitze ab; nicht im „asketischen" Sinne müßten wir sie auslegen, sondern ganz einfach: „Gib einigermaßen acht auf dich selbst, nimm Notiz von dir selbst, damit du gewahr werdest, wie du zu deinesgleichen und der Welt [!} 16'

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zu stehen kommst. Hierzu bedarf es keiner psychologischen Quälereien . . ," 3 Von jeher, schreibt er ein anderes Mal, sei ihm der Imperativ: Erkenne dich selbst! verdächtig vorgekommen, als eine List geheimverbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer inneren falschen Beschaulichkeit verleiten wollen. „Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird." Das ist Goethes bald noch näher zu würdigende Lehre von der Unlöslichkeit des Subjekt-ObjektZusammenhangs. „Jeder neue Gegenstand, wohlbeschaut, schließt ein neues Organ in uns auf. Am allerfördersamsten aber sind unsere Mitmenschen . . .": im Spiegel ihres Urteils läßt sich unsere Selbstkenntnis erweitern4. In einem Brief des Siebzigjährigen4®) heißt es, es sei der Mühe wert, lange zu leben und mancherlei Schicksalspein zu ertragen, „wenn wir zuletzt über uns selbst durch andere aufgeklärt werden, und das Problem unseres Strebens und Irrens sich in der Klarheit der Wirkungen auflöst, die wir hervorgebracht haben". Nicht als Selbstzergliederung, sondern als Selbstprüfung im Spiegel der Außenwelt versteht Goethe den delphischen Spruch. Schon den jugendlichen Dichter der Mitschuldigen und der Laune des Verliebten leitet nach Gundolfs Analyse 5 ein tiefer Instinkt, daß alles Innere an einem Äußern sichtbar und erkennbar sei. Nur Widersacher kommen dabei nicht in Betracht; feindlich gesinnte Mitmenschen sind Zerrspiegeln gleichzuachten. Immer wieder, bis ins höchste Alter, betont Goethe, welch seltsame Forderung das delphische Wort an uns stellt. Mit allem Sinnen und Trachten ist der Mensch ja aufs Äußere angewiesen: „von sich selbst weiß er bloß, wenn er genießt oder leidet . . . Übrigens aber ist der Mensch ein dunkeles Wesen, er weiß nicht woher er kommt noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt und am wenigsten von sich selbst." 6 Die Vorstellung „Ich" meint Goethe zweifellos, wenn er in den Maximen7 von einem „hohlen Fleck im Gehirn" spricht: „eine Stelle, wo sich kein Gegenstand abspiegeln kann. Wird der Mensch auf diese Stelle besonders aufmerksam, vertieft er sich darin, so verfällt er in eine Geisteskrankheit, ahnt hier Dinge aus einer andern Welt, die aber eigentlich Undinge sind und weder Gestalt noch Begrenzung haben, sondern als leere Nacht-Räumlichkeit ängstigen und den, der sich nicht losreißt, mehr als gespensterhaft verfolgen." Nie kann sich die Vorstellung „Ich" unmittelbar in ein Objekt des Denkens verwandeln. 218

„Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist." 8 Autochthonisch, autodidaktisch Lebst du so hin, verblendete Seele! Komm nur heran, versuche dich! Praktisch Merkst du verdrießlich, wie's überall fehle. Niemand wird sich selber kennen, Sich von seinem Selbst-Ich trennen; Doch probier er jeden Tag, Was nach außen endlich, klar, Was er ist und was er war, Was er kann und was er mag.

(Zahme Xenien)

Es ist wohl angenehm, sich mit sich selbst Beschäft'gen, wenn es nur so nützlich wäre. Inwendig lernt kein Mensch sein Innerstes Erkennen, denn er mißt nach eignem Maß Sich bald zu klein und leider oft zu groß. Der Mensch erkennt sich nur im Menschen, nur Das Leben lehret jeden, was er sei. (Ausspruch Antonios: Torquato Tasso II, 3) Für den Weltoffenen ist Innenschau normwidrig, eine Verkehrung seines „sphärischen" Selbstgefühls, seines „Eingebettetseins" (vgl. S. 101 ff.). Ganz unzweideutig erklärt Goethe in einem Brief an Lavater, Selbst-Bewußtsein sei ein M a n g e l z u s t a n d . „Das was der Mensch an sich bemerkt und fühlt, scheint mir der geringste Teil seines Daseins. Es fällt ihm mehr auf was ihm fehlt, als das was ihn ergötzt und seine Seele erweitert; denn in allen angenehmen und guten Zuständen verliert die Seele das Bewußtsein ihrer selbst, wie der Körper auch, und wird nur durch unangenehme Empfindungen wieder an sich erinnert . . ." 9 Epigrammatisch zugespitzt: Man lebt erst dann gut, wenn man vergißt, daß man lebt 10 . Später urteilt er noch schärfer. Selbst-Beschauung ist „krankhaft", „abstrus", „hypochondrisch", „gefahrvoll", „eine Schwäche", „dünkelhaft", „Selbstqual und Selbstvernichtung". „Wenn der Mensch über sein Physisches oder Moralisches nachdenkt, findet er sich gewöhnlich krank." 11 Dem ist es schlecht in seiner Haut, Der in seinen eignen Busen schaut. (Zahme Xenien) „Diese gerühmte Heautognosie sehen wir schon seit geraumer Zeit nur auf Selbstqual und Selbstvernichtung hinauslaufen, ohne daß 219

auch nur der mindeste praktische Lebensvorteil daraus hervorgegangen wäre." 12 „Wenn z. E. Purkinje ganz unbewunden und zuversichtlich ausspricht: daß man die wahre, dem Menschen so nötige Heautognosie bei Hypochondristen, Humoristen, Heautontimorumenen lernen solle, so ist dieses eine so gefahrvolle Äußerung als nur irgend eine; denn nichts ist bedenklicher als die Schwäche zur Maxime zu erheben." 13 „Hypochondrisch sein heißt nichts anders, als ins Subjekt versinken." 14 Jeder Versuch einer Selbst-Zuwendung bedeutet für Goethe unweigerlich Selbst-Verfälschung. Das wahre Selbst lebt ja eingebettet in die kosmische Sphäre; Isolierung wäre Abscheidung des Besten, der Hülle, des Schleiers, der Maske. Die Persona ist wesentlich „Maske", durch die ein Überpersönliches, eine kosmische Stimme „hindurchtönt" (per-sonare!). Individualität ist ein Zwischenstand, kein Absolutum. Eigenartigerweise kündigt sich schon in der hochklassischen Zeit um 1800 — Gegenlauf der Impulse? — die Lehre von der Entindividualisierung bei Goethe an. Wilhelm Emrich 15 entdeckt sie in einer ausdrücklichen Wendung zum sinnlich-bildhaften „Theater", vor allem zur „Maske". „Später, um 1815, erhält dann . . . die Maske analog dem Schleiermotiv die Funktion der Befreiung des Subjekts von sich selbst und einer Erhebung auf ein objektiveres, wahreres, höheres Sein." Erkenne dich! — Was soll das heißen? Es heißt: Sei nur! und sei auch nicht! Es ist eben ein Spruch der lieben Weisen, Der sich in der Kürze widerspricht. Erkenne dich! — Was hab ich da für Lohn? Erkenn ich mich, so muß ich gleich davon. Als wenn ich auf den Maskenball käme Und gleich die Larve vom Angesicht nähme. Andre zu kennen, das mußt du probieren, Ihnen zu schmeicheln oder sie zu vexieren. (Sprichwörtlich) „Maske und Schleier", so erläutert Emrich diese Spruchreihe, „bewahren das objektiv wahrere Sein, das sonst im subjektiven Drang der Selbstbeobachtung und -analyse .davon' müßte." Zum Persona-Gebilde vergleiche man auch, was Goethe über seinen Hang zur Verkleidung, insbesondere zum „geringeren Kleid" sagt (S. 50 f.). Das Motiv der Entselbstung beschränkt sich natürlicherweise nicht auf Goethes Erkenntnislehre und die damit zusammenhängende 220

„Psychotherapie". Es gewinnt zentrale Bedeutung insbesondere für seine Ä s t h e t i k . Im Berliner Theaterprolog von 182.1 heißt es: Denn das ist der Kunst Bestreben, Jeden aus sich selbst zu heben . . .

Und in Paralip. I zu diesem Prolog findet sich der Prosakommentar dazu: „höchster Zweck der Kunst: Allgemeines Entzücken. Vergessen sein selbst und aller Verhältnisse, versenkt in die Darstellung. Erregtes Entzücken, Mitgeteiltes Entzücken. Aufgeschlossene Herzen, Unbekannte, ja Feinde umarmen sich."16 Zielen diese Worte nicht auf einen Zustand hin, der jenseits aller „Klassik" liegt? . . . Sich aufzugeben ist Genuß...

Entselbstung, Diastole bedeutet in Goethes polarer Metaphysik Hingabe an das kosmische Prinzip, an das offene Leben. Alle solche Regungen verweisen in letzter Instanz auf eine urtümliche Struktur in Goethes Personalität. Um das zu verstehen, müssen wir uns frei machen von dem bequemen, aber falschen Vorstellungsschema des „homogenen Ich". Als Sohn des 18. Jahrhunderts, als Vollender der deutschen Klassik, als abendländischer Mensch des Nachbarock nimmt Goethes Personalstruktur — wie könnte es anders sein — an den „spätzeitlichen" Individualzuständen schicksalhaften Anteil. Aber in tieferen, „übergreifenden" Schichten bleibt sein Erlebnistypus archaisch, weltoffen, schwebend und daher scharfer Profilierung des inneren Schwerpunkts abgeneigt. Daß wir, allgemein gesprochen, mit sehr verschieden gebauten Uroder Grundtypen der Personation rechnen müssen, wird besonders deutlich, wenn wir beobachten, wie Vertreter a n d e r e r , schärfer geprägter (oder „abgesetzter") Strukturen zu Goethes Ich-Sphäre Stellung nehmen. Von den Zeitgenossen wären da wohl an erster Stelle Schiller, Kleist und Novalis zu nennen. Sie empfinden Goethes Grundart instinktiv als eine frühmenschliche („naive") Bewußtseinslage und zwar aus der Sicht des „Sentimentalikers", den Schüler im dialektischen Dreitakt der großen Menschheitsstufen ausdrücklich als Spätform statuiert. Ähnlich urteilt Rudolf Alexander Schröder. Den naiven Dichter sieht er in erster Linie durch „unmündige Dämmerung seines Individualzustandes" gekennzeichnet. Schärfer noch stellt Rudolf Steiner17 von seinem spirituellen Standort aus transzendentale Ichstruktur der Goetheschen als Maß entgegen. Goethe und Hegel: „beiden fehlt die Selbstwahrnehmung". Als durchaus anschauender Denker konnte Goethe „nicht dazu kommen, das Denken selbst zum Gegenstand des Denkens zu machen. 221

Die Idee der Freiheit gewinnt man nur durch Anschauung des Denkens", denn sie ist „Anschauung des sich selbst Hervorbringenden", „in sich ruhende Tätigkeit". Goethe habe diese Empfindung zwar e r l e b t , aber nie' in der höchsten Form. Er habe nie hinter die Kulissen des menschlichen Erkennens geschaut und deshalb die Idee des Weltgeschehens in dessen ureigenster Gestalt, in seiner höchsten Metamorphose, nie in sein Bewußtsein aufgenommen. Wer dahin gelangt ist, der „hat in dem Mittelpunkte seiner Persönlichkeit den wahren Ausgangspunkt für alle Weltbetrachtung gewonnen". Soweit Steiner über das „transzendentale Selbst", eine Erlebnisform, die sich ähnlich bei den Indern, bei Eckehart, Scheffler, Schiller, Fichte, Kleist, Novalis, C. G. Jung darstellt. Sie setzt augenscheinlich ein Ausmaß von Emanzipation des inneren Schwerpunktes voraus, dessen Voraussetzungen in Goethes Typus der Personation schlechterdings nicht gegeben waren. Für die Erkenntnislehre bedeutet der transzendentale Idealismus den Versuch, die Erkenntnisprobleme einseitig vom Subjekt her zu lösen. Das Vorgreifende, Eindringende, an sich Reißende des Erkenntnissubjekts steht hier im Vordergrunde des Interesses. Auf der Gegenseite finden wir Goethes Sach-Empfänglichkeit, seine Demut liebender Versenkung, seine fast „ichlose" Behutsamkeit und Objektivität18.

SUBJEKT — OBJEKT

Die alte Hauptfrage der abendländischen Erkenntnislehre, „wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserm geistigen Dasein beitrage", stellt sich für Goethes Auffassung in ganz anderem Lichte dar als für die große Schar der Denker, die jene Kluft — es sei nun vom Standorte eines substantiellen „Realismus" oder eines vorgreifenden „Idealismus" — zu vertiefen oder gar zu verewigen trachten. Nach landläufiger Einschätzung war Goethe ein „Realist". Es ist zuzugeben, das er diesem unausrottbaren Mißverstehen seiner tieferen Impulse durch oft läßliche Art der Wortwahl Vorschub geleistet hat. Lavaters schwärmender Verstiegenheit setzt er seinen „angeborenen und angebildeten Realismus" (Dichtung und Wahrheit, 3. Teil, 14. Buch) bewußt entgegen. „Warum sollten wir Empiriker und Realisten nicht auch unsern Kreis kennen und unsern Vorteil verstehn? für uns bleiben und wirken, höchstens jenen Herrn [den Kantianern] manchmal in die Schule horchen, wenn sie die Gemütskräfte kritisieren, mit denen wir die Gegenstände ergreifen", heißt es im Brief 222

vom 28. August 1798 an Sömmering 1 . Vor allem aber ist hier das berühmte, an Schiller gerichtete Wort zu nennen, worin Goethe bekennt, er sei als beschauender Mensch ein „Stockrealiste" 2 . Schiller selbst hat durch seine kantisch-schizoide Betrachtungsweise vieles zur Verewigung dieses Mißverständnisses beigetragen. Gelegentlich mochte er wohl ahnen, daß Goethes Art, die Dinge anzuschauen, jenseits der herkömmlichen Alternative steht; gleichwohl fällt er — so zum Beispiel in seiner Abhandlung ü b e r Naiv und Sentimentalisch — immer wieder in die alte Blickweise zurück. Ähnlich Schopenhauer: „Dieser Goethe war so ganz Realist, daß ihm durchaus nicht zu Sinn wollte, daß die Objekte als solche nur da seien, insofern sie von dem erkennenden Subjekt vorgestellt werden. ,Was! das Licht sollte n u r da sein, insofern Sie es sehen? Nein! Sie wären nicht da, wenn das Licht Sie nicht sähe'". Schopenhauer hat diesen bedeutsamen Ausspruch in seiner kernhaften Tiefe augenscheinlich nie verstanden. Er sah darin n u r Leugnung des Subjekt-Anteils am Erkenntnisprozeß, nicht die f ü r Goethes Denken feststehende Koordination, den Wechselbezug, die prästabilierte Harmonie von Ich und Welt, die ontische Verwurzelung des Erkenntnis-Subjekts. „So wie unser Auge mit den sichtbaren Gegenständen, unsere Ohren mit den schwingenden Bewegungen erschütterter Körper völlig harmonisch gebaut sind": so steht auch „unser Geist mit den tiefer liegenden Kräften der Natur in Harmonie" 3 . All die bekannten „realistischen" Aussprüche Goethes reduzieren sich, näherhin betrachtet, auf die schlichte Forderung möglichst r e i n e r , objektiver, d. h. von fälschenden Vorgriffen unberührter S c h a u . „Bei Betrachtung der Natur im Großen wie im Kleinen hab 1 ich unausgesetzt die Frage gestellt: Ist es der Gegenstand oder bist du es, der sich hier ausspricht? Und in diesem Sinne betrachte ich auch Vorgänger und Mitarbeiter." 4 „In Kunst und Wissenschaft, sowie in Tun und Handeln kommt alles darauf an, daß die Objekte rein aufgefaßt und ihrer Natur gemäß behandelt werden." 5 Keinesfalls bedeuten solche und ähnliche Sätze eine Leugnung des sogenannten „ s u b j e k t i v e n F a k t o r s " im Erkennen. Ganz im Gegenteil: eine vom Menschen und seiner psychophysischen Organisation abgelöste Erkenntnis ist gerade f ü r Goethe ein Ungedanke. Für den Klassiker ist es eine Selbstverständlichkeit, daß Erkennen soviel bedeutet wie: auf menschliches Maß bringen. Schon im Spinoza-Aufsatz heißt es: „Wir müssen . . . alle Existenz und Vollkommenheit in unsrer Seele dergestalt beschränken, daß sie unsrer Natur und unsrer Art zu denken und zu empfinden angemessen werden, dann sagen wir erst, daß wir eine Sache begreifen oder sie 223

genießen". Jegliches Aufnehmen bedeutet zugleich ein Sich-Anverwandeln. Über Stiedenroths Psychologie sagt Goethe: „Alle Wirkung des Äußern auf's Innere trägt er unvergleichlich vor, und wir sehen die Welt nochmals nach und nach in uns entstehen. Aber mit der Gegenwirkung des Innern nach außen gelingt es ihm nicht eben so. Der Entelechie, die nichts aufnimmt, ohne sich's durch eigene Zutat anzueignen, läßt er nicht Gerechtigkeit widerfahren, und mit dem Genie will es auf diesem Weg gar nicht f o r t . . ." 6 „Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt."7 Der Subjekt-Objekt-Zusammenhang ist unlösbar. Daher die methodische Forderung: „Das Subjekt in genauer Erwägimg seiner auffassenden und erkennenden Organe, das Objekt als ein allenfalls Erkennbares gegenüber, die Erscheinung, durch Versuche wiederholt und vermannigfaltigt, in der Mitte"8. Für Goethe gibt es weder Dinge „an sich" noch bloße Vorstellungen. „Was wir von den Dingen aussprechen, kann nicht bloß Vorstellungsart sein, es sind die wirklichen Dinge in unserer Vorstellungsart." So weit der Phänomenologe. (Der monistische Metaphysiker fügt hinzu: „Freilich setzt nur menschliche Ansicht verschiedene Dinge. Es ist alles nur eins; aber von diesem Einen an sich zu reden, wer vermag es?" 9 ) Goethe läßt also die Subjekt-Objekt-Frage, die Frage nach den „Anteilen" beider Partner, getrost in der Schwebe, zunächst „mit unbewußter Naivität", später, nach der Auseinandersetzung mit Kanl und Schiller, mit wachsender philosophischer Bewußtheit. Der kritischen und idealistischen Philosophie danke er, daß sie ihn auf sich selber aufmerksam gemacht habe; „das ist ein ungeheuerer Gewinn . . . Sie kommt aber nie zum Objekt" 10 . Etwas unschärfer, durch Bezugnahme auf die Schillersche Antithetik von „Realismus" und „Idealismus" vergröbert, drückt er seinen Kerngedanken schon drei Jahrzehnte früher aus: „Mir will dünken, daß, wenn die eine Partei [der Realisten] den Geist niemals erreichen kann, die andere von innen heraus schwerlich zu den Körpern gelangen wird, und daß man also immer wohl tut, in dem p h i l o s o p h i s c h e n N a t u r s t a n d e (Schellings Ideen p. XVI) zu bleiben und von seiner u n g e t r e n n t e n E x i s t e n z den besten möglichen Gebrauch zu machen, bis die Philosophen einmal übereinkommen, wie das, was sie nun einmal getrennt haben, wieder zu vereinigen sein möchte"11. Nicht ganz auf der Höhe des Problems ist hier, wie schon angedeutet, die Entgegensetzung von „Körper" und „Geist". Es handelt sich für Goethe in letzter Instanz durchaus nicht darum, den Standpunkt des sogenannten „naiven Realismus" zu verteidigen, sondern um die 224

Sicherung von P h ä n o m e n e n jeglicher (also auch unkörperlicher) Art in ihrem Eigenbestand, ihrem Sosein, gegenüber den Übergriffen der „Phänomenalisten" vom Schlage Berkeleys, Humes und Kants, für welche sich die sinnhaltige „Erscheinung" in bloß subjektiv erzeugten „Schein" aufzulösen droht. Für Goethe ist mit anderen Worten das Subjekt-Objekt-Verhältnis eine untrennbare Polspannung, die gestört, wo nicht gar vernichtet wird, wenn man den einen Pol, das Erkenntnisvermögen, herauslöst und damit selbst zum (künstlichen) Erkenntnisgegenstand macht. Der Grundirrtum Kants besteht darin, daß dieser „das subjektive Erkenntnisvermögen selbst als Objekt betrachtet und den Punkt, wo subjektiv und objektiv zusammentreffen, zwar scharf, aber nicht ganz richtig sondert"12. Den naturgegebenen Wechselbezug zwischen Subjekt und Objekt leugnen oder mindern, ist für Goethe ein perverses Beginnen, dem Überspringenwollen des eigenen Schattens vergleichbar. Mensch und Welt sind ja von Anbeginn aufeinander hingeordnet und abgestimmt. Licht und Auge, Ton und Ohr gehören unzertrennlich zusammen, seins- und auch ursprungsmäßig. Ganz allgemein gilt, daß „jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, ein neues Organ in uns aufschließt"13. „Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus gleichgültigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde, und so bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete."14 „Das Auge ist das letzte höchste Resultat des Lichtes auf den organischen Körper. Das Auge als ein Geschöpf des Lichtes leistet alles, was das Licht selbst leisten kann. Das Licht überliefert das Sichtbare dem Auge, das Auge überliefert's dem ganzen Menschen. Das Ohr ist stumm, der Mund ist taub; aber das Auge vernimmt und spricht. In ihm spiegelt sich von außen die Welt, von innen der Mensch. Die Totalität des Innern und Äußern wird durch das Auge vollendet."15 Das Sprachorgan wirkt also nur aktiv nach außen, das Gehör nimmt die Schalleindrücke nur passiv hin, denn die Welt des Hörbaren umspült uns. Einzig das Auge „vernimmt und spricht", das heißt: es bietet sich den Eindrücken dar, richtet aber zugleich den „Sehstrahl" aktiv auf die Gegenstände. Menschliches Sehen ist Durchsicht, Perspektive, Überschau. Standort und Raum-Erlebnis sind spezifisch menschliche Kategorien, die in der Urtatsache der Personation gründen16. „Im Auge wohnt ein ruhendes Licht, das bei der mindesten Veranlassung von innen oder von außen erregt wird." Man hat dieses „ruhende Licht" mit dem (späteren) Begriff der „Lichtempfindung", 225

der „spezifischen Sinnesenergie" übereingesetzt, was zunächst ganz einleuchtend klingt, dem tieferen metaphysischen Gehalt von Goethes Theorie der Sinnlichkeit jedoch nicht ganz gerecht wird. Für die sinnesphysiologische Mechanistik bedeutet ja, wie man weiß, das „objektive" Licht einen Wellenvorgang, der als „Reiz" einen völlig verschiedenen Nervenvorgang nur „auslöst": die Lichtempfindung. Mit dieser spaltenden Auffassung hätte sich Goethe gewiß nicht einverstanden erklärt. Das „innere" Licht war ihm so viel wie mikrokosmische Entsprechung des äußeren Lichts. Also „Licht". Wahrscheinlich hätte er der „eidolomagischen" Theorie Daumers zugestimmt, der zufolge jedes Sinnesorgan grundsätzlich befähigt wäre, unter Umständen „aktiv" zu werden und „magische" Phänomene hinauszuprojizieren. Aber vielleicht ist diese Interpretation ein wenig zu massiv. Es genügt, sich vorzustellen, unsere Sinneswahrnehmungen seien verengte, kanalisierte Hinnahmen, die an Stelle eines ursprünglich „magischen", nicht organspezifischen Erlebnistypus treten. (Nebenbei bemerkt, eine Hypothese, die Hans Driesch in einer seiner letzten Veröffentlichungen vertrat.) Diese Deutung wird vor allem durch einen Aphorismus über das „innere Licht" aus Ottiliens Tagebuch („Wahlverwandtschaften") nahegelegt. „Man mag sich stellen wie man will, und man denkt sich immer sehend. Ich glaube, der Mensch träumt nur, damit er nicht aufhöre zu sehen. Es könnte wohl sein, daß das innere Licht einmal aus uns herausträte, so daß wir keines andern mehr bedürften." Jedenfalls ist „inneres Licht" auch auf metaphysischer oder magischer Ebene soviel wie S c h a u vermögen, bedeutet also zunächst immer noch Weltzuwendung, nicht bloß den „inneren seelischen Frieden der Stillen im Lande" 17 , welch letztere Bedeutung allerdings in der berühmten Fauststelle (Vers 11 500, 5. Akt, Mitternacht) vorzuwalten scheint. Im übrigen dürfen und müssen wir diese von Goethe ja nur gestreifte Grenzfrage der Sinnesphysiologie auf sich beruhen lassen18. Wir wenden uns zurück zum Grundthema: Subjekt-Objekt. Das Hingeordnetsein des erkennenden Menschen und seiner Erkenntnisorgane zur umfangenden Welt der Erscheinungen nennt Goethe gelegentlich A n t i z i p a t i o n : „ . . . . hätte ich nicht die Welt durch Antizipation bereits in mir getragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben, und alle Erforschung und Erfahrung wäre nichts gewesen als ein totes vergebliches Bemühen. Das Licht ist da, und die Farben umgeben uns; allein trügen wir kein, Licht und keine Farben: im eigenen Auge, so würden wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen."19 Das Gleiche besagt der berühmte Vierzeiler aus den „Zahmen Xenien": 226

War nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt' es nie erblicken; Lag nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt' uns Göttliches entzücken? Die Gestirnverwandtschaft des Auges ist ein Gedanke, der seit dem Altertum immer wieder in platonisch gestimmten Geistern nachklingt. Goethes Xenion gilt herkömmlicherweise als Nachdichtung von Versen des Manilius, oder man leitet es unmittelbar von Plotin her 20 . Doch kann man bei dem „alten Mystiker" vielleicht auch an Jakob Böhme denken: „Gleich wie das Auge siehet biß an das Gestirn, daraus es seinen anfänglichen Ursprung hat, also siehet auch die Seel in das Göttliche Wesen, darin sie lebet." (Aurora, das ist Morgenrothe im Aufgang und Mutter der Philosophie, 1634, S. 33.)21 Allgemeiner gefaßt handelt es sich um den alten empedokleischen Satz: Gleiches wird nur durch Gleiches erkannt, zu dem Goethe sich übrigens auch im Gespräch mit Eckermann (1828) ausdrücklich bekannt hat. Erde schauen durch Erde wir an und Wasser durch Wasser, Göttlichen Aether durch Aether, durch Feuer verzehrendes Feuer, So auch durch Liebe die Liebe, Zwietracht durch traurige Zwietracht. (Empedokles) Letzthin geht es um die alte Lehre v o m Menschen als dem Mikrokosmos. „Wär' nicht der Mensch aus der Wesensfülle des Kosmos gebildet, nichts aus diesem Universum könnte auf ihn wirken, kein Brot, kein Balsam und kein Gift." 22 Nach den Erkundungen von Bruno Wachsmuth 23 hat Goethe den Begriff der Antizipation bei Linné gefunden. Seinen Goetheschen Vollgehalt empfängt er durch die Verknüpfung mit der Monadenlehre. „Auf meine Frage", schreibt Riemer, „was Goethe unter dem Homunkulus gedacht, erwiderte mir Eckermann: Goethe habe damit die reine Entelechie darstellen wollen, den Verstand, den Geist des Menschen, wie er vor aller Erfahrung ins Leben tritt; denn der Geist des Menschen komme schon höchst begabt an, und wir lernten keineswegs alles, wir brächten schon mit." 24 Noch kühner deutet Goethe im großen Monadengespräch mit Falk unser „Mitgebrachtes" als (platonische) Anamnesis 25 , dunkles Erberinnern der Monas an vergangene, abgelebte Zustände. (Vgl. S. 168 f.) Goethe spricht hier zwar zunächst nur von der „Erleuchtung", vom „Gedächtnis höherer Geister", der „Weltmonaden". Aber sein Hinweis auf die Erinnerungsblitze des Genies läßt doch schließlich auch dem Menschen mindestens in seinen höheren Exemplaren die Möglichkeit antizipierender Weltsicht offen. 227

Antizipation, wie Goethe sie auffaßt, ist keineswegs auf die Sinnesorgane beschränkt. Sie äußert sich vielmehr in jeder Art von Weltzuwendung, in allen Schichten und Arten des Gestaltens und Erkennens. Denn: „Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden. Was wir können und möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliche."26 Antizipation ist „Vorempfindung der Welt"; sie befähigt den Dichter, ohne jemals die Gegenstände der Natur erblickt zu haben, die Wahrheit vorwegnehmend im Bild zu erblicken27. Sie ist das Siegel der begabten Naturen, die „zu allem, was die Natur in sie gelegt hat, auch in der äußeren Welt die a n t w o r t e n d e n G e g e n b i l d e r suchen und dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen steigern" (Winckelmann: Eintritt). Leicht kann es sogar geschehen, sagt Goethe in den Tag- und Jahresheften, daß der Dichter die Welt so gründlich vorweg nimmt, daß die auf ihn losdringende Welt später unbequem und störend für ihn wird, weil sie ihn zwingen will, das was er schon hat, sich zum zweiten Male, aber nun anders zuzueignen. Antizipierend formt der Dichter die innere Welt der Affekte und Leidenschaften seiner dramatischen Gestalten; durch Antizipation sucht und findet der Forscher die rechten Zugänge zu seinen Gegenständen, die .entscheidenden Fragestellungen, die passenden Standorte und Perspektiven. Antizipation ist unbewußt treffsicheres Anpeilen. „Mein ganzes inneres Wirken erwies sich als eine lebendige Heuristik, welche, eine imbekannte geahnte Regel anerkennend, solche in der Außenwelt zu finden und in die Außenwelt einzuführen trachtet."28 Weil der Erkennende in sich selbst bestimmte überindividuelle (zumBeispiel zeitliche oder schlechthin kosmische)Strukturen trägt, deshalb vermag er Analoges in der äußeren Welt zu entdecken. So also und nicht etwa im naheliegenden Trivialsinne ist es zu verstehen, wenn Goethe bemerkt, daß der Mensch dasjenige findet, was er voraussetzt. „Der Naturforscher als Philosoph darf sich nicht schämen, sich in diesem Schaukelsystem zu bewegen und da, wo die wissenschaftliche Welt sich nicht versteht, sich selbst zu verständigen." Antizipation ist das Pendel, das sich zwischen Idee und Erfahrung hin und her bewegt und nicht etwa bloßes Steckenpferd des Denkens auf eingebildete Ziele hin. Antizipation ist eine intentionale Funktion, eine Wünschelrute des Denkens, die oft Wasseradern und Gold anzeigen wird, gelegentlich 228

aber auch taubes Gestein. Der Möglichkeit des Fehlgreifens ist sich Goethe bewußt. Ein fraglos „antizipiertes" Leitmotiv seines Weltdenkens wie der Gedanke des Zyklus führt ihn beispielsweise zu den fruchtbaren Entdeckungen des Farbenkreises und des Kreislaufs der geschichtlichen Zustände. Das Fundamentalmotiv des Tellurismus zeitigt außer einer Fülle wesentlicher Einsichten unter anderem auch (in Verbindung mit dem Polaritätsgedanken) die verfehlte Hypothese von der pulsierenden Erdschwere und die darauf gegründete Witterungslehre. Echte Antizipation höheren Ranges ist fruchtbare „vorbildende" (Jean Paul) Konkordanz mit dem Weltsinn, daher Voraussetzung schöpferischer Erkenntnis. „Alles, was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Bestätigung eines originellen Wahrheitsgefühls, das, im stillen längst ausgebildet, unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Vorstellung gibt." 29 Vielleicht darf man in die Nähe von Goethes „Antizipation" schließlich noch jene eigenartige „enthusiastische Reflexion" stellen, von der er einmal sagt, sie sei von größtem Wert, „wenn man sich von ihr nicht hinreißen läßt"30. Jedenfalls dürfte das Lieblingswort „enthusiastisch", das ja ursprünglich so viel wie „des Gottes voll" heißt, auf eine besondere E r f ü l l t h e i t des gedanklichen Prozesses hindeuten, auf ein quellhaftes Denken gegenüber bloß verstandeshafter Überlegung. Aus der prästabilierten Harmonie von Ich und Welt, Organ und Gegenstand, ergibt sich für den Naturforscher Goethe die Verpflichtung, objektive und subjektive Erscheinung stets miteinander zu verknüpfen. Eine seiner Lieblingsforderungen ist es, daß die Wissenschaft sich zwischen Natur und Subjekt i n d i e M i t t e zu stellen habe31. „Wo Objekt und Subjekt sich berühren, da ist Leben; wenn Hegel mit seiner Identitätsphilosophie sich mitten zwischen Objekt und Subjekt hineinstellt und diesen Platz behauptet, so wollen wir ihn loben."32 So verfährt er in der Farbenlehre, so im Schema zur Tonlehre. Physik und Physiologie faßt er als zwei Aspekte einer im Wesen einzigen Grundwissenschaft. Nun wird aber dieses natürliche Eingefügtsein des Menschen in die Welt gestört, wenn der Beobachter seinen von der Natur vorgezeichneten Standort 229

verläßt und sich künstliche Hilfsorgane beschafft, die seine Perspektive verrücken und sein organisch vorgezeichnetes Welt-Bild verzerren. „Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den rein,en Menschensinn... Wir würden gar vieles besser kennen, wenn wir es nicht zu genau erkennen wollten. Wird uns doch ein Gegenstand unter einem Winkel von fünfundvierzig Graden erst faßlich."33 Durch die künstlichen Hilfsmittel, lehrt Goethe, wird das Gleichgewicht zwischen dem äußeren Sinn und der inneren Urteilsfähigkeit gestört. Der Mensch mit seinen gesunden Sinnen ist der größte und genaueste physikalische Apparat, die Sinne selbst sind die eigentlichen Experimentierer, Prüfer und Bewahrer der Phänomene, „indem die Phänomene das, was sie sind, nur für die respektiven Sinne sind". Absonderung der Experimente vom Menschen ist unheilvoll, das aufs höchste gebrachte Experiment muß „identisch ausfallen mit dem Organ selbst"34. Aus alledem spricht die Sorge des Erscheinungsforschers, dem die B i l d h a f t i g k e i t der Welt nicht bloßer Schein, sondern Erscheinung des Wesens ist, und der befürchten muß, daß der Mensch Ein Stelle des Bildes ein schattenhaftes Unwesen setzt, wenn er seine Sinnesorgane mit monströsen Organprojektionen ausstattet. Diese technischen Behelfe, so etwa muß Goethe gefühlt haben, vergrößern und verdeutlichen nicht nur, sie „transponieren" zugleich. Im Ethischen bewirken sie leicht „Dünkelhaftigkeit". Es klingt absonderlich, wenn Goethe im 10. Kapitel der Wanderjahre die nach unsern Begriffen harmlose Gewohnheit des Brillentragens als sittenverderbend rügt. Und doch erblicke man darin nicht bloße Wunderlichkeit, sondern besser eine Überempfindlichkeit der Symbolschau. Allgemeiner gesprochen hat Goethe doch die Hauptgefahr der Technisierung völlig zutreffend vorgeahnt: das Schicksal des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nicht mehr zu bannen vermag. Auch dieser Zauberlehrling handelt „dünkelhaft", er entfesselt elementardämonische Zerstörungskräfte; sein Vorwitz bedroht den Bestand des Menschlichen schlechthin. Eine abschließende Formel, die offenbar sein letztes Wort zum Thema „Subjekt-Objekt" darstellt, hat Goethe zu verschiedenen Malen ausgesprochen. Aus ihr geht hervor, daß seine Grundlehre von der vorbestimmten Harmonie zwischen Ich und Welt nicht als bloße Identität oder bloßer Gleichlauf von Außen und Innen aufzufassen ist. Beiden Partnern billigt er ein Plus Ultra zu. Der Mensch erkennt nicht mit dem alldurchdringenden Blick eines kosmischen Schöpfergeistes. Er mißt mit seinem Maß, sieht aus seiner menschlichen Perspektive, sein Blick kann nur Ausschnitte um230

fassen, nie das Ganze. Insofern bleibt „alle Philosophie über die Natur . . . doch nur Anthropomorphismus". „Um die Natur zu erkennen, müßte e r sie selbst sein. Was er von der Natur ausspricht, das ist [allerdings] . . . ein Wirkliches, nämlich in bezug auf ihn. Aber . . . es ist nicht die ganze Natur . . . Wir mögen . . . beobachten, messen, rechnen, wägen usw., wie wir wollen, es ist doch nur unser Maß und Gewicht, wie der Mensch das Maß der Dinge ist." Wenn die Phänomenalisten alles, was wir von den Dingen sagen, f ü r unsere Vorstellui^gsart halten, so entgegnet ihnen Goethe, „daß es nicht bloße Vorstellungsart sein kann, sondern das Ding in unserer Vorstellungsart, von ihr bekleidet". Das was der Mensch von den Dingen aussagt, erschöpft zwar keineswegs ihre ganze Natur (denn diel Dinge sind unendlich). „Aber was. er davon ausspricht, das ist ein Reales, wäre es auch nur seine Idiosynkrasie, d.h. der Bezug, den es auf ihn allein h a t . . . Der Mensch ist in dem Augenblicke, als er das Objekt ausspricht, Vinter und über ihm, Mensch und Gott in einer Natur vermittelt." Soweit der Erkenntnistheoretiker. Der monistische Metaphysiker fügt hinzu: „Wir sollten nicht von Dingen an sich reden, sondern von dem Einen an sich". Dinge sind nur Verschiedenheiten, durch den Menschen gesetzt 35 . „In der N a t u r ist alles was der Mensch hat und noch ein Inkommensurables ein x, was er nicht hat; der M e n s c h hat alles was die Natur hat und noch ein Inkommensurables, was s i e nicht hat; kommen nun alle beide zusammen, so muß etwas ganz Vortreffliches entstehen." 36 „Alles, was im Subjekt ist, ist im Objekt und noch etwas mehr. Alles, was im Objekt ist, ist im Subjekt und noch etwas mehr. Wir sind auf doppelte Weise verloren und geborgen. Dem Objekt sein Mehr zuzugestehen, und auf unser subjektives Mehr zu verzichten. Das Subjekt mit seinem Mehr zu erhöhen und jenes Mehr nicht anerkennen." 37 „Es ist etwas unbekanntes Gesetzliches im Objekt, welches dem unbekannten Gesetzlichen im Subjekt entspricht." 38 „So will ich mein allgemeines Glaubensbekenntnis hierher setzen: a) In der Natur ist alles was im Subjekt ist; y) und etwas darüber. b) Im Subjekt ist alles was in der Natur ist; z) und etwas darüber. b kann a erkennen, aber y nur durch z geahndet werden. Hieraus entsteht das Gleichgewicht der Welt und unser Lebenskreis, in den wir gewiesen sind. Das Wesen, das in höchster Klarheit alle viere zusammenfaßte, haben alle Völker von jeher Gott genannt." 39 Der 17

Danckert,

Goethe.

231

Subjekt-Denker leugnet das y (das kosmische Geheimnis) und versteckt es „durch eine geheime Operation in das z", das heißt, in die Übernatur des Ich, ins transzendentale Selbst. In Wahrheit aber sind auch y und z, also Naturgeheimnis und die geheimnisvollen, überempirischen Kräfte im Menschen, aufeinander hingeordnet. Erkennend tritt der Mensch der Welt gegenüber, ahnend der Überwelt. PERSPEKTIVISMUS

Wohl als erster abendländischer Denker bemerkt Goethe die Standortgebundenheit des Erkennenden. Die modernen, von der Schule des Historismus, von Troeltsch, Mannheim, Simmel, Spengler und anderen aufgegriffenen und breit ausgeführten Probleme des „vitalen Apriori", des „Perspektivismus" usw. liegen bei ihm in aphoristischer Form, aber doch im Kern völlig deutlich vorgebildet. Ihm ist es klar, daß unseren Erkenntnisakten gewisse Intentionen oder Einstellungen vorausgehen. Und diese unsere Stellungnahme tritt, wie ein zeitgenössischer Philosoph1 sagt, in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle in Kraft, ohne daß der Kritik oder der Freiheit unserer Vernunft eine Entscheidung vorbehalten geblieben wäre. „So kann der mutmaßliche Träger und Täter dieser Stellungnahme gegenüber der Wirklichkeit nie eigentlich ergründet werden. Der Akt, oder die Mehrzahl der Akte unserer Einstellung, liegt sozusagen vor dem Bewußtsein" (Ziegler). Es handelt sich, grob gesprochen, um V o r - U r t e i l e . „Alles, was Meinungen über die Dinge sind, gehört dem Individuum an, und wir wissen nur zu sehr, daß die Überzeugung nicht von der Einsicht, sondern vom Willen abhängt, daß niemand etwas begreift, als was ihm gemäß ist. Im Wissen wie im Handeln entscheidet das Vorurteil alles, und das Vorurteil ist ein Urteil vor der Untersuchung. Es ist eine Bejahung oder Verneinung dessen, was unsre Natur anspricht oder ihr widerspricht, es ist ein freudiger Trieb unseres lebendigen Wesens nach dem Wahren wie nach dem Falschen, nach allem, was wir mit uns in Einklang fühlen." (Zu Riemer, Dezember 1806.) Diese Vorentscheidungen oder Einstellungen sind in der Regel „vitaler" Art, das heißt, sie gründen in dunklen, schwer zu durchschauenden Lebenszusammenhängen. „Wunderliche Bedingtheit des Menschen auf seine Vorstellungart; wie Kant sehr richtig mit Antinomie der Vorstellun,gsart ausdrückt; so muß es mir mit Gewalt abgenötigt werden, wenn ich etwas für vulkanisch halten soll, ich kann nicht aus meinem Neptunismus heraus . . . Diese Antinomie der Vorstellungsart ist es nun, warum wir Menschen nie aufs reine kommen 232

können mit einem gewissen Maß von Wissen, sondern immer alte Wahrheiten und Irrtümer auf eine neue Weise aussprechen.. ." 2 Auch unsere „Neigungen" sind gewissen Schichten der objektiven Wirklichkeit zugeordnet. Leben und Erkennen, Gegenstände und Denkbahnen sind eigentümlich verknüpft. Im Grunde gilt hier die alte Empedokleische Lehre: Gleiches wird nur vom Gleichen erkannt. Es ist ein Vorzug „besonders begabter Menschen", daß sie „zu allem, was die Natur in sie gelegt hat, in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder suchen und dadurch das Innere völlig zum Ganzen Gewissen steigern". Oder: „Man kann sich sagen, daß niemand eine Frage an die Natur tue, die er nicht beantworten könne; denn in der Frage liegt die Antwort, das Gefühl, daß sich über einen solchen Punkt etwas denken, etwas ahnen lasse". Der Standort des Erkennenden bedingt und begrenzt zwar das Ausschnitthafte, Einseitige seiner Suchart, aber andererseits e r m ö g l i c h t er zuallererst das Erkennen. Die mannigfaltigen Perspektiven verhalten sich zueinander „wie Spiegel, die um einen Marktplatz aufgestellt sind, ein jeder zeigt zwar ein anderes Bild als der andere, aber widersprechen können sie sidi nie, da sie damit ein und dasselbe Objekt wiedergeben" 3 . Subjektbedingtheit des Erkennens schließt Teilhabe des Wissens am kosmischen Wissensstrom nicht aus. „Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben und es ist doch immer dieselbige."4 Lebensabhängige Standorte begründen indessen nicht nur die R i c h t u n g , sondern auch die R a n g h ö h e der möglichen Erkenntnisse. Dies zeigt sich vor allem bei jeglichem physiognomischen oder metaphysischen „Verstehen". Denn (nachvollziehendes) „Verstehen heißt: dasjenige, was ein anderer ausgesprochen hat, aus sich selbst entwickeln". Keiner versteht Zusammenhänge, die sein menschlich-seinsmäßiges Niveau entscheidend übersteigen5. Hier gilt die Mahnung des Erdgeists: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst" und das fast gleichbedeutende Goethewort: „Über große Leute sollte niemand reden, als wer so groß ist wie er." Schon durch unser jeweiliges Sosein sind wir von gewissen Arten und Formen des Erkennens abgeschieden, mit anderen legitim verknüpft. So tief gegründet solche Vorentscheidungen des Denkens sein mögen: völlig starr und unvertauschbar sind sie nicht. Es gehört zur besonderen Art des Menschen als eines welthaltigen, nicht bloß umweltgebundenen Wesens, daß er befähigt ist, in gewissem Maße die Standorte und Sichten zu wechseln. Goethe sieht, „daß die verschiedenen D e n k w e i s e n in der Verschiedenheit der Menschen ge17«

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gründet sind und eben deshalb eine durchgehende gleichförmige Überzeugung unmöglich ist. Wenn man nur weiß, auf welcher Seite man steht, so hat man schon genug getan; man ist alsdann ruhig gegen sich und billig gegen andere."6 Auf das Vereinigende der Gesinnungen, das Trennende der Meinungen achtend, „verschaffte man sich bald, indem man seine eigne Denkweise ausbildet, eine liberalere Ansicht der übrigen, der entgegengesetzten", und so „würde man viel verträglicher sein"7. In einem Briefe an Schiller (6. Januar 1798) wendet sich Goethe gegen die starre Einspurigkeit der Kantianer und postuliert, an Schellings Naturphilosophie anknüpfend, eine Vielzahl der möglichen Standorte und Stufen der Betrachtung. „Ich gebe gern zu, daß es nicht die Natur [als Absolutum] ist, die wir erkennen, sondern daß sie nur nach gewissen Formen und Fähigkeiten unseres Geistes von uns aufgenommen wird. Von dem Appetit eines Kindes zum Apfel am Baume bis zum Falle desselben, der in Newton die Idee zu seiner Theorie erweckt haben soll, mag es freilich sehr viele Stufen des: Anschauens geben, und es wäre wohl zu wünchen, daß man una diese einmal recht deutlich vorlegte und zugleich begreiflich macht, was man für die höchste hält. Der transzendentelle Idealist glaubt nun freilich ganz oben zu stehen; eins will mir aber nicht an ihm gefallen, daß er mit den andern Vorstellungsarten streitet, denn man kann eigentlich mit keiner Vorstellungsart streiten." Anschließend erläutert er beispielhaft seine Auffassung von der fruchtbaren Versatilität des Denkens, indem er der sonst bekämpften Lehre von der äußeren „Zweckbestimmtheit" der Lebewesen ein bedingtes Daseinsrecht einräumt. Im geistigen Durchdringen und — sei es auch nur versuchsweisen — Sich-zu-eigenMachen fremder, ja gegnerischer Denkarten sieht er ein hervorragendes Mittel, die Einspurigkeit des standortgefesselten Denkens zu lockern, womöglich zu überwinden. So schreibt er 1796 an Jacobi: „Du würdest mich nicht mehr als einen so steifen Realisten finden, es bringt mir großen Vorteil, daß ich mit den a n d e r n A r t e n z u d e n k e n etwas bekannter geworden bin, die ich,, ob sie gleich nicht die Meinigen werden können, dennoch als Supplement meiner Einseitigkeit zum praktischen Gebrauch äußerst bedarf."8 Dieses Ergreifen fremder Standorte geschieht also nicht im Sinne uferlosen Relativismus', sondern in der Absicht, die sachliche Zuordnung des jeweilig behaupteten Standortes zu dem ihm gemäßen Wirklichkeitsausschnitt zu ergründen. Der Vielzahl möglicher Blickpunkte und Perspektiven entspricht ja gewöhnlich eine ebenso reiche Mannigfaltigkeit an Gegenständen oder Gegenstands-Seiten. „Wer nicht dahin gekommen ist, einzusehen, daß wir Menschen ein234

seitig verfahren und verfahren müssen, daß aber unser einseitiges Verfahren bloß dahin gerichtet sein soll, von unserer Seite her in die andere einzudringen, ja, womöglich sie zu durchdringen und selbst bei unseren Antipoden wieder aufrecht auf unsre Füße gestellt zutage zu kommen, der sollte einen so hohen Ton nicht anstimmen, aber dieser ist leider gerade die Folge von jener Beschränktheit."9 Die berühmte Erörterung über das stets Werdende, nie Erstarrte organischer G e s t a l t e n gipfelt in der Forderung: „Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschauen der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und1 biegsam zu/ erhalten, nach dem Beispiele, mit dem sie uns vorgeht."10 V i e l s e i t i g k e i t der Sichten ist die vierte Grundregel wissenschaftlichen Forschens in einem kleinen BriefTraktat an F. H. Jacobi (29.Dez. 1794): „ D i e P h ä n o m e n e z u e r h a s c h e n , sie zu V e r s u c h e n zu f i x i e r e n , die Erfahrungen zu o r d n e n und die V o r s t e l l u n g s a r t e n darüber k e n n e n z u l e r n e n , bei dem ersten so a u f m e r k s a m , bei dem zweiten so g e n a u als möglich zu sein, beim dritten v o l l s t ä n d i g zu werden und beim vierten v i e l s e i t i g genug zu bleiben, dazu gehört eine Durcharbeitung seines armen Ichs, von deren Möglichkeit ich auch' sonst nur keine Idee gehabt habe."11 In den Aufsätzen zur Morphologie heißt es: „Überhaupt sollte man sich in Wissenschaften gewöhnen, wie ein anderer denken zu können; mir, als dramatischem Dichter, konnte dies nicht schwer werden, für jeden Dogmatisten freilich ist es eine harte Aufgabe" (Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung). Diese künstlerische Seite des Sichtwfechsels ist ein Problem für sich; die unerschöpfliche Lebensfülle und Weite von Goethes dichterischer Welt beruht ja, wie jeder fühlt, zum nicht geringen Teil auf dem Polwechsel der Standorte; man denke nur an das geläufigste Beispiel, den Gegensatz Faust — Mephisto. Ebenso erklärt sich die oft verwirrende Widersprüchlichkeit der einzelnen in seinem Gesamtschaffen, in Briefen und Gesprächen weithin verstreuten Äußerungen zumeist aus dem Wechsel des „Bezugsystems". Das ist jene „panoramic ability", die ein englischer Kritiker Goethe zuschreibt12. Mit dem Scharfblick des großen Psychologen — darin Nietzsche verwandt — sieht Goethe fast bei jedem Problem, namentlich auch an moralischen Maximen und Idealen, sogleich die Kehrseite. Der Gegenlauf der Impulse ist seinem Denken fast Naturgesetz. Oft hat er zum Beispiel die beiden Typen des analytischen und synthetischen, besser: des e l e m e n t e n h a f t e n und g a n z h e i t l i c h e n Denkens einander gegenübergestellt. Dabei ist ihm klar, 235

daß seine eigene Art, die Gegenstände der Natur anzusehen, von dem Ganzen zum Einzelnen, vom Totaleindruck zur Beobachtung der Teile fortschreitet. Auch als Zeichner spricht er diese grundlegende Selbsterfahrung frühzeitig aus. Auch hier sieht er, daß er sich vergebliche Mühe gab, vom Detail ins Ganze zu lernen: ,,Ich habe immer nur mich aus dem Ganzen ins Detail herausarbeiten und entwickeln können, durch Aggregation begreife ich nichts, aber wenn ich recht lang Holz und Stroh zusammengeschleppt habe und immer mich vergebens zu wärmen suche, wenn auch schon Kohlen drunter liegen und es überall raucht, so schlägt denn doch endlich die Flamme in einem Winde übers ganze zusammen. Ich sprach davon mit 2J. [dem Herzog], er sagte: eine gute Idee. Die Sachen haben kein Detail, sondern jeder Mensch macht sich drin sein eigenes. Manche könnens nicht und die gehn vom Detail aus, die andren vom Ganzen. Wenn m a n diesen Gedanken bestimmte und ihm nachginge, eigentlich was er sagen will nicht was er sagt beherzigte, würde es furchtbar sein" 13 . Er lernt „durch Irradation" und bekennt daher, es sei ihm ganz unmöglich, „im halben oder einzelnen etwas zu fassen" 1 *. In der Forschungsart Alexander v. Humboldts erkennt er den Gegentypus und r u f t ihm zu: „Da Ihre Beobachtungen vom E l e m e n t , die meinigen von der G e s t a l t ausgehen, so können wir nicht genug eilen, uns in der Mitte zu begegnen" 15 . „Die reine Empirie sucht u n bewußt das Zentrum, treue Anschauung überall wird von der Einheit angezogen, als ihrem Schwerpunkt." Goethes Hefte zur Morphologie der Pflanzen hingegen suchen sich den Weg „vom Zentrum nach der Peripherie", wobei freilich „das Zentrum der Kugel immer im Verborgenen bleibt". Solches zentrifugale Streben „mußte meine Tendenz sein und bleiben"; der andere Weg ist „genau betrachtet das beste Verfahren einer rationellen Empirie" 16 . Diese Betrachtungen knüpft Goethe an eine Würdigung der Werke des Botanikers Robert Brown. Ähnlich stellt er der Methode des französischen Forschers de Candolle (Organographie végétale), die „vom Besonderen ins Allgemeine geht", seine eigene, die vom Allgemeinen ins Besondere trachtet, polarisch entgegen: „es sind nur zwei verschiedene Sprachen, und man versteht sie wohl" 17 . „Es ist das alte, sich immer erneuernde, miteinander streitende, sich unbewußt immer helfende, in Theorie und Praxis unentbehrliche a n a l y t i s c h e und s y n t h e t i s c h e W e c h s e l w i r k e n ; dessen vollkommenes Gleichgewicht immer gefordert und nicht erreicht wird." 18 Analyse und Synthese bezeichnet er in dem gleichnamigen Aufsatz des Jahres 1829 als die komplementären Methoden der Wissenschaft; sie sind beide untrennbar aufeinander angewiesen. 236

Nicht die Erfahrung als solche kritisiert Goethe, sondern nur das vorzeitige Theoretisieren, woraus die Gefahr entspringt, „daß die Beobachter von der Erscheinung zu schnell zur Theorie hineilen und damit unzulänglich, hypothetisch werden" 19 . Dem setzt er eine „zarte Empirie' entgegen, „die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an" 20 . Recht verstanden, besagt die Forderving der „zarten Empirie" doch wohl nichts anderes, als daß auch der sondernde Betrachter die Möglichkeit übergreifender Zusammenhänge nie ganz aus den Augen verlieren solle; denn: „Kein Phänomen erklärt sich aus sich selbst; nur viele, zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, das für Theorie gelten könne"21. Der berühmte Streit zwischen Cuvier und Geoffroy St. Hilaire verwandelt sich ihm sogleich in den Wettkampf zweier gegensätzlicher „Denkweisen": der eine sondert, unterscheidet und ergreift mit Scharfsichtigkeit das Detail, der andere vergleicht, verknüpft, geht aus dem Ganzen ins Einzelne. Wenn der Unterscheidende durchaus sich mit dem Faßlichen abgibt, so geht der Verknüpfende von der Idee aus. „Möge doch jeder von uns bei dieser Gelegenheit sagen, daß S o n d e r n und V e r k n ü p f e n zwei unzertrennliche Lebensakte sind. Vielleicht ist es besser gesagt, daß es unerläßlich ist, man möge wollen oder nicht, aus dem Ganzen ins Einzelne, auis dem Einzelnen ins Ganze zu gehen, und je lebendiger diese Funktionen des Geistes, wie Aus- und Einatmen, sich zusammen verhalten, desto besser wird für die Wissenschaften und ihre Freunde gesorgt ein." 22 Aber dasi letzte, entscheidende Wort gebührt der ganzheitlichen Forschungsweise. Sie allein gewährt „Blicke in große Schöpfungsmaximen..., in die geheimnisvolle Werkstatt Gottes". „Was ist auch im Grunde aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf bloß analytischem Wege mit einzelnen materiellen Teilen uns zu schaffen machen und wir nicht das Atmen des Geistes empfinden, der jedem Teile die Richtung vorschreibt und jede Ausschweifung durch ein innewohnendes Gesetz bändigt und sanktioniert... Jetzt ist nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle seine bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert, und ich juble mit Recht über den endlich erlebten allgemeinen Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet habe, und die ganz vorzüglich auch die meinige ist" 23 . „Wer eine Synthese recht prägnant in sich fühlt", heißt es im 19. Buch von „Dichtung und Wahrheit", „der hat eigentlich das Recht, zu analysieren, weil er am äußeren 237

Einzelnen sein inneres Ganze prüft und legitimiert". „Er l e b t . . . mit dem Ganzen oder das Ganze in ihm": so hatte schon 1789 Karoline Herder 24 Goethes Sichtart treffsicher geschildert. In anderem Zusammenhange spricht er vom aktiven und passiven, dynamischen und atomischen, vom Kraft- und Stoff-Denken. „Wenn im Theoretischen das D y n a m i s c h e allein fruchtbar ist, so hat bei empirischen Betrachtungen bloß dasi G e n e t i s c h e einigen Wert, denn beides koinzidiert", heißt es im Tagebuch vom 6. Dezember 1799"25. Das schöne Kapitel der Farbenlehre wünscht Goethe „seiner atomistischen Beschränktheit und Abgesonderheit, in die es bisher verwiesen", zu entreißen und es „dem allgemeinen dynamischen Fluß des Lebens und Wirkens wieder zu geben". Für den Typus des Ganzheit-Denkers, den Goethe selbst aufs entschiedenste verkörpert, ergibt sich immer wieder die Aufgabe, auch den Gegentypus nach Möglichkeit (obzwar natürlich subordiniert!) unbefangen zu würdigen und ihm seine Wirkungs-Provinz abzustecken. Über den uralten Gegensatz des „atomistischen" und des „dynamischen" Denkens hat sich Goethe mit besonderer Ausführlichkeit in einem Vortrag geäußert, dessen Grundgedanken Sophie v. Schardt 1805—06 aufgezeichnet hat. „Zweierlei Vorstellungsarten: dynamisch, atomisch. 1. Das Wirkende, sich Äußernde, Handelnde, Bewegende, Schaffende. 2. Das Erleidende, Duldende, Angeregte, Bewegte, Gegensatz des einen zum andern. 1. Ein Unsichtbares, ein Daseiendes ohne vehiculum, eine Kraftäußerung ohne ein Wie, das uns bekannt sein könnte. 2. Atome, wirkliche, sichtbare, zu ergreifende. 1. Die physische (Vorstellungsart), die sich auf das Ganze bezieht. 2. Die chemische, die sich mit dem Besonderen, dem Realen beschäftigt. Aus verschiedenen Vorstellungsarten entsteht ein neues Resultat; jeder hat die seine; jeder neigt mehr zu der einen oder zu der anderen herüber. Lukrez, Epikur bekannten sich zu der Vorstellungsart, die wir die atomistische oder chemische nennen möchten; in den realen Stoffen der Materie suchten sie Entstehung und Ordnung durch Hilfe des Zufalls. Andre suchten es in einer unbekannten, unsichtbaren höheren Gewalt,, in anregenden Kräften."26

In der mechanisch-atomischen Auffassung erblickt Goethe allerdings stets etwas Vorläufiges, Unzulängliches. Sie entspricht der „gemeinen Ansicht", die eben am Einzelnen haftet und das „geheimnisvolle Band", das für den dynamischen Denker Voraussetzung ist, in ihrer Erklärung allenfalls „nachbringt". „Beides mag zulässig sein, wenn wir die verschiedenen in den Menschen hervortretenden Vorstellungsarten wollen und müssen gelten lassen .. ," 27 238

„Atomistische Vorstellungsart hat eine gewisse Nähe zur gemeinen Ansicht. Zu einer gewissen Sinnesart. Ist nicht ganz in Naturbetrachtungen zu entbehren. Aber sie ist hinderlich, wenn man ihr durchaus treu bleiben will. Gewisse Geister können sich nicht davon los machen. Dynamische Vorstellungsart. Ihre anfänglichen Schwierigkeiten. Ihre Vorteile in der Folge. Mehrere Gegensätze der beiden . . . .',2S

Er hofft, es werde so weit kommen, daß die mechanische atomistische Vorstellungsart „in guten Köpfen ganz verdrängt und alle Phänomene als dynamisch und chemisch erscheinen und so das göttliche Leben der Natur immer mehr bestätigen werden"29. Hier steht das „Chemische" nicht mehr im Gegensatz zum „Dynamischen", sondern auf derselben Seite. Vermutlich setzt Goethe jetzt die Chemie als die Lehre vom elementarsten S t o f f - L e b e n der Mechanistik entgegen. Goethes Wort, daß sein ganzes Denken ein chemisches gewesen sei, ist sehr wohl zu begreifen, wenn man bedenkt, daß er in der Chemie die Gegenwissenschaft der toten Mechanistik erblickte. Hier wirken keine blinden Stoßkräfte von außen, sondern innere Zugkräfte, Affinitäten (Affinität von Ad finem: auf ein Ziel hin). In einer Gruppe von Maximen aus den Wanderjahren (1829) stehen Kristallographie und Chemie als äußerste Gegensätze: jene „ist nur sie selbst", d. h. nur beschreibend, folgenlos, bloßes Nebeneinander der Formen; diese durchaus auf Zusammenhang gerichtet und „von dem grenzenlosesten Einfluß aufs Leben". So vertreten beide Disziplinen gewissermaßen die Klimax der beiden Denkweisen. Krönenden Abschluß findet Goethes Auffassung von den „Denkarten" in der Lehre vom Ineinandergreifen und Einander-Ergänzen der verschiedenen Sichtweisen. Wenn sich die Vielschichtigkeit des Kosmos in der Vielfalt der Sehweisen seiner Geschöpfe spiegelt, so ist die Polyphonie der Vorstellungsarten nicht Hindernis sondern Bürgschaft höherer Wahrheit. Jede Methode bedarf der Ergänzving, e i n e Sichtart ist der Wahrheit gegenüber so unzulänglich wie der einzelne Mensch: „Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen"30. Schon im Brief an Schiller vom 21. Februar 1798, worin Goethe eine regelrechte kleine Abhandlung über das. Nebeneinanderbestehen „gewisser Vorstellungsarten" und ihre teilweise (das heißt jeweils sachlich begrenzte) Berechtigung entwickelt, ist das Motiv des „Pan-Perspektivismus" — so könnte man es nennen, wenn man gedrungene Formeln schätzt — vorgebildet, hier noch 239

auf das Menschheitsganze beschränkt: „ . . . die Natur ist deswegen unergründlich, weil sie nicht Ein Mensch begreifen kann, obgleich die ganze Menschheit sie wohl begreifen könnte". Daß Goethe hierbei nicht n u r an die jeweils bestehende Menschheit, sondern vor allem auch an die G e s c h i c h t s t i e f e des Menschheitsganzen denkt, lehrt eine andere, n u r wenig spätere Briefstelle: „nur sämtliche Menschen erkennen die Natur, n u r sämtliche Menschen leben das Menschliche. Ich mag mich stellen, wie ich will, so sehe ich in vielen berühmten Axiomen nur die Aussprüche einer Individualität, und gerade das, was am allgemeinsten als wahr anerkannt wird, ist gewöhnlich n u r ein Vorurteil der Mastse, die unter gewissen Zeitbedingungen steht, und die man daher ebensogut als ein Individuum ansehen kann". (An Schiller, 5. Mai 1798.) „Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, n u r alle Kräfte zusammengenommen die Welt!" heißt es in den „Lehrjahren" (8. Buch, 5. Kapitel).

GRENZEN

DER

ERKENNTNIS

Da jeder Erkenntnis-Zugang, wie wir hörten, standortgebunden, also „perspektivisch" begrenzt nach Bildausschnitt und Sichtweite ist, so liegt es nahe, nach den G r e n z e n des Erkennens grundsätzlich zu fragen. Diese Frage hatte Kant, wie man weiß, mit großer Entschiedenheit aufgeworfen und in den Mittelpunkt seiner Kritiken gerückt. Es gibt einige Aussprüche Goethes, worin er diesem Bemühen des „Alten vom Königsberge" auf läßliche und einigermaßen unverbindliche A r t Respekt bezeugt. Daß menschliches Erkennen begrenzt sei, will er ihm grundsätzlich ,gern zugestehen. „Je weiter man in der Erfahrung fortrückt, desto näher kommt man dem Unerforschlichen; je mehr man die E r f a h r u n g zu nützen weiß, desto mehr sieht man, daß das Unerforschliche keinen praktischen Nutzen hat" 1 . Am wenigsten weit reicht die Ratio, der bloße Rechenverstand (zum Beispiel die geistreiche A r t eines Voltaire). „Und dann, was wissen wir denn, und wie weit reichen wir denn miti all unserem Witze!" 2 Höher hinauf reicht die (ganzheitliche, nicht abspaltende) V e r n u n f t , aber auch sie findet im Fassungsvermögen des Menschen ihre Grenze: „Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten. Die Handlungen des Universums zu messen reichen seine Fähigkeiten nicht hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, ist bei 240

seinem kleinen Standpunkt ein sehr vergebliches Streben. Die Vernunft des Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge"3. Als Beispiel menschlicher Erkenntnisbeschränkung führt Goethe (in demselben Gepräch) das unlösbare Freiheitsproblem an: „Sobald wir dem Menschen die Freiheit zugestehen, ist es um die Allwissenheit Gottes getan; denn sobald die Gottheit weiß, was ich tun werde, bin ich gezwungen zu handeln, wie sie es weiß". In Goethes Naturforschung sind die „Urphänomene" zugleich Grenzsteine des Wissens. Auf sie zielt das feierliche Diktum: „Es gibt in der Natur ein Zugängliches und ein Unzugängliches; dieses unterscheide man wohl und habe Respekt"4. Am gleichen Tage notiert sich Eckermann ein Gespräch über den gleichen Ausgangssatz. Aus ihm läßt sich ersehen, daß Goethe keineswegs, wie Kant, an eine unwiderruflich gültige Grenzziehung zwischen Wißbarem und Unerkennbarem dachte. Er räumt sogleich ein, daß es „immer sehr schwer bleibt, zu sehen, wo das eine aufhört und das andere beginnt". Und dann folgt der bekannte, auch dichterisch mehrfach abgewandelte Ratschlag: „Wer es [d. h. die Grenze] aber weiß und klug ist, wird sich am Zugänglichen halten, und indem er in dieser Region nach allen Seiten geht und sich befestiget, wird er sogar auf diesem Wege dem Unzugänglichen etwas abgewinnen können [!], wiewohl er hier doch zuletzt gestehen wird, daß manchen Dingen nur bis zu einem gewissen Grade beizukommen ist und die Natur immer etwas Problematisches hinter sich behalte, welches zu ergründen die menschlichen Fähigkeiten nicht hinreichen"5. Willst du ins Unendliche schreiten, Geh nur ins Endliche nach allen Seiten.

Hier und anderswo gibt Goethe klar zu erkennen, daß die Grenze veder scharf noch endgültig vom Subjekt her zu ziehen ist. Zwischen dem Erhellbaren und Dunklen liegt sozusagen ein breiter unscharf verdämmernder Rand, ein Grenzstreifen, der vielleicht hin und wieder von tiefer dringenden Geistern noch ein Stück weit beschritten werden mag. Mit anderen gleichstrebenden Forschern teilt der greise Goethe — jetzt deutlich von Kant sich absetzend — die Überzeugung, „man solle ein Unerforschliches voraussetzen und zugeben, alsdann aber dem Forscher selbst keine Grenzlinie ziehen". Und er begründet diesen Leitsatz als Summe viel jähriger Bemühungen um Selbstkenntnis und Welterfahrung. „Muß ich mich denn nicht selbst zugeben und voraus§etzen, ohne zu wissen, wie es eigentlich mit mir beschaffen sei, studiere ich mich nicht immerfort, 241

ohne mich jemals zu begreifen, mich und andere, und doch kommt man fröhlich immer weiter und weiter. So auch mit der Welt! liege sie anfangs- und endlos vor uns, unbegrenzt sei die Ferne, undurchdringlich die Nähe: es sei so; aber wie weit und wie tief der Menschengeist in sein und ihre Geheimnisse zu dringen vermöchte, werde nie bestimmt noch abgeschlossen"6. Ausführlich erörtert Goethe in einer Buchbesprechung des Jahres 1820 die Frage: „inwiefern wir ein Unerforschtes für unerforschlich erklären dürfen und wie weit es dem Menschen vorwärtszugehen erlaubt sei, ehe er Ursache habe, vor dem Unbegreiflichen zurückzutreten oder davor stille zu stehen". Seine Meinung ist: ein Unerforschliches anzunehmen ziemt dem Menschen, dagegen soll er seinem Forschen keine Grenze ziehen. Zwar vermag er die Geheimnisse der Natur nicht zu durchschauen, und doch kann er „über sie (die Natur) hinaus denken", indem er bis zu den Urphänomenen vordringt, „welche wir in ihrer unerforschlichen Herrlichkeit von Angesicht anschauen und uns sodann wieder rückwärts in die Welt der Erscheinimg wenden, wo das in seiner Einfalt Unbegreifliche sich in tausend und abertausend mannigfaltigen Erscheinungen bei aller Veränderlichkeit unveränderlich offenbart"7. In Kants Anspruch, der reinen Vernunft vom Subjekt her und unter stillschweigender alleiniger Zugrundelegung der mathematisch. mechanischen Wissenschafts-Norm eine starre, unverrückbare Grenze zu ziehen, sah Goethe mit psychologischem Scharfblick das F r e i h e i t s m o t i v des transzendentalen Moralisten im Hintergrund wirkend. (Für Kant durfte es kein kosmisches Wissen, keine „Metaphysik" geben, weil dadurch der unbedingte Selbststand, das Selbstschöpfertum des transzendentalen Selbstes gefährdet wäre. Er entmächtigt den schauenden Menschen, um die Autonomie des moralischen zu sichern.) In einer sonderbar verschleierten, läßlichen Art spricht Goethe diesen Zusammenhang aus, wenn er sagt, Kant beschränke sich mit Vorsatz in einem gewissen Kreis und deute ironisch immer darüber hinaus. Wenn Goethe vom Unerforschlichen spricht und vor den Urphänomenen als seinen Grenzzeichen erschauert, so spricht daraus das demütige Sich-Bescheiden vor dem Unfaßlichen, dem Numinosen im Kosmos. Er weiß, daß jede Lösung eines Problems ein neues Problem aufwirft (zum Kanzler v. Müller, 8. Juni 1821). Aber das Unerforschliche bedeutet ihm, wie Simmel8 sagt, nur jene Schranke, die aus der Tiefe und dem geheimnisvollen Dunkel des letzten Weltgrundes hervorgeht. Er preist es als schönstes Glück des denkenden Menschen, das Erforschliche er242

forscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren 9 . Demgegenüber ist Kants „kritische" Erkenntnisgrenze nur eine willkürliche Polizeivorschrift des weltabgespaltenen, seine moralische Autonomie verherrlichenden Selbstbewußtseins. „Wenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit resigniere oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornierten Individuums." (Aus den „Wanderjahren", 1829.) Goethes Sich-Bescheiden ist also niemals vorzeitiger, kampfloser Verzicht: „denn ob wir gleich gern der Natur ihre geheime Encheiresis, wodurch sie Leben schafft und fördert, zugeben und, wenn auch keine Mystiker, doch zuletzt ein Unerforschliches eingestehen müssen, so kann der Mensch, wenn es ihm ernst ist, doch nicht von dem Versuche abstehen, das Unerforschliche so in die Enge zu treiben, bis er sich dabei begnügen und sich willig überwunden geben mag" 1 0 . E R K E N N T N I S U N D EROS Von den letzten Triebfedern des Erkennenwollens, davon also, warum einer Wissen überhaupt anstrebt, zu sprechen ist mißlich. Nur selten ist sich der Wissensdurstige über die elementarsten Beweggründe seines Forschungsdranges im klaren, noch seltener pflegt er sich ausdrücklich zu bekennen. Dann bleibt also nur der psychologische Rückschluß auf die im Hintergrund fühlbare Forschergesinnung, allenfalls auch Beherzigung des Spruchs: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Pragmatisch beurteilt, also nach ihren „Früchten" bewertet, deutet zum Beispiel die seit Jahrhunderten immer engere und eindeutigere Verflechtung zwischen vorausberechnender Naturwissenschaft einerseits, Technik und expansiver Wirtschaftsgesinnung andererseits darauf hin, daß Naturforschung dieses Stils selbst im letzten Grunde von Impulsen der Herrschaft und Machtausbreitimg gespeist wird. Mag auch der einzelne Forscher mit subjektiver Ehrlichkeit sein Bekenntnis zur „reinen", „voraussetzungslosen" WissenschaftsGesinnung ablegen: dergleichen besagt nicht viel. Beweggründe von solch kollektiver Artung, die den Lebensstil einer ganzen Zivilisation (der abendländischen) zu bestimmen vermögen, wurzeln tief im Unbewußten. Das was Goethes Forschergesinnung bei tieferem Zusehen so einzig243

artig abhebt vom Hintergrunde der Schulwissenschaft, das ist vor allem die R e i n h e i t d e r S c h a u , das Lynkeushafte seines Blicks. Ohne den geringsten Machtanspruch, ohne den herrischen Willen zur Stoffausbeutung oder zum Systembau nähert er sich dem Gegenstand. Gelegentlich sieht er wohl befremdet, ja schaudernd, „wieviel Totes und Tötendes in der Wissenschaft" i s t . . . („und durchaus scheint mir die eigentlich wissenschaftlichen Menschen mehr ein sophistischer als ein wahrheitsliebender Geist zu beleben"). Sein eigenes Forschen ist ein liebendes Sich-Entgegen-Beugen, ist weltoffene Schau. „Man lernt nichts kennen, als was man liebt, und je tiefer und vollständiger die Kenntnis werden soll, desto stärker, kräftiger und lebendiger muß Liebe, ja Leidenschaft sein"1. Goethes erkennendes Eindringen geschieht, wie Ludwig Klages2 sagt, wahlverwandtschaftlich aus Liebe zum Gegenstande des Schauens. Der Zustand, der ihn zum Erkennen befähigt, „beruht auf dem Eros zur Welterscheinung' '3. Das Eroshafte seines Erkenntnistriebs leuchtet zum Beispiel aus Goethes Abneigung gegen das n a t u r v e r g e w a l t i g e n d e E x p e r i m e n t hervor. „Die Natur verstummt auf der Folter; ihre treue Antwort auf die redliche Frage ist: Ja! ja! Nein! nein! Alles übrige ist vom Übel"4. Experimente scheinen ihm nur insoweit berechtigt, als sie den Absichten der Natur selbst entgegenkommen. Goethe denkt wie Faust: Geheimnisvoll am lichten Tag Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben, Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben. (Faust I, V. 672—75)

Experimente sind ihm keine Dietriche, keine Nachschlüssel zum Tor der Erkenntnis. Der Versuch soll keine künstlichen Bedingungen schaffen, sondern schlichter „Vermittler von Objekt und Subjekt" sein. „Der Versuch, als Beweis irgendeines subjektiven Ausspruches, ward verworfen; es entstand, was man schon längst Anfrage an die Natur genannt hat"5. Kant schildert den neuzeitlichen Naturforscher (d. h. den Physiker) als den bestallten Richter, der die Zeugen (d. h. die Natur) nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Denn die Vernunft sieht nur das ein, „was sie selbst nach ihrem Entwurf hervorbringt"6. Diese inquisitorische Naturbefragung bildet den äußersten Gegensatz zu Goethes ehrfürchtig-bescheidener „Anfrage an die Natur". Dabei entkleidet die metrische Physik die Phänomene wie Ton oder Farbe ihrer anschau244

liehen Sinnfülle: n u r was meßbar ist, interessiert 7 . „Nach der idealistischen A u f f a s s u n g der Methode w i r d in der Synthesis des Bewußtseins der Gegenstand erst konstituiert. F ü r Goethe ist die Methode lediglich ein Mittel, sich dem Gegenstand zu nähern. Nicht die Methode bestimmt den Gegenstand, sondern der Gegenstand bestimmt die Methode. Die Methode rückt den Gegenstand in eine Blickrichtung, die das A n s c h a u e n . . . erleichtert" 8 . „Man m u ß mit der N a t u r langsam und läßlich verfahren, w e n n m a n ihr etwas abgewinnen will", bemerkt Goethe zu Eckermann 9 , nachdem von den zu rasch sich vordrängenden Meinungen des Aristoteles die Rede w a r . Die w a h r h a f t schöpferischen Gedanken endlich können weder erzwungen noch erarbeitet werden. Alles „Denken zum Denken" hilft nichts; „man m u ß von N a t u r richtig sein, so daß die guten Einfälle i m m e r wie freie Kinder Gottes vor uns dastehen und uns zurufen: da sind wir!" 1 0 Ja, das ist das rechte Gleis, Daß man nicht weiß, Was man denkt, Wenn man denkt; Alles ist als wie geschenkt. ( Z a h m e X e n i e n ) Das sind die echten Einfälle, „unverhoffte Geschenke von oben", aller individuellen Willkür entzogen, in tief u n b e w u ß t e r P a t h i k h i n genommen, daher dem „Dämonischen" v e r w a n d t . Es sind „die glücklichen Augenblicke, wenn uns ein fruchtbares G e w a h r w e r d e n deutlich wird" 1 1 ; die produktiven Momente. Man beachte Goethes Bekenntnis, er k ö n n e n u r d e n k e n , insofern e r p r o d u z i e r e 1 2 . Durch das Aperçu wird m a n gewahr, „was eigentlich den Erscheinungen zum G r u n d e liegt. Und ein solches G e w a h r w e r d e n ist bis ins Unendliche fruchtbar" 1 3 . „Alles w a h r e Aperçu k o m m t aus einer Folge u n d bringt Folge. Es ist ein Mittelglied einer großen, produktiv a u f steigenden Kette" 1 4 . Apercu ist also kein a b r u p t e r Einfall, sondern ein Blick in den metaphysischen H i n t e r g r u n d der Dinge. Er n e n n t es auch „das G e w a h r w e r d e n einer großen Maxime, welches i m m e r eine genialische Geistesoperation ist; m a n k o m m t durch Anschauen dazu, weder durch Nachdenken noch durch Lehre oder Uberliefer u n g . . . Ein solches Aperçu gibt dem Entdecker die größte Freude, weil es auf originelle Weise nach dem Unendlichen hindeutet: es bedarf keiner Zeitfolge zur Überzeugung, es entspringt ganz und vollendet dem A u g e n b l i c k . . . " . (Dichtung u n d Wahrheit, 4. Teil, 16. Buch.)

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ORGANE DES

VORSTELLENS

Wenn man die Verschiedenheit der „Denkweisen" und „Vorstellungsarten" gewahr wird und ihrer Typik in der Wissenschaftsgeschichte nachgeht, so liegt es sehr nahe, zu diesen Funktionen die .entsprechenden „Organe" zu suchen. Dieser Theorie der Intellektualfunktionen, der anschauenden und erkennenden „Vermögen", war durch die Aufklärung ein recht enges Feld abgesteckt worden. Als Hauptkräfte unseres Vorstellungsvermögens hatte Kant S i n n l i c h k e i t , V e r s t a n d und V e r n u n f t angeführt, „die P h a n t a s i e aber vergessen, wodurch eine unheilbare Lücke entsteht1. Die Phantasie ist die vierte Hauptkraft unseres geistigen Wesens ...", sagt Goethe in einem Referat über die „Kurze Vorstellung der Kantischen Philosophie" von Dr. Franz Volkmar Reinhard2. Könnte es nach flüchtiger Lektüre dieses kleinen Lehrbriefs (der übrigens trotz des schwierigen Gegenstands einen bewußt leichthändigen Ton anschlägt) scheinen, als habe Goethe Kants Grundschema einfach übernommen und nur erweitert, so ergibt sich bei genauerer Prüfung, daß zwar die Worte, aber nicht die B e g r i f f e Kants und Goethes übereinstimmen. Goethe referiert nicht über Kant, sondern trägt seine eigene Lehre vor.

VERSTAND

Vom Verstände sagt Goethe in dem obengenannten Referat, er „regle" die „produktive Kraft" der Phantasie. „Der sogenannte Menschen-Verstand [common sense] ruht auf der Sinnlichkeit: wie der reine Verstand auf sich selbst und seinen Gesetzen" . . . „Im gemeinen Leben treibt die Erfahrung auf gewisse Regeln hin, dem Verstand gelingt es zu sondern, zu verteilen und notdürftig zusammen zu stellen und so entsteht eine Art Methode"1. Der Verstand ist eine bei aller Einspurigkeit doch unentbehrliche Weltkraft, von der es im „Wilhelm Meister" (Lehrjahre, 7. Buch, 3. Kapitel) heißt: „Das Menschenpack fürchtet sich vor nichts mehr als vor dem Verstände; vor der Dummheit sollten sie sich fürchten, wenn sie begriffen, was fürchterlich ist: aber jener ist unbequem, und man muß ihn beiseiteschaffen; diese ist nur verderblich und das kann man abwarten." Aber seine Leistungsfähigkeit ist durchaus begrenzt. Nachdem man sich lange mit der Kritik der Vernunft beschäftigte, wünscht Goethe eine Kritik des Menschenverstandes. „Es wäre eine wahre Wohltat fürs Menschengeschlecht, wenn man dem Gemein246

verstand bis zur Überzeugung nachweisen könnte, wie weit er reichen kann, und das ist gerade so viel als er zum Erdenleben vollkommen bedarf" 2 . Im Gegensatz zur übergreifend-synthetischen Vernunft ist der Verstand der reine Rechengeist (ratio), der nur mit fertig gegebenen Größen zu operieren vermag. Die meisten Aussprüche Goethes über französische Wesensart zielen in etwas einseitiger, obzwar historisch verständlicher Sicht auf den „Maßgeist"3. In dem unvollendeten Sendschreiben an die Malerin Luise Seidler vom 11. Februar 1818 (Relief von Phigalia) rühmt er das Ohr (den Tonsinn), weil es die Ungenauigkeiten der gleichschwebenden Temperatur genießend hinnimmt, ohne zu richten. Das Auge hingegen, das etwa die Proportionen einer gemalten Figur beurteilt, „hat einen anmaßlichen Verstand hinter sich, der wunder meint, wie hoch er stehe, wenn er beweist, ein Sichtbares sei zu lang oder zu kurz". Goethe spürt die eigentümliche Aggressivität in Kants Begriff der „Erfahrung". Er mißtraut einem Verstandeswesen, das vorgreifend die Objektivität der Erfahrung zu garantieren vermag. „Mir kommt vorerst gefährlich vor daß Kant das was unsere Seele den Erkenntnissen gleichsam entgegenbringt, worin sie die Erkenntnisse aufnimmt, wieder Erkenntnis nennt" 4 . Sein natürliches Weltverhältnis läßt ihn im Verstand stets nur ein klassifikatorisch leistungsfähiges, aber nicht strukturbildendes Organ erblicken. Und die neuere Gestaltpsychologie muß Goethe recht geben. Raum- und Zeitgestallten treten uns als solche entgegen, ohne daß unser „Verstand" Gelegenheit fände, sie vorgreifend zu entwerfen. Der Verstand ist „auf das Gewordene angewiesen" und „fragt nicht: woher?", sondern „wünscht alles festzuhalten, damit er es nutzen könne" 5 . Er hat es mit dem Gewordenen, Erstarrten zu tun, „daß er es nütze" 6 . Er wirkt ungöttlich, im Toten. „Die Vernunft hat nur über das Lebendige Herrschaft; die entstandene Welt, mit der sich die Geognosie abgibt, ist tot. Daher kann es keine Geologie geben, denn die Vernunft [der Logos] hat hier nichts zu tun." „Was nicht mehr entsteht, können wir uns als entstehend nicht denken; das Entstandene begreifen wir nicht" (Wanderjahre, 1829). Bilden kann wohl der Verstand, doch der tote kann nicht beseelen, Aus dem Lebendigen quillt alles Lebendige nur. (Xenien: Verstand)

Seine höchste Funktion ist die Kritik, „das Absondern des Echten vom Unechten" 8 . Nur in Verbindimg mit der ganzheitstiftenden 18 D a n c k e r ,

Goethe.

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Vernunft kann der Verstand Ersprießliches leisten; auf sich selbst gestellt, bringt er „viel Totes und Tötendes" in die Wissenschaft 9 . Könnte Menschenverstand doch ohne Vernunft nur bestehen, Nickel hätte fürwahr menschlichsten Menschenverstand. (Xenien: Das Unentbehrliche)

Im Gegensatz zur Vernunft „kann man dem Verstand gar keine Autorität zuschreiben, denn er bringt nur seinesgleichen hervor; so wie denn offenbar aller Verstandes-Unterricht zur Anarchie führt" (aus der Geschichte der Farbenlehre). Als bloße „Scheidekraft" ist der abgelöste Verstand unschöpferisch, ja zerstörend. Er setzt schematische Begriffsgespinste an Stelle der welterfüllten Bilder. Den „aufgeklärten" Philistern, die sich auf die größere Verständigkeit ihres Zeitalters etwas zugute tun und die früheren barbarisch nennen, entgegnet Goethe zunächst grundsätzlich: der Verstand ist so alt wie die Welt. Nur die Art ihn anzuwenden ändert sich. „Unser Zeitalter wendet seinen ganzen Verstand auf Moral und Selbstbetrachtung; daher er in der Kunst und wo er sonst noch tätig sein und mitwirken muß, fast gänzlich mangelt." Herrschte früher die anschauungsgesättigt.e, götter- und mythenschaffende Phantasie vor, so jetzt die dürre Begrifflichkeit. „Dort war die Produktionskraft größer, heute die Zerstörungskraft oder die Scheidekunst"10. Also doch ein Crescendo des Verstandeswesens! Im historischen Kreislauf der Erkenntniskräfte, also im Schema einer idealen Wissenschaftsgeschichte, erhält der Verstand eine m i t t l e r e Stelle angewiesen: Phantasie—Sinnlichkeit—V e r s t a n d—Vernunft—Phantasie. Er ist sowohl an der zweiten („empirischen") als auch an der dritten („didaktischen" oder „dogmatischen") Epoche der Wissenschaften beteiligt (vgl. S. 121). Empirismus und dogmatischer Rationalismus sind also für Goethe nahverwandte Gesinnungen, nicht unbedingte Gegensätze. Ihr Neben- und Gegeneinanderwirken in Wissenschaft und Philosophie der Aufklärimg gibt kein Problem auf. Von vornherein sieht er das Gemeinsame der vermeintlichen Gegner: das aufspaltende, abspaltende Wesen. Ontogenetisch wirkt der Verstand am regsamsten „bei eintretender Pubertät" 11 . Eine meisterhafte, für die Erziehungslehre grundlegende Beobachtung! Sie statuiert (stillschweigend) eine nähere Verknüpfung zwischen R a t i o und S e x u s , der nachgeforscht zu werden verdiente 12 . Goethe sieht hier offenbar jenes spaltende, 248

relativ „schizoide" Element, das die Geschlechtsreife mit sich führt. (Der Psychopathologie tritt es in der Schizophrenie, dem „JugendIrresein", handgreiflich entgegen.; Geschlechtsreife ist „Ablösung" vom Eros der Mutter-Sphäre. Erotik ist nicht „sublimierte" Sexualität, wie die Mode-Psychologie unserer Zeit behauptet; Eros und Sexus erweisen sich bei tieferer Besinnung als Gegensätze13. Es ist daher Bestätigung dieses von Goethe geahnten Zusammenhangs, wenn man beobachtet, daß die Zeitalter des abgelösten Verstandes zugleich die entfesselte, vom Eros emanzipizierte Sexualität auf den Schild erheben. Nicht zufällig ist das Lieblingsthema der Aufklärungsdichter das Bewitzeln der Geschlechtlichkeit, das Lüsterne. Die Psychologie des Rokoko erhellt sich aus dieser Sicht. Der Verstand entkleidet die Bilder der lebendigen Welt ihrer Sphäre, ihres „Nimbus.", er beraubt sie damit ihrer Essenz. Es ist daher unbedingt wesensrichtig, wenn Goethe seinen M e p h i s t o als erosfremdes, erosfeindliches Sexuswesen gestaltet, das selbst angesichts der Engel und ihrer Reinheit von gemeiner Sinnengier gepackt wird. Das hier vorliegende Problem wurde als solches schon verschiedentlich gesehen14. Für die Alltagspsychologie bleibt es freilich unlösbar: man muß, wie der Dichter selbst, eine „kosmische" Psychologie, eine Lehre von den e l e m e n t a r e n Weltk r ä f t e n zugrunde legen. Mephisto verkörpert eine solche Weltkraft, die gegenpolare Kraft zum weltschaffenden Eros. Eine Kraft der Vereisung und Erstarrung also, der Scheidung und des Hasses. Der „ewig-regen, heilsam schaffenden Gewalt" setzt er die kalte Teufelsfaust seines zersetzenden Intellektualwesens entgegen. Als durchdringender Verstand bekämpft er Fausts „hohe Intuition" mit vernichtendem Zynismus. „Er ist der kalte Hohn auf alle Ideale, aber damit stellt er sie auf die eigentliche Probe." 15 Mephisto ist „des Chaos wunderlicher Sohn". Er vertritt namentlich als Phorkyas im Zweiten Faust das Urchaos, das Vorzeitlich-Ungeheure, dann aber auch das Gegenklassische schlechthin in all seinen Schattierungen. So wird man zusammenschauend sagen dürfen: Mephisto ist in der Vielschichtigkeit seines Wesens nur als Symbol einer kosmischen Kraft zu verstehen. Die Schärfe seines zersetzenden Verstandes ist nur e i n e Wirkungsseite dieser mächtigen Scheidekraft.

18"

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VERNUNFT Im Gegensatz zur niederen Rationalität erblickt Goethe die V e r n u n f t als ein hohes, ganzheitliches, ja. göttliches Vermögen. Die Vernunft erhebt sich über den Verstand, ohne sich von ihm loszureißen, heißt es in dem früher schon erwähnten Referat über die Kantische Philosophie1. Im Kreis der vier Vorstellungskräfte — Sinnlichkeit, Verstand, Phantasie, Vernunft — ist sie „höchste Leiterin". Sie faßt alles zusammen, erhebt sich über alles, vernachlässigt nichts. Aus ihrer Vereinigung mit der Phantasie entspringt „Würde". Vernunft gibt der Phantasie „die völlige Sicherheit, daß sie nicht mit Traumbildern spiele, sondern auf Ideen gegründet sei". „Nur über das Lebendige hat sie Herrschaft", sie ist auf das Werdende angewiesen, erfreut sich am Entwickeln2. „Die Gottheit... ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun .. ."3 „So hat die Vernunft und das mit ihr verwandte Gewissen eine ungeheure Autorität, weil sie unergründlich sind; ingleichen das, was wir mit dem Namen Genie bezeichnen .. ,"4 Vernunft ist eine hohe kosmische Kraft, menschliche Vernunft gewissermaßen ihre Spezifikation. Verschiedentlich nennt Goethe die Sphäre der Vernunft („die vernünftige Welt") ein großes unsterbliches Individuum, welches unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn erhebt5. „Ich frage nicht, . . . . ob dieses höchste Wesen Verstand und Vernunft habe, sondern ich fühle, es ist der Verstand, es ist die Vernunft selber. Alle Geschöpfe sind davon durchdrungen, und der Mensch hat davon soviel, daß er die Teile des Höchsten erkennen mag"6. Freilich sind die Vernunft des Menschen und die Vernunft der Gottheit „zwei sehr verschiedene Dinge". Des Menschen Fähigkeiten reichen nicht hin, die Handlungen des Universums zu messen, „und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, ist bei seinem kleinen Standpunkt ein sehr vergebliches Bestreben"7. Ontogenetisch sieht Goethe die Vernunft, das ganzheitliche Vorstellen also, im frühen Welt-„Vernehmen" des Kindes bereits wirksam; allenfalls auch in der späten Weisheit des Alters. „Im Kinde die Vernunft schon, auf eine andere Weise; dann der Verstand, bei eintretender Pubertät; dann der Ehrgeiz; dann der Nutzen; zuletzt wieder die Vernunft; aber nicht bei allen Menschen, 250

denn viele bleiben beim Nutzen stehen" 8 . Dazu stimmt jenes erstaunliche Wort des Achtzigjährigen zum Kanzler v. Müller: „Ich bin wohl spät vernünftig geworden, aber ich bin es nun doch" (Juni 1830). Nicht zu allen Zeiten hat Goethe die Vernunft als höchste übergreifende, ganzheitliche Potenz empfunden. Es gibt Augenblicke, wo er sie als reinen Logos offenbar der Verstandessphäre näher rückt und als einen starren Gegenspieler der ewig beweglichen, proteusartigen Natur entgegensetzt. Die Vernunft in uns, so heißt es in einem seltsamen Ausspruch des höheren Alters, wäre eine große Macht, „wenn sie nur wüßte, wen sie zu bekämpfen hätte. Die Natur in uns nimmt immerfort eine neue Gestalt an, und jede neue Gestalt wird ein unerwarteter Feind für die gute, sich immer gleichende Vernunft". Hier spricht der Biozentriker! GEIST Mit diesen Aussagen Goethes kommen einige schärfer profilierte Sätze (unter sehr vielen allgemeineren) über das Wesen des G e i s t e s nahezu überein. In den Noten und Abhandlungen zum Divan (Allgemeinstes) heißt es: „Der höchste Charakter orientalischer Dichtkunst ist, was wir Deutsche Geist nennen, das Vorwaltende des oberen Leitenden; hier sind alle übrigen Eigenschaften vereinigt, ohne daß irgendeine, das eigentümliche Recht behauptend, hervorträte. Der Geist gehört vorzüglich dem Alter oder einer alternden Weltepoche. Übersicht des Weltwesens, Ironie, freien Gebrauch der Talente finden wir in allen Dichtern des Orients. Resultat und Prämisse wird uns zugleich geboten; deshalb sehen wir auch, wie großer Wert auf ein Wort aus dem Stegreife gelegt wird. Jene Dichter haben alle Gegenstände gegenwärtig und beziehen die entferntesten Dinge leicht aufeinander, daher nähern sie sich auch dem, was wir Witz nennen; doch steht der Witz nicht so hoch, denn dieser ist selbstsüchtig, selbstgefällig, wovon der Geist ganz frei bleibt, deshalb er auch überall genialisch genannt werden kann und muß." Indem Goethe hier das Geistige geschichtsmorphologisch bestimmt, nähert er sich Hegels bekanntem Ausspruch von den Eulen der Minerva und entfernt sich zugleich von der schellingisierenden Formel, die die Natur gleichsam als geronnenen Geist deutet: „Wer das Höchste will, muß das Ganze wollen; wer vom Geiste handelt, muß die Natur, wer von der Natur spricht, muß den Geist voraussetzen oder im Stillen mitverstehen" 1 . Freilich: einen offenen Widerspruch darf man aus diesen beiden Perspektiven nicht konstruieren. Als uranische 251

Höhenkraft ermöglicht der Geist freieste Überschau („Übersicht des Weltwesens") und jene Versatilität des Blicks, die sich als überlegen, spielende Ironie bekundet. Das Aktive, weithin Strahlende hat der Geist mit dem Lichtwesen gemeinsam. Als transzendente Seherin ist Makarie l i c h t h a f t : „Sie erinnert sich von klein auf ihr inneres Selbst als von leuchtenden Wesen durchdrungen, von einem Licht erhellt, welchem sogar das hellste Sonnenlicht nichts anhaben konnte" 2 . „Licht und Geist, jenes im Physischen, dieser im Sittlichen herrschend, sind die höchsten denkbaren unteilbaren Energien" 3 . Diese Symbolgleichung ist uralt, viel älter als Gnosis und Neuplatonismus, auf die man sie herkömmlicherweise zurückzuführen pflegt. Goethe zeigt sich sehr früh, schon in der zweiten der „Zwo wichtigen biblischen Fragen" von 1773, mit der Lichtmetaphysik vertraut. In derselben Schrift erscheint auch der wehende Weltatem des Pneuma der bloßen Vernunft, dem Nus, entschieden übergeordnet. „Fragt ihr: wer ist der Geist? So sag' ich euch: Der Wind bläset, du fühlst sein S a u s e n . . . . Kam in der Folge der Geist über eine Seele, so war das Aushauchen seiner Fülle das erst notwendige Atmen eines so gewürdigten Herzens. Es floß vom Geiste selbst über, der so einfach wie das Licht auch so allgemein ist, und nur, wenn die Wogen verbraust hatten, floß aus diesem Meere der sanfte Lehrstrom zur Erweckung und Änderung der Menschen Es ist Vater und Sohn, Keim und Pflanze. Pneuma! Pneuma! Was wäre Nus ohne Dich!" Geist ist die kosmische Diastole, das Weltprinzip der Expansion, Entselbstung, Entdichtung. Immer neue Versuchslinien schickt der Geist aus dem Zentrum zur Peripherie 4 . Makarie, die seit der Kindheit lim die Sonne wandelt, bewegt sich „in einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den äußern Regionen hinstrebend". „Wenn man annehmen darf, daß die Wesen, in sofern sie körperlich sind, nach dem Zentrum, in sofern sie geistig sind, nach der Peripherie streben, so gehört unsere Freundin zu den geistigsten; sie scheint nur geboren um sich von dem Irdischen zu entbinden, um die nächsten und fernsten Räume des Daseins zu durchdringen." Geist wirkt in der Materie als Prinzip der S t e i g e r u n g , „in immerstrebendem Aufsteigen". Ausdrücklich fügt Goethe hinzu, daß „die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existert und wirksam sein kann" (zu F. v. Müller). Denselben (monistischen) Gedanken kündet auch die bekannte Gedichtzeile von der Gott-Natur, „wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen". (In der Betrachtung von Schillers Schädel.) Geist und Materie be252

trachtet Goethe als „die notwendigen Doppelingredienzien des Universums die beide gleiche Rechte f ü r sich fordern uiid deswegen beide zusammen wohl als Stellvertreter Gottes angesehen werden können" 5 . Eine Kategorientafel sich steigernder Wirkungen, die „auf die stetigste Weise zusammenhängen, ineinander übergehen, von der ersten bis zur letzten undulieren", lautet: Zufällig Mechanisch Physisch

Chemisch Organisch Psychisch

Ethisch Religiös Genial

Man sieht: eine Stufenreihe, die mit dem Unstetigen, WillkürlichBlinden beginnt und sich zum Sinnvollen, Stetigen, Ganzheitlichen erhebt (Farbenlehre). Geist ist ,.Aufstufung". Geist und Natur sind aufeinander hin gerichtet und abgestimmt; Geist wirkt naturimmanent. Darum gilt auch: „Die Natur, wenn wir sie recht zu fassen verstehen, spiegelt sich überall analog unserem Geiste; und wenn sie nur Tropen und Gleichnisse weckt, so ist schon viel gewonnen" 6 . Nicht anders begreift Goethe Geist als wirkende Macht in der G e s c h i c h t e . „Wer die Geschichte recht erkannt hat, dem wird aus tausend Beispielen klar sein, daß das Vergeistigen des Körperlichen, wie das Verkörpern des Geistigen nicht einen Augenblick geruht, sondern immer unter Propheten, Religiösen, Dichtern, Rednern, Künstlern und Kunstgenossen hin und her pulsiert hat; vorund nachzeitig immer, gleichzeitig oft" 7 . Auch hier spürt m a n das Bemühen, den alten Dualismus von Physis und Nus, der seit Anaxagoras das europäische Denken beherrscht, polaristisch zu überwinden. In den Wander jähren 8 wird ganz entsprechend dem Menschen die Aufgabe gestellt, die beiden Welten des Stoffes und des frei wirksamen Geistes „gegeneinander zu bewegen, ihre beiderseitigen Eigenschaften in der vorübergehenden Lebenserscheinung zu manifestieren". Man sieht: von G e i s t f e i n d s c h a f t (wie sie sich erstmalig bei Daumer, dann bei Klages äußert) kann bei Goethe nicht gesprochen werden. Das Geistige, Himmlische, Uranische (vgl. S. 480 ff.) wird in den Kosmos einbezogen. In dem berühmten Dornburger Gespräch (mit F. v. Müller, 29. April 1818) bekennt sich Goethe, von einer erdflüchtigen Stimmung getragen, fast wie ein TranzendentalRomantiker als Bürger der oberen Geistwelt. Aber von dieser ganz exzeptionellen Anwandlung abgesehen ist das Geistige in Goethes Weltverständnis stets allwirkendes kosmisches Prinzip, eine A r t Weltäther, niemals eine schlechthin jenseitige, weltabgeschiedene 253

oder rein überweltliche Sphäre. Von der Konzeption einest schlechthin außer- oder überweltlichen Geistes ist die Rede, wenn es heißt: „Jacobi hatte den Geist im Sinn, ich die Natur, uns trennte, was uns hätte vereinigen sollen"9. (Jacobi, der „Supernaturalist" der Walpurgisnacht, ist Uranier, Typus III.) Ganz außerhalb der Goetheschen Weltschau liegen die uranischen Vorstellungen vom w a n d e l l o s e n S e i n und der (oft damit verknüpften) E m a n a t i o n . Wenn er vom „Sein" spricht, dann meint er den essentiellen Kern eihes Individualwesens, die Monas, keineswegs aber die Mumifizierung eines jenseitigen Zustandes: Wunschbild der hybriden, erstarrten Selbstheit. Man beachte die unabsehbare Dynamik der Jenseitsvision im Schluß des Zweiten Faust. Aber ganz eindeutig ist Goethes Geist-Lehre keineswegs. Neben der polaristischen, harmonisierenden Sicht zeigen sich zum mindesten Spuren einer anderen Auffassung. Das Alterswesen des Geistes, von dem eingangs die Rede war, bedeutet doch offenbar ein gewisses Sich-Abscheiden. Es ist nicht ganz sicher, ob Goethe mit Mariannens Formel, der Geist sei „des Lebens Leben" 10 sich völlig identifizierte11. Auffällig ist es auch, daß er bei einer Aufzählung geistiger Tätigkeiten 12 die absondernden, trennenden Züge so stark in den Vordergrund rückt: Erfahren, Schauen, Beobachten, Betrachten, Verknüpfen, Entdecken, Erfinden, Bemerken, Sondern, Zählen, Messen, Wägen. Aus alledem spricht doch wohl eine latente Spannung: Goethe, der Psychiker, empfindet im Geiste zwar nicht den „Widersacher", wohl aber den Gegenpol der eigenen Grundbefindlichkeit des Daseins. SINNLICHKEIT

Wenn Kant von „Sinnlichkeit" spricht, so denkt er an eine chaotische Masse unverbundener Sinneseindrücke elementarster Art, die erst nachträglich durch die Funktion des Bewußtseinssubjekts geordnet, das heißt aber verknüpft und vereinheitlicht werden1. Kant leugnet also das, was wir heute „ursprüngliche Gestaltqualitäten" nennen. Für ihn sind „Anschauungen ohne Begriffe blind". Er denkt nach dem Schema: (Roh-)S t o f f : Außenwelt, Sinnlichkeit, chaotische Reizmasse; F o r m : Erzeugnis des Subjekts, Aktus der Selbsttätigkeit. Sinnlichkeit und Verstand, die beiden „Stämme" unserer Erkenntnis, sind für Kant gleichbedeutend mit „Rezeptivität" und „Spontaneität". 254

Von solcher künstlichen Aufspaltung weiß Goethe nichts. Sie ist ihm, so fremd, daß er sogar in seinem Referat über die „Kurze Vorstellung der Kantischen Philosophie von Franz Volkmar Reinhard"2 ganz unbefangen das diametrale Gegenteil von Kants Lehre als Selbstverständlichkeit ausspricht: „Die Sinnlichkeit reicht ihr (der Phantasie) r e i n u m s c h r i e b e n e , g e w i s s e G e s t a l t e n " . Für ihn ist also Sinnlichkeit eo ipso gestaltet, keineswegs amorph. Den Sinnen hast du dann zu trauen, Kein Falsches lassen sie dich schauen, Wenn dein Verstand dich wach erhält.

(Vermächtn

is)

Gegenüber den Versuchen der Transzendentalisten, das Sinnliche als bloßen Schein und Trug hinzustellen, wird Goethe nicht müde, die Sinnhaftigkeit auch das Elementarsinnlichen zu betonen. „Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt"3. Nie können sinnvolle Erlebnisse aus Elementen erwachsen, die selbst ohne Sinn sind. Darum gibt er einer jungen Malerin zu bedenken, „daß der Geist des Wirklichen eigentlich das wahre Ideelle ist. Das unmittelbar sichtlich Sinnliche dürfen wir nicht verschmähen, sonst fahren wir ohne Ballast"4. Ein von Goethe selbst verfertigter „Triangel" (Pyramide) aus Pappe, den Immermann 1837 schildert, sollte das Verhältnis der Seelenkräfte verdeutlichen. „Sinnlichkeit erschien ihm als die Grundlage alles Übrigen; er wies ihr daher die Grundfläche . . . an und färbte dieselbe grün. Phantasie erhielt eine dunkelrote, Vernunft eine gelbe, Verstand eine blaue Seitenfläche eingeräumt." Mindestens als Ergänzung der Vernunftkritik fordert Goethe (in den Wanderjahren, 1829) eine K r i t i k d e r S i n n e . Damit wirft er einen Gedanken von großer, noch heute nicht ausgeschöpfter Tragweite ins Treffen. „Kant hat uns aufmerksam gemacht, daß es eine Kritik der Vernunft gäbe, daß dieses höchste Vermögen, was der Mensch besitzt, Ursache habe, über sich selbst zu wachen. Wie großen Vorteil uns diese Stimme gebracht, möge jeder an sich selbsst geprüft haben. Ich aber möchte in eben dem Sinne die Aufgabe stellen, daß eine Kritik der Sinne möglich sei, wenn die Kunst überhaupt, besonders die deutsche, irgend wieder sich erholen und in einem erfreulichen Lebensschritt vorwärts gehen solle"5. Die Gespräche mit Eckermann (17. Februar 1829) bringen den gleichen Wunsch mit leichter Abwandlung: „In der deutschen Philosophie wären noch zwei Dinge zu tun. Kant hat die Kritik der reinen Vernunft geschrieben, womit unendlich viel geschehen, aber der Kreis nicht abgeschlossen ist. Jetzt müßte ein Fähiger, ein Bedeu255

tender die Kritik der Sinne und des Menschenverstandes schreiben, und wir würden, wenn dieses gleich vortrefflich geschehe, in der deutschen Philosophie nicht mehr viel zu wünschen haben". Eine solche Phänomenologie der Sinnlichkeit ist auch heute noch ein dringendes Anliegen; ein wohl in Teilen angerührtes, im ganzen noch ungelöstes Problem. (Einen dankenswerten Ansatz unternimmt zum Beispiel das Buch von Hellmuth Plessner: Die Einheit der Sinne, Bonn 1923.) Was wissen wir etwa von den Dimensionen des Tonraums, von der Ordnung der visuellen Elementarqualitäten, vom ursprünglichen Gehalt der Sprachlaute? Wahrscheinlich sollte die von Goethe geforderte Kritik der Sinne eine umfassende Theorie des Anschauens in sich fassen, eine Artenund Stufenlehre des Schauvermögen®, wie er sie beiläufig einmal in einem Brief an Schiller 6 skizziert. „Die Anschauung ist dasjenige, was alle Verhaltungsweisen des Menschen umfaßt und die Situation des Menschen als endliches, auf Dasein angewiesenes Wesen eigentlich bestimmt . . . Das vortheoretische praktische Verhalten ist ebenso Anschauen, wie es das höchste Erkennen sein muß. Nicht das Denken also, sondern das Anschauen bezeichnet das Menschsein." Mit diesen Sätzen umreißt Gerhard Piathow7 die Tragweite der von Goethe geforderten Anschauungslehre. Von hier führt offensichtlich der Weg weiter zu Klages' Entdeckung des allen Sinnen innewohnenden Schauvermögens und zur Lehre von der spezifischen Bildempfänglichkeit des Menschen.

PHANTASIE

„Die Phantasie ist die vierte Hauptkraft unsers geistigen Wesens, sie suppliert die Sinnlichkeit, unter der Form des Gedächtnisses, sie legt dem Verstand die Welt-Anschauung vor, unter der Form der Erfahrung, sie bildet oder findet Gestalten zu den Vernunftideen und belebt also die sämtliche Menscheneinheit, welche ohne sie in öde Untätigkeit versinken müßte." „Wenn nun die Phantasie ihren drei Geschwisterkräften solche Dienste leistet, so wird sie dagegen durch diese lieben Verwandten erst in's Reich der Wahrheit und Wirklichkeit eingeführt. Die Sinnlichkeit reicht ihr rein umschriebene, gewisse Gestalten, der Verstand regelt ihre produktive Kraft, und die Vernunft gibt ihr die völlige Sicherheit, daß sie nicht mit Traumbildern spiele, sondern auf Ideen begründet sei." 256

„ . . . die Phantasie schwebt über der Sinnlichkeit und wird von ihr angezogen; sobald sie aber oberwärts die Vernunft gewahr wird, so schließt sie sich fest an diese höchste Leiterin. Und so sehen wir denn den Kreis unserer Zustände durchaus abgeschlossen und dem ungeachtet unendlich, weil immer ein Vermögen des andern bedarf und eins dem andern nachhelfen muß." „ . . . Inzwischen aber [d. h. zwischen sinnlicher Erfahrung, Verstand und Vernunft] wird unablässig die allesdurchdringende, allesausschmückende Phantasie immer reizender, je mehr sie sich der Sinnlichkeit nähert, immer würdiger, je mehr sie sich mit der Vernunft vereint. [Anmut und Würde!] An jener Grenze ist die wahre Poesie zu finden, hier die echte Philosophie . . ." 1 In welch positiver, keineswegs abschätziger Bedeutung Goethe dieses „Schweben" der Phantasie versteht, zeigt ein anderer Ausspruch: „Phantasie ist der Natur viel näher als die Sinnlichkeit, diese ist in der Natur eingeschlossen, jene schwebt über ihr. Phantasie ist der Natur gewachsen, Sinnlichkeit wird von ihr beherrscht" 2 . Unter „Phantasie" versteht demnach Goethe keineswegs ein nichtiges, willkürliches Spiel freischwebender Vorstellungen, sondern eine höchst bedeutsame synthetische, vermittelnde, „alles durchdringende" Funktion, eine „produktive Kraft", die einesteils künstlerisch wirksam ist, andernteils aber auch der philosophischen Erkenntnis dient. Im Sinnbild vom „schaffenden Spiegel" hat er die kürzeste, gedrungenste Formel seiner Lehre von der Phantasie geprägt. Der seelische Mikrokosmos wirft das Bild des Universums zurück, aber „schaffend", umgestaltend. „Schaffender Spiegel" und „gegenständliches Denken" interpretiert Franz Koch3 als einander ergänzende Vorstellungen; Grete Schaeder 4 fügt den Begriff der „exakten sinnlichen Phantasie" hinzu, worin sich die Bezirke reiner Anschauung, weltoffenen Denkens und schöpferischer Einbildungskraft zusammenschließen. In einem Brief an Knebel unterscheidet Goethe drei Unterarten der Einbildungskraft: die nachbildende, die produktive und die umsichtige. „Zur Anschauung gesellt sich die Einbildungskraft, diese ist zuerst n a c h b i l d e n d , die Gegenstände nur wiederholend. Sodann ist sie p r o d u k t i v , indem sie das Angefaßte belebt, entwickelt, erweitert, verwandelt. Femer können wir noch eine u m s i c h t i g e Einbildungskraft annehmen, die sich beim Vortrag umherschaut, Gleiches und Ähnliches erfaßt, um das Ausgesprochene zu bewähren" 5 . Was Goethe „Phantasie" oder „Einbildungskraft" nennt, ließe sich etwa als 1. „Bildempfänglichkeit", 2. „schöpferische 257

Bildekraft" und 3. „höhere, vergleichende Gestalt-Auffassung" bezeichnen. In allen drei Arten tritt das Gestalthafte als wesentlich hervor. Phantasie wäre demnach der G e s t a l t e n - S i n n schlechthin und zugleich das Apriori jeglicher Gestaltungskraft. Goethe spricht gelegentlich sogar von einer e x a k t e n sinnlichen Phantasie! „So wird ein Mann, zu den sogenannten exakten Wissenschaften geboren und gebildet, auf der Höhe seiner Verstandesvernunft nicht leicht begreifen, daß es auch eine exakte sinnliche Phantasie geben könne, ohne welche doch eigentlich keine Kunst denkbar ist" 6 . Dieser Ausspruch scheint zunächst auf die zweite Unterart, die produktive, bildzeugende Kraft des Künstlers hinzuzielen. Doch könnte man auch an die dritte Art, die vergleichende, erkenntnisfördernde Bildschau denken. Welche „exakte sinnliche Phantasie" gehört etwa dazu, um aus der tausendfältigen Fülle der Pflanzengebilde die „Urpflanze", den Arche-Typus herauszusehen! Offenbar eine bewegliche Anschauung, eine scientia intuitiva in fließenden Bildern7. Wenn die Phantasie in Goethes Kreisschema der Vorstellungskräfte zum (analytischen) V e r s t a n d in „Opposition" steht, so ist damit schon ihre ganzheitliche, zusammenschließende Funktion verdeutlicht. Die Phantasie hat „ihre eigenen Gesetze . . ., denen der Verstand nicht beikommen kann und soll"8. Mit dem Klarblick des großen Kultur-Diagnostikers sieht Goethe das unaufhaltsame Voranschreiten des auflösenden Begriffsdenkens und das gleichzeitige Zurückweichen der schauenden wie zeugenden Bildekräfte. „Die Phantasie wirkte in früheren Jahrhunderten ausschließend und vor, und die übrigen Seelenkräfte dienten ihr, jetzt ist es umgekehrt, sie dient den andern und erlahmt in diesem Dienst"9. Goethes Auffassung ist bei zwei italienischen Denkern des 18. Jahrhunderts vorgebildet: bei V i c o und M u r a t o r i . Bereits 1725 verkündet Giambattista Vico in seiner „Neuen Wissenschaft" die Unabhängigkeit, ja Gegensätzlichkeit der schöpferischen Phantasie zum Verstände; er lehrt, die Zivilisation, „das bürgerliche Licht Apolls", verfeinere zwar die Sitten, jedoch auf Kosten der ursprünglichen künstlerischen Schöpfungskraft. Die heidnischen Völker waren nichts als „ganz starke Sinne und ungeheure Phantasie". Ob und wie weit Goethe von Vico Anregungen empfangen hat, ist meines Wissens ungeklärt. Ganz unbekannt war er ihm nicht, denn er erwähnt ihn einmal beiläufig in der „Italienischen Reise" (II, Neapel, 5. März 1787). Fünf Jahre später sendet er ein Exemplar der „Neuen Wissenschaft" an Fritz Jacobi, denn er schreibt 258

ihm am 13. Dezember 1792: „In dem kleineren Paket findest du Vico den neapolitanischen Politiker.. ." 10 Im übrigen ist das eine Frage von untergeordneter Bedeutung. Was uns Goethe über die Sphäre der Bild-Kräfte zu sagen hat, ist gewiß innerster und eigenster Erfahrung entsprungen.

ANSCHAUENDE

URTEILSKRAFT

Jene Funktion, die Goethe im Brief an Knebel „umsichtige Einbildungskraft" nennt, hat er selbst von frühen bis spätesten Tagen als die Hauptquelle seines Vorstellungslebens empfunden. Schauen, Anschauen, Irradation, anschauende Kenntnis, anschauender Begriff, gegenständliches Denken, anschauendes Denken, anschauende Urteilskraft, scientia intuitiva nennt er sie. Wird der Poet nur geboren? Der Philosoph wirds nicht minder, Alle Wahrheit zuletzt wird nur gebildet, geschaut. (Xenien: Wissenschaftliches Genie) „Die Sachen ansehen, so gut wir können" 1 ist schon der Leitspruch des Straßburger Studenten, den Herder schulmeistert: „Es ist alles so Blick bei Euch!" „Besitzt eine außerordentlich lebhafte' Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt"; so porträtiert Kestner 2 den Jugendfreund. Schon der Ur-Faust (1774—1775) begehrt nicht abstraktes begrifflicheis Wissen, sondern schauende Erkenntnis des Kosmos: Schau alle Wirkungskraft und Samen Und tu nicht mehr in Worten kramen, ^y

85)

Wenige Jahre später hält Goethe dem ideologisch schwärmenden Lavater den Satz entgegen: „Ich denke auch aus der Wahrheit zu sein, aber aus der Wahrheit der fünf Sinne" 3 . „Sie wissen, daß ich nie etwas als durch I r r a d a t i o n lerne, daß nur die Natur und die größten Meister mir etwas begreiflich machen können", versichert er der Stein4. Der berühmte erste Brief an Jacobi über Spinoza enthüllt die Schau als W e s e n s - Schau: „Wenn du sagst man könne an Gott nur g l a u b e n so sage ich dir, ich halte viel aufs s c h a u e n , und wenn Spinoza von der Scientia intuitiva spricht, und sagt: Hoc cognoscendi genus procedit ab adaequata idea essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum; so geben mir diese wenigen Worte Mut, mein ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen die ich reichen 259

und von deren essentia formali ich mir eine adäquate Idee zu bilden hoffen kann, ohne mich im mindesten zu bekümmern, wie weit ich kommen werde und was mir zugeschnitten ist" 5 . Über Italien: „Es wird mir mit diesem Lande wie mit meinen Lieblingswissenschaften gehn. Auf den ersten sichern Blick kommt alles an, das übrige gibt sich, und durch Schrift und Tradition hat man keinen sichern Blick" 6 . In Rom stellt sich Goethe die Aufgabe: „In der Kunst muß ich es so weit bringen^ daß alles anschauende Kenntnis werde, nichts Tradition und Name bleibe, und ich zwing' es in diesem halben Jahre; auch ist es nirgends als in Rom zu zwingen". (Italienische Reise III, Rom, 28. August 1787.) Von Neapel und Sizilien anfangs Juli 1787 wieder nach Rom zurückgekehrt, stellt er die empfangenen Kunst-Eindrücke prüfend der Natur entgegen: „Das muß die Seele erweitern, reinigen und ihr zuletzt den höchsten anschauenden Begriff von Natur und Kunst geben." (Italienische Reise III, Rom, 27. Juni 1787.) Urteile der Zeitgenossen aus den neunziger Jahren betonen Goethes dichterische Bild-Sinnlichkeit; gewöhnlich sieht man das „realistische" Moment abgetrennt vom eigentlichen Symbolgehalt. Rein sinnliche Anschauung und Empfängnis rühmt ihm L. F. Huber nach7. Als Huber zwei Jahre später den Dichter persönlich kennen lernt, erblickt er ihn nur noch als Sinnenmenschen und „Realisten"8. Ähnlich zeichnet ihn Schiller, noch in Ressentiment befangen, in den ersten Weimarer Jahren: „Eine stolze philosophische Verachtung aller Spekulation und Untersuchung, mit einem bis zur Affektation getriebenen Attachement an die Natur und einer Resignation in seine fünf Sinne; kurz eine gewisse künstliche Einfalt der Vernunft bezeichnet ihn und seine ganze hiesige Sekte" 9 . „Seine Philosophie mag ich auch nicht ganz; sie holt zu viel aus der Sinnenwelt, wo ich aus der Seele hole. Überhaupt ist seine Vorstellungsart zu sinnlich und betastet mir zu viel. Aber sein Geist wirkt und forscht nach allen Direktionen und strebt, sich ein Ganzes zu erbauen, und Das macht mir ihn zum großen Mann"10. Noch 1799 zeichnet Böttiger scharf, aber einseitig vom Physiologischen her, ein Doppelbild von Wieland und Goethe: dort der in sich gekehrte Phantasie-Dichter, hier der scharf nach außen blickende Sinnenmensch: „Ein Hauptunterschied zwischen Goethe und Wieland ist in ihrer sinnlichen Organisation. Wieland hat äußerst blöde Sinne, besonders Augen. Daher ist alle seine Poesie Feenwerk, Phantasiespiel, Vision und Exaltation des inneren Auges, ohne ganz reine, bestimmte äußere Form. Goethe hat sehr scharfe äußere Sinne, 260

hat selbst frühzeitig zeichnen und malen gelernt . . . und daher umfaßt er die sinnlichen Gegenstände mit unwiderstehlicher Gewalt, und Wahrheit. Daher seine kristallhelle Klarheit im Ausdruck, sein kurz geschlossener fest und symmetrisch gegliederter Periodenbau, sein Hang zur rein epischen Dichtung, da Wielands Gedichte alle n u r romantische Epopöen sind" n . Handelt es sich wirklich n u r um Unterschiede der Sinnesschärfe? Gewiß nicht. Das sogenannte „Romantische", das Böttiger an Wielands Dichtung w a h r zunehmen glaubt, ist in Wahrheit ihr transzendentaler Hintergrund (Typus II), der seltsam genug mit dem Rokokowesen sich amalgamiert. Ebensowenig läßt sich Goethes viel bewunderte Augensinnlichkeit vom psychischen Hintergrund, einer ganz spezifischen Symbol-Empfänglichkeit, trennen. Der gestaltlosen, rein gedanklichen Urkonzeption Schillers stellt Körner (in Briefen an Schiller) Goethes bildgezeugtes Schaffen gegenüber. Bald aber wird Schiller selbst bekennen, daß Goethes Schauen mehr und anderes bedeutet als ein „Betasten" der Dinge. Sein berühmter Brief vom 23. August 1794, worin er ein Gesamtbild von Goethes Art entwirft, rückt die Schau, die ganzheitliche Intuition an die höchste Stelle der Erkenntniskräfte. „Ihr beobachtender Blick, der so still und rein auf den Dingen ruht, setzt Sie nie in Gefahr, auf den Abweg zu geraten, in den sowohl die Spekulation als die willkürliche und bloß sich selbst gehorchende Einbildungskraft sich so leicht verirrt. In ihrer richtigen Intuition liegt alles und weit vollständiger, was die Analysis mühsam macht, und n u r weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr eigener Reichtum verborgen; denn leider wissen wir n u r das, was wir scheiden." Der nächste Brief vom 31. August (1794) setzt diese Betrachtungen fort. „Ihr Geist wirkt in einem außerordentlichen Grad intuitiv, und alle Ihre denkenden K r ä f t e scheinen auf die Imagination, als ihre gemeinschaftliche Repräsentantin, gleichsam kompromittiert zu haben. Im Grund ist dies das Höchste, was der Mensch aus sich machen kann, sobald es ihm gelingt, seine Anschauung zu generalisieren und seine Empfindung gesetzgebend zu machen. Darnach streben Sie, und in wie hohem Grade haben Sie es schon erreicht!" Deutlich sieht Schiller auch das eigentümliche Pendelspiel zwischen Anschauung und Reflexion, Bild und Gedanken in Goethes Art, das Goethe selbst (an Jacobi, 23. November 1801) unübertrefflich schildert: „ein tiefes ruhiges Anschauen, in dessen immerwährender Synkrisis (Vereinigung) und Diakrisis (Trennung) wir 261

ein göttliches Leben fühlen". Es ist ein kreisläufiger Prozeß, der nicht nur vom Bild zum Gedanken führt, sondern den Gedanken auch wieder rückwärts verwandelt zum Bild. In dem berühmten Brief vom 23. August 1794 sagt Schiller, Goethe mache sich „eine Arbeit mehr" als der bloße Begriffsdenker: „denn so wie Sie von der Anschauung zur Abstraktion übergingen, so müssen Sie nun rückwärts wieder Begriffe in Intuitionen umsetzen". Urtümliches Bilddenken (Symbolschau) wird gleichsam überlagert von einer „späteren", bewußteren Schicht des Ideen-Denkens. Auf diese bipolare Spannung zielt Chambenlain12: dort „eine verzehrendleidenschaftliche, spontan-schöpferische Kraft der unmittelbaren Anschauung", hier „eine ununterbrochen wirkende, vollendet besonnene Denkgewalt". Vermittelt zwischen beiden nur ein kraftvoll waltender Knüpfungs-Wille? Das ist nicht leicht zu sagen; doch will mir scheinen, daß Chamberlain die hier obwaltende Kluft überbetont. Goethe selbst umschreibt seine Eigenstellung bald als schlichte Mittellage (etwa zwischen Naturphilosophie, die von oben herunter, und Naturforschung, die von unten hinauf leiten will): „Ich wenigstens finde mein Heil nur in der A n s c h a u u n g , die in der Mitte steht" (30. Juni 1798 an Schiller). Bald auch als ein immer erneutes Brückenschlagen und Verknüpfen von beiden Seiten, ja als Kreisprozeß, wobei er in der mittleren Region verharrt, versuchend, „wie durch allgemeine Betrachtung der Anfang mit dem Ende und das Erste mit dem Letzten, das Längstbekannte mit dem Neuen, das Feststehende mit dem Zweifelhaften in Verbindung zu bringen sei" (1824). Zwischen dem (spekulativen) Naturphilosophen und dem (empirischen) Naturforscher findet er sich in seiner Qualität als „ N a t u r s c h a u e r " bestätigt (an Schiller, [27. Juni 1798]). Nie kann er sich „rein spekulativ verhalten", sondern muß „gleich zu jedem Satze (der Philosophen) eine Anschauung suchen" (an Schiller, 19. Februar 1802). „Wa9 ich aussprach, ist nicht aus der Luft gegriffen, es hat immer ein Substrat; wie denn neuerlich ein werter unterrichteter Mann meine Art und Weise ein g e g e n s t ä n d l i c h e s Denken genannt hat, welches nämlich immer im Angesicht des Gegenstandes sich bilde und äußere. Ich bin wohl zufrieden mit dieser Auslegung meiner Träume"13. Den Ausdruck „gegenständliches Denken" (als Verdeutschung von Objektivität) hatte der Naturforscher Heinroth in seiner Anthropologie gebraucht. Goethe nimmt ihn freudig auf und bestimmt ihn genauer: „Daß mein Denken sich von den Gegenständen n i c h t s o n d e r e , daß die Elemente der Gegen262

stände, die A n s c h a u u n g e n , in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß meine Anschauung selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei"14. Man beachte wohl, daß „gegenständlich" für Goethe nichts anderes bedeutet als bildhaft, anschauungsgesättigt. Der Bedeutungsschwerpunkt liegt auf der Nichtabsonderung, dem Verschmelzen von Denken und Eidos. Schon Heinroth hatte den Weg Goetheschen Forschens darin erblickt, daß „die Beobachtung und das Denken gleichsam in einen Akt zusammengeschmolzen werden". Er hatte den Geist als ein bildendes, gestaltendes Vermögen geschildert, der nur durch sein Formgeben zur Erkenntnis gelangen kann. Dies ist festzuhalten, weil es ja auch einen ganz anderen Typus von „Gegenständlichkeit" gibt, dem die Gegen-stände als verfestigte Gegenwürfe des Denksubjekts gerade in ihrer Abgespaltenheit bedeutungsvoll erscheinen. Es ist daher nicht unbedenklich, wenn man, wie es so häufig geschieht, von Goethes „Objektivität" spricht. Aussprüche aus dem letzten Lebensjahrzehnt sind nur Paraphrasen des alten Themas „Ich bin auf Wort, Sprache und Bild im eigentlichsten Sinne angewiesen . . ."15 Dem Forscher Purkinje berichtet er von seinem „beharrlichen Wandeln in dem Reiche des Sehens, Schauens, Beobachtens, Erinnerns und Imaginierens"16. Zu Eckermann: „Ich habe mich ziemlich nach allen Seiten hin versucht, jedoch gingen meine Richtungen immer nur auf solche Gegenstände, die . . . unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen werden" (1. Februar 1827). Und abermals: „Denken ist interessanter als Wissen aber nicht als Anschauen"17. „Wo Beweise nötig werden, fehlt die Anschauung"; dieses Wort des chinesischen Philosophen Tschuang-tse hätte Goethe gewiß freudig unterschrieben.

Zu wiederholten Malen bringt Goethe sein anschauendes Denken in Zusammenhang mit der wurzelhaften Einheit seines Weltgefühls. Es wäre ganz abwegig, im Rücklauf zum Bild nur eine Spielart von „Empirismus" erblicken zu wollen. Anschauung bedeutet ihm stets mehr als bloßes Wahrnehmen, d. h. intellektuelles Betasten und Registrieren. Schau ist Innewerdung, ist Wesens-Schau, das Gegenteil bloßer Welt-Besichtigung. Jedes Bild ist gestaltet, ist Sinnträger. Goethe unterscheidet scharf zwischen „Sehen und Sehen", zwischen „gewöhnlichem Sehen" und „reinem Anschauen"18. Gewöhnliches Sehen ist oft ein „Vorbeisehen"19. Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünkt — Mit den Augen zu sehen, was vor den Augen dir liegt 20 .

Erst wenn wir den Gegenstand „im Geiste wieder hervorbringen können, dürfen wir sagen, daß wir ihn im eigentlichen und höheren Sinne anschauen"21. 19 D a n c k e r t ,

Goethe.

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Anschaun! Wenn es dir gelingt, Daß es erst ins Innre dringt, Dann nach außen wiederkehrt, Bist am herrlichsten belehrt. (Genius, die Büste der Natur enthüllend) Das bloße Anblicken einer Sache k a n n uns nicht fördern. „Jedes Ansehen geht ü b e r in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so k a n n m a n sagen, d a ß wir schon bei jedem a u f m e r k s a m e n Blick in die Welt theoretisieren. Dieses aber mit Bewußtsein, mit Selbsterkenntnis, mit Freiheit und, u m uns eines gewagten Wortes zu bedienen, mit Ironie zu t u n und vorzunehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor der w i r uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungsresultat, das w i r hoffen, recht lebendig und nützlich w e r d e n soll" 22 . Bilder sind kein bloßer T r u g und Schein, sondern E s s e n z der Welt: „Am farbigen Abglanz h a b e n w i r das Leben" (Faust II, V. 4727). Der Schein, was ist er, dem das Wesen fehlt? Das Wesen, wär es, wenn es nicht erschiene? (Die natürliche Tochter, 1799—1803, 2. Aufz., 5. Auftritt) Die Natur ist nicht verschleiert — Doch der Mensch, er hat den Star. „Der Schein ist m i t der Idee n a h e v e r w a n d t . Er ist gleichsam das Bild, das Gemälde von der Idee. Ja, er ist die Idee selbst mit dem Minimo von Realität verkörpert oder daran offenbart" (zu Riemer, 20. F e b r u a r 1809). Erscheinungsforschung, die nach Goethes innerster Überzeugung zugleich Wesensforschung ist, steht einer bloß analytischen Kausal-Erkenntnis gegenüber. In zwei nachgelassenen Maximen (1233—34) n e n n t er das (reine) Phänomen: eine Folge ohne Grund, eine W i r k u n g ohne Ursache. Beide zusammen (Ursache u n d Wirkung) „machen das unteilbare Phänomen". W a r u m nennt Goethe das P h ä n o m e n eine Folge ohne Grund, eine Wirkung ohne Ursache? Doch wohl, weil er in ihm zunächst und zuoberst die K u n d g a b e eines (erscheinenden) Wesens sieht. Er urteilt als Physiognomiker. F ü r ihn sind die Erscheinungen Ausdruck, Manifestation von Sinn, und überall, wo sich etwas ausdrückt, ist die K a u s a l f r a g e bedeutungslos. A n i h r e Stelle tritt die Analogie, das große Denkmittel der Renaissance-Philosophie, die noch ein Bonaventura an die Spitze 264

stellte, und die später zu flacher Allegorik entarten sollte. Goethe dem Symboldenker erschließt sie sich aufs neue. Nicht nur das Auge schaut, sondern alle Sinne23. „Sehe mit fühlendem Aug', fühle mit sehender Hand." „Das Auge übernimmt Funktion, Gebühr und Pflicht des Ohres"; Architektur ist „verstummte Tonkunst". „Die Sonne tönt . . ." „Ich habe nichts dagegen, wenn man die Farbe sogar zu fühlen glaubt; ihr eigenes Eigenschaftliche würde nur dadurch noch mehr bestätigt. Auch zu schmecken ist sie. Blau wird alkalisch, Gelbrot sauer schmecken. Alle Manifestationen der Wesenheiten sind verwandt"24. Die Stellvertretung der Sinne ist kein bloßes Spiel der dichterischen Phantasie, keine willkürliche Vergesellschaftung widerstreitender Empfindungselemente, sondern Bürgschaft der Welteinheit. Wärme des Feuers, Wärme der Plus-Farben, helles Licht und helle Klänge weisen jeweils auf ein essentiell Gemeinschaftliches, ein „Wesen" hin, das sich in ihm kundgibt. Die Einheit der Sinne ist keineswegs erst von den Romantikern entdeckt und gefeiert worden. „Die wundersame Erfahrung, daß ein Sinn an die Stelle des anderen einrücken und den entbehrten vertreten könne, wird uns eine naturgemäße Erscheinung, und das innigste Geflecht der verschiedensten Systeme hört auf, als Labyrinth den Geist zu verwirren." Und im „Divan" heißt es: Ist somit dem Fünf der Sinne Vorgesehn im Paradiese, Sicher ist es, ich gewinne E i n e n Sinn für alle diese. In der Geschichte der Farbenlehre rechnet Goethe es dem Demokrit nicht zum Vorteil an, daß er verabsäumte, „bei der Verwandtschaft der Sinne nach, einem ideellen Sinn aufzublicken, in dem sich alle vereinigen". Bilderschau ist Wesensschau. Entbilderung der Erkenntnis steigert nicht, sondern vermindert und zerstört ihren Gehalt an WeltEssenz. „Je mehr man das eigentliche Schauen und das unmittelbare Denken vernachlässigt", um so schlechter wird ,„das wissenschaftliche Gildewesen..., wie ein Handwerk, das sich von der Kunst entfernt"25. Nicht Goethes „Künstlernatur", nicht sein „ästhetisches Bedürfnis" (Helmholtz) führt ihn vom abgelösten Begriff zurück zur Anschauung, von den ichbezogenen „Worten und Hypothesen" zur stumm-beredten Sprache der „Phänomene", sondern sein m e t a p h y s i s c h e r I n s t i n k t . Aus solcher unmittel19«

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baren Gewißheit der Wesensschau wagt er es, „das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen". Jener intellectus archetypus, der vom Ganzen zu den Teilen, von der Anschauung zum Besonderen geht, und den Kant nur als Hypothese, als Möglichkeit eines göttlichen Verstandes hinstellt: Goethe ist seiner Teilhabe an dieser höchsten Erkenntnisart aus innerster Erfahrung sicher. Hatte er „erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen", so geschah es später mit vollbewußter Entschiedenheit26. Intuition ist höchstes Schauvermögen. Goethe vergleicht ihre rasch aufblitzenden Durchblicke, die „Aperçus", mit den Erwekkungs-Erlebnissen der religiösen Genies. Es handelt sich um „eine genialische Geistesoperation . . ., man kommt durch Anschauen dazu". Es ist „ein Unterschied zwischen Sehen und S e h e n " . Tiefer dringende Wesensschau fordert, „daß die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät zu sehen und doch vorbei zu sehen"27. Wenn Goethe lehrt, jeder neue Gegenstand wohl beschaut, schließe ein neues Organ in uns auf28, so ist das „sphärisch" empfunden! Das erkennende Einzelwesen erlebt sich eingebettet und umfaßt von der Welt. Der Makrokosmos erzeugt die mikrokosmische Organwelt. Auf Goethes Lehrsatz angewendet, wird man etwa sagen dürfen: Intuition ist nicht n u r passives Hinnehmen. Man kann sich ihr auch (mehr oder minder) bewußt aussetzen! Höchste, ideale Schau hätte alles „Redende" abgestoßen und hinter sich gelassen. Sie wäre nur noch stummes Vorweisen und aufblitzendes Verstehen der Urphänomene. Wenn man es ablehnt, die Phänomene zu erklären oder kausal zu verknüpfen: heißt das nicht die wissenschaftliche Denkweise überhaupt preisgeben zugunsten rein erscheinungsmäßig sich offenbarender Kunst? Die Grenzmöglichkeit einer nur noch schauenden „Wissenschaft als Kunst", einer universalen Physiognomik also, hat Goethe zweifellos vor Augen, w.enn er in der Farbenlehre sagt: „Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innere, diesem das Äußere fehlt; so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit erwarten"29.

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URPHÄNOMENE Dem Erscheinungsforscher, der gewillt ist, nichts hinter den Phänomenen zu suchen, sondern sie selbst als die Lehre hinzunehmen 1 , treten die reinen oder Ur-Phänomene als letzte, elementarste Gegebenheiten entgegen. Bei ihnen mag die Forschung es beruhen lassen, sie sind ein Letzterkennbares, gehören daher bereits der allgemeinen Naturlehre an; „in der besonderen sie zu bezeichnen möchte schwer werden" 2 . Das Urphänomen ist „rein": das heißt, es „widerspricht sich nie in seiner ewigen Einfalt"; das abgeleitete hingegen „erduldet Stockungen, Friktionen und überliefert uns nur Undeutlichkeiten" 3 . Ein Urphänomen, „das man nur aussprechen darf, um es erklärt zu haben", ist z. B. der Magnet: „dadurch wird es denn auch ein Symbol f ü r alles übrige, wofür wir keine Worte noch Namen zu suchen brauchen" 4 . Abgeleitete Phänomene werden erklärt, indem man zeigt, wie sie sich aus Urphänomenen aufbauen. Ein Urphänomen ist jedoch „nicht einem Grundsatz gleichzuachten, a u s dem sich mannigfaltige Folgen ergeben, sondern anzusehen als eine G r u n d e r s c h e i n u n g , innerh a l b deren das Mannigfaltige anzuschauen ist" 5 . Urphänomene sind Gipfelaspekte der Erscheinungswelt; hier liegt nichts mehr über ihnen. Zwischen ihnen und dem gemeinsten Falle der täglichen Erfahrung kann man sich auf- und niedersteigend bewegen. Das Urphänomen schauend ist der Physiker geborgen, hier steht er an der Grenze seiner Wissenschaft, auf der empirischen Höhe, „wo er rückwärts die Erfahrung in allen ihren Stufen erschauen und vorwärts in das Reich der Theorie, wo nicht eintreten, doch einblicken" kann. Auch der Philosoph ist geborgen: „denn er nimmt aus den Physikers Hand ein Letztes, das bei ihm nun ein Erstes wird" 6 . In den nachgelassenen Maximen (1369) nennt Goethe das Urphänomen: ideal, real, symbolisch, identisch. Ideal, an die Idee angrenzend, ist es „als das letzte Erkennbare"; real „als erkannt"; symbolisch, „weil es alle Fälle begreift"; identisch am Ende „mit allen Fällen". Doch „verzweifelt" er an der Vollständigkeit, denn die Empirie erscheint ihm unbegrenzt vermehrbar. Das Bemerkenswerteste an dieser Zusammenstellung ist wohl der Hinweis auf das S y m b o l i s c h e . Alles Symbolische weist ja über das Erkennbare hinaus. So ist es auch kein Zufall, daß Goethe eine seiner (oben genannten) Definitionen des Urphänomens mit dem Satze beschließt: „Schauen, wissen, ahnen, glauben und wie die Fühlhörner alle 267

heißen, mit denen der Mensch ins Universum tastet, müssen doch eigentlich zusammen wirken, wenn wir unseren wichtigen, obgleich schweren Beruf erfüllen wollen"7. Urphänomene sind Grenzphänomene. Sie liegen noch im Bereich des Anschaulichen, enthalten jedoch bereits leise Hindeutungen auf ein Jenseitiges, Göttliches. In physischen wie sittlichen Urphänomenen offenbart sich die Gottheit; daher bedarf der Mensch der (göttlich inspirierten) Vernunft, um sie zu gewahren: „der Verstand reicht zu ihr nicht hinauf" 8 . „Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen, und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen: hier ist die Grenze" 9 . Freilich bedeutet solche Einsicht ein Verzichtleisten auf ein metaphysisches Plus Ultra. „Wenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit resigniere, oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornierten Individiums"10. In seiner früh- und hochklassischen Zeit betrachtet Goethe das Urphänomen als die höchste bildhafte Manifestation innerhalb der Erscheinungsfülle. Später betont er mehr die „Scheu", den „Schauder bis zur Angst", den ihr plötzliches Hervortreten in uns bewirke11. „Die sinnlichen Menschen retten sich ins Erstaunen.. ." 12 „Das unmittelbare Gewahrwerden der Urphänomene versetzt uns in eine Art von Angst: wir fühlen unsere Unzulänglichkeit; nur durch das ewige Spiel der Empirie belebt, erfreuen sie uns" 13 . Schaudernd spürt der Forscher, daß jenseits der Grenze ein Transzendentes waltet: die Idee. „Die Idee, wenn sie in die Erscheinung tritt, es sei auf welche Art es auch wolle, erregt immer Apprehension, eine Art Scheu, Verlegenheit, Widerwillen, wogegen der Mensch in irgendeiner Weise sich in Positur setzt." Menschen ohne metaphysischen Instinkt erschrecken freilich kaum, wenn Transzendentes urplötzlich im Sinnlichen aufblitzt; es ist eine Frage der Weltoffenheit und der Ranghöhe, ob einem solche Erlebnisse zuteil werden oder nicht.

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IDEE „Faßt man die Lehre der Urerscheinungen recht, so wird uns mit dem Begriff ein stilles, heimliches Anschauen des Werdens und Steigerns, Entstehens und Entwickeins immer zugänglicher und lieber." Im Urphäno-men leuchtet die I d e e selbst, die höchste metaphysische W e r d e k r a f t auf. Das Urphänomen Goethes ist, wie Obenauer1 sagt, „die deutlichste reinste Offenbarung einer Idee im Sichtbaren". Als Urphänomen tritt die Idee in den Bereich der Anschauung; die Idee ist „das Urphänomen transzendent"2. So manifestiert sich in dem Urphänomen des Magneten das Weltgesetz der Polarität. So erscheint das physische Licht als Abglanz des „Urlichts". So im Kleinen ewig wie im Großen Wirkt Natur, wirkt Menschengeist, und beide Sind ein Abglanz jenes Urlichts droben, Das unsichtbar alle Welt erleuchtet. (Vorspiel, 19. Sept. 1807)

So birgt die „Urpflanze" potentiell die Entfaltungsmöglichkeiten aller Pflanzengattungen in sich. War Goethe also ein Jünger Piatons? Man hat es verschiedentlich behauptet3. In der Tat möchte es beinahe scheinen, als sei Goethe „Platoniker", wenn man ihn gegen die neueren Transzendentalphilosophen stellt. Gegen diese steht er dann mit Piaton und den Neuplatonikern auf einer Linie in der Grundüberzeugung, daß die Idee keineswegs nur eine Gedankenschöpfung, ein Regulativ des Denksubjekts sei, sondern ein k o s m i s c h e s P r i n z i p , das sich in der Erscheinungswirklichkeit verleiblicht. Wenn man näher zusieht, so schlägt freilich Goethes Ideenlehre einen ganz anderen Weg ein als die platonische. Piatons Ideen sind starre Numina, die in einer fernen, von aller Sinnlichkeit schroff geschiedenen Überwelt verharren. Sie gehören der (uranischen!) Sphäre w a n d e l l o s e n S e i n s an, von der keine unmittelbare Brücke zur fließend werdenden und wieder vergehenden, stets sich wandelnden Erscheinungswelt hinüberführt. Einzige Mittlerin zwischen Sein und Werden, Einheit und Vielheit ist das Zwischenreich von Maß und Zahl, die Mathematik, die Sphäre bloßer Meßbarkeit (Quantität). Der Maßgeist hat in beiden Bezirken Geltung4. Für Plato, den Logozentriker und uranischen Substanzmetaphysiker, sind die irdischen Erscheinungen nur vergängliche Schattenbilder des ewigen Seins. Der geheime „Eleatismus" fast alles griechischer Weltdenkens vermag die Weltessenz nicht anders als in starrei Wandellosigkeit vorzustellen. 26i

In alledem vertritt Goethe einen durchaus verschiedenen Standpunkt. Von früh an waren ihm alle P r ä f o r m a t i o n s lehren zuwider, in der Biologie (Einschachtelungs-Hypotheise) wie in der Physik (statische Farben) und Geologie: Je mehr man kennt, je mehr man weiß, Erkennt man: alles dreht im Kreis; Erst lehrt man jenes, lehrt man dies, Nun aber waltet ganz gewiß Im innern Erdenspatium Pyro-Hydrophylacium, Damits der Erden Oberfläche An Feuer und Wasser nicht gebreche. Wo k ä m e d e n n e i n D i n g s o n s t h e r , Wenn es n i c h t l ä n g s t s c h o n f e r t i g war? So ist denn, eh man sichs versah, Der Pater Kircher wieder da. Will mich jedoch des Worts nicht schämen: Wir tasten ewig an Problemen. (Zahme Xenien)

Für Piaton liegt also das Wesentliche der Idee zwar nicht in absoluter, aber doch in bedingter Jenseitigkeit und Weltabgeschiedenheit, für Goethe hingegen durchaus in der Möglichkeit der Verkörperung. Nach Fritz Usingers5 treffendem Hinweis unterscheiden sich Piatons Ideen von denen Goethes vor allem durch ihre Lichthaftigkeit. Sie sind strahlend, überwertig, das Leibhaftige hat an ihnen nur teil, ohne sie voll verwirklichen zu können. Goethes Ideen hingegen, in der Sphäre der „Mütter" beheimatet, sind eine Dämmerungswelt; ihr Daseinsrecht liegt in der Möglichkeit, sich in der Lichtwelt zu verleiblichen. Ideen sind Werdemächte, Keimpotenzen; darauf deutet die Forderung, es müsse „die Erfahrung aufhören, das Anschauen eine® Werdenden eintreten und die Idee zuletzt ausgesprochen werden"6. Goethe geht es um das Wirkliche, „worauf denn doch alles Imaginative sich gründen, und alles Ideelle sich niederlassen muß". „Meine Tendenz ist die V e r k ö r p e r u n g der Ideen, Ihre die E n t k ö r p e r u n g derselben", ruft er Willemer (1815) zu7. An diesem Punkt trennen sich, wie man schon verschiedentlich gesehen hat8, die „Zweiweltenlehre", der metaphysische Dualismus Piatons von Goethes Immanenzgedanken. Für Goethe ist die erscheinende Idee keineswegs bloßer „Abstieg" oder „Abfall" vom jenseitigen Urbild, sondern im Gegenteil: E r f ü l l u n g . Das „ungeheure Leben der Welt" ist ihm gleichbedeutend mit „der Wirklichwerdung der Ideen Gottes", und das ist „die wahre Wirklichkeit"9. „Wir Menschen sind auf Ausdehnung und Bewegung angewiesen; diese beiden allgemeinen Formen sind es, in welchen sich 270

alle übrigen Formen, besonders die sinnlichen, offenbaren. Eine geistige Form wird aber keineswegs verkürzt, wenn sie in der Erscheinung hervortritt, vorausgesetzt, daß ihr Hervortreten eine wahre Zuneigung, eine wahre Fortpflanzung sei. Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende, ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte vortrefflicher sein kann als das Zeugende"10. Im Gegensatz zum neuplatonischen Emanationssystem und anderen absteigenden Stufenlehren stellt Goethe verschiedentlich, so z. B. in der Farbenlehre, die Ursprungsmächte (Licht und Finsternis) nicht unbedingt höher als ihre Wirkungen, sondern nennt im Gegenteil das Erzeugte, „die sichtbare Welt aus Licht, Schatten und Farben" eine „höhere Region", weil sie „mannigfaltigere Verhältnisse auszudrücken hat", also eine reichere Stufe der Individuation verkörpert11. Gegen den Empirismus des Psychologen Stiedenroth gewandt, sagt Goethe: „Wenn er das Ideal aus der Erfahrung abzuleiten gedenkt und sagt, d a s K i n d i d e a l i s i e r t n i c h t , so mag man antworten: das Kind z e u g t nicht; denn zum Gewahrwerden des Ideellen gehört auch eine Pubertät"12. Die Idee als zeugende Kraft, als zeugendes Urbild; das führt auf die Deutung von L. Klages13, der den hieros gamos, die „Vereinigung der empfangenden Seele mit dem zeugenden Bilde" als das Wesentliche — nämlich rein pathisch-empfängnishafte — Kernstück von Goethes Schau- und Bilderlust empfindet und damit die älteste, vorantike Schicht seiner Eidos-Lehre bloßlegt. Andere, jüngere „Vorstellungsarten", die das Aktivitätsmoment im Erkenntnisvorgang stärker hervorheben, lagern sich darüber: von Plotins „schaffendem Spiegel" angefangen bis zu Anregungen, die der mittlere Goethe von Kant und Schiller her aufnimmt. Aber noch in dem berühmten Monadengespräch mit Falk14, also etwa anderthalb Jahrzehnte nach der sogenannten „Annäherung" an Schiller und Kant, gebraucht Goethe die Ausdrücke „Idee" und „Monade" als gleichbedeutend. „Mögen Sie dies eine Idee oder eine Monade nennen, wie Sie wollen, ich habe auch nichts dawider; genug, daß diese Intention unsichtbar und früher als die sichtbare Entwicklung aus ihr in der Natur vorhanden ist." Das ist jedenfalls ein unumstößlicher Hinweis darauf, daß er unter „Idee" kaum jemals (es sei denn in der Frühzeit seines naturwissenschaftlichen „Realismus", hier vielleicht noch dem gemeinen Sprachgebrauch Idee = Gedankengebilde folgend) ein bloßes Regulativ im menschlichen Geiste, sondern eine wirkende kosmische Potenz erblickte. Ob Goethe, wenn er in diesem Falle die Entelechie eines Organismus als (Individual-) Idee faßt, P l o t i n s 271

Spuren folgte, der von der „im Körper wohnenden" Idee spricht15, bleibe dahingestellt. Fast sollte man aber glauben, daß diese Konzeption im Zuge seines biozentrischen Denkens vorgebildet lag. Die Gleichsetzung von Idee und Entelechie innerhalb der organischen Welt vertritt späterhin der halbvergessene romantische Naturphiilosoph G. Fr. Daumer, ein Hyliker (Typus I) wie Goethe. Die Grundlehre seiner „Eidolologie" lautet: „Jedes organische Gebild ist die Darstellung einer Idee, eines Urbildes, das sich durch Anziehung von äußeren, irdischen Elementen und Stoffen eine äußere, irdische Anschaulichkeit und Wirklichkeit gibt. Aber diese Idee ist nicht als bloßer Schatten zu betrachten, der nicht schon für sich eine gewisse Realität, ein gewisses Leben und Dasein hätte. Ein solcher Schatten . . . wäre machtlos und könnte nicht bewältigend und gestaltend in die äußere, irdische Natur eingreifen. Die Idee, von der hier die Rede ist, muß schon ohnehin und von vorn herein etwas zugleich Reales, Lebendiges sein; und wenn sie sich einen Leib im gemeinen Sinne des Wortes anschafft, so ist das ein zweiter, durch welchen sie nur ins Extreme der Äußerlichkeit übertritt"16. Platoniker war also Goethe keinesfalls17. Treffend sagt Wilhelm Hertz18, daß Piatos unsinnliche Lehre niemals, am wenigsten in Goethes letzten Lebensjahren, bedeutsamen Einfluß geübt hat. Wenn Goethe sich auf Piaton beruft, so jedenfalls auf einen im Sinne der Identitätslehre umgedeuteten Piaton. Im eignen Auge schaue mit Lust, Was Plato von Anbeginn gewußt: Denn das ist der Natur Gehalt, Daß außen gilt, was innen galt. (Zahme Xenien VI)

Boucke19 spricht von einer Umbildung der platonischen Ideenlehre ins Biologische; eine annehmbare Formel, die das Dynamische, das Hineinwirken der Ideen in die Körperwelt unterstreicht. Die letzte Intention Goethes wird allerdings erst durch Klages' Lehre von der „Wirklichkeit der Bilder" unserem Verständnis erschlossen. Goethes „Ideen" sind nichts anderes als Klages' „unentbundene Bilder", „Urbilder" (allerdings nur solche von umfassender, übergreifender Art). Eine dritte, von Piaton wie von Goethe gänzlich abweichende Bedeutung nimmt der Begriff „Idee" im Leistungsdenken neuzeitlicher T r a n s z e n d e n t a l i s t e n an. Hier wird sie zum bloßen begrifflichen Einteilungsprinzip, zum Schubfach, zur Formel, mit der „die Gelehrten der Stoffülle Herr zu werden suchen" (Gundolf). 272

Die Frage nach ihrem kosmischen Sinn wird damit gegenstandslos. Ideen sind nur noch Schöpfungen des Denksubjekts, leere Prägeformen, Methoden. Kant versteht unter einer Idee einen Vernunftbegriff, der alle Erfahrung übersteigt, und durch den das Konkrete im Sinne der Totalität ergänzt wird- Als Ideen bezeichnet er bloße Regulative, die keine wirkliche Synchesis darstellen, sondern selbst wieder von Sinnlichkeit und Verstand geschieden sind20. Die Ideen sind nach der bekannten Formel Kants nicht konstitutiv für die Gegenstände, sondern regulativ für den Verstand. Sie sind nicht „gegeben", sondern „aufgegeben", nur Maximen, keine Gegenstände der Erkenntnis. Sie geben keine eigene Anschauung, sondern beziehen sich unmittelbar nur auf den Verstand. Nach der Analyse von Karl Jaspers21 muß man mit drei Bedeutungen des Begriffs „Idee" bei Kant rechnen, die nicht scharf getrennt werden: 1. die methodische Bedeutung (Idee als Systemfaktor, Schema, Methode, heuristische Fiktion), 2. die subjektive oder psychologische Bedeutung (Idee als Kraft, Keim, Prozeß im Subjekt), 3. die objektive oder metaphysische Bedeutung („Die Ideen sind nicht bloß technische Kunstgriffe und psychologische Kräfte, sondern müssen irgendwie eine Bedeutung in der urbildlichen Welt der Gegenstände selbst haben"). Sie kommt etwa zum Ausdruck, wenn Kant die Vernunftidee „das Urbild aller Dinge" nennt, „welche insgesamt als mangelhafte Kopien den Stoff zu ihrer Möglichkeit daher nehmen". Die dritte Bedeutung wäre abgeblaßter, nachklingender Piatonismus bei Kant. Auf ihr liegt aber gewiß nicht das Schwergewicht, und die von Jaspers22 angeführten Belegstellen scheinen darauf hinzudeuten, daß Kant, wenn er gelegentlich von der „objektiven", wenn auch „unbestimmten Gültigkeit", der „Realität" der Ideen spricht, darunter doch lediglich ein Geltungsproblem, keine Seinsfrage verstand. „Wie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte? Denn darin besteht eben das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könne." Mit diesen Worten tritt der Kantianer Schiller Goethes Gedanken der „Urpflanze" entgegen. „Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee", sagt er kopfschüttelnd, nachdem Goethe mit mancherlei charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze vor seinen Augen hatte entstehen lassen. „Ich stutzte", fährt Goethe fort, „verdrießlich einigermaßen, denn der Punkt, der uns trennte, war dadurch aufs strengste bezeichnet. Die Behauptung aus Anmut und Würde fiel mir wieder ein, der alte Groll wollte sich regen, ich 273

nahm mich zusammen und versetzte: ,Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.' Wenn er das für eine Idee hielt, was ich als Erfahrung ausisprach, so mußte doch zwischen beiden irgend etwas Vermittelndes, Bezügliches obwalten" 23 . Schiller spricht hier als getreuer Anhänger der Kantischen Philosophie, „welche das Subjekt so hoch erhebt, indem sie es einzuengen scheint"; die Idee als kosmisch wirkende Kraft ist ihm unfaßbar. Andererseits ist Goethe zu Anfang der neunziger Jahre noch nicht zu seiner späteren Konzeption der (kosmischen) Idee vorgedrungen. Aber so weit ist er im Kritizismus bewandert, um zu wissen, daß Schiller unter „Idee" bloß ein subjektiv gesetztes: Geltungsprinzip, einen „Vernunftbegriff" versteht. Und andererseits weiß er doch, daß er die Urpflanze (mit „Geistesaugen") geschaut und keineswegs der Natur hinzugefügt oder aufgedrungen hat. Seine forschende Einbildungskraft spürt er als Prolongation, als Fortführung der schaffenden Naturmacht, durchaus nicht als bloße Verstandes-Reflexion. Sein Bilddenken sträubt sich gegen jede vorzeitige Ablösung vom Anschaulichen. Am 17. April 1787 hatte er sich in Palermo über die „Urpflanze" notiert: „Eine solche muß es doch geben; woran würde ich! sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären." J a er meinte sogar, diese „symbolische" Pflanze möchte ihm in concreto, als Einzelexemplar im Botanischen Garten entgegentreten. Später, nach Überwindung des kritizistischen Andringens, nachdem er — wohl unter Schellings Einwirkung — sich einen neuen, endgültigen Begriff von der natureinwohnenden Idee gebildet hat, darf er bekennen: die Urpflanze, die Metamorphose ist „Idee", das heißt mehr als unmittelbare Sinneserfahrung: metaphysisches Prinzip. „In den Tagebüchern meiner Italienischen Reise . . . werden Sie, nicht ohne Lächeln, bemerken, auf welchen seltsamen Wegen ich der vegetativen Umwandlung nachgegangen bin; ich suchte damals die Urpflanze, bewußtlos, daß ich die I d e e , den Begriff suchte wonach wir sie uns ausbilden könnten" 24 . Auch diese Worte bezeichnen keine Kapitulation Goethes vor den Kantianern. Die Idee ist und bleibt für Goethe ein kosmisch Wirkendes und Wirksames, sie ist b e w e g l i c h e s U r b i l d . Die Phantasie, das „bildsame Denken" des Organikers, ist imstande, das Wahrnehmungs- und Erinnerungsbild beweglich zu machen. Sie „entbindet dann gleichsam aus dem Sinnbild eine höhere Wirklichkeit, die Leben gewinnt" 25 . Goethe verfährt, wie die gegen274

wärtige Integrations-Typologie sagt, als E i d e t i k e r vom sogenannten B-Typus. Als ein Visueller von hohen Graden erblickt er lebhafte, naturnahe, farbige Nachbilder, die jedoch nicht starr, sondern b e w e g l i c h sind und sich in fließenden Übergängen symmetrisch fortbilden. Dieses innere Kaleidoskop hat er uns selbst aufs anschaulichste in den Beiträgen zur Morphologie geschildert. „Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloß, und mit niedergesenktem Haupte mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander, und aus ihrem Inneren entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grünen Blättern; es waren keine natürlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmäßig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmöglich die hervorsprossende Schöpfung zu fixieren, hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstärkte sich nicht. Dasselbe konnte ich hervorbringen, wenn ich mir den Zierat einer buntgemalten Scheibe dachte, welche dann ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie hin sich immerfort veränderte, völlig wie die in unseren Tagen erst erfundenen Kaleidoskope." Eidetisches Vermögen ist keine Anomalie, kein bloßes Kuriosum, sondern offenbar eine Urbegabung des weltverbundenen Frühmenschen, daher heute noch vorzugsweise bei Kindtern nachwirkend, im Erwachsenen zumeist rasch absterbend. Der niederländische Forscher G. A. S. Snijder26 sieht den Eidetiker vom B-Typus vor allem in der naturnahen Symbolkunst Altkretas wirksam. Auch die Brüder Jaensch27 fanden, daß im mittelländischen Raum sich der integrierte Typus am breitesten entfaltet. Vermutlich stehen Jaenschs B-Typus und Rutzens Typus I in enger Verknüpfung. Es wäre sicherlich falsch, wollte man in der eidetischen Begabung ein bloßes Spezialproblem der experimentellen Psychologie erblicken. In Wahrheit handelt es sich um das Sichtbarwerden eines metaphysischen Problems erster Ordnung (der „fließenden Bildwirklichkeit") im Beobachtungsfelde der Psychologie und Wahrnehmungslehre. Die bildumschaffende „Phantasie" ist mit anderen Worten das natürliche funktionelle Gegenstück der urbildlich-kosmischen Metamorphosen. Schon in den neunziger Jahren erblickt Goethe die „ewige Mobilität" aller Naturformen, daß Sichwandelnde desi Urbildes. „Dies also hatten wir gewonnen, ungescheuet behaupten zu dürfen, daß alle vollkommeneren organischen Naturen, worunter wir Fisch, 275

Amph;bien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letzten den Menschen sehen, alle nach einem U r b i 1 d e geformt seien, das nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr oder weniger hin und her weicht und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet"28. Ähnlich der Ausspruch von 1807 über die aufsteigende „Leiter" der organischen Bildungen. (Vgl. S. 73.) Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen, Und die seltenste Form bewahrt im geheimen das Urbild. (Metamorphose der Tiere) Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleicht der andern; Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz . . .

(Die Metamorphose der Pflanzen) Wie auch immer Goethes Metaphysik der Idee sich im einzelnen fortbildete, vom naiven Immanenzstandpunkt zur Anerkennimg bedingter Transzendenz (wovon noch zu sprechen sein wird); im Kardinalpunkte blieb sie unverwandt gegen Kant gerichtet: Ideen sind und bleiben für Goethe wirkende Weltmächte. Er hält daran fest, „das Ideelle im Reellen anzuerkennen"; wenn wir bei Behandlung der Naturwissenschaften die Idee in der E r f a h r u n g aufsuchen, so in der Überzeugimg, „daß die Natur nach Ideen verfahre, ingleichen daß der Mensch in allem, was er beginnt, eine Idee verfolge. Wobei denn freilich zu bedenken ist, daß die Idee in ihrem Entspringen und ihrer Richtung vielfach erscheint und in diesem Sinne als von verschiedenem Werte geachtet werden könne. Hier aber werden wir vor allen Dingen bekennen und aussprechen, daß wir mit Bewußtsein uns in der Region befinden, wo Metaphysik und Naturgeschichte übereinander greifen, also da, wo der ernste treue Forscher am liebsten verweilt"29. „Natur und Idee läßt sich nicht trennen, ohne daß die Kunst sowie das Leben zerstört werde"30. Jede Idee hat den „göttlichen Auftrag, kräftig und produktiv zu sein"; das ungeheure Leben der Welt ist Wirklich werdung der Ideen Gottes. „Der Geist des Wirklichen ist das wahre Ideelle"31. „Alles, was wir gewahr werden, sind Manifestationen der Idee." Die Ideen sind also keine abgeblaßte, sondern gesteigerte, ja höchste Wirklichkeit, sie sind Weltessenz und entspringen der Vernunft der Gottheit32. Mit all diesen Aussagen ist das Verhältnis der urbildlichen Idee zur Erscheinung natürlich nur umrißweise bestimmt. Wie sich Goethes Erscheinungsfonschung im einzelnen zur Frage der e r f a h r b a r e n W i r k l i c h k e i t stellt, ist eine Frage für sich. Für jeden Klarblickenden ergibt sich hier sogleich, daß Goethe jen276

seits der landläufigen Entgegensetzung „Rationalismus—Empirismus" steht. Und doch gab und gibt es noch immer Beurteiler, die seine schauende Erkenntnis mit „Empirismus" verwechseln. So hat ihn zum Beispiel der Schriftsteller Karl Scheffler33 als den „realistisch resignierten, dem Konkreten zugewandten Empiriker" verzeichnet, „der zwar mit sicherem Griff die nächstliegende Wirklichkeit bewältigt, aber auch leicht die höhere Arbeitsidee aus den Augen verliert". In diesem Satz ist beinahe jedes Wort ein Fehlgriff. Dieser sogenannte „Goethedeutsche" ist nichts anderes als der leibhaftige Philister. Als Dichter bangt Goethe gelegentlich vor der Gefahr, sich im Stofflichen zu verlieren, ihm graut vor der „empirischen Weltbreite". (An Schiller, 29. Juli 1797.) Mit der „millionenfachen Hydra der Empirie" sich herumzuschlagen liegt ihm nicht, da ihm „das Aufzählen eines Einzelnen nun einmal nicht gegeben ist". In den „symbolischen Gegenständen" entdeckt er die Möglichkeit, den Widerspruch, der zwischen seiner Natur und der unmittelbaren Erfahrung lag, und den er in früherer Zeit niemals lösen konnte, sogleich und glücklich aufzulösen. Symbolisch „sind eminente Fälle, die, in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen anderen dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, Ähnliches und Fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen." (An Schiller, 16. August 1797.) Besonders gilt ihm für alle künstlerische „Erfahrung" der Satz: „Es gibt keine Erfahrung, die nicht produziert, hervorgebracht, erschaffen wird"34. Was die rationalistischen Nachahmungs-Ästhetiker „Erfahrung" nennen, ist in Wahrheit „nur die Hälfte der Erfahrung"35. Als Naturforscher36 sieht sich Goethe seit dem Ausgang der neunziger Jahre vor ähnliche Probleme gestellt. Mit Kant stimmt er überein in dem Satz: „wenngleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung angehe, so entspringe sie darum doch nicht alle aus der Erfahrung"37. Er dankt es Schiller, daß dieser ihn „von der allzu strengen Beobachtung der äußeren Dinge und ihrer Verhältnisse auf sich selbst zurückführt". (An Schiller, 6. Januar 1798.) Sogleich fährt Schiller das schwere Geschütz des Kantianismus auf. Im Brief vom 12. Januar 1798 entwickelt er die bekannte aufspaltende Erkenntnislehre des Königsbergers: hier Natur weit, dort Verstandeswelt, hier das vielfach bestimmte Faktum, die Erscheinimg, dort die bloß b e s t i m m e n d e Regel. Nie kann das eine 277

dem anderen „adäquat" sein. Er fordert strengere und reinere Scheidung des praktischen Verfahrens und des theoretischen Gebrauchs. Nur dadurch kann die Wissenschaft erweitert werden, so lehrt er, „daß man auf der einen Seite dem Phänomen ohne allen Anspruch auf eine hervorzubringende Einheit folgt, es von allen Seiten umgehet und bloß die N a t u r i n i h r e r B r e i t e aufzufassen sucht — auf der anderen Seite (und wenn jene erste nur in Sicherheit gebracht ist) die F r e i h e i t d e r v o r s t e l l e n d e n K r ä f t e begünstigt, das Kombinationsvermögen sich nach Lust daran versuchen läßt, mit dem Vorbehalt, daß die vorstellende Kraft auch nur in ihrer eigenen Welt und in dem Faktum etwas zu konstituieren suche". Dort bloßer Rohstoff, hier die freischaltenden „Denkkräfte": ihre Felder soll „eine strenge kritische Polizei" trennen. Das ganze Verfahren nennt Schiller „rationale Empirie". (An Goethe, 12. Januar 1798.) Und seltsam: Goethe, der in der Arbeit an der Farbenlehre einen toten Punkt zu überwinden hat, schluckt, man darf wohl sagen, unbesehen diese starke Pille ihm sonst so unbekömmlichen Kantianismus und antwortet Schiller: „Ich habe diese Tage, beim Zertrennen und Ordnen meiner Papiere, mit Zufriedenheit gesehen, wie ich, durch treues Vorschreiten und bescheidenes Aufmerken, von einem steifen Realism und einer stockenden Objektivität dahin gekommen bin, daß ich Ihren heutigen Brief als mein eigenes Glaubensbekenntnis unterschreiben kann." (An Schiller, 13. Januar 1798.) Dadurch ermuntert, entwickelt Schiller in einem der nächsten Briefe38 im dialektischen Dreitakt seine Lehre weiter: „gemeiner Empirism" (bloßer Erfahrungsstoff), „Rationalism" (durch ihn. erst entsteht das „ w i s s e n s c h a f t l i c h e Phänomen") und „rationeller Empirism" (Darstellung des „reinen Phänomens"); jede Sparte untergeteilt nach Kants Kategorientafel (Quantität, Qualität, Relation, Modalität usw.). Leider stand Goethe in diesen Tagen noch nicht das „gestalttheoretische" Argument zu Gebote, mit dem er die ,„schizoide" Grundannahme des transzendentalen Idealismus — hier amorphe Sinnlichkeit, dort bearbeitende, gestaltgebende Intellektualkräfte — leicht hätte zu Fall bringen können. Hatte er dieses Argument übrigens nicht bereits ein Jahr zuvor — vielleicht nicht vollbewußt seiner Tragweite — genannt, als er an Schiller schrieb, „daß eine vollständige Erfahrung die Theorie in sich enthalten muß"? (An Schiller, 14. Oktober 1797.) Theorie hat hier den ursprünglichen Wortsinn des geistig Erschauten, den Dingen nicht Aufgedrungenen. Ganz klar wird diese Bedeutung des Wortes in dem Altersausspruch: 278

„Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst vertraut macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird" 39 . Dazu halte man den berühmten Satz: „Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre" 40 . Die Ideation, in die Goethes Erkenntnisstreben zuletzt einmündet, bedeutet, daß „die E r f a h r u n g aufhören, das Anschauen eines Werdenden eintreten und die I d e e zuletzt ausgesprochen werden" müsse41. Schillers Brief vom 19. Januar 1798 ist ein kantianisierender Kommentar zu Goethes Aufsatz „Erfahrung und Wissenschaft"42: ein Versuch, den Dreitakt des empirischen, wissenschaftlichen und reinen Phänomens, den Goethe nach dem Prinzip gesteigerter Kontinuität entworfen hatte, im Sinne Kants umzudeuten. An Stelle von Goethes Lieblingsgedanken der „Folge" (vgl. S. 72) tritt vorgreifendes Subjekt- und Leistungsdenken. Von der zufälligen Erklärung, wie sie dem Alltagsverstand sich darstellt, führt in Goethes Methodenlehre eine Steigerungsreihe zum „wissenschaftlichen", schließlich zum „reinen" Phänomen, deren Sinn z u n e h m e n d e K o n t i n u i t ä t heißt. „1. D a s e m p i r i s c h e P h ä n o m e n , das jeder Mensch in der Natur gewahr wird und das nachher 2. z u m w i s s e n s c h a f t l i c h e n P h ä n o m e n durch Versuche erhoben wird, indem man es andern Umständen und Bedingungen als es zuerst bekannt gewesen, und in einer mehr oder weniger glücklichen Folge darstellt. 3. D a s r e i n e P h ä n o m e n steht nun zuletzt als Resultat aller Erfahrungen und Versuche da. Es kann niemals isoliert sein, sondern es zeigt sich in einer steten Folge der Erscheinungen. Um es darzustellen, bestimmt der menschliche Geist das empirisch Wankende, schließt das Zufällige aus, entwickelt das Verworrene, ja entdeckt das Unbekannte." Schiller hingegen legt allen Nachdruck auf die K l u f t zwischen dem „gemeinen" und „rationellen" Empirism, der ersten und der dritten Stufe. Zwischen beiden, so betont er, wird allemal der Sündenfall des „Rationalism" erst dazwischen liegen. Nichts spricht dafür, daß Goethe die aufspaltende Denkform des Kant-Jüngers sich zu eigen gemacht hätte. Die beiden folgenden Aussprüche, der eine vom Jahre 1809, der zweite aus dem Nachlaß, zeigen, wie er am Zentralgedanken seines Lebensgefühls, der „Folge", unentwegt festhält und in ihm den letzthin entscheidenden Prüfstein der Wahr20

Danckert,

Goethe.

279

heit erblickt. „Ein Phänomen, Ein Versuch kann nichts beweisen, es ist das Glied einer großen Kette, das erst im Zusammenhange gilt. Wer eine Perlenschnur verdecken und nur die schönste einzelne vorzeigen wollte, verlangend, wir sollten ihm glauben, die übrigen seien alle so: schwerlich würde sich jemand auf den Handel einlassen" 43 . „Kein Phänomen erblickt sich an und aus sich selbst; nur viele zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, das für Theorie gelten könnte"44. Juli 1799 notiert sich Goethe in sein Tagebuch: „Die Erfahrung nötigt uns gewisse Ideen ab". Daran schließt sich eine Aussage von so widersprüchlicher Beschaffenheit, daß man unwillkürlich an einen der gewagtesten Aussprüche Hegels sich erinnert fühlt: „Wir finden uns genötigt, der Erfahrung gewisse Ideen aufzudringen" 45 . Ideenlosen, gestaltlosen Rohstoff nennt Goethe respektlos genug „Erfahrungsmist". Er bekennt seine unbedingte Verehrung für Roger Baco: dagegen ihm sein Namensvetter, der Kanzler, „wie ein Herkules vorkommt, der einen Stall von dialektischem Miste reinigt, um ihn mit Erfahrungsmist füllen zu lassen" 46 . Gefährlicher noch als die blinde „Stoffhuberei" ist die i n d u k -. t i v e Methode der Naturforschung, die sich zunächst zwar wie.ein voraussetzungsloses, selbstverständliches Fortschreiten von elementaren zu höheren Tatbeständen ausnimmt, in Wahrheit aber durchaus von bestimmten vorgefaßten Zielgedanken gesteuert wird. „Induktion hab' ich mir nie, auch gegen mich selbst nicht erlaubt. Ich ließ die Fakta isoliert stehen. Aber das Analoge sucht' ich auf" 47 . „Induktion habe ich zu stillen Forschungen bei mir selbst nie gebraucht, weil ich zeitig genug deren Gefahr empfand. Dagegen aber ist mir's unerträglich, wenn ein anderer sie gegen mich brauchen, mich durch eine Art Treibejagen mürbe machen und in die Enge schließen will" 48 . Die induktive Methode, sagt er ein anderes Mal, wirke leicht verderblich, weil sie „einen vorgesetzten Zweck im Auge trägt und, auf denselben losarbeitend, Wahres und Falsches mit sich fortreißt". „Unterstehe sich keiner, gegen mich induktiv vorzugehen, induktive Einwände gegen mich vorzubringen, da könnte ein dritter und vierter kommen, und mit Versuchen hat schließlich jeder recht." Wenn Goethe sagt, Induktion habe er sich nie erlaubt, so ist das eine entschiedene Absage an jene Wissenschaftsgesinnung, die auf bloße Nutzung und Natur-„Beherrsehung" ausgeht. Induktion ist „interessierte", inquisitorische Naturbefragung: „Die Gesetzlichkeit des Verstandes wird gewissermaßen der Natur vorgängig auferlegt, um sie alsdann mit Hilfe des Experimentes wieder herauszulesen" (G. Plathow)49. 280

Jeder Versuch setzt allerdings eine bestimmte Fragestellung voraus, ist also, wie Goethe sagt, schon theoretisierend: „er entspringt aus einem Begriff oder stellt ihn sogleich auf", indem er viele Fälle „unter ein einzig Phänomen subsummiert"50. Aber das ist unvermeidlich, denn die richtungslose, „zerstreute Erfahrung zieht uns allzusehr nieder und ist sogar hinderlich, auch nur zum Begriff zu gelangen". Vollgültige Versuche bestimmt Goethe als „Vermittler zwischen Natur und Begriff, zwischen Natur und Idee, zwischen Begriff und Idee". In seiner mittleren, hochklassischen Zeit sah Goethe zwischen I d e e und E r f a h r u n g noch fast keinen Zwiespalt. Diesen Immanenz-Standpunkt vertritt er zum Beispiel in dem Ausspruch, eine vollständige Erfahrung müsse „die Theorie in sich enthalten" (14. Oktober 1797, in bezug auf Meyers Beschreibung von Kunstwerken gesagt). Theoretisches und Praktisches, erklärt er Schillerim nächsten Jahr, seien nur verbunden, „als sie von Haus aus verbunden wirken, welches bei dem Genie von jeder Art stattfindet". Sobald man sie jedoch getrennt ansieht, finde zwischen beiden kein Verbindungsmittel statt. Ähnlich, so fährt er fort, sei die Sachlage im Streit zwischen spekulativen Philosophen und empiristischen Naturforschern. „Ich stehe gegenwärtig in eben dem Fall mit den Naturphilosophen, die von oben herunter, und mit den Naturforschern, die von unten hinauf leiten wollen, ich wenigstens finde mein Heil nur in der Anschauung, die in der Mitte steht." (An Schiller, 30. Juni 1798.) Etwas genauer bestimmt er (abermals ein Jahr später) diesen „mittleren" Standort in einem Brief an J. G. Schlosser51. Es ist der Weg der M e t a m o r p h o s e : „die Ansicht ist geistig genug"; vor allem aber kann man hier „die Idee immer durch die Erfahrung sogleich ausfüllen und bewähren". Vor der Begegnung mit Schiller hatte Goethe in unbewußter Naivität seine innere Vision vom Typus in der Natur zugleich für objektive Wirklichkeit gehalten: für den Psychologen ein Hinweis auf die ursprüngliche Kohäsion seines Ich-Welt-Erlebens. Durch Schillers Lehre vom Zwiespalt zwischen Idee und Erfahrung sowie durch eigenes Sich-Herumschlagen mit der „millionenfachen Hydra der Empirie" geweckt, hatte er dann den Übergang vollzogen zu einer kritisch vertieften Konzeption des Problems, die man die s y m b o l i s c h e nennen könnte. Der Gattungstypus ist das „Vorangewaltete". Je tiefer Goethe in die Gestaltenfülle der Natur eindrang, um so klarer wurde ihm die „esoterische Eigenschaft" der Ideen. Zwar deuten die Urphänomene auf die Ideen hin, aber keine Idee läßt 20'

281

sich unmittelbar aus der Erscheinung „beweisen". In späteren Jahren bemerkt Goethe „eine gewisse Kluft" zwischen Idee und Erfahrung, „die zu überschreiten unsere ganze Kraft sich vergeblich bemüht. Dessen ungeachtet bleibt unser ewiges Bestreben, diesen Hiatus und Vernunft, Verstand, Einbildungskraft, Glauben, Gefühl, Wahn und, wenn wir sonst nichts vermögen, mit Albernheit zu überwinden"52. Aber diese Kluft, dieser „Hiatus" darf nicht kantisch gedeutet werden!53 Er bedeutet nicht etwa, die Idee sei bloßes Regulativ; ihr Sich-Bekunden innerhalb des Erfahrungswesens wird keineswegs in Frage gestellt. „Kluft" nennt Goethe vielmehr die unserem Denken gestellte Zumutung, Entfaltetes und Unentfaltetes (etwa einer Pflanzen-„Idee") zugleich vorzustellen, die verschiedenen Stufen des Werdens uns simultan zu vergegenwärtigen. (Vergleiche S. 40 f.) Zwischen Idee und Erfahrung „vermittelt" in der organischen Welt die Metamorphose54; im Anorganischen (z. B. in der Physik) tritt dafür die „Folge" oder „Kette" der Phänomene, nach Ähnlichkeit geordnet. Wohl können, ja müssen Idee und Erfahrung „analog" sein, aber keine Idee „kongruiert der Erfahrung völlig" (Bedenken und Ergebung): das göttliche Wirken ist in der Erscheinung „bedrängt". Ums Jahr 1817 heißt es: „Im Verfolg wissenschaftlichen Bestrebens ist es gleich schädlich, ausschließlich der Erfahrung, wie unbedingt der Idee zu gehorchen". „Natur ist weiter oder größer als der Begriff: Natur ist enger oder kleiner als die Idee" 65 . „Die Idee ist in der Erfahrung nicht darzustellen, kaum nachzuweisen; wer sie nicht besitzt, wird sie in der Erscheinung nirgends gewahr; wer sie besitzt, gewöhnt sich leicht über die Erscheinung hinweg, weit darüber hinauszusehen, und kehrt freilich nach einer solchen Diastole, um sich nicht zu verlieren, wieder an die Wirklichkeit zurück und verfährt wechselweise so sein ganzes Leben" 68 . „. . . Ich verfiel längst auf jenen Urtypus [von Geoffroy St. Hilaire], Kein organisches Wesen ist ganz der Idee, die zu Grunde liegt, entsprechend; hinter jedem steckt die höhere Idee. Das ist mein Gott; das ist der Gott, den wir alle ewig suchen und zu erschauen hoffen, aber wir können ihn nur ahnen, nicht schauen." (Zum Kanzler F. v. Müller, 7. Mai 1830.) „Was man Idee nennt: das, was immer zur Erscheinung kommt und daher als Gesetz aller Erscheinung uns entgegentritt"' 57 . „Nur im Höchsten und im Gemeinsten trifft Idee und E r scheinung zusammen; auf allen mittlem Stufen des Betrachtens und Erfahrens trennen sie sich. Das Höchste ist das Anschauen des Verschiednen als identisch; das Gemeinste ist die Tat, das aktive Verbinden des Getrennten zur Identität. Was uns so sehr irre macht, wenn wir die Idee in der Erscheinung anerkennen sollen, ist, daß sie oft und gewöhnlich den Sinnen widerspricht. Das kopernikanische System beruht auf einer Idee, die schwer zu fassen war und noch täglich unseren Sinnen widerspricht. Wir sagen nur nach, was wir nicht erkennen und begreifen. Die Metamorphose der Pflanzen widerspricht gleichfalls unseren Sinnen" 58 . 282

Fast platonisch klingen manche Aussprüche, die auf eine Kluft zwischen Idee und Erfahrung hindeuten; so wenn es heißt, die Idee trete „als fremder Gast in die Erscheinung", und wie sie sich zu realisieren beginne, sei sie kaum „von Phantasie und Phantasterei zu unterscheiden"59. Goethe spricht hier gewiß nicht etwa von menschlichen Phantasien, sondern von dem „phantastischen", d. h. wohl diffusen, zunächst ganz unscharf gestalteten Anhub einer wirkenden Idee — z. B. Ontogenese eines Organismus — in der Erscheinungswelt. Realisierung kann jedenfalls auch Trübung bedeuten; die Idee „verliert ihre Würde" beim Eintritt in die Realität. Und doch kommt es zu keinem grundsätzlichen Dualismus60. Das heißt: Goethe nennt keine kosmische Gegenmacht, kein metaphysisches Prinzip, das die Idee behinderte, in Erscheinung zu treten. All diese Sätze zielen wohl auf die geringe Fassungskraft des menschlichen Geistes, der die Ideen als kosmische Kräfte bestenfalls zu ahnen vermag, ohne jedoch ihr Heraustreten aus der Latenz, ihre Aktualisierung sich eigentlich vorstellen zu können. Denn „der Mensch ist in einen Mittelzustand gesetzt, und es ist ihm nur erlaubt, das Mittlere zu erkennen und zu ergreifen". Die Idee liegt bereits jenseits der Erscheinungsgrenze, man kann sie „keineswegs ins Enge bringen". Ein Aphorismus aus dem letzten Jahrzehnt bedeutet den Versuch, die Vielheit der obersten Prinzipien zu übersteigen. Jetzt erscheint „die Idee" im Singular, als ein Letztes, Übergreifendes, wohl fast gleichbedeutend mit „Gott-Natur". „Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff"61. In der Regel aber hält Goethe, seiner Neigung zum Monismus widerstehend, an der Vielzahl der obersten Wirkkräfte und an ihrem Sich-Bekunden innerhalb der Erscheinungswelt fest. „Es sind gleichsam die S p e z i f i k a t i o n e n der ,Idee', oder die von ihr avisgehenden Gestaltungsmöglichkeiten des einzelnen, die zwischen ihr und diesem vermitteln, dasjenige etwa, was er selbst als die ,großen Maximen' der Naturbetrachtung bezeichnet; mit der . . . Konsequenz, daß ihm die Wahrheit der Erkenntnis, die Realität der Erscheinung erst dann gewährleistet erscheint, wenn ihm diese Ideen anschaulich geworden sind." So die einleuchtende Interpretation von Simmel62. Deutlich gegen die Kantianer gewandt sagt Goethe, man solle die Erfahrung der Idee nicht e n t g e g e n s e t z e n , sondern „die Idee in der Erfahrung a u f s u c h e n , überzeugt, daß die Natur nach Ideen verfahre". Offenbar kann dieses 283

„Aufsuchen" nicht bloße Erfahrungssumme sein, sondern — so dürfen wir wohl deuten — ein besonderer Akt vemunftgeleiteter Überschau, Synopsis. „Begriff ist S u m m e , Idee R e s u l t a t der Erfahrung; jene zu ziehen, wird Verstand, dieses zu erfassen, Vernunft erfordert" 63 . Der Begriff, Erzeugnis des zerlegenden, abstrahierenden Verstandes, führt nur weiter, wo er „in aufsteigender Linie der Idee begegnen wird"64. Schwieriger ist der folgende Ausspruch zu deuten: „Idee und Erfahrung werden in der Mitte nie zusammentreffen, zu vereinigen sind sie nur durch Kunst und Tat" 65 . Hier meldet sich grundsätzlicher Zweifel an der Kongruenz zwischen Idee und (Natur-) Erscheinung. Das Problematische der Ideen-Erkenntnis beleuchtet noch schärfer der Ausspruch: „Daß das, was der Idee nach ,gleich ist. in der Erfahrung entweder als gleich oder ähnlich, ja sogar als völlig ungleich und unähnlich [!] erscheinen kann, darin besteht eigentlich das bewegliche Leben der Natur" (1807). Im Bereiche künstlerischer Gestaltung und der (ideengezeugten) Tat hingegen sieht Goethe in seinen späteren Jahren die Möglichkeit engerer Übereinkunft; hier kann das Ideelle (wenigstens der Möglichkeit nach) zu deutlicherer Manifestation gelangen. „Wenn man also fragt: wie ist Idee und Erfahrung am besten zu verbinden? so würde ich antworten: praktisch!"66 Praktisch: das bedeutet nach G- Simmeis67 einleuchtender Deutung soviel wie: durch weiterschreitende, zweckmäßige Forschung. „Alle Empiriker streben nach der Idee und können sie in der Mannigfaltigkeit nicht entdecken; alle Theoretiker suchen sie im Mannigfaltigen und können sie darinne nicht auffinden. Beide jedoch finden sich im Leben, in der Tat, in der Kunst zusammen, und das ist so oft gesagt; wenige aber verstehen, es zu nutzen"68. Für die Methodologie der Erscheinungsforschung ergibt sich aus alledem ein Zwiefaches. Einmal das unmittelbare (intuitive) Gewahrwerden der wirkenden Idee in der erfahrbaren Erscheinungswelt. Zum anderen aber ist es auch möglich, von der Idee selbst auszugehen, sie als heuristisches Prinzip einzusetzen. Es mag also geschehen, „daß eine Idee, ein Begriff der Beobachtung zum Grunde liegen, die Erfahrung befördern, ja das Finden und Erfinden begünstigen könne"69. Von der Idee als heuristischem Prinzip handelt z. B. ein Brief an Sömmering vom 28. August 179670, worin es heißt: „Eine Idee über Gegenstände der Erfahrung ist gleichsam ein Organ, dessen ich mich bediene, um diese zu fassen, um sie mir zu eigen zu machen. Die Idee kann mir bequem sein, ich kann a n d e r n zeigen, daß sie es i h n e n auch sein werde: aber es läßt 284

sich nach meiner Vorstellungsart nur sehr schwer, und vielleicht gar nicht beweisen, daß sie wirklich mit den Objekten übereinkommen und mit ihnen zusammentreffen müsse." An diese Briefstelle anknüpfend, sagt G. Plathow 71 : „Eine Untersuchung des Wortes in der Schillerzeit würde zeigen, daß Goethe ,Idee' damals zumeist im landläufigen Sinne als subjektive Meinung, Überzeugung verstand. Deshalb mußte er sich gegen Schillers Bezeichnung der Urpflanze als Idee mit solcher Schärfe wenden." Dazu halte man etwa die folgende Stelle aus einem Briefe des Jahres 1784 an Charlotte von Stein: „Die Schriftzeichen der Natur sind groß und schön. Und ich behaupte, sie sind alle leserlich. Aber dem Menschen sagen die kleinlichen Ideen mehr zu, weil er selbst klein ist und sein engbegrenztes Dasein nicht mit unendlichen Wesen vergleichen mag"72. Im Brief vom 25. Februar 1789 an Schiller spricht Goethe von Ideen, „die man aus dem Reiche des Denkens in das Erfahrungsreich hinüberbringt; sie passen auch nur auf Einen Teil der Phänomene . . . und was habe ich denn an einer Idee, die mich nötigt, meinen Vorrat an Phänomenen zu verkümmern?" Später erblickt Goethe die Hauptaufgabe darin, das regulative Prinzip des Forschens und die metaphysisch wirkende Idee zu vereinen oder doch einander zu nähern. Wobei jedoch keinesfalls zu erwarten ist, daß die Idee mit dem Erfahrungsbestand sich restlos deckt. „Jede Idee hat das Recht sich an der Erfahrung zu prüfen, aber es ist zu wünschen, daß solches nicht streng dogmatisch und in Form scharfen Beweises geschehe. Stelle der Naturfreund seine Ansichten ruhig dar als wenn sie individuell wären, und erwarte die Beistimmung von Geistesverwandten. Nötigen läßt sich doch niemand zum Beifall, und jede Uberzeugung ist nach Beweisen auf Beweise doch zuletzt ein Akt des Willens"73. So ergibt sich ein Doppelrhythmus der Erkenntnisbewegung, eine Systole und Diastole zwischen Idee und Erfahrung. „Die Idee ist in der Erfahrung nicht darzustellen, kaum nachzuweisen, wer sie nicht besitzt, wird sie in der Erscheinung nirgends gewahr; wer sie besitzt, gewöhnt sich leicht über die Erscheinung hinweg, weit darüber hinauszusehen und kehrt freilich nach einer solchen Diastole, um sich nicht zu verlieren, wieder an die Wirklichkeit zurück und verfährt wechselweise wohl so sein ganzes Leben"74. „Durch die Pendelschläge wird die Zeit, durch die Wechselbewegung von Idee zur Erfahrung die sittliche und wissenschaftliche Welt regiert"75. Man sieht: auch die Idee, die „als leitend zum Auffinden gar wohl zu betrachten sei", ist für Goethe keineswegs b l o ß e s Regulativ des Denksubjekts, bloße Methode, die an den Stoff herangetragen würde, um irgendwie 285

Ordnung zu schaffen, sondern ein primär Geschautes, Wesenhaftes, Wirkendes. Franz Koch76 irrt, wenn er meint, hier stehe Goethe wirklich einmal auf dem Boden der Kantischen Erkenntnistheorie. Für den erklärten Empiristen und Elementen-Forscher gibt es keine Ideen, weil er, im Stoff befangen, sie gar nicht gewahr wird. Dem spekulativen Philosophen hingegen kann sich die Idee zur leeren Formel verflüchtigen. Diese Alternative schildert Goethe in der Einleitung zur „Metamorphose der Pflanzen" (1790) wie folgt: „Den Verständigen, auf das Besondere Merkenden, genau Beobachtenden, auseinander Trennenden ist gewissermaßen das zur Last, was von einer I d e e kommt und auf sie zurückführt. Er ist in seinem Labyrinth auf seine eigene Weise zu Hause, ohne daß er sich um einen Faden bekümmere, der schneller durch und durch führte; und solchem scheint ein Metall, das nicht ausgemünzt ist, nicht aufgezählt werden kann, ein lästiger Besitz; dahingegen der, der sich auf höherem Standpunkt befindet, gar leicht das einzelne verachtet und dasjenige, was nur gesondert ein Leben hat, in eine tötende Allgemeinheit zusammenreißt." Das Gleichnis vom unausgemünzten Metall erinnert an Mephistos Hohnworte: Daran erkenn ich den gelehrten Herrn! Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern, Was ihr nicht faßt, das fehlt euch ganz und gar, Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr, Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht, Was ihr nicht münzt, das, meint ihr, gelte nicht. (Faust II, 1. Akt, Kaiserliche Pfalz, V. 4917—22)

Die Warnung vor der „tötenden Allgemeinheit" aber richtet sich ersichtlich gegen jene Art von „Ideen", die nichts weiter sein wollen als Formel, Arbeitshypothese, Regulativ, Gruppierung von Stoffmassen nach willkürlich gesetzten Spielregeln.

WISSEN

UND

LEBEN

„Seltsam ist es, daß man die Wissenschaft als etwas für sich Bestehendes behandelt, und doch ist sie nur Handhabe, Hebel womit man die Welt anfassen und bewegen soll"1. Weltoffene Erkenntnis dient dem L e b e n , ist selbst im höchsten Sinne eine Funktion des Lebens. Das besagt Goethes oft wiederholte und variierte Maxime „Was fruchtbar ist, allein ist wahr" (Vermächtnis, 1829). „Was man nicht nützt, ist eine schwere Last." Am Silvesterabend 1829 schreibt Goethe: „Ich habe bemerkt, daß ich den Gedanken für 286

wahr halte, der für midi fruchtbar ist, sich an mein übriges Denken anschließt und zugleich mich fördert; nun ist es nicht allein möglich, sondern natürlich, daß sich ein solcher Gedanke dem Sinne des andern nicht anschließe, ihn nicht fördere, wohl gar hindere, und so wird er ihn für falsch halten. Ist man hiervon recht gründlich überzeugt, so wird man nie kontrovertieren"2. Fast klingt das wie moderner P r a g m a t i s m u s . Aber so deuten, hieße Goethe völlig mißverstehen. Gegen die Lehre vom bloßen Nutzwert der Wissenschaft wendet er sich nachdrücklich in zwei Alterssprüchen: „Die Menge fragt bei einer jeden neuen bedeutenden Erscheinung, was sie nutze, und sie hat nicht Unrecht; denn sie kann bloß durch den Nutzen den Wert einer Sache gewahr werden. Die wahren Weisen fragen, wie sich die Sache verhalte in sich selbst und zu andern Dingen, unbekümmert um den Nutzen, das heißt, um die Anwendung auf das Bekannte und zum Leben Notwendige, welche ganz andere Geister, scharfsinnige, lebenslustige, technisch geübte und gewandte, schon finden werden"3. Entscheidend ist hier allein die Frage: Fruchtbar w o f ü r ? Den gemeinen oder utilitarischen Pragmatismus, der das Erkenntnisstreben als Organon menschlicher Machtsteigerung und bloßer Nutzung ausbeutet, hat Goethe gewiß nicht im Sinne, wenn er sagt: Was fruchtbar ist, allein ist wahr. Fruchtbar heißt hier zunächst allerdings: sich harmonisch einfügend in den Zusammenhang, die „Folge" von Vorstellungen und Begriffen, über die das Erkenntnissubjekt bereits verfügt. Zugleich aber auch: fürs übergreifende Lebensganze gedeihlich und förderlich, keineswegs bloß „nützlich" im Sinne merkantiler oder technischer Ausbeutungsfähigkeit, nicht für den blinden Egoismus einzelner Machtgruppen. Müssen wir an sein Grauen vor dem heraufziehenden Maschinenwesen erinnern? An seine Abkehr von der „durchaus gemachten" Zeit? Nein, Goethes Lehre von der fruchtenden Wahrheit hat einen ganz anderen Hintergrund. Zu allerletzt wohl die Erfahrung, daß alle tiefe, weitreichende Erkenntnis sich im Zusammenhange ganzheitlicher Weltschau bewähren müsse. Daß kein Einzelkriterium der Wahrheit völlig verläßlich sei. Daß die Stimmigkeit, das Zusammenpassen des Ganzen letzthin entscheide. Fruchtbarkeit ist hier Förderung des Lebensganzen, keineswegs bloßer Nutzeffekt. Wahre Erkenntnis hat „Folge". Totes, abgespaltenes Wissen und lebendige, der Totalität des Seins verbundene Erkenntnis stehen gegeneinander in dem Ausspruch: „Der Irrtum gehört den Bibliotheken an, das Wahre dem menschlichen Geiste." 287

„Was ist denn die Wissenschaft?" Sie ist nur des Lebens Kraft. Ihr erzeuget nicht das Leben, Leben muß erst Leben geben. (Zahme Xenien) Die theoretische Haltung ist stets ein Abgeleitetes: „Wir sind aufs Leben und nicht auf die Betrachtung angewiesen." Es kommt darauf an, „das Problem in ein Postulat zu verwandeln". „Durchaus aber bleibt ein Hauptkennzeichen, woran das Wahre vom Blendwerk am sichersten zu unterscheiden ist: jenes wirkt immer fruchtbar und begünstigt den, der es besitzt und hegt, dahingegen das Falsche an und für sich tot und fruchtlos daliegt, ja sogar wie eine Nekrose anzusehen ist, wo der absterbende Teil den lebendigen hindert, die Heilung zu vollbringen" 4 . „Mit Gedanken,, die nicht aus der tätigen Natur entsprungen sind und nicht wieder auf's tätige Leben wohltätig hinwirken und so in einem mit dem jedesmaligen Lebenszustand übereinstimmenden, mannigfaltigen Wechsel unaufhörlich entstehen und sich auflösen, ist der Welt wenig geholfen" 5 . Goethe entdeckt das Ethos des Wissenstriebs. Er ahnt, was wir heute als furchtbare Dämonie entfesselter „Wissenschaftlichkeit" handgreiflich erleben, voraus: daß bloßes „ M a c h t w i s s e n " in unabsehbare Katastrophen führen muß. Ihm stellt er das ehrfürchtige, sinnverbundene H e i l s - W i s s e n liebender Weltzuwendung entgegen. Wissenschaft ist ihm „Bezug aufs Göttliche, insofern es durch die Sinne auf Kenntnis wirkt" 6 . Scharf unterscheidet er zwischen bloßer Anhäufung von Erfahrungsstoff (Wissensbesitz) und höherer Erkenntnis (Weisheit). „Das [abgezogene] Wissen fördert nicht mehr bei dem schnellen Umtriebe der Welt; bis man von allem Notiz genommen hat, verüert man sich selbst" (Wanderjahre, 1829). Wohl mögen Erfahrung und Wissen fortschreiten und sich bereichern: damit ist keineswegs gewährleistet, daß Denken und eigentlichste Einsicht in gleichem Maße vollkommener werden. Und zwar aus einer ganz natürlichen Ursache: „weil das Wissen unendlich und jedem neugierig Umhersehenden zugänglich, das Überlegen, Denken und Verknüpfen aber innerhalb eines gewissen Kreises der menschlichen Fähigkeiten eingeschlossen ist". Bloßer Wissensbesitz mag immer deutlicher und ausführlicher werden, „vom Fixstern bis zum kleinsten lebendigen Lebepunkt". Die wahre Einsicht in die Natur dieser Dinge jedoch ist „in sich selbst gehindert . . . und dieses in dem Grade, daß nicht allein die Individuen, sondern ganze Jahrhunderte vom Irrtum zur Wahrheit, von der Wahrheit zum Irrtum sich in einem stetigen 288

Kreise bewegen". Ein Zeitalter höchster Wissensanhäufung kann also allem Wesenhaften gegenüber bodenlos u n w e i s e sein! Bloßer Wissensbesitz zielt auf Spezialisierung hin, Weisheit hingegen aufs Ganze; allerdings nicht im Sinne uferlos schwärmenden Universalismus, sondern auf gestaltete Erkenntnis. Solche Wissenschaft w ä r e Mikrokosmos, dem Kunstwerk verwandt. Sie wiese das Mythische, ihre Wurzel, nicht hochmütig von sich, sondern bliebe ihm ehrfürchtig verbunden 7 . „Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann . . ., so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgendeine A r t von Ganzheit erwarten. Und zwar haben wir diese nicht im Allgemeinen, im Überschwänglichen zu suchen, sondern wie die Kunst sich immer ganz in jedem einzelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die Wissenschaft sich auch jedesmal ganz in jedem einzelnen Behandelten erweisen." (Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, I. Abt.) Schöpfer solcher Wissenschaft wäre, wer sich bereit fände, alle Möglichkeiten und Fähigkeiten, die dem Menschen Zugang zur Welt eröffnen, einzusetzen. Wissenschaft als Ausdruck der Lebensganzheit: mit dieser krönenden Schlußformel k n ü p f t Goethe an Hamann an 8 . Mehr als ein Erddiameter aber trennt ihn von Kants Ideal des logisch-mathematisch vorgefilterten Erkenntnisstoffes, wenn er sagt: „Um aber einer solchen Forderung sich zu nähern, so müßte man keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit ausschließen. Die Abgründe der Ahnung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen — nichts kann entbehrt werden zum lebhaften, fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sei, entstehen kann."

2. D A S

ORGANISCHE

In einer besonders entwickelten und gesteigerten Feinspürigkeit f ü r das Organische sah schon Wilhelm v. Humboldt einen Grundzug von Goethes Art 1 . Keimend und reifend, blühend und fruchtend erblickt Goethe das Wachstum seiner Dichtungen; in Dichtung und Wahrheit hat er sein Leben als einen vegetativen Vorgang geschildert 2 . In einem später unterdrückten Vorwort sagt er darüber das folgende: „Ehe ich diese nunmehr vorliegenden drei Bände zu 289

schreiben anfing, dachte ich sie nach jenem Gesetze zu bilden, wovon uns die Metamorphose der Pflanzen belehrt. In dem ersten sollte das Kind nach allen Seiten zarte Wurzeln treiben und nur wenig Keimblätter entwickeln, im zweiten der Knabe mit lebhafterem Grün stufenweis mannigfaltiger gebildete Zweige treiben, und dieser belebte Stengel sollte nun im dritten Beete ähren- und rispenweis zur Blüte hineilen und den hoffnungsvollen Jüngling darstellen." Das Organische ist die ausgesprochene Gegenwelt zum Mechanisch-Starren, Toten. Für Goethe wird es daher zum Schlüsselgebiet fruchtbaren Erkennens. Nicht daß es ihm einfiele, die handgreiflichen Mechanismen zu leugnen, deren sich der Ablauf der Lebensvorgänge auf Schritt und Tritt bedient. Bei näherem Zusehen wird ihm indessen klar, daß die Anwendung mechanischer Prinzipien auf organische Naturen gerade die Vollkommenheit der lebendigen Wesen ins rechte Licht setzt. Beinahe dürfte man sagen, „daß die organischen Naturen nur desto vollkommener werden, je weniger die mechanischen Prinzipien bei denselben anwendbar sind"3. Als überzeugter Panvitalist oder Hylozoist, „unempfänglich, ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine tote, auf welche Art es auch sei, auf- und angeregte Materie als Glaubensbekenntnis aufstellte"4, erblickte Goethe e i n Leben im Organischen wie im Anorganischen tätig5. Der Unterschied beider ist also nicht der von Belebtem und Unbelebtem. Ein „Begriff vom Leben im weitesten Sinne"6 umspannt Kristallisation, Vegetation und animalische Organisation. Auch Anorganisches ist, wenngleich auf elementare Art, „beseelt", wie es die Schlußstrophe des mineralogischen Lehrgedichts „Nicht auf der grünen Erde nur" ausspricht: . . . An seiner Hand besuche dann die Stätte, Wo unverhüllt sich uns Natur verhehlt, Die dich und jeden Stein beseelt.

Allerdings gehören „Kristallisation und Vegetation" — so heißt es in dem gleichnamigen kleinen Aufsatz von 1789 — durchaus verschiedenen Stufen des Naturreiches an. Der Hylozoismus darf nicht dazu verleiten, Elementarisches dem Organischen gleichzusetzen. „Ein Salz ist kein Baum, ein Baum kein Tier; hier können wir die Pfähle fest stecken, wo uns die Natur den Platz selbst angewiesen hat." Als Knebel die Eisblumen an den Fenstern mit Pflanzengebilden vergleicht, erwidert Goethe: „Sie möchten gern diese Kristallisationen zum Range der Vegetabilien erheben. Nur mag ich nicht gerne zugeben, daß man zwei Berge, welche 290

durch ein Tal verbunden werden, für e i n e n Berg halte. Die Gipfel der Reiche der Natur sind entschieden voneinander getrennt." Die Eisblumen bilden sich „von außen" veranlaßt auf einer Fläche, die Vegetation „von innen heraus nach allen Seiten"7. Im Organischen waltet entelechale Ganzheit, wogegen die Elementarteile (Moleküle, Atome) des Anorganischen „wie in suspendierter Gleichgültigkeit" sich zu Körpern ordnen. Das Hauptkennzeichen der Mineralkörper ist „die Gleichgültigkeit ihrer Teile in Absicht auf ihr Zusammensein, ihre Ko- und Subordination". Zwar sprechen die Chemiker von Wahlverwandtschaft der Stoffe, aber oft sind es doch wohl nur „äußere Determinationen", welche die chemischen Elemente „da- oder dorthin stoßen oder reißen". So werden die Mineralkörper hervorgebracht. Die Kräfte, die hier walten, sind augenscheinlich unterhalb der Schwelle des Organischen (des Bios im engeren Sinne) am Werke. Das spürt Goethe, und doch will er ihnen „den zarten Anteil, der ihnen an dem allgemeinen Lebenshauche der Natur gebührt, keineswegs absprechen"8. Die Harmonie des organischen Ganzen hingegen wird dadurch möglich, „daß es aus identischen Teilen besteht, die sich in sehr zarten Abweichungen modifizieren. In ihrem Innersten verwandt, scheinen sie sich in Gestalt, Bestimmung und Wirkung aufs weiteste zu entfernen, ja sich einander entgegenzusetzen, und so wird es der Natur möglich, die verschiedensten und doch nahe verwandten Systeme durch Modifikation ähnlicher Organe zu erschaffen und ineinander zu verschlingen"9. Durch die Metamorphose differenziert sich ursprünglich Gleiches, und dadurch wieder entstehen Verhältnisse des Zusammenwirkens, der Unterordnung, des Übergreifens. Das Organische ist jedenfalls eine Welt sui generis, keine bloße Fortsetzung oder gar „Fortentwicklung" des Anorganischen. Im Gegenteil: es scheint, daß Goethe gelegentlich die umgekehrte Fragestellung als das eigentliche Problem empfand: wie es zugeht, daß Organisches zu Anorganischem depraviert. „Aperçu des Übergangs vom Organischen zum Künstlichen" heißt es im Tagebuch vom 16. September 179810. Das klingt wie eine Vorwegnahme von Schellings Annahme: der ursprüngliche Zustand der Natur sei der organische, die unorganischen Stoffe seien nur Ausscheidungen aus dem organischen Prozeß. Auch Fechner hat übrigens an der Priorität des Organischen festgehalten. (Man beachte: Goethe, Schelling wie Fechner gehören dem chthonischen Typus I an.) Aufschlußreich ist auch ein Gespräch mit Eckermann11. Man kommt auf das Bestreben gewisser Naturforscher zu sprechen, die, um die organische Welt zu durchschreiten, von der Mineralogie aufwärts gehen wollen. 291

„Dieses ist ein großer Irrtum", sagt Goethe. „In der mineralogischen Welt ist das Einfachste das Herrlichste, und in der organischen ist es das Komplizierteste. Man sieht also, daß beide Welten ganz verschiedene Tendenzen haben, und daß von der einen zur andern keineswegs ein stufenartiges Fortschreiten stattfindet." Alles organisch Lebendige, lehrt Goethe, bedarf einer umfassenden H ü l l e , die das zarte Innere vor dem äußeren rohen Element (Luft, Licht, Wasser) beschirmt. „Diese Hülle mag nun als Rinde, Haut oder Schale erscheinen, alles was zum Leben hervortreten, alles was lebendig wirken soll, muß eingehüllt sein. Und so gehört auch alles, was nach außen gekehrt ist, nach und nach frühzeit dem Tode, der Verwesung an. Die Rinden der Bäume, die Häute der Insekten, die Haare und Federn der Tiere, selbst die Oberhaut des Menschen sind ewig sich absondernde, abgestoßene dem Unleben hingegebene Hüllen, hinter denen immer neue Hüllen sich bilden, unter welchen sodann oberflächlicher oder tiefer das Leben sein schaffendes Gewebe hervorbringt"12. An der Peripherie, so könnte man diesen Gedanken fortspinnen, vollzieht sich die Verkrustung, die Regression ins Anorganische; im Innern strömt das Leben unablässig fort13. Goethes Leitsatz bewährt sich übrigens ausgezeichnet auch für die (neuere) Erkenntnis der Z e l l e n - Natur des Organischen. Der flüssige Protoplasmaleib jeder Zelle ist bekanntlich von einer M e m b r a n umgeben. Als ein v o n i n n e n n a c h a u ß e n sich1 Bildendes, in sich (relativ) geschlossenes, um seiner selbst willen bestehendes Ganzes sucht Goethe den Organismus zu begreifen. Er nimmt den Satz J. v. Uexkülls14 vorweg: „Die organische Gestaltung erfolgt zentrifugal, die Gestaltung der Mechanismen zentripetal". Aus dem Wort „Individuum est ineffabile" leitet er eine Welt ab15: ein jedes Lebewesen ist unaussprechlich. Schon zur Zeit der SpinozaStudien schreibt Goethe: „Wir können uns nicht denken, daß etwas Beschränktes durch sich selbst existiere, und doch existiert alles wirklich durch sich selbst, obgleich die Zustände so verkettet sind, daß einer aus dem andern sich entwickeln muß, und es also scheint, daß ein Ding vom andern hervorgebracht werde, welches aber nicht ist; sondern ein lebendiges Wesen gibt dem andern [nur] Anlaß zu sein und nötigt es, in einem bestimmten Zustand zu existieren"16. In diesem Satz ist keimhaft schon die ganze spätere Monadologie enthalten. Immer aufs neue erfährt Goethe das organische Gebild als eine in sich gerundete Eigensphäre. „Was ist doch ein Lebendiges für ein köstlich herrliches Ding. Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr! wie seiend!" ruft er aus Venedig der Weimarer 292

Freundin zu17. Wenig später schreibt er der Herzogin Luise 18 : „Das geringste Produkt der Natur hat den Kreis seiner Vollkommenheit in sich, und ich darf nur Augen haben um zu sehen, so kann ich die Verhältnisse entdecken, ich bin sicher, daß innerhalb eines kleinen Zirkels eine ganze wahre Existenz beschlossen ist". Die „teleologische" Vorstellungsart der Rationalisten verspottet er: „sie legt nur der Natur einen menschlichen Verstand unter und läßt diese erhabene Mutter lebendige Wesen auf eben die Art hervorbringen, wie wir Flinten fabrizieren, Kugeln gießen und Pulver bereiten, um endlich einen Schuß zu erwecken. Diese Vorstellungsart, wie alle die ihr ähnlich sind, führen uns, meines Bedünkens, von dem wahren Wege der Physiologie ab: denn wie können wir die Teile eines organischen Wesens und ihre Wirkungen entwickeln und begreifen, wenn wir es nicht a l s e i n d u r c h s i c h u n d um s e i n s e l b s t w i l l e n b e s t e h e n d e s G a n z e beobachten?" 19 „Was ist das Äußere einer organischen Natur anders als die ewig veränderte E r s c h e i n u n g d e s I n n e r n ? " fragt Goethe 1798. Den vollendeten Organismus, z. B. das abgeschlossene Tier, denkt er sich als „eine kleine Welt, die um ihrer selbst da ist". Jedes Geschöpf ist Zweck seiner selbst, und alle seine Teile stehen in der unmittelbarsten Wechselwirkung 20 . Zweck sein selbst ist jegliches Tier, vollkommen entspringt es Aus dem Schoß der Natur und zeugt vollkommene Kinder. Alle Glieder bilden sich aus nach ewigen Gesetzen, Und die seltenste Form bewahrt im geheimen das Urbild. (Metamorphose der Tiere, Str. 2) Goethes „Haß gegen die absurden Endursachen" 21 ist bekannt. Die Teleologie erscheint ihm als eine „trivale" Anschauungsweise, eine „fromme Vorstellungsart" 22 . Aber diese Ablehnung ist keine unbedingte. Nur die allzu menschenmäßige, rationalistische Teleologie, die beim Korkbaum schon die Flaschenstöpsel denkt und die Natur zum bloßen Mittel menschlicher Ausbeutung herabwürdigt, verwirft er. Man bedenke doch: den Gedanken der „inneren Zweckmäßigkeit" hatte er ganz neu in die Waagschale geworfen; ihn galt es zunächst einmal durchzusetzen. Daß jede organische Individualität auch ü b e r g r e i f e n d e n Planungen der Natur gehorcht, ist Goethe durchaus kein fremder Gedanke. Er bekämpft, wie gesagt, nur die triviale Zwecklehre, die voreilige Unterschiebung von anthropozentrisch gedachten Zwecken. Die höhere Ebene seines Standorts geht am klarsten aus einem Brief an Schiller (vom 6. Januar 1798) hervor: „Wer will gewissen Menschen die Zweckmäßigkeit der organischen Naturen nach außen ausreden, da die 293

Erfahrungen selbst täglich diese Lehre auszusprechen scheinen und man mit einer scheinbaren Erklärung der schwersten Phänomene so leicht wegkommt? Sie wissen, wie sehr ich am Begriff der Zweckmäßigkeit der organischen Naturen nach innen hänge, und doch läßt sich ja eine Bestimmung von außen und ein Verhältnis nach außen nicht leugnen, wodurch man mehr oder weniger sich jener Vorstellungsart wieder nähert, so wie man sie im Vortrag als Redensart nicht entbehren kann." In der Einleitung zur Morphologie der Pflanzen von 1807 setzt er der elementenhaften Betrachtimgsweise der Lebewesen seine ganzheitliche entgegen, die darauf abzielt, „die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußeren sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie a l s A n d e u t u n g e n d e s I n n e r n a u f z u n e h m e n und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen"23. Was hier gemeint ist, erläutert vortrefflich ein Gespräch mit Riemer vom gleichen Jahre24, worin vom Unterschied organischer Naturgebilde von menschlichen Kunstleistungen im weitesten Sinne (Mechanismen, Plastiken usw.) die Rede ist. In allem was der Mensch ausformt, sagt Goethe etwa, ist die Form nicht wesentlich mit dem Inhalt verbunden, sondern dem Stoff nur auf- oder abgedrungen. Zwar erleidet das, was die Natur hervorbringt, auch äußere Bedingungen, aber „mit Gegenwirkung von innen"! „Kurz, es ist hier ein lebendiges Wirken von außen und innen, wodurch der Stoff die Form erhält." Der Erkenntnisweg nimmt die entgegengesetzte Richtung. Hier handelt es sich darum, „daß wir keine Art der Manifestation des labyrinthischen Organismus außer acht lassen dürfen, wenn wir durch Anschauung des Äußeren zur E i n s i c h t i n d a s I n n e r e gelangen wollen"25. Die modernen Gestalttheorien des Organischen (Leben=Gestalt) gehen sämtlich auf Goethes Grundeinsicht zurück. Ganzheit bedeutet ein Doppeltes: 1. Beziehungen der Teile untereinander, und 2. Beziehungen der Teile zum Ganzen. Das ganzheitliche Erlebnis der Natur spricht bereits der Dichter desUrfaust im Webe-Gleichnis aus: Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem andern wirkt und lebt. (V. 447—48.)

„In jedem lebendigen Wesen", heißt es in den Spinoza-Studien, „sind das, was wir T e i l e nennen, dergestalt unzertrennlich vom Ganzen, d a ß s i e n u r i n u n d m i t d e m s e l b e n b e g r i f f e n w e r d e n k ö n n e n , und es können weder die Teile 294

zum Maß des Ganzen noch das Ganze zum Maß der Teile angewendet werden, und so nimmt . . . ein eingeschränktes lebendiges Wesen teil an der Unendlichkeit, oder vielmehr es hat etwas Unendliches in sich, wenn wir nicht lieber sagen wollen, daß wir den Begriff der Existenz und der Vollkommenheit des eingeschränktesten lebendigen Wesens nicht ganz fassen können und es also ebenso wie das ungeheure Ganze, in dem alle Existenzen begriffen sind, für unendlich erklären müssen"26. Das Ganze geht den Teilen als Gesamtplan voran, es ist in den Teilen gegenwärtig27: „Mir entging nicht, die Natur beobachte stets ein analytisches Verfahren, eine Entwicklung aus einem lebendigen, geheimnisvollen Ganzen"28. Willst du dich am Ganzen erquicken, So mußt du das Ganze im Kleinsten erblicken.

Zu Goethes biologischen Intuitionen rechnet Thomas Mann29 „seine unglaublich sichere Vorwegnahme der Zellentheorie". Die Teile verschwinden nicht im Ganzen, sondern bleiben (relativ) selbständig. Der Organismus besteht, wie v. Uexküll30 sagt, „aus lauter individuellen Ganzheiten . . ., von denen jede ihr eigenes Gesetz besitzt". (Man hat deshalb auch die Zellen „Autonome" oder „Monaden" genannt.) Diese Einsicht liegt bei Goethe völlig klar durchgebildet vor. Kein Lebendiges ist Eins, Immer ist's ein Vieles.

„Jedes Lebendige", sagt er, „ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit; selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von lebendigen und selbständigen Wesen, die der Idee, der Anlage nach gleich sind, in der Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können. Diese Wesen sind teils ursprünglich schon verbunden, teils finden und vereinigen sie sich. Sie entzweien sich und suchen sich wieder und bewirken so eine unendliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten"31. Die „Teile" oder „Organe" werden einerseits von der höheren Ganzheit (der Entelechie des Organismus) ü b e r g r i f f e n ; andererseits erweisen sie sich selbst als (relative) Ganzheiten, aus niederen Monaden gefügt. Organizität ist zugleich Ubergreifen und Übergriffenwerden, ist Herrschaft und Subordination. Im Ausmaß der Unterordnung ( = Differenzierung) erkennt man die Organisationshöhe. „Je unvollkommener das Geschöpf, desto mehr sind diese Teile einander gleich oder ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommener das Geschöpf, 21 D a n c k e r t ,

Goethe.

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desto unähnlicher werden die Teile einander. In jedem Falle ist das Ganze den Teilen mehr oder weniger gleich, in diesem das Ganze den Teilen unähnlich. Je ähnlicher die Teile einander sind, desto weniger sind sie einander subordiniert. Die Subordination der Teile deutet auf ein vollkommeneres Geschöpf"32. Verfolgt man diesen Gedanken von höheren zu niederen Lebensformen absteigend, so gelangt man zuletzt zu „panvitalistischen" Folgerungen; denn es wäre doch seltsam, wenn das Elementarste (etwa Atome oder Moleküle) gänzlich aus dem Kontinuum der Subordination herausfiele. „Ein organisches System besteht aus organischen Systemen", so formuliert ein zeitgenössischer Forscher33 dieses Problem. Ob Goethe diesen Gedanken gedacht oder ausgesprochen hat, wissen wir nicht. Sicher aber zog er die ergänzende „makromorphologische" Schlußfolgerung: die Organismen im hergebrachten Sinne werden abermals „übergriffen". Im Gespräch mit Eckermann vom 13. Februar 1829 deutet er die tierischen „Korporationen", wie z. B. den sogenannten Bienen-„Staat", als Organismus höherer Ordnung. Nach der geistreichen, freilich umstrittenen Auslegung von Wilhelm Hertz34 wäre das Reich der „Mütter" eine Hierarchie von „Gruppenseelen": zuoberst die drei Urmütter, die Kollektiv-Entelechien der drei Naturreiche (Gestein, Pflanze, Tier), unter ihnen die Mittelstufe der Gattungstypen und zuletzt die Bilder der Einzelwesen. Die ganze Natur ist letztlich ein Metaoder Makro-Organismus. Ein organisches System wird stets von höheren Systemen überbaut. Jedes Einzelne ist Teil in einem Ganzen und dieses Ganze abermals Teil eines höheren35. Das Individuum wird von Meta-Organismen „durchlebt". Wenn Goethe bemerkt, die Frage über die Instinkte der Tiere lasse sich nur durch den Begriff von Monaden und Entelechien auflösen36, so scheint dieser Ausspruch nicht bloß auf „Anamnesis" von Individual-Monaden hinzudeuten, sondern eher wohl noch auf „Steuerung" durch übergreifende Gruppen-Entelechien. Überindividuelle Zusammenhänge handgreiflicher Art erblickt er z. B. in den tierischen „Korporationen", z. B. in der Gruppenbildung der Bienen37. Im Zusammenspiel der Organismen-Reiche sieht er überhaupt mehr Abstimmung und Harmonie als bloßen struggle for life. Die organisierte Welt betrachtet er als „einen Zusammenhang von vielen Elementen". Das ganze Pflanzenreich erscheint „als ungeheures Meer, welches ebensogut zur bedingten Existenz der Insekten nötig ist als das Weltmeer und die Flüsse zur unbedingten Existenz der Fische". Eine ungeheure Anzahl lebender Geschöpfe wird in diesem Pflanzenozean geboren und ernährt: „ja wir werden zuletzt die ganze tie296

rische Welt wieder n u r als ein großes Element ansehen, wo ein Geschlecht auf dem andern und durch das andere, wo nicht entsteht, doch sich erhält" 3 8 . Dies ist also der letzte, höchste Aspekt der Goetheschen Monadenlehre, die sich als „Organologie" ganz wesentlich von der Leibnizschen unterscheidet. Die Monaden sind von Natur rangverschieden; das ermöglicht das Übergreifen wie das Übergriffenwerden, die „Subordination". Auch im Monaden-Gespräch mit Falk berührt Goethe diesen Gedanken (vgl. S. 163 ff ). Als Biolog geht e r also einen wesentlichen Schritt über das Individuum est ineffabile, das „von innen heraus leben" seines klassischen Künstlertums und Lebensgefühls hinaus. Das R e l a t i v e der Einzelwesenschaft geht ihm auf, und er muß sich eingestehen, daß das Individuum letzthin doch n i c h t b l o ß in sich wirkende Monas ist, sondern zugleich auch Durchgangspunkt f ü r Mächte und Strömungen überindividueller Herkunft. G. Simmel 39 , der die Frage nach der Stellung der Individualität in Goethes Weltbild rein vom Dichterischen und Biographischen — also ohne Berücksichtigung von Goethes Naturforschung — zu lösen unternimmt, erblickt hier eine Alternative, ein Entweder-Oder und meint, Goethe habe sich aus einem „metaphysischen Grundgefühl" f ü r die A b s o l u t h e i t des Individuums entschieden. Aber diese vermeintliche Alternative besteht in Wahrheit f ü r Goethe nicht. Wohl erblickte er in jeglicher Individualität einen letzthin (d. h. in seinem Kernbestand) „unzerstörbaren" Weltbaustein, aber kein emanzipiertes, von übergreifenden Bindungen schlechthin gelöstes Sonderwesen. Wenn er als Organismenforscher so klar ausspricht, daß jegliches Einzelwesen „übergriffen" wird: ahnt er nicht zum mindesten ein Analoges als Künstler? Seine vielfachen Aussprüche über die „unverhofften Geschenke von oben" sowie über das Eingebettetsein der künstlerischen Individualität in ein unabsehbar weites Kollektivum deuten ebenso wie seine morphologische Geschichtsauffassung darauf hin 40 . Das Organische wird f ü r Goethe zur Kategorie der Welt, die Welt zum Pan-Organismus. Das bedeutet, daß ihm die Einbettung, Übergreifung, das heißt das Leben des Teiles aus dem Ganzen heraus, der Sinn der Welt überhaupt ist. Nicht n u r f ü r überzeugte Mechanisten, sondern f ü r alle, die am selbständigen Bestehen einer schlechthin toten Zufallswelt des Anorganischen festhalten, hätte Goethe allerdings sich einer unerlaubten „Grenzüberschreitung" schuldig gemacht, da er den Organismusgedanken aufs Weltganze „übertrug". Ist es aber wirklich so ganz verstiegen, anzunehmen, daß die Vorgänge, die der heutigen Physik, Chemie, Mineralogie usw. 21*

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als „anorganische" gelten, in Wahrheit „ r a i k r o o r g a n i s c h e " sind? Ist es so abwegig, sich Sternsysteme als Makro-Organismen zu denken? Sind die Gedanken des Panorganizismus (und Panpsychismus) nur Atavismen des Weltdenkens, oder liegt nicht etwa „die ganze Roheit und Oberflächlichkeit" auf seiten der Kritik, „die die großen Denker der Vermenschlichung der W e l t . . . beschuldigt, wenn sie die Gesamtheit des Daseins nach den Kategorien des Menschlichen, des Lebendigen, des Seelischen deuten"? 41 Wenn es wirklich ein All-Leben gibt, so können Vorstellungen von einer Mikro-, Makro- oder Metabiologie keine bloßen mythologisierenden Übertragungen (vom empirischen Organismus her) sein. Der Organismus ist dann wirklich ein Leitbild dieses All-Lebens, keine spezialwissenschaftliche, sondern eine kosmische, kosmologische Kategorie. Organologisch denken heißt das Weltganze, zuvörderst die Welt des Organischen im engeren Sinne, als unablässig erneutes Werden begreifen. Goethe rechnet damit, daß nicht nur in der Urzeit des Erdlebens, sondern auch heute noch neue Organismen entstehen. Zum Gedanken einer allmählichen, sukzessiven Schöpfung tritt die Vorstellung eines immer fortdauernden Neuwerdens. „Auch sollte, da man neue entstehende Welten in den unendlichen Räumen annimmt, die Entstehung neuer Tiere und Pflanzen auf unserem beschränkten Erdkörper nicht allzu paradox erscheinen"42. Wenn wir abschließend fragen: wie gelangte Goethe zu all diesen so tiefdringenden Einsichten ins Wesen des Organischen, so kann wohl kein Zweifel sein, daß hier schauende Erfahrung und ein besonders geartetes Witterungsvermögen einander mindestens die Waage halten. Daß Goethe sich nicht mit bloßer Symbolschau, mit der Gnosis des Dichters und Weisheitssuchers begnügt, sondern den Weg der N a t u r - F o r s c h u n g beschreitet: darin erweist er sich als ein Kind der Neuzeit, als moderner Abendländer. Urtümlich ist jedoch die zähe und tiefe Verwurzelung seines Forschungstriebes im Nährboden des O r g a n i s c h e n . Ist es nicht überaus bezeichnend, wenn er in der Geschichte seines botanischen Studiums (1817) bekennt: in die Sphäre der Wissenschaft sei er eigentlich zuerst in Weimar eingetreten, wo ihn der Gewinn beglückte, Stubenund Stadtluft mit Land-, Wald- und Gartenatmosphäre zu vertauschen? Sein „Panorganizismus" läßt sich am einleuchtendsten aus tellurischen Vermächtnissen ableiten. Verschiedentlich schildert Bachofen, anschließend an vorantike Mythen, den Tellurismus als das „reine Pflanzenleben" 43 . Allerwärts in der chthonischen Welt zeigt sich ja der Hang zum Vegetativen: organische, insonderheit pflanzliche Ornamente, Pflanzen-Totemismus, Vegetationskulte und 298

-dämonen, aufwachsende und wiederabsterbende „Baum"-Götter, „sprossendes" Melos. Franz Altheim44 spricht vom Wachsenden und Schwellenden, pflanzenhaft Blühenden der kretischen Kunst. „Der Göttin des Wachstums geweihte Blumen sind wohl die für kretische Art bezeichnendste kultische Huldigung" 45 . Erinnert sei auch an die Trias der altrömischen Erdmutter- und Vegetationsgöttinnen Ceres, Tellus und Flora. Ceres (zu crescere, creare) verkörpert das Wachstum und die schöpferische Kraft der Erde; Tellus, mit Demeter identisch, ist gleichfalls Spenderin der Vegetation, insonderheit Göttin des Saatfeldes; Flora ist Göttin der blühenden Pflanzen; ihr Fest, die Floralia, erinnert an die attischen Anthesterien, die gleichfalls das Blühen der Pflanzen in ihrem Namen tragen46. Ein später Nachhall sind die „fiori" und das „foaie verde"-Motiv im italienischen und rumänischen Volkslied47. Daß die „weibliche" Linie der Primitivkulturen fast durchweg zu „pflanzerischer" Wirtschaftsführimg neigt, ist als massiver Niederschlag des gleichen SymbolFühlens zu verstehen48. Man denke sich diese uralte Sphäre „biotischer" Neigungen und Sympathien durch Forscher-Impulse abendländisch-deutschen Stils angereichert, und man wird cfen bevorzugten Wissenschaftsbezirk Goethes vor sich erblicken: das Reich der organischen Gestalten (Morphologie) und ihrer Wandlungen (Metamorphose).

3. M A T H E M A T I K U N D

PHYSIK

Goethes bekannte Scheu vor dem Zahlenwesen ist oft erwähnt und kommentiert, selten jedoch erschöpfend gedeutet worden. Dazu bedarf es der Besinnung auf die letzten Elemente seiner Wirklichkeitsschau (Metaphysik). Man weiß, daß er sich noch in den achtziger Jahren um dieses ihm von Jugend auf fernliegende Wissensgebiet mühte; aber vergeblich. Unter seine Algebrastudien des Jahres 1786 zieht er resignierend den Schlußstrich mit den Worten: „Es wird historische Kenntnis bleiben, und ich werde es zu meinem Wesen nicht brauchen können." Dabei ist es geblieben. Von einem befreundeten Mathematiker, Dr. Werneburg, heißt es zweiundzwanzig Jahre später: „Er bringt mir das allerfremdeste, was in mein Haus kommen kann, die Mathematik an meinen Tisch, wobei wir jedoch schon eine Konvention geschlossen haben, daß nur im alleräußersten Falle von Zahlen die Bede sein darf" 1 . Als derselbe Gelehrte ihm 1812 eine neue Notenschrift aus lauter Zahlzeichen vorlegt, schiebt er die unbequeme Gabe eiligst an Zelter ab: „Ich kann darüber 299

nicht urteilen"; . . . niemand kann „zahlenscheuer sein als ich . . ." 2 1826 sendet ihm ein Forscher (Carl Friedrich Naumann) eine „wichtige Schrift" über Kristallographie. Goethe bekennt ihm freimütig, er habe sie bis Seite 45 mit Vergnügen wiederholt gelesen. „Hier aber [d. h. zu Beginn mathematischer Erörterungen] stehe ich an der Grenze, welche Gott und Natur meiner Individualität bezeichnen wollen. Ich bin auf Wort, Sprache und Bild im eigentlichsten Sinne angewiesen und völlig unfähig durch Zeichen und Zahlen mit welchen sich höchstbegabte Geister leicht verständigen, auf irgend eine Weise zu operieren"3. Manche Beurteiler4 haben in Goethes Verhältnis zur Zahlenwelt nur eine Schwäche, einen Begabungsmangel, eine „Endlichkeit" erblickt; andere sprachen kurzerhand von Schrulle und Wunderlichkeit. Man hat auch von einem „frauenhaften" Zug in Goethes Wesen gesprochen, was in einem höheren Sinne wohl erörterungsfähig wäre (vgl. S. 6'1), bedauerlicherweise aber meist auf das triviale Niveau abstellt und sich damit von selbst erledigt. Gewiß handelt es sich um eine triebhaft verwurzelte Abneigung, um ein gefühlsmäßiges Widerstreben, aber „frauenhaft" im banalen Sinn dürfte man dieses nur nennen, wenn es sich auf die privateste Sphäre beschränkte. Das ist nun aber gerade nicht der Fall, wie sich noch herausstellen wird. Jeder Psycholog von Rang weiß heute, daß es Schwächen und Begabungsmängel gibt, die in erster Linie als Kehrseiten anderer hiervorragender Fähigkeiten, zu begreifen sind. Goethe selbst deutet diesen „Gegenlauf" der Dinge an, wenn er ausdrücklich seine Eigensphäre als die des Eidos („Wort, Sprache und Bild") aller abstrakten Semantik („Zeichen und Zahlen") entgegenstellt. Auch verwahrt er sich ausdrücklich gegen die Unterstellung, ein Verächter der Zahlenwelt zu sein: „Ich hörte mich anklagen, als sei ich ein Feind der Mathematik überhaupt, die doch niemand höher schätzen kann als ich, da sie gerade das leistet, was mir zu bewirken völlig versagt worden"5. In diesem Bekenntnis erblickt Simmel6 den Versuch Goethes, angesichts der Lücken seiner Begabung die Ganzheit und Ausgeglichenheit seines Wesens wenigstens ideell herzustellen. Nach landläufiger Ansicht hätte sich Goethes „Künstlernatur" (auch als Naturforscher?) gegen das „trockene" Zahlenwesen gesträubt7. Als ob es nicht Hunderte von Künstlern gegeben hätte, die normale oder sogar überdurchschnittliche Begabung für Mathematik reibungslos mit ihrem Künstlertum vereinigt hätten! Mit vulgärpsychologischen Wendungen ist also hier keineswegs etwas getan. Wenn wir klar sehen wollen, müssen wir Goethes 300

„antimathematische" Motive, soweit sie dokumentarisch vorliegen, näher ins Auge fassen. Wie begründet er seine Abneigung? Über sein Studium von Linnes „Philosophie der Botanik" berichtet Goethe: „Auch im Analysieren gewann ich etwas mehr Fertigkeit, doch ohne bedeutenden Erfolg; T r e n n e n u n d Z ä h l e n l a g n i c h t i n m e i n e r N a t u r " 8 . Im Zahlenreich erblickt er also eine diskrete Mannigfaltigkeit, kein Kontinuum, ein Nebeneinander getrennter, unverbundener Elemente. Ob mit Recht oder Unrecht, bleibe dahingestellt; wichtig ist jedenfalls die Feststellung, daß hier Goethe der ganzheitlich Denkende spricht, dessen Beobachtung am liebsten vom Ganzen zum Einzelnen, von der Gestalt zum Element, von der Peripherie zum Zentrum fortschreitet. In der Zahlenwelt sah er nur ein Zusammensetzspiel, ein rein analytisches Wesen. Letzlich also wohl — so dürfen wir im Sinne seiner Gesamtanschauungen weiter folgern — einen Niederschlag des bloß analytischen, auflösenden, trennenden V e r s t a n d e s , der intellektuellen Scheidekraft. Alle bloße Kombinatorik war ihm verhaßt; daher vielleicht auch seine bekannte Abneigung gegen das Kartenspiel. Andere Aussprüche betonen, die Mathematik sei wie die Dialektik bloße Form ohne Gehalt, ein „Organ des inneren höheren Sinnes", also weltlos, dürfen wir ergänzen. „In der Ausübung ist sie eine Kunst wie die Beredsamkeit. Für beide hat nichts Wert als die Form; der Gehalt ist ihnen gleichgültig. Ob die Mathematik Pfennige oder Guineen berechnet, die Rhetorik Wahres oder Falsches verteidige, ist beiden vollkommen gleich"9. Ganz das gleiche besagt es, wenn er einmal fragt: „Was ist an der Mathematik exakt als die Exaktheit? Und diese, ist sie nicht eine Folge des inneren Wahrheitsgefühls?"10 Hier wiederholt der Vordersatz die Behauptung, die Mathematik sei „nichts als Form". Der Nachsatz gibt die Begründung: da die Weltlosigkeit des Zahlenwesens feststeht, so kann Mathematik nur „Organ des inneren Sinnes" sein. Goethes Auffassung entspricht also ungefähr der modernen „Logistik", der sich die Mathematik ja gleichfalls als reine, von allem Faktischen gelöste Semantik darstellt. „Die Mathematik", sagt Goethe, als Kanzler Müller von Pestalozzis Selbstgeständnissen erzählt, „die Mathematik steht ganz falsch im Rufe, untrügliche Schlüsse zu liefern. Ihre ganze Sicherheit ist nichts weiter als Identität. Zweimal zwei ist nicht vier, sondern es ist eben zweimal zwei, und das nennen wir abkürzend vier. Vier ist aber durchaus nichts Neues. Und so geht es immer fort bei ihren Folgerungen, nur daß man in den höheren Formeln die Identität aus den Augen verliert. — Die 301

Pythagoräer, die Platoniker meinten Wunder, was in den Zahlen alles stecke, die Religion selbst; aber Gott muß ganz anderswo gesucht werden"11. In seinem Eifer, der Mathematik jeglichen Eigengehalt abzusprechen, geht Goethe hier so weit, ihre Erkenntnisse als bloße „Identität" (Tautologie) zu werten. Kantisch gesprochen wären also ihre Sätze nur analytische Urteile; ohne die Möglichkeit von Synthesen a priori. Hier irrt Goethe sicherlich; er sieht nicht die Möglichkeit eines in sich ruhenden Bezirkes reiner Logos-Erkenntnisse. Aber sein Irren wirft ein bezeichnendes Licht auf die Struktur seines elementaren Psychismus. Ein anderer Ausspruch folgt derselben Spur, holt aber noch weiter aus. Es ist der Vorwurf, die Mathematik vermöge „nichts von allem Sittlichen". „Die Mathematik vermag kein Vorurteil wegzuheben, sie kann den Eigensinn nicht lindern, den Parteigeist nicht beschwichtigen, nichts von allem Sittlichen vermag sie"12. Er mutet zunächst ungerecht, unsachlich an, findet jedoch seine Deutung in Goethes Sprachgebrauch, worin sich das Sittliche als eine sehr weitgespannte Provinz seelisch-geistiger Gehalte darstellt: etwa die Wert- und Sinnsphäre; man vergleiche die „sinnlich-sittliche Wirkung" der Farben. Das Unheimlichste an der Mathematik war für Goethe ihre Abgelöstheit von jeglichem Ethos. In allem Erscheinenden sah er ein „Sinnlich-Sittliches" wirksam; nur das Mathematische blieb ohne jeden Bezug darauf; seine Geltungsansprüche richteten sich auf eine Welt autonomer Denkgegenstände. „Was hat denn der Mathematiker für ein Verhältnis zum Gewissen, was doch das höchste, das würdigste Erbteil des Menschen ist, eine inkommensurable, bis ins Feinste wirkende, sich selber spaltende und wieder verbindende Tätigkeit? Und Gewissen ist's vom Höchsten bis ins Geringste. Gewissen ist's, wer das kleinste Gedicht gut und vortrefflich macht"13. Jenseits- des Raumzeitlich-Meßbaren wirken und wesen Eidos und Eros, die weltbauenden Mächte. „Jeder Denkende, der seinen Kalender ansieht,, nach seiner Uhr blickt, wird sich erinnern, wem er diese Wohltaten schuldig ist. Wenn man sie [die Mathematiker] aber auch auf ehrfurchtsvolle Weise in Zeit und Raum gewähren läßt, so werden sie erkennen, daß wir etwas gewahr werden, was weit darüber hinausgeht, welches allem angehört, und ohne welches sie selbst weder tun noch wirken könnten: I d e e u n d L i e b e " 1 4 . Auf derselben Linie liegt es, wenn Goethe im Brief vom 28. Februar 1811 an Zelter das Wort Voltaires erwähnt: „J'ai toujours remarqué que la géometrie laisse l'esprit oü elle le trouve". 302

In dieser Auffassung der Mathematik als einer weltlosen Leerform, reinen Semantik und Selbstdarstellung des „inneren Sinnes" liegt ohne Frage eine nicht zu beschönigende Schwäche. Hier übersieht Goethe, daß die Mathematik ja auch (als Geometrie, Stereometrie) eine a n s c h a u l i c h e Seite hat; er läßt ferner das Riesengebiet der „naturimmanenten" Mathematik (z. B. Kristallformen, Bienenwaben, Planetenbahnen usw.) und den von der elementaren Ästhetik doch keinesfalls zu übergehenden Fragenkomplex „Ton und Zahl" völlig außer Betracht; überhaupt alle „harmonikalen" Probleme, die von Pythagoras bis auf Kepler aufgeworfen wurden. Mit anderen Worten: es gibt sehr wohl eine k o s m i s c h e M a t h e m a t i k ; ihre Berechtigung muß auch der zugeben, der von der Grundvoraussetzung von Goethes Wissenschaftslehre ausgehend am Anschaulichen, Bildhaften haftet und sich jede „Transposition" der qualitativen Weltseite ins Metrische, jede Quantifizierung (darüber später) verbietet. Ahnt Goethe wenigstens das Geheimnis der Weltmathematik, der música mundana, wenn er von der Gottähnlichkeit eines „durchdringenden Mathematikers vor dem Sternenhimmel" spricht? Wir dürfen es bezweifeln, denn der Ausspruch im ganzen betrachtet, besonders aber der Vergleich des Mathematikers mit dem Advokaten, zielt doch in erster Linie wieder auf die „leere Form". „Hier aber kommt es nun auf die Natur des Menschen an, der ein solches Geschäft betreibt, eine solche Kunst ausübt. Ein durchgreifender Advokat in einer gerechten Sache, ein durchdringender Mathematiker vor dem Sternenhimmel erscheinen beide gleich gottähnlich"15. Nur in einem der Sprüche räumt er wenigstens der anorganischen Natur mathematische Tendenzen ein; als Unterbau und Vorstufe des Lebendigen, so meint er wohl, seien Maß und Zahl weltbauend am Werke. „Wäre die Natur in ihren leblosen Anfängen nicht so gründlich stereometrisch, wie wollte sie zuletzt zum unberechenbaren und unermeßlichen Leben gelangen?" 16 Wenn Goethe erklärt, er habe „von jeher alle Zahlensymbolik, von der Pythagoräischen an bis auf die letzten MathematicoMystiker, als etwas Gestaltloses und Untröstliches gemieden und geflohen"17, so trifft sein Vorwurf (der Gestaltlosigkeit) im Grunde doch nur die rein spekulativen Wucherungen und Überspitzungen dieser altehrwürdigen Uberlieferung. Wer wollte leugnen, daß es so etwas wie elementare oder Natur-Symbolik der Zahlen gibt?18 Pythagoras (und seine Schule) ist freilich schon wesentlich Metriker., er bewundert nicht so sehr die Empfindbarkeit des Meßbaren als die Meßbarkeit des Empfindbaren. Vor der Maßzahl gab eis jedoch die bildhafte, die Symbolzahl, wie sie sich in Tausenden von 303

Bildern, Mythen, Tonsystemen und symbolhaltigen Artefakten der Vorzeit und Primitivenwelt, ja noch der alten Hochkulturen bis zur Antike erhalten hat. Diese elementare, bildhaft geschaute Zahl haben uns freilich erst Bachofens Forschungen wieder erschlossen. Seine Erkundungen etwa über die tellurische Elementarbedeutung der Zweizahl und Vierzahl, über den höheren Tellurismus der Fünf, den uranischen Sinn der Heptas usw. haben sich mittlerweile als g l o b a l gültige Zuordnungen bewährt. Einiges aus dieser Sphäre mochte wohl hie und da Goethes Weg gekreuzt haben; aber er mied dieses „untröstliche" Gebiet. Das Hexeneinmaleins im Faust I verspottet nicht nur dasi Drei und Eins des Trinitätsdogmas, sondern birgt wohl eine Satire auf alle Zahlen-Mystik. Was ihn jedoch nicht hinderte, der V i e r z a h l (der alten tellurischen Weltzahl19, wie wir hörten) als Dichter wie seltsamerweise auch bei Herausgabe seiner Werke insgeheim zu huldigen20. Abermals ein nicht zu überhörender Hinweis auf die Bedeutsamkeit elementarer Weltgefühle, die sich dem Symbolempfänglichen gleichsam bewußtlos aufdrängen. Übrigens war Goethe schon in Straßburg an der Mystik der Zahlen nicht teilnahmslos vorübergegangen21. Doch kehren wir zu seinen Einwänden gegen die Mathematik zurück! Schweres Geschütz fährt er auf, wenn er starres Zahlenwesen und fließende Lebensfülle konfrontiert. „Die Zahlen sind wie unsere armen Worte nur Versuche die Erscheinungen zu fassen und auszudrücken, ewig unerreichende Annäherungen" 22 . Er spielt die. Meßbarkeit, den Maßgeist, gegen die Inkommensurabilität des Lebendigen aus: „Mathematische Tendenz der Franzosen, überall Gleichungen zu suchen und zu verlangen (auch im Verstandlichen, den Übersetzungen aus einer Sprache in die andere); da ja das Leben in dem Bruche bestehet, der überall der Gleichung sich entzieht"23. Auch in anderen Aussprüchen über französische Art kehrt er den Rechengeist hervor, die rationale Lebenshaltung, ihren „unseligen Respekt vor dem Kalkül" 24 . Nur tote Raumgerüste baut die Mathematik; das Geheimnis des Werdens, der Zeitlichkeit, die Essenz des Lebens also und der Geschichte bleibt völlig außerhalb ihres Geltungsbereichs. Sie ist ein höchst einstrahliges, ein gleichsam abgeblendetes Licht der Erkenntnis. Ihre Brauchbarkeit zur Erhellung des Kosmos kann nur eine begrenzte, auf bestimmte Sinnschichten eingeschränkte sein. „Völlig starr und leblos" nennt er die mathematischen Formeln, wenn man sie außer ihrer Sphäre, d. h. dem Räumlichen, anwende. Es sei ein Wahn, den die Mathematiker unterhalten, daß in der Mathematik allein das Heil zu 304

finden sei. Nur als „Organ" läßt sie Goethe gelten. Als solches aber ist sie, „wie jedes Organ, unzulänglich gegen das All. Denn jedes Organ ist spezifisch und für das Spezifische"25. In einer anderen Variation über dieses Lieblingsthema steht die Meßbarkeit der akustischen Phänomene im Sinne der Physik gegen die unmittelbare, durch nichts zu widerlegende Evidenz des „Hörbildes". Allgemeiner: mechanische Naturbetrachtung gegen Bildwirklichkeit: die eigentlich m e n s c h l i c h e , durch nichts zu verdrängende, durch nichts zu ersetzende Wirklichkeit! (In dem Falle: Moll als evidentes Klangphänomen gegenüber der angeblich bevorzugten „Naturgegebenheit" des Dur in der Obertonreihe.) „Es ist vieles wahr, was sich nicht berechnen läßt, so wie sehr vieles, was sich nicht bis zum entschiedenen Experiment bringen läßt. Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja, man kann sagen, was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modifizieren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu können?"26 Noch ein Jahr vor seinem Tode nimmt der Greis das alte Streitgespräch mit Zelter über die Naturgegebenheit der Mollterz wieder auf, die von den „theoretischen Musikhansen" geleugnet wird. Nicht Saitenteilungen, Zahlenverhältnisse dürfen entscheiden, sondern einzig das Ohr. Nicht die Mechanik, sondern der Mensch. „Wahrhaftig eine Darmund Drahtsaite steht nicht so hoch, daß ihr die Natur allein ausschließlich ihre Harmonien anvertrauen sollte. Da ist der Mensch mehr wert, und dem Menschen hat die Natur die kleine Terz verliehen, um das Unnennbare, Sehnsüchtige mit dem innigsten Behagen ausdrücken zu können; der Mensch gehört mit zur Natur, und er ist es, der die zartesten Bezüge der sämtlichen elementaren Erscheinungen in sich aufzunehmen, zu regeln und zu modifizieren weiß. — Brauchen doch Chemiker schon den tierischen Organismus als eine Reagenz, und wir wollen uns an mechanisch bestimmbare Tonverhältnisse klammern, dagegen die edelste Gabe aus der Natur hinaus in die Region einer willkürlichen Künstelei hinüberschieben"27. In manchen Augenblicken spitzt sich der stets gefühlte Gegensatz zu äußerster Schärfe zu. Die Mathematik erscheint dann geradezu als lebensfeindlich, nur dem Toten zugewandt. Wahrscheinlich zielt auf sie die allgemeiner ausgesprochene Klage über „das Tote und Tötende" in den Wissenschaften28. Sie repräsentiert das „Unleben", die Gefahr der Entvitalisierung. Sie operiert „am Leichnam". „Mit 305

Philologen und Mathematikern ist kein heiteres Verhältnis zu gewinnen; das Handwerk der ersten ist zu e m e n d i e r e n , der andern zu b e s t i m m e n ; da nun am Leben so viele Mängel (mendae) sich finden und ein jeder Einzelne Tag nach Tag genug an sich selbst zu bestimmen [hat], so kommt in den Umgang mit ihnen ein gewisses Unleben, welches aller Mitteilung den Tod bringt" 29 . „ . . . und ich ließ mich nicht irren, daß die ganze physische Gilde in hergebrachten hohlen Chiffern zu sprechen gewohnt ist, deren Abracadabra ihnen die Geister der lebendigen Natur, die überall zu ihnen spricht, möglichst vom trocknen dogmatischen Leichnam abhält" 30 . Es ist wahr, in diesen Bannsprüchen gegen „die Gilde" klingt persönliche Gereiztheit mit; aber hinter allen Ressentiments ist doch der Tenor eines objektiv zu würdigenden Geltungsanspruches nicht zu überhören. In diesen und den nachstehenden Aussprüchen Goethes geht es nicht mehr um reine, sondern um a n g e w a n d t e Mathematik, um die mathematische Methode also in den Naturwissenschaften, namentlich der Physik. Nach landläufiger Ansicht hätte sich Goethe hier in einen aussichtslosen Kampf mit einem schlechthin übermächtigen Gegner eingelassen. Sind die ungeheuerlichen Erfolge dieser mathematischen Physik in den letzten Jahrhunderten nicht sichtbarste, unwiderleglichste Beweise für die Richtigkeit ihrer Methode? Hat nicht die Technik als legitime Erbin und Nutznießerin dieser Physik die herrlichsten Früchte solcher Naturerkenntnis vorzuweisen: die immer gesteigerte Herrschaft des Menschen über die „Naturkräfte"? Die Zweischneidigkeit des pragmatischen Arguments, vor Jahrzehnten noch ein esoterischer Satz, heute aufdämmernde Erkenntnis vielleicht schon für Millionen von Menschen, bedarf hier keiner Unterstreichung. Daß die metrische Physik (auf gewisse Bezirke des Seins!) anwendbar ist, daß sie praktische Erfolge zeitigte, beweist ja noch keineswegs ihre universelle Brauchbarkeit als reines Erkenntnisorgan! Daß man die reiche Welt der sinnlichen Erscheinungen zum Teil (aber auch n u r zum Teil!) auf Maß- und Zahlenverhältnisse (Raum-Zeit-Größen) „reduzieren" kann, erscheint nach den machtvollen Ergebnissen dieser Physik unbestreitbar. Nur sollte man nicht außer acht lassen, daß dieses „Reduzieren" ein Umsetzen, Übersetzen, Umdeuten in des Wortes eigenster Bedeutung darstellt, nämlich E n t q u a l i f i z i e r u n g . Die ursprünglich menschliche (und also „eigentliche") Welt der Sinnesqualitäten, die Töne, Farben, Helligkeiten, Gerüche, Geschmäcke, Wärme und Kälte, das Anschaulich-Fühlbare der Tastsinnlichkeit und Tausende von 306

anderen, feineren Gestaltqualitäten (man denke nur an „Klangfarben"): diese ganze unsäglich reiche Welt von ursprünglichem B i l d g e h a l t verschwindet ja bei den Übersetzungskünsten der metrischen Physik. Sie wird der bloßen Meßbarkeit geopfert. Diese Physik s c h a u t nicht den Kosmos, sondern ergreift und haptiñziert einen kleinen Weltausschnitt: das Mechanische (im weitesten Sinne). Und wer bürgt dafür, daß sie bei ihrer Umsetzung nicht auch mancherlei im eigentlichen Wesen Nichtmechanisches künstlich und willkürlich erst für ihre Zwecke mechanisiert? Nicht erst an Newtons Optik, schon bei Roger Bacon (1216—94) bemerkt Goethe die Nichtanerkennung dessen, was „eigentümlich fundamental und elementar gewiß ist"; er beachte bloß die Seite der Erscheinungen, die sie gegen die Mathematik bieten31. Aus solcher Sicht sind die nachstehenden Aussprüche zu würdigen. „Mathematischen Formeln verbleibt immer etwas Steifes und Ungelenkes, m e c h a n i s c h e F o r m e l n sprechen mehr zu dem gemeinen Sinn, aber sie sind auch gemein und behalten immer etwas Rohes, sie verwandeln das Lebendige in ein Totes, sie töten das innere Leben, um von außen ein Unzulängliches heranzubringen"32. Als modus cognoscendi läßt Goethe die Mechanistik zu, als metaphysische Theorie verwirft er sie. In seinem 1826 geschriebenen Aufsatz „Über Mathematik und deren Mißbrauch" greift er auf einen Brief des Astronomen Ciccoloni zurück. Der italienische Gelehrte hatte den Mathematikern vorgeworfen, sie machten manches k o m p l i z i e r t e r , als es in Wirklichkeit sei. Goethes Zustimmung zielt augenscheinlich auf die Möglichkeit und Gefahr künstlicher Quantifizierung, die Tilgung des Quäle durch „Übersetzung" ins Meßbare. Die Mathematiker nennt er daher „eine Art Franzosen", weil sie alles in ihre Sprache übersetzen, „und dann ist es alsobald ganz etwas anderes"33. Wenn Newton seine Optik der Zahl unterwirft, so ist es nicht besser, „als wenn man die Erscheinungen in Musik setzen oder in Verse bringen wollte, weil man Kapellmeister oder Dichter ist"34. „Falsche Vorstellung, daß man ein Phänomen durch Kalkül oder durch Worte abtun und beseitigen könne"35. Eine andere nachgelassene Maxime (1280) scheut nicht den grotesken Vergleich der Mathematiker mit den Köchen, die sich in die Jagd einmischen, „da sie doch immer zufrieden sein könnten, wenn man ihnen in die Küche bringt, das sie mit Formeln spicken und nach Belieben zurichten können"36. Quantität und Qualität gelten als die zwei Pole des erscheinenden Daseins. Der Mathematiker ist angewiesen aufs Quantitative, auf alles, was sich durch Zahl und Maß bestimmen läßt. Hybris ist es, wenn er seine 307

Formelsprache so hoch steigert, um womöglich in der meß- und zählbaren Welt die unmeßbare mitzubegreifen. In immer erneuten Variationen behandelt der Greis das Thema: Mißbrauch der Mathematik. „Als ob alles nur dann existierte, wenn es sich mathematisch beweisen läßt!" 37 Dort das „Hexengewirr der Formeln", die „Labyrinthe", hier das reine Anschauen, der Ariadnefaden der liebenswürdigen Natur38. In sich selbst, d. h. als reine, anwendungsfreie Disziplin kann die Mathematik „rein und sicher" behandelt werden: auf dem E r f a h r u n g s b o d e n hingegen „periklitiert" sie bei jedem Schritte und kann daher ebensogut wie jede andere ausgeübte Maxime zum Irrtum verleiten. Obwohl die Mathematiker „ungeheure Vorteile haben, der Natur zu Leibe gehen", sind sie auch oft in dem Falle, „das Interessanteste zu tuschen"39. Dieser Vorwurf zielt ohne Frage auf die angewandte Mathematik, die Maß-Physik. Diese „vertuscht das Interessanteste", nämlich die Bildhaftigkeit, das Elementar-Sinnliche erlebten Weltgehaltes; sie verschlingt den qualitativen Kosmos wie ein unersättliches Ungeheuer, und Goethe ist es, der „nun [1827] seit bald vierzig Jahren" zusieht, „wie sich der mathematisch-physikalische Leviathan mit dem Harpun benimmt, den ich ihm in die Rippen geworfen habe" 40 . Der Maß-Physik setzt Goethe die Forderung einer Gestalt- und Qualitäts-Physik entgegen, eine Physik ohne Mathematik, von Physis, Natur (des Menschen) abgeleitet. „Daß eine solche Physik unabhängig von der Mathematik existiere, davon scheint man keinen Begriff mehr zu haben", bemerkt er in der „Konfession des Verfassers" (Farbenlehre). „Die uralte Wahrheit, daß der Mathematiker, sobald er in das Feld der Erfahrung tritt, so gut wie jeder andere dem Irrtum unterworfen sei, wollte niemand in diesem Falle anerkennen." Durch die Trennung beider Disziplinen, die „mit Ernst" geschehen sollte, hoffte Goethe „eine reinere beiden Teilen vorteilhaftere Verbindung und Wechselwirkung zu gewinnen"41. Zwei nachgelassene Maximen (1881/82) fordern geradezu, man solle die mathematisch-philosophischen Theorien aus den Teilen der Physik verbannen, in welchen sie Erkenntnis . . . nur verhindern. Das sei die „große Aufgabe" künftiger Wissenschaft. Diese neue und doch eigentlich uralte Physik sollte sich bewußt an das Wirkungsfeld des Menschen halten: „das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will" 42 . In Goethes Sicht war diese erhoffte Bild-Physik letzthin Ausschnitt einer Lehre vom A l l 308

L e b e n , Teil einer postulierten Meta-Biologie. Eine unabhängige Physik, wie sie ihm vorschwebt, hätte die Aufgabe, „mit allen liebenden, verehrenden, frommen Kräften in die Natur und in das heilige Leben derselben einzudringen, ganz unbekümmert, was die Mathematik von ihrer Seite leistet und tut" 43 . Für den neuzeitlichen Physiker „ i s t " das Licht Wellenbewegung im Äther (für Newton noch Korpuskularstrahlung, nach neuesten Theorien das eine wie das andere); der Schall „ist" Luftschwingung, allgemeiner: Materie-Schwingung. Gerade diese Grundvoraussetzung bestreitet Goethe (und mit ihm jeder wahrhafte Phänomenologe). Licht ist ein Q u ä l e ebenso wie Farbe und Ton. Was die Physik untersucht, sind nur zugeordnete V o r g ä n g e in der qualitätslosen Raum-Zeit-Welt. Die Physik behauptet weiter —: die an sich qualitätslosen „Wellen" seien „Ursache" des empfundenen Lichts, des vernommenen Schalles. Der Erscheinungsforscher entgegnet: Zuordnung besagt nichts über Ursächlichkeit. Der Physiker: Aber die Lichtempfindung, der empfundene Ton sind doch nur Schein, nur Reizauslösung. In Wahrheit... Der Phänomenologe: Nicht Schein, sondern Erscheinung des Wesens. Was ihr Physiker „Wirklichkeit" nennt, ist in Wahrheit nur ein Übersetzungskunststück. „Die Mathematiker sind wunderliche Leute; durch das Große, was sie leisteten, haben sie sich zur Universal-Gilde aufgeworfen und wollen nichts anerkennen, als was in ihren Kreis paßt, was ihr Organ behandeln kann. Einer der ersten Mathematiker sagte bei Gelegenheit, da man ihm ein physisches Kapitel andringlich empfehlen wollte: .Aber läßt sich denn gar nichts auf den Kalkül reduzieren?' ,an Charlotte v. Stein, Venedig, 8. Oktober 1786, Tagebuchbrief). Schon damals zeigt sich eine gewisse Paganisierung der „katholischen Mythologie". Unbefangen stellt Goethe auch später noch den antiken Mythos von Zeus und Danae neben die unbefleckte Empfängnis Mariä, die von Zeus geliebte schöne J o von Argos, bei der „schon im höchsten Altertum Jungfräulichkeit und Mutterschaft verbunden denkbar" gewesen, neben die christliche Gottesmutter 22 . Der Aufsatz „Myrons Kuh" glorifiziert die Mutterschaft als ein universelles Naturheiligtum. Seit der Rückkehr aus Italien hat Goethe nach den Erkundungen von Hertz bis zum Jahre 1807 das Madonnenmotiv dichterisch unverwertet gelassen. Erst nach Vollendung des Ersten Faust im Frühjahr 1806 war das für den Schluß der Gesamtdichtung aufgesparte Motiv der Himmelsmutter wieder frei geworden. Nun erscheint es in reicher Fülle: Flucht nach Ägypten, Sankt Joseph der Zweite, Die Heimsuchung, Lilienstengel, Einer hohen Reisenden, Weihnachtsszene der „Wahlverwandtschaften". Die katholizierenden Bestrebungen der Romantik trüben in den Jahren 1808—1813 auch Goethes Madonnen-Verehrung; erst in der rheinischen Heimat stellt sich die alte Unbefangenheit des Gefühls wieder her; vgl. insbes. das Divan-Gedicht „Auserwählte Frauen" von Ende Juli 1814. Seltsamerweise leugnet Hertz jedes „Mitschwingen religiöser Gefühle" in Goethes römischem Faustplan. Die Madonna, so sagt er, sei ihm gleich den Göttern Griechenlands eine „mytholog ; sche Figur", eine Bewohnerin des „christlichen Olymps" gewesen 23 ; nicht die Himmelskönig:n, sondern „zu göttlicher Haltung emporgestaltetes Menschentum". Jeder Gedanke an eine römische Urempfängnis der r e l i g i ö s e n Auffassung des Madonnenmotivs sei als widerklassisch aufs entschiedenste abzulehnen. Die römische Madonnen534

figur sei „heidnischen" Ursprungs. Offenbar setzt aber Hertz das Heidnische mit dem Areligiösen, rein Ästhetischen, gleich. Erst in der Fassung letzter Hand habe sich das rein ästhetische Motiv von 1788 mit religiösem Gehalt erfüllt. Aus den Daten der Entstehungsgeschichte des Faust gehe hervor, daß diese religiöse Lösung „erst spät und unerwartet emporquoll aus der seelischen Erschütterung des Achtzigjährigen in eigener Todesnot unmittelbar nach dem trüben Ende des Sohnes"24. Diese Auffassung Hertzens ist so unorganisch wie nur möglich. Sie beruht auf der stillschweigenden Gleichsetzung von „religiös" und „christlich" einerseits, „heidnisch" und „areligiös" andererseits; außerdem auf der unbefriedigenden Vorstellung einer „strengen" Klassik, die alles Überweltliche, Metaphysische hermetisch von der Diesseitswelt ab- und ausschließt25. Für den Klarblickenden steht es außer Frage, daß schon der römische Goethe die religiöse — freilich urreligiöse, nicht christliche — Sphäre um die Madonna mitschwingend fühlte; ja, man darf geradezu postulieren, daß dieser religiöse Bedeutungshintergrund der Madonnenfigur erst ihre tiefere Sinnfülle verlieh. Hatte er nicht schon im Tagebuchbrief vom 8. Oktober 1786 aus Venedig, der das Danae-Motiv der christlichen Madonnenmalerei vorzieht, doch zugleich betont, daß die Muttergottes „recht zu einem religiösen Gegenstande gemacht ist"?26 Es ist ein Ungedanke, sich mit Hertz27 vorzustellen, der römische Goethe habe zunächst nur die Paradoxie der „keuschen Unkeuschheit" als poetischen Reiz des Madonnenmotivs empfunden. Fast noch ungereimter, ja geradezu peinlich aber ist die andere Annahme: die endliche Füllung des Faustschlusses mit religiösem Gehalt verdankten wir der Zufälligkeit eines rein biographischen, menschlich-allzumenschlichen Anlasses. Schon der Italienfahrer, ja schon der frühe Weimarer Goethe fühlt, wenn er von der Madonna spricht, das Mitschwingen uralter Sakralsphäre: des M u t t e r g e d a n k e n s in seiner kosmischen Sinnfülle. Man bedenke: dieser römische Goethe liebt und verehrt die Juno Ludovisi wie einen Gesang Homers. An Tizians himmelfahrender Madonna (zu Verona) gefällt ihm, daß der Maler die Gottesmutter „nicht hinaufwärts, sondern nach ihren Freunden niederwärts blicken läßt"28. Einige Wochen später, bald nach der Ankunft in Rom, bewundert er an einem anderen Werke Tizians denselben Zug: „in höchster Glorie eine herabwärts teilnehmende Mutter"29. Offenbar, so folgert Hertz30, war im Madonnenbild des römischen Faustplans vorherrschend „dieser mütterliche Zug des Mitgefühls mit den in Erdennot Zurückbleibenden". Zehn Jahre zu36

Danckert,

Goethe.

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vor schon, Herbst 1776, hatte der Dichter die zürnende Freundin, die sich ihm durch einen achtwöchigen Aufenthalt auf Kochberg mit Besuchsverbot entzog, unter demselben Bilde erblickt: „Sie kommen mir eine Zeit her vor wie Madonna, die gen Himmel fährt; vergebens daß ein Rückbleibender seine Arme nach ihr ausstreckt, vergebens daß sein scheidender tränenvoller Blick den ihrigen noch einmal niederwünscht, sie ist nur in den Glanz versunken der sie umgibt, nur voll Sehnsucht nach der Krone, die ihr überm Haupt schwebt"31. Hatte Hertz den Plan der Erlösung Fausts und die damit verbundene Konzeption des Madonnenmotivs bis 1788 zurückdatiert, so geht Burdach bis 1781 zurück. Der eine nahm das Madonnenmotiv zum Ausgangspunkt, der andere die Vorstellung des Gerichts über Faust, das Motiv der Seligen Knaben und die Verknüpfung mit der Moseslegende. Noch weiter zurück verfolgt Ernst Beutler32 die Urkonzeption der Schlußszene, und zwar auf Grund der Verbindung zwischen der Kerkerszene mit dem „Werther" und der Idee des „Ewig-Weiblichen". Gretchens Hochzeits-Vision in der Kerkerszene endet mit den Worten: „Wir sehen uns wieder!" Es ist das Leitmotiv eines künftigen Wiedersehens im Jenseits, das bezeichnenderweise in dem etwa gleichzeitig entstandenen „Werther" sich wiederfindet (Brief vom 10. September). In der Fassung von 1808 lauten die Worte Gretchens: Wir werden uns wiedersehn — Aber nicht beim Tanz . . . Im Gegensatz zu Gustav Roethes Hypothese vom tragischen Ausgang der Urfaustkonzeption nimmt Beutler an, Goethe hätte schon am Ende seiner Frankfurter Zeit den Schluß des Ganzen (umrißweise) so geplant, wie er ihn später ausführte: mit der Frau als Medium der Hilfe von oben, mit der Erlösung durch das „EwigWeibliche". Dieser Faustschluß sei „die Konzeption gerade des jugendlichen, lebens- und liebesgläubigen Dichters"; diese früheste Möglichkeit eines versöhnlichen Schlusses hätte nach Beutler33 sich durchgesetzt gegenüber anderen, späteren Erwägungen, von denen die Paralipomena Kunde geben. Daher auch der Altersausspruch: daß die Konzeption des Faust bei ihm jugendlich von vorne herein klar, die ganze Reihenfolge hin weniger ausführlich vorgelegen habe34. (Doch ist die Bedeutimg des „von vorne herein" philologisch umstritten.) Was Beutler vorträgt, ist gewiß eine erörterungsfähige Hypothese, die freilich Vermutung bleiben wird, weil sie sich in der Hauptsache 536

doch auf bloße Möglichkeiten gründet. Wir dürfen die Frage nach dem Zeitpunkt der Urkonzeption des versöhnlichen Faust-Schlusses auf sich beruhen lassen. Dringlicher und lohnender ist ein anderes Anliegen: nachzuspüren, wie es um die Idee des Ewig-Weiblichen in Goethes Gesamtschaffen steht. Ein genaues Gegenstück zum Faustschluß ist Ottiliens Heiligung im Ausgang der „Wahlverwandtschaften". Auch der Roman endet in der Verklärung des Ewig-Weiblichen. Das „nazarenische" Zeitkolorit (Heiligsprechung, gotische Kapelle, ewige Lampe, gemalte Engelsgestalten) entlehnt wohl dem präraffaelitischen Neukatholizismus die Requisiten; der Grundgehalt bleibt Goethes Metaphysik der ewigen Liebesmacht in Frauengestalt 35 . „Wie er in Gedanken an die Heilige eingeschlafen war, so konnte man ihn wohl selig nennen . . . So ruhn die Liebenden nebeneinander . . . verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Anblick wird es sein, wenn sie dereinst zusammen erwachen." Auch die Epiphanie des verjüngten Epimetheus zusammen mit der Pandora, wie sie Goethe im Schema vom 18. Mai 1808 entworfen hatte, war offenbar als himmlische Verklärung durch die „hinanziehende" Macht des Ewig-Weiblichen geplant 36 . Kein Zweifel: Goethe konzipiert das Ideelle, das Heilige, unter der Form des Weiblichen37. Eros und Frömmigkeit durchdringen einander. „Die gefühlsgewaltigsten und innerlichsten Gedichte Goethes sind zugleich erotisch und religiös. Die Gretchenlieder im Faust I wie die Schlußstrophen im Faust II; die .von Frau v. Stein inspirierten Dichtungen, Iphigenie, Die Geheimnisse und besonders die Verse ,Der du von dem Himmel bist' . . ., später die Suleikalieder des Divan und endlich als Krönung die Marienbader Elegie" (Erich Franz) 38 . Die eigentümliche V e r k n ü p f u n g d e s E r o t i s c h e n m i t d e m R e l i g i ö s e n : das ist allerdings ein Problemkreis von höchster Bedeutsamkeit in Goethes Weltschau. Dem Frieden Gottes, welcher euch hienieden Mehr als Vernunft beseliget — wir lesens — Vergleich ich wohl der Liebe heitern Frieden In Gegenwart des allgeliebten Wesens; Da ruht das Herz, und nichts vermag zu stören Den tiefsten Sinn, den Sinn: ihr zu gehören. In unsers Busens Reine wogt ein Streben, Sich einem Höhern, Reinem, Unbekannten Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, Enträtselnd sich den ewig Ungenannten; Wir heißens: fromm sein! — Solcher seligen Höhe Fühl ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe. (Marienbader Elegie, 1823.) 36*

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Schon früh kündet sich diese Verklärung der Geliebten in vordeutenden Spuren an. Gretchen, die Frankfurter Jugendgeliebte, erscheint dem Knaben wie „ein himmlisches freudebringendes Wesen". Lotte verklärt sich zum Madonnenbild: Und sollst mir, meine Liebe, sein Alldeutend Ideal, Madonna sein, ein Erstlingskind, Ein heiliges, an der Brust . . . (Künstlers Morgenlied, wahrscheinlich 1773.)

So die Wolkenvision Lilis: Im holden Tal, auf schneebedeckten Höhen War stets dein Bild mir nah: Ich sah's um mich in lichten Wolken wehen, Im Herzen war mir's da. (In einem Lili gewidmeten Exemplar der „Stella", Februar 1776.)

Als Retterin aus tiefster Not, als geliebte Schwester, Schwester Engel verehrt der Sturm-und-Drang-Dichter Auguste v. Stolberg (Briefe vom 25. Juli, 3. August, 14. und 19. September 1775). Sie ist Vorform Charlottens, die er bald erblicken wird: „. . . wie Madonna, die gen Himmel fährt . . ." (An Charlotte v. Stein, 7. Oktober 1776.)3» „. . . immerfort wie in Wolken . . ." (Briefgedieht „Den einzigen, Lotte"; an Charlotte v. Stein, 9. Oktober 1781.)40

So wird noch der greise Dichter die jugendliche Ulrike „englisch" verklären: Sie tritt ans Himmelstor, Zu ihren Armen hebt sie dich empor. (Marienbader Elegie, 1823.)

Ganz ähnlich steht es in Goethes epischer und dramatischer Dichtung um all jene Frauen, in denen kosmisch-religiöser Gehalt aufleuchtet. So Klärchen im „opernhaften" Schluß des EJgmont (1787 vollendet): „in himmlischem Gewiande, von einer Klarheit umflossen, auf einer Wolke". „Du Heilige!" heißt es in Orests großer Schlußrede an Iphigenie. Im „Wilhelm Meister" (Urmeister, Buch 6, Kap. 14) erscheint Natalie als Heilige mit dem Strahlenkranze in der Mandorla; die Ottilie der „Wahlverwandtschaften" wird zur Heiligen. In den „Wanderjähren" (I, 10) tritt uns Makarie als himmlische Vision entgegen: „. . . . ihre Kleider schienen priesterlich, ihr 538

Anblick leuchtete sanft; . . . Wolken entwickelten sich um ihre Füße, steigend hoben sie flügelartig die heilige Gestalt empor." Abermals im 15. Kapitel des 3. Buchs: „Ja, sie will bemerkt haben, daß eine Art von Wolken sie von Zeit zu Zeit umschwebten." Wolkenvisionen sind Helena und Gretchen zu Beginn des vierten Faustaktes (II), und abermals Gretchen im Schlußbild zu Füßen der Mater gloriosa „schwebend in der höheren Atmosphäre". Pandora und die Muse der „Zueignung" zeigen die gleichen himmlisch verklärten Züge. „Und dieses Überzeitliche und damit auch Überirdische in der Vorstellung einer verehrten Frauengestalt drückt sich bei Goethe so aus, daß er die Geliebte in einer Wolkenvision sieht wie eine Himmlische . . . Das Atmosphärische ist hier wirklich nicht das Primäre, sondern die fast sakrale Erhöhung, die der Geliebten zuteil wird, wie von ihr Kräfte ausgehen, die als religiös empfunden, werden" (Ernst Beutler)41. Anfange eines Briefes an Lili lauten: „Herzlich bin — Lieber Engel, bist du mein? — Ach warum bin ich nicht immer sogleich bey — lieber Engel — Ach wie möcht' ich zu deinen Wolken steil — Wo sie streben und durcheinander gleiten, Wo sie drängen und durcheinander wandern"42. Dazu bemerkt Beutler43: „Hier ist die Geliebte nicht nur .Engel' genannt, hier ist sie wirklich: Engel, oben in schwebenden, gleitenden Wolken, Engel im Himmel. Wir sind an der Stelle, wo sich die Worte der Umgangsrede zur Dichtung wandeln." Das schon 1773 in Frankfurt begonnene Dramolett „Des Künstlers Erdenwallen" erhält 1788 seinen (bereits 1774 begonnenen) Abschluß „Künstlers Apotheose": hier erscheint die Muse auf einer Wolke dem Künstler, der bei ihr im Himmel weilt. (Eine Parallele zum Schluß des „Egmont", der ein halbes Jahr zuvor, im Spätsommer 1787, vollendet worden war.) Im „Werther" vollzieht sich die Verklärung der Frau (Lottens) allerdings ohne „himmlische" Attribute. An Stelle „des im Rokoko üblichen natürlich- oder schlüpfrig-erotischen Mann-Weib-Verhältnisses" tritt „eine sublimierte erotisch-kultische Beziehung". Das Unglück der Liebe ist für Werther eine Zerstörung seines Lebensgefühls und seiner Religion44. „O, wenn da diese herrliche Natur so starr vor mir steht wie ein lackiertes Bildchen, und alle die Wonne keinen Tropfen Seeligkeit aus meinem Herzen herauf in das Gehirn pumpen kann, und der ganze Kerl vor Gottes Angesicht steht wie ein versiegter Brunn, wie ein verlechter Eimer! Ich habe mich oft auf den Boden geworfen und Gott um Tränen gebeten, wie ein Ackermann um Regen, wenn der Himmel ehern über ihm ist und um ihn die Erde verdürstet . . ." (Werther, 3. November). Für Werther bedeutet Lotte ein Zwiefaches: einmal ist sie diejenige, die 539

ihm das Gift bereitet und reicht, das ihn zugrunde richten wird. Zum anderen erscheint sie als „die Heilige", die Führerin. auf dem Wege zur Reinheit, zur Erlösung45. Wenn die Erinnerungsspuren, die ihm Lottens Liebe vergegenwärtigen, für Werther verblassen, so klagt er, daß sie dahinschwinden „wie das Gefühl der Gnade seines Gottes allmählich wieder aus der Seele des Gläubigen weicht, die ihm mit ganzer Himmelsfülle im heiligen sichtbaren Zeichen gereicht ward". Als Goethe den „Werther" schrieb, kleidete er seine Verehrung für Lotte Kestner in die Form einer sakramentalen Anspielung. In einem Brief an Lotte heißt es: „. . . du bist diese ganze Zeit, vielleicht mehr als jemals, in, cum et sub (laß dir das von deinem gnädigen Herrn erklären) mit mir gewesen." Die lateinische Formel entstammt der Lutherischen Definition des Sakraments. Dazu bemerkt Grete Schaeder46: „An dem tiefen Ernst, der hinter einer solchen Wendung steht, ist nicht zu zweifeln, obgleich der eingeschaltete Satz ein leise ironisches Moment einmischt . . ." Noch deutlicher wird die Mischung aus erotischem Mystizismus und Selbst-Ironisierung in einem Brief an Kestner deutlich: „Auf den Karfreitag wollt ich heilig Grab machen und Lottens Silhouette begraben. So hängt sie noch, soll denn auch hängen bis ich sterbe" 47 . Die Werther-Erotik ist offenbar nicht bloß säkularisiertes Christentum, wie Herbert Schöffler48 es aufgewiesen hat, sondern Durchbruch und zugleich Pseudomorphose der aus Goethes Unbewußtem emporsteigenden Urreligion. Die „Verhimmelung" des Weiblichen, die den Roman zur europäischen Sensation machte, erscheint, rein abendländisch gesehen, natürlich als Spätsymptom: Verweltlichung und Erotisierung des christlichen Liebesgefühls. Aber mit dieser Deutung ist das Kernstück der Goetheschen Liebesheiligung keineswegs erschöpfend durchleuchtet. Was sich formal gesehen als „Säkularis'erung" (der Passion Christi und des Johannesevangeliums) erweist, bleibt nach seinen tiefsten Impulsen doch zugleich als später Durchbruch einer uralten (sakralen) Eros-Schwingung zu deuten, die dem „Ewig-Weiblichen" gilt49. Keine vermenschlichende Seelenkunde, keine Psychoanalyse bilde sich ein, den „erotisch-mystischen Komplex" mit ihren Handhaben auflösen zu können! Es ist ja keineswegs so, daß bloße Geschlechtsspannung von Goethe künstlich und künstlerisch aufgehöht, verfeinert, „sublimiert" würde: das „Sublime" selbst muß vielmehr in jenen weiblichen Wesen (mindestens spurenhaft, potentiell) vorhanden sein, denen Goethe seinen dantesken Kult widmet. Schon Beutler50 sagt, es sei wohl zu beachten, daß Goethe durchaus nicht jede Liebe und jede Frau in dieser Weise erhöht. Die Geliebte der 540

Römischen Elegien, Charlotte in den „Wahlverwandtschaften", die meisten Frauen im „Meister"-Roman (Marianne, Aurelia, Philine, Therese, Lydia, Emilie, Julie, Hersilie) sind durchaus als Kinder dieser Erde, ohne jenseitige Gloriole geschaut. Dieser sakrale Eros ist seinem Wesen nach Eros der Ferne, wie es Ottilie ausspricht. Es bedarf also keiner psychoanalytischen Libidotheorie, sondern lediglich der von Klages zutagegeförderten Grundeinsicht in die Verschiedenheit von Eros und Sexus, um die folgende Feststellung Beutlers zu würdigen: „Vielleicht wird diese religiöse Tönung dann besonders stark empfunden, wenn der erotischen Spannung die natürliche Lösung versagt bleibt. Jedenfalls fehlt sie in Goethes Beziehungen zu Friederike, zur römischen Freundin, zur eigenen Gattin . . ." Der männlichen Durchschnittspsychologie sind „Sublimierungen" des Weiblichen vor allem als Pubertätserlebnisse geläufig. Nur als idealisches Knabenerlebnis schildert Schiller in der „Glocke" die Jungfrau, „wie ein Gebild aus Himmelshöhn". Sonst kennt gerade Schiller, wie auch Beutler betont, Erlebnisse dieser Art nicht. Für Goethe hingegen ist die „erotische Mystik" durchaus kein spezifisches Knabenerlebnis, keine Regression ins Infantile oder Pubertätshafte. (Das Frankfurter Gretchen, von dem uns bloß durch „Dichtung und Wahrheit" rückspiegelnde Kunde wird, darf außer Betracht bleiben.) „Sie war ihm in Leipzig fremd und auch in Sesenheim. Er wuchs langsam in sie hinein. J e reifer er wurde, um so stärker ward sie. Seine Beziehungen zu Charlotte v. Stein, zu Minchen Herzlieb, zu Marianne v. Willemer, zu Ulrike v. Levetzow — so verschieden der Art nach die einzelnen Begegnungen waren — sind ganz nur aus ihr zu verstehen"51. Kein Knabenerlebnis also, sondern „zunächst ein rein männliches Erlebnis", folgert Beutler. Nun ja, gewiß, der zum Schauen bestellte, zum Formen begabte Mann ist zunächst der natürlich berufene Künder und Zeuge des Ewig-Weiblichen, das ja (Beutler fügt es seiner Aussage hinzu) nicht bloß „Steigerung" des Naturhaft-Weiblichen (als bloßer Geschlechtstatsache), sondern zugleich das „Ewig-Mütterliche" bedeutet und in letzter Instanz als „Göttliches" empfunden werden muß. Man vergegenwärtige sich die Wahrheit d'eses Satzes an einer Hypothese Wilhelm Böhms52. „Der Faust", sagt Böhm, „ist Dichtung eines M a n n e s schicksals. Vielleicht hätte ein Dichter oder eine Dichterin eines analogen Weibesschicksals einen anderen Chorus mysticus mit einem Hymnus auf das Ewig-Männliche geschlossen!" Man versuche nur, sich das ernstlich vorzustellen, und man wird sich eingestehen, daß hier etwas 541

Unmögliches, Groteskes postuliert wird. Das Männliche in seiner „gesteigerten" Form offenbart sich (zum mindesten für unser spätzeitliches Hochkultur-Bewußtsein) sogleich als Nus, Logos, Creator spiritus, abgelöst von der erotischen Lebensfülle und Liebeswärme; der weltschaffende Eros, an den man noch denken könnte, bleibt auch für unser mythisch genährtes Gefühl stets die Ausgeburt, das Sohnesgeschöpf der Großen Mutter. Auch der Grundtypus des männlichen Heiligen, den Goethe in Philipp Neri verehrte, und dessen gesteigerte Hochform er im Pater ecstaticus zeichnet, trägt durchaus faustisch-männliche Züge; in ihm lebt rastloser Hochdrang, eine reinigende, strebende, ja sprengende, entselbstende Kraft. Aber was wäre all diese Regsamkeit ohne die erlösende, vollendende Caritas von oben, aus der Fülle des Ewig-Weiblichen! Einem männlichen Erlöser-Gott könnte jener andere mystische Chor bestenfalls das Parsifal-Wort „Erlösung dem Erlöser" zurufen. (Immer vorausgesetzt, daß wir überhaupt in goethenaher Sphäre verbleiben.) Wir müssen uns damit bescheiden: das Ewig-Weibliche ist ein nicht zu vermenschlichendes, ein kosmisches, numinoses Urerlebnis Goethes. „Die bedeutendsten Frauengestalten Goethes erschienen ihm als schwebende Sterne oder Engel", bemerkt Wilhelm Emrich53. „Seine Geliebten sind Heilige ..., die ihm das Licht des Ewigen zuleiten, wodurch sein ganzes Wesen in Schwingung gerät, und überwältigend ist es zu sehen, wie alle Gebiete, auf denen sich Goethe betätigt, durch den zum Heiligtum der Frau geleitenden Eros befruchtet werden..." (Mückle)54. „Jede Geliebte offenbart ihm etwas von den Geheimnissen des Universums. Jede wird ihm daher zum weltauslegenden Gleichnis" (Spranger)55. „Im Frauengemüte erschien ihm etwas Göttliches, wie weissagende Verkündigimg höchster heilender, leitender, erziehender, barmherziger Güte" (Seil)56. „An all diesen Frauen... spüren wir diesen unzerlegbaren und im einzelnen gar nicht greifbaren Zug von Vollkommenheit-in-sich, der zugleich eine Beziehung zum Ewigen bedeutet und der in dem Ewig-Weiblichen, das uns hinanzieht, sozusagen begrifflichen Ausdruck gefunden hat" (Simmel)57. „Die letzten sakralen Symbole werden von Goethe beschworen, wenn er von dem reden will, was ihm das ,Ewig-Weibliche' offenbart" (Schöffler). An „theoretischen" Selbstzeugnissen Goethes über diesen Punkt seines Schaffens fehlt es nicht; doch haftet ihnen etwas Kursorisches, Vorläufiges an. Schon am 4. November 1809 hatte er zu Riemer geäußert, daß sich ihm das Ideelle unter einer w e i b l i c h e n Form oder unter der F o r m d e s W e i b e s darstelle; wie ein 542

Mann sei, das wisse er ja nicht. Den Mann zu schildern sei ihm nur biographisch möglich, es müsse etwas Historisches zum Grunde liegen. Noch stärker einschränkend äußert sich der Greis (am 5. Juli 1827) zu Eckermann über dasselbe Thema, wobei Byrons „Foscari" den Anlaß bieten. „Seine Frauen", sagte Goethe, „sind gut. Es ist aber auch das einzige Gefäß, was uns Neueren noch geblieben ist, um unsere Idealität hineinzugießen. Mit den Männern ist nichts zu tun. Im Achill und Odysseus, dem Tapfersten und Klügsten, hat der Homer alles vorweggenommen." Seltsame, aber doch tief bezeichnende Aussprüche! Vom Wesen, von der Idee des Weiblichen „weiß" Goethe offenbar durch Antizipation; daher bedarf er nicht unbedingt empirischer Unterlagen, wenn es gilt, Frauencharaktere dichter'sch zu gestalten. Ganz anders steht es um die Männer. Hier fehlt ihm, so bekennt er, eine ebenso sichere Vorempfindung und eindeutige, kernhafte Wesensschau. Darum muß etwas Biographisches oder Historisches zugrunde liegen. Weibliche Wesensfülle ist ihm a priori, als Ganzheit einsichtig, das Männliche nur stückweise, a posteriori, durch Einzel-Erfahrung. Wohl mögen die männlichen Tugenden wie Klugheit und tapferer Tatwille höchst schätzenswert sein, aber „der Homer hat alles vorweggenommen"; das dürfen wir uns wohl psychologisch etwa wie folgt zurechtlegen: solche Mannestugend ist endliche virtus. Der Mann als metaphysisches Wesen aber ist damit nicht charakterisiert. Er ist für Goethe überhaupt nicht als Ganzheit faßbar, sondern nur als Problematik. Kantisch gesprochen: nicht als Gegebenes, sondern als bloß Aufgegebenes. Es ist in der Tat höchst auffällig, daß Goethe seine Frauengestalten überwiegend als still und sicher in sich ruhende Instinktwesen zeichnet (wo nicht als Gefäße d~s Ewigen, Heiligen schlechthin). Wogegen die Männer großenteils schwankend, gestört, umgetrieben, ex-zentrisch erscheinen. Man denke nur an Werther, Tasso, Orest, Eduard, Faust, Prometheus. In einer Briefstelle rühmt Goethe den Frauen als entscheidenden Vorzug nach, „daß sie nicht nach außen getrieben und von außen n'cht gezwängt sind... Wenn nun verstehen heißt, dasjenige, was ein anderer ausgesprochen hat, aus sich selbst entwickeln, so sind die Frauen, sobald es Innerlichkeiten gilt, immer in Vorteil"58. Seine Lobrede auf „d e Frauens" zielt vor allem auf die seelische Unversehrtheit, die Ungebrochenheit, die vitale Ganzheit weiblichen Wesens. „Eure Neigungen sind immer lebendig und' tätig, und ihr könnt nicht lieben und vernachlässigen"59. Die Frauen sind ihm die bevorzugten Trägerinnen des „Lebenstaktes", in ihnen verkörpert sich das Gefühl für das Schickliche, sie übermitteln ver543

feinerte Sitten und sind Trägerinnen höherer ethischer Kultur60. Handelnd „das Gehörige des Augenblicks zu bedenken" ist „der Vorteil der Frauen, wenn sie ihn verstehen"61. Wahre Humanitas ist ursprünglich Frauentugend, entspringt dem Mutter- und Schwestergeiste, lehrt der Iphigeniendichter und nimmt damit Bachofens Wiederentdeckung des demetrischen Ursprungs aller höheren Gesittung vorweg. Im Ewig-Weiblichen fühlte oder ahnte Goethe das Kosmisch-Umfassende, die ungeteilte Lebensfülle. Daher sein Ausspruch: „Wer die Weiber haßt, wie kann der leben?" (Lehrjahre, 4. Buch, 4. Kap.) Daher auch sein unabweislicher Drang, das „Ideelle" weiblich zu bilden: Und einzig veredelt die Form den Gehalt, Verleiht ihm, verleiht sich die höchste Gewalt; Mir erschien sie in Jugend-, in Frauengestalt. (Pandora)

Wie Erich Franz62 gezeigt hat, baut sich jeder der vier Teile von „Dichtung und Wahrheit" nach dem folgenden Schema auf: 1. Fragen der Religion und Weltanschauung, 2. Literatur, 3. Bildende Kunst, 4. Einzelne Porträtskizzen. Das Schlußkapitel jedes Teils aber handelt von einer geliebten oder verehrten F r a u : Gretchen, Friederike, Susanne, Lili. Die krönenden Epiloge sind dem Weiblichen gewidmet. Daß sein „Verklärungsdrang" dem Weiblichen gegenüber keine Erfahrungssumme, sondern „Antizipation" bildet, bekennt Goethe gesprächsweise zu Eckermann (22. Oktober 1828): „Die Frauen... sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen. Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir angeboren, oder in mir entstanden, Gott weiß wie. Meine dargestellten Frauencharaktere sind daher auch alle gut weggekommen, sie sind alle besser, als sie in Wirklichkeit anzutreffen sind." Das Ewig-Weibliche ist als „Idee", das heißt aber bei Goethe: als kosmische Potenz höchsten Ranges, zu scheiden vom e m p i r i s c h - z u f ä l l i g e n Wesen alltäglicher Weiblichkeit63. Dieses erblickt er so realistisch, daß er in einem Augenblick des Unmuts zum Kanzler Müller sagen kann: „Es ist unglaublich, wie der Umgang der Weiber herabzieht"64. Vom weiblichen Intellekt fühlt er sich nicht angezogen: „Wir lieben an einem jungen Frauenzimmer ganz andere Dinge als den Verstand. Wir lieben an ihr das Schöne, das Jugendliche, das Neckische, das Zutrauliche, den Charakter, ihre Fehler, ihre Kapricen und Gott weiß was alles Unaussprechliche sonst"65. Als nüchterner Psycholog sieht er andererseits das Be544

grenzte, die stoffliche Gebundenheit des empirischen Weibtums. „Weiber scheinen keiner Ideen fähig . . ., nehmen überhaupt von den Männern mehr, als daß sie geben." Und: „Uber das servire, was in ihrer Liebe liegt." Sie haben „keinen Geist", „keine Ironie", können „nicht von sich selbst lassen", verarbeiten „das Fertige zu ihren Absichten", „halten sich an das Resultat"; „der Mann schafft und erwirbt, die Frau verwendet's". „Die Weiber, auch die gebildetsten, haben mehr Appetit als Geschmack. Sie möchten lieber alles ankosten, es zieht sie das Neue an"; ihr Geschmack ist konventionell. Sie „verstehen alles ä la lettre oder au pied de ) S. 108. — 20) Max. u. Refl. 241. Aus Kunst und Altertum, Fünften Bandes erstes Heft 1824. — 21) An Marianne v. Willemer, 25. Januar 1831, WA IV, 48, S. 95—96. — 22) Max. u. Refl. 908. Aus dem Nachlaß: Über Literatur und Leben. — 2S ) Max. u. Refl. 443. Aus den „Wanderjahren" 1829, III, 13: Betrachtungen im Sinne der Wanderer. — 24) Vgl. auch Simmel S. 134—135. — 25 ) Humanismus und Romantik, Leipzig 1924, S. 80 f. — 26) Bode S. 252. 27 ) Vgl. Franz Koch: Goethe und der deutsche Idealismus; in: Euphorion, 580

Bd. 33, 1932, S. 191. — 28) Zum Beispiel nach dem Tod des Sohnes: „Der Körper muß, der Geist will, und wer seinem Wollen die notwendigste Bahn vorgeschrieben sieht, der braucht sich nicht viel zu besinnen" (an Zelter, 21. November 1830, WA IV, 48, S. 20). Zu Kapitel

7: Konstellation

(Freiheit

und Schicksal)

141

x

) Goethe und der deutsche Idealismus; in: Euphorion, Bd. 33, 1932, S. 193 f. — 2) Zu F. v. Müller, 20. Juni 1827, Biedermann III, 404. — s ) Lehrjahre, 1. Buch, 17. Kapitel. — 4) Max. u. Refl. 44. Aus den „Wahlverwandtschaften", 1809: Ottiliens Tagebuch. — 5) 18. Januar 1827. — 6 ) An den Grafen v. Brühl, 23. Oktober 1828, WA IV, 45, S. 32. — 7) An Schiller, 11. Juli 1799, WA IV, 14, S. 139 f. — 8) 4. April 1814, Inselausg. S. 350; Biedermann II, 225. — ») WA I, 28, S. 69. — 10) 9. Juni 1784, WA IV, 6, S. 295. — «) 25. Mai 1797, WA III, 2, S. 70. — 12) 24. Januar 1826, WA IV, 40, S. 255. — 13) WA III, 1, S. 52. — ") An Johanna Fahimer, 16. November 1777, WA IV, 3, S. 188. — 15) Jub. A. 2, S. 48. — ") Theatralische Sendung, 6. Buch, 10. Kap.; vgl. „Lehrjahre", 4. Buch, 15. Kap., Jub. A. 17, S. 297. — 17) Uber das Schicksalswalten im „Egmont" vgl. Chr. Schrempf: Goethes Lebensanschauung, Bd. II, Stuttgart 1907, S. 278 ff. — 18) 5. Aufzug, Schlußszene; WA I, 8, S. 301. — 19) WA I, 29, S. 192. — 2») 11. Buch, Jub. A. 24, S. 38. — 21) Vgl. seine Selbstbiographie und Antrittsrede über das Naturrecht, hrsg. von Alfred Baeumler, Halle 1927, S. 59. — 22) An Charlotte v. Stein, 16. August 1808, WA IV, 20, S. 140. — 23) 20. August 1817, WA IV, 28, S. 226. — 24) 28. Mai 1783, WA IV, 6, S. 167. — 25) 14. Juni 1784, WA IV, 6, S. 300. — 28) 17. Juni 1784, WA IV, 6, S. 302. — " ) An Lavater, 19. Februar 1781, WA IV, 5, S. 57. — ») Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros, 2. Aufl., München 1926, S. 76, 146. — 20) S. 305, 306, 309. — 30) WA II, 5, S. 229. — S1 ) Vgl. Goethes Gespräch mit Napoleon im Oktober 1808; Biedermann I, S. 357 ff. — 32) J. J. Bachofen und das Natursymbol, Basel 1924, S. 227. — ") Der Geist als Widersacher der Seele, 2. Aufig., Leipzig 1939, Bd. II, S. 547. — 34) Dazu Klages: Der Geist usw. Bd. II, S. 544—550. — ' 5 ) J. J. Bachofen: Versuch über die Gräbersymbolik der Alten, Zweite Aufl., Basel 1925, S. 315. — 36) C. A. Bernoulli: J. J. Bachofen und das Natur r symbol, Basel 1924, S. 515. — ' 7 ) Italien und Rom, Bd. I, AmsterdamLeipzig 1941, S. 219 f., 223, 227 f., 233. — Auswahl „Der Mythus von Orient und Occident", München 1926, S. 522. Zu Kapitel

8: Das Tragische

153

') Zu Riemer, 11. März 1809. — 2) Goethe und Plotin, Leipzig 1925, S. 188—189. — 3) An Zelter, 31. Oktober 1831, WA IV, 49, S. 128. — 4 ) Vgl. z. B. Eduard Engel: Goethe, Bd. II, 1909, S. 516—517. — 6) Max. u. Refl. 733. Aus den „Wanderjähren", 1829: Aus Makariens Archiv. — 6 ) S. 86. — 7) Darüber Gundolf S. 147 ff. — 8) Im Gespräch mit J. D. Falk, 1809, Biedermann II Nr. 1373. — 9) Vgl. Emrich S. 482. — 10) Die Kultur der Renaissance in Italien, Phaidon-Ausgabe, Wien o. J., S. 179 ff. Zu Kapitel

9: Wiedergeburt

157

Zum Kanzler F. v. Müller, 24. April 1830, Biedermann IV, 265. — 2) An Herder, Anfang 1772; Roethe S. 127. WA IV, 2, S. 11. — 3) An Boisseree, 581

16. Juli 1818, WA IV, 29, S. 240. — 4) An Thomas Carlyle, 15. Juni 1828, WA IV, 44, S. 139—140. — 5) 2. Juli 1781, WA IV, 5, S. 161. — 6) An Charlotte v. Stein, Rom, 20.[23.] Dezember 1786, WA IV, 8, S. 101. — 7) G. W. Hertz: Natur und Geist in Goethes Faust; Deutsche Forschungen, Bd. 25, 1931, S. 183. — 8) H. H. Houben: Eckermann. Sein Leben f ü r Goethe, Bd. II, Leipzig 1928, S. 48. — ") Emrich S. 441. — 10) S. 81—86. — ") Zu Eckermann, 25. Februar 1824. — lz ) Karl Justus Obenauer: Goethe in seinem Verhältnis zur Religion, 4 . - 6 . Tausend, Jena 1925, S. 16. — 13) 27. September 1826, WA IV, 41, S. 173. — 14) S. 420—424. — 15) Der Tänzerin Grab, 1812, WA I, 48, S. 143 ff. Dazu Goethes Brief an Fr. K. L. Sickler, 28. April 1812, WA IV, 22, S. 360. — 10) Dazu vergleiche man die grundlegenden Ausführungen von Ludwig Klages im „Kosmogonischen Eros", 2. Aufl., München 1926, S. 153 f., über Kranz und Binde als vorantiken Totenschmuck. — ") WA IV, 3, S. 51 f. — 18) 2. März 1779, WA IV, 4, S. 13. — le ) Tagebuch der Italiänischen Reise f ü r Frau v. Stein, 11. September 1786, WA III, 1, S. 177. — 2") Italienische Reise, Venedig, 12. Oktober 1786. — 21 ) Terni, 27. Oktober 1786, Tagebuch der Italiänischen Reise f ü r Frau v. Stein; WA III, 1, S. 328. — 22) Man beachte hier das unbewußt-sichere Bekenntnis zur psychischen Atmosphäre des eigenen Personaltypus (I)! Römisches Wesen prägt großenteils den I., griechisches den III. (uranischen) Typus aus. — 23) Zu Sulpiz Boisserée, 11. August 1815, Biedermann II Nr. 1691. — 24) 6. November 1784; Bode S. 322. — Biedermann I, 123. — 25 ) Vgl. Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros, 2. Aufl., München 1926, S. 153. — Ludolph Stephani: Nimbus und Strahlenkrone, 1859. — 26) Vgl. Emil Mattiesen: Das persönliche Überleben des Todes, Bd. II, Berlin und Leipzig 1936, S. 355 ff. — 27) Zu Eckermann, 11. März 1828. — 2S) Max. u. Reil. 724. — 29) Zu Falk, 25. Januar 1913, Biedermann II, Nr. 1490. — 30) Zu Eckermann, 3. März 1830. — 31) 6. Dezember 1765, WA IV, 1, S. 19. — S2 ) Essais und Studien zur Literaturgeschichte, Braunschweig 1899, S. 285. — 3S) W. Hertz: Goethes Naturphilosophie im Faust, Berlin 1913, S. 58—59. — 34) Système nouveau de la nature, 14, S. 127. — S5) Etwa 20. September 1780, WA IV, 4, S. 300. — 36) Dieser grundlegende Unterschied wird im Schrifttum über Goethe und Leibniz vielfach vernachlässigt. Nur Franz Koch (Goethe und Plotin, Leipzig 1925, S. 116) hebt hervor, daß Leibnizens Monaden von außen nicht beeindruckbar sind. „Da die Monaden keine Fenster haben, durch welche die Dinge der Außenwelt auf sie wirken könnten, müssen sie vermöge ihres teleologisch bestimmten Innenlebens das Bild des Universums, das sie doch gar nicht sehen, aus eigener K r a f t hervorbringen, aus sich hervorschaffen. Das Moment der Erfahrung, der Einwirkung von außen, des individuellen Erlebnisses . . . . fällt hier ganz weg. Bei Goethe dagegen kommt dieses individuelle Moment deutlich genug zum Ausdruck, in seinem Spiegel wird u m geschaffen, nicht geschaffen, wodurch ja das Spiegelgleichnis überhaupt seinen Sinn verlöre, ein Einwand, der auch gegen Leibniz in der Frage erhoben wurde, was denn seine Monaden eigentlich spiegelten. Sein Monadenspiegel strahlt ja nicht zurück, sondern nur aus. Die objektive Gegenstandswelt, von der wir nach Leibniz nur glauben, daß wir sie in uns aufnehmen, ist darnach ,nur eine objektivierte hinausprojizierte Inhaltswelt' (Schmalenbach), nicht Reaktion auf einen Reiz von außen, sondern nur eine Parallelerscheinung zu den Gegenständen außer uns, ,ein Parallelismus von 582

Kausalität und Finalität' (K. Groß). Niemals hat Goethe sein Spiegelgleichnis in diesem Sinne verstanden." — Bei dem von Koch erwähnten Spiegelgleichnis handelt es sich um Plotins Lehre vom „schaffenden Spiegel", die sich Goethe gelegentlich zu eigen macht und seinem Vorstellungskreise anverwandelt. Den Anteil Leibnizens am Ausbau des Goetheschen Weltbildes betonen die Arbeiten von Hans Gose (Goethes Werther, Halle 1921: Bausteine zur Geschichte der deutschen Literatur, hrsg. von Saran, Bd. 18), Viscount Haidane (Goethe als Denker, Heidelberg 1924), Paul Sickel (Leibniz und Goethe; in: Archiv f ü r Geschichte der Philosophie 1918, S. 1—26), Dietrich Mahnke (Leibniz und Goethe, Erfurt 1924: Weisheit und Tat, Heft 4), Kurt Hildebrandt (Goethe, 2. Aufl., Leipzig 1942). Das Bemühen, weltanschauliche Berührungspunkte herauszustellen, führt vielfach zu weitgehender Uberschätzung der wirklich vorhandenen Gemeinsamkeiten. Der schlichte Tatbestand ist eben doch der, daß Goethe zeitlebens Leibniz fast unbeachtet ließ: offenbar aus sicherem Instinkt f ü r das „antipodische" Weltgefühl des Philosophen. Leibniz ist Typus II, gehört also zur Transzendental-Gruppe. — ") Hefte zur Morphologie, 1822. An Zelter, 19. März 1827. — «s) Zu F. v. Müller, 23. September 1827, Biedermann III, Nr. 2551. — 38) Brief an Herzogin Luise, 23. Dezember 1786, WA IV, 8, S. 97. — 40) Goethe und Plotin, Leipzig 1925, S. 214. — 41) Bildung und Umbildung organischer Naturen: Die Absicht eingeleitet. 1807. — «) An Knebel, 3. Dezember 1781, WA IV, 5, S. 228. — 4S) Paul Stöcklein: Carl Gustav Carus, Menschen und Völker, Hamburg 1943, S. 14. — 44) Zu Falk, 25. Januar 1813, Biedermann Nr. 1490; Wolfgang Goetz: Goethe, sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten, Berlin 1938, S. 234r—237. — 45) Faust und Moses; in: Sitzungsber. der Pr. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 1912, S. 742, Anm. 1. — 46 ) Faust und Moses, S. 639. — ") S. 396. — 48) Wieland gehört nach O. Rutz dem II. Typus an. Vergleiche auch Wilhelm Werkmeister: Der Stilwandel in deutscher Dichtung und Musik des 18. Jahrhunderts, Berlin 1936, S. 116—119. — 49) Zu Falk, Zeit unbestimmt; Biedermann IV, 465 f. — 60 ) Fr. Rolf Schröder: Germanentum und Hellenismus, Heidelberg 1924, S. 14 ff. — «) Goethe und Plotin, Leipzig 1925, S. 194, 195, 202, 212, 214. — 62 ) Vgl. Rudolf Unger: Der Unsterblichkeitsgedanke im 18. Jahrhundert und bei unseren Klassikern; in: Zur Dichtungs- und Geistesgeschichte der Goethezeit, Berlin 1944, S. 9 ff. — 53) Franz Koch: Goethes Stellung zu Tod und Unsterblichkeit, Weimar 1932, S. 22. Schriften der Goethegesellschaft, Bd. 45. — ") WA IV, 5, S. 243 f. — 55) Goethes Stellung zu Tod und Unsterblichkeit, 1932, S. 271. — 68 ) Nach L. Kuhlenbeck: Giordano Bruno, Berlin-Schöneberg 1913, S. 51 f. — ") Vgl. Franz Koch: Goethe und Plotin, Leipzig 1925, S. 114. — 5S) J. J. Bachofen: Das Lykische Volk, Freiburg i. Br. 1862, S. 10; vgl. auch etwa: Versuch über die Gräbersymbolik der Alten, 2. Aufl., Basel 1925, S. 10, 13 u. ö. — 59) D. Fimmen: Die kretisch-mykenische Kultur, Leipzig und Berlin 1921, S. 54 f. — 60

) Religion und Magie, 2. Aufl., Leipzig und Berlin, 1927, S. 13. — ) Carl Schuchhardt: Die Etrusker als altitalisches Volk; in: P r ä historische Zeitschrift, Bd. XVI, Heft 1—2, Berlin 1925, S. 115 ff. 61

Zu Kapitel

10: Geschichte

173

') Vom 7. Juli 1793 an Fritz Jacobi, WA IV, 10, S. 88. — 2) An Zelter, 17. Januar 1831, WA IV, 48, S. 87. — 3) Die Entstehung des Historismus, 39 D a n c k e r t , Goethe.

583

Bd. II, München und Berlin 1935, S. 559. — 4) Riemer, zeitlich unbestimmt, S. 341—342. — 5) Max. u. Refi. 271. Aus Kunst und Altertum, Fünften Bandes zweites Heft, 1825. — 6) Zu H. Luden, 19. August 1806, Biedermann I, Nr. 874, S. 434. — ') Emrich S. 315. — e) S. 279—282. — ') Zu F.v.Müller, 6. März 1828; Biedermann 111,489. — 10) Wander jähre I, 2, 2. Kap., Jub. A. XIX, 185. — " ) An S. Boisserée, 7. August 1816, WA IV, 27, S. 139. — 12) Auswahl „Der Mythus von Orient und Occident", 192-6, S. 295, 150. — 13) S. 438 ff., 461—463. — 14) Emrich S. 451—458, 463. — 15) Klassiker und Romantiker in Italien, 1820. — " ) Geplantes Vorwort zum 3. Teil von „Dichtung und Wahrheit". — 17) Max. u. Refi. 167. Aus Kunst und Altertum. Vierten Bandes zweites Heft, 1823. — 18) Max. u. Refi. 105. Aus den „Wahlverwandtschaften", 1809: Ottiliens Tagebuch. — 19) Den Vereinigten Staaten, 1827. — 20) 1819. WA II, 13, S. 314. — 21) Einleitung in die Philosophie der Mythologie. Werke II. 1. S. 181 f., 230 ff. — ^ Antiquarische Briefe I, Straßburg 1880, S. 271. — " ) Ant. Br., S. 26. — 24) Auswahl „Der Mythus von Orient und Occident", München 1926, S. 541, 591. — 25) 17. Mai 1829, WA IV, 45, S. 273. — l(l) An Zelter, 27. Januar 1832, WA IV, 49, S. 222. — 27) Melitta Gerhard: Goethes Erleben der französischen Revolution im Spiegel der .Natürlichen Tochter'; in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 1, Halle 1923, S. 281—308. — 28) Batranek: Zwei Polen in Weimar, Wien 1870, S. 74. Brief vom 24. August 1829. — 2a) Zu Eckermann, 22. März 1831. — In der Vorrede des zweiten Teils seiner Römischen Geschichte sah Niebuhr ein Zeitalter der Barbarei im Gefolge der französischen Revolution heraufziehen. Auch in seinem Brief an Goethe vom 17. Dezember 1830, Goethe-Jahrbuch 8, 99, heißt es: „ich glaube nicht, daß Sie es irrig finden, noch zweifeln daß wir der rohsten und widerlichsten Barbarei grade entgegen gehen". — 30) Zu Eckermann, 23. Oktober 1828. — 31) Vgl. Emrich S. 456, 354, 230 ff. — 32) Erläutert von Emrich S. 232 f., 243. — 33) J. J . Bachofen: Vorrede zum Mutterrecht, 1861. — 34) Emrich S. 146 f. — 35) Emrich S. 75. — 3t ) Zu Eckermann, 12. März 1828. — 3 ') 6. November 1827, WA IV, 43, S. 148. — 38) Max. u. Refi. 662. Aus den „Wanderjähren", 1829: Aus Makariens Archiv. — 39) Vgl. Emrich S. 131, 412, 125 ff. — 40) Emrich S. 445 ff., 467 f. — 4l ) Ernst Walser: Der Sinn des Lebens im Zeitalter der Renaissance; in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. XVI, Heft 3, Leipzig u. Berlin 1926, S. 306. — 42) S. 148, 297. — 43) An Zelter, 29. März 1827, WA IV, 42, S. 102. — 44) Italienische Reise I, Rom, 21. Februar 1787. — 45) Dazu Gundolf S. 698—700. — 46) Tagebuch der Italiänischen Reise für Frau v. Stein, Terni, 27. Oktober 1786, WA III, 1, S. 328. — " ) Z. B. Tagebuch, 25. u. 26. Juli 1798, WA III, 2, S. 216. — 48) Goethe, 2. Aufig., Berlin 1898, S. 518. — 48) Zueignung, Str. 13. — 50) Zu Eckermann, 5. Juli 1827. — 51) An Wilhelm v. Humboldt, 1. Dezember 1831, WA IV, 49, S. 165. — 52) Zu Riemer, 21. Oktober 1807; auch in Max. u. Refi. 545. Aus den „Wanderjähren", 1829: Betrachtungen im Sinne der Wanderer. — 53) Ornamente aus Pompeji, 1830. — 54) Die Entstehung des Historismus, Bd. II, München und Berlin 1936, S. 612, Anm. 1. — 5ä) WA III, 1, S. 296. — 56) Erster Druck in Kunst und Altertum I, 3. Jub. A. 37, S. 102. Vgl. die Paralipomena in der WA I, 14, 1, S. 471 ff. Dazu Burdachs Bemerkungen zum West-Östlichen Divan in der Jub. Ausg., Bd. 5, S. XLVIII f. — 6 ') Ganz ähnlich sieht Bachofen, „daß die frühesten 584

Zustände der Völker am Schlüsse ihrer Entwicklung wieder nach der Oberfläche drängen." (Vorrede zum Mutterrecht, 1861 u. ö.) Auch das Unschöpferische, Fäulnishafte solcher Spätzustände kommt zur Erörterung. — 68) Den Grundgedanken der Geschichtsmorphologie spricht Herder wie folgt aus: „Wachstum, Blüte und Abfall sind aufeinandergefolgt: sodann ist der Genius der Kultur weggeflohen und hat sich ein nahgelegenes Land voll frischer Kräfte ausersehen, dieselbe Szene durchzuspielen". — 69) Uber die „grandiose Skizze" .Geistesepochen', das Kernstück von Goethes Geschichtsphilosophie, urteilt der Historiker Friedrich Meinecke (Die Entstehung des Historismus, Bd. II, München und Berlin 1936, S. 603—604), sie zeige, „wie jede Stufe der Entwicklung Elemente hervorbringt, die zu ihrer Überwindung drängen". Voilà tout. — 60) Vgl. Franz Altheim: Italien und Rom, Bd. I, AmsterdamLeipzig 1941, S. 237. — 61) Wilhelm Hertz (Natur und Geist in Goethes Faust; Deutsche Forschungen, Bd. 25, Frankfurt a. M. 1931, S. 194) spricht von „überindividuellen Gesamtpersonen". Dieser Ausdruck empfiehlt sich kaum; denn was wissen wir schon darüber, ob solche Gruppen-Entelechien p e r s ö n l i c h k e i t s f ä h i g zu denken wären oder nicht? Zu Kapitel

11: Kritik

des Transzendentalismus 2

195 s

') Emrich S. 403, 402 f., 399. — ) Max. und Reil. 311. — ) J. D. Falk, 1809, Biedermann II, Nr. 1373. — 4) Zu J. D. Falk, 28. Februar 1809, Biedermann II, Nr. 1153. — s) Vgl. Max. u. Reil. 479—480 aus den „Wanderjahren", 1829. Zu Eckermann, 15. Februar 1824. An Zelter [6. Juni 1825?], WA IV, 39, S. 215 f. — ") An Zelter, 30. Oktober 1824, WA IV, 38, S. 278 bis 279. — 7) An C. H. Schlosser [25. November 1814], WA IV, 25, S. 92. — 8) Aus reiner Kant-Perspektive, also goethefern, verzeichnen Karl Vorländer (Goethes Verhältnis zu Kant in seiner historischen Entwicklung; in: Kantstudien I, S. 60 ff., 313 ff.; II, S. 161 ff. — Ders., Goethe und Kant; in: Goethe-Jahrbuch 19, 1898, S. 167—185. — Ders., Kant, Schiller, Goethe, 1907, 2. Aufl. 1922) und — in seinen Spuren — Gabriele Rabel (Goethe und Kant, 2. Bde., Wien 1927) das Verhältnis. Vgl. auch R. Paasch: Goethe—Kant; in: Jahrbuch der Goethegesellschaft VII, S. 158. Besonnener urteilt Franz Koch (Goethe und der deutsche Idealismus; in: Euphorion, Bd. 33, Stuttgart 1932), aber auch er sieht die Dinge noch zu sehr aus dem Blickpunkte oder besser Wunschbilde) eines in sich geschlossenen „deutschen Idealismus". Wieviel klarer sah hier bereits Nietzsche, der Kant kurzweg einen Antipoden Goethes nennt. Gundolf (S. 264) variiert diesen Kernspruch, wenn er sagt, Goethe sei der äußerste Gegensatz, der in Deutschland gegen Kantische Denk- und Fühlweise überhaupt zu finden sei. Daß Kühnemann in Goethe geradezu die Erfüllung Kants erblickt, kann bei der unscharfen, grenzverwischenden Denk- und Darstellungsform dieses Biographen kaum verwundern. Aber noch der klarer blickende Weinhandl versucht — vergeblich —, die Lehren Goethes und Kants miteinander zu harmonisieren. — 9) An C. G. Voigt, 27. Juli 1793, WA IV, 10, S. 99. — 10) Zu Eckermann, 11. April 1827. — ») An C. G. Voigt, 19. Dezember 1798, WA IV, 13, S. 347. — 12) WA IV, 13, S. 61. — ") Das Wahrheitsproblem in Goethes Wissenschaft, Berlin 1934, S. 114. — 14) Carl August an Voigt; Neue Goethe-Briefe, mitgeteilt von Fritz Härtung; in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 12, S. 25. — 39»

585

") WA IV, 11, S. 234. — ") An Schiller, 13. Januar 1798, WA IV, 13, S. 19. — ") An Schiller, 16. Sept. 1800. — ") Wielands Andenken in der Loge Amalia zu Weimar gefeiert den 18. Februar 1813. — 19) Max. u. Reil. 1198. Aus dem Nachlaß: Über Natur und Naturwissenschaft. — !0 ) An Friedrich Münter [Mitte November 1824?], WA IV, 39, S. 15. — 21 ) Zu Riemer, 30. Dezember 1806. — 22 ) Zu Riemer, August 1808. — 23) Max. u. Reil. 338. Aus Kunst und Altertum, Fünften Bandes drittes Heft, 1826. — 24) Annalen f ü r 1794. — ") An Franz Bernhard v. Buchholtz, 14. Februar 1814, WA IV, 24, S. 151—153. — 26) An Carl Friedrich v. Reinhard, 12. Mai 1826, WA IV, 41, S. 30. — 27) An W. v. Humboldt, 16. September 1799, WA IV, 14, S. 179—180. — 28) An Schultz, 18 September 1831. — 29) Zu Eckermann, 14. April 1824, ähnlich am 29. Januar 1826. — ">) Zu Eckermann, 20. April 1825. — 31) Zu Eckermann, 6. April 1829. — s2 ) W. Hertz verknüpft die Gestalt mit Schopenhauer, was allenfalls noch möglich erscheint: Jahrbuch der Goethegesellschaft IX, S. 55 ff. Unwahrscheinlicher die Deutung auf Hegel von Borinski: Goethe-Jahrbuch IX, 1888, S. 214, und von R. Honegger auf Troxler: Goethe und Hegel, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft XI, 1925, S.95 ff. — Franz Koch, Goethe und der deutsche Idealismus, in Euphorion, Bd. 33, 1932, S. 178 f., kommt der hier vertretenen Auffassung nahe. — 33) WA IV, 10, S. 250: bezieht sich auf Jenaer Studentenkrawalle. — 34) Jub. A. 30, 23. — 85) Zu Eckermann, 11. September 1828. — 35) Zu Eckermann, 18. Januar 1827. — 37) An Johann Friedrich Reichardt, 15. Juni 1789, WA IV, 9, S. 120. — »8) An J. F. Reichardt, 28. Februar 1790, WA IV, 9, S. 180—181. — 3°) Tagebuch 7. Dezember 1831, WA III, 13, S. 185. — 40) Zu Eckermann, 12. März 1828. — 41 ) Zu Riemer, 24. November 1813. — 42) Tagebuch, 2. Dezember 1831, WA III, 13, S. 182—183. — 4S) Zu dem russischen Grafen Alexander Grigorewitsch Stroganoff, zwischen 1825 und 1830; Biedermann IV, Nr. 1310. — 44) In der ambivalenten, zwischen „Verehrung und Schmähung des Nordischen ununterbrochen schwankenden Haltung" Goethes erblickt Emrich (S. 402) bloß den Versuch des Dichters, ein Ureigenstes, tief ins Biologische Versenktes (eben das Nordische), das noch im Werden und Entwickeln ist, abzustoßen, um den Prozeß der Selbstentfaltung zu fördern. Diese „Schlackentheorie" ist eine künstliche Hilfskonstruktion, geistreich ersonnen, aber Goethes Wesen ganz und gar zuwiderlaufend. Entwicklung als bloßes Hinter-Sich-Bringen des Vergangenen, als unaufhörlicher Vorgriff ins Künftige also, entspricht keineswegs der Goethischen (chthonischen), sondern transzendentaler Dynamik. — 45) Der mutmaßliche Zeitpunkt der „Mutation" dürfte, religionsgeschichtlich betrachtet, mit dem Emporsteigen Wodans und dem Zurücktreten des (uranischen) Tius (Tyr) aus seiner herrschenden Stellung eng zusammenhängen. Am Rhein, dem Keimgebiet des Wodanismus, war nach dem Urteil Karl Helms (Die Entwicklung der germanischen Religion; in: Germanische Wiedererstehung, Heidelberg 1926, S. 317 f.) dieser Herrschaftswechsel im ersten Jahrhundert n. Chr. vollendet. Um 600 n. Chr. setzt sich der Wodanskult in Schweden durch. — 46) Zu Eckermann, 17. Februar 1829. — ") Goethe und der ferne Osten; in: Deutsche Vierteljahresschrift f ü r Literaturwiss. und Geistesgeschichte, Jg. 1, 1923, S. 317. — 48) S. 510. — 49) Das Uranische idealisiert Bachofen zur „Höhenkraft" in jedem Sinne. Er sieht nicht das Spaltende des Lichts, die Todesseite des Apollinischen; er deutet nicht den tiefsinnigen Mythos von Uranos'

586

Entmannung durch Kronos. In den Lichtkulten und Himmelsreligionen sieht er nur die flamma non urens, die Reinheit des stofflosen Prinzips, im Fortgang vom Erde-Mond-Prinzip zum Solarismus den Aufstieg der Menschheit zum Reiche des makellosen Geistes. In alledem zollt er (auf seine noble Art, versteht sich) dem Evolutionismus Tribut. Nie kommt es ihm in den Sinn, nach dem Ab- und Aufspaltenden, sowie nach dem Machtanspruch, dem „Divide et impera" des Uranischen, des „Wachseins" zu fragen. In der katastrophenreichen Hochkultur-Geschichte zeigt sich das uranische Prinzip jedenfalls deutlich als ein unorganisch aufspaltendes, usurpatorisches. Es erscheint nicht abwegig, zu fragen, ob hier ein Trabant sich anmaßt, das Muttergestirn zu ersetzen. — 60) Das heilige Reich der Deutschen, Bd. 2, Stuttgart 1925, S. 367, 402. DRITTES WISSENSCHAFT Zu Kapitel

1: Wissenschaftslehre

BUCH UND

KUNST 217

217 ') Jub. A. 4, S. 104. — ) Zum Kanzler F. v. Müller, 8. März 1824, Biedermann III, Nr. 2235. — 3) Max. u. Reil. 657. Aus den „Wanderjahren", 1829: Aus Makariens Archiv. — 4) Bedeutendes Fordernis..., WA II, 11, S. 59. — 4a) An Johann Friedrich Ludwig "Wachler, 24. Oktober 1819, WA IV, 32, S. 81 f. — 5) S. 76. — e ) Zu Eckermann, 10. April 1828— 7 ) Nr. 226. Aus Kunst und Altertum, Fünften Bandes Zweites Heft, 1825. — 8 ) Max. u. Refl. 442. Aus den „Wanderjähren", 1829: B. i. S. d. W. — ») An Lavater, 4. Oktober 1782, WA IV, 6, S. 65. — 10) Ausspruch Goethes, von Knebel angeführt am 20. September 1897. Knebels Briefwechsel mit seiner Schwester Henriette, hrsg. von Heinrich Düntzer, Jena 1858, S. 133. — u ) Max. u. Refl. 98. Aus den „Wahlverwandtschaften", 1809: Ottiliens Tagebuch. — 12) An Hegel, 17. Aug. 1827, WA IV, 43, S. 26. — 13) An C. A. Varnhagen v. Ense, 8. Nov. 1827, WA IV, 43, S. 156/157. — ") Zu Riemer, 3. Mai 1814, S. 352. — ") S. 91—92. — 16) Vgl. Emrich S. 96. — ") Goethes Weltanschauung, Weimar 1897, S. 68—79, 203. — 18) Vgl. Paul Stöcklein: C. G. Carus, Menschen und Völker, Hamburg 1943, S. 25. Selbsterkenntnis

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Subjekt



Objekt

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') WA IV, 11, S. 177. — 2) Erwiderung auf Schillers Brief vom 27. April 1798, Konzept. — 3) WA II, 52, S. 330. — 4) Max. u. Refl. 593. Aus den „Wanderjähren", 1829: B. i. S. d.W. — 5) Max. u. Refl. 153. Aus den „Wahlverwandtschaften", 1809: Ottiliens Tagebuch. — e) Max. u. Refl. 273. Aus Kunst und Altertum, Fünften Bandes zweites Heft, 1825. — 7) Max. u. Refl. 1224. Aus dem Nachlaß: Über Natur und Naturwissenschaft. — e ) Tag- und Jahreshefte 1810; Jub. A. 30, S. 252. — 9) Zu Riemer, 2. August 1807. — 10) An Staatsrat Schulz, 18. September 1831, WA IV, 49, S. 82. — ") An Schiller, 6. Januar 1798. — ,2) WA IV, 11, S. 376. — 13) Bedeutendes Fordernis . . . — 14) Entwurf einer Farbenlehre. Einleitung. — 15) Paralipomena zur Farbenlehre. — le ) W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, Kassel 1932, Kap. I: Das Wesen der Person. — ") Wilhelm Böhm: Faust der Nichtfaustische, Halle a. S. 1933, S. 74. — 18) Eine „Minimal-Interpretation" bietet Hans Lipps. (Goethes Farbenlehre. An587

Sätze zu einer Interpretation; in: Jb. des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt a. M. 1936—40, Halle a. S. 1940, S. 125—126.) „Und was heißt es, daß sich das Licht im Auge ein Organ erschafft, ,das seinesgleichen werde'? Was bedeutet das ,Sonnenhafte' des Auges? Licht ist nur wirklich im bezug auf das Auge, dem es als Licht gerade dies bedeutet, die Durchsicht zu den Dingen freizugeben so, daß sie an ihrem dort als an einem anderen Ort des Raumes, als wo ich selbst bin, gesehen werden können. Licht ist Energeia Licht nur als die ins Werksetzung des Sehens. Entsprechend ist aber das Auge sonnenhaft in seiner Offenheit f ü r das Licht: es ist, was es ist, nur m i t dem Licht; es ist sonnenhaft in seinem Unvermögen, ohne das Licht sehend, d. i. Energeia Auge im eigentlichsten Sinne sein zu können." — ") Zu Eckermann, 24. Februar 1824. — 20) Vgl. H. F. Müller: Goethe und Plotinos; in: Germanischromanische Monatsschrift VII, 1915, S. 45—60. — äl ) Vgl. R. Steiner: Goethes Farbenlehre, in Kürschners Deutsche Nationalliteratur III, S. 88, und Hermann Glockner: Das philosophische Problem in Goethes Farbenlehre, Heidelberg 1924, S. 29. — 22) Herbert Fritsche: Der Erstgeborene, Berlin und Frankfurt a. M. 1948, S. 258. — 23) Die Entwicklung von Goethes naturwissenschaftlicher Denkweise und Weltanschauung von den Anfängen bis zur Reife; in: Goethe, Vierteljahrsschrift, 1941, S. 265. — 24 ) Aufzeichnung vom 30. März 1833 aus Riemers Nachlaß, mitgeteilt von Heinrich Düntzer: Goethes Faust, 2. Auflage, Leipzig 1857, S. 525. — 25 ) Marie Hendel: Die platonische Anamnesis und Goethes Antizipation; in: Kant-Studien XXV, 1920, S. 182—195. — 28) Dichtung und Wahrheit, 2. Teil, 9. Buch. — 27) WA I, 22, S. 94. — 28) Max. u. Refl. 328. Aus Kunst und Altertum, Fünften Bandes drittes Heft, 1826. — 29) Max. u. Refl. 562. Aus den „Wanderjähren", 1829: B. i. S. d. W. — 30) Max. u. Reil. 329. Aus Kunst und Altertum, Fünften Bandes drittes Heft, 1826. — 31) An Ernst Heinrich Friedrich Meyer, 10. September 1822, WA IV, 36, S. 162. — 32 ) Zu G. Parthey, 28. August 1827, Biedermann III, Nr. 2526. — 33) Max. u. Refl. 502,501. Aus den „Wander jähr en", 1829: B. i. S. d. W. — 34) Wanderjahre, Kap. 10. An Zelter, 22. Juni 1908, Beilage, WA IV, 20, S. 90. Zu Riemer, 28. Juni 1809. — œ ) Zu Riemer, 2. August 1807. — S6) Zu Riemer, ohne Zeitangabe, S. 341. — 37) Max. u. Reil. 1376. Fragmentarisches aus dem Nachlaß. —• 3a) Max. u. Refl. 1344. Fragmentarisches aus dem Nachlaß. — 39) An H. Christian Schlosser, 19. Februar 1815, WA IV, 25, S. 311—312. Perspektivismus 232 !) Leopold Ziegler: Der deutsche Mensch, 7. Aufl., Berlin 1922, S. 106 bis 107. — 2) Zu Sulpiz Boisserée, 2. August 1815, Biedermann II, 310 f. — 3 ) Simmel S. 40. — 4) Max. u. Refl. 198. Aus Kunst und Altertum, Vierten Bandes zweites Heft, 1823. — 6) Simmel S. 42. — 6) An Reinhardt, 22. Jan. 1811, WA IV, 22, S. 21—22; über die Histoire comparée des systèmes de Philosophie von Degérando. — 7) An F. H. Jacobi, 6. Januar 1813, WA IV, 23, S. 226. — 8) An F. H. Jacobi, 17. Oktober 1796, WA IV, 11, S. 234. — ») An Knebel, 8. April 1812, WA IV, 22, S. 322. — 10) Bildung und Umbildung organischer Naturen, Einleitendes. — ") An F. H. Jacobi, 29. Dezember 1794, WA IV, 10, S. 219 f. — 12) Vgl. Max. u. Refl. 287. Aus Kunst und Altertum, Fünften Bandes drittes Heft, 1826. — 13) Tagebuch, 26. Februar 1780, WA III, 1, S. 109. — 14) An Charlotte v. Stein, 11. März 1781, WA IV, 5, S.75—76. — 15) An Alexander v. Humboldt, [18. Juni] 1795, 588

WA IV, 10, S. 271. — ") An C. G. D. Nees v. Esenbeck, 16. Dezember 1824, WA IV, 39, S. 46—47. — 17) An F. J. Soret, 21. Juni 1828, WA IV, 44, S. 146. — 1S) An F. J. Soret, 2. Juli 1828, WA IV, 44, S. 165—166. — 19) Max. u. Reil. 1165. Aus dem Nachlaß: Über Natur und Naturwissenschaft. — 20 ) An Zelter, 11. September 1828, WA IV, 45, S. 10—11. — 21) Max. u. Reil. 1230. Aus dem Nachlaß: Über Natur und Naturwissenschaft. — 22 ) Referat über die „Principes de Philosophie Zoologique discutées en Mars 1830 au sein de l'Académie royale par Mr. Geoffroy de SaintHilaire", am 11. August 1830 begonnen; die zweite Abteilung erschien 1832. — 23) Gespräch mit Soret, in der Fassung Eckermanns, 2. August 1830; Biedermann V, S. 175 f. Inselausg., S. 691—692. — 24) An ihren Mann, 2. März 1789, Bode S. 417. — 25) WA III, 2, S. 273. — 26) Biedermann I, Nr. 866. — 2') Zur Morphologie. Aphoristisches. WA II, 6, S. 350—351. — 28 ) Zur Morphologie, WA II, 6, S. 305. — 29) Tagebuch, 22. April 1812; WA III, 4, S. 270—271. —i 30) An Jacobi, 6. Januar 1813, WA IV, 23, S. 226. Grenzen der Erkenntnis 240 ') Max. u. Refi. 1206. Aus dem Nachlaß: Über Natur und Naturwissenschaft. — 2) Zu Eckermann, 15. Okt. 1825. — 3) Zu Eckermann, 15. Okt. 1825. — 4) Zum Kanzler v. Müller, 11. April 1827. — e) Zu Eckermann, 11. April 1827. — 6) Referat über J. P. Vaucher: Histoire physiologique des plantes de l'Europe . . ., Vol. 8, Genève 1830. — 7) Karl Wilhelm Nose. Zur Naturwissenschaft überhaupt. Ersten Bandes drittes Heft. 1820. — 8) Kant und Goethe, 4. Aufl. Leipzig 1923, S.45. — 9) Max. u. Reil. 1207. Aus dem Nachlaß: Über Natur und Naturwissenschaft. — 10 ) An A. W. F. Wackenroder, 21. Januar 1832, WA IV, 49, S. 211. Erkenntnis und Eros 243 ») An F. H. Jacobi, 10. Mai 1812, WA IV, 23, S. 7. — E) Goethe als Seelenforscher; in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt a. M. 1928, S. 202—221. — 3) Werner Deubel: Goethe als Begründer eines neuen Weltbildes; in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Bd. 17, Weimar 1931, S. 39. — 4) Max. u. Refi. 115. Aus den „Wahlverwandtschaften", 1809: Ottiliens Tagebuch. — 6) Tag- und Jahreshefte 1810; WA I, 36, S. 56. — 6) Kritik der reinen Vernunft B XIII. — 7) Vgl. Gerhard Plathow: Das Wahrheitsproblem in Goethes Wissenschaft, Berlin 1934, Germanische Studien, Heft 155, S. 88—89. — 8) Plathow: Das Wahrheitsproblem..., S. 134. — 9) 1. Oktober 1828. — 10) Zu Eckermann, 24. Februar 1824. — ") Tagebuch, 16. Oktober 1831, WA III, 13, S. 156. — 12) An Knebel, 15. März 1799, WA IV, 14, S. 43. — 13) Zur Morphologie, WA II, 3, S. 247; II, 6, S. 222. — 14) Max. u. Refi. 416. Aus den Heften zur Morphologie, Ersten Bandes viertes Heft, 1822. Organe des Vorstellens 246 Gerhard Plathow (Das Wahrheitsproblem in Goethes Wissenschaft, Berlin 1934, Germanische Studien, Heft 155, S. 82—83) meint, bei Kant vermisse Goethe zu Unrecht die Berücksichtigung der Einbildungskraft. Offenbar habe ihn die Dreiteilung der Kritik der reinen Vernunft in Ästhetik, Analytik und Dialektik gemäß den Bereichen der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft nicht erkennen lassen, daß ja Kant die getrennten Bereiche gerade durch die Einbildungskraft zu einer 589

Einheit verbindet, und daß die Kritik der Urteilskraft diese Einheit zum Gegenstande hat. Es bestehe daher kein Widerspruch zwischen Kants Kritik und Goethes Auffassung. Diesem Harmonisierungsversuch ist vor allem entgegenzuhalten, daß Goethe unter „Einbildungskraft" doch etwas viel Weittragenderes versteht als der amusische Kant. — 2) An die Erbgroßherzogin Maria Paulowna, 3. Januar 1817, WA IV, 27, S. 308—309. Verstand

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') WA IV, 27, S. 309—310. — 2) Max. u. Reil. 1199. Aus dem Nachlaß: Uber Natur und Naturwissenschaft. — 3) Vgl. etwa Riemer 30.12.1806, 20.3.1807, 4.12.1810 und undatierte Aussprüche, Inselausgabe 1921, S. 338, 341; Eckermann 24.11.1824, 20. 6.1831; Tagebuch 7. 6.1831, WA III, 13, S. 86—87. — 4) WA II, 11, S. 376. — 6) Max. u. Reil. 555. Aus den „Wanderjähren", 1829: B. i. S. d. W. — 8) Zu Eckermann, 13. Dezember 1829. — 7) Max. u. Reil. 599. Aus den „Wanderjahren", 1829: B. i. S. d.W. — e) Geschichte der Farbenlehre, 1808, WA II, 3, S. 172. — ") Zu Riemer, Tischreden und Aphorismen 1803, S. 247. — 10) Zu Riemer, 10. Mai 1806. — u ) Zu Riemer, 29. Juni 1811. — 12) Nach der neueren Physiologie handelt es sich um die Einwirkung von Drüsensekreten auf das Großhirn, womit die Verstandesreife einsetzt. — ls ) Vgl. Ludwig Klages' grundlegende Untersuchung: Vom kosmogonischen Eros, 2. Aufl., München 1926. — 14) So sagt z. B. Richard Buchwald (Führer durch Goethes Faustdichtung, Stuttgart 1942, S. 119): „Abgerundet wird Mephistos menschlicher Charakter, wenn man dieses Wort verwenden darf, durch seine grobe Sinnlichkeit. Es sei dem Psychologen überlassen, nachzuprüfen, ob in der Verbindung von zersetzendem Verstand und Glaubenslosigkeit mit einer gemeinen Auffassung und Handhabung des Geschlechtlichen etwas Typisches liegt. In der Gestalt Mephistos jedenfalls wirkt diese Vereinigung selbstverständlich und überzeugend." — 15) Karl Seil: Die Religion unserer Klassiker, 2. Aufl., Tübingen 1910, S. 199. Vernunft

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*) 3. Januar 1817, WA IV, 27, S. 309. — Max. u. Reil. 599, 555. Aus den „Wanderjahren", 1829: B. i. S. d.W. — 3) Zu Eckermann, 13. Februar 4 5 1829. — ) Geschichte der Farbenlehre. — ) An Friedrich August v. Beulwitz, 18. Juli 1828, WA IV, 44, S. 210. Eine Variante dieses Ausspruchs in Max. u. Refl. 444; Aus den „Wanderjahren", 1829: B. i. S. d. W. — 9 ) Zu Eckermann, 23. Februar 1831. — ') Zu Eckermann, 12. Oktober 1825. — 8) Zu Riemer, 29. Juni 1811. Geist

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') Biographische Einzelheiten zu Dichtung und Wahrheit, Nr. 6: Jacobi. Jub. A. 30, S. 403. — 2) Wanderjahre, 3. Buch, 15. Kapitel. — ») Max. u. Refl. 1299. Aus dem Nachlaß: Über Natur und Naturwissenschaft. — 4 ) Jub. A. 30, S. 226. — 6) An C. v. Knebel, 8. April 1812, WA IV, 22, S. 321—322. — 6) An J. S. Zaupner, 10. September 1823, WA IV, 37, S. 217. — 7) An Eichstädt, 10. März 1815, WA IV, 25, S. 225—226. — 8) Jub. A. 20, S. 208. — ») Paralip. zu den Ann. 8. Jacobi. — 10) Im Divan-Gedicht „Nimmer will ich dich verlieren". — ") In den Noten und Abhandlungen zum Divan (WA I, 7, S. 145) spricht Goethe bezeichnenderweise vom 590

Hauch und G e i s t einer Leidenschaft, der durch das Buch Suleika wehe. Uber Suleika-Marianne (ebd. S. 146): „Sie, die Geistreiche, weiß den Geist zu schätzen, der die Jugend f r ü h zeitigt und das Alter verjüngt." Des spirituellen Zugs in Marianne gedenkt vor allem Hans Pyritz: Goethe und Marianne von Willemer, Stuttgart 1941, S. 30. Marianne war Uranierin, sie gehörte nach Rutzens Erkundungen der Gruppe des Typus III an! — 12) Jub. A. 39, S. 36. Sinnlichkeit

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') Vgl. Max Scheler: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926, S. 414. — 2) 3. Januar 1817, WA IV, 27, S. 309. — 3) Max. u. Reil. 1193. Aus dem Nachlaß: Über Natur und Naturwissenschaft. — 4) An L. Grustner von Grusdorf, 30. März 1827, WA IV, 42, S. 108—109. — 6) Max. u Reil. 468. Aus den „Wanderjahren", 1829: B. i. S. d. W. — 6) WA IV, 13, S. 10. — ') Das Wahrheitsproblem in Goethes Wissenschaft, Berlin 1934, Germanische Studien, Heft 155, S. 80. Phantasie

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') Referat über die „Kurze Vorstellung der Kantischen Philosophie von Franz Volkmar Reinhard", 3. Januar 1817, WA IV, 27, S. 309. — 2) Zur Morphologie, Aphoristisches, WA II, 6, S. 361. — 3) Goethe und Plotin, Leipzig 1925, S. 107. — 4) S. 149. — 5) An Knebel, 21. Februar 1821, WA IV, 34, S. 136—137. — •) Jub. A. 39, S. 374. — ') Vgl. dazu die ausgezeichneten erläuternden Bemerkungen zur Urpflanze von Hans Wohlbold: Die Naturerkenntnis im Weltbild Goethes; in: Jahrbuch der GoetheGesellschaft, Bd. 13, Weimar 1927, S. 12—13. — 8) Zu Eckermann, 5. Juli 1827. — 8) Zu Riemer, 10. Mai 1806. — 10) WA IV, 10, S. 45. Anschauende

Urteilskraft

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') An Hetzler den jüngeren, Straßburg, 24. August 1770; Roethe S. 110. — 2) An August v. Hennings, 18. November 1772, 2. Briefentwurf; Bode S. 35. — 3) An Lavater, 28. Oktober 1779, WA IV, 4, S 112. — 4) An Charlotte v. Stein, 11. März 1781, WA IV, 5, S. 75—76. — 5) An F. H. Jacobi, 5. Mai 1786, WA IV, 7, S. 214. — 6) An Charlotte v. Stein, 29. Dezember 1786, WA IV, 8, S. 106. — 7) C. F. Huber an Körner, 15. Oktober 1790; Bode S. 452 f. — 8) Huber an Körner, 24. August 1792; Bode 471. — 9) Schiller an Körner, 12. August 1787; Bode S. 357. — ln ) Schiller an Körner, 1. November 1790; Bode S. 454. — ") Böttiger in sein Tagebuch, 8. Juli 1799; Bode S. 650—51. — 12) Goethe, München 1932, S. 88—89, 96. — 13) An Boisseree, 22. Dezember 1822, WA IV, 36, S. 240. — 14) Bedeutendes Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort, 1823, WA II, 11, S. 58. Jub. A. 39, 48. — 15) An Carl Friedrich Naumann, 24. Januar 1826, WA IV, 40, S. 264. — 16) An Johann Evangelista Purkinje, 18. März 1826, WA IV, 40, S. 327—328. — 17) Max. u. Refl. 1150. Aus dem Nachlaß. Über Natur und Naturwissenschaft. — 18 ) Max. u. Refl. 533. — 19) WA II, 6, S. 155 f. — 20) WA I, 5, S. 275. — 21 ) WA II, 11, S. 164. — 22) Zur Farbenlehre II, 1, XII. — 23) Vgl. Simmel S 77—78. — 24) Max. u. Refl. 1300—1301. Aus dem Nachlaß: Über Natur und Naturwissenschaft. — 25) Meteore des literarischen Himmels. 591

Possess. — 26) Einwirkung der neueren Philosophie. — 27) Zur Morphologie II, VI, S. 155 ff. — 28) Bedeutendes Fordernis . . . — 20) Vgl. Emrich S. 56.

Urphänomene

. 267

Max. u. Reil. 575. — 2) Paralipomena, WA II, 9, S. 399. — 3) Versuch einer Witterungslehre, 1825: Manometer, Schlußsatz, WA II, 12, S. 84. — 4) Max. u. Reil. 434. Aus den Heften zur Morphologie, Ersten Bandes viertes Heft, 1822. — 5) An Christian Dietrich v. Buttel, 3. Mai 1827, WA IV, 42, S. 167. — 6) Zur Farbenlehre, Didaktischer Teil, S. 716 f., WA II, 1, S. 287; vgl. II, 6, S. 221; II, 9, S. 195. — 7) An Christian Dietrich v. Buttel, 3. Mai 1827, WA IV, 42, S. 167. — 6) Zu Eckermann, 13. Februar 1829. — 9) Zu Eckermann, 18. Februar 1829. — 10) Max. u. Refl. 577. Aus den „Wanderjahren", 1829: B. i. S. d. W. — ") Vgl. Emrich S. 253. — 12) Max. u. Reil. 412. Aus den Heften zur Morphologie, Ersten Bandes viertes Heft, 1822. — 13) Max. u. Refl. 433. Aus den Heften zur Morphologie, Ersten Bandes viertes Heft, 1822.

Idee

269

') Karl Justus Obenauer: Goethe in seinem Verhältnis zur Religion, 4. bis 6. Tausend, Jena 1923, S. 53. — 2) Schaeder S. 211. — 3) Z. B. Walter Jablonski: Die geistesgeschichtliche Stellung der Naturforschung Goethes; in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Bd. 15, Weimar 1929, 5. 59—60. — 4) Ernst Cassirer: Goethe und Piaton; Goethe und die geschichtliche Welt, III, S. 134r—135, Berlin 1932. — 5) Geist und Gestalt; Dessau 1941. — «) WA II, 6, S. 303. — ') An J. J. Willemer, 24. April 1815, WA IV, 25, S. 283. — 8) Z. B. Rudolf Steiner: Goethes Weltanschauung, Weimar 1897, S. 11—12. — Karl Justus Obenauer: Goethe in seinem Verhältnis zur Religion, 4. bis 6. Tausend, Jena 1923, S. 52. — 9) Zu Riemer, 11. Dezember 1811. — 10) Max. u. Reil. 643. Aus den „Wanderjähren", 1829: Aus Makariens Archiv. — ") WA II, 1, S. 298, ähnlich 299. Dazu Emrich S. 116 f. — 12) Max. u. Refl. 273. Aus Kunst und Altertum, Fünften Bandes zweites Heft, 1825. — ") Goethe als Seelenforscher; in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt a. M., 1928, S. 20. — ") An Wielands Begräbnistage, 25. Januar 1813, Biedermann Nr. 1490. — 15) Enn. I. 6, 3. K II, S. 230; vgl. Franz Koch: Goethe und Plotin, Leipzig 1925, S. 124. — 16) G. Fr. Daumer: Das Geisterreich in Glauben, Vorstellung, Sage und Wirklichkeit, Dresden 1867, Bd. I, S. 75 f. — 17) Im Gegensatz zu Cassirer und anderen Forschern, die dieser Einsicht bereits nahe gekommen waren, versucht Arthur Liebert (Goethes Piatonismus. Zur Metaphysik der Morphologie. Berlin-Charlottenburg 1932, S. 24) nachzuweisen, Goethe sei Platoniker. Piatos Ideen seien „nicht weltentzogene Ewigkeitsformen von starrem, n u r in der Sphäre des Logos gültigen Seinscharakter . . ., sondern die Masse und Gesetze der Erscheinungen und die Grundformen des Werdens". Dieser Versuch, Piatons Ideenlehre so nahe wie möglich an Goethe heranzurücken, verwischt die tiefer liegenden Gegensätze. Lieberts Formel trifft eigentlich weder Piatons noch Goethes Konzeption genau. — ls ) Goethes Naturphilosophie, Berlin 1913, S. 20. — " ) 1. c. S. 254. — 20) Vgl. Franz Koch: Goethe und der deutsche Idealismus; in: Euphorion, Bd. 33, Stuttgart 1932, S. 175—176. — Richard Kroner: 592

Von Kant bis Hegel, Bd. I, Tübingen 1921, S. 227 f. — ") Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919, S. 420 ff. — 22) 1. c. S. 424 ff. — 2S ) Glückliches Ereignis, 1794. Auch betitelt: Erste Bekanntschaft mit Schiller. 1817 erschienen im ersten Hefte zur Morphologie. — 24 ) An Nees v. Esenbeck [Mitte Aug. 1816?], WA IV, 27, S. 144. — 25) Hans Wohlbold: Die Naturerkenntnis im Weltbild Goethes; in: Jahrbuch der GoetheGesellschaft, Bd. 13, Weimar 1927, S. 12—13. — 26) Kretische Kunst, Berlin 1936. — 2 ') Erich R. Jaensch: Die Eidetik und die typologische Forschungsmethode, Leipzig 1925. Ders.: Grundformen menschlichen Seins, Berlin 1929. Ders.: Studien zur Psychologie menschlicher Typen, Leipzig 1930. Walter Jaensch: Grundzüge einer Physiologie und Klinik der psychophysischen Persönlichkeit, Berlin 1926. — Über Goethe als Eidetiker vgl. insbes. Erich R. Jaensch: Über den Aufbau der Wahrnehmungswelt, 1. Heft, 2. Aufl., 1927, S. 23 ff. Neuerdings unterscheidet Jaensch drei integrierte Typen: den nach außen, nach innen, sowie den bedingt Integrierten. Julius Petersen: Die Wissenschaft von der Dichtung, Berlin 1944, S. 346, vermutet eine Analogie zu Diltheys Weltanschauungstypen. — 28) Vorträge über eine allgemeine Einleitung in die vergleichende Anatomie, 1796. — 29) Zur Morphologie, 1828, WA II, 6, S. 347 f, — Jub. A. 39, S. 101 f. — 30) Max. u. Reil. 1070. Aus dem Nachlaß. Uber Kunst und Kunstgeschichte. — 31) An L. Grustner von Grusdorf, 30. März 1827, WA IV, 42, S. 108—109, auch zu Riemer, 1827. — »2) Vgl. K. Justus Obenauer: Goethe in seinem Verhältnis zur Religion, 4. bis 6. Tausend, Jena 1923, S. 48—49. — M) In seinem Aufsatz „Der Goethedeutsche und der Schillerdeutsche" aus dem Sammelbande „Leben, Kunst und Staat". — 34) Der Sammler und die Seinigen, 6. Brief, Jub. A. 33, 180. — 35) Max. u. Reil. 1072—1076. — 3e) Zum Thema „Empirie" vergleiche man insbesondere die folgenden Aufsätze Goethes: Der Versuch als Vermittler, 1792, Jub. A., Bd. 39, S. 15 ff. — Erfahrung und Wissenschaft, 1798, Jub. A., Bd. 39, S. 26 ff. — Einwirkung der neueren Philosophie, 1820, Jub. A. Bd. 39, S. 28 ff. — Bedenken und Ergebung, 1820, Jub. A., Bd. 39, S. 34 ff. — Bedeutendes Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort, Jub. A. Bd. 39, S. 48 ff. — Über die Gegenstände der bildenden Kunst, 1797, Jub. A. Bd. 33, S. 91 ff. — Einleitung in die Propyläen, 1798, Jub. A., Bd. 33, S. 102 ff. — Der Sammler und die Seinigen, 1798—1799, Jub. A., Bd. 33, S. 137 ff. — Diderots Versuch über die Malerei, 1798—1799, Jub. A., Bd. 33, S. 205 ff. — Vgl. auch Elisabeth Rotten: Art. „Erfahrung" in Julius Zeitlers Goethe-Handbuch, Stuttgart 1916, Bd. I, S. 499—502; unzutreffende Darstellung Goethes als „Kantianer". — 37) Jub. A. 30, 30. — 38 ) Vom 19. Januar 1798; Kommentar zu Goethes Aufsatz „Erfahrung und Wissenschaft", 1798, WA II, 11, S. 40. — 39) Max. u. Reil. 565. Aus den „Wanderjähren", 1829: B. i. S. d. W. — 40) Max. u. Reil. 575. Aus den „Wanderjähren", 1829: B. i. S. d. W. — 41) WA II, 6, S. 303. — 42) WA II, 11, S. 40. — 4S) Max. u. Reil. 156. Aus den „Wahlverwandtschaften" 1809: Ottiliens Tagebuch. — 44) Max. u. Reil. 1230. Aus dem Nachlaß: Uber Natur und Naturwissenschaft. — 45) Tagebuch, WA III, 2, S. 255. — 46) An F. H. Jacobi, 7. März 1808, WA IV, 20, S. 25. — 47) Zur allgemeinen Wirtschaftslehre, WA II, 11, S. 309. — 48) Max. u. Reil. 1245 bis 1246. Aus dem Nachlaß: Über Natur und Naturwissenschaft. — 49 ) Das Wahrheitsproblem in Goethes Wissenschaft, Berlin 1934, S. 96. — 60 ) Jub. A. 40, S. 139. — 51) 30. August 1799, WA IV, 14, S. 170. — 62) Be593

denken und Ergebung, Jub. A. 39, 35. — M) Es kann also keine Rede davon sein, Goethe habe sich „unter dem Druck der Autorität Kants und Schillers anzuerkennen bemüht, daß es dem Menschen unmöglich sei, Idee und Erfahrung zur Deckung zu bringen, die Idee in der Erscheinung zu erkennen". So interpretiert Franz Koch: Goethe und der deutsche Idealismus; in: Euphorion, Bd. 33, Stuttgart 1932, S. 168. — 84) F. Weinhandl: Die Metaphysik Goethes, Berlin 1932, S. 245, 252. — 65) Zu Riemer, ohne Zeitangabe; S. 341. — 58) WA II, 6, S. 226. — ") Max. und Reil. 1136. Aus dem Nachlaß: Über Natur und Naturwissenschaft. — e8) Max. u. Reil. 1137, 1138. Aus dem Nachlaß. Über Natur und Naturwissenschaft. — 5 ») Max. u. Refl. 800. Aus dem Nachlaß: Über Literatur und Leben. — 60 ) Simmel S. 124. — 61) Max. u. Refl. 375. Aus Kunst und Altertum, Fünften Bandes drittes Heft, 1826. — °2) S. 63. — °3) Max. u. Refl. 1135. Aus dem Nachlaß: Über Natur und Naturwissenschaft. — °4) WA II, 12r S. 12. — 65) An Arthur Schopenhauer, 28. Januar 1816, WA IV, 26, S. 235. — 66) Zur Morphologie, Aphoristisches, WA II, 6, S. 358. — 67) S. 233. — ee ) Max. u. Refl. 803—804. Aus dem Nachlaß: Über Literatur und Leben.— •») Zur Morphologie, WA II, 6, S. 167, 226. — ™) WA IV, 11, S. 175. — 71 ) Das Wahrheitsproblem in Goethes Wissenschaft, Berlin 1934, S. 118. — 72 ) An Charlotte v.Stein, 23. August 1784, WA IV, 6, S.343; im Original französisch. — 73) An August Michael Tauscher, 30. September 1817, WA IV, 28, S. 265. — 7i) Zur Morphologie, WA II, 6, S. 226. — 75) Zur Morphologie, WA II, 6, S. 347 f. — 76) Goethe und der deutsche Idealismus; in: Euphorion, Bd. 33, Stuttgart 1932, S. 170. Wissen und Leben 286 ) An C.L.F. Schultz, 24. November 1817, WA IV, 28, S. 309—310. — 2 ) An Zelter, 31. Dezember 1829, WA IV, 46, S. 199. — 3) Max. u. Refl. 697—698. Aus den „Wanderjähren": Aus Makariens Archiv. — *) Aufsatz „Naturphilosophie", 1827. — 5) Max. u. Refl. 921. — e) WA II, 52, S. 242 f. — 7) Werner Deubel: Goethe als Begründer eines neuen Weltbilds; in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Bd. 17,1931, S. 44. — 8) Kurt Hildebrandt, Goethe, Leipzig 1942, S. 366. l

Zu Kapitel 2: Das Organische

289

') Neuere Hinweise in den Arbeiten von Klages, Deubel und bei Eduard Spranger: Goethe und die Metamorphose des Menschen. Festvortrag; in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 10, 1924, S. 222. — 2) Darüber Gundolf, S. 629. — 3) Betrachtungen über Morphologie überhaupt, 1795, Jub. A. 39, S. 134 f. — 4) Kampagne in Frankreich, November 1792, WA I, 33, S. 196. — 5) Ferdinand Bulle: Die Struktur des Pantheismus: Die Kategorie der Totalität in Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften; in: Euphorion, Bd! 21, 1914, S. 165—166. — e) Kristallisation und Vegetation, 1789, WA II, 13, S. 427 ff. — 7) Jub. A. 39, 10 f., 14. — 8) Vorträge über die ersten drei Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie, 1796, III: Über die Gesetze der Organisation überhaupt, insofern wir sie bei Konstruktion des Typus vor Augen haben sollen; WA II, 8, S. 79. — 9) Ebenda; WA II, 8, S. 87 ff. — 10) WA III, 2, S. 219. — n ) 23. Februar 1831. — 12) Bildung und Umbildung organischer Naturen; Die Absicht eingeleitet, 1807. WA II, 6, 594

S. 14 f. — 13) Bulle: Die Struktur des Pantheismus . . . S. 164—165. — " ) Die Lebenslehre, Potsdam und Zürich 1930, S. 32. — lä ) An Lavater [etwa 20. September 1780], WA IV, 4, S. 300. — 16) WA II, 11, S. 315 f. — 17) Tagebuch der Italiänischen Reise für Frau v. Stein, 9. Oktober 1786. WA III, 1, S. 288. — 18) 23. Dezember 1786; WA IV, 8, S. 97. — 19) An Batsch, 26. Februar 1794, WA IV, 10, S. 145. — 2°) WA II, 8, S. 17. — 21) An Zelter, 29. Januar 1830; WA IV, 46, S. 223. — !2 ) Versuch einer allgemeinen Vergleichslehre, um 1792, WA II, 7, S. 217 f. — 23) WA II, 6, S. 8 ff. — 24) März 1807, S. 271. — 25) WA II, 7, S. 206. — 28) Philosophische Studie, 1784. — 27) In engstem Anschluß an Goethe wird C a r u s die Lehre vom Vorrang des Ganzen vor den Teilen im Organismus wieder aufnehmen. Vgl. Adolf Meyer: Goethes Naturerkenntnis. Ihre Voraussetzung in der Antike, ihre Krönung durch Carus. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt a. M., 1929, S. 221. — 28) WA II, 9, S. 50. — 29) Goethe und Tolstoi, Berlin 1932, S. 115. — 30) Die Lebenslehre, Potsdam 1930, S. 71. — 31) Bildung und Umbildung organischer Naturen: Die Absicht eingeleitet. 1807. Eine schattenhaft-abstrakte Vordeutung dieser Erkenntnis findet sich in Spinozas Ethik (deutsch von J . Stern, Leipzig o. J., Reclam, S. 101): „Der menschliche Körper ist aus vielen Individuen (verschiedener Natur) zusammengesetzt, von denen jedes sehr zusammengesetzt ist". — S2) Bildung und Umbildung org. Nat.: Die Abs. eingel. — S3) Oscar Feyerabend: Das organologische Weltbild, Berlin 1939, S. 49. — 84) Natur und Geist in Goethes Faust, Deutsche Forschungen Bd. 25, Frankfurt a. M. 1931, S. 203. — 35) F. Bulle: Die Struktur des Pantheismus; in: Euphorion, Bd. 21, 1914, S. 162 f., 166 f. — S8) Max. u. Refl. 1397. Fragmentarisches aus dem Nachlaß. — 37) Zu Eckermann, 13. Februar 1829. — 38) Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre; aus den neunziger Jahren; WA II, 7, S. 223 f. — 39) S. 145. — 40) In der Philosophiegeschichte gilt Eduard v. Hartmann als der erste Denker, der die „Relativität des Individualitätsbegriffs" ausspricht, „kollektive" und „nachgeordnete" Individualität unterscheidet. Vgl. auch den Hinweis von Leopold Ziegler: Der deutsche Mensch, 7. Aufl., Berlin 1917, S. 179. — 41) Simmel S. 7». — 42) An August Michael Tauscher, 30. September 1817, WA IV, 28, S. 265. — 43) Vgl. etwa die Auswahl „Der Mythus von Orient und Occident", München 1926, S. 424. — 44) Italien und Rom, Bd. I, Amsterdam—Leipzig 1941, S. 68. — 45) Fritz Kern: Die Welt, worein die Griechen traten, II; in: Anthropos, Bd. XXV, 1930, S. 199. — 46) Franz Altheim: Römische Religionsgeschichte I, Sammlung Göschen, Nr. 1035, S. 48, 50, 51. Ders.: Terra Mater, Gießen 1931, S. 108 ff., 129 ff. — 47) Danckert: Das europäische Volkslied, Berlin 1939, S. 295, 324 f. — 48) Nach Bachofen wäre Ackerbau (Hackbau) die Wirtschaftsstufe des „demetrischen" Mutterrechts. Aber die Hinneigung der chthonischen Kulturen zur Pflanze ist gewiß älter und ursprünglicher als der eigentliche Pflanzenbau. Pflanzenkult und Pflanzentotemismus finden sich z. B. bei Naturvölkern auf bloß aneignender Wirtschaftsstufe (Wildbeuter). Von völkerkundlichen Erfahrungen ausgehend, setzt der Vorgeschichtsforscher Oswald Menghin (Weltgeschichte der Steinzeit, Wien 1931, S. 533) „mutterrechtliche" und „altpflanzerische" Kultur überein, obwohl ein schlüssiger Nachweis für altsteinzeitlichen Pflanzenbau begreiflicherweise nicht vorliegt. Für beträchtliche Schichten der Neusteinzeit hingegen ist die pflanzerische Lebenshaltung zweifelsfrei erwiesen, für die jüngerpaläolithischen Schichten zum mindesten als nicht unwahrscheinlich darzutun. 595

Zu Kapitel 3: Mathematik

und

Physik

299

*) An Knebel, 25. November 1808, WA IV, 20, S. 224. — 2) 12. Dezember 1812, WA IV, 23, S. 197. — 3) An Carl Friedrich Naumann [24. Januar 1826], WA IV, 40, S. 264. — 4) Z. B. Eduard Engel: Goethe, Bd. II, Braunschweig-Berlin-Hamburg 1909, S. 880. — 5) Über die Mathematik und deren Mißbrauch, WA II, 11, S. 78. — 6) Goethe, 5. Auflg., Leipzig 1923, S. 92. — 7) So z.B. H. Leitmeier in Zeitlers Goethe-Handbuch, Bd. II, Stuttgart 1917, S. 523 f., Artikel „Mathematik". — 8) Nachträge und Zusätze zum Versuch über die Metamorphose der Pflanzen: Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit. Zur Morphologie, WA II, 6, S. 104. — 9) Max. u. Reil. Aus den „Wanderjähren", 1829: B. i. S. d. W. — 10) Max. u. Reil. 607. Aus den „Wanderjähren", 1829: B. i. S. d. W. — n ) Zu F. v. Müller, 18. Juni 1826, Biedermann III, Nr. 2423. — 12) Max. u. Reil. 608. Aus den „Wanderjahren", 1829: B. i. S. d. W. — ls ) Max. u. Reil. 1392. Fragmentarisches aus dem Nachlaß. — ") Max. u. Reil. 711. Aus den „Wanderjahren", 1829: Aus Makariens Archiv. — 15) Max. u. Reil. 606. Aus den „Wanderjahren", 1829: B. i. S. d. W. — le ) Max. u. Reil. 705. Aus den „Wanderjähren", 1829: Aus Makariens Archiv. — 17) An Zelter, 12. Dezember 1812, WA IV, 23, S. 197. — is) vgl, hierzu C. A. Bernoulli: J. J. Bachofen und das Natursymbol, Basel 1924, S. 251—253. — W. Danckert: Musik und Zahl in Ostasien; in: Festschrift f ü r Carl W. Günther, Leipzig 1949, zur Zeit noch ungedruckt. — 18) Daß die Vier dem Muttertum und der weiblichen Kulturlinie eindeutig zuzurechnen ist, zeigt sich vor allem an altchinesischer Überlieferung und an der ihr zugeordneten Viertonmusik, die in Rand- und Rückzugsgebieten Ostasiens sich erhielt. In der spätantik-morgenländischen Gnosis taucht die Vierzahl in Verbindung mit urmütterhaftem Wesen auf: die Kolorbasische Sige, die Barbelo: beide bedeuten göttliche Vierheit, allerhöchste Tetras. Vgl. Ernst Bergmann: Erkenntnisgeist und Muttergeist, 2. Aufl., Berlin 1933, S. 222, 224. — 20) Über die „Vierbändigkeiy vgl. Richard M. Meyer: Goethe, 2. Aufl., Berlin 1898, S. 454. „Dichtung und Wahrheit" ist vierteilig. — 21) Vgl. Ephemerides. Morris, Bd. 2, S. 27 und Bd. 6, S. 114 f. — 22) An C. H. Schlosser, 5. Mai 1815, WA IV, 25, S. 307. — *») Zu Riemer, ohne Zeitangabe, S. 338. — 24) Tagebuch, 7. J u n i 1831, WA III, 13, S. 87. — 25) Zu Riemer, 14. Januar 1807. — 26) An Zelter, 22. Juni 1808, WA IV, 20, S. 90—91. Max. u. Refl. 707—708. Aus den „Wanderjahren", 1829: Aus Makariens Archiv. — 27) An Zelter, 31. März 1831, WA IV, 48, S. 169. — 28) Tischreden und Aphorismen 1803, Riemer, S. 247. — 29) An Zelter, 18. Januar 1823, WA IV, 36, S. 280. — 30) An Zelter, 11. März 1816, WA IV, 26, S. 290. — 31) WA II, 3, S. 152. — 32) WA II, 1, S. 303. — 33) Max. u. Refl. 127. Aus dem Nachlaß: Üb. Nat. u. Naturw. — 34) An Schiller, 13. Januar 1798. — 35) Max. u. Refl. 1278. Aus dem Nachlaß: Üb. Nat. u. Naturw. — 36) Max. u. Refl. 1280. Aus dem Nachlaß: Üb. Nat. u. Naturw. — 37) Zu Eckermann, 20. Dezember 1826. — 88 ) An Zelter, 17. Mai 1829, WA IV, 45, S. 274. — 39) An Schiller [21. Februar 1798]. — 40) An Zelter, Fortsetzung des Briefes vom 21. Juni 1827, nicht abgesandt. WA IV, 42, S. 377, Lesarten. Im Briefwechsel GoetheZelter IV, 337 abgedruckt. — 4I) An C. G. D. Nees v. Esenbeck, 2. April 1828, WA IV, 44, S. 56. — 42) Max. u. Refl. 706. Aus den „Wanderjahren", 1829: Aus Makariens Archiv. — 43) Max. u. Refl. 573. Aus den „Wanderjahren": B. i. S. d. W. — 44) Max. u. Refl. 1277. Aus dem Nachlaß: Über 596

Natur und Naturwissenschaft. — 45) An C. L. F. Schultz, 24. November 1817, WA IV, 28, S. 310. — «) Idee und Gestalt, Berlin 1921, Nr. II: Goethe und die mathematische Physik, S. 59—60, 71. — 47) Max. u. Refl. 430. Aus den Heften zur Morphologie, Ersten Bandes viertes Heft, 1822. — 4S) Goethes Farbenlehre. Ansätze zu einer Interpretation; in: J a h r buch des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt a. M. 1936—40, Halle a. S. 1940, S. 133. — 49) Vgl. Hans Wohlbold: Einleitung zu Goethes Farbenlehre, Jena 1928, S. 59—60. — «») Gestalt und Wirklichkeit im Lichte Goethescher Naturanschauung; in: Die Gestalt, Jg. 8, Halle 1942, S. 14. — 51 ) Quantenmechanik und Daseinsrealität, München 1938. — 62) Goethe gegen Kant, Berlin 1948, S. 69. — 53) An J. C. Stieler, 26. Januar 1829, WA IV, 45, S. 136. — 64) Goethe als Seelenforscher, Leipzig 1932, S. 94. — B3 ) An C. G. D. Nees v. Esenbeck, 24. Mai 1827, WA IV, 42, S. 198. Zu Kapitel 4: Kunstlehre

311

!) Vgl. H. A. Korff: Geist der Goethezeit I, Leipzig 1923, S. 123. — ) An Zelter, 29. Januar 1830, WA IV, 46, S. 223. — 3) Vgl. Ernst Cassirer: Goethe und das 18. Jahrhundert; Goethe und die geschichtliche Welt II, Berlin 1932, S. 80. — 4) Korff: Geist der Goethezeit I, S. 122. — s) Braunschweig 1788, Deutsche Literaturdenkmale Nr. 31, hrsg. von Sigmund Auerbach. — 6) III, nach dem 22. März 1788, WA I, 32, S. 302 ff. — 7 ) Goethe und Plotin, Leipzig 1925, S. 113. — 8) An Zelter, 4. August 1803, WA IV, 16, S. 265—266. — ») Max. u. Refl. 224. Aus Kunst und Altertum, Vierten Bandes zweites Heft, 1823. — 10)| An Zelter, 29. März 1827, WA IV, 42, S. 104. — ") Über den Dilettantismus, 1799. — 12) Italienische Reise, 6. September 1787, Jub. A. 27, S. 108. — 13) Max. u. Refl. 183. Aus Kunst und Altertum, Vierten Bandes zweites Heft, 1823. — 14) Diderots Versuch über die Malerei, Jub. A. 33, S. 213. — 15) An J. F. Meyer, [Ende Januar] 1789, WA IV, 9, S. 72. — 16) Zu Eckermann, 20. Juni 1831. — 17) An die Herzogin Luise, aus Rom, [12.—] 23. Dezember 1786, WA IV, 8, S. 98. — 18 ) An Fritz Jacobi [21. August 1774], WA IV, 2, S. 186—187. RoetheS. 197. — 19) WA I, 37, 325. — 20) „Aus Goethes Brieftasche", 1775 verfaßt, 1776 erschienen; Bemerkungen zu Heinrich Leopold Wagners Verdeutschung von Merciers Schrift „Du théâtre ou Nouvel Essai sur l'art dramatique". Den Begriff „the inward form" hat als erster Shaftesbury geprägt. 21 ) Morris V, 344 ff., 347. WA I, 36, S. 115. — 22) 1772 in einer Rezension der „Frankfurter Gelehrten Anzeigen", Urheberschaft umstritten. Jub. A. 33, 16 f.; vgl. Erich Schramm: Ist Goethe oder Herder der Verfasser der Sulzer-Rezension in den Frankfurter Gelehrtenanzeigen? In: Euphorion 33, S. 312—328. Vgl. Emrich S. 302. — 23) Vgl. S. 25 f. und Emrich S. 179f., 194f., 199. — 24) Max..u. Refl. 758. Aus den „Wanderjähren", 1829: Aus Makariens Archiv. — 25) Max. u. Refl. 759. Aus den „Wanderjahren", 1829: Aus Makariens Archiv. — 26) Zu Eckermann, 18. April 1827. — 27) Zu Eckermann, 20. Oktober 1828. — 2S) Farbenlehre, hrsg. von Hans Wohlbold, Jena 1928, S. 404—105. — M) 3. November 1826, WA IV, 41, S. 221. — 30) WA I, 48, S. 136. — 31) Jub. A. 23, S. 12. —•«) Jub. A. 39, S. 46. — 3S) Arthur Eloesser: Die Deutsche Literatur, Bd. I, Berlin 1930, S. 581. — 34) An Zelter, 27. März 1830, WA IV, 46, S. 286. — 35) Emrich. S. 506. — 36) 10. Dezember 1777, WA IV, 3, S. 199. — 37) An Carl Ernst Schubarth [2. April 1818], WA IV, 29, S. 122. — 3e) Zu Riemer, 21. Oktober 1805. — *») Entwurf einer Farbenlehre. Nachbarliche Verhältnisse. Schluß2

597

betrachtung. — 4°) An Zelter, 11. Mai 1820, WA IV, 33, S. 27. — 41) Jub. A. 40, S. 55, WA II, 12, S. 74. — 42) Max. u. Reil. 314. Aus Kunst und Altertum, Fünften Bandes drittes Heft, 1826. — 43) Fritz Seidel: Goethe gegen Kant, Berlin 1948, S. 39. — 44) Max. u. Reil. 279. Aus Kunst und Altertum. Fünften Bandes zweites Heft, 1825. — «) Max. u. Reil. 1112 bis 1113. Aus dem Nachlaß: Über Kunst und Kunstgeschichte. — 46) Philostrats Gemälde. Nachträgliches. 1820. WA I, 49, S. 141. — 47) W. Tischbeins Idyllen XIV. 1821. — 4S) J. J. Bachofen: Versuch über die Gräbersymbolik der Alten, 1859, S. 48. — 49) An Jakob Ludwig Iken, 27. September 1827, WA IV, 43, S. 83 und 82; dazu K. Burdach im Goethe-Jahrbuch 17. — 50) Vgl. die zusammenfassende Übersicht bei Emrich S. 386 bis 388. — 5i) WA I, 28, S. 26. — 52) WA I, 27, S. 171 f. — 6S) Schaeder S. 85. — 54 ) J. J. Bachofen und das Natursymbol, Basel 1924, S. 233. — 55) Der Geist als Widersacher, Bd. 3, Leipzig 1932, S. 1393. — Be) S. 107. — 57 ) WA I, 49, S. 141—142. — 58) Emrich S. 56, 59, 416 f., 53. — 69) S. 9 f., 15, 36. — 60) Emrich S. 502. — ") S. 266. — «2) Dazu Schaeder S. 205. — 6S ) Schaeder, S. 213. — ") Vgl. Gundolf S. 370 f. — «) Dichtung und Wahrheit 3. Teil, 13. Buch. — 66) Max. u. Reil. 1107. Aus dem Nachlaß: Uber Kunst und Kunstgeschichte. Zu Kapitel x

5: Musik

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) Grundlagen zu einer Bibliographie über Goethes Verhältnis zur Musik bietet Hans Joachim Moser: Musiklexikon, 2. Aufl., Berlin 1943, Art. „Goethe". — 2) Dazu H. J. Moser: Goethes Anschauungen vom Wesen der Musik; in: Teubners Neue Jahrbücher 1932. Ferner J. Müller-Blattau: Zur Musikübung- und -auffassung der Goethe-Zeit; in: Euphorion 1930. — ») Lehrjahre, 5. Buch, 1. Kap. WA I, 22, S. 137. — 4 ) 8. Februar 1795, Bode S. 511. — 5) An Zelter, 27. Februar 1804. — «) WA IV, 11, S. 92. — 7) WA IV, 19, S. 19. — 8) An Rochlitz, 20. Juli 1809; WA IV, 21, S. 5. — ") An Zelter, 2. Mai 1820, WA IV, 33, S. 10. — 10 ) An Zelter, 4. Mai 1807, WA IV, 19, S. 320. — " ) Zu F. v. Müller, 24. Juni 1826, Biedermann III, N. 2426. — 12) WA III, 13, S. 148—149. — 1S) An Charlotte v. Stein, 14. Februar 1779, WA IV, 4, S. 11. — t4) An Zelter, 7. Mai 1807, WA IV, 19, S. 322. — 15) Max. u. Refl. 485. Aus den „Wanderjahren", 1829: B. i. S. d. W. — 16) 14. Januar 1827. — 17) An Zelter, 9. November 1829, WA IV, 29, S. 140. — 18) An Goethe, 27. Oktober 1809. — 10) WA I, 45, S. 181. — 20) An Kayser, 20. Januar 1780, WA IV, 4, S. 168. — !I ) Erich Schramm: Goethe und Diderots Dialog „Rameaus Neffe"; in: Zeitschrift f ü r Musikwissenschaft, Jg. 16, 1934, S. 300. — 22 ) Einzelnachweise bei Erich Schramm, 1. c. S. 305 f. — 2S) II. Buch, 11. Kap. WA I, 21, S. 204. — 24) „Gänge", nicht „Gesänge" muß es heißen. Die Stelle wird wohl in einem Halbdutzend von Abhandlungen über „Goethe und die Musik" immer wieder falsch zitiert. Offenbar schreibt einer der Autoren vom anderen ab, ohne den Originaltext einzusehen. — 25) Goethe und die Musik, Stuttgart 1922, S. 53. — 26) Goethe und die Musik, Diss. Jena 1927, S. 26 u. ö. — 27) Max. u. Refl. 1133. Aus dem Nachlaß: Uber Kunst und Kunstgeschichte. — 28) Italienische Reise, September 1787, WA I, 32, S. 97. — 29) Tag- und Jahreshefte 1805. — 30 ) Zu Riemer, 3. Dezember 1808. — 31) 9. Juni 1827, WA IV, 42, S. 213. — 32) An Zelter, 9. November 1828, WA IV, 46, S. 139—140. — 3S) Erschienen im Cottaischen „Morgenblatt" von 1814; WA I, 40, S. 112—113. — 598

) 11. Mai 1820, WA IV, 33, S. 27. — 35) Zu F. v. Müller, 25. September 1823, Biedermann III, Nr. 2156. — 35) Goethe, 2. Aufl., Berlin 1898, S. 394. — 37) An Zelter, 2. Mai 1820, WA IV, 33, S. 9. — 38) An Marianne v. Willemer, 12. Juni 1821, WA IV, 35, S. 8. — S9) Emrich S. 90. — 40) Tag- und Jahreshefte, 1801. — 41) WA IV, 16, S. 198. — 42) Zu W. J. Tomaschek, 6. August 1822, Biedermann II, Nr. 2026. — 43) Emrich S. 99. — 44) An Zelter, 19. Oktober 1829, WA IV, 46, S. 111. — «) Max. u. Reil. 487—489. Aus den „Wanderjähren", 1829: B. i. S. d. W. — 46) [Physikalische Wirkungen], WA II, 11, S. 173—174. — " ) Zu Eckermann, 8. März 1831. — 4S) An Zelter, 24. August 1823, WA IV, 37, S. 192. — 49) Max. u. Refl. 486. Aus den „Wanderjahren", 1829. B. i. S. d. W. — 50) Emrich S. 89—90. — 51) Emrich S. 350. — 52) Faust, der Tragödie zweiter Teil: Studien zur inneren Form; in: Zeitschr. f. Ästh., Bd. 12, 1916, S. 341 f. — 53) Faust à travers quatre siècles, Paris 1935, S. 229. — 54) Le second Faust; in: Revue germ. 23, 1932, S. 322. — Emrich S. 350, 101. — 5